Marx, feudal. Beiträge zur Gegenwart des Feudalismus in der Geschichtswissenschaft, 1975-2021 [1 ed.]

Kaum ein Historiker kennt sich mit Marx’ Theorie und dem Feudalismus gleichermaßen aus wie Ludolf Kuchenbuch. Er setzt M

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German Pages [446] Year 2022

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Table of contents :
Geleitwort von Alain Guerreau
Vorwort von Ingo Stützle
Die Kompilation »Marx, feudal« von Ludolf Kuchenbuch
A Historiografie - Einflussfelder und Verlaufslinien
1 Vom ideologischen Gegensatz zum konzeptionellen Kaleidoskop: Die Feudalismus-Diskussionen,
ausgehend von DeutschlSemibnd, von den 1950er Jahren bis zur Wende 1989 (2007/2009)
2 »Es ist an uns, es zu sagen!« Feudalismus-Forschungen seit der Mitte der 1980er-Jahre bis heute
im Überblick (2012/2021)
3 Zur Entwicklung des Feudalismuskonzepts im Werk von Karl Marx (1983/2012)
4 Marc Bloch und Karl Marx? Annäherungen an eine fragliche Beziehung (1999)
5 Marxens Werkentwicklung und die Mittelalterforschung (1997)
В Theoriearbeit - Konstrukte und Entwürfe
6 Zur Struktur und Dynamik der >feudalen< Produktionsweise im vorindustriellen
Europa (mit Bernd Michael) (1977)
7 Bäuerliche Ökonomie und feudale Produktionsweise. Ein Beitrag zur »Welt-System«-Debatte
aus mediävistischer Sicht (1982)
8 Zur Periodisierung des europäischen Feudalismus. Überlegungen und Fragen (mit Bernd Michael) (1978)
9 Alteuropäischer Feudalismus als soziales System - ein Schema (1984)
10 Feudalismus. Versuch über die Gebrauchsstrategien eines wissenspolitischen Reizworts (2002)
C Forschung heute - Hypothesen und Exempel
11 Das Epochenprofil des christlich-feudalen Okzidents (2004)
12 Das Huhn und der Feudalismus (2003)
13 »An die Erdscholle gewachsen«? Die Metamorphose 361 der Knechtschaft im nördlichen Eisass vom zum 10. Jahrhundert (2021)
14 Denar-Druck im Okzident 700 bis 1050. Ein Beitrag zur historischen Anthropologie des Geldes (2019)
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Marx, feudal. Beiträge zur Gegenwart des Feudalismus in der Geschichtswissenschaft, 1975-2021 [1 ed.]

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Ludolf Kuchenbuch Marx, feudal Beiträge zur Gegenw art des Feudalismus in der G esch ichtsw issenschaft, 1 9 7 5 -2 0 2 1

Dietz Berlin

cf

Editorische Vorbemerkung: Die Schreibweise in Zitaten älterer Texte - mit Ausnahme der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2) - wurde moderat der neuen Rechtschreibung angepasst.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung 1. Auflage 2022 © Karl Dietz Verlag Berlin GmbH Franz-Mehring-Platz 1,10243 Berlin Alle Rechte Vorbehalten Gestaltung: Andreas Homann Lektorat: Helen Bauerfeind Druck und Bindung: Interpress Budapest Printed in Hungary ISBN 978-3 320-02390-4

l udolf k u c h e n b u c h warbis zu seiner Habilitation wissenschaftlicher Assistent an der TU Berlin, ging 1984 als Konservator an das Bayerische Nationalmuseum in München und nahm 1985 einen Ruf als Professor für Ältere Geschichte an die Fernuniversität Hagen an, wo er bis zu seiner Emeritierung 2004 tätig war.

Alai n g u e r r e a u war Forschungsdirektor am CNRS, dem Nationalen

Zentrum für wissenschaftliche Forschung in Paris und ist seit 2011 korrespondierendes Mitglieder der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica (MGH) in München. I ngo s t ü t z l e betreut die Marx-Engels-Ausgaben im Berliner Karl Dietz

Verlag.

Geleitwort von Alain Guerreau

9

Vorwort von Ingo Stützle

14

Die Kompilation »Marx, feudal« von Ludolf Kuchenbuch

19

A

Historiografie - Einflussfelder und Verlaufslinien

1

Vom ideologischen Gegensatz zum konzeptionellen Kaleidoskop: Die Feudalismus-Diskussionen, ausgehend von DeutschlSemibnd, von den 1950 er Jahren bis zur Wende 1989 (2007 / 2009 )

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2

»Es ist an uns, es zu sagen!« Feudalismus-Forschungen seit der Mitte der 1980 er-Jahre bis heute im Überblick (2012 / 2021 )

75

3

Zur Entwicklung des Feudalismuskonzepts im Werk von Karl M arx (1983 / 2012 )

92

4

Marc Bloch und Karl Marx? Annäherungen an eine fragliche Beziehung (1999 )

164

5

M arxens Werkentwicklung und die Mittelalterforschung (1997 )

186

В

Theoriearbeit - Konstrukte und Entwürfe

6

Zur Struktur und Dynamik der >feudalen< Produktionsweise im vorindustriellen Europa (mit Bernd Michael) (1977 )

206

7

Bäuerliche Ökonomie und feudale Produktionsweise. Ein Beitrag zur »Welt-System«-Debatte aus mediävistischer Sicht (1982 )

26 2

8

Zur Periodisierung des europäischen Feudalismus. Überlegungen und Fragen (mit Bernd Michael) (1978 )

29 0

9

Alteuropäischer Feudalismus als soziales System - ein Schema (1984 )

313

10

Feudalismus. Versuch über die Gebrauchsstrategien eines wissenspolitischen Reizworts (2 0 0 2 )

318

C

Forschung heute - Hypothesen und Exempel

11

Das Epochenprofil des christlich-feudalen Okzidents (2004 )

338

12

Das Huhn und der Feudalismus (2 0 0 3 )

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13

»An die Erdscholle gewachsen«? Die Metamorphose der Knechtschaft im nördlichen Eisass vom 8. zum 10 . Jahrhundert (2 0 2 1 )

361

14

Denar-Druck im Okzident 700 bis 1050 . Ein Beitrag zur historischen Anthropologie des Geldes (2 019 )

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Anhang Editorische Bemerkungen und Drucknachweise

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Literatur

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es w a r , s o w e i t i c h m i c h e r i n n e r e , im Februar oder März 1979. Ich war nach Köln gereist, um die Ausstellung »Die Parier und der schöne Stil« zu besuchen. Morgens angekommen, verbrachte ich den ganzen Tag im Museum Schnütgen. Als ich am Abend auf den Zug wartete, der mich zurück nach Paris bringen sollte, stieß ich in der Nähe des Bahnhofs und des Doms auf eine kleine Buchhandlung, in der ich lange verweilte. Dort entdeckte ich den Band Feudalismus. Materialien zu Theorie und Geschichte, herausgegeben von Ludolf Kuchenbuch und Bernd Michael. Nach kurzem Durchblättern kaufte ich ihn sofort. Es war wie eine Offenbarung für mich. Zum ersten Mal hatte ich ein Werk vor mir, das sich nicht mit einer Annä­ herung an das Mittelalter mittels bei Marx entlehnter Begriffe begnügte. Vielmehr versuchte es, die Hauptrichtungen in der Geschichtsschreibung herauszustellen, die die Frage des Feudalismus ernst genommen hatten, und bemühte sich um eine strukturierte Gesamtsicht. Nur einige der fran­ zösischen Texte waren mir bekannt, die meisten anderen gänzlich neu. In den folgenden Wochen versuchte ich, mir die zitierten Bücher zu beschaf­ fen, während ich zugleich damit begann, all das Material in meine eige­ nen Überlegungen zu integrieren. Ich kann den Bruch, den dieses Werk für mein Denken bedeutete, gar nicht genug betonen. Es fällt heute schwer, sich zu vergegenwärtigen, was für ein Sumpf die selbsternannte »marxis­ tische Geschichtsschreibung« zu dieser Zeit war. Im Mai 1981 (es ist gerade vierzig Jahre her, da ich diese Zeilen schreibe) traf ich schließlich Ludolf Kuchenbuch auf einer Konferenz in Trier. Er war Teil eines fröhlichen Berliner Trios, zu dem auch Bernd Michael und Heinz Dieter Kittsteiner gehörten. Unsere Gespräche bei dieser Gelegen­ heit waren nur kurz, doch stellte dies gleichwohl eine ganz entscheidende Kontaktaufnahme dar. Als ich zu Beginn des Jahres 1982 das Manuskript Zur Entwicklung des Feudalismuskonzepts im Werk von Karl Marx erhielt, war dies für mich ein zweites Aha-Erlebnis. Die besondere Bedeutung, die ich diesem Text beimaß, veranlasste mich unmittelbar zu einer Über­ setzung. In der Folge kam es zu einem relativ regelmäßigen Austausch: Briefe, die wechselseitige Zusendung von Sonderdrucken und Büchern, Treffen

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Geleitwort

es w a r , s o w e i t i ch m i c h e r i n n e r e , im Februar oder März 1979. Ich war nach Köln gereist, um die Ausstellung »Die Parier und der schöne Stil« zu besuchen. Morgens angekommen, verbrachte ich den ganzen Tag im Museum Schnütgen. Als ich am Abend auf den Zug wartete, der mich zurück nach Paris bringen sollte, stieß ich in der Nähe des Bahnhofs und des Doms auf eine kleine Buchhandlung, in der ich lange verweilte. Dort entdeckte ich den Band Feudalismus. Materialien zu Theorie und Geschichte, herausgegeben von Ludolf Kuchenbuch und Bernd Michael. Nach kurzem Durchblättern kaufte ich ihn sofort. Es war wie eine Offenbarung für mich. Zum ersten Mal hatte ich ein Werk vor mir, das sich nicht mit einer Annä­ herung an das Mittelalter mittels bei Marx entlehnter Begriffe begnügte. Vielmehr versuchte es, die Hauptrichtungen in der Geschichtsschreibung herauszustellen, die die Frage des Feudalismus ernst genommen hatten, und bemühte sich um eine strukturierte Gesamtsicht. Nur einige der fran­ zösischen Texte waren mir bekannt, die meisten anderen gänzlich neu. In den folgenden Wochen versuchte ich, mir die zitierten Bücher zu beschaf­ fen, während ich zugleich damit begann, all das Material in meine eige­ nen Überlegungen zu integrieren. Ich kann den Bruch, den dieses Werk für mein Denken bedeutete, gar nicht genug betonen. Es fällt heute schwer, sich zu vergegenwärtigen, was für ein Sumpf die selbsternannte »marxis­ tische Geschichtsschreibung« zu dieser Zeit war. Im Mai 1981 (es ist gerade vierzig Jahre her, da ich diese Zeilen schreibe) traf ich schließlich Ludolf Kuchenbuch auf einer Konferenz in Trier. Er war Teil eines fröhlichen Berliner Trios, zu dem auch Bernd Michael und Heinz Dieter Kittsteiner gehörten. Unsere Gespräche bei dieser Gelegen­ heit waren nur kurz, doch stellte dies gleichwohl eine ganz entscheidende Kontaktaufnahme dar. Als ich zu Beginn des Jahres 1982 das Manuskript Zur Entwicklung des Feudalismuskonzepts im Werk von Karl Marx erhielt, war dies für mich ein zweites Aha-Erlebnis. Die besondere Bedeutung, die ich diesem Text beimaß, veranlasste mich unmittelbar zu einer Über­ setzung.

ln der Folge kam es zu einem relativ regelmäßigen Austausch: Briefe, die wechselseitige Zusendung von Sonderdrucken und Büchern, Treffen

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G e le itw o r t

auf Konferenzen, deren erste die Marx-Konferenz in Paris im März 1983 war. Andere fanden insbesondere in Göttingen statt. Auf Ludolfs Initi­ ative hin kam ich 20 0 4 zum ersten Mal nach Berlin. Ich wohnte einem Konzert von Ludolf bei und wir besuchten gemeinsam das kurz zuvor wiedereröffnete Bode-Museum. Ludolf kam zu Besuch ins Méconnais und unsere Gespräche wurden - vor allem dank des Internets - häufi­ ger und intensiver. Anlässlich einer Einladung zum Wintersemester 2009/10 nach Berlin konnten wir jede Woche einen ganzen Nachmittag mit Gesprächen verbringen. Dies war ein besonderes Glück für mich, erhielt ich doch dadurch die Möglichkeit, viele Themen zu diskutieren und andere Sichtweisen mit der meinen zu vergleichen. Dies erlaubte mir nach und nach, die Besonderheiten der deutschen Denkweise aus­ zumachen, die es vom französischen unterscheiden. Unterschiede, die oft nicht auf den ersten Blick erkennbar sind, die aber viele Divergenzen oder Missverständnisse erklären. Zugleich war dies die Gelegenheit, erstmals ein Treffen einer Handvoll französischer Mediävisten und Mediävistinnen zu organisieren, die wie ich den Wunsch hegten, eine vertiefte und fortgesetzte Diskussion mit Ludolf zu führen. In den Folgejahren kam es im Burgund zu mehreren solcher Zusammenkünfte. Diese sehr kurze Skizze soll lediglich die groben Linien meiner nun­ mehr über vier Jahrzehnte andauernden Verbindung mit Ludolf Kuchen­ buch umreißen. Diese Verbindung spielt in meiner eigenen geistigen Entwicklung eine Schlüsselrolle. Zum einen, weil er als Einziger verstand, was ich schrieb, und nützliche Anmerkungen und Kritik vorbrachte, und zum anderen, weil seine Nachfragen und Neuorientierungen mich fort­ während dazu anhielten, meine eigenen Analysen zu überarbeiten und weiterzuentwickeln. Die Veröffentlichung des vorliegenden Sammelbands ist von großer Bedeutung. Darin sind die meisten der Texte versammelt, die Ludolfs wis­ senschaftliche Erkenntnisse zu M arx’ Bedeutung für die Erforschung des Mittelalters abstecken, wie zugleich zur Auslegung und Anwendung der marxschen Arbeiten durch die Mediävistik seit der Zwischenkriegszeit. Viele dieser Texte waren unveröffentlicht oder beinahe unzugänglich. So wird es beispielsweise von besonderem Interesse sein, die beiden Texte von 1977 und 1978 mit jenen beiden aus den Jahren 2004 und 2007 zu vergleichen, die sehr ähnliche Themen behandeln. 1977 hatte Ludolf in »Feudalismus. Materialien zu Theorie und Geschichte« den Versuch unternommen, die Entwicklung der Feudalis­ mus-Konzepte seit Marx insbesondere in Deutschland - nach 1945 in den beiden deutschen Staaten -, aber auch in Frankreich strukturiert darzu­ stellen. Es wurden ausführliche Originalauszüge der Autorinnen und Autoren bereitgestellt und von pointierten Kommentaren begleitet. Es ist eindrücklich, die mit wenigen Seiten Abstand aufeinanderfolgenden

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Geleitwort

Texte der sogenannten marxistisch-leninistischen Vulgata (Stalin), die Elaborate der Nationalsozialisten (Brunner) oder Régine Robins seman­ tische Analysen zu lesen. Im Jahr darauf, 1978, veröffentlichte Ludolf gemeinsam mit Bernd Michael eine chronologisch geordnete Gesamt­ sicht des europäischen Feudalismus, die recht unmittelbar von den Arbeiten Pierre Vilars inspiriert war. In einem umfangreichen Dokument von 2007, als Studienmaterial der FernUniversität Plagen erstellt, zeichnete Ludolf mit großer Detail­ tiefe die Debatten der deutschen Mediävistik seit 1945 nach. Die Schlüs­ selfiguren sind in diesem Umfeld gut verortet, vor allem lässt sich die Entwicklung der Darstellung des Mittelalters gut nachvollziehen - in Abhängigkeit von den gegensätzlichen Entwicklungen der ideologischen Konstellationen in der DDR und der BRD. Es ist eine Art Zeitchronik,die offen gesagt - auch zu Bitterkeit oder Melancholie anregt angesichts der vielen, letztlich fast verlorenen Energie, Arbeit und durchwachten Stun­ den. Dieser Text ist eine besonders eindrucksvolle Quelle der Reflexion über die Rolle des Historikers heute. Doch bereits 2004 hatte Ludolf eine Gesamtsicht des Gesellschaftssys­ tems im mittelalterlichen Europa geliefert, die von absoluter Originalität war und vom gewaltigen Fortschritt seines Denkens zeugte. Ausgehend von der Gegenüberstellung zweier Texte - Kant und Novalis - stellte er vier grundlegende Begriffe - Kirche, Macht, Werk, Reform - heraus und legte eine radikal neue, strukturale Sicht auf die abendländische mittel­ alterliche Gesellschaft vor. In dieser umfassenden und multidimensio­ nalen Sichtweise konnte man ohne Mühe ein Denken ausmachen, das auf den von Marx aufgestellten Prinzipien beruhte und zugleich völlig unabhängig sowohl von der traditionellen europäischen Geschichts­ schreibung als auch von den sogenannten marxistisch-leninistischen Erzeugnissen war. Dieser Sprung nach vorne, den Ludolf in weniger als dreißig Jahren gemacht hat, kann nicht überschätzt werden. Ihm war ein Durchbruch gelungen. Um den Autor ein wenig besser zu verstehen, muss man auch Ludolf den Gärtner und Ludolf den Saxofonisten kennen. Als Besitzer eines Schrebergartens kultiviert Ludolf mit größter Sorgfalt Gemüse, Blumen und Obst. Nichts ersetzt einem Mediävisten die persönliche Erfahrung des Wechsels der Jahreszeiten, der jährlichen Ertragsschwankungen und des Pflegeaufwands, den ein einfaches Beet mit Rüben oder Zwie­ beln erfordert. Marc Bloch scherzte einmal über jene Mediävisten, deren Pflüge lediglich Urkunden pflügten. Ich für meinen Teil betrachte belustigt jene »Architektur«-Historiker, die sich noch nie am Anheben, geschweige denn am Transportieren einiger mittelformatiger Quader­ steine versucht haben. Ludolf in seinem Garten zu sehen, sagt viel mehr aus als all jene Etiketten von Materialismus und Realismus (auf die er

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auf Konferenzen, deren erste die Marx-Konferenz in Paris im März 1983 war. Andere fanden insbesondere in Göttingen statt. Auf Ludolfs Initi­ ative hin kam ich 2004 zum ersten Mal nach Berlin. Ich wohnte einem Konzert von Ludolf bei und wir besuchten gemeinsam das kurz zuvor wiedereröffnete Bode-Museum. Ludolf kam zu Besuch ins Mäconnais und unsere Gespräche wurden - vor allem dank des Internets - häufi­ ger und intensiver. Anlässlich einer Einladung zum Wintersemester 2009/10 nach Berlin konnten wir jede Woche einen ganzen Nachmittag mit Gesprächen verbringen. Dies war ein besonderes Glück für mich, erhielt ich doch dadurch die Möglichkeit, viele Themen zu diskutieren und andere Sichtweisen mit der meinen zu vergleichen. Dies erlaubte mir nach und nach, die Besonderheiten der deutschen Denkweise aus­ zumachen, die es vom französischen unterscheiden. Unterschiede, die oft nicht auf den ersten Blick erkennbar sind, die aber viele Divergenzen oder Missverständnisse erklären. Zugleich war dies die Gelegenheit, erstmals ein Treffen einer Handvoll französischer Mediävisten und Mediävistinnen zu organisieren, die wie ich den Wunsch hegten, eine vertiefte und fortgesetzte Diskussion mit Ludolf zu führen. In den Folgejahren kam es im Burgund zu mehreren solcher Zusammenkünfte. Diese sehr kurze Skizze soll lediglich die groben Linien meiner nun­ mehr über vier Jahrzehnte andauernden Verbindung mit Ludolf Kuchen­ buch umreißen. Diese Verbindung spielt in meiner eigenen geistigen Entwicklung eine Schlüsselrolle. Zum einen, weil er als Einziger verstand, was ich schrieb, und nützliche Anmerkungen und Kritik vorbrachte, und zum anderen, weil seine Nachfragen und Neuorientierungen mich fort­ während dazu anhielten, meine eigenen Analysen zu überarbeiten und weiterzuentwickeln. Die Veröffentlichung des vorliegenden Sammelbands ist von großer Bedeutung. Darin sind die meisten der Texte versammelt, die Ludolfs wis­ senschaftliche Erkenntnisse zu Marx’ Bedeutung für die Erforschung des Mittelalters abstecken, wie zugleich zur Auslegung und Anwendung der marxschen Arbeiten durch die Mediävistik seit der Zwischenkriegszeit. Viele dieser Texte waren unveröffentlicht oder beinahe unzugänglich. So wird es beispielsweise von besonderem Interesse sein, die beiden Texte von 1977 und 1978 mit jenen beiden aus den Jahren 2004 und 2007 zu vergleichen, die sehr ähnliche Themen behandeln. 1977 hatte Ludolf in »Feudalismus. Materialien zu Theorie und Geschichte« den Versuch unternommen, die Entwicklung der Feudalis­ mus-Konzepte seit Marx insbesondere in Deutschland - nach 1945 in den beiden deutschen Staaten -, aber auch in Frankreich strukturiert darzu­ stellen. Es wurden ausführliche Originalauszüge der Autorinnen und Autoren bereitgestellt und von pointierten Kommentaren begleitet. Es ist eindrücklich, die mit wenigen Seiten Abstand aufeinanderfolgenden

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Texte der sogenannten marxistisch-leninistischen Vulgata (Stalin), die Elaborate der Nationalsozialisten (Brunner) oder Régine Robins seman­ tische Analysen zu lesen. Im Jahr darauf, 1978, veröffentlichte Ludolf gemeinsam mit Bernd Michael eine chronologisch geordnete Gesamt­ sicht des europäischen Feudalismus, die recht unmittelbar von den Arbeiten Pierre Vilars inspiriert war. In einem umfangreichen Dokument von 2007, als Studienmaterial der FernUniversität Hagen erstellt, zeichnete Ludolf mit großer Detail­ tiefe die Debatten der deutschen Mediävistik seit 1945 nach. Die Schlüs­ selfiguren sind in diesem Umfeld gut verortet, vor allem lässt sich die Entwicklung der Darstellung des Mittelalters gut nachvollziehen - in Abhängigkeit von den gegensätzlichen Entwicklungen der ideologischen Konstellationen in der DDR und der BRD. Es ist eine Art Zeitchronik, die offen gesagt - auch zu Bitterkeit oder Melancholie anregt angesichts der vielen, letztlich fast verlorenen Energie, Arbeit und durchwachten Stun­ den. Dieser Text ist eine besonders eindrucksvolle Quelle der Reflexion über die Rolle des Historikers heute. Doch bereits 2004 hatte Ludolf eine Gesamtsicht des Gesellschaftssys­ tems im mittelalterlichen Europa geliefert, die von absoluter Originalität war und vom gewaltigen Fortschritt seines Denkens zeugte. Ausgehend von der Gegenüberstellung zweier Texte - Kant und Novalis - stellte er vier grundlegende Begriffe - Kirche, Macht, Werk, Reform - heraus und legte eine radikal neue, strukturale Sicht auf die abendländische mittel­ alterliche Gesellschaft vor. In dieser umfassenden und multidimensio­ nalen Sichtweise konnte man ohne Mühe ein Denken ausmachen, das auf den von Marx aufgestellten Prinzipien beruhte und zugleich völlig unabhängig sowohl von der traditionellen europäischen Geschichts­ schreibung als auch von den sogenannten marxistisch-leninistischen Erzeugnissen war. Dieser Sprung nach vorne, den Ludolf in weniger als dreißig Jahren gemacht hat, kann nicht überschätzt werden. Ihm war ein Durchbruch gelungen. Um den Autor ein wenig besser zu verstehen, muss man auch Ludolf den Gärtner und Ludolf den Saxofonisten kennen. Als Besitzer eines Schrebergartens kultiviert Ludolf mit größter Sorgfalt Gemüse, Blumen und Obst. Nichts ersetzt einem Mediävisten die persönliche Erfahrung des Wechsels der Jahreszeiten, der jährlichen Ertragsschwankungen und des Pflegeaufwands, den ein einfaches Beet mit Rüben oder Zwie­ beln erfordert. Marc Bloch scherzte einmal über jene Mediävisten, deren Pflüge lediglich Urkunden pflügten. Ich für meinen Teil betrachte belustigt jene »Architektur«-Historiker, die sich noch nie am Anheben, geschweige denn am Transportieren einiger mittelformatiger Quader­ steine versucht haben. Ludolf in seinem Garten zu sehen, sagt viel mehr aus als all jene Etiketten von Materialismus und Realismus (auf die er

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sorgsam verzichtet). Mit großem Gewinn liest man daher »Reflexive Mediävistik«, einen anderen Sammelband, an dem man (insbesondere) Ludolfs empirisch fundierten Umgang mit Quelle in concreto studieren kann. Noch überwältigender und lehrreicher sind Ludolfs Darbietungen als Saxofonist. Im Berlin der 1960er Jahre entwickelte er eine Leidenschaft für den Free Jazz. Er wurde ein renommierter Saxofonist, gründete eine Jazzband, verbrachte seine Zeit in jenen Kellern, in denen diese neue Musik entstand, und begann selbst zu komponieren. Nach langen Jahren des Halbexils kehrte er 2004 nach Berlin zurück, belebte ein Trio wieder, organisierte erneut Konzerte und begann wieder mit dem Komponieren. Die so entstandene Musik ist beeindruckend, selbst für einen völligen Laien wie mich. Die Vielfalt der Rhythmen und Melodien, der musikali­ sche Einfallsreichtum, atemberaubenden Soli, grenzenlose Leidenschaft und völlige Hingabe der Kern seiner Persönlichkeit wird sichtbar. Im Verlaufe zahlloser Gespräche erklärte m ir Ludolf, dass er beim Reflektieren über Dokumente die gleiche Herangehensweise nutze wie beim Komponieren. Die Grundbegriffe seien jeweils Struktur und Varia­ tion. Ich für meinen Teil bin unfähig, auch nur eine halbe Zeile Musik zu komponieren, und doch analysiere ich Dokumente ebenfalls, indem ich mit Strukturen spiele. Das Bewegen von Beziehungseinheiten, das Ver­ ändern bestimmter Elemente, das Hinzufügen, das Abziehen, die Neu­ gewichtung sind die besten Mittel, um die Zusammenhänge zwischen menschlichen Handlungen und gesellschaftlichen Strukturen auszulo­ ten. Ludolf Kuchenbuchs Handlungs- und Denkweise, seine Verbunden­ heit mit dem rationalistischen Erbe von Karl Marx, aber auch sein Cha­ rakter haben ihn zu einem der bedeutendsten Mediävisten des 20. Jahr­ hunderts gemacht. Die Zunft der deutschen Mediävisten zeigte sich jedoch als viel zu traditionalistisch, um nicht zu sagen reaktionär, um ihm Unterstützung zuteilwerden zu lassen. Angesichts der unbestritte­ nen Qualität seiner wissenschaftlichen Arbeiten ließ er sich jedoch nicht einfach ins Abseits stellen oder entmutigen. Widerwillig billigte man ihm schließlich eine Randposition zu. Er wurde mit dem beschwichtigenden Etikett »Spezialist der früh- und hochmittelalterlichen Grundherrschaft« versehen. Originalität und Bedeutung seiner vorgelegten Forschungen, von denen man im vorliegenden Band einen guten Eindruck bekommt, liegen auf der Hand: Diese Texte werden zweifellos länger überdauern und auf einen größeren Widerhall treffen als viele Publikationen anderer Mediävistinnen und Mediävisten in herausgehobeneren Positionen. Ludolfs Werk steht in der großen deutschen rationalistischen und emanzipatorischen Geistestradition, die Teil des kritischen Idealismus ist, einen Umweg über Wilhelm von Humboldt macht, über Marx ver­

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läuft, der eine Synthese herstellt, mit Georg Lukäcs und Ernst Cassirer wiederauflebt und schließlich noch ferne Resonanz bei Hans Albert, Hans Blumenberg oder Heinz Dieter Kittsteiner findet. Wir haben ein einzigar­ tiges, außergewöhnliches, großartiges Werk in den Händen.1 ALAIN GUERREAU, SEPTEMBER 2021

Aus dem Französischen von Christian Winterhalter

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Eine Übersetzung dieses Werks in die zwei anderen europäischen Kultursprachen, das Franzö­ sische und das Italienische, wäre daher äußerst wünschenswert.

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Vorwort

»Gut, ich habe ja auch m al den Marx gelesen oder es zumindest versucht und auch das eine oder andere daraus gelernt.« (Peter Brötzmann, 2012)1 »Leute des 6., 9., 12., 15., 17. Jahrhunderts - seien sie Geistliche, vom Adel, Bau­ ern oder Bürger-denen ich vorschlüge, sie lebten im >MittelalterMittelalter< sei nun wirklich >mein< Problem. Darüber aber, ob ihr Leben als Unfreier, als Nonne, als Ritter, als Handwerker von feudalem Bindun­ gen, natürlich jeweils anders, bestimmt sei, würden sie wohl zu reden und zu rechten bereit sein, in dem Sinne also, dass dies auch >ihr< Problem sein könnte. Das gesamte Projekt würde ich gern die >Entbürgerlichung< bzw. die >Entmodernisiemng< des Feudalismus nennen.« (LudolfKuchenbuch, 2002)2 i c h h a b e Lu d o l f k u c h e n b u c h g e h ö r t , bevor ich etwas von ihm gelesen habe. Bei FMP - nein, nicht das nach dem Franz-Mehring-Platz 1 benannte Gebäude, FMPi, in dem der Dietz Verlag Berlin seinen Sitz hat, sondern bei der »Free Music Production«. FMP war ein Berliner Jazzla­ bel, 1969 gegründet, unter anderem vom Jazz-Avantgardisten Peter Brötzmann. Kuchenbuch ist dort gleich auf mehreren Platten zu hören, mit Saxofon und in diversen Tonlagen. Er musiziert bis heute, mit über 80 Jahren, und wie ich in den vielen Gesprächen im Vorfeld der vorliegen­ den Publikation erfahren habe, trägt der Jazz ähnlich wie das Gärtnern (siehe Geleitwort von Alain Guerreau) einen wesentlichen Anteil dazu bei, dass die vorliegenden Texte überhaupt versammelt werden können. Beide Kulturtechniken - Gärtnern und Musizieren - waren für Kuchen­ buch in den letzten 50 Jahren eine Form des Innehaltens, um nicht leer­ zulaufen, um sich nicht zu verrennen, aber auch Wege, nicht den Faden zu verlieren. Die absolute Gegenwärtigkeit der Musik trifft auf den Stoff der vermeintlich abgeschlossenen, längst vergangenen Geschichte, das Lebenselixier des Historikers Kuchenbuch. Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass es der gleiche Kuchenbuch ist, der etwa mit dem Berlin Jazz Workshop Orchestra »diszi­ plinierten, durchdachten Free Jazz«3praktiziert und als Historiker ebenso

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Christoph J. Bauer/Peter Brötzmann: Brötzmann Gespräche. Mit einem Essay von Christoph J. Bauer, Berlin 2012. Ludolf Kuchenbuch: Feudalismus. Versuch über die Gebrauchsstrategien eines wissenspoliti­ schen Reizworts in der Mediävistik, im vorliegenden Band, S. 335. Der Tagesspiegel, 13.3.1979, zur LP »who is who?«.

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durchdacht wie disziplinfest die herrschende Mediävistik aufmischt, nicht nur, aber vor allem dank Karl Marx. Kaum ein Historiker kennt sich mit Marx’ Theorie und dem Feudalismus gleichermaßen gut aus wie Ludolf Kuchenbuch. Er setzt Marx’ Forschungsmaxime mittels kritischer Quellenforschung um, reflektiert Begrifflichkeiten, führt neue Termini ein, die etwa den Funktionswandel von Herrschaft erst auf den Begriff bringen (siehe S. 375 zu »Servitialität«) und sucht methodisch neue Wege. Dank Improvisation wird erfahrbar, dass Regeln nichts Natürliches, Über­ zeitliches sind, sondern sich als von Menschen gemachte erweisen - und das gilt nicht nur für die Musik. Es ist wohl auch die Kombination der Praktiken, die flüchtige Gegenwärtigkeit der Musik und die Arbeit mit der Vergangenheit, die es Kuchenbuch ermöglichen, ein derart lebendi­ ger Historiker zu sein. Ohne Jazzkeller wäre der Staub in den Archiven wohl nicht derart aufgewirbelt worden. Das vorliegende Buch macht einen kleinen, aber alles andere als unwe­ sentlichen Teil der Arbeiten von Ludolf Kuchenbuch gesammelt zugäng­ lich - Arbeiten, die seine Forschung zu Marx und zum Feudalismus im weiteren Sinne miteinander verklammern. Einige Texte sind lange nicht oder nur als graue Literatur erschienen und schlecht zugänglich, andere sind fast vergessen oder nur übersetzt publiziert. Mit dem Band erscheint zudem auch Unveröffentlichtes bzw. erst inspiriert durch die Arbeit an diesem Buch neu Verfasstes. Die Beiträge aus über 40 Jahren verdanken sich je spezifischen Entste­ hungsumständen. Diese werden im Folgenden von Kuchenbuch selbst einleitend umrissen, in einer knappen, den Texten vorangestellten Ein­ ordnung: Was war die jeweilige Motivation, den Beitrag zu schreiben, was der konkrete gesellschaftliche Hintergrund, welche Debattenkonstella­ tion war ausschlaggebend? Allein diese einleitenden Sätze zeigen, dass bei Kuchenbuch mit Selbstreflexion auch die Fähigkeit einhergeht, anzu­ erkennen, was er geleistet hat - trotz aller Bescheidenheit, die ihn sonst auszeichnet. Der vorliegende Band ist jedoch nicht nur eine Dokumen­ tation von Kuchenbuchs Lebenswerk. Er eröffnet vielmehr ein Gespräch zwischen an Marx Interessierten, für die Mediävistik ein Fremdwort ist und die mit Feudalismus als streng historischem Ideologem bzw. euro­ zentrischem Epochensignum eher fremdeln. Das Themenfeld Feudalis­ mus zeigt, wie fruchtbar es sein kann, mit Marx besonders und immer wieder gegen Marx zu argumentieren. Damit bietet der Band nicht nur einen Einstieg in die Marx- und Feudalismusforschung, sondern auch Einblicke in Teile der Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Welt­ krieg - nicht nur der beiden deutschen Staaten, sondern international. Während Marx vorrangig die kapitalistische Produktionsweise und ihre Herrschaft begreifen wollte, macht Kuchenbuch die feudalen Ver­ hältnisse zum Gegenstand, was ihn bereits Anfang der I970er-Jahre,

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Vor w or t

zusammen mit seinem Co-Herausgeber, dem Mediävisten Bernd Michael, unmittelbar zur Frage nach einer feudalen Produktionsweise führt. Es ist lehrreich und anregend zugleich, seinem Suchprozess mittels eines »Leit­ fadens« zu folgen, der ihn vor Sackgassen bewahrt - dank Gärtnerei, Jazz und Methode, die die Texte selbst auszeichnen, - nämlich eine Offenheit, die ihresgleichen sucht, ohne dass die Argumentation darunter leidet. Offene Fragen und Hypothesen laden nicht nur dazu ein, mitzudisku­ tieren, sondern stellen auch eine Form der praktizierten Selbstreflexion dar, die sogleich transparent gemacht wird. Dieser kritischen und selbst­ kritischen Haltung dürfte es zu verdanken sein, dass Kuchenbuch dem I968er-Erbe, Marx neu zu lesen, treu geblieben ist. In den i97oer-Jahren herrschte ein nahezu modischer Gehorsam, kam man in fast allen wis­ senschaftlichen Disziplinen kaum an von M arx inspirierten Ansätzen vorbei. Je nach Marx-Lesart und Ort der Hochschule beziehungsweise Fakultät sah man nahezu überall beispielsweise den Widerspruch von Tauschwert und Gebrauchswert am Werk, die Dialektik von Produkti­ onsverhältnissen und Produktivkräften oder die Klassenkämpfe - die Argumentation der neuen Marx-Gefolgschaft war oftmals formelhaft wie platt. Es war fast Common Sense, alles mit Marx zu erklären. Aber so schnell, wie ein Zitat noch in den I970er-Jahren zur Hand war, so schnell ließen viele, die im universitären Betrieb angekommen waren, Marx wie­ der fallen, läuterten sich, statt Selbstkritik am eigenen folkloristischen Marx-Umgang zu üben. »Jedes Urteil wissenschaftlicher Kritik ist mir willkommen«, schreibt hingegen Marx im Vorwort zum »Kapital« - wer diese Einladung zu Beginn der eigenen Marx-Lektüre annimmt, bleibt meist in einem Dialog mit ihm. Kuchenbuch ist mit Marx im Austausch geblieben. Seine Arbeiten sind in zweifacher Hinsicht für heute von Interesse. Erstens: Wenn M arx der Frage nachgeht, was den Kapitalismus kapita­ listisch macht, so schwingt immer die Frage danach mit, was diesen von anderen Gesellschaftsformationen unterscheidet. Herrschten vor der kapitalistischen andere Produktionsweisen? Wenn ja, welche, und was zeichnet sie aus? Oder kann nur bei der kapitalistischen Produktions­ weise von einer Produktionsweise gesprochen werden - aufgrund der sie auszeichnenden Systematizität und des spezifischen Herrschaftscharak­ ters, die gerade die Unterscheidungsmerkmale zu anderen Epochen dar­ stellen? Und was bedeutet es für die Wissenschaft, diese spezifische Ord­ nung der sozialen Verhältnisse auf den Begriff zu bringen? Marx wurde nicht müde, davor zu warnen, moderne Begrifflichkeiten der bürgerli­ chen Gesellschaft in die Vergangenheit zu projizieren. Genau deshalb ver­ folgt Kuchenbuch eine »Entbürgerlichung« bzw. »Entmodernisierung« des Feudalismus. Ihm kommt es darauf an, der Gefahr zu entgehen, vor der Marx warnt. Dennoch hält er auch nach Jahrzehnten am Begriff des

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V o rw o rt

Feudalismus fest, der beansprucht, etwas Verbindendes auf den Begriff zu bringen, und trotz aller Unterschiede, die diese Zeit auszeichnet, diese Epoche strukturiert. Neben der Frage, wie die Epoche des Feudalismus zu begreifen ist, bleibt zweitens der historische Stoff selbst, der in vielen Geschichts­ büchern wie durch ein bürgerliches Kaleidoskop betrachtet wird (oder, in Ländern des Realsozialismus, durch eines des Marxismus-Leninismus, siehe S. 39 ff.). Ausnahmen bestätigen die Regel. Viele Bücher präsentie­ ren das »Mittelalter« eben als »Mittelalter«, also so, wie der historische Stoff gerade nicht aufbereitet werden soll, »verbürgerlicht«. Aber wie ihn gegen den Strich bürsten? Originalquellen lesen? Die historischen Passa­ gen bei Marx? Im »Kapital« bringt Marx nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Begriff, sondern bereitet viel historischen Stoff a u fnatürlich nur den, den er kannte, aber er kannte viel und wusste ihn ori­ ginell zu nutzen, wie Alain Guerreau zeigt.4 Es ist das Material, in dem Marx seine Kritik der Politischen Ökonomie verankert, aber auch das Material, das entsprechend seiner Theorie gedeutet wird. Die Darstellung feudaler Verhältnisse ist Kontrastfolie, etwa im »Kapital«, immer nach der Analyse der kapitalistischen Formen (von Kaufmannskapital, zins­ tragendem Kapital und Grundrente), oder sie dienen ihm als Probe aufs Exempel. Sie haben aber auch systematische Bedeutung, werden thema­ tisiert, wenn er an die Grenzen der dialektischen Darstellung stößt, etwa bei der gesellschaftlichen Tat, die entscheidend dafür ist, was als Geld gilt, oder bei der Frage, wie die doppelt freie Lohnarbeit überhaupt in die Welt kommt. Marx setzt deren Existenz bis zur sogenannten ursprünglichen Akkumulation einfach als soziale Tatsache voraus. M arx’ diverse Ausführungen zwischen den 1840er- und den 1870erJahren sind nicht der heutige Stand der Forschung. Und bis heute ist es uns noch nicht möglich, M arx’ eigene Forschung, die er bis in die i88oer-Jahre betrieb, en détail nachzuvollziehen. So sind Exzerpte zu historischen Fragen seit den i87oer-Jahren noch nicht in der MarxEngels-Gesamtausgabe (MEGA2) editiert, wir können also noch nicht die Frage beantworten, ob und in welchem Sinne Marx hinzugelernt oder sich selbst korrigiert hat - etwas, das seine Arbeit über die Jahrzehnte auszeichnet. Während an Marx Interessierte sich vielleicht durchaus die Mühe machen, dem in der MEGA2 oder der Werkausgabe beim Karl Dietz Verlag (MEW) nachzuspüren, wälzen die wenigsten lateinische Original­ quellen oder gehen in Archive, um überprüfen zu können, ob Marx rich­ tiglag. Nur die wenigsten, die Marx’ Formulierungen in einem Lesekreis oder bei der privaten Lektüre folgen, verstehen seine historischen Aus­ führungen in allen Einzelheiten, können sie einordnen oder das von ihm 4

Alain Guerreau: Marx und das Mittelalter. Zur Frage seiner Quellen, in: Helle Panke e. V. (Hrsg.): Philosophische Gespräche 25, Berlin 2012.

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V o rw o rt

aufbereitete Material historisch-kritisch überprüfen. Dank Kuchenbuch können wir einigen Fragen nachspüren, etwa am Stoff nachvollziehen, was das Münzleben im Feudalismus bedeu­ tet - zum indest bezogen auf den Denar in der Zeit zwischen den Jahren 700 und 10 5 0 . Kuchenbuch zeigt für diese Zeitspanne, dass und warum die Münzen kein Geld im engeren Sinne waren (siehe S. 378 ff.). Zudem zeichnet er den Deutungshorizont in Marx’ verschiedenen Analysen und Einlassungen nach und zeigt, was personale Herrschaft konkret und im Wandel der Zeit bedeutet (siehe S. 364 ff.) - und was das alles mit dem Gebrauch und der Bezeichnung von Hühnern zu tun hat, denn je nach spezifischem gesellschaftlichen Kontext und damit sozialer Dimension der Gebrauchsweise hatte das Huhn einen je spezifischen Namen. Ein Huhn ist nicht einfach ein Huhn, sondern unterliegt einer gesellschaftli­ chen Formbestimmtheit (siehe S. 356 ff). Ohne dass Marx als Kronzeuge herhalten m uss, zeigt Kuchenbuch, dass die feudalen Verhältnisse das innere Band der gesellschaftlichen Praktiken sind, sich als Insignien des feudalen Alltags zu erkennen geben - als konkrete Geschichte des Feu­ dalismus. Ich wünsche dem vorliegenden Band eine breite Leserschaft, Leser, die mit dem Buch Marx neu lesen, Leserinnen, die aufgrund ihres Interes­ ses für den Feudalismus dank Kuchenbuch zu Marx finden, weil er noch immer einen produktiven Dialog über die Geschichte ermöglicht. INGO STÜTZLE, NOVEMBER 2 0 21

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Die Kompilation »Marx, feudal«

di e v o r l i e g e n d e Ko m p i l a t i o n vereint 14 Arbeiten, die aus meiner wissenschaftlichen Qualifikationzeit und meiner akademischen Tätig­ keit bis heute datieren. Sie eint ihr direkter oder indirekter Bezug auf Karl Marx als Geschichtsmethodologe, Theoretiker der industriekapi­ talistischen Moderne, scharfzüngiger Kritiker des deutschen rest-feu­ dalen Vormärz und umfassend zum Mittelalter belesener Historiker mit elektrisierenden Teileinsichten in dessen Basiszusammenhänge. So bestimmte er mein Zielen auf eine zeitimmanente Erkenntnis des kategorialen Auffassungsgefüges und Sozialgetriebes im christlichen Okzi­ dent maßgeblich mit - das »innere Band« des langen Jahrtausends, für das meines Erachtens immer noch der Feudalismus die - wiewohl stets umstritten - plausibelste Vokabel unter allen epochenbegrifflichen Tra­ ditionen darstellt, wenn sie von den romantischen, liberal-bürgerlichen, marxistisch-leninistischen und universalgeschichtlichen Ausrichtungen bzw. Determinanten befreit ist, die sie seit dem Übergang zur Moderne durchschossen. Die ausgewählten Arbeiten sind diskontinuierlich entstanden und uneinheitlich in ihrer Thematik und Machart. Sie sind Wegmarken eines ungewissen, offenen Lehr- und Forschungslebens, in dessen Verlauf sich dessen Bedingungen und Formen oft kaum merklich, langfristig aber doch tiefgreifend verändert haben.

Vier Begünstigungen Glückliche Umstände haben mir erlaubt, die oben genannten Ziele zu verfolgen und natürlich auch zu modifizieren, ja zu revidieren. 1. In den späten 1960er-, dann i970er-Jahren geriet ich in die Westber­ liner Wissenschaftsszene, eine linksradikale Garküche innovativer Ideen aus diversen Disziplinen, Schulen und Zirkeln, die mir als MöchtegernSoziologen des Mittelalters schier alles bot, um einerseits auf ideolo­ giekritische Distanz zum Fach zu gehen und andererseits theoretische Stichworte und Versatzstücke etwa aus der deutschen Soziologie, der französischen Philosophie und Ethnologie, der englischen politischen Ökonomie und Klassentheorie sowie der Annales-Schule und den engli-

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D ie K o m p ila t ion »Marx, fe u d a l

sehen Mainstream-Marxisten für die eigene Forschung zu sichten und zu adaptieren. Wer hatte schon solche Startbedingungen! 2 . Ich konnte mir Zeit dazu nehmen und sie mit meinesgleichen teilen! Intensive Diskussionen über Karl M arx und Friedrich Engels, Wladimir I. Lenin und Georg Lukäcs, Max Weber und Theodor W. Adorno, Louis Althusser und Karl Polanyi, Marcel Mauss und Claude Meillassoux, Pierre Bourdieu und Maurice Godelier, Marc Bloch und Rodney H. Hilton, Norbert Elias und Alexander Tschajanow waren in diesen Jahren an der Tagesordnung. Viele Freundschaften, insbesondere die mit Bernd Michael und Heinz Dieter Kittsteiner, dann mit Ivan Illich und mit Alain Guerreau (und wiederum mit deren Freunden) bürgten für ihr Niveau und ihren provokativen Wert. Dies alles bestimmte meine erste akade­ mische Lehrzeit an der Technischen Universität (TU) Berlin (1971-1983), ein Historisches Institut mit flacher Hierarchie und solidarischer Reform­ mentalität, entscheidend mit. Mein Chef, der Mediävist Ernst Pitz, konnte sich erkühnen, es zum »Max-Weber-Institut für Universalgeschichte« küren zu wollen! 3 . Nach rasanten zwei Lernjahren bei Lenz Kriss-Rettenbeck über Dingkultur, Oralität, Literalität und Ikonologie im Bayerischen Natio­ nalmuseum (München) war ich dann ab 1985 beauftragt, ein die vormo­ dernen Epochen übergreifendes Lehrangebot für die universitäre Lehre an der FernUniversität Hagen zu erstellen - ohne jegliche ministeriellen Lehrplanvorgaben, unglaublich! Alles war - für die Studierenden an ihren fernen Schreibtischen - möglich und konnte im kleinen, einverständi­ gen Arbeitsbereich Ältere Geschichte umgesetzt werden. Es ergab sich eine optimale Freiheit, alles langfristig Gelernte und Gedachte in die didakti­ sche Waagschale zu werfen. Mit meinem Ausscheiden 20 Jahre später und der Umbenennung des Arbeitsbereichs in »Geschichte und Gegenwart Alt­ europas« (2004) stand den Fernstudierenden ein Bestand von über 30 Stu­ dienbriefen zur Verfügung, darunter auch der erste Beitrag in diesem Band. 4 . Nach der Jahrtausendwende dann die jährlichen Treffen im Cercle de Travail sur les Conditions de la Production du Savoir Médiéviste (CTCPSM), der von Julien Demade, Alain Guerreau und Joseph Morsel initiiert und organisiert wurde. Wieder eine aufwühlende und aufrüh­ rerische Freiheit eigener Art: einwöchige Tischgespräche im kleinen, gesinnungshomogenen Mediävistenkreis über alles fachlich Wichtige, stets anhand vorgelegter neuester Arbeiten oder Projekte - ohne jegli­ ches Zeitlimit pro Thema oder Werk. Hier »passierte« das Wesentliche dessen, was sich im dritten Teil der vorliegenden Sammlung niederge­ schlagen hat. Und parallel dazu sorgte der schöne Zufall interessierter Kollegialität in der Berliner Humboldt-Universität - Michael Borgoltes Mittelalter-Kolloquium - für eine Fortsetzung assoziativer Gedanken­ vermittlung zwischen den Generationen, mit Nachwirkungen für mich

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Die K o m p ila tio n »Marx, fe u d a l

und auf die Jüngeren bis heute. Soweit zur Geschichte der Umstände, die dieser Kompilation »zugearbeitet« haben.

Was ist zusammengekommen? Zum einen setze ich mich direkt mit Marxens Umgang mit Feudalismus und Mittelalter auseinander. Weiterhin wird darüber berichtet, wie - aus­ gehend von Deutschland West und Ost das Feudalismus-Thema in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts international diskutiert und verdrängt bzw. vergessen wurde und wie es aktuell und künftig sys­ tematisch bedacht werden sollte. Schließlich sind verschiedene Versuche dokumentiert, im impliziten Umgang mit Marx’ Hinterlassenschaft und den ihr folgenden theoretischen Bemühungen (etwa Polanyi, Bourdieu, lllich) und in Anknüpfung an innovative mediävistische Forschungen sowohl eigene Hypothesen zur globalen Fassung des okzidentalen Feu­ dalismus zu entwickeln als auch anhand neuer Untersuchungsmethoden neue Antworten auf altbekannte Fragen zu wagen.

Zugangserleichterungen Trotz des skizzierten generellen Hintergrunds für die Entstehung mei­ ner Arbeiten sind diese einzeln auf den ersten Blick kaum verständlich; und selbst ihre unmittelbare Lektüre kann ihren Sinn nicht ausreichend vermitteln. Diese Schwierigkeiten haben Ingo Stützle und ich durch zwei I lilfestellungen abzumildern versucht. Erstens wurden, um einer groben Vororientierung willen, die Bei­ träge zu drei Blöcken geordnet - Historiografie (A), Theoriearbeit (B), neueste Forschung (C). Kein Block ist streng nach Entstehungszeit geord­ net. Block A bietet zunächst einen historiograflschen Überblick in zwei Schritten, gefolgt von drei biografischen Vertiefungen und Ergänzungen. In Block B habe ich meinen Beitrag zur Diskussion über die Genese des Weltsystems vorgezogen. Er steht unserem Aufriss der feudalen ProdukI ionsweise im Reader der FernUniversität Hagen recht nahe. Block C setzt mit einem übergeordneten Hypothesenbündel zum Gesamtprofil der Epoche ein, gefolgt von drei Fallstudien zu Rente, Servilität und Münz­ leben, von denen jede methodisch anders gestrickt ist. Zweitens sollen - unter dem Titel Vorbemerkung - Situierungen der einzelnen Studien ihr jeweiliges Verständnis fördern. Es geht um Einord­ nungen in ihren Entstehungsrahmen, um Klärungen ihres weiteren Dis­ kussionsfeldes und um Gewichtungen des jeweiligen Ertrags. Darüber hinaus sollen beim Lesen jedoch Verbindungen untereinan­ der entstehen. Natürlich keine intendierte und kohärente »Geschichte«. Aber vielleicht gelingt es doch, Dauer und Wandel, Irrwege und Sucherlolge zum Schmerzenskind Feudalismus durch ein halbes Jahrhundert im Fokus meiner Bemühungen exemplarisch verständlich zu machen.

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D ie K o m p ila t io n »Marx, fe udal«

Schließlich dienen die Vorbemerkungen auch dazu, das Riskante dieser Arbeit zu verdeutlichen. Vieles in dieser Sammlung ist aus einer Position eher nur geduldeten als geförderten Minderheitsdenkens in der M ediävistik entstanden, durchaus im Sinne von Michel Foucaults »Gefährdung« des Diskurses - ein Operieren am Rande der Zunft und über ih n hinaus. Aber dieser marginale Spielraum bedeutete Freiheit genug. Denn der Feudalismus hat im Mainstream und Konsensus der westdeutschen Mittelalter-Forschung - als wissenspolitisches Reizwort, geschichtsideologisches Monstrum und als Verbindlichkeit heischende Aufgabe keinen selbstverständlichen Platz im fachhistorischen Denken gehabt, sondern wurde als wenig produktiv, ja irreführend beiseitegelas­ sen oder -geschoben. Im Osten Deutschlands dagegen litt er an seinem wissenspolitisch überhöhten und manipulativen Geltungsanspruch und ermattete zusehends, als seine dogmatischen Vorgaben zerbröckelten. Einen Stammplatz hatte er eher in epochenübergreifenden Interessen der neueren Geschichte und Anthropologie sowie in den hinteren Rän­ gen der historisch orientierten Sozialwissenschaften. Und schließlich: Auch die genuin historische Marx- und Marxismus-Forschung der letz­ ten Jahrzehnte hat sich der Sachverhalte und Hypothesen, um die es hier geht, kaum angenommen. Sicher waren dabei die komplexen näheren Umstände solcher Forschungen und Reflexionen eher hinder- als för­ derlich. Die Vorbemerkungen sollen dem Abbau all dieser Verständnis­ barrieren dienen. LUDOLF KUCHENBUCH, OKTOBER 2021

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A

Historiografie: Einflussfelder und Verlaufslinien

A — H isto rio g ra fie : E in flu s s fe ld e r u nd V e rla u fslin ie n

1 ---- Vom ideologischen Gegensatz zum konzeptionellen Kaleidoskop Die Feu d alism u s-D isku ssio n en , a u sg e h e n d von D e u tsch la n d , von den 1 9 5 0 e r-Ja h re n bis zur W e n d e 1 9 8 9

► Die ersten beiden Beiträge sind historiografische Bemühungen, mit denen ich der Verpflichtung von 1997 (Beitrag 5 und 10) nachkomme, den verwickelten Feudalismus-Diskussionen vor und nach dem Zusammenbruch des Blocksystems 1989/90 einen angemesse­ nen Platz zu verschaffen und neuere Forschungswege anzudeuten. Zu Beitrag i: Meine Nachzeichnung der Feudalismus-Diskussio­ nen im späteren 20. Jahrhundert geht a u f einen Beitrag zu einem Studienbrief der FernUniversität Hagen über Schlüsselfragen Alt­ europas zurück. Dort stand er in Nachbarschaft zu Stichworten wie Antike, Ostkolonisation, Bauernkrieg. Grundzüge dieses Berichts habe ich 2004 in Bonn vor einem japanischen und deutschen Fach­ publikum vorgetragen und dann ausgearbeitet. Davon ist bislang nur die japanische Fassung erschienen (2009). Von dort hat mich bislang kein Kommentar erreicht. Die vorliegende Fassung ist um die Schlusssätze gekürzt, um Überschneidungen mit dem Anfang von Beitrag 2 zu vermeiden. Zu Beitrag 2: Dies ist ein Versuch, die »Arbeit am Feudalismus« nach dem Einbruch 1989/90 bis zur Gegenwart (2021) streng gebün­ delt fortzuführen. In ihm ist ein Vortrag (»Marx und der Feudalis­ mus. Von erlebter Politik zu komplexer Wissenschaft«) verarbeitet, den ich im Februar 2012 gehalten habe. In dessen Folge sind die aktualisierten Fassungen der Marx-Studien von Alain Guerreau und mir von 1983 samt meinem Postskript in Heft 24 und 25 der Philoso­ phischen Gespräche der Helle-Panke-Edition der Rosa-LuxemburgStiftung erschienen (2012). Diese Reihe richtet sich an ein breites Publikum im intellektuellen Milieu der Linken und darüber hinaus. Darin unterscheide ich drei Phasen - einige Zwischenbilanzen um die Jahrtausendwende, ein Bündel sehr verschiedener Monografien (2003-2008) sowie - f ü r die dann folgenden Jahre - einen äußerst gedrängten Bericht über die Aktivitäten des Cercle du travail sur les conditions de la production du savoir médiéviste.

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1 - Vom id e o lo g is c h e n G e g e n s a tz zum k o n z e p tio n e lle n K a le id o s k o p

»The curse o f Babel is on the word.« (David Crouch, tggi)1

1 Vorbemerkungen A Der lexikalische Befund, das Vorauswissen und mein Standort Das deutsche Fremdwort Feudalismus, in seiner Stammsilbe zurückge­ hend auf das lateinische Nomen feudum , ist heutzutage nicht nur ein Schlüsselwort für eine historische Orientierung. Es ist zugleich ein Reiz­ wort. Sein alltäglicher Gebrauch tendiert ständig zur Emotionalität und Parteilichkeit, stößt entweder auf Ablehnung oder Zustimmung. Beginnen wir bei uns selber. Sicher werden Sie oder jemand in Ihrer Mi'gleitung einmal ein auffällig teures Automobil am Straßenrand »feu­ daler Schlitten« genannt haben. Sicher werden Sie im Verlaufe eines par­ lamentarischen Rededuells, in gewerkschaftlichen Verlautbarungen oder In einem politischen Kommentar in Presse, Funk oder Fernsehen von »feudalen Methoden«, »feudalistischem Führungsstil« oder Ähnlichem gehört oder gelesen oder derlei selber im politischen Gespräch, voller Empörung im Blick auf den Sachverhalt, geäußert haben. Was in der neuesten Auflage des »Basler/Schulz«, des großen, historisch ausgerichleten »Deutschen Fremdwörterbuchs« zum aktuellen Alltagsgebrauch mdcr dem Stichwort »feudal« zusammengebracht ist,2 bietet für beide Aspekte diverse Belege: für den bewundernden bzw. neidischen Blick auf den ostentativen, aufwendig-luxuriösen Lebensstil und für den kritisch polemisierenden Aspekt eines autoritären, gegen demokratische Spielicgeln bzw. Normen verstoßenden aktuellen Machtgebrauchs. Zugleich werden Ihnen im Schulunterricht, im Studium, bei der Leklure historischer Darstellungen die Substantive Feudalismus bzw. Feudalilal und Feudalisierung, das Adjektiv/euda/ sowie ganz verschiedene Wort­ zusammensetzungen bzw. -Verbindungen wie Feudalzeitalter, Feudalisiei tinysprozess, Feudalsystem, Feudaladel, feudales Mittelalter, feudale Rente, feudale Burg immer wieder begegnet sein. In der modernen Geschichts­ wissenschaft sind vor allem zwei Sinnvarianten des Begriffs greifbar. I

I >iivitl Crouch: Debatc: Bastard Feudalism Revised, in: Past & Present 1/1991, S. 166. I lettisches Fremdwörterbuch, 8 Bde., hrsg. v. Institut für deutsche Sprache, Berlin/New York 199S II., hier: Bd. 5, 2004, S. 801 ff. Das Deutsche Fremdwörterbuch wurde zunächst von Otto Basler (all 1912), dann von Hans Schulz (1922) und schließlich vom Institut für Deutsche Spra­ che (1974 bis 1988) besorgt. Seil 1990 werden alle älteren Teile neu bearbeitet. 25

A — H is to rio g ra fie : E in flu s s fe ld e r u n d V e rla u fslin ie n

Zum einen meint man mit dem Feudalismus - im engen Verstände im Grunde nichts anderes als das Lehnswesen, also das mittelalterliche Rechtssystem, das den Adel zu einer spezifischen Staatsform integriere (Feudalstaat, Feudalität). Das Prinzip: Ein Herr binde einen anderen Herrn niedrigeren Ranges an sich, mache ihn zu seinem Vasallen (LehnsMann) durch einen dreischrittigen Ritus, in dem dieser seine in jenes Hände lege (Handgang) und darauf schöre, ihm Rat und Hilfe zu leisten (Treueid), der Lehns-Herr hingegen seinem Vasallen (Land-)Güter bzw. Einkommenstitel, das sogenannte feudum bzw. lehen, verleihe; ein Frie­ denskuss schließe diesen vertragartigen Pakt ab. Die Bindung gelte nur auf Lebenszeit beider und müsse bei jedem Todesfall (Herren- bzw. MannFall) erneuert werden. Mittels dieser Beziehungsform sei der Adel im Mit­ telalter vom Monarchen über mehrere Stufen bis hinunter zum Ritter organisiert gewesen (Lehnspyramide, Heerschildordnung). Die Folge: eine labile, von personalen Konstellationen beherrschte Staats- bzw. Reichsstruktur, die einerseits dadurch gefährdet werde, dass die Vasallen ihre Lehen in Erbgüter wandelten, rivalisierende Bindungen mit mehre­ ren Lehnsherren eingingen und sich so unabhängig machten, anderer­ seits die Lehnsherren danach trachteten, die Vasallen für konkrete (mili­ tärische und administrative) Dienste zu besolden, ausschließlich an sich bzw. das »Reich« zu binden und zum Gehorsam zu zwingen (zentripetale und zentrifugale Tendenzen). Das Lehnswesen entspreche einer natura­ len Wirtschaftsweise, in der das Geld als Gegenleistung für Herrendienste weitgehend fehle, dafür die Vergütung mit Land und den darauf wirt­ schaftenden Leuten trete. Entstanden in der fränkischen Zeit im Raum zwischen Loire und Rhein, habe es sich wie ein Ölfleck ausgebreitet und im hohen Mittelalter breite Gültigkeit im katholischen Europa erlangt. Schrittweise abgelöst werde es dann im späteren Mittelalter von monar­ chischen und ständischen, zunehmend territorialisierten Staatswesen, die über genügend monetäre Einkünfte verfügten, um sich auf eine besoldete und damit gefügigere Dienerschaft in Heer, Gericht, Finanzen (Steuern) und Güterverwaltung stützen zu können. Als Feudalismus habe mithin also einerseits das Staatsrecht des zentralen Mittelalters in Europa zu gelten. Zum anderen gibt es aber auch die AufFassung, der Feudalismus sei eine Epoche der Universalgeschichte gewesen, die dem modernen Kapitalismus allerorten vorausgegangen sei. In dieser feudalen Gesell­ schaftsformation hätten sich Grundherren und Bauern als antagonisti­ sche Klassen gegenübergestanden. Letztere hätten zwar für sich, aber nicht nur für sich, sondern darüber hinaus so wirtschaften müssen, dass Ersteren ein standesgemäßes Auskommen (Mehrprodukt in der Form der Feudalrente) gesichert gewesen sei. Diese grundlegenden Pro­ duktionsverhältnisse seien von außerökonomischem Zwang geprägt

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1 - Vom id e o lo g is c h e n G e g e n s a tz zum k o n ze p tio n e lle n K a le id o s k o p

gewesen und hätten alle anderen sozialen und politischen Beziehungen bestimmt. Um diese Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse zu gewähr­ leisten, hätten die Feudalherren das Eigentum nicht nur des Bodens, sondern auch der materiellen und ideellen Gewaltmittel (Waffen, Recht­ sprechung, Religion) monopolisiert, die Klasse der Bauern sei in ihren Verfügungsmöglichkeiten über ihr Handeln und ihre Habe maßgeblich eingeschränkt gewesen, sie hätten dementsprechend als unfrei gegol­ ten (Leibeigenschaft, Hörigkeit). Der sozialökonomische Widerspruch zwischen beiden Klassen, der Kampf um das Mehrprodukt der Bauern, habe die ökonomische und ideologische Entwicklung des Feudalis­ mus immer weiter vorangetrieben, also den dieser Gesellschaftsform eigentümlichen Fortschritt in allen Bereichen verursacht - bis hin zu seiner Ablösung durch den Kapitalismus. Wie weit der so verstandene Feudalismus auf dem Globus verbreitet gewesen sei (ob also nicht nur Im christlichen Europa, sondern auch im Inkareich, in China, Indien, in islamischen Reichen, Byzanz usw.), darüber bestünde keine Einigkeit. In diesem Sinne wird unter Feudalismus also der Typus einer primär ökonomisch bestimmten Gesellschaftsformation verstanden, deren his­ torische Verbreitung in dem Maße sich erweitere, je abstrakter und all­ gemeiner man diesen Typus definiere. Wenn wir auf diese Weise im ersten Vorgriff einen juristisch-politisch engen Feudalismus-Begriff von einem sozioökonomisch weiten unter­ scheiden, haben wir zwei verschiedenen Erfahrungen Rechnung getra­ gen. Wir sehen zum einen, dass es beim Reden über den Feudalismus darauf ankommt, zu wissen, über welche Art von Geschichte man gerade icdet - über konkrete Verfassungsgeschichte etwa oder über abstrakte hzw. generelle Universalgeschichte. Wir erwarten zum anderen, dass unser Gesprächspartner grundsätzlich eine andere Auffassung bekun­ den könnte als wir selber, sollten wir im Gespräch für die angemessenere Brauchbarkeit des einen oder anderen Konzepts Partei ergreifen. Beim Umgang mit dem Feudalismus-Begriff empfiehlt es sich, das sollten diese Vorbemerkungen in Erinnerung rufen, doppelt vorsichtig zu sei n. Zum einen deshalb, weil das Sinnfeld des Wortes Feudalismus mehr­ deutig ist, kein festes, verbindliches Bedeutungszentrum hat, semantisch vielschichtig und beweglich ist. Zum anderen, weil die Gebrauchsweise des Wortes Feudalismus etwas Dissensträchtiges, Strittiges an sich hat. Es scheint nicht neutralisierbar zu sein, gehört nicht zum Selbstverständli­ chen im eigenen und öffentlichen Wissensbestand und in der geistigen Verständigung, sondern bleibt stets ein »Problem«. Ein typisches Reiz­ wort also in der historischen und politischen Kommunikation. I fiesem Sachverhalt soll im Folgenden nachgespürt werden. Woher kommt die Anstößigkeit, der mangelnde Konsens? Woher die sachliche I hdditäl? Natürlich aus derGeschichte! Aber aus welcher? Die vorläufige,

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A — H isto rio g ra fie : E in flu s s fe ld e r u n d V e rla u fs lin ie n

banale Antwort: Der Problemstatus des Worts und seiner daran geknüpf­ ten Vorstellungen und Werte ist so alt (bzw. so jung) wie es selbst. Wort und Begriff Feudalismus stammen, das ist die wichtigste Voraussetzung für alles Folgende, nicht aus den Zeiten, für die sie - mit welcher Sinn­ ausrichtung im m er - als geistiges Markenzeichen stehen. Adlige, ob Monarchen oder Ritter, im christlichen Europa zwischen dem 5. und 15. Jahrhundert nannten sich nicht Feudalaristokraten. Sie verstanden ihre politischen Beziehungen nicht als Feudalstaat (obwohl sie häufig Lehnsherr oder Lehnsmann bzw. Vasall waren, oft auch beides zugleich). Sie nannten die sozialen Verhältnisse zwischen ihnen und ihren Bauern bzw. Untergebenen nicht feudal, ihre Einkommen nicht Feudalrente. Sie wussten sich nicht ähnlich oder gleich »feudal« bestimmt wie muslimi­ sche, chinesische, indische, aztekische Herren, verstanden ihr Zeitalter nicht als feudale Gesellschaftsformation vor dem industriellen Kapita­ lismus. Vielmehr entstand das Feudalismus-Problem mit der Moderne, und es blieb bzw. bleibt Teil und Ausdruck der Begründungsarten und Sinn­ konflikte der vergangenen und gegenwärtigen Moderne (und sicher auch künftiger globalisierter Epochen). Der Feudalismus gehört - das ist die ganz generelle These - zur Sinngeschichte, zur Erinnerungspolitik und zum Diskurs der wissenschaftlichen Historie der Moderne und all ihrer Popularisierungen. An ihm hingen politisch und kulturell wichtige Über­ zeugungen von der Machbarkeit der bürgerlich-kapitalistischen bzw. sozialistischen Gesellschaften in Gegenwart und Zukunft, ebenso aber auch Strategien und Methoden, die unendlich vielen und chaotischen Daten der Vergangenheit in plausibles Orientierungswissen von der Geschichte zu verwandeln. Es ist hier nicht möglich, diese Zusammenhänge zwischen kulturellen Sinngebungen, kollektiven Erinnerungen und wissenschaftlichen Dis­ kursen vollständig auszubreiten. Nach Anlage des Studienbriefs soll die Konzentration auf die nationale deutsche Zeitgeschichte dieser Zusam­ menhänge angestrebt sein, eine, wie Sie sehen werden, nur bedingt lös­ bare Aufgabe. Dazu kommt in diesem ersten Kursteil die Verengung auf die fachhistorischen Vorgänge. Populäre Imaginationen alles Feudalen, wie sie oben im politischen Sprachgebrauch angedeutet wurden, m üs­ sen also ebenfalls beiseite bleiben. Schließlich hat sich das Thema in die Reihe derjenigen geschichtswissenschaftlichen Schlüsselthemen - Skla­ verei, Völkerwanderung, Ostsiedlung, Reformation - einzufügen, die im Zentrum der west-östlichen Auseinandersetzungen um das »richtige« Geschichtsbild der Vormoderne (Alteuropas) im geteilten und dann wie­ der geeinten Deutschland standen. Diese Begrenzung war kaum einzu­ halten, weil die Denkbewegungen außerhalb der beiden deutschen Staa­ ten unüberhörbar in die internen Diskussionen drängten.

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1 — Vom id e o lo g is c h e n G e g e n s a tz zum k o n z e p tio n e lle n Kaleidoskop

Was also ist das Ziel der folgenden Darlegungen? Am Ende meiner Strcit-ums-Wort-Geschichten soll schlicht Ihre Einsicht stehen, dass es »Innvoll ist, möglichst viel über das Woher und Warum dieses Argwohns hzw. Vorbehalts im wissenschaftlichen Gebrauchsfeld des FeudalismusTerminus zu wissen, um seine inhaltlichen Bewegungen, seine Bewer­ tungen, seine wechselnde Bedeutung für die Geschichtswissenschaften. Aber Achtung! Der Effekt Wissenschafts- und diskursgeschichtlicher Auf­ klärung wird sicher nicht der sein, dass damit für Sie das FeudalismusProblem »gelöst« sein wird. Versprechen kann ich nur, dass Sie den Sinn der Veränderungen und das Endlose des Problems besser verstehen - und anderen erklären können. Der Bibliografie können Sie entnehmen, dass ich selbst - seit 1977mohrfach das Wort zum Feudalismus-Problem ergriffen habe. Ich bin also aktiver Zeitzeuge, habe Kritik geübt, Gedanken entwickelt und Vor­ schläge gemacht im Feudalismus-Diskurs, auch meine Meinung geän­ dert, und ich erinnere mich in spezifischer Form an viele Details des Denk- und Urteilsstreits. All das kann ein Nachteil sein, denn ein dezi­ dierter eigener Standpunkt, seine Korrektur sowie die eigenen Erinne­ rungen gehen meist sehr enge Verbindungen miteinander ein, die auf Solbstrechtfertigung hinauslaufen. Zum Glück gibt es solide Darstellun­ gen der Diskussionen, auf die ich mich als Berichter stützen kann. Sehen Sie sich dazu die einleitenden Bemerkungen zur Bibliografie an. Ein Vor­ lei 1meiner Mittäterschaft besteht allerdings darin, auf Lücken, blinde Fle­ cken und Schiefheiten in der Forschungsliteratur hinweisen zu können. H Ausrichtung, Machart, Lektürehinweis ()b mit der These im Obertitel dieses Kapitels das Thema tragfähig gebün­ delt ist, darüber sollten Sie am Schluss der Lektüre selber richten können. Der Untertitel und die Gliederung versprechen zwar eine »Geschichte«, also eine chronologisch geordnete Erzählung vom Kriegsende bis zum Ende der Teilung Deutschlands und danach bis heute. Aber ich muss Sie vorab enttäuschen. Zum einen werden Sie keine stringente Gesamthandlung geboten bekommen. Es hat derlei nämlich gar nicht gegeben. Dies hat Michael Borgolte in dem weiteren Zusammenhang der Entwicklung der Sozialgeschichte deutlich machen können.3 West- und ostdeutsche Mediävisten und Mediävistinnen haben sich keinen offenen und durch­ gehenden Schlagabtausch zum Feudalismus geliefert. Es gab keine konlinuierliche west-östliche Feudalismus-Diskussion, sondern einerseits interne Auseinandersetzungen, davon deutlich mehr im sozialistischen (tsten und im westlichen Europa als in der BRD, sowie punktuelle Berüh­ rungen bzw. Kritiken hin und her; im Übrigen Initiativen, die - eher
ie (insbesondere aristokratischen) Wissens- und Erfahrungsbestände des Okzidents könnten vor einer Gestaltungsgewalt und -hybris bewah­ ren, wie sie in die deutsche Nazikatastrophe geführt habe (woran auch Brunner geistig mitgetan hatte) und nun (erneut) vom Kommunismus her drohe. In Aufsätzen über Schlüsselwörter(paare) wie Ideologie, Herr­ in i:bd„ s. 35. II

OttoBrunner/WernerConze/ReinhartKoselleck(Hrsg.):Ge$chichtlicheGrundbegriffe. Histori­ sches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972 ff.

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schafl und Legitimität, Haus und Ökonomie, Freiheit und Stand, Gottesgnadentum u nd Monarchie, Bauerntum, Stadt und Bürgertum demonst­ rierte Brunner diesen umfassenden Sachverhalt. Schon 1956 erschien die erste Sam m lung dieser Arbeiten und fand schnell breitestes Echo in der Zunft und darüber hinaus.12 Ein elem entarer Baustein in diesem geistigen Gebäude war die »Begriffsgeschichte des Feudalismus«.13 Ausgehend von Sinnverhältnis­ sen, wie sie von mir einleitend als die lexikalische Grundsituation und als Allgemeinwissen etikettiert wurden, suchte Brunner zu erweisen, woher die Spaltung in den engen Feudalstaats- und den weiten Feudalgese//schq/tsbegriff kam, wie sie sich weiterentwickelt hat und welche Konse­ quenzen m an aus beidem ziehen sollte. Die »Lösung« hatte er bereits in Bremen ausgegeben. Nun ging es um den ideologiegeschichtlichen Testgang, der diese Lösung rechtfertigen konnte. Er gelang ihm so über­ zeugend, dass seitdem kein Interessierter an ihm »vorbeidenken« sollte (viele tun es aber immer noch). Lassen Sie mich in freier Zusammenfassung Brunners Leistung nach­ zeichnen. Er konnte erweisen, dass beide, sowohl die enge wie auch die weite Begriffsperspektive, sich der Dissoziation der Vorstellungen von »Staat«, »Wirtschaft« und »Gesellschaft« sowie ihrer jeweiligen Verselbst­ ständigung in den Jahrzehnten vor und während der bürgerlichen Revo­ lutionen, besonders aber der französischen, verdanken. Das Sinnfeld von feudal, im 17. und 18. Jahrhundert von Juristen zur präzisen Erschließung aristokratischer Rechtsverhältnisse elaboriert, wurde vom dritten (bür­ gerlichen) Stand und seinen politischen Wortführern zum Kampfbegriffsarsenal gegen das Ancien Régime gemacht, zur Diffamierung aller recht­ lichen, politischen und wirtschaftlichen Privilegien der Aristokratie, sei sie weltlich oder geistlich, benutzt. Die Angriffe auf die Monarchie, den ersten (geistlichen) und den zweiten (adligen) Stand und seine Privilegien wurden mit dieser Terminologie infiziert und etikettiert. Die dramati­ schen terminologischen Ausweitungen im Prozess der Französischen Revolution betrafen sowohl das öffentlich-staatliche Feld (Feudalität) als auch das soziale und ökonomische Ganze (Feudalregime, Feudalismus). Als Fahnenwörter der Revolution wurden die Feudal-Syntagmen dann zum stets abrufbaren polemischen Erbgut bei allen Auseinandersetzun­ gen um die Kritik der alten und die Apotheose der neuen politischen Verhältnisse in allen Reichen und Regionen Europas, die in den Sog der 12 Otto Brunner: Land und Herrschaft [1939], 3., erg. Aufl. Brünn/München/Wien 1943, letzte bereinigte Auflage Wien/Wiesbaden 1968. 13 Otto Brunner: Feudalismus. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte [1958], in: ders.: Abhandlungen der Akademie d. Wissenschaften u. d. Literatur. Geistes- u. sozialwissenschaftliche Klasse 10, Wiesbaden (Nachdruck in: ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1968; spatere Kurzfassung: ders.: Feudalismus/feudal, in: Otto Brunner u. a.: Grundbegriffe, Bd. 2).

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politischen Modernisierung gerieten. Nur kam es nun darauf an, in wel­ cher politischen Position man sich befand. Die konservativ-adlige, die bürgerlich-liberale oder die proletarisch-soziale (bzw. sozialistische) Her­ kunft und Gesinnung entschied darüber, welchen Sinn die Wörter Feudalltät, Feudalismus und so weiter annahmen. Brunner zeichnet von diesem »sattelzeitlichen« Ausgangspunkt aus die begriffsgeschichtlichen Leistungen beider Grundvarianten seit dem IH. Jahrhundert bis in seine Gegenwart nach. Zuerst die Denkbewegun­ gen zur Feudalgesellschaft. Ob die französischen Revolutionäre und Früh»o/.ialisten, ob deutsche Konservative wie Ludwig v. Marwitz und Adam Müller, liberale wie Immanuel Kant und Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Sozialisten wie Karl Marx und Friedrich Engels, schließlich auch Histo­ riker des früheren 20. Jahrhunderts wie Georg von Below, Otto Hintze und Marc Bloch, sie dachten alle auf der Grundlage der Eroberungstheo­ rie und der Grundherrschaft, das heißt, sie bauten ihren Begriff der Feu­ dalgesellschaft auf den modernen Prinzipen der militärischen Gewalt und der ökonomischen Herrschaft auf. Die Begriffsentwicklung über den Feudalstaat hingegen, weit verbreitet in den nationalen Geschichts­ wissenschaften, war geprägt von einer »Übersteigerung« der feudalen I lerrschaft (als Herr-Knecht-Struktur) und von modernen Staatsvorstel­ lungen: In solchem Licht erschienen die zentrifugalen Wirkungen des Lehnswesens als staatszerstörerische Anarchie, die zentripetalen hinge­ gen als Vorstufen der modernen Souveränität, Gewaltenteilung und Büro­ kratie. Nach dieser doppelten »ideologiekritischen Bestandsaufnahme« lässt Brunner dann abschließend eine kurze kritische Stellungnahme zu derjenigen Forschungsleistung im Bereich des weiten FeudalismusKonzepts folgen, die aus seiner Sicht noch am plausibelsten erscheint, die von Otto Hintze (1861-1940). Abstecher: Otto Hintze antwortet Georg von Below und M ax Weber Als der Preußen-Historiker Otto Hintze - er gilt heute als einer der weni­ gen deutschen Pioniere der vergleichenden Verfassungsgeschichte 1029 seine Abhandlung über »Wesen und Verbreitung des Feudalismus« veröffentlichte,14 bezog er eine neuartige Position in der FeudalismusDiskussion.15 Auf der Suche nach dem Spezifischen europäischer Staats­ entwicklung erweiterte er die Perspektive um universalgeschichtliche Vergleichsfälle. Das Ergebnis: Im Widerspruch zur vorherrschenden N Otto Hintze: Wesen und Verbreitung des Feudalismus [1929], in: ders.: Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. v. Gerhard Oestreich, Göttingen 1970. I'« /um Folgenden: Ludolf Kuchenbuch/Bernd Michael (Hrsg.): Feudalismus. Materialien zur The­ orie und Geschichte, Berlin u. a, 1977, S. 441; Otto Gerhard Oexle: Feudalismus, Verfassung und Politik im deutschen Kaiserreich, 1868-1920, in: Natalie Fryde/Pierre Monnet/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Die Gegenwart des Feudalismus, Göttingen 2002, sowie Michael Borgolte: Otto I lintzes Lehre vom Feudalismus in kritischen Perspektiven des 20. Jahrhunderts, in: ebd.

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etatistischen Lehrmeinung Georg von Belows (1858-1927), nach der der Feudalismus die den Staat zerstörende »Durchbrechung des Untertanen­ verbandes« (mittels Lehnswesen, Immunität und politischer Einung) in der Geschichte des Mittelalters darstelle,16 fand Hintze eine ganz andere Lösung. Feudalism us sei in spezifischen geschichtlichen Konstellatio­ nen entstanden, die eine Ablenkung des historisch normalen Übergangs vom »Stamm zum Staat« erzwangen: im Zuge und in der Folge also von Reichsbildungen durch Eroberer, die gegenüber den Eroberten auf nied­ rigerer Kulturstufe standen. Zweitens erweiterte Flintze den engen poli­ tischen Feudalismus-Begriff der deutschen Fachhistorie zu einer Dreiheit von Faktoren. In seinen Worten: »Das sind also die drei Faktoren, die als Gesamteffekt den Feudalismus hervorbringen - wir könnten auch sagen: die drei Funktionen, in denen der Feudalismus sich auswirkt: 1. die militärische: Aussonde­ rung eines hoch ausgebildeten, dem Herrscher in Treue verbundenen berufsmäßigen Kriegerstandes, der auf Privatvertrag beruht und eine bevorrechtigte Stellung einnimmt; 2. die ökonomisch-soziale: Aus­ bildung einer grundherrschaftlich-bäuerlichen Wirtschaftsweise, die diesem privilegierten Kriegerstand ein arbeitsfreies Renteneinkom­ men gewährt; 3. lokale Herrenstellung dieses Kriegeradels und maß­ gebender Einfluss oder auch selbstherrliche Absonderung in einem Staatsverband, der dazu prädisponiert ist durch eine sehr lockere Struktur, durch das Überwiegen der persönlichen Herrschaftsmittel über die anstaltlichen, durch Neigung zum Patrimonialismus und durch eine sehr enge Verbindung mit der kirchlichen Hierarchie.«17 Mit diesem komplexen Konzept hatte der Historiker Hintze auch auf den Soziologen Max Weber geantwortet, der in seiner groß angelegten Herrschaftssoziologie in »Wirtschaft und Gesellschaft« von 1911/1318 den okzidentalen Feudalismus unter dem Begriff Lehnsfeudalismus als einen Untertypus der »traditionalen Herrschaft« gefasst hatte. Das eigentüm­ liche dieses Herrschaftstypus bestand für Weber darin, dass die Souve­ räne (z. B. Monarchen) nicht stark genug waren, um die Herrschaftsm/ffe/ (Renten/Sold, Gewaltmittel, Sanktionsbefugnisse) zentral aneignen und dann verteilen zu können (diesen Typ nannte er Patrimonialismus), son­ dern sie an ihre Verwaltungsstelle (Adel) delegieren mussten. Weber hatte damit dem Feudalismus zwar einen systematischen Platz zugewiesen, die Frage nach seinen Entstehungsbedingungen, Auswirkungen und seiner 16 Georg von Below: Der deutsche Staat des Mittelalters, Leipzig 1914. 17 Hintze: Wesen, S. 94 f. 18 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft [1922], Studienausgabe, Tübingen 1972, S. 795 ff.

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Verbreitung aber nicht konsequent verfolgt.19 Hier konnte der Historiker Hlntze ansetzen. Da er Webers Auffassung teilte, dass Grundherrschaften (il. h. rententragende ländliche Besitzungen) normale Lehnsobjekte waren, konnte er diese als ökonomischen Faktor des Feudalismus betrachten. Er Inkorporierte gewissermaßen Webers Patrimonialismus in den Feudalis­ mus. Seine universalgeschichtlichen Vergleiche führten zu dem Ergebnis, dass abgesehen vom Okzident auch Russland, Japan und die islamischen Staaten diesen agrarisch basierten »Eroberungs-Feudalismus« mit locke­ rer, vom selbstständigen Kriegeradel ständig gefährdeter Reichsstruktur gekannt hätten.20 Als Vorteil seiner Begriffsprägung betrachtete Hintze die Beobachtung, dass der militärische Faktor ausschlaggebend für die lintstehung, die Machtbeziehungen zwischen Souverän und Kriegeradel zentral für die schrittweise Staatsformung und die Grundherrschaft die langfristige Basis für die Wirtschaftsentwicklung des Feudalismus waren. Dass Otto Brunner 1958 erkannte, welche Innovationen Hintze R) Jahre zuvor - ohne ernsthaftes Echo in der Fachwelt - für die Feuda­ lismus-Diskussion beigesteuert hatte, zeugt von seinem Weitblick. Doch lehnte er sowohl die ökonomische Erweiterung in Hintzes Konzept ab, als auch die raum-zeitliche über das okzidentale Europa hinaus. Längst waren ja die Würfel für den Rückzug in einen Lehnswesen-Feudalismus gefallen, der die sachliche Abtrennung der Grundherrschaft und die tiiumliche Ausgrenzung des alten Ostens legitimieren sollte. Brunner hielt sich denn auch in den folgenden Arbeiten, in denen er sein Bremer Programm umsetzte, strikt an diese Entscheidung. In seinem Bild vom »Inneren Gefüge des Abendlandes«21 ist für den abendländischen Feu­ dalismus eine Koppelung von herrscherlich delegierten Amtsaufgaben mit der Verlehnung von Landbesitz unter der Bedingung gegenseiti­ ger Treue kennzeichnend - und aus ihr geht ä la longue der rationale, gewaltenteilige Anstaltstaat, also Alteuropas Beitrag zum Übergang In die politische Moderne, hervor. Was Brunner hier vorgelegt hatte, passte nur zu gut zu den rezenten Leistungen22 und auch zu den neu­ eren Absichten der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschung der sich regenerierenden westlichen Nachkriegsmediävistik. Eine Praxis der Restriktion der Forschung und Lehre auf das Lehnswesen ohne the­ oretische bzw. soziologische, also »ideologische« Präokkupationen oder Anleihen aus West oder Ost wurde zur Regel.23 Brunners Programm I'» /.um präziseren Verständnis dieser Lehre: Oexle: Feudalismus, Verfassung und Politik. ’i) Zur Kritik der »Eroberungs-These« Hintzes jetzt überzeugend: Borgolte: Otto Hintzes Lehre vom Feudalismus. I Ollo Brunner: Sozialgeschichte Europas im Mittelalter, Göttingen 1978 [1958]. V I leinrich Mitteis: Der Staat des hohen Mittelalters, Weimar 1940. ' 1 Theodor Mayer (Hrsg.): Studien zum mittelalterlichen Lehnswesen, Lindau-Konstanz 1960; wichtig dazu derbeigische Import: François Louis Ganshof: Was ist das Lehns wesen?, Darmstadt [1944].

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erwies sich, das hat Sokoll ja für die westdeutsche Historie im Allge­ meinen dargelegt, auch für die Mediävistik als hoch innovatorisch - nur nicht im Feld des Feudalismus-Problems. Ein Jahrzehnt der selbst verordneten Theorieabstinenz einer sich breit entfaltenden verfassungsund landesgeschichtlichen Forschung unter der Prämisse strengster Quellenorientierung folgte,24 der Feudalismus war ins Abseits verbannt. Wie nun statteten sich die ostdeutschen Historiker aus? Inwieweit die harschen Zurückweisungen der westdeutschen Meinungsführer in weiteren kritischen Buchrezensionen und bei den noch folgenden Begegnungen (Ulm 1956, Trier 1958) bis zur Trennung der Verbände und dem folgenden Abbruch des direkten fachlichen Austauschs den Trotz der Ostdeutschen schürten, ließe sich nur mit Methoden der Oral History nachweisen. Wie tief der Graben nach Bremen bereits war, dokumentieren die Berichte und Stellungnahmen, die kurz danach in dem neu gegründeten Fachorgan der DDR-Historiker, der Zeitschrift fü r Geschichtswissenschaß, erschienen.25 Die entscheidenden Imperative aber kamen aus der Sowjetunion und von der ihr gefügigen DDR-Parteispitze. Es ging längst darum, den von der SED geforderten Aufbau einer m arxistisch-leninistischen Mittelalterlehre und -forschung voranzubringen.26 Der Auslöser hierzu lag schon einige Jahre zurück. Im Oktober 1951 hatte das Zentral­ komitee der SED Beschlüsse zur »Entwicklung der Forschung über die deutsche Geschichte« gefasst und auf die Ausarbeitung eines Hoch­ schullehrbuchs gedrungen. Eine schwierige Aufgabe für die Aufbau­ generation. Die Anforderungen waren politisch streng, die Mittel karg. Es waren geschichtspolitische Dogmen Stalins und Lenins zu erfül­ len. Es m angelte an verlässlichen Editionen der Klassiker M arx und Engels, und damit auch ihrer Werke bzw. Aussagen zu Feudalismus und Mittelalter. Und unter den Beauftragten - ältere Sozialisten aus dem sowjetischen Exil und kooperationsbereite Liberale bzw. Antifa­ schisten - waren nur zum geringen Teil erfahrene Mittelaltergelehrte. Die jüngere Generation der m arxistisch-leninistisch Geschulten war noch weitgehend in den Startlöchern.27 Wie wurden diese Schwierig­ keiten nun bewältigt?

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Klaus Schreiner: Wissenschaft von der Geschichte des Mittelalters nach 1945. Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Mittelalterforschung, in: Ernst Schulin (Hrsg.): Deutsche Geschichtswis­ senschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1965), München 1989. 25 Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1/1953. 26 Hierzu die Dokumentation in: Eckhard Müller-Mertens (Hrsg): Feudalismus - Entstehung und Wesen, Berlin 1985, S. 10 ff., 47 ff. 27 Hierzu: Michael Borgolte: Eine Generation marxistischer Mittelalterforschung in Deutschland. Erbe und Tradition aus der Sicht eines Neu-Humboldtianers, in: ders. (Hrsg.): Mittelalterfor­ schung nach der Wende 1989, München 1995.

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Abstecher: Die Vorgaben Stalins28 Bitte lesen Sie den folgenden, im Wesentlichen von Josef W. Stalin ver­ fassten Abschnitt aus dem wichtigsten geschichtlichen Lehrbuch der Sowjetunion erst, nachdem Sie sich den Abschnitt über die Sklaverei aus demselben Werk in Erinnerung gerufen haben:29 »In der Feudalordnung ist die Grundlage der Produktionsverhält­ nisse das Eigentum des Feudalherrn an den Produktionsmitteln und beschränktes Eigentum an dem Produzenten, dem Leibeigenen, den der Feudalherr zwar nicht mehr töten darf, den er aber verkaufen und kaufen kann. Neben dem Feudaleigentum existiert das individuelle Eigentum des Bauern und des Handwerkers an den Produktions­ instrumenten und an seiner auf persönlicher Arbeit beruhenden pri­ vaten Wirtschaft. Derartige Produktionsverhältnisse entsprechen im Wesentlichen dem Stand der Produktivkräfte in jener Periode. Weitere Verbesserung der Gewinnung und Verarbeitung des Eisens; Verbrei­ tung des eisernen Pfluges und des Webstuhls; weitere Entwicklung des Ackerbaus, der Gartenwirtschaft, des Weinbaus, der Ölgewinnung; das Aufkommen von Manufakturbetrieben neben den Werkstätten der Handwerker - das sind die charakteristischen Kennzeichen des Standes der Produktivkräfte. [...] Das Privateigentum erfährt hier eine weitere Entwicklung. Die Ausbeutung ist fast ebenso grausam wie die unter der Sklaverei, sie ist nur ein wenig gemildert. Der Klassenkampf zwischen Aus­ beutern und Ausgebeuteten bildet den Grundzug der feudalen Gesellschaftsordnung.«30 Wie Ihnen im Sklaverei-Beitrag von Meyer-Zwiffelhoffer dargelegt,31 waren Stalins Bestimmungen in seinem Lehrtraktat »Über dialektischen und historischen Materialismus« von 1938 (dt. 1939) für mehr als 20 Jahre ungeheuer einflussreich - ohne sie sind auch die Feudalismus-Debatten In der DDR (und in Gelehrtenkreisen, die den westeuropäischen kom­ munistischen Partien nahestanden) nicht verständlich. Ich brauche hier nicht zu wiederholen, was dazu oben im Allgemeinen ausgeführt wurde. Die entscheidenden Stichworte: Historie als Gesetzeswissenschaft, Hislomat, widersprüchliche Einheit von Produktivkräften und Produkti,’M Vgl. Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, S. 295 ff. ,"t

Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer: Kalter Krieg um ein heißes Thema: Die Erforschung der antiken Sklaverei in der DDR und in der BRD, in: Die Gegenwart Alteuropas, FernUniversität Hagen 2007, S. 57 ff.

tu lusef W. Stalin: Über dialektischen und historischen Materialismus [1939], in: Geschichte der kom m unistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). kurzer Lehrgang, o. O. 1970, S. 126 ff, 160, hier: S. 151. 11

Meyer-Zwiffelhoffer: Kalter Krieg.

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onsverhältnissen, ökonomische Gesellschaftsformation und Revolution, antagonistischer Klassenkampf; Objektivismus der Konzepte, Einheit von Theorie und Praxis; Weltgeschichte als aufsteigende lineare Formati­ onsfolge m it Revolutionen im Übergang von einer Formation zur nächs­ ten. Da Sie Stalins Sätze über die Sklaverei mit denen über die Feudal­ herrschaft vergleichen konnten, wird Ihnen vor allem der Formalismus in Aufbau und Ausdruck aufgefallen sein, der beide Wesensbestimmun­ gen (Eigentum, Unfreiheit, Produktivkräfte, Ausbeutung) als nahezu aus­ tauschbar erscheinen lässt - sieht man vom Epochen-Namen und seiner Definition der Abhängigkeitsart (Sklave bzw. Leibeigener) einmal ab. Auch das Wenige, was schon W. I. Lenin 1899 in seinem kanonisier­ ten Buch »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland« über die »Grundzüge der russischen Fronwirtschaft« geschrieben hatte, passte nur sehr bedingt zu dem Sachgut der vormodernen Geschichte (Zentral-) Europas.32 An dieses dürre und unspezifische Skelett waren nun diejenigen kon­ kreten Wissensbestände aus dem Mittelalter anzulagern, die die Unter­ gliederung, also die Detaillierung der Gesamtepoche, plausibel machten. Die Arbeit spitzte sich dementsprechend zu einer Debatte über die Periodisierung der Feudalepoche zu. Wichtige Orientierungshilfe boten hier die sowjetischen Kollegen, die, von Stalin selbst ermutigt, schon eine analoge Debatte zu Beginn der I950er-Jahre geführt hatten.33 Die betref­ fenden Entwürfe und Abwägungen von Leo Stern und Jürgen Kuczynski (i953 _ 54 ) liefen zum einen auf eine wenig originelle Untergliederung der Feudalepoche in die Vor-, die Früh-, die Blüte (Reife, Entfaltungs-) und die Spät- bzw. Niedergangs-Phase hinaus. Sie reproduzierte im Wesentlichen die alte Metaphorik vom Werden und Vergehen der geschichtlichen Zeit­ alter. Keine eindeutigen, das Dogma erfüllende Lösungen fand man für die zeitlichen »Ränder«, also die Abgrenzung zur antiken Sklaverei und zum modernen Kapitalismus, ebenso für das gleichzeitige Nebeneinan­ der verschiedener Entwicklungsniveaus (d. h. besonders das West-OstGefälle).34 Zehn Jahre dauerte es, bis dann als Ergebnis das mehrbändige »Lehr­ buch der deutschen Geschichte« vorlag,35 in dem die Lehre von einem neuen marxistisch-leninistischen bzw. sozialistischen Mittelalter als einem Feudalzeitalter voller Klassenkämpfe zwischen den Feudalherren 32 Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, S. 298 ff. 33 Jürgen Kuczynski/Wolfgang Steinitz (Hrsg.): Zur Periodisierung des Feudalismus und Kapitalis­ mus in der geschichtlichen Entwicklung der UdSSR. Diskussionsbeiträge, Berlin 1952. 34 Leo Stern: Erste Zwischenbilanz einer wissenschaftlichen Kritik, in: Müller-Mertens: Feudalis­ mus, sowie Jürgen Kuczynski: Zur Periodisierung der deutschen Geschichte in der Feudalzeit, in: ebd. 35 Leo Stern/Hans-Ioachim Bartmuß/Horst Gericke/Erhard Voigt: Lehrbuch der deutschen Geschichte (Beiträge), Bd. 2/1-3, Berlin 1963/64.

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Und den Bauern um das Mehrprodukt formuliert war, einer Epoche, die entscheidend vorangetrieben vom Fortschritt der Produktivkräfte die Keime ihrer Überwindung durch die stadtbürgerlichen Klassen notwen­ dig selbst erzeugte. Um die west- und die ostdeutschen Vorgänge in den 1950er- und frü­ heren lgöoer-Jahren auf den kruden Punkt zu bringen, könnte man von einer Alteuropäisierung im Westen und einer Stalinisierung im Osten spre­ chen, eine radikale Spaltung, die dort das Lehnswesen zum mittelalter­ lichen Verfassungsbaustein, hier den Feudalismus zur Etappe in einem Weltgeschichtlichen Verlaufsdogma machte.

4 Entdogmatisierung, Koexistenz, theoretisches Interesse die späteren 1960er- und früheren 1970er-Jahre Aber bei dieser Frontstellung blieb es nicht. Die Diskussionen, von denen nun zu handeln ist, entwickelten sich aus der im Prinzip für alle Partei­ ungen gleichen politischen Großwetterlage - das heißt, der umfassenden Stabilisierung der sozialistischen Staaten in Europa und Asien (Ostblock), der militärischen Hochrüstung und Kontrolle beider Lager (Kalter Krieg) »owie der weltweiten Befreiungskämpfe und Nationalisierungen der Kolonien und unterentwickelten Regionen nach dem Zweiten Weltkrieg (Dritte Welt). Und sie fußten - in Ost und West - auf der intensiven Aufar­ beitung von erst jetzt breit zugänglichen, für die vormoderne Geschichte einschlägigen Schriften (und Entwürfen) von Marx und Engels. Zugleich ging es jedoch um die Einordnung neuer empirischer Tatsachen und neuer soziologischer, ethnologischer, ökonomischer Theorien - SchichIung und Mobilität, Akephalie und Verwandtschaft, Konjunktur und Krise etwa. Aber trotz dieser ähnlichen Konditionen unterschieden sich die neuartigen Feudalismus-Diskussionen im Osten und Westen beträcht­ lich voneinander, sowohl in ihrer Form als auch in ihren Auswirkungen. Ein westliches Signal vorweg. 1966 erschien in der Enzyklopädie '»Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft« (Paperback-Ausgabe: »Marxismus im Systemvergleich«)36 zur Förderung der geistigen Ausei­ nandersetzung westlich-bürgerlicher Wissenschaften mit den Dogmen und wissenschaftlichen Leistungen der Ostblock-Länder der Artikel »Feu­ dalismus«. Die Machart aller Artikel dieses auch heute noch ausgespro­ chen nützlichen Lexikons - für die Geschichte sind circa 60 Stichworte aufgenommen - läuft auf eine Vierteilung hinaus. Zuerst werden allgeineinbegriffliche Fragen des Stichworts behandelt. Dann folgt die Darstel­ lung der Auffassungen der bürgerlichen, dann die der marxistischen Wis­ senschaft. Abschließend wird eine vergleichende Würdigung versucht. Helmut Neubauer, der Autor des Feudalismus-Artikels, kein Mediävist, II» Claus D. Kernig (Hrsg.): Marxismus im Systemvergleich, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1973 f.

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hat sich an d iesen Aufbau gehalten und einen bis heute lesenswerten Abriss geliefert.37 Er besticht durch seinen gelassenen Berichtston und die Ausgewogenheit der wichtigsten Denkstationen beider Lager. Man kann von ein er Attitüde der Anerkennung der anderen Seite, von kriti­ scher Koexistenz der gegensätzlichen Meinungen sprechen. Wichtig ist insbesondere, dass in Grundzügen darüber informiert wird, welche Anzeichen nun in den sowjetischen Feudalismus-Forschungen für eine Ö ffnung des Dogmas erkennbar sind: die Relativierung der Schriften von Lenin und Stalin, fortlebende sachliche Dissense über Anfang und Ende der Feudalepoche, Kritik am Ökonomismus der Forma­ tionstheorie, die Zulassung der Vorstellung von vielfältigen Ausformun­ gen (Typen) des Feudalismus weltweit und in Europa sowie die kritische Beurteilung westlicher Theorieansätze.38 Auch in der DDR setzen nun, nach Abschluss des »Lehrbuchs«, Dis­ kussionen neuer Art ein. Vor allem meldete sich die inzwischen weltan­ schaulich und fachlich solide ausgebildete jüngere Generation von Universitäts- und Akademie-Mediävisten zu Wort, die die Aufforderung der Parteiführung von 1963, produktiver und gründlicher zu werden, also den schöpferischen Umgang mit dem Marxismus-Leninismus zu pfle­ gen, wörtlich nahm.39 Die erste Runde dieser Feudalismus-Diskussionen eröffnete Eckhard Müller-Mertens (Berlin) mit einer Serie von Untersu­ chungen, in denen er nachfragte, ob denn - verglichen etwa mit dem orientalischen - der okzidentale Feudalismus als »klassische« Ausfor­ mung gelten könne. Zudem schlug er selbstbewusst vor, den spätanti­ ken Kolonat als bereits ausgebildetes feudales Produktionsverhältnis, die vielfältigen Herrschafts- und Knechtschaftsbeziehungen in der frühmit­ telalterlichen Germania (patriarchale Sklaverei, Tributherrschaft, Gefolg­ schaft u. a.) hingegen als eigenständige Produktionsverhältnisse (sui generis) zu verstehen.40 Er löste damit einen Schwall von kritischen Stel­ lungnahmen seiner Kollegen und Kolleginnen aus. Man kann diese Reak­ tion nur als einen theoretischen Dammbruch verstehen. Immerhin hatte Müller-Mertens mit einem Schlag mehrere »heilige Kühe« der Formati­ onslehre infrage gestellt: die Leittypik des europäischen Feudalismus für die Weltgeschichte, den eisernen Bestand der Formationen selbst (Urge37

Helmut Neubauer: Feudalismus [1966], in: Claus D. Kernig (Hrsg.), Marxismus im Systemver­ gleich. Geschichte, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1974. 38 Vgl. auch Carsten Goehrke: Zum gegenwärtigen Stand der Feudalismus-Diskussion in der Sow­ jetunion, in: Jahrbuch für die Geschichte Osteuropas N. F. 22/1974. 39 Eckhard Müller-Mertens: Bürgerlichkeit - Marxismus -Autonome Konzeption. Wege in eine eigene Theorie von Geschichte, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen 7, Berlin 1999. 40 Müller-Mertens: Feudalismus, S. 15 ff.; ders.: Zur Feudalentwicklung im Okzident und zur Defi­ nition des Feudalverhältnisses, in: Heide Wunder (Hrsg.): Feudalismus. 10 Aufsätze, München 1974; ders.: Skizze zur weiteren Verständigung über das feudale Produktionsverhältnis, in: Kuchenbuch/Michael: Feudalismus.

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Mllschaft, Sklaverei, Feudalismus) sowie den Gesetzescharakter ihreriu/itnanderfolge. Müller-Mertens baute diese Ansätze dann noch aus, indem •r einerseits durch eine historisch-kritische Interpretation die Klassiker Murx und Engels in Dienst nahm, andererseits empirische Forschungs•rgebnisse (sowohl der westlichen wie der östlichen Mediävisten) integ­ rierte. Er »landete« schließlich bei einer an den späten Engels angelehnlen Definition des feudalen Produktionsverhältnisses als doppelter Ei^entumsbeziehung: Deren Wesen bestünde in der Koppelung von (adligem) Lehen und (bäuerlicher) Landleihe. Hiermit griff er das Dogma des für alle vorkapitalistischen Formationen konstitutiven außerökonomischen Zwangs (ablesbar an allen Formen persönlicher Unfreiheit, insbesondere ller Leibeigenschaft und der Hörigkeit) an. In der vertragsförmigen Länd­ liche sei eben bereits ökonomischer Zwang bestimmend gewesen; und es Imhe häufig genug Landleihen unter der Bedingung persönlicher Freiheit Im europäischen Feudalismus gegeben! In den Reaktionen auf diese Provokationen, geballt vorgetragen auf dem 3. Kongress des Historikerverbandes 1965, dann fortwirkend und »Ich ausweitend bis in die frühen i970er-Jahre, gerieten nahezu alle Prin­ zipien der stalinschen Formationslehre in den Sog kritischer Nachfragen hzw. aufwendiger Rechtfertigungen. Das aufgeregte Stimmengewirr, eine kollektive Entladung angestauter Dringlichkeiten in diesen rasanten Iah­ ten, ist kaum geordnet zu entschlüsseln.41 Ich muss mich hier mit einer kargen Aufzählung begnügen, ohne dabei die einschlägigen Verfasser und Verfasserinnen dabei jeweils namentlich nennen zu können. Verteidigt wird auf breiter Front die universale Reichweite des Feuda­ lismus: Der orientalische bzw. arabische Feudalismus wird bestätigt, in »einer Koppelung von Oase und Wüste aber als zu unbeweglich (nicht progressiv genug) erwiesen, um Leitcharakter für die Wesensbestimnuing (d. h. weltgeschichtliche Progressivität) zu haben. Der Feudalismus Im tropischen Afrika wird (mühsam) verteidigt. China habe »seinen« wesentlich weniger beweglichen Feudalismus gehabt (der eben nicht selbstständig zum Kapitalismus führte). Angesichts dieser Ausweitung der Geltungs- und Bestimmungsprohlematik auf außereuropäische Kulturen stellte sich schnell die Frage nach der Zahl der vorkapitalistischen Formationen: Sollten es nur die "klassischen« drei sein - asiatische, sklavenhalterische, feudale? Oder gar nur eine vorkapitalistische Klassengesellschaft, wie ein sowjetischer Kollege (Meliksvili), vor gleichen Problemen stehend, gerade vorgeschla•II

Heide Wunder (Hrsg.); Feudalismus. Zehn Aufsätze, München 1974, S. 28 ff.; Kuchenbuch/ Michael: Feudalismus, S. 304 ff.; Müller-Mertens: Feudalismus, S. 69 ff.; Wolfgang Kunkel: ('■(.‘Schichte als Prozeß? Historischer Materialismus oder Marxistische Geschichtstheorie, I lamburg 1987, S. 36 ff.; Bernhard Töpfer: Die Herausbildung und die Entwicklungsdynamik der Feudalgesellschaft im Meinungsstreit von Historikern der DDR, in: Fryde/Monnet/Oexle: Gegenwart des Feudalismus.

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gen hatte? Bernhard Töpfer (Berlin), dauerhafter Mitstreiter bis zum Ende der DDR und darüber hinaus, entschied sich früh für diese Lösung (1965). Ihre logische Folge: Die klassischen Formationen mussten dann als Sub typen bzw. Varianten gelten, und sie konnten sowohl nebeneinander als auch gemischt auftreten. Diese Lösung wurde von mehreren FormationsDogmatikern umgehend harsch bestritten. Schließlich ging es um die europa-internen Probleme, vor allem um den Übergang oder die Übergänge von der antiken Sklaverei zum Feuda­ lismus - eine endlose Debatte begann über die Bedeutung der spätanti­ ken ländlichen Unruhen und des Kolonats; über die Frage der »freien« Bauern der in das Römische Reich einbrechenden oder einsickernden germ anischen Stämme und ihr späteres Feudalisierungs-»Schicksal« (d. h. ihre Einbindung in die Grundherrschaft); über den revolutionären Charakter des Übergangs: als dramatischer datierbarer Umbruch oder als langfristiger, zäher Prozess. In einer ersten Bilanz dieser umfassenden Diskussionen bekennt 1969 der Leipziger Althistoriker Rigobert Günther, dass nahezu alles leninis­ tisch-marxistische Prinzipienwissen zur Formationslehre nun fraglich geworden sei. Er spitzte dies zu folgenden Fragen zu: »Ist der Feudalismus eine eigene Gesellschaftsformation? Ist der außerökonomische Zwang die gemeinsame Grundlage der Herrschafts- und Knechtschaftsverhält­ nisse in den vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen?«42 Konnte es im sozialistischen Lager bei einer solchen Dekomposition der Formati­ onslehre, bei solcher Zerstrittenheit in ganz zentralen Fragen bleiben? Abstecher: M arx und Engels als Revisionisten des Dogmas An dieser Stelle ist nachzuholen, aus welchen theoriegeschichtlichen Gründen es zu der geschilderten Explosion von Meinungen kommen konnte. Es ging - im Zuge der sowohl ideologischen als auch fachlichen Selbstbehauptung - um die Nutzung des Erbes der Klassiker Marx und Engels. Zitate bzw. Argumente aus ihren Schriften konnten im Meinungs­ streit - neben den empirischen Unabweisbarkeiten - die entscheidende Rechtfertigung liefern. Viel davon ist Ihnen aus der Sklaverei-Debatte längst bekannt und muss hier nicht wiederholt werden. Im historischen Moment der Übernahme der historisch-materialistischen Gesinnungspostulate von der sowjetischen Siegermacht waren die Schriften der Gründungsdenker Marx und Engels nur sehr rudimentär verfügbar. Dies änderte sich im Laufe der 1950er- und lgöoer-Jahre durch die umfassende Publikation ihrer Werke. In der DDR etwa erschienen die Marx-EngelsWerke (MEW), im Westen Einzelschriften (»Das Kapital«, Frühschriften usw.) und solide Auswahl-Editionen - mit hohen Auflagen. Von kaum 42

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Zit. n. Wunder: Aufsätze, S. 71 f.

1 - Vom id e o lo g is c h e n G e g e n s a t z zum k o n z e p tio n e lle n Kaleidoskop

überschätzbarer Bedeutung waren die Editionen bislang entweder noch nicht veröffentlichter oder schwer zugänglicher Schriften und Manu ikripte zur Selbstverständigung der beiden Freunde. Gemeint sind vor lllem: — die gemeinsam verfasste »Deutsche Ideologie« (1845/46);43 — das erste marxsche Großmanuskript zur Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, die »Grundrisse der Kritik der politischen Ökono­ mie« (1857/58);44 — mehrere späte Manuskripte von Engels im Vorfeld der Überarbeitung seines »Deutschen Bauernkriegs« (»Fränkische Zeit«, 1881/82; »Die Mark«, 1882; »Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie«, 1884);45 “ die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« von Marx (1844);41’ * sowie - im Westen! - diverse Exzerpthefte und Briefe besonders des späten Marx zur Ethnologie, zur vergleichenden Geschichte des Grundeigentums und zur Entwicklung in Russland.47 Im Laufe dieser sich schrittweise ausweitenden Publikation und Rezep­ tion stellte sich zunehmend heraus, dass das von Marx und Engels über­ lieferte Gedankengut einerseits vielfältiger, andererseits aber auch bruch*1 ückhafter und widersprüchlicher war, als es die wenigen kanonisierten Texte, insbesondere das kommunistische Manifest, Marxens »Vorwort« von 1859,48die wenigen einschlägigen Passagen im »Kapital« und die Mit­ telalter- bzw. Feudalismus-Passagen in Engels’ großen Popularisierungs»rhriften (»Anti-Dühring«, »Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats«) und ihre leninistisch-stalinistische Auslegung naheleglen. Diese Erweiterung, Öffnung und zugleich Korrosion des »Kanons« war gm ndlegend für die Diskussionen unter den DDR-Mediävisten - wie auch (tonst in den sozialistisch gesinnten Szenen weltweit. Es war nun möglich, unter Berufung auf diese erst jetzt zugänglichen Schriften und Entwürfe eigene, entweder in Quellenbefunden oder Forschungslagen gründende Abfassungen mitzuteilen, sozusagen kanonisch abzusichern, zur Diskus­ sion zu stellen und dabei mindestens indirekt die Dogmen des stalinisti•II

Kitrl Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie [1845/46], in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke [MEW], Berlin 1956 ff., Bd. 3 (MEGA2, Bd. 1/5).

1-1 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [1857/58], in: MEW, Bd. 42. Erstmals I ‘139/41 (Moskau) erschienen; außerhalb der MEW als fotomechanischer Nachdruck 1953 (Berlin) und 1970 (Frankfurt a. M./Wien) veröffentlicht; auf Grundlage der MEGA2 als MEW, Bd. 42 (1984) |engl-1964, frz. 1967, ital. 1968/70]. T*

Friedrich Engels: Fränkische Zeit [1881/82], in: MEW, Bd. 19 (MEGA2, Bd 1/25), ders.: Die Mark 11882], in: MEW, Bd. 19 (MEGA2, Bd. 1/27), ders.: Über den Verfall des Feudalismus und das Auf­ kommen der Bourgeoisie [1884], in: MEW, Bd. 21 (MEGA2, Bd. 1/30).

In

Karl Marx: Ökonom isch-philosophische M anuskripte aus dem Jahr 1844, in: MEW, Bd. 40, (MEGA2, Bd. 1.2).

■\t

Lawrence Kräder (Hrsg.): Karl Marx, Die ethnologischen Exzerpthefte, Frankfurt a. M. 1976; Hans-Peter Harstick: Karl M arx über Formen vorkapitalistischer Produktion. Vergleichende S[ udien zur Geschichte des Grundeigentums 1879-1890, Frankfurt a. M./New York 1977.

IM Sukoll: Einleitung, S. 20.

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A — H is to r io g r a fie : E in flu s s fe ld e r u n d V e rla u fs lin ie n

sehen Feudalismus-Bildes - mit textkritischen Mitteln - zu unterlaufen. Insbesondere der Abschnitt über die »Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen« in den »Grundrissen« von Marx spielte hier eine unübersehbare Rolle. Müller-Mertens etwa konnte durch ausführ­ liche Rekurse au f marxsche Bestimmungen im Formen-Text seine These von der Eigenständigkeit der germanischen Produktionsverhältnisse absichern. Gleiches tat er mit Formulierungen von Engels zur Landleihe; sie dienten ihm dazu, eine abweichende Definition des Feudalverhältnis­ ses als doppeltem Leiheverhältnis zu wagen (s. o.). Auch Töpfers Vorschlag, sich auf eine einzige vorkapitalistische Klassenformation zu verständi­ gen (s. o.), gründet indirekt in Argumenten aus den marxschen Formen. Die Entstalinisierung des Geschichtsbildes in der DDR - darunter auch die Feudalismus-Lehre - wurde also mithilfe der Werke von M arx und Engels m öglich; bislang unbekannte Texte trugen dazu ebenso bei wie das bessere Verständnis der längst publizierten. Auch das kritische Zitie­ ren etwa aus dem dritten Band des »Kapital« - etwa um ein leninsches Argument abzuwerten - ergab sich nicht von allein, sondern musste erwogen und gewagt werden. Diese hochinteressante ideologische und methodische Revision blieb aber - wie noch zu zeigen ist - begrenzt. Damit verlasse ich erst einmal die DDR-Szene und wende mich der Entwicklung in der BRD zu. Trotz mancher angestauter Theoriedefizite auch in den Grundsatzfragen der mittelalterlichen Geschichte: Zu einem der DDR vergleichbaren dramatischen Aus- oder Durchbruch kam es nicht. Eher zu einem allmählichen Rumoren unter der Decke des quel­ lenstrengen Mediävisten-Konsensus, vornehmlich in der universitären Lehre, weniger in der Forschung. Das Feudalismus-Lesebuch, das Heide Wunder, ehemals Göttinger, dann Hamburger Mediävistin und Frühneuzeitlerin, 1974 veröffentlichte, spiegelt den Beginn eines geistigen Klima­ wechsels, der weniger die etablierte Mediävistik als die Geschichtswis­ senschaft insgesamt betraf. Thomas Sokoll hat diesen Durchbruch zur Sozialgeschichte ausreichend Umrissen. In dessen Sog geriet nun auch die sozialökonomische Sicht auf die Vormoderne, das Mittelalter, und damit gewann der weite Feudalismus-Begriff an Relevanz. In den Uni­ versitäten der späten tgöoer-Jahre kam es zu Frontbildungen zwischen dem traditionell gesonnenen Lehrkörper und Interessen linksgerichteter bzw. ideologiekritischer Studierender, die nicht nur - man denke an die Wirkungen des Auschwitz-Prozesses - auf zeitgeschichtliche Aufklärung drangen, sondern nach dem Orientierungswert des Wissens über die Vor­ moderne und damit auch des Feudalismus fragten. Die Antworten, die Wunder gab, gingen in vier Richtungen. Zum einen klärte sie über den besonderen deutschen Forschungsweg, seine Veren­ gung auf die Dynamik des Lehnswesens auf - bis hin zu Otto Brunner, aber weniger relativistisch als dieser. Zum Zweiten wies sie auf Fort-

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1 - Vom id e o lo g is c h e n G e g e n s a tz zum k o n z e p tio n e lle n Kaleidoskop

ich ritte der vergleichenden Feudalismus-Forschung in der Nachfolge titln Hintzes hin.49 Drittens dokumentierte sie die oben skizzierten DiskUdsionen in der DDR und hob damit die westdeutsche Tabuisierung der MUtelalterhistorie jenseits des Eisernen Vorhangs auf. Und viertens reha­ bilitierte sie eine in Deutschland viel zu wenig bekannte DarstellungsIplstung, die geeignet schien, aus dem unfruchtbaren Antagonismus dea Vergangenen Jahrzehnts herauszuführen: die von Marc Bloch. Abstecher: Marc Blochs »Société féodale« (1 939)50 Nahezu gleichzeitig mit Otto Brunners Revision der mittelalterlichen Verl'assungsgeschichte (»Land und Flerrschaft«) war in Frankreich »La société féodale« (1939/40) von Marc Bloch (1886-1944) erschienen, dem entscheidenden Mitbegründer der Annales und vielseitigen Erneue­ rer der französischen Mittelalterforschung, die sich gegen die vorherr­ schende politische Ereignis- und Tatengeschichte starkmachte. Angeregt von Emil Dürkheims Theorie der Gesellschaft als einem dicht verknüpf­ ten System von Solidaritäten und Abhängigkeiten, hatte er in seinem Huch den engen mittelalterlichen Wortsinn von feudum (Lehen) ent­ scheidend umkonzipiert. Er erweiterte den feudo-vasallitischen Nexus sn, dass er zur Erklärung der mittelalterlichen Gesellschaftsstruktur in Ihrem Gesamtzusammenhang, als Komplex von Vorstellungen, beispiel­ gebend auch für andere soziale Beziehungen, dienen konnte. So gewann ei eine ganzheitliche Sicht auf die mittelalterliche Vergesellschaftung als dynamischem Beziehungssystem zwischen den geistlichen und welt­ lichen Aristokraten-Gruppen und Rängen vom Reiterkrieger bis hoch /um König, aber auch hinunter zu den von ihnen abhängigen Klassen von Bauern und Bürgern. Neben dem vorrangigen feudo-vasallitischen Nexus galten ihm andere soziale Beziehungen bzw. Bindungen (liens) wie Verwandtschaft, Familie, Freundschaft, Genossenschaft, Fierrschaft über Land und Leute (seigneurie, servage), Schutz u. a. jedoch weiter als unverzichtbar für die soziale Integration. Von diesem Konzept aus war es Ihm einerseits möglich, die Feudalgesellschaft als soziales System zu umreißen, zum anderen konnte er die Grundbewegungen und Transfor­ mationen der Klassenbeziehungen auch in ihren regionalen Eigenheiten vergleichend betrachten. Er folgte damit seinem Programm einer verglei1 lienden Verkartung der Gesellschaften Europas, scheute sich aber auch nicht vor einem Vergleich mit Japan. Blochs große Synthese, mitten im Kiieg veröffentlicht - Bloch wurde 1944 als patriotischer Widerstands­ kämpfer von den Nazis ermordet -, konnte ihre Wirkung erst nach dem Kiieg, ganz allmählich, etwa parallel zum internationalen Erfolg der l‘> /.. B. lohn Whitney Hall: Feudalism in Japan - A Reassessment, in: Wunder: Feudalismus. Mi

l.udolf Kuchenbuch: Marc Bloch, La société féodale, in: Volker Reinhardt (Hrsg.): Hauptwerke der Formen< zu Leibeigenschaft und Hörigkeit zu messen: die Abstraktions stufe der Gedankenentwicklung >vertrug< derartig Konkretes nicht. 153 Marx: Grundrisse, MEGA2, Bd. II/1.2, S. 614 (MEW, Bd. 42, S. 634). 154 Es ist hier nicht nötig, alle einschlägigen Stellen zusammenzutragen und zu erläutern. Marx arbeitet in ihnen - bei unterschiedlicher Dichte und Ausführlichkeit - durchgehend mit den vorher gefundenen Funktionsbestimmungen des Geldes in Gesellschaften mit vorherrschen der Gebrauchswertproduktion und - wachsendem - Surplus, der als Ware in die Zirkulation eingeht: vgl. bes. MEGA2, Bd. 11/1.1, S. 126,160,175 ff. und MEGA2, Bd. II/1.2, S. 321 ff., S. 406 ff., 671, 702 ft, 715 ff., 721 (MEW, Bd. 42, S. 126 f„ 163 f„ 178 und ebd., S. 321 ff., 411 ff., 695 f„ 726 f.). Zuletzt: Auch die gewerbliche Produktion wird häufiger berührt als hier dargestellt wer den kann. Neben der Bestimmung, dass in der handwerklichen (zünftlerischen) Produktion die Verbindung von Arbeitskraft und Instrument mit der Folge spezifischen Arbeitsgeschicks (ebd., S. 405,400 f. [ebd., S. 409,405]) und dem Ergebnis spezifischer Produktqualität (ebd., S. 478 [ebd.. S. 489]) herrscht, hebt Marx die Voraussetzung (ebd., S. 375 [ebd., S. 380]) und den Zweck (ebd.. S. 414 [ebd., S. 419]) gewerblicher Arbeit hervor {...}, die nicht allein das Handwerk im Feudalis mus kennzeichnen. 128

3 — Zur E n tw ic k lu n g d e s F e u d a lis m u s -K o n z e p ts im W erk vo n Karl Marx

lurückstellen musste und deren Fortsetzung in den i87oer-Jahren bis zu »einem Tod so gut wie nur in Exzerptheften, also dem ersten Stadium der

Erforschung, überliefert hat. Darauf ist ja zurückzukommen. Hobsbawms Einschätzung des Stellenwerts, die der Feudalismus und das Mittelalter in den »Formen« einnehmen, hat sich im Ganzen bestä­ tigt. Doch konnte genauer gezeigt werden, worin dies gründet. Weiter hat die Erläuterung der verschiedenen Abstraktionsebenen des Leibclgenschaftsbegriffs der »Formen« (und der »Grundrisse« überhaupt) ergeben, dass M arx’ Durchdringung vorkapitalistischer Exploitations­ formen durchaus Lücken aufweist, eklatante Widersprüche wird jedoch nur der ausmachen, der jene Abstraktionsebenen nicht exakt mitvoll­ zieht. Zwar operiert Marx bei der Erläuterung der asiatischen Formation(en) mit den Begriffen des »Surplusprodukts« und der »Surplusarbeit«,155 zwar kommen verschiedentlich konkrete Formen der für die feudale Produkti­ onsweise typischen Mehrarbeit zum Vorschein (Fronarbeit, Tribut, Pacht u. a.), zwar hat er sich wiederholt mit dem Begriff der kapitalistischen Grundrente (besonders dem von David Ricardo156) auseinandergesetzt, doch noch fehlt die abstrakteste Kategorie, unter die sich alle Formen vor­ kapitalistischer Mehrarbeit subsumieren lassen. 1.4

1859 bis 1863

Im Sommer 1859 erschien der erste Teil der Abhandlung »Zur Kritik der

politischen Ökonomie«,157 in dem Marx nach eigenem Briefzeugnis »zum ersten Mal eine wichtige Ansicht der gesellschaftlichen Verhältnisse wis­ senschaftlich« entwickelt,158 und zwar die Analyse von Ware und Geld samt der Kritik bisheriger politökonomischer Konzeptionen beider Ver­ hältnisse. Dieser Arbeit ist ein »Vorwort« beigegeben, in dem Marx kurz Rechen­ schaft über seinen politischen und wissenschaftlichen Werdegang ablegt und in knapper Form das »allgemeine Resultat« seiner und Engels’ Kri­ tiken an Hegel, der nachhegelschen deutschen Philosophie, Proudhon u. a. zusammenfasst, das seinen Arbeiten »zum Leitfaden diente«.159 Es ist hier nicht nötig, auf den theoretischen Status dieses berühmten »Leitfadens« und dessen problematische Rezeption durch die sozialisti155 Ebd., S. 380 (ebd., S. 385). 156 Ober die Stufen der Kritik der ricardoschen Theorie der kapitalistischen Grundrente vgl. Wygodski: Geschichte einer großen Entdeckung; Tuchscheerer: Bevor »Das Kapital« entstand. 157 Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Erstes Heft [1859], in: MEW, Bd. 13 (MEGA2, Bd. II/2). Der als Fragment überlieferte »Urtext« [1858] (MEGA2, Bd. II/2) zur Kritik der politi­ schen Ökonomie, an dem Marx von August bis November 1858 arbeitete, braucht hier nicht besonders berücksichtigt zu werden. Vgl. dazu Projektgruppe Entwicklung des Marxschen Sys­ tems: Das Kapitel vom Geld, Westberlin 1973, S. 59 ff. 158 Marx an Ferdinand Lassalle, 12. November 1858, in: MEW, Bd. 29, S. 566. 159 Marx: Zur Kritik, in: MEGA2, Bd. II/2, S. 99 ff. (MEW, Bd. 13. S. 7 ff.). 129

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sehen Bewegungen der Folgezeit einzugehen. Doch sollte man festhalten, dass Marx in ihm die wichtigsten Elemente seines allgemeinen Begriffs der Produktionsweise resümiert, ihn von d en wichtigsten Formen des »Überbaus« abgrenzt und die Bedingungen fü r die Umwälzung einer Pro duktionsweise in eine andere andeutet, d en n diese Leitfaden-Elemente gelten auch für die »feudalen [...] Produktionsweisen«.160 In der Abhand lung selbst kommen feudale Verhältnisse n u r marginal und ohne neue inhaltliche Aspekte zur Sprache.161 Wygodski hat einleuchtend begründet, warum die Fortsetzung dieser Schrift, in der Marx »seine Werttheorie erstm als systematisch« darstellt, sich verzögerte: Erneute ausgiebige Studien waren nötig, um den Über­ gang vom Wert in den Mehrwert und die Regulierung der verschiedenen Formen kapitalistischen Profits durch den Mehrwert zu erklären.162 Dies ist nun durch die Publikation des gigantischen Manuskripts »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, das M arx von 1861 bis 1863 erstellte, präziser fassbar.163 Auch für die Feudalismus-Problematik erweisen sich die gut zweitausend Druckseiten als Brücke zwischen den »Grundrissen« und dem »Kapital«. Es ist klar, dass eine erschöpfende Untersuchung dieser Funktion hier nicht möglich ist. Nur einige Grundzüge kann ich vorstellen: — Marx kommt auch in diesem Text ohne standardisierte FeudalismusTerminologie aus; neue Varianten im Sprachgebrauch finden sich nicht. — Vielfach arbeitet Marx Formulierungen ein, die aus den »Grundris­ sen« stammen (Zitate).164 — Thematische Wiederholungen aus früheren Arbeiten beziehen sich auf die Zünfte, auf die ländlichen Produktionsmittel, auf das Handels­ und Wucherkapital, auf die ursprüngliche Akkumulation und auf die 160 Der Satz »In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Pro­ duktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichne! werden« (ebd., S. 101 ebd., Bd. 13, S. 9]) unterstellt nicht, dass die genannte Folge von Produkt! onsweisen als Periodisierungsschema für die Weltgeschichte im Ganzen bzw. einzelner »Natio nen« dienen kann. Vgl. hierzu: Kuchenbuch/Michael: Periodisierung [in diesem Band, S. 291 ff.|. Die Pluralform kann aber dahin gedeutet werden, dass Marx auch die feudale Produktionsweise nicht auf Europa beschränkt denkt 161 Marx bezieht sich nur einmal - wiederholend - auf »die Naturaldienste und Naturallieferungen des Mittelalters. Die bestimmten Arbeiten der einzelnen in ihrer Naturalform, die Besonderheit, nicht die Allgemeinheit der Arbeit bildet hier das gesellschaftliche Band« (Marx: Zur Kritik, in: MEGA2, Bd. II/2, S. 113 [MEW, Bd. 13, S. 21]; vgl. die Vorstufe dieser Formulierung in der »Deutschen Ideologie« (s. o., Fn. 75); dazu auch Marx: Zur Kritik, ebd., S. 135 f. (ebd., S. 43 f.) zu James Steuart) und auf die Vorherrschaft der »feudalen Formen« der nationalen Produktion im 16./17. Jahrhundert (S. 218 [ebd., S. 133]). 162 Wygodski: Geschichte einer großen Entdeckung, S. 71 ff. 163 Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II 3.1-6 (MEW, Bde. 26.1-3,43,44). Vgl. zur Erschlie ßung die entsprechenden Apparate-Bände der MEGA2-Ausgabe sowie: Wolfgang Jahn/Institui für Marxismus-Leninismus/Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Hrsg.): Der zweite Entwurf des »Kapitals«. Analysen. Aspekte. Argumente, Berlin 1983. 164 Z. B. Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. 11/3.5, S. 1546 ff., 1554 f.; 3.6, S. 2048, 2268 ff.. 2280 ff.

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3 — Z ur E n tw ic k lu n g d e s F e u d a lis m u s -K o n z e p ts im W erk vo n Karl Marx

Gegenüberstellung von feudalem und modernem Grundeigentum bzw. -ertrag.165 — Die Verteilung der thematisch bedeutsamen Bemerkungen ist ohne System, folgt den unmittelbaren Denk- und Darlegungsbedürfnissen. Daneben notiert Marx aber Einzelheiten, die darüber hinauszugehen scheinen: 1. Schon früher hatte Marx das Faktum der nach England (1066) »exportierten« Feudalität kurz im Blick gehabt.166 In dem großen Exkurs über das Verhältnis der produktiven zur unproduktiven Arbeit in der kapitalistischen Produktionsweise - Gedanken, die Marx in dieser Ausführlichkeit nicht wieder aufgenommen hat167greift er jenes Faktum wieder auf, um die Stellung der Bauern und Handwerker innerhalb des Kapitalismus zu klären: »Es ist mög­ lich, daß diese Producenten, die mit eignen Productionsmitteln arbeiten, nicht nur ihr Arbeitsvermögen reproduciren, sondern Mehrwerth schaffen, indem ihre Position ihnen erlaubt, ihre eigne Surplusarbeit oder einen Theil derselben (indem ein Theil ihnen unter der Form von Steuern etc. weggenommen wird) sich anzu­ eignen. Und hier tritt uns eine Eigenthümlichkeit entgegen, die charakteristisch ist für eine Gesellschaft, in der eine Bestimmtheit der Productionsweise vorherrscht, obgleich noch nicht alle Pro ductionsverhältnisse derselben unterworfen sind. In der feudalen Gesellschaft z. B., wie man am besten in England studiren kann, weil hier das System des Feudalismus fertig von der Normandie eingeführt und seine Form in einer in vielen Rücksichten verschiednen Gesellschaftsunterlage aufgeprägt wurde, erhalten auch die Verhältnisse einen feudalen Ausdruck, die dem Wesen des Feu­ dalismus fernstehn, z. B. blosse Geldverhältnisse, worin es sich in keiner Weise um wechselseitige persönliche Dienste von Suzerain und Vasall handelt. Fiktion z. B., daß der kleine Bauer sein Gut als Lehn besitzt.«168 Diese Bemerkung ist insofern von Interesse, als sie schlaglichtar­ tig das theoretisch so schwierige Verhältnis von Produktionsweise und Gesellschaftsformation am feudalen »Beispiel« berührt.169Der 165 Zunft: Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II/3.1, S. 84, 164 f„ 245, 277; 3.6, S. 1975, 2054,2131 ff. (MEW, Bd. 43, S. 88 f„ 175, 263 f„ 298 f.; Bd. 44, S. 88, 168, 231 ff.); Pflug und Mühle: Bd. 3.6, S. 1919 ff. (Bd. 44, S. 30 ff.); Handels- und Wucherkapital: Bd. 3.4, S. 1465 ff. (Bd. 26.3, S. 460); Bd. 3.5, S. 1564 ff.; Bd. 3.6, S. 2156 (MEW, Bd. 44, S. 254 f.); ursprüngliche Akkumulation: Bd. 3.6, S. 2152 ff. (Bd. 44, S. 252 ff.); feudales/modernes Grundeigentum: Bd. 3.2, S. 347, 460 (Bd. 26.1, S. 23,145); Bd. 3.6, S. 2299 (Bd. 44, S. 386). 166 Marx: Grundrisse, in: MEGA2, Bd. II/1.2, S. 395 (MEW Bd. 42, S. 398 f.). 167 Projektgruppe: Kapitel vom Geld, S. 673. 168 Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II/3.6, S. 2180 (MEW, Bd. 44, S. 276). 169 Obwohl hier das Problem der Übereinstimmung bzw. Differenz zwischen Marx und Engels aus­ geklammert ist, soll am vergleichbaren Fall eine m. E. aber zentrale Frage kurz berührt werden. In einem Brief an Conrad Schmidt vom 12.3.1895 (MEW, Bd. 39, S. 433) zieht Engels zur Erläu-

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Gedanke wird aber, weil er einem anderen Zweck dient, abrupt abgebrochen: wieder ein recht typisches Beispiel dafür, wie Marx oft mit vorkapitalistischem »Material« umgeht! 2 . En passant zieht M arx auch Einzelheiten zum mittelalterlichen Stadt-Land-Verhältnis heran, wobei er - wie bereits schon in den »Grundrissen« - auf Adam Smith, Karl Dietrich Hüllmanns »Städtewesen des Mittelalters« (vier Teile, Bonn 1826-29) und M artin Luthers Polemik gegen den Wucher fußt:*170 Dies betrilli den Unterschied zwischen direkter ländlicher und indirekten städtischer Steuer (Akzise),171 den städtischen Monopolpreis länd licher Rohprodukte,172 die städtische Monopolisierung bestimm ter Berufszweige173 und den stetigen Charakter städtischen Hand werks (im Gegensatz zum saisonalen der ländlichen Arbeit).174 3 . Am folgenreichsten für die theoretische Durchdringung vorkapi talistischer und damit auch feudaler Verhältnisse aber ist Marx' Auseinandersetzung mit den Schriften des englischen Ökonomen Richard Jones (1790-1855), besonders mit dessen »Essay on the Distribution of Wealth and the Sources o f Taxation«, Chap. 1 (Rents), London 1831.175176 M arx stuft Jones als den Ökonomen ein, der als Erster durch kon sequenten Rückgriff auf die Geschichte die Entschlüsselung des spezi fisch historischen Charakters der kapitalistischen Grundrente möglich gemacht hat, dies besonders im Gegensatz zu Ricardos Rententheorie.171'

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terung der Frage, ob das Wertgesetz eine Fiktion sei, einen Vergleich, der nahelegt, dass er sich von Marx’ erkenntnistheoretischen Grundauffassungen entfernt, wenn er den »Begriff« der Feudalität der Tendenz nach als Idealtypus weberscher Prägung begreift, dem die realen Verhall nisse nur mehr oder weniger entsprechen (können). Der abstrakte (hier der »klassische«) Begrill »findet« in der Realität so gut wie gar nicht zu »sich«. Marx hat sich gerade gegen diese Funktion abstrakter Begriffe gewandt. Für ihn ist eine abstrakte Kategorie kein Instrument, mit dem man Realität aufsucht und an dem man sie misst, sondern Gegenstand der Konkretion: je konkreten die Kategorie also, desto mannigfaltiger bzw. »individueller« ihre inhaltliche Struktur, und das müsste hier heißen: durch spezifische Verhältnisse geprägte »Feudalität«. Zu Hüllmann: Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II/3.4, S. 1537 f. (MEW, Bd. 26.2. S. 233) (dessen Werke hatte Marx bereits 1851/52 exzerpiert, s. o., Anm. 125); zu Martin Luther ebd., S. 1526 ff. (MEW, Bd. 26.3, S. 516). Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II/3.3, S. 876 ff. (MEW, Bd. 26.2, S. 233). Ebd., S. 676 (ebd., S. 313). Ebd., Bd. II/3.4, S. 1402 (MEW, Bd. 26.3, S. 265). Ebd., Bd. II/3.5, S. 1871 (ebd., S. 426). Reprint New York 1964. Dazu aber auch Richard Jones: Essay on the distribution of wealth. London 1831; siehe Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II/3.1, S. 189 ff [MEW, Bd. 43. S. 202ff.J; eine Spezialstudie: Carl-Erich Vollgraf: Marx' kritische Würdigung des Beitrages von Richard Jones, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung 5/1979, sowie Hans-Peter Müller: Karl Marx über Maschinerie, Kapital und industrielle Revolution. Exzerpte und Manuskripteni würfe 1851-1861, Opladen 1992, S. 258 ff.; kritische Edition der marxschen Jones-Exzerpte, S. 347 ff. Vgl. Harstick: Formen, S. 13, Anm. 41. Marx hatte sich bereits im Juni 1851 Exzerpte von Jones’ Hauptwerk gemacht (MEGA2, Bd. IV/8, S. 615 ff; zur Entstehung und Benutzung dieser Exzerpi c* ebd., S. 979 f.). Genauere Erläuterungen über Marx’ Beurteilung von Jones - allerdings ohne diesen selbst vergleichend hinzuzuziehen! - bei Projektgruppe: Kapitel vom Geld, S. 643 ff. Aul die Rolle, die die adäquate Fassung des Begriffs der kapitalistischen Grundrente in ihren beiden

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Ir charakterisiert Jones’ Darlegungen zu den vorkapitalistischen For­ inten der Rente177 so: »Jones verfolgt die Rente durch alle Wandlungen IVOn ihrer rohsten Gestalt als Frohnarbeit bis zur modernen farmers Itent. Er findet überall, daß einer bestimmten Form der Arbeit und ihrer ’ Bedingungen eine bestimmte Form der Rente, i. e. des Grundeigenthums entspricht. {...} In allen frühren Formen erscheint der Grundeigenthü№er, nicht der Capitalist, als der unmittelbare Aneigner fremder surplus labour. Die Rente (wie sie bei den Physiokraten durch Reminiszens gefaßt ist) erscheint historisch (so noch auf der größten Stufenleiter bei den asiatischen Völkern) als die allgemeine Form der Surpluslabour, der Unentgeldlich zu verrichtenden labour. Hier ist nicht wie beim Capital, die Aneignung dieser surpluslabour durch Austausch vermittelt; sondern Ihre Basis ist die gewaltsame Herrschaft eines Theils der Gesellschaft über den andren (daher auch direkte Sklavrei, Leibeigenschaft oder politisches Abhängigkeitsverhältnis).«178 Dieser Passus zeigt, wie Marx die Ergebnisse der Untersuchungen von Jones seinen bisherigen, besonders in den »Formen« ausgearbei­ teten Vorstellungen von vorkapitalistischen Formen des »sekundären« Grundeigentums einpasst: Rente als allgemeine Form vorkapitalistischer Mehrarbeit (der unmittelbaren bäuerlichen Produzenten), appropriiert durch gewaltsame Herrschaft des Grundeigentümers, die die Bauern in verschiedenste Formen der Knechtschaft zwingt, je nach den Bedingun­ gen des Produktionsprozesses selbst. Diesen Formen der Knechtschaft entsprechen verschiedene Rentenformen: Die - unvollständige - Auf­ zählung der von Jones übernommenen Termini179 enthält zugleich den Ansatz zu einem Formensystem, das Marx wenig später im dritten Band des »Kapital« ausarbeiten wird: Arbeits-, Produkten- und Geldrente; frü­ her sagte Marx in der Regel dazu »Naturaldienste« bzw. »-lieferungen« (und Geldzahlung). Zitat und Kontext weisen aber aus, dass Marx diese Verhältnisse wie­ der nur nebenbei streift: Was ihn »hier entscheidend interessirt«, ist die kapitalistische Form agrikoler Grundrente, diefarmers rent und die kriti­ sche Rezeption des Konzepts dieser Form, wie es Jones entwickelt hat.180

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Formen (absolute und Differenzialrente) für Marx’ Selbstverständigung über das Verhältnis von Mehrwert, Durchschnittsprofit, Produktionspreis u. a. gespielt hat, sind Wygodski: Geschichte einer großen Entdeckung, S. 103 ff., sowie Projektgruppe: Kapitel vom Geld, S. 229 ff. und 672 f. ausführlich eingegangen. Für die hier verfolgten Probleme ist wohl nur der Jones-Abschnitt der Theorien von Belang. Jones: Distribution of wealth, Kap. II-VI, S. 17 ff. Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. 11/3.5, S. 1835 f. (MEW, Bd. 26.3, S. 391); vgl. auch ebd., MEGA2, Bd. II/3.1, S 189 ff. (MEW, Bd. 43, S. 202 ff). Die Metayer-Rents können mit Halb- bzw. Teilpacht übersetzt werden. Ryots sind Produktren­ tenformen orientalischer Prägung. Die c o t t i e r s r e n ts , besonders in Irland (damals) vorherr­ schende Geldrentenformen, die Jones in Kapitel V seines Buches (S. 143 ff.) abhandelt, hat Marx hier übergangen. Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II/3.5, S. 1837 (MEW, Bd. 26.3, S. 393).

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D aneben zieht Marx noch Vergleiche zwischen Fronarbeit und Lohnar beit.181 M an sieht, zwar ist die abstrakteste, also einfachste Kategorie vor kapitalistischer Mehrarbeit, die Rente, nun »gefunden«, deren für je spezifische Produktionsweisen kennzeichnendes Formgefüge liegt aber außerhalb des Interesses. An späterer Stelle kommt er aber ansatzweise noch einm al auf die Formen der Abhängigkeit zurück, von denen im Zital die Rede war: »Die ursprüngliche Einheit zwischen Arbeiter und Arbeits bedingungen (vom Sklavenverhältniß abstrahirt, wo der Arbeiter selbsl zu den objektiven Arbeitsbedingungen gehört) hat zwei Hauptformen: die asiatischen Gemeinwesen (naturwüchsigen Communismus) und die kleine Familienagricultur (womit Hausindustrie verbunden) in one or the other form .«182 Damit knüpft Marx an die Unterscheidung zwischen Skia verei und Leibeigenschaft an, die er in den »Grundrissen« getroffen hatte, verwendet hier aber für den (abhängigen) unmittelbaren Produzenten einen Begriff, dessen Vorstufen man in »Zur Kritik der politischen Öko nomie« von 1859 vermuten kann183 und der für die Bestimmungen der vorkapitalistischen Grundrente im dritten Band des »Kapital« konstitutiv ist: die die Hausindustrie in sich bergende »kleine Familienagricultur«. Die spezifische Form feudaler bäuerlicher Produktion und Mehrarbeit bzw. Rente ist darin aber höchstens ansatzweise enthalten, nicht jedoch näher bestimmt! Die Auseinandersetzung mit Jones zielte eben auf zwei­ fach anderes ab: auf die allgemeinste Form vorkapitalistischer Mehrar­ beit überhaupt und auf die spezifische Form kapitalistischer Agrikultur und Grundrente.184 Beides hat jedoch für die politökonomische Theoretisierung auch der feudalen Produktionsweise (in Europa) innerhalb der marxschen Werkentwicklung außerordentliche Bedeutung; das »innere Band« vorkapitalistischer (Klassen-)Gesellschaften auf Agrikulturbasis ist »aufgespürt«;185 das von Jones, Smith und anderen bereitgestellte Mate­ rial zum Übergang in die kapitalistische Agrikultur ist analysiert. Die Auseinandersetzung mit Jones am Ende der »Theorien über den Mehr­ wert« zeugt somit von der Überwindung einer entscheidenden Hürde und belegt zugleich wieder die Doppelfunktion, die Vorkapitalistisches (und Feudales) im Werk von Marx seit seinen politökonomischen Studien 181 Ebd., S. 1836 (ebd., S. 391). Zum besseren Verständnis der Auslotung der spezifischen Produktivi tat der verschiedenen Rentenformen im dritten Band des »Kapital« sei hier vermerkt, dass Marx Jones’ Räsonnements über die Verwendungsmöglichkeiten der Arbeitsrente bereits in diesem Abschnitt notiert. 182 Ebd., S. 1854 f. (ebd., S. 414). 183 Marx: Zur Kritik, in: MEGA2, Bd. II/2, S. 112 f. (MEW, Bd. 13, S. 20), hier unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Arbeit innerhalb der Familie im Gegensatz zum Tauschwertcharakter dei innergesellschaftlich geteilten Arbeit. 184 In Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II/3.5, S. 1853 (MEW, Bd. 26.3, S. 412) geht ei noch kurz auf die Differenz zwischen vorkapitalistischer Revenu und kapitalistischem Profit ein. 185 Nachwort zur 2. Auflage von Marx: Kapital, Bd. 1, in: MEGA2, Bd. II/8, S. 55 (MEW, Bd. 23, S. 27).

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erfüllt: Vergleich und Genese. Darin gründet eben die Allgemeinheit der betreffenden Bemerkungen, also eine Abstraktionsstufe, die zwar feudale Verhältnisse enthält, deren spezifische Formbestimmung aber nicht sys­ tematisch im Auge hat. 2 Das »K ap ital«

Was lässt sich als Ertrag von Marxens theoretischer Arbeit seit dem Beginn des Londoner Exils für unser Thema festhalten? Welche Aus­ gangsbedingungen sind damit für die Befragung der drei Bände des »Kapital« im Auge zu behalten? 1 . Marx operiert inzwischen mit »verständigen Abstraktionen«, das heißt, »allen Produktionsstufen gemeinsame[n] Bestimmungen«,186 die konstitutiv sind für seinen allgemeinsten Begriff der »Produktions­ weise«.187 2 . Unabdingbare Voraussetzung aller adäquaten Beschäftigung mit der politökonomischen Struktur vergangener Gesellschaften ist der Begriff der kapitalistischen Produktionsweise selbst, denn in ihm kommt die - bislang - höchste Stufe wirtschaftlicher und sozialer Organisation zum Ausdruck.188 3 . Jener Begriff bzw. seine einzelnen Elemente sind jedoch nicht ein­ fach auf die Geschichte übertragbar. Die Aufgabe besteht gerade darin, deren historisch-eigentümliche Formbestimmtheit zu ermitteln. »Mehr­ arbeit« etwa hat im Rahmen eines Begriffs der »feudalen« Produktions­ weise einen anderen Sinn als in dem der kapitalistischen usw. Den Nach­ weis für diese methodische Maxime hat Marx selbst bis zu diesem Zeit­ punkt nicht erbracht, obwohl er dies gern getan hätte;189die Arbeit an der kapitalistischen Produktionsweise ging vor. 4 . »Feudalismus«, »Mittelalter« und »germanische Form(ation)« sind eingegangen in ein Konzept vorkapitalistischer Formationen, dessen uni­ versalgeschichtlicher Aspekt uns hier jedoch nicht weiter zu interessieren braucht.190 186 Marx: Einleitung Grundrisse, MEGA2, Bd. II/l, 23, 25 f (MEW, Bd. 42, S. 21, 24). 187 Hierzu systematisch klärend: Etienne Balibar: Über die Grundbegriffe des historischen Materialismus, in: Louis Althusser/Etienne Balibar: Das Kapital lesen, Bd. 2, Reinbek 1972, S. 279 ff.; Barry Hindess/Paul Q. Hirst: Vorkapitalistische Produktionsweisen, Frankfurt a. M./Berlin/ Wien 1981, S. 21 ff. 188 Marx: Einleitung Grundrisse, in: MEGA2, Bd. 11/1.1, S. 40 f. (MEW, Bd. 42, S. 40 f.) 189 Z. B. Marx: Grundrisse, in: MEGA2, Bd. II/1.2, S. 368 f. (MEW, Bd. 42, S. 372 f.). 190 Die Kontroverse zu diesem Thema sei hier mit nur wenigen Arbeiten dokumentiert: Hindess/ Hirst: Vorkapitalistische Produktionsweisen; Dieter Pasemann: Kapitalismus-Analyse und historisch-materialistische Untersuchung der Formationsentwicklung (1852-1867), in: Engelberg/Küttler: Formationstheorie und Geschichte, S. 196 ff.; Hobsbawm: Introduction; Lawrence Kräder: Die Periodisierung der Weltgeschichte nach Karl Marx, in: Lars Lambrecht (Hrsg): Gesell­ schaftsformationen in der Geschichte, Berlin 1978, S. 89 ff. (dort auch Klaus Naumann, S. 7 ff. zur Diskussion in der DDR); TÖkei: Asiatischen Produktionsweise; Gerhard Hauck: Von der klassen­ losen zur Klassengesellschaft, Köln 1979, S. 25 ff.; Samir Amin: Die ungleiche Entwicklung. Essay über die Gesellschaftsformen des peripheren Kapitalismus, Hamburg 1975, S. 11 ff; Umberto Melotti: Marx and theThird World, London 1977.

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5. Wichtiger ist die Rolle, die »Feudalismus« und »Mittelalter« im Rah m en dieses Konzepts und im Verhältnis zum Kapitalismus spielen. Man h a t hier zweierlei zu unterscheiden: Zum einen dienen die diesbezügli chen - meist kurzen - Bemerkungen zur Illustration grundsätzlich ande re r Verhältnisse als der innerhalb des Kapitalismus; asiatische, antike und feudale Sachverhalte werden pauschal oder einzeln mit kapitalistischen verglichen, um Letztere in ihrer Eigenart besser kenntlich zu machen Zum anderen erläutern solche Bemerkungen den historischen Ursprung kapitalistischer Sachverhalte. Beide Funktionen stehen im Dienste der Analyse des Kapitalverhältnisses, die komparative ebenso wie die gene tische. Die Logik des kapitalistischen Systems hat den Primat vor seiner Geschichte und vor der Geschichte überhaupt.191 Diese doppelte Unselbstständigkeit alles »Vorkapitalistischen« hal M arx nun im »Kapital« in ein System gebracht, das sich in den »Grund rissen« bereits angekündigte:192 Der »historische« Vergleich, besonders aber der historische Ursprung eines Teilverhältnisses innerhalb der kapi talistischen Produktionsweise, wird im »Kapital« meist erst dann ange sprochen, wenn dieses Verhältnis selbst systematisch geklärt ist. Dieses Prinzip hat weitreichende Folgen auch für unser Thema:193 Marx hat im »Kapital« nirgends einen systematischen Aufriss der feudalen Produk tionsweise gegeben; er hat dies auch nicht gewollt. Sein Ausgangspunki ist der Satz: »Die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft ist hervorgegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesell schaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt.«194 In der Form einer zerstückelten Analyse hat Marx somit Elemente der feudalen Produktionsweise dort zur Sprache gebracht, wo sie für die Genesis von Elementen der kapitalistischen Produktionsweise von Bedeutung waren. 191 Hierzu Schmidt: Geschichte und Struktur, S, 39 ff.; im Anschluss daran Stollberg: Marx, Engels, S. 546 ff. 192 In der ersten Fassung zur »ursprünglichen Akkumulation« des Kapitals (Marx; Grundrisse, in MEGA2, Bd. 1/1.2, S. 367 ff. [MEW, Bd. 42, S. 371 ff,]; vgl. auch Marx: Manuskript 1861-1863, in MEGA2, Bd. II/3.6, S. 2268 f. [MEW, Bd. 44, S, 365]) versucht Marx zu klären, wie die »historischen Voraussetzungen«, die Bildungsgeschichte bzw. die »Bedingungen [des] Entstehens« des Kapi tals zu dessen »kontemporärer Geschichte« sich verhalten. Ein wichtiges Resultat dieser Arbeil formuliert er so: »Andrerseits, was viel wichtiger für uns ist, zeigt unsre Methode die Punkte, wo die historische Betrachtung hereintreten muß, oder wo die bürgerliche Oekonomie als bloß historische Gestalt des Productionsprozesses über sich hinausweist auf frühre historische Wei sen der Production. Es ist daher nicht nöthig, um die Gesetze der bürgerlichen Oekonomie zu entwickeln, die wirkliche Geschichte der Produktionsverhältnisse zu schreiben. Aber die richtige Anschauung und Deduction derselben als selbst historisch gewordner Verhältnisse führt immer auf erste Gleichungen - wie die empirischen Zahlen z. B. in der Naturwissenschaft -, die auf eine hinter diesem System liegende Vergangenheit hinweisen. Diese Andeutungen, zugleich mit der richtigen Fassung des Gegenwärtigen, bieten dann auch den Schlüssel für das Verständniß der Vergangenheit - eine Arbeit für sich, an die wir hoffentlich auch noch kommen werden.« (Marx Grundrisse, in: MEGA2, Bd. 1/1.2, S. 369 [MEW, Bd, 42, S. 373]) Das Fatale - für unsere Frage —ist eben, dass Marx hierzu nicht mehr gekommen ist. 193 Das Folgende in enger Anlehnung an Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, S. 231 ff.; erstmals dargelegt hat dies Balibar: Grundbegriffe des historischen Materialismus, S. 370 ff, 194 Marx: Kapital, Bd. 1, in: MEGA2, Bd. II/8, S. 669 (MEW, Bd. 23, S. 743).

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Die Darstellung dieser Elemente hat die doppelte Funktion, einerseits die Selbstzerstörung innerhalb des Feudalismus zu zeigen, andererseits ihre Rolle für die Genesis des Kapitalverhältnisses zu bestimmen. So leuch­ tet ein, dass alle wichtigen Abschnitte zum Feudalismus am Ende von Abschnitten zu finden sind, die eine Kategorie oder ein (Teil-)Verhältnls der kapitalistischen Produktionsweise behandeln. Das hat Engels in »einer Bearbeitung des marxschen Manuskripts von 1863-1867 logisch (ngemessen umgesetzt: Das Kapitel über die »Genesis der kapitalisti­ schen Grundrente«195 folgt erst am Ende des Abschnitts über die »Ver­ wandlung von Surplusprofit in Grundrente«,196 das Kapitel »Geschicht­ liches über das Kaufmannskapital«197 am Ende des Abschnitts über »Waren- und Geldkapital«,198 das Kapitel »Vorkapitalistisches«199 über das Wucherkapital am Ende der Abschnitte über die »Spaltung des Profits In Zins und Unternehmergewinn«.200 Marx selbst hat dann das Kapitel über die »sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals«201 ans linde der Analyse des »Akkumulationsprozesses des Kapitals«202 gesetzt, ebenso die Bemerkungen über die persönlichen Abhängigkeitsverhält­ nisse im Mittelalter nach der Analyse der versachlichenden Wirkungen Huf die sozialen Beziehungen durch die Verallgemeinerung der Warenverhältnisse, und Gleiches gilt für die der Arbeitsteilung innerhalb der kapitalistischen Manufaktur.203 Die - nicht ins Kapital-Werk eingegange­ nen - »historischen« Bemerkungen über das zünftige Meister-GesellenVerhältnis und die Selbstteilung des Handwerksmeisters in Kapitalist und Lohnarbeiter haben diesen Platz im Manuskript von 1863-1865 noch nicht gefunden.204 Bekanntlich hat Marx das »Kapital« zum großen Teil in sozusagen umgekehrter Reihenfolge geschrieben. Auf das große Manuskript von 1861-63 folgte im Rahmen des ersten Gesamtentwurfs (1863-66) das Manuskript zum dritten Band 1864/65, dann 1866/67 der erste Band, dessen Überarbeitungen für weitere Auflagen und Übersetzungen in die folgenden Jahre fallen.205 In den i87oer-Jahren arbeitete Marx dann an der 195 Marx: Kapital, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 757 ff. (MEW, Bd. 25, S. 790 ff.). Iі». Ebd.,S. 602 ff. (ebd„ S. 627 ff.). 197 lihd., S. 316 ff. (ebd., S. 335 ff.). BW Ebd., S. 263 ff. (ebd., S. 278 ff.). 199 Ebd., S. 583 ff. (ebd., S. 607). 700 Ebd., S. 461 ff. (ebd., S. 350). 7 0 1 Marx: Kapital, Bd. 1, in: MEGA2, Bd. 11/8, S. 667 ff. (MEW, Bd. 23, S. 741 ff.). 702 Ebd., S. 532 ff. (MEW, Bd. 23, S. 591 ff.). 707 Ebd., S. 105 f„ 352 ff. (MEW, Bd. 23, S. 91 f„ 377 ff.) f’0'1 Karl Marx: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses [1863/64], Frankfurt а. M. 1970, S, 54 ff. (MEGA2, Bd. II/4.1, S. 99); s. u. (zu Anm. Fn. 253). /0'* Vgl. Larissa Miskewitsch/Michail Ternowski/Alexander Tschepurenko/Witali Wygodski: Zur l’criodisierung der Arbeit von Karl Marx am »Kapital« in den [ähren 1863 bis 1867, Marx-Engelsl.ihrbuch 5/1982.

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N eufassung des zweiten Bandes und bereitete Material für eine Überai beitun g des Manuskriptes vom dritten Band vor. Damit ist die Gliederung d ieses Abschnittes klar: Ich gehe zunächst den dritten Band durch, dann soll der erste folgen sowie Ergänzendes aus dem zweiten. D ritter Band: Der Gesam tprozess der kapitalistischen Produktion Friedrich Engels legt im Vorwort zur Edition dieses 1894 veröffentlichten Bandes dar, in welchem Zustand er Marxens Manuskripte von 1864/65 vorgefunden hat und welche Pläne Marx für die Überarbeitung zur end gültigen Veröffentlichung hegte.206 Demnach muss man davon ausgehen, dass dieser Text vielfach Entwurfscharakter trägt, für eine Veröffentlichung gründlich überarbeitet, wenn nicht umgearbeitet worden wäre.207 In die sen Manuskripten geht Marx in Fragen, die »Vorkapitalistisches« betreffen, zwar analog vor, exponiert sein Verfahren aber noch nicht durch konse quente Kapitelgliederung - Engels hat dies ausgeglichen. Der Vergleich des Wortlauts der marxschen Manuskripte mit der engelsschen Edition des dritten Bandes ergibt keine sachlich relevanten Varianten bzw. Divergen zen. So scheint es hier akzeptabel, wenn dem Wortlaut der engelsschen »Edition« gefolgt wird. Dies unter der Voraussetzung, dass Engels seine im Wesentlichen ja auf syntaktische Ergänzungen des marxschen Wortlauts hinauslaufenden Eingriffe nicht so kenntlich gemacht hat, dass man von einer kritischen Edition des marxschen Manuskripts sprechen kann.208 M arx’ geschichtliche Bestimmungen zum Waren- und Geldhandels­ kapital fügen sich deutlich den vorangeschickten Grundsätzen. Erst nach­ dem die spezifische Form des Handels- und Kreditgewinns innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise geklärt ist, werden - vielfach gegen ahistorische Konzepte in der politischen Ökonomie und Historie gewen­ det209- mit komparativer und genetischer Absicht die vorkapitalistischen 2 .1

206 Marx: Kapital, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 5 ff. (MEW, Bd. 25, S. 7 ff.). 207 Vgl. redaktionelle Einführung in: Marx: Manuskripte 1863-1865, 2. Teil, in: MEGA2, Bd. 11/4.2, S. 9" ff.. Dies gilt gerade für den - für uns so wichtigen - Abschnitt 6 zur Grundrente (Marx: Kapi­ tal, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 10 [MEW, Bd. 25, S. 14]). Marx plante, seine intensiven Studien zur Agrarentwicklung Russlands hier einzuarbeiten. 208 Sehr knappe Hinweise auf die redaktionellen Eingriffe von Engels zum dritten Band: Marx: Kapi­ tal, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 917 ff. 209 Es ist interessant zu sehen, wie Marx im Kapitel zum Handelskapital mit Luther und Autoren des 18. (ahrhunderts gegen die zeitgenössische Wissenschaft zu Felde zieht (ebd., S. 316 ff. [MEW, Bd. 25, S. 335 ff.]). Im Übrigen ist die Verarbeitung der Fachliteratur besonders im Wucher-Kapi­ tel noch wenig konsistent. Die Seiten über »Zins im Mittelalter« (S. 600 ff.) bestehen in ungeord­ neten Auszügen zu Stichworten wie Zinsrate (hier hat Luthers Polemik gegen den Wucher von 1540 es Marx wieder besonders angetan), Ursprung der Banken, Konsumtivkredit, kirchliches Zinsverbot. Seine Belege für den mittelalterlichen Zinsfuß (S. 587) entnimmt er Karl Dietrich Hüllmanns »Städtewesen des Mittelalters« (1826-1829), das er 1851/52 exzerpiert hatte (Har stick: Formen, S. 242). Inwieweit Hüllmanns Lehren Marx’ Auffassungen zur Rolle von Stadl und Bürgertum im Mittelalter beeinflusst haben, müsste noch genauer untersucht werden (s. o.. Fn. 129, 171). Eine kurze Charakteristik bei Ernst W. Böckenförde: Die deutsche verfassungs­ geschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder. Berlin 1961, S. 46 ff.

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Formen des Zirkulationsgewinns erörtert. Engels hat mit seinen Überichriften dieser Kapitel - »Geschichtliches über das Kaufmannskapital« Und »Vorkapitalistisches« - verdeutlicht, dass Mittelalter und Feudalis­ mus dem allgemeineren Verhältnis untergeordnet sind. Marx begrün­ det dies inhaltlich: »Das zinstragende Kapital oder wie wir es in seiner llterthümlichen Form bezeichnen können, das Wucherkapital, gehört mit leinem Zwillingsbruder, dem kaufmännischen Kapital, zu den antediluviinischen Formen des Kapitals, die der kapitalistischen Produktionsweise iBnge vorhergehn und sich in den verschiedensten ökonomischen Gesellichaftsformationen vorfinden.«210 Konsequenterweise findet man auch keine speziell auf Mittelalter und Feudalismus bezogenen Hinweise bei den Bestimmungen, die sich auf die Struktur der handeis- bzw. wucher­ kapitalistischen Gewinnbildung211 und deren sozialökonomische Verwirk­ lichungsbedingungen212 beziehen. Erst dann, wenn es um die Wirkungen beider Formen des Veräußerungsprofits auf die »gegebne Produktions­ weise« geht,213 geschieht dies - im Rahmen des Vergleichs mit der Antike und »asiatischen Formen«.214 Eine deutliche Verengung des Blickes auf die europäisch-feudalen Verhältnisse ist erst erkennbar, wenn es um die Genesis des Kapitalismus geht, oder präziser gesagt: um die Auflösung der feudalen Verhältnisse als »historische[r] Voraussetzung für die Entwick­ lung der kapitalistischen Produktionsweise«.215 Handels- und Wucherka­ pital befördern in diesem Zusammenhang die Konzentration von Geldver­ mögen, die Verallgemeinerung des Geldes als Zahlungsmittel, die Enteig­ nung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln (als Zerstörung der herkömmlichen Eigentumsformen), die Verallgemeinerung der Waren­ produktion. Doch sind - dies ist von großer Bedeutung - diese Wirkungen auf die feudale Produktionsweise nur sekundäre Ursachen für deren Auf­ lösung. Zur Wirkung des Handelskapitals vermerkt Marx: »Doch ist seine Entwicklung, für sich genommen, [...], unzureichend, um den Übergang einer Produktionsweise in die andere zu vermitteln und zu erklären.«216 Auch der Wucher - »für sich genommen« - verelendet und lahmt nur die Verhältnisse, die ihn erlauben.217 Aber: »Erst wo und wann die übrigen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise vorhanden, erscheint 210 Marx: Kapital, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 583 (MEW, Bd. 25, S. 607): vgl. auch ebd. S. 319, 327 f„ 568, 599 (ebd., S. 339, 346, 610, 623). Vgl. die Vorformulierungen in Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II/3.4, S. 1465 ff. (MEW, Bd. 26.3, S. 460 ff.); Bd. II/3.5, S. 1549 ff. 211 Gemeint ist die Erläuterung der Formeln G-W-G’ und G-G’. 7.12 Gemeint ist die Verbindung von Gebrauchswertproduktion, einfacher Warenproduktion und Geldzirkulation (Marx, Kapital, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 317 ff., 583 ff. [MEW, Bd. 25, S. 337 ff., 607 ff.]). 3.13 Ebd., S. 599 (ebd., S. 623). 7.14 Ebd., S. 586, 318, 324 (ebd., S. 610, 338, 343). 715 Ebd., S. 319, vgl. ebd., S. 325 (ebd., S. 339, vgl. ebd., S. 344). 7 16 Ebd., S. 319 (ebd., S. 339) sowie ausführlicher S. 324 (ebd., S. 344) {...). 2 17 Ebd., S. 585 f„ 599 (ebd., S. 609 f„ 623).

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der Wucher als eines der Bildungsmittel der neuen Produktionsweise, durch Ruin der Feudalherrn und der Kleinproduzenten einerseits, durch Zentralisation der Arbeitsbedingungen zu Kapital andrerseits.«218 Untei jene »übrigen Bedingungen« sind zu zählen: die »Rationalisierung« des Wuchers zum Kredit- und Bankwesen219 und die Verbindung des Han delskapitals m it der gewerblichen Produktion.220 Beides geschieht eben im mittelalterlich-feudalen Europa. Warum der Übergang allein aus dei feudalen Produktionsweise möglich ist, warum es allein in Europa »zur Sprengung der feudalen Schranken der Produktion«221 gekommen ist. kann - M arx zufolge - nur durch die Analyse des »Charakters« der feuda len Produktionsweise beantwortet werden. Dazu ist aber die Klärung dei »geschichtlichen Rolle« von Handels- und Wucherkapital nicht der syste matisch angemessene Ort. »Mitgenommen« hat man aber, dass Marx das Handels- und Wucher kapital begrifflich und sachlich hier nicht den »Produktionsweisen« sub sumiert, in deren »Poren« es nistet - gemeint hat er hier »asiatische For men«, (antike) Sklaverei und europäischen Feudalismus -, wohl aber den betreffenden »ökonomischen Gesellschaftsformationen«.222 Ebenso wie die Bestimmungen zum Waren- und Geldhandelskapital möchte ich die zur Grundrente als einen Komplex behandeln. Es gehl hier um das 37. Kapitel (»Einleitendes«) und das - berühmt-berüchtigte 47. Kapitel (»Genesis der kapitalistischen Grundrente«)223 innerhalb des sechsten Abschnittes über die »Verwandlung von Surplusprofit in Grund rente«. Einleitend umreißt Marx klar seine Absichten: 1 . »{...} Die von uns betrachtete Form des Grundeigenthums ist eine specifisch historische Form desselben, die durch die Einwirkung des Kapi­ tals und der kapitalistischen Produktionsweise verwandelte Form, sei es des feudalen Grundeigenthums, sei es der als Nahrungszweig betriebnen kleinbäuerlichen Agrikultur, worin der Besitz von Grund und Boden als eine der Produktionsbedingungen für den unmittel­ baren Producenten und sein Eigenthum am Boden als die v o r t e il­ hafteste Bedingung, als Bedingung der Blüte seiner Produktionsweise erscheint.«224 218 219 220 221

Ebd., S. 587 (ebd., S. 611). Ebd., S. 589 ff. (ebd., S. 613 ff.). Ebd., S. 327 ff. (ebd., S. 347 ff.) {...). Ebd.., S. 325 (ebd., S. 345). Der folgende Satz lautet: »Indeß entwickelte sich die moderne Produk­ tionsweise, in ihrer ersten Periode, der Manufakturperiode, nur da wo die Bedingungen dafür sich innerhalb des Mittelalters erzeugt hatten.« 222 Dies ergibt die vergleichende Betrachtung von Passagen ebd., S, 317 ff., 320,325,583, 585 f„ 599 (ebd., S. 337 ff,, 340, 344, 607, 609 ff., 629). Zum Problem vgl. Balibar: Grundbegriffe des histori­ schen Materialismus, S. 276. 223 Marx, Kapital, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 602 ff„ 757 ff. (MEW, Bd. 25, S. 627 ff., 790 ff.). Vgl. Marx: Manuskript 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II/3.1, S. 189 f. (MEW, Bd. 43, S. 202). 224 Marx, Kapital, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 602 f. (MEW, Bd. 25, S. 627) {...}.

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2. Rente ist - gleichgültig in welcher Form - immer ökonomische Realisierung von Grundeigentum und ist immer »Produkt von Mehrarbeit«.225 Inwiefern die kapitalistische Grundrente als »Überschuß des agrikolen Profits über den Durchschnittsprofit zu erklären« ist,226 geht uns hier nichts an: Uns geht es um deren »Genesis«. Marx konzipiert diese a ls eine »Entwicklungsreihe«, bestehend aus der Trias von Arbeits-, Pro­ dukten- und Geldrente, und den »Übergangsformen« der Metärie-, der Sklaven- bzw. Gutswirtschaft und dem Parzeiieneigentum. Der Gesichts­ punkt, unter dem diese Formen untersucht werden, ist das Verhältnis zwischen Rente und Profit im Rahmen des Verhältnisses der notwendi­ gen zur Mehrarbeit, oder anders gesagt: die Bildung von Profit »unter der Decke« der Rente oder »neben« ihr. Ist damit die Gesamtfunktion geklärt, die diese Untersuchung der Rentenformen bezweckt, so muss noch ihre sachliche Reichweite bestimmt werden. Nicht allein die Abwesenheit von Attributen wie mittelalterlich bzw. feudal,227 nicht nur die Hineinnahme von außereu­ ropäischen Bezügen,228 sondern die Abfassungsweise des Textes selber macht deutlich, dass es - wiederum - um vorkapitalistische Verhältnisse im Allgemeinen geht. Obwohl direkte Hinweise fehlen, wird man davon ausgehen können, dass Marx hier sich die Resultate seiner Auseinander­ setzung mit Richard Jones, auf die ich oben hingewiesen habe, zunutze gemacht hat, und Engels diese Forschungsresultate systematisch ausge­ arbeitet hat, denn im Manuskript von 1866/67 fehlen sie.229 Hier, wie im Fall der »Deutschen Ideologie«, scheint eine philologisch gesicherte Tren­ nung der Autorschaft der beiden Freunde unmöglich. 225 Vgl. ebd. S. 622 (ebd., S. 647) {...}. 226 Ebd., S. 758 (ebd., S. 791). 227 Typischerweise stellen sie sich dann ein, wenn es um die Übergangsformen geht (ebd., S. 774, 776, 782 [ebd., S. 807, 809, 815]). Dort auch sind die räumlichen bzw. geopolitischen Attribute dafür zu finden, dass Marx Feudalismus/Mittelalter - mindestens hier - nur mit dem euro­ päischen Raum verbindet: England (ebd., S. 774 [ebd. 807]); Italien (ebd., S. 776 [ebd. S. 809]); England, Schweden, Frankreich, Westdeutschland (ebd. S, 782 [ebd., S. 815]). Aus dem Rahmen fällt hier nur folgender Passus (ebd., S. 770 f. [ebd., S. 803 f.]): Die Produktenrente »setzt ferner voraus die Vereinigung ländlicher Hausindustrie mit dem Ackerbau; das Mehrprodukt, wel­ ches die Rente bildet, ist das Produkt dieser vereinigten agrikolindustriellen Familienarbeit, ob nun, wie dies häufig im Mittelalter der Fall, die Produktenrente mehr oder minder indus­ trielle Produkte einschließt, oder nur in der Form von eigentlichem Bodenprodukt geleistet wird.« 228 Zusammenfall von Rente und Steuer in Asien (ebd., S. 766 [ebd., S. 799]); hohe Produktrenten­ quote in Indien, die bäuerliche Profitbildung blockiert (ebd., S. 771 [ebd., S. 804]). 229 Vgl. die unbefriedigend kurze Erläuterung im wissenschaftlichen Apparat zu Marx: Kapital, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 1246. Das ganze 47. Kapitel enthält nur sehr wenige Literaturbe­ lege, was den Entwurfscharakter besonders unterstreicht. Für unser Thema von Bedeutung ist nur der Hinweis auf Simon Nicolas Henri Linguet und Justus Möser (ebd., S. 766 [ebd., S. 799), der Marx als Anhänger der Eroberungstheorie (als Bildungsprozess von Herrschaft) ausweist; vgl. auch Marx: Grundrisse, in: MEGA2, Bd. II/l, S. 395 f. (MEW, Bd. 42, S, 399 f.) (zur klassenbildenden Rolle des Krieges). Quellenkritische Hinweise hierzu bei Müller-Mertens: Feudalentwicklung im Okzident, S. 197; weitere Vermutungen: Marx: Kapital, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 1248 ff.

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Die viereinhalb Seiten zur »Arbeitsrente«230sind ein harter Brocken füi jeden, der sie nicht nur unter Marx’ eigener Fragestellung, das heißt, den vorkapitalistischen Bedingungen bäuerlicher Profitbildung bei Identitiii von Fronarbeit, Rente und Mehrwert, verstehen will.231 Die Argumenta tion ist sprunghaft und verschlungen, sie erinnert sehr an den Stil in den »Grundrissen«. Nur zögernd wage ich hier, die Kernargumente herauszu schälen: 1. M arx bestimmt das Verhältnis des unmittelbaren Produzenten zu seinen Produktionsbedingungen als »Besitz«, die Art der Verfügung über sie im Produktionsprozess als »Selbstständigkeit«.232 2. Die Aneig nung von Rente, hier in der Form der Fronarbeit, das heißt, die Realisierung des »Eigentumsanspruchs«, ist nur durch »außerökonomischen Zwang« möglich; die Beziehung zwischen »Besitzer« und »Eigentümer« der Pro duktionsbedingungen muss als »politische« erscheinen: Jener ist Knecht, dieser Herr.233 3. Die Entwicklung beider Verhältnisse - also der Aneignung der Natur wie der Rente - ist auf einfache Reproduktion abgestellt, wird der Normform von »Tradition« und »Brauch« unterworfen.2344. Das Entwick lungspotenzial arbeitsrentenbestimmter Produktionsverhältnisse bemisst sich danach, welche »subjektiven und objektiven Naturbedingungen« der Arbeit existieren235 und in welchem Verhältnis die subsistenzsichernde zur Mehrarbeit steht, das heißt, wie hoch die Rentenquote ist.236 Um die Arbeitsrente als sozialökonomisches Verhältnis zu charakte­ risieren, trifft Marx also grundlegende Bestimmungen zur Produktions­ sphäre, zur Appropriation und zur Reproduktion beider als Zusammen­ hang; man kann dies als die Bestimmung einer »Produktionsweise« auf­ fassen, in der selbstständig produzierende Bauern die »Basis« bilden.237 Der Allgemeinheitsgrad dieser Konstruktion hat Marx dann wohl auch zu jenem »Exkurs« veranlasst, der Kronbeleg geworden ist für seinen Begriff vom allgemeinen Verhältnis von Produktion und Appropriation zur Gesellschafts- und Staatsform einerseits, vom Verhältnis von Theorie zu Empirie andererseits. Der Passus sei deshalb insgesamt in Erinnerung gebracht: »Die specifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehr­ 230 Marx: Kapital, Bd. 3, ebd., S. 765 ff. (MEW, Bd. 25, S. 798 ff.). 231 Die intensivsten - mir bekannten - Interpretationsversuche bei Balibar: Grundbegriffe des historischen Materialismus, S. 294 ff.; dazu Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, S. 386 f„ und Hindess/Hirst: Vorkapitalistische Produktionsweisen, S. 141 ff., 169 ff. 232 Marx: Kapital, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 766 f. (MEW, Bd. 25, S. 798 f.): »Der unmittelbare Producent befindet sich hier der Voraussetzung nach im Besitz seiner eignen Produktionsmittel, der zur Verwirklichung seiner Arbeit und zur Erzeugung seiner Subsistenzmittel nothwendigen gegenständlichen Arbeitsbedingungen; er betreibt seinen Ackerbau wie die damit verknüpfte ländlich-häusliche Industrie selbständig.« 233 Vgl. ebd., S. 765 f. (ebd. 798 f.) 234 Ebd., S. 768 f. (ebd., S. 801). 235 Ebd. (ebd., S. 800). 236 Ebd., S. 766, 768 f. (ebd., S. 798, 800 f.) 237 Marx spricht im Text selbst von »Produktionsweisen« (ebd., S. 765 [ebd., S. 798]), »Formen« (ebd. [ebd.]), »ökonomischer Basis« (ebd. S. 767 [ebd., S. 800]).

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arbeit aus den unmittelbaren Producenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt. Hierauf aber gründen sich die ganze Gestaltung des Öko nomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine specifische politische Gestalt. Es Ist jedesmal das unmittelbare Verhältniß der Eigenthümer der Produk­ tionsbedingungen zu den unmittelbaren Producenten - ein Verhältniß, dessen jedesmalige Form stets naturgemäß einer bestimmten Entwick­ lungsstufe der Art und Weise der Arbeit und daher ihrer gesellschaftli­ chen Produktivkraft entspricht - worin wir das innerste Geheimniß, die verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhän­ gigkeitsverhältnisses, kurz, der jedesmaligen specifischen Staatsform finden. Dies hindert nicht, daß dieselbe ökonomische Basis - dieselbe den Hauptbedingungen nach - durch zahllos verschiedne empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse u. s. w. unendliche Variationen und Abstufungen In der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebnen Umstände zu begreifen sind.«238 Man kann wohl sicher sein, dass Grundelemente der »feudalen« Pro­ duktionsweise in den Grundbestimmungen dieses Kapitels enthalten sind. Aber sind sie auch entfaltet? Marx führt selbst eine Unterscheidung zweier Appropriationsinstanzen - bei gleicher »ökonomischer Basis« ein, die als Hinweis auf eine Spezifizierung gedeutet werden kann: »Sind es nicht Privateigenthümer, sondern ist es wie in Asien der Staat, der Ihnen direkt als Grundeigenthümer und gleichzeitig Souverain gegen­ übertritt, so fallen Rente und Steuer zusammen, oder es existirt vielmehr dann keine von dieser Form der Grundrente verschiedne Steuer.«239 Da bei Marx - dies dürften viele Belege bereits erwiesen haben - vorkapita­ listisches Privateigentum und Feudalismus in enger Beziehung stehen, könnte man aus diesem Passus schließen, dass für den Begriff spezifisch »feudaler« Abschöpfung von Mehrarbeit die Kombination von Rente und Steuer konstitutiv ist.240Ebenso ist die Auffächerung von Formen der »Unfreiheit« der bäuerlichen Produzenten geeignet, spezifisch »feudale« Formen herauszulesen: »Leibeigenschaft mit Fronarbeit«, »Gefesseltsein an den Boden als Zubehör desselben, Hörigkeit im eigentlichen Sinn« dies im Gegensatz zur (asiatischen Form der) »Untertanenschaft« oder

238 Ebd., S. 766 f. (ebd., S. 799 f.). 239 Ebd,: vgl. Marx: Resultate, S. 132 (MEGA2, Bd. 11/4.1, S. 134 f.). 240 Dies ist eine bedenkenswerte Erweiterung des Begriffsapparats, die diskutiert werden sollte. Hierzu - kritisch! - Hindess/Hirst: Vorkapitalistische Produktionsweisen, S. 152 ff., 171 ff.

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gar zur »Tributpflichtigkeit«.241 Diese Hinweise reichen a b er nicht aus für die These, in diesem Abschnitt handele Marx explizit v o n der feudalen Form der Rente. Der Abschnitt bietet sich als Ausgangspunkt für die Kon struktion solcher Formen im Sinne Marxens an, für m ehr nicht. In den folgenden Abschnitten über die Produkten- und Geldrente gehl Marx seiner Fragestellung deutlich konzentrierter nach. Ich fasse hier nur kurz zusammen: Die Verwandlung von Arbeits- in Produktenrente24' ändert nichts am Wesen der Rente als Mehrarbeit und d am it am Verhält nis zwischen Besitzer und Eigentümer der Produktionsbedingungen, außer, dass das Zwangsverhältnis (»Peitsche«) sich zum zu Recht gewor denen Verhältnis »abmildert«. Reine Produktenrente unterstellt weiter »Naturalwirtschaft« (d. h. keine Marktverbindung) und die Einheit von Agrikultur und Hausindustrie. Durch die Hineinverlagerung der Mehr­ arbeit in den bäuerlichen Betrieb wächst jedoch der Spielraum für die Produktion eigener Überschüsse hinter dem Rücken der Rente, wächsl auch die Differenzierung der bäuerlichen Betriebe. Abgesehen von dem Hinweis darauf, dass reine Produktrentensysteme, wie in Asien, wenig profitbildendes Entwicklungspotenzial aufweisen, solches aber, wenn vorhanden, durch entsprechend hohe Abschöpfungsraten blockiert wer­ den kann, wie durch England in Indien, interessieren Marx hier »die end los verschiednen Kombinationen, worin sich die verschiednen Formen der Rente verbinden, verfälschen und verquicken können«,243 eben nicht. Diese Haltung enthebt der Aufgabe, hier spezifisch Feudales zu suchen. Mit der Formverwandlung der Produkten- zur Geldrente,24424 5weiter verstanden als »normale Form des Mehrwerts und der Mehrarbeit«,24s ändert sich der Charakter der Produktionsweise, ihre Basis aber bleibt die gleiche: Der bäuerliche Produzent, weiterhin Besitzer der Produkti­ onsbedingungen, hat nun als Rente den Preis der verkauften Produkte zu zahlen. Dies unterstellt: Markt, Handel, städtisches Gewerbe, Geldzirku­ lation. Das Verhältnis zum Grundherrn wandelt sich zum Kontrakt, das Besitzverhältnis des unmittelbaren Produzenten »ökonomisiert« sich, wandelt sich zur Pacht. Diese Monetisierung der Appropriationsbezie­ hung schafft aber auch die Möglichkeit, dass die Beziehung der Bauern zu ihren Produktionsvoraussetzungen monetisiert wird: Die Käuflichkeit des Bodens birgt die beiden Möglichkeiten der Enteignung und der Akku­ mulation. Anders ausgedrückt: Die stabile Beziehung zwischen Eigentü­ mer und Besitzer des Bodens wird aufgelöst, einerseits entsteht - neben dem Parzelleneigentümer - der »bodenlose« Tagelöhner, andererseits 241 242 243 244 245

Marx: Kapital, Bd. 3, in: MEGA2, Bd. 11/15, S. 765 f. (MEW, Bd. 25, S. 798). Ebd., S. 769 ff. (ebd., S. 802 ff.). Ebd., S. 771 (ebd., S. 804). Ebd., S. 772 ff. (ebd., S. 805 ff.). Ebd., S. 775 (ebd., S. 808).

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der marktverbunden und profitorientiert produzierende Pächter, der dem Eigentümer, sei er nun feudal oder bereits bürgerlich, Rente zahlt.241

Die historischen Belege für diese Prozesse entnimmt Marx aus­ schließlich dem »feudalen« Europa. Dies betrifft die Vorform der länd­ lichen Lohnarbeit,247 das Eindringen des städtischen Kapitals in die ländlichen Eigentumsverhältnisse248 und das Verhältnis von ländlicher zu städtischer Profitrate.249 Auch hier also wieder die Verengung des his­ torischen Blicks in dem Moment, wo die Selbstparalyse des Feudalismus als historische Voraussetzung für die Genesis des modernen Kapitals zu behandeln ist. Zweierlei ist noch nachzutragen. Im - Entwurf gebliebenen250- sieben­ ten Abschnitt (»Die Revenuen und ihre Quellen«) kritisiert Marx zusam­ menfassend die »trinitarische Formel« der bürgerlichen Ökonomie: »Kapital-Zins, Boden-Grundrente, Arbeit-Abeitslohn, wo der Profit, die die kapitalistische Produktionsweise spezifisch charakterisierende Form des Mehrwerts, glücklich beseitigt ist«,251 als theoretischen Ausdruck einer Gesellschaft mit »vollendet verdinglichter« Grundstruktur der sozi­ alen Beziehungen. Diese Mystifikation »entspricht zugleich dem Inter­ esse der herrschenden Klasse«. Dem werden - ganz typisch für M arx’ Umgang mit der Geschichte im »Kapital« - die Verhältnisse in verschie­ denen vorkapitalistischen Gesellschaften kontrastierend gegenüberge­ stellt: »In frühem Gesellschaftsformen tritt diese ökonomische Mystifi­ kation nur ein hauptsächlich in bezug auf das Geld und das zinstragende Kapital. Sie ist der Natur der Sache nach ausgeschlossen, erstens, wo die Produktion für den Gebrauchswert, für den unmittelbaren Selbstbedarf vorwiegt; zweitens, wo, wie in der antiken Zeit und im Mittelalter, Skla­ verei oder Leibeigenschaft die breite Basis der gesellschaftlichen Produk­ tion bildet: die Herrschaft der Produktionsbedingungen über die Produ­ zenten ist hier versteckt durch die Herrschafts- und Knechtschaftsver­ hältnisse, die als unmittelbare Triebfedern des Produktionsprozesses erscheinen und sichtbar sind. {...} Selbst im mittelalterlichen Zunftwesen erscheint weder das Kapital noch die Arbeit ungebunden, sondern ihre Beziehungen durch das Korporationswesen und mit demselben zusam­ menhängende Verhältnisse und ihnen entsprechende Vorstellungen von Berufspflicht, Meisterschaft etc. bestimmt.«252 746 Diese »Rente« ist dann die Vorstufe zur kapitalistischen Grundrente (als Surplusprofit), also Anzeichen für die »allmähliche Verwandlung in der Produktionsweise selbst« (ebd., S. 775 [ebd., S. 808]). 7.47 Vgl. ebd., S. 774 (ebd., S. 807) {...}. 748 Ebd. (ebd.) {...(. 749 Vgl. ebd., S. 775 f. (ebd., S. 808 f.) {...}. 750 Vorwort von Engels, ebd., S. 10 (ebd., S. 14). 751 Ebd., S. 789 ff. (ebd., S. 822 ff.). 752 Ebd., S. 838 f. (ebd., S. 838 f.).

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Der Gesichtspunkt, unter dem sich d iese Bemerkungen bei Marx gewissermaßen einstellen, ist die historische Besonderheit (und damil Relativität) der Versachlichung der sozialen Verhältnisse im Kapitalismus Nur schlaglichtartig werden Grundelemente benannt, deren Existenz jene Versachlichung ganz verhindern: die Gebrauchswertproduktion, der auch die einfache Warenproduktion unterworfen ist (mittelalterliches Zunft wesen), »außerökonomisch« begründete Abschöpfung des Mehrprodukts (Herrschaft/Knechtschaft) und dessen determinierende Wirkung auf den Produktionsprozess bzw. die einfache kollektive Reproduktion. Die für die kapitalistische Produktionsweise kennzeichnenden Gegenbegriffo hierzu wären: Tauschwertproduktion, Zusam m enfall von Produktion und Abschöpfung, erweiterte Reproduktion als Kapitalakkumulation. Ansätze zur Versachlichung sind nur in der Zirkulationssphäre möglich. Auf diesem Abstraktionsniveau kommt dem Feudalismus/Mittelalter (hier: Zunftwesen, Leibeigenschaft) nur Belegfunktion im Kontrastzu sammenhang zu. Dies gilt auch für den zweiten Nachtrag. In dem zwischen 1863 und 1865 entstandenen Manuskript »Resultate des unmittelbaren Produkti onsprozesses«, das Marx in der ursprünglichen Fassung des ersten Bandes des »Kapital« als sechstes Kapitel (nach dem über die ursprüngliche Akkumulation) entworfen, in der veröffentlichten Fassung von 1867 aber hatte entfallen lassen,253 werden ähnliche Gesichtspunkte mit gleicher Kontrastfunktion zur »formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapi­ tal« angemerkt.254 Ich versuche zusammenzufassen: Marx hat in seinen ökonomischen Manuskripten von 1863 bis 1865 die Methode der »zerstückelten Analyse« vorkapitalistischer Verhältnisse im Dienste der Analyse der kapitalisti­ schen Produktionsweise angewandt. Dabei ist er bei der Darstellung der Grundrente zu Basisbestimmungen für vorkapitalistische Klassengesell­ schaften vorgedrungen. Ich nenne nur noch einmal die Begriffe, die für diese Erkenntnisse stehen: Selbstständigkeit des unmittelbaren Produ­ zenten im Produktionsprozess, Beziehungsform des Besitzes zu den Pro­ duktionsvoraussetzungen, Klärung der Beziehungen der Begriffe Mehrarbeit/Mehrwert, Rente, Profit zueinander, Beziehungsform des Eigen­ tums zu den Produktionsmitteln (Boden, Werkzeug, Arbeitskraft) bei den Mehrarbeit Appropriierenden, Erscheinungsweise dieses Aneignungsver­ hältnisses als Herrschaft von Personen über Personen. Dies alles betrifft 253 Erstveröffentlichung 1933; vgl. die editorische Vorbemerkung zu Marx: Resultate, S. I ff. Die Edition in MEGA2, Bd. II/4.1, S. 24 ff., bringt keine thematisch einschlägigen Varianten. 254 Marx: Resultate, S. 51 ff. (MEGA2, Bd. II/4.1, S. 96 ff.): 1. zur Ökonomisierung der Produktionsver­ hältnisse (ebd., S. 52, 54 jebd., S. 97, 99]); 2. zum Verlust der Selbständigkeit der unmittelbaren Produzenten im Produktionsprozess (ebd., S. 54 [ebd., S. 99]); 3. zum »mittelaltrigen Zunftver­ hältnis« (ebd., S. 54 ff. [ebd., S. 99 ff.]), wobei diese Bemerkungen am ausführlichsten sind {...}. Vgl. die Formulierungen in Marx: Manuskripte 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II/3.6, S. 2131 (MEW, Bd. 44, S. 231).

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die Produktionsverhältnisse. Die profitbildenden Formen der Zirkulation bestimmt Marx als diesen Produktionsverhältnissen äußerliche Instan­ zen insofern, als sie sie nicht schaffen, sondern ihnen parasitär aufsitzen und nur modifizierend, nicht transformierend auf sie einwirken. Mittelalter und Feudalismus erscheinen in diesem Rahmen zuneh mend dann, wenn es um die Auflösung vorkapitalistischer Verhältnisse und die verschiedenen Formen des Übergangs in kapitalistische geht Diese Prozesse der Auflösung finden in Europa statt. Somit sind Mittelal­ ter und Feudalismus hier ein europäisches Phänomen, dessen spezifische Kapazität zur Selbstparalyse im Vordergrund steht. Diese gründet in einei überdurchschnittlich dichten Verschlingung der Produktions- mit den Zirkulationsverhältnissen. Die privateigentümlichen Formen der Produk­ tion - hier hat man M arx’ Bestimmungen zur »germanischen Form« des Eigentums in den »Grundrissen« zu erinnern - und der Appropriation (Verbindung, nicht Ineinssetzung, von Rente und Steuer!) sowie die Ein­ wirkung aller grundlegenden Funktionen des Geldes auf Produktion und Appropriation, diese Bestimmungen bilden - als Einheit - den Begriff des europäischen Feudalismus. Dieser Begriff ist von Marx selbst aber nirgends so entwickelt, höchstens implizit vorhanden. Es fehlt eben die Beziehung der dezentral entwickelten Elemente auf die integrierenden Begriffe der »Produktionsweise« und der »Gesellschaftsformation«.255 2.2 Erster Band: Der Produktionsprozess des Kapitals Von Februar 1866 bis April 1867 erstellt Marx die Reinschrift des ersten Bandes des »Kapital«, das noch im gleichen Jahr im Druck erscheint. Die folgenden Jahre sind zum Teil erfüllt von Arbeiten an den weiteren Auflagen dieses Buches in deutscher Sprache und den Übersetzungen in fremde Sprachen (bes. Französisch und Russisch).256 Dieses Buch ist sein letztes wissenschaftliches Werk, dessen Veröffentlichung er selbst erlebt hat. Deshalb kommt ihm entsprechendes Gewicht zu. Grundlegend Neues zum Feudalismus ist hier schon deshalb nicht zu erwarten, weil die Niederschrift sich unmittelbar an den Gesamtentwurf anschloss, den Marx 1863-66 erstellte. Für alle einschlägigen Bemerkun­ gen über Mittelalter und Feudalismus also gilt das Prinzip der zerstü­ ckelten Analyse in der Doppelfunktion von Kontrast und Genese. Meist schließen sie an Formulierungen an, die Marx früher gefunden hatte, sie sind in diesem Sinne Reprisen, deren Verteilungsweise über das Buch der 255 Vielleicht ist es nützlich, darauf hinzuweisen, dass eine sachliche Lücke für diese Integration besteht: Marx hat sich - bis zu diesem Zeitpunkt - nicht systematisch mit den besonderen Bedingungen des bäuerlichen Arbeitsprozesses beschäftigt. Die Aneignung der Natur wird im Verhältnis zur Aneignung der Produktionsresultate nur wenig beachtet. Damit fehlt die Bestim­ mung eines wesentlichen Bestandteils des Begriffs der feudalen Produktionsweise: das System der Produktivkräfte. 256 Ich benutze die Auflage von 1883, MFGA2. Bd. 11/8.

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Darstellungslogik entspricht, oder besser: unterworfen ist, die Marx für die Ware, das Geld, die kritische Analyse der Produktion von absolutem und relativem Mehrwert sowie der allgemeinen und der ursprünglichen Kapitalakkumulation gefunden hatte. Die erste Bemerkung von Bedeutung findet sich charakteristischer weise nicht am Ende der Analyse von Gebrauchswert und Tauschwerl - dies sei allen in Erinnerung gerufen, die geneigt sind, mit Engels den ersten Abschnitt (»Ware und Geld«) für die Darstellung der Struktur der sogenannten einfachen Warenproduktion zu halten. Der Passus ist im »Fetisch-Kapitel« zu finden und dient - neben anderen - als Kontrast­ beispiel dafür, wie durchsichtig die gesellschaftlichen Beziehungen dorl sein können, wo die bewusstseinsverkehrende Wirkung des Tauschwert­ charakters der Arbeit fehlt: »Versetzen wir uns nun von Robinson’s lich­ ter Insel in das finstre europäische Mittelalter. Statt des unabhängigen Mannes finden wir hier Jedermann abhängig - Leibeigne und Grund herrn, Vasallen und Lehnsgeber, Laien und Pfaffen. Persönliche Abhän gigkeit charakterisiert ebensosehr die gesellschaftlichen Verhältnisse der materiellen Produktion als die auf ihr aufgebauten Lebenssphären. Aber eben weil persönliche Abhängigkeitsverhältnisse die gegebene gesell­ schaftliche Grundlage bilden, brauchen Arbeiten und Produkte nichl eine von ihrer Realität verschiedne phantastische Gestalt anzunehmen. Sie gehn als Naturaldienste und Naturalleistungen in das gesellschaft liehe Getriebe ein. Die Naturalform der Arbeit, ihre Besonderheit, und nicht, wie auf Grundlage der Waarenproduktion, ihre Allgemeinheit, isl hier ihre unmittelbar gesellschaftliche Form. Die Frohnarbeit ist ebenso gut durch die Zeit gemessen wie die Waaren producierende Arbeit, aber jeder Leibeigne weiß, daß es ein bestimmtes Quantum seiner persönli­ chen Arbeitskraft ist, die er im Dienst seines Herrn verausgabt. Der dem Pfaffen zu leistende Zehnten ist klarer als der Segen des Pfaffen. Wie man daher immer die Charaktermasken beurtheilen mag, worin sich die Menschen hier gegenübertreten, die gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten erscheinen jedenfalls als ihre eignen persön­ lichen Verhältnisse und sind nicht verkleidet in gesellschaftliche Verhält­ nisse der Sachen, der Arbeitsprodukte.«257 Die Elemente der Darstellung sind bekannt aus den frühen Schriften, den »Grundrissen«, dem Manuskript von 1861-63 und dem Grundren­ tenkapitel. Wenn Marx hier den Rentenbegriff nicht benutzt, dann mag dies darin gründen, dass es in diesem Zusammenhang um die Form geht, in der die Arbeit als solche, nicht nur die Mehrarbeit, im Rahmen des Gemeinwesens vergesellschaftet ist. Zur quasi innerbetrieblichen Vergesellschaftung gibt M arx unmittelbar darauf ein Beispiel, in dem 257 Marx: Kapital, Bd. 1, in: MEGA2, Bd. II/8, S. 105 f. (MEW, Bd. 23, S. 91 f.). Vgl. die Formulierungen in Marx: Manuskripte 1861-1863, in: MEGA2, Bd. II/3.1, S. 116 f. (MEW, Bd. 43, S. 123).

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Zwar grundlegende Bestimmungen zur bäuerlichen Ökonomie enthal­ ten sind. Er meint »die ländlich patriarchalische Industrie einer Bauern­ familie, die für den eignen Bedarf Korn, Vieh, Garn, Leinwand, Kleidungs­ stücke usw. producirt. {...} Geschlechts- und Altersunterschiede, wie die mit dem Wechsel der Jahreszeit wechselnden Naturbedingungen der Arbeit regeln ihre Vertheilung unter die Familie und die Arbeitszeit der einzelnen Familienglieder. Die durch die Zeitdauer gemeßne Verausga­ bung der individuellen Arbeitskräfte erscheint hier aber von Haus aus als gesellschaftliche Bestimmung der Arbeiten selbst, weil die individuellen Arbeitskräfte von Haus aus nur als Organe der gemeinsamen Arbeitskraft der Familie wirken.«258Damit ist nun noch nichts Spezifisches zur feudal­ bäuerlichen Ökonomie gesagt! Und was erbringt der - vielzitierte - Passus über das Verhältnis von Katholizismus und Ökonomie im Mittelalter gegen Ende dieses Kapi­ tels: »Soviel ist klar, daß das Mittelalter nicht vom Katholicismus und die antike Welt nicht von der Politik leben konnte. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben gewannen, erklärt umgekehrt, warum dort die Politik, hier der Katholizismus die Hauptrolle spielte« ?25926 0Die Sätze sind für Marx typische rhetorische Verkehrungen von Aussagen in einem »deutsch­ amerikanischen Blatt«, nach denen M arx’ Formulierungen aus seinem »Vorwort« zu »Zur Kritik der politischen Ökonomie« von i8592b0 histo­ risch zu relativieren seien. Es hieß dort, dass »die Produktionsweise des materiellen Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt bedinge«, alles dies sei zwar richtig für die heutige Welt, wo die materiellen Interessen, aber weder für das Mittelalter, wo der Katho­ lizismus, noch für Athen und Rom, wo die Politik herrschte«. Marx kehrt hier also Begriffskombinationen um, die er nicht selbst gebildet hat. Die Verkehrung dient einem ganz allgemeinen Zweck: Sie soll verdeutlichen, wie weit die These vom Bedingungsverhältnis zwischen »Basis« und »Überbau« historisch reicht und wie sie sich sachlich ändern kann. Diese Verdeutlichung ist hier als Verkehrung des Inhalts der Kritik formuliert, also Rhetorik kritischer Kritik. Sachlich gesehen läuft sie auf eine Hypo­ these hinaus. Warum der Katholizismus die »Hauptrolle« spielte, ist erst noch zu erklären - eine sicher reizvolle und wichtige Aufgabe. Bei der Darstellung des Austauschprozesses, der Funktionen des Gel­ des und der Verwandlung des Geldes in Kapital kommt Marx ohne für uns wesentliche Exkurse oder Bemerkungen aus.261 Erst bei der Bestim­ 258 Marx: Kapital, Bd. 1, in: MEGA2, Bd. II/8, S. 106 (MEW, Bd. 23, S. 91 f.). Dieses Beispiel führt Marx hier anstelle von Belegen an, die seiner Meinung nach an der »Geschichtsschwelle aller Kultur­ völker« zu Anden sind. 259 Ebd., s. 110 Fn. 33 (ebd„ S. 96 Fn. 33). 260 Marx: Zur Kritik, in: MEGA2, Bd. II.2, S. 100 f. (MEW, Bd. 13, S. 8 f.). 261 Nur drei Mal wird kurz aufs Mittelalter Bezug genommen: zur Zeichenfunktion des Geldes (Marx, Kapital, Bd. 1, in: MEGA', Bd. 11/8, S. 117 Fn. 47 [MEW, Bd. 23, S. 106 Fn. 47). zur Differenz

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mung der Mehrarbeit rekurriert er wieder auf Bestimmungen, die er bei der »Genesis der kapitalistischen Grundrente« entwickelt hatte. Er wähll jetzt am Beispiel der walachischen Bojaren - das Verhältnis der Fronar beit, wo die Mehrarbeit noch »eine selbständige, sinnlich wahrnehmbare Form besitzt«,262 um das Verhältnis der Lohnarbeit zu erläutern, in dem »Mehrarbeit und notwendige Arbeit [...] ineinander« verschwimmen.26' Auch die kurzen Hinweise auf die Betriebsgröße im Handwerk des Mittelalters im Kapitel über »Rate und Masse des Mehrwerts«,264 auf »Oberbefehl im Krieg und Gericht« als »Attribute des Grundeigentums« in der »Feudalzeit« und »die kleine Bauernwirtschaft und den unabhän gigen Handwerksbetrieb, die beide [...] die Basis der feudalen Produkti onsweise bilden« im Kapitel »Kooperation«265 enthalten sachlich nichts Neues. Methodisch ist aber von einigem Interesse, dass Marx den Begriff der »feudalen Produktionsweise« nicht ohne den kleinen Handwerksbe trieb denkt. In diesen Begriff gehen also nicht allein die ländlichen Pro­ duktionsverhältnisse ein! Abgesehen von wenigen verstreuten Reprisen zur Mehrarbeit266 und zum Konsumverhalten der »flotten Feudalherrn«267 ist erst das 24. Kapitel über die »sogenannte ursprüngliche Akkumulation« mit seiner Fülle von Hinweisen eine genauere Untersuchung wert. Diese Fülle entspricht der Logik des Gesamtaufbaus dieses Bandes. Marx ist an den Punkt gekom­ men, wo die Struktur des Begriffs der Kapitalakkumulation entwickelt ist; nun erst stellt sich die Frage nach dem Ursprung, der Vorgeschichte die­ ses Verhältnisses. Das Kapitel knüpft damit an die »Formen, die der kapi­ talistischen Produktion vorhergehen«, aus den »Grundrissen« an. Die analoge Darstellungsmethode ist aber sachlich anders organisiert: Marx beschränkt sich auf das englische Beispiel, führt dieses aber ausführlicher durch. Gegenüber den »Grundrissen« erbringt diese Verengung deshalb zugleich eine Vervollständigung. Die Darstellung hat aber auch hier wie­ derum ein anderes Thema. Es geht um die Auflösung der Elemente des englischen Feudalismus als Voraussetzung für die ursprüngliche Akku­ mulation des Kapitals. Eine Übersicht über die hierbei von Marx ins Feld des Münzmetalls als Zirkulationsmittel und als Preismaßstab (ebd., S. 145 f. und Fn. 81 [ebd.. S. 139 und Fn. 81), zur »Einebnung« aller Gebrauchswerte durch ihren Geldwert (ebd., S. 150 I. [ebd., S. 145 f.[). 262 Ebd., S. 241 [ebd., S. 251]. Vorformulierungen von Marx: Manuskripte 1861-1863, in: MEGA2, Bd. 11/3.1, s. 158 ff, 192 f. (MEW, Bd. 43, S. 169 ff, 206 f.); Bd. 3.6, S. 2248 ff. (MEW, Bd. 44, S. 343). 263 Der ganze Exkurs: Marx: Kapital, Bd. 1, in: MEGA2, Bd. II/8, S. 241 ff. (MEW, Bd. 23, S. 250 ff.). Marx nimmt auch hier die Terminologie des Grundrentenkapitals nicht voll wieder auf. Es bleibl unklar, ob die angesprochenen Verhältnisse als »feudale« aufzufassen sind. Die Verbindung der Fronarbeit mit der Leibeigenschaft und dem Privateigentum legt dies nahe, ebenso die Vorge schichte (Gemeineigentum, »aber nicht [...] in slawischer oder gar indischer Form«), 264 Ebd., S. 308 f. (ebd., S. 326 f.). 265 Ebd., S. 330 ff. Fn. 24 (ebd., S. 353 ff. Fn. 24). 266 Ebd., S. 485, 510, 535 (ebd., S. 534, 562, 593) (mit Bezug auf Richard Jones). 267 Ebd., S. 557 f. (ebd., S. 620); Luther-Reprise: ebd. S. 556 (ebd., S. 619).

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geführten Details kann nicht mit einer Theorie der »feudalen Produkti­ onsweise« im marxschen Sinne gleichgesetzt werden. Zunächst wenige Worte zur Gesamtargumentation, dann der Versuch einer systemati­ schen Ordnung aller relevanten Aussagen zum Feudalismus. Den Gesamtprozess des Übergangs fasst Marx einleitend so zusam­ men: »Die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft ist hervorgegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesell­ schaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt. Der unmittelbare Producent, der Arbeiter, konnte erst dann über seine Person verfügen, nachdem er aufgehört hatte an die Scholle gefes­ selt und einer andern Person leibeigen oder hörig zu sein. Um freier Ver­ käufer von Arbeitskraft zu werden, der seine Waare überall hinträgt, wo sie einen Markt findet, mußte er ferner der Herrschaft der Zünfte, ihren Lehrlings- und Gesellenordnungen und hemmenden Arbeitsvorschrif­ ten entronnen sein. Somit erscheint die geschichtliche Bewegung, die die Producenten in Lohnarbeiter verwandelt, einerseits als ihre Befreiung von Dienstbarkeit und Zunftzwang; und diese Seite allein existiert für unsre bürgerlichen Geschichtsschreiber. Andrerseits aber werden diese Neubefreiten erst Verkäufer ihrer selbst, nachdem ihnen alle ihre Produk­ tionsmittel und alle durch die alten feudalen Einrichtungen gebotenen Garantien ihrer Existenz geraubt sind. Und die Geschichte dieser ihrer Expropriation ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer. Die industriellen Kapitalisten, diese neuen Potentaten, mußten ihrer­ seits nicht nur die zünftigen Handwerksmeister verdrängen, sondern auch die im Besitz der Reichthumsquellen befindlichen Feudalherren. {...} Die Ritter von der Industrie brachten es jedoch nur fertig, die Ritter vom Degen zu verdrängen, dadurch, daß sie Ereignisse ausbeuteten, an denen sie ganz unschuldig waren.«268 Diesen Bestimmungen grob folgend wird erstens die Enteignung der Bauern von ihren Produktionsmitteln, die Rolle des staatlichen Zwangs bei der Zurichtung der Enteigneten auf die Lohnarbeit dargestellt, dann nach der Herkunft der Kapitalisten (auf dem Lande) gefragt; die Folgen beider Prozesse für die gesellschaftliche Arbeitsteilung, also die Tren­ nung von Agrikultur und Manufaktur und die Bildung des inneren Mark­ tes, sind wiederum die Voraussetzung für den letzten Akt des Gesamtvor­ gangs: »die Genesis des industriellen Kapitalisten« und die »geschichtli­ che Tendenz der kapitalistischen Akkumulation«.269 Welche Elemente der feudalen Produktion werden aufgeführt? 2(i8 Ebd., S. 669 (ebd., S. 743). 7.69 Ebd., S. 670 ff. (ebd., S. 744 ff.). Die Darlegungen sind dicht mit konkreten Belegen versetzt und fußen auf einer imponierenden Reihe historischer und polit-ökonomischer Literatur. Neben dem Hauptgebiet England (und Schottland) zieht Marx ebenso Beispiele bzw. Belege aus Italien, Schweden, Holland, Russland, Deutschland und Frankreich heran. Zu Japan siehe Fn. 279.

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1. Da der entscheidende Vorgang die Enteignung der unmittelbare Produzenten auf dem Lande ist, wird die feudale Bauernschaft am aus führlichsten charakterisiert. An dem narrativen Stil des Abschnitts dürfte e s liegen, dass die ländlichen Produzenten sehr verschieden bezeichnei w erden: Leibeigene, Hörige, Untersassen, Bodeninsassen, Untertanen, selbstwirtschaftende Bauern usw.; Belege hierzu erübrigen sich. Im Vordergrund der Charakterisierung steht die ökonomische Selbststän digkeit, die aus der Verbindung mit den Produktionsmitteln resultiert. S ie wird hier nicht, wie im Manuskript zum dritten Band, als Besitz-Ver h ältnis bezeichnet, sondern als »Eigentum«. Dieses Eigentum ist aber »gespalten«: »Man muß nie vergessen, daß selbst der Leibeigene nicht n u r Eigentümer, wenn auch tributpflichtiger Eigentümer, der zu seinem Haus gehörigen Bodenparzellen war, sondern auch Miteigentümer des Gem eindelandes.«270 Auch die Funktionsbestimmung des »Miteigen­ tum s« findet sich: Viehweide, Waldnutzung usw.271 Dieser Gesichtspunkt ist neu. Sicher geriet er in M arx’ Blickfeld, weil der - für England so typi­ sche - Prozess der Einhegungen, also der Privatisierung der Allmende, als Aspekt der Enteignung der ländlichen Produzenten darzustellen war.272 Betont werden auch die kleinbetriebliche Struktur273 und die Verbindung vo n Ackerbau und (häuslicher) »Nebenindustrie«.274 Beide Gesichts­ punkte sind wieder als Ausgangsverhältnisse für die Akkumulation zum kapitalistischen Grundeigentum bzw. der Betriebsstruktur des kapitalis­ tischen Pächters und für die Trennung von Ackerbau und Industrie von Bedeutung. Nur stiefmütterlich behandelt wird die Unfreiheit. Auch dies ist darstellungslogisch konsequent: »In England war die Leibeigenschaft im letzten Theil des 14. Jahrhunderts faktisch verschwunden. Die unge­ heure Mehrzahl der Bevölkerung bestand damals und noch mehr im 15. Jahrhundert aus freien, selbstwirthschaftenden Bauern, durch welch feudales Aushängeschild ihr Eigentum immer versteckt sein mochte.«275 Auch die bäuerlichen Mehrarbeitsverhältnisse werden nur en passant erwähnt.276 Dies gehörte eben ins Kapitel über die »Genesis« der moder­ nen Grundrente. Wichtig für die Auflösungsperspektive war wiederum 270 Ebd., S. 673 Fn. 191 (ebd., S. 745 Fn. 191); Erblichkeit: ebd. S. 676 (ebd., S. 749); »Privateigentum«: ebd., S. 711 (ebd., S. 789). 271 Zum »Gemeindeland« vgl. weiter ebd. S. 674, 679 (ebd., S. 746, 752): »eine altgermanische Ein­ richtung, die unter der Decke der Feudalität fortlebte« (ebd., S. 694 f. [ebd., S. 771]. 27-2 Damit soll angedeutet sein, dass wieder der Gesichtspunkt der »Auflösung« dazu führt, Einzel­ elemente des Feudalismus zu benennen; denn man wird Marx nicht unterstellen können, er habe die Bedeutung der Allmende für die ländliche Produktionsstruktur nicht erkannt. Natür­ lich wusste er dies seit den »Debatten über das Holzdiebstahlgesetz«. Hier sieht man wieder deutlich, wovon es abhängt, ob Marx »Feudales« zur Sprache bringt. 273 Ebd., S. 696 Fn. 229, S. 711 (ebd., S. 773 Fn. 229, S. 789). 274 Ebd., S. 695 ff. (ebd., S. 774 ff.) 275 Ebd., S. 670 (ebd., S. 744 f.). 276 Ebd.., S. 673 (ebd., S. 745) (»Rentrolle«), ebd., S. 678 (ebd., S. 751) (»Leistungspflichten«), ebd., 696 Fn. 229 (ebd., S. 773 Fn. 229) (»Grundrente in Geld oder in natura«).

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! die Binnendifferenzierung der Bauernschaft, ihrrird entsprechend Rech­ nung getragen.277 Abschließend noch eine »Neuigkeit«, die füi die Diskussion um die räumliche Reichweite des Feudalismus von einigem Belang ist. Marx kri­ tisiert die »von bürgerlichen Vorurteilen diktierten Geschichtsbücher« über das europäische Mittelalter mit dem Hinweis auf »Japan, mit sei­ ner rein feudalen Organisation des Grundeigeithums und seiner ent­ wickelten Kleinbauernwirthschaft«; es liefere »ein viel treueres Bild des europäischen Mittelalters« als jene Bücher.278Hier ist - meines Erachtens * zum ersten und einzigen Mal - vom Feudalismus in Japan die Rede; auf I welchen Quellen diese Bemerkung fußt, konnte ich nicht ermitteln, Marx scheint sich aber erst kurz vorher informiert zu liaben.279 2 . Bestimmungen zur Struktur und Funktion des »Feudaladels« sind seltener. Sie beziehen sich - meist nur benennend, nicht erklärend angelegt - auf den Charakter der Eigentumsform,280 die politische Stel­ lung (Souveränität)281 und die soziale Struktur (Königtum, Kirche, Adel, Gefolgschaften).282 3 . Auch die Position von handwerklichem Meisterbetrieb und Zunft auf der einen, Handels- und Wucherkapital auf der anderen Seite wird nur bei­ läufig berührt: das Verhältnis sozialer »Nähe« zwischen Arbeiter und Meis­ ter283 und die begrenzten Entfaltungsmöglichkeiten beider Kapitalformen im Mittelalter.284Die Bemerkungen sind, verglichen mit dem dritten Band und den »Resultaten«, sehr kurz und enthalten sachlich nichts Neues. Wieder hat sich gezeigt, wie Inhalt und Stellung der Aussagen zu Feudalismus und Mittelalter von der Darstellungsweise des hauptsäch­ lichen Themas bestimmt sind. Also enthält auch der Abschnitt über »die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals« nur dezentralisiert herange­ zogene Einzelheiten, die selbst als »Summe« keine Theorie des Feudalis277 Ebd., S. 694, 670 f. (ebd., S. 771, 774 ff.) 278 Ebd., S. 673 Fn. 192 (ebd., S. 745 Fn. 192). 279 Auch im MEGA2-Apparatband II/8 fehlt jeder Hinweis. Aber am 13.2.1866 schreibt Marx an Engels im Zusammenhang mit seinen Studien zur Grundrente 1864: »(...] gerade in der Zwi­ schenzeit war vieles, übrigens ganz meine Theorie bestätigend, geleistet worden. Auch der Auf­ schluss von Japan (ich lese sonst im Durchschnitt, wenn nicht professionell genötigt, niemals Reisebeschreibungen) war hier wichtig« (MEW, Bd. 31, S. 178). ln der Zusammenstellung des marxschen »Lesefeldes« zur Geschichte von Harstick: Formen konnte ich keinen weiterfüh­ renden Hinweis finden. Auch Hall: Feudalism in Japan, S. 143, macht keine näheren Angaben zur Herkunft von Marx' Wissen zu Japan. Mit »Reisebeschreibungen« meint Marx Hermann Marons Reisebericht. Die Exzerpte befinden sich in MEGA2, Bd. 1V/18, erschienen 2019. Neuer­ dings bietet nähere Hinweise zu Marx’ möglichen Quellen: Mitsunori Amano: Marx' Quellen für die Japan-Studien. Auf Grundlage von Band 18 der MEGA (Japanisch], ln: Teinosuke Otani/Tomonaga Tairako (Hrsg.) : Ч ) \ , 0 Я & # У — h f t в Ч Я У Я £ Ш Ь —MEGAH4gflP1 ШШ t ffii« У - V [Marx lesen anhand Marx’ Exzerpte-Heften: Analysen zu Exzerpte-Edition und -Nachlass in: MEGA-Abteilung IV], Tokio 2013. 280 Marx: Kapital, Bd. 1, in: MEGA2, Bd. II/8, S. 711 (MEW, Bd. 23, S. 789). 281 Ebd., S. 673 (ebd., S. 745). 282 Ebd., S. 674, 676, 687 f. (ebd., S. 746, 749, 760). 283 Ebd., S. 690 (ebd., S. 766). 284 Ebd., S. 701 ff. (ebd., S. 777 ff.).

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mus, keinen Begriff der feudalen Produktionsweise ergeben. Am meisten e rfäh rt man noch über die unmittelbaren Produzenten, weil das Haupt them a dieses Abschnittes die Genesis der Lohnarbeit ist, der »Formwech sei d ie se r Knechtung« der Produzenten von der formell unfreien Bauern zur fo rm ell freien Arbeiterschaft.285

3 Entwicklungsspuren der späten Jahre (1868-1882) Obgleich Marx - gedrängt vom Verleger Meißner - sofort nach Erschei­ nen d es ersten Buches mit der Bearbeitung des zweiten begann, ist es ihm nicht mehr gelungen, für eine Veröffentlichung befriedigende Fas­ sungen des zweiten und dritten Bandes herzustellen. Die Labilität seines Gesundheitszustandes, die Verschiebung der politischen Dynamik der Arbeiterbewegung nach Deutschland und die politischen Gärungen in Russland sowie die daraus folgenden Umorientierungen im politischen »Tageskampf« wie endlich die anwachsende Menge wissenschaftlich rele­ vanter Literatur verhinderten die kontinuierliche Fortsetzung und den Abschluss des »Kapital«. Schon Ende 1867 unterbrach Marx die Arbeit am zweiten Band. Ab 1869286 begann er, Russisch zu lernen, um die öko­ nom ische Entwicklung in Russland seit der Bauernbefreiung intensiv studieren zu können. 1877 begann er die Neufassung des zweiten Bandes und sammelte in dieser Zeit Material zur Überarbeitung des dritten; er hatte - wie angemerkt - ja vor, das Grundrentenkapitel völlig auf russi­ sche Verhältnisse umzuschreiben. Daneben erweiterte er durch die Lek­ türe der Bücher Georg Ludwig von Maurers sein Wissen über die germa­ nisch-deutschen Verhältnisse beträchtlich und begann dann mit Studien zur vergleichenden Geschichte des Grundeigentums ab 1879. Die Frucht dieser Arbeit ist - neben dem von Engels aufbereiteten Manuskript zum zweiten Band287 - lediglich überkommen in Briefen bzw. Briefentwürfen und Exzerpten, die Marx sich bei der Lektüre anlegte. Fast alles, was im Folgenden zu interpretieren ist, zeugt also mehr vom Forschungsprozess Marxens, ist Ausdruck ersten Zugriffs und muss dementsprechend vor­ sichtig betrachtet werden. 3 .1 Zweiter Band: Der Zirkulationsprozess des Kapitals Es liegt am Gegenstand dieses Bandes, dass Marx fast ganz ohne okkasi­ onelle oder systematische Bezugnahmen auf »Vorkapitalistisches« aus285 Ebd., S. 669 (ebd., S. 743). 286 Materialien zur Spätzeit und zur »russischen Frage«: Teodor Shanin (Hrsg.): Late Marx and the Russian Road. Marx and »the peripberies of capitalism«, New York 1 9 8 3 ; Maximilien Rubel (Hrsg.): Karl Marx und Friedrich Engels zur russischen Revolution. Kritik eines Mythos, Frank­ furt a. M./Berlin/Wien 1984. 287 Friedrich Engels: Vorwort, in: Karl Marx: Das Kapital. Zweiter Band: Buch II: Der Zirkulations­ prozess des Kapitals, in: MEGA2, Bd. 11/13, S. 5 ff. (MEW, Bd. 24, S. 7 ff.). Die Überprüfung der Sachregister der kritischen Edition des zweiten Bandes und seiner vorausgehenden marxschen Manuskripte hat keine einschlägigen Funde erbracht.

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§ kommen konnte: Metamorphosen und Umschlag des Kapitals, einfache i und erweiterte Reproduktion machen die Bewegungsweise des gegebeI nen Verhältnisses ausbilden den Bedingungsrahmen für die Geschichte I des Kapitals selbst, seiner »kontemporären« Geschichte. Die wenigen * für unser Thema relevanten Bemerkungen beziehen sich ganz allgemein I auf den Begriff der Produktionsweise,288 im Besonderen dann auf Leibeigenschaft. Hierbei knüpft Marx an Bekanntes aus dem Manuskript zum | dritten Band, ähnlich wie ja im ersten Band.289An zwei Stellen zieht Marx I - in universalgeschichtlich vergleichender Funktion - russische Verhältt nisse heran: Die »aufLeibeigenschaft gegründete« »Staatsproduktion« von Waren auf dem (SVelt-)Markt »in früheren Epochen der russischen Geschichte«290 wird neben der Sklaverei und anderen Verhältnissen außerhalb Europas angeführt, um die Gleichgültigkeit der Herkunft der Waren auf dem Markt zu demonstrieren. An anderer Stelle zeigt Marx an den russischen Grundeigentümern, »die in Folge der sogen. Bauernemancipation ihre Landwirtschaft jetzt mit Lohnarbeitern statt mit leibeignen Zwangsarbeitern betreiben«, die Schwierigkeiten, die inner­ halb des Gesamtkreislaufs des Geldkapitals beim Übergang des Geldes in den variablen Anteil des Produktivkapitals, die Lohnarbeit, entstehen, wenn die Verhältnisse noch nicht voll kapitalisiert sind.291 Marx belegt, das wird hier deutlich, die russischen Verhältnisse vor dem Übergang in den Kapitalismus mit dem Begriff der »Leibeigenschaft«, die in älteren Epochen mit dem Staat, dann mit Grundeigentümern verbunden sind; das Attribut »feudal« fehlt. Die Rezeption der Schriften Georg Ludwig von M aurers292 Im März 1868 und im Mai/Juni 1876 hat Marx ausführliche Exzerpte aus den Spätschriften von Maurer hergestellt, sie umfassen weit über 250 Sei­ ten in den entsprechenden Exzerptheften.293 Da Harstick - sicher auch aufgrund seiner Archivstudien - der Ansicht ist, die Lektüre Maurers habe »erheblichen Einfluss auf das marxsche Geschichtsbild« gehabt,294kann 3.2

288 Marx: Kapital, Bd. 2, in: MEGA2, Bd. 11/13, S. 38; S. 107 ff. (MEW, Bd. 24. S. 42.118 ff.). Kritik der Lehre von der Folge Natural-, Geld-, Kredit-Wirtschaft; vgl. auch ebd., S. 444 f. (ebd., S. 474). 289 Ebd., S. 358 (ebd., S. 385). 290 Ebd., S. 102 (ebd., S. 113). 291 Ebd., s. 35 (ebd., s. 39). 292 Es handelt sich um folgende vier Werke: Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung und der öffentlichen Gewalt, München 1854; Geschichte der Markenverfas­ sung in Deutschland, Erlangen 1856; Geschichte der Dorfverfassung in Deutschland, Erlangen 1865-66, und Geschichte der Fronhöfe, der Bauernhöfe und der Hof Verfassung in Deutsch­ land, Erlangen 1862-63; zu Maurer vgl. die Studie von Wolfgang Leiser: Geschichte als politische Wissenschaft. Georg Ludwig von Maurer, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 64/1966; eine kurze Einordnung in die deutsche Verfassungsgeschichte versucht Böckenförde: Verfassungsgeschichtliche Forschung, S. 134 ff.; sowie Harstick: Formen, S. XXXIX ff. 293 Nachweis bei Harstick: Formen, S. 246. 294 Ebd., S. 124.

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man nur bedauern, dass diese Exzerpte bislang weder ausgewertet nocli ediert sind. Zurzeit hat man sich also an die wenigen kleinen Zeug nisse zu halten, die das veröffentlichte Werk hergibt. Am ausführlichs ten sind die Bemerkungen, die zwei Briefe an Engels vom 14. und vom 25. März 18 6 8 enthalten.295 Marx ist beeindruckt von den Thesen Maurers über die Entwicklung des germanischen Gemeineigentums (Markgenos senschaft) zum Privateigentum, findet sich in früher geäußerten Ansich ten ebenso korrigiert wie bestätigt296und schließt ergänzende Erwägun gen an.297 Von besonderer Bedeutung für unser Thema aber ist Marxens Urteil über Maurers Darstellung der mittelalterlichen Geschichte. Er schreibt: »Ad vocem Maurer: Seine Bücher sind außerordentlich bedeu tend. Nicht nur für die Urzeit, sondern die ganze spätere Entwicklung der freien Reichsstädte, der Immunität besitzenden Gutsbesitzer, der öffent­ lichen Gewalt, des Kampfes zwischen freiem Bauerntum und Leibeigen­ schaft erhält eine ganz neue Gestalt.«298 Nähere Hinweise darauf, wie diese Einschätzung sich auf Marxens Bild vom europäischen Mittelalter und Feudalismus ausgewirkt hat, finden sich leider nicht. Zwar begegnet man in den Exzerpten und Entwürfen der letzten Jahre öfter Verweisen auf Maurer, doch sie sind für unser Thema wenig aussagekräftig,299 man erfährt nur, dass bei verschiedenen Stichworten wie Dorfgenossenschaft bzw. Ackerbaugemeinde, »Colonisation«, »Bodenpoesie«, Aristokratie und »Königsumritt« Marx an Maurer denkt. Gerade diese Präsenz Mau­ rers lässt aber vermuten, dass die Maurer-Exzerpte manchen wichtigen Hinweis enthalten für Verschiebungen von Marxens Mittelalter-Bild.300 Deutlich wird beim jetzigen Stand unserer Kenntnisse, dass der Gesichts­ punkt der »Genossenschaftlichkeit« der ländlichen Produzenten stärker ins Blickfeld rückt. 295 MEW, Bd. 32, S, 42 ff., 51 f.; vgl. auch Harstick: Formen; S. XVII ff, 296 Korrigiert in Bezug auf Mösers Ansicht, »daß die Deutschen sich jeder für sich niedergelassen und erst nachher Dörfer, Gaue etc. gebildet« haben. Dieser Forschungsstand bestimmt maßgeb­ lich die Konstruktion der »germanischen« Formation in den Grundrissen! Bestätigt im Hinblick auf seine Behauptung (von 1859 in Marx: Zur Kritik, in: MEGA2, Bd. II/2, S. 113 [MEW, Bd. 13, S. 21]), die Eigentumsentwicklung in Europa habe ihren Ausgang von den »asiatischen« Eigen­ tumsformen genommen. 297 Am wichtigsten hier: Marx erinnert sich an Hinweise seines Vaters, im Hunsrück habe er Spuren des »altdeutschen Systems« (der Markgenossenschaft) noch selbst erlebt. 298 Marx an Engels, 25. März 1868, in: MEW, Bd. 32, S. 51. 299 Vgl. die kleine Ergänzung zur zweiten Auflage des ersten Bandes des »Kapital« (1872), in: MEGA2, Bd. 11/10, S. 71 Fn. 26 (MEW, Bd. 23, S. 86 Fn. 26); die Hinweise auf Maurer im Kovalevskij-Exzerpt v. 1879/80: Harstick: Formen, S. 43, 22 f„ 76, 34 f.; im Maine-Exzerpt: Lawrence Kräder (Hrsg.): The Ethnological Notebooks of Karl Marx, Assen 1972 (dt. 1976), S. 295, 299, und in den Brief­ entwürfen an Vera Zasulic v. 1881, in: MEW, Bd. 19, S. 387,402. 300 Deutlich wird dies schon an der von Harstick: Formen, S. 150, mitgeteilten Anmerkung im Exzerptheft 122a zu Maurers Geschichte der Fronhöfe (Juni 1876): »Diese ekelhafte Grundei­ genthumspoesie, d. d. Germanen auszeichnet, übertrifft in ihrer Verdinglichung persönlicher Verhältnisse noch d. Kapitalpoesie. Und es zeigt sich hier schlagend d. historisch total verschie­ dene Charakter des Grundeigenthums. D. röm. possessor war Herr über seine Sklaven etc, nicht in seiner Qualität als Grundbesitzer sondern als Eigenthümer v. Sklaven; als Grundeigenthümer blosser Privatmann; aber bei d, Germanen erhält d. Grund u. Boden selbst einverleibt alle mög­ lichen socialen u. entsprechenden Rcchtsqualitäten als Pertinenzen desselben«.

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З — ZurEntw icklung d e s F e u d a lis m u s -K o n z e p ts im W erk von Karl M arx

Die ExzerptM te zur Geschichte des Grundeigentums und zur Ethnologie Vom Oktober i879bis kurz vor seinem Tod hat Marx die Bücher von Kovalevskij, Morgan, Phear, Maine und Lubbock exzerpiert.301 Diese Exzerpte stehen in enger Verbindung mit anderen Arbeiten - besonders der breiten Erfassung der Fachliteratur - zur Geschichte von Gesellschaf­ ten ohne Klassen und Privateigentum. Es ist zu vermuten, dass diese Studien auch in Zusammenhang mit seiner Arbeit an der Entwicklung der russischen Agrarverhältnisse und damit mit der Neufassung des Abschnitts über dieGrundrente im dritten Band des »Kapital« standen.302 Die Erläuterungen der Herausgeber dieser Exzerpte, Harstick und Kräder, zeigen, wie lohnend die schwierige Erschließung dieser neuen Quellen zur Marx-Forschung sein kann.303 Dem von ihnen gesetzten Interpreta­ tionsstandard kann ich hier nicht entsprechen. Dies erforderte mindes­ tens die parallele Lektüre der exzerpierten Autoren selber, denn erst so würde deutlich, welche Einzelheiten Marx des schriftlichen Auszugs für wert erachtete und in welcher Sprache, in der des Autors oder in seiner eigenen, dies geschah. Ich konnte mich hier nur an die Anmerkungen der Herausgeber zur - von Exzerpt zu Exzerpt durchaus anderen - Rezepti­ onsweise halten und die Exzerpte auf begriffliche und sachliche Anhalts­ punkte zu Mittelalter und Feudalismus durchsehen. Die Ausbeute, so karg sie ausfällt, ist doch von einigem Interesse. Man kann bei der Lektüre dieser schon durch ihre sprachliche Gestalt so seltsam berührenden Texte den Eindruck gewinnen, als verfolge Marx die Sprache und die sachlichen Darlegungen seiner Autoren, besonders dann, wenn diese von agrarisch bestimmten Klassenverhältnissen han­ deln, mit einem bestimmten Bild von der Eigenart des europäischen Feudalismus im Hinterkopf. Daraus entstehen mehrere Formen der Rezeption, und das heißt auch: mehrere Ebenen der Stellungnahme. Am schwierigsten zu beurteilen ist die Rezeptionsweise des Stoffs über Mit­ telalter und Feudalismus im Exzerpt zu Maines »Lectures on the Early History of Institutions«,304 in denen - mit Seitenblick auf Indien - von Irland auf der Grundlage der mittelalterlichen irischen Gesetzbücher 3.3

301 Maksim M. Kovalevskij; Der Gemeindelandbesitz, Ursachen, Verlauf und Folgen seines Ver­ laufs (russ.), Moskau 1879; Lewis Henry Morgan; Ancient Society or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization, New York/London 1877; lohn B. Phear: The Aryan Village in India and Ceylon, London 1880; Henry S. Maine: Lectures on the Early History of Institutions, London 1875; lohn Lubbock: The Origin of Civilization and the Primitive Condition of Man, London 1870. Zur wissenschaftlichen Einordnung: Harstick: Formen, S.4ff.; Kräder: Notebooks, S. 1ff. (deutsch zugänglich in: ders.: Ethnologie und Anthro­ pologie, S. 13 ff, 67 ff.). 302 Harstick und Kräder arbeiten dazu den Zusammenhang mit dem Gesamtwerk heraus. 303 Dies gilt besonders für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Rezeption Morgans durch Marx und Engels, dessen Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates im Anschluss an Morgans Forschungen von 1884 schwer überschätzbare Bedeutung hat und viel­ fach als Fortsetzung der marxschen angesehen wird. Vgl. dazu Kräder: Notebooks, S. 136 ff. 304 Kräder: Notebooks, S. 285 ff.

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gehandelt w ird . Während Marx fortgesetzt gegen Maines Ansichten übei ursprüngliche Gemeinwesen, die Entstehung des Staates und die Rolle des Eigentums dabei - vielfach unter Berufung auf Morgan - polemisier!, enthält er sich so gut wie jeden Kommentars gegenüber der Masse von Einzelheiten zum Feudalisierungsprozess in Irland, die er Maine enl nimmt.305 M an kann daraus nur zweierlei schließen: Er stimmte diesen Ausführungen und der dabei benutzten Terminologie zu, oder er war an deren Kritik im Moment nicht interessiert, weil anderes, nämlich Urgc meinschaft u n d Genesis des Staates, wichtiger waren.306 Was er dabei sachlich zur Kenntnis genommen hat, dürfte eine wesentliche Erweite rung seines bisherigen Wissens über die Komplexität des europäischen Feudalisierungsprozesses bedeutet haben.30730 9 8 Daraus, d ass in den Büchern von Morgan, Phear und Kovalevskij30“ nicht vom europäischen Mittelalter bzw. Feudalismus gehandelt wird, ergibt sich ein e differenziertere Haltung. Einerseits wiederholt Marx kommentarlos die »Feudal-Terminologie« des betreffenden Autors.30" Eine erste Distanzierung bedeutet es dann schon, wenn Marx heraus­ stellt, dass die Terminologie der von seinen Autoren benutzten Quellen vom europäischen Erfahrungshorizont geprägt ist. Im Morgan-Exzerpt heißt es einmal: »The Spaniards [writers] have left the land tenure of the Southern tribes in inextricable confusion. In unveräusserlichem com­ mon land belonging to a community of persons sahn sie feudal estate, im chief the feudal lord, im people his vassals.«310 Der Quellenkritik folgt die Kritik der Wissenschaft, die sich die Erkenntnis der Eigenart frem der Verhältnisse verstellt durch eine »phraseology borrowed from feudal Europe«.311 Von diesem Vorwurf sind besonders Phear und Kovalevskij betroffen: Phear, weil er die Ver­ fassung des indischen Dorfes »feudal« nennt,312 Kovalevskij, weil er die verschiedenen Formen der ikta pauschal, die zmala überhaupt »feudal tauft«.313 Damit wird schon klar, dass Marx sich in diesen Texten einer Übertragung des von europäischen Verhältnissen geprägten Feudalis­ mus-Begriffs au f Indien, Algerien und das vorkolumbische Amerika 305 Vgl. auch die Zusammenstellung der marxschen Kommentare bei Kräder: Notebooks, S. 53 ff. 306 Ich kann dies ohne Analyse von Maines Buch selbst nicht entscheiden. Da Kräder hierzu nichts beibringt, liegt die erste Vermutung näher. 307 Häufungen solcher Details: Kräder: Notebooks, S. 292 ff., 301f., 309 ff„ 327, 336. 308 Im Lubbock-Exzerpt fehlt jeder Hinweis, der hier von Interesse wäre. 309 Dies besonders im Kovalevskij-Exzerpt; vgl. Harstick: Formen, S. 27, 28, 65, 66 ff., 74, 75, 98 f.; aber auch im Phear-Exzerpt; vgl. Kräder: Notebooks, S. 277,264. 310 Kräder: Notebooks, S. 133; ähnlich auch S. 192 ff. 311 Ebd.,S.283. 312 Ebd., S. 256; indirekt (gegen die Identifizierung des indischen Steuereinnehmers (Zamindar) als »landlord«) S. 262. 313 Harstick: Formen, S. 65 f„ 98,307. Die genannten Termini bezeichnen moslemische bzw. türki­ sche Institutionen (hier Indien und Algerien betreffend), durch die Soldaten versorgt werden.

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widersetzte. Dies ist auch von den Herausgebern der Exzerpte gesehen worden.314 Besonderes Interesse verdient diese Kritk eurozentrischer Projekti­ onen aber dann, wenn der Abgrenzung auchdie Gegenbeschreibung des für den europäischen Feudalismus Spezifischen hinzugefügt wird. Auch dies hat Marx getan. In einer Glosse im Kovilevskij-Exzerpt stellt er klar, dass trotz ikta und wakuf, der dem europäischen Lehen vergleichbaren Formen der Versorgung von Kriegern und Geistlichen, trotz Ämterpacht, Benifizialwesen und Kommendation entscheidende Voraussetzungen für einen »Feudalismus im westeuropäischen Sinn« fehlen: die Leibei­ genschaft und die Patrimonialgerichtsbarkeit, dazu noch die Vogtei und die »Bodenpoesie«, also die »socialen und entsprechenden Rechtsquali­ täten« als Zubehör des Grundeigentums.315Die »sogenannte Feodalisation« - wie Marx distanzierend sagt316 - bezieht sich in Indien nur auf die Verteilungsstruktur des Mehrprodukts, ohne die Lage der unmittelbaren Produzenten zu »feudalisieren«: Dazu gehört eben die Leibeigenschaft,317 das heißt, die persönliche, nicht die kollektive Abhängigkeit der unmittel­ baren Produzenten von den Bodeneigentümern, sowie deren »logische« Ergänzung, die private Kontrolle als Patrimonialgerichtsbarkeit. Sicher ist mit diesen Ergebnissen das verfügbare Korpus der marxschen Exzerpte noch nicht erschöpfend interpretiert. Insbesondere zum Begriff der »Feudalisierung« wäre noch manches zur Präzisierung her­ auszufinden. Die Briefentw ürfe an Vera Zasulic Am 16. Februar 1881 erhielt M arx einen Brief der damaligen Sozialre­ volutionärin Vera Zasulic mit der Bitte, den russischen Gesinnungsge­ nossen seine »Ansichten über das mögliche Schicksal unserer Dorfge­ meinde [...] und über die Theorie der historischen Notwendigkeit, dass 3.4

314 Harstick: Formen, S. 9,13.149; Kräder: Ethnologie und Anthropologie, S. 50; ders.; Notebooks, S. 32 f.; vgl. auch Klaus Weissgerber; Bemerkungen zu den Kovalevskij-Exzerpten von Karl Marx, in; Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 21/1980, S. 214 ff.; Hans-Joachim Peuke: Einige Bemerkungen zum Phear-Konspekt von Karl Marx, in: Ethnographisch-Archäologische Zeit­ schrift 21/1980, S. 226 f. 315 Der Passus tautet (zit. n. Harstick: Formen, S. 76, 150): »Weil sich >BeneficialwesenWeggabe von Aemtern auf Pacht« ((dies doch durchaus nicht blos feudal, teste Rom)) u. Commendatio in Indien findet, findet K. hier Feudalismus im westeurop. Sinn. K. vergisst u. a. d. Leibeigenschaft, die nicht in Indien u. die ein wesentliches Moment. ((Was aber d. individuelle Rolle des Schutzes (cf. Palgrave), nicht nur über unfreie, sondern auch über freie Bauern betrifft - durch d. Feudal­ herrn (die als Vögte Rolle spielen), so spielt d. in Indien geringe Rolle mit Ausnahme der Wakuf)) ((von der d. rom. german. Feudalismus eignen Bodenpoesie (see Maurer) findet sich in Indien so wenig wie in Rom. Der Boden ist nirgendwo noble in Indien, so dass er etwa unveräusserlich an roturiers wäre!)) K. selbst findet aber einen Hauptunterschied selbst: keine Patrimonialge­ richtsbarkeit, namentlich bezüglich d. Civilrechts im Reich der Grossmoguls.« 316 Ebd., S. 77,99. 317 So auch in einer Randbemerkung a.a.O., S. 298. Am Schluss des Phear-Exzerpts heißt es (Kräder: Notebooks, S. 284): »In Europa, im Unterschied vom East, in place of the produce (type of) tri­ bute was substituted a dominion over the soil - the cultivators being turned out of their land u. reduced to the condition of serfs or labourers.«

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alle Länder der W elt alle Phasen der kapitalistischen Produktion durch laufen«, darzulegen.318 Diese Anfrage löste bei Marx den Versuch einet generellen O rientierung zum Verhältnis von Gemeineigentum und Privateigentum im universalhistorischen Zusammenhang aus. Seine in vier Briefentwürfen enthaltenen Darlegungen haben, seit sie bekannl sind, recht sperrig a u f alle gewirkt, die im »Vorwort« zu »Zur Kritik der politischen Ökonom ie« von 1859 die »gültige« Form universalhistori scher Periodisierung gesehen haben. Erst in jüngster Zeit, vermittelt über die »Grundrisse«, sind einleuchtende Vermittlungen möglich geworden, die M a rx ’ neue Orientierung auf die Entwicklungen in Russ­ land hin angem essen einbeziehen.319 Die allgemeinen formationsthe­ oretischen Problem e kann ich hier beiseitelassen. Wichtig ist jedoch, durch welche indirekten Bestimmungen Aussagen über Feudalismus und Mittelalter gem acht sind. Die erste Aussage ist in der Bestim­ mung enthalten, welche Form des Übergangs zum Kapitalismus für die westeuropäischen Länder charakteristisch ist: die »Expropriation der Ackerbauern« als »Verwandlung einer Form des Privateigenthums in eine andere Form des Privateigenthums«.32° Bäuerliches Privateigentum ist also das Charakteristikum für Westeuropa. Diese Bestimmung wird dif­ ferenziert dadurch, wie Marx die - auch für die russischen Verhältnisse kennzeichnende - Spätform der »Urgemeinschaft«, die »Ackerbauge­ meinde«, von ihrem Gegenstück, der »germanischen Gemeinde«, unter­ scheidet: Sind in der Ackerbaugemeinde lediglich Haus und Hof Privat-, der Acker dagegen Gemeineigentum,321 so gehört in der »neuen« ger­ manischen Gemeinde bereits das Hauptproduktionsmittel, »das Acker­ land, den Ackerbauern als Privateigentum [...], während Wälder, Weiden, Ödland etc. im m er noch Gemeineigentum bleiben«. Diese Gemeinde wurde »während des ganzen Mittelalters zum einzigen Hort der Volks­ freiheit und des Volkslebens«.322 Da Marx die »Ackerbaugemeinde« als »letzte Phase der primitiven Gesellschaftsformation« ansieht, also als letzte Form, in der das Hauptproduktionsmittel noch im Gemeineigen­ tum ist, gehört - so hat man zu folgern - die »germanische Form« zur »sekundärejn] Formation«, also zur »Reihe von Gesellschaften, die auf 318 MEW, Bd. 19, S. 572. Die späteren Exzerpte Marxens (1854 ff.) sind noch nicht alle in der MEGA2 erschienen. 319 Vgl. hierzu Fn. 285 sowie Woifgang Küttler: Inhaltsbestimmung und Periodisierung von Gesell­ schaftsformationen in Marx’ Briefentwürfen an Vera Zasulic, in: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte, Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, Bd. I, Berlin 1976; skeptischer ist Eifler: Vorkapitalistische Klassengesellschaft, S. 288 ff., bes. 292 f.; eine eigenständige Lösung bei Lawrence Kräder: Die Periodisierung der Weltgeschichte nach Karl Marx, in: Lambrecht: Gesell­ schaftsformationen, S. 89 ff. 320 Karl Marx an V. I. Sassulitsch, 8. März 1881, in: MEW, Bd. 19, S. 242 f.; sowie Karl Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch, in: MEW, Bd. 19, S. 397,401. 321 Marx: Entwürfe Sassulitsch, ebd., S. 387 f., 403. 322 Ebd., S. 402 f. Marx beruft sich hier auf Maurer als denjenigen, der diese Gemeinde erforscht hat.

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Sklaverei, Leibeigensthaft beruhen«.323 Also: Privateigentum am Boden und Leibeigenschaft und konstitutiv für den Begriff der Bauernschaft im europäischen Mittelalter und Feudalismus. Diese Charakterisie­ rung enthält - verglichen mit den »Grundrissen« und dem »Kapital« nichts entscheidencDJeues.324 Was die Beschäftigung mit den Schriften von Maurer, Kovalevskij, Morgan (Phear und Maine) für Marx erbracht hat, lässt sich also auch anhand dieser Briefeitwürfe ablesen: Marx verständigt sich allerdings indirekt näher über die Eigenart des europäischen Feudalismus.325 Außer­ dem aber denkt er nun den Begriff des vorkapitalistischen »unmittelba­ ren Produzenten« alsein komplexes Ganzes, bestehend aus Arbeitskraft, Arbeitsmitteln und irbeitsgegenstand. Hier hat auch die bäuerliche Familienwirtschaft im europäischen Feudalismus ihren Platz.326 Doch ist er beim Gesichtspunkt des Eigentums stehengeblieben, also auf der Ebene der sozialen Verteilung der Produktionsvoraussetzungen. Könnte er nicht an den Punkt gekommen sein, nun auch die produktive und reproduktive Funktion derselben zum Gegenstand der Analyse zu machen? Wenn man den Begriff der Produktionsweise - wie ich meine, im Sinne von Marx - als die Doppelung von Aneignung der Natur und Aneignung des (Mehr-)Produkts versteht, dann wäre Marx hier mit der Aufgabe konfrontiertgewesen, die Spezifik des feudalen Produktionspro­ zesses zu untersuchen und zu bestimmen.

Schlussbemerkungen Am Ende dieses langen und mühsamen Weges will ich keine handliche Zusammenfassung bieten, sondern Konsequenzen andeuten, die sich aus dieser Untersuchung ergeben. Sie beziehen sich auf zwei Bereiche der Forschung, die man auseinanderhalten sollte: die historische MarxForschung und die theoretische Marx-Rezeption. Mein Verfahren war eine beschreibende Bestandsaufnahme mit dem Ziel, den spezifischen Inhalt der marxschen Aussagen zu Mittelalter und Feudalismus durch die Beziehung auf den jeweiligen Kontext verständ­ 323 Ebd., S. 404. 324 Nur die Kategorie »Eigentum« wäre durch »Besitz« (wie im Grundrentenkapitel) zu ersetzen. Man muss sich fragen, ob die Benutzung der Eigentumskategorie lediglich der allgemeineren Perspektive der Gedankenfolge, d. h. dem Verhältnis von Gemein- zu Privateigentum, zuzu­ schreiben ist. Die Begriffswahl wäre dann bedingt durch die Frage nach der »horizontalen« Form der Eigentumsdifferenzierung, nicht nach der »vertikalen«. 325 Ob Marx Russland grundsätzlich ausschließt, ist ja bekanntlich heftig umstritten. Mir ist keine Passage aufgefallen, wo er das Attribut »feudal« russischen Verhältnissen zukommen lässt. Nimmt man aber die Bemerkungen über die russische Leibeigenschaft im zweiten Band des »Kapital« (s. o.) mit dem Gemeineigentum am Boden in den Briefentwürfen zusammen, dann ergibt dies wiederum eine »Mischung«, die weder »feudal« noch etwa »indisch/asiatisch« ist. Hatte Marx also eine Vorstellung von Russland, die nicht nur einen eigenen Namen, sondern auch einen eigenen Begriff erforderte? 326 Marx-, Entwürfe Sassulitsch, im MEW, Bd. 19, S. 387 f., 398 f., 402 ff. Nachzutragen sind noch Einsprengsel dieser Art ins Kovalevskij-Exzerpt: Harstick: Formen, S. 46, 52,104. 161

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licher zu m achen. Es sollte der spezielle Inhalt durch die allgemeinere Darstellungs- bzw. Forschungsperspektive so »gebunden« erscheinen, dass diejenige Deutung, die diesen Kontext durchbricht, zu mehr metho dischem Bew usstsein angehalten ist. Ob ich diesem Zweck ausreichend zugearbeitet habe, ist deshalb fraglich, weil ich meine historische For schung darauf beschränkt habe, die Entwicklung eines Epiphänomens im marxschen Denken auf dessen Gesamtentwicklung zu beziehen. Diese Situierung ist n u r ein Schritt. Dazu müssen weitere kommen: besonders die Beantwortung der Frage, wie M arx Informationen zum Mittelalter bzw. Feudalismus aufgenommen hat, wie er seine Quellen gelesen hat. Es muss also n äher nachgeforscht werden, wie die Entstehung seines Feu dalismus-Bildes in den frühen Jahren zu denken ist. Weiter sind Unter suchungen ü b er seine Rezeption von Begriffen wie »Leibeigenschaft«. »(Privat-)Eigentum« und »Besitz« nötig. Das erfordert eine breit ange­ legte Forschung, deren Standard besonders durch die Fferausgeber der späten Exzerpte erarbeitet worden ist. Wenn meine Untersuchung für eine solche Forschung den einen oder anderen Hinweis enthielte, hätte sie ihren Zweck erfüllt. Was aber könnte sie für die theoretische Marx-Rezeption erbringen? Ich stelle meine eigenen Resultate als Thesen zur Diskussion: 1 . Da M arx weder das Mittelalter noch den Feudalismus empirisch erforscht hat, kann empirische Forschung heute auch nicht an den sachlichen Mitteilungen zu diesen Themen im marxschen Werk ori­ entiert sein. Diese Aussagen haben historiografisches Interesse. 2 . Die Aussagen zu Mittelalter und Feudalismus, die Ausdruck der Kritik an realen gesellschaftlichen Verhältnissen oder deren Ideologie sind - ich meine hier die Arbeiten der Frühzeit -, müssen als Bestandteile dieser politischen und theoretischen Praxis interpretiert werden. 3 . Die theoretische Rezeption marxscher Wissenschaft hat das System dieser Wissenschaft zu respektieren. In diesem System, der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, kommt den Themata Mittelalter/Feudalismus keine autonome Bedeutung zu. Dennoch hat der Zugriff auf sie »System«: In der Form dezentralisierter Analyse werden Einzelelemente des Feudalismus bzw. der feudalen Produktionsweise dann behandelt, wenn die Analyse eines Einzelelementes der kapita­ listischen Produktionsweise dies erfordert, und zwar in der Funktion von Kontrast oder Genese. 4 . Aus dieser Bestimmung von Verteilung und Funktion der Aussagen zum Feudalismus im »Kapital« folgt zweierlei: Die förmliche Summe dieser Aussagen ist nicht identisch mit dem Inhalt des Begriffs der feudalen Produktionsweise. Man müsste dann zum Beispiel ohne eine Analyse des feudalen Produktionsprozesses auskommen. Ebenso wenig ist die Reihenfolge, in der die Rekurse auf Feudales im »Kapital«

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3 — Zur E n tw ic k lu n g d e s F e u d a lis m u s K o n ze p ts im W erk von Karl M arx

erscheinen, zur Grundlage der Darstellung des Begriffs der feudalen Produktionsweise zu machen. Könnte diese etwa mit der feudalen Warenzirkulation beginnen? Was heißt in dieser Situation »theoretishe Rezeption«? Auf jeden Fall führt der Pragmatismus definitorischen Verhaltens weg vom Niveau marxscher Wissenschaft und hin zur Zitateischlacht, deren versteckte Wertbeziehungen interessanter sind als deren sachlicher Sinn. Die Arbeit an einer Theorie der feudalen Produktionsweise, die am wissenschaftlichen Niveau des »Kapital« orientiert ist, hat Grundbegriffe marxscher Kapitalanalyse auf ihre Brauchbarkeit für die Konstruktion eines komplexen Begriffs, nicht für die Reilmng von »Merkmalen« zu prüfen. Weiter müssen die Ergebnisse der empirischen Mittelalter- und Feudalismus-Forschung in aller Breite verarbeitet werden. Man hat dann zu entscheiden, von welchen Prämissen ausdie Darstellung der Theorie erfolgen muss, also in welcher Reihenfolge die Elemente eines Begriffs der feudalen Produktionsweise darzustellen sind. Die Arbeit in diesen drei Bereichen ist, das hat gerade auch diese Tagung gezeigt, in vollem Gange.327 Wenn ein Kollege auf die Frage »Qu’est-ce que le féodalisme?« antwortete: »C’est à nous de le dire!«, dann ist das weniger als Abschied, sondern eher als Auftrag von dem Denker zuverstehen, dem diese Unter­ suchung gilt.

327 Meine Forderung nach einer angemessenen theoretischen Rezeption auf der begrifflichen Ebene der Produktionsweise schließt natürlich nicht aus, im Werk versprengte, oft aphoristisch zugespitzte Formulierungen Marxens zum Feudalismus und Mittelalter als Provokation und Anregung zu nutzen - nicht aber als Legitimation für ein System! Man vergleiche, was Guerreau: Féodalisme, S. 201 ff., aus Marxens Satz gemacht hat, dass im Mittelalter »der Katholizismus die Hauptrolle spielte« (Marx: Kapital, Bd. 1, in-. MEGA2, Bd. 11/8, S. 110 Fn. 33 [MEW, Bd. 23, S. 96 Fn. 33]).

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4 ---- M a r c Bloch und Karl Marx? A n n ä h e ru n g e n an eine fr a g lic h e B ezieh u n g

► Da ich durchgehend, seit Dissertationszeiten, fü r eine stärkere Beachtung M arc Blochs als großer Anregerfü r eine aufgeklärte und komparative Mediävistik geworben hatte, wurde ich im April 1997 von Peter Schöttler zu einer Tagung an der Humboldt-Universität zu Berlin über Bloch als Historiker und Widerstandskämpfer einge­ laden, um über dessen Beziehung zu Karl Marx zu sprechen. Was also wusste, was adaptierte Bloch direkt bzw. indirekt von Marxens Schriften und Ideengut? Mein Ergebnis war ernüchternd und vielsagend: nichts Explizites über Marx in Blochs mediävistischen Hauptwerken und quellenorientierten Abhandlungen! Ein Vorbehalt dazu: Was Bloch in seinen zahlreichen Fachrezensionen zum Thema hinterlassen haben könnte, harrt noch der Eiforschung. In den von m ir konsultierten Schriften enthält er sich strikt philoso­ phisch-theoretischer Bezüge, nicht nur bezogen auf Marx. Es fehlt auch jede gezielte Auseinandersetzung mit einer bestimmten Schrift von ihm. In seinen späten politischen Schriften erweist Bloch sich dagegen als anerkennender Kenner der marxschen BourgeoisieAnalysen; er verteidigte Marx gegen seine marxistischen Liebhaber bzw. Dogmatiker, schätzte ihn als Historiker, der seine genuin his­ torische Wissenschaft als empirisch beobachtende verstand, teilte mit ihm sowohl die kritische Skepsis gegenüber Schlüsselbegriffen (die er stets zu historisieren trachtete) sowie die Ablehnung jeder Fetischisierung geschichtlicher »Ursprünge«. Im Übrigen versetzt Bloch Marx gewissermaßen zurück in seine Zeit und stellt ihn neben ähnlich wichtige Zeitgenossen wie Charles Darwin. Bloch wirkt mit seinem ebenso historischen wie aktualisierenden Umgang mit (dem ihm ja nur bruchstückhaft bekannten) Marx wie ein ermutigender Mahner - mitten im deutschen Faschismus und Krieg und vordem Kalten Krieg. Beim Vortrag fa n d ich Zustimmung und Verständnis bei Etienne Bloch, dessen Sohn!

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t— M a r c B lo c h u n d Karl M a rx ?

Ei n f l ü s s e v o n , An l e i h e n b e i , Anspielungen auf, Optionen für und Einwände gegen Karl Marx bei aufmerksamer und reflektierten Zeit­ genossen der 1920er- und i93oer-Jahre umsichtig aufzusuchen und gründlich zu deuten, die wie Marc Bloch ihre intellektuelle Selbst­ ständigkeit gerade durch meist impliziten Umgang mit den damali­ gen erkenntnisleitenden Kulturideen bzw. Problemlagen und den sie artikulierenden Autoren bewahrten, erfordert zweierlei. Zum einen Vertrautheit mit den Facetten und Bewegungen des politischen Mei­ nungsstreits, des kulturellen Klimas, der Wissensstrukturen sowie der Fachwissenschaften (insbesondere der Historie) im Frankreich der Drit­ ten Republik, über die man nur nach jahrelanger Beschäftigung verfü­ gen kann. Mir fehlt sie. Dazu aber auch eine Interpretationsmethode, die das Intendierte und Beiläufige, das Offene und Verdeckte zur Sache plausibel kombiniert - was bedeutet, Blochs persönliche und berufs­ spezifische Mentalität, seine politische Wertewelt, seinen Denkstil und seine Ausdrucksweise1 einschließlich seines Lesefelds als komplexe Ein­ heit für das Thema zu nutzen. Hierzu wurde in den letzten Jahren bio­ grafisch, wissenschaftsgeschichtlich und geschichtstheoretisch bestens vorgearbeitet.2 Dabei ist jedoch Blochs Verhältnis zu Werk und Wirkung von Karl Marx kaum aufgegriffen und das heißt auch: nicht für wich­ tig befunden worden. Nur einige verstreute, durchaus uneinheitliche und sachlich blasse Andeutungen liegen von vor allem mediävistischer

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Peter Schöttler: Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der »dritten Ebene«, in: Alf Lüdtke (Hrsg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M./New York 1989; skizzenhaft auf die frühen Annales angewendet: ders.: Eine spezifische Neugierde. Die frühen Annales als interdiszipli­ näres Projekt, in: Comparativ 4/1992. Eine beeindruckende wissenschaftsgeschichtliche Studie über die Annales der Jahrzehnte nach 1945: Lutz Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945-1980, Stuttgart 1994; besonders nützlich ist die Einführung des Buches ( A n n a le s vor 1945). Carole Fink: Marc Bloch: A Life in History, Cambridge 1989; Ulrich Raulff: Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt a. M. 1995 (hierzu weiterführend: Otto Gerhard Oexle: Viel mehr als nur ein Klassiker: Marc Bloch, in: Rechtshistorisches Journal 15/1996); Hartmut Atsma/Andre Burguiere (Hrsg.): Marc Bloch aujourd’hui. Histoire comparee et Sciences sociales, Paris 1990; hervorzuheben ist darin der geschichtsmethodische Artikel von Otto Gerhard Oexle: »Marc Bloch et la critique de la raison historique«.

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Seite vor.3 In a llen diesen Andeutungen verschwimmen aber die Kon turen zwischen M arx als konkreter Bezugsgestalt und dem Marxismus als pauschalem Bezugsfeld. Zudem besteht die Schwierigkeit, Blochs Position im Verhältnis zu der seines Freundes und wissenschaftlichen Mitstreiters Lucien Febvre zu klären - enorm viel dachten, planten und gestalteten die beiden ja einigen Sinnes bzw. nach Übereinkunft; das bezeugt der konstante, detailpralle Briefwechsel. Typisch für diese Lage insgesamt ist Georges Duby 1980 im Gespräch mit Guy Lardreau: »Ein Gutteil dessen, was in der französischen historischen Schule lebendig war, ist meines Erachtens letztlich mehr oder minder Anre­ gungen zu verdanken, die vom Marxismus herkamen, ganz gleich, ob dies nun a contrario oder in Anlehnung an ihn geschah. Und da gab es auch die große Krise von 1929, die die Bedeutung der Ökonomie gezeigt hatte. Es hatte sich die Auffassung durchgesetzt, dass sich die Ökonomie auf alles auswirkt. Dennoch glaube ich, dass weder Marc Bloch noch Lucien Febvre ohne das Stimulans einer mehr oder weni­ ger deutlich wahrgenommenen Präsenz dieser Theorie das geschrie­ ben hätten, was sie geschrieben haben, und ich bin von einem direk­ ten oder indirekten, auf jeden Fall aber tiefgehenden Einfluss des Marxismus auf die bedeutenderen Leistungen der Historiker meiner Jugendzeit überzeugt. Für uns Historiker bestand der Beitrag des Marxismus vor allem darin, uns von einer Geistesgeschichte erlöst zu haben, die die Ideen einfach so, als etwas Desinkarniertes auffasste.«4 Diese Sätze Dubys stammen aus einer ausführlichen Antwort auf Lardreaus Frage nach dem »gegenwärtigen und einstigen Platz (des Marxismus) in der Geschichtsarbeit, der Arbeit des Historikers«. Im Wesentlichen von Erinnerungen ausgehend, bestimmt Duby hier den Zeitpunkt (Weltwirtschaftskrise), den geistigen Status (Theorie), den Hauptinhalt (Wirkungsweise der Ökonomie, Re-Inkarnierung des Geis­ tigen) und die Wirkung des Marxismus (Stimulans, direkter bzw. indi­ rekter, aber tiefgehender Einfluss) - bezogen auf die frühen Annalisten und ihre ersten Schüler. Solche Bestimmungen umreißen die Ausgangs3

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Z. B. Charles-Edmond Perrin: L'oeuvre historique de Marc Bloch, in: Revue historique 199/1948, S. 182 Anm. 4; Georges Duby: Preface zu Marc Bloch, Apologie pour Phistoire ou le metier d’historien, Paris 1974, S. 12 f.; Jean-Claude Schmitt: Bloch (Marc), in: Jacques Le Goff u. a. (Hrsg.): La Nouvelle Histoire, Paris 1978, S. 81; Daniel Chirot: The Social and Historical Landscape of Marc Bloch, in: Theda Skocpol (Hrsg.): Vision and Method in Historical Sociology, Cambridge 1984, S. 26; Borgolte: Feudalismus, S. 257. Auf frühere marxistische bzw. marxistisch-leninisti­ sche Einvernahmen und/oder Abgrenzungen gehe ich im Folgenden nicht ein, z. B. Michael A. Barg: Zum Feudalismusbegriff in der gegenwärtigen bürgerlichen Geschichtsschreibung [russ. 1965], in: Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, S. 206 ff.; Igor S. Kon: Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Kritischer Abriß, Bd. II, Berlin 1966, S. 193. Georges Duby/Guy Lardreau: Dialogues, Paris 1980. Ich benutze die Übersetzung von Wolfram Bayer: Dies.: Geschichte und Geschichtswissenschaft. Dialoge, Frankfurt a. M. 1982, S. 112.

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4- M a rc B lo c h u n d Karl M a rx ?

läge ganz gut für einen Versuch, nach Marc Blechs Verhältnis zu Karl Marx zu forschen. Ich möchte dies in drei Schritten tun. Zuerst wird vor allem von der politischen Argumentation die Rde sein; danach ist über wissenschaftspolitische Indizien zu handeln; sdiließen möchte ich mit geschichtstheoretischen Spekulationen.

Marx als Bezugspunkt für die »Gewissensprüfung eines Franzosen« Wer nach genaueren Belegen darüber sucht, wasSloch von Marx wusste, wie er über ihn dachte, urteilte und wozu er ihn hauchen konnte, wird in seinen fachwissenschaftlichen Hauptwerken vergebens danach suchen: Weder in den »Rois thaumaturges« (1924) noch in den »Caractères originaux de l’histoire rurale française« (1932) noch in der »Société féodale« (1939/40) findet man irgendeinen Hinweis. Besonders erstaunt, dass Marx selbst in Fragen des »Feudalismus« nicht zum Kreis der zitierfähigen Autoritäten gehört. Bloch genüge! da Gewährsleute wie Boulainvillers, Montesquieu, Voltaire oder ein locus classicus wie der Beschluss der Assemblée Nationale vom 11. August 1789 über die Abschaf­ fung des régime féodal völlig.5 Aber auch in seinen quellenorientierten Fachaufsätzen fehlt, soweit ich bis heute sehe, jeder Rekurs auf Marx.6 Bloch hat, das ist ein erstes Fazit, sich als Fachhistoriker, vor allem als einer des Mittelalters, jeder Bezugnahme auf Marx als einem fachexternen Gewährsmann egal welchen Belanges, strikt enthalten. Nach dem, was ich bislang von und über Bloch gelesen habe, vermute ich, dass diese Enthalt­ samkeit ein Stilprinzip des Gelehrten Bloch ist, das andere Ideengeber und Autoritäten im Positiven oder Negativen - man denke an Comte, Nietz­ sche, Durkheim, Weber und andere - gleichermaßen betrifft.7 Deutlich anders verhält sich Bloch in der »Seltsamen Niederlage« (»L’étrange défaite«), einer Schrift zur Selbstverständigung über die militärische Katastrophe Frankreichs im Frühsommer 1940.8 Deren Charakter und Bedeutung ist besonders von Ulrich Raulff gedanken­ reich herausgearbeitet worden.9 In ihrem dritten Teil, als »Gewissens5

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8

9

Marc Bloch: La société féodale, Paris 1968, S. 13 f., 603. Auch der jüngst veröffentlichte Briefwech­ sel Blochs zu diesem Projekt (Marc Bloch: Ecrire L a S o c ié té f é o d a le . Lettres à Henri Berr 19241943, hrsg. v. Jacqueline Pluet-Despatin, Paris 1992) enthält nichts zum Thema. Eine gedrängte Charakterisierung von Blochs »Feudalgesellschaft« habe ich versucht in: Volker Reinhardt (Hrsg.): Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997, S. 52 ff. Ausführlicher ist Robert Fossier in seinem Vorwort zur 14. Auflage der »Société féodale«, Paris 1989, S. I ff. Vgl. die von Charles Edmond Perrin besorgte Sammlung »Marc Bloch, Mélangés historiques«, 2 Bde, Paris 1963. Pierre Toubert lobt diese Enthaltsamkeit in seinem umsichtigen Vorwort zur Neuausgabe der »Les caractères originaux de l’histoire rurale française«, Paris 1988, S. 25, mit den Worten: »pas une ombre de conformisme ni de snobisme: ni Marx ni Freud«. Marc Bloch: L’Etrange Défaite: Témoignage écrit en 1940, Paris 1990. Ich zitiere aus der deut­ schen Übersetzung: ders.: Die seltsame Niederlage: Frankreich 1940. Der Historiker als Zeuge, Frankfurt a. M. 1992. Ebd., S. 9 ff.; Raulff: Historiker, Kap. 1.

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prüfung eines Franzosen« tituliert, sucht Bloch nach den sozialen und intellektuellen U rsachen der militärischen Niederlage (an der Front). Sein Ergebnis: die classes dirigeantes im Hinterland haben versagt, weil sie, abgelenkt d urch partikulare Interessen ganz verschiedener Art, die Stunde der Not nicht erkannten und folglich zur bedingungslosen Verteidigung nicht bereit waren. Bei der Durchführung dieses Beweis­ ganges kommt M arx gleich drei Mal ins Spiel; er ist hier - neben Hit­ ler - Blochs häufigste Bezugsfigur. Alle Erwähnungen beziehen sich auf Blochs Kritik bestim m ter Charakterzüge des aktuellen französischen Syndikalismus, M arxism us und internationalen Kommunismus: auf das materielle Eigeninteresse (1), den Pazifismus (2 ) und die Orthodo­ xie (3 ). (1) Zu den herrschenden Klassen gehören - so meint Bloch - auch die Führungsgruppen der Gewerkschaften. Seine Kritik der »unseligen Ver­ engung des Horizonts« des Syndikalismus auf »kleinliche Augenblicks­ interessen« konkretisiert Bloch wie folgt: »Bekanntlich stigmatisierte Marx soziale Bewegungen, denen es an Weite und Offenheit fehlte, gern mit dem Attribut kleinbürgerlich. Gibt es vielleicht etwas Kleinbürgerlicheres als die Haltung, die die meisten großen Gewerkschaften und namentlich ihre Funktionäre während der letzten Jahre und noch während des Krieges bewiesen? Ich habe bisweilen an den Versammlungen meines Berufsstands teil­ genommen. Diese Intellektuellen taten fast nie etwas anderes, als sich über kleinliche Geldangelegenheiten zu unterhalten. Weder die Rolle der Korporation innerhalb ihres Landes noch ihre materielle Zukunft schienen für sie zu existieren. Ihr Blick war einzig und allein auf die unmittelbar zu erzielenden Gewinne gerichtet.«10 Gleiches gilt für die Postangestellten und Eisenbahner. Er fährt wenig später fort: »Diese Scheuklappen, diese bürokratische Verknöcherung, diese Rivalitäten zwischen Personen, die Kraftlosigkeit schließlich - all das erklärt, warum die Gewerkschaften in ganz Europa und auch bei uns gleich bei den ersten Schlägen der diktatorischen Regimes in die Knie gegangen sind.«11 Warum M arx in diesem Zusammenhang? Marx hat zwar keine Klassenanalyse der Kleinbourgeoisie hinterlassen, das »Klein­ bürgerliche« aber als polemischen Begriff zur Diffamierung eigensüchti­ gen und zwielichtigen Taktierens im Kampf der entscheidenden sozialen Kräfte durchgängig benutzt.12 Diese Figur war in allen Auseinanderset10 Bloch: Défaite, S. 171 f.; ders.: Niederlage, S. 193 f. 11 Ebd. 12 Diese Argumentationsfigur zieht sich durch Schriften wie etwa Marx: Elend der Philosophie (MEGA2, Bd. 1/30; MEW, Bd. 4); ders.: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850 [1850], in:

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Zungen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung als Abgrenzungs­ und Abwertungsargument präsent. Hier genau setzt Bloch an. Marxens Kampfbegriff dient ihm als legitimes Mittel für eine gesellschaftspoliti­ sche Argumentation, mit der er denen entgegentritt, die sich stets als Gegenkraft zur Bourgeoisie verstanden. Indem Bloch sie der Kleinbür­ gerlichkeit bezichtigt, gibt er diesem Kampfbegriif seine alte - marxsche - Funktion zurück. Dabei unterschlägt er nicht,wie weit kleinbürgerli­ che Erwerbsinteressen auch in andere Einrichtungen der französischen Gesellschaft einschließlich der Zunft der Historiker hineinreichen. Marx kommt ihm als originaler Kritiker der (französischen) Bourgeoisie ein­ schließlich ihrer sozialistischen Fraktionen in dein Moment in den Sinn, als er sie vor den Richterstuhl der »Patrie« stellt. (2 ) Direkt anschließend an die Kritik der materiellen Interessen folgt die des Internationalismus und Pazifismus, deren Legierung ja auf die politische Maxime hinausläuft, dass Arbeiter nicht auf ihresgleichen schießen. Auch hier bedient sich Bloch der gleichen Methode, nur dass er eine positive Devise zur Kritik benutzt: »Ich bilde mir ein, ein guter Weltbürger und nicht im Mindesten chau­ vinistisch zu sein. Als Historiker weiß ich, wie viel Wahrheit in dem berühmten Aufruf von Karl Marx enthalten war: Proletarier aller Län­ der, vereinigt euch! Außerdem habe ich viel zu viel vom Krieg gesehen, um nicht zu wissen, dass er etwas Schreckliches und zugleich Dummes ist. Doch die Engherzigkeit, [...] bestand ja gerade darin, dass man sich weigerte, diese Empfindungen mit anderen, nicht minder respektablen Gefühlen in Einklang zu bringen. Ich habe nie die Auffassung vertreten, die Vaterlandsliebe könnte einen daran hindern, die eigenen Kinder zu lieben; und genauso wenig halte ich den Internationalismus der Gesin­ nung oder der Klasse für unvereinbar mit dem Dienst des Patrioten.«13 Marx wird mit seiner wirkmächtigen, von Bloch als Historiker zeitlich begrenzt anerkannten Devise aus dem »Kommunistischen Manifest« von 1848 in Erinnerung gebracht, um diejenigen zu kritisieren, die ihr in einem Moment huldigen, wo ihr erklärtes Ziel, die Befreiung der Arbei­ terklasse, unerreichbar und politisch zutiefst unklug ist. Der Pazifismus der Internationale droht vielmehr zum »Sieg der autoritären Regimes« zu führen, und das heißt, »zur fast völligen Versklavung unserer Arbei­ ter«. Was im ersteren Fall materiell bornierte Kurzsichtigkeit, ist nun die politische Verkennung des existenziell Naheliegenden. MEGA2, Bd. 1/10 (MEW, Bd. 7); ders.: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte [1852], in: MEGA2, Bd. 1/11 (MEW, Bd. 8); ders.: Kritik des Gothaer Programms [1875], in: MEGA2, Bd. 1/25 (MEW, Bd. 19). 13 Bloch: Défaite, S. 173; ders.: Niederlage, S. 195.

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(3 ) Die dritte Erwähnung von Marx bietet so etwas wie eine Bünde­ lung. Bloch, seine Kritik an der Bourgeoisie fortführend, »die ja trotz allem im m er noch das Hirn der Nation ist«,14 hat nach Ausführungen über m angelnde Modernität und Kohärenz des Denkens den Punkt erreicht, w o n un die Geistesfreiheit, Voraussetzung jeden verantwortli­ chen sozialen Denkens, in Rede steht: »>Es ist gut, dass es Ketzer gibt.« Die militärischen Kreise waren nicht die Einzigen, die diese Weisheit aus den Augen verloren hatten. Für die Vertreter einer traditionalistischen Gesinnung mochte das noch angehen. Schließlich lag es auf ihrer Linie. Doch die sogenannten fortschrittlichen Parteien? Ich persönlich hege für das Werk von Karl Marx lebhafteste Bewunderung. Ich fürchte, als Mensch war er uner­ träglich; als Philosoph sicherlich weniger originell, als ihn manche zeichnen wollten. Als Gesellschaftsanalytiker war er von unübertrof­ fenem Scharfsinn. Sollten die Historiker - im Geist einer erneuerten Wissenschaft - je beschließen, sich eine Ahnengalerie einzurichten, die bärtige Büste des alten rheinischen Propheten müsste in der Ruh­ meshalle der Zunft ganz vornan stehen.« Bloch fährt unmittelbar fort: »Ist das aber Grund genug dafür, dass seine Lehren auf immer und ewig als Muster jeglicher Doktrin dienen sollen? Es gibt hervorragende Gelehrte, die sich bei ihren Forschungen im Labor stets ans Experi­ ment gehalten hatten und anschließend Abhandlungen über Physio­ logie oder Texte über physikalische Probleme mach marxistischen Grundsätzem schrieben. Woher nahmen sie danach noch das Recht, sich über die deutsche Mathematik lustig zu machen? Parteien, die die Veränderbarkeit ökonomischer Formen lehrten, schlossen jene Unklugen aus ihren Reihen aus, die sich weigerten, auf das Wort des Meisters zu schwören. Als ob Theorien, die hervorgegangen waren aus der Beobachtung der europäischen Gesellschaften, so wie sie sich in den sechziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts darstellten, und die auf den soziologischen Kenntnissen eines Gelehrten der damaligen Zeit beruhten, 1940 immer noch maßgeblich sein könnten!«15 Die Passage hat es in sich. Ausgangspunkt ist die geistige Unfreiheit der sozialen Gruppen des Militärs, der Traditionalisten, der fortschrittlichen Par­ teien. Gegen die »zur Schau gestellte Orthodoxie« Letzterer - so wenig später -w ird nun Marx ins Spiel gebracht. Marx als ein »Meister«, dessen 80 Jahre 14 Ebd., S. 206. 15 Ebd., S. 207.

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alten »Worte«, »Theorien«, »Lehren«, von seinen Anhängern zum doktri­ nären Muster erhoben, in die wissenschaftliche Face (Physik »nach mar­ xistischen Grundsätzen«), in politisches Unrecht (Pirteiausschlüsse wegen Abweichlerei) und in Orthodoxie, falsche Selbstbindng, geistige Unfreiheit führen. Das Argument ist also: Es wird mehrfacheiMissbrauch getrieben, Missbrauch mit Karl Marx von Anhängern, die in seinem Namen handeln. Es ist nur konsequent, wenn Bloch an dieser Stelle sein Verhältnis zu Marx klarstellt. Diese Klarstellung ist aber deutlich auf die Begründung seiner Kritik an der Orthodoxie angelegt. Zuerst der Personenkult: »Ich fürchte, als Mensch war er unerträglich«. Blochspielt hier sicher auf Marxens cholerisches Temperament, seine rechthaberische Verhaltens­ art, seine häusliche Tyrannei an. Er wird Lebenslauf, Lebensumstände und Arbeitsstil des »rheinischen Propheten« mindestens im Überblick gekannt haben. Heroisierender Kult der Person kam für ihn nicht infrage, eher Bedauern über deren Schwächen. Zweitens die intellektuelle Zurechtrückung: »Als Philosoph [war Marx] sicher weniger originell, als manche ihn zeichnen wollten.« Um welche »Philosophie« von Marx geht es hier? Block spricht von Marxens Werk, nicht von einzelnen Schriften; er bezieht sich nicht auf Marxens Werkentwicklung als Etappen der Kritik der bürgerlichen Theorien, also auf den Weg von der frühen Religionskritik (Feuerbach) über die soziolo­ gische Kritik der Philosophie (Hegel) zur Kritik der politischen Ökonomie (Smith, Ricardo). Vieles davon konnte Bloch bis 1940 im Übrigen kaum im Wortlaut gelesen oder anderweitig zur Kenntnis genommen haben. Ich bezweifle, dass er Marxens »Kritik des Hegelschen Staatsrechts« von 1843 und die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« von 1844 in diesem Sinne kannte; sie waren erst 1932 veröffentlicht worden. Gleiches gilt für den Gesamttext der »Deutschen Ideologie« von 1846 sieht man von Bernsteins Teilveröffentlichung (1902) ab. Ganz sicher wird Bloch noch keinen Zugang gehabt haben zu der theoretisch grund­ legenden »Einleitung« von 1857/58, seit 1907 in die Neuauflagen »Zur Kritik der politischen Ökonomie« aufgenommen, und ebenso wenig zu den so wichtigen »Grundrissen der politischen Ökonomie«, erschienen 1939/41.16 Was bleibt also als Bestand im Sinne des Philosophen Marx? Worauf könnte Bloch hier konkret referieren oder pauschal anspielen? Wenn ich nicht irre, dann sind es folgende Schriften gewesen: die »Misere de la Philosophie« (1847), Marxens Polemik gegen Proudhons »Philosophie de la misere«, das »Kommunistische Manifest« (1848), die erste streng ökonomische Schrift, »Zur Kritik der politischen Ökonomie« 16 Vgl. Neubauer: Marx-Engels-Bibliographie. Weitere kritische Arbeiten von Marx mit philosophi­ schem Einschlag wurden erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg der Öffentlichkeit zugänglich, etwa die technologischen Exzerpthefte der 1840er-Jahre, die Entwürfe zur »Kritik der politi­ schen Ökonomie« vordem »Kapital« und die späten ethnologischen Exzerpthefte.

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einschließlich ihres berühmt-berüchtigten »Vorworts« (1859), der erste Band des »Kapital« (erschienen 1867, erste frz. Übersetzung 1872-75). Und welche »Philosophie« hat Bloch aus ihnen abgeleitet? Ich meine, dass es vorwiegend die Geschichtsphilosophie ist, so wie sie im »Manifest« zum Ausdruck kom m t: der Geschichtsverlauf als progressive Stufenlehre, die grobschlächtige Klassenkampfdevise, der heilsgeschichtliche Zuschnitt auf die weltgeschichtliche Mission des Proletariats, insgesamt auch der Tonfall des Manifests: Bloch spricht vom Propheten.17 Doch muss all dies Vermutung bleiben, wiewohl Lucien Febvre in diesem Punkt etwas deut licher wird, wie unten zu zeigen ist. Überschwängliches Lob drittens für den analyste social: »Als Gesell Schaftsanalytiker war er von unübertroffenem Scharfsinn.« Dies - so meine Verm utung - dürfte sich hauptsächlich auf Schriften wie die »Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850« (1850,1895), den »Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte« (1852, frz. 1884) und die Commune-Schrifl »Der Bürgerkrieg in Frankreich« (1871) beziehen. Schließlich der Abschluss, die Einreihung in die Ahnengalerie bzw. Ruhmeshalle einer erneuerten Historie »ganz vornan«. Ist hiermit eine Art Summe aus dem Vorigen gezogen? Oder meint Bloch mit seiner Cha­ rakterisierung Marxens als ruhmeswürdigen Ahnen der erneuerten His­ torie noch m ehr oder gar etwas ganz Anderes? Lassen wir dies zunächst dahingestellt. Aber gebündelt lässt sich doch wohl Folgendes sagen. Marx ist für Bloch ein zentraler Bezugspunkt für seine kollektive und persönliche Gewissensprüfung im Rückblick auf die so schmerzende und kränkende Niederlage Frankreichs: Er liefert ihm wichtige Stichworte für seine Abwägung des Internationalismus (»Manifest«), des Pazifismus und der orthodoxen Unduldsamkeit genauso wie für die Kritik der kleinbürgerli­ chen Unfähigkeit vieler Gruppen und politischer Kräfte der französischen Gesellschaft (nach dem Volksfront-Experiment) zur situationsadäqua­ ten Abwägung der human-patriotischen Werte in der Stunde radikaler Gefährdung. Der »Meister« Marx wird dabei grundsätzlich in seine Zeit zurückgestellt. Unselbstständige Nachahmer oder dogmatisierte Verfäl­ scher werden entsprechend lächerlich gemacht. Als Ahne hat er jedoch ein Erbe hinterlassen, das zwar verblasst, aber in puncto Gesellschafts­ analyse bewundernswerte Frische bewahrt hat und, wenn nur richtig ver­ standen, wirksam in Dienst genommen werden kann. 17 Eine wirtschafts- bzw. sozialphilosophische Diskussion großen Stils hatte Marxens »Kapital«, das ja als K r i t i k der politischen Ökonomie gelten wollte, seit seinem Erscheinen (1867) zur gro­ ßen Enttäuschung von Marx (und auch Engels, der neben der Herausgabe der beiden fehlenden Bände mehrere Versuche machte, auf die Bedeutung des »Kapitals« aufmerksam zu machen) gerade nicht ausgelöst. Wie sollte Bloch da, ohnehin eher zurückhaltend in der direkten Beschäf­ tigung mit philosophischen Texten, einem Druck zur Rezeption der »Kritik der politischen Öko­ nomie« als Philosophie nachgegeben haben?

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Bevor nun nach der Vorgeschichte dieser Präseaz Marxens in Blochs Gewissensprüfung von 1940 gefragt werden soll, ist noch eine weitere Fundstelle zu ergänzen. Auch in seiner gleich nact der »Seltsamen Nie­ derlage« begonnenen »Apologie pour l’histoire oumétier d’historien«18 flicht Bloch einmal Marx als Gewährsmann ein, und zwar an einer bezeichnenden Stelle. Wer Blochs Historik-Fragment kennt, weiß, welch hohen Stellenwert im vierten Kapitel über die a n d y se h is to riq u e neben den Operationen des Verstehens (c o m p ren d re) und der Suche nach der u n ité d e c o n s c ie n c e innerhalb der Vielfalt der menschlichen Erscheinun­ gen gerade der kritischen Betrachtung der nom enclature zukommt. Dieser Abschnitt19 bietet ein wenn auch verschlungenes, insgesamt aber unge­ mein reiches Räsonnement über die historische Semantik der Historie: Mit gut zwanzig Gewährsnamen von Machiavelli, Leibniz, Cellarius, Voltaire, Montesquieu und Rousseau bis zu lustel de Coulanges, Lamprecht, Sombart, Bergson und Keynes hat Bloch-getrennt von seiner Pariser Bibliothek - einen Gedankengang bestückt der von den instabi­ len Beziehungen zwischen Wörtern und Sachen über Probleme des Über­ setzens der Quellenwörter in die Darstellungssprache, über die kritische Durchdringung überlieferter Mehrsprachigkeit und persönlicher Aus­ drucksstile, über den Zeugnischarakter der überlieferten Begriffe, über die Gefahren von Anachronismen, das Verhältnis der Etymologie zum Gebrauchswandel von Wörtern, über die Brauchbarkeit von Neologismen und herkömmlichen Periodisierungsbegriffen schließlich zu einer Skizze des Gespanns zweier Termini führt, die für Bloch den Blick auf das jewei­ lige historische Ganze garantieren: g é n é r a tio n und civilisa tio n . Mitten in diesem großen Bogen taucht auch Marx auf. Bei der Abwä­ gung der Gefahren eines anachronistischen Gebrauchs des Vokabulars, das durch schrittweise Sinnerweiterungen epochenspezifische Allge­ meinheit angenommen hat, porträtiert Bloch Wörter wie fé o d a l( ité ) , ca p ita l(ism e) und ré vo lu tio n . Zur Sinnerweiterung des vierten Exempels führt Bloch dann aus: Das Wort » P ro lé ta ire kleidet sich auf antike Weise wie die Menschen von 1789, bei denen es aufkam; doch hat Marx, nach Babeuf, ihm für immer seinen Stempel aufgedrückt«.20 Alle Exempel münden in die methodisch zentrale Devise, dass nicht die Etymologie, sondern die Gebrauchsgeschichte der Begriffe die Lösung bietet. Marx gehört also für Bloch zu den Autoritäten, die Begriffsgeschichte großen Stils gemacht haben. Auch hier, wie in der »Etrange défaite«, spielt Marx 18

Zu benutzen ist die von Blochs ältestem Sohn Étienne Bloch annotierte Ausgabe: Marc Bloch: Apologie pour l’histoire ou M étier d’historien, préface de lacques Le Gofï, Paris 1993; ich zitiere aus der deutschen Übersetzung von Siegfried Furtenbach: Marc Bloch: Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, Stuttgart 1974; dort auch L u d e n Febvres Bemerkungen zur Datierung, zur handschriftlichen Überlieferung und angelagerten Plänen anlässlich der ersten Edition (S. 203 ff.).

19

Bloch: Apologie pour l’histoire, S. 135 ff.

20

Ebd., S. 143. Die deutsche Übersetzung (S. 177) fußt auf einer and eren Textvariante.

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für Bloch die Rolle eines wirkungsmächtigen Geschichtszeugen, ohne dass genauere Beweisführung nötig wäre. Er gehört wie selbstverständ­ lich zum geistigen Bestand, man könnte von einer vom Einzelwerk los­ gelösten W irkung sprechen.

Marx und der Marxismus als Bezugspunkte und Problembereiche der Annales-Arbeit Wie kam es zu dieser Rolle Marxens in Blochs politischer Kritik, Gesell­ schaftsanalyse und professioneller Reflexion als Historiker? Von Bemü­ hungen um ein genaueres Verständnis marxschen Denkens seit seinen Schul-, Studien- und Militärjahren bis zur frühen Straßburger Zeit weiß die Forschung bislang nichts. Für die folgenden späten 1920er- und die I930er-Jahre m uss ich mich mit der Wiederholung dessen begnügen, was die jüngsten Forschungen zur Geschichte der Annales von François Dosse,21 Jean Suratteau,22 Lutz Raphael23 sowie Bertrand Müller24 bieten, ergänzt durch zwei Lektürefunde. Vorweg aber der kurze Hinweis auf zwei weitere Leerstellen neben sei­ nen Fachbüchern, Artikeln und Aufsätzen: In seinem gigantischen Opus von Rezensionen (1931 bis 1943), das ergab eine bibliografische Durch­ sicht des Titelbestands,25 ist zwar die internationale mediävistische und dazu die wirtschaftsgeschichtliche Forschung in imponierender Breite präsent; Hinweise auf die Beschäftigung mit marxschen oder marxisti­ schen Arbeiten habe ich aber nicht gefunden.26 Gleiches gilt wohl auch für Blochs Vorlesungen, mindestens aber für jene über die Geschichte des Geldes (1940/42 in Clermont-Ferrand und Montpellier), die seit 1954 im Druck vorliegen.27 Nun zum ersten Fund. Es dürfte nicht von ungefähr kommen, dass Bloch gerade in seiner Straßburger Erinnerungsrede zum hundertsten 21

Francois Dosse: L’Histoire en miettes. Des »Annales« à la »nouvelle histoire«, Paris 1987, S. 58 ff.

22

Jean R. Suratteau: Les historiens, le marxism e et la naissance des Annales: l’historiographie marxiste vers 1929: un mythe? in: Charles-Olivier Carbonell/Georges Livet (Hrsg.): Au berceau des Annales. Le m ilieu strasbourgeois. L’histoire en France au début du X X ' siècle. Toulouse 1983, S. 231 ff.

23

Raphael: Die Erben, S. 273; vgl. auch seinen klaren Überblick zur Straßburger Zeit: Lutz Raphael: Une Espèce de petite révolution culturelle: Marc Bloch et les Annales d’histoire économique et sociale et l’actualité, in: Pierre Deyon u. a. (Hrsg.): Marc Bloch: L'historien de la cité, Straßburg 1997, S. 89 ff.

24

Bertrand Müller: Introduction, in: ders. (Hrsg.): Marc Bloch, Lucien Febvre et les Annales d’histoire économique et sociale, Correspondance, Bd. 1:1928-1933, Paris 1994.

25

Erstellt von Marie Claire Gasnault-Beis, in: Bloch: Mélangés, Bd. 2, S. 1031 ff.

26

Das schließt natürlich nicht aus, dass Bloch in den Rezensionen selber Deskription, Zustim ­ mung und Zurückweisung des Gebrauchs von materialistischen und marxistischen Ansichten ausgedrückt hat.

27

Marc Bloch: Esquisse d’une histoire monétaire de l’Europe, Paris 1954 (Cahiers des Annales 9). Meine Durchsicht ergab keine Hinweise. Zur geldhistorischen Forschung von Bloch (auch über die »Esquisse« hinaus) vgl. den schönen Beitrag von John Day: The History o f M oney in the Writings o f Marc Bloch, in-, M ario Gomes Marques/Miguel Crusafont 1Sabater (Hrsg.): Problems o f Médiéval Coinage in the Iberian Area. Bd. 2, Aviles 1986, S. 15 ff.

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Geburtstag von Fustel de Coulanges von 1930 amSchluss, als es um dieje­ nigen seiner Zeitgenossen geht, die Fustel geprägt haben könnten, fragt: »Kannte Fustel den Namen Karl Marx?«28Und erfährt fort: »Vielleicht, aber ich fürchte, nur als den eints gefährlichen Agitators oder eines trügerischen Utopisten. Dabei gthörte er ebenso wie der Vater des historischen Materialismus zu derdeneration, die sich - vor dem Schauspiel der großen ökonomischer Transformationen des 19. Jahrhunderts, das sie entweder klar wahmhmen oder dunkel spür­ ten - der Wichtigkeit der materiellen Faktoren bewusst wurde. Fustel, und nicht Marx, hat mit ein wenig Übertreibung, glaube ich, aber den­ noch mit einem weitaus richtigeren Gefühl für die historischen Not­ wendigkeiten, das man vor ihm nicht hatte, Folgendes geschrieben: Um zu erklären, wie die politischen Regime >entstanden< und >wie sie untergegangen sindmuss man betrachten, wie die Interessen sich geformt und gesetzt, sich verändert oder verschoben haben««29 Aber nicht nur Marx gegenüber scheint sich Fustel seine richtungweisende Selbstständigkeit bewahrt zu haben, auch, so vermutet Bloch, gegenüber der Romantik und dem Evolutionismus, sei es Lamarcks, Darwins oder Comtes. Wieder einmal sehen wir wie Bloch Marx seinen Zeitgenossen zur Seite stellt, mit denen er, ebenso wie mit Fustel, Grunderfahrungen teilt und deren richtunggebendes Denken und Wirken er herausstellt - im programmatischen Miteinander oder im kritischen Gegeneinander. Was sich für Bloch im Blick auf Marx während der fruchtbaren Jahre freundschaftlicher Zusammenarbeit mit Febvre ergeben hat, ist nur äußerst schemenhaft erkennbar, bleibt ganz im Rahmen der Formulie­ rung, die Bloch selbst im Falle Fustels gefunden hat: »Der Einfluss eines intellektuellen Milieus ist eine subtile Angelegenheit.«30Und in die Atmo­ sphäre dieses Milieus gehört an erster Stelle das Schlagwort Marxismus, erst danach die Instanz Marx, eine Instanz, auf deren Einzelleistungen (Marxens Schriften) zu beziehen nicht nottut. Aus dem jüngst edierten Briefwechsel der beiden Freunde in den ersten fünf Jahren (1928-1933) geht hervor, dass Bloch sich 1928 für den norwegischen Historiker Halvdan Koht einsetzt, wiewohl er weniger des­ sen »marxistische Überzeugungen« bevorzugt, »die hier und da bei der Darlegung der Tatsachen zu einer etwas künstlichen Rigidität führen«, sondern lieber dessen Studien zu Franz von Assisi oder zum Kampf der 28

Marc Bloch-, Fustel de Coulanges, historien des origines françaises [1930], in: ders.: Histoire et Historiens, Textes réunies par Etienne Bloch, Paris 1995, S. 217; der Artikel erschien ursprüng­ lich in: L’Alsace française XIX/1930. Zum Verhältnis Bloch-Fustel vgl. Raulff: Historiker, S. 125 ff.

29

Ebd.

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norwegischen Bauernschaft gegen die Modernisierung.31 Im Juni disku­ tiert Febvre m it Bloch die Frage, ob man den jungen Philosophen und Historiker G eorges Friedmann, der so begeistert und detailgenau über Marx spricht, nicht für die Mitarbeit in den A n n a le s gewinnen sollte - mit Erfolg!32 Ein halbes Jahr später geht es um eine Rezension des Buches von Joseph Diner-Denes »Karl Marx, L’homme et son génie«, die Georges Bourgin unter dem Titel »Marx et le marxisme« für die A n n a le s geschrie­ ben hatte.33 Schon für die Frühzeit der Annales ist damit erwiesen, dass die beiden Herausgeber, äußerst bemüht, sich einen vielfältigen Mitar­ beiterkreis heranzuziehen, für marxistische und marxisierende Rich­ tungen bzw. Personen offen waren. Dies bestätigten in Interviews mit Jean Suratteau auch spätere Annales-Koryphäen oder Alliierte wie Ernest Labrousse, Jean Bruhat, Georges Lefèbvre und Pierre Vilar, die damals als junge marxistisch orientierte Historiker, mit der kommunistischen Par­ tei sympathisierend bzw. in eigenen Zirkeln sich mit den »Klassikern« beschäftigend, den Kontakt zu den Annales suchten und fanden, auch wenn sie Febvre und Bloch weder für Kenner der marxschen Theorie noch für Anhänger des Marxismus hielten.34 Soweit man die vielfältigen Arbeiten für die Zeitschrift heute überbli­ cken kann, kam in Sachen Marx und Marxismus doch Lucien Febvre der aktivere Part zu.35 Er berief sich bereits in seinem programmatischen Arti­ kel »L’Histoire dans le monde en ruines« von 1920 auf das »Manifest«.36 Er besprach nicht nur die französische Übersetzung von Friedrich Engels’ »Bauernkrieg« (1930) - übrigens in der Sache vernichtend37 -, sondern ließ sich wiederholt auf Kommentare zu Marx ein: zur Bedeutung des »Kapitals« (1933),38 zu Marxens Entdeckung des Zusammenhangs zwi31

Müller: Bloch/Febvre Correspondance, S. 32.

32

Ebd., S. 391. Febvre berichtet Bloch zwar ironisch, wie berührt Friedmann von der »sowjetischen Gnade« und dem »marxistischen Evangelium« sei und wie sattelfest er aus dem »Kapital« zu zitieren wisse, lobt aber seine Arbeiten ohne Abstriche. An diesem Detail lässt sich das Niveau der Beschäftigung m it marxschen Schriften an der vielgliedrigen linken Peripherie der AnnalesMitarbeiter ablesen. Zum Stand der Marxismus-Kenntnisse der französischen Intellektuellen in den späten 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre vgl. die ausgesprochen negative Bilanz bei Suratteau: Les historiens, S. 237 ff.

33

Ebd., S. 415 f. Die Rezension erschien in Heft 6/1934.

34

Suratteau: Les historiens, S. 240 ff.

35

Das Folgende nach Dosse: L’Histoire en miettes, S. 58 ff., und Suratteau: Les historiens.

36

Lucien Febvre: L'Histoire dans le monde en ruines, in: Revue de Synthèse historique 30/1920, S. 12 f. Der Rekurs aufs »Manifest« dient hier der Abwägung der ökonomischen und bewusst­ seinsmäßigen Bedingungen und Formen der Klassenbildung.

37

Lucien Febvre: Le guerre des paysans allemands [1930], in: ders.: Pour une Histoire â part entière, Paris 1962.

38

Lucien Febvre: L'individualité en histoire, le personnage historique, in: Troisième Semaine Inter­ nationale de Synthese. L’individualité, Paris 1933, S. 127. Febvre spricht h iervon jenen Einfluss­ größen des 19. Jahrhunderts auf die Historie, die k e i n e Historiker waren: »ce Karl Marx â qui nos histoires de l’histoire sont loin d’accorder la place - de premier plan - qui lu i revient légitim e­ ment, en raison, non tant de sa conception générale de l'Histoire que, peut-etre, des puissants ensembles historiques constructifs que renferme le C a p i t a l : une des synthèses historiques les plus puissantes et les plus neuves que le XIXe siècle romantique ait vues éclore.«

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sehen Kapitalismus und Reformation (1934).39 Scfießlich rezensierte er auch die ersten Tagungsbände des »Cercle de la Rissie Neuve«, die 1935 und 1937 unter dem Obertitel »A la lumière du ma:xisme« erschienen. In seiner Besprechung des ersten der beiden Bände nimmt Febvre die pauschale Art, wie der Herausgeber Henri Wallon sich bei einer kritischen Feststellung zur wissenschaftlichen Spezialisierung auf M arx beruft (selon Marx) zum Anlass, das Verhältnis von Historikern wie Bloch und ihm selbst, die sich in so vielem mit den Autoren des besprochenen Ban­ des eins wissen, zu Marx zu bestimmen.40 Warum, fragt Febvre, berufen sie sich nicht auf Marx? Motive wie Unwissenheit, Feigheit oder Interesse scheiden für ihn aus. In Wahrheit: Die Historiker krauchen diese Evoka­ tion von Marx gar nicht. Und zwar deshalb nicht,weil das marxistische Denken längst seinen Platz in ihren Köpfen habe.Jeder halbwegs gebil­ dete Historiker, so Febvre, sei längst von marxistischen Weisen des Den­ kens und der Wahrnehmung von Fakten und Beispielen durchdrungen, auch wenn er keine Zeile von Marx gelesen habe oder sich außerhalb der Wissenschaft für einen wilden Antimarxisten halte. Und das bedeute: Viele der Ideen, die Marx mit unleugbarer Meisterschaft zum Ausdruck brachte, seien seit Langem in den Gemeinbestand (fonds commun) über­ gegangen, der den intellektuellen Schatz einer Generation darstellt. Mit ihm arbeiteten die Historiker. Nach diesem grundlegenden Bekenntnis lässt Febvre eine wichtige Devise folgen für diejenigen »Puristen«, die zurück zum authentischen Marx wollten und dies, Marxens schwieriges Denken in Rechnung gestellt, auch könnten: Sie sollten aus Marx, Lenin und allen, die an Marxens Ideen weitergearbeitet haben, ihren Honig saugen, der natürlich auch der für die Menge der Historiker sei, die für diese Aufgabe nicht gemacht sind. Was sie an besseren Methoden kenn­ ten, sollten sie ohne philosophische Formeln, ohne endlose Bezüge auf Hegel, Marx, Engels usw. klar und einfach, übersetzt in gute Sprache wei­ tergeben. Schließlich steigert sich Febvre zu dem ihm eigenen Pathos: »Sprecht konkret zu Arbeitern des Konkreten! Marx? Möge er doch das Schicksal aller teilen. Mögen seine Ideen doch Schritt für Schritt in einer Namenlosigkeit aufgehen, die für uns nichts Empörendes hat.«41 39

Luden Febvre: Capitalisme et reforme [1934], in: ders.: Pour une Histoire. Dort spricht Febvre Marx ohne Wenn und Aber die Leistung zu, als Erster nach dem Zusammenhang zwischen der p o liti­ schen, der intellektuellen, der religiösen und der ökonomischen Revolution des 16. Jahrhunderts gefragt zu haben, eine Frage, die seitdem Gelehrte wie Weber, Troeltsch oder Pirenne nicht losge­ lassen hat. In diesem Zusammenhang charakterisiert er Marx ganz ähnlich wie Bloch in seiner »Défaite« (wenn auch mit anderer inhaltlicher Akzentsetzung): »Karl Marx. Un propagandiste Sans doute, préoccupé d’asseoir sur des bases nouvelles une société neuve; un historien aussi, un philosophe de l’histoire si on préféré, et dont les vues hardies sont à l’origine, au point de départ de beaucoup de nos spéculations d’historiens les plus >neuvesii Am besten ist wohl Morl: Geschichte und Dialekt ik, S. 3(> II. 211

B — T h e o rie a rb e it: K o n s tru k te u n d E n tw ü rfe

Sie ermöglichen es, nicht nur den unmittelbaren Produktionsprozess, also die Art und Weise, wie die für ihn konstitutiven Elemente (Arbeits­ kraft, -mittel und -gegenständ) verbunden erscheinen, und dessen Pro­ duktivität zu bestimmen, sondern ebenso die soziale Verteilung der Ele­ mente und der Resultate des Produktionsprozesses. Von hier aus müsste die Klärung des Verhältnisses zwischen der Produktions-, Distributions-, Zirkulations-(Austausch-) und Konsumtionsstruktur innerhalb der feu­ dalen Produktionsweise möglich sein. Folgende Bestimmung von höchstmöglicher Abstraktheit ist unser Ausgangspunkt: Auch, nicht: nur, die feudale Produktionsweise in Europa ist deter­ miniert durch die auf die Herstellung von Gebrauchswerten ausgerich­ tete Agrikultur, deren allgemeine Produktivität es gestattet, über die unmittelbaren bäuerlichen Produzenten hinaus auch andere Personen zu ernähren: Das von jenen erwirtschaftete Mehrprodukt (Surplus) wird einerseits direkt durch Dritte, andererseits indirekt durch Austauschakte mit Produzenten nicht-agrikoler Güter (d. h. hier ganz allgemein: nicht unmittelbarer Lebensmittel) angeeignet. Nach dieser Bestimmung, die in etwa dem allgemeinen Begriff der neuerlich diskutierten peasant economy entspricht,14 hat sich u. E. der Gang der Darstellung zu richten. Am Anfang muss also die Analyse des unmittelbaren Produktions­ prozesses innerhalb der Agrikultur sowie der mit ihr verbundenen »gewerblichen« Rohproduktion (samt der ihr angeschlossenen Weiter­ verarbeitungsprozesse) stehen. Der nächste Schritt hat die Untersuchung der Appropriation der bäuerlichen Mehrarbeit zum Gegenstand. Sind deren spezifische For­ men erkannt, dann lässt sich zur Struktur ihrer Verwendung über­ gehen: Als Revenue der Grundherren wird sie entweder direkt kon­ sumiert (bzw. redistribuiert) oder gegen Arbeit oder Produkte/Geld ausgetauscht, um dann in der Sekundärgestalt dieses Austauschergeb­ nisses konsumiert zu werden. Die logische »Wurzel« der handwerkli­ chen Produktion sowie des Handels ist in diesen Austauschprozessen grundherrlicher Revenue zusammen mit dem direkt ausgetauschten bäuerlichen Surplus zu suchen: Von hier aus kann also die definitiv von der bäuerlichen abgeschichtete gewerbliche Produktionssphäre und deren Verbindung mit der Zirkulationssphäre entwickelt werden: die feudale Form der Stadt in Europa, die zugleich Subjekt und Objekt von Appropriation ist; sie »lebt« vom (ungleichen) Austausch mit dem Land, d. h. Bauern und Herren, und ist die Quelle sekundärer Approp­ riation für Letztere. 14 Vgl. den Aufriss von Teodor Shanin: The Nature and Logic of the Peasant Economy, in: The Journal of Peasanl Studios 1/1973-74, S. 63 if, 186 ff. 212

6 — Zur S tru k tu r u nd D ynam ik d e r fe u d a le n P ro d u k tio n sw e is e

Im vierten Schritt versuchen wir, das dieser ökonomischen Struktur entsprechende soziale Gefüge zu erläutern. Man kannsich fragen, ob hiermit die Abstraktionsebene des Begriffs der feudalen Produktions­ weise nicht bereits verlassen ist.15 Wir haben aber festteilen müssen, dass entscheidende Aspekte der inneren Dynamik der feudalen Produk­ tionsweise nicht angemessen begriffen werden können wenn man die Verteilung der politischen und ökonomischen Funktioren auf ihre sozi­ ale Träger nicht genauer bestimmt hat; schließlich sindes die vergesell­ schafteten Menschen selbst, die diese Struktur »vollziehen« und im Voll­ zugsprozess ad hoc und ä la longue modifizieren. Mag also der Aufriss der sozialen Struktur, die sich als Bündelung ungemein komplexer Kegel von Ständen darstellt, auf den ersten Blick als einfache Doppelung der ersten drei Abschnitte erscheinen, erst durch ihn kommen Physiognomie und Konfliktstruktur der feudalen Produktionsweise vollständig in den Blick. Erst nach diesem Schritt kann u. E. die spezifische Dynamik der feu­ dalen Produktionsweise aufgezeigt werden. Ausgangspunkt ist hier das Wachsen und Schrumpfen der agrikolen Erträge, der (zyklische und azy­ klische) Charakter landwirtschaftlicher Konjunkturen und Krisen, deren Ursachen und Folgen in allen Bereichen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, wobei die Ausführungen zur Struktur als Bezugsbasis dienen. Das Hauptproblem dieses Abschnittes besteht in der Abgrenzung der inne­ ren Logik der Dynamik von ihren historischen Ausformungen,16 Hier dürften die dicksten Fragezeichen angebracht sein. Uns scheint, dass die Autoren, die an der theoretischen Diskussion beteiligt sind, sich vielfach bereits in konkrete Verlaufsprobleme verstricken, bevor die logischen Zusammenhänge der inneren Dynamik genügend durchdacht sind.17 Dies hat berechtigte Gründe: Als Historikern geht es ihnen gerade um die Erklärung von konkreten Ereigniszusammenhängen; weiterhin ist der Abschnitt der europäischen Geschichte, um den es hier geht (ca. 500 bis ca. 1800), von so tiefgreifenden Entwicklungen und Umwandlungen geprägt, die in ihrer spezifischen Kausalität zu erfassen die Entfaltung allein eines Begriffs, der feudalen Produktionsweise, nicht auszureichen scheint. Dies ist richtig! Für die Lösung dieser Probleme bietet sich u. E. die Ergänzung durch den Begriff der (ökonomischen) Gesellschaftsforma­ tion an, der als Schlüsselkategorie und zugleich zentraler Gegenstand für die Analyse der historischen Prozesse dienen könnte.18 15 Zu diesem Problem Nicos Poulantzas: Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, Frankfurt a. M. 1974, bes. S. 70 ff. 16 Althusser/Balibar: Kapital lesen, S. 382 ff., S. 393. 17 Z. B. die Texte von Charles Parain, Brigitte Berthold, Eva Maria Engel, Adolf Laube, Guy Dhocquois, Rodney H. Hilton in Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, ähnlich auch Anderson: Passages, S. 182 ff. (hier die Gleichsetzung von d y n a m i c and p r o g r e s s ) . 18 Nützliche Informationen zu diesem Problem: Emilio Seroni: De Marx é Lénine: La catégorie de »Formation économique el sociale«, in: La Pensee 159/1971, S. Hff.

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Dem Leser wird auffallen, dass der Großteil der folgenden Ausführun­ gen keinen problematisierenden, sondern setzenden, ja behauptendem Charakter hat.19 Diese Darstellungsform verbirgt jedoch Probleme, die wir zunächst unterdrückt oder zurückgestellt haben, um sie besonders im dritten Teil zur Sprache zu bringen, und zwar in der Form von Fragen, die wir an den Text richten, ihn also methodisch und sachlich wieder »öffnen«. Dieses Verfahren mag ungewöhnlich sein, soll aber einerseits zeigen, als wie unabgeschlossen wir den Stand unserer eigenen theore­ tischen Arbeit ansehen, andererseits dem Leser Ansatzpunkte der Kritik liefern: »Die Forschung geht sozusagen in einer Echternacher Springpro­ zession vorwärts. Der Kategoriker springt zwei Schritte vorwärts und der Kritiker zieht ihn sanft einen Schritt wieder rückwärts.« (Friedrich Mei­ necke)

I Struktur 1

Ländliche Produktionsstruktur

1.1 Die Elemente der bäuerlichen Hauswirtschaft und deren Verbindung im Produktionsprozess 1 .1 .1 Elemente Gegenüber klimatisch-tellurischen Rahmenbedingungen, die als (ad hoc) weitgehend unbeeinflussbare Voraussetzungen hingenommen werden müssen (im Durchschnitt gemäßigte, aber jahreszeitlich wechselnde Temperaturen und Regenfälle, Mischwald-eremus, Bodenqualitäten, Grundwasserspiegel u. a. m.), stellt der Grund und Boden ein vielgliedriges System von Arbeitsmitteln dar, dessen wichtigste Elemente - dies ist von zentraler Bedeutung - lokal vereinigt sind. Zugleich erfüllen einige dieser Elemente mehrere ökonomische Funktionen, und zwar entwe­ der gleichzeitig oder in jahres- bzw. nutzungszyklischer Folge. Folgende Elemente lassen sich unterscheiden (Auflistung der rohstoffitragenden/ liefernden Bodenteile): 1 . Ackerland zur Getreideproduktion, aufteilbar in und wechselnd als Winter-, Sommer- und Brachfeld; dazu Anbau weiterer Nutzpflanzen; 2 . Wiesenland zur Viehversorgung im Winter (Heu); 3 . Weideland zur Selbstversorgung des Viehs im Jahresumlauf oder wäh­ rend bestimmter Jahreszeiten (z. B. Stoppelweidefunktion abgeernte­ ter Äcker); 4 . Gartenland zum Anbau von Gemüse, Obst, Hülsen-, Ölfrüchten, Textilpflanzen; 5 . Waldland: wie immer systematische und arbeitsintensive Extraktion 19 Um die Lektüre des Textes nicht zu stören, haben wir die Literatur, der wir über die abgedruck­ ten Beiträge hinaus wesentliche Anregungen und den »Stoff« verdanken, zusammengefasst am Abschnittsende nachgewiesen.

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6 — Zur S tru k tu r und D ynam ik d e r fe u d a le n Jro d u k tio n s w e is e

von Brenn-, Bau- und Beleuchtungsmaterial (Holz), feeren (Pilzen), Laub, Bienenhonig und -wachs; 6. Landanteile für spezielle Kulturen (lokale/regionale Schwerpunkte): Weinbau, Ölbäume, gewerbliche Nutzpflanzen; 7 . das fließende bzw. stehende Wasser für Fischfang, zur Nutzung von Bewegungsenergie, Trinkwasserversorgung für Mensth und Vieh; 8. mineralische Ressourcen des Bodens mit lokalem Zuschnitt wie Bau­ material, Kreide (zum Mergeln), (Rasen-)Erze, (Töpfer-)frde, Glassande und andere Das Ensemble der vom Boden abgelösten (toten und lebendigen) Arbeits­ mittel weist eine ähnliche Vielgestalt auf und ist teilweise ebenso mehr­ dimensional wirtschaftlich verwendbar. Die toten Werkzenge, im Wesent­ lichen aus Holz gefertigt, sind aber durch eingearbeitete Eisenteile aus­ gezeichnet: der Pflug (eiserne Schar und Sech, wendendes Streichbrett, Rad), die Karre (Wagen), dazu eiserne Sichel und Sense, Axt usw., dazu der Dreschflegel. Das Saatgut besteht in einer Mehrzahl von Sorten, die sich in Wachs­ tumsperiode und -dauer, Bodenerschöpfung, Konsumtionszweck und -wert unterscheiden: Wintersaat (Weizen, Spelz und Roggen als vorwie­ gendes Brotgetreide; Gerste für Brei und Bierherstellung), Sommersaat (Hafer [und Gerste] für Brei und als Viehfutter). Als entscheidende lebendige bewegliche Arbeitswerkzeuge haben Ochse und Pferd zu gelten, deren unterschiedliche Zugkraft und Schnel­ ligkeit durch Anspannungsvorrichtungen für Pflug und Karren genutzt werden können (Ochse: Joch, Pferd: Kummet, Hufeisen). Das weitere domestizierte Vieh dient der Produktion von Rohstoffen und/oder Kon­ sumtionsmitteln: Das Schaf ist primär Rohstofflieferant (Wolle); die (Milch-)Kuh, das besonders fortpflanzungsintensive Schwein sowie das Geflügel (Huhn, Gans, Ente, Taube) sind primär Konsumtionsmittel, daneben Rohstoffquelle (Leder, Knochen, Horn, Federn u. a.). Wichtig ist weiter der Dung allen Viehs, der die (begrenzte) Melioration des Bodens (neben Mergelung, Plaggen, Abbrennen) ermöglicht. Die Versorgungs­ quellen für diesen komplexen Viehbestand sind auf verschiedene Ele­ mente des Bodens verteilt. Die Mitglieder der bäuerlichen Hauswirtschaft bilden ein Ensemble von unmittelbaren Produzenten und familienzyklisch dem Umfang nach wechselnden arbeitsunfähigen Konsumenten (Alte, Kinder), das in bestimmten Grenzen variiert: Den Kern bildet die vom verheirateten Bauern »regierte« Gatten- bzw. Kernfamilie (durch besonders grundherrliche Rechte abgeschwächtes Patriarchat, Patri- und Matrilokalität: d. h. doppelte Rekrutierungsmög­ lichkeit von Gatten). Dieser Kern kann sich erstens (patri-)linear zur Drei­ generationenfamilie erweitern, wobei die Autoritätsposition (Hausherr)

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in der Regel dem Mann der zweiten Generation zukommt; zweitens kann er lateral zur Koresidenz von (auch verheirateten) Seitenverwandten (Brüdern/Schwestern) expandieren; drittens erzwingen vorwiegend saisonale Arbeitserfordernisse, familienzyklische Engpässe (Herausheiraten von arbeitstüchtigen Seitenverwandten bei anwachsender Zahl von arbeits­ untüchtigen Kindern) oder biologische Zufälle (Krankheit, Tod, Unfrucht­ barkeit der Frau u. a.) die befristete oder dauerhafte Eingliederung nicht verwandter Personen: Gesinde, adoptierter Nachwuchs, zweite Gatten (Wiederverheiratungszwang). Die Mitgliedsstruktur der Hausgemeinschaft ist also einerseits grund­ legend vom Familienzyklus bestimmt (d. h. dem biologischen Reproduk­ tionsprozess der Familie), übergreift aber zugleich die Verwandtschafts­ beziehungen. Ihr jeweiliger Umfang variiert zudem mit der aktuellen Ertragslage (Ernte), der Landmenge, dem Vieh- und Gerätebestand, den außerhäuslichen Arbeitschancen (deren Bedingungen den Verbleib im Haus ermöglichen), Vererbungsgewohnheiten und Herrschaftsrechten (insbesondere Abstiftung, Heiratskonsens). Diese zyklisch und zufällig »pulsierende« Gemeinschaft stellt einen Verbund von Funktionen dar: Sie ist auf die Subsistenz aller aktuellen Mitglieder ausgerichtete Arbeits-, Wohn-, Versorgungs- und Haushalts­ gemeinschaft (im letzten Falle: soweit z. B. die Alten nicht im Ausgedinge leben). Der Arbeitsprozess ist einerseits durch geschlechts- und altersspe­ zifische Arbeitsteilung bestimmt, über seine Organisation in den Einzel­ heiten befindet der die Autoritätsposition innehabende Mann (»Haus­ vater«), Die Arbeitsleistungen bzw. -erträge der einzelnen Personen gel­ ten nicht als individuelles Eigentum, sondern als organischer Bestandteil der hauswirtschaftlichen Gesamtarbeit bzw. des Gesamtertrags. 1 . 1 . 2 Produktionsprozess Jede Bauernwirtschaft produziert im Prinzip selbstständig. Der Zwang zur Anpassung an die Wachstumsrhythmen von Flora und Fauna bedingt den diskontinuierlichen und verschieden intensiven Arbeitsprozess im Jahresumlauf: Auf (besonders agrikole) Saisonzeiten (Pflug-, Saat-, Ernte­ termine) folgen Perioden relativer Ruhe (im unmittelbaren Umgang mit der Natur), die besonders zur Weiterverarbeitung von Rohstoffen genutzt werden (z. B. die Textil- und anderen hausgewerblichen Arbeiten wäh­ rend der Winterruhe): Jede Arbeit hat »ihre« Zeit. Die bestimmende Tätig­ keit ist der extensive (im Gegensatz zur intensiven Setzlingswirtschaft), pflugbetriebene Anbau von verschiedenen Getreide arten (Winter-/Sommerfrucht), der mit der Viehwirtschaft in wechselseitiger, unauflösbarer Verbindung steht: — ohne den Viehdung und die Zugkraft des Großviehs ungenügende Bearbeitung und Regeneration des Ackerbodens (die Folge: Rückgang

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6 — Zur S tru k tu r u nd D ynam ild er fe u d a le n P ro d u k tio n s w e is e

der Fertilität u n d Schrumpfung der FlächeZwang zum Hackbau), und umgekehrt; — ohne Weide- und Wiesenflächen sowie eiten Teil des Sommergetrei­ des (Hafer) m angelnde Futterversorgungdes Großviehs mit dessen Schrumpfung als Folge. Diese prekäre Integration von Ackerbau und (Groß-)Viehzucht stellt eine, wenn n icht die entscheidende Verbindung innerhalb der bäuer­ lichen Einzelwirtschaft dar, ein Zirkel, aus dem es kein Entrinnen gibt, solange der Boden nicht durch systematische Zusetzung mineralischer Substanzen in einem Maße melioriert werdet kann, das unabhängig von organischen Düngem itteln macht, und solange die Zugkraft des Viehs nicht durch den Motor ersetzt werden kann. In dieser Verbindung grün­ det in hohem M aße sowohl das Wachstumspotenzial der agrikolen Pro­ duktivität im vorindustriellen Europa (und damit des agrikolen Surplus mit allen seinen Konsequenzen), als auch die spezifische Krisenanfällig­ keit und prinzipielle Produktivitätsgrenze der Landwirtschaft (vgl. dazu Teil II). Daneben oder dieser Verbindung angeschlossen existieren wich­ tige ergänzende Produktionszweige: der intensive, auf die Einzelpflanze bezogene Gartenbau (Obst, Gemüse) und die Kleinviehzucht, die beide wichtige Versorgungslücken (besonders in der Zeit kurz vor der Getrei­ deernte) schließen helfen und generell den Vitamin- und Proteinbedarf decken, die weitgehend exhaustive Weide-, Wald- und Wassernutzung und schließlich die rohstoffverarbeitende häusliche Gewerbearbeit. Auch wenn der bäuerliche Einzelbetrieb als die Elementarzelle all dieser Tätig­ keitsbereiche und -formen zu gelten hat, in deren Rahmen die Resultate dieser Arbeiten (abzüglich des Surplus) zum gemeinsamen Konsum ver­ bleiben oder in den sie zurückkehren, »zwingen« die lokale Vereinigung der Bodenelemente, deren Verteilung innerhalb oder an der Peripherie der Flur sowie die spezifischen Arbeitserfordernisse innerhalb des Getrei­ debaus, der Viehzucht und der Wald- bzw. Wassernutzung die - wie eng immer - benachbarten Bauernwirtschaften zu verschiedenen Formen einfacher Kooperation: 1. Begrenzte einfache Kooperation im Getreidebau (dies gilt besonders für die zu Gewannen verzelgte Flur mit Ackerstreifen im Besitz der Einzelwirtschaften innerhalb der Gewanne im System der Dreifelder­ wirtschaft, aber nicht nur dort): zeitliche Koordination der Pflug-, Saat-, Zäunungs- und Erntearbeit; Benutzungsordnungen für Weg und Steg innerhalb der Flur; kollektive Nutzung der Stoppelfelder als Weide (Düngung durchs Vieh) bis zur nächsten Pflugsaison (das gilt auch für das Brachfeld); 2 . kollektive Nutzung bzw. kollektive Regelung individueller Nutzung der Allmende: reihum oder durch Delegierte (auch Kinder) erfolgende 217

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Hütung des sich selbst versorgenden Viehs auf den dauernden bzw. saisonalen Weideflächen; zeitliche Regelung des Zugangs zum Wald für die Schweinemast im Spätherbst, für den (gemeinsamen) Holz­ schlag, für das (individuelle) Sammeln von Waldfrüchten, Trocken­ holz, Laub; Regelung des Zugangs zum Wasser (Vieh), der Fischfang­ termine und -quoten an Bach und Teich; 3 . kollektive Nutzung von Rohstoßen bis zum konsumierbaren End­ produkt weiterverarbeitenden Einrichtungen, die sich noch nicht zur gewerblichen Sonderfunktion entwickelt haben: Back- und Brauhaus, Kelter. Diese jahreszyklisch bestimmten Formen kooperativer Tätigkeit inte­ grieren, zusammen mit unregelmäßig sich ergebenden Anlässen zur Zusammenwirkung (reziproke Bittarbeit bei Brandkatastrophen, Haus­ bau, Rodung u. a. m.), lebens- und familienzyklischen sowie (wie immer »verchristlichten«) wald- und feldkultischen Terminen die Bauernwirt­ schaften zur (dörflichen) Genossenschaft/Gemeinde. Zu diesen Grundbedingungen genossenschaftlicher Verflechtung kommt ein Bündel zusätzlicher Faktoren, die konstitutiv für deren enorme Variationsbreite sind: die lokale Verteilung sowie der Überfluss oder die Knappheit der Allmendeelemente, die Verteilung der Böden unterschiedlicher Qualität innerhalb der Flur, die wildwüchsig oder planmäßig entstandenen Formen lokaler Ballung oder Streuung der Siedlungsplätze bzw. Gehöfte (vom Weiler, Rundling, Haufen-, Straßen-, Anger-, Wald-, Marschhufendorf bis zur Einzelhofsiedlung), das Ausmaß direkt genutzter herrschaftlicher Bodenanteile u. a. m. Zur Struktur der (dörflichen) Gemeinde gehört weiter ein gewisses Maß an komplexer Kooperation (lokale bzw. dörfliche Arbeitsteilung), das durch definitive Abschichtung (haus-)gewerblicher Funktionen von den bäuerlichen Wirtschaften bzw. Ansiedlung (ehemals) wandernder Hand­ werker gegeben ist, auf die die bäuerlichen Haushalte angewiesen sind. An erster Stelle rangiert hier die Getreidemühle, die erste durch anorganische Bewegungsenergie (Wasser, Wind) gespeiste Maschine, deren Einrichtung aufwendig ist, zu deren Erhaltung es aber relativ geringen Aufwandes bedarf. Sie bedeutet erhebliche Arbeitsentlastung für den bäuerlichen Einzelhaushalt (besonders die Frau), bindet ihn aber zugleich an diese Ein­ richtung. Das Gleiche kann - abgeschwächt - auch für verselbstständigte Backöfen und Brauhäuser gelten. Dazu kommen die Schmiede (Eisenverar­ beitung für Werkzeuge aller Art bzw. deren Reparatur), die verselbststän­ digten Hirten und die Schänke. Derartige Dorfgewerbe bewahren jedoch in der Regel bäuerlichen Charakter: Sie sind mit einem landwirtschaftlichen Nebenbetrieb verbunden und der Gemeinde integriert.20 20

Neben Hilton und Slichervan Bath in Kuchenbuch/Michael: Feudalismus: Alexander Tschajanow: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im

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6 — Zur S tru k tu r und Dynam ik d e r fe u d a le P r o d u k tio n s w e is e

1.2 Ländliche Produktion von anorganischen Rohstoffei Die vielseitigen, umfangreichen und vielfach leicht erreichbaren mine­ ralischen Ressourcen Europas, dazu (teilweise) historischiiberkommene Kenntnisse über ihre Lagerstätten und Abbau- und Auflereitungstechniken sow ie nicht zuletzt die Allgegenwart unverzichtbaier (an-)organischer Energiequellen (Holz[-Kohle], Wasser): Dies sind die natürlichen und technischen Voraussetzungen für den weitverbreiteten (und zum Teil außerordentlich entwicklungsintensiven) Abbau von?alz, besonders aber den verschiedensten Metallen (für die Produktion am wichtigsten: Eisen; dazu Buntmetalle - Kupfer, Zinn, Blei, Zink/Galmei; für die Zirku­ lation am wichtigsten: Silber, seltener Gold) sowie verschiedener Formen ihrer Weiterverarbeitung: Schmieden, Gießen und andeie. Die wesent­ lichen Elemente dieser Produktionsbereiche sind bereits genannt: die Lagerstätte des betreffenden Stoffs oder seiner Vorstufen, die Mine, das Holz als Brenn- und Baustoff und (neben dem Zugvieh) das (fließende) Wasser für die Reinigung, den Transport und als Antrietemittel für ver­ schiedene Maschinen (Hämmer, Blasebälge u. a.). In wohl stärkerer Verwandtschaft mit dem städtischen Handwerk (s. Abschnitt 3.2) als mit der bäuerlichen Hauswirtschaft herrscht hier der Kleinbetrieb (Meisterbetrieb) vor, mindestens solange und insoweit, wie die Produktivität der Abbau- und Verhüttungstechnik im Wesentli­ chen von der Kraft und Geschicklichkeit des Bergmanns abhängt, diese also durch komplexe Werkzeuge nur geringfügig ersetzbar sind. Solche Entwicklungen fanden im Übrigen erst spät und nur innerhalb weniger Montangewerbe statt (Entwässerungsanlagen im Untertagebau, Verbes­ serung der Verhüttungsmethoden bis hin zum Hochofen, der den Guss ermöglichte). Eine Zusammenfassung der verschiedenen Produktionszweige zu einer Grundstruktur ist jedoch deshalb so gut wie unmöglich, weil die betreffenden Mineralien in äußerst verschiedener Dichte und Menge im Boden abgelagert sind. Die Eisengewinnung (und die Töpferei von All­ tagsgeschirr) etwa bewahrt vorwiegend bäuerlichen Charakter (in AnaloLandbau, Berlin 1923 (engl. Ausgabe: Alexander Chayanov: The Theory of Peasant Economy, Homewood 1966); Kula: Théorie économique, S. 43 ff.; Georges Duby: L’économie rurale et la vie des campagnes dans l’Occident médiéval, 2 Bde., Paris 1962; Friedrich-Wilhelm Henning: Das vorindustrielle Deutschland 800 bis 1800, Paderborn 1974, bes. S. 48 ff.; Wilhelm Abel: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1967; Charles Parain: The Evolution of agricultural technique, in: СЕНЕ I, S. 126 ff.; Lynn White: The Expansion of Technology, 500-500, in: Cipolla, Carlo M. (Hrsg.): The Fontana Economic History of Europe, Bd. I, London 1972; Bloch: The Rise, S. 272 ff.; ders.: Avènement et conquête du moulin à eau, in: ders.: Mélanges Historiques, Bd. 2, Paris 1963, S. 800 fT.; Michael M. Postan: The Medieval Economy and Society. An Economie History of Britain in the Middle Ages, Harmondsworth 1975; Rodney H. Hilton: The English Peasantry in the Later Middle Ages, Oxford 1973; Pierre de Saint-Jacob: Etudes sur l’ancienne communauté rurale, in: Annales de Bourgogne 13/1941, 15/1943,18/1946; Karl Siegfried Bader: Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, Bd. 1-3, Weimar/Köln/Wien 1957-73; zur bäuerlichen Familie vgl. als Einführung Michael Miüerauer/Reinhard Sieder: Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Struk­ turwandel der Familie, München 1977 (mit Bibliogralie). 219

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gie etwa zur Müllerei), weil das Eisen (z. B. als Rasenerz) weit verbreitet ist, am jeweiligen Ort aber nur in kleinen Mengen vorkommt und somit vor­ wiegend dem lokalen Bedarf dient. Dies aber ist ein wesentlicher Sachver­ halt, der kaum überschätzt werden kann. Umgekehrt ist es bei der Salzsowie Edel- bzw. Buntmetallgev/innung: Hier führt die Konzentration der Ressourcen in Lagerstätten mit zum Teil großem Volumen schnell zur Ballung von Abbau und Verhüttung, Abschichtung von der agrikolen Pro­ duktion bis hin zur Ausbildung von primär exportorientierten Berg- bzw. Salz-Städten oder -Regionen, wo es relativ schnell zu den Zünften funk­ tional analogen Einungen der Bergleute (Knappen) kommt (s. Abschnitt 3.2.2). Eine spezifische Differenz zur landwirtschaftlichen ebenso wie zur urban handwerklichen Produktion lässt sich jedoch nachweisem Die genauso abrupte Entdeckung wie Erschöpfung örtlicher Ressourcen und die mühsame Suche nach solchen - dies betrifft besonders die Edel- und Buntmetalle - zwingt den Bergmann zu einer Lebensweise, die man mit einigem Recht mit der des Nomaden verglichen hat.21 1.3 Lokale Austauschverhältnisse

Ergeben sich aus den Formen der einfachen Kooperation bereits Möglich­ keiten des Austauschs lebendiger Arbeit zwischen den Bauernwirtschaf­ ten (reziproke Bittarbeit: A ^A 2), so erzwingt die innerdörfliche Arbeits­ teilung den Austausch von Produkten gegen Arbeit (und umgekehrt: A-P; P-A) und den Produktentausch (P-P), wobei beide Formen so vollzogen werden können, dass Schuldner-Gläubiger-Beziehungen entstehen, zum andern aber das Geld diese Tauschakte nicht unbedingt vermitteln muss. Dazu kommt: — die Abhängigkeit der Bauernwirtschaften von Produkten, die sie den lokalen Ressourcen in der Regel nicht abgewinnen können: besonders Salz, Metalle (Metallwaren); — die Möglichkeit, eigene Überschüsse in nahen Konsumtionszentren oder Märkten (Kirchmess, Landmarkt, Stadt) gegen andere Produkte und Geld einzutauschen; — der Zwang, Geldquanta an den (Grund-)Herrn entrichten zu müssen (dazu 2.2). Es kennzeichnet die Struktur dieses Tauschverkehrs, dass - potenziell jede Bauernwirtschaft individuell an ihn angeschlossen ist, ebenso wie die (historisch ererbte) Tatsache, dass jedes Produkt der Bauernwirtschaft (Getreide, Vieh, gewerbliche Rohstoffe, Rohtextilien u. a.) in ihn eingehen 21

John U. Neff: Mining and Metallurgy in Medieval Civilisation, in: СЕНЕ II, S. 430 ff.; Eberhard Gothein: Bergbau und Hüttenwesen, in: Grundriß der Sozialökonomik 2 VI, Tübingen 1923, S. 294 ff.; Max Weber: Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsge­ schichte, Berlin 1958, S. 161 ff.; Charles Singer/Eric J. Holmyard/Alfred R. Hall/Trevor I. Williams (Hrsg.): A History of Technology, Bd. 2: The Mediterranean Civilizations and the Middle Ages c. 700 В. C. to A. D. 1500, Oxford 1956 (1. Teil).

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kann. Ebenso ererbt ist, dass für diesen Tauschverkehr, besonders a b e r die letztgenannten Formen, das Geld als verallgemeinerter Tauschwert zur Verfügung steht, und zwar ebenso als Wertmesser de Produkte wie als konkretes Zirkulations- und Zahlungsmittel in der Gestalt von Edel­ metallmünzen (Silberdenar, Pfennig u. a.), die die lokale Zirkulation der bäuerlichen Waren, deren Geldwert vielfach nur gering ist, die Tilgung von Geldschulden und die Entrichtung von Geldrente wirklich vermitteln und auch stimulieren können. Die bäuerlich-dörfliche Produktionssphäre im vorindustriellen Europa ist somit einer Sphäre interner und externer Güter- und - geld­ vermittelter - Warenzirkulation verbunden, die jedoch mr ergänzende Aufgaben erfüllt und erfüllen kann, da die Bauernwirtschaften den über­ wiegenden Teil ihrer Reproduktionsmittel selbst produzieren und ein Teil ihres Surplus von ihnen nicht auf den Markt, sondern direkt zum Herrn »getragen« wird (dazu 2.2). Demgegenüber sind die gewerblichen Produzenten auf dem Lande, soweit sie vom bäuerliche! Betrieb oder Herrenhaushalt definitiv abgeschichtet sind, in weit größerem Ausmaß etwa analog dem städtischen Handwerk - von der Warenzirkulation abhängig.22 1.4 Zusammenfassung Die bestimmende Grundeinheit der ländlichen Produktion im vorindus­ triellen Europa ist die bäuerliche Einzelwirtschaft (»mansus«, »colonia«, frz. manse, meix, span, mas, engl, hide, Hufe u. a. national-bzw. regional­ sprachige Bezeichnungen). Sie stellt ein ungemein komplexes ökonomi­ sches und soziales Gebilde hinsichtlich der es konstituierenden Elemente sowie deren Verbindung im Produktionsprozess dar. Entscheidend ist, dass dieser Prozess - teilintegriert in verschiedene Formen dörflich­ genossenschaftlicher Kooperation - selbstständig vonstatten geht, die arbeitenden Subjekte also mit ihren Werkzeugen und den verschiedenen Bodenelementen sich im Arbeitsprozess direkt verbinden, ohne dass eine andere Person diese Verbindung erst stiften muss (oder verhindern kann). Dieser Sachverhalt stellt - auf der hier gegebenen Abstraktionsstufe - die entscheidende Differenz zum Sklaven- bzw. Lohnarbeitsverhältnis dar und bestimmt die Eigenart der feudalen Produktionsweise wesentlich mit. Die Produktion ist auf die Reproduktion der Hausgemeinschaft aus­ gerichtet, der subsistenzsichernde jährliche Ertrag ist das Ziel der Arbeit (einfache Reproduktion). Jedoch ermöglicht die Produktivität dieser bäu­ 22 Zur Geldgeschichte allgemein: Marc Bloch: Esquisse d’une histoire monétaire de l’Europe, Paris 1954; Carlo M. Cipolla: Money, Prices and Civilization in the Mediterranean World. Fifth to seventeenth Century, New York 1967; Pierre Vilar: A History of Gold and Money 1450-1920, London 1976 [dt. 1984]; Arnold Luschin von Ebengreuth: Allgemeine Münzkunde und Geldge­ schichte, München 1928; Rolf Sprandel: Das mittelalterliche Zahlungssystem nach hansisch­ nordischen Quellen des n . 15. Jahrhunderts, Stuttgart 1975. 221

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erlichen Arbeit die Erwirtschaftung von Überschüssen über die Subsistenz hinaus (agrikoler Surplus), die nicht bäuerlich tätigen Individuen zum Unterhalt dienen kann. Abgesehen von Austauschformen, die primär in der genossenschaftlichen Verflechtung der lokal vereinigten Einzel­ wirtschaften gründen, ist es dieser Surplus, der die Bauern mit anderen Personen in Beziehungen bringt: Er wird entweder mit städtischen oder ländlichen gewerblichen Produzenten gegen deren Produkte ausgetauscht (geld-vermittelte einfache Warenzirkulation) oder von Herren direkt appropriiert: Somit stellen die Quantität und Qualität des ländlichen Surplus die Voraussetzung für die erweiterte Reproduktion der feudalen Produktionsweise dar.23 2 Appropriationsstruktur des ländlichen Surplus24 2.1 Mehrarbeit und außerökonomischer Zwang Der bäuerliche Surplus, welche konkrete Form er auch immer annehmen mag, ist der abstraktesten Bestimmungsebene nach diejenige Arbeit oder Resultat derjenigen Arbeit, die die Bauern zusätzlich zu ihrer Reproduk­ tion verausgaben, also Mehrarbeit. Da die Existenz der Mehrarbeit kon­ stitutiv für alle vorindustriellen Bauerngesellschaften ist, besteht eine der entscheidenden Aufgaben jedes Versuchs, die feudale Produktions­ weise im vorindustriellen Europa zu begreifen, darin, deren spezifische Formen der Mehrarbeit und ihrer Aneignung zu bestimmen. Ein adäqua­ ter Ausgangspunkt, nicht mehr und nicht weniger, ist mit den beiden allgemeinen Grundbestimmungen gewonnen, die Marx - im zum Teil engen Anschluss an Richard Jones25 - vorgenommen hat. Er unterschei­ det einerseits drei Formen der Mehrarbeit (Arbeits-, Produkten-, Geld­ 23

Die Eigenart der europäischen Form bäuerlicher Produktion wird besonders im außereuro­ päischen Vergleich deutlich. Wir haben dazu benutzt: allgemein: Shanin: Nature and Logic; George Dalton (Hrsg.): Tribal and Peasant Societies. Readings in Economic Anthropology, New York 1967; Teodor Shanin (Hrsg.): Peasants and Peasant Societies. Selected Readings, Harmondsworth 1971; zu Afrika: lack Goody: Economy and Feudalism in Africa, in: The Economic History Review 22/1969, S. 393 ff.; Emmanuel Terray: Zur politischen Ökonomie der »primitiven« Gesell­ schaften. Zwei Studien, Frankfurt a. M. 1974, S. 93 ff.; Claude Meillassoux: Die wilden Früchte der Frau. Über häusliche Produktion und kapitalistische Wirtschaft, Frankfurt a. M. 1976; zu den Inka: lohn V. Murra: The Economic Organization of the Inca State, Diss., Chicago 1956; Maurice Godelier: Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur pri­ mitiver Gesellschaften, Reinbek 1973, S. 92 ff., 281 ff.; zu Indien: Walter C. Neale: Reciprocity and Redistribution in The Indian Village: Sequel to Some Notable Discussions, in: Karl Polanyi/ Conrad M. Arensberg/Harry W. Pearson (Hrsg.): Trade and Market in the Early Empires. Economies in History and Theory, New York/London 1957, S. 218 ff.; zu China: Karl August Wittfogel: Wirtschaft und Gesellschaft Chinas. Versuch der wissenschaftlichen Analyse einer großen asiatischen Agrargesellschaft, Bd. 1, Leipzig 1931; zu Japan: Hall: Feudalism in Japan; Anderson: Lineages, S. 435 ff.; zum Islam: Rodinsom Islam und Kapitalismus, S. 101 ff. 24 Der Terminus »Appropriation« wurde anstelle von »Ausbeutung« bzw. »Aneignung« gewählt, 1. um den emotionalen Beigeschmack zu meiden, der hierzulande mit dem Aus­ beutungsbegriff verbunden ist; 2. um die Doppelsinnigkeit der beiden genannten Begriffe (»Ausbeutung« bzw. »Aneignung« der Natur im Produktionsprozess - »Aneignung« des Mehrprodukts/»Ausbeutung« des unmittelbaren Produzenten) zu umgehen; 3. um den Aspekt der V e r te ilu n g des Surplus (im Sinne von Max Weber) zu berücksichtigen. 25 Vgl. die Vorbemerkung zu IC in Kuchenbuch/Michael: Feudalismus. 222

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rente) und weist andererseits dem außerökonomischen Ivang die ent­ scheidende Rolle hinsichtlich der Aneignungsweise zu: Stukturelle, auf letztlich militärischer Gewalt basierende Herrschaft, nicht-rein« ökono­ mische Macht bestimmt die Aneignungsweise der Mehrarbeit. Diese äußerst abstrakten Ausgangspunkte sind nun ztispezifizieren. Anzusetzen ist dazu bei der Struktur des oben analysiertenProduktionsprozesses. Drei Charakteristika dürften hier Vorrang haben: — die Selbstständigkeit der Produktion, das faktische Verfugen der Bau­ ern über Werkzeuge und Bodenelemente (im Gegensatzetwa zur Skla­ venwirtschaft); — die individualisierte Form des Arbeitsprozesses, der von bäuerlichen Einzelbetrieb ausgeht (im Gegensatz etwa zu primär genossenschaft­ lichen oder kollektiven Formen der agrikolen Produktion: Sippen, Clans, Dörfer); — die Existenz der ergänzenden, geldvermittelten Waremirkulation, an die jeder Einzelhaushalt potenziell angeschlossen ist. Aus dem ersten Grundzug folgt einerseits, dass die Aneignung der Mehrarbeit nicht gleichzeitig mit der Produktion der Subsistenzmittel erfolgen kann, sondern in zeitlicher und/oder räumlicher Trennung von ihr: Abzweigung eines Teils der Arbeitsresultate (Produktabgaben) bzw. eines Teils des Arbeitsvermögens (Frondienst). Andererseits muss der dauerhafte Anspruch auf die Mehrarbeit durch dem Produktionsprozess äußerliche Verfügungsgewalt über die Produktionselemente begründet werden. Dies geschieht in - im wesentlichen - doppelter Weise: durch das Titular- oder Obereigentum am Grund und Boden und seiner Derivate (Arbeitsmittel) und durch die Bindung (der Arbeitskraft) der Bauern an diesen selbst (Gnrndhörigkeit) und/oder an den Herrn (Leibeigenschaft), also Herreneigentum am Boden und/oder am Menschen (Weber). Vorgän­ gige Entwicklungen in Europa (gentile Überschichtung, autogene öko­ nomische Differenzierung, Gefangenschaft, Selbstverknechtung, Raub), die die Formen der patriarchal-hausgebundenen bzw. verallgemeinerten Sklaverei, des Kolonats und tributärer Abhängigkeit der unmittelbaren Produzenten angenommen haben, gehören zu den historischen Voraus­ setzungen dieser doppelten Form des Herreneigentums. Dessen rechtli­ che (zeitlich und sachlich) Verbindlichkeit ist durch Traditionen festgelegt und wird mittels derselben modifiziert (Gewohnheitsrecht, Herkommen, »mos«, »consuetudo«, frz. coutume usw.). Mit dem Herreneigentum ver­ bunden sind Sanktionsbefugnisse, deren Formen von der unmittelba­ ren Anwendung »rechter« physischer Gewalt bis zu den verschiedensten juristischen Zwangsformen reichen (Gerichts-, Strafrechte aller Art). Mindestens ebenso wichtig ist, dass die »individualisierte« Form des bäuerlichen Arbeitsprozesses den Herreneigentümer dazu zwingt, (eben nicht größere Produklionskollektive, sondern) die Einzelwirtschaft oder

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deren Haushaltsvorstand (und andere Angehörige) zum Index sein er Appropriationsansprüche zu machen. Vor allem dieser Sachverhalt im pli­ ziert neben den natürlichen Voraussetzungen des Produktionsprozesses die Möglichkeit einer quantitativen und qualitativen Parzellierung und Hierarchisierung der Appropriationsbefugnisse und damit eine u n ge­ mein dissoziierte und komplexe Konkurrenz um deren Verteilung. Umgekehrt kann die Geldform der Mehrarbeit aber zur qualitativen wie quantitativen Konzentration, also zur Einschränkung der Konkurrenz führen (Monopolisierung von Rente und Gewaltmitteln). Diese ersten Folgerungen reichen jedoch noch nicht aus, um eine angemessene Vorstellung von der Eigenart der feudalen Appropriations­ struktur zu gewinnen. Dazu bedarf es zum einen einer genaueren Erläu­ terung des komplexen Gefüges der Mehrarbeitsformen, zum anderen der des örtlichen und institutionellen Rahmens, innerhalb dessen der Appro­ priationsprozess sich vollzieht. 2.2 Struktur der Grundrente

Die bäuerliche Mehrarbeit, durch welche Sanktionsformen deren Aneig­ nung auch immer garantiert sein mag, ist als »Einkommen« der Herren Grundrente. Anders ausgedrückt: Die Grundrente stellt die Realisierung des Herreneigentums am Boden und den ihn nutzenden Bauernwirt­ schaften dar, aus der Sicht der Bauern deren Status als mit ihm beliehener, an ihn gebundener und/oder dem Herrn persönlich gehörender Subjekte bzw. Haushalte. Die materialen Grundformen der Mehrarbeit sind: 1 . Die Arbeitsrente: Die Mitglieder der Bauernwirtschaften sind ver­ pflichtet, ihr Arbeitsvermögen dem Herrn zur Verfügung zu stellen für die Bewirtschaftung von Bodenanteilen, die in dessen direktem Eigentum stehen (Guts-, Salland, »terra indominicata«, frz. réserve, engl, demesne u. a.). Hierbei fallen also Produktion und Aneignung der Mehrarbeit zusammen. Die verschiedenen Formen der Arbeits­ rente (Frondienst) sind bestimmt dadurch, — in welchen Arbeitsprozess sie eingegliedert sind oder was daraus hervorgegangen ist: Bearbeitung von Ackerland, Weinbau, Wiesen­ nutzung, Gärtnerei, Waldnutzung; Weiterverarbeitung agrikoler und hausindustriell-gewerblicher Rohprodukte, Straßen-, Burgen-, Hausbau, Instandsetzung von Werkzeugen und Gebäuden/Zäunen u. a., Viehzucht, Transport von Gütern und Nachrichten, Wachehal­ ten, Trossdienst, Verkauf von Überschüssen u. a. m.; — ob die Fronarbeit nur Teile dieser Arbeitsprozesse umfasst; — mit welchen und wessen Arbeitsmitteln sie auszuführen ist und — ob sie von den betreffenden Mitgliedern des Bauernhaushalts selbstständig oder entweder aufeinanderfolgend oder in gleich­

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zeitig-kooperativem Einsatz mit anderen Fronen)en unter der Aufsicht von örtlichen Vertretern des Herrn (Meier Schulze usw.) geleistet wird. 2 . Die Produktenrente: In dieser Grundform ist die Mehrarbeit bereits in die bäuerliche Einzelwirtschaft hinez'nverlagert. Diesbedeutet, dass die Herstellung des Produkts bis zum Ablieferungstermin der Kont­ rolle des Herrn bzw. seines Vertreters weitgehend entzogen ist. Die Abgabe solcher zum Produkt »geronnenen« Arbeit Zins, Abgabe, Zehnt, Gült, redevance, »census« usw.) kann sich auf so gut wie alle Produktionszweige der bäuerlichen Wirtschaft beziehen: Getreide, Wein, Hopfen, Vieh, Fisch, Dung, Holz, Wachs/Honig Flachs/Wolle oder -Stoffe und andere Rohstoffe oder Halbfabrikate gewerblicher Art (Letzteres gilt besonders für die ländlichen [Teil-jGewerbetreibenden). Insofern besteht kein wesentlicher Unterschied zur Vielfalt der Arbeitsrentenformen. Zu beachten ist, dass die Produklrentenformen vorwiegend in der Rohgestalt abzuliefern sind, also nickt im unmittel­ bar konsumierbaren Zustand (also: Getreide statt Brotusw.): So bleibt dem Herrn die Dispositionsfreiheit zur Weiterverarbeitung in seinem (Groß-)Haushalt, zum Konsum oder Verkauf. In der Eohgestalt sind sie zudem besser zu konservieren, was besonders wichtig für den Kon­ sum in Notzeiten und den Verkauf während solcher ist. 3 . Die Geldrente-. In dieser Form hat die Mehrarbeit durch vorausgegan­ gene Verkaufshandlung ihre Naturalgestalt »abgestreift«. Um zum erforderlichen Geldzins zu kommen, ist der Bauer gezwungen, Mehr­ produkt (seltener auch Arbeit) gegen Geldquanta einzutauschen, kann aber, begrenzt durch die Art und Menge seiner Überschüsse sowie die lokale bzw. saisonale Absatzlage, darüber entscheiden, welche Über­ schüsse er verkauft. Charakteristisch für die feudale Appropriationsstruktur ist es nun, dass alle drei Grundformen koexistieren, oder besser: der Möglichkeit nach miteinander verbunden sind, und zwar in der Regel bezogen auf den Ein­ zelhaushalt als Rentenindex. Deren konkrete Formen stehen von Fall zu Fall, d. h. zeitlich, örtlich und von Herrschaft zu Herrschaft, in qualitati­ ven und quantitativen Beziehungen zueinander, die man sich äußerst variabel vorstellen muss, was in letzter logischer Konsequenz bedeutet, dass jeder Einzelhaushalt seinen individuellen Rentenstatus haben kann. Ist der Rhythmus der Erhebung dieser Einzelformen (Fälligkeitster­ mine) auch primär an den jahreszyklisch sich wiederholenden Arbeits­ erfordernissen und Erntezeiten festgemacht, so existieren daneben wei­ tere Möglichkeiten: der Lebenszyklus von Bauer und Bäuerin (Todfall, Begräbnisfall), derFami/ienzyklus (Heiratsfall), der Beginn oder das Ende eines Leiheverhältnisses, der Verkauf von Land(-teilen) usw. Sind diese Rentenformen alle auf die Temporalstruktur der bäuerlichen Lebensver­

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hältnisse bezogen, so können dazu weitere Ereignisse zyklischer, zufälli­ ger und willkürlicher Art als Anlass zur Rentenerhebung fungieren, die denen der Herren entstammen: deren Notlage (Krieg, Gefangenschaft, Verschuldung), Initiationsrituale (Ritterschlag), Heirat, Feste, Gastung bei Visitationen oder Durchreisen, Gerichtstage, Wechsel des Eigentümers u. a. m. (»Steuer«, Bede, Taille usw.). Auch die (Verlagerung der sachlichen und rechtlichen) Begründung (Radizierung) kann die jeweilige Rentenform bestimmen: Kopf, Haus, Herd, Acker, Allmendenutzung, Mühle, Kirche, Markt und andere. Man kommt also sogar mit dem Gesamthaushalt als »kleinstem« Rentenin­ dex nicht aus, wenn man eine Erklärung für die äußerst vielschichtige, ja verwirrende Individualisierung der konkreten Rentenverhältnisse sucht. Zuletzt: Besonders die jahreszyklisch gebundenen Rentenformen haben je nach Jahresertrag (Volumen der Ernte), Marktpreis, Kaufkraft des Geldes und Absatzlage wechselndes Gewicht (und zwar unterschied­ liches für Herr und Bauer). Die agrikole Appropriationsstruktur der europäisch-feudalen Pro­ duktionsweise ist also geprägt von der sachlichen Vielfalt der einzelnen Rentenformen, deren Koppelungs- und Versch/ebungsmöglichkeiten, verschiedenen Ze/tstrukturen ihrer Erhebung, verschiedenen sachlich­ rechtlichen Begründungsformen wie endlich deren schwankendem realen Umfang oder Tauschwert. Dies sind Bedingungen für eine Komplexität und Elastizität, die ihresgleichen in vorindustriellen Agrargesellschaften suchen dürfte.26 2.3 Struktur der Grundherrschaft

Die komplexe Struktur der Rentenverhältnisse gewinnt noch an Kontur, wenn man sie auf den institutionellen und örtlichen Rahmen bezieht, innerhalb dessen sie ihre jeweilige konkrete Form annimmt und sich verändert. Die Grundherrschaft (»vilia«, »dominium«, frz. seigneurie, engl. manor/estate, ital. signoria, Domäne usw.) wird mit Recht als die Basisin­ stitution feudaler Vergesellschaftung angesehen, die Herren und Bauern ökonomisch, sozial und politisch aneinanderbindet. Die Variationsbreite ihrer konkreten Ausformung und die Möglichkeiten ihrer Entwicklung sind bestimmt: 1 . durch das quantitative Verhältnis von Herrenland (Salland, Gutsland, reserve, demesne u. a.) zu Bauernland (Hufe usw.) (bipartite Struktur): — Bei vorherrschendem Herrenland ist die Arbeitsrente die bestim­ mende Mehrarbeitsform (dazu kann ergänzend Hofsklaverei bzw. Tagelöhnerarbeit treten). Sie macht die Organisation und Kont­ rolle des Arbeitsprozesses durch den Herrn bzw. seine Vertreter 26

Vgl. die in Fn. 23 genannte Literatur.

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6 — Zur S tru k tu r u nd D ynam ik d e r feidalen P ro d u k tio n s w e is e

nötig (Gutswirtschaft), zwingt den Bauern harte Beschränkungen ihres ökonomischen (und rechtlichen) Eigenspielraums auf. — Bei vorherrschendem Bauernland ist die Arbeitsrente ökonomisch nur begrenzt verwertbar (Transport-, Allmende- und Bauarbeiten), Produkt- und/oder Geldrente herrscht vor. Der Grundherr oder seine Vertreter haben vorwiegende Kollektorfunktion (zu den jeweiligen Abgabeterminen) (Hebeverfassung, vielfach als Renten­ wirtschaft bezeichnet), die Bauern führen ein relativ eigenständi­ ges ökonomisches Dasein. 2 . durch die territoriale Verteilung des Herreneigentums an Boden (und Bauern): — Die Pole sind hier: ausgeprägte Streulage dereinzelnen Güter und der sie nutzenden Bauernwirtschaften bis hin zu vereinzelten Höfen, verstreut auf weit auseinanderliegende Dörfer, und räumli­ che Geschlossenheit der Güter in ganzen Dörfern, Dorfverbänden, Siedlungsgebieten; 3 . durch die Verteilung gerichts- und bannherrlicher Sanktionsbefug­ nisse und Rentenansprüche: — Hier können Hoch(Bluts)- und Niedergericht (Grafschaft, Immuni­ tät, Vogtei, Patrimonialgerichtsbarkeit, Dorfgericht) sachlich, räum­ lich und hinsichtlich der konkreten Inhaberschaft getrennt oder ver­ bunden sein, und zwar in einer verwirrenden Fülle von konkreten Ausformungen, deren Grundzüge jedoch darin bestehen, dass diese Rechtsprechung einerseits entgeltlich vollzogen wird: Die Ahndung von Delikten fungiert als zusätzliche Quelle für Rentenansprüche (Bußen, Friedensgelder); dass zweitens die Strafbefugnisse als Ins­ trument zur Durchsetzung des Gehorsams der von ihnen Betrof­ fenen fungieren und dass sie endlich zugleich sowohl konkret wie ideologisch als Schutzleistung bzw. Schutzversprechen gegenüber Bedrohungen von »außen« wirken oder behauptet werden. Hier liegt eine Wurzel für das - im Wesentlichen - adlige Konzept einer Reziprozitätsideologie, nach der der Herr schützt, der Bauer hilft. — Der Bann als Recht zu befehlen und zu strafen, den man allgemein als Instrument zur Durchsetzung und Erweiterung »geltender« Rentenansprüche begreifen kann, findet besondere Anwendungs­ bereiche bei den Elementen bäuerlicher Produktion, die dem Ein­ zelbetrieb entzogen sind, auf die er aber angewiesen ist: Mühle, Brau- und Backhaus, Kelter und die Allmende. Auch die Verteilung dieser Rechte prägt die Struktur der Grundherrschaft mit. 4 . durch die Verteilung der aus Kultus und Eigen(Privat)-Kirchenrechtüießenden Rentenformen und -anteilen: — Die verschiedenen Formen der ecclesiastical rent (Parochialzehnt, Stolgebühren, Oblationen, kirchliche Bußen: Ablass u. a.), dem Titel

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nach als Entgelt für seelsorgerische Handlungen aller Art aufzufassen, erliegen ebenso wie alle anderen Formen der Rente der faktischen Verteilung auch unter Herren, die diese Leistungen nicht erbringen. 5 . durch die Nähe bzw. Ferne von Absatz markten; 6. durch die Lebensweise der Herren selber: — Konsumtionsstandards, Residenz- bzw. Wanderungsweise, Ver­ wandtschafts- und Vererbungsverhältnisse haben beträchtlichen Einfluss auf Struktur und Entwicklung der Grundherrschaft. 2.4 Zusammenfassung

Diese - logisch noch nicht befriedigende - Auflistung von Faktoren kann wohl mindestens zeigen, welche Vielfalt der konkreten Formen der Appropriationsstruktur des ländlichen Surplus denkbar ist. Die Möglich­ keit der Trennung bzw. Verbindung von ökonomisch, räumlich, recht­ lich-politisch, religiös und sozial festgelegten Rentenansprüchen und den Instrumenten ihrer Durchsetzung lässt erkennen, welch komplexes Distributionsgefüge des direkt angeeigneten ländlichen Surplus charakte­ ristisch für die feudale Produktionsweise im vorindustriellen Europa ist: die Koexistenz von »Appropriations-Aggregaten« verschiedenster Dich­ tigkeit und Größe sowie ständige aktuelle und längerfristige Verschie­ bungen ihrer Grundlagen. Um dieser Vielfalt Herr zu werden, hat man immer wieder versucht, die oben aufgeführten Bestimmungsfaktoren (und weitere, hier nicht berücksichtigte) voneinander zu isolieren. Die daraus resultierenden Typologisierungen (Grund-, Guts-, Renten-, Zehnt-, Gerichts-, Bann-, Eigenkirchen-, Kloster-, Bistums-, Landes-, Territorial-, Königsherrschaft u. a. m.), so berechtigt sie heuristisch sind, lassen jedoch allzu leicht vergessen, worin die innere Einheit, ob getrennt oder vereinigt, dieser verschiedenen Formen des Herreneigentums über Land und Bauern (Gewere) besteht: Jede, wie immer räumlich dichte, sachlich/ persönlich zusammengesetzte und rechtlich-politisch abgeschirmte (Grund-)Herrschaft, stellt eine materielle Versorgungsgrundlage für ihren Inhaber dar, die gegen andere Konkurrenten zu sichern oder sie auszu­ weiten sein Handeln bestimmt. Der Pluralität der Appropriationsmög­ lichkeiten entsprechen die Ausrichtungen seines Handelns und dessen seiner Konkurrenten: Daraus resultiert die Komplexität der Konkurrenz um die Rentenquellen (»struggle for rent«, Rodney H. Hilton). Doch reicht selbst dieser so differenzierte Begriff der Appropriati­ onsstruktur noch nicht aus, um ein - theoretisch - vollständiges Bild zu gewinnen.27 27

Die besten Überblicke zu den Formen der Grundherrschaft (mit reicher Literatur): CEHF I, Kap. VI, VII; (zu Deutschland) Friedrich Lütge: Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1976; (zu England) Postan: Médiéval Economy, S. 81 ff.; Duby: Leconomie rurale; dors.: Guerriers et paysans, VIIe-XIIvsiècles. Premier essor de l’économie européenne, Paris 197X |dt. 1984|, S. 97 ff, 240 IL; hernhard H. Slicher van

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3 Städtische Produktion, Zirkulation und Appropriation 3.1 Allgemeine Voraussetzungen Obwohl die städtische Produktion im europäischen Feudalismus ihren agrarischen Einschlag nie völlig verliert, stets also durch ergänzende Eigen­ agrikultur, -Viehzucht und anderes eines Teils da Bürger (sog. Ackerbür­ ger) geprägt ist (Gärten, Ställe, Außenäcker, städlische Allmende), bildet der ländliche Surplus die logische VoraussetzungLhrer Existenz und des­ sen (wachsender und schwankender) Umfang dit historische Vorausset­ zung ihrer Entwicklung. Dieser Surplus, dessen sachliche Form sich aus der Vielfalt der bäuer­ lichen Arbeitsresultate und der des ländlichen lieben- und standortge­ bundenen Gewerbes ergibt (Nahrungsmittel: Vqetabilien, Vieh; organi­ sche und anorganische Rohstoffe aller Art), wird - wie bereits angedeutet (1.3, 2.2) - durch Tauschhandlungen erworben, wodurch er die ökonomi­ sche Form der Ware annimmt, und zwar dergestalt, dass das (gemünzte) Edelmetall als verallgemeinerter Tauschwert -ein historisch ererbtes Verhältnis - diese Tauschakte bestimmt: durchgängig als Wertmaßstab und vorwiegend als Zirkulationsmittel (Trennung des Tauschs in Ver­ kauf (W-G) und Kauf (G-W)). Die allgemeine soziale Form des ländlichen Surplus ist dadurch bestimmt, dass er erstens dem ländlichen Produzen­ ten direkt entstammt, und zwar als verkaufter Überschuss sowohl zur Ergänzung ihrer eigenen Haushalte als auch zumErwerb von Geldquanta, die den Herren zu entrichten sind. Zweitens wird er über den »Umweg« von (Anteilen) der Rente (Revenue) ausgetauscht, die die Herren in ihren Haushalten nicht direkt konsumieren oder redistribuieren (können). Weder diese - dreifache - Formbestimmtheit des ländlichen Surplus noch die zeitliche und räumliche Struktur seines Transfers - die lokalen, intra- und interregionalen Tages-, Wochen- und Jahrmärkte - reichen jedoch aus, die spezifische Form und Stellung der Stadt innerhalb der feu­ dalen Produktionsweise in Europa zu begreifen. Dazu muss einerseits die Parzellierung der ländlichen Produktionssphäxe kommen (jeder Einzel­ haushalt verkauft bzw. kauft), andererseits die parzellierte Appropriation Bath: The Agrarian History of Western Europe, A. D. 500-1850, London 1963, S. 40 ff„ 145 ft.; Ansonsten hat man sich an r e g io n a le Studien zu halten, von denen hier hervorgehoben seien: Margarete Bosch: Die wirtschaftlichen Bedingungen der Befreiung des Bauernstandes im Her­ zogtum Kleve und in der Grafschaft Mark im Rahmen der Agrargeschichte Westdeutschlands, Berlin/Stuttgart/Leipzig 1920; Philippe Dollinger: L’évolution des classes rurales en Bavière jusqu’au milieu du XlIIe siècle, Paris 1949; Charles-Edmond Perrin: Recherches sur la seigneurie rurale en Lorraine d’après les plus anciens censiers, Paris 1935; Robert Fossier: La terre et les hommes en Picardie jusqu'à la fin du XlIIe siècle, 2 Bde., Paris/Louvain 1968; Emmanuel Le Roy Ladurie: Les paysans de Languedoc, Paris 1966; Bois: Crise du Féodalisme; Herbert P. R. Finberg: Tavistock Abbey. A Study in the Social and Economie History of Devon, Cambridge 1951; Rodney H, Hilton: A medieval Society. The West Midlands at the End of the Thirteenth Century, London 1966, S. 65 ff„ 124 ff.; Guy Duby: Hommes et structures du moyen âge, Paris 1973 (Nr. II, IV, VII, IX, XXIII); Pierre Bonnassie: La Catalogue du milieu du Xe à la fin du Xle siècle. Croissance et mutations d'une société, Bd. 1, Toulouse 1975. Zur e c c le s ia s t ic a l re n t-. Ulrich Stutz: Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens von seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III., Aalen 1972; Gilles Constable: Monastic tithes from their origin to the 1wellth century, Cambridge 1964. 229

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(und Verteilung) der Revenue (und der Gewaltmittel), wohl der bedeuten­ dere Sachverhalt. Der Käufer, ob Kaufmann oder Handwerker, Gilde oder Zunft, steht den vereinzelten Verkäufern von Surplusanteilen gegenüber: den Bauern, die Geld und ergänzende Waren benötigen (s. o.), den Her­ ren, die um die Verwandlung der bäuerlichen »Gestalt« ihrer Revenue in standesgemäße Konsumtionsmittel (Luxusgüter) miteinander konkur­ rieren. Diese individualisierte Struktur des Verkaufszwanges ermöglicht es dem Handel und Gewerbe, sich von den dinglichen und persönlichen Bindungen des Bauerndorfs und Herrenhofs zu emanzipieren, d. h. öko­ nomische und politische Autonomie zu gewinnen. Diese Emanzipation ist jedoch strukturell begrenzt. Mag durch die dezentralisierte Appropriationsweise der Adel den ländlichen Surplus nicht vollends absorbieren können, und mag er abhängig sein vom fernhändlerischen Angebot an Luxusgütern sowie von den Resultaten städtisch spezialisierten Gewerbefleißes: Er fördert zugleich Handel und Gewerbe mit dem Ziel, seine Revenue mithilfe seiner politischen Vorrang­ stellung (herrschaftliches Gewaltmonopol) zu vergrößern bzw. zu ergän­ zen. Die Stadt muss sich ihre ökonomische und politische Teilautonomie durch materielle Gegenleistungen (Markt-, Münz-, Gerichts-, Verkehrs-, Kriegssteuern u. a.) »erkaufen«, die die sekundäre Revenue des Adels dar­ stellen. Man könnte diese Revenueform »Zirkulationsrente« nennen; um sie konkurriert der Adel unter sich genauso wie mit den Städten. Diese Zwieschlächtigkeit als Subjekt ökonomischer und politischer Funktionen und zugleich Objekt sekundärer Appropriation bestimmt die spezifische Gestalt und Rolle der Stadt innerhalb der feudalen Pro­ duktionsweise im vorindustriellen Europa. Beide Funktionen haben ihre besonderen Rückwirkungen: Ihre Teilautonomie (Freiheit) macht die Stadt zum Anziehungspunkt ländlicher »Bevölkerungsreserven«, zugleich strebt sie danach, die Arbeitsteilung und die Warenzirkulation zwischen sich und dem Umland zu ihren Gunsten zu regulieren, ohne sich jedoch generell von der Produktivität der agrikolen Arbeit, d. h. vom Umfang des ländlichen Surplus, unabhängig machen zu können. Dem auf ihr Warenangebot angewiesenen Adel kann sie einerseits die Aus­ tauschbedingungen diktieren, muss zugleich aber für diesen ungleichen Austausch (hohen) materiellen Tribut zollen und gewärtig sein, in wel­ cher Form und in welchem Ausmaß immer auch gewaltsam expropriiert zu werden (Raub, Krieg), ökonomisch und politisch. Die nähere Bestimmung dieses mehrdimensional widersprüchlichen Beziehungsgefüges (Stadt-Land-Verhältnis) gehört jedoch in den zweiten Teil (Dynamik). Weitere Voraussetzung dafür ist zunächst die genauere Analyse von städtischem Handwerk und Handel.28 28 Zu diesen allgemeinen Voraussetzungen (neben den Beiträgen von Smith, Engels, Vilar, Berthold u. a. in Michael/Kuchenbuch: Feudalismus): Arthur B. Hibbert: The Origins of the

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3.2 Handwerkliche Produktion 3 .2 .1

Produktionselemente Arbeitsgegenstand der handwerklichen Produktion sind die von der Erde abgelösten Rohprodukte. Günstig erreichbare und verteilte minera­ lische Bodenressourcen, die Vielgestalt und -verwertbarkei: der lokalen/ regionalen Flora und Fauna, die Techniken der Urproduktion im bäuer­ lichen und ländlichen Montan- und Forstbetrieb und derxnport durch den Handel bilden hier die Voraussetzungen für eine uigewöhnliche Mannigfaltigkeit, die nur schwer zu ordnen ist. Dazu kommt, dass die Beschaffenheit der Rohprodukte ebenso wie das Spektrumihrer Verwen­ dungsmöglichkeiten in dem Maße variiert, wie weit sie v»r Beginn der städtisch-handwerklichen Bearbeitungsgänge durch ländliche Arbeit geformt sind. Eine grobe Gliederung der Rohstoffbasis für las städtische Gewerbe ist aber doch möglich: Von den Hart-, Bunt- und Edelmetallen, Stein und Erde als mineralischen kann man die pflanzlichen Rohstoffe wie Holz, Textilfasern (Flachs, Hanf, Baumwolle), von ihnen wiederum die tierischen (Wolle, Leder, Pelze, Horn, Knochen) abgrenzen. Sie alle werden zu Werkzeug, Bekleidung, Hausrat usw. verarbeitet oder als Ener­ giestoff vernutzt. Demgegenüber stehen die Rohstoffe, die der Ernährung dienen und meist weniger intensiver Bearbeitung bedürfen. Die Werkzeuge, nur grob zugeschnitten auf die dem Rohstoff inhä­ renten materialen Eigenschaften und die Qualität und Funttion des End­ produkts und nur rudimentär verbindbar mit mechanisch übertragba­ ren Kraftquellen, müssen somit unter direktem Einsatz von Körperkraft und Geschicklichkeit angewandt werden. Dies erfordert intensives und dauerhaftes Training, der Mangel an Werkzeugproduktivität muss durch möglichst enge Anpassung der Arbeit ans Instrument und durch intime Kenntnis der natürlichen Eigenschaften des Rohstoffs ersetzt werden. Marx vergleicht die Qualität dieser Verbindung von Arbeitskraft und Arbeitsmittel treffend mit der der Schnecke mit ihrem Schneckenhaus. Aus demselben Grunde sind der qualitativen Zerlegung des Arbeitspro­ zesses (innerbetriebliche Arbeitsteilung) engste Grenzen gesetzt, die Formverwandlung des Rohstoffs zum Gebrauchsgegenstand wird in der Regel von einer Person vollzogen - es sei denn, dieser ist zu komplex zusammengesetzt (Baugewerbe) oder jene verlangt Verarbeitungspro­ zesse, die sich qualitativ und zeitlich zu sehr voneinander unterscheiden Medieval Town Patriciate, in: Past & Present 3/1953, S. 15 ff. (wegweisende Pirenne-Kxitik); lohn Merrington: Town and Country in the Transition to Capitalism, in: Rodney H. Hilton (Hrsg.): The Transition from Feudalism to Capitalism, London 1976 [dt. 1984], S. 170 ff. (vgl. auch Hilton selbst in seiner Einleitung, ebd. S. 17 ff.); Robert McAdams: Art. Urban Revolution, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 16, New York 1968; neueste Gesamtdar­ stellung: Edith Ennen: Die europäische Stadt des Mittelalters, Göttingen 1972; dazu die etwas zufällig geratene Sammlung von Aufsätzen von Carl Haase (Hrsg.)-. Die Stadt des Mittelalters, Bd. 1 (Begriff, Entstehung und Ausbreitung), Bd. 2 (Recht und Verfassung), Bd. 3 (Wirtschaft und Gesellschaft), Darmstadt 1969-73.

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(Textilproduktion). Dann sind die Bedingungen individueller Produktion gesprengt, Kooperation oder Querteilung verschiedener Gewerbe (Karl Bücher) werden nötig (dazu unten). Die Produktionsgemeinschaft, der Handwerkerhaushalt hat einen familialen Zuschnitt, der partielle Analogie zum bäuerlichen aufweist: die Gattenfamilie, geführt vom Ehemann (handwerkliches Patriarchat), die familienzyklisch (Eltern, Kinder, unverheiratete Seitenverwandte: im Durchschnitt aber begrenzterer Umfang als im bäuerlichen Haushalt) wächst und schrumpft. Die innerfamiliale Arbeitsteilung erstreckt sich jedoch weniger auf den handwerklichen Arbeitsprozess als auf die Tren­ nung von Haushalts- (Frau) und Berufsarbeit (Meister). Neben die familiale Selbstergänzung beider Funktionen kann jedoch die Rekrutierung der fachlichen Arbeit durch nicht verwandte Gesellen (und Lehrlinge) treten, die ebenso zum Haushalt und Werkstattbetrieb gehören wie, durch Natu­ ralien und/oder Geld entlohnt, einen von der Arbeitsstätte abgesonder­ ten Haushalt führen können. Damit ist aber das Lohnarbeitsverhältnis im bürgerlichen Sinne deshalb noch nicht gesetzt, weil der Geselle in der Regel seine eigenen Arbeitsinstrumente besitzt, also nicht allein sein Arbeitsvermögen an den Meister verkauft. 3 .2 . 2

Produktions- und Austauschprozess Wie die bäuerlichen Hauswirtschaften vorwiegend in den jahreszyklischen Produktionsprozess der Natur selber, so sind die handwerklichen vorwie­ gend in die Beschaffungsbedingungen des Rohstoffs (und der Subsistenz­ mittel) und die Veräußerungsbedingungen des Arbeitsresultats »einge­ keilt«. Diese doppelte Abhängigkeit bestimmt die Organisationsformen des Handwerks ganz wesentlich mit. Durch sie kann der handwerkliche Einzelbetrieb direkt oder indirekt in fünf Konkurrenzebenen eingebunden sein: in die innergewerbliche, die zwischengewerbliche, die innerstädti­ sche, die zwischenstädtische sowie die zwischen Stadt und Land. Dies lassen einerseits die Beschaffungsmodalitäten des Rohstoffs im Ansatz erkennen: Einmal kann er gekauft werden, und zwar indivi­ duell oder durch das betreffende Gewerbe als Kollektiv (Zunftkauf), um dann an die Einzelbetriebe verteilt zu werden. Dies hat den Binneneffekt einer Regulierung der Rohstoffkonkurrenz unter den Einzelbetrieben, den Außeneffekt des »Einkaufskartells« und damit der Regulierung von Preis, Qualität und Quantität des Rohstoffs gegenüber den Verkäufern, den Bauern, Herren, Kaufleuten und vorgelagerten ländlichen und städ­ tischen Gewerbezweigen. Daneben kann der Rohstoff in die Hand des einzelnen Handwerkers oder eines Gewerbezweiges gelangen, ohne dass er in dessen Eigentum übergeht: Er wird gestellt, vorgelegt zur Bearbei­ tung in der Werkstatt (Heimwerk) oder im Haus des Rohstoffeigentümers (Stör) (Karl Bücher).

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6 — Z ur S tru k tu r u nd D ynam ik d e r fe u d a le n P rod u ktio n sw eise

Ebenso die Veräußerungsbedingungen: eine Nachfrage nach hand­ werklichen Produkten (Preiswerk) und handwerklicher Artsit (Lohnwerk) durch Käufer mit sehr verschiedenen Verbrauchsinteresset (direkte Kon­ sumtion [Lebensmittel, Werkzeug, Repräsentation], Weiterverarbeitung, Weiterverkauf), deren schwankenden Umfang, Qualitätstandard und Preisniveau die Handwerker der einzelnen Gewerbezweije dadurch zu steuern suchen, dass sie sich zum »Verkaufskartell« zusanmenschließen (Regulierung des qualitativen und quantitativen Angebotsder Preise, der Verkaufszeiten, -orte, der Reklame usw.). Last not least: Der Handwerkerhaushalt, zum Kauf seiner Lebensmit­ tel gezwungen, kann sich nur durch Zusammenschluss mit seinesglei­ chen gegen die wie immer verursachten Schwankungen von Umfang und Preisniveau dieser Subsistenzmittel schützen (städtische Regulierung der Lebensmittelpreise und -Verteilung). Diese drei Formen bzw. Richtungen der ’Warenzirkulation zwischen Stadt und Land sowie innerhalb der Stadt und die Regulierung ihrer Chan­ cen und Risiken bestimmen allgemein die Struktur der städtischen Waren­ produktion, haben aber für die verschiedenen Gewerbezweige unter­ schiedliches Gewicht. Die innergewerbliche Drosselung der Konkurrenz zur optimalen Nutzung des Rohstoffangebots und des Absatzes (Korporation, Zunft, Amt, Bruderschaft, Innung, Gilde usw.) engt den Hmdlungsspielraum des Einzelbetriebs bedeutend ein (Rohstoffzuteilung, Begrenzung der Zahl der Arbeitskräfte, Festsetzung ihrer Löhne, der Arbeitszeiten und -intensität, des instrumentellen Aufwandes, der Produktmenge, Normie­ rung der Produktqualität und deren periodische Kontrolle, Zuteilung von Verkaufszeiten und -ständen), garantiert ihm aber umgekehrt die Rohstoff­ zufuhr, den Zugang zu notwendigen Betriebsmitteln, die er allein weder anschaffen noch auslasten kann (Walk-, Hammer- u. a. Mühlen; Back-, Schmelz-, Gießöfen; Hütten, Kräne usw.: Man könnte sie als Elemente stadtgewerblicher Allmende bezeichnen!), den Absatz seiner Produkte zum »Zunftpreis«, den Schutz seiner »Meisterschaft«, die Mitwirkung an den zünftigen Riten, die Hilfe im Notfall und die Aufstiegschancen zu zünf­ tigen bzw. städtischen Ämtern. Sie verhindert also die Akkumulation und sichert dem Einzelbetrieb und -gewerbe Arbeit und Subsistenz. Dieser Kreislauf genossenschaftlichen Wirtschaftslebens wird aber prinzipiell durchlöchert durch die Nachfrage nach nicht standardisier­ ten oder qualitativ neuen Produkten. Auf solche ständig sich ändernde Nachfrage können die Gewerbezweige, wollen sie ihre genossenschaft­ liche Organisation nicht aufgeben, nur durch Längsteilung reagieren, das neue Produkt schafft ein neues Gewerbe. Dies gilt besonders für die Leder- und Metallgewerbe, bestes Beispiel ist hier die eisenverarbeitende Waffenschmiede: Hier wird jeder Bestandteil der Ausrüstung im je spezi­ ellen Gewerbe erzeugt. Diese Längsteilung hat zur Folge, dass die Zünfte 233

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oft mehrere Gewerbezweige in sich bergen, andere Gewerbezweige sich von ihnen abspalten oder sogar einzelne Meisterbetriebe außerhalb der Zünfte verbleiben. Desintegrierend wirkt zweitens das individuelle oder gewerbezweig­ liche Lohnwerk, durch welches vor allem die zünftlerische Kontrolle über den Zugang zum und die Verteilung des Rohstoffs verloren gehen kann. Ferner ist die zwischengewerbliche Konkurrenzregulierung durch technologische Zwänge gefährdet, die besonders im Textil- und Bauge­ werbe wirksam sind: Die Verarbeitungsprozesse etwa bei der Tuchpro­ duktion sind so verschiedener Natur (Aufbereitung der Rohwolle, Spin­ nen, Weben, Walken, Trocknen und Strecken, Aufrauhen und Scheren, Färben) und können zudem nur nacheinander erfolgen, sodass eine Querteilung der Arbeit und damit der Gewerbezweige nötig ist. Die »Wanderung« des Rohstoffs durch diese Gewerbe erzeugt Konflikte, die besonders die Kompetenz des Endverkaufs betreffen. Die Objektstruktur der Baugewerbe erzwingt umgekehrt die (relativ) gleichzeitige Tätigkeit verschiedenster Berufszweige, die die Konkurrenz stimuliert und bei (hier vorherrschendem) Lohnwerk die Abhängigkeit vom Kunden befördert. Die - wohl bedeutendste - Gefährdung zünftlerischer Wirtschafts­ autonomie geht vom selbstständigen Handel aus: einerseits durch dessen Import von fremden Rohstoffen, ohne die die lokalen nicht zu verarbei­ ten sind (z. B. Färb-, Gerbstoffe) oder die generell fehlen (z. B. Baumwolle), andererseits durch dessen Export von (spezialisierten) Produkten, die gerade wegen standortbedingter Rohstoffressourcen in einem Ausmaß produziert werden, das die lokale Nachfrage übersteigt und die deshalb auf fernen Märkten verkauft werden müssen, wodurch den Handwerkern/Zünften die Kontrolle über die Verkaufsmodalitäten entzogen ist. Diese - der Möglichkeit nach - doppelte Trennung des Handwerks sowohl vom Rohstoffproduzenten als auch vom Käufer des Produkts bietet dem Handel strukturell die Chance zur ökonomischen »Verknechtung des Handwerkers«, dem Verlag (Max Weber).29 29

Zum Handwerk: Karl Bücher: Art. Gewerbe, in: Ludwig Eisler/Adolf Weher/Friedrich Wieser (Hrsg.): Handbuch der Staatswissenschaften, )ena 1927, S. 966 ff.; Weber: Wirtschaftsgeschichte, S. 110 ff.; Marx: Kapital, Bd. 1, in: MEW, Bd. 23, S. 354 Fn. 24, S. 379 (MEGA2, Bd. II/8, S. 332 Fn. 24, 353 f.); Marx: Grundrisse, in: MEW, Bd. 42, S. 379 f„ 405,419,489,409 (MEGA2, Bd. 11.2, S. 375,401, 413 f., 478 f„ 404); Marx: Resultate, S. 52 ff. (MEGA2, II/4.1, S. 98 ff.); abgesehen von den Artikeln in der СЕНЕ II und III und bei Singer u. a.: A History of Technology, S. 103 ff, wurden heran­ gezogen; Kula: Théorie économique, S. 54 ff.; Bronislaw Geremek: Le Salariat dans l'artisanat parisien aux XIIIe-XVe siècles, Paris 1968 (bes. Kap. 1); Gunnar Mickwitz: Die Kartellfunktionen der Zünfte und ihre Bedeutung bei der Entstehung des Zunftwesens. Eine Studie in spätantiker und mittelalterlicher Wirtschaftsgeschichte, Leipzig/Helsingfors 1936; Reinald Ennen: Zünfte und Wettbewerb. Möglichkeiten und Grenzen zünftlerischer Wettbewerbsbeschränkungen im städtischen Handel und Gewerbe des Spätmittelalters, Köln/Wien 1971; John Harvey: Médiéval Craftsmen, London/Sydney 1975; Ernst Kelter: Geschichte der obrigkeitlichen Preisregelung, Bd. 1: Die obrigkeitliche Preisregelung in der Zeit der mittelalterlichen Stadtwirtschaft, lena 1935; Fridolin Furger: Zum Verlagssystem als Organisationsform des Frühkapitalismus im Tex­ tilgewerbe, Stuttgart 1927; Karls Heinrich Kaufhold: Umfang und Gliederung des deutschen Handwerks um 1800, in: Wilhelm Abel (Hrsg.): Handwerksgeschichte in neuer Sicht, Göttingen 1978, S. 26 ff.

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6 — Z ur S tru k tu r und Dynam ik d e r fe u d a le n P ro:u ktio n sw eise

3.3 Funktion und Struktur des Waren- und Geldhandels

Auch wenn zum Beispiel Karl M arx betont hat, dass das Hendels- und Leihkapital wie ein parasitäres Zwillingspaar nur in den »Polin« der feu­ dalen Gesellschaft, ja allen vorkapitalistischen Gesellschafen mit wie Immer ausgebildeter Waren- und Geldzirkulation existierthat, gehört die nähere Bestimmung seiner Funktion und Struktur notwindig in die Analyse der feudalen Produktionsweise. Ohne jene wären mindestens die Konturen ihrer »Entwicklungsmechanik« (Norbert Elias)nicht ange­ messen zu begreifen. Als grundlegende Voraussetzungen seiner Existen­ zweise sind einleitend (3.1) die parzellierte Verteilungsstruktir des ländli­ chen Surplus, dessen Warencharakter sowie die Existenz des Metallgeldes als die Warenzirkulation vermittelnder allgemeiner Tauschwert genannt worden. Dazu kommt (3.2) die Abhängigkeit des (städtischen)Handwerks von der Lebensmittel- und Rohstoffzufuhr und dem Absatz seiner Pro­ dukte. Das Handels- und Leihkapital geht vom - wie immer entstandenen - Geldvermögen aus und schiebt sich als Vermittler zwischen die waren­ tauschenden Produzenten/Konsumenten, fungiert also als verselbst­ ständigte Instanz der Waren- und Geldzirkulation zwischer und gegen deren Pole(n) mit dem Ziel, aus solcher Mittlerrolle »Kapital« zu schlagen (Veräußerungsprofit: G-W-G’, G-G’). Insofern verhält es sichumgekehrt zu den ihren Surplus, ihre Revenue bzw. ihr Gesamtproduktgegen Konsumtions- und/oder Produktionsmittel eintauschenden Bauern, Herren und Handwerkern und modifiziert zugleich diese Austauschverhältnisse. 3 .3 .1

Der Warenhandel Die einfachste Form des geldvermittelten Warenhandels besteht in der Sequenz: Kauf, Ortwechsel und Verkauf von Ware(n), vollzogen von ein und derselben Person. Somit sind Geld, Transportmittel (und -wege) und Kenntnis der Ein- und Verkaufschancen der Ware(n) die allgemeinsten Bedingungen des Handels; die letzte dieser Bedingungen ist der Grund dafür, dass weniger sesshafte Gruppen im Handel häufig sind. Diese Bedingungen differenzieren sich jedoch in dem Maße, wie die Handels­ akte gleichzeitig und in systematischer Wiederholung durch mehrere Personen erfolgen, die nicht auf Befehl (Zwangshandel) und im Kollektiv, sondern auf eigenes Risiko und individuell handeln, und in dem Maße, wie Umfang, Intensität, räumliche Reichweite und Tempo der Warenund Geldzirkulation wachsen. Beide Phänomene geben dem Handel im vorindustriellen Europa seine spezifische Gestalt. Die wichtigsten For­ men der Differenzierung dürften sein: — Die Eigentumsverhältnisse am Startkapital differenzieren sich: Es wird von mehreren Personen (als stillen oder aktiven Teilhabern) ein­ gelegt oder (auf Kredit) geliehen, und zwar mit verschiedenen Haf­ tungsbedingungen (Trennung des Geldgebers vom Kaufmann). Die 235

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Einleger verteilen dabei ihr Geld auf verschiedene Handelsvorgänge (Fahrten) und Handelsunternehmen (Firmen). — Die Einkaufsbedingungen der Handelswaren werden durch kontinu­ ierliche Marktbeobachtung (Trennung von Zentrale und Filiale mit immunitätsähnlichen Rechten innerhalb fremder Macht- bzw. Markt­ zentren), bargeldlosen und privilegierten Warenbezug verbessert (Borgkauf, Einkaufsmonopol, Vorkaufsrecht, Stapelzwang). — Die Eigentumsverhältnisse an den Transport mittein (Packtier, Karren, Fluss-, Seeschiffe) differenzieren sich (z. B. Partenreederei); der Spedi­ teur (Fuhrmann, Kapitän) trennt sich - in welcher Rechtsform immer - vom Eigentümer(-kollektiv) der Waren bzw. des eingelegten Geldes. — Der Warentransport selbst wird durch termingebundenen und kol­ lektiven Vollzug (Karawanenform) mit bewaffneter Begleitung bzw. durch Schutz- und Benutzungsprivilegien für die betreffenden Han­ delswege gesichert, durch Zollprivilegien verbilligt. Das Verlustrisiko des Warentransports wird durch Verteilung der Waren auf mehrere Transportmittel, Abschluss von Versicherungen, Erwerb von Strand­ rechten usw. verringert. — Die Bedingungen des Warenverkaufs werden (dem Einkauf analog) verbessert: Beobachtung des Absatzmarktes, Absatzmonopol, Lage­ rung der Ware (Beeinflussung der Preisbildung), Kreditverkauf (Liefe­ rung vor Zahlung) u. a. m. — Endlich differenzieren und verbessern sich die Formen des Zah­ lungsverkehrs (Wechselbank, Scheck), der risikolosen Stilllegung und Abrufbarkeit der Handelserfrage (Rentenmarkt, Deposit u. a.), der Kommunikation (Schriftverkehr) und Rechnungslegung (Positions­ zahlensystem, [doppelte] Buchführung). Die hier vorwiegend auf der Ebene des isolierten Kauf-Transport-VerkaufZyklus aufgereihten Formen der Entfaltung, die man begrifflich in Ana­ logie zum Handwerk zur funktionalen Längs- und Querspaltung (und -Verbindung) des Zyklus zusammenfassen könnte (Arbeitsteilung/Kooperation), gewinnen an Komplexität, wenn man sie sich als zur Gesamt­ struktur der durch Kaufmannskapital vermittelten Warenzirkulation innerhalb der Regionen mit dominanter feudaler Produktionsweise und deren Peripherien (Handelskolonien, »Welthandel«) vorstellt. Sie dienen jedoch alle den gleichen Zwecken: der Maximierung der Gewinnchancen und Minderung des Risikos im Rahmen verschiedener Konkurrenzebe­ nen, (wohl) an erster Stelle der innerkaufmännischen, dazu der mit dem Privilegien spendenden und luxuskonsumierenden Adel, dem rohstoffund absatzbedürftigen Handwerk und den ländlichen Produzenten (hier besonders der bäuerlichen Textilproduktion und dem Montangewerbe). Es würde den Rahmen dieses Aufrisses sprengen, wollte man auch nur in Grundzügen die qualitativen Aspekte dieser Warenzirkulation erläu-

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6 — Zur S tru k tu r und Dynam ik d e r fe u d a le n P r o d u k tio n s w e is e

lern, d. h. die Bewegungsrichtungen und Tauschzentren der verschiede­ nen Warenkategorien selber. Doch darf man nicht unterschlagen, dass Herkunft, Transportbedingungen, Gebrauchswert, Konsumentengrup­ pen der verschiedenen Waren (man denke an Unterschiede wie PfefferGetreide; Rohbaumwolle-Tuch; Roheisen-Brustpanzer; Hering-Zobelpelz; Salz-Alaun; Sklaven!) dem jeweiligen Händler Gewinnerwartung und -risiko geradezu vorgeben, damit zugleich auch die Form der Kon­ kurrenz und Selbstorganisation. Ganz allgemein kann wohl gelten: Je seltener das Produkt, je prestigefördernder sein Besitz und je höher sein Beschaffungsrisiko, desto größer der Handelsgewinn - daher erbringt der Fernhandel die größten Gewinne und führt zum engeren Kontakt mit dem luxusbedürftigen Adel. Im umgekehrten Fall: Der besonders den bäuerlichen Surplus »verhökernde« Lofca/handel steht dem städtischen Handwerk nahe und hat geringe Akkumulationschancen. 3 .3 . 2

Der Geldhandel Logisch hat der Geldhandel mehrere Ursprünge, die für die Klärung sei­ ner Rolle innerhalb der feudalen Produktionsweise zu unterscheiden sind. 1 . Die parzellierte Verteilung der Revenuequellen hat (auch) eine räumliche Zersplitterung der Währungsverhältnisse zur Folge (Münz­ hoheit, Geltungsbereich einer bestimmten Münze, Verrufungsrecht u. a.). Der Käufer mit (am Ort) entweder fremder oder verrufener, d. h. ungülti­ ger Münze muss diese gegen Entgelt in gültige Umtauschen oder umprä­ gen lassen (wechseln), um seinen Kauf tätigen zu können. Dort also, wo die Funktion des Geldes als Zirkulationsmittel sich konzentriert, am Markt (Konsumentem/Produzentenmarkt oder Händlermarkt: Messe), sind Wechsler und Münzer nötig. 2 . Mit der geldvermittelten Warenzirkulation ist vorausgesetzt, dass der Verkauf einer Ware und deren Bezahlung zeitlich getrennt werden können. Dies gründet einerseits in der Differenz sowohl der Produkti­ onsdauer bzw. des Produktionstermins verschiedener Waren als auch des Produktions- und Verkaufsorts derselben Ware, andererseits im »Nutzungsverkauf« (Miete/Pacht): Entweder erhält also der Käufer die Ware, bevor er sie bezahlt, oder er zahlt, bevor er ihren Preis vernutzt hat. Neben diesen, dem reinen Warentausch entspringenden Arten der Geld­ schuld, die besonders den Warenhandel und die gewerbliche Produktion betreffen, treten aber, dies ist äußerst wichtig, andere Voraussetzungen der Geldschuld, die mit der wie immer entwickelten Monetisierung der Appropriationsverhältnisse gegeben sind. Derartige Geldschuld entsteht bei den Bauern durch wirtschaftliche Not: Ernteausfall, Brand, Krieg, Epidemie und Ähnliches können ihr Arbeitsresultat in einem Maße schrumpfen lassen, dass sie sich zur Subsistenz ebenso wie zur Aufbrin­

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gung ihrer Rentenpflichten durch Geldleihe verschulden müssen; dazu kommt die Rentenerhöhung durch den Grundeigentümer. Umgekehrt leitet sich das Kreditbedürfnis des Adels - neben dem Schrumpfen der ländlichen Revenue - aus der zeitlichen Differenz zwischen dem Ein­ gang der Geldrente (bzw. der Verwandlung von naturaler Revenue in Geld durch Verkauf) und dem unregelmäßigen, ja stoßweisen Geldbedarf ab (Krieg, Lösegeld, aktuelle Distributions- bzw. Konsumtionsanlässe: (Wahl-)Geschenke, Feste u. a. m.). Gebühren aus Währungswechsel sowie Zinsen aus Verbrauchs- (weni­ ger Investitions-)Darlehen stellen also die Gewinnformen eines Geldhan­ dels dar, dessen Akkumulationschancen in dem Maße variieren, welchen Umfang das Startkapital hat und wem es verkauft bzw. geliehen wird: dem Adel, dem Kaufmann, dem Bauern oder Handwerker. Damit ist auch der zinstragende Geldhandel in die gleichen Konkurrenzebenen einge­ bunden wie der Warenhandel und entwickelt analoge Organisations­ formen zur Maximierung der Gewinnchancen und zur Minderung der Risiken bzw. verbindet sich dem Warenhandel oder wächst aus diesem hervor.30 3 .3 . 3

Folgerungen Die Erläuterung der Struktur und Funktionsweise von Handels- und Wucherkapital erlaubt nun Folgerungen, die für die Gesamtstruktur {und Dynamik) der feudalen Produktionsweise im vorindustriellen Europa beträchtliches Gewicht haben. 1 . Waren- und Geldhandel tragen zur Erweiterung der Warenproduk­ tion und zur Monetisierung der Austausch- und Appropriationsverhält­ nisse bei. »Erweiterung« heißt aber eben nicht »Verallgemeinerung« - ein erheblicher Teil der produzierten Güter innerhalb der ländlichen Produk­ tions- und Appropriationssphäre geht nicht in die Warenzirkulation ein. 30

Zum Waren- und Geldhandel: Karl M arx im »Kapital«: »Geschichtliches über das Kaufmannska­ pital« (Kapital, 3. Bd., in: MEW, Bd. 25, S. 335 ff, [MEGA2, Bd. 11/15, S. 316 ff.]), »Vorkapitalistisches« zum zinstragenden Kapital (Kapital, 3. Bd„ in: MEW, Bd. 25, S. 607 ff. [MEGA2, Bd. 11/15, S. 583 ff.]), Teile von »Genesis der kapitalistischen Grundrente« (Kapital, 3. Bd., in: MEW, Bd. 25, S. 798 ff. [MEGA2, Bd. 11/15, S. 765 ff.]) und zum mittelalterlichen Zunftverhältnis: Marx: Resultate, S. 52 ff. (MEGA2, II/4.1, S. 98 ff.) sowie die Vorbemerkungen zu diesen Passagen in Michael/Kuchenbuch: Feudalismus, S. 229 ff., und Weber: Wirtschaftsgeschichte, S. 174 ff.; СЕНЕ II/III, FEHE I, S. 274 ff.; Aloys Schulte: Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutsch­ land und Italien m it Ausschluß von Venedig, Bd. 1, Berlin 1966 [1900]; Ingolf Ahlers/Helm ut Orbon/Rolf Tolle: Zur politischen Ökonomie des Handelskapitals. Ein Beitrag zur historischen Dimension der Weltgesellschaft, in: Klaus Jürgen Gantzel (Hrsg.): Herrschaft und Befreiung in der Weltgesellschaft, Frankfurt а. M. 1975, S. 115 ff.; Clemens Bauer: Unternehmung und Unter­ nehmensformen im Spätmittelalter und in der beginnenden Neuzeit, Jena 1936; Bruno Kuske: Die Entstehung der Kreditwirtschaft und des Kapitalverkehrs, in: ders.: Köln, der Rhein und das Reich. Beiträge aus 5 Jahrzehnten wirtschaftsgeschichtlicher Forschung, Köln/Graz 1956 [1927], S. 48 ff.; Raymond de Roover: L’Evolution de la Lettre de Change, XIV'-XVIII' siècles, Paris 1953; Michael M. Postan: Credit in médiéval trade, in: The Economic History Review 1/1927-28, S. 234 ff.; Gabriel LeBras: Art. Usure, in: Dictionnaire de théologie catholique, Bd. XV, Paris 1950, Sp. 2315 ff.; Philippe Dollinger: Die Hanse, Stuttgart 1966, S. 186 ff., 209 ff.; Hartmut Schiele/ Manfred Rickcr: Betriebswirtschaftliche Aufschlüsse aus der Függerzelt, Berlin 1967.

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6 — Zur S tr u k t u r u n d D ynam ik d e r feudalen P r o d u k tio n s w e is e

Letztere behält prinzipiell ergänzenden Charakter.Wer von den bäuerli­ chen Hauswirtschaften z.B. als »einfachen Warenproduzenten« ausgeht, verkennt diesen grundsätzlichen Sachverhalt.31 2 . Waren- und Geldhandel bringen die ländlicht und städtisch-hand­ werkliche Produktion sow ie das Herreneigentum Ln eine ökonomische Abhängigkeit zu sich, d ie es erlaubt, einen Teil ihrer Gewinne zur Siche­ rung und Erweiterung ihrer Handlungsspielräune zu benutzen: defi­ nitiver Kauf (Eigentum), bedingter Erwerb (Leihe, Nutzungsrechte ver­ schiedenster Art) oder auch Usurpation von Privikgien (Freiheiten), von denen teilweise bereits die Rede war. Sie betreffendie Währungsverhält­ nisse (Präge- und Wechselrecht, Bestimmung des Geltungsbereichs von Geldsorten), die Warenzirkulation (Wegezölle, Marktgebühren, Stapel, Einkaufs- und Verkaufsmonopole) sowie die militärische und rechtliche Sicherung ihrer ökonom ischen Tätigkeit (Markt-, Stadtgericht, rechtli­ che Autonomie innerhalb der Berufszweige [Gilden], Bewaffnungsrecht, Befehl über städtische Truppen usw. bis hin zur alle diese Elemente ver­ bindenden Stadtherrschaft). 3 . Mit dieser Aufzählung ist bereits angedeutet, welche politischen und ökonomischen Grenzen dieser Emanzipation gesetzt sind: das wie immer zersplitterte Boden- und Gewaltmonopo/ des Adels sowie die länd­ liche und städtisch-handwerkliche Produktion selbst. Einmal ist die Tren­ nung des Adels von Grundeigentum und Gewaltmitteln nur begrenzt möglich (vorwiegende Stadt-, nicht Landesherrschaft, Erwerb von reve­ nuetragendem städtischen und ländlichen Grundbesitz). Zudem lässt - wie oben angedeutet - der Adel diese partielle Tren­ nung eben in der Regel nur um den Preis zusätzlicher Revenue zu. Alle Handels- und Stadtprivilegien sind unter diesem Gesichtspunkt Aus­ druck einer Teilung des Zirkulationsgewinns zwischen Adel und städti­ schem (Handels-)Bürgertum. Damit doppelt sich die Zersplitterung der Surplusappropriation innerhalb der feudalen Produktionsweise: Neben die unmittelbare des Produktionsbereichs tritt die sekundäre des Zirku­ lationsbereichs. Der Erwerb von revenuetragendem Grundbesitz (samt der zugehörigen Gerichtsrechte) hat die partielle »Feudalisierung« der betreffenden Personen zur Folge. Die andere Begrenzung besteht darin, dass die bäuerlichen und hand­ werklichen Produzenten nicht generell von ihren objektiven Produktions­ bedingungen (Boden und/oder Arbeitsinstrumenten) trennbar sind. Sie können deshalb nicht generell zu Lohnarbeitern im bürgerlichen Sinne »verwandelt« werden. Dies gelingt nur in Produktionsbereichen - und 31

Diese Verzeichnung ist (noch immer) in der DDR-Forschung verbreitet. Sie beruht auf Ausfüh­ rungen von Engels, die eine partiell missverständliche Auslegung der ersten Kapitel des ersten Bandes von M arx’ »Kapital« darstellen (vgl. dazu die Vorbemerkung zu I D.I und den ersten Text von Engels in Micharl/Km henburh: Feudalismus).

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auch dort n ur partiell wo der zur Produktion notwendige Einsatz oder Aufwand von Arbeitsinstrumenten und Energiequellen die Möglichkei­ ten der (bäuerlichen oder) handwerklichen Einzelbetriebe oder Innungen übersteigt, etwa in bestimmten Bereichen der Montanproduktion. Dazu kommt die Form des ländlichen oder städtischen Verlags, wo es gelingt, die Produzenten von ihren Produktionsinstrumenten (Webstuhl usw.) rechtlich zu trennen. Doch auch wenn das Handelskapital Eigentümer dieser Arbeitswerkzeuge ist, verbleiben diese in der Regel im Einzelbe­ trieb. Die Zusammenfassung der Produzenten im Großbetrieb (Manufak­ tur), d. h. die räumliche Trennung der Produzenten von ihren Arbeitsin­ strumenten, bleibt eine Ausnahmeerscheinung. Waren- und Geldhandel bleiben somit grundsätzlich auf die Exploita­ tion der Zirkulationssphäre beschränkt. Diese bietet jedoch so ergiebige Akkumulationsmöglichkeiten, dass Ansätze zur Subsumtion von Reve­ nuequellen möglich sind, die nicht der Zirkulationssphäre zugehören.32 3.4 Zusammenfassung

Das auffälligste ökonomische Kennzeichen von (zur Stadt integriertem) Handwerk und Handel im Gegensatz zur ländlichen Produktion und Surplusappropriation ist, dass der Boden als Produktionsmittel bzw. -gegenständ und Appropriationstitel nur sekundäre Bedeutung hat. Dem Handwerk dient er als »Sitz« von Wohnung und Werkstatt, dem Handel als Wohnung und Weg (Straße), beiden als ergänzende Subsistenzquelle. Auch im »Produktionsprozess« werden differente Produktionselemente miteinander verbunden, im Handwerk Meisterschaft, Werkzeug und Rohstoff (plus Energie), im Handel Markt- und Transferkenntnis, Trans­ portmittel und zu tauschende Ware (Produkt/Geld). Systematische Wei­ terverarbeitung sowie systematischer Orts- und Eigentumswechsel vom Boden, Produzenten und Surplusempfänger losgelöster Produkte als Waren sind Ausgangs- und Endpunkt des ökonomischen Handelns, als dessen Perpetuum mobile des Geld fungiert: für das Handwerk als Mittel zum Zweck, für den Handel als Zweck selbst. Der Umfang und Warencharakter des ländlichen Surplus sowie die ökonomische und politische Zersplitterung des Landes erlauben eine ökonomische und politische »Abschichtung« von Handwerk und Handel (innergesellschaftliche Arbeits- und Herrschaftsteilung), deren Koalition die allgemeine Form der feudalen Stadt begründet. Diese nimmt aber spezifische Form in dem Maße an, wie der ländliche Surplus qualitativ/quantitativ, lokal oder regional differiert, welche Form, Dichte und Richtung der Warenverkehr hat und welche Konzentration oder Zersplitterung die lokalen bzw. regionalen Herrschaftsverhältnisse 32

Vgl. den Überblick von Arthur B. Hibbert.The Economic Policies o f Towns, in: СЕНЕ III, S. 157 ff., sowie Merrington: Town and Country.

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6 — Zur S tru k tu r u nd D ynam ik d e r fe u d a le n Pro:~iktionsweise

aufweisen. Die differente Rolle dieser Faktoren und deren Ksmbination begründet die verschiedenen Typen der feudalen Stadt: — den Marktflecken mit lokalem (intraregionalem) Austausd des betref­ fenden ländlichen Surplus gegen gewerbliche Produkte; — die Gewerbestadt mit exportorientierter Weiterverarbeiung lokaler oder regional konzentrierter Rohstoffressourcen: Textilien, Metallwa­ ren, Salz, dazu auch Nahrungsmittel (Wein, Getreide, Bieiu. a.); — die Handelsstadt, einmal als Ausgangs- und Schnittpunkt des (Fern-) Warentransits zu Land und Wasser, zum andern als Umsdiagzentrum des (Fern-)Warenhandels von Massen- bzw. Luxusgütermelbst: Mes­ sestadt; — die Residenzstadt als Konsumtionszentrum des ansässigen Adels, mit den (auch historischen) Ausgangspunkten von Pfalz, Berg, Schloss, Kloster, Bischofssitz bzw. deren Kombination. Die Vorherrschaft des jeweiligen Faktors bestimmt in hohem Maß die Größe, die interne Machtverteilung und das Verhältnis der Stadt zum Umland bzw. zu anderen Städten, also die Vorherrschaft des (stadtsässigen) Adels, der Kaufmannschaft (Patriziat) oder der Gewerbe (Zünfte), die politische Teilautonomie, die Vorherrschaft über das Umland oder umgekehrt, die Koalition von Städten bzw. deren Führungsschichten (Städtebünde) gegen andere oder gegen den regionalen Adel. Diese Fülle von Möglichkeiten städtischer Realstrukturen und Ent­ wicklungen findet ihren jeweiligen rechtlichen Ausdruck in der Plurali­ tät, ja Individualität von Freiheiten (oder Unfreiheiten), die den Einfluss der ländlichen Herrschaftsstrukturen deutlich machen und zugleich beweisen, dass man von im bürgerlichen Sinne formell freier, d. h. rein ökonomisch bestimmter gewerblicher Produktion, Waren- und Geldzir­ kulation innerhalb der feudalen Produktionsweise nicht sprechen kann: Die Formeln G-W, W-G, G-W -G’ und G-G’ als theoretischer Ausdruck rein ökonomisch gedachter Prozesse sind insofern inadäquat, als jede dieser Bewegungen getränkt ist von wie immer wirksamen außeröko­ nom ischen Einflüssen. Wenn auch nicht in dem Ausmaß wie das Land ist die feudale Stadt dennoch bestimmt von der Verschränkung ökono­ mischer und außerökonomischer Zwänge, wobei - das sei hier nur am Rande vermerkt - neben den politischen auch religiösen eine bedeutende Rolle zukommt.33 4 Soziale Struktur 4.1 Vorbemerkung

Im Folgenden sollen die Auswirkungen der aufgezeigten Struktur auf die in sie eingebundenen Subjekte erläutert werden, d. h. die spezifischen 33

Zur Typologie der Stadl allgemein: M ax Weber: Wirt schall und Gesellschaft, S. 983 M'.; zu m ittel­ alterlichen Stadt typen: linnen: Europäische Stadt. S. 149 11.

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II B — T h e o rie a rb e it: K o n s tru k te u n d E n tw ü rfe

Ausformungen der aus dieser Struktur ebenso resultierenden wie sie reproduzierenden sozialen Funktionsbeziehungen. Dabei werden sich Wiederholungen nicht ganz vermeiden lassen. 1 . Es ist unmöglich, die soziale Struktur allein aus den Eigentumsver­ hältnissen bzw. der Kontrolle über die Produktionsmittel (Boden, Roh­ stoff, Werkzeug) zu erklären. Auch wenn klar ist, dass die Struktur des bäuerlichen (und handwerklichen) Produktionsprozesses die Reproduk­ tion des gesamten sozialen Systems bestimmt: Ohne den systematischen Rekurs auf die Appropriations- und Austauschprozesse und deren Mittel kann die Analyse nicht auskommen. 2 . Daraus folgt, dass der wie immer ausgeformte außerökonomische Zwang konstitutiv für die sozialen Funktionsbeziehungen innerhalb der feudalen Produktionsweise ist: Rein ökonomische Bestimmungskriterien reichen dazu nicht hin. Man ist gezwungen, die soziale Differenzierung sowohl ökonomisch als auch politisch zu begründen, sodass sie immer auch in juristischen Kategorien erscheint. 3 . Ähnliche Tragweite hat die festgestellte Parzellierung sowohl der Produktions- wie der Appropriationsstruktur: Dieser Sachverhalt bestimmt die Formen sozialer Integration und die Bewusstseinsverhält­ nisse wesentlich mit. Dies bedeutet, dass die soziale Struktur der feudalen Produktions­ weise durch einen rein ökonomisch konzipierten Klassen begriff nicht angemessen begreifbar ist, zu diesem Konzept hat der Sfandesbegriff zu treten. Die strukturelle Fusion von Ökonomie und Politik bedeutet, dass die ökonomischen Klassen in eine juristisch-politische Standesstruk­ tur eingelassen erscheinen, die einerseits eine grundlegende vertikale Schichtung aufweist (die bekannte Pyramide oder besser: »Zwiebel«), andererseits aber horizontal (d. h. hier: regional/lokal) stark differiert und sich als System insgesamt oder in seinen Teilen nach Maßgabe der ökonomischen und politischen Verflechtung oder Selbstständigkeit ver­ vielfältigt. Um aus dem begrifflichen Dilemma einen Ausweg zu finden, das mit der gängigen Opposition der Begriffe Klasse und Stand gegeben ist, könnte man die Flucht nach vorn antreten und die soziale Struktur der feudalen Produktionsweise als ein Ensemble von ständischen Klassen bezeichnen.34 34

Zum Problem von Klasse, Stand und Schichtung wurde benutzt: Gerhard Lenski: Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt a. M. 1973, S. 108 ff. (dazu Kap. 8/9): Stanislaw Ossowski: Die Klassenstruktur im sozialen Bewußtsein, Neuwied 1962, S. 84,160 ff; Georg Lukäcz: Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, bes. S. 66 ff.; Hans Freyen Sozio­ logie als Wirklichkeitswissenschaft, Stuttgart 1964, S. 264ff.; zu M arx ’ Klassenkonzept: Michael Mauke: Die Klassentheorie von M arx und Engels, Frankfurt a. M. 1970; Ossowski: Klassenstruk­ tur, sowie Aleksandra Jasinska/Leszek Nowak: Grundlagen der Marxschen Klassentheorie. Eine Rekonstruktion, in: Jürgen Ritsert (Hrsg.): Zur Wissenschaftslogik einer kritischen Soziologie, Frankfurt a. M. 1976, S. 175 ff; unzureichend Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 223 ff. (Frag­ ment); Karl Bosl: Kasten, Stände und Klassen im mittelalterlichen Deutschland. Zur Problematik

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6 — Zur S tru k tu r u nd D ynam ik d e r fe u d a le n P r o d u k tio n s w e is e

4.2 Bauern

Folgende Punkte dürften charakteristisch für die Bauern (oder besser: die bäuerlichen Hauswirtschaften) als ständischer Klasse (ca. 90 bis 70 Pro­ zent der Gesamtbevölkerung) innerhalb der feudalen Produktionsweise im vorindustriellen Europa sein: 1. Im faktischen Besitz der Produktionsmittel, integriert in die lokal­ dörflichen Formen der Kooperation (und Arbeitsteilung), produzieren sie im Prinzip selbstständig und orientieren sich am Ziel des direk­ ten Konsums des jährlichen Ertrags, dessen Schwankungen (s. Teil II) sie durch Intensivierung und Ausdehnung der Arbeit (»Selbstaus­ beutung«, A. Tschajanow) bzw. das Gegenteil auszugleichen suchen. Produktionsstimulierende Wirkungen langfristiger Art gründen eher in der bäuerlichen Produktionssphäre äußerlichen Instanzen: dem Appropriationsdruck und den Marktchancen. 2 . Ihre ökonomische Binnendifferenzierung (Schichtung) ist bestimmt durch Art und Menge der entscheidenden Produktionsmittel (Acker­ fläche, Zugvieh, Pflug), findet aber ihre obere Grenze an der Arbeits­ kapazität der Haushaltsgemeinschaft (Vo//bauernhof), ihre untere am Minimum der Ausstattung mit Land, vor allem aber allmendlichen Nutzungsrechten (Kätner). Fehlt diese, dann verliert der ländliche Produzent seine bäuerliche »Qualität«: Er ist ökonomisch abhängig und kann keine Familie bilden (Tagelöhner). Diese Differenzierung in drei Schichten - dazu kommen noch die Gruppen der dörflichen oder ländlichen Handwerker mit bäuerlichem Nebenbetrieb - zeigt zugleich die Grenzen vertikaler Mobilität an: Die - ohnehin schwierige - Akkumulation von Produktionsmitteln führt schnell an den Punkt, wo die Haushaltsgemeinschaft allein (oder mit Hilfskräften) die erfor­ derlichen Arbeiten nicht mehr zu bewältigen vermag, diese also an andere Haushalte delegieren muss - und zwar entweder unter dem »Kommando« des großbäuerlichen Hausherrn oder gegen Zins, dann wird Letzterer tendenziell bereits Grundherr - »entwächst« der bäu­ erlichen Arbeitssphäre -, oder der Hof zerfällt wieder in »normale« selbstständige Einheiten. Umgekehrt bedeutet die Trennung von den wichtigsten Produktionsmitteln - wie angedeutet - den Verlust des bäuerlichen Status (hierbei spielen natürlich auch die lebens- und familienzyklischen Gegebenheiten ihre Rolle). 3 . Wie in Abschnitt 2.1 entwickelt, kann der von den Bauern erwirtschaf­ tete Surplus im Wesentlichen nur über Beziehungsformen appropriiert werden, die nicht aus dem Produktionsprozess selber hervorgesoziologischer Begriffe und ihrer Anwendung auf die mittelalterliche Gesellschaft, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 32/1969, S. 477 ff.; nützliche Bemerkungen, allerdings ausge­ hend vom engen soziologischen Schichtungsbegriff, bei Michael Mitterauer: Probleme der Stratifikation in mittelalterlichen Gesellschaftssystemen, in: So/.ialwissenschaflliche Informationen für Unterricht m ul Studium 5 /1‘)76. S. 67 II.

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hen: Sie überlagern gewissermaßen die Produktionssphäre und sind verankert in deren wesentlichen Elementen: den Produzenten selbst oder den Produktionsmitteln. Die Voraussetzungen für die schier unübersehbare Vielfalt der konkreten Ausformungen des appropriierten Surplus wurden in Abschnitt 2.2 als »Struktur der Grundrente« Umrissen. Auf bäuerlicher Seite stellen sich diese Ausformungen als Variationen der generellen Form einer Freiheitsminderung dar, eine gewohnheitsrechtlich fixierte Standesqualität, die hier - analog zu anderen vom Lateinischen abgeleiteten nationalsprachlichen Fach­ termini (engl, serfdom, frz. servage, ital. servilita) - Servilität genannt werden soll.35 Der Grundelemente sind: beschränkte Freizügigkeit (Schollenbindung), beschränkte Veräußerungsbefugnis des Bodens (Verkaufs- bzw. Vererbungskonsens des Herrn), Beschränkung der Gattenwahl (Heiratskonsens), beschränkte Disposition über das per­ sönliche (oder familiale) Arbeitsvermögen (pro Tag, Woche oder Jahr: Frondienst), die Arbeitsgeräte (deren Heranziehung beim Frondienst, Gebühr für die Benutzung solcher, deren Errichtung und Betrieb sich der Herr vorbehält), das jährliche Arbeitsresultat überhaupt sowie den Güterbestand am Ende des Lebens (Todfall). Natürlich bedeutet diese Aufzählung nicht, dass deren Elemente in ihrer Gesamtheit zu jeder konkreten Ausformung der Servilität gehören müssen, dies ist gerade nicht der Fall: Lokale und regionale Unterscheide und zeitliche Verschiebungen beherrschen das Feld. Die allgemeine ratio dieser Formenfülle besteht jedoch darin, die Bauern­ wirtschaften dauerhaft (alsfamilia, »Eigenleute«, »Untertanen« usw.) an den Herrn zu binden, damit die kontinuierliche Appropriation des Surplus gesichert ist. 4 . Zur Durchsetzung solcher Kontinuität (im Gegensatz dazu: der akzi­ dentelle Raub) gehört weiter, dass die Bauern von den militärisch ent­ scheidenden Gewa/tmitteln, den wichtigsten Rechtsprechungsbefug­ nissen und Heilm itteln getrennt sind. 5. Das Doppelverhältnis der Arbeit für sich und andere, die über die phy­ sischen und psychischen Sanktionen verfügen, prägt das Bewusstsein der Bauern als serviler Klasse. Ihre wirtschaftliche Unabkömmlich­ keit, die mangelnde Verfügung über Gewalt- und Rechtsmittel, die fehlende Übung in kontrollierter und effektiver Gewaltanwendung, die lokale Zersplitterung und der ihr entsprechende Bewusstseins­ und Interessenhorizont sowie die Furcht vor körperlicher und see­ lischer Strafe und sozialer Ächtung in Rechnung gezogen, bleiben 35

Diese N eubildung scheint uns am besten geeignet, die deutschsprachige Konkurrenz der Begriffe »Leibeigenschaft« und »Grundhörigkeit« zu umgehen. Die Abgrenzung beider Begriffe bereitet, trotz der Unterscheidung der Bindung an die Person bzw. an den Boden des Herrn doch im m er wieder Schwierigkeiten. Der Begriff der Servilität soll eben beide Aspekte der Freiheits­ minderung in sich vereinen.

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6 — Z u r S tru k tu r und Dynam ik d e r fe u d a le n P r o u k t io n s w e is e

ihnen dennoch Möglichkeiten, sich gegen die Fortschrefbung oder Verschlechterung ihrer persönlichen Beschränkungen und Renten­ pflichten aufzulehnen: die Flucht (in die Stadt oder zu eirem »besse­ ren« Herrn), der befristete oder dauerhafte (aber partielle) Freikauf, die versteckte oder offene Arbeits- bzw. Gehorsamsverweigerung, die Stärkung der lokalen Solidarität (Dorfgenossenschaft), die\ppellation an das gewohnte (»alte«) Recht vor übergeordneten Instanzen, die Bil­ dung von Selbstschutzbünden und die vereinzelte bzw. organisierte, vorwiegend aber lokal bzw. regional begrenzte Gegengemlt (Revolte, Aufstand). 6. Durch den herrschaftlichen Rentendruck, den bäuerlichen Wider­ stand dagegen sow ie die wechselnde ökonomische Konjunktur (s. Teil II) treten, dies macht eine der großen Schwierigkeiten für die Analyse der Bauernschaft als serviler Klasse aus, die rechtiständische und die ökonomische Lage ständig in Widerspruch zueinander: Die Geschichte der Befreiungen und Verknechtungen der Bauernschaft im Feudalismus ist von diesem Widerspruch maßgeblich bestimmt.36 4.3 Adel

Der kollektive Status des europäisch-feudalen Adels (Aristokratie) - circa zwei bis acht Prozent der Gesamtbevölkerung - ist bestimmt durch: — im Wesentlichen aus der bäuerlichen und domanialen (Salland-)Agrikultur, dazu aus dem Abbau nicht agrikoler Bodenressourcen, hand­ werklicher Produktion und Zirkulation von Gütern, Waren und Geld, zuletzt aus der Beute von (internen wie externen Kriegshandlungen) bezogenen Renteneinkommen: feudale Revenue; — Waffenmonopol und Übung »rechter« Gewalt (nach innen und außen); — jurisdiktioneile Befugnisse (Garantierung bzw. Wiederherstellung von »Friede« und »Recht«: Hoch- und Niedergericht);

— Befugnisse religiöser Heilsvermittlung und -Verweigerung; — angeborenen freien Stand; — ostentativen Konsum und — dementsprechende Sozialisationsformen. Diese definitorische Aufreihung gewinnt aber erst spezifische Kontur, wenn der Funktionszusammenhang der genannten Elemente als Struk­ tur entfaltet, d. h. wenn sie als Ensemble der Reproduktionsbedingungen des Adels als ständischer Klasse begriffen werden. Dies systematisch zu 36

Die besten Zusammenfassungen stammen von Rodney H. H ilton in Michael/Kuchenbuch: Feu­ dalismus; ders.: The Peasantry as a dass, in: The English Peasantry in the Later M iddle Ages, Oxford 1975; ders.: Introduction, in: Hilton: Transition from Feudalism; nützliche historische Überblicke: Guy Fourquin: Le paysan d'Occident au Moyen Âge. Paris 1972; Günther Franz: Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970; ders. (Hrsg.): Deutsches Bauerntum im Mittelaller, Darmstadt' 1976 (darin die Beiträge von Otto Brunner, Karl Bosl, I ritz Rörig, Peter Blickle, Hanns-Hubert Hofmann); dazu die in Anm. 20 und 27 genannte Literatur.

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tun, ist äußerst schwierig und kann hier nur im ersten Anlauf und mit wichtigen Einschränkungen37versucht werden. Wenn, wie in den Abschnitten 1.1.2 und 2.1 ff. zu zeigen intendiert wurde, aus der parzellierten bäuerlichen Produktionsstruktur eine weit­ gehend »analoge« Appropriationsstruktur des Surplus hervorgeht, dann muss dies das soziale Binnengefüge des Adels wesentlich bestimmen. 1. In der Tat erweist sich dies als ein (oft »feudale Anarchie« genann­ tes, besser »Polyarchie« [Hegel] zu nennendes) Konkurrenzsystem, inner­ halb dessen jede Person oder Gruppe um Erhalt oder Vergrößerung des aktuellen Anteils an der Gesamtrevenue kämpft, und zwar mit der Voraussetzung, dass die Gewaltmittel in »jedermanns Hand« sind und gegeneinander benutzt werden (können). Dieser »individualisierte« Dis­ tributionskampf macht - wie M ax Weber treffend formuliert - nur ein »Paktieren von Fall zu Fall« möglich. 2 . Neben - rigiden (agnatischen) und lockeren (kognatischen) - Verwandtschafisverhältnissen, deren Bindungskraft nicht unterschätzt werden sollte (Marc Bloch), ist es besonders eine spezifische Beziehungs­ form, die diese Konkurrenz zu regulieren vermag: derfeudo-vasallitische Nexus, eine Institution, die (angeborene) Freiheit mit (politischer) Unterordnung vermittelt. Dieser Nexus besteht im Austausch von vor­ wiegend militärischem, dazu aber judikativem und administrativem Dienst (gefasst als Rat und Hilfe) auf der Seite des Vasallen gegen Lehen (= rententragende Komplexe von Rechten; Max Weber) auf der Seite des Herrn. Er wird geschlossen auf der Grundlage reziproker Treueerwartung als (negativ aufgefasster) Verhaltensgarantie, die bei Abschluss des Pakts durch persönlich geleisteten und sakral verbrämten Eid versprochen wer­ den muss. Diese - vertragsähnliche - Beziehungsform ist insofern fragil, als sie nur zwischen einzelnen Personen eingegangen werden kann und somit im Falle des Todes einer der Beteiligten erlischt (Herren-, Mannfall), oder bei Nichterfüllung der ausgehandelten Verpflichtungen (Treubruch, Felonie) gekündigt und gerächt werden kann (Fehde, Widerstandsrecht). 3 . Ermöglicht die systematische »Vervielfältigung« des feudovasallitischen Nexus (zusammen mit ergänzenden bzw. konkurrierenden Beziehungsformen: Verwandtschaft, Ministerialität, Wahl u. a.) die Bildung 37

Die wichtigste davon ist die Ausklammerung der Stanfsproblematik. Dies hat nicht nur sach­ liche Gründe. H ier wäre nicht nur - m it wenigen Sätzen - das wohl schwierigste Problem der Verfassungsgeschichte zu lösen, sondern ein Begriff von der vorindustriell-feudalen Staats­ struktur zu entwickeln, unter den die wichtigsten verfassungsgeschichtlichen Epochenbegriffe wie Personenverbandsstaat - territorialer Flächenstaat, Reich - Nationalstaat - mittelalterliche Feudalmonarchie - absolutistischer Ständestaat subsumierbar sein müssten. Aber auch metho­ disch ist es problematisch, die Staatsstruktur auf der Ebene des Begriffs der Produktionsweise zu behandeln: Der Charakter der Grundherrschaft als halb privater, halb öffentlicher Institution spricht dafür, der Zweifel an der Deckungsgleichheit von herrschender Klasse und Staat dage­ gen. Zu diesem Problem jetzt die Erwägungen von Anderson: Lineages, S. 43 ff. und 397 ff., unter kritischer Berufung auf die grundlegenden Untersuchungen zur vergleichenden Verfassungsge­ schichte von Otto Hintze: Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, Göttingen 1962, bes. S. 120 ff. Zu weiteren »Lücken« s. Fn. 39.

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6 — Z u r Struktur und Dynam ik d e r fe u d a le n P ro d u k tio n s w e is e

und Erhaltung (über-)regionaler Herrschaft (Monarie, Reich, Landesherr­ schaft) in der Gestalt einer komplex geschichteten Hierarchie von ständisch unterschiedenen und korporierten Herreneigentümern, so reproduziert sich doch innerhalb dieses Systems eine horizontale Spaltung zwischen dem die »große« Politik bestimmenden, aus wenigen Familien (Häusern) bestehenden hohen Adel (Reichsaristokratie) und einer numerisch wesent­ lich umfangreicheren, vertikal relativ mobilen »aristocratie de second rang« (Philippe Contamine), die der Durchsetzung der Interessen des hohen Adels dient, zugleich aber nach Vergrößerung der verleimten Reve­ nue und der Erhöhung des sozialen Prestiges strebt (Ritter, Burgherrn usw.). 4 . Komplexer wird diese soziale Struktur noch dadurch, dass außer­ weltliche (religiös-magische) und innerweltliche (politisch-soziale) Legitimationszwänge die - historisch in Grundzügen ererbte - vertikale Spaltung des Adels reproduzieren: die Trennung in den laikalen und kle­ rikalen Stand (ordo: bellatores und oratores). Letzterer ist noch zusätzlich gespalten in amtscharismatisch spezialisierte Heilsvermittler, die Pries­ ter (Hierokratie vom Papst hinunter bis zum Pfarrer) und zu »Virtuosen­ religiosität« (Weber) erzogene Heilssucher, die Mönchsorden (mit stark differierenden Organisationsformen). Beide »Stände« bilden zusammen ein »pattem of alternate endowment and deprivation« (Hilton), das die spezifische Form feudaler Konkurrenz um die Gesamtrevenue, um die Machtverteilung (damit die »Konjunkturen« der Politik: Krieg und Frie­ den) und die Legitimität prägt. Das Eigentümliche dieser Konfliktstruk­ tur (»pattem«) besteht in der Überschneidung bzw. Verschränkung der Kompetenzen in so gut wie allen Bereichen der Revenue-, Gewaltmittel-, Sanktionsmittel- und Legitimationsmittelvertei/unp. 5 . Zusätzlich zu diesen Formen funktionaler Integration und Desin­ tegration bestimmen aber auch die Bedingungen der Appropriation des Surplus, dessen sachliche Formen sowie die Konsumtionsverhältnisse die Struktur des Adels. a) Die Belehnung (als Belohnung für zu leistende Dienste) bedeutet, dass die Lehnsinhaber zunächst nur den Rechtstitel auf Revenue erhalten, für deren Durchsetzung sie selbst (oder durch patrimoniale Diener) zu sorgen haben. Dieser Sachverhalt befördert die Verselbstständigung der Belehnten zu relativ unabhängigen Herren, verschärft die eigenmächtige Konkurrenz untereinander und gefährdet somit die überregionale Herr­ schaft (»Mechanismus« der Dezentralisierung; Norbert Elias). b) Die sachliche Form der ländlichen Revenue, ihre bäuerliche Gestalt, taugt nur begrenzt zum direkten Konsum. Ein nicht unbedeutender Teil davon muss in standesgemäße Konsumgüter verwandelt werden: Er ist zu veräußern gegen Geldquanta, die zum Kauf jener dienen, soweit sie nicht im eigenen Großhaushalt produziert oder von Handwerkern oder Kaufleuten direkt appropriierl werden. Die Alternative dazu ist die

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«

'1.1

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direkte Appropriation von Geldquanta (Geldrente) von den Bauern (und Städtern). Die Abhängigkeit des Adels von solchen Gütern und die Kon kurrenz um sie stimuliert so die Entwicklung der innergesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Austauschverhältnisse und die Monetisierung sowohl der Appropriationsverhältnisse als auch der sozialen Beziehungen inner­ halb des Adels: Dienste können durch Geld abgelöst werden (Lehnsgeld), Titel auf Geldquanta können verliehen, verpfändet, verkauft werden (Geldlehen, Pfandschaft, Ämterkauf). c) Doch nicht nur die allseitige, sondern auch die ]ederzeitige Konver­ tibilität des Geldes kann zur Monetisierung der sozialen Beziehungen des Adels beitragen: Es taugt dazu, den Widerspruch zwischen der primär jah­ reszyklischfixierten Terminstruktur der einkommenden Revenue (Ernte-, Zinstermine) und dem stoßweisen Konsum- und Geldbedarf des Adels (Kriege, Feste, Bestechungs- und Lösegelder usw.) zu lösen. Dies geschieht durch Geldanleihen beim finanzkräftigen Bürgertum und durch gegen­ seitige Verschuldung (mit welchen feudalen oder kommerziellen Haftungs- und Bürgschaftsformen immer). d) Die Geldform der Revenue - aber nicht nur sie - kann last not least zur Konzentration der Revenue in den Händen weniger Personen beitra­ gen (Monopolisierung der Revenue, Verschiebung des Verhältnisses zwi­ schen Rente und Steuer), die diese nun als Sold und Gehalt an ihre Diener verteilen, und damit der Parzellierung der Herrschafts- und Gewaltver­ hältnisse (stehendes Heer, »Verhöflichung« [Norbert Elias] des Adels u. a.) entgegenwirken (Monopolisierung der Gewalt). Diese grundsätzlich gemeinten Bemerkungen zur inneren Struktur des Adels erschöpfen den Gegenstand natürlich keinesfalls,38 sie sind 38

Neben den oben abgedruckten Beiträgen von Weber, Bloch, Hilton und Lemarchand (sowie den grundlegenden bekannten Büchern von Bloch, François Louis Ganshof und Heinrich Mitteis) füh­ ren wir besonders Arbeiten an, die besondere Anregungen oder den Forschungsstand vermitteln: Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersu­ chungen, 2 Bde., Bern/München 1969 [1939]; Otto Brunner: Land und Herrschaft, Wien/Wiesbaden 1959 [1939] (1. Kap.!); Robert Boutruche: Seigneurie et féodalité, 2 Bde., Paris 1968/70; Hans Kammler: Die Feudalmonarchien. Politische und wirtschaftlich-soziale Faktoren ihrer Entwick­ lung und Funktionsweise, Köln/Wien 1974 (mit aufschlussreichen Grafiken S. 98,103 ff.); Hintze: Staat und Verfassung; Gabriel LeBras: Institutions ecclésiastiques de la chrétienté médiévale, Paris 1959/64; Arno Borst (Hrsg.): Das Rittertum im Mittelalter, Darmstadt 1976; Wilhelm Stürmer: Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert, 2 Tlbde., Stuttgart 1973; Philippe Contamine (Hrsg.): La Noblesse au Moyen Âge XI'-XV' siècles. Essais â la mémoire de R. Boutruche, Paris 1976; Hellmuth Rössler (Hrsg.): Deutscher Adel 1430-1555, Darmstadt 1965; Aloys Schulte: Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter. Studien zur Sozial-, Rechts- und Kirchengeschichte, Darmstadt 1958; Jean Meyer: Noblesses et Pouvoirs dans l’Europe d’Ancien Régime, Paris 1973; Bryce D. Lyon: From Fief to Indenture. The Transition from Feudal to Non-Feudal Contract in Western Europe, Cambridge, MA 1957; Clemens Bauer: Mittelalterliche Staatsfinanz und internationale Hoch­ finanz [1930], in: ders.: Gesammelte Aufsätze, Freiburg/Basel/Berlin 1965, S. 88 ff.; Hans-Georg Krause: Pfandherrschaften als verfassungsgeschichtliches Problem, in: Der Staat 9/1970, S. 387 ff, 515 ff.; Wolfgang Reinhard: Staatsmacht als Kreditproblem. Zur Struktur und Funktion des früh­ neuzeitlichen Ämterhandels, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 61/1974, S. 289 ff.; Guy Richard: Noblesses d’Affaires au XVIIIe siècle, Paris 1974; Jean-François Noël: Zur Geschichte der Reichsbelehnungen im 18. Jahrhundert, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 21/1968, S. 106 ff.; )oel T. Rosenthal: The Purchase of Paradise. The Social Function

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6 — Zur S tru k tu r u nd Dynam ik d e r feuda; n P ro d u k tio n s w e is e

•her a ls Anstoß zur strikteren Theoretisierung aufzufasien, eine Aufgabe, die uns wenig gelöst erscheint trotz der immensen Liteatur, die darüber •Xistiert.39

4.4 Städtisches Bürgertum Aus den Darlegungen zur ökonomischen Struktur der Siadt innerhalb der feudalen Produktionsweise (Abschnitt 3) dürfte klar lervorgehen, dass einerseits die städtische Bevölkerung begrifflich nidt zu einer Klasse lusam m engefasst werden kann und dass die ökononiische Funktions­ differenzierung wiederum (wie bei Bauern und Adel) unentwirrbar ver­ quickt ist mit politischer bzw. rechtlicher, also ständischer Differenzie­ rung. Insofern geht es auch nicht an, im feudalen Bürgertum die »Keime« zu suchen, die sich historisch zur kapitalistischen Bourgeoisie mehr oder weniger kontinuierlich »entfalten«. Diese Betrachtungsweise unterstellt eine strukturelle Opposition der Stadt zum Land, diemethodisch und sachlich den Ausschluss des Bürgertums aus der feudalen Produktions­ weise bedeutet. U. E. ist diese gerade durch die - natürlich widersprüch­ liche - Verbindung von Land und Stadt charakterisiert.® Folgende Grundzüge der sozialen Struktur des städtischen Bürger­ tums sind hervorzuheben: 1. Ökonomisch ist die städtische Bevölkerung horizontal gespalten in Kaufleute, deren ökonomisches Handeln vom systematischen Orts­ und Eigentumswechsel von Waren und Geld bestimmt ist, in Hand­ werker, die von der Weiterverarbeitung ländlicher Rohstoffe leben, und in sogenannte Unterschichten, die - diffus zusammengesetzt einerseits um Beteiligung am ökonomischen Handeln von Handel und Handwerk ringen, andererseits von der Redistribution innerstäd­ tischer und stadtsässig-adliger Revenuen leben. Diese ökonomische Schichtung erscheint als ein System von politisch-rechtlichen Ständen, das zwar grundlegende Verwandtschaft zu den sozialen Strukturen des Landes aufweist, sich jedoch auch von diesen unterscheidet. of Aristocratic Benevolence. 1307-1485, London/Toronto 1972; Erich Wytuda: Lehnrecht und Beamtentum. Studien zur Entstehung des preußischen Beamtentums, Berlin 1969. 39 Wichtige Problembereiche wie die Kriegstechnologie, die räumliche Stabilität bzw. Mobilität (Residenz/Ambulanz) der Herrschaft, die Auflösungsbedingungen der »Gewaltenvereinigung« (Krieger-Offizier, Richter, Beamter), die ständische Korporierung (Heerschildordnung, »Land­ stände«, Konzilien), das Verhältnis von Rente zu Steuern, die Rolle der Regalien u. v. a. konnten nur gestreift oder mussten beiseite gelassen werden - dies nicht nur aus »Platzgründen«, son­ dern aus Mangel an theoretischer Durchdringung. 40 Die »Keim-Theorie« hat die DDR-Literatur bis hin zur neueren Diskussion bestimmt (vgl. den Beitrag von Brigitte Berthold/Eva Maria Engel/Adolf Laube; Die Stellung des Bürgertums in der deutschen Feudalgesellschaft bis zur Mitte des 16. (ahrhunderts, in; Michael/Kuchenbuch: Feudalismus); ähnliche Grundauffassungen haben die »Transition-Debatte« (vgl. Rodney H. Hilton: Ein Kommentar zum Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: ebd., sowie die Vorbemerkung zu 1 D.2) ausgelöst. Natürlich bestreiten wir mit unserer Auffassung keinesfalls die »janusköpfige« Rolle des Bürgertums im Prozess des Übergangs zur kapitalistischen Gesell­ schaft (dazu grundlegend Merrington: Town and Country); doch geht es hier um die Rolle des Bürgertums innerhalb der feudalen Produktionsweise. 249

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2 . Die wichtigste Differenz zum Land stellt das die Kaufleute und

Handwerker verbindende Bürgerrecht dar, eine rechtlich-politische Fusionierung beider ökonomischen Klassen zu einem Kollektivsub­ jekt, das sich in der Rechtsform des periodisch erneuerten Schwur­ verbands vom Land und den innerstädtischen Repräsentanten des Adels abgrenzt, um den erreichten ökonomischen Handlungsspiel­ raum bzw. dessen Erweiterung politisch zu sichern (städtische »Frei­ heit«), 3 . Das Bürgerrecht, von dem mindestens Teile der Unterschichten in der Regel ausgeschlossen sind, vereinheitlicht die Bürgerschaft, in die­ sem und weiterem Sinne also die Stadt mit folgenden Außen-Zielen: Regulierung der Einkaufschancen des ländlichen Surplus (Rohstoffe, Lebensmittel) und der Verkaufschancen der städtischen Produkte (Binnen-, Außenmarkt), Sicherung der städtischen Allmende außer­ halb der Mauern, allgemeine Abgrenzung der Stadt als Rechtsraum (Gericht), militärische Sicherung der Stadt (Mauer, eigene Truppen bzw. Waffenrecht der Bürger, Fehde- und Bündnisrecht). Man hat die feudale Stadt deshalb mit einigem Recht als »Burg unter Burgen« bzw. als »kollektiven (Feudal-)Herrn« bezeichnet. 4 . Nach innen fungiert dieses Recht als Verteilungssystem der ökonomi­ schen und politischen Chancen der formal gleichberechtigten Bürger: Sie konkurrieren um (den Zugang und) die Kontrolle der wichtigsten Organe der städtischen Selbstverwaltung (Rat, Schöffenkolleg, Bür­ gerschaftsversammlung, Einzelämter usw.), wobei die innerberufli­ che Gleichheit und zwischenberufliche Differenz der ökonomischen und politischen Interessen den Zusammenschluss zu Teilverbänden erzwingt (Korporationen, Gilden, Zünfte usw.). 5 . Im Rahmen dieser formalrechtlich egalitären und korporativ orga­ nisierten Konkurrenz reproduzieren sich die ökonomischen Macht­ verhältnisse und die aus ihnen hervorgehenden Konflikte: eine ökonomisch zweischichtige Gesamtbürgerschaft (Wilfried Ehbrecht), innerhalb derer in der Regel das numerisch kleine Patriziat (Kaufleute, Verleger, Grundbesitzer) die Führungsposition innehat (Oberschicht mit engen Verbindungen zum [stadtsässigen] Adel [Ministerialität] bzw. zum Patriziat anderer Städte), die zünftlerisch organisierten Handwerker als breite Mittelschicht, die mit wechselndem Erfolg untereinander und mit dem Patriziat um ihren Anteil an der politi­ schen Führung zur Sicherung ihrer ökonomischen Interessen kämp­ fen, und zuletzt die von der innerstädtischen Verwaltung weitgehend abgedrängten Unterschichten als Steuerobjekte, Reservearmee für das (saisonale) Arbeitsangebot, aktuelle Bündnispartner und zur politi­ schen und religiösen Legitimation dienend (städtisches Sozialwesen: Almosen, Spitäler, Stiftungen).

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Die Struktur der innerstädtischen Konflikte ist durh diese komplexe (Interessen-)Lage bestim m t: Nicht antagonistische Kämpfe, sondern Auseinandersetzungen u m die Sicherung der errungenen und rechtlich fixierten Stellung, um den Ausgleich von Widersprächen zwischen »ver­ altetem« Recht und neuer ökonomischer Lage einzelner Gruppen oder ganzer Schichten und um die »gerechte« Verteilung der durch den Adel erzwungenen oder für die Wahrung des städtischen Gesamtinteresses notwendigen Steuern und militärischen Leistungenkennzeichnen die Lage. Ein wesentlicher Punkt bleibt noch nachzutragen: Abgesehen vom Umfang des ländlichen Surplus hängt es vom Ausmaß der Disso­ ziation des Adels ab, inwieweit die politische Teilautonomie errungen und behauptet werden kann - damit kann die »stadtlierrliche« Funktion des Adels modifizierend in die beschriebenen Konflikte eingreifen, und durch die Konzentration überregionaler Herrschaft kann die Teilautono­ mie insgesamt wieder verloren gehen.41 4.5 Zusammenfassende Folgerungen

Die soziale Struktur der feudalen Produktionsweise ist grundlegend geprägt von Auseinandersetzungen einerseits um die Appropriation des ländlichen Surplus und andererseits um dessen Verteilung unter Adel und städtischem Bürgertum. Der Aneignungskonflikt hat auf bäuerlicher Seite defensiven Charakter (»struggle against rent«). Den Bauern geht es um die Reproduktion ihrer gewohnten Lebensbedingungen innerhalb ihres lokalen Gesichtskreises, sie kämpfen - meist in den Alltagsformen des »schleichenden« Entzugs - um die Erleichterung des lokalen, gewohnheitsrechtlich fixierten Renten-Status-Quo, um »gerechte« oder »gerechtere« Herrschaft, lokale Teilautonomie (Genossenschaft) und »bil41

Neben der in den Fn. 28-33 genannten Literatur sei hierangeführt: Otto Brunner: »Bürgertum« und »Feudalwelt« in der europäischen Sozialgeschichte, in: Haase: Stadt des Mittelalters, Bd. 3, S. 480 ff. (dort auch die Aufsätze von Ernst Pitz, Karl Czok, Erich Maschke, sowie die von Karl Kroeschell, Hans Planitz und Karl Fröhlich inBd. 2); Erich Maschke: Die Schichtung der mittelal­ terlichen Stadtbevölkerung Deutschlands als Problem der Forschung, in: Mélangés en l’Honneur de F. Braudel, Bd. 2, Toulouse 1972, S. 367 ff.; ders.: Deutsche Städte am Ausgang des Mittelalters, in: Wilhelm Rausch (Hrsg.): Die Stadt am Ausgang des Mittelalters, Linz 1974, S. 1 ff.; Winfried Ehbrecht: Bürgertum und Obrigkeit in den hansischen Städten des Spätmittelalters, in: ebd., S. 275 ff.; Knut Schulz: Die Ministerialität als Problem der Stadtgeschichte, in: Rheinische Vier­ teljahresblätter 32/1968; Erich Maschke/Jürgen Sydow (Hrsg.): Gesellschaftliche Unterschichten in den südwestdeutschen Städten, Stuttgart 1967; Michel Mollat (Hrsg.): Etudes sur L'histoire de la Pauvreté (Moyen Âge - XVIe siècle), Paris 1974; Wilhelm Ebel: Über den Leihegedanken in der deutschen Rechtsgeschichte, in: Vorträge und Forschungen, Bd. 5: Studien zum mittelalterlichen Lehnswesen, Lindau/Konstanz 1960, S. 21 ff.; Gerhard Ditcher: Rechtshistorische Aspekte des Stadtbegriffs, in: Herbert Jankuhn/Heiko Steuer (Hrsg.): Vor- und Frühformen der europäischen Stadt, Bd. 1, Göttingen 1973, S. 12 ff.; Günter Vogler: Probleme der Klassenentwicklung in der Feu­ dalgesellschaft. Betrachtungen über die Entwicklung des Bürgertums in Mittel- und Westeuropa vom 11. bis zum 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 21/1973, S. 1182 ff; da sonst keine befriedigende Gesamtdarstellung zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte verfüg­ bar ist, erwähnen wir aufschlussreiche Fallstudien: Peter Hertner: Stadt Wirtschaft zwischen Reich und Frankreich. Wirtschaft und Gesellschaft Straßburgs 1650-1714, Köln/Wien 1973; Pierre Deyon: Amiens, capitale provinciate. étude sur la société urbaine au XVir siècle, Paris/Dcn Haag 1967; François-Georges Dreyfus: Remarques sur les structures sociales dans les villes allemandes dans la seconde moitié du XVIIIesiècle, in: Maschke: Schichtung, S. 1 6 5 K.

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B — T h e o rie a rb e it: K o n s tru k te u nd E n tw ü rfe

lige« Austauschbedingungen. Im Falle des gewaltsamen Widerstandes die Ursachen dafür können sehr verschieden sein - sind sie vielfach auf verschiedene Bündnispartner (städtische Unterschichten, deklassierte Adlige) und auf ihrem Lebenshorizont relativ »entwachsene« Führer angewiesen (Handwerker, Händler, lokale Vertreter des Adels, Geistliche), die sie sich auch erzwingen (Tendenz zum Verrat von »oben«). Der Loka­ lismus ihrer Ziele macht sie zur überregionalen »Verallgemeinerung« des Widerstands relativ ungeeignet. Abgesehen vom Erfahrungsmangel im Umgang mit Gewaltmitteln ist dies wohl die grundlegende Schwäche aller Aufstände. Sie sind räumlich und zeitlich begrenzte Entladungen, meist ohne nennenswerten Erfolg. Dieser wird eher durch den beharrli­ chen Alltagswiderstand erreicht. Auf adliger Seite trägt der Konflikt, gedoppelt in den Aneignungs­ und Verteilungskampf, offensiven Charakter: Die vom bäuerlichen Produktionsprozess getrennte, ihm gewissermaßen nachgeschaltete Appropriation des Surplus und dessen lang- und kurzfristiges Wachsen, Schrumpfen und Stagnieren (s. Teil II) zwingt den Adel zu ständigen Reorientierungen: zu Änderungen des gewohnheitsrechtlich »erstarrten« Rentenvolumens. Dieser Verhaltenszwang wird noch verschärft durch die standesinterne Konkurrenz um den Surplus. Die Folge sind ständige Versuche, die sachliche, ökonomische und soziale Form des individuellen Surplusanteils zu ändern, um den Erfolg des bäuerlichen Entzugs auszu­ gleichen, Produktivitätssteigerungen zu absorbieren und im Verteilungs­ konflikt, d. h. der prestigefördernden Konsumkonkurrenz, bestehen zu können. Dies geschieht durch Setzung neuen Rechts, d. h. den Wechsel der Radizierung der Rentenformen (Wechsel vom Kopf auf den Grund, von dem Acker auf die Allmende, von der Mühle aufs Gericht usw.), Wech­ sel von der Arbeits- zur Produkten-, von der Produkten- zur Geldrente und umgekehrt. Dazu kommt noch der Wechsel von der »primären« (ländlichen) Revenueform zur sekundären: zu Zöllen, städtischen Steu­ ern, Regalien usw. und die Verkoppelung beider Formen. Das generelle Ziel ist die Erhöhung des Volumens. Der Verteilungskampf wird, viel­ fach im ideologischen Gewand des gegenseitigen Legitimitätsentzugs, mit bisweilen sich zum Dauerkriegszustand zuspitzender Härte geführt (Fehde), der nur mühsam in geordnetere Bahnen zurückgeführt werden kann (Frieden). Durch das städtische Bürgertum wird dieser Appropriationskampf insofern kompliziert und modifiziert, als es den Adel durch Beschaffung der standesgemäßen Konsumgüter, die Bauern durch Beschaffung der für sie notwendigen Werkzeuge und Geldquanta (Geldrente, Geldverleih) an sich bindet, bei diesem Prozess des ungleichen Tauschs mit dem Land einerseits ständiger Übergriffe seitens des Adels gewärtig sein muss und andererseits selbst durch interne Verteilungskonflikte geprägt ist: Auch 252

6 — Zur S tr u k tu r u nd D ynam ik d e r fe u d a le n Produ ction sw eise

die »Aussaugung« des Landes, die innerstädtische Verteilung d;s Surplus und die Entrichtung sekundärer Revenue an den Adel stellen sich als Kämpfe um Rechte, d. h. zur Gewohnheit verfestigter Handlutgsmuster und Normen dar, die den wechselnden ökonomischen und plitischen Realitäten angepasst w erden müssen. So kann man abschließend feststellen, dass die gesellschaftliche Struktur der feudalen Produktionsweise auf allen sozialen Ebenen bestimmt ist von ständischen Konflikten: Alle in diese Strultur einge­ bundenen ständischen Klassen, Gruppen und Schichten konkuirieren um die Sicherung und Erweiterung ökonomischer Chancen, die zii individu­ alisierten und hierarchisierten Rechten verfestigt werden müssen, dabei aber sowohl im Widerspruch zueinander als auch zu den sich ändernden realen Verhältnissen stehen oder geraten.42

II Dynamik 1 Vorbemerkung Wie in der Einleitung angedeutet, besteht die Hauptschwierigkeit einer Theorie der inneren Dynamik der feudalen Produktionsweise im vorin­ dustriellen Europa darin, diese auf einer Abstraktionsebene abzuhandeln, oder besser: zu konstruieren, die sich deutlich von der Ebene des Verlaufs der europäischen Geschichte in diesem Zeitraum unterscheidet. Um dies zu erreichen, bedarf es eines anderen Begriffs von der Zeit. Eskann hier eben nicht um die chronologische Zeit im Sinne eines Ausschnitts aus dem irreversiblen und unverwechselbaren realen Geschichtsprozess gehen, sondern um sich - als strukturell gleiche - wiederholende, also zyklische Abläufe, formal analog dem Jahres- und Familienzyklus, jedoch mit der spezifischen Differenz, dass diese Zyklik den Gesamtzusammenhang der Produktionsweise determiniert und zugleich modifizieren kann. Die innere Dynamik muss somit - ebenso wie die Struktur - entwickelt werden können, ohne dass der Rekurs auf Exempla oder Teilzusammen­ hänge der realen Geschichte (Kaiserkrönung Karls d. Gr., Lübeck im Spät­ mittelalter usw.) nötig wird. Darin liegt die eine große Schwierigkeit. Die andere besteht in der Unterscheidung zwischen den kurzfristigen Zyklen und den langfristigen Trends sowie der Kausalität der Beziehung beider zueinander.43 42 Vgl. die ungemein konzentrierten Bemerkungen von Lukacz: Geschichte und Klassenbewußt­ sein, S. 69. Insofern hat die Formulierung von Herman Heimpel ihre Berechtigung: »Mittelal­ terliche Geschichte [die des feudalen Europa] ist, zugespitzt gesagt, Rechtsgeschichte« (zit. n.: Heinz Quirin: Einführung in das Studium der mittelalterlichen Geschichte, Braunschweig 1961, Geleitwort S. 15). 43 Damit setzen wir uns ab von dem Dynamik-Begriff, der insbesondere die empirisch beobach­ teten Wachstumsphasen der europäischen Geschichte abdeckt (so z. B. Anderson: Passages, S. 182 ff.), und schließen uns in etwa dem Dynamik-Begriff der französischen Annales-Schule an. Gute Beispiele, wie mil diesem Begnirgearbeilet werden kann: Kula: Théorie* économique und Bois: Crise du l'eodalisme.

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1 B — T h e o rie a rb e it: K o n s t r u k t e u n d E n tw ü rfe

Da die folgenden Bemerkungen auch für uns selbst einen allerersten Denkversuch darstellen, muss es konsequenterweise auch zu einem offe neren Argumentationsstil kommen, ebenso zu einer Verschiebung im Verhältnis zwischen Text und Literatur. Die Krise des a riden type44 Die grundlegenden Ausgangstatsachen für die kurzfristige Krisenan­ fälligkeit der feudalen Produktionsweise sind die, dass erstens die agrikole Produktionstechnik keine von Jahr zu Jahr konstanten Erträge zu erwirtschaften erlaubt, diese also zufällig schwanken (gute, mittlere und schlechte Jahre), und dass zweitens die Landwirtschaft die Basis der gesam tgesellschaftlichen Produktion und Reproduktion ist. Man kann die aus diesem doppelten Sachverhalt resultierende Krisenform als unvorhersehbar und brüsk ausbrechende Unterproduktionskrise der Agrikultur m it gesam tgesellschaftlichen Konsequenzen bezeich­ nen. Um diese Krisenform zu analysieren, ist es von sekundärem Interesse, welche eventuelle Zyklik oder welcher langfristige Trend von exogenen Ursachen sie auslöst; entscheidend ist vielmehr, wie die von der Miss­ ernte betroffenen Menschen innerhalb der gegebenen ökonomischen und sozialen Verhältnisse reagieren (können).45 Natürlich bestehen die Ursachen primär in jährlichen Fluktuationen des Klimas, d. h. dem aktu­ ellen Witterungsablauf (Härte und Dauer des Winters, Feuchtigkeits­ und Wärmegrad des Sommers, Überschwemmungen, Unwetter und dergleichen).46 Jeder für den Getreidebau ungünstige plötzliche Witte­ rungseinbruch oder längere Witterungsablauf kann eine Schrumpfung des agrikolen Jahresertrags (im Verhältnis zum vorangegangenen Jahr bzw. gewohnten Durchschnittsertrag) verursachen (hier sind regional begrenzte und allgemeine, weite Teile Europas betreffende Vorgänge zu 2

44 Der Begriff wurde von Ernest Labrousse entwickelt, der mit seinen Forschungen zum Ancien Régime und den Krisen im 19. Jahrhundert nachhaltigen Einfluss auf die neuere französische Forschung ausgeübt hat und weiter ausübt. Die Rezeption dieser umwälzenden Lehre steckt hierzulande leider noch in den Kinderschuhen. Abel, einer der wenigen einflussreichen deut­ schen Agrarhistoriker, der in Ergänzung seiner eigenen agrarkonjunkturellen Forschungen von Labrousse Kenntnis genommen hat, ist leider nicht ganz frei von Missverständnissen des labrousseschen Begriffs der Krise des a n c ie n ty p e . Vgl. dazu Pierr Vilar: Réflexions sur la »crise de landen type«: »inégalité des récoltes« et »sous-développement«, in: Conjuncture, structures sociales. Hommage à Ernest Labrousse, Paris 1974, S. 44 f. Wir beziehen uns hier auf folgende Arbeiten von Ernest Labrousse: La crise de l'économie française à la fin de l’ancien régime et au début de la Révolution. Introduction Generale [1944], in: Eberhard Schmitt (Hrsg.): Die französische Revolution. Anlässe und langfristige Ursachen, Darmstadt 1973, S. 48 ff.; ders./Pierre Goubert/Pierre Léon/Charles Carrière/Jean Bouvier/Paul Harsin: Histoire économique et sociale de la France, Bd. 2: Des derniers temps de l'âge seigneurial aux préludes de l'âge industriel (1660-1789), Paris 1970, S. 529 ff. 45 Hierzu vorzüglich Vilar: Réflexions, S. 38 ff. 46 Neben dem Beitrag von Slicher van Bath in Michael/Kuchenbuch: Feudalismus: Hans-Jürgen Schmitz: Faktoren der Preisbildung für Getreide und Wein in der Zeit von 800 bis 1350, Stutt­ gart 1968, S. 12 ff.; zur Klimageschichte grundlegend: Emmanuel LeRoi Ladurie: Times of Feast, Times of Famine. A History ofClimate since the Year 1000, London 1972.

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6 — Z ur S tru k tu r und Dynam ik d e r fe u d a ie rP ro d u k tio n s w e is e

unterscheiden), die in ihren Konsequenzen grob so Umrissen werden kunn:47 1. Die Reproduktion der bäuerlichen Haushalte ist gefährdet, weil das Konsumtionsquantum für die Haushaltsmitglieder (ind das Vieh) nur begrenzt reduziert werden kann (Existenzminimumlein fixer Anteil der Ernte für den bevorstehenden ProduktionszyMus aufbewahrt werden muss (Saatgut) und ein fixer oder variabler knteil der Ernte an Dritte abzuführen ist (Rente). Diese Inelastizität der Ausgaben­ seite des bäuerlichen Jahreshaushalts hat die primän Folge, dass die Quote des (sonst) verkaufbaren Ernteanteils mindestens schrumpft, wenn nicht sogar völlig schwindet: Die Bauern verkaufen weniger oder können gar nicht mehr verkaufen, dementsprechend können sie die Preissteigerung der agrikolen Produkte nichtfür sich nutzen und haben entsprechend weniger Geld zum Einkauf gewerblich-städ­ tischer Produkte. Sind sie zum Verkauf gezwungen (Geldrente), dann fehlt es an unmittelbaren Konsum- oder Investitionsgütern. 2 . Die Verknappung der von bäuerlicher Seite direkt in die Zirkulation eingehenden Ernteanteile gefährdet die gewerblichen Produzenten: Durch abruptes Ansteigen der Agrarpreise (besonders der des Brot­ getreides) sind sie zu höheren Ausgaben für die Subsistenzmittel gezwungen, die sinkende ländliche (und innerstädtische) Nachfrage nach gewerblichen Produkten führt zum Überangebot und entspre­ chendem Preisverfall (akute Öffnung der Schere zwischen agrikolen und gewerblichen Preisen). Erhöhte Lebenskosten und geringere Ein­ nahmen kurz nach dem Ernteausfall treiben die Handwerker in einen sich (bis zur nächsten Ernte) verschärfenden Engpass. 3 . Allein diejenigen können von diesem allgemeinen Versorgungsnot­ stand (steigend) profitieren, die über ihren persönlichen Konsumtions­ bedarf hinausgehende Nahrungsmittelvorräte verfügen: Die der Miss­ ernte folgende Steigerung der Agrarpreise wirkt sich so - sieht man hier einmal von Redistributionsleistungen (Almosen) und Rentennachlass ab - als Akkumulationschance fü r den Adel aus und kann die Kaufleute insofern begünstigen, als vorwiegend sie das entstehende Preisgefälle zwischen den Regionen mit guter und schlechter Erntelage ausnutzen können. Dazu kommt für beide die Möglichkeit, durch gezieltes Horten der Vorräte die Preisentwicklung direkt zu beeinflussen (Preistreiberei). 47

Hierzu Labrousse: La crise, S. 55 ff.; Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunkturen. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg/Berlin 1966, S. 22 f.; ders.: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg/Berlin 1974, S. 267 ff.; Herman van der Wee: Typologie des crises et changements de structures aux Pays-Bas (XVe-XVIe siècles), in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 18,1963, S. 209 ff.; Kula: Théorie économique, S. 45 f. (unter Bedingungen vor­ herrschender Arbeitsrente entwickelt); für die Zeit von 800-1350: Fritz Curschmann: Hungers­ nöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8.-13. Jahrhunderts, Aalen 1970 [1900], S. 47 ff.; Schmitz: Faktoren der Preisbildung, S. 33 ff.

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1 B — T h e o rie a rb e it: K o n s tru k te u nd E n tw ü rfe

Dieser soziale Mechanismus der Unterproduktionskrise kann im Wesent­ lichen nur gestoppt bzw. »rückgängig« gemacht werden durch eine bes­ sere Ernte des nächsten Jahres, doch hängt es vom Ausmaß des Ernteaus­ falls und dessen räumlicher Verbreitung ab, ob diese überhaupt zustande kommen kann. Je radikaler der akute Nahrungsmangel, desto größer ist die Gefahr, dass die Bauern ihre Produktions- und Investitionsmittel (Saatgut, Vieh) konsumieren, sich verschulden (aktuelle »Konjunktur« des ländlichen Wuchers), schlechtere Leihebedingungen (im Austausch mit Konsum­ tionsmitteln) hinnehmen oder ihre Höfe verlassen müssen (Wüstung), um dann bettelnd oder plündernd ziellos umherzuirren. Oder sie ziehen in die Städte, wo sich die Handwerker und Unterschichten (Tagelöhner) verschulden, ihre Grundstücke oder bewegliche Habe verkaufen müs­ sen, um Lebensmittel zu kaufen. Dort kommt es dann zur zusätzlichen Verschärfung der Versorgungslage, die sich in Hungerrevolten entladen kann (Stürmung der Lebensmittelläden, der Vorratslager). Eine allge­ meine Verschärfung der sozialen Spannungen also ist die eine Folge der Hungerkrise. Dazu aber erhöht die Unterernährung von Mensch und Vieh die Anfälligkeit für Infektionen: Seuchen (Flecktyphus, Rinderpest) und Mas­ sensterben können die Krise begleiten. Mit dem Ausmaß des exogen ausgelösten Ernteausfalls ist also gewis­ sermaßen die endogene Verlängerung, ja Reproduktion der Krise vorpro­ grammiert: Je stärker das Land verödet, die Bevölkerung dezimiert, das Saatgut verzehrt, das (Zug-)Vieh verzehrt oder verendet ist, desto geringer sind die Aussichten auf eine gute neue Ernte; vielmehr kann der nächste Hungerzyklus bevorstehen, und erst im übernächsten Jahr erholt sich die Agrikultur wieder und damit der Surplus, die Voraussetzung für niedri­ gere Preise für Lebensmittel, die Belebung der Nachfrage für gewerbliche Güter (Schließung der Preisschere). Dieser kurze Zyklus »rhythmisiert« (Pierre Vilar) also die ökonomische und soziale Realität, ist kennzeichnend für die Temporalstruktur des feu­ dalen Reproduktionsprozesses. Wie aus bestimmten, oben angedeuteten Konsequenzen der Krise hervorgeht, kann dieser Reproduktionsprozess jedoch nicht als eine Zyklik begriffen werden, die sich selber praktisch gleichbleibt (jeweilige Wiederherstellung der Ausgangsbedingungen): Die Akkumulationschancen des Adels und der Kaufleute (und Geldhänd­ ler) und die Verschuldungs- bzw. Enteignungsgefahren für die Bauern, Handwerker und Tagelöhner bedeuten, dass durch die Krise des ancien type oder Sequenzen dieser Krise die ökonomische und soziale Struktur auch modifiziert werden kann.48 48

Dazu kommen Verschiebungen in den Konsumgewohnheiten, aus der partielle Umorientierun­ gen in der Produktionssphäre folgen, sowie andere »Lehren« aus der jeweiligen Krise, die sich

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6 — Z ur S t r u k t u r und Dynamik d e r fe u d a le n P ro d u k tio n s w e is e

3 Überleitung: Das Wachstumspoteizial der feudalen Produktionsweise Schon im Abschnitt über den bäuerlichen Produktionsprozess (I.1.1.2) Wurde der Grundsachverhalt erläutert, auf den es ankommt, wenn man nach einem logischen Verbindungsglied zwischen der Dynamik des kurzen Zyklus und der des langfristigenTrends sucht: Durch die Verbin­ dung von extensivem Getreidebau und (Zug-)Viehzucht innerhalb des bäuerlichen Einzelbetriebs (und seiner dörflichen Teilintegration) sind die endogenen Wachstumschancen und Schrumpfungsrisiken der agrikolen Produktion (und damit der feudalen Produktionsweise überhaupt) maßgeblich bestimmt. Das zeigt sich an folgenden Sachverhalten: 1. Da die Berechnungen der agrikolen Erträge und deren kurz- wie lang­ fristige Entwicklung gezeigt haben, dass dieses System der Agrikultur die Höchstertragsquote von 1 (Aussaat): 6 -8 (Ernte) dauerhaft nicht transzendieren, zugleich aber ständig auf Niedrigquoten von 1 (Aus­ saat): circa 2,5 (Ernte) zurückfallen kann,49 muss der Produktivitäts­ spielraum der Agrikultur innerhalb der feudalen Produktionsweise von diesen Eckwerten bestimmt sein: Wachstum und Schrumpfung bewegen sich kurz- und langfristig in diesem Rahmen. 2 . Der Umfang des gesamten agrikolen Ertrags (und damit der des Surplus) kann über die genannte Höchstquote bzw. die je gegebene Durchschnittsquote hinaus nur gesteigert werden, wenn die Acker­ fläche vergrößert wird (Rodung, Landesausbau, Kolonisation). Damit kann aber eine doppelte Gefahr entstehen: Es werden (schlechtere) Böden kultiviert, die - mithilfe der gegebenen agrikolen Technik diese Quote dauerhaft nicht hergeben (Erschöpfung), und mit der Erweiterung der Ackerfläche verringert sich der Bodenanteil, der für die Versorgung des Viehs benötigt wird (Weide- und Wiesenland, Wald). Diese Gefährdungen entwickeln sich jedoch mehr oder weni­ ger schleichend, d. h. ohne erkannt zu werden, oder sie werden durch den Rentendruck bzw. durch Veräußerungschancen aktuell oder ä la longue »provoziert«. Die Dynamik des langfristigen Trends hat hier ihre Wurzel: Der Produk­ tivitätsspielraum, der der bäuerlichen Agrikultur innewohnt, kann einer­ seits voll ausgeschöpft, andererseits aber nicht »ungestraft« missachtet werden. strukturmodifizierend auswirken können (Almosenwesen, obrigkeitliche Preisregulierung, Ver­ besserung des intra- und interregionalen Handels usw,): Doch diese Faktoren ins Spiel bringen heißt, die hier verfolgte Abstraktionsebene partiell zu verlassen und in die konkrete Analyse realer Krisen des a n c ie n t y p e einzusteigen. 49 Vgl. hierzu den Beitrag von Slicher van Bath in Michael/Kuchenbuch: Feudalismus sowie van Bath: Agrarian History, S. 328 ff.; ausführlichere Statistiken hat der Verfasser zusaminengestellt in: Yield ratios 810-1820, Wageningen 1963, S. 1 ff. 25 7

B — T h e o rie a rb e it: K o n s tru k te u nd E n tw ü rfe

4 Zur Dynamik des (langfristigen) Trends Fast die gesamte Forschung, die sich mit Prozessen langfristiger Konjunk­ turen und Krisen befasst, sucht nach geeigneten Lösungen zur Periodisierung der Geschichte des vorindustriellen Europa und nach der Erklä­ rung des Übergangs zur bürgerlichen Gesellschaft unter wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Blickwinkeln, denen sehr verschiedene theoreti­ sche Ansätze implizit oder explizit zugrunde liegen.50 Da es hier nicht um die Klärung solcher Fragen bzw. die Kritik solcher Lösungen geht, sondern um den theoretischen Begriff der langfristigen Dynamik der feudalen Produktionsweise, wäre die systematische Berücksichtigung dieser Ansätze nur über eine aufwendige kritische Durchforschung ihrer Vorzüge und Schwächen auf unser Vorhaben hin möglich gewesen. Dies konnte und sollte hier nicht geschehen. Die einzige neuere Untersuchung, in der der Versuch einer Theoretisierung auf der hier verfolgten Abstraktionsebene gemacht wird, stammt von Guy Bois.51 Aus der Analyse der Krisen- und Erholungsprozesse in der östlichen Normandie circa 1400 bis 1550 leitet Bois einen allgemeinen Begriff der langfristigen Dynamik der feudalen Produktionsweise ab, der ausgezeichnet als Bezugspunkt für die Probleme dienen kann, um die es hier geht. Bois bestimmt den langfristigen Zyklus als Aufeinanderfolge von Wachstums- und Stagnations- bzw. Schrumpfungsphasen, deren bestim­ mende Elemente in Symmetrie zueinander stehen: Wachstumsphase

Schrumpfungsphase

Element

fallende

steigende

Höhe der Rente (prelevement)

wachsende

schrumpfende

Besiedlung des Landes

wachsendes

schrumpfendes

(agrikoles) Produkt

wachsende

schrumpfende

Bevölkerung

fallende

steigende

agrikole Produktivität

steigende

fallende

relative agrikole Preise

fallende

steigende

relative gewerbliche Preise

fallende

steigende

Reallöhne

steigendes

fallendes

Volumen der Rente

50 Eine breit angelegte und systematische Sichtung dieser Ansätze, die vom Begriff der Produkti­ onsweise (Einleitung zu Michael/Kuchenbuch: Feudalismus) ausgeht, diesen aber selbst als Pro­ blem begreift, sucht man vergebens. Brauchbare Hinweise bei Brenner: Agrarian Class Structure, S. 32 ff.; Frantisek Graus: Das Spätmittelalter als Krisenzeit. Ein Literaturbericht als Zwischen­ bilanz, in: Medievalia Bohemica Suppl. 1/1969; Vilar: Réflexions, S. 38 ff.; Rodney H. Hilton: Warriors and Peasants, in: New Left Review 83/1974, S. 90 ff.; dazu die »Transition-Debatte« (vgl. Vorbemerkung zu I D.2) und die Diskussion um das Buch von Kula: Théorie économique in den »Quaderni Storici« 5-7/1970-72. 51 Bois: Crise de Féodalisme, S. 351 ff., bes. S. 356 ff.

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6 — Zur S tru k tu r u n d D ynam ik d e fe u d a le n P ro d u k tio n s w e is e

Anzuerkennen ist zunächst, welche Elemente Bois als bestimmend für den Trendzyklus der feudalen Produktionsweise erachtet. Sie entspre­ chen weitgehend denjenigen, die auch in diesen Essay herausgearbeitet wurden; dazu kommt aber das demografische Element und die - wich­ tige - Unterscheidung zwischen Höhe und Volumen der Rente.52 Auch die Anordnung der Elemente ist überzeugend: Sie zeigt, dass die Produktions­ und Austauschsphäre in die Appropriationsstruttur eingekeilt sind; die Anordnung innerhalb der Elemente der Rente veranschaulicht weiter, dass die beherrschende Position der agrikolen Pioduktion zukommt. Fraglich erscheint uns jedoch, ob die Rolle dtr agrikolen Produktivi­ tät angemessen in diese Theorie eingegangen ist Man hat den Eindruck, dass dessen Wachstumspotenz/a/ (s. Abschnitt II.3.) ungenügend zur Gel­ tung kommt.53 Dies zeigt nicht nur der historische Rekurs auf das Wachs­ tum der Ernteerträge vom 8. bis zum 13. Jahrhundert, sondern ebenso wohl auch deren Schwankungen im Rahmen des oben benannten Spiel­ raums.54 Der empirische Ausgangspunkt (spätmittelalterliche Normandie) scheint dem Verfasser hier ein Schnippchen geschlagen zu haben. Das Gleiche gilt für die Unterbewertung der Rolle der Arbeitsrente, d. h. einer Strukturform der Grundherrschaft (bipartites System), die in jedes theo­ retische Kalkül der feudalen Produktionsweise zentral eingehen muss.55 Stimmen diese Einwände - dies wird die kommende Diskussion um diesen theoretischen Ansatz zeigen -, dann hat man es mit einer Form der Theoretisierung der langfristigen Dynamik zu tun, die primär aus der so umstrittenen - spätmittelalterlichen Krise abgeleitet ist.56 52 Damit vermeidet Bois den versteckten oder offenen »Malthusianismus« vieler (demogra­ fisch orientierter) Gelehrter. Der engl. Ökonom Thomas R. Malthus (1766-1834) entwickelte in seiner Schrift »An Essay on the Principle of Population« (1798) ein »Gesetz«, nachdem das Bevölkerungswachstum stets die Tendenz hat, über den Nahrungsspielraum (abnehmender Ertragszuwachs des Bodens) hinauszuwachsen. In diese Krisenlehre sind die gesellschaftlichen Mechanismen bzw. Instanzen zu wenig eingegangen, die z. B. die Schrumpfung des »Nahrungs­ spielraums« verursachen und verschärfen können (etwa der Appropriationsdruck). 53 Es fehlen ausführliche Tabellen, soweit aus erstem Überblick ersichtlich, zur Ertragsentwicklung. Dies kann natürlich im Mangel an Quellen gründen. 54 Wer den hochmittelalterlichen »Take-off« vor Augen hat - der ja nicht allein durch die Vergrö­ ßerung der Anbauf l ä c h e (Binnen- u. Außenkolonisation) bestimmt ist, sondern ebenso durch eine S t e ig e r u n g der P r o d u k t i v i t ä t der agrikolen Arbeit (vgl. hierzu Duby: Guerriers et paysans, S. 205 ff, und Shelter van Bath in Michael/Kuchenbuch: Feudalismus, S. 523 ff.) -, mag an die s t r u k t u r e l l e G l e ic h z e it ig k e it von wachsender Bevölkerung/Besiedlung und fallender Produktivi­ tät nicht recht glauben. 55 Zur theoretischen Ausschöpfüng der Rolle der Arbeitsrente vgl. den Beitrag von Antoine Casanova/Charles Parain in: Michael/Kuchenbuch: Feudalismus sowie Kula: Théorie économique, S. 84 ff.; die strukturelle »ratio« der Arbeitsrente im Frühmittelalter hat noch keine entspre­ chende Aufmerksamkeit gefunden. Vgl. aber die wichtigen Gedanken bei Duby: Guerriers et Paysans, S. 97 ff. 56 Man hat den Eindruck, als sei Bois’ Ansatz maßgeblich beeinflusst von den Grundgedanken, die Rodney H. Hilton: Y eut-il une crise générale de la féodalité, in: Annales. Histoire, Sciences, Sociales 1/1951, S. 23 ff., zur spätmittelalterlichen Krise als erster allgemeiner Krise vorgetra­ gen hat. Die - kontroverse - Literatur zur spätmittelalterlkhen Krise ist fast schon unüberseh­ bar geworden. Einen ersten Überblick verschafft Graus: Das Spätmitlelalter. Wichtige kritische Anmerkungen zum Verhältnis von »quantitativen« Daten und »qualitativer« Erklärung dersel-

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Bois’ Kommentare zu seinem hier wiedergegebenen Schema lassen jedoch erkennen, dass er sich die Sequenzen der langfristigen Zyklen nicht als quasi invariante Reproduktion der Produktionsweise vorstellt, sondern - analog zur Funktion des Zyklus des ancien type - diesen die Rolle einer Modifizierung der Produktionsweise zuerkennt. Die theoretische Fassung dieser Modifizierungsfunktion sowohl des kurzen wie des langen Zyklus stellt eine Aufgabe dar, die nicht nur die Gesamtgeschichte des Feudalismus betrifft, sondern ebenso die seines Übergangs zur bürgerlichen Gesellschaft.57 III Offene F ra g e n 1 . Dem Leser wird aufgefallen sein, dass im hier vorgelegten Denkver­ such die Eliminierung jeden Rückgriffs auf konkrete historische Beispiele angestrebt wurde. Das Argumentieren mit derlei Beispielen, verbreitet nicht nur bei den großen Theoretikern, sondern ebenso bei den Fach­ wissenschaftlern, wenn sie grundsätzlich werden, führt immer wieder zu einer Öffnung des theoretischen Diskurses in die Empirie hinein, der wir hier grundsätzlich ausweichen wollten. Ob solches Ausweichen prinzipi­ ell möglich und sinnvoll ist, das ist die erste Frage, die wir an den Leser richten. 2 . Zentrale Termini des allgemeinen Begriffs der Produktionsweise (bei Marx) wurden entweder nicht ausgewiesen (Differenz Arbeitsgegenstand-Arheitsmittelss), umgangen (Produktionsverhältnisse-Eigentumsverhältnisse, Produktivkräfte, Dialektik von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften) oder ersetzt (Appropriation statt Ausbeutung59). Diese Zurückhaltung gründet in materialistischen Denkverfestigungen, denen gegenüber wir einerseits im Rezeptionsprozess marxscher Theo­ rie Vorbehalte entwickelt haben,60andererseits hat die Aufhäufung fach­ wissenschaftlicher Problemlagen uns daran gehindert. Es ist zu fragen, inwieweit hier ideologische Inkonsequenzen im Spiel sind oder objektive Theorieprobleme, die uns verborgen geblieben sind. 3 . Ist es gerechtfertigt, begriffliche Unscharfen quasi zu produzieren, wenn man Begriffe wie Mehrarbeit bzw. -produkt, Surplus, Rente und Revenue so gut wie synonym gebraucht, wie dies hier geschehen ist? 4 . Vermögen neue Begriffe wie Servilität, Zirkulationsrente, stän­ dische Klasse, die wir eingeführt haben, das zu leisten, was mit ihnen

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58 59 60

ben bei Ernst Pitz: Die Wirtschaftskrise des Spätmittelalters, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 52/1965, S. 349 ff. Vgl. hierzu den Beitrag von Vilar in: Michael/Kuchenbuch: Feudalismus; dazu auch Vilars wich­ tiger Fragenkatalog, den er für die Tagung des CERM zusammengestellt hat (Sur le féodalisme, Paris 1971, S. 49 ff). Vgl. Meillassoux: Wilde Früchte, S. 47 f, Siehe Anm. 599. Vgl. die Vorbemerkungen zu I C, D.l in Michael/Kuchenbuch: Feudalismus.

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6 — Zur S tru k tu r u nd D ynam ik d e r fe u d a le n P ro d u k tio n s w e is e

beabsichtigt ist, oder tragen sie eher zur Kaschierung von Problemen bei? 5. Ist die Erläuterung der einzelnen Produktionssektoren vielfach bereits in Einzelheiten eingedrungen, die die Abstraktionsstufe des Begriffs der feudalen Produktionsweise transzendieren, birgt die ver­ suchte Systematisierung der Einzelphänomene nicht doch die Gefahr einer idea/typischen Begriffsbildung im Sinne Webers, und zuletzt: Ist mit diesen Einzelheiten auch jeweils das »getroffen« worden, was als spe­ zifisch für die feudale Produktionsweise im vorindustriellen Europa zu gelten hat? Diese Auflistung von Fragen, die ohne Schwierigkeiten fortgesetzt werden könnte, soll damit abgebrochen werden. Zuletzt eine Entschuldigung: Die Schwierigkeit der Probleme hat uns eine Sprache oktroyiert, die bisweilen die Grenze der Lesbarkeit erreicht haben mag. Dieses Manko kann nur durch mehr Erfahrung und Fort­ schritt in der Sache behoben werden.

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7 ---- Bäuerliche Ökonomie und feudale Produktionsweise Ein B eitrag zur W e lts y s te m d e b a tte a u s rm ediävistischer S ich t

► Der folgende Text entstand a u f der Grundlage eines Vortrags, den ich auf der internationalen Konferenz »Drei Welten odereine?«, die 197g in Berlin stattfand, hielt. Diese war vom Berliner Institut fü r vergleichende Sozialforschung (Jochen Blaschke) mit dem Ziel initiiert worden, die weltweite Immanuel-Wallerstein-Debatte über die Form und historische Genese des kapitalistischen Weltsystems im westdeutschen Diskursraum voranzubringen, besonders in der Westberliner Ethnologie-Szene, die durch die Berufung von Lawrence Kräder und Fritz Kramer einen enormen Innovationsschub erfah­ ren hatte. Nahezu alle »Alphamännchen« zur Sache waren mit Standardbeiträgen geladen (Immanuel Wallerstein, Robert Brenner, Peter Worsley, André Gunder Frank), dazu von deutscher Seite Dieter Senghaas, Ulrich Menzel und Ekkehart Krippendorf. Ich profilierte mich - nach kurzer Rekapitulation des Standes der internationalen Feudalismus-Diskussion - anhand ausgewählter Dokumente als Propagandist einer (klein-)bäuerlichen Produktions­ weise (Peasant-economy-Ansatz; konkretisierende Anknüpfung an den Aufriss im Reader - Beitrag 1), deren progressive Anpassungs­ kraft, heute Resilienz genannt, einerseits an Not und Missernten, andererseits an Tausch, Markt und Geld in ihrer dinglichen und sozialen Komplexität gründete und eine Offenheit bis hin zur selbst­ zerstörerischen Produktivität (Lohnarbeit) auf wies. Dieser Einschät­ zung entsprechend outete ich mich als Internalist innerhalb der Transition-Debatte, der Diskussion überden Übergang zum Kapita­ lismus, und plädierte damit auch implizitfü r die Eigenarten anderer vorkapitalistischer Produktionsweisen (worüber ich im Artikel »Fin­ den ist nicht verboten« fast zeitgleich berichtet hatte). Die Wirkung: Ich erinnere mich nicht an eine prägnante Diskus­ sion über meine Ausführungen, auch nicht an Auseinandersetzun­ gen rund um den wenig später gedruckten Aufsatz. Mir sind lediglich gelegentliche Zitationen im Zusammenhang mit der fortschreiten­ den Peasant-economy-Forschung bekannt.

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7 — B ä u e rlic h e Ö k o n o m ie u nd fe u d a le Produktionsw eise

WAS k a nn ei n an f e u d a l i s m u s - t h e o r i e interessierter Historiker des europäischen Mittelalters zur Weltsystemdebatte beitragen? Erkann das begriffliche Instrumentarium erweitern bzw. korrigieren, das in der Diskus­ sion besonders zur Spezifizierung des europäischen Feudalismus im Ver­ gleich mit außereuropäischen Agrargesellschaften benutzt wird. Er kann das neuerlich so wichtig gewordene Problem der ungleichen Entwicklung verschiedener Räume bzw. Regionen in Europa gerade vor der Entstehung einer Weltökonomie und eines hierarchischen Staatensystems für die Dis­ kussion fruchtbar machen. Und erkann die Tendenzen zur Transformation in agrar-, handeis- und gewerbekapitalistische Produktionsverhältnisse, die dem europäischen Feudalismus im Mittelalter innewohnen, historisch auf­ zeigen - dies mit allen Schüben, Stagnationen und Rückschritten in den verschiedenen Regionen. Ich möchte zu diesen Aufgaben nur systematisch und nur unter einem bestimmten Stichwort Stellung nehmen, dem der bäuerlichen Familienwirtschaften. Ich will deren Rolle im komplexen und abwechslungsreichen Prozess der Modifikation regionaler Feudalgesell­ schaften untersuchen: ein Problem, das immer noch zu pauschal behan­ delt wird.1 Das gilt besonders für die bäuerlichen Haushalte vor der Peri­ ode des »Übergangs«. Die Strukturen der ländlichen Produktionssphäre sind im Rahmen der Debatte noch nicht ausreichend behandelt worden. Ob die These vom Kampf um die (Feudal-)Rente oder um den (Handels-) Profit als »Motor« der Entwicklung des Feudalismus und seiner Transfor­ mation empirisch verifizierbar ist, hängt maßgeblich davon ab, wie sie auf die »basic similarities«2 der Millionen Bauernhaushalte bezogen ist. Zum Stand d er F eu d alism u s-D isk u ssion

Vorbei sind die Zeiten, in denen die historistische und theorieabstinente Fachwissenschaft im Westen und das dogmatische Formationsdenken stalinistischer Prägung im Osten verachtungsvoll und hadernd einander 1

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Immanuel Wallerstein: The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, New York/San Francisco/London 1974, S. 17 ff. Samir Amin: Class and Nation. Historically and in the Current Crisis. New York/London 1980, S. 63. Rodney H. Hilton: Bond Men Made Free. Medieval Peasant Movements and the Knglish Rising of 1381, London 1973. S. 26.

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gegenüberstanden.3 Manche Gräben sind inzwischen zugeschüttet und manche Stege gangbar, Fronten haben sich verschoben. Die Auseinander­ setzungen sind produktiv geworden, und die Gesamtsituation ist dem­ entsprechend unübersichtlich. Natürlich ist die Fachwelt nach wie vor in zwei Lager gespalten. Die Vertreter eines engen Feudalismus-Begriffs halten weiter daran fest, dass dieser - wenn überhaupt4 - am besten zur Kennzeichnung der Binnenverhältnisse der mittelalterlichen Herrschaftsträger tauge das Lehnswesen bestimme maßgeblich die Form des mittelalterlichen »Personalverbands«-Staates. Andererseits wird auf der Basis solcher Grundpositionen doch vielfach nach den Bedingungsverhältnissen von Lehnswesen und Grundherrschaft gefragt.5 Das Lager derjenigen, die einen sozialökonomisch weit gefassten Feuda­ lismus-Begriff benutzen und diskutieren, ist durch eher disparate Aktivitä­ ten gekennzeichnet. Erste Versuche, diese zu koordinieren, sind erkennbar. In der englischen Zeitschrift Past & Present hat Robert Brenner (1976) eine Debatte über das Verhältnis von feudalen Klassenkonflikten und wirt­ schaftlicher Entwicklung im vorindustriellen Europa ausgelöst, die weiter anhält.6In Paris tagt seit 1976 regelmäßig eine Société d ’étude duféodalisme, die auch eine Zeitschrift plant. In der DDR erscheint seit 1977 ein »Jahrbuch für die Geschichte des Feudalismus«. In Trier fand im Mai 1981 eine interna­ tionale Tagung zum »Problem des Feudalismus in Europa« statt. Wie sind die inhaltlichen Disparitäten dieser Diskussion zu gliedern? Einmal wird diskutiert, wie das Werk von Karl Marx - und das von Fried­ rich Engels und W. I. Lenin - als Orientierung dienen kann. In diesen rezeptionstheoretischen Debatten, deren politische Tinktur hier nicht interessieren soll, geht es einerseits um die Frage des »richtigen« Aus­ gangspunktes: Hat man den Formations-Begriff, die Produktionsverhält­ nisse oder die Produktionsweise als allgemeinen sozial-ökonomischen Begriff zu wählen? Es hat den Anschein, dass hier die Entscheidung für den Begriff der Produktionsweise gefallen ist.7 Schwieriger scheint die Bestimmung des theoretischen Status dieses Begriffs zu sein. Die pro3

4 5

6 7

Heide Wunder: Einleitung: Der Feudalismus-Begriff, Überlegungen zu Möglichkeiten der histori­ schen Begriffsbildung, in: dies. (Hrsg.): Feudalismus, Zehn Aufsätze. München 1974; Kuchenbuch/ Michael: Struktur und Dynamik, S. 150 f., 295 ff.; Claire Billen/Christian Dupont: Problématique marxiste et histoire rurale du Moyen Age (Vlll'-XUl' s.) entre Loire et Rhin, in: Acta Histprica Bruxellensia IV, Bruxelles 1981; Alain Guerreau: Le féodalisme. Un horizon théorique, Paris 1980. Elizabeth A. R. Brown: The Tyranny of a Construct: Feudalism and Historians of Médiéval Europe, in: The American Historical Review 79/1974, S. 1063-1088. Otto Hintze: Wesen und Verbreitung des Feudalismus [1929], in: ders.: Staat und Verfassung, Göttingen 1970; Bloch: Société féodale; Robert Boutruche: Seigneurie et féodalité, 2 Bde., Paris 1968/1970; Slicher van Bath: Agrarian History; Georges Duby: Les Trois Ordres ou L'imaginaire du féodalisme, Paris 1978; Friedrich-Wilhelm Henning: Landwirtschaft und ländliche Gesell­ schaft in Deutschland, Bd. 1:800-1750, Paderborn 1979. Alf Lüdtke/Hans Medick (Hrsg.): Feudalismus und Kapitalismus auf dem Lande, in: Sozialwis­ senschaftliche Informationen für Unterricht und Studium 8-3/1979. Aidan Foster-Carter: The Modes of Production Controversy, in: New Left Review 107/1978.

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vokante Untersuchung von Barry Hindess und Paul Q. Hirst (1975) hat hier Wunden bei all denen gerissen, deren Mainstream-Marxismus nun des Pragmatismus verdächtig ist.8Auch die Feudalismus-Problematik ist davon nicht unberührt geblieben. Den »marxologischen« Rezeptionswei­ sen des Feudalismus-Begriffs9 wird die Unbrauchbarkeit ihrer abstrak­ ten Begriffe für empirische Untersuchungen vorgeworfen. Zudem sei die Hinterlassenschaft der »Klassiker« als Quelle nur begrenzt geeignet; maßgebliche Anstöße zur Forschung könne sie kaum liefern. Es gehe nicht darum, die »Lehren« der Klassiker litaneihaft zu bestätigen. Man müsse eigenständig theoretisch arbeiten und die historische Wirklich­ keit in ihrer Formenfülle untersuchen. Man kann noch weitergehen und fordern, dass der »Marxologie« erst einmal die Marx-Philologie voran­ gestellt werden müsse: Ohne eine genauere Analyse der FeudalismqsAnschauungen im Rahmen der Werkentwicklung gerät alle theoretische Rezeption in die Nähe normativer Auslegung.10 Als zweite Problemebene der Diskussion könnte man das Hickhack um die Brauchbarkeit des Feudalismus-Begriffs für universalhistorische Ordnungsversuche ansehen: Eine Fraktion plädiert weiter beharrlich für eine universalgeschichtliche »Anwendung« und muss dementsprechend das Konstruktionsniveau ihres Feudalismus-Begriffs sehr hoch anset­ zen.11 Eine andere Partei - zum Teil polemisch gegen einen verkappten oder offenen Eurozentrismus gewendet - bestimmt die feudale Produk­ tionsweise in Europa als primitive, unvollständige Form der ubiquitären »tributären Produktionsweise«.12 In der Diskussion um die spezifische Form des europäischen Feu­ dalismus lassen sich drei Ausgangspunkte unterscheiden. Einmal wird versucht, die Struktur der feudalen Produktionsweise als komplexen allgemeinen Begriff zu entwickeln.13 Zum Zweiten werden durch zum Teil quellennahe Untersuchungsformen regional bzw. epochal begrenzte Versuche zur Begriffsbildung und Differenzierung unternommen.14 Von H 9 10 11

Barry Hindess/Paul Q, Hirst: Pre-Capitalist Modes of Production, London 1975 [dt. 1981]. Ebd., S. 221 ff.; Ferenc Tökei: Antike und Feudalismus, Budapest 1977. Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, S. 229 ff. Bernhard Töpfer: Zu einigen Grundfragen des Feudalismus. Ein Diskussionsbeitrag, in: Heide Wunder (Hrsg.): Feudalismus. Zehn Aufsätze, München 1974; Guy Dhoquois: Feudalität und Feudalismus, in: Kuchenbuch/Michael: Feudalismus; Hamza Alavi: Die koloniale Transforma­ tion in Indien. Rückschritt vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: Jan-Heeren Grevemeyer (Hrsg.): Traditionale Gesellschaften und europäischer Kolonialismus, Frankfurt a. M. 1981. 12 Amin: dass and Nation, S. 60 ff.; im Anschluss daran Dieter Senghaas (Hrsg.): Kapitalistische Weltökonomie. Kontroversen über ihren Ursprung und ihre Entwicklungsdynamik, Frankfurt a. M. 1979, S. 14, und Hartmut Elsenhans: Grundlagen der Entwicklung der kapitalistischen Weltwirtschaft, in: Dieter Senghaas (Hrsg.): Kapitalistische Weltökonomie. Kontroversen über ihren Ursprung und ihre Entwicklungsdynamik, Frankfurt a. M. 1979, S. 107. 13 Perry Anderson: Die Entstehung des absolutistischen Staates, Frankfurt a. M. 1979, S. 175 ff.; Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, dazu kritisch Guerreau: Féodalisme, S. 112 ff. 14 Kula: Theorie économique; Bois: Crise du Féodalisme, S. 351 ff„ dazu kritisch und weiterführend Peter Kriedte: Spätmittelalterliche Agrarkrise oder Krise des Feudalismus?, in: Geschichte und Gesellschaft 7/1981; Hans-Heinrich Nolte: Zur Stellung Rußlands im europäischen Feudalis-

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diesen Arbeiten sind maßgebliche Fortschritte ausgegangen und noch zu erwarten. Die theorieorientierte Untersuchung ganz konkreter Ver­ hältnisse zwingt nämlich zur Begriffsbildung auf niedrigerem Abstrak­ tionsniveau, als dies bei der Abhandlung raum- und zeitübergreifender Verhältnisse der Fall ist. Nicht ganz beiseitelassen sollte man aber sekto­ rale Untersuchungen wie zur Entwicklung der Feudalmonarchien,15 zur Gesellschaftsideologie16 und zum feudalen Weltbild.17 Die Frage nach der spezifischen Rolle der Bauern innerhalb der feudalen Produktionsweise bzw. im Rahmen des europäischen Feudalismus hat - trotz der Arbeiten von Rodney H. Hilton18 - bislang nur wenig Beachtung gefunden.19 Angesichts dieser Situation ist es nicht verwunderlich, wenn in der »Übergangs-Debatte«20 an dem Punkt der Gesamtargumentation, wo die besonderen Verhältnisse des europäischen Feudalismus angespro­ chen werden sollten, die Eigenart der ländlichen Produktionssphäre, das spezifische System der europäisch-feudalen peasant economy nicht recht zum Zuge kommt, im Lager der »Internalists«, auf die ich mich hier beschränken muss, ist meist der Begriff »parzellierte« bzw. »zerstückelte« Souveränität der Ausgangspunkt der Überlegungen. Dem entspricht die dezentralisierte Form der Aneignung des Surplus bzw. der Rente.21 Dieser Ansatz beansprucht dreierlei für sich: Zunächst einmal sind damit wich­ tige Entstehungsbedingungen des Feudalismus zugleich als »Resultat seines Daseins«22 verstehbar. Er übernimmt Erbschaften, die er in sich aufhebt, die ihn prägen. Dazu gehören aus der »primitiven kommunalen

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mus, in: Gesellschaftsformationen in der Geschichtet, Berlin 1978; Pierre Toubert: Les féodalités méditerranéennes: un problème d'histoire comparée, in: Structures féodales et féodalisme dans l’occident méditerranéen (Xe—XIIIe siècles). Bilan et perspectives de recherches, Rome 1980; Peter Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaftsge­ schichte vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1980, S. 9 ff.; Billen/Dupont: Problématique marxiste. Hans Kammler: Die Feudalmonarchien. Politische und wirtschaftlich-soziale Faktoren ihrer Entwicklung und Funktionsweise, Köln/Wien 1974. Duby: Les Trois Ordres. Aaron J. Gurjewitsch: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, Dresden 1978. Hilton: Bond Men Made Free, S. 25 IT.; ders: Médiéval Peasants - Any Lessons?, in: lournal of Peasant Studies 1/1973-74; ders.: Women in the Village, in: ders.: The English Peasantry in the Later Middle Ages, Oxford 1975. Jairus Banaji: The Peasantry in the Feudal Mode of Production: Towards an Economic Model, in: Journal of Peasant Studies 3/1975-76, mit schiefen Verallgemeinerungen ausgehend von Kula: Théorie économique. Paul Sweezy/Maurice Dobb u. a.: Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Frankfurt a. M. 1978, S. 7 ff.; Dieter Senghaas (Hrsg.): Kapitalistische Weltökonomie. Kontroversen über ihren Ursprung und ihre Entwicklungsdynamik, Frankfurt a. M. 1979, S. 7 ff.; Kriedte: Spätfeu­ dalismus und Handelskapital, S. 197 f.; Alf Lüdtke/Hans Medick (Hrsg.): Feudalismus und Kapi­ talismus auf dem Lande, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium 8-3/1979, S. 124 ff. Amin: d ass and Nation, S. 65; Senghaas: Kapitalistische Weltökonomie, S. 14; Hans-Heinrich Nolte: Zur Stellung Osteuropas im internationalen System der frühen Neuzeit, Außenhandel und Sozialgeschichte bei der Bestimmung der Regionen, in: Jahrbücher für die Geschichte Ost­ europas 28/1980, S. 191, Anderson: Antike zum Feudalismus, S. 175. Marx: Grundrisse, in: MEW. Bd. 42, S. 371 ff. (MEGA2, Bd. 11/1.2, S. 36 7 ff.).

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Produktionsweise« der Germanen23 Gefolgschaft, Heerkönigtum und andere und aus der Antike Münzgeld, Christentum, Kolonat usw. Zwei­ tens lassen sich so spezifische Resultate der Entwicklung des europäi­ schen Feudalismus begründen, denen ein wichtiger Ursachenanteil am Transformationsprozess zukommt: der Ständestaat24 und besonders die Stadt25 mit ihrer welthistorisch einmaligen Verbindung von politischer (Teil-)Autonomie, Handelskapital, Gewerbe und ebenso direktem wie ungleichem Austausch mit dem (Um-)Land. Besonders in Perry Andersons Argumentation ist drittens eine Absicht erkennbar, die methodisch ins Zentrum aller Theorie über vorkapitalis­ tische Produktionsweisen zielt: die nähere Bestimmung der Rolle des »außerökonomischen Zwanges« für das Verhältnis von Produktion, Aneignung und Verteilung. Gegen eine falsche universalhistorische Ver­ allgemeinerung der Feudalismus-Kategorie gerichtet, die weder der For­ menfülle vorkapitalistischer Formationen gerecht werden noch die Gene­ sis des Kapitalismus in Europa erklären kann, führt er aus: »Eine adäquate Erfassung und Darstellung vorkapitalistischer Produktionsweisen ist daher überhaupt nur dann möglich, wenn zuvor die jeweiligen politi­ schen, rechtlichen und ideologischen Superstrukturen analysiert werden, denn sie schufen und institutionalisierten die jeweils charakteristischen Formen des außerökonomischen Zwangs. Die für jedes Einzelbeispiel einer vorkapitalistischen Gesellschaft als typisch nachweisbaren, juris­ tisch fixierten Abhängigkeits-, Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse sind keineswegs irgendwelche zufallsbedingten Epiphänomene, sondern ganz im Gegenteil die entscheidenden Determinanten der innerhalb eines bestimmten Sozialgefüges herrschenden Produktionsweise.«26Anderson handelt denn auch die ökonomischen Verhältnisse des »unmittelbaren Produzenten« bei seinem Aufriss der feudalen Produktionsweise beiläu­ fig ab; eher kommen Hörigkeit, skalare Eigentumsverteilung bzw. -gliederung und geteilte Zwangsgewalt in den Blick.27 Ich will hier keine theoretische Debatte darüber vom Zaune brechen, welche Wechselwirkungen in der feudalen Produktionsweise zwischen der Verteilung der Produktionsvoraussetzungen, den Agenten des Pro­ duktionsprozesses und der Verteilung der Produktionsresultate beste­ hen.28Immerhin fällt auf, wie schwierig es ist, die Zirkulations- und Distri­ butionsverhältnisse im europäischen Feudalismus den Austausch-Typen 23 Anderson: Antike zum Feudalismus, S. 127 ff. 24 Anderson: Absolutistischer Staat. 25 Anderson: Antike zum Feudalismus, S. 178 ff.; lohn Merrington: Stadt und Land im Übergang zum Kapitalismus, in: Paul Sweezy/Maurice Dobb u. a.: Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, Frankfurt a. M. 1978. 26 Anderson: Absolutistischer Staat, S. 523. 27 Anderson: Antike zum Feudalismus, S. 175 ff.; Guerreau: Féodalisme, S. 177 ff. 28 Marx: Grundrisse, in: MEW, Bd. 42, S. 30 ff. (MEGA2, Bd. 11/1.1, S. 31 ff.).

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zuzuordnen, die Karl Polanyi unterschieden hat: Reziprozität, Redistribu­ tion und Marktverkehr,29 Gerade von diesen drei Typen aus hat Imma­ nuel Wallerstein seine Vorstellung von vier möglichen Produktionswei­ sen entwickelt: »reciprocal mini-systems, redistributive world-empires, capitalist world economy, socialist world government«.30 Dieser Typolo­ gie nach hätte man die europäischen Feudalgesellschaften als »redistri­ butive world-empires« (oder als ein System solcher Reiche) zu betrachten. Diese Charakterisierung geht so gut wie ganz an den spezifischen Pro­ duktionsverhältnissen der feudalen Bauern vorbei und deckt die grund­ legend asymmetrischen Appropriationsverhältnisse in der feudalen Produktionsweise mit einem symmetrischen Begriff ab. Dabei ist m. E. erst zu bestimmen, welche Form und welches Maß an binnenstaatlicher und innerherrschaftlicher Redistribution es in den Feudalgesellschaften Europas überhaupt gegeben hat, und das ist ohne die Charakterisierung der Aneignungsverhältnisse unmöglich. Das Problem führt also zurück zur Analyse der Produktionssphäre. Deshalb meine ich, dass sich der Ver­ such lohnen könnte, »die Ausbeutungsformen von den ökonomischen Verhältnissen als solchen abzulesen«.31 Mag ich mich damit auch dem Ökonomismus-Vorwurf aussetzen, so tue ich dies in der Hoffnung, dass mir zum besseren Verständnis der Probleme aufgeholfen wird, die mich dazu verleitet haben, überhaupt Stellung zu nehmen. Hartmut Elsenhans fragt in einem Diskussionsbeitrag danach, warum »Durchsetzung von Konkurrenz und steigender Massenkonsum möglich wurden«,32 die er für die entscheidenden Voraussetzungen für die Entstehung des Kapi­ talismus hält. Und er antwortet: »Eine Reihe dieser Faktoren ist in der spezifischen Form der >tributären< Produktionsweise des europäischen Mittelalters zu sehen, dem Feudalismus, in dem die privilegierte Klasse ihre Einnahmen überwiegend aus dem Besitz von Ländereien (und nicht aus Ämtern) zog. Das Einkommen jedes Grundherrn war vor allem durch das Mehrprodukt bestimmt, das er sich als Einzelner von seinen Bauern aneignen konnte; Produktivitätssteigerungen kamen zunächst ihm, nicht anderen Mitgliedern der Grundherrnklasse, zugute. Gleichzeitig war die Ausbeutungsrate begrenzt. Aus Verbesserungen der Produktivität zogen auch die Bauern Nutzen, sodass diese ein Interesse an Innovation hatten und langsam einen Markt für gewerbliche Produkte bildeten.«33 Diese Bestimmungen sind weiter gefasst als die vorab zitierten, aber auch 29

Karl Polanyi u. a. (Hrsg.): Trade and Market in the Early Empires. Economies in History and Society, New York/London 1957, S. 250 ff. 30 Zit. n. Aidan Foster-Carter: The Modes of Production Controversy, in: New Left Review 107/1978, S. 74. 31 Anderson: Absolutistischer Staat, S. 522. 32 Elsenhans: Grundlagen der Entwicklung. 33 Ebd., S. 108; so schon Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Studienausgabe, Köln/Berlin 1956 [1922], S. 823.

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i aus ihnen geht nicht hervor, ob es Kausalbeziehungen zwischen der bäu;; erlichen Produktionsstruktur, den grundherrlichen Einkommen und den f Märkten gab und inwieweit vereinzelte Aneignung, begrenzte Ausbeu­ tungsrate, Produktivitätssteigerung und Interesse an Innovation sich als Folgeerscheinungen solcher Kausalbeziehungen verstehen lassen. Immerhin wird anvisiert, was sich in der Diskussion neuerer Forschungs­ ergebnisse zunehmend als ein Bündel entscheidender Voraussetzungen für den Durchbruch des industriellen Kapitalismus - und seine regional und zeitlich so verschiedenen Ausprägungen - erweist. Es sind eben die europäischen Bauern mit ihren vielfältigen Funktionen: — Sie tragen zur Erweiterung der regionalen Märkte und deren Verflech­ tung durch die Erhöhung der Marktquote pro Haushalt wie durch die Spezialisierung auf besonders nachfrageelastische (Agrar-)Produkte bei. Beides ist die Folge von verschiedenen Arten der Produktivitäts­ steigerung, es kann sich aber auch aus dem Entzug herrschaftlicher Ansprüche ergeben (Verfall bzw. Absinken der Rentenquote). Dies wird besonders von den Vollbauern bzw. Großbauern oder Pächtern erreicht. — Die ländlichen Unterschichten werden für die Erweiterung des Mas­ sengüterexports in Dienst genommen - seien es Zerealien, die über Gutsherrschaft (sogenannte Leibeigenschaft) erwirtschaftet werden, seien es Textilien, die über protoindustriell verlegte Hausarbeit her­ gestellt werden. — Auch dieser Vorgang selbst schafft die Bedingungen zur Ausweitung von Lohnarbeitsverhältnissen. All dies geschieht unter sehr verschiedenen ökologischen, demografi­ schen und politischen (d. h. auch rechtlichen) und konjunkturellen Bedin­ gungen. Ausdruck hiervon ist die ausgeprägte räumliche Differenzierung dieser Prozesse.34 Man könnte deren Vorgeschichte darlegen, um damit zu zeigen, was die mittelalterlichen Bauern hierzu eigentlich beigetragen haben (könnten). Doch wäre ein solches Verfahren eben methodisch nur angemessen, wenn es der räumlichen Disparität der - im Mittelalter zum Teil noch ausgeprägteren - Einzelerscheinungen präzise Rechnung trüge. Das aber sprengt den hier gegebenen Rahmen. Ich versuche deshalb einen anderen, zugegebenermaßen abstrakte­ ren und damit spekulativeren Weg, der aber besser zum Charakter der hier versammelten Beiträge passt. Ich frage: Sind der mittelalterlichen Bauernschaft spezifische Elemente und Beziehungen inhärent, die als 34 Edwin E. Rich/Charles H. Wilson (Hrsg.)-. The Economy of Expanding Europe in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, The Cambridge Economic History of Europe. Bd. IV. Cambridge 1967; Jan de Vries: The Economy of Europe in an Age of Crisis, 1600-1750. London/New York/ Melbourne 1976; Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm: Industrialisierung vor der Industrialisierung; Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977; Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital; Robert Brenner: Agrarian dass Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europe, in: Past & Present 70/1976.

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systematischer Bezugspunkt für die Bemühung dienen können, die oben angedeuteten Vorgänge historisch zu erklären? Gibt es also so etwas wie eine spezifische Physiognomie der ländlichen Verhältnisse im europäi­ schen Feudalismus, die bestimmte Entwicklungsrichtungen impliziert? Die b äu erlich e W irtsch aft in den Q uellen - drei Beispiele

Vor ein solches abstraktes Räsonnement möchte ich jedoch Quellen­ zitate stellen, die der Anschauung dienen können und zugleich zeigen sollen, von welcher Art Überlieferung man ausgehen muss, wenn man den Begriff mittelalterlich-feudaler Bauernwirtschaft erarbeiten will: Erstes Beispiel: Die karolingische Benediktinerabtei Prüm in der Eifel verfügte als Grundherrschaft am Ende des 9. Jahrhunderts über weit mehr als 2000 meist mit herrschaftlichen Fronhöfen verbundene Bauernhöfe (Hufen), die sich über ein Gebiet zwischen Zuidersee und Oberlothringen, mittle­ rer Lahn und Maas unterschiedlich dicht oder locker verteilten.35 a. Der Ertrag der Hufen, die die Abtei in Duisburg36 besaß, wird wie folgt beschrieben: »Es sind dort 19 Lazenhufen [Lazen/Liten: persönlich freigelassene Grundhörige]. Jede zinst zur Geburt des Herrn 20 Pfennige, zu Ostern ein Huhn, zehn Eier; im Frühjahr anstelle des Troßdienstes; zwölf Pfennige. [Jede zinst] ein Pfund Lein und in jedem zweiten Jahr ein Schwein im Wert von fünf Pfennigen. Pro Woche sind zwei Tage zu arbeiten. Es sind dort zwei weitere Hufen. Jede zinst jährlich 36 Pfennige und nichts anderes weiter. [...] Es sind dort vier Hufen, die Meginardus [dem Kloster] gegeben hat. Die eine von ihnen zinst 15 Scheffel Gerste, 16 Scheffel Roggen, 14 Scheffel Hafer, zwei Widder im Wert von zwölf Pfennigen; [sie front] jährlich einmal 14 Tage lang und: leistet einen Pflugtag. Die zweite Hufe zinst 31 Scheffel Gerste, zwölf Scheffel Hafer, zwei Widder, front 14 Tage und pflügt einen Tag. Die dritte Hufe zinst 16 Scheffel Roggen, zwölf Scheffel Gerste, zwölf Scheffel Hafer, zwei Widder, 14 Tage Fronund einen Tag Pflugdienst. Die vierte Hufe zinst 16 Scheffel Roggen, zwölf Scheffel Gerste, zwölf Scheffel Hafer, das Übrige wie die obigen. Es sind dort Haistalden, jeder zahlt zwölf Pfennige; die Frauen zahlen 60 Pfennige« [kopfzinspflichtige, ledige, meist landarme Per­ sonen] 35

Ludolf Kuchenbuch: Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. Studien zur Sozialstruktur der Familia der Abtei Prüm, Wiesbaden 1978, S. 46 ff. 36 Heinrich Beyer (Hrsg.): Urkundenbuch zur Geschichte der jetzt die Preußischen Regierungsbe­ zirke Coblenz und frier bildenden mittelrheinischen Territorien, Düsseldorf 1860, S. 190.

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b. Die Beschreibung der Domäne in Odenbach (Nahegebiet)37 lautet: »In Odenbach ist eine Kirche, zu der 15 Joch Land gehören. Der Priester hat drei Hufen zu Lehen. Er zinst 120 Pfennige. Es ist dort Herrenland, auf das man 80 Scheffel aussäen kann. Dort sind sechs Lazenhufen. Jede zinst zwei Hühner, zehn Eier; sie front zweimal 14 Tage, bestellt drei loch Ackerland. Zur Heumahd und Getreideernte schickt sie täglich zwei Leute. Sie befördert zwei Karren Holz; je zwei Hufen befördern eine Karre Wein, wenn nicht, dann sind sieben Pfennige zu zahlen. Es sind dort zwei Knechtshufen (auf unfreien Stand früherer Inha­ ber zurückgehend). Jede zinst zwei Hühner, zehn Eier; sie befördert Holz, bäckt Brot und braut Bier, hält Wache und trägt Wasser. Sie leis­ tet Botendienst und alle anderen knechtischen Fronden.« c. Für die circa 150 hörigen Bauern auf circa 50 Freienhufen (auf freien Stand früherer Inhaber zurückgehend) in der großen, über mehrere Ort­ schaften verstreut liegenden Domäne von Villance (Ardennen)38 gilt die folgende Regelung ihrer Mehrarbeitsformen: »In Libin [bei Villance] haben Amulricus, Rainfridus, Folcricus und Helpricus [zusammen] eine Freienhufe, und sie zinsen im Dezember zusammen vier Schweine oder 20 Pfennige, dazu 60 Bündel Flachs. Im August anstelle des [ursprünglich zusätzlich erbetenen] Pflugtages vier Ferkel oder 16 Pfennige, drei Hühner, 20 Eier, 20 Wollbündel oder zwei Scheffel Hafer. Sie fronen zweimal 14 Tage, wo immer befohlen. Sie pflügen und düngen mit ihrem Mist einen halben Morgen zur Win­ tersaatzeit, um dort Roggen einzusäen; sie pflügen vier Morgen Som­ mersaatland im März und April. Dort werden ihnen vier Brote und zwei Becher Bier gereicht. Sie leisten zwei (zusätzlich erbetene) Pflugtage, zu denen vier Brote und zwei Becher Bier gehören. Sie stellen einen Block Holz her, der sechs Fuß lang und breit sowie mannshoch ist. Sie leisten Fuhrdienst im Mai und Dezember; wird Roggen oder Weizen befördert, dann soll die Karre mit zwölf Scheffeln beladen sein, ist es Hafer, dann mit 20 Scheffeln. Sie fronen wöchentlich drei Tage. Man möge Folgendes beachten: Haben vier Leute eine Hufe inne, dann zinsen sie vier Schweine im Wert von 20 Pfennigen, 20 Pfennige anstelle des Troßdienstes, 16 Pfennige anstelle der vier Pflugtage, drei Hühner, 20 Eier, 20 Wollbündel oder zwei Scheffel Hafer, 60 Bündel Flachs. Sitzen drei Leute auf einer Hufe, dann zinsen sie drei Schweine im Wert von 15 Pfennigen, 15 Pfennige anstelle der Troßdienstes, zwölf vangaevangae< zahlen zwei Schillinge, zwei je drei Schillinge. Die Hufner und die Inhaber der Lehen bauen das Haus des Abtes, die Scheune und die Mühle, außer den Dächern; die Inhaber der >vangae< sorgen für den Bau, der Abt hilft dabei aber mit. Die einzelnen >vangae< sollen in drei Pferdefuhren das Getreide des Herrn entweder nach Andernach, Hatzenport oder Nürburg bringen, wenn der Abt es befiehlt. Die oben genannten Hufen zahlen acht Schil­ linge. [...] Wenn der Abt ins Dorf kommt, soll der Verwalter ihn und seine Pferde zur Nacht und zum Morgen verpflegen. Auch ein Viertel der Einkünfte vom Gemeindewald soll für den Abt sein. Wenn jemand aus dem Hörigenverband stirbt, bekommt der Abt das beste Stück Vieh; ist eine Frau gestorben, dann soll er das beste Stück haben, das sie mit ihren Händen gemacht hat. Zu Martini gibt der Müller dem Abt zwei Brot- und Fleischpfennige und einen Sester Wein. Waldhüter und Dekan geben das Gleiche. Der Abt muss die Mühlsteine kaufen, der Hörigenverband sie auf seine Kosten herbeischaffen. Die einzelnen Männer und Frauen des Hörigenverban­ des schulden dem Abt [jährlich] einen Kopfzins von sechs Pfennigen, und zwar in der Währung, die dort gilt, wo sie wohnen. Wenn jemand aus dem Hörigenverband einen Mann tötet, gibt er dem Abt 30 Schil­ linge und einen Obulus. Wenn die liegende und fahrende Habe eines 39 Charles-Edmond Perrin: Recherches sur la seigneurie rurale en Lorraine d’après les plus anciens censiers (Ixe-XIIe siècle), Paris 1935, S. 450 ff. 40 Übersetzt nach ebd., S. 730. 272

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Mannes diesem wegen irgendeiner Missetat aberkannt worden ist, fal­ len zwei Drittel dem Abt, ein Drittel dem Vogt zu. Der Müller gibt pro )ahr zwölf Scheffel Getreide und zwei weitere Scheffel zum Bierbrauen. Jeder soll wissen, dass auf allen Gerichtstagen des Vogts keine anderen Delikte als Diebstahl, Verschuldung, Schlägerei und Blutver­ gießen verhandelt werden sollen. Der Abt schuldet dem Vogt Folgendes-. Zu Weihnachten einen hal­ ben Malter Weizen, zwölf Fleischpfennige, zwei Krüge Wein, einen Krug Bier, einen Pfefferpfennig, einen Salzobulus, einen Malter Hafer; zwei Wochen später soll er dem Vogt zwölf Pfennige geben, damit die­ ser nicht seine Leute bedrückt. Dasselbe hat er zu Ostern und Johanni zu geben, außer dem Hafer. Von allem, was an den Gerichtstagen einkommt [Bußen, Friedensgelder], erhält der Abt zwei, der Vogt ein Drittel. Wenn einer der Abtsleute eine Frau von woanders heiratet, dann wird seine Habe nach seinem Tod außer einem Drittel, das sei­ nen Kindern und seiner Frau überlassen wird, dem Abt zufallen [...].« Drittes Beispiel; Nachdem Kaiser Karl IV. -fü r seinen Sohn Wenzel - die Mark Brandenburg von Markgraf Otto 1373 erworben hatte, ließ er 1375/76 ein umfassendes Verzeichnis aller Rechte und Einkünfte, das sogenannte »Landbuch«,41 erstellen, dessen zweiter Teil aus einem Dorfregister besteht, das die gesamte Mittelmark, die Uckermark, die Prignitz und Teile der Altmark erfasst. Aus dem Register über den Teltow (Teil der Mittelmark), das Beschrei­ bungen von 94 Dörfern enthält, folgen hier die von Schöneberg und Lankwitz;42 a. »In Schöneberg sind 50 Hufen [Landmaß: Anteil an der Flur; eine Vollbauernstelle hat meist drei bis vier Hufen], von denen der Pfar­ rer zwei, die Kirche eine [abgaben-]frei hat. lohannes Rike, Bürger in Neukölln, hat mit seinem Bruder zehn freie Hufen unter dem Pfluge, die er vom Markgrafen seit vielen Jahren hat. Parys [ritterlicher Vasall] ebendort hat zwölf freie Hufen unter seinem Pfluge von seinem Vater. Jede Hufe gibt als Pacht [ursprünglich: Zehnt] neun Scheffel Rog­ gen und neun Scheffel Hafer. Jede Hufe gibt als [Grund-]Zins zwei Schillinge und siebeneinhalb Schillinge als Bede [landesherrliche Steuer], drei Viertel Roggen und drei Viertel Gerste und eineinhalb Scheffel Hafer als Getreide-Bede. Die Nonnen in Spandau haben seit sehr vielen Jahren Pacht und Zins von fünf Hufen. Die Kalandsbrüder in Berlin haben Pacht und Zins von sieben Hufen seit neun oder zehn ■II lohannes Schultze (Hrsg.): Das Landbuch der Mark Brandenburg von 1375, Berlin 1940. ■I.! Übersetzt nach ebd.: S. 88,94.

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Jahren. Jakob Gortzik, Bürger in Berlin, hat von Ruthenick Pacht und Zins von zehn Hufen. Albert Rathenow in Berlin hat Pacht, Zins und Bede von zwei Hufen mit allem Recht von Parys. Parys hat vier Hufen mit allen Rechten; er hat außerdem die Bede von den anderen Hufen mit dem oberen und niederen Gericht und mit dem Patronatsrecht von seinen Eltern her. Der Markgraf hat den Wagendienst mit dem Vasallendienst. Doch behauptet Parys, er hätte den Wagendienst nach erblichem Recht seit undenklichen Zeiten. Dort sind 13 Kossätenhöfe [landlose bzw. -arme Kätner]; jeder gibt einen Schilling an Parys und ein Huhn. Der Krug gibt Parys 30 Schillinge.« b. »In Lankwitz sind 33 Hufen. Der Pfarrer hat vier. Als Pacht zahlt jede Hufe vier Scheffel Roggen, zwei Scheffel Gerste, fünf Scheffel Hafer; als Zins zwei Schillinge, als Bede drei Schillinge. Es gibt dort vier Kossäten; jeder zahlt einen Schilling und ein Huhn. Der Krug gibt dem Schulzen fünf Schillinge. Pacht, Zins, Bede, hohes und niederes Gericht sowie das Patronatsrecht haben die Spandauer Nonnen seit alters her.« Diese drei Quellenauszüge können für viele andere stehen, sind also als durchaus repräsentativ für die Teilepoche anzusehen, der sie angehören. Es sind Besitzbeschreibungen, besonders aber Einkunftsregister parti­ kularer Herrschaften. Deshalb gestatten sie relativ gute Einblicke in die lokalen Rentenverhältnisse.43 Quellen, die präzise Auskünfte über Haus­ halt, Familie und dingliche Ausstattung der Einzelbetriebe geben, sind demgegenüber rar. Für das spätere Mittelalter sind es dann die lokalen: Gewohnheitsrechte (Weistümer, Coutumes), die die dörflichen Berechti­ gungen der Bauernhöfe »spiegeln«. Allein die - seit dem 13. Jahrhundert einsetzenden - grundherrlichen Rechnungen gestatten es, die langfris­ tige Ertragsentwicklung der ländlichen Wirtschaften zu studieren.44 Ich beabsichtige nun nicht, eine Sozialökonomik der bäuerlichen Familienwirtschaft im europäischen Feudalismus zu entwickeln. Dazu fehlt es m. E. noch an Vorarbeiten in vielen Teilbereichen. Wenn ich im Folgenden einige Bemerkungen zur Stellung der Bauern innerhalb der feudalen Produktionsweise mache, dann optiere ich zugleich gegen Auf­ fassungen, die den Begriff der peasant economy für einen angemessen­ eren Ausgangspunkt halten.45 43

Robert Fossier: Polyptyques et cerisiers, typologie des sources du Moyen Age occidental, Lou­ vain 1978. 44 Bois: Crise du Féodalisme. 45 Eine gute Orientierung hierzu: Daniel Thornen Peasant Economy as a Category in Economic History, in: Teodor Shanin (Hrsg.): Peasants and Peasant Societies, Harmondsworth 1971.

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Meine Bemerkungen beziehen sich auf die Elemente der bäuerlichen Produktionsstruktur, die soziale Form des Produktionsprozesses, das Verhältnis der Familienwirtschaft zur Austauschsphäre und zur Abschöp­ fung der Mehrarbeit durch die verschiedensten Instanzen.46

Die bäuerlich-familiale Produktionsstruktur In der bäuerlichen Familienwirtschaft des europäischen Mittelalters sind extensiver Mehrfruchtgetreidebau (als Regenfeldbau), komplexe Viehzucht, die für Zugenergie (Pflug, Egge, Wagen), Dung, mannigfaltige Rohstoffe und Konsumtionsmittel sorgt, intensiver Gartenbau (Obst, Gemüse) und exhaustive, Wald- und Wasserwirtschaft lokal zu einem komplizierten Verbund zusammengefasst. Man hat diesen Verbundcharakter des Einzelbetriebes zwar in der Forschung allenthalben herausgearbeitet und in konkreten, raum­ zeitlich definierten Verhältnissen beschrieben. Jedoch fehlen theorie­ orientierte Folgerungen auf einer abstrakteren Ebene.47 Zum einen weist eine solche dingliche Betriebsgliederung eine hohe Flexibilität gegenüber dem jahreszyklischen Rhythmus der natürlichen Wachstumsprozesse auf: Die Arbeiten sind relativ gut über das Jahr verteilt. Zugleich kann ihre Vielgliedrigkeit auch den Unwägbarkeiten der Natur gegensteuern helfen: Produktionsausfälle oder -einbrüche im einen Sektor der Wirtschaft können (mindestens teilweise) durch den Ertrag eines anderen kompensiert werden (auch durch gesteiger­ ten Arbeitseinsatz); ein kalter und nasser Winter, der die Wintersaat beeinträchtigt und damit den Ertrag dezimiert, trifft die Sommersaat nicht; der Hagel zerstört nicht unbedingt das wachsende oder reifende Getreide der gesamten Flur; Kleinviehzucht, Obst und Gemüse können - durch gesteigerte Pflege - über Engpässe in der Getreideversorgung hinweghelfen, ebenso die Jagd und das intensive Aussammeln des Wal­ des. Auch die Ausstattung mit lebendigen Werkzeugen kann Flexibilität gestatten; Das Rind ersetzt das Pferd und umgekehrt. Ebenso wichtig ist die Flexibilität im Einsatz und der Verausgabung der betrieblichen Arbeitskräfte: Mann und Frau können einander in wichtigen, üblicherweise an den Geschlechtern »haftenden« Arbeiten ersetzen; es gibt demnach keine »geschlossene« geschlechtsspezifische 46 Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, S. 701 ff.; Hilton: Bond Men Made Free, S. 25 ff., deutsch in: Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, S. 481 ff.; Kula: Théorie économique, S, 43 ff.; Banaji: The Peasantry; als Fallstudie: Pierre de Saint-Iacob: Études sur l’Ancienne Communauté rurale en Bourgogne I, II, III, in: Annales de Bourgogne XIII/1941, S. 169 ff., XV/1943, S. 173 ff.; XVIII/1946, S. 237 ff.; als Materialsammlung Jan A. van Houtte (Hrsg.): Europäische Wirtschafts- und Sozial­ geschichte im Mittelalter, Stuttgart 1980. 47 Vorarbeiten bei: Bernard H. Slicher van Bath: Les problèmes fondamentaux de la société pré­ industrielle en Europe occidentale, Wageningen 1965; ders.: Landwirtschaftliche Produktivität im vorindustriellen Europa [1971], in: Kuchenbuch/Michael: Feudalismus.

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Arbeitsteilung.48Die Steigerung der Arbeitsanstrengung durch eine Erhö­ hung der Arbeitszeit pro Erwachsenen und die Ausdehnung der Arbeit auf Junge und Alte kann hinzutreten - »Selbstausbeutung« der betrieb­ lichen Gesamtarbeit. Man muss aber noch weiter gehen. Dieser Verbund ist nicht nur flexi­ bel gegenüber der diskontinuierlichen Natur, sondern ebenso gegenüber der ihn umgebenden Gesellschaft. Einerseits kann elastisch auf Markt-, d. h. Absatzchancen reagiert werden - dies zum Beispiel in der Nähe von städtischen, geistlichen und adligen Herrschafts- und Konsumzentren oder von Kombinationen derselben, über kurz-, mittel- und langfristige (Teil-)Spezialisierung durch die Ausweitung der Produktion in einem Sektor, sei es etwa im Bereich der nachfragestarren Güter, besonders Getreide, oder in den nachfrageelastischen Bereichen wie Gemüse, Milch­ produkte, Gewerbepflanzen u. a. m. Andererseits ist es möglich, den Ver­ bund für die Veränderung von herrschaftlichen Ansprüchen zu nutzen: Falls dies sowohl dem Interesse des Haushalts als auch der Herrschaft dient, können Dienste in Abgaben, Getreideabgaben in Viehabgaben, Pro­ dukte in Geld - und umgekehrt - kommutiert werden. Diese vielfache Flexibilität bildet den Bedingungsrahmen für grund­ legende Entwicklungsmöglichkeiten (Wachstumspotenziale): — Zum einen kann es (besonders in Sequenzen von »guten Jahren«, frei von Missernten, Seuchen und Krieg) zu einem beträchtlichen Wachstum der innerbetrieblichen Produktivität kommen. Deutlich wird dies bei der Steigerung der Getreideerträge,49 aber auch beim Ertragswachstum in anderen Sektoren. Auch hier kann die Steige­ rung aus einer verbesserten Arbeitsverteilung zwischen Mitgliedern und innerhalb der ineinander verschachtelten Produktionszweige im Jahreszyklus resultieren. — Zum Zweiten ist eine zwischenbetriebliche Spezialisierung als lokal­ dörfliche Arbeitsteilung möglich: Durch die »Freisetzung« von Dorf­ handwerkern wird der Einzelbetrieb entlastet. Das beste Beispiel ist die Entstehung der Mühle und der Schmiede.50 — Zum Dritten kann so ein generatives Verhalten entstehen, das zur erweiterten Reproduktion des Haushalts(-umfangs), also zu Bevölke­ rungswachstum führt. — Diese qualifizierenden und expansiven Entwicklungselemente kön­ nen aber auch, dies gehört zur inneren Dynamik der feudal-bäuer­ lichen Familienwirtschaft, in Widerspruch zu ihren Ausgangsbedin48

Christopher Middleton: The Sexual Division of Labour in Feudal England, in: New Left Review 113-114/1979; Hilton: Women in the Village; Shulamith Shahar: Die Frau im Mittelalter, Königstein/Ts. 1981, S. 205 ff. 49 Slicher van Bath: Landwirtschaftliche Produktivität, S. 532. 50 Jean Gimpel: Die industrielle Revolution des Mittelalters, Zürich 1980.

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gungen geraten: Die ökonomische Ertragslage des Verbundes bleibt im Laufe mehrerer Jahre gegenüber dem Wachstum der Familie zurück; es kommt zur Verknappung der Versorgungsquellen und zur »Übervölkerung« des Betriebes. Die zwischenbetriebliche Differenzierung führt zu einer Bereicherung auf der einen und zu einer Verarmung auf der anderen Seite. Diese Ent­ wicklung macht auch die Spaltung der Bauernschaft möglich - in investi­ tionsfreudige Betriebe einerseits und in Höfe, die von externen Arbeits­ chancen abhängig sind, andererseits. Die Optimierung des Verbunds oder eines Sektors im einen Betrieb geht also zulasten eines anderen und kann somit auch zu direkten Abhängigkeiten führen. Letzte Konsequenz dieses Prozesses: Der Verlust betrieblicher Auto­ nomie löst unter Umständen die Eigentumsbeziehungen zum Boden und zu den Werkzeugen a u f- die Folge ist zuerst Verschuldung, dann Enteig­ nung und später Lohnarbeit.

Die soziale Form des Produktionsprozesses Immer wieder hat man die Hegemonie der kleinbetrieblichen Form der Bauernwirtschaften gegenüber der herrschaftlichen Domäne und die Unabhängigkeit des bäuerlichen Produktionsprozesses von den renten­ beziehenden Aristokratien betont. Dies ist richtig und sollte keinesfalls unterbewertet werden. Zu leicht ist dabei aber übersehen worden, dass die bäuerlichen Haus­ halte auch voneinander unabhängig produzieren. Der lokale Verband, die Dorfgemeinde oder -genossenschaft, dient den Reproduktionszielen der Einzelbetriebe. Die Unterschiede in der Dichte der Koordinationsaufga­ ben, die der Genossenschaft zufallen, resultieren natürlich einerseits aus wirtschaftstopografischen und historischen Voraussetzungen (Weiler, Haufen-, Straßen-, Wald- bzw. Marschhufendorf, Einzelhofverband u. a.), andererseits aber - und das ist für unsere Argumentation hier wichtiger aus den ökonomischen Vorteilen verschiedener Kooperationsformen in den verschiedenen Sektoren. Im Getreidebau steht die zeitliche Koordi­ nation der Pflug-, Egg-, Saat-, Zäunungs- und Erntearbeiten im Vorder­ grund. ln der Viehzucht bildet die räumliche Vereinigung der zu den Ein­ zelbetrieben gehörenden Bodenanteile zur Stoppel- und Brachweide für die vereinigten Herden, die sich selbst ernähren und zugleich den Boden düngen, eine der wichtigsten Aufgaben. Im Bereich der exhaustiven Wald- und Wasserwirtschaft ist die Kontingentierung das wesentliche Ziel, das heißt die Zuteilung von Nutzungszeiten oder Mengen an Holz, Laub, Eicheln, Beeren, Honig, Kleinwild, Trinkwasser, Fischen u. a. m.51 Prinzipiell sind solchen Regulierungen die Ökonomie des Hausinnern, S1 Karl Siegfried Bader: Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde. Köln/Graz 1963.

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des Hofes, der angeschlossenen Gärten (mit der Kleinviehzucht!) und der Bodenanteile entzogen, die nicht der Getreideproduktion und dem Weid­ gang dienen (Hanf-, Flachs-, Rübenfelder o. Ä.). Rechtlich ergibt dies eine abnehmende Striktheit der individuellen Nutzungsweise - ausgehend vom Haus hin zur Dorfgrenze, vom intensiv bearbeiteten Zentrum des Betriebes zu seiner extensiv genutzten Peri­ pherie.52 Diese ökonomische Eigenständigkeit der Produktionszelle wird durch die soziale Organisation der in ihr lebenden und für sie arbeitenden Per­ sonen ergänzt. Sie wird bestimmt von der Kernfamilie. Den weiteren line­ aren, besonders aber den lateralen Verwandtschaftsbeziehungen kommt eine nur sekundäre Bedeutung zu. Wichtiger ist die ökonomische Funk­ tion der betreffenden Verwandten als der Kernfamilie zugeordnete Haus­ haltsmitglieder. Der (nachgeborene) Bruder des Haushaltsvorstandes ist primär Knecht, die Nichte primär Magd usw. Die Haushaltsautonomie bricht gewissermaßen das Verwandtschaftsprinzip. Dies kommt m. E. auch dadurch zum Ausdruck, dass beim Eheschluss - das ist in der Regel die Stiftung eines Haushalts auf der materiellen Basis eines Betriebes die in den Betrieb hineinheiratende Partei nie ohne eigenen Besitz ist oder bleibt (Dos, Mitgift, Morgengabe, Wittum u. a.) und somit von der Herkunftsfamilie als abgefunden betrachtet wird.53 Damit gewinnt auch die Frau (als Tochter, Ehefrau und Witwe) neben, nicht nur unter dem Mann (als Vater, Gatte und Vormund) einen beachtenswerten Spielraum, dessen Bedeutung für die hier vertretene Gesamtthese allerdings noch genauer zu untersuchen ist. Verwandtschaft und dörflicher Gemeinde­ verband stützen so das kleinbetrieblich orientierte ProduktionsverhaT ten, lassen diesem aber auch Spielraum für innerdörfliche Konkurrenz daher auch die Bedeutung des Friedens für das dörfliche Leben.54 Die Gemeinde bildet zugleich eine Instanz, mit deren Hilfe die Einzelbetriebe gemeinsam und geschlossen den Ansprüchen von außen entgegentreten können - insbesondere Rentenforderungen und Eingriffen in Produkti­ onsgewohnheiten durch nicht-ansässige Eigentümer und Nutzungsbe­ rechtigte. Dies gilt besonders im Falle hoher gemeindlicher Dichte.55 Aber auch das Gegenteil ist denkbar. Bei schwacher Gemeindestruk­ tur kann der Einzelbetrieb noch stärker die Chancen der lokalen Konkur­ renz wahrnehmen, ist ihren Risiken aber auch ebenso ausgeliefert und 52

Karl Siegried Bader: Rechtsformen und Schichten der Liegenschaftsnutzung im mittelaterlichen Dorf, Köln/Wien 1973. 53 Allgemein lack Goody: Inheritance, property and women: some comparative considerations, in: ders./Joan Thirsk/Edward P. Thompson (Hrsg.): Family and Inheritance. Rural Society in Western Europe 1200-1800, Cambridge 1976; vergleichend Pierre Guichard: Structures sociales »orientales« et »occidentales« dans l’Espagne musulmane, Paris 1977. 54 Karl Siegried Bader: Das mittelalterliche Dorf als Friedens- und Rechtsbereich, Weimar 1957. 55 Brenner: Agrarian Class Structure, S. 46 ff.

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steht herrschaftlichen und ortsfremden Forderungen weniger geschützt gegenüber. Auch anhand der sozial-lokalen Organisation des Produkti­ onsprozesses ist also erkennbar, welch verschiedene Konsequenzen die relative Autonomie der »Häuser« im Dorf für diese selber haben kann.

Tausch und Geld Der bäuerliche Einzelbetrieb ist im ganzen Mittelalter direkt mit einem regionalen Marktgeschehen verbunden, dessen Tauschverkehr haupt­ sächlich über Münzgeld geringen Wertes als Wertmaßstab und Zirkulati­ onsmittel abgewickelt wurde.56Außerdem sind alle dinglichen Elemente des Betriebes, ob als Produktionsmittel oder als Resultat des Produkti­ onsprozesses, für das gleiche Geld käuflich und verkäuflich. Man sollte aber dabei im Auge haben, dass die Struktur dieser Tauschprozesse maß­ geblich vom herrschaftlichen Abschöpfungsinteresse (Einnahmen wie Wegezölle, Marktgebühren, Schlagschatz) und vom bürgerlichen Streben nach angemessener Versorgung mit ländlichen Rohstoffen und vorteil­ haftem Handel (Preisregelung, Vorkauf) mitbestimmt ist. Diese Koalition vermag dem einzelnen Bauernhaushalt ihre Bedingungen aufzuzwingen. Welche Konsequenzen kann diese Anbindung des Einzelbetriebes an einen derart offenen Markt- und Geldverkehr haben? Alle Elemente der bäuerlichen Ökonomie können in den Sog der Monetisierung geraten die Produktionsmittel {samt dem Arbeitsvermögen!); der für die Repro­ duktion notwendige Anteil des Arbeitsresultats (Saatgut, Werkzeuge, Lebensmittel, kultische Ausgaben); und natürlich das Surplus. Was aber heißt Monetisierung? An die Stelle von Kost und Logis des Gesindes tritt der Lohn, an die von dinglicher Mitgift und Erbschaft die Auszahlung,57 an die der Arbeits- und Produktenrente die Geldrente. Monetisiert wer­ den also die Binnen- und Außenbeziehungen des Einzelbetriebes, die von dem Widerspruch bestimmt sind, in den die Resultate der Produktion zu den Erfordernissen der Reproduktion und der Appropriation zeitlich geraten können: Der jährlich schwankende Gesamtertrag, wie ihn die Natur in ihrer »Terminstruktur« liefert, ist - neben Konsum und Rein­ vestition - mit der Terminstruktur herrschaftlicher Forderungen und ver­ wandtschaftlicher Abfindungsgebote zu vermitteln. Diese Spannungen drängen den Betrieb zum Markt, zur Beschaffung von Geld und zur Erhö­ hung des Anteils am Bruttoprodukt, der bare Münze bringt (Marktquote). So gesehen ist es der - strukturell bedingte - Hunger nach dem Gelde als Zahlungsmittel,58 der den Einzelbetrieb immer intensiver mit einem 56 Zur Entstehung: Waltraut Bleiber: Naturalwirtschaft und Ware-Geld-Beziehungen zwischen Somme und Loire während des 7. Jahrhunderts, Berlin/Ost 1981. 57 Rolf Sprandel: Das mittelalterliche Zahlungssystem, nach hansisch-nordischen Quellen des 13.-15. Jahrhunderts, Stuttgart 1975, S. 68 ff. 58 Bruno Kuske: Die Entstehung der Kreditwirtschaft und des Kapilalvcrkehrs. in: ders.: Köln, der Rhein und das Reich, Köln/Graz 1956, S. 75 ff.. 82.

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Markt verkettet, dessen Arbeits-, Produkt- und Geldpreisbildung er nicht beeinflussen kann (Vorkauf, Wucher, Preis- und Lohndiktat). Übersteigen die Zahlungszwänge den Geldertrag des vermarktbaren Bruttoproduk­ tanteils dauerhaft, dann folgt der Verschuldung die Enteignung. Aber nicht allein der Weg in die Armut ist möglich, sondern auch der Aufstieg zur Prosperität. Aktuell und langfristig günstige Absatzkonjunk­ turen sowie Spezialisierungen bieten dem Betrieb Akkumulationschan­ cen. Eine Geldentwertung kann den Betrieb dann begünstigen, wenn die Rente insgesamt oder Teile davon vertraglich oder gewohnheitsrechtlich zu Geldquanta »eingefroren« sind. Auch die einzelbetriebliche Marktanbindung impliziert also den janusköpfigen Effekt, der oben bereits zur Sprache kam - die Differenzie­ rung der »Häuser« in groß und klein, arm und reich, prosperierend und verschuldet.

Aneignung und Verteilung des Surplus Aus den oben vorangestellten Quellenauszügen und den Bemerkungen zur bäuerlich-familialen Produktionsstruktur, zur Form des Produkti­ onsprozesses und zu den Austauschverhältnissen lässt sich manches ablesen, was die besondere Stellung der Bauernhaushalte im Weiteren gesellschaftlichen Kontext klären hilft. Verrentungsformen und Betriebsstruktur Deutlich entspricht die relative Autonomie der Produktion der Funktion des Betriebs als Bezugseinheit für Rentenansprüche (Quellen ia-c, 2). Nicht die Sippe, die mehrere Haushalte umfasst oder in sie verzweigt ist, oder deren Ältester werden »veranlagt«, nicht das ganze Dorf, die ganze Dorfflur oder der Dorfälteste (Bauermeister o. Ä.), sondern der einzelne bäuerliche Betrieb (Hufe, Mansus, Hide, Meix, Bol usw.). Die Rentenan­ sprüche können aber auch - hier liegt die Entsprechung zur Verbunds­ form des Betriebes - auf einzelne Elemente seiner dinglichen Ausstat­ tung radiziert sein: auf Herd (Quelle ic), Hof, wichtige Werkzeuge (Pflug, Gespann), Fluranteile (Äcker) (Quellen 2, 3a,b), allmendliche Nutzungs­ rechte (Quellen ic, 2), Benutzung von Einrichtungen für Weiterverarbei­ tung (Mühle, Back- und Brauhaus, Kelter), Instandhaltung (Schmiede). Doch nicht genug damit. Neben diesen dinglichen Elementen fungie­ ren auch die zum Haushalt des Einzelbetriebs gehörenden Personen als Aneignungsindex: der (verheiratete) Mann und die Frau (besonders die Witwe) als Haushaltsvorstand (Quelle ic), das Geschlecht (Quellen ia, 2), der Familienstand (Quelle ia), der Rechtsstand der Personen, ihre Her­ kunft (Quelle 2), ihre beruflichen Spezialisierungen (Quellen 2, 3) und nicht zuletzt auch der Umfang des Haushalts oder die Zahl der Haushalte bzw. (Kern-)Familien pro Betrieb (Quelle ic).

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Komplexer werden diese vielfältig radizierbaren Rentenansprüche noch durch sich überlagernde Zeitformen ihrer Realisierung. Neben den Fälligkeitsterminen, die an jährlich zu wiederholenden Arbeiten, Gerichts- und Festtagen festgemacht sind, können die Haushalte oder ihre Mitglieder noch an lebens- und familienzyklischen Stichtagen zah­ lungsverpflichtet sein (z. B. Heirats-, Tod-, Begräbnisfall); hinzu kommt der Beginn oder das Ende des Leihezyklus (Erbfall, Handwechselgebüh­ ren). Neben die Fixpunkte des jährlichen Aderlasses können also langfris­ tige Termine treten, deren genauer Zeitpunkt meist nicht bestimmbar ist. Nicht nur die Gesamtarbeit des Einzelbetriebs und deren Resultate, das jährliche Bruttoprodukt, sondern auch die Reproduktionsstrategie des Betriebs und dessen langfristige Chancen auf materiellen Zugewinn sind gewissermaßen im Visier des Aneignungsinteresses der Renten­ empfänger; und auch hier stehen der Betrieb sowie dessen Mitglieder als Objekte der Verrentung zur Verfügung. Alles Bisherige bezieht sich allein auf die besondere Form der bäu­ erlichen Familienwirtschaft als autonomen Produktionsorganismus: Die Vielfalt der Indizes - dinglich, persönlich und zeitlich - ergibt sich sozusagen aus der Verbundsform des Betriebes, der Selbstständigkeit der jährlichen Produktion, der Orientierung der Familie und Verwandtschaft auf die Erhaltung des Betriebs. Eine solche Vielfalt lässt sich als systema­ tische und flexible Kombination auffassen. Im historisch konkreten Fall erscheint sie als Konglomerat von sich überlagernden beziehungsweise verschobenen Einzelformen (gutes Beispiel: Quelle 3). Doch geht es hier um die systematischen Möglichkeiten. Kombination, Verschiebung und Überlagerung bedeuten, dass der bäuerliche Einzelbetrieb in vielfältiger Weise verrentet werden kann. Er ist offen für verschiedene Formen des Zugriffs, offen für Veränderungen, und er kann sich neuen Situationen zuordnen oder ist diesen anpassbar. Ein solches Entwicklungspotenzial kann sowohl zu einer fortschreitenden Besonderung als auch zu einer Verallgemeinerung der Indizierungsform pro Betrieb führen, sei dieser Vorgang nun vom bäuerlichen Schuldner oder den herrschaftlichen Gläu­ bigern erschlichen, ertrotzt, erzwungen oder erhandelt. Die rechtliche Begründung der Rentenansprüche Ebenso wichtig für die Bestimmung der Mehrarbeitsstruktur ist der Rechtsgrund der Rentenansprüche.59 Nach der Analyse des »Wer« und »Wann« ist nun nach dem »Warum« zu fragen. Auch hier gibt es kein einheitliches Prinzip. Im Vordergrund steht natürlich der Anspruch des Grundeigentü­ mers, dass sein Eigentum realisiert wird. Das bezieht sich auf Haus, Hof, 59 Grobe Gliederung bei Werner Rösener: Art. »Abgaben«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. I, München/Zürich 1980.

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Werkzeug und Land gegenüber den Nutzenden, den dort Sitzenden, den Besitzern (Hinter-, Untersassen). Die Form ist der Grundzins, Arealzins, Hauszins usw. Hinzu kommt der Eigentumsanspruch an den Besitzern selber: Servilität, Unfreiheit, Leibeigenschaft, Hörigkeit usw. Die Formen sind der Kopfzins, der Tod- und Heiratsfall usw. Inwieweit diese Eigen­ tumsverhältnisse zugleich als Schutzbeziehungen wirken, das heißt etwa als Sicherung der Besitzverhältnisse und des Alltagslebens der Bauern und als Hilfeleistung im Falle der Not, ist nicht sicher, da die (individu­ elle) Rechtsprechung, deren Aufgabe gerade in solchen Sicherungen besteht, selbst als Rechtsgrund für (zusätzliche) Rentenansprüche fun­ giert - dies insbesondere durch die Trennung von hohem und niederem Gericht (Quelle 3) und den Ausschluss der kirchlichen Institutionen von der weltlichen Jurisdiktion auf ihren Gütern, über ihre Hintersassen (Vog­ tei: Quelle 2). Die Formen sind die »Gastung« des Richters und seines Anhangs zum Gerichtstermin, Friedensgeld, Bußen. Der vierte Rechtsgrund für Rentenansprüche ist der kultische Dienst, gewissermaßen die Umsetzung des Eigentums am Sakralen, des Wissens um die Heilsgüter, also die Vermittlung des Zugangs zu ihnen bzw. ihre Verteilung. Die Formen sind der Zehnt (Quelle 3a,b), Stolgebühren, Bußen (z. B. Ablass), Opfer. Es lassen sich weitere Rechtsgründe für Rentenansprüche aufführen: zum einen die Sicherung des allgemeinen Landfriedens und die (ge-)rechte Kriegsführung. Die Formen sind Steuer, Bede und andere (Quelle 3); zum andern die Förderung und der Schutz von Austausch und Verkehr. Die Formen sind der Zoll, Marktgelder, Einnahmen aus der Regu­ lierung des Münzverkehrs, d. h. der Kontrolle des Geldes als Zirkulations­ mittel (z. B. Schlagschatz, Wechsel). Von allem können die bäuerlichen Betriebe als einzelne betroffen sein. In welcher Kombination, Dichte oder Offenheit dies der Fall ist, hängt maßgeblich vom aktuellen Stand des Verteilungskampfes der Rentenempfänger untereinander ab. An dieser Stelle nun ist, wie ich meine, ein wichtiger Berührungs­ punkt, oder besser: eine Scharnierstelle angesprochen, die für die Bestim­ mung der feudalen Produktionsweise des mittelalterlichen Europa von zentraler Bedeutung ist, und hier ist auch der systematische Ort, wo die oben genannten Argumente einiger »Internalists« in unmittelbare Berührung mit meiner Gesamtargumentation geraten. Es geht im Grunde um die Entzifferung des Verhältnisses zwischen Aneignung und Verteilung des potenziellen und realen Surplus. Es geht um die Anspruchsstruktur und die Verwirklichungsbedingungen, um das zeitliche Verhältnis von Aneignung und Verteilung. Ich kann hier keine befriedigenden Bestimmungen zur Lösung dieser Fragen vorneh­ men. Ich versuche nur, das für meine Argumentation »Nötige« anzu­ führen.

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Im europäischen Feudalismus ist der Verteilungskonflikt um das bäu­ erliche Mehrprodukt bestimmt durch die Dissoziation der Beteiligten in laikale und klerikale Gruppen und Stände, die in sich wiederum hierar­ chisch gegliedert sind. Trotz monarchischer Spitze sind diese überregi­ onalen und regionalen Hierarchien selbst nicht so weit zentralisierbar, dass sie zu dichten Redistributionssystemen ausgebaut werden könn­ ten. Die Macht und das Recht zur selbstständigen Appropriation bleiben jedem individuellen oder korporativen Mitglied dieser Stände erhalten, solange es über Rentenansprüche, d. h. Eigentumstitel (Gewere) der oben erwähnten Arten verfügt und sich den damit verbundenen Verteilungs­ regeln fügt. Der Verteilungskonflikt geht also auf der Ebene der Aneig­ nungsvoraussetzungen vonstatten, in der Form von Kämpfen um Rechte und Privilegien. Der Aneignungsprozess selbst ist eine jenen Auseinan­ dersetzungen nachgeschaltete »Privatsache«. In diesem Sinn kann die Redistributionsfunktion der einzelnen Herrschaft wie auch des »Rei­ ches« sich nur auf Bruchteile des jeweiligen Surplus beziehen. Die Verteilungsregeln der Rentenansprüche sind denkbar varia­ bel. Jeder Berechtigte kann für seine Zwecke legal die verschiedensten Erwerbs- und Veräußerungsformen nutzen: Vererbung und Erbe, Realt­ ausch, Kauf und Verkauf, verschiedene Leiheformen (Lehen, Pfandschaft u. a.). Alle Formen sind auf alle Rententitel anwendbar - gleich welchen Rechtsgrunds und gleich welchen Umfangs: Ein Territorialfürst verpfän­ det die Bedeeinnahmen der Haushalte von mehreren Dörfern an einen patrizischen Bürger; ein Bischof kauft von einem Grafen die Vogtei über einige Hintersassen, die zu seiner Grundherrschaft gehören; eine Abtei erhält über testamentarische Verfügung eines Ritters den Zehnten von einigen weit abgelegenen Höfen. Diese Mobilisierbarkeit der Rententitel wird durch die Veräußerungsvorbehalte - bei Eigentumsbeziehungen wie Lehen, Pfandschaft und Verkauf mit Wiederkaufsrecht - nicht prinzipiell, sondern eher graduell gehemmt. Unterschiedliche Eigentumsformen teilen so das einzelbetriebliche Mehrprodukt. Wichtig sind nun die Resultate der daraus entstehenden Zirkulation: Die konkrete Struktur der einzelnen feudalen Herrschaften ist rechtlich, räumlich, zeitlich und - wie noch zu zeigen sein wird - sachlich inhomogen und porös. Sie kann - meist okkasionell - in ihrem Umfang (Rentenvolumen), in ihrer Territorialität (Streulage, Geschlossenheit) und in ihrer Zusammensetzung von Kontrollkompetenzen (Teilung oder Ver­ einigung der säkularen und kirchlichen Gewalten) verändert werden. Aus der Perspektive der bäuerlichen Einzelbetriebe heißt das ganz allgemein: Die Aneignungsstruktur ist offen für die Entwicklung sowohl niedriger wie überhöhter Surplusquoten pro Betrieb. Der Bauer, dem mehrere Herren mit sich überschneidenden bzw. überschichteten Ren­ tenansprüchen gegenüberstehen, kann die Konkurrenz dieser Herren für

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seine eigenen Zwecke nutzen, indem er - deren Praxis gegeneinander abwägend - die Legitimität der für ihn ungünstigeren Herrschaft anzwei­ felt und, im Bunde mit dem »gerechteren« Herrn, eine Besserung seiner Situation zu erreichen sucht. Dies kann dann gelingen, wenn es über­ geordnete Appellationsinstanzen gibt, also etwa vor dem Bischof über den Vogt, vor dem Grafen über den Ritter, vor dem Landesherrn über den Amtmann usw. Klagen möglich sind. Ebenso sind Flucht zu einem »besseren« Herrn oder »Kommendation« Ausdruck dieses Spielraums. Günstig kann sich auch auswirken, dass den Herren der Überblick über den gesamten potenziellen Surplus des bäuerlichen Betriebes fehlt, weil sie nur über - partikular radizierte - Anteile des reellen Surplus verfü­ gen, die überdies gewohnheitsrechtlich fixiert sind. Sie müssen dann den aktuellen und langfristigen Zugewinn erst mühsam ausmachen und laufen ihm praktisch hinterher. Viele neue Rentenformen sind jeweiliger Ausdruck dieses Bemühens um Einholung solcher bäuerlichen Gewinne. Sicher gibt es noch weitere Möglichkeiten zum Abbau der Feudalquote, die aus der Inhomogenität der den Betrieb überlagernden Rentenansprü­ che ableitbar sind. Ebenso wichtig aber ist die Kehrseite dieser Offenheit: die Überausbeutung als Konsequenz verschärfter Verteilungskämpfe der Herren. Hier schlägt die Unkenntnis der Herren über die Gesamtlage der einzelnen Betriebe für die Bauern negativ durch: Die Erhöhung einer bestimmten Rente oder die Einführung einer neuen Rente - zum Bei­ spiel der Steuer - kann die Existenz eines voll ausgelasteten bäuerlichen Betriebs bedrohen. Es beginnt der schreckliche Kreislauf von Hunger, Krankheit, Saatgutverzehr, unterdurchschnittlicher Ernte, Verschuldung usw. Bei einer diffusen Aufteilung des einzelbetrieblichen Gesamtsurplus unter verschiedene, einander »befehnde« Herren fehlt die Instanz, die den Betrieb als Rentenquelle »pflegt«, also dessen Reproduktion gerade im Hinblick auf eine langfristige und kontinuierliche Abschöpfung sichert.60 Man kann also sagen, dass die Struktur der den Produktionsbetrieb überlagernden Eigentumsformen bzw. Rentenansprüche einerseits ein systematischer Grund für die Entwicklung einer autarkie- oder markt­ orientierten Prosperität der Bauern war, sie aber andererseits auch eine rücksichtslose Ruinierung bäuerlicher Betriebe verursachte. Die sachlichen Form en des Surplus sowie der Arbeits-, Produkten- und Geldrente Es erübrigt sich, die jeweilige Ratio dieser Formen im Einzelnen zu ent­ wickeln. Dies ist oft genug geschehen. Zu erinnern ist hier nur an die Analyse der »vorkapitalistischen Grundrente«, die M arx - im engen Anschluss an Jones - unter dem Gesichtspunkt der Bildung von »Profit« 60

Für die östliche Normandie im Spätmittelalter: Bois: Crise du Feodalisme; dazu kritisch Kriedte: Spätmittelalterliche Agrarkrise.

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(Differentialrente) neben der »Feudalrente« versucht hat.61 Hier geht es um den Versuch, das für das europäische Bauerntum Spezifische heraus­ zuheben. Alle drei Mehrarbeitsformen koexistieren im Allgemeinen, wobei meist eine Form vorherrscht, die das größte Gewicht hat. Die Gleichzei­ tigkeit aller Formen erleichtert den Übergang der einen in die andere. Dies bedeutet Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Situationen öko­ nomischer und politischer Art zwischen den einzelnen Herren und den bäuerlichen Haushalten. Das Nebeneinander der Formen zwingt beide Parteien zur ständigen Orientierung darüber, welche Form zum gegebe­ nen Zeitpunkt den größten Nutzen hat. Herren und Bauern folgen also einem je eigenen »Rentenkalkül«. Dies äußert sich in hartnäckigen Aus­ einandersetzungen um die konkrete Zusammensetzung des einzel.betrieblichen Rentenaufkommens. Konsequenzen aus derbäuerlich-familialen Produktionsstruktur sind daran zu erkennen, dass eine entsprechende Vielfalt unter den Arbeits­ und Produktrentenformen erkennbar ist. Da der Getreideanbau domi­ niert, sind Ackerdienste oder Getreidezinse die allerorten wichtigsten Rentenformen. Dass aber auch alle anderen Sektoren der bäuerlichen Verbundswirtschaft verrentet werden können, zeigt sich - neben Diens­ ten und Zinsen, die auf die Viehzucht, die Waldwirtschaft und die häusli­ che Gewerbearbeit bezogen sind - indirekt daran, dass viele Dienste oder Zinse alternativ oder substitutiv für andere erhoben werden (können). Weiter taugt die Verbundsstruktur für Regionalisierungs- und Speziali­ sierungsprozesse, wenn die bäuerlichen Gewohnheiten, die herrschaft­ lichen Bedürfnisse, die lokalen Ressourcen und die Tauschchancen dies erlauben oder gebieten. Hier liegt ein ganz wesentlicher Grund für die Vielfalt von »Rentenlandschaften« (und deren Veränderung) im mittel­ alterlichen Europa. Die soziale Form des bäuerlichen Produktionsprozesses im mittel­ alterlichen Europa, die Selbstständigkeit des einzelbetrieblichen Pro­ duktionsprozesses, hat nicht minder deutliche Entsprechungen. In der Organisation der Frondienste herrschen die auf die einzelbetriebliche Leistungskraft zugeschnittenen Formen vor: Nicht der dörflich pau­ schale Kollektiveinsatz, zu dem der Einzelbetrieb sein Kontingent zu stellen hat, prägt das Bild, sondern die Einzelleistung pro Haushalt oder Haushaltsmitglied. Noch präziser gesagt: Es sind sachlich festgelegte Stückdienste mit der Angabe der Dauer, des Ortes, der dazu mitzubrin­ genden Ausrüstung (Pflug, Karre, Zugvieh, Gesinde) und - sehr wichtig - der den Fronenden hierbei zustehenden Verpflegung (Präbende). Bei sich regelmäßig wiederholenden Fronden wird den leistungspflichtigen 61 Marx: Kapital, Bd. 3, in: MEW, Bd. 25, S. 798 ff. (MEGA2, Bd. 11/15, S. 765).

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Haushalten die Festlegung der Reihenfolge untereinander sogar überlas­ sen (Reihendienst). Solcher einzelbetriebliche Zuschnitt der Arbeitsren­ tenformen62 erschwert die Kontrolle über deren Effektivität. Er erleichtert zugleich den Bauern und Herren die Bewertung der jeweiligen Leistung und damit ihre Kommutation in die Produkt- oder Geldform und schafft die Bedingung für die quantitative Festlegung der Leistungsform, die der jeweiligen Ausstattung des Betriebs angemessen ist. Die Bauern kön­ nen erkennen, welcher Spielraum ihnen zwischen den herrschaftlichen Ansprüchen und ihrem Aufwand zum kruden Überleben verbleibt. Sie lernen durch Entzugs- und Verweigerungstaktiken dem Herrn gegen­ über und gezielte Leistungssteigerung (Selbstausbeutung) im vom Herrn unkontrollierbaren Produktionsbereich, diesen Spielraum zu nutzen und zu erweitern - sofern Anreize dazu bestehen: Marktchancen, inner­ dörfliches Prestige, familienzyklische Gegebenheiten. Hier liegt also ein wichtiger Ansatzpunkt für einzelbetriebliche Akkumulation, Investition, Profitbildung und für innerdörfliche Konkurrenz. Das ist natürlich nur in Bezug zu einer Normvorstellung von der Idealkonstellation zwischen Bodenmenge und -güte, Werkzeugen und Arbeitskräften zu denken. Gerade diese - empirisch so schwer nachweisbare - Vorstellung ist aber für jeden Bauern die Grundlage seines ökonomischen Kalküls.63 Im Falle einer vorherrschenden Produktenrente, die die Befreiung der wichtigsten Arbeitsprozesse von herrschaftlicher Kontrolle bedeutet, ist der oben angedeutete Spielraum noch größer. Durch den Bestimmungs­ modus der zu entrichtenden Arbeitsresultate, d. h. durch die Festsetzung der Mengen oder Prozentsätze des (jährlich ja schwankenden) Gesamter­ trags, wird der ökonomische Kalkül verfeinert. Ihm kann eigentlich nur die Natur, d. h. die brutale Missernte, oder die »wilde« Appropriation, der aus den Fugen von Gewohnheitsrecht oder Leihevertrag geratene akzidentelle Raub, in die Quere kommen. Eine längere ungestörte Wir­ kung solchen Kalküls führt zur Differenzierung der bäuerlichen Betriebe, qualitativ und quantitativ: Jeder Betrieb kann die besonderen Vorausset­ zungen seiner dinglichen und persönlichen Ausstattung zur Produktivi­ tätssteigerung im Ganzen, d. h. zur Ausschöpfung seiner Möglichkeiten im Rahmen der gegebenen Struktur, nutzen oder durch gezielte Verände­ rungen sektorale Steigerungen anbahnen. Eine Steigerung des Gesamt­ produkts oder eine Spezialisierung wird auch auf die Verrentung durch­ schlagen: Rentenforderungen werden sich diesen Veränderungen durch eine Verkürzung der Leihefristen, Kommutation u. a. anpassen. Was dann für den Einzelbetrieb als »individueller« Rentenstatus erscheint, ist für 62

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Guy Bois: Les rapports entre la grande exploitation et la petite exploitation dans les sociétés féodales ... Le cas de l’Europe du Nord-Ouest, in: Compte-Rendu des Sciances de la Société d'études du Féodalismie, Bd. 1„ Paris 1976, S. 17. Tschajanow, Alexander: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau, Berlin 1923.

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die Rentenempfänger Ausdruck höherer Rationalität der Aneignung, mitverursacht durch den Zwang zur »Veranlagung« des Einzelbetriebs. Die Marktverbindung des Einzelbetriebs wurde oben bereits behandelt. Hierzu ist noch kurz zu ergänzen: (Vorwiegende) Geldrente bedeutet für die Bauernhaushalte Freiheit der Arbeitsprozesse und ihrer sachlichen Ausrichtung von herrschaftlicher Kontrolle auf der einen, Verkaufs­ zwang, d. h. (ergänzende) Warenproduktion, auf der anderen Seite. Der Bauer trägt nun - stellvertretend für seine(n) Herrn - das Risiko der kurz- und langfristigen Entwicklung der Verkaufspreise und - mit steigender Spezialisierung und engerer Verbindung mit dem (örtlichen) Markt - auch der Einkaufspreise gewerblicher Güter. Ist es ihm formell freigestellt, was er verkauft, so bestimmen anonyme Marktkonjunktur oder städtisches Preiskartell, wie viel er verkaufen muss, um das erforder­ liche Geldrentenquantum zu erhalten. Das Hauptrisiko der Kaufkraftent­ wicklung des Geldes trägt der Rentenempfänger, der sich der Mühe des Verkaufs von über Frondienst erwirtschafteter oder als Produktenrente einkommender Überschüsse in bäuerlicher Gestalt entledigt hat. Die über den Markt entstehende Vergesellschaftung der bäuerlichen Produktion hat - neben den oben angedeuteten Monetisierungseffektenauch die Wirkung, dass die zwischenbetriebliche Konkurrenz um güns­ tigen Absatz sich deutlich verschärft und die Klein- und Kleinstbetriebe ebenso deutlich benachteiligt. Die größeren Betriebe können die Chance, zwischen dem Aufwand zur einfachen Reproduktion und den Renten­ pflichten Profitmargen zu entwickeln, weit besser nutzen als die kleinen, weil deren Reproduktionsaufwand - eine relativ fixe Größe - immer einen höheren Anteil am Bruttoprodukt ausmacht als bei den größeren.64 Kann der kleine Betrieb bei unterdurchschnittlicher Ernte gerade noch so viel verkaufen, wie er zur Deckung seiner Rentenpflichten braucht, oder muss er sich bereits beim Herrn oder Geldverleiher ver­ schulden, so kann der größere Betrieb den durch wachsende Nachfrage entstehenden überproportionalen Preisauftrieb durch den Verkauf des verbliebenen Überschusses nach Abzug aller Renten nutzen. Und bei rei­ cher Ernte tut ihm der Preisverfall weniger weh als dem kleinen Bauern, der Mühe haben wird, seine Schulden aus dem Mangeljahr mit den über die Rente hinausgehenden Gelderlösen abzutragen. Ein weiterer Grund zur wachsenden Polarisierung ist gelegt - Polarisierung aber nicht nur im lokalen Rahmen: Stadtnähe oder Stadtferne der Bauernhöfe und die Städtedichte oder Städtearmut der Gegend bilden die Voraussetzung für regionale Ausformungen, für Landschaften mit verschieden scharfem Gegensatz zwischen Reich und Arm, mit verschiedener Verteilung der beiden Schichten usw. 64

Kula: Theorie economique, S. 46 f.

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Fragestellungen Ich bin mir bewusst, dass meine systematischen Erwägungen abstrakt wirken können. Vielleicht besteht aber die Chance, sie im Ganzen als Physiognomie spezifisch feudaler Bauernökonomie im mittelalterlichen Europa zu erkennen, wenn man die betreffenden Einzelzüge einmal im Vergleich zu den »parallelen« Gegebenheiten anderer vorkapitalistischer Bauerngesellschaften wahrnimmt. Man hätte dann zu fragen: — ob der Ackerbau komplex zusammengesetzt ist: nach den Sorten, den Beziehungen ihrer Wachstumsperioden zueinander, den Bodenerschöpfungs- und -regenerationsformen u. a.; — ob der Landbau sachlich und räumlich mit verschiedenen Formen der Viehzucht (Zugvieh, Düngung; Futterpflanzen) verbunden ist; — ob die verschiedenen Sektoren der betrieblichen Wirtschaft füreinan­ der substitutiv sein können; — in welchen Autoritäts- und Eigentumsbeziehungen die Geschlechter (und Altersgruppen) zueinander stehen, insbesondere welche vermö­ gensrechtliche Stellung die verheiratete und verwitwete Frau hat; — welche Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung vorliegt, ob diese rigide oder offen ist; — welche Form und welchen Grad von Kollektivität die verschiedenen Arbeitsprozesse haben; — welche Beziehungen es zwischen Produktionszelle (Haushalt) und Reproduktionssystem (Verwandtschaft, Heiratskreise) gibt; — ob die Einzelhaushalte bzw. bestimmte Personen in ihnen Zugang zu Geld und Marktgeschehen haben, ob alle Güter und Leistungen über das gleiche Tauschmittel in die Zirkulation eingehen können; — aufgmnd welcher Eigentumstitel Rentenansprüche begründet und durch­ gesetzt werden und in welchen Beziehungen diese zueinander stehen; — welche Radizierungsformen der Rente existieren; — welche Mehrarbeitsformen bestimmend sind, welche Beziehungen zwischen den verschiedenen Mehrarbeitsformen existieren; — welche Marktquote die einzelbetriebliche Ökonomie aufweist (Auf­ wand zur einfachen Reproduktion, Rente, Profit). Schon wenn man in einem der durch die obigen Fragen angesprochenen Bereich deutliche Unterschiede feststellen würde, was ich mir leicht vor­ stellen kann, wäre viel gewonnen. Erste Untersuchungen dieser Art sind, nach meiner unsystematischen Orientierung, vorhanden. Sie analysieren aber noch zu wenig genau die bäuerliche Sphäre oder bleiben noch an zu abstrakten Ausgangsbegriffen orientiert, zum Beispiel dem Gegensatz von »asiatischer« und »feudaler« Produktionsweise.65 Gerade hier aber 65

Nolte: Zur Stellung Osteuropas; Hamza Alavi: Die koloniale Transformation in Indien. Rück­ schritt vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: Jan-Heeren Grevemeyer (Hrsg.): Traditionale Gesellschaften und europäischer Kolonialismus, Frankfurt a. M. 1981.

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wären Differenzierungen aufzugreifen, die in der breiten Literatur zur peasant economy bzw. peasant society bereitstehen dürften.66 Der besondere Charakter der bäuerlichen Familienwirtschaft im europäischen Mittelalter, den ich vermitteln wollte - und der durch regi­ onale Forschungen auf seine Tragweite zu prüfen wäre -, lässt sich so zusammenfassen: Nach Produktionsstruktur und -prozess, Austausch und Appropriation kommen dem bäuerlichen Einzelbetrieb oder -haushalt Attribute zu wie Komplexität, Autonomie, Konkurrenzfähigkeit und Parzellierbarkeit. Diese Attribute entsprechen in dieser Reihenfolge nicht einfach den vier aufgezählten Dimensionen bäuerlicher Ökonomie, son­ dern sind jeweils für alle vier charakteristisch. Noch kürzer gesagt: Individualwirtschaftlich ausgerichtete Verhält­ nisse charakterisieren die europäisch-feudale Bauernschaft. Die Struktur der feudalen Produktionsweise in Europa wird durch diese eigenartige Physiognomie der ländlichen Produktionszellen maßgeblich bestimmt, und damit auch die Entwicklungsweise und -richtung der europäischen Feudalgesellschaften. Insofern ist von einer hegemonialen Rolle der kleinbetrieblichen Bauernökonomie auszugehen, die sich auf Struktur und Dynamik bezieht.67 Diese für Europa charakteristische Individualisierung der ländlichen Produktionssphäre könnte man in modifizierter Anlehnung an Marc Bloch als europäisch-feudalen Agrarindividualismus bezeichnen.68Bloch hatte die Entstehung des »individualisme agraire« mit der Auflösung der dörflichen Allmenden im Übergang zur Moderne seit dem 17./18. Jahr­ hundert begründet, also mit der verallgemeinerten Durchsetzung »unbe­ dingter«, d. h. agrarkapitalistischer Privateigentumsformen (am Boden) gegenüber den feudal »bedingten« Eigentumsverhältnissen. Mit dieser - sicherlich problematischen - Begriffsanleihe wäre auch eine Anknüpfung daran gefunden, dass aus der Reproduktionsweise des Agrarsektors in den europäischen Feudalgesellschaften die wichtigsten Voraussetzungen für den ursprünglichen Durchbruch und die ersten regionalen Folgeentwicklungen des industriellen Kapitalismus resul­ tieren konnten. Mit der radikalen Privatisierung der Grundelemente der Produktion (Rohstoffe, Werkzeug, Arbeit) auf dem Lande war der Grundstein gelegt für die radikale Enteignung großer Teile der ländli­ chen Bevölkerung von ihren Produktionsbedingungen, für die radikale Vermarktung großer Anteile der Agrarproduktion und für die radikale Akkumulation von Elementen und Resultaten der Produktion.

66 Shanin: Peasants and Peasant Societies. 67 Bois: Crise du Féodalisme. 68 Marc Bloch: Les caractères originaux de l’histoire rurale française, Paris 1968 [1930]. S. 223 ff. 289

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8 ---- Zur Periodisierung des Europäischen Feudalismus. Überlegungen und Fragen1 (ZUSAMMEN MIT BERND MICHAEL)

► Entstanden ist der Aufsatz auf Einladung der Argument-Redak­ tion, zu einem Sonderband über universalhistorische Periodisie­ rung beizutragen. Bernd Michael und ich setzten hier die Stoßrich­ tung des Readers (Beitrag 6) fort, nun aber, neben der Kritik an den BRD-Periodisierungsgewohnheiten, stärker gegen die marxistischleninistischen und SEW-treuen Tendenzen der weltgeschichtlichen Universalisierung des Feudalismus gerichtet - soweit meine persön­ liche Erinnerung. Wir gingen dabei von Pierre Vilars Konzept aus, wonach gesell­ schaftliche Verhältnisse spezifische Zeitformen produzieren, die sich in langfristigen Konjunkturen ausdrücken. Vilar unterschied sechs Phasen im Zeitraum von 400 bis 1800. Dieses Gerüst kommentier­ ten wir anhand neuerer Forschungen unter drei Gesichtspunkten, begrenzt auf den Zeitraum des mittelalterlichen Feudalismus: dem Aspekt des Regionalismus (sozialräumliche Integration und unglei­ che Entwicklungen), der Temporalität (Reproduktionsdynamik innerhalb verschiedener Zeitebenen, Formwechsel der Krisen) und der Triebkräfte (Spezifizierung des Rentenkampfs durch Zentralisie­ rung der Gewaltmittel und der Geldzirkulation). Am Ende stand unserem Prinzip treu - die Einladung zur Diskussion offener Fragen. Die Wirkung war - abgesehen vom Murren der Herausgeber, von dem wir uns nicht beeindrucken ließen, - gleich null.

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Mit dem Dank an den Herausgeber dieses Heftes, uns Raum zu geben für öffentliche Selbstverständigung, müssen wir zugleich auf das Problematische daran hinweisen: Der Diskurs »öffnet« sich von einer stringent gefassten These über spekulatives Räsonnement hin zu Fragen, von denen wir nicht wissen, ob sie überhaupt richtig gestellt sind.

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8 - Z u r P e n o d in io r urif,; d n s I i i k >|m in o h o n h e u d a lis m u s

1 Der Versuch, den Verlauf von Geschichte insgesamt zu gliedern und als sinnvollen Zusammenhang zu begreifen, ist bekanntlich nicht nur für die bisherige Geschichtsphilosophie konstitutiv, sondern gilt mutatis mutandis auch für die älteren mythologischen und theologischen Erklärungs­ muster und Periodisierungsschemata von Geschichte.2 Auf die komple­ xen theoretischen und ideologischen Probleme, die allein schon mit der Geschichtsphilosophie verbunden sind, hier auch nur andeutungsweise einzugehen, wäre überflüssig, wenn geschichtsphilosophische Konstruk­ tion und universalhistorische Periodisierungsschemata nicht gerade in der Geschichte des Marxismus eine unheilvolle Rolle gespielt hätten, deren Folgen noch heute deutlich spürbar sind. Es ist daher hier auf Postulat und Petitio Phncipii bisheriger Geschichtsphilosophie sowie auf die unkritische und ideologieträchtige Übernahme dieser Denkformen in die marxistische Theorie in groben Umrissen einzugehen. Die Zirkelhaftigkeit geschichtsphilosophischer Argumentation, die - völlig zu Recht - beständige Zielscheibe der Kritik der sich als wissen­ schaftlich verstehenden Geschichtsschreibung war und ist,3 gründet letztlich darin, dass der uneingestandenermaßen im Prinzip nicht begrif­ fenen historischen Bewegung eine Zielsetzung zugeschrieben wird, aus der der »Sinn« von Geschichte sich herleitet. Mithilfe dieses Postulats eines »Sinnes« und »Endzwecks«, eines »Planes« der durch die Vernunft bestimmten Geschichte werden dann die historischen Ereignisse so reinterpretiert, dass sie als »Beweis« der Sinnhaftigkeit des historischen Prozesses erscheinen. Mit der Ausrichtung der geschichtsphilosophi­ schen Konstruktion auf ein künftiges Ziel hin, d. h. mit dem teleologi­ schen Charakter von Geschichtsphilosophie überhaupt, geht nicht nur 2

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Vgl. zur Sache die nützlichen Einführungen von Claus D. Kernig/Georg Spitzlberger: Art. Periodisierung, in: Claus D. Kernig (Hrsg.): Marxismus im Systemvergleich, Frankfurt a. M./New York 1974 (zit.: MIS); ferner: Franz G. Maier u. a.: Art. Periodisierung, Allgemein, Altertum usw., in: Waldemar Besson (Hrsg.): Geschichte, Frankfurt a. M. 1973. Vgl. z. B. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Krefeld 1948; Heinz-Dieter Kittsteiner: Objektivität und Totalität. Vier Thesen zur Geschichtstheorie von Karl Marx, in: Reinhart Koselleck/Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hrsg.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977, S. 163 f.

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die Vorstellung von der Existenz einer einzigen Geschichte einher, son­ dern auch die vom einheitlichen Verlauf »der« Geschichte, von eindeuti­ gen Prinzipien ihrer Gliederung sowie von universeller Gültigkeit dieser Prinzipien. Geschichtsphilosophische Konstruktion und Periodisierungsschemata in universalhistorischer Absicht bedingen also einander; zwi­ schen beiden Vorstellungen besteht eine strenge Korrelation. Was nun für die geschichtsphilosophische Konstruktion gilt, näm­ lich dass sie als gegeben voraussetzt, was doch erst noch zu erweisen wäre, gilt in gleicher Weise auch für die Periodisiemng in universalhis­ torischer Absicht. Jede Periodisierung nämlich, die den Gesamtverlauf von Geschichte zu gliedern vorgibt, setzt zweierlei voraus: erstens, dass es ein Insgesamt, eine Ganzheit und damit eine Einheit der »einzigen« Geschichte gibt, die daher immer schon als Weltgeschichte, d. h. als die Behauptung eines universalen Zusammenhangs historisch-sozialer Wirklichkeit in globalem Maßstab,4begriffen wird; und - zweitens -, dass die Gesamtheit dieses »einzigen«, universalen und einheitlichen Prozes­ ses auf der Folie der naturalen Chronologie in ihrer linearen Sequenz gemessen, dargestellt und in Perioden gegliedert werden kann. Der Ein­ heit der Temporalstruktur des gesamthistorischen Prozesses ist also gleichsam als Gegenstück die Einheit der Geschichte als Weltgeschichte zugeordnet. Die Frage aber, ob »Weltgeschichte« immer schon bestan­ den hat und ob das Entlanghangeln der historischen Darstellung an der Linie der naturalen Chronologie komplexe historische Temporalstruktu­ ren verdeckt,5 kann im theoretischen Rahmen der beschriebenen Kon­ struktion gar nicht erst gestellt werden, denn all ihre Elemente stehen in strenger Korrelation zueinander und bedingen sich gegenseitig. Wird eins aus dem Kontext der Konstruktion herausgelöst, um in anderem Kontext verwendet zu werden, so bleiben doch an dem herausgelösten Begriff die theoretischen Prämissen haften, die der Gesamtkonstruk­ tion zugrunde liegen. »Periodisierung von Geschichte schlechthin in universalhistorischer Absicht« hat sich insofern von der Nabelschnur der geschichtsphilosophischen Konstruktion und ihrer theologischen Vorläufer noch nicht gelöst. M arx’ »Kritik der Politischen Ökonomie« dagegen ist keine Ge­ schichtsphilosophie. Die gegenteilige Behauptung, die zudem noch umso mehr gerechtfertigt zu sein scheint, als der sogenannte MarxismusLeninismus oft genug unzweideutig »objektive« Gesetzmäßigkeiten des 4

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Nur in diesem Sinn wird auch im Folgenden von »Welt« und »Weltgeschichte« gesprochen, zumal dies auch der Anspruch der alten theologischen »Weltgeschichte als eines dynamischen Prozesses von einmaligem und unwiederholbarem Charakter« ist. »Weltgeschichte wurde zur Heilsgeschichte [...] der Menschheit überhaupt« (Wolfgang Mommsem Art. Universalgeschichte, im Besson: Geschichte, S. 324), nämlich insofern alle auf dem Erdball lebenden Menschen »Kin­ der Gottes« sind. Vgl. Reinhart Koselleck: Wozu noch Historie?, in: Historische Zeitschrift 212/1971, S. 15 ff.

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8 - Z u r P e n o d is H 't \n ijm J»v ! I i H t >f>. h*m :) x iii I «»vistructure< d’une société, dont les rapports fondamentaux, le principe de fonctionnement, sont relativement stables existent en revanche de perpétuels mou­ vements, issus de ce fonctionnement même, et qui modifient à tout moment le caractère des relations, l’intensité des conflits, les rap­ ports de forces.« Der Anspruch, diese Dynamik der Strukturen, die Prinzipien und Prozesse ihrer Veränderungen analytisch zu erfassen, wird forschungspraktisch zum Teil von der Konjunkturforschung eingelöst, die - allgemein gesagt - Rhythmen der Entwicklung, die Aufeinanderfolge von Aufschwüngen und Abschwüngen, von Wachstum und Stagnation unter Berücksichti­ gung ihrer räumlichen Ausdehnung und zeitlichen Dauer untersucht und darstellt. Dadurch wird es möglich, strukturell bedingten Rhythmen gesellschaftlicher Prozesse auf die Spur zu kommen. Das bedeutet: Es ist die Möglichkeit gegeben, historische Prozesse in einer Weise zu periodisieren, durch die Geschichte nicht mehr zu einem Produkt der Zeit, son­ dern »aus der Zeit [...] ein Produkt der Geschichte« gemacht wird. Die Forschung hat nun eine Pluralität von Rhythmen, d. h. konjunk­ turellen Zyklen von sehr unterschiedlicher Bedeutung, Tragweite und Zeitdauer nachgewiesen, die - so scheint es - Zeichen (signes) sehr ver­ schiedener Dimensionen der Wirklichkeit sind. Für das feudale Europa sind hauptsächlich drei, vor allem an Preisreihen beobachtete konjunk­ turelle Zyklen von Bedeutung: 1 . der saisonale Zyklus von Ernte zu Ernte, 2 . Zyklus und Krise »alten Typs«, die der Sache nach eine f/nterproduktionskrise ist (bestimmt durch la probabilité de fréquence des mauvaises récoltes), 3 . säkulare Tendenzen (mouvements de très longue durée), wobei für den Historiker relevant ist, dass die ersten beiden Zyklen Bewusstsein und Handlungsweise der Zeitgenossen bestimmen, während die dritte vor allem ihm selbst erlaubt, langfristige Tendenzen relativ homogener »Welten« (wie des christlichen Westeuropas) festzustellen. Das Letztere hat Vilar mehrfach in skizzenhafter Form unternommen. Er unterscheidet folgende langfristige Phasen innerhalb der Gesamtent­ wicklung des nachantik-christlichen Westeuropas (bis zum Übergang in den Kapitalismus):42 1. Die Phase der (früh-)mittelalterlichen Stagnation (5./6.-10. Jh.): geringe Bevölkerungsdichte, dünne Besiedlung, agrarische Ökono­ mie mit begrenztem Austausch (besonders der Geldzirkulation an der Basis) und aufs Minimum reduziertem städtischem Leben, Isolierung 42

Ähnliche Konzepte findet man etwa bei Henning: Vorindustrielles Deutschland; Slicher van Bath: Agrarian History; ein guter Bericht zur Einführung in den Gang der wirtschaftsgeschicht­ lichen Forschung hin zur Quantifizierung und Konjunkturforschung (bezogen auf das feudale Europa) stam m t von David Herlihy: The Economy o f Traditional Europe, in: The Journal of Economic H istory 1/1971.

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der Produktionseinheiten (Höfe/Siedlungskammern) und Regionen voneinander; 2 . Die Phase der (hoch)-mittelalterlichen Expansion des aufsteigenden Feudalismus (Ende 10. - Ende 13,/Anfang 14. Jh.): allgemeines Bevöl­ kerungswachstum, Rodung und Kolonisation, wachsender Umfang des agrikolen Gesamtprodukts, Aufstieg der Städte (mit Abwande­ rung des bäuerlichen »Überschusses« in diese), Vervielfältigung der inneren und äußeren Tauschbeziehungen und Wiedererwachen der Geldzirkulation (bis hin zur erneuten Doppelwährung: Silber und Gold), deutliches Steigen der Preise und Geldentwertung, kriegeri­ sche Expansion (Kreuzzüge, politisches Gleichgewicht innerhalb der Hierarchie(n) der persönlichen Beziehungen; 3 . Die Phase der (spät-)mittelalterlichen Krise, der ersten allgemeinen Krise des Feudalismus (Anfang 14. - letztes Drittel 15. Jh.): allgemeiner Bevölkerungsrückgang durch Hungersnöte, Seuchen u. a., Wüstungen (Erschöpfung von Böden), Schrumpfung des agrikolen Gesamtpro­ duktes, Krise des großen Fernhandels, Preisverfall (besonders der agrikolen Preise, mit entsprechender »Konjunktur« für das städtische Handwerk), Verschärfung der sozialen Konflikte, Kriege jeder Sorte, Zurückweichen vor Eindringlingen auf der einen, Expeditionen auf der anderen Seite (erste Entdeckungen), Begünstigung der Macht­ konzentration (Stände, Nationen, Monarchien) durch Kriege, Ent­ deckungen u. a.; 4. Die Phase erneuter Erholung des Feudalismus, zugleich der Triumph neuer politischer Systeme (Ende 15. - Ende lö./Anfang 17. Jh.): erneutes Bevölkerungswachstum, Vergrößerung der Ackerflächen, ansteigen­ des Gesamtprodukt, Boom von Entdeckungen und Erfindungen (in allen Lebensbereichen), steigende Preise, dadurch (einerseits) Fallen des Realeinkommens für Bauern und Handwerker, (andererseits) wachsende Reichtums- und Machtakkumulation bei (Fern-)Kaufleuten und Königen, grundlegende Modifikationen regionaler und überregionaler Strukturen: im Westen »merkantilistische« National­ staaten, im Osten Erstarkung feudaler Strukturen mit unterworfener Bauernschaft (2. Leibeigenschaft, Guts Wirtschaft); 5 . Die Phase der erneuten allgemeinen Krise des Feudalismus (17. Jh.), jedoch regional stark variierend: relative ökonomische Depression mit Preisverfall (von Spanien ausgehend), künstliche Inflation durch Geldverschlechterung, Stagnation und Modifikation der kolonialen Ausbeutung (mit sehr verschiedenen Wirkungen in Europa), furcht­ bare Kriege (in Deutschland), ökonomisch-politischer Niedergang (Spanien, Portugal, Italien) und Aufstieg (England, Holland), Rückwir­ kung des Handelskapitals aufs Inland (Frankreich), erste politische Revolutionen (des »Bürgertums«: Holland, England);

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6. Die Phase des sich (vom Lande) losreißenden bzw. »startenden« Kapi­ talismus (18. Jh.): ungleichmäßiges Bevölkerungswachstum, weitere Fortschritte in der agrikolen Technik, erste Durchbrüche zum Maschi­ nismus, Preissteigerungen, weitere Verarmung und Enteignung der ländlichen Massen, Frauen- und Kinderarbeit (in Verlag und Manufak­ tur), Multiplikation der Tauschverhältnisse, neue Formen kolonialer Ausbeutung, weitere Expansion, bürgerliche Revolutionen (ökono­ misch: England, politisch: Frankreich) und bäuerliche Revolten. Wir wollen im Folgenden diesen Gliederungsvorschlag von Vilar unter drei Hauptgesichtspunkten diskutieren:43 1 . dem Problem des Regionalismus innerhalb der Geschichte des euro­ päischen Feudalismus (Raum-Problem); 2 . dem Problem der temporalen Struktur des Feudalismus im Prozess seiner Reproduktion (Zeitproblem); 3 . der Frage nach den Triebkräften der Gesamt- und Regionalentwick­ lung (Ursachen-Problem). Zuvor jedoch noch eine methodische Bemerkung. Wer die jeweilige QueT /enlage zu verschiedenen Teilepochen bzw. Landschaften überblickt, dem muss auffallen, in welchem Ausmaß die Qualität und Quantität der Überlieferung auf die Darstellungsmöglichkeiten und Präsentations­ dichte durchschlägt. Man hat unter diesem Gesichtspunkt zu ermessen, wie weit etwa die relativ gute Überlieferung der Karolingerzeit (Polyptychen, Urbare), Englands agrarische Quellen im lt. bzw. 13./14. Jahrhun­ dert (Domesday-Book, Rolls und Accounts), zufällig erhaltene Firmen­ archive, Zollregister und - besonders wichtig - die zeitliche und räum­ liche Verbreitung der Kirchenbücher »Überbelichtungen« von Räumen und Teilepochen zur Folge haben, die im säkularen Trend Verzerrungen bedeuten. 1 . Das erste Problem ist mit der Frage gegeben, ob Vilars Überblick dem Regionalismus (und Lokalismus) feudaler Wirtschafts- und Gesell­ schaftsentwicklung ausreichend Rechnung trägt. Dieses Problem ist nahezu identisch mit dem der sachlichen Bestimmung und Abgrenzung verschiedener räumlich koexistierender Gesellschaftsformationen,44 Vilar hat dieses Problem natürlich selbst gesehen, auf die räumli­ chen Disparitäten gegenüber dem jeweiligen Stadium der »Gesamtent­ wicklung«, d. h. also das Problem der »Ungleichzeitigkeit«, hingewiesen und davor gewarnt, Indizien für die säkulare Konjunktur mechanisch 43

Zwei Einschränkungen sind anzumerken: W ir klammern zum einen das Problem der äußeren Abgrenzung aus und gehen zum anderen so gut wie ausschließlich auf Literatur aus dem eng­ lisch- und französischsprachigen Bereich ein, weil die von dort kommenden Anregungen hier­ zulande bislang wenig aufgenommen wurden.

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Vilar benutzt diesen Begriff u. E. nicht in dem von uns angedeuteten Sinn. Fr spricht stattdessen meist von »regionalen Strukturen«. Wesentlich deutlicher in diese Richtung gehen die Ausfüh­ rungen von Anderson: Passages, S. 154(1. |dl. 1978].

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auf alle betreffenden Regionen (d. h. Stammes-, Herrschaftsbereiche, Reiche, Nationen u. a.) zu übertragen. Wir betrachten diesen Problem­ kreis nur bezogen auf die drei Phasen des »mittelalterlichen« Feudalis­ mus. Für die Phasen des stagnanten (bzw. entstehenden) und expandie­ renden Feudalismus, wo der Quellenmangel jeder Spekulation beson­ ders Vorschub leistet, ist die Frage nach dem Verhältnis von lokaler bzw. regionaler (Tei\-)Autonomie und Hegemonie von zentraler Bedeutung: Der Lokalismus der Produktion (d. h. das unverbundene Nebeneinan­ der von (Klein-)Räumen (Siedlungsinseln) mit verschiedenster agrikoler Produktivität und sozialer Organisation mit verschieden fortgeschrit­ tenem »Feudalisierungsgrad«, der (im Gegensatz zur späteren Landes­ herrschaft) nicht geschlossene Regionalismus der Appropriation und Verteilung (Streulage der Güter, vorherrschende Naturalgestalt der Rente, dementsprechend vorwiegend wandernde Herrschaftsweise, gentil-kognatisches und gefolgschaftlich-vasallitisches Beziehungs­ netz des Adels), die überregional-universalistische Durchdringung von Reich(en) und Kirche(n) (d. h. auch: die Verschränkung von Krieg und Kult) und die Marginalität der geldvermittelten Warenzirkulation - dies sind nur einige Elemente, deren konkretes Verhältnis zueinander die Autonomie-Hegemonie-Beziehung in ihrer Vielfalt erklärbar machen kann. Allgemein hierzu hat George Duby äußerst anregend Stellung genommen.45 Besonders »periodisierungsrelevant« ist seine These von der Gefährdung des (westeuropäischen) Feudalismus durch die letzten Wellen der »Völkerwanderung« im 9. und 10. Jahrhundert (Normannen, Sarazenen, Ungarn) und deren Rückwirkung auf die Binnenverhältnisse: Stärkung der Herrschaftsposition des kriegerischen Adels, Normalisie­ rung des Appropriationsprozesses (anstelle von Raub, Schenkung und Tribut), fortschreitende Feudalisierung durch Unterwerfung freier Bau­ ern und »Verbäuerlichung« von (patriarchalen) Sklaven, Befriedung des bäuerlichen Lebensbereichs und damit »Freisetzung« des agrikolen Takeoffs (Steigerung der Produktivität pro Haushalt auf der einen, Vervielfälti­ gung der Haushalte durch inneren Landesausbau und Kolonisation nach außen auf der anderen Seite),46der von Lynn White grob missverständlich begründet und (vor-)datiert worden ist.47 Doch gilt es, diese Prozesse als regional äußerst unterschiedliche zu begreifen; leider mangelt es sehr an umfassenden Längsschnittunter45

Duby: Guerriers et paysans [dt. 1977]. Vgl. zu diesem ungemein anregenden Buch die wichtige Rezension von Hilton: Warriors and Peasants.

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Duby hat den Aufstieg der Städte als eine entscheidende Konsequenz des ländlichen Take-offs nicht mehr ausführlich behandelt.

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Lynn White: Medieval Technology and Social Change, Oxford 1962 (dt. Übersetzung mit gekürz­ tem Anm.-Teil: Die mittelalterliche Technik und der Wandel der Gesellschaft, M ünchen 1968); vgl. hierzu die Rezension von Peter H. Sawyer/Rodney H. Hilton: Technical Determinism: The Stirrup and the Plough, in: Past & Present 24/1963.

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suchungen einzelner Regionen, die solcher Fragestellung verpflichtet sind.48 Auch hinsichtlich der Entwicklung der Zirkulationssphäre ist die geringe Verknüpfung von überregionalem, auf die adligen Konsumti­ onszentren (Pfalzen, Klöster, Bischofssitze) orientiertem Luxushandel (Export von Gold/Silber nach Südosten gegen Luxusgüter: negative Handelsbilanz dieser Phasen) und lokalem Austausch für die differente Dichte ökonomischer Verflechtung der Landschaften von spezifischem Gewicht.49 Es sind zum Beispiel die Wirkungen von Ernteschwankungen durch Ad-hoc-Importe noch nicht ausgleichbar wie in späteren Phasen (Hungersnöte). Welche Konsequenzen hat dieses relativ beziehungslose Nebeneinander von akuter Not und Normalität für die politische Ereig­ nisebene? Wird das Appropriationsverhalten und der Verteilungskonflikt innerhalb des regionalen Adels dadurch maßgeblich beeinflusst? Dass sich bei Hungersnöten die Verteilungskrise bis zu permanentem Krieg und Raub zuspitzen kann, ist für die Epoche der sogenannten ersten Krise des europäischen Feudalismus im 14./15. Jahrhundert erwiesen. In der umfangreichen Diskussion50 über deren Ursachen, Verlauf und Fol­ gen hat die These von der »Allgemeinheit« der Krise natürlich die Frage nach ihrer Simultaneität und räumlichen Verbreitung provoziert. Es geht dabei um die kongruente oder abweichende/verschobene Chronologie der - nunmehr schon besser zu »Reihen« quantifizierbaren - Zeichen der Krise wie: Schrumpfung der Erträge und Revenuen, demografische Einbrüche (ablesbar an Sterbe/Heirats- und Geburtenraten), Wüstungen, die Bewegungen der Agrar- und gewerblichen Preise (und Löhne). In sei­ ner grundlegenden Regionaluntersuchung über die östliche Normandie (14. - Mitte 16. Jh.) ist Guy Bois51 auch auf diese Fragen eingegangen und hat die Simultaneität der ökonomischen Krisenbewegung hervorgeho­ ben. Würde sich dies - in Gesamtdarstellungen ohnehin meist unaus­ gesprochen unterstellt52 - durch systematische Auswertung vorliegen­ der Untersuchungen und neue Regionalstudien bestätigen, dann hätte man erneut zu klären, welche langfristigen und akuten Ursachen dieser 48

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Vorrangig zu nennen sind hier die Monografien von Fossier: La terre et les hommes; Pierre Toubert: Les structures du Latium médiéval. Le Latium méridional et la Sabine du IXe siècle à la fin du Xlle siècle, 2 Tlbde., Rom 1973; Bonnassie: La Catalogue du milieu. Leider existiert noch kein diese Probleme umfassend darstellendes Buch. Als Beispiel für eine ertragreiche Detailstudie sei genannt: Georges Despy: illes et campagnes aux IXe et Xe siècles: l’exemple du pays mosan, in: Revue du Nord 50/1968; außerdem sei auf die immer noch anre­ gende Studie von Bloch: Esquisse verwiesen. Die Literatur bis etwa 1966/67 ist erfasst bei Graus: Das Spätmittelalter; weitere Literatur bei Bois: Crise du Feodalisme. Bois: Crise du Feodalisme. So etwa bei Ruggiero Romano/Alberto Tenenti: Die Grundlegung der modernen Welt. Spät­ mittelalter, Renaissance, Reformation, Frankfurt a. M. 1967, S. 9 ff.; Henning: Vorindustrielles Deutschland, S. 127 ff.; Léopold Genicot: Crisis: From the Middle Ages to Modern Times, in: СЕНЕ 1, Cambridge 1971.

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Gleichzeitigkeit zugrunde liegen, ebenso aber, in welchem Verhältnis die verschiedenen Formen und Zeiten der politischen Zuspitzung der Krisen (Kriege, Bauernaufstände) zu jenen stehen.53 Die sich hier anschließende Frage ist die, ob für diese Phase nicht von einer modifizierten Form des Regionalismus ausgegangen werden muss, und zwar - ganz grob gesprochen - im Sinne zunehmender ökonomi­ scher Integration. Der Begriff des Formwechsels gewinnt noch an Plausi­ bilität für die Periodisierungsarbeit, wenn man allein daran denkt, wel­ che verschiedenen Resultate die Wege aus der Krise in den verschiedenen Regionen gehabt haben: Dies ist bereits an Vilars Überblick abzulesen; und Immanuel Wallerstein und Perry Anderson sind diesen neuen For­ men ökonomischer und staatlicher Organisation (Expansion nach Über­ see, »Arbeitsteilung« Europas in Ost und West, Genesis der »Nationen«, des Absolutismus und seiner Variationen) u. a. m. nachgegangen.54 2 . Was für die präzisere Fassung der räumlichen Struktur taugen könnte, dürfte gleichermaßen auch für die der Zeitstruktur Bedeutung haben. U. E. sollte man auch hier von der Vorstellung einer Modifikation der Formen ausgehen. Auch dies ist ein Gedanke, der zu Vilars theoreti­ schem Ansatz gehört. Es geht hier vor allem um die verschiedenen Auswirkungen unter­ schiedlicher Zeit-Ebenen (der naturalen, ökonomischen, sozialen, men­ talen usw.), Zeitabläufe und/bzw. Zyklen (lange, mittlere, kurze Dauer) sowie deren Tempo, Intensität und Richtung.55 Herkömmlich wird dieser Gesamtkomplex unter Begriffe wie »Entwicklung«, »Wandel« o. Ä. subsu­ miert; wir fassen ihn allgemein als die Reproduktionsdynamik (hier: der feudalen Gesellschaftsformen). Da nun die abrupt ausbrechende f/nterproduktionskrise (die Krise »alten Typs« im Sinne von Ernest Labrousse) und der langfristige Trend (longue durée) als die wichtigsten Erscheinungsformen feudaler56 Repro­ duktionsdynamik gelten können, wollen wir hier nur - ohnehin kurz auf sie und ihr Verhältnis zueinander eingehen. Zunächst: zwei periodi53 Ungemein anregend für die nähere Kenntnisnahme dieser Zusammenhänge ist die Fallstudie von Hilton: Bond Men Made Free. 54 Wallerstein: Modern World-System [dt. 1986 ff.]; Anderson: Lineages; im englischsprachigen Bereich sind bereits lebhafte Kontroversen über diese Bücher im Gange. Eine erste zusammen­ fassende Einschätzung hat jüngst Ekkehart Krippendorf: Die Entstehung des internationalen Systems, in: Neue Politische Literatur 1/1977, versucht. 55 Vgl. hierzu aus soziologisch-systematischer Sicht: Peter Waldmann: Zeit und Wandel als Grundbestandteil sozialer Systeme, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycholo­ gie 23/1971, sowie Manfred Wüstemeyer: Sozialgeschichte und Soziologie als soziologische Geschichte. Zur Raum-Zeit-Lehre der »Annales«, in: Peter C. Ludz (Hrsg.): Soziologie und Sozial­ geschichte. Aspekte und Probleme, Opladen 1972, bes. S. 572 ff. 56 Dies kann natürlich nicht bedeuten, dass beide Formen ausschließlich für den europäischen Feudalismus charakteristisch gewesen sind. Mit Sicherheit gelten sie auch für andere (vorkapi­ talistische Agrargesellschaften, doch kann man vermuten, dass die »feudalen« gerade Eigen­ heiten besitzen, die erst genauer fixiert werden könnten, wenn man andere besser kennt. Vgl. hierzu Vilar: Réflexions.

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sierungsbedeutsame Fragen zur Krise alten Typs. Das Quellenmaterial, mit dessen vorwiegender Hilfe die Hungerkrisen analysiert worden sind, gibt eine grundlegende Voraussetzung über die theoretische Form wie ihre empirische Reichweite preis: Es sind die zu statistischen Reihen auf­ bereiteten Preise.57 Der Begriff dieser Krise ist also eng verkoppelt mit einer - empirisch beachtlichen und beobachtbaren - Vermarktungsquote der agrikolen Produkte, d. h. entwickelten Land-Stadt-Beziehungen. Kann man unter solchen Voraussetzungen Vilars Bemerkung retten, diese Krise »rhyth­ misiere« (re-iterativ und kumulativ) die ökonomische und soziale Rea­ lität des Feudalismus? Doch wohl nur, wenn man - die stagnanten und expansiven Phasen des Feudalismus vor Augen, denen ein ausgebildetes Städtewesen weitgehend bzw. zum Teil fehlte - den Begriff dieser Krise zu modifizieren versucht, und zwar über die Vermutung eines realgeschicht­ lich nachweisbaren Formwechsels dieses Krisentyps; eine Modifikation, die auch Verhältnissen gerecht wird, wo mindestens die pe/d-vermittelte Warenzirkulation nur marginale Bedeutung hat. Ergänzungsbedürftig ist auch die Vorstellung von der Auslösung der Krise: Allein mit exoge­ nen Witterungseinbrüchen, die zur Missernte führen,58 sind weder der Ausbruch noch die Qualität und Frequenz dieser Krisen innerhalb der Gesamtgeschichte des Feudalismus begreifbar. Dazu hat zum einen die Steigerung des Appropiationsdruckes (pro Haushalt/Region) oder die Zuspitzung des Verteilungskampfes um die Rente mit ihren verheeren­ den Folgen zu treten (Vernichtung nicht nur von Vorräten und potenziel­ len Ernten »auf dem Halm« (d. h. Konsumtionsmitteln), sondern ebenso die von Produktionsmitteln und Arbeitskraft, also entscheidenden Vor­ aussetzungen künftiger Produktion). Diese konzeptionelle Erweiterung hinsichtlich der konkreten Auslö­ sungsfaktoren der kurzen Krise leitet über zur Frage nach den Formen ihrer Verbindung mit der langfristigen Reproduktionsdynamik. Hat Witold Kula in seinem Konzept, das er anhand der ökonomischen Ver­ hältnisse Polens (16.-18. Jh.) entwickelt hat, großen Wert darauf gelegt, faktorenanalytisch die Dynamik von court terme und longue durée strikt auseinanderzuhalten,59 so ist Guy Bois gerade davon ausgegangen, dass beide Formen der Konjunktur ursächlich und eng aufeinander bezogen gedacht werden müssen.60 Der Grund: Schrumpfen Brutto- und Sur­ plusprodukt einer Region - nach einer Wachstumsphase - nach dem 57 Dabei haben die Getreidepreise die Leitfunktion. Dies wird besonders deutlich bei den Arbeiten von Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur; Slicher van Bath: Agrarian History; Bois: Crise du Féodalisme, S. 74 ff., sowie Herman van der Wee: The Growth of the Antwerp Market and the European Economy (fourteenth-sixteenth centuries), 3 Bde„ The Hague 1963. 58 Diese Einseitigkeit, dargelegt in Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, S. 743 f., ist zu korrigieren. 59 Kula: Théorie économique [poln. 1962], S. 84 ff. 60 Bois: Crise du Féodalisme, S. 356 ff.

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malthusschen Gesetz durch die Koppelung von abnehmendem Ertrag (besonders der Grenzböden) und überschießendem Bevölkerungs­ wachstum, dann setzt eben eine Verschärfung des Appropriationsdrucks und Verteilungskampfes ein. Die Appropriationsquote wird wegen der Schrumpfung des Rentenvolumens durch außerökonomische Maßnah­ men erhöht. Diese Verschärfung aber trifft die Bauern gerade in einer langfristigen Produktionskrise. Überspitzt formuliert: Der Überausbeu­ tung des Bodens wird die Überausbeutung des Bauern aufgepfropft. Die langfristig angebahnte (endogene) Entwicklung ist also selber Ursache für eine Sequenz von kurzen Krisen. Diese Analyse von Guy Bois ist einleuchtend: aber wohl nur für historische Phasen des Feudalismus, in denen das Wachstumspotenzial (und/bzw. der potenzielle Surplus) bereits »ausgeschöpft« sind! Wie aber ist eine Verbindung von Unterpro­ duktions- und Überausbeutungskrise(n) in Phasen der Stagnation bzw. der säkularen Expansion (s. o.) zu denken? Ist diese Frage von Bedeutung für eine präzisere Vorstellung von der Zeitstruktur und dem Tempo der Entwicklung; und wenn ja, auf welcher Zeit ebene bezogen auf welche his­ torischen Räume? U. E. ist diese Frage allein schon deshalb sinnvoll, weil Vilar selber betont hat, dass sein der ersten Krise des Feudalismus eine deutliche Beschleunigung (und Verlagerung) des Rhythmus der langfris­ tigen Gesamtentwicklung zu beobachten ist. 3. Endlich dürfte auch für die Frage nach den entscheidenden Trieb­ kräften der feudalen Reproduktionsdynamik der Begriff des Formwech­ sels von Nutzen sein. Wir können hier auf die Diskussionen um die Bedeutung von exogenen wie endogenen Faktoren wie Schwankungen des Klimas, Bevölkerungsentwicklung, Bodenverknappung, Kommerzi­ alisierung und Monetisierung und anderen nicht eingehen.61 Diskutiert werden soll allein die These von Rodney H. Hilton, der strugglefor rent sei das bestimmende Bewegungsmoment (prime mover) feudaler Entwick­ lungsdynamik (und damit auch: »Selbstzerstörung«) gewesen.62 Um dieser These gerecht zu werden und sie für das Periodisierungsproblem nutzbar zu machen, sollte man den Begriff des »Rentenkampfs« in vierfacher Hinsicht spezifizieren. Es geht 1. um den Unterschied (und die Verbindung) von Appropriations- und Verte/Vunpskampf, 2. um die Unterscheidung zwischen Rentenhöhe (pro bäuerlichem Haushalt bzw. anderen Bezugssubjekten oder -Objekten) und Rentenvo/umen (pro Herr­ schaft), 3. um den Unterschied und die Verbindung zwischen der stoff­ lichen Form (Arbeits-, Produkten- und Geldrente) und der Aneignungsweise (Beute, Tribut, Grund-, Gerichts-, Zirkulations-, »kirchliche« und 61

Brauchbare Überblicke bei Brenner: Agrarian Class Structure, S. 32 ff.; Bois: Crise du Feodalisme, S. 9 ff. (bezogen auf die erste Krise des Feudalismus). 62 Hilton: Transition from Feudalism, Introduction S. 26 ff., ders.: Ein Kommentar zum Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus (1953), in: Kuchenbuch/Michael: Feudalismus, S. 392 ff).

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