Marlboroughs Geheimnis: Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg 9783412506773, 9783412505509


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Marlboroughs Geheimnis: Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg
 9783412506773, 9783412505509

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Marlboroughs Geheimnis

EXTERNA

Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven Herausgegeben von André Krischer, Barbara Stollberg-Rilinger, Hillard von Thiessen und Christian Windler

Band 10

Matthias Pohlig

Marlboroughs Geheimnis Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: John, Duke of Marlborough. Gemälde, 1705, von Adriaen van der Werff. Öl auf Leinwand, 131,5 × 107,5 cm. Inv. Nr. 76 Florenz, Palazzo Pitti, Galleria Palatina. © akg-images/Rabatti – Domingie

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Druck und Bindung: Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50550-9

Inhalt Vorwort  ......................................................................................................................... 

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Abkürzungsverzeichnis  .. ...........................................................................................  10 1 Fragen, Begriffe, Methoden  . . ...........................................................................  1.1 Einleitung  ......................................................................................................  1.1.1 Thema, Fragestellung, Thesen  . . .......................................................  1.1.2 Forschungsstand  ................................................................................  1.1.3 Information und Kommunikation: Eine Begriffsklärung  .......  1.1.4 Quellen  ................................................................................................  1.1.5 Aufbau der Arbeit  ............................................................................. 

11 11 11 23 32 38 40

2 Voraussetzungen  .................................................................................................  2.1 Hintergründe: Der Spanische Erbfolgekrieg und der Herzog von Marlborough  . . ........................................................  2.1.1 Ursachen des Erbfolgekrieges  ........................................................  2.1.2 Der Spanische Erbfolgekrieg: Verlauf, Kriegsparteien, Ergebnisse  ..............................................  2.1.3 John Churchill, Duke of Marlborough: Eine biographische Skizze  ..............................................................  2.2 Englische Innen- und Außenpolitik um 1700: Institutionelle Mechanismen und politische Kräfteverhältnisse  . . ...............................  2.2.1 Parlament und Regierung nach 1688  ............................................  2.2.2 Die Krone und der Hof  ...................................................................  2.2.3 Die Secretaries of State  .......................................................................  2.2.4 Das Cabinet  .........................................................................................  2.2.5 Marlboroughs Stellung im Gefüge der englischen Regierung  .

42

3 Strukturen der Informationsgewinnung  ......................................................  3.1 Kommunikation und Strukturbildung: Infrastrukturen, Organisationen und Netzwerke  .. ...............................  3.2 Infrastrukturen als Rahmenbedingungen der Informationsgewinnung  . . ...........................................................................  3.2.1 Secret Service Money oder: Womit bezahlt man Informationen?  ............................................ 

87

42 42 47 63 70 71 78 81 83 84

87 97 97

6

Inhalt

3.2.2 Der Herzog liest und schreibt: Briefe als Grundlage von Epistolarpolitik  ..........................................................................  104 3.2.3 The safest but also the quickest way: Die Post zwischen England und dem Kontinent  . . ....................  115 3.2.4 De quelque usage a Mylord Duc: Der Nutzen der Landkarte  ...  141 3.3 Informationsgewinnung und Organisation  ..........................................  148 3.3.1 Marlborough und die Secretaries of State: Kooperation und Konkurrenz  ........................................................  148 3.3.1.1 „Spionage“ um 1700: Interzeption und Initiative  ........  148 3.3.1.2 Die Secretaries und der Herzog  ........................................  151 3.3.1.3 Interzeptionsspionage und das Amt des Dechiffrierers  ................................................................  162 3.3.1.4 Initiative statt Interzeption: Newsletters und Spione  ..  170 3.3.1.5 At ye peril of my life & ruine of my familly: Macky und Fonseca  ............................................................  173 3.3.2 Honorable espions: Diplomatische Informationsgewinnung  ....  186 3.3.2.1 Marlborough und die englische Diplomatie um 1700  186 3.3.2.2 John Lawes berichtet aus Brüssel  . . ..................................  195 3.3.3 Militärs als Informanten  . . ................................................................  203 3.4 Informelle Informationsgewinnung: Marlboroughs Netzwerke  .....  211 3.4.1 Grauzonen formaler Diplomatie: Heinsius, Robethon, Grumbkow  .. .................................................  211 3.4.2 En quelque sorte sous mes yeux: François Jaupain  .........................  232 3.4.3 Il est vrai qu’il est souvent bien averti: Das Netzwerk Etienne Caillauds  ..................................................  251 3.4.4 Wem kann man trauen? Individuelle Spionage als Problem  ..  276 3.5 Der Herzog liest kaum Zeitung: Die Rolle der Presse  ......................  288 3.6 Zwischenergebnisse  .. ...................................................................................  298 4 Funktionen der Information  .. ..........................................................................  4.1 Funktionen der Information: Methodische Überlegungen  ..............  4.2 Instrumentelle Funktionen von Information  .. ......................................  4.2.1 Nützlichkeit und Nutzung von Informationen  .. ........................  4.2.2 Informationen und Entscheidungen  ............................................  4.2.3 Mother of prevention  ..........................................................................  4.3 Information und Patronage  . . .....................................................................  4.3.1 Patronage und Informationsgewinnung  ......................................  4.3.2 Information, Patronage, Allianz: Militärische Informanten als Klienten  .. ....................................... 

302 302 314 314 333 337 340 340 346

Inhalt

4.4 Information als Repräsentation von Kompetenz und Legitimität  ..  4.4.1 Lett me know every thing: Kompetenzrepräsentation oder Fetischismus?  . . .........................  4.4.2 His Eyes and Ears must be in all Secret Cabinets: Legitimation durch Information?  .................................................  4.5 Zwischenergebnisse  .. ................................................................................... 

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350 350 356 370

5 Ergebnisse  . . ...........................................................................................................  373 5.1 Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung  . . ...............  373 5.2 Marlboroughs Geheimnis  .........................................................................  377 6 Quellen- und Literaturverzeichnis  . . ..............................................................  6.1 Quellen  . . .........................................................................................................  6.1.1 Ungedruckte Quellen  .......................................................................  6.1.2 Gedruckte Quellen  ...........................................................................  6.2 Literatur  ......................................................................................................... 

379 379 379 382 388

7 Personenregister  ..................................................................................................  453

Vorwort Das vorliegende Buch stellt die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilita­ tionsschrift dar, die im Herbst 2015 vom Fachbereich 8 der Westfä­lischen Wilhelms-­ Universität in Münster angenommen wurde. Ich danke den Gutachtern Barbara Stollberg-­Rilinger (Münster), Werner Freitag (Münster), Hillard von Thiessen (Rostock) und Andreas Gestrich (London), die wertvolle Hinweise für die Überarbeitung gaben. Ebenso danke ich den Herausgebern der „Externa“ für die Aufnahme meines Manuskripts in die Reihe. Das Buch wäre ohne einen aufregenden und anregenden Aufenthalt in L ­ ondon nicht geschrieben worden – ich danke dem Deutschen Historischen Institut ­London für ein Postdoc-­Stipendium, Michael Schaich für die seitdem andauernde gute Zusammenarbeit und den Archivarinnen und Bibliothekaren für ihre Mühen. Bedanken möchte ich mich auch bei Heinz Schilling und Ute Lotz-­ Heumann, die in meiner alten akademischen Heimat, der Humboldt-­Universität zu Berlin, die Anfänge des Buchprojekts begleitet haben. Ich danke außerdem meinen Kolleginnen und Kollegen in Münster, die mich vor einigen Jahren mehr als freund­lich aufgenommen und mir durch inhalt­liche Anregungen, aber auch durch freundschaft­liche Unterstützung beigestanden haben: Barbara Stollberg-­ Rilinger, Tim Neu, Barbara Groß, Michael Sikora, Christina Brauner und André Krischer. Mein Dank gilt auch Brigitte König, die immer ­Kaffee und ein offenes Ohr für mich hatte, und den studentischen Hilfskräften Elisabeth Tscharke und Janika Michael, die Literatur für mich besorgten. Viel gelernt habe ich bei Diskussionen auf Tagungen und in Kolloquien etwa in München, London, Köln, Bielefeld, Engelberg, Innsbruck und Berlin – danke! Ich danke den Freunden, die sich die Mühe gemacht haben, das Manuskript vor der Abgabe ganz oder teilweise zu lesen: Michael Schaich, Franziska Neumann, Tim Neu und J­ an-­Friedrich ­Mißfelder. Ihre gründ­liche Lektüre, ihre scharfsinnigen Anregungen und kritischen Einwände haben mir sehr weitergeholfen. Damit aus Gedanken und Exzerpten aber ein Buch werden kann, braucht man nicht nur inhalt­lichen Austausch, sondern auch persön­liche Unterstützung, innerhalb wie außerhalb der Universität. Daher danke ich herz­lich allen, die mir in den letzten Jahren Freundinnen und Freunde gewesen sind, und meinen Eltern und Geschwistern. Am meisten verdanke ich Franziska – inhalt­lich und weit darüber hinaus. Ihr ist ­dieses Buch gewidmet. Münster, im März 2016

Matthias Pohlig

Abkürzungsverzeichnis BL: British Library BL Add.: British Library, Addi­tional Manuscript BPMA: The British Postal Museum and Archive, London HMC: Historical Manuscripts Commission TNA SP: The Na­tional Archives (Kew), State Papers

1 Fragen, Begriffe, Methoden Es ist schwer, Bester, wenn man nicht ein Beispiel zur Hand nimmt, irgend etwas Größeres recht ­deut­lich zu machen. Denn sonst mag wohl jeder von uns erst wie im Traume alles wissen und dann wieder gleichsam wachend alles nicht wissen. Platon

1.1

Einleitung

1.1.1 Thema, Fragestellung, Thesen

Im Herbst des Jahres 1711 wurde dem Herzog von Marlborough vorgeworfen, er habe Geld veruntreut und in die eigene Tasche gewirtschaftet. Marlborough war zu ­diesem Zeitpunkt Oberbefehlshaber der eng­lischen Truppen auf dem Kontinent sowie der alliierten Truppen in den süd­lichen Niederlanden, oberster eng­ lischer Diplomat und Mitglied des Kabinetts der Königin Anne. Die zuständige parlamentarische Untersuchungskommission machte ihm zwei Vorwürfe: Er habe von 1702 bis 1711 von den Vertragspartnern für die Brotversorgung der Armee jähr­lich eine bestimmte Geldsumme erhalten, die als Bestechung gedeutet wurde. Außerdem habe er von verschiedenen euro­päischen Souveränen jeweils 2 ½ Prozent des Soldes für die ihm zur Verfügung gestellten Subsidientruppen bekommen. Beides erfülle den Tatbestand der Unterschlagung oder mindestens der unlauteren Bereicherung für private Zwecke.1 Zu seiner Verteidigung erklärte Marlborough, dass ­dieses Geld für einen wichtigen Zweck ausgegeben worden sei, der eine transparente Rechnungslegung aber grundsätz­lich unmög­lich mache: näm­lich für geheimdienst­liche Aufgaben. Er habe, so Marlborough, das Geld für „keeping secret correspondence,

1 Vgl. die Quellendokumenta­tion der parlamentarischen Verhandlungen (inklusive der Verteidigung Marlboroughs) bei: Cobbett, Parliamentary History, Bd. 6, Sp. 1050 – 1088. – Bis 1752 galt in England der julianische Kalender, auf dem Kontinent weitgehend der gregorianische Kalender. Dies führt dazu, dass Briefe vom Kontinent nach England zuweilen zwei Datumsangaben enthalten. Überdies war in England der Jahresbeginn auf den 25. März festgesetzt. Diese zweite Festsetzung wird im Folgenden weggelassen; das Jahr beginnt, wie heute üb­lich, am 1. Januar.

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Fragen, Begriffe, Methoden

and getting intelligence of the enemies mo­tions and designs“ eingesetzt.2 Zirkulär und angesichts der fehlenden Belege praktisch unwiderleg­lich argumentierte er, dass „the many Successful Ac­tions […] to which our constant good Intelligence has ­greatly contributed, must convince every Gentleman, that such Advices have been obtained, and consequently that this Money has been rightly applied“.3 Auch wenn als sicher gelten kann, dass Marlborough sich während des Spanischen Erbfolgekrieges in hohem Maße persön­lich bereichert hat,4 ist doch seine Behauptung, er habe das Geld für die Beschaffung von Informa­tion verwendet, nicht gänz­lich unplausibel: „[N]o War can be conducted successfully without early and good Intelligence, and that such Advices can’t be had but at a very great Expence. No body can be ignorant of this, that knows any thing of Secret Correspondence, or considers the Numbers of Persons that must be employ’d in it, the great Hazard they undergo, the variety of Places in which the Correspondences must be kept, and the constant necessity there is of supporting and feeding this service.“5

Zeitgenös­sische Kommentatoren äußerten sich ähn­lich, was den Aufwand, aber auch den Nutzen von Spionage anging.6 Marlborough selbst wurde aber von seinen Anklägern kein Glauben geschenkt. Im folgenden Jahr 1712, als Marlborough bereits aller seiner Ämter enthoben war, berichtete ein franzö­sischer Gesandter vom Kongressort Utrecht aus an ­seinen König, „notre plus grand ennemi“ sei François Jaupain, der Generalpostmeister der südniederländischen Post.7 Nicht nur sei er in einer Posi­tion, die es ihm erlaube, diplomatische und militärische Informa­tionen abzufangen und zu entziffern; daneben stehe er nach wie vor unter dem Einfluss Marlboroughs. Dieser befand sich zu d ­ iesem Zeitpunkt bereits im Exil auf dem Kontinent. Dennoch erschien der ihm ergebene Postmeister noch nach dem Ende von Marlboroughs 2 Cobbett, Parliamentary History, Bd. 6, Sp. 1050 f. 3 The Case of his Grace, 9. Bei dieser Schrift handelt es sich um eine gedruckte Verteidigungsschrift Marlboroughs, die er als Rede für das Unterhaus konzipiert hatte, dann aber nicht mehr hielt, sondern stattdessen veröffent­lichte. 4 Vgl. Metzdorf, Politik, 420. 5 The Case of His Grace, 8. 6 Vgl. nur: Warner, Unpublished Political Paper, 135; Callières, De la manière de négocier, 22 – 24. 7 Zitiert nach: Bély, Espions, 162; zu Jaupain siehe auch: Janssens/Meurrens, Vorstelijke en private post, 79 – 88.

Einleitung

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überragender politischer, diplomatischer und militärischer Machtposi­tion als große Gefahr. Vor allem aber zeigt sich an der Titulierung Jaupains als größtem Feind Frankreichs, welcher Stellenwert der Gewinnung von Informa­tion in der politisch-­militärischen Welt um 1700 zugeschrieben wurde. Man muss nicht so weit gehen wie Daniel Defoe, der 1704 urteilte, die Beschaffung von Informa­tion sei „the soul of all publick bussiness“8, um zu erkennen, welch zentrale Rolle der Kategorie der Informa­tion und ihrer Gewinnung in einem euro­päischen Krieg der späteren Frühneuzeit zugeschrieben wurde. Die erfolgreiche Gewinnung von Informa­tion, aber auch die erfolgreiche Verhinderung von gegnerischer Informa­tionsgewinnung war also ein bedeutendes Element militärischen, diplomatischen und politischen Handelns um 1700. Dies scheint trivial. Dennoch muss man konstatieren, dass die Geschichtswissenschaft sich meist zu wenig für die Art und Weise interessiert, wie politische Akteure an die für sie relevanten Informa­tionen gekommen oder eben nicht gekommen sind. Oft wird implizit der Eindruck vermittelt, die Akteure hätten genau die Informa­tionen gehabt, die sie gerade brauchten, ohne danach zu fragen, woher eigent­lich.9 Insofern ist es für die Politik- und Militärgeschichte mindestens des Spanischen Erbfolgekrieges, aber auch generell von Interesse, versuchsweise Informa­tion zum „nervus rerum“ zu erklären.10 Denn das Schreiben von politischer oder militärischer Geschichte ohne eine Berücksichtigung der Geschichte der Informa­tion, der Kommunika­tion und der Medien ist nicht mehr sinnvoll, selbst dann, wenn man nicht – wie bestimmte Extremposi­tionen innerhalb der Medienwissenschaft – Geschichte überhaupt als Mediengeschichte tout court rekonstruieren möchte.11 Frühneuzeit­liche Politik ist ohne Informa­ tionsgewinnung nicht vorstellbar; Kommunika­tion und Informa­tion waren bereits lange vor dem Zeitalter moderner Massenmedien 12 zentrale Bereiche 8 Warner, Unpublished Political Paper, 135. 9 Als idealtypische Zuspitzung arbeitet die sozia­lwissenschaft­liche Handlungstheorie Max Webers sogar explizit mit d ­ iesem Axiom: Es „wird bei einer politischen oder militärischen Ak­tion zunächst zweckmäßigerweise festgestellt: wie das Handeln bei Kenntnis aller Umstände und aller Absichten der Mitbeteiligten und bei streng zweckra­tionaler, an der uns gültig scheinenden Erfahrung orientierter, Wahl der Mittel verlaufen wäre. Nur dadurch wird alsdann die kausale Zurechnung von Abweichungen davon zu den sie bedingenden Irra­tionalitäten mög­lich.“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 3). 10 Bély spricht von „une véritable faim d’informa­tion“ als Charakteristikum der Diplomatie um 1700: Bély, Méthodes, 226. – Zur Maxime „pecunia nervus rerum“ siehe: Stolleis, Pecunia. 11 Siehe zu ­diesem Problem: Mißfelder, Klartext. 12 Vgl. Kaufmann, Kommunika­tionstechnik.

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Fragen, Begriffe, Methoden

der Kriegführung. Politik zu betreiben und Krieg zu führen hieß immer auch, Informa­tionen zu gewinnen und die Strukturen der Informa­tionsgewinnung zu ­nutzen, aber auch zu verbessern. Zeitgenös­sische Stellungnahmen – zum Beispiel Marlboroughs Verteidigung gegen die Vorwürfe der Veruntreuung, aber auch die Titulierung Jaupains als größter Feind Frankreichs – bilden den Ausgangspunkt für die in biographischen wie systematischen Arbeiten der älteren wie der jüngeren Forschung immer wieder zu lesende Annahme, Marlborough habe ein außerordent­lich ausgefeiltes und effektives ‚System‘ der Informa­tionsgewinnung unterhalten.13 Auch an den Rändern der seriösen Forschung – in der oft eher halbwissenschaft­ lichen Geheimdienstgeschichte – wird Marlboroughs Informa­tionsgewinnung häufig als besonders hervorstechendes Beispiel angeführt. 14 Dieses ‚System‘, so wird oft implizit vorausgesetzt, habe Marlboroughs diplomatische und militärische Erfolge mitkonstitutiert. Dies ist allerdings auch – en ­passant – bestritten worden.15 Im Detail erforscht worden ist es aber nie. ­Marlboroughs Informa­tionsgewinnung wird oft punktuell behandelt und taucht hin und wieder aus dem Dunkel auf, das sie umgibt: Im vorliegenden Buch soll sie im Zentrum stehen. Das zentrale forschungspraktische Problem besteht darin, und das zeigt ja der Prozess gegen Marlborough, dass geheimdienst­liche Tätigkeiten geheim sind, geheim bleiben sollen und mit Geld bezahlt werden, das nirgendwo verbucht wird. Gerade bei dem von Marlborough betonten Typus der militärischen Spio­nage 13 Vgl. Trevelyan, England, Bd. 3, 44; Churchill, Marlborough, z. B. Bd. 1, 725; Snyder, Introduc­tion, XXX; Bély, Espions, 91 f.; ders., Méthodes, 227; Holmes, Marlborough, z. B.  214 f., 260 f.; Backscheider, Daniel Defoe, 2 u. 17, Anm. 6; Rule, Gathering Intelligence, 737 – 740. 14 Einige der v. a. in England regelmäßig erscheinenden semipopulären Geschichten der Geheimdienste sehen in Marlborough einen der großen ‚spymaster‘ der eng­lischen Geschichte; vgl. Rowan, Story, 102. Manche Autoren des semi-­populären Genres kombinieren, oft wört­lich voneinander abschreibend, Pseudo-­Exaktheit im Detail mit generellen Aussagen sehr großer Reichweite und schaffen es dabei oftmals, Dutzende faktischer Fehler auf wenige Sätze zu verteilen. Siehe als besonders abschreckendes Beispiel: West, Marlborough, 330; vgl. auch: Smith, Spying Game, 42; Piekalkiewicz, Weltgeschichte, 159 sowie Parritt, Intelligencers, 17 f.; weitgehend identisch mit den beiden letzten und wohl die Vorlage dazu: Haswell, Spies, 46 – 50. – Nicht erwähnt wird Marlborough dagegen z. B. in: Crowdy, Enemy; Etienne/Moniquet, Histoire; Bennett, Espionage; Polmar/Allen, Spy Book; Richings, Espionage; Deacon, History; seriöser, aber veraltet: Thompson/­Padover, Secret Diplomacy. 15 Vgl. Alsop, British Intelligence, v. a. 113.

Einleitung

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liegt also ein Überlieferungsproblem vor. Die Erforschung von Spionage im frühen 18. Jahrhundert kann daher, trotz der immensen Zahl an Quellen, nur partiell befriedigend durchgeführt werden. Daher wird Spionage in der Forschung oft entweder überschätzt oder aber ignoriert.16 Diese Lage „may put the historian of espionage in the eighteenth century in a posi­tion similar to the historian of antiquity who, most of the time, is left with only bits and pieces: too much to ignore, but too little to give an account that is fully satisfying for one’s curiosity“17.

Diese Quellensitua­tion ist der erste Grund, warum hier der Fokus ausgeweitet wird. Statt um Spionage (oder noch enger: militärische Spionage) geht es genereller darum, wie eigent­lich ­welche Art von Informa­tion beschafft wurde. Doch wichtiger ist ein zweiter, methodischer Grund: Die Verengung der Informa­tionsgewinnung auf Spionage im engsten Sinne unterschlägt große Bereiche zeitgenös­sischer Informa­tionsgewinnung und wird, wie im Folgenden immer wieder deut­lich werden wird, auch der zeitgenös­sischen Klassifizierung von Informa­tion nicht gerecht, die viel weniger eindeutig etwa z­ wischen Diplomatie und Spionage unterscheidet, als dies in der Moderne üb­lich ist.18 Für den Bereich der Spionage unterscheidet etwa Bély ­zwischen einer großräumigen, strate­gischen Makrospionage und einer kleinräumigen Mikrospionage.19 Dies ist nicht falsch, doch Spionage wäre zuerst einmal von Geheimdiplomatie und Diplomatie überhaupt abzugrenzen und doch mit ihnen in Beziehung zu setzen.20 Die oft etwas sensa­tionsheischende Konzentra­ tion auf Spionage setzt implizit zudem ihre überzeit­liche Konstanz voraus. Diese Annahme verstellt die Einsicht in die spezifische historische Konstella­tion, innerhalb derer Spionage angesiedelt ist, und auch ihre historisch je spezifische Abgrenzung von anderen Formen der Informa­tionsgewinnung.21 Daher soll hier das gesamte Feld der diplomatisch-­militärisch-­politischen Informa­tionsbeschaffung in 16 Vgl. Droste, Im Dienst der Krone, 184; Preto, I servizi segreti, 11 – 15; Roosen, Age of Louis XIV, 154 – 156, 166. 17 De Leeuw, Black Chamber, 135. 18 Vgl. Hellin, Espionnage, v. a. 290. – Deshalb sind auch für die vorliegende Untersuchung nach moderner Klassifika­tion gestaltete Bibliographien und Studien zu „Geheimdiensten“ nur eingeschränkt nütz­lich. Siehe: Gunzenhäuser, Geschichte; Davies, British Secret Services, 1 – 9; Calder (Hrsg.), Intelligence; siehe auch: Krieger (Hrsg.), Geheimdienste in der Weltgeschichte. 19 Vgl. Bély, Espions, 230. Bei Bély heißt es aber auch: „L’espionnage n’était qu’une forme parmi d’autres de cette insatiable quête de renseignements.“ (ebd., 14). 20 Vgl. Ansätze dazu bei: Braubach, Geheimdiplomatie. 21 Vgl. in ­diesem Sinne: Opitz, Diplomacy.

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Fragen, Begriffe, Methoden

den Blick genommen werden – wenn auch im Laufe der Untersuchung bestimmte Schwerpunkte gesetzt werden. Vollständigkeit kann hier kein sinnvolles Ziel sein. Mit Rückgriff auf die beiden Eingangsbeispiele und deren thematische Differenz heißt dies: Es ist nicht nur die von Marlborough selbst betonte militärische Spionage, die im Folgenden untersucht werden soll, sondern auch und vor allem die mit der Jaupain-­Anekdote eingeführte Gesamtproblematik der Informa­ tionsgewinnung, die im Zentrum steht. Die vorliegende Studie interessiert sich allgemein für die Gewinnung primär außenpolitischer Informa­tionen, aber auch für die innenpolitische, eng­lische Informa­tionsgewinnung, und zwar dann, wenn sie mit der außenpolitischen Dimension verknüpft ist. Für eine Fallstudie zur Informa­tionsgewinnung bietet sich Marlborough an: In seiner Person vereinen sich auf außergewöhn­liche Weise die Tätigkeiten des Politikers, des Diplomaten und des Generals – er war, wie es zeitgenös­sisch heißt, „in dem Cabinet eben ein so habiler Politicus und Ministre, als in dem Feld ein vortreff­licher General“22. Für alle seine Tätigkeitsbereiche benötigte ­Marlborough Informa­tionen unterschied­licher Art und arbeitete daher mit verschiedenen Individuen und Gruppen zusammen. Marlboroughs Biographie ist gut erforscht, es gibt eine Vielzahl von Quellen zu Marlboroughs verschiedenen Ämtern und Aktivitäten. Der behandelte Zeitraum umfasst die Jahre 1702 bis 1711, also jenen Zeitraum innerhalb des Spanischen Erbfolgekriegs, in dem Marlborough alle genannten Ämter innehatte.23 Selbstverständ­lich könnte man die Modi der Informa­tionsgewinnung um 1700, selbst diejenigen der eng­lischen Regierung oder der Armee, auch ohne Fokussierung auf Marlborough beschreiben. Aber erstens lassen sich an Marlboroughs Informa­tionsgewinnung gesamteuro­päische, zeitspezifische Charakteristika aufweisen, auch wenn er zweifellos eine Ausnahmegestalt darstellt. Wenn Marlborough also auch nicht als schlichtes ‚Beispiel‘ für eine generalisierende Interpreta­tion dienen kann, so doch als ‚Fall‘, der generelle strukturelle Merkmale verdeut­lichen kann, aber auch über diese hinausweist.24 Am untersuchten Material ist also sowohl etwas über die Strukturen der Informa­tionsgewinnung in der Frühen Neuzeit zu lernen als auch über Marlborough selbst.

22 Fassmann, Gespräche In Dem Reiche derer Todten, Sechs und Viertzigste Entrevuë, 999. 23 Marlborough versuchte, auch nach 1711 sein Informa­tionsnetzwerk aufrechtzuerhalten, v. a., indem er sich auf den ­Kaiser und Hannover stützte; vgl. Gregg, Marlborough in Exile. 24 Vgl. zum Problemumkreis: Pohlig, Vom Besonderen zum Allgemeinen.

Einleitung

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Zweitens ist die biographische Orientierung ein Weg, um das disparate Material zu organisieren, weil sie einen Fokus bietet, ein „Zentrum, auf das alles zu beziehen ist“25. In ­diesem Sinne ist diese Studie auch ein methodischer Versuch: Während die vorliegende Forschung näm­lich meist einzelne Aspekte von Informa­tionsgewinnung isoliert, soll hier der Versuch gemacht werden, das Informa­tionsumfeld einer einzelnen Person nicht hinsicht­lich bestimmter ausgewählter Dimensionen, sondern in seinen wesent­lichen Zügen als Ganzes zu rekonstruieren. Was aber heißt: in seinen wesent­lichen Zügen? Wie kann eine Geschichte der Informa­tion überhaupt konzipiert, wie das Material sinnvoll geordnet werden? Vorstellbar wäre eine thematische Ordnung nach den wichtigsten oder typischen Informa­tionsinhalten; oder eine geographische Ordnung nach den wichtigsten Zielen der Informa­tionsgewinnung – etwa, indem man der Frage folgte, ­welche Höfe, ­welche politischen Zentren, w ­ elche Regierungen etc. ausspioniert wurden. Vorstellbar wäre auch eine Ordnung des Materials nach Modi der Informa­ tionsgewinnung: Man könnte also Spionage, Geheimdiplomatie, Diplomatie, offizielle und private Briefwechsel etc. unterscheiden. Ebenfalls typolo­gisch zu ordnen wären die verschiedenen Akteure 26: Diplomaten, eng­lische Amtsträger, aber auch Zuträger aus typischen Informa­tionsbörsen wie dem Reichstag 27 und Den Haag. Die hier gewählte Ordnung geht in diese Richtung, fragt aber entschiedener nach der Spezifik der unterschied­lichen Strukturen der Informa­tionsgewinnung. ‚Strukturen‘ meint hier auf Dauer gestelltes Handeln beziehungsweise die Konfigura­tionen, die aus wiederholtem Handeln entstehen, es aber wiederum auch ermög­lichen.28 Wenn also nach Strukturen der Informa­tionsgewinnung gefragt wird, bezieht sich dies auf das Problem, wie Informa­tionsgewinnung personell, materiell und infrastrukturell geordnet und organisiert wurde, ob sie also zum Beispiel in formalen, amtsförmigen Bahnen oder in informellen, kurz- oder mittelfristigen Netzwerken verlief. In d ­ iesem Sinne versteht sich diese Studie als Strukturgeschichte der Informa­tionsgewinnung, die nach den Infrastrukturen, den Organisa­tionen und 25 Meier, Faszina­tion, 108. Zur im weiteren Sinne biographischen Forschung vgl. den konzisen Problemaufriss von: Bödeker, Biographie. 26 Vgl. in diese Richtung: Rule, Gathering Intelligence, 737, der allerdings eine Typologie vorschlägt, die Foucaults chine­sischer Enzyklopädie ähnelt, weil sie völlig unvereinbare Parameter nebeneinanderstellt: „The gatherers of intelligence may conveniently be divided into seven categories: those in the immediate war zone; agents secreted at or near strategic sites; spies on missions; gadflies, living at court or in major urban centres; deep-­seated spies – in modern parlance, moles; diplomats recruited by a foreign power; and the spy-­masters, who direct field opera­tions.“ 27 Vgl. Friedrich, Drehscheibe Regensburg. 28 Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.

18

Fragen, Begriffe, Methoden

den Netzwerken der Informa­tionsgewinnung fragt; die Begriffe werden weiter unten vertiefend erklärt. Gleichzeitig soll aber auch eine Funk­tionsgeschichte der Informa­tion geschrieben werden, indem nach Gebrauch, Nutzen und Funk­tion von Informa­tion gefragt wird.29 Die Fragen, die beantwortet werden sollen, lauten also: Wie kam ein hochrangiger Politiker, Diplomat und Militär um 1700 an die Informa­tionen, die er brauchte? Wie wurde Informa­tionsgewinnung organisiert und w ­ elche Strukturen waren dafür relevant? Wozu schließ­lich diente Informa­tion, ­welche Funk­tion oder Funk­tionen erfüllte sie? In dieser Weise zu fragen bedeutet, einen biographischen Fokus mit einem strukturgeschicht­lichen Ansatz zu kombinieren, der zudem die Funk­tionen von Informa­tion problematisiert. Der Zugang über die Strukturen der Informa­tion setzt voraus, dass die kommunizierten Inhalte in ihrer Bedeutung methodisch eingeklammert werden. Zudem legt er einen gewissen Akzent auf strukturelle Regelmäßigkeiten und Kontinuitäten statt auf kurzfristige Ereignisse oder tief greifende Wandlungsprozesse. Die Frage nach den Strukturen der Informa­tionsgewinnung und ihren jeweiligen Spezifika ist aus drei Gründen die erste leitende Perspektive: erstens, weil die Frage nach Strukturen der Informa­tionsgewinnung auf das zentrale Problem bezogen ist, dass in der Vormoderne Transport- und Kommunika­tionsmedien identisch oder jedenfalls aneinander gekoppelt waren. „Weite Entfernung im Raum“ war immer auch „weite Entfernung in der Zeit“30. Die Distanz ­zwischen den verschiedenen Kriegsschauplätzen und der eng­lischen Zentrale generierte in besonderem Maße Probleme der Raum- und Zeitüberbrückung. Diese Raum- und Zeitüberbrückung wurde durch Strukturen der Kommunika­tion und Informa­tionsgewinnung geleistet. Der Aufbau solcher Strukturen erscheint in dieser Perspektive als „Antwort auf das Problem, wie eine Bezugnahme unter Bedingungen von Distanz mög­lich“31 wird. Durch räum­liche Distanz entstanden aber auch die allfälligen Probleme von Geschwindigkeit und Sicherheit der Informa­tionsübermittlung – Probleme, die viel mit finanziellen Aufwendungen zu tun hatten. 29 Interessanterweise versteht sich schon die berühmte Kommunika­tionsformel Lasswells („Who says what in which channel to whom with what effect?“) als Untersuchung der Struktur wie der Funk­tion von Kommunika­tion – was nicht ganz dasselbe wie Informa­ tionsgewinnung, aber doch, wie unten ausgeführt wird, eng an sie geknüpft ist. Vgl. Lasswell, Structure. Dies zeigt aber vor allem den zeit­lichen wie disziplinären Abstand an, den die vorliegende Studie zur älteren Kommunika­tionstheorie markiert. 30 Giddens, Konstitu­tion der Gesellschaft, 175. Zur Kritik an Giddens’ Raumbegriff siehe aber auch: Löw, Raumsoziologie, 12. – Erst die Eisenbahn wird, so ein Topos des 19. Jahrhunderts, die „Vernichtung von Raum und Zeit“ bewirken; siehe Schivelbusch, Geschichte, 35. 31 Krämer, Medium, 16.

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Zweitens schaltet sich die Untersuchung mit ihrem Fokus auf die unterschied­ liche Qualität von Strukturen der Informa­tionsgewinnung in eine laufende Forschungsdebatte vor allem im Bereich der Diplomatie-, aber auch der Verwaltungsgeschichte ein: näm­lich in die Debatte um das Verhältnis formaler und informeller Akteure, Strukturen und Normen.32 So hat etwa Hillard von ­Thiessen im Rahmen seiner idealtypischen Skizze der frühneuzeit­lichen Diplomatie gezeigt, dass persön­liche Beziehungen, etwa Patronagebeziehungen, mehr oder minder gleichberechtigt neben staat­lichen Beziehungen standen. Daher, so folgert von Thiessen, könne keine „Trennung ­zwischen formellen Beziehungen und informellen Netzwerken“ vorgenommen werden.33 Diese These soll im Folgenden ü ­ berprüft werden. Deshalb wird hier heuristisch z­ wischen formalen und informellen Informanten und Informa­tionsstrukturen differenziert und gefragt, worin sich eher administrative, formalisierte oder teilformalisierte Kanäle von ganz und gar informellen unterscheiden und wo sie sich überschneiden. Ein dritter und letzter Grund für die Anordnung des Materials im Hinblick auf die Spezifik der Strukturen ist, dass auf d ­ iesem Wege gezielter danach gefragt werden kann, wie sich diese Strukturen eigent­lich zur Zentralgestalt der Arbeit, dem Herzog von Marlborough, verhalten – ob sie also von ihm ausgehend und auf ihn zulaufend gedacht werden müssen oder ob diese Perspektive eher in die Irre führt. Die Forschungsliteratur postuliert einerseits oft pauschal ein ­Marlborough’sches ‚System‘ der Informa­tionsgewinnung, reiht andererseits in der Darstellung additiv einzelne Namen aneinander, sodass völlig im Dunkeln bleibt, wie sich diese Personen zueinander, zu Marlborough, zur eng­lischen Regierung verhalten, ob sie einzeln agieren oder in größere Konfigura­tionen eingebunden sind. Wenn also Marlborough die zentrale Gestalt dieser Studie ist, impliziert dies nicht etwa die Prämisse einer absoluten Ausnahmestellung Marlboroughs innerhalb der eng­lischen Regierung. Lucien Bély schätzt Marlboroughs Bedeutung so hoch ein, dass man von einem „véritable dédoublement du gouvernement“34 sprechen könne, wozu sein Informa­tionssystem („construit pour un homme qui n’était pas un souverain“35) in hohem Maße beigetragen habe. Diese Auffassung ist wiederum kongruent mit einer älteren Forschungstradi­tion (und einer bereits zeitgenös­sischen Einschätzung), die Marlborough mindestens in latenter Konkurrenz zur Königin Anne

32 Vgl. zum Problem Formalität/Informalität aus Sicht der Frühneuzeitforschung: Emich, Formalisierung; Bauer, Informalität; Stollberg-­Rilinger, Frühe Neuzeit. 33 Thiessen, Diplomatie vom type ancien, 476. 34 Bély, Espions, 91. 35 Ebd., 92.

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sah.36 Demgegenüber scheint es mir plausibel, mit John Hattendorf die Einbindung Marlboroughs in die verschiedenen Gremien der eng­lischen Regierung zu betonen, die mitnichten ausschließ­lich Befehlsempfänger des Herzogs waren.37 England war während des Spanischen Erbfolgekrieges nicht, oder nicht nur, „Marlborough Country“38. Die Einbindung Marlboroughs in die Kommunika­tions- und Entscheidungsstrukturen der eng­lischen Regierung beschränkte also seine Mög­lichkeiten, auch auf dem Wege über eigene Informa­tionsnetze eine Art Nebenregierung zu etablieren. Dementsprechend geht es bei der im Folgenden gewählten Herangehensweise nicht darum, Marlborough als Nebenmonarchen zu konstruieren, sondern gerade darum, ausgehend von einem stark auf Marlborough fokussierten Forschungsstand eine personalisierende Herangehensweise zu problematisieren. Das heißt, dass für eine Darstellung von Marlboroughs Informa­tionsbeschaffung in hohem Maße auch die generelle Informa­tionsbeschaffung der eng­lischen Regierung einbezogen werden muss. Marlborough, das wird sich immer wieder erweisen, war tatsäch­lich eine so zentrale Gestalt, dass die Frage nach seinem persön­ lichen Informa­tionshorizont berechtigt ist, doch ohne seine Einbettung in den Kontext der eng­lischen Regierung nicht beantwortet werden kann. Wenn auch im Zuge des Prozesses gegen ihn (unter anderem auch von ihm selbst) das Bild eines großen, von der Regierung unabhängigen Informa­tionsdienstes gezeichnet wurde, der Marlborough allein zuarbeitete, so haben sich doch in den Quellen kaum Spuren dafür erhalten. Eine Fallstudie zu den Strukturen der Informa­tion um 1700 wird kaum behaupten können, dass sich im Spanischen Erbfolgekrieg alles grundstürzend veränderte und danach nichts mehr so war wie zuvor.39 Auch wenn in bestimmten Segmenten der Forschung für die Zeit um 1700 derzeit ganz allgemein ein Zäsurcharakter angenommen wird,40 ist es doch nicht weiterführend, diese Intui­ tion überzustrapazieren. Wenn auch zum Beispiel deut­lich ist, dass um 1700 die interna­tionale Rechtsordnung des Westfä­lischen Friedens zunehmend durch eine machtpolitische Logik überlagert wurde,41 ist doch gänz­lich unklar, was dies für 36 Vgl. Kapitel 2.1.3. 37 Vgl. Hattendorf, England, passim. 38 So die Formulierung bei: Simms, Three Victories, 44. 39 Vgl. als kritische Reflexion historiographischer Wandelmodelle und -rhetorik: Raphael, Jenseits von Strukturwandel; Pohlig, Wandel. 40 Vgl. aus dem Bereich der Geistes- und Literaturgeschichte (auf den Spuren Paul Hazards) Vernière, Peut-­on parler d’une crise; Heudecker/Niefanger/Wesche (Hrsg.), Kulturelle Orien­ tierung; aus der Säkularisierungsdiskussion siehe etwa Schmidt, „Verfall der Religion“. 41 Vgl. Duchhardt, Westfä­lischer Friede, v. a. 540; Aretin, Reichssystem, v. a. 65.

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das ­Informa­tionsproblem bedeuten könnte. Eine Fallstudie, die sich als Beispiel für einen generellen Wandlungsprozess ausgäbe, wird also hier nicht angestrebt. Doch ist zum Beispiel anzunehmen, dass die diplomatische Kommunika­tion etwa um 1600 noch viel stärker als um 1700 auf persön­liche Netzwerke, etwa diejenigen der späthumanistischen Diplomaten, angewiesen war,42 während die infrastrukturellen Rahmenbedingungen (etwa die Post) wie auch die Organisa­tionsförmigkeit von Regierung und Diplomatie um 1700 weiter entwickelt waren. In d ­ iesem Sinne stellt die Untersuchung einen vollausgebildeten Typus der politisch-­diplomatisch-­ militärischen Informa­tionsgewinnung des Ancien Régime vor. Für die zweite leitende Perspektive sind weniger Erklärungen notwendig. Denn gefragt wird ja nicht nur nach den Strukturen der Informa­tionsgewinnung, sondern auch nach den Funk­tionen der gewonnenen Informa­tionen.43 Auch hier lassen sich die Konturen frühneuzeit­licher Politik anders und schärfer markieren, als dies oft üb­lich ist. In der Regel wird in der historischen Forschung wie außerhalb – und meist eher implizit als explizit – davon ausgegangen, dass Informa­tion dem Entscheiden dient. Dort, wo systematisch über Entscheiden nachgedacht wird, stellt diese Verknüpfung oft eine unausgesprochene Prämisse dar und wird gar nicht weiter problematisiert. Die entscheidungstheoretischen Überlegungen etwa aus dem Kontext der ra­tional choice- oder bounded ra­tionality-­Theorien halten Informa­tion in aller Regel für ein (entweder vollständig oder defizitär vorhandenes) Gut, das zum Treffen von Entscheidungen dient. Auch in der politikwissenschaft­ lichen Forschung zur interna­tionalen Politik spielen s­ olche Ansätze eine Rolle; und sie monopolisieren dort in gewisser Weise das Nachdenken darüber, ­welche Rolle Informa­tion politisch spielen kann.44 Diesen methodischen Herangehensweisen wird hier eine andere vorgezogen, die sich eher auf die entscheidungstheoretischen Überlegungen des soziolo­ gischen Neoinstitu­tionalismus, zum Teil aber auch Niklas Luhmanns bezieht.45 Diese Theorietradi­tionen erlauben es, die mög­licherweise kultur- und situa­ tionsspezifisch variierenden Funk­tionen von Informa­tion empirisch präziser zu konturieren. Denn es trifft zwar zu, dass Informa­tion zum Entscheiden diente und dient – aber eben nicht nur. Die gängige Kopplung von Informa­tion und Entscheidung, die natür­lich auf der Selbstwahrnehmung der Akteure beruht, ist 42 Vgl. exemplarisch: Kohlndorfer-­Fries, Diplomatie; Externbrink, Humanismus. 43 Dieser Aspekt wird in Kapitel 4.1 systematischer vertieft. 44 Vgl. Kydd, Methodological Individualism. 45 Vgl. zusammenfassend: March, How Decisions Happen. Aus Luhmanns vielen Stellungnahmen zum Problem erscheint mir besonders zugäng­lich: Luhmann, Soziolo­ gische Aspekte.

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zwar nicht falsch, aber doch partiell eine Selbsttäuschung. Die Rela­tion z­ wischen Informa­tion und Entscheidung ist stattdessen wohl als komplex und nichtlinear zu denken: Entscheidungen können nicht kausal aus Informa­tionen hergeleitet werden, und: Informa­tion besitzt noch weitere Funk­tionen als jene der Entscheidungsfindung.46 Die hier verfolgte These lautet, dass neben die direkt instrumentelle Funk­tion von Informa­tion im Rahmen von Entscheidungen andere Funk­tionen treten: Informa­tion dient der ‚Vorsorge‘, also der Minimierung von Unsicherheit, sie lässt sich als Patronagewährung gebrauchen und sie kann als Kompetenz- und Legitima­tionsrepräsenta­tion eingesetzt werden. Es soll also versucht werden, die Verknüpfung von Informa­tion und Entscheidung empirisch nachzuvollziehen, aber auch andere, den Akteuren bewusste oder nicht bewusste Funk­tionen von Informa­tion und Informa­tionsgewinnung zu benennen. Der Untersuchung liegen also folgende Thesen zugrunde: 1. Informa­tion erschien den politischen, diplomatischen und militärischen Akteuren um 1700 als eine zentrale Voraussetzung erfolgreichen Handelns. Informa­ tionsgewinnung ist daher ein zentrales Element der politischen, diplomatischen und militärischen Praxis um 1700. 2. Entscheidend für die Gewinnung von Informa­tionen waren der Aufbau neuer und die Nutzung bestehender Strukturen. Diese Strukturen – hier gefasst als Infrastrukturen, Organisa­tionen und Netzwerke – sollten sämt­lich dem Problem begegnen, wie unter Distanzbedingungen Kommunika­tion organisiert und stabilisiert werden konnte. Entscheidend und problematisch war dabei immer die Vermittlung der Parameter Geschwindigkeit und Sicherheit mit dem Problem der Finanzierung der Informa­tionsgewinnung. 3. Marlboroughs Informa­tionsgewinnung verlief zu einem guten Teil in enger Verknüpfung mit der eng­lischen Regierung. Gerade weil dies so ist, ist es sinnvoll, idealtypisch z­ wischen formaleren und informelleren Wegen der Informa­tionsgewinnung zu unterscheiden. Aus dieser Perspektive erweist sich von Thiessens These, für die frühneuzeit­liche Diplomatie könne keine „Trennung ­zwischen formellen Beziehungen und informellen Netzwerken“ vorgenommen werden,47 als allzu zugespitzt. 4. Neben die direkt instrumentelle Entscheidungsfunk­tion treten, nicht weniger wichtig, andere Funk­tionen von Informa­tion: etwa die Minimierung von Unsicherheit, die Nutzung zu Patronagezwecken und die Repräsenta­tion von Kompetenz oder Legitimität. 46 Vgl. Feldman/March, Informa­tion in Organisa­tions. 47 Thiessen, Diplomatie vom type ancien, 476.

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1.1.2 Forschungsstand

Die vorliegende Studie führt eine Reihe getrennter, zum Teil lückenhafter, zum Teil disparater Forschungsstände zusammen. Daher ist es nötig, einige Begriffe, Methoden und ­Themen etwas eingehender und gesondert zu behandeln. Dies betrifft die Bereiche Informa­tion und Kommunika­tion; Infrastrukturen, Organisa­ tionen und Netzwerke; Funk­tionen von Informa­tion. Dies wird jeweils an Ort und Stelle geschehen.48 Hier sollen nur einige Hinweise einerseits zu den konzep­ tionellen Forschungskontexten dieser Untersuchung gegeben werden, also zu den im Folgenden zu erläuternden Komplexen Politische Geschichte als Geschichte der Kommunika­tion, Diplomatiegeschichte, Informa­tion und Wissen und Öffent­ lichkeit und Geheimnis. Andererseits sind Bemerkungen zu einigen thematischen Bereichen nötig: An spezifischeren Forschungskontexten sind Untersuchungen zum Spanischen Erbfolgekrieg, zu England um 1700 und zu Marlborough selbst zu nennen. Politische Geschichte als Geschichte der Kommunika­tion Die Untersuchung ordnet sich in einen Forschungstrend ein, der die Geschichte von Informa­tion und Kommunika­tion als genuin politische Geschichte versteht. Dies ist insofern nicht überraschend, als die „neuere“ Politikgeschichte und die „Kulturgeschichte des Politischen“ Kommunika­tion in vielfacher Hinsicht zu einem zentralen Begriff und Thema erhoben haben.49 Daher muss eine Untersuchung im Bereich der Politik- oder Diplomatiegeschichte, will sie nicht konzep­tionell unbefriedigende reine Machtstaatsgeschichte bleiben,50 Kommunika­tionsprozesse in jedem Fall in hohem Maße in die Analyse einbeziehen – und zwar auch dann, wenn es nicht um die symbo­lische Herstellung „des Politischen“ geht. Die von der tradi­tionellen Politikgeschichte gern eingeführte Unterscheidung z­ wischen „harten“ und „weichen“ ­Themen lässt sich im Hinblick auf die Frage nach außenpolitischer Informa­tion ohnehin nicht ziehen, wird aber darüber hinaus jüngst auch generell überzeugend kritisiert.51

48 Vgl. Kapitel 1.1.3, 3.1 und 4.1. 49 Vgl. Stollberg-­Rilinger, Kulturgeschichte des Politischen; Frevert, Neue Politik­geschichte; Mergel, Überlegungen; Landwehr, Diskurs; vgl. auch: Meumann/Pröve (Hrsg.) Herrschaft; Asch/Freist (Hrsg.), Staatsbildung; Blockmans/Holenstein/Mathieu (Hrsg.), ­Empowering Interac­tions. 50 Vgl. als Plädoyer für eine Machtstaatsgeschichte: Hochedlinger, Bürokratisierung. 51 Vgl. Köhler, Strategie und Symbolik.

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Diplomatiegeschichte Nach einer Epoche sozia­lgeschicht­licher Dominanz in der interna­tionalen Geschichtswissenschaft, die durch ein bemerkenswertes Desinteresse an der Geschichte der frühneuzeit­lichen Außenbeziehungen gekennzeichnet war, ist ­dieses Forschungsfeld seit etwa zwei Jahrzehnten in den Fokus der historischen Forschung zurückgekehrt. Ohne der Rückkehr zu einer Geschichte der großen Männer das Wort reden zu wollen, muss man dennoch festhalten, dass die ältere Forschung nicht durchgehend so schlecht ist, wie dies manchmal behauptet wird. Zwar ist das Faktenwissen über frühneuzeit­liche Außenbeziehungen und Diplo­ matie teilweise nach wie vor unzureichend. Daraus allerdings eine grundsätz­liche Skepsis gegenüber neueren systematischen Ansätzen abzuleiten, scheint mir wiede­rum ein problematischer Schluss.52 Während in den 1980er und 90er Jahren vor allem struktur- und systemgeschicht­ liche Ansätze dominierten,53 fragt die neuere Forschung zum Beispiel nach der Institu­ tionalisierung und Professionalisierung der Diplomatie 54. Dieser sozia­lgeschicht­lichen Dimension ist eine kulturgeschicht­liche Erweiterung der Diplomatiegeschichte zur Seite gestellt worden.55 Die kulturgeschicht­liche Justierung bezieht sich etwa auf die Frage nach dem diplomatischen Zeremoniell und seiner politischen Bedeutung;56 auf den Stellenwert von Patronage 57, aber auch auf die Frage nach Kommunika­tion und Informa­tion, nach mentalen Welten und Selbstsichten.58 Dabei wird immer wieder deut­lich, dass diese ­Themen, die von der älteren Forschung vernachlässigt worden sind, nicht etwa ‚weich‘ oder marginal sind. Dennoch ist zu begrüßen, dass in jüngerer Zeit versucht wird, kulturgeschicht­liche Methoden und neue Sichtweisen auch auf Bereiche auszuweiten, die tradi­tionell als ‚harte‘ ­Themen galten.59 „The 52 Vgl. so: Hochedlinger, Frühneuzeitforschung; ders., Bürokratisierung. Weniger skeptisch zur Forschungssitua­tion: Externbrink, Interna­tionale Politik. 53 Vgl. Kunisch, Der Nordische Krieg; Schilling, Formung. 54 Vgl. programmatisch: Gräf, Funk­tionsweisen. 55 Vgl. den Problemaufriss bei: Lehmkuhl, Diplomatiegeschichte, der jedoch nolens volens vor allem belegt, wie wenig die tradi­tionelle Diplomatiegeschichte mit kulturgeschicht­ lichen Perspektiven anfangen kann – selbst dort, wo sie sich darum bemüht. Für die Frühe Neuzeit programmatisch: Kugeler/Sepp/Wolf, Einführung. 56 Vgl. aus der Fülle der Literatur nur: Krischer, Souveränität; Roosen, Early Modern Diplo­ matic Ceremonial. 57 Vgl. programmatisch: Thiessen, Diplomatie und Patronage; siehe auch: Droste, Im Dienst der Krone. 58 Vgl. Kugeler/Sepp/Wolf, Einführung, 20 – 25. 59 Siehe programmatisch: Köhler, Strategie und Symbolik. Dass die in der deutschen Forschung zeitweise sehr konfrontative Gegenüberstellung von sozia­l- und kulturgeschicht­lichen

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‚old‘ political history […] focused on governing elites, centres of decision-­making, diplomacy and the waging of war“60, heißt es in einem jüngeren Forschungsbericht. Eine revidierte Diplomatiegeschichte kann diese ­Themen nicht über Bord werfen (im vorliegenden Buch stehen sie geradezu im Zentrum), sondern muss sie auf neue Weise behandeln. In einem jüngeren Sammelband wird dafür plädiert, den Begriff der „Außenbeziehungen“ zu verwenden, um deut­lich zu machen, dass man es in der Frühen Neuzeit noch nicht mit Beziehungen ­zwischen Na­tionen und Staaten zu tun hat;61 dem wird hier weitgehend gefolgt. Das einstmals so monolithische Bild des Diplomaten als Repräsentant seines Staates oder seines Herrschers wird in der jüngeren Forschung in vielfacher Weise erweitert. Hillard von ­Thiessen hat, wie erwähnt, programmatisch einen Idealtypus des frühneuzeit­lichen Diplomaten entworfen, der durch eine „Vielfalt von Rollen und Bindungen“ gekennzeichnet ist.62 Das Forschungsfeld ist also in Bewegung. An vielen Stellen herrscht aber, gerade für die Zeit nach 1648, ein disparater Forschungsstand vor, der von zwei Arten von Publika­tionen charakterisiert wird: entweder die kleinteilige Spezialstudie oder die Überblicksdarstellung. In vielen Bereichen fehlen Untersuchungen, die mit systematischen Fragestellungen in der Mitte z­ wischen beiden Extremen liegen. Ein solcher systematischer Zugang ist die hier vorgeschlagene Frage nach der Gewinnung von Informa­tionen. Informa­tion und Wissen Wissen und Administra­tion, der Zusammenhang von Informa­tion und Staatsbildung und eine wissensbasierte Geschichte des Politischen sind in den letzten Jahren zu zentralen ­Themen der Frühneuzeitforschung avanciert.63 Auch für die Geschichte der Außenbeziehungen sind Informa­tion und Kommunika­ tion ­eta­blier­te Gegenstände.64 So existieren etwa Studien zur methodisierten Herangehensweisen, aber auch die Absetzung gegenüber älteren Forschungsrichtungen der Politikgeschichte in der eng­lischen Forschung weniger ausgeprägt ist, zeigt z. B. der jüngere Sammelband: Adams/Cox (Hrsg.) Diplomacy. 60 Kümin, Political Culture, 132. 61 Vgl. Thiessen/Windler, Einleitung, v. a. 2. 62 Thiessen, Diplomatie vom type ancien, 493. 63 Vgl. nur: Brendecke/Friedrich/Friedrich (Hrsg.), Informa­tion; Gottschalk, Wissen; Behrisch, Politische Zahlen, sowie monographisch: Vivo, Informa­tion; Friedrich, Drehscheibe Regensburg. 64 Vgl. etwa: Externbrink, Kommunika­tion; Hurtubise, Rome.

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­ ufwertung von Empirie in den Außenbeziehungen des 16. Jahrhunderts 65 oder A zu einzelnen politischen Informa­tionsgewinnungssystemen 66. Auch ist im Kontext der Militärgeschichte des 18. Jahrhunderts das Problem der Informa­tion in den Mittelpunkt des Interesses gerückt worden.67 Für koloniale und imperiale Kontexte sind in den Arbeiten von Brendecke und Bayly die Zusammenhänge von Distanzherrschaft und Informa­tionsgewinnung thematisiert worden.68 Das Problem der Informa­tionsgewinnung wurde allerdings zuletzt insgesamt sehr stark im Rahmen der eher innenpolitischen „informa­tion state“-Forschung untersucht.69 Gerade die Verbindungen z­ wischen Innen- und Außenpolitik, auf die hier abgezielt wird, bleiben unterbe­lichtet.70 Dass Informa­tionsgewinnung zu den zentralen Aufgaben frühneuzeit­licher Diplomatie gehört, wird zwar durchgehend betont; dennoch gibt es nicht besonders viele eingehende Studien dazu, wie diese praktisch organisiert wurde.71 In der Regel interessiert sich die Diplomatiegeschichte eher für die materialen Gehalte und die politischen Konsequenzen der gewonnenen Informa­tionen und verschweigt dabei, wie zentral die Praxis der Informa­tionsgewinnung selbst für die Akteure war. Die Diplomatiegeschichte verstellt sich aber den Blick auf das, was die Akteure tatsäch­lich taten und was ihnen (jedenfalls auch) bedeutsam erschien, wenn sie Informa­tionsgewinnung nur im Hinblick auf ihre politischen Konsequenzen wahrnimmt. Öffent­lichkeit und Geheimnis Öffent­lichkeit und ihre potentiellen Gegenbegriffe (Geheimnis und Privatheit) sind oft anhand der von Habermas und Koselleck einflussreich lancierten Parameter diskutiert worden.72 Die Debatte hat sich stark auf die Frage konzentriert, wie im Inneren der Staaten mit dem Problem der Regierungsarkana umgegangen wurde und wie und wann sich eine Sphäre mora­lisch-­politischer Öffent­lichkeit 65 Vgl. Zwierlein, Discorso und Lex Dei. 66 Vgl. Edel, Der ­Kaiser und Kurpfalz, 138 – 151. 67 Vgl. Anklam, Wissen; Lund, War. 68 Vgl. Brendecke, Imperium; Bayly, Empire; siehe zum Zusammenhang von Kolonialismus und Wissen auch: Ballantyne, Colonial Knowledge. 69 Vgl. z. B. Higgs, Informa­tion State; Burke, Reflec­tions; Head, Knowing Like a State; Brewer, Sinews of Power, 221 – 249; Slack, Government. 70 Siehe aber jüngst: Rule/Trotter, World of Paper. 71 Vgl. hilfreich: Roosen, Age of Louis XIV, 129 – 161; Kugeler, „Ehrenhafte Spione“; A ­ nderson, Rise of Modern Diplomacy, 44 f.; Müller, Gesandtschaftswesen, 253 – 268. 72 Vgl. aus der Fülle der Literatur: Gestrich, Absolutismus; ders., Public Sphere; La Vopa, Conceiving a Public; Opgenoorth, Publicum; Brewer, This, that and the other; Heyl, ­Passion for Privacy.

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ausbildete. Im Hinblick auf die hier beschriebene Konstella­tion spielt die Dichotomie öffent­lich/privat insofern eine Rolle, als – im Einklang mit der Forschung – deut­lich werden wird, wie fließend diese Grenze in einem vorwiegend höfisch-­ adligen Kontext des frühen 18. Jahrhunderts war. Die Unterscheidung öffent­lich/ geheim, die in den älteren Debatten als absoluter Gegensatz gefasst wird, erweist sich in der neueren Forschung eher als intrikates Mit- und Ineinander verschiedener Stränge. Offenbar ist die Beziehung von Öffent­lichkeit und Geheimnis kein Nullsummenspiel – wo mehr Öffent­lichkeit ist, muss nicht zwingend weniger Geheimnis sein.73 Schon wegen seiner zahlreichen Konnota­tionen und der bewusst geschaffenen Unklarheit über Bedeutung und Wichtigkeit der verhüllten Inhalte spielte das Geheimnis in Politik und Gesellschaft der Frühen Neuzeit eine zentrale Rolle, ja: Es war geradezu ein „Leitfossil“ der politischen Kultur.74 Für die interna­tionale Politik um 1700 hat Heidrun Kugeler herausgestellt, dass sich „Geheimhaltung und Geheimnisaufdeckung zu entscheidenden Faktoren interna­tionaler Politik“ entwickelten. Mitbewirkt wurde dieser Wandel durch die (öffent­lich wie geheim gewonnene und übermittelte) explodierende Informa­tionsmenge, die unter anderem aus einer verbesserten Infrastruktur- und Mediensitua­tion resultierte.75 Auch hier sind also Öffent­lichkeit und Geheimnis weniger konträr aufeinander bezogen und stärker verbunden, als es der älteren Forschung erschien. In Bezug auf die Niederlande etwa ist die Differenziertheit des Zusammenhangs von Öffent­lichkeit und politischem Arkanum herausgearbeitet worden.76 Und auch für England ist festzuhalten, dass um 1700 verschiedene Stränge paral­lel laufen: eine neue Presselandschaft nach der Abschaffung der Vorzensur im Jahr 1695, aber auch die anhaltende Neigung zu höfischer Arkanpolitik.77 Gerade angesichts der Jakobiten- und Verschwörungsfurcht wurde der Diskurs der ‚Geheimgeschichte‘ populär: halbdokumentarische, halbfik­tionale Bücher, manchmal auch Pamphlete, die öffent­lich die Praxis der Arkanpolitik zwar nicht generell anprangerten, aber doch auf verschwörungstheoretische Weise dunkle und böse politische Geheimnisse unter der Oberfläche decouvrierten und sich 73 Vgl. Goodman, Public Sphere, v. a. 2. 74 Vgl. Gestrich, Absolutismus, 35; vgl. auch: Hartmann, Arcana Imperii. 75 Kugeler, „Ehrenhafte Spione“, 132. Als transna­tionales – diplomatisches wie militärisches – Thema spielt Öffent­lichkeit erst in der jüngeren Forschung eine Rolle. Vgl. z. B. Küster, Vier Monarchien. 76 Vgl. de Bruin, Geheimhouding. 77 Vgl. als generelle Einordnung dieser „post-­revolu­tionary public sphere“: Lake/Pincus, Rethinking the Public Sphere; Knights, Representa­tion.

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so in eine hochgradig polarisierte Parteienlandschaft einpassten.78 Der eng­lische Hintergrund, vor dem sich Marlboroughs Informa­tionsgewinnung abspielte, kombinierte die euro­päischen Entwicklungen also in besonders drastischer Weise: Hier existierte eine parteipolitisch polarisierte und in besonderem Maße ausgebaute Öffent­lichkeit, hier herrschte in besonderer Weise eine Verschwörungsparanoia, hier war Arkanpolitik auf der höchsten Ebene gerade deshalb so zentral, weil es ein ausdifferenziertes parlamentarisches System gab. Für Marlboroughs Informa­ tionsgewinnung besitzt daher das Problemfeld Öffent­lichkeit und Geheimnis eine große Bandbreite – die von der Presse über das Problem parlamentarisch eingebundener Arkanpolitik bis hin zu Spionage reicht. Der Spanische Erbfolgekrieg Die Forschung zum Spanischen Erbfolgekrieg ist weder besonders rege noch methodisch besonders innovativ.79 Dies liegt unter anderem daran, dass der Krieg, der mit seinen Protagonisten Ludwig XIV ., Marlborough und Prinz Eugen der außenpolitisch orientierten Historiographie des 19. Jahrhunderts besonders lieb war, im Zuge der Abwendung von der Diplomatie- und Militärgeschichte als seriö­ ser Forschungsgegenstand aus dem Blick geriet. Die sozia­l- und kulturgeschicht­ liche Umorientierung der jüngeren Diplomatie-, Politik- und Militärgeschichte hat diesen Krieg noch kaum erreicht. Die jüngeren Gesamtdarstellungen folgen im Wesent­lichen den klas­sischen Parametern.80 Ein Großteil der vorliegenden Forschung befasst sich mit dem klas­sischen Thema der Ursprünge des Krieges und seiner Vermeid- oder Unvermeidbarkeit im Rahmen des interna­tionalen Systems um 1700. Es geht also um die Frage, inwieweit Erbfolgekonflikte Konsequenzen der ‚Systemlogik‘ waren.81 Einen Schwerpunkt der jüngeren Forschung zum Spanischen Erbfolgekrieg bilden Österreich und die kaiser­liche Seite.82 Außerdem sind in jüngerer Zeit einige eher tradi­tionelle diplomatiegeschicht­lich orientierte 78 Vgl. Bannet, „Secret History“; Bullard, Politics of Disclosure; Weil, Plague of Informers. 79 Siehe zum Verlauf des Krieges im Überblick z. B.: Vierhaus, Deutschland, 151 – 174; ­Duchhardt, Staatenkonkurrenz. Vgl. enzyklopädisch: Frey/Frey (Hrsg.), Treaties; als biblio­graphische Orientierung siehe: Dickinson/Hitchcock (Hrsg.), War of the Spanish Succession. Vgl. zum interna­tionalen System im frühen 18. Jahrhundert generell: Malettke, Hegemonie; Gantet, Guerre. 80 Vgl. knapp und solide: Malettke, Hegemonie, 461 – 510; Schnettger, Erbfolgekrieg. Nicht empfehlenswert: Smid, Erbfolgekrieg. Zur spanischen Seite des Spanischen Erbfolgekrieges einschlägig: Kamen, War of Succession. 81 Vgl. v. a. Roosen, Origins; generell siehe: Kunisch, La guerre; ders., Hausgesetzgebung. 82 Vgl. Klueting, Erbfolgekrieg; Bérenger, Habsburger; Auer, Österreichische und euro­ päische Politik; Sienell, Beratungsgremien.

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Untersuchungen erschienen, die empirische Wissenslücken über diesen Krieg zu füllen suchen.83 Dort, wo der Krieg zum Thema wird, wird also nach wie vor in aller Regel eine relativ konven­tionelle, meist bilaterale Diplomatiegeschichte betrieben.84 England um 1700 und Marlborough Zentral für das Verständnis der eng­lischen Politik um 1700 und ihrer Partei­ strukturen bleiben die Grundannahmen von Geoffrey Holmes’ Standardwerk und der Arbeiten, die sich (bis heute) daran orientiert haben. Hier ist nach wie vor die Communis Opinio, dass die Regierungszeit Königin Annes als „first age of party“ anzusehen ist, in dem die Parteien – trotz einer weitverbreiteten Aversion gegen sie – tatsäch­lich stärker als zuvor und nachher die politische Landschaft prägten.85 Für Einzelaspekte vor allem der eng­lischen Innenpolitik liegt natür­ lich eine große Zahl von Studien vor, die an entsprechender Stelle herangezogen werden – dies gilt vor allem für die Arbeiten zur Glorious Revolu­tion und ihren Konsequenzen, die in jüngster Zeit wieder stark diskutiert werden.86 Für die eng­ lischen Außenbeziehungen während des Erbfolgekrieges ist die von dem amerikanischen Marine­historiker John Hattendorf verfasste Untersuchung von 1987 zentral, die vor allem der Zusammenarbeit der verschiedenen mit der Kriegführung befassten Regierungsgremien nachgeht.87 Wichtig ist Hattendorfs Nachweis, dass ­Marlborough im Rahmen der eng­lischen Außenbeziehungen in sehr hohem Maße mit den Secretaries of State und anderen Amtsträgern kooperierte. Dies macht für die Frage nach Informa­tionsgewinnung gewisse verwaltungsgeschicht­ liche Rekonstruk­tionen notwendig.88

83 V. a. auf Spanien und Italien bezogen: Álvarez-­Ossorio Alvariño (Hrsg.), Famiglie; ­Edelmayer/León Sanz/Ruiz Rodríguez (Hrsg.), Erbfolgekrieg. 84 Vgl. dazu auch: Paoletti, War, 475, der überspitzt formuliert: „The latter conflict is […] reduced to biographies of Marlborough and Eugene of Savoy and to accounts of the battle of Blenheim, regardless of what happened before, or in the ten years following Blenheim (whose real name, incidentally, was and still is Blindheim).“ 85 Vgl. Holmes, British Politics; siehe in kritischem Anschluss daran: Jones (Hrsg.), British Politics; siehe auch: Roberts, Party; Knights, Faults. 86 Vgl. Pincus, 1688, sowie komplementär dazu: Harris, Revolu­tion. 87 Vgl. Hattendorf, England. 88 Vgl. als einen kaum überholten Meilenstein der älteren Literatur: Thomson, Secretaries of State; aus der neueren Literatur ist als gute Einführung zu nennen: Jupp, The Governing of Britain. – Zu einer methodischen Verbindung von Verwaltungs- und Spionagegeschichte siehe: Laube, Geheimnisverrat.

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Der Forschungsstand zu Marlborough selbst ist schnell beschrieben: Eine ernsthafte, nicht-­hagiographische, systematische Perspektiven integrierende Marlborough-­Forschung existiert fast nicht. Noch immer einflussreich ist ­W inston Churchills ältere Biographie.89 An neueren seriösen Darstellungen sind vor allem das Buch von Jones und der biographische Artikel von Hattendorf zu nennen,90 aber auch der jüngere Versuch, verschiedene Facetten von Marlboroughs Biographie in euro­päischer Perspektive zu erkunden.91 Die eng­lische wissenschaft­liche und populäre Historiographie bringt fast in jedem Jahrzehnt mehrere mehr oder minder solide Marlborough-­Biographien hervor, die im Wesent­lichen Churchill folgen und seine Darstellung selten ernsthaft um systematische Ansätze erweitern.92 In den 1960er und 1970er Jahren nahm eine Reihe von Forschern (Henry Snyder, Edward Gregg und einige andere) die Verknüpfung von Innen- und Außenpolitik zur Zeit Königin Annes in den Blick. Aus der Vielzahl von Einzelstudien ragen Greggs Biographie der Königin 93 und Henry Snyders wichtige Edi­ tion der Korrespondenz ­zwischen Marlborough und Sidney Godolphin hervor.94 Snyder selbst beschrieb 1978, im letzten Forschungsbericht zum Themenfeld, die Forschungssitua­tion geradezu als Boom: „The prospect for Augustan studies in general and the reign of Queen Anne has never been so positive.“95 Die Impulse dieser Forschungen, die wohl durch eine glück­liche personelle Konstella­tion hervorgerufen wurden, sind in der Folge aber nicht in derselben Intensität aufgenommen worden.96 Dies gilt vor allem für die Verknüpfung von Innen- und Außenpolitik, die wieder etwas hinter rein eng­lische Perspektiven zurückgetreten zu sein scheint. Allerdings liegen einige jüngere Monographien zu wichtigen Aspekten vor, etwa Bucholz’ Untersuchung von Annes Hof,97 Metzdorfs Untersuchung zu Marlboroughs Propagandaaktivitäten 98 oder Winns ­biographische

89 Vgl. Churchill, Marlborough. Siehe zu d ­ iesem auch literarisch eindrucksvollen Werk: Alkon, Winston Churchill’s Imagina­tion, 177 – 212; Muller, Englishman; Levillain, Churchill. 90 Vgl. Jones, Marlborough; Hattendorf, Churchill. 91 Vgl. Hattendorf/Veenendaal/van Hövell tot Westerflier (Hrsg.), Marlborough. 92 Siehe zuletzt: Holmes, Marlborough; Hibbert, The Marlboroughs. 93 Vgl. Gregg, Queen Anne; zu Anne siehe in der Nachfolge Greggs als Überblick auch: Bucholz, Queen Anne. 94 Vgl. The Marlborough-­Godolphin Correspondence. 95 Snyder, Marlborough, 14. 96 Vgl. eine ähn­liche Einschätzung bei: Chalus, Ladies, 156. 97 Vgl. Bucholz, Augustan Court. 98 Vgl. Metzdorf, Politik.

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Arbeit zu Anne als Kunstpatronin.99 Jüngere Aufsätze zu einzelnen Aspekten von Marlboroughs Tätigkeit gehen selbstverständ­lich ebenfalls über die ältere Forschung hinaus. Doch auch diese Spezialforschung interessiert sich am ehesten für strategiegeschicht­liche Fragen, für Schlachten, in Ansätzen auch für ­Marlboroughs logistische Bemühungen.100 In der angelsäch­sischen Forschung zum Spanischen Erbfolgekrieg wird Marlboroughs Bedeutung insgesamt heute relativiert;101 für die niederländische Forschung gilt dies schon länger.102 Zur Informa­tionsgewinnung und Spionage im Spanischen Erbfolgekrieg und im näheren oder ferneren Umkreis Marlboroughs schließ­lich liegen einige Studien vor, die aber über Andeutungen nicht hinauskommen.103 Die ausführ­lichste Synthese zu Marlboroughs Informa­tionsgewinnung stammt von Lucien Bély – doch auch diese umfasst nicht mehr als zwei Seiten.104 Was bedeutet nun dieser Forschungsstand für die vorliegende Arbeit? Die Untersuchung von Marlboroughs Informa­tionsgewinnung ordnet sich ein in eine kommunika­tions- und medienhistorisch informierte Politik- und Diplo­ matiegeschichte, die nach dem Zusammenhang formalisierter und informeller Strukturen fragt. Die Studie gehört damit in den Zusammenhang der Geschichte der Informa­tion als politischer Geschichte, die auch das Problemfeld von Öffent­ lichkeit und Geheimnis im Blick behält, bezieht diese aber in neuer Weise auf das Problem der Außenbeziehungen. Die biographistisch reduzierte Marlborough-­ Forschung wird also durch eine systematische Fragestellung erweitert. Dies ist angesichts der eher konven­tionellen Forschung zum Spanischen Erbfolgekrieg ein Weg, diesen aus dem Ghetto der Geschichte großer Männer herauszuholen. Die Untersuchung zielt also auf eine Geschichte der Informa­tion ab, die Strukturen, Akteure und Inhalte aufeinander bezieht. Insgesamt erscheint der Zugang über die Informa­tionsgeschichte als ein vielversprechender Weg, Innen- und Außenpolitik, Kultur- und Strukturgeschichte miteinander zu verzahnen und eine Reihe von Forschungsfeldern (Kommunika­tionsgeschichte, Verwaltungsgeschichte, 99 Vgl. Winn, Queen Anne. 100 Vgl. z. B. Ostwald, „Decisive“ Battle; Phelan, Marlborough; immer noch viel zitiert: Chandler, Marlborough. 101 Vgl. Hattendorf, England. Diese Relativierung betrifft vor allem seine Rolle als Diplomat und Politiker. Vgl. Snyder, Marlborough, 7. 102 Vgl. z. B. Wijn, Le duc de Marlborough; Veenendaal, Opening Phase; Veenendaal, Het Engels-­Nederlands condominium. 103 Vgl. z. B. Snyder, Introduc­tion, XXX; Backscheider, Daniel Defoe; Rule, Gathering Intelli­ gence; de Leeuw, Black Chamber. 104 Vgl. Bély, Espions, 91 f.

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Fragen, Begriffe, Methoden

Diplomatiegeschichte) zu verbinden.105 Bevor die Quellen dieser Studie benannt und ihr Aufbau erläutert werden, muss jedoch der Informa­tionsbegriff geklärt werden, der der Untersuchung zugrunde liegt. 1.1.3 Information und Kommunikation: Eine Begriffsklärung

Was ist eigent­lich gemeint, wenn von der Gewinnung von „Informa­tion“ die Rede ist? Was bedeutet „Informa­tion“ und hat sie eine Geschichte? Schon 2004 behauptete Paul Slack, Informa­tion sei ein (fast zu) modisches Thema der Geschichtswissenschaft geworden.106 Dies trifft für die deutsche Geschichtswissenschaft sicher nicht im selben Maße zu. Zudem hat die Vielzahl von Arbeiten, die den Begriff der Informa­tion im Titel führen, nur selten zu einer durchdachten – und nicht schlicht alltagssprach­lichen – Konzep­tion dessen geführt, was unter Informa­tion im Rahmen historischer Forschung sinnvollerweise verstanden werden soll.107 Bibliographiert man historiographische Studien mit dem Titelbegriff oder Schlagwort „Informa­tion“, wird man meist auf pressegeschicht­liche Untersuchungen,108 in jüngerer Zeit aber auch auf Forschungen zum „informa­tion state“ stoßen, also Studien zum Zusammenhang von (zentralisierter) Informa­tionserhebung und Herrschaftsintensivierung gerade in der Frühneuzeit.109 Begriffsgeschicht­lich ist der Informa­tionsbegriff genauso einschlägig wie verwandte Begriffe: Im Mittelalter war mit ‚Informa­tion‘ das Lehren und Belehren konnotiert, im Spätmittelalter wurde der Begriff weitgehend synonym mit 105 Dass die Unterscheidung z­ wischen Innenpolitik und Außenbeziehungen für die Zeit um 1700 zwar nicht sinnlos, aber doch tendenziell problematisch (weil vom 19. Jahrhundert aus gedacht) ist, zeigt forschungspraktisch schon die Tatsache, dass die für das Folgende so eminent wichtigen Postangelegenheiten in den eng­lischen State Papers Domestic enthalten sind (auch dann, wenn es um Auslandspost geht), weil sie die Korres­pondenz der Postmasters General umfassen, während der Großteil der hier relevanten Korrespondenz der Secretaries of State in den State Papers Foreign enthalten ist. 106 Vgl. Slack, Government, 33. 107 Vgl. als Negativbeispiel: Csáky, Kommunika­tion. 108 Eine reine Pressegeschichte ausschließ­lich Frankreichs verbirgt sich etwa hinter: L’informa­tion à l’époque moderne; ebenfalls eher pressegeschicht­lich, wenn auch methodisch ausgreifend: Dooley/Baron (Hrsg.), Politics of Informa­tion. 109 Als Plädoyer dafür, die Informa­tionsgeschichte eher politik- als geistesgeschicht­lich aufzufassen, siehe: Burke, Reflec­tions, 51.

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Mitteilung, Nachricht, Bericht, Belehrung verstanden.110 Er zielt auf mindestens drei verschiedene Phänomene: den Vorgang des Einholens von Kenntnissen; ein Schriftstück, das diese dokumentiert; schließ­lich die Kenntnisse selbst.111 Im Deutschen herrschte in der Frühen Neuzeit terminolo­gische Konfusion. Das semantische Feld von „Informa­tion“ umfasst hier Begriffe wie Nachricht, Zeytung, Rela­tion oder Aviso.112 In den hier untersuchten eng­lisch- und franzö­ sischsprachigen Quellen des ersten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts verwendeten die Autoren für das, was hier als Informa­tion verstanden wird, meist Begriffe wie „advice“, „account“, „knowledge“, „news“, „notice“, „intelligence“ oder auch „informa­tion“ oder gar „informa­tions“, auf franzö­sisch auch „avis“ oder „informa­ tion“.113 Soweit ersicht­lich, wird in den hier untersuchten Quellen nicht kategorial ­zwischen diesen verschiedenen Termini unterschieden, wenn es auch so scheint, als würde der Quellenbegriff „informa­tion“ besonders gern, allerdings kaum exklusiv, in juristischen Kontexten benutzt.114 Um 1700 vollzog sich auch die Aufwertung des Begriffs der „public informa­tion“ (synonym: public intelligence, public knowledge), die auf eine erhöhte semantische Kopplung ­zwischen Gemeinwesen und Informa­tion hindeutet.115 Langfristig hat sich – analog wohl zur wachsenden Rolle etwa der Statistik – eine Begriffsfassung durchgesetzt, die zunehmend auf abstrakte, entindividualisierte Daten abstellt.116 Diese Tendenz setzt sich, wie Otts begriffsgeschicht­liche Studien belegen, in der Moderne fort.117 Der begriffsgeschicht­liche Befund lässt sich nicht ohne Weiteres in eine systematische Defini­tion übersetzen. In der neueren Forschung zum Informa­ tionsbegriff wird dessen historische Varianz betont und gefolgert, dass eine eindeutige Defini­tion weder zu erreichen noch anzustreben sei: „‚informa­tion‘ is able to perform the work it does precisely because it fuzzes the boundaries ­between several genetically distinct categories of experience.“118 Wichtiger als eine zeitenthobene Defini­tion scheint es, mit Robert Darnton die Historizität je unterschied­licher 110 Vgl. Brendecke/Friedrich/Friedrich, Informa­tion, 25. 111 Vgl. ebd., 29 f.; siehe auch: Brendecke, Imperium, 76. 112 Vgl. Requate, Nachricht. 113 Belege sind an dieser Stelle überflüssig; siehe aber für den altertüm­lichen, heute nicht mehr existierenden eng­lischen Plural „informa­tions“ etwa: BL Add. 61604, 69r; TNA SP 77/57, 243r. 114 Vgl. BL Add. 61607, passim. 115 Vgl. Brewer, Sinews of Power, 230. 116 Vgl. Nunberg, Farewell, 114. 117 Ott zeigt aber auch die disparate Vielzahl von mög­lichen Verwendungsweisen des Begriffs. Vgl. Ott, Informa­tion, v. a. 333 – 339. 118 Nunberg, Farewell, 114; vgl. auch Weller, Informa­tion History, 18.

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Fragen, Begriffe, Methoden

„communica­tion societies“ zu konturieren.119 Dennoch ist eine gewisse Verständigung notwendig. Zuerst muss Informa­tion von „Wissen“ unterschieden werden. Die Wissensgeschichte ist oft primär eine Weiterführung einer kontextualisierenden Wissen­ schaftsgeschichte 120, oder sie versteht unter Wissen mehr oder minder explizit jeg­liche Form menschlicher Daseinsorientierung.121 Das hat in bestimmten Zusammenhängen seine Berechtigung, doch fällt die Abgrenzung eines solchen Wissensbegriffs etwa vom Glauben oder Meinen schwer.122 Vor allem ist er auch nicht trennscharf von Informa­tion abzusetzen. In der Forschung ist mit ­diesem Problem unterschied­lich umgegangen worden: So wird postuliert, dass sich Wissen aus einer großen Zahl von Informa­tionen zusammensetze (ein quantitatives Argument also), zudem aber auch in der Fähigkeit bestehe, mit Informa­tionen umgehen zu können.123 So versteht etwa Jürgen Mittelstraß Wissen als reflektierten Umgang mit Einzelinforma­tionen, die ihrerseits noch kein Wissen konstituieren: Informa­tion sei „die Art und Weise […], wie sich Wissen transportabel macht, also eine Kommunika­tionsform, keine (selbständige) Wissensform“.124 Bestenfalls sei Informa­tion „Faktenwissen“, aber kein „Orientierungswissen“, kein „Zweckund Zielewissen“.125 Der analytische Philosoph Fred Dretske beharrt überdies darauf, dass Wissen eine gerechtfertigte, wahre Meinung sei – und dass dies für Informa­tion partiell auch gelte. Informa­tion sei zwar noch kein Wissen, aber eine Voraussetzung, um Wissen zu erlangen – und sie sei nur dann Informa­tion, wenn sie wahr sei: „false informa­tion and mis-­informa­tion are not kinds of informa­ tion“126. Die Informa­tionen, um die es in dieser Untersuchung geht, besitzen aber schon deshalb einen epistemolo­gisch komplizierteren Status, weil es per defini­ tionem keinen externen Beobachter gibt, der ihre Wahrheit feststellen kann.127 Mit einer solchen wahrheitstheoretischen Aufladung des Informa­tionsbegriffs ist historiographisch also kaum zu arbeiten.

119 Darnton, Early Informa­tion Society, 1 f. 120 Vgl. Vogel, Wissenschaftsgeschichte; Füssel, Wissensgesellschaft; Schirrmeister, Wissenskulturen. 121 Vgl. z. B. Berger/Luckmann, Gesellschaft­liche Konstruk­tion; Barth, Anthropology. 122 Als Polemik zur Infla­tion des Wissensbegriffs siehe: Stiening, Ungrund. 123 Vgl. Headrick, Informa­tion, 4. 124 Mittelstraß, Krise des Wissens, 42. 125 Ebd., 44. 126 Dretske, Knowledge, 45. 127 Vgl. dazu: Horn, Der geheime Krieg, 31. Kempe, Burn after Reading.

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Vielleicht reicht es für die historische Arbeit aus, mit Peter Burke pragmatisch zu definieren, dass Wissen höher aggregiert und systematischer, weil „verarbeiteter“ ist als die spezifischere und kleinteiligere Informa­tion. Informa­tion ist roh, Wissen gekocht.128 Wissen ist tendenziell holistisch und situiert, Informa­tion fragmentiert und unsituiert.129 Auch ist ein potentieller Praxisbezug von Informa­tion ein konstitutives Element der Defini­tion. Denn als Informa­tion dient einem Akteur das, „was an Repräsenta­tionen der Welt in Hinsicht auf eine Aufgabe verfügbar ist“.130 Informa­tionen enthalten damit einen „Vorausblick auf das, was man mit ihnen anfangen kann“.131 Es bleibt aber eine berechtigte Frage, was in den Tausenden von Texten, vor allem Briefen, die man als Quellen dieser Studie heranziehen könnte, Informa­ tion ist – und was nicht. Ich meine mit Informa­tion eine Mitteilung, die für einen Empfänger einen Unterschied macht 132 – oder auch: von der ein Briefschreiber annimmt, dass sie dem Adressaten a) neu und b) im weitesten Sinne nütz­lich ist. Der Sender antizipiert (zuweilen falsch) die Rezep­tionsleistung des Empfängers. Eine Informa­tion umfasst also immer einen Inhaltsaspekt, aber auch einen Beziehungsaspekt, „einen Hinweis darauf, wie ihr Sender sie vom Empfänger verstanden haben möchte“133. Neuheit ist wichtig, denn: „Eine Nachricht, die ein zweites Mal gebracht wird, behält zwar ihren Sinn, verliert aber ihren Informa­tionswert.“134 Um 1700 jedenfalls wurde die Originalität

128 Vgl. Burke, Social History, 11 (im Anschluss an die berühmte Unterscheidung von Lévi-­ Strauss); vgl. aber die Kritik an dieser Defini­tion bei: Behrisch, Zu viele Informa­tionen, 456. – Ähn­lich unterscheidet Joad Raymond, dem ich hier nicht folgen kann, auch noch einmal z­ wischen „intelligence“ und „informa­tion“: Während „intelligence“ das Rohmaterial abgebe, überführe „informa­tion“ ­dieses Rohmaterial in einen interpretativen Rahmen und führe zu einer Handlung. Vgl. Raymond, Introduc­tion, 3. Zwischen Daten, Informa­tion und Wissen differenziert: Haber, Google-­Syndrom. 129 Vgl. Edwards u. a., Historical Perspectives, 1423 f. 130 Brendecke/Friedrich/Friedrich, Informa­tion, 16. 131 Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, 71 f. Siehe auch: Luhmann, Soziolo­gische Aspekte, 597. 132 Ohne hier eine systemtheoretische Defini­tion vollständig zu übernehmen (das scheint mir nicht notwendig zu sein), sei doch auf die von Bateson stammende und von ­Luhmann genutzte Defini­tion von Informa­tion als „a difference that makes a difference“ verwiesen. Vgl. etwa Luhmann, Unwahrschein­lichkeit, v. a. 89 und 93, Anm. 20; Esposito, Informa­tion. 133 Watzlawick/Beavin/Jackson, Kommunika­tion, 53. 134 Luhmann, Realität der Massenmedien, 20.

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Fragen, Begriffe, Methoden

einer Informa­tion besonders hoch eingeschätzt.135 Doch gerade dies konnte auch zur Produk­tion von falschen Informa­tionen beitragen.136 Informa­tion ist schließ­lich eine Ressource von Macht und Herrschaft – unter anderen. Neben die Kontrolle materieller und den Einsatz ideolo­gischer Ressourcen treten für den politischen Akteur immer auch in mehr oder minder hohem Maße Informa­tionen, die sein Handeln strukturieren oder beeinflussen. Wissen ist nicht zwangsläufig Macht – aber doch eine mög­liche Machtressource.137 Dies gilt in besonders hohem Maße im Krieg – der dann auch zum „Informa­ tionskrieg“ werden kann, der mit der und gegebenenfalls sogar für die Gewinnung von Informa­tionen geführt wird.138 Versucht man, den angedeuteten Informa­tionsbegriff material zu reformulieren, muss man fragen, w ­ elche Arten von ‚Informa­tion‘ für Marlborough relevant waren. Bei den zu untersuchenden Informa­tionen (oder den Strukturen und Funk­tionen dieser Informa­tionen) geht es darum, in welcher Weise Marlborough (oder die eng­lische Regierung) Informa­tionen über a) Ak­tionen und b) Meinungen und Weltsichten des Kriegsgegners, aber auch der Verbündeten und der eng­lischen Akteure erlangte. Dies konnte sich auf makrostrate­gische Informa­tionen (was will der Feind, wo und auf ­welche Weise will oder wird er Krieg führen, will er Frieden schließen?) beziehen; auf innenpolitische Zusammenhänge, die mit der Kriegssitua­tion zusammenhingen (in England: Was wollen die Parteien, was die Königin; was für Einflussmög­lichkeiten eröffnen sich an verbündeten wie feind­ lichen Höfen dadurch, dass man die höfischen Verhältnisse überblickt?); auf mikrostrate­gische oder taktische (wo genau befindet sich die gegnerische Armee oder Teile davon, wie stark ist sie, wann wird es zur Schlacht kommen, in welcher Verfassung ist der Gegner; aber auch: Wie sieht es auf den anderen Kriegsschauplätzen aus?). Aus diesen unterschied­lichen Arten von Informa­tion ergibt sich eine ungeheure Vielzahl von notwendigen und mög­lichen Informa­tionskontakten auf verschiedensten (politischen, diplomatischen, militärischen) Ebenen. 135 Vgl. Bély, Espions, 60. 136 Nachricht und Informa­tion sind also nicht identisch – auch wenn man für die praktische Analyse diese Unterscheidung nicht überbetonen muss. Vgl. Ott, Informa­tion, 40; Friedrich, Drehscheibe Regensburg, 19; Brendecke/Friedrich/Friedrich, Informa­tion, 17. Informa­tion ist darüber hinaus ein nütz­licherer Begriff als ‚Nachricht‘, weil im Begriff der Informa­tion das prozess- wie produkthafte Element (also der Prozess des Informierens wie sein Ergebnis) mitklingt. 137 Siehe: Patzelt u. a., Institu­tionelle Macht, 40. Vgl. auch Schmitt, Gespräch über die Macht, 21: „Wer den Machthaber […] informiert, hat bereits Anteil an der Macht“. – Zum Ressourcenbegriff siehe: Giddens, Konstitu­tion der Gesellschaft, z. B. 76 u. 86. 138 Ott, Informa­tion, 315.

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Auch wenn man, wie hier vorgeschlagen, Informa­tion von Wissen unterscheidet, bleibt es doch nötig, Informa­tion in eine ­sozia­le, menschliches Handeln integrierende Perspektive einzufügen. Dazu dient der Begriff der Kommunika­tion.139 Er hat, auch angesichts der forschungshistorisch erklärbaren Probleme des Begriffs Öffent­lichkeit, diesen partiell ersetzt.140 Auch wird Kommunika­tion in der neueren Kulturgeschichte oft als Basisakt jeg­licher Form von Vergesellschaftung und sozia­ler Strukturbildung konzipiert.141 Er umfasst also ein Spek­trum, das mindestens von der Pressegeschichte bis zur Sozia­lgeschichte reicht.142 Den Prozess der Kommunika­tion kann man mit Walter Ong als den umfassenden Ak­tionsrahmen verstehen, in dem Informa­tion ihren Wert und ihren Sinn erst gewinnt,143 oder mit Luhmann als Trias von Informa­tion, Mitteilung und Verstehen (oder Nichtverstehen).144 Kommunika­tion meint also die Übermittlung von Informa­tionen, aber auch die Art und Weise, wie sie rezipiert werden. Schon deshalb ist sie eng an die Frage der sozia­len Strukturbildung gekoppelt. Wichtig ist in jedem Fall, dass Kommunika­tion etwas anderes (oder mindestens: mehr) ist als die einfache Eins-­zu-­eins-­Ü bertragung von Informa­tion. Ohne zu sehr in die Sprache der ­Theorie autopoietischer Systeme zu verfallen, ist doch festzuhalten, dass nicht einfach ein Gegenstand von A nach B übertragen wird. Kommunika­tion und ihre Medien sind keine sterilen Kanäle. Stattdessen ist die Mitteilung einer Informa­tion selbst nur ein „Selek­tionsvorschlag“, muss also vom Rezipienten selbst in seinen eigenen Horizont integriert werden – und verändert sich dabei.145 Dies ist im Kontext dieser Studie schon deshalb plausibel, weil zum 139 Vgl. Ott, Informa­tion, 243. Vgl. ähn­lich auch: Edwards u. a., Historical Perspectives, 1398; Janich, Informa­tion, 147; Rusch, Auffassen, 216. – Bayly benutzt analog den von Castells stammenden Terminus „informa­tion order“, um sowohl die Gewinnung von Informa­ tion als auch „social communica­tion“ zusammenzufassen und aufeinander zu beziehen; vgl. Bayly, Empire, 3 f. – Zur Diversität der Kommunika­tionsbegriffe siehe: Burkert/ Hömberg (Hrsg.), Kommunika­tionstheorien; Behringer, Kommunika­tion. 140 Vgl. z. B. Schlögl, Politik beobachten; Hoffmann, ‚Öffent­lichkeit‘; Küster, Vier Monarchien. 141 Vgl. Schlögl, Kommunika­tion; Stollberg-­Rilinger, Impact; Vivo, Informa­tion. 142 Vgl. Depkat, Kommunika­tionsgeschichte. Insofern ist es auch kein Zufall, dass der Kommunika­tionsbegriff zum Beispiel ­zwischen den semantischen Feldern Nachricht/ Informa­tion und Transport/Infrastruktur changiert. Vgl. Cottrell, London, 157; siehe auch, bereits im Titel sprechend: North, Kommunika­tion. 143 Vgl. Ong, Informa­tion. – Zur Unterscheidung von Informa­tions- und Kommunika­ tionssystemen, die hier auf sich beruhen kann, siehe: Pieper, Vermittlung, 37. 144 Vgl. Luhmann, Sozia­le Systeme, 203. 145 Vgl. Luhmann, Sozia­le Systeme, 193 f.; vgl. auch: Ong, Informa­tion, 5. Der systemtheo­ retische Informa­tionsbegriff lehnt die Idee einer ‚Übertragung‘ ganz generell ab. Für

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Fragen, Begriffe, Methoden

Beispiel eine Informa­tion, die einem abgefangenen Brief entnommen wird, sich nicht einfach in das klas­sische Sender-­Empfänger-­Schema einfügen lässt und weil die Strukturen für die Gewinnung einer Informa­tion oft erst geschaffen werden müssen. Schon um diesen notwendig konstruktiven Aspekt hervorzuheben, wird in dieser Studie von Informa­tionsgewinnung (und nicht etwa von Informa­ tionsbeschaffung) gesprochen. 1.1.4 Quellen

Im Wesent­lichen stützt sich die Untersuchung auf die Bestände dreier Londoner Archive. Zentral waren die Erschließung, Lektüre und Auswertung großer Teile der ehemaligen „Blenheim Papers“146 in der British Library. Sie enthalten erstens die von Marlborough selbst empfangenen Briefe, zweitens die Korrespondenz seines Schwiegersohnes, des Earl of Sunderland, der von 1706 bis 1710 als Secretary of State tätig war und in viel umfassenderer Weise als die meisten anderen Secretaries, mit denen Marlborough zusammenarbeitete, „intelligence reports“ anforderte und nutzte. Diese kamen auch Marlborough zugute. Aus den Marlborough Papers wurde vor allem die Korrespondenz mit den primär für intelligence zuständigen und unterschied­lich intensiv daran interessierten Staatssekretären ausgewertet (BL Add. 61119 – 61130), dann die Korrespondenz mit einigen ausgewählten Gesandten (zum Beispiel BL Add. 61145), die Briefe verschiedener Festungsgouverneure oder -kommandanten in Flandern (zum Beispiel BL Add. 61204), die Korrespondenz mit dem preußischen Hof und vor allem dem Marlborough in außergewöhn­licher Weise verbundenen Oberst Grumbkow (BL Add. 61228 – 61131), die Briefe des hannoverschen Sekretärs Jean de Robethon (BL Add.  61235 – 61236), die Newsletters, die Marlborough erhielt (BL Add.  61264 – 61265), die Korrespondenz rund um den Prozess von 1711 und andere Finanzunterlagen (BL Add. 61326, 61330, 61406), Akten zum Postservice z­ wischen England und Flandern (BL Add. 61336) sowie Kartenmaterial (BL Add.  61342 – 61343). Aus den Sunderland-­Papieren standen im Zentrum: die eigenhändigen Cabinet Minutes (BL Add. 61498 – 61500), die umfangreiche Sammlung von Newsletters vor allem hugenottischer Provenienz, die über Etienne Caillaud in Rotterdam an die eng­lische Regierung weitergeleitet wurden (BL Add. 61548 – 61566), die von François eine Vorstellung von Kommunika­tion, die in hohem Maße von der Übertragung identisch bleibender Informa­tionen ausgeht, plädiert aber mit bedenkenswerten Gründen: ­Krämer, Medium. 1 46 Vgl. Catalogue of Addi­tions, sowie als knapper Überblick: Hudson, Blenheim Papers.

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Jaupain in Brüssel interzipierte feind­liche Korrespondenz sowie die Korrespondenz mit dem Dechiffrierer William Blencowe (BL Add. 61567 – 61568, 61575), schließ­lich die Korrespondenz zum Postwesen (BL Add. 61601). Dazu traten einige Bestände aus den Papieren Robert Harleys, die sowohl Cabinet Minutes als auch Hintergrundinforma­ tionen zur Informa­tionsbeschaffung enthalten (BL Add.  70191, 70334 – 70338)147 sowie einige hannoversche Bestände, die weiteres Licht auf die Verbindung z­ wischen Marlborough und Robethon werfen (BL Stowe 222 – 223, 225, 232, 241).148 Ergänzend wurden im Archiv der britischen Post (The British Postal Museum and Archive London) einige Bestände zum Postwesen, vor allem zum Postschiffdienst ­zwischen England und Flandern, aber auch zur Verwendung von Postgeldern zur Finanzierung geheimdienst­licher Aufgaben herangezogen (BPMA, POST 1/3, BPMA, POST 43/1, BPMA, POST 46/19, BPMA, POST 103/1 – 2). Schließ­lich wurden in den Na­tional Archives Bestände aus den State Papers Foreign ausgewertet, vor allem die Korrespondenzen der Staatssekretäre mit den Gesandten in Brüssel, die dort ein umfangreiches und auch Marlborough zuarbeitendes Informa­tionsnetz etabliert hatten (TNA SP 77/57 – 61), aber auch die Newsletters aus Flandern und Frankreich (TNA SP 101/7, TNA SP 101/23 – 24) sowie – aus den State Papers Domestic – die Korrespondenz der Secretaries of State vor allem über Fragen der Postkommunika­tion (TNA SP 34/9 – 12, TNA SP 34/13 – 19, TNA SP 34/29149) und einige Briefe Marlboroughs an einzelne Secretaries (TNA SP 87/2, TNA SP 87/4 – 5). Aus der Vielzahl edierter Quellen ist für die vorliegende Studie die dreibändige Edi­tion des Briefwechsels z­ wischen Marlborough und Godolphin von 1975 am wichtigsten.150 Lucien Bély ist der Auffassung, diese Edi­tion erlaube „de préciser quels circuits d’informa­tion utilisait l’homme de guerre anglais“151 – eine Ankündigung, die bisher aber nicht umgesetzt worden ist. Neben diese Edi­tion treten Marlboroughs Korrespondenz mit Anthonie Heinsius 152, die „Dispatches“ in der Edi­tion von Murray 153 (die Briefe Marlboroughs im Kopienbuch seines 147 Zur komplizierten Klassifizierungsgeschichte dieser Bestände siehe: Jones, Harley Family. 148 Vgl. Chance, John de Robethon; siehe dazu auch: Catalogue of the Stowe Manuscripts. 149 Die Bände, die chronolo­gisch vorangehen, habe ich mir wegen der akkuraten Kalendarisierung inkl. ausführ­licher Quellenzitate – siehe zuletzt: Calendar of State Papers, Bd. 3 u. Bd. 4. – nicht ansehen müssen. Zur Überlieferungs- und Edi­tionsgeschichte der Calendars: Knighton, Calendars. 150 Vgl. The Marlborough-­Godolphin Correspondence. 151 Bély, Espions, 86. 152 Vgl. The Correspondence 1701 – 1711, sowie: De Briefwisseling van Anthonie Heinsius. 153 Vgl. Letters and Dispatches.

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Sekretärs Adam de Cardonnels enthalten) sowie die partiell die Blenheim Papers abdruckende Edi­tion der Historical Manuscripts Commission 154. Dazu kommen die zahlreichen Briefe, die in der alten, aber gerade für Quellenbeigaben nach wie vor einschlägigen Biographie von Coxe 155 abgedruckt sind. Besonders wichtig sind auch die edierten Briefe der franzö­sischen Protestanten, die vom niederländischen Exil aus ein Spionagenetzwerk in Frankreich organisierten und für die eng­lischen Staatssekretäre und Marlborough arbeiteten.156 Schließ­lich wurden punktuell die für das Problem der Finanzierung von Spionagetätigkeiten einschlägigen Treasury Books and Papers 157 und zeitgenös­sisch gedruckte Quellen herangezogen. 1.1.5 Aufbau der Arbeit

Die Studie ist folgendermaßen aufgebaut: Im Teil 2 werden die Voraussetzungen der eigent­lichen Untersuchung dargelegt. Erstens soll eine Skizze zu Ursachen und Verlauf des Spanischen Erbfolgekrieges den ereignis- und strukturgeschicht­ lichen Rahmen bereitstellen, in den sich die Analyse einfügt; zweitens wird Marlborough als Hauptprotagonist ­dieses Buches biographisch vorgestellt. Im Anschluss daran werden die institu­tionellen Mechanismen und politischen Kräfteverhältnisse der eng­lischen Innen- und Außenpolitik um 1700 skizziert; dieser Teil dient der präziseren Formulierung des Problems, ob und inwieweit Marlborough in die eng­lische Regierung eingebunden war, ob und inwieweit er unabhängig von ihr agierte und was dies für den Komplex der Informa­ tionsgewinnung bedeutet. Die darauf folgende Analyse ist zweigeteilt und folgt der Differenzierung ­zwischen einerseits Strukturen und andererseits Funk­tionen der Informa­ tionsgewinnung. In Teil 3 werden die Strukturen der Informa­tionsgewinnung untersucht, die Marlborough aufbaute oder auf die er zurückgriff. Nach einer theoretischen Klärung (3.1) dessen, was hier unter Strukturen verstanden wird – Infrastrukturen, Organisa­tionen und Netzwerke – werden die infrastrukturellen Grundlagen von Marlboroughs Informa­tionsgewinnung vorgestellt (3.2): Geld, Briefe, Post und Landkarten. Nach einigen Bemerkungen zur komplizierten 154 Vgl. HMC Marlborough; zur Überlieferungsgeschichte und archiva­lischen Klassifizierung ­dieses und analogen Materials siehe: Levine, Amateur, 101 – 134. 155 Vgl. Coxe, Memoirs (zuerst erschienen 1819/19). 156 Vgl. Dedieu, Rôle politique, 281 – 358 (Quellenappendix). 157 Vgl. z. B. Calendar of Treasury Books, Bd. 28, 399 – 504.

Einleitung

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Finanzierung der Informa­tionsgewinnung und zur brief­lichen Kommunika­tion werden die Post, vor allem die Schiffspost z­ wischen England und den süd­lichen Nieder­landen, aber auch die Kartographie daraufhin untersucht, in welcher Weise sie Rahmenbedingungen für Marlboroughs Informa­tionsgewinnung darstellten. Daran anschließend wird die Informa­tionsgewinnung Marlboroughs in formalen Organisa­tions- und Amtszusammenhängen untersucht (3.3). Am Anfang steht die Frage nach Marlboroughs Einbindung in die Informa­tionsgewinnung der eng­lischen Regierung, vor allem der Secretaries of State. Danach wird exemplarisch die Koopera­tion mit eng­lischen Diplomaten vorgestellt. Schließ­lich wird nach Informa­tionsgewinnung im militärischen Kontext gefragt. Schon in den Abschnitten zur organisa­tions- und amtsförmigen Informa­tionsgewinnung wird deut­lich werden, wie groß oft die Überlappungen mit informellen, netzwerkförmigen Strukturen sind und dass es vielfältige Übergänge gibt. In Teil 3.4 werden ­solche Übergänge ­zwischen formalen und informellen Kanälen der Informa­ tionsgewinnung untersucht, aber auch die höchst eindrucksvollen Spionagenetzwerke vorgestellt, die Marlborough und der eng­lischen Regierung insgesamt Informa­tionen beschafften. Das Spektrum reicht hier von halbformalen Beziehungen in einer Grauzone formaler Diplomatie über zwei besonders einflussreiche Spionagenetzwerke bis hin zu individuell agierenden Spionen. Am Schluss d ­ ieses Kapitels zu den Strukturen der Informa­tionsgewinnung wird die Bedeutung der Presse für Marlborough diskutiert (3.5). Der zweite größere Analyseabschnitt widmet sich dem Problem der Funk­ tionen der Informa­tionsgewinnung. Nach einer theoretischen Reflexion (4.1) sollen, wiederum mit exemplarischem Rückgriff sowohl auf einschlägige E ­ reignis- als auch Strukturzusammenhänge, drei besonders zentrale Funk­tionen vorgestellt und diskutiert werden. Im ersten Kapitel (4.2) geht es um instrumentelle Funk­tionen von Informa­tion: einerseits ihre Rolle im Kontext des Entscheidens, andererseits aber auch (und wichtiger) ihre Bedeutung als Instrument der Unsicherheitsminimierung, also der Erzeugung eines Sicherheitsgefühls. Wenn diese Funk­tion zwar ebenfalls ‚instrumentell‘ ist, hat sie doch mit dem Problem der Entscheidung nur am Rande zu tun. In Kapitel 4.3 wird der Konnex von Informa­tionsgewinnung und Patronage vorgestellt; in Kapitel 4.4 schließ­lich wird diskutiert, inwiefern Informa­tion als symbo­lische Repräsenta­tion von Kompetenz und Legitimität diente. Dort wird auch die Episode vom Beginn des Buchs vertieft diskutiert, also der Versuch Marlboroughs, den Vorwürfen gegen ihn im Winter 1711 mit dem argumentativen Rückgriff auf Spionage zu begegnen. Kapitel 5 fasst die Ergebnisse der Studie zusammen und führt die verschiedenen Stränge empirisch und methodisch zusammen.

2 Voraussetzungen 2.1 Hintergründe: Der Spanische Erbfolgekrieg und der Herzog von Marlborough 2.1.1 Ursachen des Erbfolgekrieges

Der Spanische Erbfolgekrieg war der letzte und größte der Kriege Ludwigs XIV. In ­diesem Krieg, der von 1701/02 bis 1713/14 dauerte und auf so verschiedenen Schauplätzen wie Spanien, Italien, den süd­lichen Niederlanden, Bayern und in Übersee spielte, stand dem franzö­sischen König eine Allianz gegenüber, die aus einer Vielzahl euro­päischer Mächte bestand.1 Es ist nachvollziehbar, wenn Teile der Forschung nach wie vor die Ehrsucht und den Expansionsdrang Ludwigs XIV. zur hauptsäch­lichen Kriegsursache erklären.2 Allerdings hat bereits die ältere franzö­sische Forschung Skepsis gegenüber einem grand dessein Ludwigs XIV. geäußert, der teleolo­gisch auf die spanische Erbfolge zulaufe.3 Auch in der etwas jüngeren Forschung wird eher die pragmatische, wenig ideolo­gische Politik Ludwigs XIV. betont.4 Folgt man ­diesem Bild, dann ist der Spanische Erbfolgekrieg jedenfalls nicht schlicht aus dem Expansionsstreben des franzö­sischen Königs zu begreifen. Woraus dann? Es war angesichts der Kinderlosigkeit und der zarten Gesundheit des letzten spanischen Habsburgers Karl II. nur eine Frage der Zeit, wann es zu Auseinandersetzungen um das spanische Erbe kommen würde, das außer dem spanischen Kernland auch große Teile Italiens (Neapel, Sizilien, Mailand), die Spanischen Niederlande sowie die amerikanischen Besitzungen umfasste. Als erbberechtigt sahen sich wegen enger Verwandtschaft mit dem spanischen König sowohl Ludwig XIV. als auch K ­ aiser Leopold. In den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts wurden die spanische Sukzession und die Frage, ob sich ein Krieg darüber würde vermeiden lassen, ein immer drängenderes Thema der diplomatischen Kommunika­tion. Bereits 1668 war im sogenannten Grémonville-­Vertrag versucht worden, eine Teilung des zukünftigen spanischen Erbes auszuhandeln.5 Doch angesichts ­wechselnder 1 Zur Ereignisgeschichte siehe: Malettke, Hegemonie, 461 – 510; Schnettger, Erbfolgekrieg. 2 Vgl. Sonnino, Origins. Dass das Streben nach ‚gloire‘ allerdings weniger eine psycholo­ gische als vielmehr eine eminent politische Dimension besitzt, verdeut­licht: ­Rohrschneider, Präzedenzstreben. 3 Vgl. Pagès, L’histoire diplomatique, 676 f. 4 Vgl. Malettke, Ludwigs XIV. Außenpolitik, v. a. 45 – 48. 5 Vgl. Bérenger, Habsburger; Sienell, Beratungsgremien, v. a. 134 f.; zum Kontext siehe auch: Auer, Konfliktverhütung.

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politischer Konjunkturen und angesichts der antiludovizianischen Kriege stand das Problem der spanischen Erbfolge immer wieder auf der Tagesordnung. Die Ausgangslage schien einfach: Während die spanische Regierung auf der Unteilbarkeit des spanischen Reiches beharrte,6 diskutierten die euro­päischen Diplomaten – zumal die eng­lischen und niederländischen, die mit der Erbfrage nichts zu tun hatten, sich aber vor franzö­sischer (aber auch habsbur­gischer) Präponderanz fürchteten 7 – immer wieder über Teilungsverträge. Diese konnten aber angesichts neuer politischer oder militärischer Rahmenbedingungen schnell auch wieder obsolet werden. Im Frieden von Rijswijk von 1697 wurde die spanische Erbfolge trotz Versuchen des Kaisers, zu einer neuer­lichen Lösung zu kommen, nicht geregelt. Schon dies musste den Beteiligten klar machen, dass Rijswijk mög­licherweise mehr Waffenstillstand als dauernder Friede sein würde.8 Zwischen 1697 und 1700 suchten die euro­päischen Dynastien weiter fieberhaft nach einer fried­lichen Lösung, zumal sich der Tod Karls II . abzeichnete. Schon hier zeigt sich die neue Rolle, die England nach der Glorious Revolu­ tion spielte und die auf die resolute Europäisierung einer vorher eher isolierten Macht hinauslief.9 Ein „erster“ Teilungsvertrag (nach demjenigen von Grémonville) wurde im Oktober 1698 z­ wischen den Niederlanden, dem eng­lischen König Wilhelm III. und Ludwig XIV. ausgehandelt. Er sprach Philipp von Anjou, dem Enkel ­Ludwigs XIV., Neapel/Sizilien sowie Teile der Toskana zu. Erzherzog Karl, der zweite Sohn K ­ aiser Leopolds, sollte Mailand erhalten. Der rest­liche, größte Teil des spanischen Erbes sollte dem bayerischen Kronprinzen Joseph Ferdinand zufallen, der ebenfalls eng mit den spanischen Habsburgern verwandt war.10 Nachdem Joseph Ferdinand aber im Februar 1699 unerwartet gestorben war, wurde im März 1700 ein zweiter Vertrag abgeschlossen, der sehr vorteilhaft für die österreichische Habsburger­ linie war: Karl sollte den Großteil des Erbes erhalten, während Philipp mit Teilen Italiens abgespeist werden sollte. Diese Lösung wurde dennoch vom K ­ aiser nicht mitgetragen, der auf das gesamte spanische Erbe hoffte.11 Als Karl II . am 1. November 1700 starb und das ungeteilte spanische Erbe Philipp von Anjou hinterließ, war der Krieg tatsäch­lich fast unvermeid­lich 6 Vgl. Roosen, Origins, 166. 7 Vgl. Malettke, Friede, 34. 8 Vgl. Roll, Schatten, v. a. 71 und 83. 9 Vgl. als Überblick: Onnekink, Britain. 10 Vgl. Vierhaus, Deutschland, 166. 11 Vgl. ebd.; zu den Teilungsverträgen, die explizit auf das Prinzip der Balance of Power rekurrieren, siehe auch: Rule, Parti­tion Treaties, sowie Bély, La société des princes, 307 – 332.

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geworden. Für Ludwig XIV . war die Ablehnung des Testaments ausgeschlossen, da das spanische Erbe sonst den Habsburgern zugefallen wäre. Doch die Annahme des Testaments bedeutete vorhersehbar Krieg.12 Wilhelm III . und der niederländische Ratspensionär Anthonie Heinsius erkannten Philipp V. zuerst an, bemühten sich aber gleichzeitig um eine antifranzö­sische Allianz.13 Die Franzosen marschierten derweil in die Spanischen Niederlande und in Italien ein. Ludwig XIV . versuchte im Jahr 1701, aber auch darüber hinaus (wenn auch weitgehend erfolglos), Alliierte im Reich zu gewinnen.14 Noch ohne Kriegs­ erklärung und Allianzvertrag waren habsbur­gische Truppen unter Prinz Eugen im Frühjahr 1701 nach Italien gegangen, um Frankreich von der Inbesitznahme des spanischen Erbes abzuhalten.15 Mög­licherweise war es aber erst die Weigerung Ludwigs XIV., explizit eine mög­liche franzö­sische Thronfolge Philipps auszuschließen, die die Alliierten schließ­lich von der Notwendigkeit eines Krieges überzeugte.16 Im Allianzvertrag vom 27.8./1. 9. 1701 wird deut­lich, dass die Alliierten – zu ­diesem Zeitpunkt noch der ­Kaiser, die Generalstaaten und die eng­lische Krone, ­später sollten Preußen sowie weitere Reichsterritorien, Portugal und Savoyen dazukommen – durchaus unterschied­liche Kriegsziele verfolgten. Frankreich hatte inzwischen die Spanischen Niederlande, Mailand und Cadiz eingenommen sowie mehrere Kriegsschiffe in die spanischen Westindischen Inseln geschickt. Die Alliierten fühlten sich vor allem von einer potentiellen Vereinigung der franzö­sischen und spanischen Macht bedroht, fürchteten aber auch, dass kaiser­liche Lehen wie das strate­gisch, logistisch und geopolitisch zentrale Mailand dauerhaft verloren sein könnten.17 Daher forderten sie eine „equitable and reasonable satisfac­tion to his Imperial Majesty for his pretension to the Spanish succession“18. Zudem wurde von eng­lischer und niederländischer Seite die allgemeine Gefahr für die euro­päische Sicherheit (auch des Handels) betont, die unter anderem eine Barriere ­zwischen den Niederlanden und Frankreich notwendig mache. Die Idee einer Barriere, also eines Festungsringes in den süd­lichen Niederlanden, war eine Leitidee der niederländischen 12 Vgl. Malettke, Ludwigs XIV. Außenpolitik, 67; siehe auch: Thomson, Louis XIV and the Origins. 13 Vgl. Hattendorf, England, 14; siehe auch: Recker, Wilhelm III. 14 Vgl. Weber, Rheinpolitik, 82; siehe zum Kontext auch: Schmidt, Frankreich; Sinkoli, Frankreich; Dotzauer, Macht. 15 Vgl. Burkhardt, Vollendung, 261. 16 Vgl. Aretin, Das Alte Reich, Bd. 2, 107. 17 Vgl. dazu: Mozzarelli, Sulla guerra. 18 Vertrag der Großen Allianz, 873.

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Sicherheitspolitik in den Jahrzehnten um 1700 und spielte folgerichtig auch eine zentrale Rolle bei der Formulierung der Kriegsziele der Generalstaaten.19 Der Allianzvertrag legte aber vor allem die gemeinsamen Ziele im Falle eines Krieges fest: Die Spanischen Niederlande, Mailand, Neapel, Sizilien und die toska­ nischen Lehen sollten erobert werden – „and particularly that the French shall never get into the possession of the Spanish Indies“20. Charakteristischerweise ist also im Allianzvertrag noch nicht die Rede davon, dass die Alliierten sich um eine ungeteilte habsbur­gische Erbfolge bemühen wollten – was mög­licherweise mit der vorherigen Anerkennung Philipps V. durch die Seemächte zu tun hatte.21 Doch als Ludwig XIV. nach dem Tod des exilierten eng­lischen Königs Jakob II. am 23. September 1701 dessen Sohn, den sogenannten Pretender, als eng­lischen König anerkannte, sahen dies die Seemächte als Bruch des Rijswijker Friedensschlusses, in dessen Rahmen Frankreich Wilhelm III. als eng­lischen König akzeptiert hatte.22 Die Anerkennung des Pretenders stellte mindestens für die eng­lische Öffent­lichkeit einen veritablen Kriegsgrund dar.23 Hinzu kamen die ökonomisch und finanziell als bedroh­lich angesehene Übernahme des spanischen Sklavenhandel-­Monopols (des sogenannten Asiento) durch die franzö­sische Compagnie de Guinée im August 1701 sowie die explizite Ablehnung der Barriere durch Frankreich.24 Im September 1701 notierte John Evelyn in seinem Tagebuch, dass der franzö­ sische König eng­lische Schiffe daran hindere, in franzö­sische Häfen einzulaufen, und überhaupt den Handel nach Frankreich unterbinde. Damit, so Evelyn, sei in gewisser Weise der Krieg ausgebrochen: „so as a Warr in a maner begun“25. Doch auch noch nach dem Zustandekommen der Großen Allianz wurde um Frieden gerungen, allerdings erfolglos.26 Während Ludwig – angesichts des Inhalts des Testaments nicht ganz zu Unrecht – behaupten konnte, der Krieg gehe von den Alliierten aus,27 hoben die Alliierten in ihren jeweiligen Kriegserklärungen, ihren 19 Vgl. van Nimwegen, Dutch Barrier; Hahlweg, Barriere. Zu den Überlegungen zu einer zusätz­lichen Reichsbarriere siehe: Greiner, Schild; Braubach, Reichsbarriere. 20 Vertrag der Großen Allianz, 874. 21 Vgl. van den Haute, Rela­tions anglo-­hollandaises, 81 f. Zum Problem der kurzzeitigen Anerkennung Philipps V. durch die Seemächte siehe auch Malettke, Hegemonie, 470. 22 Vgl. Thomson, Louis XIV and William III. 23 Vgl. Hattendorf, England, 4. 24 Vgl. Auer, Österreichische und euro­päische Politik, 102 f.; ders., Wirtschaft­liche Aspekte, 146. 25 Evelyn, Diary, Bd. 5, 477. 26 Vgl. Hattendorf, Ursprünge, v. a. 143. 27 Vgl. die Kriegserklärung Ludwigs XIV. an die Alliierten, 3. Juli 1702, in: Krieg und ­Frieden, 44  f.

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partikularen Interessen gemäß, sehr unterschied­liche Aspekte hervor. ­Kaiser ­Leopold behauptete, dass das Testament Karls II. das Papier nicht wert sei, auf dem es geschrieben stehe – vermut­lich sei es gefälscht oder untergeschoben.28 Das Reich folgte dem Vorgehen Leopolds.29 Auch die Generalstaaten schlossen sich dieser Einschätzung an und warfen Ludwig vor, den zweiten Teilungsvertrag zu missachten, formulierten vor allem aber auch ihre Angst vor einer franzö­ sischen „Monarchie Universelle“30, ihre Sorge um wirtschaft­liche Nachteile und schließ­lich ihr Interesse an einer Barriere 31. Die eng­lische Königin Anne legte den Akzent in ihrer Kriegserklärung vor allem auf die Anerkennung des Pretenders durch ­Ludwig XIV .,32 und einige Monate ­später wurde die Anerkennung von Königin Anne durch die franzö­sische Krone als weitere offizielle Kriegsforderung eingeführt.33 Es gab also durchaus unterschied­liche Akzentsetzungen der unterschied­lichen Alliierten – genauso wie es auch unterschied­lich enge Verbindungen ­zwischen ihnen gab. Die Verbindung Wien-­Den Haag etwa wäre bei einer anderen Haltung Ludwigs XIV. mög­licherweise gar nicht zustande gekommen.34 Während die ältere Forschung, wie angedeutet, die Kriegsursachen vor allem im Expansionsstreben Ludwigs XIV. gesehen hat, hebt die jüngere Forschung weniger auf individuelle Motive und stärker auf systemische Zwänge ab. In dieser Perspektive war der Spanische Erbfolgekrieg ein letzt­lich unvermeid­licher „Systemkonflikt“35. Die Entwicklung des interna­tionalen Staatensystems, der Entwicklungsstand der Staatsbildungsprozesse in den euro­päischen Ländern und die enge Anbindung dieser Prozesse an dynastische Interessen habe das Erbfolgeproblem zu einem konstitutiven diplomatischen und politischen Problem gerade der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit gemacht.36 Der Umstand, dass man es in vielen 28 Vgl. die Kriegserklärung des Kaisers an Ludwig XIV., 15. Mai 1702, in: Krieg und ­Frieden, 41 – 43. 29 Vgl. Reichskrieg um das spanische Erbe des Hauses Habsburg, Kaiser­liches Kommissionsdekret, 6. Oktober 1702, in: Quellen zum Verfassungsorganismus, 272 – 274; siehe auch: Kampmann, Reichstag, sowie zu den komplizierten Reichstagsverhandlungen: Friedrich, Moment(um). 30 Vgl. die Kriegserklärung der Generalstaaten an Ludwig XIV., 8./15. Mai 1702, in: Krieg und Frieden, 36 – 40, hier 36; siehe dazu auch: Bosbach, Monarchia universalis, 107. 31 Kriegserklärung der Generalstaaten, in: Krieg und Frieden, 36 – 38. 32 Vgl. die Kriegserklärung Annes, 4. Mai 1702, in: Krieg und Frieden, 35 f. 33 Vgl. Thomson, Louis XIV and the Grand Alliance, 191. 34 Vgl. Troost, Habsburg. 35 Schilling, Höfe und Allianzen, 258. 36 Vgl. Kunisch, Hausgesetzgebung; Kohler, „Tu felix Austria nube…“; Burkhardt, Friedlosig­ keit, v. a. 540.

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­ ällen mit ledig­lich dynastisch integrierten „composite states“ (oder auch „dynastic F agglomera­tions“) zu tun hatte,37 habe das Sukzessionsproblem gerade um 1700 zu einem politisch brisanten und gelehrt diskutierten Thema werden lassen.38 Denn diese Konstella­tion habe aus jeder Erbfolgekrise eine Krise des Staatensystems gemacht.39 Zusätz­lich dazu sei der Spanische Erbfolgekrieg überdies auch durch universalistische Ansprüche etwa der Habsburger oder der Bourbonen charakterisiert, die den Krieg unausweich­lich gemacht hätten.40 Insofern, so William Roosen in einem ausgezeichneten Aufsatz, ­seien nicht die Inten­tionen der Handelnden, sondern die Struktur des interna­tionalen Systems die eigent­liche Kriegsursache – nach dem Tod des bayerischen Kurprinzen sei eigent­lich keine Verständigung mehr vorstellbar gewesen.41 Diese insgesamt überzeugende Posi­tion muss aber doch dahin gehend relativiert werden, dass – wie gesehen – bis 1702 immer wieder versucht wurde, den Frieden zu retten, und dass aus einer weniger system- als akteurszentrierten Perspektive auffällt, dass Ludwig XIV. lange Zeit versucht hat, Wilhelm III. auf seine Seite zu ziehen, dass aber sein „calculated gamble“ nach dem Tod des spanischen Königs schließ­lich doch zum Krieg führte.42 Insgesamt zeichnet sich also ab, dass eine systemische Perspektive durchaus den Kriegsausbruch erklären kann – dass aber dieser Perspektive komplementär eine akteurszentrierte Sicht zur Seite gestellt werden muss. Doch wie verlief der lange und verlustreiche Krieg? Und was bedeutet dies für den Komplex der Informa­tionsgewinnung? 2.1.2 Der Spanische Erbfolgekrieg: Verlauf, Kriegsparteien, Ergebnisse

Es soll hier nicht versucht werden, den zahlreichen detaillierten, vor allem ereignisgeschicht­lichen Beschreibungen des Spanischen Erbfolgekrieges eine weitere hinzuzufügen. Hier geht es nur um eine Skizze der wichtigsten Ereignisse, 37 Vgl. Elliott, Composite Monarchies; siehe auch Morrill, Uneasy Lies the Head, 11: „My sugges­tion is that we should consider the process as the development of a dynastic agglomerate rather than a composite monarchy. Dynastic agglomerate is an awkward, uncomfortable phrase for an awkward, uncomfortable entity. It helps us to keep at the front of our minds how unstable the evolving composite was.“ 38 Vgl. Wolf, Geographie. 39 Vgl. Kunisch, Staatsverfassung, 75. 40 Vgl. Burkhardt, Vollendung, 255 – 260. 41 Vgl. Roosen, Origins, 152 und 163. 42 Onnekink, Anglo-­French Negotia­tions, 175.

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Kriegsparteien und Ergebnisse des Krieges, aber auch um einige Charakteristika der Kriegführung. Besonders auffällig ist in der älteren wie der jüngeren Literatur der Ehrgeiz, Schlachtenverläufe in großer Akkuratesse nachzuzeichnen. In der jüngsten, aber in der Durchführung sehr tradi­tionellen Darstellung des Krieges wird dies sogar mit der kuriosen These begründet, der Erbfolgekrieg sei – anders als etwa der Dreißigjährige Krieg – „durch ein eigentüm­liches Primat militärischer Erwägungen gekennzeichnet“ gewesen.43 Diese Einschätzung scheint aber eher die Forschungslage zu reproduzieren als der Sachlage zu entsprechen. Richtiger, wenn auch unspezifisch, ist die Einschätzung, dass der Krieg über zehn Jahre dauerte, „weil Krieg und Politik nicht mit gemeinsamer Zielgenauigkeit zusammenarbeiteten“44, es also durchaus Divergenzen z­ wischen politischen und militärischen Zielen gab. Dies ist aber schon deshalb kaum verwunder­lich, weil Krieg um 1700 nicht etwa die militärische Durchsetzung klar vorgegebener politischer Ziele bedeutete, sondern nur eines von vielen Mitteln darstellte, Politik zu betreiben. Für die beteiligten Parteien waren Diplomatie und kriegerische Ak­tion „co-­equal instruments of policy to be used alternatively or concurrently“45. Wenn Heinz Schilling formuliert, Frankreich sei in ­diesem Zeitalter daran gewöhnt gewesen, „Europa militärisch in Schach zu halten, um es dann auf den Friedenskongressen matt zu setzen“,46 dann setzt dies voraus, dass die militärische Auseinandersetzung in der Regel nur ein Weg war, um die eigene Verhandlungsposi­tion zu verbessern. Viel seltener wurde das militärische Ziel verfolgt, den Gegner endgültig zu vernichten oder ihn auch nur umfassend zu schwächen. Insofern war auch der Kriegszustand faktisch nicht strikt vom diplomatischen Friedenszustand unterschieden: Die Aufnahme von Friedensverhandlungen jedenfalls setzte keinen Waffenstillstand voraus – dadurch überlappten sich Krieg und Friedensprozess zeit­lich.47 „In the age of Louis XIV it is impossible to differentiate between diplo­macy and war; the two were the obverse and converse of the same coin and complemented each other at all times.“48

43 Smid, Erbfolgekrieg, 17. 44 Rill, Karl VI., 54. 45 Jones, Marlborough, 6. 46 Schilling, Höfe und Allianzen, 259. 47 Vgl. Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, 76. 48 Thompson/Padover, Secret Diplomacy, 102; vgl. jüngst auch: Dhondt, Op Zoek naar Glorie, 289. Die Parallelität von Diplomatie und Kriegführung ist ein Charakteristikum des Krieges um 1700, den Lynn mit dem Begriff ‚war-­as-­process‘ bezeichnet; weitere

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Die Kriege des Ancien Régime waren begrenzte Kriege, und sie waren dies umso mehr, als die Kriegführung die finanziellen Mög­lichkeiten der beteiligten Mächte in aller Regel überstieg.49 Die sehr teuren Heere brachten die beteiligten Staaten auch im Spanischen Erbfolgekrieg teilweise an den Rand des Bankrotts,50 was die Finanzierung durch Subsidien unumgäng­lich machte.51 Charak­teristisch für diese Art von Kriegführung waren daher die Vermeidung von Feldschlachten und die zentrale Bedeutung von Belagerungen, die angeb­ lich geringere menschliche und finanzielle Kosten hervorriefen.52 In den seltensten Fällen ging es, um die Begriffe Hans Delbrücks zu wählen, um die Verfolgung einer Vernichtungsstrategie – dies wäre viel zu teuer gewesen. Stattdessen wurde üb­licherweise eine Ermattungsstrategie angewandt, der es um kleinere Raumgewinne ging, die eine vorteilhafte Verhandlungsposi­tion ermög­lichten.53 Gerade Marlborough scheint aber einer der wenigen Feldherren des Zeitalters gewesen zu sein, die tendenziell auf Feldschlachten setzten und eine offensive Grundhaltung verfolgten, die den Feind zur Schlacht zwingen sollte.54 Doch die in der Literatur von Zeit zu Zeit vertretene Idee einer kriegsentscheidenden Schlacht ist anachronistisch und entspricht selbst Marlboroughs Denken nur eingeschränkt: Ein geographisch so ausgedehnter Krieg wie der Spanische Erbfolgekrieg war mit einer noch so großen Schlacht unter den Bedingungen der Militärtechnik um 1700 nicht zu entscheiden.55 Im Anschluss an den Allianzvertrag von 1701 wurde das antifranzö­sische Bündnis in den Jahren bis 1704 durch eine Vielzahl von einzelnen, zum Teil auch bilateralen Verträgen ergänzt, um mög­lichst viele Mächte einzubeziehen.56 Dabei spielten unterschied­liche Motive und Kriegsziele eine Rolle: Mächte wie Savoyen (oder auch Bayern, das sich auf der franzö­sischen Seite engagierte) bemühten sich,

Charakteristika wären etwa die im Text beschriebene Ermattungsstrategie und die Bedeutung von Belagerungen. Vgl. Lynn, Wars, 367 – 376. 49 Zum Militärwesen um 1700 siehe: Luh, Kriegskunst; ­Kaiser, Das stehende Heer; einführend auch: Sicken, Kriegskunst; Schlürmann, Alltagsleben; Chandler, Art of Warfare. 50 Vgl. Sicken, Heeresaufbringung, v. a. 91 f. 51 Vgl. Wilson, Politics. 52 Vgl. de Schryver, Warfare, 133 f. 53 Vgl. mit Rückgriff auf Delbrück: Sicken, Kriegskunst, 36 f. 54 Vgl. Jones, Marlborough, 59. 55 Vgl. Perjés, Army Provisioning, 153; Hoppit, Land of Liberty, 117; siehe vor allem aber auch: Ostwald, „Decisive“ Battle. Zu Marlboroughs Unwillen oder Unfähigkeit zu Belagerungen siehe jüngst instruktiv: Ostwald, Marlborough. 56 Vgl. Hattendorf, England, 77 – 95.

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vorerst erfolglos, um eine Krone,57 während Preußen erfolgreich auf den Monarchisierungstrend der vorhergegangenen Jahrzehnte aufspringen konnte und dafür auch bereit war, als Subsidienempfänger in den Krieg zu ziehen.58 Der Krieg spielte auf verschiedenen Schauplätzen: in den süd­lichen Niederlanden, wo Marlborough sich die meiste Zeit aufhielt,59 in Italien 60, in Spanien selbst 61, schließ­lich in Übersee 62, aber auch in den euro­päischen Gewässern und im halbstaat­lichen Freibeuterkrieg 63. Auch Süddeutschland wurde im Jahr 1704 zu einem wichtigen Kriegsschauplatz: Der logistisch spektakuläre Marsch von Marlboroughs Armee an die Donau im Frühsommer 1704 hat großes Interesse auf sich gezogen.64 Die einzige militärische Ak­tion Marlboroughs außerhalb der süd­ lichen Niederlande kulminierte in der Schlacht von Höchstädt vom August 1704, die sicher nicht in dem Maße kriegsrelevant war, wie dies die eng­lische Historiographie gern hätte.65 Die Schlacht von „Blenheim“, weit entfernt davon, den Krieg zu entscheiden, ist schon zeitgenös­sisch und mit weitreichender Wirkung zum britischen Erinnerungsort geworden.66 Ihr Sinn lag vor allem darin, den baye­ rischen Kurfürsten Max Emanuel, den neben dem Kölner Kurfürsten einzigen relevanten Verbündeten Frankreichs im Reich, als potentielle Gefahrenquelle zu beseitigen.67 Das gelang auch: Nach der militärischen Niederlage wurde über Max Emanuel 1706 die Reichsacht verhängt.68 57 Vgl. Oresko, House of Savoy; siehe auch: Kraner, Bayern und Savoyen; Symcox, Britain. 58 Vgl. Duchhardt, Königskrönung; Plassmann, Preis der Krone. 59 Vgl. Echevarria Bacigalupe, Guerra de Sucesiön. 60 Vgl. Gallo, Una difficile fedeltà. In Italien fand auch der schlecht untersuchte letzte kaiser­ lich-­päpst­liche Krieg bzw. Lehnsstreit um Commachio 1709 statt; siehe dazu: Burkhardt, Vollendung, 291 – 293. Vgl. zum Kirchenstaat auch: Tabacchi, L’impossibile neutralità. 61 Vgl. Kamen, War of Succession. 62 Vgl. knapp: Selig, Erbfolgekrieg. Eine sehr enge Verbindung z­ wischen Erbfolgekrieg und Kolonien zieht: Saunders Webb, Marlborough’s America. Hierbei geht es allerdings weniger um die Verknüpfung der Kampfhandlungen als um den Einfluss, den ­Marlborough auf die weitere Entwicklung Nordamerikas nahm; dieser Einfluss wird von Saunders Webb v. a. über die militärische Sozia­lisa­tion im Umkreis Marlboroughs konstruiert, die eine Reihe späterer amerikanischer Gouverneure erfuhren. 63 Vgl. Bromley, French Privateering War. 64 Vgl. Hattendorf, English Grand Strategy; Francis, Marlborough’s March; Mathis, ­Marlborough und Wratislaw; ders., Neue Aspekte; Delfiner, Saving an empire. 65 Vgl. Blanning, Victory Spoils. 66 Vgl. Steber, Famous Victory; siehe auch: Horn, Authorship. 67 Vgl. die umfassende Rekonstruk­tion bei: Junkelmann, Der blutige 13. August 1704 sowie: Birk, Lange und kurze Wege. 68 Vgl. de Schryver, Max II. Emanuel; Neumann, Die Rolle Kurbayerns.

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Auch auf dem südniederländischen Kriegsschauplatz konnten die Alliierten Erfolge verzeichnen: Die Schlacht von Ramillies im Mai 1706 brachte die wichtigsten Provinzen an die Alliierten. Der bayerische Kurfürst Max E ­ manuel, der ja gleichzeitig Statthalter der Spanischen Niederlande war, musste Brüssel verlassen. Sein Hof in Mons (Bergen) im Hennegau wurde in den Jahren nach 1706 eines der wichtigsten Ziele alliierter Spionage; dies wird in den folgenden Kapiteln immer wieder deut­lich werden. Im Oktober 1709 wurde auch Mons erobert. Max Emanuel verließ das Land in Richtung Frankreich, während sein Minister Bergeyck von Namur aus die Reste der Spanischen Niederlande regierte.69 Während Philipp V. (und sein Statthalter Max Emanuel) nur noch einen kleinen Teil der Spanischen Niederlande beherrschte, bauten England und die Niederlande gemeinsam ein Kondominat auf, das allerdings schwerer zu regieren als zu gewinnen war. Sehr schnell waren die neuen Herren der Südniederlande unpopulärer als die alten. Erschwerend wirkte die Uneinigkeit der beteiligten niederländischen und eng­lischen Politiker.70 Dennoch war das Kriegsjahr 1706 (wie schon 1704) ein Erfolg – auch die erfolgreiche Einnahme von Turin durch Prinz Eugen fiel in d ­ ieses Jahr. 1707 war dagegen ein Katastrophenjahr, weil sich mit der verlorenen Schlacht bei Almanza die Situa­tion in Spanien langfristig zugunsten Philipps V. und zuungunsten der Alliierten entwickelte. Frankreich versuchte wiederholt, Schweden (und auch das Osmanische Reich 71) in den Erbfolgekrieg zu ziehen, um den Alliierten zu schaden und den Nordischen Krieg und den Spanischen Erbfolgekrieg zusammenzuführen.72 Das enge Verhältnis, das England während des Krieges zu Preußen aufbaute, sollte die Verbindung dieser beiden Großkonflikte verhindern.73 Es war jedenfalls partiell Marlboroughs Erfolg, die drohende Konvergenz beider Kriege zu verhindern, indem er den schwedischen König Karl XII. 1707 in einer persön­lichen Audienz im säch­sischen Altranstädt davon abhielt, dem ­Kaiser den Krieg zu erklären. Auch wenn Marlboroughs Einwirken sicher nicht der einzige Grund dafür war, dass Spanischer Erbfolgekrieg und Nordischer Krieg getrennt blieben und die britische 69 Vgl. de Schryver, Max II. Emanuel, 154 f. u. 178 f.; siehe auch: ders., De Zuidelijke Nederlanden. 70 Vgl. Veenendaal, Het Engels-­Nederlands condominium; Veenendaal, Het ontslag; van Houtte, Les occupa­tions étrangères. 71 Vgl. Hochedlinger, Freundschaft, 128. 72 Vgl. Stamp, Meeting; Chance, England; Hartley, Charles Whitworth, v. a. 65; vgl. zum Kontext auch: Zernack, Zeitalter. 73 Vgl. Naujokat, England und Preußen, 1.

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Forschung sein persön­liches Verdienst mög­licherweise übertreibt,74 gehörte doch diese Mission zu den großen diplomatischen Erfolgen Marlboroughs. Die letzten Kriegsjahre waren gekennzeichnet durch weitere Erfolge der Alliierten in den süd­lichen Niederlanden (Oudenaarde, Malplaquet, Lille), die aber zunehmend ambivalent erfahren wurden. Vor allem die enorm verlustreiche Schlacht von Malplaquet vergrößerte die Kriegsmüdigkeit der Alliierten. Obwohl Marlborough kurzzeitig glaubte, der Sieg von Malplaquet von 1709 werde es erlauben, Frankreich extrem harte Friedensbedingungen aufzuzwingen, ging der Krieg doch weiter und verlief in der Folge ohne große Schlachten.75 Marlboroughs alte Idee eines Einmarsches in Frankreich 76 war damit vom Tisch. Alle Beteiligten fürchteten sich vor einem solchen vorhersehbar verlustreichen Waffengang.77 Hinzu kam, dass Spanien kaum mehr für die Alliierten zu gewinnen war, aber auch, dass Spannungen innerhalb der Allianz auftraten: England etwa hatte den Krieg zunehmend unter der Devise „no peace without Spain“ geführt und die ungeteilte habsbur­gische Sukzession wurde das eigent­liche alliierte Kriegsziel.78 Charakteristischerweise waren es die Seemächte, die diese Maxime hervorhoben, während die kaiser­liche Seite vor allem an der Kontrolle Italiens interessiert war.79 Als Joseph I. 1709 seine wesent­lichen Ziele in Italien erreicht hatte, flaute seine Unterstützung für den Krieg in Spanien ab – was die Alliierten wiederum verärgerte.80 Dass Spanien schwierig oder gar nicht zu gewinnen sein würde, begriffen die Tories schneller als die Whigs und Marlborough. Während die Whigs „no peace without Spain“ im Sommer 1707 geradezu zu einem Hauptkriegsziel ausriefen, äußerte der Tory Henry St. John im November 1708: „For God’s sake let us be once out of Spain.“81 Marlborough aber und die Politiker um den Schatzkanzler Godolphin meinten noch lange, dass Frieden und Sicherheit nur mög­lich ­seien, wenn Spanien den Habsburgern zufalle. Während Marlborough an der Strategie 74 Vgl. Simms, Three Victories, 55. Skeptischer zu Marlboroughs Rolle bereits: Milne, Diplo­macy. 75 Vgl. die Karte der alliierten Eroberungen in Flandern, geordnet nach Kriegsjahren, bei: Ostwald, Marlborough, 131. 76 Vgl. Hattendorf, England, 150 – 153. 77 Vgl. Jones, Marlborough, 182 – 185. 78 Zur Ausweitung der Kriegsziele vgl. Thomson, Parliament, 136. Siehe auch: Hattendorf, England, 60 f. u.  81; Hugill, No Peace. 79 Vgl. Hattendorf, England, 60 – 63 u. 81; vgl. generell auch: Auer, Österreichische und euro­päische Politik; Klueting, Erbfolgekrieg. 80 Vgl. Auer, Österreichische und euro­päische Politik, 107. 81 Zitiert nach: Holmes, British Politics, 78.

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festhielt, Frankreich zu zermürben, indem man es von mehreren Seiten angreife,82 hatte Godolphin schon 1703, wenigstens zeitweise, erkannt, dass ein Krieg dieser Größenordnung kaum zu gewinnen war: „I doubt we have too many irons in the fire. We can’t be in the Mediterranean, in Portugal, upon the coast of France, and in the West Indies all at once.“83 Und doch schrieb Godolphin im August 1705 an Marlborough, England „will never consent to any peace that leaves Spain and the Indies, or either, in the hands of the Duke of Anjou“84. Zu den bereits erwähnten Kriegsparteien traten weitere, nichtstaat­liche, die aber vor allem für die eng­lische Politik während des Erbfolgekrieges eine große Rolle spielten: die Jakobiten, die Hugenotten und die ungarischen Aufständischen. Der Exilhof der Stuarts in St. Germain-­en-­Laye und die Anerkennung der Stuarts durch Ludwig XIV . stellten nämlich nicht nur Provoka­tionen dar.85 Vor allem konfrontierten sie die eng­lische Politik mit dem Problem, sich mit (echten, aber auch vorgetäuschten und eingebildeten) jakobitischen Verschwörungen und Invasionen befassen zu müssen.86 Der Jakobitismus wurde so zum „major issue in British politics in the early-­eighteenth century“87. In diesen Kontext gehört auch die Union z­ wischen England und Schottland von 1707. Sie sollte unter anderem das potentiell stuartfreund­liche Schottland politisch enger an England binden. Der Spanische Erbfolgekrieg stellte insofern zusätz­lichen Druck her, als die Verhandlungen in gar keinem Fall zu einer militärischen Konfronta­tion führen durften, weil die Truppen auf dem Kontinent gebunden waren.88 Eng­lische Politiker, unter ihnen auch Marlborough und Godolphin, unterhielten aber seit den 1690er Jahren immer wieder Kontakte mit St. Germain – einerseits wohl, um sich für den Fall einer Restaura­tion abzusichern,89 andererseits aber auch im Sinne eines Doppelspiels und einer Verschleierungstaktik, die die jakobitische Partei ruhigstellen sollte.90 82 Dieses Problem wird unter dem Stichwort „grand strategy“ v. a. von John Hattendorf behandelt, der aber der eng­lischen und alliierten Politik zu viel Kohärenz unterstellt; vgl. Hattendorf, England; ders., Alliance. 83 Godolphin an Harley, 28. März 1703, in: HMC Portland, Bd. 4, 59. 84 Godolphin an Marlborough, 18. August 1705, in: The Duke of Marlborough’s Letters, 119. 85 Vgl. Gregg, Protestant Succession. 86 Vgl. Hopkins, Sham Plots. 87 Bennett, English Jacobitism, 137; siehe zu den Jakobiten auch: Szechi, Jacobite Politics, sowie Monod, Jacobitism. 88 Vgl. Storrs, Union; Robertson, Union, v. a. 109 – 113. 89 Vgl. Jones, Marlborough, 49. 90 Vgl. Szechi, Jacobite Politics; Gregg, France, 60.

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Wiederholt wurde in Versailles und St. Germain über eine franzö­sisch unterstützte jakobitische Invasion in Schottland nachgedacht, der sich die Schotten anschließen sollten und die schließ­lich zur Restaura­tion führen sollte. Insgesamt scheint es, als hätte der franzö­sische Hof daran selbst nie recht geglaubt. ­Ludwig XIV . ging es eher darum, die eng­lische Krone dazu zu bringen, Truppen aus Flandern abzuziehen.91 Während des Erbfolgekrieges ist als wichtigster Invasionsversuch die Initiative vom Frühjahr 1708 zu nennen, ein rasch scheiternder Plan,92 der aber den Whigs zum eng­lischen Wahlsieg von 1708 verhalf, weil sie glaubhafter als die Tories alle jakobitischen Verbindungen von sich weisen konnten. Das Jakobitenproblem war aber vor allem ein Problem der eng­lischen Innenpolitik – die reale Gefahr war geringer als das Angstpotential, das die jakobitische Gefahr entfalten konnte.93 Nach 1708 wurde während des Krieges noch einmal eine schottische Invasion geplant; diese kurzlebige Idee wurde aber im Januar 1710 aufgegeben.94 Gegen Ende des Krieges musste dem Hof in St. Germain klar werden, dass Ludwig XIV . mittelfristig nicht um eine Anerkennung Königin Annes als rechtmäßige britische Monarchin herumkommen würde. Die Anerkennung der protestantischen Sukzession führte dann 1715 zu einem weiteren, verzweifelten und von vornherein zum Scheitern verurteilten Invasionsversuch.95 Eine weitere Akteursgruppe innerhalb des Krieges waren die Hugenotten: Einerseits stellten sie Offiziere und Soldaten in den verschiedenen antifranzö­ sischen Armeen – unter Wilhelm III . und Anne dienten 1400 hugenottische Offiziere und vermut­lich über 10.000 Soldaten in der eng­lischen Armee.96 Andererseits waren die Refugiés in England und den Niederlanden eine wichtige pressure group, die die Regierungen der Seemächte zu beeinflussen suchte.97 Die interna­tional durch Handel und Heiraten vernetzten Hugenotten gehörten zu den wichtigsten Propagandisten einer offensiven Kriegspolitik gegen ­Ludwig XIV .98 Die Hugenotten gerade in den Niederlanden betätigten sich 91 Vgl. Sinclair-­Stevenson, Rebellion, 64; Szechi, Jacobite Politics, 43. 92 Vgl. Szechi, Jacobite Movement, 83; Gibson, Playing the Scottish Card. 93 Vgl. Bennett, English Jacobitism, 138. 94 Vgl. Rule, France, 102; Bennett, English Jacobitism, 140. 95 Vgl. Szechi, 1715. 96 Vgl. Gwynn, Huguenots; Minet, Huguenot Contribu­tion; Glozier/Onnekink (Hrsg.), War. 97 Vgl. zusammenfassend jüngst: Thompson, Huguenots. Siehe auch: Yardeni, Birth. 98 Vgl. Bosher, Huguenot Merchants. Siehe auch: Onnekink, Models. Vgl. zum generellen Problem von Religion und Krieg um 1700 bzw. einer Säkularisierung der Außenbeziehungen: Onnekink (Hrsg.), War and Religion, und Emich, Confessions; siehe aus der älteren Literatur auch: Vogler, La dimension religieuse, 389; Livet, Les rela­tions interna­ tionales, 102.

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auch als Organisatoren privater Geheimdienste und werden als s­ olche auch eine zentrale Rolle in dieser Studie spielen. Daneben ist hervorzuheben, dass der Spanische Erbfolgekrieg zeitweise mit dem Camisardenaufstand in den Cevennen konvergierte, einer protestantischen Aufstandsbewegung, die von den Exilhugenotten unterstützt wurde und eine Zeit lang eine bedeutende Rolle in den strate­gischen Erwägungen der Großen Allianz spielte.99 Doch die Zerstrittenheit und der Eigensinn der protestantischen Projektemacher in den euro­päischen Hauptstädten, die versuchten, die Alliierten für ihre Ziele zu instrumentalisieren, stießen die verantwort­lichen Politiker zunehmend ab.100 Im Laufe des Krieges wurde den Hugenotten immer klarer, dass ihre religiö­ sen Interessen machtpolitischen, dynastischen und strate­gischen Erwägungen zu weichen hatten.101 Die Idee einer Invasion in (Süd-)Frankreich wurde zwar gerade von Marlborough immer wieder aufgegriffen, aber spätestens nach dem erfolglosen Versuch der Alliierten, im Jahr 1707 Toulon einzunehmen, hatte sich diese strate­gische Op­tion erledigt – wenn hier auch die franzö­sische Flotte fast vollständig zerstört wurde.102 Ein anderer politischer Brandherd war Ungarn: Die Führer der Rákoczi-­Revolte, einer 1703 beginnenden Ständerebellion, hofften auf Unterstützung durch die protestantischen Mächte gegen die Habsburger.103 In den Niederlanden und England wurde d ­ ieses Problem durchaus kontrovers diskutiert: Die Frage war dabei immer, ob man aus religiösen Gründen gezwungen sei, die ungarischen Aufständischen zu unterstützen, oder ob dies nicht in erster Linie der Allianz mit dem ­Kaiser schade.104 Die Habsburger selbst bestritten jeg­liche Verbindung z­ wischen ungarischem Aufstand und Erbfolgekrieg, versuchten aber gleichzeitig, die Seemächte als Vermittler einzuschalten – auch weil sie eine Einmischung des Osmanischen Reichs befürchteten: Die Rebellion greife „die inner­lichen viscera der Erbländer an, dauere sie lange, würden die Türken Lust bekommen, sich darein zu mischen“105. Dieser Konflikt, der langfristig die Autonomie Ungarns stärken sollte,106 hatte 99 Vgl. Boles, Huguenots. 100 Vgl. Jones, Antoine de Guiscard, 94. Zu anderen wichtigen Akteuren siehe auch: Glozier, Schomberg; Shears, Miremont. 101 Vgl. Boles, Huguenots, 143. 102 Vgl. die provokative Darstellung bei: Paoletti, Prince Eugene. 103 Vgl. Frey/Frey, Insurgency. 104 Vgl. Köpeczi, Hungarian Wars, 39. 105 Wratislaw an Gallas, 27. 12. 1704, in: Die Diplomatische Correspondenz des Grafen Johann Wenzel Gallas, 300. Siehe auch: Höbelt, Impact. 106 Vgl. Frey/Frey, Insurgency, 42 – 45.

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­ ittelfristig vor allem den Effekt, bei den Seemächten den Eindruck kaiser­licher m Eigenmächtigkeit zu verstärken. Denn Joseph I. ging nicht auf Vermittlungsvorschläge in der ungarischen Angelegenheit ein, was aus eng­lischer und niederländischer Sicht die Allianz stabilisiert hätte. Daher zog sich England 1708 fast völlig aus dem Ungarnproblem zurück.107 Aufseiten der Seemächte verdichtete sich der Eindruck, dass der K ­ aiser politisch unklug handele; dazu kam der bereits erwähnte Eindruck, dass die kaiser­liche Seite nach dem Erreichen einiger Kriegsziele in Italien in ihrem antifranzö­sischen Engagement nachließ und die Kriegslast den Seemächten überließ.108 Am Ende des Krieges brach sich in England neben der Unzufriedenheit mit der habsbur­gischen Kriegführung zudem die anti-­niederländische Grundstimmung wieder Bahn, die einen Vorlauf im 17. Jahrhundert besaß und im Wesent­ lichen auf der Handelskonkurrenz der Seemächte beruhte.109 Sie war durch die Thronübernahme Wilhelms III. nur kurzzeitig abgeschwächt, mittelfristig aber wegen dessen Bevorzugung einer niederländischen Entourage sogar noch stärker geworden.110 Auch wirtschaft­liche Rivalitäten spielten dabei wieder eine Rolle: Die noch stärker als England auf Export angewiesenen Niederlande hatten das Verbot des Handels mit Spanien und Frankreich nur von 1703 bis 1704 durchhalten können. Dadurch sah England sich im Nachteil.111 Insofern ist die halbwegs reibungslose Zusammenarbeit der Allianz, vor allem Englands und der Niederlande, während des Erbfolgekrieges eher untypisch.112 Vor allem die eng­lische Forschung hat die eher vorsichtige, defensive Grundausrichtung der Niederlande immer wieder kritisiert, obgleich sie ja angesichts der Erfahrungen der vorhergehenden Jahrzehnte durchaus nachvollziehbar ist.113 Die Republik besaß überdies kompliziertere politische Verfahren als England.114 Ein Punkt, der die eng­lische Öffent­lichkeit und auch Marlborough besonders ärgerte, war die Regelung, dass dem Haupt der Allianztruppen in Flandern – eben dem 107 Vgl. Hattendorf, Rákóczi Insurrec­tion, 95 – 98. 108 Vgl. Symcox, Britain, 166 f. 1 09 Zu England und den Niederlanden im 17. Jahrhundert siehe: Jardine, Going Dutch; Speck, Britain and the Dutch Republic. 110 Vgl. Israel, General Introduc­tion, 42 f.; vgl. zum ideengeschicht­lichen Kontext auch: Ihalainen, Protestant Na­tions, 20 f. 111 Vgl. Auer, Wirtschaft­liche Aspekte, 150 f.; Schnakenbourg, L’indispensable ennemi. Siehe dazu auch Kapitel 3.2.3. 112 Vgl. Coombs, Conduct, u. a. 2; Onnekink, Anglo-­D utch Diplomatic Coopera­tion; ­Hattendorf, To Aid and Assist. 113 Vgl. Jones, Marlborough, 59 u. 63. 114 Vgl. Stork-­Penning, Ordeal, 109.

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Herzog von Marlborough – von niederländischer Seite drei bis fünf Felddeputierte (theoretisch: bis zu acht) an die Seite gestellt wurden, die bei allen entscheidenden Fragen Rücksprache mit der Regierung im Haag halten sollten. Diese Regelung verkomplizierte militärische Entscheidungsprozesse in hohem Maße und wurde von Marlborough charakteristischerweise im Frühjahr 1704 – beim Plan, nach Bayern zu marschieren – einfach ignoriert.115 Allerdings changierte ­Marlboroughs Einschätzung der niederländischen Verbündeten stark: Neben der Kritik am unflexiblen System der Felddeputierten 116 und der bis zur Unbeweg­ lichkeit komplizierten politischen Entscheidungsfindung der Generalstaaten 117 stand die Hochschätzung der alliierten Zusammenarbeit: „thay lett mee command and doe more then if I were there own generall“.118 Zudem war Marlborough die prekäre und doch zentrale Rolle der Niederlande innerhalb der Allianz bewusst: „when thay are ruined wee are undone“.119 Die antiniederländische Stimmung kulminierte gegen Ende des Krieges in Jonathan Swifts Pamphlet „The Conduct of the Allies“. Sie war einer der Faktoren, die schließ­lich zu separaten Friedensverhandlungen z­ wischen Frankreich und England führten, die den Krieg beenden sollten.120 Während des Krieges war immer wieder, auf verschiedensten geheimen und öffent­lichen Wegen, über Frieden verhandelt worden – mindestens ­zwischen Frankreich und den Seemächten.121 Die geheimen Friedensverhandlungen führten zeitweise zu hektischen, den beteiligten Öffent­lichkeiten gerüchtehalber bekannten Initiativen und Präliminarverhandlungen.122 Wichtig an diesen Verhandlungen ist, dass sie selten die Kanäle der offiziellen Diplomatie nahmen, sondern dass eher informelle Vermittler genutzt wurden, wie etwa der kriegsgefangene franzö­sische Marquis d’Alègre oder der holstein-­gottorpsche Gesandte im Haag Hermann 115 Vgl. Wijn, Le duc de Marlborough; Coombs, Augmenta­tion. Als neueren Überblick siehe: Stapleton, ‚By thes difficultys‘. 116 Vgl. Marlborough an Godolphin, 16./27. Juli 1705, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 462. 117 „[T]he truth is that everything here is in that distrac­tion, that there is no government“: Marlborough an Godolphin, 14./25. Dezember 1705, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 514. 118 Marlborough an Sarah, 9./20. April 1703, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 166. 119 Marlborough an Godolphin, 30. September/11. Oktober 1703, in: The Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 1, 250. 120 Vgl. Swift, Conduct of the Allies; siehe auch: Hattendorf, England, 227. 121 Vgl. allgemein: Stork-­Penning, Het Grote Werk. 122 Vgl. den Überblick von: Schmidt-­Rösler, Prälimarfriedensverträge.

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Petkum, der sich von allen Seiten bezahlen ließ.123 Bereits ab 1705 wurden von franzö­sischer Seite immer wieder Friedensinitiativen unternommen, die aber daran scheiterten, dass Frankreich je nach militärischer Tageslage und je nach Befehlshaber einen Schlingerkurs fuhr.124 Wohl nicht ganz zu Unrecht wurden die franzö­sischen Initiativen gegenüber den Niederlanden und auch gegenüber England immer wieder der Unaufrichtigkeit verdächtigt. Im alliierten Lager kursierte die Auffassung, dass die franzö­sischen Friedensinitiativen primär dazu dienen sollten, die Alliierten auseinanderzudividieren.125 Immer wieder, vor allem im Jahr 1708, wurde auch versucht, den Herzog von Marlborough (vor allem durch die Kontaktherstellung seines Neffen, des franzö­sischen Generals Berwick) durch Bestechungsangebote friedenswillig zu stimmen. Doch auch aus diesen Initiativen wurde letzt­lich nichts.126 Warum diese Vorstöße nicht erfolgreich waren, ist in der Forschung umstritten: Zum Teil glaubte man wohl nicht an die Friedensabsichten Ludwigs XIV . Ein separater Friedensschluss der Niederlande oder Englands mit Frankreich, der immer wieder als Bedrohungsszenario beschworen wurde, wurde mindestens von Marlborough und seinem engsten niederländischen Verbündeten H ­ einsius lange Zeit kategorisch ausgeschlossen. Ludwig XIV . weigerte sich lange, die eng­ lische Königin Anne offiziell anzuerkennen. Die Alliierten glaubten, Frankreich noch entscheidender schwächen zu können und verpassten damit den Zeitpunkt eines für sie noch vorteilhafteren Friedensschlusses. Zweimal, im Haag 1709 und in Gertruydenberg 1710, kam es zu Friedenskonferenzen, die aber ebenfalls scheiterten.127 Mit dem Sieg der kriegsmüden Tories bei der Unterhauswahl 1710 und dem Tod von K ­ aiser Joseph 1711 verschob sich aber die gesamte euro­päische Situa­ tion: Während vorher die Niederlande der wahrschein­lichere Kandidat für einen Bruch der Allianz gewesen waren, strebte jetzt England einen Separatfrieden mit Frankreich an.128 Der habsbur­gische Anwärter auf den spanischen Thron, Karl III ., wurde als Karl VI . ­Kaiser. Zu Beginn des Krieges hatte das Schreckensbild einer franzö­sisch-­spanischen Universalmonarchie die Haltung der Großen 123 Vgl. Petkums Korrespondenz in: HMC Buckinghamshire, 317 – 366. 24 Vgl. zur komplizierten, nicht eindimensionalen Strategieplanung der franzö­sischen 1 Regierung und Armee: Dhondt, Op Zoek naar Glorie, 423. 125 Vgl. v. a. Thomson, Louis XIV and the Grand Alliance. 126 Vgl. Legrelle, Une négocia­tion inconnue; Compton, Marlborough’s Secret Negotia­tions. 127 Vgl. Thomson, Louis XIV and the Grand Alliance; Rule, France; Reese, Ringen um ­Frieden; Stork-­Penning, Ordeal; Bély, Les larmes. 128 Vgl. MacLachlan, Road to Peace, 200.

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Allianz befeuert – nun tat sich ein aus dem 16. Jahrhundert bekanntes Szenario einer habsbur­gischen Umklammerung Frankreichs auf.129 Swift kommentierte: „To have a Prince of the Austrian Family on the Throne of Spain, is undoubtedly more desirable than one of the House of Bourbon; but to have the Empire and Spanish ­Monarchy united in the same Person, is a dreadful Considera­tion.“130

England, so Swift, habe einen zu langen, zu teuren und insgesamt falschen Krieg gekämpft. Es hätte sich auf den See- statt auf den Landkrieg konzentrieren sollen (ein typisches Argument der Tories), und es habe sich vor allem von den niederländischen Verbündeten zu viel bieten lassen.131 Diese Einschätzung der neuen Regierung, als deren Sprachrohr Swift agierte, sollte die Öffent­lichkeit auf einen Separatfrieden vorbereiten. Denn hinter dem Rücken der Alliierten führten England und Frankreich geheime Verhandlungen, die am 8. Oktober 1711 zur Unterzeichnung von Friedenspräliminarien führten.132 Nur wenig s­ päter veröffent­lichte die whignahe Zeitung Daily Courant die geheime Absprache. Dieser Geheimnisverrat deckte für die eng­lische und interna­tionale Öffent­ lichkeit einen viel größeren politischen Verrat auf: den Verrat Englands an der Allianz. Dieser war angesichts der verfahrenen Situa­tion mög­licherweise unvermeid­lich.133 Angesichts der innenpolitischen Umschwünge und auch der zunehmenden Abwendung der österreichischen Habsburger von einem Krieg, der doch eigent­lich „ihr“ Krieg war, wird dieser separate Friedensschluss verständ­ licher.134 Und doch rief er vor allem bei der niederländischen Regierung Fassungslosigkeit hervor.135 Beendet wurde der Krieg schließ­lich mit den Friedensschlüssen von Utrecht, Rastatt und Baden.136 Dem großen Kongress, der 1712 und 1713 in Utrecht stattfand, kam angesichts der vorhergegangenen bilateralen Verhandlungen ­zwischen Frankreich und England keine echte Verhandlungsfunk­tion mehr zu; seine Funk­tion lag darin, „gewissermaßen die direkten Verhandlungen zu 129 Vgl. Schilling, Höfe und Allianzen, 264; Vierhaus, Deutschland, 167; konzise zum Zusammenhang: Aretin, Reichssystem. 130 Swift, Conduct of the Allies, 75. 131 Vgl. Swift, Conduct of the Allies, 20 f. 132 Vgl. Jarnut-­Derbolav, Österreichische Gesandtschaft, 458 – 518. 133 Vgl. Black, Natural and Necessary Enemies, 3. 134 Vgl. Hattendorf, Rákóczi Insurrec­tion, 100. 135 Vgl. Veenendaal, Who is in Charge, 15. Vgl. auch: Stork-­Penning, J. G., Het gedrag. 136 Vgl. Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, 41 – 89.

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maskieren“137. Die Utrechter Ergebnisse liefen auf einen Kompromiss hinaus: Das spanische Weltreich wurde geteilt. Philipp V. erhielt Spanien und die überseeischen Besitzungen, den Habsburgern wurden die spanischen Nebenländer in den Niederlanden und Italien zugesprochen. Die Niederlande sicherten sich eine Barriere, Großbritannien erhielt die ökonomisch wichtigen Stützpunkte Gibraltar und Menorca, wichtige ökonomische Rechte in Nordamerika sowie das Asiento-­Monopol und war damit – gemessen an der Ausgangssitua­tion – der eigent­liche große Gewinner des Konflikts. Trotz dieser eindeutigen Posi­ tionsgewinne Englands genoss der Friede, der mit einem Verrat an den Alliierten erkauft schien, letzt­lich zu spät kam und als Tory-­Friede galt, nach der Übernahme des Throns durch die Hannoveraner keine gute Presse.138 Über die konkreten Vereinbarungen hinaus gilt Utrecht als ein Wendepunkt in der zwischenstaat­lichen Geschichte der Frühen Neuzeit: Der Utrechter Frieden postulierte deut­licher noch als der Westfä­lische Frieden ein gleichberechtigtes System von Staaten.139 Er steht genauso für den Aufstieg Englands wie für den Verlust der niederländischen Großmachtstellung, die sich während des Krieges schon sehr deut­lich angekündigt hatte.140 Darüber hinaus ist er bedeutsam für ein programmatisches Denken in der Kategorie des Mächtegleichgewichts oder der Balance of Power, aber auch für euro­päische Friedenspläne, die vom Utrechter Kongress aus ihren Ausgang in die Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts nahmen.141 Der Rastatter Friedenskongress war kein Friedenskongress, sondern eine bilaterale Verhandlung ­zwischen dem Reich und Frankreich, die im Wesent­lichen ­zwischen Prinz Eugen und Marschall Villars geführt wurde.142 Diese Verhandlung wurde nötig, weil ­Kaiser und Reich in den Utrechter Friedensvereinbarungen eine Bevorteilung Frankreichs sahen. In Rastatt wurde ­zwischen Frankreich und Österreich festgelegt, dass die Spanischen Niederlande, Neapel, Mailand

137 Braubach, Friedensverhandlungen, 295. Duchhardt, Staatenkonkurrenz, 8, spricht von einer „Farce“. Vgl. zum Utrechter Kongress auch Bély, Espions; ders., Méthodes; den besten jüngeren Überblick von: Onnekink, Treaty; aus der älteren Literatur siehe: Weber, Friede von Utrecht. 138 Vgl. MacLachlan, Road to Peace, 198; Bély, Les trois paradoxes, 138. 139 Vgl. zum großen Zusammenhang: Duchhardt, Friedenskongresse; Mancke, Utrecht; Roelofsen, Nimwegen; Scheuner, Friedensschlüsse. 140 Vgl. Onnekink, Een generale, goede en duyrsame vreede. 141 Vgl. Sheehan, Balance of Power, 106 f.; Dickmann, Krieg und Frieden, 132; Janssen, Friede, v. a.  566 – 570. 142 Vgl. Braubach, Friedensverhandlungen, 295.

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und Sardinien an die Habsburger fallen sowie die Kurfürsten von Bayern und Köln in ihre alten Rechte wieder eingesetzt werden sollten.143 Im schweizerischen Baden schließ­lich trat das Reich dem Friedensschluss bei – ohne dass der Badener Frieden wesent­lich mehr gewesen wäre als eine Übersetzung des Rastatter Friedens ins Lateinische.144 Die Assozia­­tionen der Reichskreise, die zu Beginn des Krieges kurzzeitig eine für die Reichsgeschichte außergewöhn­lich eigenständige Rolle gespielt hatten, waren auf den Kongressen als eigene Parteien nicht mehr vertreten.145 Das Reich als eigenständiger Faktor der euro­päischen Politik begann langsam hinter die Großmachtinteressen Österreichs zurückzutreten. Der Spanische Erbfolgekrieg, so Heinz Duchhardt, habe sich in einer „staatengeschicht­lichen Umbruchsphase“ abgespielt.146 Dies ist sicher richtig – wenn auch Duchhardts Argument, dass diese Phase vor allem dadurch gekennzeichnet sei, dass der kaiser­liche Führungsanspruch innerhalb der euro­päischen Fürstengesellschaft nicht mehr anerkannt wurde, nur auf ein einziges Problem abhebt: Genereller ist (so auch Duchhardt in anderem Kontext) festzustellen, dass machtpolitische Aspekte um 1700 zunehmend an Bedeutung gewannen und die alteuro­päische, an Rechts- und Zeremoniellnormen gebundene Fürstengesellschaft überformten.147 In der zeitgenös­sischen Perspektive etwa des Zedler waren es aber tatsäch­lich die beiden ‚größten‘ Mächte Europas, die hier Krieg führten – eben der ­Kaiser und Frankreich und nicht England und die Niederlande!148 Der militärhistorischen, mächte- und systemgeschicht­lichen Perspektive werden in jüngster Zeit komplementäre Interpreta­tionen an die Seite gestellt, und zwar ökonomie- wie religionshistorische. So betonen jüngere Beiträge, wie partiell schon die ältere Forschung, die ökonomische Bedeutung des Krieges wieder stärker und rücken ihn in eine auch kolonial-, wenn nicht globalgeschicht­liche Perspektive.149 Sicher war der Zugang zum Asiento und zu den Ressourcen des spanischen Weltreichs ein zentrales Motiv für die euro­päischen Mächte, für die Seemächte und Frankreich allerdings mehr als für die Habsburger, und damit 143 Vgl. zum Kontext: Klueting, Friedensschlüsse. 144 Vgl. Burkhardt, Sprachen des Friedens; ders., Vollendung, 310. 145 Vgl. Aretin, Kreisassozia­­tionen; siehe auch: Wunder, Diversion. 146 Vgl. Duchhardt, Staatenkonkurrenz, 3. Siehe zum Kontext auch: Duchhardt, Imperium und Regna. 147 Vgl. Duchhardt, Westfä­lischer Friede, 540. 148 Siehe Art. „Spanischer Succeßions-­Krieg“, 1175 f. 149 Vgl. den Tagungsbericht: Pohlig/Schaich, War of the Spanish Succession; siehe auch: Auer, Wirtschaft­liche Aspekte; Black, Natural and Necessary Enemies, 2; aus der älteren Literatur siehe instruktiv: Clark, War Trade.

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ein wichtiger Kriegsgrund.150 Auch ist der Erbfolgekrieg mindestens hinsicht­ lich einiger seiner Konfliktkonstella­tionen als Religionskrieg gedeutet worden.151 Wenn auch ein zeitgenös­sischer, und natür­lich partei­licher, Beobachter wie Defoe resolut statuierte: „This is not a war of religion“152, zeigt dies doch, wie naheliegend ein solches Deutungsmuster gewesen sein muss. Auch der Staatssekretär Harley wehrte sich gegen Versuche, den Krieg primär entlang der Konfessionsdifferenz zu deuten: „the Court of Rome & France labor all they can to propagate the no­tion of a Religious Warr, & I am sorry they have had so many pretences to Colour the Storys they give out for promoting that designe.“153 Wenn also der Religionskrieg ein propagandistisch nütz­liches Deutungsmuster war, das einige der Kriegsparteien nutzten, während andere es ablehnten, so stellte doch gleichzeitig für mindestens einige der Kriegsparteien die Religionsfrage tatsäch­lich eine der vitalen Konfliktlagen dar, die aber mit anderen, eher machtpolitischen Fragen untrennbar verbunden war.154 So waren ja zum Beispiel die nichtregulären Krieg führenden Parteien der Hugenotten wie Jakobiten (auch) religiös motivierte Akteure. Auch Englands Interesse an einer protestantischen Sukzession zielt in diese Richtung. Für Marlborough jedenfalls war die protestantische Sukzession zentral; er bezeichnete sie als „the true intirest of England“155. Zwar führt es nicht weiter, ein Primat des Politischen gegen ein Primat des Ökonomischen oder des Religiösen auszutauschen und die politische gegen eine eher ökonomische oder religiöse Interpreta­tion auszuspielen. Aber der Verweis auf die ökonomische wie die religiöse Dimension vermag doch deut­lich zu machen, dass eine rein machtstaatsorientierte Deutung für die Zeit um 1700 eine begrenzte Reichweite besitzt. Für die Frage nach der Informa­tionsgewinnung Marlboroughs und der eng­ lischen Regierung ist vor allem die Vielzahl von Motiven und offiziellen wie 150 Das berühmteste Quellenzitat in ­diesem Kontext stammt von Ludwig XIV., der – natür­lich situativ – die Aussage traf: „le principal objet de la guerre présente est celui du commerce des Indes et des richesses qu’elles produisent […]“: Ludwig XIV. an seinen Botschafter Amelot in Madrid, 18. Februar 1709, in: Correspondance de Louis XIV, 121. 151 Vgl. González Cruz, Une guerre de religion; Riess, Kreuzzugsideologie; vgl. generell auch: Thompson, After Westphalia; Burkhardt, Konfession. 152 Warner, Unpublished Political Paper, 141. Diesem Text von 1704 steht ein früherer entgegen, in dem Defoe den Krieg dezidiert als Religionskrieg konzipiert: Defoe, The Danger of the Protestant Religion. 153 Harley an Marlborough, 19./30. August 1707, in: BL Add. 61125, 33r. 154 Vgl. zu dieser Konstella­tion im Überblick: Thompson, Britain; Gregg, Protestant Succession. 155 Marlborough an Sarah, 10. Dezember 1703, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 259.

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inoffiziellen Kriegsparteien bedeutsam, weil sie das Spektrum dessen enorm ausweiteten, worauf der Herzog seine Aufmerksamkeit zu richten hatte und mit wem er für seine Informa­tionsgewinnung kooperieren konnte. Zudem sind die fließenden Übergänge ­zwischen Friedens- und Kriegszustand bemerkenswert; für die Informa­tionsgewinnung bedeutet dies, dass sie im Krieg zwar unter erschwerten Bedingungen stattfinden musste, sich in d ­ iesem Bereich der Krieg aber nur graduell vom Frieden unterschieden haben dürfte. 2.1.3 John Churchill, Duke of Marlborough: Eine biographische Skizze

John Churchill wurde 1650 geboren.156 Er entstammte einer Gentry-­Familie, die im Bürgerkrieg auf der royalistischen Seite gestanden hatte. Sein Vater brachte ihn als Pagen am Hof Karls II. unter. Seine primäre Rolle war also die eines Höflings.157 Aus dieser Sozia­lisa­tion erklärt sich manches an Churchills Charakter – etwa seine immer wieder gerühmte ‚Höf­lichkeit‘158, aber auch die Fähigkeit zu diplomatischem Doppelspiel und Dissimula­tion. Der niederländische Felddeputierte Sicco van Goslinga, der während des Erbfolgekrieges mehrere Kampagnen mit Marlborough zusammen verbrachte, charakterisierte ihn so: „Le Duc est d’une dissimula­tion profonde, d’autant plus dangereuse, qu’il la couvre par des manieres et des expressions, qui paroissent exprimer la franchise meme.“159 Ab den 1670er Jahren wurde Churchill zum engen Vertrauten des Herzogs von York, des späteren eng­lischen Königs Jakob II . Er forcierte nicht nur seinen höfischen Aufstieg, sondern auch – unter anderem unter Turenne – seine militärische Karriere. 1688 war er der wichtigste der Offiziere, die sich gegen Jakob II. wandten;160 deshalb wurde er von Wilhelm III. mit der Reorganisa­tion der ­eng­lischen Armee betraut und 1689 zum Earl of Marlborough erhoben. Aus

156 Die folgende Skizze orientiert sich an: Jones, Marlborough; Hattendorf, Churchill; H ­ olmes, Marlborough; Showalter, Churchill; Schweizer, Churchill, John. 157 Vgl. Jones, Marlborough, 7 – 11. 158 Vgl. z. B. Evelyn, Diary, Bd. 5, 584. 159 Goslinga, Mémoires, 43. Zum Problemumkreis siehe auch: Asch, Höfling. 1 60 Vgl. Jones, Marlborough, 30. Die umstrittene These, dass Churchill als Anführer der desertierenden Offiziere im Zentrum der Glorious Revolu­tion stand, die aber eigent­lich ein „protestant putsch“ sei, wird vertreten von: Saunders Webb, Lord Churchill’s Coup; sehr kritisch dazu: Sommerville, Lord Churchill, v. a. 392: „Churchill’s deser­tion of James II helped to ensure the success of the Revolu­tion; but there is little reason to suppose that the Revolu­tion was Lord Churchill’s coup.“

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dieser Zeit stammen auch Teile seines militärischen Patronagenetzes.161 Doch wohl als „insurance policy“ im Falle einer jakobitischen Restaura­tion blieb er vor allem in den 1690er Jahren, seltener auch während des Spanischen Erbfolgekrieges, mit dem Hof in St. Germain in einem zweideutigen Kontakt – auch dies ein Beispiel für Dissimula­tion.162 Der höfische Karrierist und Verräter des Königs erscheint manchen Beurteilern als „deeply unattractive character“163, andere Autoren beurteilen ihn günstiger, räumen aber ein, dass er – trotz einer unüberschaubaren Menge an Dokumenten – ein „enigma“ bleibe.164 Marlboroughs Verhältnis zu Wilhelm III. war gespannt, gestaltete sich aber zunehmend respektvoll. Näher stand er der potentiellen Thronfolgerin Anne, die dem König ebenfalls kritisch gegenüberstand. Marlborough bildete zusammen mit seiner Frau Sarah, dem gemeinsamen Freund Sidney Godolphin und Anne einen sich bewusst als unpolitisch und ‚privat‘ verstehenden Freundeskreis, der sich ab spätestens 1691 ‚bürger­liche‘ Tarnnamen gab und so auf der Ebene der privaten Korrespondenz eine Ranggleichheit herstellte, die im höfischen Verkehr nicht mög­lich war.165 Nach einigen Querelen kam es ab 1695 zu einer konstanten Wiederannäherung auch an Wilhelm III., weil dieser in Churchill zunehmend seinen militärischen Nachfolger sah, der seine euro­päische Politik fortführen würde, statt England in den Isola­tionismus zu führen.166 Marlborough wurde 1701, noch zu Lebzeiten Wilhelms III., eng­lischer Unterhändler beim Abschluss der Großen Allianz.167 Ab 1702, bereits unter Anne, wurde er zum Captain-­General, also zum militärischen Oberbefehlshaber nicht nur der eng­lischen, sondern aller Allianztruppen erklärt. Als Oberbefehlshaber war er zu dieser Zeit noch relativ unerfahren (seine Ernennung beruhte eher auf seiner Nähe zur Königin), konnte sich aber innerhalb weniger Jahre großen Respekt erwerben.168 Dennoch: Der Posten des Oberbefehlshabers, die Verleihung des Hosenbandordens, einige finanzielle Vergünstigungen sowie schließ­lich, ebenfalls 1702, 161 Vgl. Jones, Marlborough, 40 f. 162 Vgl. ebd., 47 – 50; siehe auch Ashley, Marlborough, 101 – 107, sowie Holmes, Marlborough, 185. 163 Hoppit, Land of Liberty, 114. 164 Snyder, Introduc­tion, XXIII. 165 Vgl. Gregg, Queen Anne, 81. 166 Vgl. Jones, Marlborough, 53. 167 Siehe die diplomatischen Instruk­tionen Wilhelms III. an Marlborough für die Verhandlungen 1701 vom 26. Juni 1701, ediert in: Churchill, Marlborough, Bd. 1, 1000 – 1003. 168 Vgl. Jones, Marlborough, 55 – 62. Zu Marlboroughs Unerfahrenheit siehe auch: Stapleton, ‚By thes difficultys‘, 148 – 152.

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die Erhebung zur Herzogswürde 169 lösten am Hof und anderenorts durchaus Neid und Erstaunen aus. John Evelyn notierte in sein Tagebuch, dies sei eine fast zu außerordent­liche Karriere eines Mannes, dessen Vater „but a cleark of the Green-­Cloth“ war und der durch die Patronage Jakobs II. aufgestiegen war: „Thus ­suddainly rising was taken notice of & displeased those who had him till now in greate esteeme.“170 Seine nach dem Marsch an die Donau erfolgte Belehnung mit dem kleinen Fürstentum Mindelheim durch den K ­ aiser, die Marlborough aktiv betrieben hatte, trug nicht dazu bei, die Antipathien gegen ihn zu zerstreuen, war doch die Konsequenz dieser Belehnung ein Rang „closest to royal status that a person of non-­royal birth could normally get in the stable, hierarchic society of seventeenth- and early eighteenth century western Europe.“171 Während die späteren eng­lischen Historiker über Mindelheim und das Reich eher spöttelten, sahen die Zeitgenossen in der Belehnung eine große Ehre und auch einen politischen Gewinn. Der eng­lische Gesandte am Reichstag schrieb dem Herzog: „It will be no small advantage to the whole Na­tion, to have the right of appearing by your Highness in the Diette of Ratisbonne, and having a share in the delibera­ tions and affairs of the Empire.“172 Marlborough war als Feldherr an den meisten wichtigen Schlachten des Krieges beteiligt: Dies waren Höchstädt 1704, Ramillies 1706, Oudenaarde 1708 und Malplaquet 1709; daneben steht als militärische Großtat die Belagerung von Lille 1709.173 Mindestens genauso wichtig für die Planungen Marlboroughs waren die logistischen Bemühungen, das Heer zu unterhalten, zu organisieren und zu ernähren.174 Dies galt vor allem während des halben Jahres von Frühling bis Herbst, in dem überhaupt Krieg geführt wurde. Marlborough scheint in dieser Hinsicht für seine Zeit relativ außergewöhn­lich agiert zu haben und sich in besonderer Weise für logistische Probleme interessiert zu haben.175 169 Vgl. Hattendorf, Churchill, 618 f. 170 Evelyn, Diary, Bd. 5, 525. 171 Barber, Marlborough as Imperial Prince, 46 f.; vgl. auch: Cox, Property Law, sowie als Überblick über die frühneuzeit­lichen Fürstungen, die auch eine Reihe nichtdeutscher Adliger umfassen: Klein, Erhebungen; Schlip, Die Neuen Fürsten. 172 Whitworth an Marlborough 15./26. Dezember 1705, in: BL Add. 61149, 46r. 173 Siehe anregend zu Lille: Aretin, Feldherrnruhm. 174 Vgl. Perjés, Army Provisioning; van Nimwegen, Subsistentie. 175 Vgl. Phelan, Marlborough; siehe auch: Scouller, Marlborough’s Administra­tion; ders., Armies of Queen Anne, Oxford 1966; Chandler, Marlborough. – Auffällig ist in jedem Fall die hohe Meinung, die seine Soldaten von ihm hatten. Marlborough wurde als „Old Corporal“ oder auch „Corporal John“ bezeichnet. Vgl. Pearse, Marlborough’s Men, 72; Fortescue, A Junior Officer, 93.

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Neben seiner militärischen Tätigkeit, die ihn in den Jahren 1702 bis 1711 von Frühling bis Herbst meist in den süd­lichen Niederlanden festhielt, war ­Marlborough als Diplomat tätig. Er war ab 1702 als Ambassadeur im Haag akkreditiert und als Ambassador General der ranghöchste Diplomat. Zusätz­lich zu diesen militärischen und diplomatischen Aufgaben war Marlborough bis zu seiner Entlassung im Dezember 1711 Minister und bis gegen Ende der 1710er Jahre auch Vertrauter der eng­lischen Königin.176 Marlborough war, wenn er sich auch aus innenpolitischen Streitigkeiten herauszuhalten suchte, im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts neben dem Schatzkanzler Sidney Godolphin und Robert Harley (der erst als Speaker des Unterhauses, dann als Staatssekretär tätig war) der entscheidende Akteur der eng­lischen Politik. Seine Frau Sarah war lange Zeit die engste Freundin der Königin.177 Sarah hat zwar im Nachhinein ihren Einfluss auf Anne wohl übertrieben, genoss aber dennoch mindestens in den ersten Jahren des Krieges noch den „status of absolute court favorite“178. Anne galt zeitgenös­sisch zeitweise geradezu als „puppet of the Marlboroughs“179. Als General wie auch als diplomatischer Akteur war Marlborough erfolgreich und hoch angesehen, wenn er auch die Mög­lichkeiten, Frankreich vernichtend zu schlagen, offenbar überschätzte und daher auch – und das wurde zu einem Problem – die richtige Gelegenheit versäumte, sich für den Frieden zu engagieren,180 auch weil er die Schwierigkeiten der Allianz in Spanien notorisch unterschätzte.181 Am Ende des Krieges, als Marlboroughs Stern zu sinken begann und ihm (im Jahr 1711) von der neuen Tory-­Regierung zwar noch der Oberbefehl, nicht mehr aber die diplomatischen Ämter belassen wurden, kamen auch Vorwürfe auf, er würde den Krieg aus finanziellem Eigennutz geradezu verlängern wollen.182 Die Tory-­Publizistik insinuierte zwar zu Recht, es sei viel Geld in Marlboroughs eigene Taschen geflossen: In der Tat ist es offenkundig, dass Marlborough nicht nur durch seine Stellung als Favorit erst Jakobs, s­ päter Annes reich geworden war. Auch vom Krieg hatte er in hohem Maße profitiert: etwa durch den Verkauf von Offiziersstellen, durch Ämterpatronage und 176 Vgl. zum Kontext: Metzdorf, Protestantische Thronfolge. 177 Vgl. Harris, Passion for Government; Schweizer, Churchill, Sarah. In gewissem Sinne erscheinen Marlborough und seine Frau also als höfische Variante des frühneuzeit­lichen Arbeitspaares. Siehe dazu: Wunder, Überlegungen, 22. 178 Vgl. Bucholz, Augustan Court, 159. 179 Gregg, Queen Anne, 154. 180 Vgl. Snyder, Marlborough, 7. 181 Vgl. Hattendorf, England, 150; Ashley, Marlborough, 65 f. 182 Vgl. Bennett, Rezension, 155.

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anderes.183 Klar ist auch, dass Marlboroughs Quartermaster-­General William Cadogan und auch der Paymaster of the Forces Abroad, James Brydges, sich in großem Stil bereicherten – etwa durch Insidergeschäfte auf der Grundlage von frühem Wissen über Truppenbewegungen.184 Marlborough wusste vermut­lich davon, sah aber davon ab, den Verdächtigungen nachzugehen – einfach, weil er auf seine engsten Mitarbeiter angewiesen war.185 Doch die Idee, Marlborough habe aus Eigennutz gegen den Frieden gearbeitet, verkennt aus propagandistischer Perspektive die Komplexität auch seiner Motivlagen. Es ist wohl nicht falsch, Marlboroughs Sturz als Favoritensturz zu deuten.186 Die politische Entfremdung von der tory-­nahen Königin Anne war, zusätz­lich zur Abkühlung ihres Verhältnisses zu Marlboroughs Frau,187 einer der Gründe, warum Marlborough schließ­lich entlassen wurde. Er ging ins Exil und kehrte erst wieder, als sich die hannoversche Thronfolge abzeichnete. 1714 wurde er wieder in das Amt des Oberkommandierenden eingesetzt, aber seine sich verschlechternde Gesundheit machte eine ausgedehntere politisch-­militärische Aktivität unmög­ lich. Marlborough starb 1722. In der offiziellen Propaganda erschien Marlborough als militärischer Heros in der Nachfolge Wilhelms III. Diese Stilisierung blieb der Königin versperrt.188 Doch sie konnte beiden, Marlborough wie Anne, nütz­lich sein; sie konnte unter bestimmten Bedingungen aber auch dysfunk­tional werden.189 In Tory-­Kreisen galt Marlborough nach der erfolgreichen Belagerung von Lille 1709 endgültig als neuer Cromwell, der nach eigener Herrschaft strebte 190 und zuweilen als König John II . verspottet wurde.191 Selbst innerhalb der ihm wohlgesonnenen Regierung nannte man ihn manchmal „grand vizier“192. Sogar sein Freund Godolphin 183 Vgl. Naujokat, England und Preußen, 41. 184 Vgl. Graham, Auditing Leviathan; Davies, Seamy Side; The Letters and Accounts of James Brydges. 185 Vgl. Sundstrom, Sidney Godolphin, 121 f. 186 Vgl. Jones, Marlborough, 224. 187 Vgl. Gregg, Queen Anne. 188 Vgl. Smith, ‚Last of all the Heavenly Birth‘, 146 f. Zu den Versuchen, Anne dennoch als militärische Heldin (im Einklang mit Marlborough zu deuten), siehe: Williams, Poetry, 136 f. 189 Vgl. zu dieser Ambivalenz: Claydon, A European General. 190 Vgl. Trevelyan, England, Bd. 2, 410. 191 Vgl. Snyder, The Duke of Marlborough’s Request, 83. Dass der Cromwell-­Vergleich und die Angst vor Tyrannis auch in der Deutung Wilhelms III. eine Rolle spielten, zeigt Levillain, Cromwell Redivivus; siehe zur Deutung Wilhelms III. auch: Niggemann, Der mediale Umgang; ders., Herrschermemoria. 192 Vgl. Dickinson, Sidney Godolphin, 32.

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äußerte im Kontext der umfäng­lichen Ehrungen nach der Schlacht von Höchstädt Skepsis gegenüber Marlboroughs Überhöhung: „What merit soever a subject may have, I am doubtful that may set him upon too near an equality with one upon the t­ hrone.“193 Marlborough strebte zwar wohl nie danach, sich an die Stelle der Königin zu setzen 194 – das wäre auch absurd gewesen und entspricht eher den Fantasien des 19. Jahrhunderts. Doch in der Tat versuchte er zweimal, für sich und seine Familie eine Stellung zu sichern, die ihn von der Gunst der Krone unabhängiger gemacht hätte: einerseits im Hinblick auf die südniederländische Statthalterschaft, andererseits im Hinblick auf die Captain-­Generalcy, die er sich für seine gesamte Lebenszeit zusprechen lassen wollte. Nach dem Sieg von Ramillies und der Gewinnung des größten Teils der süd­ lichen Niederlande für die Habsburger ernannte Joseph I. (für seinen Bruder) Marlborough im Juni 1706 zum Generalgouverneur. Finanziell wie machtpolitisch wäre das ein äußerst attraktiver Posten gewesen, den Marlborough gerne angenommen hätte – und Königin Anne hätte sogar zugestimmt. Hinter dieser Ernennung steckte aber unter anderem die Strategie der Habsburger, die Niederländer aus den süd­lichen Niederlanden hinauszudrängen; schon deshalb mussten diese die Ernennung Marlboroughs ablehnen, die sich folgerichtig auch in den nächsten Jahren nicht durchsetzen ließ.195 Gegen Ende des Krieges und in einer Phase abnehmender Nähe zur Königin, also in den Jahren 1709/10, bat M ­ arlborough diese mehrfach darum, den Rang eines Captain-­General auf Lebenszeit verliehen zu bekommen.196 Doch hierfür gab es keinen Präzedenzfall, es wäre politisch für Anne nur schwer durchsetzbar gewesen (1704 wäre das vielleicht mög­lich gewesen), und: Anne wollte auch nicht mehr.197 Diesem Bild des abnehmenden Einflusses Marlboroughs, das aufs Ganze gesehen zutrifft, muss aber eine andere Tatsache gegenübergestellt werden: Immer dann, wenn Marlborough in der zweiten Kriegshälfte äußerte, er wolle sich aus der eng­lischen Politik zurückziehen und Anne nur noch als General, aber nicht mehr als Politiker und Diplomat dienen, wurde dies brüsk zurückgewiesen – von Anne selbst oder von seinem Mitstreiter Godolphin.198 193 Zitiert nach: Hattendorf, England, 358, Anm. 4: Godolphin an Harley, September 1704. 194 Siehe aber die böse Insinua­tion bei Swift, Conduct of the Allies, 66. 195 Vgl. Veenendaal, Het Engels-­Nederlands condominium, 36; Jones, Marlborough, 133 – 136; Hattendorf, Churchill, 624. 196 Vgl. Snyder, The Duke of Marlborough’s Request. 197 Vgl. Hattendorf, Churchill, 626 – 628; Foot, The Pen and the Sword, 42. 198 Vgl. The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 1065 f. u. Bd. 3, 1506 – 1509; HMC Marlborough, 42.

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Es ist schon angeklungen, dass selbst für die Phase größten Einflusses die Bedeutung Marlboroughs innerhalb der eng­lischen Regierung unterschied­lich beurteilt worden ist: Ältere, aber auch jüngere Veröffent­lichungen sprechen ihm zuweilen eine quasi-­diktatorische Posi­tion zu – und reproduzieren so Lob des Helden und Kritik des Favoriten aus den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Ranke bringt diese ältere Sichtweise auf den Punkt: „Marlborough war Meister am Hof, im Staat, im Parlament, sowie in der Armee und in den auswärtigen Geschäften […] Ohne mit der Königin zu brechen, wollte er factisch von ihr unabhängig werden.“199 In einer anderen älteren Studie wird das Verhältnis der Königin, ihrer Minister und ­Marlboroughs so dargestellt, als sei eigent­lich Marlborough der Monarch gewesen und die Minister seine Sprachrohre gegenüber der Königin: „they were the channels through which she (i. e. Anne, MP) received the instruc­tions of an absentee sovereign.“200 Diese Einschätzung ist letzt­lich ein Echo von Voltaires einflussreicher Auffassung: „Il gouvernait alors la reine d’angleterre, et par le besoin qu’on avait de lui, et par l’autorité que sa femme avait sur l’esprit de cette reine […] Ainsi maître de sa cour, du parlement, de la guerre et des finances, plus roi que n’avait été Guillaume, aussi politique que lui, et beaucoup plus grand capitaine, il fit plus que les alliés n’osaient espérer.“201

Doch selbst ohne eine ­solche karikaturhafte Überzeichnung ist auch in der jüngeren Forschung die Sonderrolle Marlboroughs innerhalb der eng­lischen Regierung betont worden: „The tremendously powerful political posi­tion held by the duke in the middle years of Anne’s reign has never received the atten­tion it deserves. It was entirely owing to the war. […] Marlborough was virtually prime minister.“202

Mindestens als „the most influential figure in the government“ wird ­Marlborough öfter bezeichnet.203 Erst in der jüngeren Forschung wird deut­licher gesehen, dass 199 Ranke, Eng­lische Geschichte, Bd. 7, 28 u. 33. 200 Oliver, Endless Adventure, Bd. 1, 135. 201 Voltaire, Œuvres complètes, Bd. 15, 492. Siehe auch Voltaires berühmte Charakterisierung Marlboroughs: „Cet homme, qui n’a jamais assiége de ville qu’il n’ait prise, ni donné de bataille qu’il n’ait gagnée, était à Saint-­James un adroit courtisan, dans le parlement un chef de parti, dans les pays étrangers le plus habile négociateur de son siècle“: Voltaire, Œuvres complètes, Bd. 22, 143. 202 Speck, Birth of Britain, 11 u. 36. 203 Dickinson, Sidney Godolphin, 32.

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man Marlborough – wie stark, ist noch zu diskutieren – einordnen muss in „the framework and machinery of English constitu­tional government, with its characteristic forms of court, cabinet, committee, parliament, and governmental bureaucracy, involving both patronage and party politics.“204 Um diese Konstella­tion aber genauer zu verstehen – und dann auch nach ihrer Bedeutung für Marlboroughs Informa­tionsgewinnung zu fragen –, müssen die institu­tionellen Mechanismen und die politischen Kräfteverhältnisse der eng­lischen Regierung während des Spanischen Erbfolgekrieges skizziert werden.

2.2 Englische Innen- und Außenpolitik um 1700: Institutionelle Mechanismen und politische Kräfteverhältnisse Wie war Marlboroughs ‚System‘ der Informa­tionsgewinnung mit der Informa­ tionsgewinnung der eng­lischen Regierung verbunden? War es überhaupt damit verbunden, oder agierte Marlborough eher unabhängig? Um diese Fragen zu beantworten, ist zuerst genereller das institu­tionelle Gefüge der eng­lischen Politik um 1700 zu beschreiben und herauszuarbeiten, ­welche Institu­tionen ­welche Art von Einfluss auf die Formulierung von Innenpolitik und Außenbeziehungen ausübten. Zudem ist es nötig, auch auf die politischen Kräfteverhältnisse einzugehen, die sich innerhalb des durch die institu­tionelle Struktur abgesteckten Rahmens im Zeitraum ­zwischen 1702 und 1711 durchaus verschoben. Beides zu trennen, wäre allerdings ein künst­liches und auch wenig produktives Unternehmen: In einem modernen Staat könnte man mög­licherweise Ämterstrukturen, Administra­tion und ‚Verfassung‘ einerseits, politische Gewichtsverteilungen und persön­liche Handlungsspielräume andererseits trennen. Für eine vormoderne, das heißt ungeschriebene und nur in actu bestehende Verfassung ist dies selbst dann kaum sinnvoll, wenn sich ein partiell bereits relativ hoher Grad an Organisa­tionsförmigkeit der administrativen Institu­tionen etabliert hat. Deshalb soll versucht werden, im Folgenden sowohl die Institu­tionen und ‚Verfassung‘ der eng­lischen Zentralverwaltung um 1700 zu beschreiben als auch deut­lich zu machen, wie außeradminis­ trative Faktoren, aber auch im genuinen Sinne politische (in der Regel: innen- und parteipolitische) Kräfteverhältnisse auf diese Struktur einwirkten.205

204 Hattendorf, Churchill, 617. 205 Vgl. Dickinson, British Constitu­tion. Vgl. zum Gesamtzusammenhang: Stollberg-­Rilinger, Verfassungsgeschichte. Zum Begriff der Verfassung in actu siehe Holenstein, Huldigung, v. a.  512 f.

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Nach einigen allgemeinen Einschätzungen soll die institu­tionelle Posi­tion einiger einzelner Akteure im fragilen eng­lischen Verfassungsgefüge beschrieben werden: die Rolle der Krone und des Hofes, des Kabinetts sowie der Secretaries of State. So wird es auch mög­lich sein, sowohl Marlboroughs Posi­tion als auch die Kanäle des Informa­tionsflusses und der Informa­tionsgewinnung präziser zu analysieren. 2.2.1 Parlament und Regierung nach 1688

Die Glorious Revolu­tion von 1688 hatte – unabhängig davon, ob man sie eher als konservative oder eher als moderne Revolu­tion deutet 206 – eine ganze Reihe von (auch unintendierten und eher mittelfristigen) Effekten, die für die politische Situa­tion um 1700 zentral sind. Nach der Revolu­tion wurde der Finanzstaat ausgebaut. Die Steuerlast und damit auch die administrative Durchdringung wuchsen erheb­lich. Dementsprechend konzentriert sich die Diskussion über Staat und Staatsbildung in England um 1700 in den letzten Jahren auf ­Themen wie das Anwachsen der Zentralverwaltung (vor allem der Steuerverwaltung) und den Ausbau des „fiscal-­military state“.207 Die Armee wurde zur Parlamentsarmee: Durch den enormen Geldbedarf für Kriege und das Budgetbewilligungsrecht des Parlaments wurde das Parlament, vor allem das Unterhaus, dauerhaft aufgewertet.208 In ­diesem Kontext kommt dem langen Spanischen Erbfolgekrieg eine zentrale Rolle zu.209 Charakteristisch ist aber die große Bedeutsamkeit des 206 Die jüngere Forschung neigt wieder dazu, die „Modernität“ der Glorious Revolu­tion zu betonen und sieht in ihr nicht einfach eine eng­lische Palastrevolte oder eine externe Invasion, sondern ein ideolo­gisch hoch aufgeladenes, blutiges Ereignis mit britischer und euro­päischer Dimension und weitreichenden Zukunftswirkungen. Provokativ hierzu: Pincus, 1688; Harris, Revolu­tion. Dagegen stehen Interpreta­tionen, die eher die konservative Natur der Revolu­tion und ihr Bemühen um die Wiederherstellung eines Status quo ante betonen. Siehe: Morrill, Sensible Revolu­tion. Mittelposi­tionen etwa bei: Dickinson, How Revolu­tionary; Kluxen, Glorreiche Revolu­tion. 207 Vgl. Devereaux, Historiography, Part I u. Part II. Zum fiscal-­military state siehe Brewer, Sinews of Power; Brewer, Eighteenth-­Century British State. Zur Kriegsfinanzierung siehe außerdem: Jones, War and Economy; Horwitz, Political Economy. – Eine breitere Perspektive nimmt ein: Braddick, State Forma­tion. 208 Vgl. Black, Parliament, 13 – 15. 209 Vgl. Hellmuth, British State, 20 f.; siehe auch: Reinhard, Staat und Heer, 209 – 211. – In den Publika­tionen Stephen Saunders Webbs wird ein Bild der administrativen Situa­tion Englands in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gezeichnet, dem ich hier nicht folge

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House of Lords, dessen Bedeutung erst nach 1715 schwand. Das House of Lords war politisch einflussreich, aber auch deshalb wichtig, weil die Lords oftmals Patrone der Unterhausmitglieder waren.210 Die Bedeutsamkeit des Parlaments für die Tagespolitik wurde durch den Triennial Act von 1694 gestärkt (während des Spanischen Erbfolgekrieges fanden sechs Wahlen in zehn Jahren statt 211), schließ­ lich wurde 1701 mit dem Act of Settlement die protestantische Thronfolge durch einen Parlamentsbeschluss festgeschrieben.212 Das Parlament war aber weder berechtigt noch fähig, eine eigene Außenpolitik zu formulieren – dies blieb könig­liche Prärogative. De facto verschoben sich allerdings die Gewichte: Die Praxis Wilhelms III., das Parlament nicht über seine außenpolitischen Schritte zu informieren, führte im Februar 1701 zu einem (allerdings schnell versandenden) Impeachment-­Verfahren gegen die vier Whig-­ Lords, die die Verträge zur Teilung der spanischen Monarchie mit ausgehandelt hatten.213 Was an dieser Episode unter anderem deut­lich wird, ist der Umstand, dass bei aller Betonung könig­licher Prärogative um 1700 auch kaum gegen das Parlament Außenpolitik gemacht werden konnte.214 In Annes Regierungszeit wurden außenpolitische Fragen zunehmend parlamentarisch verhandelt: „it quickly became normal for the monarch and his ministers to seek parliamentary approval of treaties they had negotiated, whether or not they had financial implica­tions.“215 Wenn auch die zentrale außenpolitische Schaltstelle das Cabinet war, sind doch anders als in anderen Ländern mindestens die groben Leitlinien der eng­lischen Außenpolitik um 1700 kaum als echtes Arkanum anzusehen – viel zu sehr waren das Parlament und die Öffent­lichkeit in ihre Formulierung einbezogen.216 (und das im Übrigen in der Forschung höchst umstritten ist); angesichts der ‚Unterentwicklung‘ des eng­lischen Staates sei näm­lich der Armee (und der ­Kirche) die weitaus wichtigste politische und administrative Rolle zugekommen. Siehe Saunders Webb, Lord Churchill’s Coup, z. B. 267; kritisch dazu: Sommerville, Lord Churchill. 210 Vgl. Eagles, Geoffrey Holmes; Jones, House of Lords. Vgl. zum Kontext auch: Cannon, British Nobility, v. a. 66 f. 211 Vgl. Speck, Birth of Britain, 1. 212 Vgl. Harris, Revolu­tion, 493. 213 Vgl. Kirby, Four Lords; zum Kontext siehe auch: Gibbs, Revolu­tion. 214 Vgl. McJimsey, Shaping the Revolu­tion; Black, Parliament, 13 – 39. 215 Jupp, The Governing of Britain, 15. Während das Parlament bei den Rijswijker Verhandlungen noch ausgeschlossen war, setzte es im Zuge der Debatten um die umstrittenen Teilungsverträge ein „Recht auf Informierung“ durch: Siehe Naujokat, England und Preußen, 29. 216 Vgl. McJimsey, Shaping the Revolu­tion; Knights, Representa­tion. Zur Presse siehe: Kapitel 3.5.

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In der Forschung wird einhellig betont, dass – wie immer sich die Situa­tion in den kommenden Jahrzehnten veränderte – der Parteienstreit eines der grundlegenden Charakteristika der Regierungszeit Annes war. Es ist meist die Rede vom „first age of party“.217 Gemeint ist damit, dass tradi­tionale Formen politischer Gruppenbildung wie der Gegensatz von court und country oder auch adlige Patronage zwar keineswegs verschwanden, aber doch überlagert wurden durch eine heftige Konfronta­tion zweier Parteien, der Whigs und der Tories. Zwar bildeten die Parteien (die Tories noch weniger als die Whigs) kaum feste Organisa­tionen aus.218 Damit blieben Parteizugehörigkeiten fluide; es ist nicht immer mög­lich, einzelne politische Akteure klar einzuordnen. Nicht als Organisa­tionen also, aber als ideolo­ gische Sammelbecken wurden die Parteien in dieser Zeit die wichtigste Instanz der politischen Auseinandersetzung. Sie waren damit nicht nur ein Ordnungsprinzip der parlamentarischen Politik, sondern strukturierten – weit über Westminster hinaus – Politik und Öffent­lichkeit. Im Rahmen der öffent­lichen Auseinandersetzung orientierten sich die verschiedenen politischen Posi­tionen zunehmend an der Parteiendichotomie. Damit wurden umgekehrt die Parteien selbst (da sie kaum Organisa­tionen darstellten) zu „print communities“: Mark Knights spricht von einer „symbiotic rela­tionship between party and print.“219 Auch Patronage, etwa literarische Patronage, richtete sich relativ eindeutig an Parteigrenzen aus.220 Die ideolo­gischen Unterschiede betrafen zum Beispiel den Umgang mit der Sukzessionsfrage (die die Whigs tendenziell protestantischer, die Tories legitimistischer beantworteten)221 oder die Haltung zum dissent und die Einschätzung der Rolle der Church of England (die Tories galten als „Church Party“, während die Whigs eher für religiöse Toleranz standen).222 Ob zu den klaren inhalt­lichen Unterschieden auch die strate­gische Differenz ­zwischen kontinentaler Kriegführung (Whigs) und Blue-­Water-­Policy (Tories) gehört, wie die ältere Forschung gemeint hat, wird derzeit wieder diskutiert.223 Angesichts einer solchen ­polarisierten

217 Vgl. Jones (Hrsg.), British Politics; siehe auch: Jones (Hrsg.), Britain in the First Age of Party. 2 18 Vgl. Jones, Parliamentary Organisa­tion. Siehe aus der älteren Literatur auch: Johnson, Politics Redefined, 693; Snyder, Party Configura­tions. 219 Knights, Representa­tion, 222 u. 242. 220 Dies betont mit Blick v. a. auf den Kit-­Cat Club: Williams, Patronage; siehe dazu auch: Field, Kit-­Cat Club. 221 Vgl. Holmes, British Politics, 64 u. 83. 222 Hoppit, Land of Liberty, 139 u. 284 f. 223 Vgl. dazu skeptisch: Pettigrew, Na­tion. Swifts „Conduct of the Allies“, ein typisches Tory-­Pamphlet, vertritt diese Meinung jedenfalls emphatisch.

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Situa­tion war es nicht überraschend, dass sich Verschwörungsängste und gegenseitige Schuldzuweisungen an das Parteiensystem anlagerten.224 Der Parteienstreit war also ein Charakteristikum der eng­lischen Politik um 1700, gerade im Vergleich mit den kontinentalen Nachbarn. Er wurde noch dadurch verkompliziert, dass die führenden Politiker meist eine programmatische Vorliebe für Überpartei­lichkeit artikulierten. Trotz der wechselnden Parlamentsmehrheiten im Parlament waren die Regierungen des Zeitraums 1702 – 1711, eben weil die Minister der Königin verpflichtet waren und auch diese stark auf Überpartei­lichkeit setzte, durchweg sowohl mit Tories als auch mit Whigs besetzt – allerdings in wechselnden Akzentuierungen.225 Zudem manifestierte sich die Aufteilung in Regierung und Opposi­tion mitnichten ebenso klar wie die Parteiendifferenzierung (Opposi­tion galt im Grunde nach wie vor als illegitim 226). In der Forschung ist, in Abgrenzung zu älteren Einschätzungen, die Rolle der Parteien und des Parlaments so stark betont worden, dass andere politische Mechanismen und Institu­tionen – Hof oder Patronage etwa, aber auch die Funk­ tionsweise der Zentralverwaltung und des Kabinetts – lange weniger Aufmerksamkeit fanden.227 Bereits nach 1660, verstärkt aber nach 1688 war die eng­lische Zentralverwaltung ausgebaut worden – zuweilen wird sogar von einer „administrative revolu­tion“ gesprochen 228. Plausibler ist aber wohl die Annahme einer sehr langfristigen Entwicklung, die im 17. Jahrhundert auch über die beiden Revolu­ tionen hinweg eine eher prozesshafte Kontinuität aufweist.229 Wichtig ist aber, dass sich im Vergleich nicht nur zu einer modernen Regierung, sondern auch im zeitgenös­sischen Vergleich die eng­lische Zentralverwaltung um 1700 durch „less, infinitely less, administra­tion“ auszeichnete und neben der Treasury kaum große, intern ausdifferenzierte Ämter kannte.230 224 Vgl. Knights, Faults. 225 Vgl. Hoppit, Land of Liberty, 286. Eine gewisse Ausnahme stellt der Zeitraum 1708 – 1710 dar, in dem die Whig-­Junto absolut beherrschend war – aber selbst in dieser Zeit haben in der zweiten Reihe einige einflussreiche Tory-­Anhänger ihre Posi­tion behalten. Siehe Speck, Birth of Britain, 10. 226 Für ein zeit­lich etwas späteres, instruktives Beispiel siehe: Skinner, Principles. Vgl. zur Ausbildung der legitimen Differenz von Regierung und Opposi­tion als Ausdifferenzierung des politischen Systems: Luhmann, Politik der Gesellschaft, 94. 227 Vgl. Cowan, Geoffrey Holmes, v. a. 170. 228 Marshall, Sir Joseph Williamson, 19. 229 Vgl. einführend: Doe/Young, Law and Administra­tion; Aylmer, From Office-­Holding to Civil Service; Braddick, Administrative Performance. 230 Vgl. Plumb, Robert Walpole’s World, 151. Für die viel ausdifferenziertere franzö­sische Bürokratie siehe jetzt: Rule/Trotter, World of Paper.

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Hervorzuheben ist für die Zeit um 1700 das manchmal irritierende Nebeneinander von zum Teil hoch entwickelter Amtsra­tionalität (die es hier plausibel macht, den Organisa­tionsbegriff mindestens als Grenzbegriff zu ­nutzen 231) und anderen Normsystemen, zum Beispiel dem der Patronage.232 Gleichzeitig fällt auf, dass vor und noch stärker nach 1688 neue Ämter geschaffen, aber alte nicht abgeschafft wurden, und dass eher unwichtige administrative Ämter wie das des Secretary at War sich während des Krieges, abhängig von der Besetzung durch bestimmte Personen, politisieren konnten.233 Man kann also kaum von einem stabilen, wachsenden oder ausdifferenzierten Verwaltungsgefüge ausgehen; die „administrative Revolu­tion“ war eher ein kumulativer Wachstumsprozess ohne Reform. Dieses Wachstum steigerte die Mög­lichkeit der Ämterpatronage.234 Patronage­ beziehungen waren ein wichtiges komplementäres Element der Parteipolitik wie der militärischen Karriere. Oft waren es dieselben Patrone – etwa M ­ arlborough –, die im Parlament, im Militär und in der Zentralverwaltung über Protek­tionsmög­ lichkeiten verfügten. Die Königin überließ ihren führenden Ministern wie ­Marlborough, Godolphin oder s­ päter Harley die Rolle der „manager“, die Patro­ nage und Loyalität im Parlament und anderenorts zu organisieren hatten – und dabei programmatisch mög­lichst überpartei­lich (faktisch dagegen oft parteigebunden) agierten.235 Angesichts dieser alteuro­päisch typischen Situa­tion ist es dann umgekehrt eher überraschend, wenn in Zeiten des Umbruchs innerhalb der Regierung kein kompletter Austausch von Personal nach Patronagekriterien vorgenommen wurde, sondern sich für das erste Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts durchaus auch ein Trend zu einer sach­lichen und professionellen Besetzung von Stellen innerhalb der Zentralverwaltung konstatieren lässt.236 231 Vgl. Kapitel 3.1. 232 Vgl. Aylmer, From Office-­Holding to Civil Service; Plumb, Robert Walpole’s World; Brewer, Servants. 233 Vgl. Burton, Secretary at War; Scouller, Secretaries at War; ders., Armies of Queen Anne, 10 – 21; Preston, William Blathwayt. 234 Vgl. Plumb, Growth of Political Stability, 101 u. 126; Dickinson, How Revolu­tionary, 139 f. 235 Vgl. Speck, Birth of Britain, 11; Holmes, British Politics, 189, definiert die Rolle der „managers“ folgendermaßen: „intermediaries between the Crown and the parties: men who served the dual purpose of buffers, protecting the monarch as far as possible from the importunities and encroachments of the partisans, and of brokers, negotiating with the party politicians on the Crown’s behalf whenever the King was forced to reconstruct his administra­tion.“ Zum Phänomen der Patronagebroker siehe auch: Kettering, Historical Development. 236 Vgl. Holmes, Augustan England, v. a. 243.

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Charakteristisch für diesen Zeitraum – und zentral für die Einschätzung der Rolle Marlboroughs – ist die faktische Herausbildung einer Ministerhierarchie. Wenn die Bezeichnung „prime minister“ auch zeitgenös­sisch durchaus suspekt war, sind doch Sidney Godolphin und sein Amtsnachfolger Robert Harley als erste „first ministers“ anzusehen.237 Dass der erste Minister der Lord Treasurer war, bezeugt unmissverständ­lich die enorme Bedeutung der Finanzen für Staatsbildung und Krieg. Der Treasurer war neben den Secretaries of State der einzige Minister, der unmittelbar Zugang zur Königin besaß.238 Insgesamt wurde damit innerhalb von Annes Regierungen der Treasurer die dominante Figur innerhalb der Innenpolitik, die Secretaries of State aber für die Außenbeziehungen.239 Sidney Godolphin, ein alter Freund Marlboroughs und der Königin, wurde im Mai 1702 Treasurer und blieb dies bis 1710. Godolphin, wie Marlborough ein Gegner von Parteipolitik, musste sich dennoch viel stärker als dieser mit innenpolitischen Querelen abgeben. Hiermit und auch mit seinem Finanzmanagement hielt er Marlborough in seiner Rolle als General den Rücken frei.240 Die Forschung hat den unglamourösen Godolphin lange unterschätzt, doch er war Marlboroughs wichtigster Korrespondenzpartner und Freund; zeitgenös­sisch galten die beiden als ‚Duumvirn‘241. Im ­­Zeichen des Tory-­Wahlsiegs, aufgrund innenpolitischer Querelen vor allem um den missliebigen Prediger Sacheverell, wegen der wachsenden Friedenssehnsucht und der Entfremdung von Königin Anne wurde Godolphin 1710 schließ­lich entlassen.242 Ihn ersetzte Robert Harley, der bis 1708 der engste politische Mitstreiter Marlboroughs und Godolphins gewesen war. Godolphin und Marlborough hatten sich bereits ab 1701 der Unterstützung Robert Harleys bedient. Als Speaker des Unterhauses arbeitete er eng mit ihnen zusammen und wurde 1704, eher widerwillig, Secretary of State.243 Marlborough wurde durch die Zusammenarbeit mit Godolphin und Harley von der ungeliebten Pflicht entlastet, sich allzu sehr mit innenpolitischen Problemen befassen zu

237 Vgl. Jupp, The Governing of Britain, 18 f.; Dickinson, Sidney Godolphin, 36; Holmes, British Politics, 240 – 242. Zu ganz anders gelagerten Überlegungen Defoes, das Amt eines Prime Minister aus dem Secretary-­Amt herzuleiten, siehe: Warner, Unpublished Political Paper. 238 Vgl. Snyder, Godolphin and Harley, 254. 239 Vgl. Plumb, Growth of Political Stability, 101. 240 Vgl. biographisch: Sundstrom, Sidney Godolphin. 241 Vgl. Hoppit, Land of Liberty, 288. 242 Vgl. Holmes, Robert Harley; Roberts, Fall of the Godolphin Ministry. 243 Harley blieb noch bis 1705 Speaker; zur zunehmenden Politisierung ­dieses Amtes siehe: Seaward, Speaker.

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müssen. Das Triumvirat Marlborough-­Godolphin-­Harley bildete bis 1708 den engsten Zirkel der Regierung, der sich – wenn Marlborough in London anwesend war – mindestens zweimal wöchent­lich traf.244 Harley versuchte aber 1708, sich an die Stelle des Lord Treasurer Godolphin zu setzen, und wurde deshalb von d ­ iesem und Marlborough aus dem Amt gedrängt.245 Doch 1710 gelang es ihm, die Whig-­dominierte Regierung zu stürzen und – wie Godolphin vor ihm – de facto die Stellung eines ersten Ministers einzunehmen.246 Dies lag wie bei seinem Vorgänger nicht unwesent­lich an persön­licher Nähe zur Königin.247 Marlboroughs Rolle war seit dem Sturz Godolphins 1710 prekär; er beschränkte sich zunehmend auf seine militärische Posi­tion. William Penn, ein regelmäßiger Korrespondent von Marlboroughs Frau Sarah, der den Tory-­Aufschwung mit Skepsis beobachtete, schrieb schon am 3. Mai 1709 an Marlborough: „It is by no means pleasing that the Duke chooses the fields before the Cabinet, since the Enimys are so much abler there than in the fields.“248 Harley wiederum wollte den erfolgreichen General nicht fallen lassen, ihn aber gleichzeitig seine neue politische Überlegenheit deut­lich spüren lassen. Beide hatten also 1710/11 zeitweise ein Interesse an einer wenigstens taktischen Versöhnung nach dem Bruch von 1708.249 Dies änderte sich aber im Jahr 1711 und führte schließ­lich zu Marlboroughs Sturz. 244 Vgl. McInnes, Appointment of Harley; Snyder, Godolphin and Harley, 242 – 248. 245 Vgl. instruktiv: Holmes/Speck, Fall of Harley. 246 Der genaue Ablauf dieser Regierungsumbildung wird untersucht und diskutiert in: Holmes, Robert Harley. 247 Vgl. Roberts, Fall of the Godolphin Ministry; siehe zu Harley: McInnes, Robert Harley; Hill, Robert Harley. 248 BL Add. 61366, 179r. 249 Vgl. Jones, Marlborough, 189 – 193, der aber die Machtposi­tion Harleys wohl übertreibt; siehe die Korrespondenz z­ wischen Harley und dem in Amsterdam tätigen schottischen Kaufmann John Drummond, der sein Vermittlungsmann zu Marlborough war: HMC Portland, Bd. 4, v. a. 618 – 634. Auch Jones benutzt diese Quellen, kommt aber zu einer eher konfrontativen Sicht der Dinge. Zu Drummond, einem typischen informellen diplomatischen Akteur siehe: Hatton, John Drummond. – Im Gespräch wie in Briefwechseln versuchten Harley und Marlborough, den Bruch wenigstens temporär zu überbrücken: vgl. dazu Marlborough an Harley, Oktober 1711, in: BL Add. 61125, 133r sowie die Briefe Marlboroughs an John Drummond, 13. August 1711 u. 10. November 1711, in: HMC Eglinton, 141 u. 144 sowie Watkins an Drummond, 13. November 1711, in: ebd., 144. – Gleichzeitig denunzierte Marlborough Harley gegenüber dem ihm eng verbundenen hannoverschen Hof als Jakobiten: vgl. Robethon an den hannoverschen Kurfürsten, 30. August 1710, in: BL Stowe 241, 90r; Robethon an den hannoverschen Minister Bernstorff, 21. März 1711, in: Klopp, Fall des Hauses Stuart, Bd. 14, 672 – 677.

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2.2.2 Die Krone und der Hof

Die Revolu­tion hatte die Macht der Krone begrenzt, aber dennoch blieb diese immens. Neben der könig­lichen Prärogative – die sich unter anderem eben darin äußerte, dass die Minister, wenigstens formal, der Krone und nicht dem Parlament verantwort­lich waren – zeigte sich die könig­liche Macht auch in ihren finanziellen Mög­lichkeiten: etwa dem Erbbesitz und der vom Parlament bewilligten Civil List. Diese umfasste zum Beispiel Zölle und Steuern; aus ihr wurden sämt­liche Regierungsaufgaben – abgesehen vom Krieg – bezahlt. König­liche und ‚staat­liche‘ Ausgaben und Aufgaben blieben so eng miteinander verbunden.250 Im Act of Settle­ ment von 1701, der die protestantische Sukzession festlegte, wurde in gewissem Sinne die Revolu­tion vollendet. Allerdings blieb die Nachfolgefrage noch bis 1714 strittig, und daher kam der Königin eine zentrale Rolle bei der Austarierung der politischen Richtungsstreitigkeiten zu. Sie konnte, glaubwürdiger als dies ihrem Schwager Wilhelm III. gelungen war, die Transforma­tion hin zur konstitu­tionellen Monarchie verkörpern, weil sie tradi­tionelle und neuere Politikelemente mitein­ ander verband.251 Anne vertrat politiktheoretisch wie zeremoniell eine eigene, tendenziell ambivalente Haltung: Sie äußerte sich mehrfach gegen die Idee des könig­lichen divine right, neigte aber dennoch zu sakralisierenden Selbstinszenierungen und hielt strikt am Konzept der Erbmonarchie fest.252 Anne bediente sich in relativ hohem Maße tradi­tioneller zeremonieller Akte wie der Skrofelnheilung. Dies ist in der Forschung als Indiz für ihre – nur teilweise erfolgreiche – Politik gedeutet worden, den Parteienstreit und die Frak­tionierung ihres Hofes mit einer na­tionalen Einigkeitssymbolik zu überwölben.253 Innerhalb des institu­tionell unfesten eng­lischen Verfassungsgefüges kam der Person des Monarchen also eine zentrale Posi­tion zu – die aber individuell unterschied­ lich ausgefüllt werden konnte. Anne ist tradi­tionell als schwache Königin gedeutet worden, doch seit den Forschungen der letzten Genera­tion wird sie als sehr viel aktiver und eigenständiger eingeschätzt.254 Das alte Bild Annes, das in ihr primär einen Spielball von Politikern und Favoriten sieht, stammt pikanterweise von der

250 Vgl. Jupp, The Governing of Britain, 8. Der Civil List Act von 1698 gestand der Krone 700.000 Pfund jähr­lich zu; alle weiteren Ausgaben mussten eigens vom Parlament abgesegnet werden. Siehe dazu auch: Harris, Revolu­tion, 492. 251 Vgl. Metzdorf, Protestantische Thronfolge, v. a. 109 – 111 u. 117. 252 Vgl. Smith, ‚Last of all the Heavenly Birth‘, 138 f. 253 Vgl. Bucholz, „Nothing but ceremony“. 254 Vgl. zur grundlegenden Umwertung Annes: Gregg, Queen Anne.

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gestürzten Hauptfavoritin: Sarah Churchill, Marlboroughs Frau.255 Tatsäch­lich unterschied sich Annes Regierungsstil von dem ihres Vorgängers durch eine stärkere Koopera­tion mit ihren führenden Ministern. Ob dies, wie die alte Forschung meinte, mit ihrem Geschlecht zusammenhängt, kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls traf Anne sich täg­lich mit ihren Secretaries und ein- bis zweimal die Woche mit dem Kabinett.256 Damit blieb die Königin eine zentrale auch tagespolitische Akteurin. Doch der eng­lische Hof als sozia­ler Raum besaß unter Anne nicht mehr dieselbe Bedeutung wie im 17. Jahrhundert. Heidrun Kugelers Hinweis, dass sich der frühneuzeit­liche Hof gerade um 1700 in hohem Maße als Informa­tionsbörse etablierte,257 ist für diese Untersuchung von besonderem Interesse. Doch ist er wohl gerade für England relativ zurückhaltend zu bewerten: Der Hof trat in der Regierungszeit Königin Annes (und bereits zur Zeit Wilhelms III.), anders als in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten nach der Restaura­tion und auch anders als ­später,258 innerhalb des politischen Systems hinter anderen Instanzen zurück. In einem politischen Kräftefeld, das vor allem von Parteienstreit und öffent­licher Meinung bestimmt war, konnte der Hof daher nicht dieselbe informa­tionsrelevante Bedeutung gewinnen, wie sie zeitgleich etwa der franzö­sische einnahm.259 Dennoch blieb Annes Hof auch weiterhin der Ort, an dem innenpolitische Informa­tionen, aber auch Informa­tionen über die Monarchin und ihre Gemütslagen zu erlangen waren. Für Marlborough war der Hof damit eher Informa­tionsgegenstand als Informa­tionsbörse. Hier war Marlboroughs Frau Sarah seine wichtigste Quelle, die neben ihrer informellen Favoritenrolle auch die beiden wichtigsten Bedchamber Offices innehatte: Sie war Groom of the Stole und Mistress of the Robes.260 ­Marlboroughs Informanten am Hof kommunizierten vor allem mit Sarah.261 Allerdings ist Sarahs Informa­tionsgewinnung im Einzelnen schwer zu rekonstruieren, schon weil Sarah selbst Marlborough bat, ihre Briefe zu verbrennen, sodass sich von ihr so gut wie keine Briefe aus dem Spanischen Erbfolgekrieg erhalten haben.262 Zusätz­lich ist bedeutsam, dass Sarah als engste Vertraute am Hof sich der Königin im Laufe des ersten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts zunehmend entfremdete 255 Vgl. Bucholz, Queen Anne, v. a. 105. 256 Jupp, The Governing of Britain, 15 f. 257 Vgl. Kugeler, „Ehrenhafte Spione“, 134. 258 Für die Jahrzehnte nach 1714 siehe: Smith, Georgian Monarchy, 193 – 242. 259 Vgl. Kugeler, „Ehrenhafte Spione“, 134. Für Annes Hof siehe: Bucholz, Augustan Court. 260 Vgl. Harris, Passion for Government, 87. 261 Vgl. Harris, Passion for Government, 171. Vgl. auch Holmes, Marlborough, 445. 262 Vgl. Marlborough an Sarah, 20. April/1. Mai 1703, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 170.

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und die Königin sich ihrem Einfluss zunehmend entzog. War Sarah zu Beginn von Annes Regierungszeit noch die wichtigste höfische Patronagebrokerin, so änderte sich dies im Verlauf der 1700er Jahre zusehends.263 Sarah war ab spätestens 1705 bei Hof nicht mehr wohlgelitten (obwohl sowohl Whigs als auch Tories ihr nach wie vor einen fast unbeschränkten Einfluss auf die Königin zuschrieben). Im Zeitraum 1705 bis 1710, also in der Zeit der massiven Verschlechterung des Verhältnisses zur Königin, war Sarah oft wochen- und monatelang vom Hof abwesend.264 Wenn auch in der Forschung bisweilen betont wird, Sarah sei auch nach dem Ende ihrer engen Beziehung zu Anne weiterhin sehr gut mit höfischen Informa­tionen versorgt gewesen,265 so dürfte doch spätestens seit ihrer Entfernung vom Hof im Januar 1711 diese Informa­tionsquelle für ­Marlborough versiegt sein. Die sich verschlechternde Posi­tion Sarahs muss also ­Marlboroughs Informa­tionsdichte negativ mitbeeinflusst haben, obwohl er einige enge Gefolgsleute wie Walpole oder James Craggs als höfische Informa­ tionsquellen behielt.266 Allerdings ist es, da Sarahs Briefe zum Großteil nicht mehr existieren und auch die Korrespondenz James Craggs nicht überliefert ist, fast unmög­lich, ein genaueres Bild davon zu bekommen, w ­ elche Informa­tionen Marlborough während seiner Abwesenheit von England vom Hof erhielt.267 Auch dies ist ein Grund dafür, sich hier auf Informa­tionen aus dem Bereich der Außenbeziehungen zu konzentrieren. Die Entfremdung ­zwischen Sarah und der Königin ab der Mitte des Jahrzehnts hatte mittelfristig auch Auswirkungen auf Marlboroughs Einfluss innerhalb der eng­lischen Politik. Denn die Verschlechterung des Verhältnisses hatte neben persön­licheren Gründen auch mit Sarahs Nähe zu den Whigs und ihrer „confident assump­tion of a pseudo-­ministerial role“ zu tun.268 Sarah, die oft p ­ olitischen D ­ issens

263 Zur höfischen Patronage und zu Sarahs Rolle darin vgl. Bucholz, Augustan Court, 64 – 84. 264 Vgl. Harris, Passion for Government, 110 u. 132. 265 Vgl. Bennett, Robert Harley, 737. 266 Vgl. ebd., 171. 2 67 Craggs wurde mindestens einmal, mög­licherweise öfter, im Jahr 1708 von Godolphin nach Flandern geschickt, um Marlborough über innenpolitische Dinge auf dem Laufenden zu halten; vgl. Coxe, Memoirs, Bd. 2, 354. Zu Craggs’ nicht überlieferten Briefen siehe auch: Snyder, Introduc­tion, XXXIII. Auch im Exil blieb Craggs ein wichtiger Verbindungsmann; siehe Gregg, Marlborough in Exile, 596; Churchill, Marlborough, Bd. 2, 816. 268 Harris, Passion for Government, 93. Allerdings verdient Sarahs Rolle vor dem Hintergrund der Diskussionen über informelle politische Einflussmög­lichkeiten von Frauen eine erneute Reflexion. Siehe erste Hinweise bei: Chalus, Ladies; weiter ausgreifend auch: Weil, Political Passions.

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zu ihrem Ehemann markierte,269 agierte in der zweiten Kriegshälfte also kaum mehr als Verbindungsfrau zur Königin, sondern eher als Vermittlerin ­zwischen den Duumvirn Marlborough und Godolphin auf der einen und der sogenannten Junto, also den wichtigsten Whig-­Lords, auf der anderen Seite.270 Mit dem Wahlsieg der Whigs 1706, der Ernennung von Marlboroughs Schwiegersohn Sunderland zum Secretary of State, schließ­lich der Entlassung Harleys 1708 neigte sich zum Unwillen der eher torynahen Königin die politische Wagschale sehr stark zugunsten der Whigs. Die Anne ihrer Meinung nach aufgezwungene Ernennung Sunderlands zum Secretary im Jahr 1706 markierte denn auch einen entscheidenden Wendepunkt – zum Schlechteren – in ihren Beziehungen nicht nur zu Sarah, sondern auch zu Marlborough und Godolphin.271 Insofern ist es kaum verwunder­lich, wenn Marlborough die Entlassung Sunderlands im Jahr 1710, wohl nicht zu Unrecht, als ein Vorspiel zu seinem eigenen Einflussverlust deutete.272 Für die Einschätzung der Rolle Marlboroughs im Gefüge der eng­lischen Politik ist also nicht nur die mutmaß­lich abnehmende Informa­tionsdichte über Vorgänge am Hof von Interesse, sondern, damit zusammenhängend, die generell zunehmend prekäre Beziehung z­ wischen Sarah und der Königin, die auch Konsequenzen für das Verhältnis Marlboroughs zu den Secretaries of State hatte. 2.2.3 Die Secretaries of State

Das Amt der beiden Secretaries of State war aus dem Amt des könig­lichen Privat­ sekretärs entstanden.273 Sie waren neben dem Treasurer die wichtigsten Regierungsakteure und standen in täg­lichem engem Kontakt zum Monarchen; ihre Anweisungen galten als könig­liche Anweisungen. Der Aufgabenbereich der Secretaries umfasste sowohl die Innenpolitik als auch die Außenbeziehungen. Nominell war der sogenannte Northern Secretary zuständig für Russland, das Reich, Dänemark, Schweden, die Niederlande, Polen, die süd­lichen Niederlande und die Hanse, der 269 Siehe dazu Harris, Passion for Government; Holmes, Marlborough, 36: „Whatever else united John and Sarah, it was certainly not politics.“ 270 Vgl. Harris, Passion for Government, 121 f. u. 137. Vgl. zur Junto, aber auch zu ihren innerpartei­ lichen Gegnern, den sogenannten Treasurer-­Whigs, die sich eng an den Tory Godolphin anlehnten: Field, Kit-­Cat Club, 179. Zu dieser Gruppe gehörten etwa Walpole und der Staatssekretär (von 1708 – 1710) Henry Boyle. Vgl. zu ihm auch: Holmes, British Politics, 224 f. 271 Vgl. Gregg, Queen Anne, 198, 219, 233; Sundstrom, Sidney Godolphin, 220. 272 Vgl. Townend, Political Career, 149. 273 Vgl. das nach wie vor unverzichtbare Buch von: Thomson, Secretaries of State.

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Southern Secretary für Frankreich, die Schweiz und Südeuropa.274 Allerdings wurde diese Zuständigkeitszuteilung oft pragmatisch durchbrochen.275 Die Secretaries – und daran zeigt sich die erst beginnende Institu­tionalisierung der Zentralverwaltung plastisch – besaßen als oberste Minister des Königreichs einen sehr kleinen Stab, der aus zwei Under-­Secretaries (in Annes Zeit entweder aufstrebende Literaten wie Joseph Addison oder Politiker und professionelle Verwaltungsbeamte) und einer variierenden Zahl von clerks bestand, die im Übrigen bis 1718 nicht regulär entlohnt wurden, sondern über Gebühren bezahlt wurden.276 Für die Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges sind zwei Secretaries besonders hervorzuheben: der Tory Harley (1704 – 1708) und der Whig Sunderland (1706 – 1710), der eine Marlboroughs enger Mitarbeiter und späterer Erzfeind, der andere sein ungeliebter Schwiegersohn.277 War in den Jahren bis 1706 die Administra­tion erst torynah und dann gemischt besetzt gewesen, ergab sich in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts ein klares Whig-­Übergewicht. In jedem Fall aber – und dies ist an Ausnahmegestalten wie Harley und Sunderland deut­lich zu sehen – war die Effizienz des Secretary-­Amtes in sehr hohem Maße von der Person abhängig, die es innehatte. Amt und Person waren zwar sehr wohl getrennt, aber nicht durch eine starke bürokratische Routine gegeneinander ausdifferenziert: „the Secretaries could do much or little, as they pleased. In this as in other respects almost everything depended on the man.“278 Wie wenig formalisiert und auch wie wenig transparent das Amt des Secretary um 1700 noch war, lässt sich an einer Notizliste Harleys ablesen, die er – immerhin seit 1701 Speaker des Unterhauses und engster politischer Verbündeter Godolphins und Marlboroughs – am 15. Mai 1704 als Gedächtnisstütze für sich selbst anfertigte. Drei Tage, bevor er zum Secretary ernannt wurde, wollte Harley noch in Erfahrung bringen, wie d ­ ieses Amt überhaupt funk­tionierte.

274 Vgl. Lane, Diplomatic Service, 87. 275 Dies verweist auf persön­liche Nähen oder auf Patronageverhältnisse; so schreibt ­Marlborough am 13. Juni 1704 an Hedges: „I shall never fail of giving you a constant account of all that passes here, and beg that when you write, you will do it with all freedom, and not keep yourself in the province of the South, but write as to a friend that is very much yours.“: Letters and Dispatches, Bd. 1, 306. Auch kümmerten sich die Staatssekretäre um die Arbeitsgebiete des jeweils anderen, wenn ihr Kollege nicht in London war. Siehe Boyle an Marlborough, 9. September 1709, in: BL Add. 61129, 187r u. ­Sunderland an Marlborough, 13. April 1708, in: BL Add. 61126, 96r sowie BL Add. 61127, 144r. 276 Vgl. Thomson, Secretaries of State, 128 – 136 u. 178 f. Zur Besetzung dieser Stellen siehe Marshall, Sir Joseph Williamson, 34 – 38. 277 Vgl. Townend, Political Career; McInnes, Robert Harley; Hill, Robert Harley. 278 Thomson, Secretaries of State, 96.

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„[O]f how many doth ye office consist? who nominates them? The home business how distributed? foreign business! how are ye letters answered? al by ye Principals own hand? Intelligence foreign domestic“279

Harleys Notiz führt schlagend die relativ geringe Formalisierung des Secretary-­ Amtes noch im frühen 18. Jahrhundert vor Augen. Dem späteren Leser zeigt sie, wie wenig selbst der politische Insider über die formalen Pflichten eines Amtes in Erfahrung bringen konnte – dass er aber gleichzeitig bereits annahm, dass es ­solche formalen Pflichten gäbe. Zugleich wird deut­lich, welch zentrale Stellung das Sachgebiet der intelligence innerhalb der Pflichten des Secretary einnahm (oder ihr gerade von Harley zugeschrieben wurde). Dies belegt auch eine ungefähr zeitgleich geschriebene programmatische Skizze von Harleys Mitarbeiter Defoe,280 auf die zurückzukommen sein wird. 2.2.4 Das Cabinet

Das wichtigste Regierungsgremium in Annes Regierungszeit war das Kabinett oder auch Cabinet Council, das sich aus dem in dieser Zeit unbedeutender werdenden Privy Council ausdifferenziert hatte.281 Das Kabinett war das wichtigste der vielen Komitees, die theoretisch dem Privy Council zuarbeiten sollten.282 Eine Wurzel des Kabinetts war das restaura­tionszeit­liche Foreign Committee – das oft auch als Committee of Intelligence bezeichnet wurde, weil hier Informa­tionen diskutiert wurden, die durch Spionage gewonnen worden waren.283 Das Kabinett traf sich unter der Bezeichnung „the lords of the committee“ immer zuerst ohne Königin, dann – in der Regel am Sonntagnachmittag in Whitehall – als Cabinet mit der Königin, um Entscheidungen zu treffen. Die Entschlüsse des Cabinet wurden als Entschlüsse der Königin kommuniziert und

279 BL Add. 70334, 1 – 2. 280 Vgl. Warner, Unpublished Political Paper. 281 Vgl. Jupp, The Governing of Britain, 23. 282 Vgl. Burton, Committee of Council. 283 Turner, Cabinet Council, Bd. 1, 96.

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galten als bindend.284 Das Kabinett war damit die institu­tionelle Absicherung gegen Parteienstreit, aber auch gegen eine höfische Politik der Hintertreppe oder der „bedchamber“.285 Es befasste sich vor allem mit Außenpolitik: Hier wurden zum Beispiel die Korrespondenzen der Botschafter vorgelesen und ausgewertet, es wurden fremde Botschafter befragt und Arbeitsgruppen für spezifische ­Themen eingesetzt.286 Die Mitgliedschaft im Kabinett war nicht formalisiert. In der Regel nahmen daran aber der Lord President of the Privy Council, der Lord Privy Seal, der Lord Keeper, der Lord Treasurer, die Secretaries of State, der Lord-­Lieutenant of Ireland, der Erzbischof von Canterbury und Marlborough teil.287 Damit waren für die spezifische Ausarbeitung der außenpolitischen Leitlinien nur sehr wenige Personen zuständig.288 Während die öffent­liche Diskussion, die Presse und das Parlament in England eine für frühneuzeit­liche Verhältnisse außergewöhn­lich große Rolle spielten und auch Einfluss auf außenpolitische Großwetterlagen nahmen, blieb der konkrete außenpolitische Entscheidungsprozess in hohem Maße arkan.289 Die Zusammenkünfte des Kabinetts wurden nicht offiziell protokolliert; auch dies indiziert seinen informellen Charakter. Dennoch existieren einige inoffizielle Mitschriften, die vor allem von Sunderland und Harley aus ihrer Zeit als Secretaries stammen. Diese Texte sind allerdings oft unvollständig und manchmal weniger Protokolle als sozusagen To-­ do-­Listen für die Secretaries selbst, die darin vermerkten, was verhandelt worden war und wem sie deswegen schreiben müssten.290 2.2.5 Marlboroughs Stellung im Gefüge der englischen Regierung

Bis 1710 spielte Marlborough eine zentrale Rolle innerhalb des Cabinet. Dies galt naturgemäß vor allem im Winterhalbjahr, wenn er in London anwesend war. Danach verlor Marlborough rapide an Einfluss, weil der ihn stützende

284 Plumb, Organiza­tion, 137 – 157. 285 Vgl. Plumb, Growth of Political Stability, 103. 286 Vgl. Plumb, Organiza­tion, 147 – 150. ­Themen der Kolonialpolitik wurden weniger diskutiert, weil sie als könig­liche Prärogative behandelt wurden; finanzielle Probleme wurden auch kaum verhandelt, weil sie als zu speziell galten. Vgl. Jupp, The Governing of Britain, 25 f. 287 Vgl. Townend, Political Career, 65; eine etwas abweichende Aufzählung bei: Jupp, The Governing of Britain, 23. 288 Vgl. so auch: Jupp, The Governing of Britain, 38. 289 Vgl. Hattendorf, England, 3. Zur ausgeprägten Arkanpraxis der eng­lischen Regierung siehe auch: Elukin, Keeping Secrets. 290 Vgl. Plumb, Organiza­tion, 137; Hattendorf, England, 333, Anm. 30.

Englische Innen- und Außenpolitik um 1700

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Treasurer Godolphin durch seinen früheren Mitarbeiter und jetzigen Rivalen Harley abgelöst worden war. Doch schon vorher war er innerhalb d ­ ieses Gremiums, aber auch in der Zusammenarbeit mit eher innenpolitisch agierenden Akteuren wie Godolphin und Harley nicht etwa der alles beherrschende Akteur, als den ihn die ältere Forschung hat sehen wollen. Im Frühjahr 1710 – also bereits in einer Zeit abnehmenden eigenen Einflusses – bezeichnete sich Marlborough gegenüber Godolphin und dem Kabinett als „white paper“, auf das sie ihre Anweisungen schreiben könnten. 291 Die auffällige Metapher, die auch auf den hohen Grad an Schrift­lichkeit innerhalb der Beziehungen Marlboroughs zur eng­lischen Regierung verweist, sollte in ihrer Bedeutung nicht übertrieben werden und war sicher auch eine Demutsfloskel.292 Dennoch indiziert sie ein hohes Maß an Einbindung Marlboroughs in das Gefüge der eng­lischen Regierung. Dies schließt nicht aus, ihm eine Sonderrolle zuzusprechen: Marlboroughs zweifellos durch seine militärischen Erfolge und die persön­liche Nähe zur Königin noch gesteigerte Bedeutung lag darin, dass er als der Commander-­in-­Chief of the Armed Forces in den süd­lichen Niederlanden und als den alliierten Truppen vorstehender Captain-­General zwar eigent­lich keine Weisungsbefugnis gegenüber den Commanders-­ in-­Chief in anderen Territorien (etwa Spanien) besaß, aber dennoch einen hohen Einfluss auf die militärische und politische Gesamtstrategie besaß. Als General war Marlborough nicht einfach Befehlsempfänger der eng­lischen Regierung und auch in seiner Informa­tionsgewinnung teilweise autonom (vor allem auf dem Kriegsschauplatz). Zudem wirkte er gleichzeitig als erster Diplomat Englands, als sogenannter Ambassador General, eng mit den Secretaries of State zusammen.293 Dazu kam jedenfalls in Zeiten der könig­lichen Gunst die sehr weitgehende Macht Marlboroughs (und Godolphins), de facto über die Besetzung diplomatischer und militärischer Ämter zu entscheiden.294

291 Vgl. Coxe, Memoirs, Bd. 3, 35. 292 Weniger naheliegend ist bei Marlborough die bewusste Bezugnahme auf die philosophische Metapher des weißen Papiers für den menschlichen Geist (und ihre Übertragung in einen politischen Kontext), die von John Locke populär gemacht worden war. Es ist allerdings schwer einzuschätzen, wie verbreitet die Metapher im allgemeinen Sprachgebrauch war. Siehe Pasanek, Metaphors, 227 – 248. 293 Vgl. Hattendorf, England, 37 u. 48. 294 Vgl. zur Besetzung diplomatischer Ämter: Snyder, Diplomatic Service; zum Militär Burton, Committee of Council, 81: „In particular, his was the ultimate sanc­tion over all appointments, promo­tions, and resigna­tions, and in consequence no ministry that did not enjoy his confidence could hope to exercise any real authority over the army.“

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Voraussetzungen

Die Kopplung formaler Ämter mit informellen Einflussfaktoren, die ­Marlboroughs Machtstellung charakterisiert, hat die Forschung irritiert: Inte­ ressanterweise ist in der Forschung die Beziehung Marlboroughs zu den Secretaries als „obscure“ beschrieben worden:295 Er habe als Oberbefehlshaber, gleichzeitig aber auch als leitender Botschafter mit ihnen zusammengearbeitet – genauso wie sein Zusammenwirken mit Godolphin als die Koopera­tion von Treasurer und Ambassador General gedeutet wird.296 Das scheint mir insgesamt zu ‚unpolitisch‘, zu modern und zu stark von formalen Verfahrenswegen her gedacht. Faktisch liegt das Außerordent­liche von Marlboroughs Posi­tion wohl in der variabel einsetzbaren Vielzahl unterschied­licher Ämter, kombiniert mit persön­lichem, nicht amtsgebundenem Einfluss auf die Königin und die wichtigsten ihrer Minister – was genau das Charakteristische des Favoritentyps ist, der in England nach 1688 entstand. Die „combina­tion of royal favour, parliamentary management and organising the war effort“297, die Marlborough – allerdings immer im Verbund mit Sarah und ­Godolphin – kennzeichnet, verschaffte ihm Handlungsspielräume auch jenseits formaler Amtskompetenzen. Marlborough war also in das Regierungsgefüge eingebunden, besaß aber gleichzeitig eine partielle Autonomie. Diese Konstella­tion schuf die Rahmenbedingungen für sein politisches und militärisches Handeln, innerhalb derer seine Informa­tionsgewinnung einen bedeutenden Platz einnimmt. Auch in dieser Hinsicht agierte Marlborough zwar einerseits (gebunden an seine außenpolitische und militärische Rolle) partiell autonom. Andererseits aber bestanden in vielfacher Hinsicht Verbindungen mit der Informa­tionsgewinnung der eng­lischen Regierung. Marlborough war „only part of the system of informa­tion and percep­tion upon which the cabinet acted.“298 Gegenüber einer älteren Forschung, die die unumschränkte Posi­tion Marlboroughs weit überschätzt hat, ist es sinnvoll, sein Handeln – und damit auch seine Methoden der Informa­tionsgewinnung – in enger Verzahnung mit den Maßnahmen der eng­lischen Regierung zu untersuchen. Erst so kann deut­lich hervortreten, in ­welchen seiner Funk­tionsbereiche (Diplomatie, Politik, Militär) Marlborough eng mit der Regierung kooperierte und wo er eigene Wege ging.

295 Vgl. Thomson, Secretaries of State, 68. 296 Vgl. ebd., 92 u. 99. 297 Onnekink, Mynheer Benting, 713. 298 Hattendorf, England, 51.

3 Strukturen der Informationsgewinnung Ignorance is the first requisite of the historian – ­ignorance, which simplifies and clarifies, which selects and omits, with a placid perfec­tion unattainable ­by the highest art. Lytton Strachey

3.1 Kommunikation und Strukturbildung: Infrastrukturen, Organisationen und Netzwerke Informa­tion und Kommunika­tion bilden Strukturen aus – sind aber auch von diesen Strukturen abhängig. Mit „Strukturen“ ist hier nichts anderes gemeint als „auf Dauer gesetztes Handeln“1 oder genauer: diejenigen Konfigura­tionen, die aus auf Dauer gesetztem Handeln entstehen, es aber wiederum auch ermög­lichen.2 Damit beschränkt sich der Begriff nicht, wie in der Tradi­tion der Annales und der Bielefelder Sozia­lgeschichte, primär auf sozioökonomische Zusammenhänge der longue durée 3, sondern zielt genereller auf Regeln und Regelmäßigkeiten des sozia­len Lebens.4 Dabei ist – dies ist nach den kulturgeschicht­lichen Diskussionen der letzten 20 Jahre vielleicht überflüssig zu erwähnen – nicht an einen reifizierten Strukturbegriff gedacht, sondern an ein Konzept, das Strukturen als wiederholbare und wiederholte Praxis beschreibt.5 Diese Praxis ist im vorliegenden Fall primär kommunikativ: Kommunika­tion wirkt strukturbildend – weil in ihr und durch sie interpersonale Beziehungen aufgebaut werden können, die Informa­tionsgewinnung ermög­lichen.6 Und zwar gilt dies erst einmal unabhängig von der Dauer oder Intensität der Strukturen. Entscheidend für die Gewinnung von Informa­tionen ist also der Aufbau von neuen und die Nutzung bestehender Strukturen. Daher ist es sinnvoll, diese Strukturen

1 Mergel, Geschichte und Soziologie, 632. 2 Zur reziproken Beziehung von Struktur und Handeln siehe nur: Welskopp, Dualität; Sewell, Theory. Von Strukturen als „gleichzeitig Stützen und Hindernisse“ des Handelns spricht auch Braudel, Geschichte, 194. 3 Vgl. Pomian, Geschichte, 187; siehe auch: Welskopp, Strukturgeschichte. 4 Vgl. Pečar, Innova­tion. 5 Vgl. zur Praxistheorie: Reckwitz, Grundelemente sowie: Hörning/Reuter (Hrsg.), Doing Culture. 6 Vgl. Albrecht, Netzwerke.

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der Informa­tionsgewinnung unter die Lupe zu nehmen – und auch zu fragen, mit ­welchen Begriffen man sie am schärfsten erfassen kann. Um ­welche Strukturen geht es? In der eher in Andeutungen verbleibenden Literatur zu Marlboroughs Informa­tionsgewinnung oder derjenigen der eng­ lischen Regierung haben sich – wie in der weiter ausgreifenden Literatur – zwei Begriffe eingebürgert, die auf ihre terminolo­gische Brauchbarkeit hin befragt werden müssen: der Begriff des Netzwerks und der des Systems.7 So wird im Singular wie im Plural unter anderem von „spy networks“8, von einem „network of spies“9, einem „réseau d’espionnage“10, von einem „intelligence network“11 gesprochen, aber auch von einem „intelligence system“12, einem „system for gathering informa­tion“13 oder einem „system of informa­tion“14. Tendenziell, ohne dass dies jedoch immer durchgehalten würde, ist in Bezug auf Marlborough die Rede von Netzwerken, in Bezug auf die eng­lische Regierung von Systemen. Allerdings stehen zuweilen auch beide Begriffe im selben Text undifferenziert nebeneinander.15 Ewa Anklam hat in ihrer Untersuchung zur militärischen Berichterstattung im Siebenjährigen Krieg betont, dass man für das 18. Jahrhundert (noch) nicht mit einem „System“ militärischer Nachrichtendienste, sondern nur mit mehreren miteinander verbundenen „Konfigura­tionen“ rechnen dürfe.16 Wann genau allerdings die Verbindung von (wie vielen?) Konfigura­tionen sich zu einem System aufaddiert oder qualitativ in ein solches umschlägt, wird im Unklaren gelassen. Offenbar besitzt der Begriff des Systems aber Konnota­tionen von Effizienz und Stringenz, die der Situa­tion des 18. Jahrhunderts nur partiell angemessen sind. Auch J. D. Alsop betont für die Spionage im Spanischen Erbfolgekrieg eher deren letzt­lich nicht effizienten Ad-­hoc-­Charakter und lehnt daher sowohl den Begriff des Systems als auch den des Netzwerks ab.17 Nun muss man diese Begriffe nicht zwingend 7 In der deutschen Forschung ist der Begriff des Systems zum Beispiel auf das frühneuzeit­ liche „Mediensystem“ angewendet worden. Vgl. Arndt, Mediensystem der politischen Publizistik“; Arndt/Körber (Hrsg.), Mediensystem im Alten Reich. 8 Rule, Gathering Intelligence, 739. 9 Deacon, History, 75. 10 Bély, Espions, 141. Zum Begriff „reseau“, den Bély mindestens für die franzö­sische Forschung für sich reklamiert, siehe auch: Bély, Répresenta­tion, 219. 11 Gregg, Marlborough in Exile, 596; Hattendorf, England, 51. 12 McInnes, Robert Harley, 84; Snyder, Newsletters, 4; Fritz, Anti-­Jacobite Intelligence System. 13 Trevelyan, England, Bd. 2, 350. 14 Hattendorf, England, 51. 15 Vgl. ebd., 28 u. 51. 16 Vgl. Anklam, Wissen, 18. 17 Vgl. Alsop, British Intelligence, 113.

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im Hinblick auf Erfolg und Effizienz akzentuieren. Dennoch sind die Informa­ tionskontakte Marlboroughs und der eng­lischen Regierung, die sich für die Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges identifizieren lassen, in der Tat häufig so diffus, offen und improvisiert, dass die strukturfunk­tionalistischen Konnota­tionen des Systembegriffs einen falschen Eindruck transportieren. Stattdessen sollen hier drei andere Begriffe gewählt werden: Infrastrukturen, Organisa­tionen und Netzwerke (allerdings im Plural). Die Unterscheidung ­zwischen Infrastrukturen, Organisa­tionen und Netzwerken ist wichtig, weil sie erlaubt, die jeweiligen Spezifika der Strukturen der Informa­tionsgewinnung präziser zu konturieren. Diese Strukturen werden heuristisch auf Marlborough hin perspektiviert; dies heißt gerade nicht, seinen absoluten Ausnahmerang innerhalb der eng­lischen Politik zu postulieren, sondern diesen überhaupt erst zu untersuchen. Die Zentralstellung Marlboroughs ist eher eine methodische Hinsicht als eine empirische Behauptung.18 Die Begriffe Infrastruktur, Organisa­tion und Netzwerk werden in der soziolo­ gischen Literatur zuweilen als identisch oder nah verwandt verstanden.19 Hier soll pragmatisch eine Unterscheidung z­ wischen einerseits Infrastrukturen (als materiellen Rahmenbedingungen für Informa­tionsgewinnung) und andererseits personenbezogenen Strukturen getroffen werden, unter die erstens stärker formalisierte Organisa­tionen und zweitens schwächer formalisierte, eher tauschförmige Netzwerke der Informa­tionsgewinnung fallen.20 Alle drei Begriffe sind explizit idealtypisch gemeint – sie bezeichnen Extre­me, die in der historischen Wirk­lichkeit in dieser Zuspitzung kaum existiert haben. Damit können sie als heuristische Instrumente dienen, um Abweichungen und Überlappungen überhaupt identifizieren zu können.21 Diese Übergänge, das A ­ usfransen 18 Der partiell biographische oder mindestens personenzentrierte Zugang, wie er hier gewählt wird, folgt damit der Idee eines egozentrierten Netzwerks. Mit Friedrich Lenger kann man annehmen, dass es Akzentunterschiede ­zwischen Netzwerkforschung und biographischem Zugang gibt, die sich aber produktiv ­nutzen lassen; siehe: Lenger, Netzwerkanalyse. 19 Vgl. Diaz-­Bone, Einführung, 4: „Netzwerke stellen Infrastrukturen für Austausch- und Kommunika­tionsprozesse ­zwischen Individuen, Gruppen und Organisa­tionen dar.“ Siehe auch: Mol/Spaargaren, Umweltsoziologie, 142. 20 Materielle und personelle Seite sind nicht klar, aber doch tendenziell unterscheidbar; ihnen entsprechen unterschied­liche Herangehensweisen der historischen Akteure, die man als ‚Logistiken‘ und ‚Strategien‘ bezeichnen könnte: „Strategics are efforts to organise human rela­tions while logistics are efforts to organise things.“ Mukerji, Impossible Engineering, 214; siehe hierzu auch Joyce, Social History, v. a. 231. 21 Idealtypen werden nach der viel zitierten Formulierung Webers gebildet „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer

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von Strukturen und das Anlagern einer Struktur an eine andere können erst mittels einer idealtypischen Grenzziehung adäquat beschrieben werden. Ob, wie von Thiessen für die frühneuzeit­liche Diplomatie annimmt, „eine Trennung ­zwischen formellen Beziehungen und informellen Netzwerken […] keinen Sinn“ ergibt 22, muss sich erst erweisen. Es wäre ja auch mög­lich, dass es durchaus Differenzen und Differenzierungen, aber auch Verknüpfungen und Überlappungen gibt, ohne dass der Unterschied ­zwischen formaler, organisa­tionsförmiger, amtsbezogener und informellerer, netzwerkartiger Struktur ganz verschwömme. „L’idée des réseaux implique qu’on les distingue des organisa­tions.“23 Die Annahme der vorliegenden Studie ist jedenfalls, dass es durchaus mög­lich ist, ­zwischen eher amts- und organisa­ tionsförmigen und eher netzwerkartigen Strukturen der Informa­tionsgewinnung zu unterscheiden, dass aber die Übergänge fließend sind. Die idealtypische Unterscheidung z­ wischen beiden dient genau dazu, diese fließenden Übergänge genauer beschreiben zu können. Wolfgang Behringers Postulat: „Politische Öffent­lichkeit […] beruhte […] auf einer soliden Infrastruktur der Kommunika­tion“24 gilt für politische Informa­ tionsgewinnung generell. Mit dem Begriff der Infrastruktur sind in der Forschung meist auf Dauer angelegte technische Strukturen gemeint, die bestimmte gesellschaft­liche Grundfunk­tionen zum Beispiel der Kommunika­tion und der Versorgung ermög­lichen: Es sind „big, durable, well-­func­tioning systems and services“25. Der Begriff meint, wenn man ihn weit fassen will, die Bereiche Verkehr, Telekommunika­tion, Unterricht und Wissenschaft, Verwaltung, Rechtspflege, öffent­liche Sicherheit, Sozia­lwesen und den Umgang mit natür­lichen Ressourcen. Ausgangspunkt staat­licher Infrastrukturpolitik seit der Frühen Neuzeit ist das Verkehrswesen.26 Infrastruktur, so wird in der Forschung betont, steht in einer engen, wenn auch variablen Beziehung zu Krieg und Militär. Neuzeit­liche Kriege sind zunehmend auch Kriege um und mit Infrastrukturen.27 Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzel­erscheinungen, die sich zu jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheit­lichen Gedankenbilde“ (Weber, Objektivität, 73). Ihre Funk­tion als heuristisches Instrument, das es ermög­licht, historische Wirk­lichkeit gerade kontrastiv zu beschreiben, stellt heraus: Ringer, Max Weber, 174. 22 Thiessen, Diplomatie vom type ancien, 476. 23 Roche, Réseaux, 12 f. 24 Behringer, Im ­­Zeichen des Merkur, 17. 25 Edwards u. a., Introduc­tion, 365; siehe auch: van Laak, Infra-­Strukturgeschichte, und Beyrer, Infrastruktur. 26 Vgl. Helmedach, Infrastrukturpolitische Grundsatzentscheidungen, 11 f. 27 Vgl. van Laak, Infra-­Strukturgeschichte, 373; siehe auch: Anklam, Wissen, 76.

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Für die vorliegende Untersuchung wird der Infrastrukturbegriff etwas anders gefasst. Zwei Aspekte sind leitend: Erstens beziehen Infrastrukturen materielle Artefakte oder „Dinge“ mit ein, die in spezifischen Situa­tionen menschliches Handeln kondi­tionieren, formen, verhindern und qualifizieren.28 Damit muss also auch die agency der Dinge, ihre Akteursqualität in der Koopera­tion mit menschlichen Akteuren beleuchtet werden.29 Infrastrukturen mit ihrer Konzentra­tion auf materielle Aspekte und mit ihrer tendenziellen Festigkeit sollten aber nicht vergessen lassen, dass die typischen frühneuzeit­lichen Infrastrukturen im Grunde kaum mehr sind als auf Dauer gestellte persön­liche Netzwerke mit technischen Hilfsmitteln. Es ginge zum Beispiel an der Sache vorbei, das frühneuzeit­liche Verkehrs- und Postwesen ledig­lich als technische Struktur, sozusagen ohne Menschen, zu beschreiben.30 Das heißt aber auch: Die Grenzen ­zwischen Infra­ strukturen und Netzwerken sind unscharf. In vielen Fällen sind es eher mehr oder weniger etablierte Netzwerke als feste Infrastrukturen, die im Folgenden im Zentrum stehen. Zweitens und grundlegender sind mit Infrastrukturen jene Ressourcen gemeint, die überhaupt erst Rahmenbedingungen für Informa­tionsgewinnung bereitstellten. Zu denken wäre dabei an finanzielle, mediale, aber auch materielle Notwendigkeiten. In ­diesem Sinne wären vier wichtige Infrastrukturen für Marlboroughs Informa­tionsgewinnung namhaft zu machen: Geld, Briefe, Post und Kartographie. Nun fällt der Umstand, dass Geld gezahlt und Briefe geschrieben werden, klas­sischerweise nicht zwingend in den Bereich der Infrastrukturen. Sie bilden aber Infra-­Strukturen, insofern sie die Basis für weitere Strukturbildungen, etwa von Organisa­tionen und Netzwerken, legen. Wenn Infrastrukturen – beispielhaft materialisiert etwa in der Festigkeit von Straßen – auch dazu verführen, sie für dauerhaft und damit auch für plan- und machbar zu halten, so sind sie doch nicht ausschließ­lich als Ergebnis inten­tionaler Planung zu verstehen.31 So müssen sie etwa an immer neue Umweltbedingungen adaptiert werden. Für diese Prozesse des „growing“ und des „adjustment“ von 28 In einem Essay zur Neuorientierung der Politikgeschichte hat Tobias Weidner darauf aufmerksam gemacht, dass materielle Artefakte, also auch materielle Infrastrukturen, für die Geschichte des Politischen bisher nur eine untergeordnete Rolle spielen. Vgl. Weidner, Geschichte des Politischen, 120. 29 Vgl. zu Dingen als Akteuren: Johnson, Mixing Humans. Siehe auch: Latour, Eine neue Soziologie, 123: „jedes Ding, das eine gegebene Situa­tion verändert, indem es einen Unterschied macht, (ist) ein Akteur“. 30 Vgl. Fontius, Post und Brief, 270. 31 Vgl. van Laak, Infra-­Strukturgeschichte, 387.

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Infrastrukturen 32 ist auch der prozessuale, dynamische Begriff des „infrastructuring“ vorgeschlagen worden.33 Infrastrukturen mussten von Marlborough, von der eng­lischen Regierung oder beiden geplant, organisiert, infra-­strukturiert werden. Diese Akzentverschiebung weist – für den Kontext ­dieses Buchs – auf eine wichtige Tatsache hin: Die Diskussionen über die Finanzierung der Informa­tionsgewinnung oder die dauernden Versuche, etwa die Briefbeförderung z­ wischen England und den Niederlanden schneller zu machen, müssen eher als kontinuier­liche Versuche des „infrastructuring“ verstanden werden denn als schlichte Nutzung statischer Infrastrukturen. Wie Infrastrukturen sind auch Organisa­tionen tendenziell auf Dauer gestellt – durch die stabilisierten, reziproken, formalisierten Erwartungshaltungen, die Organisa­tionen als s­ ozia­le Gebilde ausmachen.34 Das Musterbeispiel für Organisa­ tionen dieser Art sind Verwaltungen. Insofern ist die Organisa­tionssoziologie in Teilen deckungsgleich mit der Soziologie der Bürokratie. Beide schließen in hohem Maße an Webers Idealtyp bürokratischer Herrschaft an.35 Weber verweist etwa auf klar geregelte Kompetenzen, regelmäßige Besoldung, einen formalisierten Instanzenzug, schrift­liche Aktenführung, eine Trennung öffent­licher und privater Belange und Räume und damit auch auf die Berechenbarkeit behörd­licher Vorgänge ohne Ansehen der Person.36 Luhmann hat, schärfer noch als Weber, zwei weitere Aspekte hervorgehoben: Moderne Organisa­tionen, vor allem also Verwaltungen, zeichnen sich durch die in der Regel schrift­lich fixierte Formalisierung von Erwartungen aus – und sie legen klar fest, wie man Mitglied der Organisa­tion wird und was dies bedeutet.37

32 Edwards u. a., Introduc­tion, 369. 33 Vgl. Edwards u. a., Historical Perspectives, 1409, mit Rückgriff auf: Pipek/Wulf, Infrastructuring. 34 Vgl. Luhmann, Funk­tionen und Folgen, v. a. 38. 35 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 551 – 579; siehe auch: Kieser, Max Webers Analy­se. Vgl. aber auch die Kritik an einer Identifizierung beider Begriffe bei: Mayntz, Max Webers Idealtypus. 36 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 551 – 579; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 128 – 130. 37 Vgl. Luhmann, Funk­tionen und Folgen, 39 – 54, vgl. auch: Martens/Ortmann, Organisa­ tionen. Luhmanns Organisa­tionsbegriff wird v. a. genutzt, um ihn von anderen sozia­ len Systemen, etwa Interak­tionssystemen, abzusetzen. Vgl. Luhmann, Interak­tion, aber auch: Kieserling, Interak­tion; Goffman, Interac­tion Order. Die Unterscheidung Interak­ tion vs. Organisa­tion spielt in ­diesem Buch eine geringere Rolle als die Unterscheidung Organisa­tion vs. Netzwerk (s. u.).

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In d ­ iesem modernen Sinn ist die eng­lische Regierung um 1700 sicher noch keine Organisa­tion; sie befindet sich aber in einem Entwicklungsprozess hin zur bürokratischen Organisa­tion.38 So sind zum Beispiel noch kaum Mitgliedschaftsregeln formalisiert. Auch die Trennung von Amt und Person ist höchst prekär; schließ­lich folgen Amtsträger oft anderen Normensystemen als den im engeren Sinn bürokratischen. Noch stärker als in der Moderne ist also Organisa­tion weniger als Sache denn als Prozess zu verstehen, als „an achievement, a process, a consequence, a set of resistances overcome, a precarious effect“39. In vielen Fällen wird es ausreichen, von „Amt“, „Behörde“ oder (politischem, diplomatischem, militärischem) „Dienstverhältnis“ zu sprechen.40 Dennoch wird hier überdies (und in bewusster, an Anachronismus grenzender Zuspitzung) der soziolo­gische Begriff der Organisa­tion gewählt. Dieser dient dazu, diese Art von Struktur von anderen Strukturen wie Netzwerken oder Infrastrukturen abzusetzen und den Befund zu markieren, dass ein Großteil von Marlboroughs Informa­tionsgewinnung auf dem Amtswege, als Dienstpflicht, als Teil behörd­ licher Aufgaben oder wenigstens in enger Abstimmung mit diesen vor sich ging. Auch wenn die Organisa­tionssoziologie die Modernität und „Organisiertheit“ bürokratischer Organisa­tionen partiell als an die Organisa­tionsumwelt gerichtete Ra­tionalitätsfassaden entlarvt hat,41 ist doch davon auszugehen, dass die Ausbildung großer, formalisierter Organisa­tionen – mit all ihren Problemen – in der Tat ein Element von Modernisierung gewesen ist. Doch auch in der Vormoderne, so hat die neuere Forschung wiederum im Anschluss an Luhmann herausgestellt, ist von komplexen Gemengelagen formaler und informeller Regeln, Strukturen und Verhaltensweisen auszugehen, die nicht einfach als Defizit einer nur unvollständigen Organisa­tion zu sehen sind. Stattdessen erfüllt Informalität wichtige Komplementärfunk­tionen innerhalb formaler Organisa­tionen.42 38 Vgl. für diese Mittelposi­tion ­zwischen den Extremen des modernistischen Anachronismus und der übertriebenen Verfremdung als vormodern: Aylmer, From Office-­Holding to Civil Service, sowie an einem Beispiel: Krischer, Förm­lichkeit. 39 Law, Notes, 390. 40 Dies gilt z. B. auch für die frühneuzeit­liche Diplomatie: „early modern diplomacy is more effectively analysed in terms of the role or office of the ambassador rather than in an abstracted sense of a ‚sphere of formalized ac­tions‘“, wie Mark Netzloff mit Rückgriff auf Daniela Frigo (und im Einklang übrigens mit der deutschen Forschung, etwa Hillard von Thiessen) bemerkt; siehe Netzloff, Ambassador’s Household, 157. 41 Vgl. grundlegend: Meyer/Rowan, Institu­tionalized Organiza­tions; siehe auch: ­Walgenbach, Institu­tionalistische Ansätze. 42 Vgl. Luhmann, Funk­tionen und Folgen, v. a. 196; siehe auch: Kühl, Informalität. Dass die Dichotomie formal vs. informell in hohem Maße perspektivabhängig ist und daher in

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Man wird also die Formalisierung der eng­lischen Behördenorganisa­tion, aber auch der Diplomatie und des Militärs um 1700 nicht überschätzen dürfen und kann doch den Begriff der Organisa­tion anwenden, um darauf hinzuweisen, dass die Informa­tionsgewinnung des Herzogs von Marlborough in hohem Maße unter Nutzung amts- und dienstförmiger Strukturen ablief. Erst vor ­diesem Hintergrund gewinnen die nicht-­organisa­tionsförmigen Strukturen der Informa­ tionsgewinnung ihr Profil. Der Netzwerk-­Begriff schließ­lich wird in dieser Studie für alle diejenigen Informa­tionsbeziehungen Marlboroughs und der eng­lischen Regierung verwendet, die nicht amtsförmig strukturiert waren, sondern informeller abliefen und nicht in derselben Weise auf Dauer gestellt waren. Ein Charakteristikum von Netzwerken ist also, dass sie nicht Organisa­tionen sind.43 Damit ist nicht primär gemeint (obwohl auch dies eine Rolle spielen kann), dass sie Noch-­Nicht-­ Organisa­tionen sind.44 Die Charakterisierung von Netzwerken als informelle Strukturen impliziert weder eine Bewertung ihrer Effektivität noch die Angabe einer Entwicklungsrichtung. Stattdessen ist schlicht eine Verschiedenheit von Strukturierungsprinzipien gemeint: Während Organisa­tionen Erwartungen als Dienstpflichten formalisieren können, erzeugen Netzwerke mit anderen Mitteln Verbindungen und Verbind­lichkeit: etwa über Geld oder über Patronage, also über tauschförmige Arrangements. Der Begriff des Netzwerks wird hier – analog der angelsäch­sischen Forschung – terminolo­gisch offen und pragmatisch gebraucht. Die Unterscheidung Organisa­ tion/Netzwerk entspricht näherungsweise den Differenzen offiziell/inoffiziell, amtsförmig/nicht-­amtsförmig und formal/informell. Unter einem Netzwerk soll hier relativ allgemein eine Struktur verstanden werden, die Individuen verbindet,45 also ein Interak­tions- und Informa­tionsgeflecht mit Knotenpunkten, Zonen der

der Organisa­tionsforschung durchaus Unterschied­liches meint, zeigt: Tacke, Formalität. Vgl. zum Problem Formalität/Informalität in der Frühen Neuzeit: Emich, Formalisierung; Stollberg-­Rilinger, Frühe Neuzeit. 43 Aus einer anderen als der hier gewählten theoretischen Perspektive wäre es selbstverständ­ lich denkbar, gerade Organisa­tionen als einen speziellen Typus von Netzwerken zu betrachten. Dies soll hier auf sich beruhen. 44 Dies ist auch der Ausgangspunkt der instruktiven Analyse von Teubner, Die vielköpfige Hydra. 45 Schweizer, Netzwerkanalyse, 1, definiert ein Netzwerk als „eine Menge von Akteuren […], die untereinander durch Beziehungen verbunden sind“. Aus systemtheoretischer Perspektive merkt Fuhse kritisch an, dass die Grundlage von Netzwerken eigent­lich nicht Individuen, sondern Rela­tionen ­seien; siehe Fuhse, Persön­liche Netzwerke, 17.

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Verdichtung und Ausdünnung, „strong“ und „weak ties“46. Dieses Geflecht stellt sich im Rahmen dieser Untersuchung als Netzwerk von Korrespondenzen und Korrespondenten dar, das qualifiziert, aber nicht quantifiziert werden soll. Hergestellt und stabilisiert wird es meist über informelle Patronagebeziehungen oder über Geldzahlungen. Netzwerke sind keine Organisa­tionen mit klaren Mitgliedschaftsregeln, sie sind aber in der Regel auch mehr als einmalige und ephemere Interak­tionen 47 – oder anders, im Hinblick auf diese Studie formuliert: Ephemere Informa­tionskontakte können eben, zuweilen besonders nütz­liche, „weak ties“ sein. Die Unterscheidung und zugleich Verknüpfung der Begriffe Organisa­tion und Netzwerk ist deshalb wichtig, weil die Netzwerke, um die es geht, in enger Verknüpfung mit den Zentralbehörden der eng­lischen Regierung (deren Organisa­tionsförmigkeit für die Zeit um 1700 ja ebenfalls noch im Entstehen begriffen war) arbeiteten und diese ergänzten.48 Die relativ pragmatische Umgangsweise mit dem Netzwerkbegriff ist erklärungsbedürftig.49 Die soziolo­gische Debatte ist breit und kontrovers; Historiker benutzen den Begriff meist relativ assozia­tiv.50 Für die Frühneuzeitforschung ist der Begriff in wissens- und wissenschaftsgeschicht­lichen Forschungen 51 mit gewissen Überlappungen zur Diplomatiegeschichte 52 genauso einschlägig wie für die Erforschung transna­tionaler Strukturen.53 Als epochenspezifische Struktur wird der 46 Vgl. Granovetter, Strength of Weak Ties; siehe auch ders., Strength of Weak Ties: A Network Theory Revisited. 47 Vgl. zum Problemumkreis: Tyrell, Zwischen Interak­tion und Organisa­tion, als Ergänzung zu: Luhmann, Interak­tion. 48 Vgl. ähn­lich: Collin, Organisa­tion, 353. 49 Eine strikte Begriffsverwendung wird auch dadurch erschwert, dass der Begriff außerwissenschaft­lich sehr gängig ist (zum Beispiel in der üb­lichen Rede von den „sozia­len Netzwerken“ im Internet) und er die Konnota­tionen des Unhierarchischen, des Flexi­ blen, des Dezentrierten transportiert, die sich einer allzu klaren Defini­tion zu entziehen scheinen. Siehe: Gießmann, Netze und Netzwerke; Caldarelli/Catanzaro, Networks. 50 Vgl. z. B. Beaurepaire, Introduc­tion, 28. Anders akzentuiert die Forschungslage Wolfgang Weber, der eher eine Übertheoretisierung und mangelnde empirische Unterfütterung diagnostiziert: Vgl. Weber, Pikante Verhältnisse. 51 Vgl. z. B. Bots, Exchange of Letters; für die aufgeklärte république des lettres einschlägig: Roche, Les primitifs du rousseauisme. 52 Vgl. z. B. Kohlndorfer, Jacques Bongars. 53 Vgl. Harris, Confession-­Building; im Hinblick auf die (bereits frühneuzeit­lichen) Globalisierungsprozesse ist der Begriff des Netzwerkes und der Vernetzung vor- und nichtstaat­licher Instanzen gleichfalls zentral. Vgl. Osterhammel/Petersson, Geschichte der Globalisierung, 20, 24 u. 109.

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Netzwerkbegriff schließ­lich im Kontext der Patronageforschung verwendet. Daher ist es kein Zufall, dass Patronage einen Schwerpunkt in der Forschung zu Korrespondenznetzwerken ausmacht 54 und umgekehrt die Patronageforschung gern mit dem Begriff des Netzwerks operiert.55 Doch geht es dort meist um relativ stabilisierte Netzwerke, die in d ­ iesem Buch natür­lich auch eine Rolle spielen, denen aber improvisierte, zuweilen auch einmalige oder Ad-­hoc-­Vernetzungen an die Seite zu stellen sind.56 Dennoch, dies ist schon angeklungen, bleiben diese eher schwachen Vernetzungen peripher gegenüber dem Versuch Marlboroughs und der eng­lischen Regierung, sich mög­lichst dauerhafte, wenn auch informelle Netzwerke aufzubauen. Das heißt methodisch: Der Begriff des Netzwerks wird hier zwar weit gefasst, lässt sich aber nicht einfach durch ‚Kontakte‘ ersetzen, weil er auf eine Struktur abzielt. Für die Vormoderne ist eine Rekonstruk­tion von Netzwerken, die dem methodischen Anspruch moderner Sozia­lwissenschaftler genügen würde, meist nicht durchführbar – selbst dann, wenn es nicht um Quantifizierung geht.57 Dies soll nicht die relativ große Abstinenz vieler Historiker gegenüber Methoden der empirischen Sozia­lforschung rechtfertigen.58 Doch die Vagheit des von Historikern benutzten Netzwerkbegriffs hat eben auch quellenmäßige Gründe. Es gibt Ausnahmen, die methodische Wege weisen und die gerade als Ausnahmen verdeut­lichen, was in der Regel nicht mög­lich ist.59 Gerade weil die Forschung zum Beispiel zu gelehrten Korrespondenznetzen in den letzten Jahren einen massiven Aufschwung genommen hat, ist umso deut­licher zu erkennen, ­welche forschungspraktischen wie darstellerischen Probleme sich stellen.60 Für die vorliegende S ­ tudie 54 Vgl. Stuber/Hächler/Steinke, Hallers Korrespondenznetz, 19. 55 Vgl. Kettering, Patronage, 839. 56 Allerdings ist hier lange auch mit dem Alternativbegriff der Verflechtung operiert worden. Vgl. Reinhard, Amici e creature, 312 sowie ders., Freunde und Kreaturen. 57 Anregend sind Reflexionen darüber, ob es neben einer streng statistischen Netzwerk­ analyse auch eher qualitativ verfahrende Methoden gibt; siehe Diaz-­Bone, Qualitative Netzwerkanalyse. 58 Als Ausnahmebeispiel einer relativ technischen, mathematisch-­graphischen historiographischen Umsetzung von netzwerktheoretischen Vorgaben siehe Pieper, Vermittlung, 63 – 68. 59 Für die Diplomatiegeschichte könnte es, wo dies denn mög­lich ist, weiterführend sein, eine Art „Netzwerkanalyse“ politischer Korrespondentennetze zu skizzieren und auch kartographisch Knotenpunkte, Ballungen und Informa­tionsströme darzustellen – was interessante Aufschlüsse über die „mental map“ und die Vernetzungsnotwendigkeiten auch politischer Akteure verspricht. 60 Vgl. nur: Stuber/Hächler/Steinke, Hallers Korrespondenznetz, sowie die scharfsinnige programmatische Studie: Mauelshagen, Netzwerke des Nachrichtenaustauschs.

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heißt dies etwa: Selbst wenn etwa Marlborough mit einem Spionagenetzwerk zusammenarbeitete, liegt in der Regel nur die Korrespondenz Marlboroughs mit dem d ­ ieses Netzwerk organisierenden Akteur vor, der bestenfalls Berichte seiner Spione weiterleitet. Spionagenetzwerke bleiben also – abgesehen von ihrer Spitze – konstitutiv unsichtbar und sind schon deshalb nicht im strengen Sinne netzwerkanalytisch zu bearbeiten. Infrastrukturen (als Rahmenbedingungen für weitere Strukturbildung), Organisa­tionen (als bürokratische Strukturen der Informa­tionsgewinnung) und Netzwerke (als nicht-­bürokratische, auf Patronage oder Geldzahlungen beruhende Strukturbildungen) sind im Folgenden also die Begriffe, mit deren Hilfe das diffuse und komplexe Feld der politischen, diplomatischen und militärischen Informa­tionsgewinnung um 1700 geordnet werden soll.

3.2 Infrastrukturen als Rahmenbedingungen der Informationsgewinnung In d ­ iesem Kapitel sollen die Infrastrukturen behandelt werden, die (oft unter Nutzung von „Dingen“ materieller Natur) die Rahmenbedingungen für die Informa­tionsgewinnung Marlboroughs und der eng­lischen Regierung darstellten. Diese Rahmenbedingungen bildeten erst das Setting aus, innerhalb dessen Informa­tionsgewinnung vor sich gehen konnte. Einschlägige Infrastrukturen in ­diesem Sinne waren Geld, Briefe, Post und Landkarten. Es wird deut­lich werden, mit ­welchen Schwierigkeiten der Aufbau und die Nutzung von Infrastrukturen konfrontiert waren und wo die Chancen, aber auch die Grenzen von Informa­ tionsinfrastrukturen lagen. 3.2.1 Secret Service Money oder: Womit bezahlt man Informationen?

Informa­tionen sind nicht nur Ressourcen – ihre Beschaffung erfordert auch Ressourcen, zuallererst finanzielle. Dass man für die Organisa­tion der Informa­ tionsgewinnung Geld benötigt, ist selbstverständ­lich und wird auch oft betont – zum Beispiel im Kontext der Diskussion des fiscal-­military state.61 Und dass die Frage der Finanzierung von Informa­tion ein zeitgenös­sisch drängendes Pro­blem war, ist bereits zu Beginn dieser Studie deut­lich geworden – im Rahmen der 61 Vgl. z. B. Brewer, Sinews of Power, 70.

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Vorwürfe gegen Marlborough aus dem Herbst 1711, er habe Geld unterschlagen, und seiner Antwort, ­dieses sei für intelligence ausgegeben worden. Gegen Ende des Buches wird d ­ ieses Problem noch ausführ­lich zur Sprache kommen. Versteht man Infrastrukturen als Rahmenbedingungen für weiteres Handeln und weitere Strukturbildung, gehört die Finanzierung unbedingt an den Anfang. Generell ist der Zusammenhang z­ wischen Geld und Informa­tionsbeschaffung also offenbar unproblematisch, im Detail erweist er sich aber als diffus und kompliziert. Es ist zwar oft mög­lich, einzelne Finanztransak­tionen, Bitten um Bezahlung, Verhandlungen über den ‚Preis‘ von Informa­tionen zu identifizieren. Dies betrifft allerdings fast immer Kommunika­tionen z­ wischen einem Informa­tionsanbieter, der eine bestimmte Summe erhofft oder fordert, und dem Herzog von ­Marlborough oder der eng­lischen Regierung. Für die Regierungsseite selbst ist es überraschenderweise sehr schwierig, systematisch (nicht nur punktuell) festzustellen, wie viel Geld wann an wen gezahlt worden ist. Doch bereits ein Überblick darüber, wie viel Geld nominell für Informa­tionsgewinnung bereitgestellt wurde (nicht einmal also: wie viel davon tatsäch­lich für was investiert wurde), bereitet erheb­ liche Schwierigkeiten. Bereits öfter ist aus einem unveröffent­licht gebliebenen programmatischen Text Daniel Defoes zitiert worden, den dieser 1704 anläss­lich Robert Harleys Ernennung zum Staatssekretär schrieb. Dieser Text kann dazu dienen, sich dem nur teilweise aufzuklärenden Problem der Finanzierung der Informa­tionsgewinnung zu nähern. Defoe konstatierte, dass dieser Bereich massiv unterfinanziert sei, vor allem im Vergleich zur verfeindeten Großmacht: „I have heard that our Secretaryes office is allowed 12000 £ per annum for this weighty article, and I am credibly informed the King of France has paid 11 millions in one year for the same ­article.“62 Defoe vermutete also, dass den Staatssekretären zusammen jähr­ lich 12.000 Pfund für intelligence zugestanden werde, und schlug vor, wenigstens für den Anfang für die Beschaffung von intelligence eine Summe von 100.000 Pfund im Jahr zu veranschlagen. Die von Defoe für skandalös gering gehaltene Summe von 12.000 Pfund war aber einerseits zu hoch, andererseits auch deut­lich zu niedrig angesetzt. Nach 1688 hatten die Sekretäre pro Jahr zusammen erst 5000, ab 1707 dann 6000 Pfund – jeder 3000 – für Informa­tionsgewinnung erhalten, die aber mindestens partiell wohl einfach als zusätz­liches Gehalt aufgefasst wurden.63 Diese Summe wurde 62 Warner, Unpublished Political Paper, 135. 63 Vgl. Thomson, Secretaries of State, 150; Shaw/Slingsby, Introduc­tion, IX. Siehe so auch den Brief von Blathwayt an Godolphins Secretary of the Treasury, William Lowndes, vom 9./19. August 1700, der schreibt, es möge an den Secretary Vernon „the usual charge

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von der Königin an die Sekretäre gezahlt und war Bestandteil der Civil List, also der der Monarchin durch das Parlament zugestandenen Summe für ihre eigenen Ausgaben – zu denen eben auch die Geheimdienstausgaben ‚ihrer‘ Sekretäre gehörten.64 Daneben wurden Spione hin und wieder durch außerordent­liche Mittel finanziert, die den Secretaries zugestanden wurden oder den Informanten direkt durch die Treasury gezahlt wurden.65 Dazu trat aber weiteres Geld – in den 1700er Jahren belief sich dessen Höhe auf 27.000 Pfund jähr­lich –, das der Königin als Secret Service Money auch jenseits der Ausstattung der Secretaries zur Verfügung stand.66 Hinzu kam schließ­lich die Geheimdienstarbeit des Post Office, das ebenfalls den Staatssekretären unterstand und das faktisch für den Großteil der Kosten der Informa­tionsgewinnung aufkommen musste. Allerdings wurden diese unterschied­lichen Töpfe auch und – dieser Eindruck ergibt sich bei der Auswertung der Secret Service-­Abrechnungen – vor allem für Angelegenheiten benutzt, die mit ‚geheimdienst­lichen Tätigkeiten‘ im engeren Sinne oder Informa­tionsgewinnung im weiteren Sinne nichts zu tun hatten. Zwar finden sich zuweilen Hinweise auf die Bezahlung einzelner Informanten oder Kuriere,67 auch wurden einzelne hugenottische Informanten und Abenteurer bezahlt, die sich der eng­lischen Krone anboten.68 Vor allem aber wurden Pensio­ nen und ‚annual allowances‘ damit finanziert.69 Schon unter Karl II. war ­dieses Geld für verschiedenste Zwecke ausgegeben worden: etwa für die Beeinflussung von Parlamentsmitgliedern, für Sonderausgaben der Krone, für Varia, die man nirgendwo anders verbuchen konnte oder wollte, schließ­lich auch für Informa­ tionsgewinnung.70 Diese Beobachtung gilt bis weit ins 18. Jahrhundert – und zwar nicht nur für das könig­liche Secret Service Money, sondern auch für das Post Office. Die Finanzierung der eng­lischen Post im 18. Jahrhundert ist unzureichend of Intelligence and Secret Service in the Southern Province of Secretary of State, the allowance of seven hundred and fifty pounds pr. Quarter“, gezahlt werden (TNA SP 77/57, 163r). – Zur Finanzierung des ‚Geheimdiensts‘ im 16. und 17. Jahrhundert siehe knapp: Funnell, Secret Service, 32 – 34. 64 Zur civil list siehe: Harris, Revolu­tion, 492. 65 Vgl. Horn, British Diplomatic Service, 282. 66 Vgl. Shaw/Slingsby, Introduc­tion, IX. Disparate Hinweise auch bei: Leadam, Finance, 32, Anm. 4. 67 Vgl. Calendar of Treasury Books, Bd. 28, 399 – 504, hier z. B. 441, 452, 466. 68 Vgl. ebd., 442, 460. 69 Vgl. Payments made out of Her Ma.ts Secret-­Service-­Moneys since Micha.s 1708, in: BL Add. 28080, 74 – 74b. 70 Vgl. Calendar of Treasury Books, Bd. 4, 46 f. Zur Spionage in der Regierungszeit Karls II. siehe: Marshall, Intelligence and Espionage.

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erforscht;71 allerdings geben die Quellen, soweit ich sehe, auch nur sehr unvollständig Auskunft. Das Problem besteht unter anderem darin, dass der Post nicht eine fixe Summe zur Verfügung gestellt wurde, sondern sie sich – anders als andere Ämter – über weite Strecken durch eigene, kommerzielle Einkünfte finanzierte, die sich um 1700 wohl auf etwa 148.000 Pfund jähr­lich beliefen.72 Auch von diesen Mitteln wurde ein statt­licher Teil – wohl bis zu einem Drittel – für sachfremde Pensionszahlungen verwendet.73 Die im Rahmen dieser Studie einschlägigste Pensionszahlung aus dem Post Office waren die 5000 Pfund jähr­lich, die M ­ arlborough (und seinen männ­lichen Erben) 1702 im Rahmen der Verleihung seines Herzogstitels zugesprochen wurden.74 Das Geld für Secret Service, das die Krone, die Secretaries of State oder die Treasury abrechneten, hatte also bis auf wenige Ausnahmen mit ‚geheimdienst­ lichen Aktivitäten‘ nichts zu tun. Wo es damit zu tun hatte, wurde dies kaum nachvollziehbar belegt: Auffällig ist die Schwierigkeit, selbst bei einer großen Fülle administrativ-­finanzieller Aufzeichnungen diejenigen Zahlungen zu identifizieren, die tatsäch­lich für Informa­tionsgewinnung aufgewendet wurden. Nur für wenige Zeiträume des 18. Jahrhunderts liegen überhaupt belastbare Zahlen vor, die natür­lich nicht einfach auf das erste Jahrzehnt des Jahrhunderts übertragen werden können. Für den Zeitraum von 1718 bis 1720 kann man von ungefähr 2500 Pfund für einen Zeitraum von zwei Jahren ausgehen, der dem Post Office für die Organisa­tion von Briefinterzep­tionen gezahlt wurde. In den Jahrzehnten 1740 bis 1760 liegt die Summe bei etwas über 2000 Pfund pro Jahr.75 Diese verstreuten Zahlen sind für sich wenig interessant, belegen aber vor allem eines: dass Spionagezahlungen – selbst dort, wo Spionage organisa­tions- und behördenförmig strukturiert wurde – kaum nachvollziehbar belegt wurden: „Nothing is more remarkable than the rigid silence which all the existing Treasury records preserve, with regard to the expenditure of the Secret Service money proper.“76 Von den Geldern, die die Secretaries of State direkt – oder indirekt, über das Post Office – für Secret Services einsetzten (oder eben auch nicht einsetzten), ist aber noch ein anderer Posten zu unterscheiden. Zwar profitierte Marlborough bei der Koopera­ tion mit den Secretaries of State auch von deren Informa­tionsnetzwerken – oft 71 Siehe auch Kapitel 3.3. 72 Vgl. Whyman, Pen and the People, 53; Ellis, Post Office, 38. 73 Vgl. Robinson, British Post Office, 79 f. 74 Vgl. BPMA, POST 103/2, 25 – 28 (Abschrift der könig­lichen Zahlungsanordnung); BL Add. 61348, 153r–154r (Marlboroughs Exemplar). 75 Vgl. Ellis, Post Office, 69 u. 134. 76 Calendar of Treasury Books and Papers, Bd. 3, 3.

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ist sogar ununterscheidbar, ob die Informa­tionsnetzwerke eher den Secretaries of State oder dem Herzog zuarbeiteten. Dennoch verfügte Marlborough als Captain-­General der Allianztruppen auch über eigene Gelder, die für Informa­ tionsgewinnung vorgesehen waren. Dies wird deut­lich aus den Angaben, die Marlborough im Rahmen des Unterschlagungsverfahrens machte (und die im Großen und Ganzen zutreffen dürften): Die Finanzierung von intelligence im Kriegsgebiet war bereits im vorherigen Krieg (dem Pfälzischen Erbfolgekrieg oder Nine Years’ War) im Parlament verhandelt worden. Beschlossen worden war am 22. Februar 1694 eine Summe von 10.000 Pfund für Secret Services jähr­ lich, zu der allerdings eine Summe von offenbar variabel einsetzbaren 40.000 Pfund für „contingencies“ trat.77 Nach Marlboroughs Aussage reichte aber ­dieses Geld kaum aus; König Wilhelm III. habe die Summe aus eigener Kasse in der Regel auf 70.000 Pfund jähr­lich aufstocken müssen.78 Trotz dieser Unterfinanzierung sei dem Oberbefehlshaber auch zu Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges (am 27. Januar 1702) nur eine Summe von 10.000 Pfund für intelligence bewilligt worden, von der überdies, so Marlborough, in der Regel ungefähr 3000 Pfund für andere Varia benutzt wurden.79 Der Grund für diese niedrige Summe (die aber vermut­lich, jedenfalls nominell, eher 12.000 als 10.000 Pfund im Jahr betrug) sei die Tatsache gewesen, dass von den 40.000 von England gestellten Soldaten nur knapp die Hälfte Briten gewesen s­ eien (die anderen waren vor allem Iren) und das Parlament darin einen Grund sah, die Summe mög­lichst niedrig zu halten.80 Der Umstand, dass seine Gegner, die ihm in fast jedem Punkt Lüge, Inkorrektheit etc. nachzuweisen versuchten, diese Summe nicht monierten, scheint mir ein Indiz dafür zu sein, dass in der Tat eher 10.000 als 12.000 Pfund ausgezahlt wurden – genauso wie dafür, dass Marlboroughs Angaben insgesamt zutreffen. 77 Vgl. Cobbett, Parliamentary History, Bd. 5, Sp. 891. Ob die 40.000 Pfund für „contin­ gencies“ tatsäch­lich auch für die Beschaffung von Informa­tion eingesetzt werden sollten, ist schwer zu beurteilen. Allerdings heißt es in einer Schrift, die Marlborough gegen den Vorwurf der Bestech­lichkeit verteidigte: „Is not the Article of secret Service comprehended in Contingencies, and the principal Part of them? Is not the Money for Intelligence given under the Name of Contingencies, to avoid giving Umbrage to the Enemy?“: A Speech without Doors, 39. 78 Vgl. The Case of his Grace, 7. 79 Vgl. ebd.; siehe auch: Cobbett, Parliamentary History, Bd. 6, Sp. 1088. 80 Vgl. Calendar of Treasury Books, Bd. 18, V–XLVI, online: British History online, http:// www.british-­history.ac.uk/report.aspx?compid=84285&strquery=18,328. Hier ist die Rede von 12.000 Pfund jähr­lich; Marlborough selbst spricht in seinen Verteidigungsschriften von 1711/12 von 10.000 Pfund jähr­lich; vgl. The Case of his Grace, 12 f.; The Informa­tion Against the Duke of Marlborough, 14.

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Angesichts dieser unzureichenden Finanzierung, so führte Marlborough weiter aus, habe der König die Idee gehabt, die militärische Informa­tionsgewinnung unter anderem durch einen Teil der an die Verbündeten zu zahlenden Subsidien zu finanzieren – eben dies war einer der Tatbestände, die im Herbst 1711 als Unterschlagung inkriminiert wurden. Darauf wird zurückzukommen sein. Hier reicht der Hinweis, dass (jedenfalls nach Marlboroughs Aussage, und eine andere gibt es nicht) durch die Subsidiengelder ein zusätz­licher Topf für Informa­tionsgewinnung entstand, der ca. 15.000 Pfund im Jahr umfasste.81 Was mit ­diesem Geld allerdings genau geschah, ist kaum zu sagen. In dieser Hinsicht ist Marlboroughs Einschätzung richtig: Weder die ‚offiziellen‘, vom Parlament beschlossenen Summen für Secret Service noch auch irgendwelche zusätz­lichen Summen wurden ordnungsgemäß abgerechnet oder belegt.82 Es verhält sich also mit den Ausgaben für Informa­tionsgewinnung, die ­Marlborough direkt tätigte, ähn­lich wie mit den Geldern, die den Staatssekretären für Secret Service zugestanden wurden. In den Aufzeichnungen des Paymaster der eng­lischen Truppen auf dem Kontinent, Benjamin Sweet, kommt Informa­ tionsgewinnung praktisch nicht vor.83 Man kann allerdings indirekt erschließen, dass Sweet, der in Amsterdam ansässig war,84 Informanten Geld ausgezahlt hat. So schreibt Marlboroughs Sekretär Cardonnel am 8. Juli 1706 an den Amster­ damer Buchhändler Louis Renard: „Je vous remercie de la continua­tion de Vos Memoires dont My Lord Duc est fort content; Vous trouverez cy joint une lettre pour Mons.r Sweet Nôtre Tresorier a Amsterdam, qui Vous payera la Valeur de Cinquante Livres Sterling, dont Vous pouvez disposer comme Vous jugerez a propos.“85

Nur selten, dann aber umso auffälliger, ist in den Quellen direkt davon die Rede, die Entsendung von Spionen in feind­liches Kriegsgebiet möge über das Post Office 81 Vgl. Cobbett, Parliamentary History, Bd. 6, Sp. 1082 f.; The Informa­tion Against the Duke of Marlborough, 15. 82 Vgl. The Informa­tion Against the Duke of Marlborough, 19. 83 Vgl. BL Add. 61135, 14r–92r; BL Add. 61330, 19r–55v; BL Add. 61406. 84 Auch nach der Eroberung großer Teile der süd­lichen Niederlande wurde es für sinnvoll gehalten, dass Sweet in Amsterdam – also im Zentrum der kontinentalen Finanzgeschäfte – blieb. Er schrieb 1706 deswegen an Marlborough: „let the Armery be in what part of the world soever either in Campagne or in Winter quarters: Amsterdam is the only Exchange in the world to supply them.“ (BL Add. 61406, 135v). 85 BL Add. 61398, 22r.

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abgerechnet werden; Marlboroughs Sekretär Cardonnel schrieb im Oktober 1710 an John Macky in Dover: „What Expence you may have been at in sending a Man to Dunkirk and Calais for Intelligence of what was fitting out in those ports, My Lord Duke desires you will place to the Acc.t of the Post Office.“86 An dieser Stelle wird deut­lich, dass Marlborough für die Bezahlung von Spionage erstens offenbar situativ auf unterschied­liche Finanzierungsressourcen (den Paymaster der Truppen, das Post Office) zurückgriff und damit zweitens die Grenzen z­ wischen der zentral (in London) und der lokal (in den süd­lichen Niederlanden) organisierten Spionage verschwimmen. Drittens ist aber eine ­solche Quellenstelle wenn nicht singulär, dann doch so wenig prominent, dass sie vor allem illustriert, wie schwierig synthetisierende Aussagen über die Finanzierung der Informa­tionsgewinnung bleiben. Vor dem Hintergrund der unklaren Zuständigkeiten, der offenbar bewussten Verschleierung und der daher problematischen Quellenlage gewinnt die Verteidigung Marlboroughs gegen die Korrup­tionsvorwürfe vom Herbst 1711 einige Plausibilität. Dies heißt nicht, dass Marlborough sich während des Krieges nicht tatsäch­lich massiv bereichert hat; darauf wird zurückzukommen sein. Wenn die Quantifizierung der Summen, die für Informa­tionsbeschaffung bereitgestellt wurden, sich als schwierig erweist, so ist es doch noch weitaus schwerer, sich genaue Rechenschaft über den Umfang anderer Währungen abzulegen, die zum Einsatz kamen. Denn die eklatante Unterfinanzierung der eng­ lischen intelligence hing auch damit zusammen, dass es andere Kapitalien gab, in denen Informa­tionsgewinnung entlohnt werden konnte. Wenn intelligence Teil einer Amts- oder Dienstpflicht darstellte, musste sie nicht separat bezahlt werden – und sie gehörte ja zu den offiziellen Aufgaben der Diplomaten. Wenn sie das Medium war, in dem Patronagebeziehungen angebahnt und aufrechterhalten wurden, waren Gunst und Protek­tion die Währung, in der bezahlt wurde. Die finanzielle Unterversorgung ­dieses Bereichs dürfte also durchaus einen Grund in dem Bewusstsein haben, dass es in einem gewissen Maße auch ohne Geldzahlung mög­lich war, Informa­tionsgewinnung zu betreiben. Oder andersherum: Man war gezwungen, auf andere Wege zurückzugreifen, wenn und weil der Bereich der Informa­tionsgewinnung unterfinanziert war. Wofür wurden aber die genannten Summen nun ausgegeben? Im Wesent­lichen lässt sich diese Frage beantworten, indem man drei verschiedene Strukturen in den Blick nimmt: erstens eine weitere infrastrukturelle Rahmenbedingung, die die Informa­tionsgewinnung überhaupt erst ermög­lichen sollte: die Post; zweitens organisa­tionsförmig strukturierte Informa­tionsgewinnung, die über die Secretaries 86 Cardonnel an John Macky, 30. Oktober 1710, in: BL Add. 61401, 118v.

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of State, die Diplomaten und das Militär lief; drittens schließ­lich ad hoc oder längerfristig funk­tionierende informelle Netzwerke der Informa­tionsgewinnung. In allen drei Bereichen war Marlborough auf die eine oder andere Weise ein zen­ traler Akteur, in allen drei Bereichen kooperierte er aber auch mit der Regierung, allen voran mit den Secretaries of State. 3.2.2 Der Herzog liest und schreibt: Briefe als Grundlage von Epistolarpolitik

Briefe sind die hauptsäch­liche Quellenbasis ­dieses Buches – und Briefe stellten eine wichtige Infrastruktur dar, insofern sie eine zentrale (mediale) Rahmenbedingung für Marlboroughs Informa­tionsgewinnung bildeten.87 Europa wurde während des Spanischen Erbfolgekrieges mit einem Netz von Korrespondenzen überzogen. Von Jacob van der Poel, als Postmeister im niederländischen Brielle ein Pensionsempfänger der eng­lischen Regierung,88 stammt eine Aufstellung der Briefe, die über diesen Hafen im Laufe der ungefähr sechs Kriegsmonate der Jahre 1703 bis 1709 an Marlborough verschickt wurden und für die van der Poel bezahlt werden wollte. Es ergeben sich ­zwischen 1300 und 2000 Briefe pro Feldzug.89 Das ist – aus Mangel an weiteren Quellen – nicht seriös hochzurechnen, aber zu Brielle kamen ab 1706 Ostende sowie die gesamte kontinentale Post dazu. Marlboroughs Nachlass umfasst 313 dickleibige Bände, die zum allergrößten Teil Korrespondenz enthalten. Ist dies schon viel Material, ist doch festzuhalten, dass große Teile der Korrespondenz nicht aufbewahrt wurden oder sich aus anderen Gründen nicht erhalten haben. Auch die Briefe, die Marlborough selbst schrieb, sind hier zum größten Teil nicht enthalten – man kann aber von einer ebenfalls statt­lichen Größenordnung ausgehen. Der weitaus überwiegende Teil dieser Dokumente stammt aus der Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges und enthält die 87 Der Begriff des Mediums wird angesichts der Diffusität seines Gebrauchs hier nur en passant, nicht in einem terminolo­gischen Sinne verwendet; ich spreche eher von medialen Rahmenbedingungen, die Infra-­Strukturen für weitere Strukturbildungen (etwa für Netzwerke und Organisa­tionen) bereitstellen. Am ehesten orientiere ich mich dabei an den medientheoretischen Überlegungen etwa von Krämer, Medium, die gegenüber der in der Forschung vorherrschenden, manchmal hypertrophen Betonung der Eigenlogik des Medialen vor allem deren Heteronomie betont. Für eine pragmatische definito­rische Annäherung siehe auch Wenzel, Einleitung, 16 sowie: Würgler, Medien, 2. 88 Siehe BPMA, POST 103/1, 17. Juli 1702, 146 f. sowie BPMA, POST 1/3, 30. Juli 1702. 89 Vgl. BL Add. 61348, v. a. 47v; siehe aber auch ebd., 44r–45v, 47r–48v, 89r–89v, 90r–91v,117r– 118v; BL Add. 61130, 34r, 36r.

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Korrespondenzen mit eng­lischen Politikern: mit Godolphin (wöchent­lich, meist öfter), mit den Secretaries (wöchent­lich, meist öfter). Weitere Briefpartner sind eng­ lische Gesandte in ganz Europa, nordniederländische Politiker und Militärs, allen voran Anthonie Heinsius; die südniederländische Regierung nach 1706; Wiener Politiker, aber auch preußische, hannoversche, pfälzische, savoyische und lothrin­ gische, schwedische und portugie­sische Amtsträger und Höflinge; hugenottische Refugiés, schließ­lich eine große Zahl von Generälen, Festungskommandanten, Soldaten auf dem Kriegsschauplatz. Schließ­lich finden sich auch Newsletters und Spionagekorrespondenz.90 Marlboroughs vielfältige Korrespondenz entspricht der besonderen Vielzahl seiner Funk­tionen: Als General benötigte er strate­gische und taktische Informa­ tionen, als Diplomat wie als Innenpolitiker politische, militärische, religiöse und kulturelle Informa­tionen. Diese triviale Feststellung ist nur deshalb nötig, weil die (vor allem ältere eng­lische) Forschung dazu neigt, die Diversität von M ­ arlboroughs Funk­tionen nicht zur Kenntnis zu nehmen und seine Rolle als Kriegsheld ganz in den Vordergrund zu rücken. „To consider Marlborough purely as a general is as misleading as it would be to see, say, Paul McCartney as only a classical composer, Alexander Borodin as just a chemist, or Winston S. Churchill as a simple historian.“91 Die große Bedeutung von Briefen lässt sich aber daneben auf zwei Charakteristika zurückführen. Erstens sind Briefe „Medien der Vergesellschaftung […], in denen ­sozia­le Beziehungen über räum­liche Distanzen hinweg geknüpft und aufrecht erhalten wurden“92. Briefe erlaubten also eine Ausbildung von Strukturen als dauerhaften Handlungszusammenhängen, weil schrift­liche Distanzkommunika­ tion die einzige Mög­lichkeit war, die Koopera­tion ­zwischen London und den verschiedenen Kriegsschauplätzen zu koordinieren. Nur so war ein euro­päischer Krieg dieser Größenordnung überhaupt mög­lich. Daher sind es vor allem brief­ liche Kommunika­tionsakte, aus denen im vorliegenden Fall Strukturen entstehen, ja: die die Infra-­Struktur für weitere Strukturbildungen darstellen. Briefe sind das Beispiel par excellence für eine „Wirkungschance […] trotz Abwesenheit“93. Der zweite Grund für die Bedeutung brief­licher Korrespondenzen besteht in der generellen Affinität von Schrift­lichkeit zu dauerhafter Strukturbildung.94 Münd­lichkeit dagegen steht in einem schwierigen Verhältnis zur Ausbildung von 90 Vgl. Catalogue of Addi­tions, 3 f. Siehe auch: Snyder, Introduc­tion. 91 Holmes, Marlborough, 6. 92 Mauelshagen, Netzwerke des Vertrauens, 119. 93 Hengerer, Abwesenheit beobachten, 27. 94 Vgl. Schlögl, Kommunika­tion, v. a. 178, 207, 217.

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Strukturen; diese müssen sich zwar nicht vollständig, aber doch in hohem Maße „gegen Interak­tionskommunika­tion ausdifferenzieren“95. Münd­liche Kommunika­tion erscheint im Hinblick auf Strukturbildungen also als eher defizitär; empirisch ist sie im vorliegenden Fall ohnehin nur sehr begrenzt fassbar. So lässt sich etwa die interne militärische Kommunika­tion und Informa­tionsgewinnung ­Marlboroughs vor Ort weitgehend schon deshalb nicht rekonstruieren, weil die Offiziere M ­ arlboroughs 96 Anweisungen münd­lich weitergaben. Auch die regierungsinterne Kommunika­ tion mit eng­lischen Regierungsmitgliedern verlief dann münd­lich, wenn Marlborough sich während des Winterhalbjahrs in London aufhielt. Ähn­liches gilt für ­Marlboroughs Informanten am eng­lischen Hof, die vor allem mit seiner Frau Sarah kommunizierten.97 Münd­liche Kommunika­tion war daher mutmaß­lich wichtig, ist aber nur im Einzelfall erschließbar. Schrift­liche Kommunika­tion ist gegenüber Münd­lichkeit durch eine gewisse Akzentuierung der Informa­tionsfunk­tion von Kommunika­tion gekennzeichnet.98 Schon dies macht Briefe für die Untersuchung von Marlboroughs Informa­tionsgewinnung zentral. Allerdings versuchen Briefe oft, eine Münd­lichkeitsfik­tion aufzubauen; sie verbinden sogar – wegen der Praxis des Vorlesens und der Weitergabe von Briefen – verschiedene Anwesenheitssitua­ tionen und ermög­lichen eine (fiktive) „Interak­tion auf Distanz“99. In der neueren Forschung werden Briefe daher als „key vehicle for government, statecraft and diplomacy“100 gedeutet. Damit ist die alte Sicht, die Briefe pauschal als ‚privat‘ klassifizierte,101 überwunden. Stattdessen wird der Brief als zentral für die politische Kommunika­tion des Ancien Régime interpretiert.102 95 Schlögl, Interak­tion und Herrschaft, 120. Münd­liche, also Interak­tionskommunika­tion, kann die Kommunika­tionstrias von Informa­tion, Mitteilung und Verstehen nicht ausdifferenzieren. So kann zum Beispiel „die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung der Kommunika­tion nicht einfach vertagt werden“: Kieserling, Kommunika­tion, 58. 96 Vgl. Scouller, Armies of Queen Anne, 53 f.; zur Umstellung der internen Heereskommunika­ tion von Münd­lichkeit auf Schrift­lichkeit im Zuge der allmäh­lichen Etablierung der Generalstäbe im 18. Jahrhundert siehe auch Anklam, Wissen, 38. 97 Vgl. Harris, Passion for Government, 171. Vgl. auch Holmes, Marlborough, 445. 98 Vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, 275. 99 Weber, Arkanum, 59. 100 Daybell, New Direc­tions, 1. 101 So noch: Maurer, Briefe; auch bei Schmid, Briefe, 125, heißt es: „Der Brief ist also eine schrift­liche Mitteilung persön­lichen Inhalts, gewechselt ­zwischen Partnern, die in rein persön­licher, nicht amt­lich oder geschäft­lich bedingter Beziehung zueinander stehen – unabhängig davon, ob und ­welche Ämter oder Funk­tionen sie anderweitig bekleiden.“ 102 Vgl. Weber, Arkanum, 72. Dass Briefe nicht etwa ein „Privat“-Medium waren, betonen auch: Boutier/Landi/Rouchon, Introduc­tion, v. a. 12 sowie Mauelshagen, Netzwerke des

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Auch der Blick auf die Quellen dieser Studie ergibt, dass eine Klassifizierung der Briefe nach öffent­lich und privat, offiziell und inoffiziell, Amtsbrief und Privatbrief zeitgenös­sisch zwar angelegt war und auch manchmal durchgehalten, aber auch relativ oft unterlaufen wurde. Und doch gab es durchaus ein Bewusstsein für diese Trennung, wenn etwa Marlboroughs Deputy Judge Advocate Henry ­Watkins in einem Brief an einen Freund die Korrespondenzkonven­tionen karikiert: „Were you and I divines, lawyers, physitians, sharpers, stockjobbers, pickpockets, or any thing in the world but just what we are, We should take care to let as little of Our profession as possible enter into our Correspondences. I was born as free as any of them, and therefore will exempt my self as much as I can from the servitude custom has so long lain us under. I will not therefore so much as tell you when I receiv’d your last letter, what date it bore, nor whether you honour’d, favour’d or oblig’d me with it.“103

Dass Amts- und Privatkorrespondenz in der Praxis oft nicht getrennt wurden, ist zum Beispiel schon daran abzulesen, dass zentrale Informa­tionslieferanten ­Marlboroughs gleichzeitig oft auch anderes lieferten (etwa Luxusgüter) und in ihren Briefen übergangslos ­zwischen den verschiedenen Lieferungen wechseln konnten: So arbeiteten etwa François Jaupain und John Lawes – zwei Personen, die noch eine große Rolle spielen werden – auch als Zwischenträger für Geld und Waren wie Spiegel oder gar Tee.104 Auch der Rotterdamer Kaufmann ­Etienne Caillaud, Organisator eines zentralen Spionagerings, lieferte gleichzeitig Wein an die eng­lischen Generäle und auch an Marlboroughs Hauptquartier.105 Die für das spätere 18. Jahrhundert verwaltungsgeschicht­lich charakteristische Entwicklung, dass als Folge formaler Organisa­tion in der Regel ein Schriftstück Nachrichtenaustauschs. Zu frühneuzeit­lichen Briefen siehe auch: Furger, Briefsteller, sowie die Materialien der großen, vor allem auf gelehrte Korrespondenz abzielenden Onlineplattform „Cultures of Knowledge. Networking the Republic of Letters, 1550 – 1750“ (http://www.culturesofknowledge.org/) sowie die digitale Zeitschrift „Lives and Letters. A journal for early modern archival research“ unter http://journal.xmera.org/. 103 Henry Watkins an Horatio Walpole, 19. Juni 1710, BL Add. 38500, 255r. Zu Watkins siehe: Frey/Frey/Rule, Introduc­tion, XV–XVI. Watkins karikiert hier etwa die allenthalben zu beobachtende und z. B. Diplomaten eingeschärfte Regel, wegen der Unkalkulierbarkeit der Post den Briefempfang zu bestätigen. 104 Vgl. BL Add. 61348, 54v u. 63r. Auch seine Frau bat der Herzog um die Beschaffung von Tee „that is fitt to be drunk“ – offenbar war der in Flandern erhält­liche Tee ungenießbar. Siehe Marlborough an Sarah, 10./21. April 1705, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 417. 105 Vgl. BL Add. 38710, 100r, 119v; BL Add. 61399, 141v.

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nur ein Thema behandelt und damit formale und informelle Kommunika­tion getrennt werden,106 ist hier also noch nicht zu beobachten: „In einer nicht differenzierten Verwaltung ohne Ablaufroutinen kann man nicht sinnvoll ­zwischen formalen und nicht-­formalen Kommunika­tionen unterscheiden. In einer zentralen Registratur dagegen verschwinden die nicht formalen, nicht dienst­lichen Kommunika­tionen aus den Akten.“107

Doch wie sah Marlboroughs Umgang mit Briefen aus? Die Situa­tion im Feldlager wird nicht häufig thematisiert und ist schwer zu rekonstruieren. „It remains difficult to make out what he actually did as a commander in the field on a day-­to-­day basis.“108 Marlboroughs „Stab“ bestand aus einer unklaren Zahl von Personen, die verschiedene Aufgaben wahrnahmen. Militärhistoriker rekonstruieren 20 bis 40 Ämter und Aufgaben, weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass neben dem Feldprediger und Chefpropagandisten Francis Hare und dem Deputy Judge Advocate der Armee, Henry Watkins, vor allem zwei Mitarbeiter zentral sind: ­Marlboroughs Quartermaster-­General William Cadogan und sein Privatsekretär Adam de C ­ ardonnel.109 Cadogan war für Rekognoszierung, Nachschub und Logistik zuständig; gleichzeitig war er der verantwort­liche Offizier, wenn Marlborough (im Winter oder sonst) nicht bei der Armee war.110 Marlboroughs Privatsekretär Cardonnel war hugenottischer Abstammung und nicht nur für die 106 Vgl. Meier, Niklas Luhmanns Systemtheorie, 142. 107 Ebd., 136. 108 Guy, John Churchill, 105. 109 Vgl. Kemp, Weapons and Equipment, 9 f.; Scouller, Armies of Queen Anne, 57 u. 61, Anm. 2. Das Oxford Dic­tionary of Na­tional Biography hat zwar einen Artikel zu ­Marlboroughs Stab, versteht diesen aber diffus als Gruppe derjenigen „generals and senior civilian officials who played an important supporting role to John Churchill, first duke of ­Marlborough, in his capacity as commander-­in-­chief of the British and allied forces in the Netherlands during the War of the Spanish Succession.“: Hanham, Marlborough’s staff. Verstreute Hinweise zum „Stab“ siehe auch in: Fortescue, A Junior Officer, 178 u. 183; Chandler, Marlborough, behauptet, Abb. 32 seines Buches stelle „­Marlborough and his staff“ dar. Das abgebildete Gemälde von Pieter van Bloemen und Balthasar van den Bossche (von 1714) zeigt aber, wie die Onlinepräsenta­tion vermerkt, zwar Marlborough, Cadogan und einige Offiziere während der Schlacht von Höchstädt, ist aber kaum eine Darstellung „des Stabes“. Siehe http://www.gac.culture.gov.uk/work.aspx?obj=10131&sid=134689&tb=2. – Zu Francis Hare siehe Metzdorf, Politik. – Die Entwicklung von festeren Generalstäben ist generell eher ein Phänomen, das im Laufe des 18. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt; siehe Nowosadtko, Krieg, 57 f. 110 Vgl. Holmes, Marlborough, 213.

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Verbesserung von Marlboroughs dürftigem Franzö­sisch, sondern überhaupt für den Großteil seiner Korrespondenz mindestens mitverantwort­lich.111 Cardonnels Einfluss auf Marlborough wurde als sehr hoch eingeschätzt; franzö­sische Minister meinten zu wissen, „qu’il est absolument necessaire de persuader le secretaire pour réussir aupres du maître“112. Marlborough selbst bemerkte: „all the business I have with the foraine courts goes thorow his hands.“113 Die Korrespondenten schrieben häufig nicht nur an Marlborough, sondern auch an seinen Privatsekretär: Oft ergab sich so eine gewisse Doppelung der Korrespondenz, wenn Cardonnel an Sekretäre oder nachgeordnete Amtsträger schrieb, an deren Herren Marlborough Briefe sandte (die wiederum von Cardonnel geschrieben wurden). Diese Doppelung hat zweifellos mit Rangfragen zu tun, aber auch damit, dass klar war, dass Cardonnel die wichtigen Informa­tionen an Marlborough weitergeben würde.114 Offenbar ließ man organisatorische Probleme eher über Cardonnel laufen, während die im engeren Sinne politischen (natür­lich aber auch die repräsentativen) Materien von Marlborough direkt bearbeitet wurden. Cadogan und Cardonnel übernahmen auch Funk­tionen, die in der Literatur oft als geheimdienst­lich klassifiziert werden. Ihre Aufgaben lassen sich annäherungsweise mit Bélys Unterscheidung z­ wischen einer großräumigen, strate­gischen Makrospionage und einer kleinräumigen Mikrospionage 115 erfassen: Cardonnel war mit der diplomatischen Korrespondenz befasst und beschäftigte sich also auch mit der Organisa­tion von Spionage; Cadogan war als Quartermaster-­General für die Rekognoszierung auf dem Kriegsterrain zuständig. Ob diese Tätigkeiten allerdings sinnvollerweise so vollmundig charakterisiert werden können, wie dies in der Literatur oft geschieht, wird in den folgenden Kapiteln erörtert werden: Cadogan erscheint in der Forschung als „chief of intelligence and master spy“116 111 Vgl. Treasure, Cardonnel, 29 f.; Watson/Wynne, Cardonnel; siehe auch: Snyder, Introduc­ tion, XXXI f. – Das auch münd­lich schlechte Franzö­sisch Marlboroughs ist für den Zeitgenossen Voltaire sogar ein weiteres Plus des Herzogs, weil es seine charismatische Überzeugungskraft noch deut­licher hervortreten lässt: „plus d’une fois les états-­ généraux ayant résolu de s’opposer que le duc de Marlborough devait leur proposer, le duc arrivait, leur parlait en français, langue dans laquelle il s’exprimait très mal, et les persuadait tous. C’est que le lord Bolingbroke m’a confirme.“: Voltaire, Œuvres complètes, Bd. 22, 143. 112 So Chamillart an Torcy, 2. November 1708, in: The Collec­tion of Autograph Letters, Bd. 2, 74. 113 Zitiert nach: Treasure, Cardonnel, 29. 114 Vgl. explizit so: BL Add. 61413, 141r; Letters and Dispatches, Bd. 1, 384. 115 Vgl. Bély, Espions, 230. 116 Watson, Marlborough’s Shadow, XII; siehe auch: Dickson, Cadogan’s Intelligence Service, 161.

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oder „Chief of the Staff and Director of Intelligence“117; Cardonnel habe, so kann man lesen, ein „bureau“ unterhalten, das die Spionageinforma­tionen auswertete; auch er war „master spy“118. Cardonnel hatte in der Tat eine (unbestimmte) Anzahl von Mitarbeitern; er selbst spricht von „my people“119. Während Cadogans Informa­tionsgewinnung damit weitgehend vor Ort und überwiegend münd­lich stattfand und daher schwer zu rekonstruieren ist,120 waren Cardonnels Aufgaben eng an die infrastrukturelle Rahmenbedingung brief­licher Kommunika­tion geknüpft. Wenn Marlborough sich auf dem Kontinent aufhielt, las ihm oft, nicht immer, Cardonnel die eingegangenen Briefe vor.121 Es war auch Cardonnel, der in Absprache mit Marlborough die Zirkularbriefe für die Gesandten, die Staatssekretäre und die London Gazette verfasste.122 Dabei wurden auch die individuellen Briefe einem größeren Kreis zugäng­lich gemacht: Godolphin etwa leitete die Briefe, die Marlborough ihm schickte, in der Regel an Sarah weiter, nachdem er sie der Königin vorgelesen hatte.123 Auch die Briefe an Sarah wurden in der Regel über Godolphin geschickt, wohl, weil das als sicherer galt.124 Lange Zeit war Sarah gleichberechtigt in die Briefwechsel ­zwischen Anne, Marlborough und Godolphin einbezogen. Zuweilen liefen sämt­liche Briefe, auch Sarahs und Godolphins, über die Staatssekretäre.125 Dies war administrativ auch so vorgesehen; insgesamt ergibt sich damit, allerdings vor allem in den Zeiten des politischen Einverständnisses ­zwischen Marlborough und der Regierung, eine weitgehende Kommunika­tionsgemeinschaft ­zwischen Marlborough, Godolphin und den wechselnden Staatssekretären. Dies wird zum Beispiel deut­lich, wenn Marlborough dem Secretary Harley unter Bezugnahme auf Godolphin schreibt: „The person I proposed to you to give intelligence does now correspond with my Lord treasurer, so that you will be equally master of his news as if it came directly to yourself.“126

117 Churchill, Marlborough, Bd. 1, 466. 118 Zitate: Rule, Gathering Intelligence, 737; Backscheider, Daniel Defoe, 2. 119 Cardonnel an John Lawes, 14. September 1707, in: BL Add. 61398, 249r. 120 Vgl. Kapitel 3.3.3. 121 Vgl. z. B. BL Add. 38500, 243r; BL Add. 61399, 92r; BL Add. 61394, 45v. 122 Vgl. BL Add. 38500, 273r–274r, 311, 349v. Eine Sammlung dieser Zirkularbriefe findet sich in BL Add. 61403. 123 Vgl. The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 138 u. 184. 124 Vgl. The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 293, Anm. 3. Siehe auch Snyder, Introduc­tion, XVI u. XXXII. 125 Vgl. etwa Harley an Marlborough, 15./26. August 1707, in: BL Add. 61125, 31v. 126 Marlborough an Harley, 9. Mai 1706, in: Letters and Dispatches, Bd. 2, 498 f.

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Marlborough selbst schrieb oft, dass seine Hauptaufgabe im Schreiben von Briefen bestehe. So erwähnte er im Frühjahr 1711 gegenüber Harley, der eine Nachricht von ihm nicht erhalten hatte (was auf Probleme mit der Post hinweist): „I was very much surpriz’d to understand from Watkins the letter I immediall writ in answer to that Coll: Guise brought me from your Lordship was not come to your hands, the pen is so seldom out of mine, that I am scarce ever reproached with silence.“127

Man kann erschließen, dass Marlborough nach einem langen Tag oft abends noch eine Vielzahl von Briefen zu beantworten hatte. Zu Beginn des Krieges schilderte er seiner Frau seinen Alltag: „I am a horseback, or answering of letters all day long. For besides the business of the army, I have letters from the Hague, and all places where her Majesty has ministers. So that if it were not for my zele for her (der Königin, M. P.) Service, I should certainly desert, for you know of all things, I doe not love writing.“128

Diese Aussage – „I doe not love writing“ – fällt ins Auge: Offenbar war dem Höfling und General zu Beginn des Krieges noch nicht klar, dass seine Aufgabe in den nächsten zehn Jahren zu einem nicht unbeträcht­lichen Teil aus Epistolarpolitik bestehen sollte.129 Dies war unter anderem deshalb zentral, weil Marlborough zwar im Winter in London sein konnte, aber eben die Hälfte des Jahres außerhalb Englands verbrachte.130 Cardonnel schrieb einmal: „I have had my pen in my hand these twenty four hours and have still a good deale to write.“131 Selbst seiner Frau schrieb Marlborough manchmal, sie möge ihn angesichts einer Vielzahl noch zu schreibender Briefe davon entbinden, ihr von der Kriegssitua­tion zu berichten, und stattdessen Zeitung lesen: „I have not time to write to you what passes. The publick papers will informe you.“132 127 BL Add. 61125, 132v. 128 Marlborough an Sarah, 6./17. Juli 1702, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 84. Siehe auch den Brief an Harley, 10. August 1704: er habe ihm nicht geschrieben, „having been on horseback almost the whole day“: Letters and Dispatches, Bd. 1, 387. 129 Analog spricht ein neuerer Sammelband von den das Feld des Politischen strukturierenden Funk­tionen des Briefs als „politique par correspondance“; siehe: Boutier/Landi/ Rouchon (Hrsg.), La politique par correspondance. 130 Vgl. Snyder, Introduc­tion, XXVI. 131 Zitiert nach: Snyder, Introduc­tion, XXXI. 132 Marlborough an Sarah, 29. November 1708, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1153. Siehe auch den Brief an Sarah, 7./18. Juni 1705, in: ebd., Bd. 1, 445: „I am fitter to go to bed then to write.“

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Nur selten, dann aber mit einiger Befriedigung, schreiben seine Briefpartner dem Herzog: „I thought it would be some satisfac­tion to let yr Grace know we have no news“133 – ein Hinweis darauf, dass im Moment weder geschrieben noch gehandelt werden musste. Diese Situa­tion hatte, wenn sie auftrat, in der Regel damit zu tun, dass die Newsletters von den anderen Kriegsschauplätzen noch nicht eingetroffen waren, denn Marlborough, Godolphin und die Staatssekretäre hielten sich jeweils auf dem Laufenden, indem sie dem Briefpartner die Befunde der von ihnen erhaltenen Nachrichten mitteilten.134 „There being no forreign letters since my last, I shall give you very little trouble by this post.“ 135 Doch geschrieben wurde immer – schon um den Adressaten auf dem Laufenden zu halten, dass es keine Neuigkeiten gab, aber auch um den Eingang von dessen Briefen zu bestätigen.136 Zuweilen wird das Lesen und Schreiben bei Kerzen­licht nach einem aufreibenden Tag erwähnt: „my eyes are soe bad that I doe not see what I doe“137. Oft musste das Briefeschreiben wegen anderer Aufgaben kurzfristig unterbrochen und ­später wieder aufgenommen werden: „You may see by the several dates that I have every day attempted to write, but have been always disturbed.“138 In Einzelfällen, die ­später noch zur Sprache kommen werden, traten weitere Probleme auf, die mit der Beschaffenheit der Quellen zu tun haben: Der in der Arbeit mit Manus­kriptquellen immer virulente Umstand der Unleser­lichkeit von Handschriften geriet in einer Situa­tion, in der Informa­tionsgewinnung unter Zeitdruck betrieben wurde, zu einem echten Problem für die Akteure.139 Chiffren und das damit verbundene zeitaufwendige Geschäft der Dechiffrierung, das oft nicht vor Ort geleistet werden konnte, werden s­ päter ebenfalls ausführ­licher behandelt,140 bilden aber auch eine wichtige Eigenschaft der brief­lichen Kommunika­tion und ihrer Konsequenzen für Marlboroughs Alltagspraxis. Im Umgang mit den Briefen, die abgefangen wurden, um kopiert und dechiffriert zu werden, war besondere 133 Hedges an Marlborough, 3. Juli 1705, BL Add. 61121, 179r; siehe auch BL Add. 61122, 19r. 134 Vgl. The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 142 u. 537; ebd., Bd. 3, 1292. 135 Godolphin an Marlborough, 28. März 1710, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1448. 136 Vgl. Sunderland an Marlborough, 12. Oktober 1708, in: BL Add. 61127, 27r: „I have nothing to trouble you with this Post but to acknowledge the favour of y.rs of ye 11th & 13th.“ 137 Marlborough an Godolphin, 19./30. Juli 1703, in: The Marlborough-­Godolphin Corres­ pondence, Bd. 1, 223. 138 Marlborough an Sarah, 24. April 1710, in: Coxe, Memoirs, Bd. 3, 42. 139 Vgl. z. B. Caillaud an Sunderland, 30. August 1707, in: BL Add. 61548, 28r, mit einer Entschuldigung für die unleser­liche Handschrift eines Spions. 140 Vgl. Kapitel 3.3.1.3.

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Sorgfalt vonnöten: So musste etwa darauf geachtet werden, die Originale – und nicht etwa die angefertigten Kopien – an den ursprüng­lichen Empfänger weiterzuschicken, um die Interzep­tion nicht auffliegen zu lassen.141 Wenn, wie schon in der Einleitung zitiert, „Geheimhaltung und Geheimnis­ aufdeckung zu entscheidenden Faktoren interna­tionaler Politik“ avancierten,142 so hat dies in hohem Maße mit dem Umstand zu tun, dass die Kommunika­tion ­zwischen politischen Entscheidungsträgern im Spanischen Erbfolgekrieg auf der Basis von Briefen ablief: „La lettre était une necessité, mais aussi le plus grande risque.“143 Daher ist der Brief besonders geeignet, das Ineinander von Geheimnis und Öffent­lichkeit, das die Außenbeziehungen um 1700 charakterisiert, genauer zu betrachten. Beide werden in der jüngeren Forschung nicht als absolute Gegensätze, sondern eher als graduelle Parameter in einer Kommunika­tionssitua­tion gefasst,144 was es ermög­licht, mit Blick auf den unterschied­lichen Radius verschiedener Kommunika­tionen „Teilöffent­lichkeiten“ zu konturieren.145 In ­diesem Sinne waren Briefe weder vollständig geheim (geschweige denn privat) noch vollständig öffent­lich. In einer Kriegssitua­tion noch mehr als im normalen diplomatischen und politischen Verkehr stellte Briefkommunika­tion die Akteure vor besondere Herausforderungen und sogar vor eine paradoxe Konstella­tion: Einerseits ermutigte erst die „Unterstellbarkeit von Geheimhaltung“ brief­liche Kommunika­tion, andererseits besitzt Schrift­lichkeit „ein aller Geheimhaltung entgegengesetztes Wesen“.146 Briefe waren zentrales Element politischer Kommunika­tion, ja, sie stellten sogar eine politische Teilöffent­lichkeit her (etwa innerhalb der eng­ lischen Regierungskreise) – sie waren aber auch unauffällig genug, um sich für 141 Cardonnel an Jaupain, 24. März 1709, in: BL Add. 61400, 127r: „Son Altesse espere que les deux lettres en Chiffre de la Haye ne sont pas des Originaux de crainte que nous ne perdions cette correspondence, qui peut etre d’une grande utilité.“ In einem anderen Fall teilte der Postmaster General John Evelyn Marlborough mit, ein mitgesandter Brief sehe zwar so aus, als sei er von feind­licher Seite geöffnet worden, dies sei aber nicht so – was zeigt, wie präsent die Furcht vor Interzep­tion war. Siehe Evelyn an Marlborough, 13. Oktober 1710, in: BL Add. 61368, 11v. 142 Kugeler, „Ehrenhafte Spione“, 132. 143 Bély, Espions, 51. 144 Vgl. Hoffmann, ‚Öffent­lichkeit‘, 82. 145 Es ist charakteristisch für die konzep­tionell wie empirisch komplexe Situa­tion, vor der sich die Öffent­lichkeitsforschung gestellt sieht, dass sie häufig auf Begriffe wie eben „Teilöffent­lichkeit(en)“ zurückgreifen muss. Siehe nur: Malz, Begriff, 21; Rau/ Schwerhoff, Öffent­liche Räume, v. a. 18 – 20; zur Kritik an ­diesem Begriff: von Moos, Das Öffent­liche, 35. 146 Zitate: Simmel, Soziologie, 429 u. Hahn, Geheim, 24.

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die Übermittlung geheimer Informa­tionen zu eignen.147 Gerade dies machte sie wiederum anfällig für Geheimnisaufdeckung, und alle Akteure wussten dies und versuchten, sich darauf einzustellen. Dies erforderte ein gewisses Maß an Planung und auch Verwirrungstaktik, aber auch an kontrafaktischem „Geheimhaltungsvertrauen“148. Marlborough etwa schrieb seiner Frau einmal: „[T]hough I dare not to write anything by the post but what I must expect may be seen by the French, so that I cannot give the account which otherways I should of what ­passes, yet you may, and beg you will lett me have your thoughts of what passes in England, for by the cypher you have the French will not know what you write.“149

Weil Briefe oft geheim bleiben sollten und doch oft öffent­lich wurden, neigten manche Akteure dazu, sie zu lesen und dann zu vernichten. Sarah, dies ist schon erwähnt worden, bat ihren Mann darum, ihre Briefe zu verbrennen, sodass sich von ihr so gut wie keine Briefe erhalten haben.150 Marlborough selbst verbrannte öfter potentiell kompromittierende Briefe vor allem innenpolitischer Natur.151 Die materielle Zerstörung des Briefs als „höchste Form des Briefgeheimnisses“152 macht natür­lich bestimmte Rekonstruk­tionen quellenmäßig von vornherein unmög­lich, zeigt aber auch die Schwierigkeit für die Akteure selbst, die Notwendigkeiten einerseits der Geheimhaltung, andererseits der politischen Kommunika­tion auszutarieren. Wie grundlegend Briefe für Marlboroughs Informa­tionsgewinnung waren, mag noch einmal ein beliebig herausgegriffenes Beispiel erhellen: Am 8./19. Mai 1707 schreibt Marlborough an den Treasurer Sidney Godolphin: „Since my last wee have had noe letters from England, nor anything more from Spain. But from Dunkerk we have the ill news of two of our man of war being braught into that place with several marchant men. By letters of the 30th of the last month from Turin, I find Lord Pitterborow was gone from thence, and that he had told the Duke of Savoye he would call upon mee in his way to England. […] I do not send you the news 147 Vgl. Weber, Arkanum, 67 f. 148 Hahn, Geheim, 26. 149 Marlborough an Sarah, 8./19. Oktober 1708, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 1127. 150 Vgl. Marlborough an Sarah, 20. April/1. Mai 1703, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 170. 151 Vgl. Snyder, Introduc­tion, XXXIII. 152 Bohn, Ins Feuer damit, 49.

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we have from Mons, the postmaster telling me that he sends itt to Lord Sunderland. I beg you will make my excuses to the Queen and Prince that I did not sooner send the enclosed letters.“153

Das Zitat zeigt erstens die zentrale Bedeutung von Briefen für Marlboroughs Alltagspraxis. Zweitens belegt es die inhalt­liche Vielfältigkeit seiner Korrespondenzen. Es war wichtig, sich in mög­lichst viele Richtungen und auf mög­lichst verschiedene Weisen um Informa­tion zu bemühen: in der Koopera­tion mit oder Konkurrenz zu den Secretaries of State, durch Spione vor Ort, in Zusammenarbeit mit niederländischen Offizieren oder eng­lischen Soldaten, durch die meist kommerzielle Nutzung von Netzwerken. Vor allem aber verweist die zitierte Passage drittens auf die zentrale Bedeutung der Post als wichtiger Infrastruktur, die als Nächstes genauer beleuchtet werden soll. 3.2.3 The safest but also the quickest way: Die Post zwischen England und dem Kontinent

Für Marlboroughs Informa­tionsgewinnung war die Post in mehrfacher Hinsicht zentral. Die Post war erstens alltäg­liche Informa­tionsinfrastruktur. Dies erscheint trivial, ist aber gerade für die Kriegssitua­tion einschlägig. Zweitens war die Post die Hauptagentur obrigkeit­licher Spionage. Um diesen zweiten Punkt soll es in Kapitel 3.3 gehen – hier sind erst einmal die Rahmenbedingungen des normalen Funk­tionierens der Post von Interesse. Denn ­dieses war Gegenstand dauernder Sorge und Reflexion: Waren Briefe verloren gegangen? Auf welchem Weg wurden sie gesandt? Wie alt waren die Informa­tionen, die schließ­lich ankamen? Was war der optimale Beförderungsweg? Was bedeutete es, wenn Briefe ausblieben? All dies wird aus einem Brief Marlboroughs an den Secretary Hedges vom 2. Juni 1704 deut­lich: „Yesterday morning we received five mails from England of the 28th of April, 2nd, 5th, 9th, and 12th past, but I had none from you by the three latter, which makes me conclude your letters have been carried to the Hague or directed some other way, my Lord Treasurer’s and my Lady Marlborough’s letters by those posts being likewise wanting.“154

153 Marlborough an Godolphin, 8./19. Mai 1707, in: The Marlborough-­Godolphin Corres­ pondence, Bd. 2, 771. 154 Letters and Dispatches, Bd. 1, 290.

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Angesichts der zentralen Bedeutung der posta­lischen Briefbeförderung war eine gewisse Selbstreferentialität (also der brief­liche Bezug auf vorherige angekommene oder nicht angekommene Briefe sowie auf die Transportwege und deren Stärken und Schwächen) unvermeid­lich: „our want of Posts keeps us heer in ignorance“155. Diese Selbstreferentialität resultierte letzt­lich aus Unsicherheit angesichts einer weithin als kontingent erfahrenen Situa­tion.156 Oben sind bereits die beeindruckenden Zahlen der an Marlborough versandten Briefe erwähnt worden. Eine andere Aufstellung spricht für den ­kurzen Zeitraum vom 30. Mai 1707 bis zum 22. September 1707 von vielen Hunderten Briefen, die nur über Ostende von England aus an die in den süd­lichen Niederlanden stehende Armee geschickt wurden.157 Eine ältere Darstellung zur Postgeschichte spricht von einen „first major postal service for an army overseas“, der im Spanischen Erbfolgekrieg eingerichtet worden sei.158 Von der Post waren aber nicht nur Regierungen und Armeen, Händler und Untertanen, sondern zum Beispiel auch die Zeitungen abhängig: Dies zeigen schon die Titel Londoner Zeitungen um 1700 (Post Man, Post Boy etc.) wie auch die Tatsache, dass ihre Erscheinungstage mit dem Postrhythmus koordiniert waren.159 Überraschend ist, wie stark auch in geheimen oder sensiblen Kontexten die Post genutzt wurde und wie selten außerordent­liche Beförderungsmethoden, also vor allem Kuriere, zum Einsatz kamen. Kuriere galten zwar als schneller, doch auch als teuer. Zudem waren sie auffälliger als die reguläre Post und deshalb gefährdet.160

155 Harley an Marlborough, 9./20. November 1705, in: BL Add. 61124, 96r. 156 Siehe auch Blathwayt an Cardonnel, 7. Mai 1703, in: BL Add. 61411, 130r. Für den Bereich der Diplomatie bemerkt Netzloff, Ambassador’s Household, 159, zutreffend: „Diplomatic letters are surprisingly self-­referential, and acutely aware of the precariousness of their bureaucratic project: preoccupied with the numbers of letters lost or delayed, the missing gaps in news and intelligence; the deeply personal resentment stemming from having written more often or more fully than one’s correspondent.“ 157 Vgl. BL Add. 61398, 259v–261v: Postage of Letters from England for Officers & Soldiers of the Army in Flanders by the Ostend Packet Boats. 158 Kay, Royal Mail, 151. Je nach Defini­tion wird man diskutieren können, ob es bereits vorher eine Feldpost gab oder nicht. Die meisten Autoren setzen die Entwicklung einer Feldpost eher s­ päter, z. B. im Siebenjährigen Krieg, an. Vgl. Anklam, Wissen, 83, mit Verweis auf Andreas Gestrich. Daher scheint mir der Hinweis auf den Spanischen Erbfolgekrieg geboten. 159 Vgl. Cottrell, London, 166; zum Zusammenhang von Post und Zeitung siehe grundlegend: Behringer, Im ­­Zeichen des Merkur. 160 Vgl. Roosen, Age of Louis XIV, 130 f.; vgl. etwas anders: Ellis, British Communica­tions, 160 f.

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Marlborough benutzte zwar öfter auch Kuriere und griff in der Korrespondenz mit der Königin und den Secretaries immer wieder auf die King’s messengers zurück, den offiziellen Kurierdienst, der von den Staatssekretären organisiert wurde.161 Die hohen Kosten für diese offiziellen Kuriere und ihr oft relativ eigenmächtiges Agieren wurden aber von den Staatssekretären mehrfach als Problem identifiziert.162 Allerdings nutzte Marlborough Kuriere oft für die Korrespondenz mit Offizieren, weil die Kuriere das Kriegsgebiet leichter durchqueren konnten, allerdings auch öfter gefangen genommen wurden.163 Dies konnte zur Gefahr für diplomatische Korrespondenzen werden: „I am extreamly uneasy to find by yours that my letters by the messanger were not come to your hands, having written more fully and plainly by that man, than I used to doe, nott thinking there was much danger of his being taken betwixt Helvoetsluys and Brusseles. He was also charged with dispatches for Turin which I fear may bee much wanted there, and were judged proper to bee sent by a messenger for more safety, and more dispatch, but it seems it has proved otherwise.“164

In der Zeit kurz vor seinem Sturz neigte Marlborough dazu, bestimmte sensible Briefe zum Beispiel an seine Frau eher Kurieren als der Post anzuvertrauen, weil er annahm, dass die neue eng­lische Regierung seine Briefe überwache.165 Wenn auch aus Gründen der Vorsicht in Einzelfällen eine Doppelung von Post und Kurier­ berwiegendem dienst zu beobachten ist,166 war doch insgesamt die Post in weit ü

161 Vgl. Thomson, Secretaries of State, 142; siehe auch: Wheeler-­Holohan, History. Vgl. zur Bezahlung von Kurieren ­zwischen Marlborough und Anne auch: Calendar of Treasury Books, Bd. 28, 452. 1 62 Vgl. Harleys Kabinettmitschrift von Anfang 1708 (undatiert) mit einem Entwurf für „Regula­tions & orders directed by Mr Secretary Harley & to be observed by such messengers that come to be allowd by Mr Harley“, in: BL Add. 70338, unpag.; siehe auch die Korrespondenz Sunderlands mit potentiellen Kurier-­Kandidaten, die plastisch die Probleme vor Augen führt, in: BL Add. 61596, 97 – 100, 108. 163 Vgl. als Beispiel den Brief des niederländischen Generalmajors Keppel an ­Marlborough vom 10. September 1706, der schreibt, er berichte noch einmal das, was er schon am Vortag geschrieben habe, weil der Kurier noch nicht zurückgekehrt sei und er deshalb Böses befürchte (BL Add. 61310, 62). 164 Godolphin an Marlborough, 15. Juni 1707, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 820. Vgl. auch: Vaillé, Le cabinet noir, 111. 165 Siehe z. B. Marlborough an Sarah, 11./22. Oktober 1711, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1684. 166 Vgl. den Hinweis darauf im Brief von Harley an Marlborough, 18./29. August 1705, in: BL Add. 61124, 21.

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Maße die Infrastruktur, auf die Marlborough und die eng­lische Regierung zurückgriffen und für die sie sich auch engagierten.167 Die Post wurde von den (seit 1690) beiden Postmasters General organisiert, die den Secretaries of State unterstanden. Für die Postmasters wiederum arbeiteten sowohl eng­lische Amtsträger als auch – mit unregelmäßiger Bezahlung oder auf Pensionsbasis – private Akteure, etwa die niederländischen Postmeister.168 Nach der Durchsetzung der kommerziellen, dann aber von den Herrschern mitgetragenen oder mindestens privilegierten Post ab dem 16. Jahrhundert bestand das Hauptproblem um 1700 darin, die Strecken zu optimieren und die Verkehrsfrequenz zu erhöhen.169 Die Geschwindigkeit der posta­lischen Briefübermittlung erreichte in der Frühen Neuzeit – mit wenigen Verbesserungen bis ins 18. Jahrhundert – bis zu 150 Kilometer am Tag, allerdings nur dort, wo der Pferdewechsel an den Relaissta­tionen einwandfrei funk­tionierte.170 Die Post als „System der Raumpor­tionierung“ galt zeitgenös­sisch als schnell und effizient und dürfte einen entscheidenden Anteil an der Veränderung der Wahrnehmung von Raum und Zeit in der Frühen Neuzeit besessen haben.171 Geschwindigkeit und Zeitgewinn – auch die Geschwindigkeit der Informa­tionsübermittlung – wurde so im Laufe der Frühen Neuzeit nicht nur zu einem Selbstwert, sondern auch zu einem tendenziell erreichbaren Ziel.172 Allerdings dürfte dies die Klagen über die Langsamkeit der Post eher nicht abgeschwächt, sondern noch einmal angefeuert haben.173 Für eine funk­tionierende Post waren ein Streckennetz, ein System von Relaissta­ tionen zum Pferdewechsel, exakte Fahrpläne und Karten notwendig, aber auch 167 Vgl. z. B. den Brief des eng­lischen Gesandten in der Schweiz, Stanyan, an ­Marlborough, in dem dieser um Protek­tion für die Berner Postmeister, die Brüder Fischer, bittet, die wegen ihrer proalliierten Haltung angefeindet würden: Siehe BL Add. 61145, 122r (29. August 1708). 168 Siehe Ellis, Post Office, passim; Robinson, British Post Office, 77 – 89. 169 Vgl. North, Kommunika­tion, 4. Siehe zur Postgeschichte v. a. Behringer, Im ­­Zeichen des Merkur; Beyrer, Brieftransport. Siehe auch: Heimann, Neue Perspektiven; ders., Brievedregher. 170 Vgl. Beyrer, Wege der Nachrichtenübermittlung, 67; siehe auch: Gerteis, „Postkutschenzeitalter“. 171 Behringer, Im ­­Zeichen des Merkur, 21. Vgl. auch: Behringer, Veränderung der Raum-­ Zeit-­Rela­tion. 172 Vgl. Behringer, Reisen, 73: „Geschwindigkeit der Kommunika­tion wurde erst mit dem Beginn der Neuzeit zu einem Wert an sich“. Angaben zur Geschwindigkeit der Post um 1700 bei: Roosen, Age of Louis XIV, 132 f.; Frey/Frey/Rule, Introduc­tion, XXII. Zur Erfahrung von Geschwindigkeit im 18. Jahrhundert siehe: Studeny, L’inven­tion de la vitesse. 173 Zu Einschätzungen der Post durch eng­lische Benutzer des 18. Jahrhunderts siehe: ­Whyman, Pen and the People, 58 – 64.

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einigermaßen ausgebaute Straßen 174 – ein auch für die militärische Logistik viru­ lentes Problem.175 Über Marlborough ist gesagt worden, er stehe am Anfang der „transi­tion from ‚heroic leadership‘ to the ‚managerial‘ concept of military command“176, habe sich also mehr und umfassender um logistische Probleme gekümmert als Generäle vor ihm; dies gilt ganz sicher auch für seine Bemühungen um eine funk­tionierende Post. Für Marlborough und die eng­lische Regierung war die Post ­zwischen England und den nörd­lichen wie süd­lichen Niederlanden zen­tral. Daher wurde hier ein erstaun­liches Maß an Engagement aufgeboten, um die Post auszubauen und zu verbessern. Die Postschiffe, die sogenannten packet boats, sind ausgesprochen schlecht erforscht.177 In den Jahren 1697 bis 1699, also nach dem Rijswijker Frieden, war bereits (zum wiederholten Male) eine Postschifflinie ­zwischen Flandern und England eingerichtet worden.178 Die Verhandlungen vor allem ­zwischen den Generalpostmeistern Taxis in Brüssel und den Postmasters General in London, Robert Cotton und Thomas Frankland,179 führten im Jahr 1699 zur Einrichtung eines Dienstes, der im Winterhalbjahr z­ wischen Dover und Ostende fuhr, im Sommerhalbjahr ­zwischen Dover und Nieuwpoort.180 Diese alternierende Lösung trug der ökonomischen Rivalität z­ wischen Ostende und Nieuwpoort Rechnung. Ebenfalls wirtschaft­liche Ursachen sorgten dafür, dass der flämische Postdienst überhaupt, wenn auch erst nach komplizierten Unterhandlungen, eingerichtet werden konnte: Die Generalstaaten hatten näm­lich während des vorigen Krieges die Post von England zum Kontinent monopolisiert. Allerdings war die Postbeförderung über den niederländischen Hafen Brielle nach Flandern langsamer als eine direkte Verbindung. Der eng­lische Unterhändler erläuterte in einem Brief an Cotton und Frankland: 174 Vgl. Beyrer, Mail-­Coach Revolu­tion, 375. Siehe auch: Gerteis, Straßen. 175 Vgl. Perjés, Army Provisioning; van Nimwegen, Subsistentie. 176 Phelan, Marlborough, 116. 177 Siehe Grasemann/McLachlan, English Channel Packet Boats, u. Fraser, Intelligence, 60. Für einen späteren Zeitraum vgl. Malet, Packet Boat Age; zu den besser erforschten Postschiffen in die Kolonien siehe: Steele, English Atlantic, 168 – 188. 178 Vgl. für die Zeit vor 1688: Fraser, Intelligence, 60 f. 179 Vgl. Cruickshanks/Harrison, Cotton; Cruickshanks/McGrath, Frankland. Siehe auch: Robinson, British Post Office, 78. 180 Vgl. BPMA, POST 43/1, 6. Oktober 1699. Im September allerdings war schon einmal für Ostende optiert worden; vgl. Cotton und Frankland an Richard Hill, September 1699, in: BPMA, POST 43/1: „Ostend was by all Men agreed to be the better port for the Pacquet boats to go in and out at all tymes of the Tide, and much more convenient for the Passengers, Though Newport might be something nearer.“

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„[A]ll the English Letters doe come thro Holland, which are for Brabant, or Flanders: they are alwayes detained in Hollande untill ye next Brabant post departs. By which means ye said English Letters arrive sometimes 3. 4. 5 or 6 days at ye Briel, before they come to Anvers, Bruxelles, & Gand, Bruges & Ostend, to ye great distress & calamity of his Maj.ties armyes, which are all quartered in Flanders.“181

Der eng­lische Postmeister in Amsterdam allerdings hielt die angeb­liche Langsamkeit des Weges über Brielle für einen Vorwand, einen „trick of the flemmings to gett their paquet Boats again“182. Aber auch er äußerte sich, wie alle Beteiligten, pro domo. 1698 wurde auch ein Vertrag für eine Postschifflinie z­ wischen Dover und Calais abgeschlossen,183 die aber mit Kriegsbeginn ebenso zum Erliegen kam wie die Verbindung nach Ostende und Nieuwpoort. Schon in diesen Diskussionen der 1690er Jahren war eine Person zentral, die auch während des Spanischen Erbfolgekrieges eine große Rolle spielen sollte: John Macky. Macky, ein engagierter Antikatholik, war seit den frühen 1690er Jahren als eng­lischer Spion tätig gewesen. Zur Belohnung für frühere, aber durchaus auch in der Hoffnung auf weitere Dienste dieser Art wurde ihm aufgetragen, nach dem Rijswijker Frieden den Postdienst von England nach Calais, Ostende und Nieuwpoort zu organisieren. Der Posten eines Coastal Director bot ihm dabei die Mög­lichkeit, Reisende zu überwachen, den Postmasters General verdächtige Personen zu melden, aber auch selbst Spione zu entsenden.184 Allerdings, und das war Mackys dauerndes Leid, unterstand er zwar den Postmasters und wurde von ihnen auch bezahlt, musste aber die Kosten für seine fünf Schiffe selbst tragen. Diese Public-­private Partnership war ein riskantes Geschäft, und in den späten 1690er Jahren und zu Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges brachte sich Macky daher immer wieder in Erinnerung, weil er sich von der eng­lischen Regierung für seine Dienste finanziell nicht genügend gewürdigt sah.185 Sein Vertrag war am 25. März 1701 verlängert worden: Macky sollte drei 181 Richard Hill an Cotton und Frankland, 17./27. Mai 1697, in: BPMA, POST 43/1. 182 Brief Aglionby, Den Haag, 11. Juni 1697 mit Verweis auf den eng­lischen Postmaster ­Muilman, in: BPMA, POST 43/1. 183 Vgl. BPMA, POST 46/19. 184 Vgl. Alsop, Macky, John; in den Wertungsperspektiven abwegig: Scott, Secret Services. Siehe auch Mackys eigene apologetische Darstellung in: Memoirs of the Secret Services, v. a. III–XI. 185 Vgl. die Peti­tionen von 1697 in: Calendar of Treasury Papers, Bd. 2, 11 f. u. 15; Mackys Memorial, ca. 15. Februar 1703, in: Calendar of Treasury Papers, Bd. 3, 112; siehe auch

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Schiffe ­zwischen Dover und Ostende und Nieuwpoort und zwei ­zwischen Dover und Calais fahren lassen und dafür 1400 Pfund jähr­lich erhalten. Er trug im Wesent­lichen alle Verluste selbst. Im Kriegsfalle sollte der Vertrag ausgesetzt werden – was dann im Dezember 1702 eintrat. Allerdings waren schon seit Februar 1702 keine Schiffe mehr gefahren.186 Zu Beginn des Jahres 1703 stand Macky also ohne Arbeit und Gehalt da, und auch seine Boote wurden zuerst nicht für andere Zwecke in Betracht gezogen, schließ­lich aber doch als Beiboote für die Marine benutzt. Auch hier fühlte sich Macky, vermut­lich zu Recht, finanziell übervorteilt – wenn er auch aus dem Post Office eine einmalige Pension von 75 Pfund zugesprochen bekam.187 Macky ging zeitweise nach Italien, wo er ebenfalls versuchte, sich als Postschiffunternehmer und eng­lischer Spion zu etablieren.188 1705 jedoch kehrte er nach England zurück.189 Marlborough sicherte ihm seine Unterstützung zu und setzte sich auch beim Secretary of State Harley für ihn ein,190 aber vorerst gab es keinen Posten für Macky. Zu Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges wurden also die Postdienste nach Frankreich, aber auch in die süd­lichen Niederlande eingestellt. Die Verhinderung von Handel und Kommunika­tion z­ wischen Frankreich und den Alliierten war ein zentrales politisches Thema der ersten Kriegsjahre. Bereits im September 1701 hatte Ludwig XIV. den Import britischer Waren verboten, um dem Feind die Nachteile eines Krieges drastisch vor Augen zu führen.191 Damit war, wie John Evelyn bemerkte (oben wurde es bereits zitiert), noch vor der offiziellen Kriegserklärung Mackys Briefwechsel mit dem Under-­Secretary John Ellis aus den Jahren 1697 – 1701 in: BL Add. 28884; BL Add. 40772; BL Add. 28886. Für außerordent­liche Kurierdienste nach Paris allerdings erhielt Macky am 30. Juni 1699 eine Summe von 73 Pfund, 7 Schilling und 9 Pence zugesprochen, die von den Postmasters General bezahlt werden sollten. Siehe BPMA, POST 103/1. 186 Vgl. den Bericht vom 31. Juli 1712 in: TNA SP 34/19, 55r–56r: The case of the Post Office in rela­tion to the contract with Mr Macky to operate various packet boat services […]. 1 87 Vgl. Godolphin an Frankland und Cotton, 28. August 1703, in: BPMA, POST 103/2, 43 – 44. Siehe auch: Certificate by R[obert] Cotton and Sir Tho[mas] Frankland, Postmasters General, as to the terms of their contract with John Macky, 16. Februar 1702/3, in: TNA SP 34/15, 188r. 188 Vgl. BL Add. 37351, 300r–301r; BL Add. 37352, 44r–v. 189 Vgl. Memoirs of the Secret Services; siehe auch Alsop, Macky, John. 190 Vgl. Marlborough an Harley, 9. Juni 1705, in: Letters and Dispatches, Bd. 2, 87. Vgl. auch die Briefe Mackys an Ellis vom 28. April 1705 und 1. Mai 1705, in: BL Add. 28893, 129 – 131v, wo Macky u. a. auf die Patronage des Herzogs von Shrewsbury verweist („a father instead of a friend“, 131v), aber auch die freund­liche Aufnahme durch ­Marlborough erwähnt. 191 Vgl. Clark, War Trade, 268.

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„a Warr in a maner begun“192. Doch auch die eng­lische Regierung verbot ihrerseits den Handel mit dem Feind. Vor allem aber versuchte sie in den Jahren 1702 und 1703, nicht nur den eng­lischen, sondern auch den niederländischen Handel mit Frankreich zu unterbinden. Dieses Thema war eng mit dem Problem der Informa­tion verbunden: Der Briefverkehr mit Frankreich bot den niederländischen Kaufleuten die Mög­lichkeit des Einlösens von Wechseln auf brief­lichem Wege.193 In einem Vorschlag, den John Macky zwei Tage vor der Kriegserklärung, am 2. Mai 1702, einreichte, sprach er sich dafür aus, entweder den Postdienst in die süd­lichen Niederlande aufrechtzuerhalten oder, falls dies unmög­lich sei, den Niederländern die Postkommunika­tion mit Frankreich ebenfalls zu untersagen. Falls dies nicht geschehe, würden wie schon im letzten Krieg auch die eng­lischen Briefe über die Niederlande nach Frankreich gelangen und umgekehrt – „and the only result was that our merchants paid double for their letters; the Dutch had all the benefit of the postage, and their intelligence of all Italian trade and of prices c­ arried into France at least two days before us“.194

Die eng­lische Regierung verbot also ihren Untertanen diese Praxis und verlangte dasselbe von den Niederländern – die allerdings noch stärker auf den Exporthandel angewiesen waren.195 Dieses Problem heizte die nur verdeckte anti-­niederländische Grundstimmung der eng­lischen Bevölkerung wieder an.196 Der Staatssekretär Vernon berichtete dem Herzog von Marlborough im Juni 1702: „[I]f our pacquet Boats have not liberty to goe to France as well as ye Dutch mails do, it will be impossible to stop ye clamors of our people for giving ye dutch so much advantage. We are persuaded yt nothing can give a greater disturbance to France at this time, then a speedy conclusion of this businesse, it being ye Gen.ll opinion here, yt if commerce by letters could be stopt, & ye mony hindred from coming from ye West Indies, France would soon be obliged to comply with reasonable terms.“197 192 Evelyn, Diary, Bd. 5, 477. 193 Vgl. Clark, War Trade, 269; siehe auch: Barrie, Prohibi­tion. 1 94 Mr. Macky’s memorial in rela­tion to the intercourse of letters between England and France, 2. Mai 1702, in: Calendar of State Papers, Bd. 1, 45. 195 Vgl. Auer, Wirtschaft­liche Aspekte, 150 f. 196 In der Tat wurde ­dieses Problem gegen Ende des Krieges in der Tory-­Propaganda ausgeschlachtet; siehe Clark, War Trade, 272. 197 BL Add. 61119, 29r.

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Auch Marlborough glaubte an die Effektivität ­dieses Mittels, um Frankreich zu schwächen – „it is most certaine there is nothing the French dread soe much as a totall prohibi­tion of commerce by letters“198. Daher bemühte er sich 1702 darum, bei den Niederländern ein Verbot der brief­lichen Kommunika­tion mit Frankreich zu erwirken. Das Ergebnis der komplizierten und langwierigen Verhandlungen war ein Vertrag ­zwischen England, dem ­Kaiser und den Niederlanden, der für ein Jahr probeweise das Verbot von Handel und Kommunika­tion mit Frankreich und Spanien festlegte.199 Die Unterbrechung von Handel und Kommunika­tion traf Frankreich hart,200 aber sie traf eben nicht nur Frankreich. Die Generalstaaten litten ökonomisch derart unter dem Verbot, dass sie – so fürchteten jedenfalls eng­lische Diplomaten – bereits 1703 kurz davor standen, einen Separatfrieden mit Frankreich abzuschließen.201 Auch der Rotterdamer Kaufmann Etienne Caillaud beschwerte sich im Juni 1703 über die ruinösen Auswirkungen auf die hugenottischen Emigranten in den Niederlanden.202 Selbst 1703/04 wurde das Verbot oft umgangen, und 1704 wurde es nicht mehr erneuert, auch weil sich das kommerzielle Interesse der Engländer immer stärker auf das spanische Kolonialreich verschob und Handelssank­ tionen gegen Frankreich weniger bedeutsam erschienen.203 Godolphin dachte zu Beginn des Jahres 1709 noch einmal über eine ­solche Maßnahme nach, um Frankreich zum Frieden zu zwingen: „this stopp of letters will in great measure disable the French from paying their armys, and consequently oblige them more than anything else, to a speedy and good peace.“204 Dies war allerdings gegenüber den Amsterdamer Handelsinteressen nicht durchzusetzen.205 198 Marlborough an Heinsius, 18. Juli 1702, in: The Correspondence 1701 – 1711, 19. Vgl. auch Marlborough an Godolphin, 13./24. Juli 1702, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 88: „I am perswaided it is of all things what would hurt France most.“ 199 Vgl. Clark, War Trade, 271; siehe auch: Quellen zur Geschichte des euro­päischen Postwesens, Teil 2, 259. 200 Vgl. BL Add. 61264, 23r–26v: Reflec­tions on prohibi­tion of commerce with France 1703. 201 Vgl. Schnakenbourg, L’indispensable ennemi, 101, Anm. 79. 202 Vgl. Caillaud an James Vernon, 15. Juni 1703, in: Dedieu, Rôle politique, 347. Allerdings hatte sich Caillaud im Juni 1702 selbst für ein Briefverbot ausgesprochen. Vgl. Dedieu, Rôle politique, 344: „C’est le plus grand coup qu’on puisse lui porter, outre que cela privera ses armateurs et ses émissaires de toutes intelligences qu’ils ont en ce pays, et qui nous ont fait tant de tort dans la dernière guerre.“ 203 Vgl. Clark, War Trade, 273. 204 Godolphin an Marlborough, 4. Januar 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1192. 205 Vgl. so: Marlborough an Godolphin, 27. Dezember/7. Januar 1709, in: The Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1189. Godolphin war damit allerdings überhaupt

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Mit der Schließung der südniederländischen Post wegen des Krieges blieb wie vor 1697 nur der Postdienst über die nörd­lichen Niederlande bestehen. Das Amt des Postmeisters in den benachbarten niederländischen Häfen Brielle und Hellevoetsluis hatte bereits seit den 1680er Jahren Jacob van der Poel inne.206 Er erhielt eine jähr­liche Pension von 100 Pfund aus dem Post Office von der eng­ lischen Königin und hatte drei Aufgaben: den Postverkehr z­ wischen England und den Niederlanden, den Transport verwundeter eng­lischer Soldaten sowie die Beobachtung verdächtiger Reisender.207 Generell waren die Postmeister und ihre clerks gehalten, Listen der durchreisenden Passagiere anzulegen und sie an die Postmasters General Cotton und Frankland oder an die Secretaries weiterzugeben; auch sollten sie verdächtige Passagiere aufhalten oder festsetzen.208 Von Anfang an waren es drei Themenfelder, die die Korrespondenz van der Poels mit den eng­lischen Staatssekretären, den Postmasters General, dem Herzog von Marlborough oder dessen Privatsekretär Cardonnel dominierten: erstens das Problem der Geschwindigkeit der Post, zweitens das Problem der Sicherheit. Als drittes Problem wurde die Geldfrage diskutiert: Die Post sei zu teuer, obwohl die eng­lische Königin den Großteil der Kosten für die Postboote trage; unterstellt wurde also überzogene Profitgier der niederländischen Postmeister.209 Das Geldproblem erweist sich als zentral, aber nicht wegen des ökonomischen Handelns einzelner Personen, sondern eher wegen der notorischen Unterfinanzierung

nicht einverstanden und sah Großbritannien dadurch gegenüber den Niederlanden enorm benachteiligt: „you are afraid the secrett commerce (as you call it) with France is like to continue. I don’t very well know why it is called secrett. Methinks it is but too open, and I confess it is my opinion that the rest of the Allyes ought to be as open and plain […]“: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1239, Godolphin an Marlborough, 3. April 1709. 206 Vgl. den Brief der Postmasters General an St. John, 3. Juni 1712, in: TNA SP 34/18, 141 – 142. 2 07 Vgl. BPMA, POST 103/1, 17. Juli 1702 (146 f.); BPMA, POST 1/3, 30. Juli 1702. Auch reguläre Soldatentransporte wurden manchmal über die Postschiffe abgewickelt. Vgl. Calendar of State Papers, Bd. 2, 451. Ein Postschiff-­Kommandant schilderte die Lage so (Barnaby Burleigh an Frankland und Cotton, 28. März 1707/08, in: BL Add.  61601, 18 – 19): „our vessels are so small, that wee have not any place or room to secure any trunks […] always full of Recruits, and my cabbin of officers and passengers with servants, that it is impossable for me to secure Passengers, Baggage, or things of Bulk.“ Außerdem führen zu oft Kuriere ohne ordent­liche Pässe mit. 2 08 Dies wird aus der Korrespondenz Sunderlands mit den Postmasters General deut­lich; siehe z. B. BL Add. 61601, 121, 197v–198v; 156r u. passim. 209 Vgl. den Bericht Cardonnels an die Postmasters General, 8. Mai 1710, über die Zustände in Den Haag, in: BL Add. 61401, 19v–20r.

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des Postschiffdienstes, die die Probleme von Geschwindigkeit und Sicherheit erst hervorbrachte. Für die Zeitgenossen am offensicht­lichsten war das Sicherheitsproblem. Van der Poel musste immer wieder auf Klagen über verspätete oder verlorene Post reagieren – und seine Begründung war immer dieselbe: Das Wetter und die Freibeuter s­ eien schuld, nicht aber die nachlässigen Schiffskommandeure.210 In der Tat war der Ärmelkanal während des Spanischen Erbfolgekrieges ein Kampfplatz für Freibeuter. Der Freibeuterkrieg gilt sogar als „the most important aspect of the war at sea“211, wenn der Ärmelkanal hierbei auch nur einer von mehreren (auch außereuro­päischen) Schauplätzen war. Insgesamt verlor die eng­lische Marine während des Krieges einige Tausend Schiffe, die von franzö­sischen Freibeutern gefasst oder zerstört wurden.212 Auch ohne exakte Zahlen ist deut­lich, dass die Freibeuterei ein massives Problem für die eng­lischen Postschiffe darstellte. Es wurde zu Beginn des Krieges sogar darüber nachgedacht, die Schiffe von einem Konvoi begleiten zu lassen, dies wurde allerdings nicht weiterverfolgt.213 Die Postmeister wurden stattdessen angewiesen, im Notfall die Post ins Meer zu werfen 214 – eine Situa­tion, auf die die Briefschreiber mit dem Wunsch reagierten, wenigstens in Auszügen noch einmal geschrieben zu bekommen, was in den verlorenen Briefen gestanden hatte.215 Die Freibeuter machten also den Ärmelkanal in nicht unbeträcht­lichem Maße zum Schauplatz eines Postkrieges, in dem

210 Vgl. van der Poel an Cotton und Frankland, 17. Juni 1705, in: Calendar of State Papers, Bd. 3, 293. 211 Hoppit, Land of Liberty, 112. Zum franzö­sischen Freibeuterkrieg siehe v. a. Villiers, Les corsaires du Littoral, 281 – 339. 212 Die Zahlenangaben variieren; sie reichen von 3600 (Bromley, French Privateering War, 299) bis zu über 6000 (Villiers, Les corsaires du Littoral, 315). – Für die von Dünkirchen aus zerstörten Schiffe geht Villiers von 1600 aus; gleichzeitig s­ eien 16.000 Seeleute gefangen genommen worden: Villiers, Les corsaires dunkerquois, 249. Zur quantitativ weniger starken eng­lischen Freibeuterei siehe: Meyer, English Privateering. 213 Vgl. Cardonnel an van der Poel, 7. Juni 1702 u. 11. Juni 1702, in: BL Add. 61394, 9r; 14r. 214 Vgl. Cardonnel an van der Poel, 7. Juni 1702, in: BL Add. 61394, 9r: „avoir soin en cas de danger, que les Mailles ne tombent point entre les mains des ennemis, et de se tenir tousjours prest de les jetter dans la mer en cas de necessité.“ Siehe auch Cardonnel an Macky, 20. Juni 1710, in: BL Add. 61401, 53r: „I need not tell you that in case of accident the Master of the Packet Boat must be ready to sink it.“ Vgl. auch: Calendar of State Papers, Bd. 1, 614; Calendar of State Papers, Bd. 4, 80 u. 255 f. 215 Vgl. z. B. Marlborough an Sarah, 22. Mai/2. Juni 1704, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 308; Marlborough an St. John, 21. April 1711, in: Letters and Dispatches, Bd. 5, 316.

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die Alliierten für den Aufbau einer stabilen Postinfrastruktur kämpften.216 Das Problem der Freibeuter war dabei nur eine spezifische Ausprägung der generellen riskanten Konstella­tion der Post. Neben den Sicherheitsaspekt trat das Problem der Geschwindigkeit. Dieser Punkt scheint trivial, war aber für die zeitgenös­sischen Akteure zentral.217 Die Postbeförderung war in einem interna­tionalen, sich über große Entfernungen erstreckenden Krieg das Zeitmaß, ja sogar die kleinste Zeiteinheit für politisch-­ diplomatisches Handeln und wurde auch zum Terminus für eine bestimmte Dauer. Dies wird deut­lich, wenn Marlborough etwa meint, „in a post or two“ genauere Lageeinschätzungen liefern zu können.218 „If we have no ill news from France by the next post, we shall have good reason to hope it goes well for us.“219 Die eng­ lischen Politiker in London genau wie die Militärs in Flandern klagten über die Langsamkeit der Postbeförderung (und unterstellten oft Schlampigkeit der Postmeister).220 Geklagt wurde aber auch über die Weiterverschickung von Brielle an die Armee, die zu lange dauere: Cardonnel etwa beschwerte sich – wohl im Auftrag Marlboroughs –, dass die niederländischen Generäle ihre Briefe bereits mittags, der eng­lische Stab aber erst abends erhalte.221 Um Abhilfe zu schaffen, experimentierten van der Poel und andere niederländische Postmeister mit Expresskurieren sowie unterschied­lichen Wegen ­zwischen Brielle und der Armee.222 216 Vgl. auch: Bély, Espions, 138: „dans la zone des combats, les courriers et la poste étaient souvent menacés, contre toutes les conven­tions.“ 217 Vgl. auch Roosen, Age of Louis XIV, 129 – 134. 218 Marlborough an Godolphin, 12./23. Juni 1707, in: The Marlborough-­Godolphin Corres­ pondence, Bd. 2, 815. 219 Marlborough an Godolphin, 9./20. Mai 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Corres­ pondence, Bd. 1, 543. Der Abtransport der Post war zudem eine Zäsur im Alltag: Vgl. Marlborough an Sarah, 20. Juni/1. Juli 1703, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 209: „I am told that the post is a going, soe my dear soull farwell.“ 220 Dies betraf auch die Post nach Den Haag – auch hier wurde „negligence of your people in Harwich“ beklagt; vgl. Cardonnel an Frankland, 12. April 1709, in: BL Add. 61400, 130v. – Rhetorisch kompensiert wird die Langsamkeit der Postbeförderung, wenn etwa Harley, im Sinne des aere perennius, die Langsamkeit der Post mit der Dauerhaftigkeit von Marlboroughs Ruhm vergleicht: Die Informa­tionen über Marlboroughs Erfolge kämen zwar spät, würden aber dafür die Zeiten überdauern. Vgl. Harley an ­Marlborough, 18./29. April 1707, in: BL Add. 61124, 166r. 221 Vgl. Cardonnel an Van der Poel, 12. Juli 1702, in: BL Add. 61394, 55r. 222 Vgl. van der Poel an Marlborough, 13. Juni 1702, in: BL Add. 61336, 140r–v; ders., Proposall about the Dispatche off Mylord Dukes and other letters from and for England directed to her Majestys Forces to and from the Army in the year 1705, in: BL Add. 61366, 148r–v; siehe auch die Denkschrift des Utrechter Postmeisters Herman Cignet in: BL

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Vor allem die Nichtplanbarkeit der Postgeschwindigkeit machte den eng­ lischen Politikern zu schaffen: Briefe überkreuzten sich ständig, weil die Postschiffe sich verzögerten oder wichtige Briefe nicht mehr mitnehmen konnten.223 Daher musste in den Briefen immer darauf Bezug genommen werden, ­welche Briefe der Gegenseite bereits angekommen waren und ­welche nicht.224 Wenn die Kapitäne auf beiden Seiten des Kanals permanent aufgefordert wurden, auf relevante Post der Regierung oder der Armee zu warten, musste dies systematisch zu Verzögerungen führen. Die Postmasters General hielten in der Tat auf Anweisung der Staatssekretäre die Postschiffe häufig zurück.225 Auch Marlborough neigte dazu, die Brieller Boote auf seine Post warten zu lassen, doch sein Sekretär ­Cardonnel hielt dies für keine gute Praxis. Während es Marlborough im Sinne eigener Imagepflege offenbar für zwingend erachtete, dass die eng­lische Regierung so rasch wie mög­lich von seinen militärischen Ak­tionen erfuhr, war es Cardonnel wichtiger, dass der Postdienst überhaupt funk­tionierte: „’tis contrary to My inclina­tions if they are stopt, for I am never easy till the Letters are gone, however His Grace desires the Mailes may not go off without our Dispatches, because it would putt them under apprehensions at home, and occasion many fals reports.“226

Add. 61336, 142r–v. Auch während des Donaufeldzugs 1704 gab es Überlegungen, die Post zur Armee zu verbessern: Siehe Cardonnel an van der Poel, 3. August 1704, in: BL Add. 61396, 126r–v. Siehe auch den „Plan for connec­tion with Osnabrück by British royal messengers“, der sich in der Korrespondenz Sunderlands befindet: BL Add. 61596, 106r–107v. 223 Vgl. Frankland an Hedges, 21. Oktober 1706, in: Calendar of State Papers, Bd. 1, 242; van der Poel an Hedges, 31. Oktober 1706, in: ebd., 248. Siehe auch Harley an Marlborough, 25. Juli/5. August 1704, in: BL Add. 61123, 42r: „Yesterday we had letters from Holland, but none from yr Graces Camp. I observe that frydays Post from Holland comes away too soon to receive any letters from yr Grace.“ 224 Vgl. als plastisches Beispiel Stepney an Sunderland, 21. April 1707, in: BL Add. 61534, 136r: „Half an hour after I had seen my Lord Duke into his Coach at Utrecht, at 5 this morning, I rec.d by an Express the letters of 5 mails from England, & immediately forwarded to his Grace the Pacquets I had for him wch will have overtaken him at Amersfort; of this I think fit to acquaint your Lordship, that you might be assured y.t letters you have writt to his Grace as far as the 4th Just have been rec.d before the 15 yett out of these provinces.“ 225 Vgl. die Korrespondenz Sunderlands mit den Postmasters General, in: BL Add. 61653, 90 – 213, passim. 226 Cardonnel an van der Poel, 6. September 1708, in: BL Add. 61399, 244r.

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Letzt­lich wäre ­dieses Problem nur mit mehr Booten zu lösen gewesen – doch die Postdienste blieben dauerhaft unterfinanziert.227 Die Empfänger der Briefe führten die Probleme meist jedoch wiederum auf Nachlässigkeiten der Bootbetreiber zurück: Oft kamen kein Postschiff und keine Post, oft kamen auch mehrere Schiffe auf einmal an.228 Angesichts dieser Unzufriedenheit kündigte Harley an: „I am endevoring to find a way to cure this irregularity of the foreign Post; for we can hardly now have the letters come ’til three or four Packquets come together.“229 Offenbar gab es wiederholt sogar Überlegungen, van der Poel als Postmeister abzulösen, aber sie führten zu keinem Resultat. Dies lag auch an Marlboroughs konstanter Unterstützung für van der Poel: „I find you continue uneasy as to the packet boates. I am ignorant of the methode that might be taken to help itt, but I am very confident the Post Office can never find a man more willing nor diligenter then Van der Pool.“230

Marlborough empfahl sogar mehrfach, van der Poels Post sei eng­lischen Kurieren vorzuziehen, die nicht mit den regulären Postschiffen fuhren, weil die Kuriere Pässe bräuchten, die manchmal schwer zu beschaffen ­seien.231 227 Vgl. die Hinweise im Brief der Postmasters General an St. John, 26. März 1712, in: TNA SP 34/18, 58r–v. 228 Am 4. Februar 1709 schrieb Marlborough an Boyle, er habe sieben Postlieferungen auf einmal bekommen. Siehe: Letters and Dispatches, Bd. 4, 425. Vgl. auch Marlborough an Hedges, 2. Juni 1704, in: Letters and Dispatches, Bd. 1, 290: „Yesterday morning we received five mails from England of the 28th of April, 2nd, 5th, 9th, and 12th past, but I had none from you by the three latter, which makes me conclude your letters have been carried to the Hague or directed some other way, my Lord Treasurer’s and my Lady Marlborough’s letters by those posts being likewise wanting.“ 229 Harley an Marlborough, 8./19. September 1704, in: BL Add. 61123, 74r. 230 Marlborough an Godolphin, 28. Juni/9. Juli 1705, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 455. 231 Vgl. Marlborough an Harley, 20. Juni 1707, in: Letters and Dispatches, Bd. 3, 425. Vgl. auch: Godolphin an Marlborough, 15. Juni 1707, in: The Marlborough-­Godolphin Corres­ pondence, Bd. 2, 820. Das Problem der Pässe war (für Kuriere, aber auch darüber h ­ inaus) virulent. Vgl. die vielfältigen Passanfragen an Marlborough in: BL Add. 61282. In der Tat hatte z. B. ­Kaiser Leopold den Taxis’schen Posten aus Flandern ins Reich im April 1705 die Beförderung von Kurieren ohne Pass und Erlaubnis untersagt; vgl. Quellen zur Geschichte des euro­päischen Postwesens, Teil 2, 267 f. Marlborough selbst sandte wohl öfter Kuriere ohne Pass, die zuweilen vom Feind aufgegriffen wurden. Vgl. Vaillé, Le cabinet noir, 131. Zu Pässen vgl. Bély, Espions, 610 – 653, aber auch: Warneke, Coastal ‚Hedge of Laws‘; Torpey, Inven­tion.

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Ein Problem, das die Postmeister beim besten Willen nicht abstellen konnten, war – wie schon van der Poel bemerkt hatte – das Wetter. Vor allem der Wind wurde in der Korrespondenz eng­lischer Politiker und Militärs ständig thematisiert: Er war ein wichtiger Akteur des Krieges und gleichzeitig ein unverfügbarer, kontingenter Faktor, der sich jeder Planung entzog.232 Vom Wind hing unmittelbar die Geschwindigkeit von Informa­tion ab. Der jeweils „gute“ und schnelle Wind war schon zeitgenös­sisch, spätestens seit der Invasion Wilhelms III . im Jahr 1688, als „Protestant wind“ sprichwört­lich.233 Über ihn wurde aber viel weniger gesprochen als über „contrary winds“234. Man könnte seitenweise die immer gleichen Formulierungen zitieren, doch einige Beispiele sollen genügen. Harley schrieb Marlborough im Sommer 1704 nach Bayern: „The winds continue westerly so that we have no packet come in & two are due: all long to heare of yr Grace’s further progress, we have very unfitting returns to make for the news we have from your Grace, you send us accounts of a glorious victory, & we can only returne yr Ld.sp an account of a series of follys committed in Portugal.“235

Die politischen Akteure waren sich über die Bedeutung des Windes sehr wohl im Klaren. Godolphin etwa schrieb aus Windsor an Harley in London, der Wind wehe so stark und aus der falschen Richtung, dass Harley sicher keine neuen Briefe aus dem Ausland erhalten habe: „I hear the wind so strong in my windows here that I have no hope you can have any foreign letters at London, unless from Lisbon, which will not bring much when they do come.“236 Im Herbst 1707 wurde angesichts der Windverhältnisse sogar die Fortsetzung der Parlamentssitzungen verschoben: Harley schrieb Marlborough, der herrschende Westwind verhindere nicht nur die Beförderung von Briefen, sondern natür­lich auch von Personen, „and it has been thought proper to adjourne the Parliament (after the Speaker was approv’d) until Thursday next, in hope of either seeing, or hearing from your 232 Akteur war der Wind im Sinne Bruno Latours: „jedes Ding, das eine gegebene Situa­ tion verändert, indem es einen Unterschied macht, (ist) ein Akteur“: Latour, Eine neue Soziologie, 123. Vgl. auch: Johnson, Mixing Humans. 233 Vgl. Churchill, Marlborough, Bd. 1, 246. 234 Marlborough an Godolphin, 31. März 1707, in: BL Add. 61109, 21r. Siehe auch Lieutenant-­ General Cutts an Marlborough, in: BL Add. 61162, 43v: „the contrary winds have been my enimy“. 235 Harley an Marlborough, 11./22. Juli 1704, in: BL Add. 61123, 34r. 2 36 Godolphin an Harley, 4. Juli 1707, in: Calendar of the manuscripts of the Marquis of Bath, Bd. 1, 177.

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Grace before that day“237. Die Episode illustriert sicher genauso die Bedeutung des Herzogs wie die Bedeutung des Windes. Selbst bei gutem Wind in die richtige Richtung konnte sich die Post verzögern, weil angesichts der geringen Zahl an Postschiffen sich manchmal alle auf der einen – in ­diesem Fall: der falschen – Seite des Kanals befanden.238 Allerdings klagten die Akteure oft für einige Tage über Unsicherheit darüber, ob nicht doch auch Freibeuter die Boote angegriffen hatten.239 Und wenn bei sehr wichtigen Nachrichten alle Boote auf der falschen Seite lagen, wurde kurzzeitig sogar erwogen, ob die Postmasters General nicht zusätz­liche Boote mieten sollten – diese Pläne wurden allerdings oft aus Furcht vor Freibeutern wieder aufgegeben.240 Diese Konstella­tion zeigt deut­lich, dass die beiden Parameter Geschwindigkeit und Sicherheit kaum in Einklang zu bringen waren. Selbst freudige Anlässe konnten zu Klagen über die Postgeschwindigkeit führen. Am 23. Mai 1706 (eng­lische Datierung: 12. Mai) schlug die alliierte Armee die Franzosen bei Ramillies. Marlborough schrieb einen Tag ­später einen Brief über diesen Sieg an Godolphin; Godolphin erhielt den Brief am 16. Mai abends.241 Diese Geschwindigkeit von dreieinhalb Tagen entsprach ungefähr dem zeitgenös­ sischen Durchschnitt (Briefe von London nach Den Haag zum Beispiel brauchten im Durchschnitt drei bis vier Tage 242), aber dennoch wurde im Cabinet Council über die Langsamkeit der Post debattiert. Harley notierte in der Kabinettssitzung 237 Harley an Marlborough, 31. Oktober/11. November 1707, in: BL Add. 61125, 70. 238 Vgl. Marlborough an Godolphin, 1./12. Juni 1705, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 438. Siehe auch Harley an Marlborough,14./25. Juli 1704, in: BL Add. 61123, 36r. 239 Vgl. Harley an Marlborough, 12./23. August 1707, in: BL Add. 61125, 27r: „The wind has been fair heer for above two days ’till this morning, & neither of the Holland mails are come in, tho the three from Ostend are, wch makes us suppose that the Boat is either taken or chas’d.“ 240 Vgl. aber Cotton und Frankland an Ellis, 19. September 1703, in: BL Add. 28891, 206r: „There being no Packett boat on this side to carry the Mailes of Tuesday and this night for Holland, wee desire your Direc­tions whether wee should Endeavour to Hire a boat, thou wee beleive it will be very difficult to do, there being many Privateers upon this Coast, wee have bought a new boat to supply the Place of that which was lately taken, but she cannot be ready before Munday if the Prince could spare one of ye light ­vessells – belonging to the Navy to carry these two Mailes, it would be not only the safest but most Expeditious way of sending them.“ Vgl. auch Under-­Secretary Hopkins an die Postmasters General, 5. März 1707/08, in: BL Add. 61653, 131r. 241 Vgl. The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 545 u. 550; siehe auch Luttrell, Brief Historical Rela­tion, Bd. 6, 47. 242 Vgl. Frey/Frey/Rule, Introduc­tion, XXII.

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vom 2. Juli 1706 für sich selbst, er müsse „write to quicken the Packet, & examine into the Reason why the good news was so long in going“243. Eine Mög­lichkeit für eine Verbesserung ergab sich aber eben nach der Schlacht von Ramillies, also ab dem Sommer 1706, und zwar durch die Einnahme Ostendes am 6. Juli. Nach der Regierungsübernahme durch Philipp V. hatte die Familie Taxis ihr Postmonopol in den süd­lichen Niederlanden verloren. Philipp hatte es an Léon Pajot verpachtet; die Alliierten hatten den Taxis mehrfach garantiert, dass sie ihr Monopol im Falle der Rückeroberung der süd­lichen Niederlande zurückerhalten sollten. Nach der Schlacht von Ramillies und der Eroberung der süd­lichen Niederlande 1706 wurde das Postmonopol dann allerdings an François Jaupain vergeben; Pajot musste in die Restniederlande, erst nach Mons, ­später nach Namur zurückweichen. Jaupain übernahm Pajots Organisa­tion, arbeitete aber eng mit den Alliierten zusammen.244 Die Taxis beschwerten sich, aber erfolglos.245 Mit dieser neuen militärischen Situa­tion ergab sich auch die Mög­lichkeit eines „shortening of Marlborough’s communica­tions“246, weil jetzt Ostende als schnellere Postverbindung nach England wieder genutzt werden konnte. Was allerdings als Vorteil im Hinblick auf das Problem der Geschwindigkeit erschien, war im Hinblick auf das Sicherheitsproblem ein Nachteil: Denn Ostende benachbart lag der franzö­sische Freibeuterhafen Dünkirchen.247 Offenbar war das Problem so wichtig, dass man bereits vor der militärischen Rückgewinnung des entsprechenden Gebiets Pläne für die Verbesserung der Postkommunika­tion durchspielte. Schon vor dem endgültigen Fall Ostendes hatten die Postmasters General 243 Vgl. BL Add. 70337, 2. Juli 1706. Diskussionen im Cabinet Council über die Post finden sich auch in Sunderlands Aufzeichungen: BL Add. 61498, 36, 100 u. 127. 244 Siehe das apologetische Schreiben Jaupains: Raisons d’estat pour le maintien du commis des Postes du Roy Charles troisieme dans l’armée de ses Hauts Alliez aux Pays-­Bas, in: BL Add. 61336, 150 f. Vgl. Vaillé, Post; van Houtte, Les postes; Janssens/Meurrens, Vorstelijke en private post; Quellen zur Geschichte des euro­päischen Postwesens, Teil 1, 130 – 133. – Zu den süd­lichen Niederlanden nach 1706 vgl. Veenendaal, Het Engels-­ Nederlands condominium. 245 Vgl. den Brief an Marlborough vom 23. September 1706, BL Add. 61365, 19r. 246 Trevelyan, England, Bd. 2, 145. 247 Vgl. The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 547, Anm. 3. Auch Ostende selbst war ein wichtiger Freibeuterhafen gewesen; vgl. Trevelyan, England, Bd. 2, 145. In den Verhandlungen über eine niederländische Barriere spielten beide eine Rolle: Godolphin war der Ansicht, ein Frieden sei nur dann sinnvoll, wenn Ostende nicht den Franzosen in die Hände falle und Dünkirchen zerstört werde, was nach dem Krieg auch geschah. Siehe Godolphin an Marlborough, 16. April 1708, in: The Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 2, 955 sowie ebd., Bd. 1, 547, Anm. 3 und 563.

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vorgeschlagen, einen direkten Postservice ­zwischen England und den süd­lichen Niederlanden einzurichten.248 Der Chronist Narcissus Luttrell berichtet schon im Juli 1706 von der Einrichtung eines zweimal wöchent­lich fahrenden Schiffs von Margate nach Ostende.249 Doch bis diese Verbindung stabil war, sollten noch Monate vergehen. Godolphin nutzte sie versuchsweise,250 aber Marlborough dämpfte seine Hoffnungen: „It is certainly the quickest passage, but much the daingerous, so that whenever you write that way, it would be well that you send a copie by the way of Holland. I could wish for the rest of this campagne that the Post Office would regularly send all the letters that are for the army by the way of Holland, for should thay devide them and send some tims by Ostende and some tims by Holland, the letters on this side the watter will be neglected at both places, and so we shall receive them very irregularly.“251

Für den regulären Ostender Postdienst, der in der zweiten Jahreshälfte 1706 aufgebaut wurde, war wiederum John Macky vorgesehen: Die Postmasters Cotton und Frankland hatten schon vor dem Fall Ostendes Boote herstellen lassen und schickten Macky nach Flandern, um mit Marlborough (der ihn wiederum an Jaupain verwies) über die Modalitäten zu verhandeln. Marlborough allerdings wollte die Niederländer in die Diskussion einbezogen wissen; nachdem in Den Haag das Placet gegeben worden war, wurde der Ostender Postdienst in den folgenden Monaten verstetigt.252 Allerdings war Macky in dieser ersten Zeit nur der Organisator des Unternehmens; die Schiffe gehörten ihm nicht. Direkt nach der Aufnahme des Postboot-­Dienstes nach Ostende kam es von August bis Oktober 1706 noch einmal zu Irrita­tionen, etwa ob dieser Dienst – angesichts 248 Vgl. Calendar of State Papers, Bd. 4, 157. Die positive Antwort der Königin siehe ebd., 162. Auch Godolphin sprach sich schon im Juni 1706 dafür aus; siehe Godolphin an Marlborough, 11. Juni 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 581 f. 249 Vgl. Luttrell, Brief Historical Rela­tion, Bd. 6, 67. 250 Vgl. Godolphin an Marlborough, 22. Juli 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Corres­ pondence, Bd. 1, 629. 251 Marlborough an Godolphin, 29. Juli/9. August 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 635. 252 Vgl. Cotton und Frankland an Hedges, 9. August 1706, in: Calendar of State Papers, Bd. 4, 197 f.; siehe auch ebd., Nr. 1444, 1642, 1655. Zu den Verhandlungen z­ wischen ­Jaupain, Macky und dem Ostender Postmeister Bouwens siehe auch Cardonnels Briefe an ­Jaupain, in: BL Add. 61398, 8. August 1706 (40v–41r); 14. August 1706, 48v; 16. August 1706 (51r).

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der geringen Zahl an Schiffen – Priorität gegenüber der Post nach Portugal haben sollte.253 Am 1. Oktober schlossen die Postmasters General und der südniederländische Staatsrat, jeweils vertreten durch Macky und Jaupain, einen Vertrag über einen zweimal wöchent­lichen Dienst, der von Häfen in Kent nach Ostende fahren und von England bezahlt werden sollte. Für die Wege innerhalb der süd­lichen Niederlande sollten die Niederländer aufkommen.254 Die Boote fuhren üb­licherweise montags und freitags.255 Mackys Aufgabe bestand wieder darin, „to settle an Intercourse of Letters directly between England and these Countries“, aber auch „to have a watchful Eye over the Naval Prepara­tions from Time to Time at Dunkirk“, also die franzö­sische Aufrüstung in Dünkirchen zu beobachten.256 Macky informierte aus Dover die Postmasters in London auch über Truppenverschiebungen in Flandern und die daraus entstehenden Konsequenzen für die Post.257 Marlborough scheint Ostende von Beginn an zumindest ambivalent gegenübergestanden zu haben. Einerseits sprach er sich im August 1706 dafür aus, mindestens für das laufende Jahr die Post nach wie vor über den gewohnten Weg, also über Brielle, laufen zu lassen, weil diese (noch) ungefähr 24 Stunden schneller sei.258 Andererseits plädierte er im September gegenüber Harley entschieden für einen Ostender Postdienst.259 Zu Beginn, dies wird aus der Divergenz der Voten deut­lich, konnte Ostende also selbst im Hinblick auf die Geschwindigkeit nicht mit Brielle mithalten – unter Sicherheitsaspekten konnte es das ohnehin nicht. Es war eher Godolphin, der (auch mit Blick auf den eng­lischen Handel) sehr früh und nachhaltig Ostende favorisierte.260

253 Vgl. Hedges an Cotton und Frankland, 16. August 1706, in: Calendar of State Papers, Bd. 4, 203; siehe aber auch ebd., 236. Cardonnel schrieb am 3. September 1706 an Henry Watkins: „The letter from Brussels was cheifly about the Ostend post, upon the packet-­ boats being recall’d, but I hope they will be settl‘d again.“: The Collec­tion of Autograph Letters, Bd. 2, 61. Vgl. zu ­diesem Kontext auch: Letters and Dispatches, Bd. 3, 81, 84 f., 115. 254 Vgl. Quellen zur Geschichte des euro­päischen Postwesens, Teil 2, 274. 255 Vgl. die Hinweise in: TNA SP 34/19, 35v. 256 Memoirs of the Secret Services, XII f. 257 Vgl. Macky an Cotton und Frankland, 2. Juli 1708, in: BL Add. 61601, 80r. 258 Vgl. Marlborough an Hedges, 9. August 1706, in: Letters and Dispatches, Bd. 3, 68. Siehe auch Cardonnel an Cotton und Frankland, 9. August 1706, in: BL Add. 61398, 43r. 259 Vgl. Marlborough an Harley, 20. September 1706, in: TNA SP 87/2, 512r. 260 Vgl. Godolphin an Marlborough, 13. September 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 678: „our merchants will soon bee very clamorous, if they must be obliged to send all their letters to Holland, when Ostend, is in the hands of our friends.“

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Damit war eine primär ökonomische Konkurrenz z­ wischen Ostende und Brielle etabliert – und auch eine Konkurrenz z­ wischen den Postmeistern dort oder ­zwischen dem Brieller Postmeister van der Poel und Macky, der in Dover für die Postboote nach Ostende zuständig war (der Ostender Postmeister Bauwens spielte eine geringere Rolle). Dabei bedienten sie sich unterschied­licher Strategien, um sich die Londoner Regierung geneigt zu machen: Während van der Poel vor allem auf seine Erfahrung, seine über Jahrzehnte bewiesene Sorgfalt und damit also vor allem auf den Parameter der Sicherheit der Briefbeförderung hinwies 261 und noch 1711 (allerdings erfolglos) versuchte, die eng­lische Regierung zu einer Vorzugsbehandlung für Brielle zu überreden, die Ostende massiv geschadet hätte,262 profilierte Macky sich eher durch Ak­tionismus und Eigeninitiative. Im Zuge der alliierten Erfolge träumte Macky davon, mittelfristig einen Postdienst in einer franzö­sischen Hafenstadt einzurichten, und argumentierte mit der öffent­lichen Resonanz eines solchen Schrittes gerade in England: „the verie name of a Seaport Towne though of small consequence will get you more glory in England amongst the trading and common people than ten Wall’d citys.“263 Mackys Initiative war auch nötig, denn der Ostender Postdienst wurde immer wieder harsch kritisiert und lief auch in den Jahren nach seiner Einrichtung nicht reibungslos. Marlborough bestand auch im Jahr 1707 darauf, dass die Briefe, mindestens diejenigen an Generäle und hohe Offiziere, eher über Brielle als Ostende geschickt werden sollten, „till ye Ostend packets are better settled“264. ­Cardonnel hinterbrachte Macky die Einschätzung der Postmasters, seine Boote ­seien ­Schnecken („meer sluggs“), und der Umstand, dass sie immer wieder von Freibeutern gefasst würden, habe wohl vor allem mit „ill sailing“ zu tun.265 Macky selbst beschwerte sich darüber, dass zeitweise ein privates Boot vor seinen Postbooten auslaufe, um die Informa­tionen schneller von der Armee nach England zu bringen. Dieses Boot wurde offenbar von eng­lischen Kaufleuten finanziert, die ebenfalls Briefe erwarteten.266 Macky war sich des Problems bewusst: 261 Vgl. van der Poel an einen ungenannten Secretary oder Under-­Secretary, 17. November 1708, in: TNA SP 84/574, 255r–v: „jamais lettres qui me sont venues en main et dont j’ai pris le soin, n’étant égarées ni perdues pendant toutes les guerres; Vous pouvez savoir que toutes les Lettres de Sa Majesté soyent toujours envoyéez en la plus grande sûreté qu’il se puisse être.“ 262 Vgl. Cardonnel an die die Postmasters General, 17. März 1711, in: BL Add. 61401, 168r sowie ders. an dies., 21. April 1711, in: BL Add. 61402, 15r. 263 Vgl. Macky an Cardonnel, 7. Oktober 1710, in: TNA SP 87/4, 588r. 264 Cardonnel an Frankland, 30. Mai 1707, in: BL Add. 61398, 154r. 265 Cardonnel an Macky, 8. Februar 1706/7, in: BL Add. 61398, 135r. 266 Vgl. Macky an einen ungenannten Under-­Secretary, 1. Juni 1707, in: TNA SP 34/9, 43r.

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„[I]f letters are to goe more regularly and quicker by the way of Holland, and this passage is not to Hire extraordinary Boates although almost at no Expence to the Queen, when Mails lye here with a fair wind, then all the Arguments used for this Intercourse are to no purpose“.267

Zwar sei die Ostender Verbindung schon jetzt sehr vorteilhaft für den eng­lischen Handel mit Italien und auch mit Flandern selbst, aber insgesamt müsse etwas geschehen. Schon seit dem Sommer 1706 schlage er folgende Konstella­tion vor: „I offered to the Postmasters generall at the beginning, and do offer it still, to furnish Boates, seamen, runn all risks, and be at all charges to carry on this correspondence regularly twice a Week, without delay, for two thousand pounds a year.“268

Macky spezifizierte seinen Plan weiter: Die von der Regierung gestellten Schiffe ­seien zu groß; er schlage von ihm selbst finanzierte kleinere Boote vor. Diese vier Schiffe sollten 20 bis 30 Tonnen schwer sein und mit zehn Mann Besatzung fahren – statt wie bisher 50-Tonner mit 16 Mann fahren zu lassen, die für die Freibeuter viel leichtere Ziele darstellten. Macky versprach, den Weg von Ostende nach Dover mit diesen neuen Booten „in six Hours be the Wind how it will“ zurückzulegen.269 So wurde also ein neuer Vertrag mit Macky abgeschlossen, der ­später noch einmal bis zum Kriegsende verlängert wurde.270 Und doch: Auch am Ende des Jahres 1707 war Marlborough noch der Meinung, Macky erfülle seine Aufgaben nicht korrekt, und drohte ihm unverhohlen, ihn fallen zu lassen: „I fear it will not be in any bodys power to support your Interest much longer. `tis not only this winter season but most part of the summer the letters came over by four, five and six mailes at a time. You know what you are obliged to by your Contract and I am persuaded I would never engage yourself in impossibilitys, and `tis as certain if all opportunitys were minded the letters might go at least once if not twice a week.“271

267 Macky an Sunderland, 5. Februar 1706/07, in: BL Add. 61601, 169r. 268 Ebd., 169r. Allerdings müsse der eng­lischen Regierung klar sein, dass sie Geld für notfalls zu mietende Zusatzboote bereitstellen müsse; ebd., 170r. 2 69 Macky an Sunderland, 25. Juli 1707, in: BL Add. 61601, 173r–v; Postmasters General an Sunderland, 25. Juli 1707, in: ebd., 174r–v; vgl. auch Sunderland an die Postmasters General, 1. August 1707, in: BL Add. 61652, 29r. 270 Vgl. TNA SP 34/19, 55v und 130v. Mackys Vertrag wurde 1709 verlängert. 271 Cardonnel an Macky, 26. Dezember 1707, in: BL Add. 61399, 49v; vgl. auch Cardonnel an Jaupain, 23. Dezember 1707, in: BL Add. 61399, 46r.

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Allerdings passierte: nichts. Weder wurde der Ostender Dienst merk­lich effektiver, noch verlor Macky seine Stellung. Auch ­später wurde manchmal darüber nachgedacht, die durch Freibeuter bedrohten Postboote durch einen bewaffneten Konvoi zu sichern, dies wurde aber nie in die Tat umgesetzt.272 Doch wies der ­Kaiser die Taxis’sche Post im Februar 1708 an, die Berichte der österreichischen Gesandten in London in Zukunft wieder über Den Haag zu transportieren; der kaiser­liche Resident Gallas hatte sich über die Unsicherheit und Langsamkeit der Versendung über Ostende beklagt.273 Wichtig war aber neben allen anderen Detailproblemen, dass die Ostender Post direkt im Kriegsgebiet lag und schon deshalb objektiv im Nachteil gegenüber den nordniederländischen Konkurrenten war.274 Vor allem in der zweiten Hälfte des Jahres 1708 gelang es der franzö­sischen Armee immer wieder, die Kommunika­tion der alliierten Armee mit dem Posthafen Ostende zu stören (was sich auch auf Nachschub und Truppentransporte auswirkte). Durch die Flutung von Kanälen wurde zum Beispiel das Gebiet um Ostende und Nieuwpoort überschwemmt.275 Auch ohne feind­liche Einwirkungen war die Region öfter Überschwemmungen durch Hochwasser ausgesetzt.276 Dazu kam die Schwierigkeit, die Briefe über die 272 Vgl. das undatierte und anonyme, mög­licherweise von Jaupain stammende „Memoire touchant la sureté des Pacquetboats qui servent à transporter les lettres d’ostende en Angleterre“, in: BL Add. 61601, 235 – 241, hier v. a. 235v. Auch der Repräsentant Karls III., Bernardo de Quiros, und der Ostender Bürgermeister baten Marlborough im Sommer 1708 darum, Ostende vor den Franzosen zu s­ chützen (eine Bitte, die auch den Postdienst betraf ), aber Marlborough legte auf den Schutz Ostendes keinen besonderen Akzent. Vgl. Quiros an Marlborough, 16. August 1708, in: BL Add.  61196, 180 – 183. Siehe den Entwurf der Antwort Marlboroughs ebd., 17. August 1708, 185r. 273 Vgl. Quellen zur Geschichte des euro­päischen Postwesens, Teil 2, 282. 274 Am 25. März 1707 informierte Sunderland Marlborough über einen Vorschlag George Stepneys (der seit 1706 nicht mehr in Wien, sondern erst in Den Haag, dann zusätz­ lich in Brüssel diplomatisch tätig war, siehe Veenendaal, Het Engels-­Nederlands condominium, 133 – 135) „in rela­tion to the securing the Packettboats, & the Correspondance ­between England & Ostend“, der vom Kabinett approbiert worden sei; dieser Vorschlag, dessen Inhalt nicht überliefert ist, wurde aber charakteristischerweise (wohl wegen des Widerstands der Generalstaaten) nicht umgesetzt. Siehe BL Add. 61126, 35r. 275 Vgl. Marlborough an Godolphin, 13./24. September 1708, in: The Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 2, 1101; Godolphin an Marlborough, 2. Oktober 1708, in: ebd., Bd. 2, 1124; Marlborough an Godolphin, 8./19. Oktober 1708, in: ebd., Bd. 2, 1126. Siehe auch: BL Add. 61127, 19r u. 23r; John Lawes an Sunderland, 8. Oktober 1708, in: TNA SP 77/57, 361r; 363r; 371r. 276 Godolphin hoffte im Oktober 1708, die Überschwemmungen z­ wischen Ostende und der Armee ­seien „occasioned more by the Spring tides, than by the enemy“: Godolphin

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Schelde zu transportieren, die zum Teil von den Franzosen kontrolliert wurde.277 Dies betraf vor allem die Kommunika­tion der Armee mit der südniederländischen Hauptstadt Brüssel.278 Dieses Problem führte dazu, wie Marlborough in einem Brief an seine Frau bemerkte, dass zeitweise nichts Relevantes einem Brief anvertraut werden durfte: „we are obliged to be upon our garde of what we write, if we would not have them know itt, so that you must not expect perticulars as to news.“279 Im harten Januar 1709 waren dann allerdings die Wetterbedingungen in den nörd­lichen Niederlanden so katastrophal, dass Brielle als Posthafen zeitweise ausfiel und es keine Alternative zu Ostende gab.280 Es ist nicht rekonstruierbar, wer eigent­lich die größte Schuld an dem häufigen Nichtfunk­tionieren der Ostender Post trug. Zu diverse Interessen der Akteure und eine daher zu diffuse Problembeschreibung verhinderten offenbar eine umfassende Neuordnung. Die Konkurrenz z­ wischen Brielle und Ostende führte aufseiten der eng­lischen Akteure zu permanenten Diskussionen über die Vor- und Nachteile der beiden Routen und zu Experimenten hinsicht­lich der Sicherheit und Geschwindigkeit der Post. Während zum Beispiel Godolphin von London aus in hohem Maße daran interessiert war, die direktere und seiner Meinung nach schnellere Verbindung via Ostende zu ­nutzen, fand Marlborough immer neue Argumente für seine Bevorzugung Brielles, die viel mit seinem Vertrauen in van der Poels Zuverlässigkeit zu tun haben dürfte, aber wohl auch damit, dass Marlborough unmittelbar mit dem schwierigen Kriegsterrain konfrontiert war. Godolphin sah in Ostende „certainly the quicker and I should think the safer way“281, weil auch die Strecke von der Armee an Marlborough, 14. Oktober 1708, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 1129. 277 Vgl. Marlborough an Boyle, 27. November 1708, in: Letters and Dispatches, Bd. 4, 323. Siehe auch Cardonnel an John Lawes in Brüssel, 28. September 1708, BL Add. 61400, 2v: „The uncertainty of our letters getting over the Schelde discourages my writing to you“. 278 Vgl. Cadogan an Sunderland, 8. Oktober 1708, in: TNA SP 77/57, 371r. Vgl. auch ­Cardonnel an John Lawes, 28. September 1708, in: BL Add. 61400, 2v. 279 Marlborough an Sarah, 20. September/1. Oktober 1708, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 1107. 280 Vgl. Godolphin an Marlborough, 6. Januar 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1196. Siehe auch Boyle an Marlborough, 11. Februar 1709, in: BL Add. 61129, 35r: „The letters of Tuesday last from Holland are wanting tho the wind has been strong and fair, but I suppose the boats are stopped by the frost wch is returned here wth great violence.“ Ähn­liches gilt wohl für den Feldzug von 1710; siehe John Lawes aus Brüssel, 7. Mai 1710, an den Under-­Secretary Pringle, in: TNA SP 77/59, 117r. 281 Godolphin an Marlborough, 24. September 1708, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 1113; einige Tage s­ päter ließ Godolphin Marlborough wissen,

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zum Hafen kürzer sei. Er betonte also – jedenfalls zeitweise – die Sicherheitsprobleme, die auch mit Brielle verbunden waren,282 legte aber den Hauptakzent auf seinen Eindruck, die Briefe über Ostende würden einen oder zwei Tage schneller ­ arlborough wiederholt dazu in London eintreffen.283 Daher forderte Godolphin M auf, die Verbindung ­zwischen Ostende und der sich immer weiter in Richtung Frankreich bewegenden alliierten Armee aufrechtzuerhalten. Godolphin schlug vor, die Post nicht über Brüssel, sondern direkt von der Armee nach Ostende zu ­schicken, was nur zeitweise funk­tioniert zu haben scheint.284 So wies er Macky an, einen eigenen Berichterstatter über die Verhältnisse der Armee in Gent oder Lille zu installieren, „to have the satisfac­tion of knowing everything 2 or 3 days sooner than by the Dutch post“285. Macky war von Dover aus tätig und fuhr nur auf den Kontinent, wenn es die Postmasters General, zum Beispiel wegen der wachsenden Entfernung der Armee von Ostende, für nötig erachteten – so etwa während und nach der Belagerung von Lille 1708, als er mit Marlborough die Modalitäten des Postverkehrs ­zwischen der Armee und Ostende aushandelte.286 auch dessen Sekretär Cardonnel sei dieser Meinung, vgl. ebd., 1114. 282 Vgl. Godolphin an Marlborough, 5. November 1708, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 1144; Godolphin an Sarah, 21. November 1708, in: ebd., Bd. 2, 1155. 283 So schreibt Godolphin an Marlborough, 28. Juni 1709, in: The Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1297: „to show you the advantage of establishing the posts by Ostend, I have seen this morning a letter of the 1st of July by your camp, whereas our last letters by the way of Holland were but of the 27th.“ Siehe auch ders. an dens., 3. und 6. Juni 1709, in: ebd., Bd. 3, 1274 u. 1277. Die Einschätzung G ­ odolphins scheint diejenige der Londoner Regierung gewesen zu sein; siehe den Brief des Secretary of state Sunderland an den Brüsseler Gesandtschaftssekretär Lawes, 18. April 1710, in: BL Add. 61651, 216v: Ostende „often brings us News sooner than the Dutch Maile“. 284 Vgl. Marlborough an Godolphin, 9./20. Juni 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1280; Godolphin an Marlborough, 13. Juni 1709, in: ebd., Bd. 3, 1281. 2 85 Godolphin an Marlborough, 17. Juni 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1287. Vgl. auch ders. an dens., 23. Juni 1709, in: ebd., Bd. 3, 1290. 286 Vgl. den Bericht der Postmasters General an St. John, 14. April 1711, in: TNA SP 34/15, 66v. Auch nach der Einnahme von Lille sollten drei Postillione ­zwischen Ostende und Lille beschäftigt werden; Marlboroughs eigene Briefe sollten per Expresskurier befördert werden. Vgl. Calendar of Treasury Papers, Bd. 4, 128 (18. Juli 1709). Der Ostender Postmeister Bauwens hatte sich über Cardonnel vergeb­lich darum bemüht, die Post zur Armee selbst zu befördern; siehe Cardonnel an Bauwens, 14. November 1708, 5. Februar 1709, in: BL Add. 61400, 40r u. 93v.

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Godolphin schrieb mehrfach Briefe parallel über beide Häfen, um zu erkunden, welcher der schnellere sei – „only for the experiment“287. Mit einiger Befriedigung konnte Marlborough ihm antworten: „In yours of the 15 by Ostend, you desire to be informed which came first. Though the winds were very contrary that of the same date by Holland came the first“288 – gestand aber gleichzeitig zu, dass es sich um einen Fehler handeln müsse, da andere Briefe vom gleichen Tag schneller über Ostende eingetroffen s­ eien. Im Sommer 1710 ließ Godolphin sogar mit schnelleren Booten experimentieren: Ein von dem berühmten Marine­ingenieur Edward Dummer eigens für diesen Postdienst gebautes Boot namens „Dolabella“ fuhr (mindestens) im Juli und August 1710 ­zwischen Gravesend und Ostende; Godolphin schien es schnell und sicher zu sein.289 Dass Dummer sich zuvor mit dem Transport nach Westindien befasst hatte, lässt vermuten, dass hier praktische koloniale Erfahrungen auf innereuro­päische Schauplätze übertragen wurden. Schon anderthalb Jahre zuvor hatte der Staatssekretär Boyle an M ­ arlborough geschrieben: „the ill success all correspondence had by the common road made one desirous of trying new paths, and my Ld Treasurer did the same.“290 Marlborough stimmte allen diesen Ideen grundsätz­lich zu, betonte aber, dass die Ostender Post manchmal schneller, immer aber unsicherer sei. Daraus folge, „that not only the safest but also the quickest way will be by Holand“291. Seine Skepsis gegenüber Ostende war zu Beginn wohl der unzureichenden Sicherheit geschuldet. Am Ende des Krieges fand er, jedenfalls gegenüber seiner Frau, ein weiteres Argument: Macky sei ein Klient Shrewsburys, so schrieb ­Marlborough im August 1710, und daher sei es angesichts der neuen Tory-­Regierung, der S ­ hrewsbury angehörte, mög­lich, dass Macky seine Post ausspioniere.292 Dieses an sich nicht unrealistische Szenario scheint aber in ­diesem besonderen Falle eher die Paranoia 287 Godolphin an Marlborough, 15. Juli 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1312. 288 Marlborough an Godolphin, 28. Juli/8. August 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1326. 289 Vgl. Godolphin an Marlborough, 12. Juli 1710; 27. Juli 1710, 20. August 1710, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1566, 1580, 1611. Zu Dummer siehe ebd., Bd. 3, 1566, Anm. 1232; Fox, Ingenious Mr Dummer. 290 Boyle an Marlborough, 30. November 1708, in: BL Add. 61128, 195r. 291 Vgl. Marlborough an Godolphin, 7./18. Juli 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1306. Vgl. auch ders. an dens., 30. Juni/11. Juli 1709, in: ebd., Bd. 3, 1297. 292 Vgl. Marlborough an Sarah, 5./16. August 1710, in: The Marlborough-­Godolphin Corres­ pondence, Bd. 3, 1591. Zu Macky als Klient Shrewsburys siehe auch: HMC Buccleuch, Bd. 2, Teil 2, 746, 785, 788.

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des Generals anzudeuten, der seinen Stern sinken sah: Denn Macky war der neuen Regierung nicht wohlgesonnen. Das Problem Ostende oder Brielle wurde bis zum Kriegsende nicht gelöst. Am Ende des Krieges, so geht aus einem Bericht des Post Office hervor, wurden fünf Boote in die nörd­lichen Niederlande, vier nach Flandern, daneben drei nach Irland, fünf nach Amerika sowie fünf weitere in euro­päische Häfen unterhalten.293 Als sich aber im Jahr 1711 ein Frieden mit Frankreich abzeichnete, begannen Planungen über eine direkte Postlinie von Dover nach Calais. Trotz des noch anhaltenden offiziellen Kriegszustandes erklärte sich die Königin Anne schon im Februar 1712 dazu bereit.294 Man verfuhr bereits jetzt „as in time of Peace“295: Im August 1712 wurde dementsprechend ein Postdienst nach Calais, aber auch nach Dünkirchen etabliert. Für die Linie nach Dünkirchen, die mit zwei Booten fahren sollte, wurde eines der Boote eingesetzt, die bisher nach Ostende gefahren waren.296 Hier wird wieder das strukturelle Problem der Unterfinanzierung der eigent­lich als unabdingbar angesehenen Postschiffe deut­lich. John Macky, der als eingefleischter Whig im Allgemeinen und durch die Aufdeckung der geheimen franzö­sisch-­eng­lischen Friedensverhandlungen von 1711 im Besonderen die neue Tory-­Regierung gegen sich aufgebracht hatte,297 verlor (nachdem er zunächst inhaftiert worden war) seinen Posten. Wie im Jahr 1700 stand er vor dem wirtschaft­lichen Aus. Er eröffnete einen unprofitablen Postdienst nach Dublin, bevor er sich unter Walpole wirtschaft­ lich wieder erholte.298 Zusammengefasst zeigt sich bei der Untersuchung des Postschiffdienstes nach Flandern also erstens die Bedeutung, die die Akteure, und auch Marlborough, einer funk­tionierenden Informa­tionsinfrastruktur beimaßen; zweitens die über die gesamte Kriegsdauer anhaltenden Bemühungen, die Post einem effizienten „infra­structuring“ zu unterwerfen; drittens, dass dies angesichts struktureller Unterfinanzierung und unterschied­licher Lagebeurteilungen nur sehr partiell gelang; 293 Vgl. An account of the numbers of packet boats employed in the various routes carrying the mails overseas, 19. November 1711, in: TNA SP 34/16, 218r. 294 Vgl. TNA SP 34/17, 132r–v. 295 Postmasters General an Bolingbroke, 9. September 1712, in: TNA SP 34/19, 130v. 296 Vgl. Postmasters General an Bolingbroke, 9. September 1712, in: TNA SP 34/19, 130v. Harley hatte ursprüng­lich vorgesehen, dass von den vier Ostender Booten nun zwei nach Dünkirchen fahren sollten. Vgl. Harley an Postmasters General, 7. August 1712, in: BPMA, POST 103/2, 223. 297 Vgl. Alsop, Detec­tion. 298 Vgl. Memoirs of the Secret Services, XVIII f.; TNA SP 34/19, 56r.

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viertens, dass staat­liche und private Akteure hier in unentwirrbarer Koopera­tion zusammenwirkten, um während des Krieges die Probleme der Sicherheit und der Geschwindigkeit von Informa­tion zu lösen; fünftens, dass diese Parameter kaum miteinander in Einklang zu bringen waren. 3.2.4 De quelque usage a Mylord Duc: Der Nutzen der Landkarte

Als viertes Beispiel für die Nutzung von Infrastrukturen soll der Einsatz von Landkarten beleuchtet werden. Infrastrukturen der Informa­tionsgewinnung sind sie insofern, als sich in ihnen Informa­tionen materialisieren und kommunizieren lassen, die für Krieg führende Akteure (auch für Marlborough) von Interesse gewesen sein dürften. Doch vor allem überlieferungsbedingt sind sie quellenmäßig sehr viel schlechter zu greifen als die Postinfrastruktur. Am Einsatz der Kartographie soll im Folgenden vor allem gezeigt werden, wo die Grenzen der Infrastrukturen der Informa­tionsgewinnung lagen, die es besonders notwendig machten, auch auf andere Strukturen – amts- oder netzwerkförmiger Art – zurückzugreifen. Landkarten, so schrieb Christian Weise 1676, spielten im Krieg die Rolle eines Wegweisers oder fast besser: eines Verräters.299 Land- und Routenkarten gehörten bereits seit dem 16. Jahrhundert zu den im großen Stil produzierten Druck­ erzeugnissen 300 und waren wichtige infrastrukturelle Hilfsmittel: Der Aufstieg von Briefpost und s­ päter Postkutsche war eng an die Existenz von Landkarten gekoppelt.301 Aus wirtschaft­lichen wie administrativen Motiven heraus meinte auch der entstehende Territorialstaat, immer genauere Karten zu benötigen. Karten wurden so, neben der Generierung serieller Daten, zum Instrument der Durchdringung und Beherrschung des Territoriums.302 Die Forschung hat diese Herrschaftsnutzung relativ stark betont und sie oft in den etwas diffusen Foucault’schen Konnex von gelehrtem Wissen und Macht eingeordnet.303 Dazu passt, dass Karten oft 299 Vgl. Weise, Schediasma, 5; deutsche Version: Weise, Interessanter Abriß, 53. 300 Vgl. Würgler, Medien, 16. 301 Vgl. Beyrer, Mail-­Coach Revolu­tion, 375; ders., Infrastruktur. Ab ca. 1685 gab es in England benutzbare Straßenkarten, die aus dem Postkontext stammen; siehe Behringer, Communica­tions Revolu­tions, 360. 302 Vgl. Bitterling, Der absolute Staat; Kagan/Schmidt, Maps; Buisseret (Hrsg.), Monarchs. Zu den technischen Problemen der Kartographie, die in engem Konnex zu Landvermessung und Astronomie stand, siehe: Lindgren, Land Surveys. 303 Vgl. z. B. Edney, Bringing India.

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geheim gehalten wurden, nicht publiziert werden sollten (was dennoch zuweilen geschah) und manchmal zum Objekt von Spionage wurden.304 Die Praxis des Kartengebrauchs ist viel schlechter erforscht als ihre Produk­tion. Natür­lich ist die praktische Funk­tion von Karten für militärische Zusammenhänge bekannt – „Cartography became an instrument of rule in the sixteenth century. It was initially adopted for war“.305 Doch ist gerade für diesen offensicht­lichen Zusammenhang die Quellenlage schwierig. Daher müssen verstreute Hinweise aus Marlboroughs Korrespondenz zusammengeführt werden, um auch in dieser Hinsicht größere Klarheit über die infrastrukturellen Rahmenbedingungen der Informa­tionsgewinnung zu erhalten. Der Spanische Erbfolgekrieg setzte einen kräftigen Impuls zur Produk­tion und auch zur technischen Verbesserung der Kartographie.306 Wien und Paris waren Zentren der Kartographie. Bekannt sind etwa der kaiser­liche Militärkartograph Cyriacus Blödner und sein von 1702 bis 1713 entstandenes Theatrum Belli   307 oder auch die Familie Naudin. Doch haben sich nur wenige im engeren Sinne militärisch relevante Karten erhalten. Dies liegt auch daran, dass die meisten Militärkarten (die eher handgezeichnet als gedruckt wurden und auch nicht für eine Veröffent­ lichung bestimmt waren) im Feld benutzt wurden, vermut­lich dementsprechend aussahen und s­ päter weggeworfen wurden.308 Die Tatsache, dass militärische Nahaufklärung im 18. Jahrhundert einen so hohen Stellenwert besaß, hatte aber natür­lich auch damit zu tun, dass genaue Karten oft immer noch Mangelware waren.309 Das, was sich an Karten erhalten hat, diente oft eher illustrativen oder repräsentativen als militärischen Zwecken.310 Militärkartographie zu erforschen, ist also methodisch besonders heikel; hier gilt noch mehr als sonst die Maxime, dass die historische Methode „auf Versuche hinausläuft, früheres Geschehen hypothetisch so zu rekonstruieren, dass sich die Existenz und die Eigenart der vorhandenen Quellen daraus erklären lassen“.311

304 Vgl. Barber, Procure. 305 Biggs, Putting the State, 380. 306 Vgl. Grenacher, Anfänge, 98 – 109; vgl. auch: Huguenin, Naudin Familiy, 77; Anklam, ­Wissen, 98  f.; Behringer, Mit der Karte, 84 f. 307 Vgl. Sperling, Militärkartographie, 13 – 16. 308 Vgl. Hellwig, Kartographie, 208. 309 Vgl. Anklam, Wissen, 99. 3 10 Vgl. Grenacher, Anfänge, 75; Brendecke, Imperium, 98. Siehe aber: Aubele, Der Spanische Erbfolgekrieg. 311 Albert, Methodolo­gischer Individualismus, 222.

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In Marlboroughs Nachlass sind, anders als bei einigen späteren Heerführern, nur relativ wenige Karten überliefert.312 Einige davon, vor allem sehr großformatige und prächtig gestaltete, dienten repräsentativen oder dokumentarischen Zwecken: etwa eine 90 mal 128 cm große kolorierte Karte der Schlacht von Höchstädt, die nach der Schlacht von Jan van Vianen gezeichnet wurde,313 oder auch die kleinformatigen Karten zu den Schlachten am Schellenberg und von Höchstädt, die die Nouvelle des Cours de l’Europe, ein Haager Periodikum, von Juli bis Oktober 1704 publizierte und die Marlborough aufbewahrte.314 Andere Karten könnten eine repräsentative, aber daneben auch mög­licherweise eine instrumentelle Funk­tion besessen haben. Ihre Funk­tion erschließt sich nicht unmittelbar: so im Fall einer großen Karte der süd­lichen und nörd­lichen Niederlande 315, einer Karte Tirols von 1701316, einer relativ detaillierten Karte Gibraltars 317 oder einer Karte der katalonischen Stadt Lérida 318. Offenbar dienten diese Karten weniger der Kriegssitua­tion vor Ort als einem umfassenderen Überblick gerade über diejenigen Kriegsgebiete, die Marlborough nicht aus eigener Anschauung kannte. Mittels dieser Hilfsmittel konnte er sich die Kriegsschauplätze vor allem in Spanien und Italien wenigstens partiell vor Augen stellen und so eine übergreifende mental map der Kriegssitua­tion konstruieren.319 Operativ einschlägiger waren vier Gruppen von Karten. Zuerst sind dies einige erhaltene Pläne flämischer Städte und Festungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einzelnen Belagerungsak­tionen stehen: ein Plan von ­Roermond  320, eine Karte des franzö­sischen Feldlagers in Thines von 1705321, eine Karte von Menin und seiner Umgebung von 1706322, eine Skizze der Belagerung von Menin vom 14. August 1706323, eine Karte der Gegend um Ath von 1706324, eine Karte der Festung von Courtrai, die der niederländische General Ouwerkerk im Dezember 1706 (im Kontext der alliierten Diskussionen 312 Vgl. Lemoine-­Isabeau, Les militaires, 25. 313 Vgl. BL Add. 61343 F. 314 Vgl. BL Add. 61265 B, 186, 187, 232, 233. 315 Vgl. BL Add. 61343 D. 316 Vgl. BL Add. 61342, 111 f. 317 Vgl. BL Add. 61343 E. 318 Vgl. BL Add. 61342, 137r–138v. 319 Vgl. dazu: Langenohl, Mental Maps. 320 Vgl. BL Add. 61342, 113r–114v. 321 Vgl. BL Add. 61342, 125r–126v. 322 Vgl. BL Add. 61342, 127r–128v. 323 Vgl. ebd., 129r–130r. 324 Vgl. ebd., 131r–132v.

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über die Verteidigung dieser relativ nah an Frankreich gelegenen Festung) an ­Marlborough schickte 325 und die d ­ iesem offenbar ein plastischeres Bild der Lage vor Ort ermög­lichen sollte, sowie die Karte von Stadt und Festung Mons aus dem Jahr 1696, die Marlborough offenbar schon aus der Zeit vor dem Spanischen Erbfolgekrieg besaß und bei der Belagerung von Mons im September 1709 eingesetzt haben könnte.326 Zweitens sind aus dem Kontext des Marsches an die Donau im Frühling 1704 – also einer militärisch spektakulären Ak­tion, die gleichzeitig auf fremderem Gebiet spielte – eine Reihe von Karten erhalten. Diese Karten scheinen zur Vorbereitung studiert worden zu sein und dokumentieren die Stellung der kaiser­lichen und franzö­sischen Truppen an der Donau im Jahr 1703 (eine Arbeit eines niederländischen Kartographen)327 oder geben einen kartographischen Überblick über die „Staaten am Rhein von Manheim biss Rastatt“ von 1704, in den Cardonnel noch weitere Spezifika (die Stollhofener Linie als Verteidigungslinie der Alliierten) eingetragen hat.328 Nutzungsspuren dieser Art sind aber noch seltener als Militärkarten ohnehin. Über den tatsäch­lichen Gebrauch der Karten kann man also nur spekulieren. Die dritte Gruppe umfasst die feind­lichen Schlachtordnungen, an die ­Marlborough auf meist nicht rekonstruierbaren Wegen gelangte und die eine wertvolle Informa­tion gewesen sein müssen. Diese Schlachtordnungen konnten text­lich oder listenförmig, manchmal aber auch graphisch und kartographisch aussehen. In Marlboroughs Nachlass finden sich die Kopie einer Schlachtordnung des franzö­sischen Generals Villars für die Aufstellung der franzö­sischen und bayerischen Truppen im Juli 1704329 und eine bayerisch-­franzö­sische Ordnung „de l’armée de Flandres sous S: A: Elect: de Baviere et Monsg. Le Duc de Vendome“ von 1707330. Wer Marlborough diese Ordnungen besorgte und was damit gemacht wurde, ist nicht rekonstruierbar. In einem anderen Fall aber ist feststellbar, woher die Informa­tion kam: Auf eine Schlachtordnung des bayerischen Kurfürsten in Flandern 1705 notierte Cardonnel, er habe sie von Stepney erhalten, dem eng­ lischen Gesandten in Wien,331 der auch sonst zuweilen wertvolle Informa­tionen 325 Vgl. Ouwerkerk an Marlborough, 2. Dezember 1706, in: BL Add. 61180, 66v–67; zu den Debatten der alliierten Generäle siehe ebd., 52r–63r. 326 Vgl. BL Add., 61343 C. 327 Vgl. BL Add. 61342, 115 f. 328 Vgl. BL Add. 61342, 121r–122v. 329 Vgl. BL Add. 61342, 85 f.; Cardonnel hat fälschlich „1703“ vermerkt. 330 Vgl. ebd., 105r. 331 Vgl. ebd., 94v.

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über Max Emanuel beisteuern konnte.332 Das heißt: Manchmal kam der eng­lische Feldherr in den süd­lichen Niederlanden an die besten Informa­tionen über seinen unmittelbaren Gegner, wenn sie ihm aus Wien geschickt wurden. Die vierte Gruppe schließ­lich umfasst relativ viele Pläne vor allem der südfranzö­sischen Küste. Sie gehören in den Kontext der fast jähr­lich wiederkehrenden, oft eher dubiosen Projekte, die südfranzö­sische Küste anzugreifen oder von Savoyen aus in Südfrankreich einzufallen.333 Die Autoren waren hugenottische Projektemacher, die ihre Landkarten offenbar als Konkretisierung ihrer schrift­ lichen Pläne mitsandten; unter den Landkarten findet sich zum Beispiel eine Denkschrift eines gewissen „Ch. P.“ mit einer gezeichneten Karte der südfranzö­ sischen Küste von 1703334 oder eine italienische Karte Toulons von vor 1707, die auch die franzö­sischen Befestigungen anzeigt.335 Die hugenottischen Autoren schickten ihre Projekte an Marlborough, an die Königin oder an die Staatssekretäre.336 Allerdings war Marlborough, was diese oft waghalsigen Pläne anging, immer skeptischer als etwa Godolphin.337 Für die Frage, was militärisch relevante Karten enthielten oder enthalten sollten, gibt eine Werbeschrift, die der Ingenieur Jean Thomas Marlborough irgendwann in den ersten Kriegsjahren zukommen ließ, einige Aufschlüsse.338 An ihr wird aber auch deut­lich, dass Kartographie mit kommerziellen Interessen einerseits und Patronagebemühungen andererseits verbunden sein konnte. Thomas stellt sich in seinem Schreiben als langjährigen Mitarbeiter Vaubans vor.339 In der Tat hatte Thomas, obwohl er Protestant war, ­zwischen 1685 und 1695 mit einer Sondergenehmigung als Ingenieur unter Vauban gedient, war aber danach in eng­ lische Dienste übergegangen und gehörte zu einer Spezialeinheit von Ingenieuren, die Wilhelm III. bis 1700 unterhielt.340 Militäringenieure wie Thomas waren im 332 Vgl. BL Add. 61338, 12r–14v; Stepney schickte 1704 Informa­tionen über zwei Projekte des Kurfürsten an Marlborough, die von Bedeutung für den Donaufeldzug waren: dass näm­lich Max Emanuel vorhatte, nach Linz zu marschieren und mittelfristig den antihabsbur­gischen ungarischen Rebellen zur Hilfe zu kommen. Stepney hatte selbst diese Informa­tion auch evaluiert: „This agrees with the assurances I men­tiond by last post to have been given Ragotzi by the Residents of France & Bavaria“: ebd., 12r. 333 Vgl. Hattendorf, England, 150 – 153. 334 Vgl. BL Add. 61258, 175 – 177. 335 Vgl. BL Add. 61342, 133r–134v. 336 Vgl. etwa BL Add. 61648, 1 – 35, 157r–158v, 163r–164v, gezeichnete Landkarte hier 53r–54v. 337 Vgl. Jones, Marlborough, 163; Snyder, Formula­tion, 149. 338 Vgl. BL Add. 61342, 139r–140r. 339 Vgl. ebd., 140r. 340 Vgl. Virol, Savoirs, 36 – 38.

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­ inblick auf Kartographie, aber auch genereller für die Informa­tionsbeschaffung H vor Ort im 18. Jahrhundert von einiger Bedeutung,341 auch wenn dies im Fall Marlboroughs kaum jemals sichtbar wird. Der Festungsbauingenieur Thomas jedenfalls sandte dem Herzog eine Liste derjenigen Landkarten, die „pourroient etre de quelque usage a Mylord Duc de Marlborough et aux autres Generaux de l’armée des Alliés en cas qu’ils poussent leurs conquetes du coté de la Flandre francoise et du coté de la Lorraine“.342 Thomas bot Stadtkarten von Nieuwpoort, Dünkirchen, Ypres, Calais und anderen Städten sowie eine Landkarte der flämischen Küste an, die er als außerordent­lich detailliert anpries: „[A]vec tous les Canaux, les Rivieres, les Ruisseaux […], tous les chemins grands et petits, Les Forts, les chateaux, les Maisons de Campagne, & le principales fermes, avec tous les vilages & hameaux, les bois, les marais, les lacs et les inonda­tions, que les Ennemis y peuvent faire par leurs Ecluses, les lieux deserts, et les Dunes et les camps ou les Armées peuvent camper, et fourager ou lon marque distinctement les lieux ou la cavallerie peut agir et ceux qui ne sont praticables qu’a l’infanterie dans tous lesquels endroits l’auteur a marqué tous les retranchemens & les lignes que les Ennemis y ont fait et les Redoutes et autres ouvrages qu’ils ont construit en divers postes fortifiés Et enfin les bancs, les fosses, les Rades, les anchorages et lieux de dessente.“343

Auch machte Thomas deut­lich, dass er bereits im vorherigen Krieg als Kartograph tätig gewesen war. Er offerierte eine Karte, die bereits von 1696 stamme und die er auf Geheiß Wilhelms III . angefertigt habe. Allerdings habe er auch Kopien an Ludwig von Baden und die pfälzischen und hannoverschen Kurfürsten verkauft. Auf dieser Karte s­ eien, nach dem Wunsch des eng­lischen Königs, „les mouvem.s & les campemens de l’armée des Alliés & de celle des Francois durant ladite année 96“ eingezeichnet,344 die der König wohl nicht nur zur Gedächtnisstütze gewünscht hatte: Es ging wohl auch darum, vorbildhaft das Kriegsgebiet (das ja absehbar auch zukünftig wieder Kriegsgebiet werden würde) zu strukturieren. Was aus Thomas‘ Initiative geworden ist, darüber lässt sich wenig sagen. Es scheint aber, dass Marlborough darauf nicht reagiert hat. Dies wiederum hängt vermut­lich damit zusammen, dass Thomas nach 1702 in Marlboroughs Ungnade gefallen war; er hatte sich geweigert, auf Geheiß des Herzogs auf den karibischen 341 Vgl. Anklam, Wissen, 110. 342 BL Add. 61342, 139r. 343 Ebd., 139r. 344 Ebd., 139v.

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Kriegsschauplatz zu gehen. Damit fiel er aus Marlboroughs Gunst. Der vorgestellte Brief stellt vermut­lich Thomas‘ Versuch dar, diese Gunst wiederzugewinnen.345 Aus Thomas‘ Initiative wird daher nicht nur der Versuch von Kartographen deut­lich, sich als kommerzielle Lieferanten kartographischer Informa­tion anzubieten, die zweifellos nütz­lich und notwendig war. Deut­lich wird aus ihr auch, dass Nütz­ lichkeitserwägungen (denn Thomas war als Vauban-­Schüler sicher sehr nütz­lich) hinter Normen von Gehorsam und Protek­tion zurückzustehen hatten. In d ­ iesem Sinne ist Thomas‘ ausführ­liche Werbeschrift auch ein Gesuch um erneute Patro­ nage, das allerdings scheiterte. Außer den wenigen erhaltenen Karten dürfte eine Vielzahl tagesaktueller lokaler Karten existiert haben, die nicht überliefert sind und die dem alltäg­ lichen Vormarsch oder der Rekognoszierung dienten. Aus der Korrespondenz Marlboroughs geht allerdings hervor, dass andere Maßnahmen für mindestens genauso zentral wie Landkarten gehalten wurden. Für die Rekognoszierung des Gebiets und der Erstellung einer mental map des Kriegsschauplatzes war die persön­liche Inaugenscheinnahme unabdingbar. 346 Natür­lich schickte ­Marlborough Offiziere zum Sondieren des Terrains. Er erwähnt dies zwar relativ selten, aber vermut­lich nur, weil es so selbstverständ­lich war: Zusammen mit „advices We have from the Enemy“347 (also geheim übermittelten Spionageinforma­tionen oder durch Trompeter überbrachte Befunde) konnte so ein Eindruck von der Lage gewonnen werden – offenbar auch, ohne dass immer Landkarten im Spiel waren. Für ­dieses mental mapping vor Ort gab es näm­lich weitere Hilfsmittel. Diese gehören allerdings eher in den Kontext militärischer Organisa­tion oder informeller Netzwerke und sollen an den entsprechenden Stellen behandelt werden. Infrastrukturen als Rahmenbedingungen für weitere Strukturbildung spannten also das Setting auf, innerhalb dessen Marlboroughs Informa­tionsgewinnung sich abspielte. Geld, Briefe, Post und Karten waren in unterschied­licher Weise Voraus­ setzungen für Informa­tionsgewinnung. Sie schufen die Mög­lichkeit, Informa­ tionsgewinnung auch auf andere Weisen (in dienst- oder netzwerkartiger Form) zu organisieren; ihre Defizite – dies wird an der Kartographie am deut­lichsten – machten dies aber auch erst notwendig.

345 Vgl. Virol, Savoirs, 40 f., v. a. aber Mason/Barber, Captain Thomas, 280 f. 346 Wie schwierig dies aber gerade in einer Schlachtensitua­tion war, schildert plastisch: Keegan, Antlitz des Krieges, 147 – 154. 347 Marlborough an Boyle, 24. Juni 1709, in: TNA SP 87/5, 9v.

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3.3 Informationsgewinnung und Organisation In ­diesem Kapitel wird an drei unterschied­lichen Bereichen die im weitesten Sinne organisa­tions-, amts- und dienstförmige Informa­tionsgewinnung M ­ arlboroughs beschrieben. Es geht also um Informa­tionsgewinnung auf dem Amtsweg. Die Untersuchungsfelder sind der Bereich der politischen Ämter, vor allem der Secretaries of State (1), der Diplomatie (2) sowie des Militärs (3). Während Marlboroughs Informa­tionsgewinnung im letzten, im militärischen Bereich relativ unabhängig von den Bemühungen der eng­lischen Regierung verlief, ist auf den Feldern der politisch und diplomatisch organisierten Spionage eine weitgehende Koopera­ tion festzustellen. Auf allen drei Feldern ist allerdings auch zu sehen, wie formale Strukturen sich informellerer bedienten oder umgekehrt: wie sich eine Anlagerung informeller Netzwerke an formale Organisa­tionen vollzog. 3.3.1 Marlborough und die Secretaries of State: Kooperation und Konkurrenz 3.3.1.1 „Spionage“ um 1700: Interzeption und Initiative

Die Secretaries of State standen im Zentrum der eng­lischen Informa­tionsgewinnung, im Inneren wie im Äußeren. Marlborough arbeitete in hohem Maße mit ihnen zusammen. Wiederum kann Defoes unveröffent­lichte Programmschrift für Harley von 1704 als Führer dienen, um die den eingeweihten Zeitgenossen wohlbekannten Strukturen der durch die Staatssekretäre organisierten Informa­tionsgewinnung zu erhellen. Defoe kannte die Problemlagen; er war selbst als Spion tätig, allerdings nicht auf dem Kontinent, sondern in Schottland.348 Defoe verbindet die zentrale Aussage „Intelligence is the soul of all publick business“ sofort mit der bereits erwähnten Einschätzung, dass der Bereich der Informa­tionsgewinnung in England, im Kontrast zur franzö­sischen Monarchie, eklatant unterfinanziert sei.349 Er beklagt, dass die Bemühungen der eng­lischen Regierung um systematisches Wissen über die euro­päischen Länder – also deren Geographie, politisches System, Regierungsmitglieder, Streitkräfte usw. – nicht hinreichend ­seien.350 Die beiden Bereiche der landeskund­lichen Informa­tionen 348 Vgl. Backscheider, Daniel Defoe. 349 Vgl. Warner, Unpublished Political Paper, 135. 350 Vgl. ebd., 135 f.

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und der Spionage fließen für Defoe im Begriff der intelligence zusammen. Dieser Bereich, so Defoe, sei eines der wichtigsten, zuweilen aber auch unterschätztesten Tätigkeitsfelder der Secretaries of State. Wichtig sei in der gegenwärtigen Lage die Etablierung von Spionen (die aus Gründen der Unauffälligkeit am einfachsten Kaufleute sein sollten) in Paris, aber auch in den militärisch und politisch zentralen Hafenstädten Toulon, Brest und Dünkirchen.351 Zudem müsse Gegenspionage durch eine effizientere und vorsichtigere Alltagspraxis der eng­lischen Regierungsbüros verhindert werden: „Tis plain the French out do us at these two things, secrecy and intelligence, and that we may match them in these points is the design of the proposall.“352 Defoe illustriert dies an einem Beispiel, in dem auch Marlborough eine Rolle spielt: „I have been in the Secretarys office of a post night when, had I been a French spye, I could ha’ put in my pockett my Lord Nottinghams letters directed to Sir Geo. Rook and to the Duke of Marlebro’ laid carelessly on a table for the doorkeeper to carry to the post. How many miscarriages have happen’d in England for want of silence and secresy!“353

„Intelligence“ und „secrecy“ gehörten zusammen und müssten, so Defoes Plädoyer, von den Secretaries finanziell wie organisatorisch gemeinsam bearbeitet werden. Die Aufgaben der Secretaries im Bereich der Informa­tionsgewinnung waren also vielfältig: Sie bildeten erstens den institu­tionellen Knotenpunkt, über den die außenpolitische Korrespondenz mit den eng­lischen Diplomaten und allen anderen wichtigen Akteuren lief. „The secretary of state was the focal point of eighteenth-­century administra­tion. With the excep­tion of the treasurer, all communica­tions with the sovereign were normally conducted through a secretary of state […] he became in addi­tion the official channel of communica­tion between the queen, the cabinet, and Marlborough.“354

Zweitens oblag den Secretaries die Kontrolle der Armee und der Koordina­tion der verschiedenen Truppenteile – dies allerdings oft in Kompetenzüberschneidungen mit dem Secretary at War (der natür­lich parallel auch mit Marlborough

351 Vgl. ebd., 136. 352 Ebd., 137. 353 Ebd. 354 Snyder, Godolphin and Harley, 254.

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korrespondierte 355), der Treasury und dem Board of Ordnance.356 An dritter Stelle stand die Organisa­tion der regierungsamt­lichen Zeitung, der London Gazette, also die Oberhoheit über die zentrale Informa­tionspolitik und Propaganda.357 Viertens aber, und eng damit verbunden, bestand die Aufgabe der Secretaries im Organisieren von intelligence – wie ja auch die bereits zitierte Frageliste Harleys deut­lich macht. Harley benannte dort „Intelligence“, „foreign“ wie „domestic“, als zentralen Tätigkeitsbereich der Secretaries.358 Die Informa­tionsgewinnung lief im Wesent­lichen auf zwei Arten ab: Einmal bestand sie im Abfangen und falls nötig Entschlüsseln von Korrespondenz. Diese Form der Spionage, die man vielleicht „Interzep­tionsspionage“ nennen kann, war auf feind­lichen Briefverkehr angewiesen und insofern reaktiv. Neben der Interzep­ tionsspionage stand aber der Typus der „Initiativspionage“, bei der aktiv (durch Spione oder Korrespondenten) versucht wurde, Informa­tionen vor allem über den Feind zu erlangen. Diese „Initiativspione“ berichteten dann brief­lich, entweder in individuellen Briefen oder auch in geschriebenen Zeitungen, den sogenannten Newsletters. Allerdings gelang es nur selten, Spione im Zentrum feind­licher Behörden oder im Umfeld von Entscheidungsträgern zu platzieren – dagegen war die Interzep­tion feind­licher Korrespondenz vergleichsweise einfach. Auch war es leichter, Informa­tionen über Flotten- und Truppenstärken zu erlangen als über Strategie oder Taktik. Ein weiterer Vorteil der Interzep­tion lag in der scheinbaren oder jedenfalls angenommenen Authentizität der Informa­tionen, die durch sie zu gewinnen waren – dies machte eine weitere Evalua­tion hinsicht­lich ihres faktischen Informa­tionsgehaltes weniger dring­lich.359 Für die eng­lischen Secretaries lag der Schwerpunkt der Informa­tionsgewinnung also einerseits auf der effektiven Organisa­tion der Interzep­tionsspionage, andererseits auf der Organisa­tion eines Systems von handgeschriebenen Newsletters als besonders hochorganisierter Spielart der Initiativspionage. Die Expansion geheimdienst­licher Tätigkeiten gerade in England muss, so stellt eine neuere Studie 355 Vgl. BL Add. 61133. 356 Vgl. Thomson, Secretaries of State, 65; Scouller, Armies of Queen Anne, 2 – 4. Zum Secretary at War siehe: Burton, Secretary at War; zum Board of Ordnance, das für die Waffenversorgung zuständig war, siehe: Tomlinson, Guns and Government. Marlborough war ab 1702 Master-­General of the Ordnance, erklärte aber seiner Frau in einem Brief, dass sein Einfluss auf das Board relativ gering sei, solange er sich außerhalb Englands befinde. Vgl. Marlborough an Sarah, 31. Mai/11. Juni 1703, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 195. 357 Vgl. Thomson, Secretaries of State, 149; Marshall, Sir Joseph Williamson, 21. 358 Vgl. BL Add. 70334, 1 – 2. 359 Zur Evalua­tionspraxis siehe Kapitel 4.2.1.

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heraus, als Antwort auf die zwei relativ neuen Herausforderungen des könig­lichen Arkanums einerseits durch die Herausbildung politischer Parteien, andererseits durch die Entwicklung einer öffent­lichen Meinung bewertet werden.360 Das ist sicher richtig, doch sollte man trotz der Expansion des ‚Geheimdienstes‘ die Schwächen und Geburtsfehler der eben nur partiell ‚staat­lichen‘ Spionage nicht zu gering gewichten.361 Abgesehen von der ausdifferenzierten Briefspionage im Post Office blieb die eng­lische Spionage um 1700 hochgradig personell und situativ gebunden.362 Dies gilt auch für die auswärtigen Diplomaten wie für ­Marlborough, die neben der Koopera­tion mit den Spionagestrukturen der Secretaries auch eigene, meist selbst finanzierte Spionagenetzwerke aufbauten.363 Es gilt aber auch für das, was anachronistisch als „military intelligence“ bezeichnet wird.364 In allen diesen Bereichen wurden Strukturen der Informa­tionsgewinnung ausgebildet, die aber in hohem Maße von individuellen Personen abhingen. Weil dies so ist, soll im Folgenden die Informa­tionsbeziehung Marlboroughs zu den wichtigsten Secretaries of State skizziert werden. Danach wird der Bereich der Interzep­tionsspionage vorgestellt und ein Blick auf die Gestalt des offiziellen Dechiffrierers der eng­lischen Regierung geworfen. Daran anschließend folgt eine Erkundung der Initiativspionage der Secretaries, die mittels zweier Beispiele ( John Macky und John de Fonseca) vertieft werden soll. 3.3.1.2 Die Secretaries und der Herzog

Die Secretaries schrieben Marlborough sehr regelmäßig, und umgekehrt. Den Briefen beider Seiten lagen oft Newsletters, aber auch Extrakte von Gesandtenbriefen bei. Die Königin wurde von den Secretaries täg­lich informiert; auch Godolphin tauschte sich als Treasurer und Freund Marlboroughs mit ihm über

360 Vgl. Backscheider, Daniel Defoe, 13. 361 Vgl. Roosen, Age of Louis XIV, 154 – 157. Diese Schwächen sind auch der Hintergrund der satirischen Beschreibung des Geheimdienstes von Liliput bei: Bovey, Military Intelligence Analysis – ein Text, der im Rückgriff auf Swifts allegorische Beschreibung des eng­lisch-­franzö­sischen Gegensatzes moderne Anforderungen an Geheimdienste durchspielt und sie einem ra­tional-­choice-­Kalkül unterwirft. Eben dies verfehlt aber die Situa­tion um 1700. 362 Die Diskontinuität eng­lischer ‚Geheimdienste‘ wegen ihrer Abhängigkeit von einzelnen Akteuren, die sich besonders für sie engagierten, betont: Marshall, Intelligence and Espionage. 363 Vgl. Walker, Secret Service. 364 Vgl. Bovey, Military Intelligence Analysis.

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die hereinkommenden Informa­tionen aus.365 Auch wurde etwa die Korrespondenz ­zwischen dem Treasurer Godolphin und Marlborough oft zusätz­lich den Secretaries zugäng­lich gemacht. Am 31. August 1702 schrieb Marlborough an den Secretary Nottingham: „I know, when there is any thing in mine worth your knowing, Lord Treasurer does not fail to communicate it.“366 Damit waren die Secretaries ein Element innerhalb des bereits genannten Kommunika­tionsgeflechts, das auch Marlborough und Sarah, Anne und Godolphin umfasste. Die schon angesprochene Doppelung der Korrespondenz findet sich auch im Briefverkehr mit den Secretaries: Während im Wesent­lichen Marlborough selbst mit den Secretaries korrespondierte, schrieb Cardonnel den entsprechenden Under-­Secretaries, oft zu denselben ­Themen.367 Ähn­liches gilt für das Kabinett, wenn Marlborough nicht in England war: Auch ­dieses korrespondierte parallel oder alternativ mit ihm und Cardonnel.368 Marlborough beauftragte Godolphin damit, zu entscheiden, was aus seiner Korrespondenz im Cabinet Council verlesen wurde,369 und Marlboroughs Korrespondenz oder die von ihm gesandten Newsletters waren ein Hauptinhalt der Kabinettssitzungen.370 Damit ist eine gewisse Professionalisierung der Abläufe unverkennbar. Doch war die Pflicht der Amtskorrespondenz gegenüber sozia­len Pflichten noch so wenig ausdifferenziert, dass Marlborough sich beim Secretary Hedges am 6. Juli 1704 für langes Schweigen entschuldigte, „but would not defer it any longer for fear of losing so good a correspondent“371. Marlborough überspielte im Fall von Hedges bewusst die Amtszuordnung der Secretaries rhetorisch zugunsten eines ‚Freundschafts‘-Verhältnisses, wenn er ihn bat, ihm „as to a friend“ zu schreiben.372 Dabei war, wie bemerkt, die dauerhafte Korrespondenz der Secretaries mit den Ambassadors (und Marlborough war ja im Haag akkreditiert) vorgesehen. Hedges hätte gar nicht aufhören dürfen, Marlborough zu schreiben. In der zeitgenös­sischen Wahrnehmung 365 Siehe etwa The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 142 und 537; ebd., Bd. 3, 1292. 366 Letters and Dispatches, Bd. 1, 26. Vgl. auch: Hattendorf, England, 29. 367 Vgl. BL Add. 61494, 50. Siehe auch: Letters and Dispatches, Bd. 1, 384. 368 Vgl. Sunderlands Mitschrift, 23. April 1709, BL Add. 61499, 176r. 369 Vgl. Marlborough an Godolphin, 4./15. Mai 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 536. 370 Vgl. Harleys Mitschriften in: BL Add. 70336. 371 Vgl. Letters and Dispatches, Bd. 1, 345. 372 Marlborough an Hedges, 13. Juni 1704: „I shall never fail of giving you a constant account of all that passes here, and beg that when you write, you will do it with all freedom, and not keep yourself in the province of the South, but write as to a friend that is very much yours“: Letters and Dispatches, Bd. 1, 306.

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handelt es sich bei der Beziehung Marlborough-­Hedges aber nicht (nur) um eine Korrespondenz qua Amt, sondern (auch) um eine s­ ozia­le Beziehung außerhalb der Amtsverpflichtungen oder um eine Amtsverpflichtung, die immer auch als ­sozia­le Beziehung kommuniziert werden musste.373 Darüber hinaus liegt es nahe, an ein Verhältnis, wenn nicht der stabilisierten Patronage (denn Hedges war kein Klient Marlboroughs), dann doch einer sozia­len Beziehung zweier im Status ungleicher Gentlemen zu denken, die gleichzeitig als Amtsträger aufeinander angewiesen waren. Bei aller Routinisierung der Abläufe ist also daran zu erinnern, dass die sozia­len Verpflichtungen eine ebenso große Rolle spielten wie – gerade im Hinblick auf die Gewinnung von Informa­tion – das persön­liche Interesse und Engagement der Secretaries. „Almost everything depended on the man.“374 Neben Amtsträgern, die sich in hohem Maße für die Gewinnung außenpolitischer Informa­tionen engagierten, stehen auch ­solche, für die ­dieses Thema kaum eine Rolle spielte. Robert Harley und Marlboroughs Schwiegersohn Sunderland waren in besonders hohem Maße an Informa­tionsgewinnung interessiert. An ihnen wird daher besonders deut­lich, wie sehr Marlborough in die Informa­tionsgewinnung der eng­lischen Regierung eingebunden war und von ihr profitierte. Andere Secretaries engagierten sich in ­diesem Bereich viel weniger.375 Während die Korrespondenz etwa mit dem Secretary Nottingham (im Amt von 1702 bis 1704) in dieser Hinsicht vollkommen blass bleibt,376 wird aus der ­Korrespondenz mit Charles Hedges (1700 – 1701; 1702 – 1704)377 deut­lich, dass 3 73 Ein ähn­liches Beispiel wäre Marlboroughs Versicherung gegenüber dem Secretary ­Nottingham, es tue ihm leid zu hören, „that you can think your letters troublesome when you have not in command something for me“ (Letters and Dispatches, Bd. 1, 142 f.) – ein weiterer Beleg für die Überschneidung von Amts- und sozia­len Pflichten. Vgl. zum Verhältnis der Secretaries zu Marlborough bzw. zur Frage, in welcher Rolle Marlborough mit ihnen kommunizierte, auch Thomson, Secretaries of State, 92, Anm. 5: „Marlborough however, corresponded with both Secretaries, qua Ambassador, rather than qua Captain-­General.“ Genau diese klare Amtszuteilung scheint mir frag­lich. 374 Thomson, Secretaries of State, 96. 375 Die große Masse von Spionageberichten oder Newsletters finden sich in den Blenheim Papers in Sunderlands Papieren, während z. B. TNA SP 101/24 (Newsletters Frankreich 1704 – 1735) eine schmale Sammlung ist, die bestenfalls dokumentiert, dass vieles nicht aufgehoben wurde oder dass bestimmte der Secretaries die Organisa­tion von Newsletters nicht sehr wichtig nahmen. 376 Vgl. BL Add. 61118. Der whig-­nahe Bischof von Salisbury Gilbert Burnet unterstellte gerade Nottingham komplette Unfähigkeit im Bereich der intelligence; siehe Horn, ­British Diplomatic Service, 267 f. 377 Hedges trat auch anderweitig als Organisator von intelligence in Erscheinung. Vgl. die Korrespondenz um einen gewissen Thomas Knox, der Hedges im Mai 1704 vorschlug, in

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beide sich gegenseitig über ihre jeweiligen Newsletters auf dem Laufenden hielten. Hedges teilte mit Marlborough vor allem seine Informa­tionen aus Spanien und Portugal, auch über die Botschafterberichte hinaus, die M ­ arlborough ja ebenfalls erhielt.378 Seltener schickte Hedges Informa­tionen aus dem Reich 379 oder aus Frankreich 380; bei Letzteren wird es sich im Wesent­lichen um Berichte gehandelt haben, die von Etienne Caillaud stammten und die Marlborough ebenfalls vorlagen.381 Unterdessen unterhielt Cardonnel auf der Sekretärs­ ebene eine ausgedehnte Korrespondenz mit John Ellis, der von 1695 bis 1705 für Hedges und andere Secretaries als ein ausgesprochen engagierter Under-­ Secretary tätig war.382 Ellis erhielt und sammelte ebenfalls Newsletters 383 und war seit den 1690er Jahren einer der wichtigsten Ansprechpartner des Spions John Macky. Henry Boyle (1708 – 1710), im Gegensatz zu seinem Kollegen Sunderland ein moderater Whig, der sich eng an Godolphin anschloss,384 ließ in seiner Korrespondenz immer wieder seine Bewunderung für Marlborough durchklingen und versorgte ihn im Rahmen des Üb­lichen mit vielen Auszügen aus den Newsletters, die er selbst erhielt. In seine Amtszeit fällt die verhinderte jakobitische Invasion von 1708, ein Thema, das die eng­lische Regierung noch lange beschäftigte.385 Gegen Ende des Krieges, als Marlboroughs Einfluss langsam schwand, ist aus der Korrespondenz mit den ihm politisch ferner stehenden Secretaries indirekt zu erschließen, dass sich auch seine Informa­tionslage verschlechterte. Dies ist etwa plausibel zu machen an der Korrespondenz mit Henry St. John, der von 1710 bis 1713 das Amt des Secretary of State innehatte und eng mit Marlboroughs Rivalen Harley zusammenarbeitete. St. John, der spätere Viscount Bolingbroke, war ein High Tory, ein Gelehrter und ein zeitgenös­sisch berüchtigter Wüstling zugleich. Er bewunderte Marlborough lebenslang, genoss als Nachwuchspolitiker seine Protek­tion, wuchs aber immer mehr in die Rolle eines politischen südfranzö­sischen Häfen zu spionieren; ein Plan, aus dem nichts wurde. Siehe Calendar of State Papers, Bd. 2, 13, 30, 39, 45, 73. 378 Vgl. z. B. BL Add. 61120, 96r; BL Add. 61122, passim. 379 Vgl. Marlborough an Hedges, 25. April 1704, in: Letters and Dispatches, Bd. 1, 249. 380 BL Add. 61121, passim. 381 Siehe Kapitel 3.4.3. 382 Vgl. BL Add. 61412. 383 Vgl. BL Add. 28923. 384 Vgl. Field, Kit-­Kat Club, 179. 385 Vgl. z. B. BL Add. 61129, 55 u. 113; HMC Marlborough, 32 – 35; TNA SP 87/5, 266r–267r, 279r.

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Gegners hinein: Gegen Ende des Krieges ließ er Marlborough fallen, um den Krieg zu beenden.386 St. John war der Auftraggeber von Swifts „Conduct of the Allies“, dem publizistischen Großangriff gegen Marlborough im Herbst 1711.387 Über die Geheimverhandlungen mit Frankreich ließen Harley und St. John ­Marlborough im Dunkeln – Marlborough war also 1711 in die wesent­lichen politischen Entscheidungen der neuen Regierung nicht mehr involviert.388 Allerdings hatte St. John länger als Harley geglaubt, dass eine Zusammenarbeit mit Marlborough weiter mög­lich sein werde. Ohne ihn und seinen Einfluss in der Armee, so glaubte St. John, sei der Krieg kaum zu beenden.389 Das Misstrauen, das Harley in ­diesem Punkt gegenüber St. John artikulierte, hat wohl auch damit zu tun, dass St. John als früherer Protegé Marlboroughs auch mit dessen engsten Vertrauten, etwa Cadogan und dem Paymaster of the Forces Abroad, James Brydges, befreundet war.390 Marlborough tauschte mit St. John im amtsüb­lichen Rahmen Informa­tionen aus.391 Bereits 1710 – und dies dürfte Marlboroughs Informa­tionshorizont nicht unwesent­lich eingeschränkt haben – war jedoch Marlboroughs Vertrauter Cadogan auf Druck der neuen Regierung (wenn auch nicht St. Johns selbst) als eng­lischer Repräsentant im südniederländischen Staatsrat ersetzt worden.392 Der bis dahin wichtige Brüsseler Informant John Lawes 393 fiel damit für Marlborough aus. Zudem behandelte St. John Marlborough je länger desto mehr als letzt­lich nur ausführendes Militärorgan der eng­lischen Staatssekretäre.394 Während also die Korrespondenz der bisher vorgestellten Secretaries kaum Besonderheiten aufweist, spielt der Earl of Sunderland, Staatssekretär von 1706 bis 1710, in mancher Hinsicht eine Sonderrolle. Marlboroughs Schwiegersohn 386 Vgl. Dickinson, Henry St. John; Holmes, British Politics, 269. Eine sehr offene Einschätzung der unglück­lichen Rolle, die Marlborough in den letzten Kriegsjahren spielte, findet sich im Brief St. Johns an John Drummond, 23. Januar 1710, in: BL Stowe 241, 131v–133v. Zur späteren Würdigung Marlboroughs durch Bolingbroke siehe z. B. B ­ olingbroke, ­Letters, 23 f. 387 Vgl. MacLachlan, Road to Peace, 210. 388 Vgl. Jones, Marlborough, 195 – 199. Zu St. Johns Rolle bei der Aufdeckung der Friedensverhandlungen im Umkreis Mackys und Marlboroughs siehe: Alsop, Detec­tion. 389 Vgl. Burton, Committee of Council, 84. 390 Vgl. Gregg, Queen Anne, 321 – 323; Davies, Seamy Side, 40; Letters from James Brydges. 391 Vgl. z. B. Coxe, Memoirs, Bd. 3, 198 f. 392 Vgl. Frey/Frey/Rule, Introduc­tion, XIII; siehe die Korrespondenz Cadogan-­St.John in ­diesem Kontext in: TNA SP 77/59, 242r–244r, 300r–v. 393 Siehe Kapitel 3.3.2.2. 394 Vgl. Coxe, Memoirs, Bd. 3, 150.

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Sunderland war ein radikaler Whig,395 und seine Einsetzung als Staatssekretär geschah gegen den Willen der Königin, die sich aber dem überwältigenden politischen Druck (und auch dem Druck ihrer Patronagemanager Marlborough und Godolphin) nicht entziehen konnte.396 Da die Erhebung Sunderlands auch auf die Initiative Sarahs zurückging, führte sie mittelfristig zu einer ganzen Reihe negativer Konsequenzen: die weiter fortschreitende Entfremdung Sarahs von der Königin; die wachsende Abscheu der Königin gegenüber der Parteienherrschaft;397 die wachsende Distanz Marlboroughs zu den Tories.398 Die dem Secretary Harley sehr missliebige Einsetzung Sunderlands als unmittelbarer Kollege markierte auch den Beginn des Bruchs z­ wischen Harley einerseits und Godolphin und Marlborough andererseits.399 Diese Negativkonsequenzen für Marlborough und Godolphin waren deshalb so bitter, weil deren Verhältnis zu Sunderland nicht gut war, sie sich aber politisch weitgehend mit ihm verbunden hatten. Beide hielten ihn für einen parteiischen Querulanten, während Sunderland in ihnen (ohne dies natür­lich offen zu äußern) tendenziell unsichere Kantonisten, weil Jakobiten, sah.400 Dies war zwar unzutreffend, belastete aber die Beziehung. Angesichts des angespannten Verhältnisses ­zwischen Sunderland und Marlborough erscheint es ironisch, dass die Königin, die ab 1708 darüber nachdachte, Sunderland zu entlassen, dies aus Rücksicht auf Marlborough aufschob.401 Als Sunderland 1710 schließ­lich doch entlassen wurde, 395 Der Wiener Politiker Wratislaw, ein Vertrauter Marlboroughs, sprach von Sunderlands „republican zeal“, den Marlborough mäßigen müsse; siehe Coxe, Memoirs, Bd. 1, 340. Zu Wratislaw siehe Mathis, Marlborough und Wratislaw. 396 Vgl. Roberts, Party. 397 Zu Annes Abneigung gegen das Parteienwesen siehe den Brief an Sarah, 17. November 1704, in: HMC Marlborough, 51: „I have the same opinion of Whig and Tory that I ever had. I know both their principles very well, and when I know myself to be in the right nothing can make me alter mine. It is very sertin (!) there are good and ill people of both sorts, and I can see the faults of the one as well as of the other […] because there are some hott headed men among those that are called Torys, I can‘t for my life think it reasonable to brand them all with the name of Jacobit.“ 398 Vgl. Gregg, Queen Anne, 198, 219 u. 233. 399 Vgl. Snyder, Godolphin and Harley, 260. 400 Am 9. August 1708 beklagte sich Sunderland in einem Brief an seinen Freund, den Duke of Newcastle, über das Vordringen der Jakobiten. Die eng­lische Politik sei insgesamt „a declara­tion to the whole world […] against the Protestant succession.“ Wenn man dies durchgehen lasse, könne man auch gleich aufgeben und Godolphin und Marlborough erlauben, den jakobitischen Pretender auf den Thron zu setzen. Vgl. BL Lansdowne 1236, 244v–245r. 4 01 Vgl. Anne an Marlborough, 18. Juni 1708, in: HMC Marlborough, 42. Siehe auch ebd., 43.

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sah Marlborough darin einen Schritt, der sich gegen ihn richtete 402 – obwohl Anne, anders als zum Beispiel Harley, dies wohl nicht beabsichtigte. M ­ arlborough dachte jedenfalls auch jetzt wieder über einen Rücktritt nach, den ihm aber ein (in dieser Form sehr außergewöhn­licher) Brief fast des gesamten Cabinet ausredete.403 Doch diese angespannte politische Konstella­tion führte nicht zu einer schlechten Koopera­tion im Hinblick auf die Weitergabe von Informa­tionen. Sunderland war ein äußerst engagierter Behördenchef, ein „outstanding administrator“404. Er kümmerte sich, in enger Abstimmung mit Marlborough, um die Organisa­tion verschiedenster Newsletters (und wird deshalb in den folgenden Kapiteln sehr oft auftauchen), die er, anders als Marlborough, auch archivierte.405 Dies ist übrigens der Hauptgrund dafür, warum bestimmte wichtige Informanten Marlboroughs von der Forschung übersehen wurden, weil sie zu Unrecht allein Sunderland zugeordnet worden sind.406 Von allen Secretaries, die während des Spanischen Erbfolgekrieges amtierten, arbeitete er am kontinuier­lichsten mit den Postmasters General zusammen, um Postinfrastruktur und Interzep­tionsspionage zu organisieren.407 Er koordinierte in besonders hohem Maße die Informa­tionsnetzwerke etwa François Jaupains, Etienne Caillauds oder John Mackys und drängte auch Diplomaten wie den Gesandtschaftssekretär in Brüssel, John Lawes, mit außergewöhn­licher Emphase immer wieder zur Informa­tionsweitergabe.408 Sunderland ist neben Harley der einzige Secretary, von dem sich Mitschriften der Kabinettssitzungen erhalten haben.409 Aus den Mitschriften Harleys geht allerdings ex negativo hervor, dass Sunderland in den Kabinettssitzungen zwar oft Gesandtenberichte vorlas, 402 Vgl. Coxe, Memoirs, Bd. 3, 30 f. 403 Vgl. BL Add. 61134, 14. Juni 1710, 202r–203v: Gemeinsamer Brief von Godolphin, Cowper, Somers, Newcastle, Halifax, Orford, Devonshire und Boyle an Marlborough; siehe dazu auch Coxe, Memoirs, Bd. 3, 91 – 95. 404 Townend, Political Career, 93. 405 Vgl. Snyder, Introduc­tion, XXXV. 406 Alsop, British Intelligence, 116 f., stellt fest: „The secretary of state’s office contained the great majority of newsletters received by government agencies in this period […] By comparison Marlborough’s newsletter archive is far less extensive (under 200 folios) and is focused upon Parisian and northern French newsletters.“ Dies trifft zwar zu, aber – wie v. a. das Kapitel 3.4.3 zeigen wird – dennoch darf daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass die Informa­tionsgewinnung der Secretaries an ­Marlborough vorbeilief. 407 Vgl. seine Korrespondenz mit Cotton und Frankland, in: BL Add. 61653, 90 – 213. 408 Vgl. die Korrespondenz mit Lawes, in: BL Add. 61651, passim. Siehe auch Kapitel 3.3.2.2. 409 Vgl. BL Add.  61498 – 61500.

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aber seltener Informa­tionen aus den von ihm gesammelten Newsletters preisgab.410 Marlborough wurde von Sunderland, wenn er in Flandern war, sowohl detailliert über Gespräche mit ausländischen Gesandten in London informiert 411 als auch mit Newsletters und Informa­tionen aus ganz Europa, etwa vom spanischen Kriegsschauplatz 412 sowie aus der Karibik versorgt.413 Sunderland war also trotz eines angespannten persön­lichen wie politischen Verhältnisses in den Jahren 1706 bis 1710 zentral für Marlboroughs Informa­tionsgewinnung. Ähn­liches gilt für Robert Harley. Es ist in gewisser Weise eine Verkürzung, Harley primär als einen der Secretaries of State zu behandeln: Harley war schon als Speaker des Unterhauses ab 1701 einer der engsten Mitarbeiter Godolphins und Marlboroughs gewesen 414 und als Secretary von 1704 bis 1708 in besonders enger Weise mit ihnen verbunden.415 Nach seinem Sturz 1708 und seiner Rückkehr in die Politik zwei Jahre ­später – er folgte Godolphin 1710 im Amt des Treasurer nach – wurde er zum erbittertsten Gegner Marlboroughs. Harley galt zeitgenös­sisch als rätselhafte Persön­lichkeit, als wendig und intri­ gant.416 In der Öffent­lichkeit und am Hof wurde er als „Robin the trickster“417 bezeichnet – Sarah nannte ihn den „sorcerer“418. Harley war ein agiler Parlamentarier,419 der erste konservative Politiker, der aktive Pressepolitik betrieb,420 und er gilt als einer der großen „spymaster“ der eng­lischen Geschichte.421 Wie im Fall 410 Vgl. BL Add. 70338, passim. Doch nahm er sie zuweilen mit in die Sitzung: Eine Mitschrift Sunderlands findet sich auf der Rückseite eines aktuellen Newsletter aus Spanien, den er mit in die Kabinettssitzung genommen hatte. Vgl. BL Add. 61499, 121r. 411 Vgl. z. B. BL Add. 61126, 94r. 412 Vgl. die spanischen Newsletters in BL Add. 61600; BL Add. 61562; siehe auch die Weiter­ sendung an Marlborough z. B. in BL Add. 61126, 39r. 413 Vgl. dazu BL Add. 61126, 130r. 414 Vgl. Seaward, Speaker; McInnes, Appointment of Harley. 415 Vgl. Snyder, Godolphin and Harley. 416 Vgl. Gregg, Protestant Succession, 26: „Harley’s greatest political asset, and the source of his ultimate ruin, was his ability to be all things to all men.“ 417 Vgl. Metzdorf, Politik, 75. Harley galt als jemand „to love tricks when not necessary, but from an inward satisfac­tion in applauding his own cunning“ – so der Lord Chancellor William Cowper; vgl. Coxe, Memoirs, Bd. 1, 378. Eine instruktive Schilderung seines familiären Hintergrundes und seiner Persön­lichkeit bei: Hayton, Harley. 418 Vgl. Watson, Marlborough’s Shadow, 180. 419 Memoirs of the Secret Services, 155 f.: „no Man understands more the Management of that Chair (i. e. des Speaker des Unterhauses) to the Advantage of his Party, nor knows better all the Tricks of the House.“ 420 Vgl. Downie, Robert Harley. 421 Vgl. Marshall, Intelligence and Espionage, 4.

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Marlboroughs sind allerdings die Konturen seiner Spionagebemühungen hinter diffusen Elogen verborgen: Die Rede ist von einem „admirable system for gathering informa­tion“422 oder von einem „extensive and efficient intelligence service that was remarkable for his time“423. Henry Snyder etwa postuliert, dass Harleys größter Anteil an der eng­lischen Diplomatie sein inner- wie außereng­lischer Geheimdienst gewesen sei.424 In der Tat stach Harley unter allen Secretaries des ersten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts dadurch hervor, dass er die formale Aufgabe, Informa­tionen zu sammeln und weiterzugeben, sehr weit auslegte und ein eigenes Spionagenetzwerk unterhielt,425 während Sunderland eher das bestehende Newsletter-­System perfek­tionierte. Vergleichsweise bekannt ist Daniel Defoes Spionagetätigkeit für Harley in Schottland (es ging dabei inhalt­lich um die Jakobiten und die Union mit Schottland),426 aber Harley unterhielt generell in Großbritannien und in sehr viel geringerem Maße auf dem Kontinent, vor allem in Frankreich, Spione.427 Die Befunde dazu, inwiefern Harley sein Spionagenetz als Ergänzung oder als Konkurrenz zu anderen Informa­tionsquellen der eng­lischen Regierung ansah, sind widersprüch­lich. So wurde, so weit man sehen kann, über den Amster­damer Kaufmann John Drummond die Entsendung von Spionen an den Exilhof in St. Germain-­en-­Laye oder in die nordfranzö­sischen Hafenstädte organisiert. Dies stellte aber wohl weniger ein Konkurrenzunternehmen zu dem von Marlborough präferierten (und sehr viel umfangreicheren) Caillaud’schen Geheimdienst dar; Drummond arbeitete daneben auch Marlborough zu.428 Da aber Harley – wie alle Akteure – in Bezug auf die Identität der eigenen Informanten verschwiegen war, ist schwer zu beurteilen, wie sich die Bemühungen Harleys und diejenigen Marlboroughs zueinander verhalten. Allerdings verlief die Zusammenarbeit ­zwischen Harley und Marlborough, soweit dies ihrer Korrespondenz zu entnehmen ist, über die Amtsbeziehung hinaus sehr kooperativ und wirkt relativ vertraut: Harley schmeichelte Marlborough oft 429 422 Trevelyan, England, Bd. 2, 350. 423 Snyder, Reports of a Press Spy, 330. 424 Vgl. Snyder, Godolphin and Harley, 258. 425 Vgl. McInnes, Robert Harley, 77. 426 Vgl. McInnes, Robert Harley, 84 f.; Backscheider, Daniel Defoe; vgl. auch: Downie, Secret Service Payments; Backscheider, Robert Harley; Roosen, Daniel Defoe. 427 Vgl. McInnes, Robert Harley, 79 – 83. 428 Vgl. Bély, Espions, 232. Für einen Bericht eines von Harleys Spionen aus St. ­Germain-­­en-­­Laye siehe: Calendar of the manuscripts of the Marquis of Bath, Bd. 1, 187 f. 429 Vgl. Harley an Marlborough, 1./12. September 1704, in: BL Add. 61123, 68v; 11./22. April 1707, in: BL Add. 61124, 162r; 18./29. April 1707, in: ebd., 166r.

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und schimpfte wie dieser über den Streit der Parteien; auch Harley war Anhänger einer sich überpartei­lich gebenden Parteipolitik.430 Vor allem aber besaß er Selbstbewusstsein genug, Marlborough (anders als die anderen Secretaries) strate­ gische Vorschläge für diplomatisches Handeln zu machen.431 Auch Harley suchte, gemeinsam mit Marlborough, „a way to cure this irregularity of the foreign Post“ vom Kontinent.432 Auch Harley schickte Marlborough interzipierte Korrespondenz weiter und umgekehrt.433 Es ergibt sich also das Bild einer Zusammenarbeit, nicht einer Rivalität, auch auf dem Felde des Informa­tionsmanagements. Diese dauerte bis 1708, verkehrte sich dann aber ins Gegenteil. Auffällig an Harleys Tätigkeit als Secretary ist der Umstand, dass er in seinen Mitschriften des Cabinet Council regelmäßig die Verlesung von aus Frankreich stammenden Spionageberichten vermerkt – im Unterschied zu Sunderland, der dies kaum erwähnt, obwohl sie auch aus seinen Informa­tionsquellen stammen müssen.434 Aus den Cabinet Minutes von 1707 stammt auch eine Notiz, die anschau­lich zeigt, für wie drängend die Gefahr feind­licher Spionage gehalten wurde. Harley notierte die Fragen, die er einem enttarnten feind­lichen Spion stellen wollte, der ‚umgedreht‘ werden sollte. „1 what Intelligence have you already given? 2 Are you willing while you stay in England to give an acc.t of what you heare from France or ye west Indies, & also to give notice before hand what intelligence you send to France? 3 Are the cap.ts you named in ye west Indies commissiond by France as Private men of warr? 4 How are they mand? Set down the names of their ships, their number of men, & Guns, & whether mand by registerd Seamen, or how else, as also as near as you can what Prices they have taken for ye two last years, & where Generally they cruise, & what terms they ask for to come under the Queens protec­tion.“435

430 Vgl. Harley an Marlborough, in: BL Add. 61124, 122r; 126r. 4 31 Vgl. z. B. Harley an Marlborough, 10./21. Juli 1705, in: BL Add. 61123, 170v–171r. Dass Harley kaum Einfluss auf die eng­lische Diplomatie besaß, behauptet dagegen: Snyder, Godolphin and Harley, 257. 432 Harley an Marlborough, 8./19. September 1704, in: BL Add. 61123, 74r. 433 Vgl. BL Add. 61124, 136v; 209v; 211 – 212v; BL Add. 61125, 25r; 33r. 434 Vgl. BL Add. 70335, 13. Februar 1704/05; 9. Juli 1705; 21. September 1705; 9. Oktober 1705; 30. Oktober 1705; BL Add. 70336, 13. November 1705; 20. November 1705; 22. November 1705; 2. Dezember 1705; 23. Dezember 1705; 10. Februar 1705/06; 24. Februar 1705/06. – Auffällig ist es dann, wenn Sunderlands intelligence einmal erwähnt wird; vgl. BL Add. 70337, 12. Januar 1706/07. 435 BL Add. 70338, 9. Juli 1707.

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Diese Notizen sind auch deshalb von einiger Brisanz, weil Harley wenig ­später in seiner eigenen Behörde mit einem ganz ähn­lichen Fall konfrontiert wurde – nicht im Hinblick allerdings auf militärische, sondern auf diplomatische Informa­tionen. Ein clerk Harleys, William Gregg, der zuvor für Harley in Schottland spioniert hatte, hatte aus Geldmangel Geheimnisverrat begangen.436 Zu Greggs Aufgaben hatte es gehört, die Korrespondenz hochrangiger franzö­sischer Kriegsgefangener (etwa des ehemaligen Ambassadeurs und Generals Tallard) zu zensieren. Mindestens einmal hatte Gregg einen Brief der Königin an den K ­ aiser abgeschrieben und ihn zusammen mit Tallards Brief an den franzö­sischen Minister Chamillart geschickt. Dieser Brief wurde vom südniederländischen Generalpostmeister Jaupain in Flandern interzipiert und gelangte über Marlborough an die Königin zurück.437 Zeitgleich wurden zwei von Harleys Spionen in Frankreich als Doppelagenten enttarnt.438 Zwar fiel kein Verdacht auf Harley – aber er hatte politisch zu verantworten, dass unter seiner Ägide Gegenspionage betrieben worden war. Es war die von Defoe gerade gegenüber Harley beklagte Nachlässigkeit im Amt, etwa das Herum­liegenlassen geheimer Papiere,439 die Harley selbst fast zu Fall brachte: Gregg wies in seinem Prozess darauf hin, dass die Arbeit für Harley oft nachts stattfinde, der Behördenleiter die Aufsicht eher vernachlässige und geheime Akten für jedermann einsehbar ­seien.440 Aber, so betonte Gregg bis zu seiner Hinrichtung am 28. April 1708, Harley habe nichts von der Sache gewusst und auch nichts damit zu tun.441 Wegen der zeit­lichen Nähe zu Harleys Sturz wurde gemutmaßt, die Whigs hätten Gregg angestiftet – Harleys Feinde stünden hinter der Affäre.442 Der wirk­liche Grund für Harleys Sturz war aber wohl, dass dieser 1708 versuchte, 436 Vgl. zu dieser Affäre: A Complete Collec­tion of State Trials, Bd. 14, Sp. 1371 – 1396; ­Sunderlands Kabinettsmitschriften in: BL Add. 61498, 102, 108, 112, 116, 122, 124; sowie Taylor, The Wars of Marlborough, Bd. 2, 76 – 91; Minty, Looking in a Dark Room, 130 – 135. Relativ hoch setzt den Konnex Gregg-­Affäre/Harleys Sturz an: Trevelyan, England, Bd. 2, 351 – 353; die Gregg-­Affäre gewichten im Hinblick auf den Sturz Harleys 1708 geringer Holmes/Speck, Fall of Harley. 437 Vgl. A Complete Collec­tion of State Trials, Bd. 14, 1371. 438 Vgl. ebd., 1373 sowie TNA SP 34/9, 162 – 166 u. TNA SP 34/10, 10v: Report of Sir Ja[mes] Montagu, Solicitor-­General, to Earl of Sunderland, on the evidence against Alexander Valiere, John Barra, William Bland, Daniel Pope and others, who were suspected of carrying intelligence to France. 439 Vgl. Warner, Unpublished Political Paper, 137. 440 Vgl. A Complete Collec­tion of State Trials, Bd. 14, Sp. 1383 – 1387. 441 Vgl. HMC Portland, Bd. 4, 488. 442 Vgl. Taylor, The Wars of Marlborough, Bd. 2, 89.

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sich an die Stelle Godolphins zu setzen. Daher erwirkten Godolphin und Marlborough bei der Königin und eigent­lich gegen deren Willen, dass Harley entlassen wurde.443 Die Unwilligkeit der Königin, Harley zu entlassen, wurde auch anderswo bemerkt; der hannoversche Sekretär Robethon schrieb an den eng­lischen Residenten Davenant: „Rien ne m’a deplû dans la demission de Mr Harlay (!) que la repugnance que la Reyne a temoigné à y proceder.“444 Diese Episode weist auch auf die spätere Feindschaft ­zwischen Harley und ­Marlborough voraus – eine Feindschaft, die das alte, in Interzep­tions- wie Initiativspionage eher kooperative Verhältnis des Secretary zum General und Ambassadeur weit hinter sich ließ. 3.3.1.3 Interzeptionsspionage und das Amt des Dechiffrierers

„Briefe abzuschreiben war die frühneuzeit­liche Form der Spionage.“445 Auch wenn diese Aussage Esther-­Beate Körbers für das frühe 18. Jahrhundert kaum vollständig zutrifft, weist sie doch auf die zentrale Rolle des Briefs für die, auch geheime, Informa­tionsbeschaffung im England des Spanischen Erbfolgekrieges hin. Im Post Office, das den Secretaries of State unterstand, wurden Briefe geöffnet und ausgewertet; diese Interzep­tionsspionage war bei Weitem der effektivste Typus der Spionage.446 Die Entwicklung der organisierten Briefspionage erhielt in ganz Europa durch den Spanischen Erbfolgekrieg einen kräftigen Schub.447 Dies galt auch für England: 1711 wurde den Secretaries of State sogar per Gesetz erlaubt, Briefe öffnen zu lassen – eine Praxis, die auch vorher schon gängig gewesen war.448 Während die ältere Forschung darin primär „abuse“ erkennt,449 war den zeitgenös­sischen Akteuren die systemische Funk­tion der Interzep­tionsspionage bewusst: Alle euro­ päischen Akteure wussten, dass ihre Briefe potentiell interzipiert werden konnten, und mussten mit ­diesem Faktum umgehen. Das Interzipieren von Briefen 443 Vgl. Holmes/Speck, Fall of Harley; siehe zum Kontext auch: Bennett, Robert Harley. 444 Robethon an Davenant, 16. März 1708, in: BL Add. 4745, 51r. 445 Körber, Der ­sozia­le Ort, 255. 446 Vgl. Fraser, Intelligence; Hattendorf, England, 31. 447 Vgl. Ernstberger, Post; Grillmeyer, Habsburgs langer Arm, 55 – 57; Hubatschke, Die amt­ liche Organisa­tion, 357; Boislisle, Secret; skeptischer: de Leeuw, Black Chamber, 141. Vgl. aus soziolo­gischer Sicht auch: Bohn, Ins Feuer damit. 448 Vgl. Thomson, Secretaries of State, 154; Report from the Secret Committee, v. a. 7; R ­ obinson, British Post Office, 120 f. 449 Robinson, British Post Office, 113.

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war „part of a system of multiple inputs to ministers, both a cat and mouse game played by all European governments“450. In Phasen besonderer Interzep­tionsintensität wurde daher versucht, einerseits die Sicherheit der Postinfrastruktur zu verbessern und andererseits, wo dies mög­ lich war, münd­lich zu kommunizieren. Marlborough schreibt dem Gesandten in Wien George Stepney am 22. Juni 1703, er wolle nichts zu Papier bringen, sondern lieber münd­liche Kommunika­tionswege n ­ utzen, „while the conveyance of our letters is so uncertain“451. Auch fällt auf, dass durch das gegenseitige Interzipieren feind­licher Korrespondenz oft nicht nur Wissen über Handeln und Denken des Feindes gewonnen wurde, sondern auch darüber, dass der Feind genauso mit der Interzep­tion kalkulierte wie man selbst: Aus einem abgefangenen Brief des bayerischen Gesandten in Paris, dem Grafen von Monasterol, erfährt man, dass die bayerisch-­franzö­sische Seite punktuell von der eng­lischen Interzep­tion Kenntnis hatte.452 Und auch Marlborough konnte sich selbst, auf einer weiteren Metaebene, als Objekt und Subjekt der Informa­tionsgewinnung sehen: Aus einem abgefangenen Brief des franzö­sischen Unterhändlers Rouillé von 1707 erfuhr er, dass er selbst gerade „continuellement“ Nachrichten aus Deutschland erhalte und dass er auf dem Weg nach Den Haag sei, um mit den Generalstaaten zu beraten.453 Marlborough konnte also durch das Instrument der Interzep­tion (jedenfalls punktuell) wissen, dass der Feind wusste, was er wusste. „Postal intercep­tion and deciphering were the most important British espionage activities.“454 Diese Aussage Jeremy Blacks stimmt im Hinblick auf die Interzep­ tion – schon weniger trifft sie im Hinblick auf das Entziffern zu. Diplomaten und auch Spione etwa waren zwar gehalten, ihre Briefe zu chiffrieren 455, oft, sehr 450 Black, Intelligence, 371. Zentral gesammelt werden die Interzep­tionen (heute in den Na­tio­nal Archives) erst ab 1726. Vgl. Roosen, Age of Louis XIV, 134 f.; Duchhardt, Balance of Power, 38. 451 Letters and Dispatches, Bd. 1, 121. Zuweilen schreibt ein Korrespondent an ­Marlborough, er wisse, dass seine Briefe interzipiert würden, daher könne er nichts Genaues berichten. Vgl. den Brief des Gesandten Whitworth in Petersburg an ­Marlborough, 29. Mai/9. Juni 1706, in: BL Add. 61149, 48r. Zu Whitworth siehe: Hartley, Charles Whitworth. 452 Vgl. BL Add. 61264, 63r. 453 Interzipierte und dechiffrierte Kopie eines Briefs Rouillés, 12. Juni 1707, in: BL Add. 61567, 71r–74r, hier 73r. 454 Black, Eighteenth-­Century Intercepted Despatches, 138. 455 Vgl. Callières, De la manière de négocier, 163 – 166; generell zur frühneuzeit­lichen Krypto­ graphie siehe auch: Kahn, Codebreakers sowie jüngst Rous/Mulsow (Hrsg.), Geheime Post, und Láng, People’s Secrets.

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oft taten sie dies aber nicht. Die Praxis der Verschlüsselung blieb weit hinter den theoretischen Mög­lichkeiten der (wissenschaft­lichen) Kryptographie zurück.456 Die üb­lichste, recht einfache Chiffrierungsmethode war, Wörter durch Zahlen zu ersetzen. Meistens wurden zwei- oder dreistellige Zahlen verwendet, oft auch nur für bestimmte Passagen oder gar einzelne Wörter. Zum Beispiel wurden Namen relativ häufig chiffriert.457 So sehr Chiffrierung auch zeitgenös­sisch angemahnt wurde, so sehr ist doch festzuhalten: „Als Resümee nach der Lektüre Tausender Korrespondenzbriefe bleibt, dass die meisten Diplomaten offenbar nur geringe Anstrengungen der Verschlüsselung unternahmen, zumal diese Arbeit viel Zeit kostete.“458 Chiffren werden daher im Folgenden immer wieder eine Rolle spielen, sind aber insgesamt überraschenderweise nicht sehr zentral. Marlborough selbst benutzte Chiffren eher selten, nur in hochwichtigen politischen Korrespondenzen, und auch dort nur in extrem brisanten Zeiten – innenpolitisch etwa im Briefwechsel mit G ­ odolphin, Sarah 459 oder punktuell den Secretaries of State 460, außenpolitisch mit dem Rats­ pensionär Heinsius, dem er sogar schrieb: „For want of a cypher I can’t write you a thing that I have a mind to let you know.“461 Die Furcht vor Interzep­tion war groß, ohne dass dies zwingend zur Nutzung von Chiffren führte: „The treu (!) reason of my not writting oftener is, that in prudence nothing should be said but what might be seen by the enemy.“462

456 Vgl. Strasser, Rise of Cryptology, 294. 457 Vgl. die vorgedruckten Formulare in: BL Add. 32305 sowie: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, passim, wo deut­lich wird, wie punktuell Chiffren eingesetzt wurden. Dort finden sich auch die Entschlüsselungen der chiffrierten Namen; vgl. The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1688 – 1699. 458 Droste, Im Dienst der Krone, 183. 459 Siehe Marlborough an Sarah, 23. April/4. Mai 1705, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 427. 460 Vgl. Marlborough an Harley, 10. Juni 1704, in: TNA SP 87/2, 65v; dass hier über Chiffrierung nachgedacht wird, hat sicher mit dem sensiblen zeit­lichen Kontext (dem Marsch an die Donau) zu tun. Harley, so schreibt Marlborough, möge sich der Chiffre bedienen, die „from the Office to the foreign Ministers to correspond with each other abroad“ gegeben werde, also der generellen diplomatischen Chiffre, die aber auch nur selten benutzt wurde; siehe Hattendorf, England, 27 f. Im Briefwechsel Sunderland-­Marlborough, dort wo es mutmaß­lich um das missliebige politische Agieren Harleys im Jahr 1707 geht, sind ebenfalls oft Namen chiffriert. Vgl. BL Add. 61126, 70v und passim. 461 The Correspondence 1701 – 1711, 111 (Marlborough an Heinsius, 11. Juni 1704), siehe auch ebd., 114. 462 Marlborough an Heinsius, 16. November 1706, in: The Correspondence 1701 – 1711, 409.

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Doch wer entzifferte die interzipierten Briefe, wenn sie denn entziffert werden mussten? In den 1670er Jahren sollte der Dechiffrierexperte noch einer der clerks der Staatssekretäre sein. Diese Posi­tion wurde dann allerdings im Post Office fest installiert, wenn auch der Entzifferer weiterhin direkt den Staats­ sekretären zuarbeitete.463 Die Professionalisierung und Formalisierung des Amtes blieb aber in dreierlei Hinsicht rudimentär: Erstens wurde die Existenz der ‚decyphering branch‘ (auch: Secret Office) geheim gehalten; sie besaß kein Büro, der oder die Entzifferer arbeiteten meist zu Hause.464 Mindestens dem Cabinet Council war aber – über die Secretaries hinaus – die Existenz des Amtes und auch der Name des Amtsträgers bekannt. 465 Zweitens: Das Amt wurde innerhalb der Familie vererbt. Unter Wilhelm III . war der berühmte Mathematiker John Wallis als offizieller Dechiffrierer angestellt; nach seinem Tod wurde das Amt 1703 an seinen Enkel William Blencowe übertragen, den Wallis angelernt hatte.466 Sein Gehalt lag bei 100 Pfund jähr­lich; ab 1709 wurden ihm 200 Pfund jähr­lich gezahlt.467 Drittens wurde Blencowe nach der Entlassung seines Patrons, des Whig-­ Staatssekretärs Sunderland im Sommer 1710, in eine Affäre hineingezogen, die die unvollständige Formalisierung der britischen Regierungsämter in besonders schlagender Weise zeigt. Blencowe profitierte gleichzeitig von einer Fellowship des Oxforder All Souls College – was aber bedeutete, dass er innerhalb von vier Jahren nach dem Master-­Abschluss ein Kirchenamt anzutreten hatte.468 Der A ­ ttorney General Edward Northey, ein Gegner Marlboroughs und der Whigs, der die Oxforder Universität vertrat, berichtete der Königin im Dezember 1710, B ­ lencowe wolle sich mit Unterstützung Sunderlands von dieser Pflicht freistellen lassen: 463 Vgl. Marshall, Sir Joseph Williamson, 34 f.; Barber, Diplomacy, 106. 464 Vgl. Ellis, Post Office, 127. Zur Ausdifferenzierung von Ämtern im Hinblick auf ­priva­te Räume und Amtsräume siehe: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 552. Zur regierungsseitigen Geheimhaltung von geheimdienst­lichen Zusammenhängen siehe: Minkley/­ Legassick, „Not Telling“. 465 Harley erwähnt Blencowe in einer seiner Mitschriften aus dem Cabinet Council; siehe BL Add. 70334, 1 – 2 (30. Mai 1704). 466 Vgl. Henderson, Blencowe; Kahn, Codebreakers, 167 – 169. Siehe auch: Calendar of Treasury Books, Bd. 17, 375 f.: Am 8. Juli 1702 wird Wallis und Blencowe ein jähr­liches Gehalt von 100 Pfund angewiesen „for the said Wallis’s services in instructing his nephew in the art of decyphering“; allerdings war Blencowe Wallis‘ Enkel, nicht sein Neffe. 467 Vgl. Ellis, Post Office, 128; für Hinweise auf seine Bezahlung siehe unter anderem: Calendar of Treasury Books, Bd. 22, 319; Calendar of Treasury Books, Bd. 23, 189 f.; Calendar of Treasury Books, Bd. 25, 526. 468 Vgl. The Warden’s Punishment Book, 97.

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„[H]e being employed by Y.r Majesty to decypher Letters & in wch Letter ’tis alledged such service frequently requires a great deal of Labour & would be liable in the dispatch thereof to many inconvenient Interrup­tions by the prosecu­tion of a new Study & profession.“469

Die Oxforder Universität wies dies zurück – Blencowes Großvater habe schließ­ lich auch beide Ämter miteinander vereinen können.470 Blencowe selbst äußerte dazu, dass die Zahl der zu dechiffrierenden Dokumente immer weiter wachse: „Our Enemies abroad are come to a greater Por­tion in difficult Cyphers than ever before.“471 Wenn auch die Königin den sich einige Monate hinziehenden Streit salomonisch entschied (sie beließ Blencowe einerseits sein Gehalt, forderte ihn aber andererseits auf, sich der Universität zu beugen)472 und der Streit letzt­lich dazu führte, dass die Residenzpflicht im All Souls College aufgehoben wurde,473 verlor Blencowe doch als Klient Sunderlands die politische Unterstützung, um sein Amt fortzuführen. Er wurde schwer krank und erschoss sich im August 1712.474 Seinen Testamentsvollstreckern wurden am 5. Dezember 1713 noch einmal 300 Pfund für Blencowes „pains and good services in the art of deciphering“475 gezahlt. Die Briefe, die Blencowe von den Secretaries zum Entziffern vorgelegt wurden, stammten im Wesent­lichen aus zwei Quellen: Von dem südniederländischen Generalpostmeister Jaupain, der nach 1706 ein Spionagenetzwerk unterhielt,476 und aus dem militärischen Umkreis Marlboroughs aus den süd­lichen Niederlanden. Die Briefe, die Blencowe zu entziffern hatte, deckten damit nicht etwa die politisch-­diplomatisch-­militärische Korrespondenz aus ganz Europa ab, nicht einmal primär aus Frankreich stammende Korrespondenz. Dass diese kaum in den Blick geriet, lag auch daran, dass seit 1669 die franzö­sische Post nach und über Den Haag an der Taxis’schen und s­ päter Jaupain’schen Post vorbeilief und daher im Haag überwacht werden konnte und musste.477 469 Report of the Attorney- and Solicitor-­General on Dr Bernard Gardiner’s peti­tion relating to Blencowe’s fellowship of All Souls College, Oxford, 1710, 23. Dezember 1710, in: BL Add. 61575, 45. 470 Vgl. ebd. 471 Ebd., 47. 472 Siehe die folgenden Dokumente: TNA SP 34/14, 112 f.; TNA SP 34/15, 31 f.; TNA SP 34/29, 34 f.; BL Add. 61303, 119 f. 473 Auch ­später wurden die Dechiffrierer persön­lich durch die Staatssekretäre in Oxford und Cambridge rekrutiert; vgl. Gibson, An Eighteenth-­Century Paradox, 70. 474 Vgl. Henderson, Blencowe; Ellis, Post Office, 128. 475 Calendar of Treasury Books, Bd. 27, darin: Queen Anne’s Civil List Lottery, hier 527. 476 Vgl. Kapitel 3.4.2. 477 Vgl. de Leeuw, Black Chamber, 144; siehe auch: Benschop, Het postwezen, 60 – 64.

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Daher stammten die Briefe, die Blencowe vorlagen, vor allem vom niederländischen Statthalter und bayerischen Kurfürsten Max Emanuel in Brüssel (später Mons), seinem Minister Bergeyck oder seinem Rat Malknecht 478 oder generell aus dem Umkreis ­dieses Hofes. Sie dokumentierten die geheimen Friedensgespräche um 1709 z­ wischen den Niederlanden, dem franzö­sischen Unterhändler Rouillé und dem holstein-­gottorpschen Gesandten im Haag Hermann Petkum, der als Vermittler tätig war (und die auch daran scheiterten, dass die Engländer davon erfahren hatten),479 oder die Meinungen der franzö­ sischen Diplomaten zu den Chancen, den schwedischen König Karl XII . auf die Seite Frankreichs zu ziehen.480 Blencowe entzifferte die Briefe, schickte sie an die Secretaries zurück, und diese sandten sie an Marlborough weiter: „I send your Grace the decypher’d letter wch I men­tion’d the last post, and wch I have since reciev’d from Mr. Blencowe.“481 Die Praxis des Dechiffrierens war nicht nur deshalb kompliziert, weil die verwendeten Chiffren so schwierig waren.482 Dies waren sie – verg­lichen mit den zeitgenös­sisch verfügbaren Mög­lichkeiten – gar nicht. Das Problem bestand mindestens ebenso sehr darin, dass Blencowes Auftraggeber, allen voran die Secretaries und Marlborough, immer auf besondere Eile drängten.483 In seinen Eingangsbestätigungen an die Secretaries oder Under-­Secretaries bemerkt Blencowe oft, dass wegen der Kürze der Briefe und/oder der Komplexität der Chiffre die Entzifferung sehr schwierig sei. Deshalb benötige er mög­lichst mehr und längere Briefe in derselben Chiffre: 478 Vgl. zum Kontext: de Schryver, De Zuidelijke Nederlanden; ders., Max II. Emanuel. 479 Vgl. BL Add. 61567, 28r–31r; 52r–55r; 60 f.; BL Add. 61246, 122r–125v; siehe auch BL Add. 61568 – die Korrespondenz ­zwischen Jaupain und Sunderland, die Spuren von Blencowes Arbeit belegt – sowie BL Add. 32306. Siehe auch: de Leeuw, Black Chamber, 144. 480 Vgl. nur: BL Add. 32258, 25r–31v. Siehe auch: Marlborough an Godolphin, 4./15. Mai 1707, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 769. 481 Boyle an Marlborough, 10. Mai 1709, in: BL Add. 61129, 72; siehe auch Harley an ­Marlborough, 22. August/2. September 1707, in: BL Add. 61125, 37v. 482 Blencowe benutzte, wie auch seine Nachfolger, gedruckte Hilfsmittel, etwa Listen oder Formulare mit durchlaufenden (meist dreistelligen) Zahlen untereinander, neben die dann die jeweiligen Wortbedeutungen eingetragen werden konnten. Vgl. die Formulare in BL Add. 32305. 483 Das Drängen Marlboroughs ist z. B. zu ersehen bei zwei Nachfragen Sunderlands bei seinem Under-­Secretary Pringle, in denen er auf Marlboroughs Wunsch verweist, die dechiffrierten Dokumente mög­lichst schnell zurückzuerhalten: Vgl. Sunderland an Pringle, 20. April 1710 und 19. Mai 1710, in: BL Add. 61494, 55r u. 61r.

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„I have here sent the Decyphering of the last letter I rec.d from you so far as I am able to discover it. It is very imperfect and very probably not free from mistakes, For the most common characters appear so seldom in so short a letter, that there is not means of confirming ye conjectures I make upon one place of ‘em Upon another. Besides the cypher being large and without any method, (wch adds mightily to ye Difficulty of it) It is impossible by so short a letter to discover it fully & certainly in every particular.“484

Ob also, wie in der jüngeren Literatur behauptet,485 Blencowe schlicht nicht besonders begabt war, scheint mir unentscheidbar. Mög­lich wäre auch, dass die Eile, die gefordert wurde, der häufige Chiffrenwechsel und der Mangel an längeren interzipierten Schriftstücken die Dechiffrierarbeit tatsäch­lich erschwerten. Zuweilen gelang die Arbeit näm­lich auch sehr schnell.486 Doch in der Tat fällt auf, dass die Schwierigkeiten Blencowes, die ihm zugesandten Briefe in der vorgesehenen Zeit zu entziffern, seine Korrespondenz dominieren: „I am sorry the Nature of this work of Decyphering & ye Difficulty of it is such as renders it impossible to comply with the Haste wch the Circumstances of it often require.“487 Insofern baten die Secretaries Marlborough (wenn die in Rede stehenden Briefe von ihm geschickt worden waren) wiederholt darum, noch weitere Briefe in derselben Chiffre abzufangen.488 Manchmal gelang aber das Dechiffrieren gar nicht. Viele Briefe haben sich daher unentschlüsselt in den Blenheim Papers erhalten.489 Wichtiger aber als die retrospektive Entschlüsselung historischer Briefe scheint mir das Faktum, dass die Zeitgenossen eine Informa­tion nicht erhalten haben, die sie gerne gehabt hätten. Oben ist gefragt worden: Wer entzifferte die interzipierten Briefe, wenn sie entziffert werden mussten? Dies ist mit Verweis auf Blencowe beantwortet worden. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Zwar fand eine kryptographische Zusammenarbeit mit den Alliierten so gut wie gar nicht statt (ein Austausch 484 Blencowe an einen Under-­Secretary Sunderlands, 10. Februar 1709/10, in: BL Add. 61575, 25; ähn­lich auch ebd., 9; aber auch: Blencowe an Sunderland z. B. ­zwischen 18. ­Februar 1706/07 und 5. Juni 1710, BL Add. 61575, 1, 13, 23, 36. Für einen reflektierenden Einblick in die Praxis des Dechiffrierens und ihre Probleme siehe auch BL Add. 61567, 26v–27. 485 Vgl. de Leeuw, Black Chamber, 143. 486 Vgl. Blencowe an Boyle, 5. Mai 1709, in: TNA SP 34/10, 251; Joseph Addison an B ­ lencowe, 5. März 1706/07, in: BL Add. 61653, 97r. 487 Blencowe an Boyle, 26. März 1709, in: TNA SP 34/10, 217v. Siehe auch ebd., 222r; 242v; TNA SP 34/12, 3v. 488 Siehe z. B. Harley an Marlborough, 8./19. August 1707, in: BL Add. 61125, 25. 489 Siehe z. B. BL Add. 61567, 60 f.

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diplomatischer Geheiminforma­tionen allerdings sehr wohl), die Blencowe in Konkurrenz zu anderen Dechiffrierern gebracht hätte. Nur in Ausnahmefällen ist eine Koopera­tion etwa ­zwischen den Generalstaaten und Hannover 490 oder ­zwischen England und Hannover zu beobachten.491 Während in den 1690er Jahren die Interzep­tion franzö­sischer Post nach Ost- und Nordeuropa vor allem im braunschweig-­lünebur­gischen Celle äußerst erfolgreich war,492 wurde während des Spanischen Erbfolgekrieges, spätestens ab 1706, das Haager cabinet noir um Heinsius‘ Privatsekretär Abel Tasien d’Alonne immer wichtiger.493 Eine Koopera­ tion ­zwischen London und/oder Marlborough mit den Niederländern scheint es aber auf ­diesem Gebiet nicht gegeben zu haben.494 Eifersüchtig wahrte man die eigenen Schätze, vor allem in Zeiten des Misstrauens, dass der Verbündete die Allianz verlassen wolle. Blencowe war als offizieller Dechiffrierer dennoch nicht der Einzige, der für eng­lische Regierungsmitglieder Briefe entzifferte. Schon während des Bayernfeldzuges 1704 hatte Marlborough vor Ort offenbar mit Amateurdechiffrierern experimentiert.495 Der Grund dafür war wohl die Entfernung von England, die eine Entzifferung in London unsicher und langsam erscheinen ließ. Auch besaßen einige Spionagenetzwerke, etwa die Spionagefirma Etienne Caillauds,496 einen oder mehrere Dechiffrierer. Nach der Eroberung der süd­lichen Niederlande 1706 etablierte sich zudem mit John Lawes, dem Brüsseler Gesandtschaftssekretär, nicht nur ein

490 Vgl. de Leeuw, Cryptology, 343. 491 Vgl. Ellis, Post Office, 76. Der hannoversche Sekretär Jean de Robethon fragte aber 1706 bei Marlborough nach „s’il est vray, comme on veut me l’assurer que vous avez en Anglet.e un tres habile dechiffreur. J’ay des raisons pour le demander.“ – eine Bitte, auf die in der späteren Korrespondenz leider nicht mehr zurückgekommen wird, die aber zeigt, dass Blencowe nicht ganz so unbegabt gewesen sein kann. Siehe Robethon an ­Marlborough, 12. Februar 1706, in: BL Add. 61235, 68v. Gleichzeitig bat Robethon Cardonnel im Zusammenhang mit der im Text erwähnten William-­Gregg-­Affäre um eine Abschrift der interzipierten chiffrierten Briefe und ggf. sogar der beiliegenden Chiffren; ob diese Bitte erfüllt wurde, ist nicht zu ersehen. Vgl. Robethon an Cardonnel, 10. Februar 1708, in: BL Add. 61236, 58 f. 492 Vgl. Oakley, Intercep­tion; de Leeuw, Black Chamber, v. a. 139. 493 Vgl. de Leeuw, Black Chamber, v. a. 155. Siehe zu den Niederlanden auch: Hardenberg, De organisatie. 494 Vgl. de Leeuw, Black Chamber, 143 f. 495 Siehe Marlborough an Harley, 19. September 1704: Marlborough sendet Harley aus Weißenburg einen interzipierten Brief der bayrischen Kurfürstin an ihren Mann, „which we have deciphered“; siehe: Letters and Dispatches, Bd. 1, 474. 496 Siehe Kapitel 3.4.3.

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engagierter Spionageorganisator,497 sondern auch ein offenbar begabter Kryptograph. Lawes, der sich um Sunderlands Patronage bemühte, eröffnete seine Korrespondenz, sozusagen als Gesellenstück, mit der Sendung eines von ihm selbst dechiffrierten diplomatischen Briefs: „I shall continue to send the Ordinary occurrences to Mr Addison (Sunderlands Under-­Secretary Joseph Addison, M. P.), but humbly beg leave to lay before your L.op an intercepted Letter in Cypher concerning the Affairs of Hungary.“498 Auch ­später schickte Lawes manchmal interzipierte und von ihm selbst entzifferte Briefe an Sunderland.499 Erst als Lawes als Laie mit der Dechiffrierung eines von Marlborough weitergegebenen Briefes nicht weiterkam, wandte er sich mit einem halb dechiffrierten Brief an Sunderland. Hier kam B ­ lencowe wieder ins Spiel. Lawes schrieb, er habe Marlborough mitgeteilt, „I believ’d a Person was employ’d by your L.op or Mr Secretary Boile, who had formerly made some Discoveries of that Kind“.500 Marlborough klärte ihn offenbar nicht darüber auf, dass er selbstverständ­lich den Namen des offiziellen Kryptographen kannte. Deut­lich wird an dieser Situa­tion sowohl, dass Blencowe (wegen mangelnden Talents, schwindender Patronage oder aus anderen Gründen) nicht unangefochten agieren konnte, aber auch, dass Marlborough zwar meist auf die Regierung angewiesen war und mit ihr kooperierte, wenn es um das Dechiffrieren interzipierter Briefe ging, aber offenbar auch nicht unglück­lich darüber war, mit Lawes zeitweise einen engagierten Hobby-­Kryptographen vor Ort zu haben. 3.3.1.4 Initiative statt Interzeption: Newsletters und Spione

Während die Interzep­tionsspionage im diplomatischen Verkehr der wichtigere Typus war, besaß mindestens innerbritisch im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert die Initiativspionage eine vergleichbare Bedeutung. Hier konzentrierte sich die Regierung auf das Jakobitenproblem vor allem innerhalb Englands und Schottlands.501 In geringerem Umfang organisierten die Secretaries aber auch Spionageaktivitäten im Ausland; am Beispiel Harleys ist dies bereits erwähnt worden.502 497 Siehe Kapitel 3.3.2.2. 498 Lawes an Sunderland, 6. Oktober 1707, in: TNA SP 77/57, 198v. 499 Lawes an Sunderland, 8. März 1708/09, in: TNA SP 77/58, 12v; 25. April 1709, in: ebd., 43r; siehe auch: ebd., 110v, 130v, 132r, 159r, 209r, 299r. 500 Lawes an Sunderland, 15. Juli 1709, in: TNA SP 77/58, 152v–153r. 501 Vgl. Walker, Secret Service; siehe auch: Hopkins, Sham Plots; Douglas, Jacobite Spy Wars; Fritz, Anti-­Jacobite Intelligence System. 502 Vgl. Thomson, Secretaries of State, 150 – 153; siehe generell: Fraser, Intelligence; zu Harley siehe: Backscheider, Daniel Defoe.

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Im Unterschied zum reaktiven ‚Abfischen‘ feind­licher Korrespondenz wurde im Rahmen der Initiativspionage aktiv Informa­tion beschafft. Dies verlief allerdings meist nicht so spektakulär, wie die Literatur nahelegt. Dass man dennoch dazu tendiert, die sensa­tionellen Konnota­tionen zu betonen, liegt daran, dass frühneuzeit­liche Spionage oft an mehr oder minder pittoresken Einzelfällen erforscht worden ist.503 Insofern trifft es zu, wenn Jonathan Dewald zu dem Schluss kommt, die besten Untersuchungen frühneuzeit­licher Spionage „have been close examina­tions of specific cases rather than general histories“504 – was aber eben daran liegt, dass die landläufige Vorstellung von Spionage diese oft viel farbiger malt, als sie im Regelfall gewesen sein dürfte. Schon die Zeitgenossen nahmen dieselbe sensa­tionsheischende Perspektive auf Spione ein. Sie spielten in der politischen Kommunika­tion wie auch der Literatur um 1700 eine bedeutende Rolle und bildeten geradezu ein literarisches Lieblingsphantasma der Zeitgenossen.505 Gerade weil Spionage so schwierig effizient zu organisieren war, wurde so viel über sie spekuliert und fabuliert. Oft befassten sich die Spionageromane der Zeit zwar weniger mit außenpolitischer Informa­ tionsgewinnung als mit aus der Froschperspektive erzählten pikanten Anekdoten oder durch das Schlüsselloch betrachteten Klatschgeschichten. Allerdings artikulierten diese Romane sämt­lich die Überzeugung, dass unter der Oberfläche verborgene Geheimnisse und Skandale zu vermuten ­seien.506 In diesen Texten wurde auch das Problem mora­lischer Infamie von Spionage bei gleichzeitiger politischer Notwendigkeit diskutiert – die Spione zeigten darin ihre Tätigkeit „in its true, natural, ugly shape“.507 Die Berichte der Informanten, die der eng­lischen Regierung zuarbeiteten, waren inhalt­lich wie strukturell viel weniger sensa­tionell. Sie fielen näm­lich häufig in den Bereich der für mehr oder minder große Kreise kommerziell erwerbbaren periodische Newsletters.508 Diese handgeschriebenen Zeitungen waren für 503 Vgl. etwa: Benna, Doppelspionage; Hellin, Espionnage. 504 Dewald, Espionage, 325. 5 05 Vgl. zum Spion als literarischer Figur um 1700 nur: Porada, Turkish Spy; McBurney, Authorship; Aravamudam, Fic­tion/Transla­tion/Transna­tion, 55  –  62. 506 Darüber hinaus passt das zeitgenös­sische Interesse an secret histories und Spionageromanen zur gerade in England um 1700 engagiert geführten Diskussion über die Trennung oder Unterscheidung von fact und fic­tion, in der Defoe eine Schlüsselrolle einnimmt; siehe Davis, Factual Fic­tions, 238, Anm. 27. 507 Courtilz de Sandras, The French Spy, unpag. Preface. Zu zeitgenös­sischen mora­lischen Bewertungen siehe auch: Preto, I servizi segreti, 41. Siehe aus dem mittleren 18. Jahrhundert als instruktives Beispiel auch: M., Ist es erlaubt. 508 Vgl. Barbarics/Pieper, Handwritten Newsletters; Weil, Les gazettes manuscrites.

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­ arlborough wie die eng­lische Regierung viel wichtiger als gedruckte ZeitunM gen, obwohl sie sich inhalt­lich nicht immer von diesen unterschieden. Dieses exklusivere und teurere Medium wurde zwar im 18. Jahrhundert gegenüber der Presse zunehmend marginaler, war aber für nicht- oder halböffent­liche eng­ lische Regierungsbelange während des Spanischen Erbfolgekrieges zentral.509 Gerade für innenpolitische ­Themen stützte sich Marlborough komplementär zu seinen eigenen Informanten auch auf kommerzielle Newsletters.510 „Faktisch blieben beide Formen der Nachrichtenverbreitung […] bis ins 18. Jahrhundert hinein nebeneinander bestehen, ergänzten einander oder waren sogar aneinander gekoppelt.“511 Oft waren also die Texte, die die ältere Forschung als Spionageberichte klassifiziert, nichts anderes als Newsletters, die ledig­lich einem kleineren Rezipientenkreis zugäng­ lich gemacht wurden. Die Unterscheidung z­ wischen „spies“ und „regular correspondents“, die eine ältere Arbeit vorschlägt, trifft also für die Informa­tionsgewinnung der eng­lischen Regierung dort Unterscheidungen, wo die Zeitgenossen nicht differenzierten.512 Gleichzeitig wäre aber der Eindruck falsch, als s­ eien die Newsletters und Berichte, die der eng­lischen Regierung vorlagen, sämt­lich ‚öffent­lich‘ gewesen – auch dies wäre eine falsche Vereindeutigung.513 Die Newsletters, die zeitgenös­sisch gesammelt und nach dem Amtsende der Secretaries archiviert wurden,514 zeigen diese fließenden Übergänge: Neben offensicht­licher Spionagekorrespondenz stehen thematisch diverse Berichte von Armeeangehörigen.515 Selbst die offiziellen Berichte Cardonnels aus Marlboroughs Feldlager sind hier zum Teil eingeordnet,516 waren 509 Vgl. Fraser, Intelligence, 3 f. und 45; Snyder, Newsletters. Für einen früheren Zeitraum vgl. Arblaster, Posts. 510 Vgl. Barber, It is Not Easy, v. a. 296. 511 Mauelshagen, Netzwerke des Nachrichtenaustauschs, 414. Davies/Fletcher, Introduc­tion, betonen zwar die Wichtigkeit von Newsletters (6), stellen aber bei ihrer Behandlung von „news“ dennoch weitgehend auf Printmedien ab. Vgl. zum Verhältnis geschriebener zu gedruckten Zeitungen generell: Droste, Heiko, Einige Wiener; Böning, Handgeschriebene und gedruckte Zeitung; Wilke, Korrespondenten. 512 Vgl. Fraser, Intelligence, 3. 513 Vgl. in ­diesem Sinne: Alsop, British Intelligence, 116. 514 Die Papiere Sunderlands sind Teil der Blenheim Papers in der British Library; auch einige andere der Amtspapiere befinden sich dort, andere in den State Papers in den Na­tional Archives. Die Secretaries waren gehalten, ihre Papiere abzugeben, wenn sie entlassen wurden oder aus dem Amt ausschieden, aber dies geschah nur sehr unregelmäßig; siehe Thomson, Secretaries of State, 143 f. 515 Vgl. BL Add. 28923, z. B. 190r. 516 Vgl. TNA SP 101/7.

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also für einige der Secretaries eine Informa­tionsquelle, die sich prinzipiell nicht von Spionageberichten unterschied. Typolo­gisch erscheinen demnach die Übergänge ­zwischen dem kommer­ziellen, einer breiten Öffent­lichkeit potentiell zugäng­lichen Newsletter am einen Ende der Skala und dem ganz exklusiven, in Auftrag gegebenen Spionagebericht am anderen Ende fließend. Oft sind nur graduelle Unterschiede auszumachen. Beide verbindet die Periodizität – die natür­lich für Spionageberichte nicht generell anzusetzen ist, aber doch meist erstrebtes Ziel war. Im Hinblick auf die Beschaffung dieser Informa­tionen war der Übergang zum Zeitungswesen unscharf.517 Auch die Frage, auf w ­ elche Öffent­lichkeit, Teil- oder abgestufte Öffent­lichkeit die Newsletters zielten, w ­ elche sie tatsäch­lich erreichten, ob es (für wen?) mög­ lich war, Berichte kommerziell zu erwerben, lässt sich letzt­lich nur mit Verweis auf fließende Übergänge beantworten.518 Dies legt es wiederum nahe, eine Vielzahl von Maßnahmen zur Informa­ tionsgewinnung, unter denen „Spionage“ nur eine ist, gemeinsam zu analysieren. Allerdings sind im Rahmen dieser Untersuchung diejenigen Newsletters von besonderem Interesse, die aus relativ exklusiv für die eng­lische Regierung arbeitenden Netzwerken hervorgingen. Diese Netzwerke, etwa diejenigen François Jaupains, John Lawes‘ oder Etienne Caillauds, kooperierten eng mit der eng­lischen Regierung. An Organisa­tionen lagerten sich also netzwerk­ artige Strukturen an. 3.3.1.5 At ye peril of my life & ruine of my familly: Macky und Fonseca

An zwei eng zusammenhängenden Beispielen ( John Macky und John Fonseca) soll die Initiativspionage der Secretaries of State vertieft untersucht werden. An ihnen wird deut­lich, wie die eng­lische Regierung versuchte, Spionageämter im Rahmen der Postinfrastruktur zu schaffen. Es wird aber auch klar – und dies ist im Übrigen ein Befund, der sich auch auf noch weniger amtsförmige Spionagebeziehungen ausweiten ließe –, dass im Zweifelsfall informellere, netzwerkartige, eher tausch- als organisa­tionsförmige Beziehungen sich an diese formalisierteren Ämter anlagerten. Hier wie in ­später zu beschreibenden Fällen ist eine eingehende ‚Netzwerkanalyse‘ aber schon deshalb unmög­lich, weil die Köpfe der Spionagenetzwerke (unabhängig davon, ob sie in einer Amts-, einer Patronage- oder einer

517 Vgl. Opitz, Diplomacy, 77. 518 Siehe zum Problem der „Teilöffent­lichkeit(en)“ die Ausführungen zum Brief in Kapitel 3.2.2.

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kommerziellen Beziehung zu Marlborough und/oder der Regierung standen) zwar sichtbar werden, die netzwerkartigen Strukturen, die ihnen zuarbeiteten, aber regelmäßig nur schattenhafte Konturen besitzen. Schon im Kapitel über die Postinfrastruktur z­ wischen England und den süd­ lichen Niederlanden ist John Macky ausführlich erwähnt worden, eine schillernde Gestalt, die seit den 1690er Jahren sowohl im Bereich der Postorganisa­ tion als auch – damit verbunden – der Spionageorganisa­tion eine bedeutende Rolle spielte. Über Mackys Leben geben vor allem seine autobiographischen Aufzeichnungen Auskunft. Teile d ­ ieses Textes beruhen auf einer Peti­tion an die Regierung von ungefähr 1718, die gemeinsam mit anderen Beilagen von Mackys Sohn veröffent­licht wurde.519 Hier erfährt man, dass Macky von ­W ilhelm III . nach der Glorious Revolu­tion als Spion an den jakobitischen Exilhof in St. Germain-­ en-­Laye und nach Paris entsandt worden war.520 Von dort hatte er 1692 erste Hinweise auf eine bevorstehende Seeschlacht (die Schlacht von La Hogue) liefern können und war als Belohnung dafür mit dem Posten eines Coastal Director versehen worden. Seine Aufgabe hatte darin bestanden, Reisende von und nach Frankreich zu überwachen und verdächtige (jakobitische) Personen aufzudecken.521 Ab 1698 organisierte Macky, wie erwähnt, im Auftrag der Postmasters General die Postschiffe nach Frankreich (von Dover nach Calais, aber auch nach Ostende und Nieuwpoort) – auch dies ein spionagerelevantes Amt. Macky selbst behauptet, durch ihn sei der König „entirely Master of the Jacobite Correspondence“ geworden. So habe er etwa zwei weib­liche Spione in St. Germain platzieren können.522 Nun ist ein autobiographischer Text, der, wie in d ­ iesem Fall, auch noch eine Peti­tion ist, sicher nicht der primäre Ort, den man auf belastbare Fakteninforma­ tionen (allerdings noch viel weniger auf Interpreta­tionen) befragt.523 Dennoch ist der Text Mackys eine der wenigen längeren Aufzeichnungen eines Spions und Spionageorganisators, sodass es schwerfällt, auf ihn zu verzichten. Mackys 519 Siehe die Hinweise in: Memoirs of the Secret Services, XVIII f., sowie bei: Scott, Secret Services, 73. 520 Vgl. Memoirs of the Secret Services, III–V. 521 Die biographischen Hinweise folgen: Alsop, Macky, John, ergänzt durch Mackys eigenen Bericht: Memoirs of the Secret Services. 522 Memoirs of the Secret Services, VIII–X, Zitat: VIII. 523 Ob man Peti­tionen oder Suppliken als Ego-­Dokumente lesen kann, wird in der Forschung diskutiert; als zustimmende Posi­tion siehe: Ulbricht, Supplika­tionen. Siehe genereller zum Forschungszusammenhang Peti­tion/Supplika­tion: Würgler, Voices; Kümin/­Würgler, Peti­tions.

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„Memoirs“ sind sicher auch im eng­lischen Kontext eine außergewöhn­lich reiche, vergleichsweise wenig stereotype Quelle und sind daher in jedem Fall für biographische Zusammenhänge heranzuziehen. Zudem bestätigt die Forschung die von Macky geschilderten Fakten: So wird darauf hingewiesen, dass Macky in den 1690er Jahren tatsäch­lich eine zentrale Rolle bei der antijakobitischen Spionage einnahm (die ohne ihn ziem­lich kläg­lich ausgesehen hätte), aber auch, dass er eine individuelle Ausnahme darstellte.524 Macky erhielt seine Aufträge, soweit man sehen kann, bis zu Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges vor allem vom Staatssekretär Vernon 525 und vom Under-­ Secretary Ellis, der für den Secretary Hedges tätig war.526 Aus diesen Korrespondenzen wird deut­lich, dass Macky eine Vielzahl von Aufgaben für die Regierung erfüllte: dass er Reisende überwachte und der Regierung verdächtige Personen (vor allem an- und abreisende Jakobiten) meldete;527 dass er von mög­lichen Kriegsvorbereitungen und Aufrüstungen in den Hafenstädten Dünkirchen und Ostende berichtete, wohin er Spione entsandt hatte;528 dass er schließ­lich offenbar immer wieder Spione in den Umkreis des jakobitischen Exilhofs schickte.529 So schreibt er etwa im März 1702: „I have sent a man to St Germans to know how matters go there, since his Majestys death and learn what other news there is, and shall take all imaginable care in this nice juncture.“530 Aus der Korrespondenz mit der Londoner Regierung geht aber auch hervor, mit ­welchen Problemen beide Seiten zu kämpfen hatten: Die Secretaries als Auftraggeber und Vorgesetzte hatten immer wieder Zweifel, ob die eingesetzten Spione auch vertrauenswürdig waren und verließen sich deshalb, wie eben im Fall Mackys selbst, tendenziell gern immer wieder auf dieselben Personen.531 524 Vgl. Hopkins, Sham Plots, 91; Alsop, British Intelligence, 113; siehe auch: Alsop, Macky, John. 525 Vgl. z. B. BL Add. 40771, 40772. 526 Vgl. z. B. BL Add.  28882 – 28888. 527 Vgl. Macky an Ellis, 3. September 1699, in: BL Add. 28884, 217r; Macky an Ellis, 27. März 1702, in: BL Add. 28882, 147r. 528 Vgl. Macky an Ellis, 22. Februar 1700/01, in: BL Add. 28886, 336v; 7. April 1702, in: ebd., 164r. 529 Daneben übernahm er offenbar für Hedges die Aufgabe, die Wahlberechtigten, die für ihn arbeiteten, im Sinne Hedges‘ (der für Dover ins Parlament einziehen wollte) zu beeinflussen. Vgl. Macky an Ellis, 23. März 1702, in: BL Add. 28888, 138r; vgl. auch: Vernon an Macky, 9. Oktober 1701, in: BL Add. 40775, 262r. Macky scheint also auch zu Hedges in einem Patronageverhältnis gestanden zu haben. 530 Macky an Ellis, 23. März 1702, in: BL Add. 28888, 138r. 531 Vgl. so Vernon an Macky, 1698, in: BL Add. 40772, 345r.

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Auch wollten sie offenbar nicht immer wieder große Summen für Spionage ausgeben, ohne die Ergebnisse vorab klar kalkulieren zu können. Sie drängten also eher darauf, dass Spione wie Macky finanziell in Vorleistung gehen sollten: Zuerst sollten sie brauchbare Informa­tionen liefern, bevor sie bezahlt wurden 532 – eine Praxis, die nicht unüb­lich war (auch weil sie den Gepflogenheiten der höfischen Welt entsprach)533, die aber Macky natür­lich nicht recht sein konnte. Macky selbst hatte unter der zurückhaltenden Zahlungsmoral der Secretaries oder der ihnen untergebenen Postmasters General zu leiden; das ist an seiner recht regelmäßigen Peti­tionspraxis abzulesen, die auch zeigt, dass er sich zwar in einer formalen Dienstbeziehung sah, aber den Eindruck hatte, dass die andere Seite ihre Pflichten nicht exakt erfüllte.534 Die Unterfinanzierung schuf ein sicherheitsrelevantes Dilemma für Macky: Er musste seine Mitarbeiter in Dover, Calais oder s­ päter Ostende sorgfältig auswählen, um zu verhindern, dass er an franzö­sische Doppelagenten geriet.535 Gleichzeitig aber konnte er sie nicht angemessen bezahlen und öffnete damit einer heim­lichen Abwerbung durch andere Auftraggeber Tür und Tor.536 Als Mackys Dienste zu Kriegsbeginn nicht mehr vonnöten waren, wurde er entlassen und ging wegen privater Geschäfte nach Italien.537 Auch von dort aus versuchte er, sich bei der eng­lischen Regierung in Erinnerung zu bringen: etwa durch den Vorschlag, in der Adria einen alliierten Postbootdienst zu installieren 538 oder durch die Übersendung eines detaillierten Berichts der Schlacht um

532 Vgl. Vernon an Macky, 11. Oktober 1701, in: BL Add. 40775, 272r. 533 Vgl. Stollberg-­Rilinger, Zur mora­lischen Ökonomie, 192. 534 Siehe z. B. die Peti­tionen Mackys vom 5. März 1697 in: Calendar of Treasury Papers, Bd. 2, 15; ca. 15. Februar 1703, in: Calendar of Treasury Papers, Bd. 3, 112. 535 Vgl. die Diskussionen ­zwischen Vernon und Macky zur Aufdeckung verdächtiger Mitarbeiter 1698 in: BL Add. 40772, v. a. 11r. 536 Vgl. Macky an Ellis, 18. Januar 1697/98, in in: BL Add. 28882, 45r: „I received yours, and would rather receive a Clerk of your Recomending then anybodies but I am afrayed it will hardly be worth while, the PostMr Generall does not allow me one, and whoever I employ must serve me in other thinges as well as Copying my letters, eat wt my other servants, and not verie great wages.“ 537 Vgl. Alsop, Macky, John; Memoirs of the Secret Services, XI. 538 Vgl. BL Add. 37351, 300r (Memoire pour S. A. S. Monseig.r le Prince Eugene de Savoye President de guerre et Generalissime des Armées de S. M. I. en Italie contenant quelques proposi­tions par Mons.r Mackay Directeur de Pacquetboats d’angleterre, pour le Transport des Trouppes et des provisions par la Mer Adriatique); BL Add. 37352, 44r–v.

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Gibraltar 1704.539 Er blieb in Kontakt mit Ellis 540 und versuchte seine Verbindungen mit eng­lischen Regierungsmitgliedern und Diplomaten (Godolphin, Stepney) für sich auszunutzen.541 Vor allem aber nutzte er seine Patronagekontakte zum früheren Secretary Shrewsbury, der sich in Rom aufhielt.542 Shrewsbury stellte mög­licherweise den Kontakt zur hannoverschen Kurfürstin und potentiellen eng­lischen Thronfolgerin Sophie her, für die Macky – vielleicht mit Shrewsburys Hilfe – auch eine Abhandlung über die wichtigsten eng­lischen Adligen und Politiker schrieb.543 Auch traf er im Haag, wo er sich 1705 aufhielt, mit Marlborough zusammen, dem er sich auf Empfehlung Shrewsburys und des hannoverschen Hofes annähern konnte. Tatsäch­lich bat Marlborough auch den Secretary Harley darum, Macky zu unterstützen.544 Offenbar erschienen Mackys Spionageerfahrungen der Regierung wieder als nütz­lich; seine notorischen Geldprobleme versuchte er durch autoritative Referenzen, wenn nicht zu lösen, dann zu überspielen: „I have made the Duke of Shrewsbury a father instead of a friend, I have my court very well at Hannover, and have procured me more of the Duke of Marlboroughs friendship then ever I could have done by staying in England, he having very kindly writt to Mr Harley about me.“545

Nach der Eroberung großer Teile der Spanischen Niederlande erhielt Macky, wie bereits oben dargestellt, 1706 seinen Posten zurück und war (meist von Dover aus) an der Organisa­tion des Ostender Postdienstes genauso beteiligt wie an der Organisa­tion der südniederländischen Post generell. In den süd­lichen Niederlanden agierte er in den nächsten Jahren als Verbindungsmann zum Generalpostmeister

539 Vgl. BL Add. 37352, 368r–370v. 540 Siehe BL Add. 28891, 228r–v; 232r. 541 Vgl. BL Add. 28891, 248r u. 271r. 542 Vgl. HMC Buccleuch, Bd. 2, Teil 2, 746, 785, 788. 543 Diese Abhandlung, die sog. „Characters“, wurden s­ päter in Mackys Memoirs of the Secret Service eingefügt; siehe Scott, Secret Services, 77 f. Dort sind auch zwei Briefe Sophies an Macky von 1703 und 1706 abgedruckt; vgl. Memoirs of the Secret Services, XXXIV u. XXXVI, die wiederum zeigen und zeigen sollen, wie eng Mackys Kontakte zu verschiedenen Herrschern und hohen Adligen war. 544 Vgl. Macky an Ellis, 28. April 1705, in: BL Add. 28893, 129r; Letters and Dispatches, Bd. 2, 87 (Marlborough an Harley, 9. Juni 1705). 545 Vgl. Macky an Ellis, 1. Mai 1705, in: BL Add. 28893, 131v.

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François Jaupain. In d ­ iesem Kontext trat er enger mit Marlborough und seinem Umfeld in Verbindung,546 arbeitete aber auch für die Secretaries of State.547 Godolphin gab Macky den Auftrag, „to settle an Intercourse of Letters directly between England and these Countries, and gave him the Direc­tion of the Pacquet-­Boats to Ostend, with Instruc­tions to have a watchful Eye over the Naval Prepara­tions from Time to Time at Dunkirk, which was easy to be done from Ostend, most of the Dunkirkers being Navigated by Ostenders“.548

Mackys Aufgabenbereich umfasste also wiederum sowohl die Postorganisa­tion als auch die Beschaffung vor allem militärischer Informa­tionen. Seine Stellung wurde formalisiert: Er unterstand dem Post Office, das ihn regelmäßig bezahlte, und zwar explizit für seine Post- wie für seine Spionagedienste. Dies geht unter anderem aus einem Brief Cardonnels hervor: „What Expence you may have been at in sending a Man to Dunkirk and Calais for Intelligence of what was fitting out in those ports, My Lord Duke desires you will place to the Acc.t of the Post Office.“549 Die Schwierigkeiten der Postorganisa­tion gefährdeten jedoch auch in der Folgezeit immer wieder Mackys Posten.550 Er versuchte, der Gefahr, erneut seine Stelle zu verlieren, durch verschiedene Strategien zu begegnen: So stellte er gegenüber seinen Vorgesetzten, den Postmasters General, seine Nähe zur hanno­ verschen Dynastie (also den prospektiven Thronfolgern) heraus.551 ­Daneben 546 Vgl. die Korrespondenz Cardonnels aus dem Jahr 1706, in: BL Add. 61398, z. B. 43r; 126r; 40v–41r; 48v; 51r; 135r. Zur Koopera­tion Macky/Jaupain/Cardonnel/Marlborough siehe auch Cardonnel an Frankland, 22. Juli 1709, in: BL Add. 61400, 175v sowie Marlborough an Godolphin, 30. Juni/11. Juli 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1297. 547 Vgl. Macky an die Postmasters General, 12. Oktober 1710, in: TNA SP 77/59, 226r. 548 Memoirs of the Secret Services, XII f. Siehe auch Cotton und Frankland an Hedges, 9. August 1706, in: Calendar of State Papers, Bd. 4, 197 f. sowie oben, Kapitel 3.2.3. 549 Cardonnel an Macky, 30. Oktober 1710, in: BL Add. 61401, 118v. Vgl. auch den Bericht über Mackys Aktivitäten, den die Postmasters General am 14. April 1711 dem Secretary of state St. John erstatteten; siehe TNA SP 34/15, 66r. 550 Vgl. z. B. Cardonnel an Macky, 26. Dezember 1707, in: BL Add. 61399, 49r–v. 551 Vgl. den Brief der Postmasters General an Sunderland vom Oktober 1708, die berichten, dass Macky den hannoverschen Erbprinzen von der flämischen Armee nach Seeland begleitet habe; siehe BL Add. 61601, 104r; die kontinuier­liche Nähe zur Kurfürstin Sophie wird auch deut­lich aus einem Brief von 1713, aus einer Zeit also, als Macky bereits wieder ohne Stellung war; siehe BL Stowe 225, 137r–v.

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versuchte er seine ideolo­gische Nähe zu den Whigs dadurch zu n ­ utzen, dass er Sunderlands Protek­tion zu erlangen suchte, und zwar auf dem Weg über ­Cardonnel und mittels eines Memorandums zur versuchten jakobitischen Invasion von 1708.552 Wenn er von Dover nach Ostende übersetzte, fragte er bei ­Sunderland an, ob dieser etwas Spezifisches vom Festland zu erfahren wünsche.553 Auch vermittelte er Sunderland den Kontakt zu einem Spion, der sich bei ihm beworben hatte und den er Sunderland als Berichterstatter aus Flandern vorschlug (wobei nicht klar ist, was daraus wurde): „Last night I received the inclosed advertisement from Flanders by a verie good Hand who will give your Lordship constant advices of every thing that passes in the French Flanders if your Lordship requires it.“554 Vor allem aber suchte Macky sich zu profilieren, indem er seine Spionage- und Informa­tionsmög­lichkeiten mög­lichst breit streute und auf vielen verschiedenen Feldern spielte: Er bemühte sich darum, Dünkirchen und andere franzö­sische Häfen von Spionen überwachen zu lassen – ein Aufgabe, die vor allem im Umkreis der Invasion von 1708 unmittelbare Dring­lichkeit besaß, aber auch danach fortgeführt wurde. 555 Er organisierte Newsletters, die zum Beispiel über die Situa­tion an der Front informierten,556 und sandte Spione zur franzö­sischen Armee.557 Während der Belagerung Lilles durch die Alliierten 1708 schickte Godolphin Macky von Dover nach Lille, um mit Marlborough über eine Verbesserung der Postverbindungen ­zwischen Lille und Ostende zu konferieren.558 552 Vgl. Cardonnel an Macky, 16. März 1708, in: BL Add. 61399, 106r. Überhaupt scheint Cardonnel Macky gestützt zu haben; der herz­liche Ton in seinem Brief vom 10. Oktober 1710 weist in diese Richtung (BL Add. 61401, 119r). 553 Vgl. Macky an einen von Sunderlands Under-­Secretaries, 1. Juni 1707, in: TNA SP 34/9, 43r. 554 Macky an Sunderland, 7. Februar 1706/07, in: BL Add. 61601, 171r. 555 Vgl. Macky an Cotton/Frankland, 31. Mai 1707, in: BL Add. 61601, 33r, siehe aber auch z. B. Macky an die Postmasters General, 31. Mai 1707/08, in: BL Add. 61601, 33r; BL Add. 61579, 149r–v (8. September 1708); Cardonnel an Macky, 23. Oktober 1710, in: BL Add. 61401, 115r. 556 Vgl. Macky an die Postmasters General, 2. Juli 1708, in: BL Add. 61601, 80r; die Frontsitua­ tion war auch deshalb relevant, weil aus ihr Schwierigkeiten der Postübermittlung resultierten. Siehe darüber hinaus auch den von Macky organisierten Newsletter aus Paris und Toulon vom 21. Juli 1707, in: BL Add. 61601, 36r–v. 557 Vgl. den Bericht Mackys an die Postmasters General, in: BL Add. 61601, 98r–101r. 558 Siehe den Bericht der Postmasters General an St. John, 14. April 1711, in: TNA SP 34/15, 66v. Auch die Belagerung von Tournai wurde von Macky beobachtet; siehe Postmasters General an Sunderland, 29. Juli 1709, in: BL Add. 61601, 129r–133r.

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Macky trat also gerade während der zweiten Hälfte der 1700er Jahre immer wieder im engsten Umfeld Marlboroughs in Erscheinung. Eine wichtige Aufgabe in dieser Periode war die Überwachung verdächtiger Reisender.559 Diese sei aber, so schrieb Macky Anfang 1710, ohne größere finanzielle Anstrengungen nicht durchzuführen: „I think it my duty (having had the management of that matter last Warr) to represent to your Lordship the improbability of doing that service effectually without you have people abroad to give notice of the Imberca­tion, as well as officers at Home to look after their Landing.“560

Macky verband die Mängeldiagnose wie immer mit einer Peti­tion und einem waghalsigen Plan, aus dem nichts geworden zu sein scheint: Er selbst wollte als eng­lischer Konsul in den Spanischen Niederlanden nicht nur die Namen aller nach England Reisenden, sondern auch die Namen derjenigen vielen Kinder beiderlei Geschlechts zu übermitteln, „that goe hence every year to be Educated in principles contrary to our Civil and Ecclesiastical Constitu­tion in the Colledges and Monasterys of the Low Countrys“561. Der Plan, katho­lische Bildungsinstitu­tionen auszukundschaften, verweist zurück auf eine frühere Ak­tion und legt gleichzeitig ein mutmaß­liches Motiv von Mackys Engagement offen: Der fanatische Antikatholik Macky hatte bereits 1707 der eng­lischen Regierung unaufgefordert eine detaillierte Aufstellung und Beschreibung der aus seiner Sicht hochgefähr­lichen eng­lischen Priesterseminare in Flandern geliefert.562 Mackys Sturz 1711 schließ­lich war eng an Marlboroughs Machtverlust gekoppelt: Die geheimen Friedensverhandlungen ­zwischen Frankreich und England, die die neue Regierung an Marlborough vorbei initiierte, wurden von Macky aufgedeckt, und zwar, weil er die reisenden Unterhändler erkannte und identifizierte. Einer der Unterhändler war schließ­lich „his old Acquaintance Mr. Prior“, M ­ atthew Prior.563 Die Regierung, die er benachrichtigte, reagierte v­ erständ­licherweise 559 Siehe Macky an Frankland, 12. März 1706/07, in: BL Add. 61601, 14r–v; vgl. auch die Hinweise im Brief des Bürgermeisters von Canterbury an Sunderland, 29. Juli 1708, in: BL Add. 61608, 29r–32r. 560 Macky an Sunderland, 23. Februar 1709/10, in: BL Add. 61601, 191r; mit „imberca­tion“ meint Macky wohl „embarkment“, Einschiffung. 561 Ebd. 562 Vgl. Macky an Sunderland, 7. Januar 1707/08, in: BL Add. 61601, 176r–179r; siehe dazu: Alsop, John Macky’s 1707 Account. 563 Memoirs of the Secret Services, XVII. Zum Dichter und Diplomaten Prior siehe: Legg, Matthew Prior.

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nicht, sodass Macky sich an Marlborough wandte, der diese Nachricht wiederum an die Secretaries weitergab 564 – entweder, weil er sie nicht glaubte oder weil er Macky als Klienten Shrewsburys (der der neuen Regierung angehörte) i­ nzwischen selbst misstraute.565 Die Konsequenz dieser Affäre war jedenfalls einerseits, dass ­Marlborough früher, als er sollte, von den geheimen Friedensverhandlungen erfuhr,566 andererseits, dass Macky von der Regierung inhaftiert wurde.567 Mackys Versuch, durch die Aufdeckung der geheimen Friedensverhandlungen der verhassten Tory-­Regierung zu schaden, war also gescheitert, hatte ihn sein Amt und seine Freiheit gekostet und Marlboroughs ohnehin fragile Posi­tion noch einmal weiter geschwächt.568 Erst Georg I. schließ­lich entließ Macky aus dem Gefängnis. Doch kämpfte er noch Jahre um wirtschaft­liche Erholung und um Rehabilita­ tion – aus ­diesem Kontext stammt auch die Peti­tion, der viele biographische Details entnommen sind. Macky ist nur ein, wenn auch besonders hervorstechendes Beispiel für eine amtsförmige Spionageorganisa­tion. Gleichzeitig ist er eine Zentralfigur der engen Koopera­tion z­ wischen den Secretaries of State und dem Herzog von Marlborough – eine Koopera­tion, die allerdings am Ende des Krieges nicht mehr funk­tionierte. Wichtiger, als dem notorischen Projektemacher Macky weiter zu folgen, ist im Zusammenhang ­dieses Kapitels die Verbindung zu einem weiteren Spion. Schon bei der Beschreibung der eng­lischen Priesterseminare in Flandern von 1707 hatte Macky die Hilfe eines Mannes namens John de Fonseca in Anspruch genommen: „To Dunkirk, Aire, Douai, and St. Omer where I could not go I sent one Fonseca who had been bred at St. Omer.“569 John de Fonseca war der unehe­liche 564 Memoirs of the Secret Services, XVII. 565 Zum Misstrauen Marlboroughs gegen Macky siehe den Brief an Sarah, 5./16. August 1710, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1591 sowie Alsop, Macky, John. Shrewsbury hatte an sich ein gutes Verhältnis zu Marlborough, war aber seit 1710 in Diensten der neuen Tory-­Regierung; siehe Coxe, Memoirs, Bd. 3, 57. 566 Siehe den Brief von Brydges an Marlborough, 23. August 1711, in: The Letters and Accounts of James Brydges, 137. 567 Vgl. Memoirs of the Secret Services, XVIII f. 568 Vgl. Alsop, Detec­tion, 63, der sogar vermutet, dass die ganze Situa­tion von St. John absicht­lich herbeigeführt wurde; entweder weil dieser darauf spekulierte, dass Macky Prior erkennen würde, oder weil d ­ iesem, als dies einmal geschehen war, die öffent­liche Konfronta­tion mit Marlborough als vorteilhaft erschien. Dies kann hier nicht entschieden werden. Siehe ebd., 64. 569 Alsop, John Macky’s 1707 Account, 338. Es ist sehr wahrschein­lich, dass Macky sich auf diesen Bericht bezieht, wenn er am 18. Februar 1707/08 Sunderland informiert: „This

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Sohn eines früheren spanischen Gesandten in England und späteren Rates der spanischen Regierung in Brüssel. Er war selbst in Brüssel ansässig und besaß viele Kontakte zu den Offizieren der spanisch-­franzö­sischen Armee, präsentierte sich aber gleichzeitig als extrem pro-­alliiert.570 Er hatte sich bereits 1706 mit einem Memorandum über die ­sozia­le, politische und kulturelle Lage Flanderns an Marlborough gewandt, um d ­ iesem für den Fall der Eroberung der süd­lichen Niederlande Hinweise für die zukünftige Regierung zu geben.571 Fonseca spionierte auch nach 1707 für Macky – hatte aber anders als Macky kein Amt inne. Fonseca arbeitete aber auch unabhängig von Macky für die eng­ lische Regierung oder einzelne ihrer Mitglieder. An ihm ist also abzulesen, wie sich eher informelle Spione mit eher amtsförmig organisierten verbanden und dass es ein Kontinuum ­zwischen formaler und informeller Informa­tionsgewinnung gab. Während Macky ein reguläres jähr­liches Gehalt erhielt, musste Fonseca von der spezifischen und punktuellen Bezahlung einzelner geleisteter Spionagedienste plus hin und wieder zusätz­lichen Gratifika­tionen leben.572 Gleichzeitig musste er auf die Fürsprache einflussreicher Bekannter vertrauen.573 Dies hatte unter anderem damit zu tun, dass er Katholik war. Aus einem Brief Sunderlands an Cadogan geht hervor, dass die Regierung Fonseca zwar „favour, & protec­tion“ zukommen lassen wollte, dass aber „his religion renders him uncapable of ye rewards & encouragement he might have expected“574. Die einzige Mög­lichkeit, ihm wirk­lich zu nützen, bestehe also darin, ihm einen Posten in den Spanischen Niederlanden (und eben nicht in England) zu beschaffen.575 Fonseca assisted me verie much in the matter which I had the Honour to lay before your Lordship last Sunday“ (BL Add. 61601, 180r). 570 Vgl. Alsop, John Macky’s 1707 Account, 337; Snyder, Introduc­tion, XXX, Anm. 5. 571 Vgl. Fonseca an Marlborough, in: BL Add. 61365, 72r–81v. 572 Vgl. den Brief des Postmaster General Frankland an Sunderland, 30. Juli 1708, in: BL Add. 61601, 94r, in dem es heißt, dass Fonseca, weil er so gute Dienste geleistet habe, nicht nur „reimbursed“ werden solle, „but have some gratifica­tion“. Die Bezahlung ­Fonsecas lief wohl über Macky; dieser legte das Geld aus und ließ es sich aus dem Post Office zurückzahlen. Dies geht jedenfalls aus einem Brief Mackys an Sunderland vom 28. Februar 1708 hervor; siehe BL Add. 61601, 184r. 573 Offenbar war Fonseca relativ gut mit dem ehemaligen envoyé in den Spanischen Niederlanden (später in Savoyen), Richard Hill, bekannt, der am 12. April 1708 die Postmasters General bat, Fonseca den Kontakt zu Sunderland zu vermitteln. Siehe diesen Brief als Kopie in Harleys Korrespondenz mit Fonseca, BL Add. 70191, 18r. 574 Vgl. den Brief Sunderlands an Cadogan, 9. Mai 1709, in Kopie in der Korrespondenz Harleys mit Fonseca, BL Add. 70191, 17r. 575 Vgl. ebd.

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Offenbar erhielt Fonseca aber erst im Frühjahr 1710 eine Stellung innerhalb der Finanzverwaltung (conseil des finances) des Brüsseler Raad van State und trat schon aus d ­ iesem Grunde mit Marlborough in Verbindung.576 Vorher war Fonseca darauf angewiesen, seine Dienste für die eng­lische Regierung mög­lichst teuer zu verkaufen und sich die Patronage immer einflussreicherer Personen zu sichern: Auf Ermunterung Mackys schrieb er direkt an die Postmasters General,577 die er wiederum darum bat, den Kontakt zum für die Spanischen Niederlande zuständigen Secretary Sunderland herzustellen. Seine Situa­tion in drastischer Rhetorik ausmalend, schrieb er: „My Lord Sunderland being come to town, I desire you will do ye favour to represent my case his Lordship who I do not doubt but will consider ye time I have lost, & the expences I have made at ye peril of my life & ruine of my familly to do my native Country service. I am advised from Brussels & elsewhere yt ye French if they ketch me, will ­breake me upon ye wheele, and have ye Odium of all Ro. Catholicks & Jacobite fac­tion.“578

Zusätz­lich eröffnete Fonseca am 29. August 1707 aus Brüssel eine Korrespondenz mit Harley und berief sich ebenfalls auf Macky.579 Harley war in dieser Zeit Secretary of State im Northern Department, also für die protestantischen Staaten zuständig. Dass Fonseca auch ihm schrieb und ankündigte, ihn mit Newsletters aus Spanien und Frankreich versehen zu wollen,580 deutet auf dreierlei hin: erstens auf die nicht ganz klare Trennung der Kompetenzen des Northern und des Southern Secretary; 576 Jedenfalls finden sich in Marlboroughs Korrespondenz auch zwei Berichte aus ­diesem Zusammenhang, die von Fonseca mitunterzeichnet wurden. Vgl. BL Add. 61193, 122r–130v. Die Anstellung könnte auf Sunderlands Protek­tion zurückgegangen sein, der am 28. März 1710 Cadogan (den eng­lischen Vertreter in der niederländisch-­eng­lischen Regierung) darum bat, Fonseca einen Posten zu beschaffen; siehe BL Add. 61651, 213r. Fonseca hatte sich am 1. März bei Sunderland darüber beschwert, dass Cadogan nichts für ihn tue; offenbar hatte sich Sunderland schon vorher für Fonseca verwendet. Siehe Fonseca an Sunderland, 1. März 1710, in: BL Add. 61534, 193v. Siehe auch Fonseca an Sunderland, 30. März 1710, in: TNA SP 77/59, unpag. 577 Macky an Fonseca, 5. August 1707, in: BL Add. 70191, 9r: „at ye same time, yt you write to me, send such an other letter, to Mr. Waterhouse Secretary of ye Post office in London, because your letters are so well liked, & I am often out of town, the Court desires y.r letter may come to hande, as soone as possible.“ 578 Fonseca an den Postmaster General Thomas Frankland, 28. Oktober 1708, in: BL Add. 61601, 111r. 579 Vgl. Fonseca an Harley, 29. August 1707, in: BL Add. 70191, 1r. 580 Vgl. ebd., 1v.

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zweitens auf Harleys Ruf, an Spionageinforma­tionen besonders interessiert zu sein; drittens und am wichtigsten aber auf Fonsecas finanzielle Not. Offenbar war Fonseca einer der wichtigsten unter Mackys Spionen. Auch wenn er ihn in seinen „Memoirs“ nicht nament­lich erwähnt, dürfte es sich doch bei dem Spion, den Macky im Umkreis der Aufrüstungen von 1708 nach Dünkirchen sandte, um Fonseca handeln: „Mr. Macky sent an Inhabitant of the Country with a French Pass, under pretence of making some old Accompts with Pigault, a Merchant in Calais, to which Dunkirk was his Road, he very luckily fell in with the Troops on their March, that were designed for this Expedi­tion, and soon found they were bound for Scotland; he brought Mr. Macky the Name of every Battalion and every Ship, which Mr. Macky immediately transmitted to my Lord Sunderland then Secretary of State.“581

Die Hauptaufgabe Fonsecas war die Überwachung der Schiffsrüstungen im franzö­sischen Freibeuterhafen Dünkirchen, von dem im Frühjahr 1708 aus die jakobitische Invasion nach Schottland startete. Auch wenn er bereits vorher im Umkreis Cardonnels/Marlboroughs und auch des eng­lischen Gesandtschafts­ sekretärs John Lawes auftaucht,582 verdichtet sich doch Fonsecas Korrespondenz mit eng­lischen Regierungsmitgliedern ab dem Februar 1708. Fonseca ging selbst (inkognito) nach Dünkirchen, was nicht ungefähr­lich gewesen sein dürfte,583 und versorgte die eng­lische Regierung mit Zahlen und Namen franzö­sischer Kriegsschiffe, schickte Newsletters aus Frankreich weiter und stellte gesicherte Informa­ tionen und Gerüchte über das zusammen, was in Dünkirchen vorging.584 581 Memoirs of the Secret Services, XIV f. 582 Vgl. Cardonnel an Lawes, 3. Oktober 1707, in: BL Add. 61399, 9r: „I hear nothing yet of Mr. Fonseca who I should be glad to see here.“ Siehe auch Cardonnel an Lawes, 6. Oktober 1708, in: BL Add. 61400, 11v. 583 So schildert es jedenfalls der Postmaster General Thomas Frankland, der 1714 Fonseca ein „Certificate“ ausstellte, das ­diesem bescheinigte, sehr früh die Dünkirchener Rüstungen aufgedeckt zu haben. Darin heißt es: „I doe beleive that the Said Mr. Fonseca did run great hazard by goeing to Dunkirk in order to obtain those Informa­tions.“ Vgl. BL Add. 61604, 69r. 584 Vgl. Fonseca an Mowat (einen Mitarbeiter Mackys), 27. Februar 1708, in: BL Add. 61601, 182r–183r; Fonseca an Macky, 5. März 1708, in: ebd., 186r–187r; Fonseca an die Postmasters General Cotton und Frankland, 12. März 1708, in: ebd., 53r–v; Newsletter vom 9. März 1708, in: ebd., 55r–v; Fonseca an Cotton und Frankland, 14. März 1708, in: ebd., 57v–58v; F ­ onseca an Frankland und Cotton, 15. März 1708, 59r–v; Newsletter aus Paris, 12. März 1708, in: ebd., 60v.

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Obwohl Fonseca nicht der einzige Informant der Regierung über die Vorgänge in Dünkirchen oder in der Umgebung war (geschweige denn der einzige, der über die Reise des jakobitischen Pretenders nach Flandern berichtete, deren Zweck im Laufe des Februar und März immer klarer wurde), scheint er doch der Erste gewesen zu sein, der „certain advices“ gab. Dies geht jedenfalls aus einem – wiederum für Patronagezwecke zu verwendenden – „Certificate“ hervor, das der Postmaster General Frankland Fonseca 1714 ausstellte.585 Die Frage danach, ­welche Informa­tionen aus ­welchen Gründen der eng­lischen Regierung als ‚certain‘ erschien, erweist sich als nicht befriedigend beantwortbar 586 – in Kapitel 4.2 wird darauf zurückzukommen sein. In der Folgezeit verlegte sich Fonseca auch auf andere Spionageaktivitäten: Zum Beispiel sandte er Sunderland detaillierte Berichte über die Belagerung Lilles, die er mög­licherweise gemeinsam mit oder für Macky angefertigt hatte.587 Im Frühjahr 1710 schickte Fonseca wiederum an Sunderland einige Berichte über die Situa­tion der franzö­sischen Armee, aber auch über die militärische Lage in Spanien.588 Auch Marlborough berichtete er im Sommer 1710 über die militärische Situa­tion in Spanien.589 Harley, dem Fonseca sich bereits 1707 genähert hatte, wurde ebenfalls ab 1710 ein regelmäßiger Adressat, dem Fonseca – der offenbar weiterhin über gute Kontakte

585 Vgl. BL Add. 61604, 69r–v; Fonseca legte d ­ ieses Zertifikat 1720 Sunderland vor, um diesen wiederum zu einer finanziellen Unterstützung zu bewegen; siehe ebd., 67r–v. 586 Marlborough etwa verband die erste sichere Informa­tion über die Vorgänge in Dünkirchen mit dem südniederländischen Schatzkämmerer Pierre Gaspard van der Gote (siehe Letters and Dispatches, Bd. 5, 162). Snyder schreibt: „Van der Gote may have received the informa­tion in turn from John de Fonseca, who took credit for giving early notice of the Pretender’s invasion“ (Snyder, Introduc­tion, XXX, Anm. 5; siehe auch Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1298, 1504 f., 1638). Es ist sicher, dass Marlborough immer wieder Informa­tionen von van der Gote, dem einzigen pro-­­eng­lischen Mitglied des Brüsseler Staatsrats, erhielt; es ist mög­lich, dass Fonseca und van der Gote sich kannten; aber die Konjektur Snyders ist insgesamt dennoch sehr zweifelhaft. Die Informa­tionen Fonsecas liefen ja eindeutig über Macky und Sunderland. Van der Gote mag einen eigenen Informanten gehabt haben. 587 Vgl. Fonseca an Sunderland, 31. August 1708, in: BL Add. 61601, 229r–230v. 588 Vgl. Fonseca an Sunderland, 1. Februar 1710 und 27. Februar 1710, in: BL Add. 61534, 187r–v u. 191r–v. 589 Vgl. BL Add. 61314, Briefe vom 27. Juli 1710 (78r), 31. August 1710 (111v), 10. September 1710 (130r–v). In dieser Zeit erhielt Fonseca zweimal wöchent­lich Newsletters aus Madrid. Vgl. Fonseca an einen Secretary oder Under-­Secretary, 27. August 1710, in: TNA SP 77/59, 172v.

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nach Spanien verfügte – Newsletters von dort schickte.590 Unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen sah Fonseca zu Recht im Treasurer Harley den einflussreichsten Förderer; daher bemühte er sich gerade um seine Patronage.591 An Marlborough schrieb er nach 1710 nicht mehr – dies entspricht dem Machtverfall Marlboroughs wie dem Aufstieg Harleys. Am Beispiel Mackys und Fonsecas lässt sich also klar ablesen, dass und wie die Informa­tionsgewinnung der eng­lischen Regierung einerseits amtsförmig strukturiert und wo sich andererseits andere Strukturen an die Organisa­tionen der Regierung anlagerten. Formale und informelle Strukturen verschwimmen dabei nicht, aber sie kooperieren. Dies ist in vergleichbarer Weise auch im Bereich der diplomatischen Informa­tionsgewinnung zu beobachten. 3.3.2 Honorable espions: Diplomatische Informationsgewinnung 3.3.2.1 Marlborough und die englische Diplomatie um 1700

Informa­tion war das „raw material of diplomacy“.592 Diplomatische Korrespondenzen waren damit neben der Koopera­tion mit den Secretaries of State der zweite wichtige Amtskontext, in den Marlboroughs Informa­tionsgewinnung eingebettet war. In d ­ iesem Kapitel sollen also die diplomatischen Kanäle beschrieben werden, die Marlborough zur Informa­tionsgewinnung nutzte. Im ersten Schritt wird dabei überblicksartig Marlboroughs Korrespondenz mit eng­lischen Diplomaten in den Blick genommen. Im zweiten Schritt wird ein besonders eindrucksvolles Beispiel diplomatischer Informa­tionsgewinnung beschrieben: Am Beispiel des Brüsseler Gesandtschaftssekretärs John Lawes wird allerdings auch deut­lich werden, dass die diplomatischen Informa­tionskanäle, die Marlborough nutzte, nicht einfach Teil ‚seines‘ Informa­tionsgewinnungsdienstes waren, sondern auch andere Mitglieder der eng­lischen Regierung mit Informa­tionen versorgten. Insofern ist auch ­dieses Beispiel ein Beleg für die enge Koopera­tion mit den Secretaries of State. 590 Vgl. Fonseca an Harley, 24. September 1710, in: BL Add. 70191, unpag. sowie 28. Januar 1711, in: ebd., 7r, siehe auch ebd., 12v. Hier beschwert sich Fonseca auch über den eng­lischen Repräsentanten in Brüssel, Cadogan – dass er dies gegenüber Harley tut, verweist auf relative Vertrautheit mit den eng­lischen Gegebenheiten, denn Cadogan stand im Herbst 1710 bereits kurz vor seiner Rückberufung durch die neue Tory-­Regierung, der Harley vorstand. 591 Vgl. Fonseca an Harley, undatiert (1711?), in: BL Add. 70191, 21r–v. 592 Roosen, Age of Louis XIV, 129; vgl. generell ebd., 129 – 161 sowie: Bély, Espions, 49 – 286.

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Die Übergänge z­ wischen Diplomatie und Spionage waren um 1700 relativ fließend.593 Insofern steht neben der oft zitierten Trias diplomatischer Aufgaben – Repräsenta­tion, Verhandlung und Informa­tionsbeschaffung – eine andere: „lie, spy, bribe“594. Obwohl sich in der Diplomatietheorie um 1700 ein wachsendes Bewusstsein für die durchaus auch strate­gische Bedeutung von Ehr­lichkeit und Offenheit zeigt,595 wird doch die Idee des Diplomaten als honorable espion in den Diplomatietraktaten um 1700 geradezu topisch artikuliert, so etwa bei Callières: „On appelle un Ambassadeur un honorable Espion; parce que l’une de ses principales occupa­tions est de découvrir les secrets des Cours òu il se trouve, & il s’acquitte mal de son emploi, s’il ne fait pas faire les dépenses necessaires pour gagner ceux qui sont propres à l’en instruire.“596

Abraham de Wicquefort kennzeichnete als Spion im engeren Sinne denjenigen Diplomaten, der sich heim­lich dem Empfängerland und damit dem potentiellen Feind andiene. Tue er dies nicht, sondern gehe seinen Aufgaben loyal nach, dann sei er zwar auch ein Spion, aber eben ein ehrenhafter: „Quand on dit que l’Ambassadeur est un espion honorable, on entend parler de celui qui sert son maistre, & non de celui qui le trahit. Hors cette fonc­tion honnorable, le mestier d’espion est infame, & celui qui s’en mesle est pendable.“597

Die bereits erwähnte mora­lische Ambivalenz von Spionage wurde auf diese Weise erkannt, gleichzeitig aber stillgestellt. Dies lag selbstverständ­lich daran, dass man ihr Nütz­lichkeit unterstellte. Gerade bei der Vorbereitung von Verhandlungen wie auch im Krieg, so Callières, sei das für Spionage aufgewendete Geld besonders gut angelegt – ein Argument, das auch Marlborough im Winter 1711 verwendete. 593 Vgl. auch: Opitz, Diplomacy, v. a. 68. 594 Thompson/Padover, Secret Diplomacy, 57. Zu den diplomatischen Aufgaben siehe: K ­ ugeler, „Le parfait ambassadeur“, 182. – Zum Verhandeln siehe Waquet, Verhandeln sowie Köhler, Strategie und Symbolik; zum Komplex diplomatischer Repräsenta­tion siehe: Krischer, Souveränität; Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial. 595 Vgl. Anderson, Rise of Modern Diplomacy, 45 f.; Externbrink, Kommunika­tion, 160. Siehe zu den zeitgenös­sischen Sichten auf die Diplomatie auch: Hönn, Betrugs=Lexicon, Art. „Abgesandte“, 1 – 3. 596 Callières, De la manière de négocier, 24. 597 Wicquefort, L’Ambassadeur, 133.

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„Il vaudroit beaucoup mieux qu’un General eût un Regiment de moins dans son armée, & qu’il fût bien instruit de l’état et du nombre de l’armée ennemie & de touts ses mouve­ mens: & qu’un Ambassadeur retranchât de ses dépenses superfluës, pour employer ce fond à decouvrir ce qui se passe dans le Conseil du Pays où il se trouve.“598

Wie sah der eng­lische diplomatische Dienst um 1700 aus? In England hatte sich erst mit dem verstärkten Engagement auf dem Kontinent seit der Glorious Revolu­tion die Diplomatie verstetigt und verdichtet.599 Doch trotz dieser Entwicklung sollte man für die Zeit um 1700 ihre Professionalität nicht überschätzen: Diplomatische Rollen waren kaum oder nur schwach gegenüber anderen sozia­len Rollen, etwa der adligen, ausdifferenziert. Eine fachspezifische Ausbildung und ein distinktes Berufsethos existierten praktisch noch nicht.600 Eine ‚Professionalisierung‘ der Ausbildung bestand auch in anderen euro­päischen Staaten kaum, nicht einmal im Vorreiterland Frankreich.601 Die hohen Diplomaten – also vor allem diejenigen mit Ambassadeursrang – waren Adlige, um 1700 zudem oft Militärs.602 „Diplomatie war nur in Ansätzen ein Amt und keinesfalls eine Berufslaufbahn.“603 Dies galt besonders auch für England. Wenn also die im engsten Sinne diplomatische Informa­tionsgewinnung hier im Kontext formaler Strukturen erörtert wird, so geschieht dies nicht aus einer Überschätzung des Organisa­ tionsgrades und des Amtscharakters von Diplomatie um 1700, sondern allein deshalb, um sie typolo­gisch von nicht-­amtsförmigen, netzwerkartigen, informellen Strukturen abzusetzen. Dies ist sinnvoll, will man in einem zweiten Schritt deren Verflechtung in den Blick bekommen. Schaut man etwa vom Gesichtspunkt des Zeremoniells auf die Diplomatie um 1700, ist ihr nicht-­organisa­ tionsförmiger Charakter einigermaßen offenkundig, weil in ihr weniger Dienst und Amt als Status und s­ ozia­le Schätzung verhandelt wurden.604 Will man allerdings genauer bestimmen, wie die eng­lische Regierung die Gewinnung von 598 Callières, De la manière de négocier, 23. 599 Vgl. Scott, Britain’s Emergence, 432; Recker, Wilhelm III., 85. Zum eng­lischen diplomatischen Dienst siehe: Black, British Diplomats; Horn, British Diplomatic Service. Zu einer relativ typischen Diplomatenkarriere um 1700 vgl. Hartley, Charles Whitworth; siehe auch: Jacobsen, Luxury and Power. 600 Die generelle These, dass man die Professionalität der Diplomatie bis etwa 1800 nicht zu hoch ansetzen sollte, formuliert Thiessen, Diplomatie vom type ancien, 499 – 502. Als knappen euro­päischen Überblick siehe auch: Müller, Klaus, Diplomatie. 601 Vgl. dazu: Klaits, Men of Letters; Schweizer, François de Callières. 602 Vgl. Black, Évolu­tion, 143; Duchhardt, Balance of Power, 28. 603 Köhler, Strategie und Symbolik, 105; siehe auch ebd., 161. 604 Vgl. Krischer, Souveränität, v. a. 25.

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Informa­tion organisierte, besteht eben doch ein Unterschied ­zwischen formaleren und informelleren Informanten, ­zwischen solchen, die als offizielle Diplomaten agierten, und solchen, die dies nicht taten. Wenn auch während Annes Regierungszeit Gesandte vom Cabinet ernannt wurden, nahm doch Marlborough über weitläufige Patronagebeziehungen großen Einfluss auf die Besetzung des diplomatischen Personals.605 Dieser Einfluss nahm erst im Zuge seines Machtverlustes um 1710 ab.606 Entsprechend der Teilung z­ wischen den beiden Secretaries of State wurden die Diplomaten dem Southern oder dem Northern Department zugeteilt. Marlboroughs Einfluss im Northern Department, zu dem die wichtigsten und begehrtesten Posten Wien und Den Haag gehörten, war größer als im süd­lichen; doch auch auf d ­ ieses erhielt M ­ arlborough mit der Ernennung seines Schwiegersohns Sunderland ab 1706 erheb­lichen Einfluss.607 Marlboroughs Rolle innerhalb der eng­lischen Diplomatie lag vor allem in der Koordina­tion der verschiedenen euro­päischen Regionen und Kriegsschauplätze sowie strate­gischer und politischer Entscheidungen.608 Marlborough koordinierte aber nicht nur; er war selbst Diplomat. Er wurde im Zuge der Allianzverhandlungen im Haag akkreditiert und blieb bis 1711 Ambassadeur. Gleichzeitig war er Ambassador General und als solcher Primus inter pares. In dieser Posi­tion unterhielt er engste Kontakte zu den eng­lischen Diplomaten in den verschiedenen Ländern. Im Haag allerdings war er naturgemäß fast nie anwesend und wurde meist durch zeremoniell minder wichtige Residenten vertreten.609 1709 wurde mit Charles Townshend ein zusätz­licher Ambassadeur in den Niederlanden ernannt. Ob dies bereits mit einer beginnenden Entfremdung Marlboroughs von der Regierung zu tun hat, die Townshend sozusagen als ‚Wächter‘ M ­ arlboroughs nach Den Haag gesandt habe,610 scheint mir angesichts der klaren Regierungsunterstützung vor dem Tory-­Wahlsieg von 1710 unwahrschein­licher als die Mög­ lichkeit, dass die häufige Abwesenheit Marlboroughs vom Haag angemessen kompensiert ­werden sollte.611 605 Eine Auflistung aller eng­lischen Diplomaten dieser Zeit findet sich bei: Horn, British Diplomatic Representatives. 606 Vgl. Snyder, Diplomatic Service, 63. 607 Vgl. Lane, Diplomatic Service, 105; Snyder, Diplomatic Service, 48. 608 Vgl. Hattendorf, Churchill, 620. 609 Vgl. Snyder, Diplomatic Service, 48. 610 Vgl. Reese, Ringen um Frieden, 189. 611 Wenn Marlborough im Haag war, schrieb er seine Berichte gemeinsam mit ­Townshend an die Secretaries of State. Vgl. etwa: Letters and Dispatches, Bd. 4, 645 f., Brief vom 5. November 1709 an Sunderland von Townshend und Marlborough gemeinsam.

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Marlboroughs diplomatische Missionen spielten sich eher auf Reisen ab. Neben seinen Feldzügen war Marlborough oft auf Reisen durch Europa: nach Wien, nach Hannover, nach Berlin und Den Haag. Er stand in ständigem brief­lichem Kontakt sowohl mit Prinz Eugen 612 als auch mit dem De-­facto-­Außenminister der Generalstaaten, Heinsius.613 Die Zeitgenossen sahen in Marlborough die zentrale Figur für den Zusammenhalt der Allianz.614 Er korrespondierte mit allen wichtigen Akteuren der ersten und auch der zweiten Reihe, mit eng­lischen Diplo­maten, mit den auswärtigen Souveränen und ihren wichtigsten Beratern und galt deshalb zeitgenös­sisch als Politiker „to whom the secrets of all the courts in Europe were known“615. Der Informa­tionsfluss unter den eng­lischen Gesandten lief über die Zirkularbriefe: Alle Gesandten waren gehalten, einmal in der Woche die Londoner Regierung wie auch alle anderen Gesandten über den letzten Stand der Dinge zu informieren.616 Dies unterschied die eng­lischen Gesandten von anderen, etwa den preußischen, die explizit nicht miteinander korrespondieren sollten.617 Diese dezentrale Struktur, die idealiter allen Gesandten eine identisch gute Informa­ tionssitua­tion ermög­lichte, besaß aber ein Zentrum, auf das sie ausgerichtet blieb: die Londoner Secretaries of State, die die Informa­tionen unter anderem für die regierungsamt­liche London Gazette auswerteten, sich mit ausländischen Gesandten besprachen 618 und schließ­lich auch die Newsletter-­Korrespondenz koordinierten. Marlborough war in dieser Konstella­tion sowohl Empfänger von Nachrichten als auch selbst Sender. Er stand als Ambassadeur in engem Kontakt mit den Secretaries of State und den anderen Gesandten, denen er als Ambassador General 612 Vgl. Otruba, Prinz Eugen; Schmidt, Prinz Eugen. 613 Vgl. Veenendaal, Marlborough and Anthonie Heinsius. 614 Vgl. Hattendorf, England, 266: „As a court favorite, key diplomat and victorious general, Marlborough was regarded by many as the cement of the alliance.“ 615 Coxe, Memoirs, Bd. 2, 98. 616 Diese Briefe sind allerdings zu unterscheiden von den ebenfalls als ‚circular‘ bezeichneten Briefen, die Cardonnel als Berichte aus dem Feldlager an die Regierung schickte. 617 Vgl. Naujokat, England und Preußen, 7 f.; Frey/Frey/Rule, Introduc­tion, XXVI. Allerdings tendierten Annes Staatssekretäre dazu, separate Berichte ihrer Diplomaten anzufordern, während unter Wilhelm III. die diplomatische Korrespondenz im Cabinet Council vorgelesen wurden. Vgl. Onnekink, Britain, 33. Für eine Typologie des diplomatischen Schriftguts siehe auch: Wild, Formen. 618 Im Zusammenhang mit der Jakobiteninvasion wurde der niederländische Gesandte Vrijberge sogar zu einer Kabinettssitzung zugelassen; vgl. Sunderlands Protokoll in: BL Add. 61498, 127r. Zur Rolle ausländischer Gesandter vgl. auch: Jarnut-­Derbolav, Österreichische Gesandtschaft.

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seinerseits Anweisungen geben konnte. Gleichzeitig war er Captain-­General und als solcher formal Befehlsempfänger der Königin respektive ihrer Secretaries und damit Akteur innerhalb eines komplexen Netzes von diplomatischer Kommunika­ tion. Die intrikate und hinsicht­lich der „Amts“-Kompetenzen wiederum nicht ganz geklärte Situa­tion, die aus Marlboroughs Sonderrolle entstand, wird deut­lich, wenn Marlborough angesichts seiner Überlegung, sich aus dem diplomatischen Geschäft zurückzuziehen, an Godolphin schreibt: „I am withdrawing myself, as fast as the Service will permit, out of all that sort of intelligence with the foraine courts, so that it may naturally fall into the hands of the two Secritarys.“619 Inhalt­lich war die generelle politisch-­militärische Strategie Englands während des Spanischen Erbfolgekriegs, auf die sich im Wesent­lichen auch die Bemühungen der Diplomatie erstreckten, darauf gerichtet, durch die Eröffnung mehrerer Kriegsschauplätze die franzö­sischen Kräfte aufzuspalten. Dissens herrschte allerdings über die Chancen und Risiken eines Einmarsches in Frankreich, vor allem aber über die Frage einer Invasion in Frankreich von der Mittelmeerseite aus. Marlborough selbst tendierte dazu, den Krieg (auch den Krieg in Spanien) letzt­lich durch einen vollständigen Sieg auf den flämischen Schlachtfeldern entscheiden zu wollen.620 Dass dieser Plan nicht aufging, ist bekannt. Die verschiedenen Länder, in die England Diplomaten entsandte und über deren politische Ziele, ihre höfischen Kabalen, ihre religiösen Probleme ­Marlborough und auch die eng­lische Regierung sich informieren ließen, spielten natür­lich unterschied­lich gewichtige Rollen innerhalb der eng­lischen Kriegs­ politik. Zentraler Bündnispartner waren die Generalstaaten, und Den Haag galt zeitgenös­sisch als ein wichtiger Nachrichtenumschlagplatz, „the centre of business and intelligence“621. Den für die Koopera­tion innerhalb der Allianz wichtigsten Botschafterposten im Haag hatte, wie gesagt, Marlborough selbst inne; seine Korrespondenz mit Heinsius wird unten behandelt.622 619 Marlborough an Godolphin, 25. Mai/5. Juni 1710, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1506; Godolphins abwehrende Reak­tion siehe ebd., 1508 f. 620 Vgl. Hattendorf, English Grand Strategy; Jones, Marlborough, 163; Snyder, Formula­tion, 149. 621 So die Formulierung Robert Harleys 1710, siehe Mr. Harley’s Plan of Administra­tion, 30. Oktober 1710, in: Miscellaneous State Papers, Bd. 2, 485 – 488, hier 485. Die Kehrseite ­dieses Befundes ist der Umstand, dass wegen ihrer politischen Dezentralität und der hohen Anzahl beteiligter politischer Akteure den Niederlanden ein eklatanter Mangel an Geheimhaltung attestiert wurde. Vgl. Franken, General Tendencies, 23; Gestrich, Absolutismus, 88 f.; dieser schon zeitgenös­sische Befund wird von de Bruin, Geheimhouding, auf vielfältige Weise differenziert und relativiert. 622 Vgl. Kapitel 3.4.1.

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Während es in den Beziehungen mit dem ­Kaiser eher darum ging, die an sich gute Zusammenarbeit – Marlborough galt geradezu als „the Emperor’s man in London“ – nicht durch Irrita­tionen welcher Art auch immer zu stören,623 war es im Falle Preußens Englands wichtigstes Ziel, das neue Königreich davon abzuhalten, auch nur mit dem Gedanken zu spielen, in den Nordischen Krieg einzutreten.624 Die Koopera­tion mit Hannover hatte (neben der Bindung, die sich durch die Sukzessionsregelung in England ergeben hatte) auch den unter dem Aspekt der Informa­tionsgewinnung wichtigen Effekt, dass die eng­lische Regierung so vergleichsweise effektiv an die Korrespondenz z­ wischen Paris und den franzö­sischen Gesandten im Norden und Osten Europas gelangte.625 Vom Celler cabinet noir war schon die Rede, sein Organisator Robethon wird unten noch eingehender vorgestellt. Im Reich war darüber hinaus auch der Frankfurter Resident bei den Reichskreisen, Davenant, ein wichtiger Informant über die deutschen Angelegenheiten (er vermittelte wohl ­zwischen Ludwig von Baden und Marlborough und hielt Marlborough auf dem Laufenden über den Reichsgeneralfeldmarschall 626). Auch in Russland hatte England einen Gesandten (sogar einen Ambassadeur), dessen Aufgabe es war, die Politik Peters des Großen zu beobachten – war ­dieser doch die beste Garantie dafür, dass die Kräfte Karls XII. von Schweden im Nordischen Krieg gebunden waren und eine Vermischung beider Kriege nicht zu erwarten war.627 Marlborough äußerte 1707: „It is better that the King of Sweden turns his arms against the Czar rather than stay to cause trouble for the Allies.“628 Die Schweizer Orte galten auch wegen der Nähe zu Frankreich als wichtige Informa­tionszentren.629 Der Marquis d’Arsellières, der als eng­lischer Gesandter ohne Rang in Genf arbeitete, war als Hugenotte ein Verbindungsmann zu den franzö­sischen Protestanten in den Cevennen. Er agierte als Paymaster, der die alliierten Hilfszahlungen an die Camisarden weiterleitete,630 und verschaffte 623 Vgl. Hochedlinger, Friendship. Zur Reichstagsgesandtschaft siehe: Schütz, Gesandtschaft. 624 Vgl. Naujokat, England und Preußen; Kroener, Only thing. Siehe auch unten die Bemerkungen zu Grumbkow. 625 Vgl. Bély, Espions, 140 – 142. 626 Vgl. BL Add. 61154, 53r–56v. 627 Vgl. Hartley, Charles Whitworth. 628 Zitiert nach: ebd., 65. Daneben sollte der Ambassadeur Whitworth aber auch generell landeskund­liche Informa­tionen über „that unknown country“ (ebd., 89) geben. 629 Marlborough war der Ansicht, dass gerade für die Informa­tionsgewinnung diese Region besonders wichtig sei. Vgl. Storrs, British Diplomacy. Siehe auch Godolphin an Harley, 27. September 1704, in: Calendar of the manuscripts of the Marquis of Bath, Bd. 1, 63. 630 Vgl. Storrs, British Diplomacy, 14; The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 576, Anm. 4.

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­ arlborough und Godolphin Informa­tionen über die südfranzö­sischen Zustände M und vor allem über Größe und Bewaffnung der franzö­sischen Flotte.631 Trotz dieser Bedeutung trat die Schweiz in den diplomatischen Erwägungen der eng­ lischen Regierung hinter Savoyen zurück: Von Savoyen aus konnte relativ leicht Kontakt mit südfranzö­sischen Aufständischen aufgenommen werden, von hier aus sollte ein Einfall von der Mittelmeerseite geschehen. Savoyen war aber auch deshalb wichtig für England, weil die Habsburger in der zweiten Kriegshälfte, zumal nach dem Erreichen einiger Ziele in Italien, immer weniger ener­gisch gegen Frankreich auftraten.632 Von umso größerer Bedeutung war es, dass die eng­lische Regierung, anders als die anderen Alliierten, während des gesamten Krieges einen Gesandten in Turin beschäftigte.633 Der eng­lische envoyé Hill beschäftigte sich stark mit der Frage, wie ein protestantischer Aufstand in Südfrankreich anzuregen und zu unterstützen sei,634 und auch Marlborough befasste sich immer wieder mit ­diesem Problem, oft auch in Koopera­tion mit den Secretaries.635 Im Rahmen der Informa­tionsgewinnung Marlboroughs war Hills Nachfolger Chetwynd noch wichtiger, der sich in auffälliger Weise bei der Beschaffung von Newsletters über die Situa­tion in Südfrankreich und bei der Entsendung von Spionen nach Frankreich engagierte, gerade in der Zeit der Vorbereitung der dann gescheiterten Toulon-­Expedi­tion.636 Im Mittelmeerraum wurden, komplementär zum Gesandten in Savoyen, auch Konsuln als Informanten genutzt.637 Diese auch wirtschaftspolitischen Akteure, die in anderen Kontexten zentrales diplomatisches Gewicht besaßen,638 631 Vgl. seinen Brief an Marlborough, 4. Juli 1704, in: BL Add. 61145, 10r–13r. Siehe zu ihm auch Godolphin an Marlborough, 5. Juni 1706 und Marlboroughs Antwort, 6./17. Juni 1706, in: The Marlborough-­Godolphin-­Correspondence, Bd. 1, 576 f. 632 Vgl. Symcox, Britain, 166 f. 633 Vgl. Onnekink, Anglo-­D utch Diplomatic Coopera­tion, 57. 634 Vgl. Boles, Huguenots, 104 – 108. Richard Hill war sich allerdings auch bewusst, dass den hugenottischen Projektemachern oft nicht zu trauen sei und es ihnen auch immer darum ging, für sich selbst Geld zu ergattern: „there is a great difference between the zeal of a Camisard in the coffee-­houses of London, and on the frontiers of Languedoc“ (The Diplomatic Correspondence of the Right Hon. Richard Hill, Bd. 1, 386, Brief an den Secretary Hedges, 4./15. Juli 1704). 635 Vgl. BL Add. 61258; BL Add. 61648. 6 36 Vgl. BL Add. 61151 (die Korrespondenz Chetwynd-­Marlborough), z. B. 118r–119r; 151v und passim. Zu Toulon siehe zuletzt: Paoletti, Prince Eugene. 637 Vgl. Fraser, Intelligence, 5. 638 Vgl. als Einstieg in ­dieses Forschungsfeld nur: Poumarède, Consuls; Ulbert/Le Bouedec (Hrsg.), La fonc­tion consulaire.

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spielten für Marlborough (und sein alles beherrschendes Interesse am flämischen Kriegsschauplatz) eine deut­lich untergeordnete Rolle, auch wenn nordund südniederländische Konsuln durchaus gelegent­lich als Informanten in Erscheinung traten.639 Bedeutender waren aber die Konsuln in Italien. Im Zuge der Vorbereitung der Toulon-­Expedi­tion 1707, also des Angriffs auf Frankreich vom Mittelmeer aus, häufen sich in der Sunderland-­Korrespondenz Briefe des eng­lischen Konsuls in Venedig, George Broughton, der mit den kaiser­lichen Truppen in Neapel in Verbindung stand und Kontakte in den Kirchenstaat und nach Savoyen besaß.640 Wie nun gelangten die eng­lischen Diplomaten an Informa­tionen? Sie besuchten Audienzen, sprachen mit Herrschern und Politikern, aber auch mit Untertanen der Länder, in denen sie akkreditiert waren; sie lasen die gedruckte Presse sowie handschrift­liche Zeitungen – die sie deut­lich ernster nahmen als die Presse.641 Doch sie unterhielten oder organisierten auch Informa­tions- oder Spionagenetzwerke.642 Welche Art von Informa­tionen die eng­lischen Diplomaten sammelten, ist leicht und zugleich schwer zu beantworten. Die Herrscher wiesen ihre Diplomaten an, ihre Aufmerksamkeit breit zu streuen. Es wurde also sehr viel und über sehr vieles berichtet: von Politik über Hofklatsch, vom Gesundheitszustand der Herrscher bis hin zum Na­tionalcharakter des Landes.643 Die inhalt­liche Seite der Informa­tion, die Marlborough von eng­lischen Diplomaten aller Ränge erhielt, ließe sich nur narrativ darstellen, würde aber der strukturellen Skizze kaum etwas hinzufügen. Daher verzichte ich auf inhalt­liche Details. Ein Leseeindruck ist aber der, dass die Korrespondenz mit den Diplomaten für militärische oder politische Planungen weniger wichtig gewesen sein dürfte als die von deren Spionagenetzen oder Korrespondenten angefertigten Berichte über Detailprobleme. Angesichts von Fremdheitserfahrungen und kultureller Differenz ist die in der Forschung geäußerte Vermutung nicht abwegig, dass Gesandtenberichte zuweilen einer gewissen Wahrnehmungsverzerrung 639 Siehe den Brief des Amsterdamer Konsuls Joseph Kerby an Cardonnel, 30. Juni 1703, in: BL Add. 61412, 232r–v. John Macky bemühte sich 1709/10, allerdings erfolglos, um die Stellung eines südniederländischen Konsuls; auch dies zeigt die Nähe ­zwischen Informa­tionsgewinnung und Konsulsamt. Siehe den Brief Mackys an Sunderland, 23. Februar 1709/10, in: BL Add. 61601, 191r. 640 Vgl. z. B. BL Add. 61534, 95r–v; 98. 641 Vgl. zur Lektüre handschrift­licher Newsletters durch eng­lische Diplomaten siehe: Frey/ Frey/Rule, Introduc­tion, XXII f.; Fraser, Intelligence, 41. Siehe zur gedruckten Zeitung: Friedrich, Beobachten und beobachtet werden, v. a. 169 – 171; Gestrich, Absolutismus, 83; siehe zum Umkreis Diplomatie und Druck auch: Bosbach, Gedruckte Informa­tionen. 642 Vgl. Bély, Espions, 116; Hattendorf, England, 46. 643 Vgl. auch: Roosen, Age of Louis XIV, 143 – 147.

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unterlagen oder „Scheinempirie“644 darstellten, die stereotype Wahrnehmungsmuster eher bestätigte als nuancierte. Auffälliger aber sind bei der großen Vielzahl und Diversität von Informa­tionen, die eng­lische Diplomaten während des Spanischen Erbfolgekrieges beschafften, die relativ große Unvoreingenommenheit und die positivistische Faktenberichterstattung, zu der sich natür­lich bestimmte ­Themen eher eigneten als andere: Wenn die Diplomaten oder ihre Mitarbeiter nicht über Na­tionalcharaktere, sondern über Schiffszahlen berichteten, schlichen sich weniger leicht Deutungsmuster des Eigenen und Fremden ein. Callières schrieb, banal aber schlagend: „Pour découvrir ce qui se passe dans un pays étranger, il faut savoir par qui & comment.“645 Während sich eng­lische Diplo­ maten in den verbündeten und neutralen Staaten unter anderem mit Informa­ tionsgewinnung beschäftigten, blieben Frankreich, die süd­lichen Niederlande (beziehungsweise ab 1706 deren spanisch-­franzö­sische Teile) sowie Spanien selbst für die eng­lische Regierung relativ intransparent. Es ist trivial und dennoch zentral, dass die Länder und Höfe, die während des Spanischen Erbfolgekrieges die eng­lische Regierung am meisten interessierten, nicht mit eng­lischen Diplomaten besetzt werden konnten. Diese Regionen mussten weitgehend auf anderem Wege erkundet werden. Während für Frankreich das Fehlen einer diploma­tischen Vertretung in hohem Maße durch hugenottische Spionagedienste kompensiert werden konnte,646 galt der Kriegsschauplatz Spanien unter dem Aspekt der Informa­ tionsgewinnung als besonders problematisch. Obwohl Sunderland ­Marlborough in hohem Maße auch mit privaten oder kommerziellen News­letters von der Iberischen Halbinsel versorgte, war doch Marlboroughs Interesse derart auf Frankreich und Flandern gerichtet, dass er – wie er nach dem Krieg selbst zugab – die News­letters aus Spanien nur sehr selektiv zur Kenntnis nahm.647 Wichtiger war ihm der Versuch, durch Spionage im Grenz- und Kriegsgebiet, vor allem in Flandern, die black box der feind­lichen Staaten zu durchleuchten. Dies soll an einem besonders prägnanten Beispiel untersucht werden. 3.3.2.2 John Lawes berichtet aus Brüssel

Nachdem die alliierte Armee in der Schlacht von Ramillies und in den darauffolgenden Monaten große Teile Flanderns erobert hatte, wurde in den besetzten süd­lichen Niederlanden als Übergangslösung ein niederländisch-­eng­lisches 644 Reinhard, Historische Anthropologie, 58. 645 Callières, De la manière de négocier, 72. 646 Siehe unten, vor allem Kapitel 3.4.3. 647 Vgl. Ashley, Marlborough, 65 f.

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Kondominat eingeführt.648 Der Brüsseler Staatsrat stand ab 1707 unter der Oberherrschaft der beiden Alliierten. Der vorherige Wiener Gesandte George Stepney wurde 1706 als envoyé extraordinaire in Brüssel (wie auch im Haag) akkreditiert.649 Nach seinem Tod 1707 fielen beide Posten an William Cadogan, Marlboroughs Quartermaster-­General – ein Indiz dafür, dass Marlborough die Oberhoheit in Brüssel behalten wollte, aber auch dafür, dass die Stelle einige militärische Relevanz besaß.650 Cadogan gelang es innerhalb kürzester Zeit, sich wegen Grobheit, administrativer Konfusion und Bestech­lichkeit unbeliebt zu machen. Seine „Gewinnsucht“ war in der Tat zeitgenös­sisch berühmt,651 und diese Reputa­tion bestand wohl zu Recht.652 Diese Disposi­tion war umso schlimmer, als die Koopera­ tion der Alliierten im Kondominat sich (auch wegen der Kommunen, die sich ­zwischen alten und neuen Herren zu posi­tionieren suchten) dauerhaft schwierig gestaltete.653 Die Niederländer beklagten sich bei der eng­lischen Königin über Cadogan und in geringerem Maße auch über Marlborough.654 Intern hieß es sogar: „We should be happier to be governed by the Turks than by that British theif (!) Cadogan.“655 Ab dem Sommer 1710, mit dem Regierungswechsel, geriet Cadogan auch von London her unter Beschuss. Er versuchte zwar noch, bei seinem Freund, dem neuen Secretary of State St. John, zu intervenieren – auch indem er auf die Nütz­lichkeit 648 Vgl. Veenendaal, Het Engels-­Nederlands condominium. Diese Übergangslösung entspricht den Charakteristika einer Okkupa­tionssitua­tion (allerdings in ­diesem Fall durch Allianztruppen), die Horst Carl systematisiert hat: Carl, Militärische Okkupa­tion. 649 John Macky charakterisierte ihn folgendermaßen: „No Englishman ever understood the Affairs of Germany so well, and few Germans better“: Memoirs of the Secret Services, 142. 650 Vgl. Veenendaal, Het ontslag, 476 f. Die beste biographische Skizze bei: Hanham, Cadogan. 651 Art. „Cadogan, Wilhelm“, Sp. 54. 652 Vgl. Davies, Seamy Side; siehe jüngst auch: Graham, Auditing Leviathan. 653 Vgl. exemplarisch das Memorandum Marlboroughs und der Generalstaaten zum Zustand der süd­lichen Niederlande, 11. März 1709, in: TNA SP 77/58, 18r. 654 Vgl. die Klagen des Staatsrats gegen Cadogan an Anne, 24. Februar 1711, in: Veenendaal, Het Engels-­Nederlands condominium, 283 – 292. Veenendaal, Het Engels-­Nederlands condominium, 137, macht als proeng­lische Ausnahme den südniederländischen Schatzkämmerer Pierre Gaspard van der Gote namhaft, der in der Tat ein wichtiger Vertrauens­ mann war; doch selbst er schrieb pikiert (?), er brauche Marlborough nichts über Flandern zu berichten, „parce que M. Cadogan luy en peut rendre un compte tres iuste en ayant une connoissance plus parfaite que ceux qui y ont este long-­temps“ (van der Gote an Marlborough, 16. April 1708, in: BL Add. 61195, 59r). 655 Zitiert nach: Veenendaal, Het ontslag, 487.

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hinwies, die ein Marlborough nahestehender eng­lischer Repräsentant bringe.656 Dieses Argument war allerdings gegenüber den Tories 1710 nicht mehr opportun. Ende 1710 wurde Cadogan abgesetzt. Doch in den Jahren z­ wischen 1706 und 1710 agierte er als Organisator oder zumindest als Schirmherr der diplomatischen Informa­tionsgewinnung in den süd­lichen Niederlanden. Brüssel wurde im Zeitraum ab 1706 für die Alliierten nicht nur ein politisches Zentrum; es wurde auch als Knotenpunkt antifranzö­sischer Spionage ausgebaut. Hier spielte die Postinterzep­tion François Jaupains 657 eine bedeutende Rolle, daneben aber auch die im engeren Sinne diplomatische Informa­tionsgewinnung, die in Marlboroughs Umkreis installiert wurde. In der spär­lichen Forschung dazu wird immer wieder Cadogans Rolle hervorgehoben, der ja ohnehin – weithin ohne Belege – als „chief of intelligence and master spy“ Marlboroughs oder gar als „the Allies‘ director of intelligence“ gilt.658 Wenn dies zutrifft, dann vor allem im engeren militärischen Bereich der Rekognoszierung.659 Für die politische und diplomatische Spionage mittels Interzep­tion und Spio­ nen war Cadogan erst ab 1707 zuständig, seit er in Brüssel auch diplomatische Aufgaben wahrnahm. Der einzige Artikel, der sich explizit mit Cadogans ‚Geheimdienst‘ in dieser Zeit befasst, ist eher hagiographisch ausgerichtet und unterlässt den Hinweis darauf, dass es weniger Cadogan war, der die in der Tat eindrucksvolle eng­lische Spionageaktivität in Flandern nach 1707 organisierte,660 sondern sein Gesandtschaftssekretär John Lawes. Wo dies in der Literatur bemerkt wird, geschieht das auf derart beiläufige Weise, dass sein Vorname aus unerfind­lichen Gründen von „John“ zu „William“ wird.661 Mit John Lawes ist also ein unbekannter und für einige Jahre äußerst wichtiger Akteur der Informa­tionsgewinnung in Marlboroughs Umkreis zu entdecken. Dass Lawes die eng­lische Spionage in Flandern koordinierte und nicht Cadogan, ist nicht untypisch. Zwar befassten sich auch die Ambassadeure mit

656 Vgl. Cadogan an St. John, 23. Oktober 1710, in: TNA SP 77/59, 242r–244r. Nach seiner Absetzung bat Cadogan St. John um seine Protek­tion; vgl. seinen Brief vom 5. Januar 1711, in: TNA SP 77/59, 300r–v. 657 Siehe Kapitel 3.4.2. 658 Zitate: Watson, Marlborough’s Shadow, XII u. 98; vgl. auch: Holmes, Marlborough, 214; Churchill, Marlborough, Bd. 1, 466. 659 Siehe Kapitel 3.3.3. 660 Vgl. Dickson, Cadogan’s Intelligence Service. Dicksons Artikel kommt ohne Belege aus und ist ein Beispiel von vielen für die von halbprofessioneller Seite betriebene, latent hagiographische Militär- und Spionagegeschichte. 661 Vgl. Frey/Frey/Rule, Introduc­tion, X.

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Informa­tionsgewinnung, oder besser: mit ihrer Organisa­tion. Meist waren es aber eher untere Chargen, die die praktische Arbeit der Informa­tionsgewinnung übernahmen.662 Der eng­lische Resident in Frankfurt, Davenant, beschwerte sich geradezu darüber, dass der Residentenrang einen „inactive character in Politics“ darstelle: „ministers of that rank being onely emploid in writing of news“663. Lawes war Sekretär von George Stepney, des eng­lischen Gesandten in Wien und dann in Brüssel, gewesen.664 Nach dessen Tod im September 1707 blieb längere Zeit unklar, was mit Lawes geschehen würde. Da aber offensicht­lich war, dass Cadogan wegen seiner militärischen Aufgaben selten würde in Brüssel sein können, ließ Marlborough Lawes vorerst dort bleiben. Er sollte als Verbindungsmann zum Brüsseler Staatsrat fungieren 665 und Marlborough mit Informa­tionen über dessen Arbeit versorgen.666 Ohne Akkreditierung konnte Lawes allerdings nicht langfristig an den Sitzungen der sogenannten ‚Conference‘ (dem Gremium der niederländischen und eng­lischen Diplomaten) teilnehmen.667 Durch wiederholte Anfragen an die Secretaries of State gelang es Lawes im August 1708 end­lich, in untergeordneter Funk­tion akkreditiert (und auch wieder bezahlt) zu werden.668 Schon im Oktober 1707 hatte Lawes – dies war oben erwähnt worden – im Rahmen seiner Anfrage auf Weiterbeschäftigung einen interzipierten und selbst entschlüsselten Brief an Sunderland geschickt.669 Und auch generell etablierte sich Lawes als im Bereich der Informa­tionsgewinnung überdurchschnitt­lich engagierter 662 Dass die Diplomatiegeschichte nicht nur die envoyés und Residenten, sondern vor allem auch das Personal ohne Rangstufen vernachlässigt, betont: Windler, Normen aushandeln, 181. 663 Vgl. Davenant an Marlborough, 22. November 1704, in: BL Add. 61154, 39r. 664 Zu seiner Korrespondenz vor seiner Brüsseler Zeit siehe etwa BL Add. 4741 u. BL Add. 61413 (Brief an Cardonnel aus Wien). 665 Vgl. Lawes an Davenant, 5. Oktober 1707, in: BL Add. 4741, 46v–47r; Lawes an Harley, 6. Oktober 1707, in: BL Add. 70191, 27r. Marlborough empfahl Lawes schon am 15. September 1707 dem Vorsitzenden des Raad van State Johan van den Bergh; siehe Letters and Dispatches, Bd. 3, 563. 666 Siehe Cardonnel an Lawes, 3. Oktober 1707, in: BL Add. 61399, 9v. Vgl. auch die Briefe von und an Lawes in ­diesem Aufgabenfeld, BL Add. 61398, BL Add. 61400, TNA SP 77/57. 667 Vgl. Lawes an Marlborough, 26. Juni 1708, in: BL Add. 61311, 165v. Zur ‚Conference‘ siehe Veenendaal, Het Engels-­Nederlands condominium, 119; er weist auch auf die weit­ gehenden Machtbefugnisse der Conference gegenüber dem Raad van State hin. 668 Vgl. Cadogan an Sunderland, 6. August 1708, in: TNA SP 77/57, 339r; siehe auch ­Veenendaal, Het ontslag, 478. 669 Vgl. Lawes an Sunderland, 6. Oktober 1707, in: TNA SP 77/57, 198v.

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diplomatischer Akteur. Dies ist unter anderem an seinen Abrechnungen zu ersehen, die in hohem Maße Kosten für intelligence namhaft machen.670 Seine Korrespondenz richtete er dabei via Cardonnel an Marlborough. ­Cardonnel versicherte ihm: „What you send me, I always lay with the first opportunity & in the most favorable manner before my Lord Duke.“671 Daneben korrespondierte Lawes auch mit Sunderland (und mit dessen Kollegen Boyle) sowie mit Sunderlands Under-­Secretaries. Teilweise schrieb auch Cadogan an die Secretaries (die ja den Diplomaten de jure Anweisungen gaben, während diese de facto oft über große Handlungsspielräume verfügten), während Lawes parallel oder komplementär auf der Ebene darunter korrespondierte.672 Doch diese Doppelung der brief­lichen Kommunika­tion fällt vor allem in die kürzeren Zeiträume, in denen Cadogan in Brüssel war, während Lawes in der rest­lichen Zeit die gesamte Korrespondenz allein führte.673 Schon dies spricht nicht dafür, dass Cadogan die organisatorischen Fäden komplett in der Hand hielt. Dagegen spräche im Übrigen auch die unkomplizierte Fortsetzung von Lawes‘ Informa­tionsgewinnungsaktivität nach dem Ende von Cadogans Brüsseler Tätigkeit; Lawes arbeitete ab Ende 1710 in ebenso produktiver Weise wie vorher mit Cadogan und Marlborough mit der neuen Tory-­Regierung und dem neuen Gesandten zusammen.674 Dies alles belegt eine relativ hohe Eigeninitiative Lawes‘ als Organisator von Spionage. Es legt aber auch nahe, dass sich Marlboroughs Versorgung mit Informa­tionen aus den süd­lichen Niederlanden ab Ende 1710 deut­lich verschlechtert haben dürfte, weil Lawes jetzt für Marlboroughs politische Gegnern tätig war. Was Marlborough 1710 noch blieb, war das Spionageengagement des südniederländischen Generalpostmeisters François Jaupain.675 Jaupain hatte zuvor zuweilen Cadogan mit Newsletters oder abgefangenen ­Briefen versehen  676 und auch mit Lawes kooperiert. Allerdings bleibt diese 670 Vgl. die Abrechnung im Brief an den Under-­Secretary Thomas Hopkins, 22. April 1709, in: BL Add. 61534, 147r, 151r, 156r. 671 Cardonnel an Lawes, 10. Februar 1708, in: BL Add. 61399, 82v. 672 Vgl. Lawes an Hopkins, 9. Mai 1709, in: BL Add. 61534, 162r. 673 Vgl. die Hinweise in: Lawes an Pringle, 2. Januar 1709/10, in: TNA SP 77/58, 358v sowie ebd., 338r. 674 Vgl. Lawes an St. John, 13. Oktober 1710, in: TNA SP 77/59, 228r–v; siehe dann auch für die Jahre bis 1712 TNA SP 77/60 und TNA SP 77/61, passim. Vgl. Frey/Frey/Rule, Introduc­tion, XI. 675 Siehe Kapitel 3.4.2. 676 Vgl. Cadogan an Marlborough, 22. April 1709, in: BL Add. 61160, 109v. Siehe auch ­Jaupain an Sunderland, 26. Juli 1708, in: BL Add. 61562, 62r: „Mon homme doit partir pour aller continuer ses services a Mylord Duc, & a Mr Cadogan.“

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Koopera­tion etwas schattenhaft: Einerseits ist punktuell zu erschließen, dass Lawes und Jaupain sich gut kannten 677 und dass Lawes von Jaupain Informa­ tionen (zum Beispiel über den Zustand der franzö­sischen Truppen) erhielt und weiterschickte.678 Insgesamt ergibt sich aber andererseits eher der Eindruck, dass beide weitgehend unabhängig voneinander arbeiteten – trotz aller punktuellen Koopera­tion und auch trotz der Tatsache, dass beide, Lawes wie Jaupain, die eng­lischen Secretaries of State (vor allem Sunderland) und auch Marlborough mit interzipierten Briefen und eigenen Newsletters versorgten. Auch dies wäre wiede­rum nicht untypisch – eine große Diskre­tion kennzeichnet alle Akteure der Informa­tionsgewinnung, formale wie informelle. Diese Unabhängigkeit voneinander führte dazu, dass Marlborough z­ wischen 1706 und 1710 aus zwei verschiedenen Quellen über ganz ähn­liche ­Themen auf dem Laufenden gehalten wurde – was ja wiederum einen Vorteil darstellte. Lawes interzipierte Briefe „from the Hague to Paris, opening mail that passed from Namur to the Dutch Netherlands, sending agents to the Jacobite court at St. Germain-­en-­Laye, to Dunkirk, Arras, Lille, Ghent, and as far afield as Lorraine and the German Rhenish cities“679. Ein Schwerpunkt seiner Interzep­tionsaktivität war die Korrespondenz des südniederländischen Statthalterhofes. Max Emanuel, der geächtete bayerische Kurfürst und zugleich Statthalter der süd­lichen Niederlande, residierte ­zwischen 1706 und 1709 in Mons. Es gelang Lawes, Zugriff auf die Korrespondenz des Rats Malknecht zu erhalten, wobei nicht klar ist, ob Lawes die Korrespondenz abfing oder von einem Spion vor Ort abschreiben ließ.680 Aus 677 Dies mag eine Skandalepisode belegen: Die Niederländer sahen ihren Verdacht auf antiholländische Machenschaften der eng­lischen Verbündeten bestätigt, als Lawes im Februar 1708 im Hause Jaupains versehent­lich einen Brief Cardonnels an Cadogan liegen ließ, in dem sich dieser bzw. Marlborough über die Holländer beschwerte. Versehent­ lich sandte Jaupain diesen Brief an die niederländischen Felddeputierten weiter; siehe ­Veenendaal, Het Engels-­Nederlands condominium, 157. Nicht nur Cadogan, sondern auch Lawes wurde von den Niederländern in Brüssel gehasst; siehe Veenendaal, Het ontslag, 487. – Auch kleinere Gefälligkeiten für Marlborough wurden von Lawes und Jaupain gemeinsam ausgeführt; als im Juli 1707 für Marlborough in Brüssel ein Spiegel bezahlt werden musste, bekam Jaupain das Geld von Lawes (der es wiederum von Cardonnel hatte); vgl. BL Add. 61348, 54v. 678 Vgl. Jaupains Newsletter vom 27. Oktober 1708 in: TNA SP 77/57, 395r–398v, der laut Dorsal­vermerk an Lawes geschickt worden ist; siehe auch Lawes an Sunderland, 8. April 1709, in: TNA SP 77/58, 36r mit Verweis auf Jaupain. 679 Frey/Frey/Rule, Introduc­tion, X f. 680 Vgl. TNA SP 77/58, 53r; 55r; 61r–v; 76v; 88r; 97v; 110v; 130v; 132r; 159r; 209r; 299r; siehe z. B. auch Lawes an Sunderland, 8. März 1708/9, in: TNA SP 77/58, 12v; 25. April 1709, in: eBd. 43r; TNA SP 77/59, 194v; BL Add. 61312, 172r.

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Malknechts Briefen, so Lawes, sei „the Deplorable State of the Elec:rs Court“681 zu ersehen. Doch nicht nur Lawes organisierte eine Überwachung des bayerischen Statthalterhofs, in d ­ iesem Fall war auch Cadogan beteiligt, der offenbar mit dem Oudenarder Gouverneur Chanclos zusammenarbeitete: „I shall take such measures with Mons.r Chanclos for intelligence that nothing shall pass att Mons or the Camp but what your Grace shall be forthwith informed of, att my coming here my first care was to send two People I could rely on to Mons and Ath who are both returned this morning with an account that the Elector waited for the coming back of the Detachment from Dermond att Ath, and went from thence this morning to Mons. I have sent the same Persons back again, and Mons.r Chanclos has likewise employed two others, so that by the means of some one of them I shall allways know what passes.“682

Einen zweiten Schwerpunkt von Lawes‘ Spionage bildete die Interzep­tion der franzö­sischen Diplomatenkorrespondenz, vor allem im Kontext der geheimen Friedensgespräche mit den Niederländern.683 Daneben standen zum Beispiel aus eigens beschafften Newsletters stammende Informa­tionen über den spanischen Kriegsschauplatz,684 „letters“ aus Frankreich mit militärischen Einzelheiten aus nordfranzö­sischen Häfen oder über den Standort der franzö­sischen Armee.685 Zeitweise bezahlte Lawes offenbar einen Agenten im Umfeld des franzö­sischen Außenministers Torcy.686 All diese Bereiche wurden auch von Jaupain abgedeckt; beide Initiativen verliefen also parallel und komplementär. Effektiver als Jaupain war Lawes in der Berichterstattung aus dem unmittelbaren Kriegsgebiet. Teile seiner Korres­pondenz lesen sich, als sei es seine Hauptaufgabe gewesen, der eng­lischen Regierung über 681 TNA SP 77/58, 283v. 682 Cadogan an Marlborough, 23. Juni 1706, in: BL Add. 61160, 31r–v. Chanclos war offenbar mehrfach mit relativ komplexen Spionageaufgaben befasst; der niederländische Feldmarschall Ouwerkerk informierte Marlborough darüber, siehe dessen Brief vom 6. April 1708, in: BL Add. 61180, 112r u. 115r. 683 Siehe Sunderland an Cadogan, 29. November 1709, in: BL Add. 61651, 199r; BL Add. 61160; Cadogan an Marlborough, in: BL Add. 61160, 71r; 110r; 116r–118r; 122r–v; Lawes an ­Sunderland: TNA SP 77/58, 119v–120r; 302 – 304r; siehe auch TNA SP 84/233, passim. 684 Siehe Cardonnel an Lawes, 17. Februar 1708, in: BL Add. 61399, 83v; Lawes an Hopkins, 22. April 1709, in: BL Add. 61534, 150r; Lawes an Hopkins, 9. Mai 1709, in: BL Add. 61534, 164r–v. 685 Vgl. Lawes an Sunderland, 24. März 1707, in: BL Add. 61534, 131v; an Hopkins, 25. April 1709, ebd., 153r–156v. 686 Vgl. Lawes an Sunderland, 10. Juni 1709, in: TNA SP 77/58, 88r.

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die Kriegssitua­tion Bericht zu erstatten. Informa­tionen „from the frontier“, also aus dem noch nicht von den Alliierten eroberten Gebiet an der franzö­sischen Grenze, bilden einen wichtigen Teil seiner Korrespondenz.687 Ganz besonders wichtig war im Frühjahr 1708, aber als Reak­tion darauf in wechselnden Konjunkturen auch in den kommenden Jahren, die Überwachung des nahe gelegenen franzö­sischen Hafens Dünkirchen, von dem aus die jakobitische Invasion in Richtung Schottland startete und der von Lawes (und Cadogan) dementsprechend besonders sorgfältig beobachtet wurde.688 Cadogan schickte mindestens einen, vermut­lich mehrere Spione dorthin, die dauerhaft über mög­liche Rüstungen berichteten. Ein sehr auffälliger Charakterzug in der Korrespondenz vor allem ­zwischen Lawes und dem Secretary Sunderland muss noch erwähnt werden. Sunderland neigte dazu, den Gesandtschaftssekretär geradezu obsessiv und gleichzeitig formelhaft dazu aufzufordern, ihn mit Informa­tionen welcher Art auch immer zu versehen. „I thank you for your constant accounts of all that has passed before Brussells, and desire you will continue to lett me know every thing material that passes in those parts.“689 Nun war die Gewinnung und Übermittlung von Informa­tion eine zentrale Aufgabe diplomatischer Akteure. Insofern ist auch die geradezu ritualisierte Bitte um Informa­tionen ganz generell ein Kennzeichen der diplomatischen, politischen und militärischen Korrespondenz etwa auch Marlboroughs,690 zeigt sich aber in der Briefbeziehung Lawes-­Sunderland in besonders drastischer Weise. Gerade in militärisch angespannten Situa­tionen wie im Frühjahr 1708 (im Kontext also der befürchteten jakobitischen Invasion von Dünkirchen aus) ist es nicht erstaun­lich, dass auf eine besonders hohe Informa­ tionsdichte gedrungen wurde. Dennoch hinterlässt gerade die rituelle Informa­ tionsforderung ­Sunderlands den Eindruck, dass es hier um anderes gegangen sein könnte als um politisch vitale Informa­tionen. Daher wird auf diesen Zug 687 Vgl. z. B. Lawes an Addison, 24. März 1707, in: BL Add. 61534; an Hopkins, 29. April 1709, in: ebd., 158r–159r; an Hopkins, 6. Mai 1709, ebd., 160r; an Hopkins, 9. Mai 1709, ebd., 162r; an Pringle, 26. August 1709, ebd., 174r. 688 Frühjahr 1708: Lawes an Sunderland, Februar und März 1708, in: TNA SP 77/57, 243r–268v; BL Add. 61494, 1r; Sunderland an Cadogan, BL Add. 61651, 93r; Cadogan an ­Marlborough, 60r–64r. – April/Mai 1709: Cadogan an Sunderland, in: TNA SP 77/58, ­46r–49r; TNA SP 84/233, 15v; Boyle (der Hinweise von Lawes weiterschickt) an ­Marlborough, in: BL Add. 61129, 55r. – November 1709 bis Mai 1710: Sunderland an Cadogan und Lawes, in: BL Add. 61651, 195v–222r; Lawes an Pringle, in: TNA SP 77/58, 325r–362v. – August 1710 – September 1710: Boyle an Marlborough, in: BL Add. 61130, 169r; 194r. 689 3. Dezember 1708, in: BL Add. 61651, 140v. 690 Vgl. etwa Letters and Dispatches, Bd. 2, 168.

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der Korrespondenz ­zwischen Sunderland und Lawes dann zurückzukommen sein, wenn nach Funk­tionen der Informa­tionen gefragt wird.691 An Lawes ist jedenfalls deut­lich abzulesen, wie diplomatische Informa­tionsgewinnung auf besonders schwierigem Terrain organisiert werden konnte; wie stark dies von der persön­lichen Initiative von Einzelpersonen abhing; und schließ­lich wiederum, wie eng auch auf d ­ iesem Feld die Zusammenarbeit Marlboroughs mit der eng­lischen Regierung war. 3.3.3 Militärs als Informanten

„No General of the age was so well served with intelligence as Marlborough“692: So urteilt, wie üb­lich in vollmundiger Pauschalität, die ältere Forschung. Auch dies ist wieder eine Aussage, die weder einfach belegt noch widerlegt werden kann; dies wäre nicht einmal durch einen Vergleich mit anderen Generälen mög­lich, denn die militärische Informa­tionsgewinnung war zu einem nicht unbeträcht­lichen Teil münd­lich organisiert und hat sich in den Quellen nur punktuell niedergeschlagen.693 Insofern bleiben „the numerous and admirable sources of intelligence which he constantly employed“694, von denen in der Literatur gesprochen wird, oft im Halbdunkel. Daher ist ­dieses Kapitel kürzer, als es seiner Bedeutung entspricht. Die relative Kargheit der Quellen gilt allerdings vor allem im Hinblick auf Militärangehörige als Informanten – dass militärisch relevante Informa­tionen durchaus auch auf anderen Wegen kommuniziert wurden, wird im folgenden Kapitel über die Netzwerke der Informa­tionsgewinnung deut­lich werden. Zwei relativ triviale Annahmen liegen ­diesem Kapitel zugrunde: Erstens war die Gewinnung von Informa­tionen etwa über den Ort und die Stärke der feind­ lichen Truppen ein wesent­licher Bestandteil des militärischen Alltags und als solcher Teil eines institu­tionalisierten militärischen Kontextes. Marlborough muss sich als in besonders hohem Maße an logistischen Zusammenhängen interessierter General (in der Literatur wird er geradezu als Logistikmanager beschrieben 695) 691 Siehe Kapitel 4.4.1. 692 Trevelyan, England, Bd. 3, 44. 693 Bisweilen wird das ex negativo sichtbar, etwa in BL Add. 61309, in der Korrespondenz kurz vor der Schlacht von Ramillies am 23. Mai 1706; hier ist wenig bis gar nichts an brief­lich fixierter taktischer Vorbereitung zu finden. 694 Taylor, The Wars of Marlborough, Bd. 1, 457. 695 Vgl. Phelan, Marlborough, 116.

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auch in umfassender Weise für die Logistik militärischer Informa­tionsgewinnung engagiert haben. Allerdings ist die lokale militärische Informa­tionsgewinnung meist kaum bis auf die Ebene einzelner (oft eben auch halb- oder informeller) Zuträger rekonstruierbar. Ein Blick in die Literatur zum späteren 18. Jahrhundert 696 macht aber zweitens deut­lich, dass sich der Bereich der militärischen Informa­tionsgewinnung um 1700 kaum von späteren (und mutmaß­lich auch früheren) Zeiten unterscheidet. Das, was in ­diesem Kapitel vorgestellt wird, ist in noch höherem Maße als im Bereich der organisa­tionsförmigen politischen und diplomatischen Informa­tionsgewinnung relativ typisch mindestens für die zweite Hälfte der Frühen Neuzeit und insofern eher ein strukturgeschicht­licher Befund am konkreten Beispiel als eine ­Fallstudie – weil deren Charakteristika das nur Regelmäßige und Regelhafte in irgendeiner Weise transzendieren müssten.697 Eine in der Literatur öfter erwähnte emblematische Szene soll am Anfang stehen: Am 12. August 1704, einen Tag vor der Schlacht von Höchstädt, bestiegen Marlborough und Prinz Eugen den Kirchturm des Dorfes Tapfheim. Mittels eines Fernrohres konnten sie sich über die Schwäche der gegnerischen Forma­ tionen (die offensicht­lich nicht auf eine Schlacht eingestellt waren) informieren. Dies, so die Literatur, verschaffte ihnen einen massiven Vorteil.698 Die Episode verdeut­licht ex negativo ein Grundproblem militärischer Informa­tionsgewinnung im 18. Jahrhundert: In der Regel wusste man weder genau, wo sich die gegnerischen Armeen befanden, noch wie groß sie waren, vor allem, wenn sie mehr als ein paar Kilometer entfernt lagerten.699 Dass man also (auf archaische und doch moderne Weise) eine Autopsie per technischem Hilfsmittel vornehmen konnte, dürfte eher die Ausnahme als die Regel gewesen sein. Gerade diese Verbindung von Augenschein und Technik ist es aber wohl, die diese Szene so beliebt gemacht hat, dass sie immer wieder erzählt wird; sie ist näm­lich viel anschau­licher als die Art von Informa­tionsgewinnung, die im militärischen Kontext der Regelfall war. In der Regel wäre an andere Maßnahmen zur Informa­tionsgewinnung zu denken: zum Beispiel die (morgend­liche) Rekognoszierung durch leichte Truppen,

696 Vgl. v. a. Anklam, Wissen. 697 Zum Unterschied von Beispiel und Fallstudie siehe Pohlig, Vom Besonderen zum Allgemeinen. 698 Vgl. Falkner, Marlborough’s Wars, 387 f.; Churchill, Marlborough, Bd. 1, 843; Birk, Lange und kurze Wege, 41. 699 Vgl. Sikora, Disziplin, 91 f.

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die Marlboroughs Quartermaster-­General Cadogan vornahm oder organisierte.700 Hier galt: „Das Maß der Informa­tionsvermittlung über den Gegner war die Geschwindigkeit und Ausdauer der Pferde.“701 Und auch hier geistert durch die Literatur ein eher exzep­tionelles Beispiel: Im Vorfeld der Schlacht von ­Malplaquet wurde die Rekognoszierung durch die Generäle Dopff und Cadogan vorgenommen. Während aber Dopff wie üb­lich mit einer kleinen Kavallerieeskorte unterwegs war, verkleidete sich Cadogan als Bauer, um unerkannt weiter in feind­liches Gebiet vordringen zu können.702 Auch sonst, so meldeten Offiziere dem H ­ erzog von Marlborough, wurden manchmal (echte) Bauern zur Rekognoszierung eingesetzt 703 – was immer dann leichter fiel, wenn die Bevölkerung der eigenen Seite zuneigte.704 Die Rekognoszierung ist allerdings wegen der münd­lichen Kommunika­tionssitua­tion kaum angemessen zu rekonstruieren; besser greifbar ist die schrift­liche Distanzkommunika­tion innerhalb der Armee, obwohl auch hier zuweilen über Ak­tionen vor Ort berichtet wird. Dass es zu den Pflicht- und Dienstaufgaben militärischer Untergebener gehörte, ihren obersten General generell auf dem Laufenden zu halten, ist nicht überraschend. Cadogan etwa war während Marlboroughs Abwesenheit (vor allem während der Wintermonate) dazu verpflichtet, seinem Herrn regelmäßig über den Zustand der Truppen und etwaige Vorkommnisse Bericht zu erstatten.705 Die Offiziere der alliierten Armeen schrieben Marlborough häufig, um Ordres zu bestätigen und eben auch, um spezifische lokale Informa­ tionen weiterzugeben. In Marlboroughs Nachlass befindet sich eine große Anzahl von Briefen, die Offiziere und Kommandanten südniederländischer Festungen an ihn schrieben. Deut­lich wird, dass diese Offiziere den alliierten 7 00 Watson, Marlborough’s Shadow, 65. Vgl. Childs, Cadogan; siehe zur Rekognoszierung generell auch: Anklam, Wissen, 20. 701 Sikora, Diszipin, 92. 702 Vgl. den Hinweis Marlboroughs an Boyle, 24. Juni 1709, in: TNA SP 87/5, 9r sowie die Schilderung bei: Pearman, First Earl, 63. 703 Vgl. die Briefe des in niederländischen Diensten stehenden Generalmajors Stocken an Marlborough, BL Add. 61313, 87r, 104r u. 108r; ebenso den Bericht des in niederländischen Diensten stehenden Generalleutnants Wilcke, in: BL Add. 61313, 91r. Der pfälzische Generalleutnant Aubach spricht unspezifisch von „habitants“; siehe Brief an Marlborough, 8. Juni 1705, in: BL Add. 61308, 77r. 704 Vgl. Falkner, Marlborough’s Wars, 160. 705 Siehe die Instruk­tionen an Cadogan in: BL Add. 61373, 41r; vgl. auch Holmes, ­Marlborough, 213. Auch seinem Generalmajor Cutts gab Marlborough entsprechende Instruk­tionen, die also der Regel entsprochen haben dürften. Vgl. Marlborough an Cutts, 9./20. November 1702, in: BL Add. 61369, 232r.

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Oberkommandierenden über das Kriegsgebiet und die Bewegungen der feind­ lichen Truppen auf dem Laufenden halten wollten. Schon daher erklärt sich eine gewisse Häufung bestimmter Korrespondenzen in bestimmten Zeitphasen: Nicht alle Offiziere der alliierten Armeen hatten zu jeder Zeit viel zu berichten. Die Briefe wurden innerhalb des Kriegsgebiets per Post oder Kurier befördert; dies hing ganz von den aktuellen Gegebenheiten, vor allem von der Stellung des Feindes ab.706 Aus der Korrespondenz ist zu erschließen, dass Kuriere zuweilen gefangen genommen wurden.707 Auch in ­diesem Zusammenhang wurde wieder darüber diskutiert, ob mehr Geld in die Postinfrastruktur zu investieren sei, um Geschwindigkeit und vor allem Sicherheit zu verbessern.708 Und auch hier ist zuweilen zu beobachten, wie Marlborough selbst die Nutzung der Postinfrastruktur im Kriegsgebiet zu regulieren suchte.709 Worüber berichteten die Offiziere, die Marlborough schrieben? Zuerst einmal erhielt Marlborough eine große Zahl von Briefen, die von in Spanien kämpfenden Militärs geschickt wurden. Durch sie konnte er sein Bild der spanischen Ereignisse ergänzen, das er vor allem aus den Newsletters der Secretaries of State und den Berichten des portugie­sischen Botschafters gewann.710 Stärker noch war Marlboroughs Interesse am Kriegsgebiet, in dem er selbst stand; hier ging es für ihn ja nicht um einen Eindruck von der Großwetterlage, sondern um relativ unmittelbare Handlungsnotwendigkeiten. Der Großteil der Briefe der Offiziere und Kommandanten oder Gouverneure der Festungen in den süd­lichen Niederlanden fällt in den Zeitraum nach 1706, als große Teile des Landes in alliierter Hand waren. Sie schickten etwa Listen von Rekruten, generelle Berichte über den Zustand der Truppen 711 oder Listen franzö­sischer Offiziere und Soldaten 712. Man liest Klagen über Nachschubmängel (in entsetz­lichem Franzö­sisch)713; Berichte 706 Vgl. Anklam, Wissen, 75. 707 Vgl. die Befürchtung des niederländischen Generalmajors Keppel, 10. September 1706, in: BL Add. 61310, 62r. 708 Siehe den Brief des Oudenaarder Kommandanten Voogt, 7. Juni 1706, in: BL Add. 61309, 117v. 709 Siehe die Ordre Marlboroughs (22. Juni 1706) an alle Offiziere, die Postillons und Postpferde „a la posterie a l’enseigne de la Sirene pres du Village de Ruddervorde“ nicht zu benutzen, weil sie akut gebraucht würden; vgl. BL Add. 61398, 5v. 710 Vgl. die Briefe von der Iberischen Halbinsel, BL Add. 61308, 9r, 15r, 26r, 132r; BL Add. 61309, 49r–50r; 56r; BL Add. 61310, 24r, 40r, 42r, 56r, 90r, 118r, 122 – 125v; 161r–164r, 223r, 235r; BL Add. 61314, 192r, 202r; BL Add. 61315, 13r, 58r, 96r. 711 Vgl. BL Add. 61309, 20r–23r; 45r; 198r; BL Add. 61311, 113r, 125r. 712 Vgl. Richard Temple an Marlborough, 30. Mai 1706, in: BL Add. 61309, 81r. 713 Vgl. Melvil, Kommandant von Weerde, an Marlborough, 1702, in: BL Add. 61306, 33 f.

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über Aufenthaltsort und Marsch einzelner gegnerischer Truppenteile 714 oder über die franzö­sischen Winterquartiere  715, zuweilen auch Schilderungen, die t­ agesaktuell die feind­lichen Bewegungen durchgeben (in ­diesem Fall aus dem Kontext des Marsches an die Donau): „On a veu aujourdhuy pendant toute le jour la marche de l’armée ennemie de l’autre coste du Rhin vis a vis de Steinmaur, elle campe cette nuit a Motteren“716 – oder die Ankündigung kleinerer feind­licher Angriffe, die man nicht aufzuhalten vermochte.717 Eine an sich unspektakuläre Korrespondenz mit dem kaiser­lichen General Erlach fällt deshalb auf, weil die spätere Forschung Erlach als wichtigen franzö­ sischen Spion identifiziert hat.718 Erlach berichtete vor allem im August und September 1707 über die franzö­sischen Truppenbewegungen am Oberrhein und über die Stimmung bei den kaiser­lichen Offizieren.719 Es ist bemerkenswert, dass Erlach, der im Frühsommer 1706 auch mit dem eng­lischen Residenten in Frankfurt, Davenant, korrespondierte,720 Marlborough im Januar 1707 vom Gesandten in der Schweiz, Stanyan, als besonders vertrauenswürdiger Informant über die oberrheinische Situa­tion empfohlen worden war: „I doubt not but your Grace receives particular accounts from other hands of the ill state of affairs upon the Rhine, however I thought it my duty to send you this also because it comes from a man who by serving all this war under Prince Lewis had opportunity of being informed of the truth, and is a man of too much honour to be suspected of giving a false account.“721

Allerdings spricht, soweit man sehen kann, nichts dafür, dass Erlach relevante Informa­tionen aus dem Kontext der Marlborough-­Korrespondenz weitergegeben hat. Eine auf Sensa­tion setzende Spionagegeschichtsschreibung würde dies bedauern.

714 Vgl. Briefe verschiedener Offiziere, in: BL Add. 61306, 25r–28v; 43r; General Evans, 25. Juli 1705, BL Add. 61308, 118r–v. 715 Vgl. den Briefe des niederländischen Obersten van Wassenaer, 25. November 1706, in: BL Add. 61310, 136r. 716 Graf Vehlen an Marlborough, 5. Juni 1704, in: BL Add. 61307, 44r; siehe auch ebd., 42r. 717 Vgl. van Wassenaer an Marlborough, 17. Oktober 1706, in: BL Add. 61310, 96r. 718 Vgl. Mercier, Secret d‘état. 719 Vgl. BL Add. 61311, 36r–37v; 40v–41r; 46r; 52r–55r; 60r. 720 Vgl. BL Add. 4745, 232r–236v. 721 Stanyan an Marlborough, 22. Januar 1707, in: BL Add. 61145, 57v–58r.

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Aus den Berichten der Offiziere ergibt sich Weiteres: Die aides-­de-­camp, also die Flügeladjutanten im Hauptquartier, wurden zur Überbringung von Nachrichten z­ wischen verschiedenen Truppenteilen, aber auch zuweilen zum Feind eingesetzt.722 Wurden sie gefangen genommen, tauschte man sie ohne Murren wieder aus – dies war Teil des militärischen Kodex.723 Dies barg die (akzeptierte) Gefahr, dass sie Informa­tionen über den Zustand des gegnerischen Heeres übermittelten. Im August 1702 wurde einer von Marlboroughs aides-­de-­camp festgenommen und wieder freigelassen, der, wieder im alliierten Feldlager, einen Lagebericht abliefern konnte: „He counted 72 battalions and 109 squadrons, but he says that our battalions are much stronger than theirs.“724 Ähn­liches gilt für die Trompeter: Diese hatten die Aufgabe, Depeschen zu überbringen, wurden aber auch zum Auskundschaften des gegnerischen Feldlagers geschickt.725 Auch hier wurde in der Regel (und in der Regel zutreffend) davon ausgegangen, dass die Trompeter nicht gefangen genommen wurden.726 Falls sie zeitweise gefangen genommen wurden, konnte sich die Mög­lichkeit ergeben, ihnen Informa­tionen zu entlocken; Cardonnel etwa ließ einem gefangenen Trompeter während dessen Schlaf seinen Mantel stehlen, in dem er dechiffrierte Korrespondenz fand, die er dem Secretary of State weitersandte.727 Besonders wertvoll waren die Informa­tionen, die Trompeter aus dem feind­lichen Lager mitbrachten, nachvollziehbarerweise dann, wenn sie mit anderen Quellen abgeg­lichen werden 722 Vgl. Kemp, Weapons and Equipment, 9; Scouller, Armies of Queen Anne, 61, Anm. 2, nimmt für 1709 acht aides-­de-­camp an. Siehe auch Coxe, Memoirs, Bd. 1, 198. Chandler, Great Captain-­General, 83, skizziert ohne weitere Belege die Bedeutung von „running footman“, die – weil sie nicht ritten – weniger auffällig waren und von Marlborough zuweilen den aides-­de-­camp vorgezogen wurden. 723 Siehe die Bitte um Zurücksendung eines aide-­de-­camp durch einen Generalleutnant im Dienst Philipps V. in: BL Add. 61308, 153r und die zustimmende Antwort, ebd., 164r. 724 Marlborough an Godolphin, 16./27. August 1702, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 103. 725 Vgl. Anklam, Wissen 107; die Bezahlung der Trompeter wurde, offenbar absicht­lich unspezifisch, für „extraordinary services“ geleistet; siehe BL Add. 61370, 74r; 179r; BL Add. 61371, 46v; 131r; 202v; BL Add. 61372, 84v; 253r; BL Add. 61373, 42v. – Zuweilen wurden auch Trommler (tambours) eingesetzt; siehe BL Add. 61306, 16r, 100r. 726 Vgl. den Brief des bayerischen Kurfürsten Max Emanuel an Marlborough bzw. an seine von den Alliierten festgehaltene Ehefrau, BL Add. 61262, 10r: „J’envoy mon tres cher coeur cette lettre toute ouverte a Mr le Duc de Marlboroug par un trompette que je prie de faire passer jusques a vous, et me le renvoyer avec votre reponse, connoissant qu’il est trop honnete home (!) pour refuser cette consola­tion a un epous desolé et en paine.“ 727 Siehe Cardonnel an Harley, 22. September 1704, in: HMC Portland, Bd. 4, 135.

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konnten.728 Doch in aller Regel waren die so zu gewinnenden Informa­tionen eher anekdotischer Natur. Es wurde über eine Schlacht von einem anderen Kriegsschauplatz berichtet, was sich durch andere Quellen bestätigen ließ;729 oder es ging schlicht um atmosphärische Eindrücke vom mora­lischen Zustand des Gegners: „A Trumpet of ours, who was yesterday in their Army, says he could read Our success in their looks.“730 Weitere Informanten waren die zahlreichen Deserteure; Deser­tion war bekanntermaßen ein massives Strukturproblem der Heere des 18. Jahrhunderts.731 Gerade im Umkreis von Schlachten und Belagerungen stieg die Zahl der Deserteure an.732 „Die Häufigkeit der Deser­tionen sorgte also für einen mehr oder weniger kontinuier­lichen Informa­tionsaustausch ­zwischen den Heeren.“733 Deserteure wie andere Informanten konnten über Truppenstärken, auch über die Stimmung im gegnerischen Lager berichten – brachten aber höchst selten strate­gisch relevante Informa­tionen.734 Desinforma­tion war hier leichter als Informa­tion: Im Vorfeld der Schlacht von Höchstädt ließen sich alliierte Soldaten absicht­lich gefangen nehmen, um falsche Informa­tionen zu verbreiten.735 Schließ­lich gab es militärische Spione – nicht nur die gekauften Bauern, die zur Rekognoszierung eingesetzt wurden. Deserteure und Spione waren natür­lich anders als Offiziere formal keine Militärangehörigen. Wenn sie nicht nur einmalig, sondern regelmäßig eingesetzt wurden, gehören sie im Sinne der Typologie dieser Studie eher in die Rubrik netzwerkförmiger Kontakte. Hier 728 Siehe Marlborough an Godolphin, 7./18. September 1706, in: The Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 2, 671. 729 Vgl. Marlborough an Harley, 18. September 1706, in: Letters and Dispatches, Bd. 3, 139 f.; ebenso auch Cardonnel an Davenant, in: BL Add. 4743, 121v. 730 Henry Watkins aus dem Feldlager an Townshends Sekretär Horatio Walpole im Haag, 21. August 1710, BL Add. 38501, 31v. 731 Vgl. Sikora, Disziplin. 732 Vgl. die Briefe des niederländischen Generalmajors Frederik Johan van Hüffel an ­Marlborough aus dem September 1709 (also vor und nach der Schlacht von Malplaquet) in: BL Add. 61313, 134r–136r: Marlborough bat ihn, ihm alle vier Tage eine Liste der franzö­ sischen Deserteure zu ­schicken, die zu dieser Zeit in hoher Zahl aufgegriffen wurden. 733 Sikora, Disziplin, 95. 734 Vgl. ebd., 93. Vgl. als Beispiele dafür den Bericht des niederländischen Brigadegenerals van Welderen, 10. September 1706, in: BL Add. 61310, 66v–67r; Cardonnel vermerkt in seinem Bericht aus dem Feldlager auch öfter Deserteure als Informanten, siehe BL Add. 4742, z. B. 4r u. 17r. 735 Coxe, Memoirs, Bd. 1, 211.

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verschwimmen also die Grenzen von der eher dienst- zur eher netzwerkförmigen Informa­tionsgewinnung ein weiteres Mal, und ein weiteres Mal wird deut­lich, wo die dienstförmige Informa­tionsgewinnung als nicht hinreichend eingeschätzt wurde. In den Briefen der Offiziere in Flandern ist von Spionen oft die Rede: von „­spyes“736, von „nos amis“737, von „un homme que j’avais envoyé a l’armée de ­Vendosme“738 oder von „mon homme en ques­tion avec lequel i’ay depuis longtemps correspondance“739. Einige der Festungskommandanten schickten Newsletters, die sie aus unterschied­lichen Quellen erhalten hatten, und konnten so Informa­tionen etwa über Frankreich und Spanien beitragen.740 Marlborough selbst bezahlte 1702 einen Spion, der vom franzö­sischen General Boufflers als Spion auf ihn selbst angesetzt worden war – ein Doppelagent also, an dessen Zuverlässigkeit ihm gerade deshalb Zweifel angebracht erschienen: Er beschreibt ihn als „a spye of his which I gained some time agoe, soe that he has had an oportunity ever since of cheating us both“741. Wie ein Echo von Marlboroughs Verteidigung wegen angeb­lich undurchsichtiger Finanzhandhabung klingt der Zedler-­Autor, wenn er schreibt, Spione würden „von einem klugen Feld=Obersten mit Fleiß ohne Sparung derer Kosten unterhalten, weil sie offt zu großen Siegen und Vortheilen Anlaß geben. Es wird auch bey denen Feld-­Caßen gewöhn­lich eine ansehn­liche Summe auf Kundschafft anzuwenden verordnet, davon keine deut­liche Rechnung geführet wird, damit die Kundschaffter verschwiegen bleiben.“742

Ein Charakteristikum der Briefe, die Festungskommandanten und Offiziere an Marlborough schrieben, fällt schließ­lich besonders ins Auge: Im Vergleich zur politischen oder diplomatischen Korrespondenz Marlboroughs ist die Prominenz von Patronagegesuchen in den militärischen Briefen viel ausgeprägter. Nicht nur, dass Marlborough dauernd Gratula­tionen zu militärischen Erfolgen erreichten, 736 Vgl. etwa den Brief des schottischen Obersten in niederländischen Diensten Swintoun an Marlborough, 2. August 1708, in: BL Add. 61312, 12r. 737 So der niederländische Hauptmann Cochet, 11. April 1711, in: BL Add. 61315, 9r. 738 Brief des niederländischen Obersten Lynden, 26. August 1708, in: BL Add. 61312, 54r. 739 So der pfälzische Major Alberty, 28. Januar 1711, in: BL Add. 61314, 204r. 740 Vgl. die Briefe des Lütticher Kommandanten Brunet de Rochebrune ­zwischen 1707 und 1710, BL Add. 61204, 65r–105v. 741 Marlborough an Godolphin, 15./26. Oktober 1702, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 128. 742 Art. „Kundschafft“.

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über deren Zweck man spekulieren kann 743 – im Falle der militärischen Korrespondenz scheinen generell Informa­tionsübermittlung und Patro­nage in noch höherem Maße miteinander verknüpft als in thematisch anders gelagerten Korrespondenzen. Die Verbindung von Informa­tion und Patronage verweist bereits auf eine (Neben-)Funk­tion von Informa­tion, die über die schlichte Vorstellung einer instrumentellen, für bestimmte Handlungen notwendigen Informa­tion hinausweist. In Kapitel 4 wird genau diese Frage nach der Funk­tion oder den Funk­tionen von Informa­tion noch einmal systematisch aufgegriffen; dort werden Beispiele aus dem militärischen Kontext eine besonders große Rolle spielen. Die Informa­tionsgewinnung in Regierung, Diplomatie und Militär, die in ­diesem Kapitel vorgeführt wurde, zeigt erstens, in welcher Weise amts- und dienstförmige Informa­tionsgewinnung funk­tionierte, und zweitens, in welcher Weise sie auf Infrastrukturen wie Geld, brief­licher Kommunika­tion oder Post beruhte. Die Informa­tionsgewinnung der Secretaries of State (die wiederum in Interzep­ tions- und Initiativspionage aufgeteilt werden kann), die diplomatische und die militärische Informa­tionsgewinnung konstituierten drittens die Kontexte, in denen Marlboroughs eigene Bemühungen sich abspielten. Marlborough war in hohem Maße in ­solche formalen Kontexte eingebunden – seine Informa­tionsgewinnung, so hat sich erwiesen, ist ohne die Informa­tionsgewinnung etwa der Secretaries of State nicht vorstellbar. Ähn­liches gilt für die nicht-­organisa­tionsförmigen, netzwerkartigen Strukturen, die im nächsten Kapitel untersucht werden: Auch im Hinblick auf sie wirkte Marlborough mit der Regierung zusammen. Zeigte sich schon bei der Untersuchung von Macky und Fonseca, wie amtsförmige Informa­ tionsgewinnung mit informeller Spionage zusammenhing und wie sich informelles Handeln an amtsförmige Strukturen anlagerte, so kann diese Konstella­tion im Weiteren noch eingehender beobachtet werden.

3.4 Informelle Informationsgewinnung: Marlboroughs Netzwerke 3.4.1 Grauzonen formaler Diplomatie: Heinsius, Robethon, Grumbkow

Es ist schon mehrfach deut­lich geworden, dass auf dem Feld der Informa­tions­ gewinnung die Grenze z­ wischen formalen und informellen Strukturen häufig verschwimmt oder doch beide miteinander verbunden sind. Trotz dieser Verbindungen 743 Vgl. BL Add. 61313, passim.

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oder Überlappungen ist es sinnvoll, die Unterscheidung z­ wischen organisa­tions-, amts- und dienstförmiger Informa­tionsgewinnung, die im letzten Kapitel dargestellt wurde, und informelleren, patronage- oder handelsförmigen Strukturen (denen ­dieses Kapitel gewidmet ist) beizubehalten, um die Übergänge so überhaupt in den Blick zu bekommen. Wenn im Folgenden Netzwerke und informelle Kanäle der Informa­tionsgewinnung behandelt werden, geht es also um Strukturen, die nicht an Dienst- oder Amtsbeziehungen geknüpft sind oder diese doch auf so eklatante Weise in Richtung Tauschförmigkeit überschreiten, dass die von ihnen ausgehende Informa­tionsgewinnung nicht mehr sinnvoll als Amtsaufgabe beschreibbar ist. In der Forschung zu Diplomatie und Außenbeziehungen wird seit einiger Zeit verstärkt darauf hingewiesen, dass im Rahmen vormoderner Staat­lichkeit neben den sich nur langsam etablierenden formalen Kanälen zwischenstaat­ lichen Austauschs auch andere, ‚informelle‘ Kanäle standen. Gerade das Verhältnis von formalen zu informellen Normen und Strukturen in ­diesem Bereich verspreche besonderen Aufschluss über die Funk­tionsweisen der Diplomatie. Allerdings wird das Verhältnis von formalen zu informellen Normen und Strukturen im Bereich der Außenbeziehungen unterschied­lich akzentuiert. Die Grenze z­ wischen formal und informell wird im Bereich der Außenbeziehungen einerseits z­ wischen verschiedenen Akteursgruppen gezogen:744 Neben den offiziellen Diplomaten unterschied­licher Ränge wurden zunehmend auch andere, informelle diplomatische Akteure einbezogen, bei denen die Grenze zur Spionage verschwamm.745 Waren die wichtigsten Diplomaten um 1700 militärische Akteure, traten ihnen auch Künstler 746, Abenteurer 747, Kaufleute 748 oder Frauen (etwa Gesandtengattinnen oder Fürstinnen)749 an die Seite. Dennoch scheint es mir wichtig, gerade um die Übergänge ­zwischen beiden Strukturmustern genauer beschreiben zu können, die Unterschiede ­zwischen beiden

744 Siehe in ­diesem Sinne: Nolde, Was ist Diplomatie, die allerdings, anders als die vorliegende Arbeit, den Bereich der informellen Diplomatie auf Höfe beschränkt. 745 Schon Wilhelm III. hatte in den Niederlanden, aber auch in England einen festen Stamm inoffizieller diplomatischer Akteure im Spannungsfeld von Diplomatie und Spionage beschäftigt. Vgl. Roorda, Secret. 746 Vgl. als Fallstudie zur Anbahnung diplomatischer Manöver durch Kunstpatronage: Barber, Marlborough, Art and Diplomacy. 747 Vgl. Braubach, Geschichte und Abenteuer, 37 u. 56 f. 748 Vgl. Hatton, John Drummond. 749 Vgl. Bastian, Verhandeln, sowie dies., Diplomatie; Reinhardt, Les rela­tions interna­tionales; Pons, Dame; Nolde, Was ist Diplomatie; Daybell, Gender.

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Gruppen konzep­tionell nicht allzu sehr einzuebnen, sondern die Unterscheidung von formal und informell so weit wie mög­lich aufrechtzuerhalten. Diese Differenzierung wird in der vorliegenden Studie durch die Unterscheidung von (formalen) Ämtern oder Organisa­tionen und (informelleren) Netzwerken nachvollzogen. Auf der anderen Seite wird die Grenze formal/informell in der neueren Diplo­ matiegeschichte aber nicht nur z­ wischen verschiedenen Akteursgruppen gezogen, sondern auch z­ wischen unterschied­lichen Normensystemen, denen dieselben Akteure folgten. Der Riss z­ wischen formal und informell läuft hier durch die einzelne Person, den einzelnen Diplomaten hindurch. Dies ist in der Forschung am Problem der Patronagenormen verdeut­licht worden, die dazu führten, dass Diplomaten ihrem Herrscher, aber auch sich selbst und ihrer Familie dienen mussten.750 Daraus ergibt sich eine charakteristische Ambivalenz: So ist etwa gezeigt worden, wie sich durch das Nebeneinander formaler Ämter und informeller Patro­nagenormen eine Normenkonkurrenz entwickeln konnte, die insgesamt formal ausgerichtetes Handeln eher erschwerte.751 Gleichzeitig ist aber darauf hingewiesen worden, wie informelle Strukturen etwa der Patronage geradezu supplementär oder komplementär neben noch nicht voll ausgebildete staat­liche Strukturen traten und so den Staatsbildungsprozess beförderten.752 Wenn auch die Forschungen zur Diplomatiegeschichte am eindring­lichsten auf die Übergänge z­ wischen formalen und informellen Beziehungen hingewiesen haben, ist das Phänomen doch nicht auf den engsten Bereich der Diplomatiegeschichte beschränkt. Im Folgenden soll an verschiedenen Beispielen gezeigt werden, in welcher Weise im Bereich der Informa­tionsgewinnung entweder formale Dienst- oder Amtskompetenzen überschritten wurden oder informelle, an Patronage- oder Handelsverhältnisse geknüpfte Netzwerke agierten. Auch an diesen Beispielen ist abzulesen, dass informellere Strukturen oder Netzwerke nicht etwa komplett anderen Regeln folgten als formale und staat­liche; eher arbeiteten sie komplementär.753 750 Vgl. Thiessen, Diplomatie vom type ancien, 476. 751 Vgl. Thiessen, Diplomatie und Patronage. Zum Konzept der Normenkonkurrenz siehe auch: Thiessen, Korrup­tion und Normenkonkurrenz sowie Karsten/Thiessen (Hrsg.), Normenkonkurrenz. 752 Vgl. Droste, Im Dienst der Krone; eine ähn­liche Tendenz – Komplementarität statt Konkurrenz von informellen Netzwerken und Formalisierungsbemühungen – konstatiert: Köhler, Strategie und Symbolik, 294, Anm. 388. 753 Im Anschluss an die These des Soziologen Manuel Castells von der gegenwärtigen „network society“ – Castells meint damit primär Informa­tionsnetzwerke! –, die den

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Bei den im Folgenden zu beschreibenden diplomatischen Korrespondenzen ist es nicht einfach zu bestimmen, in w ­ elche Kategorie ‚informeller‘ Kontakte sie fallen und ob sie überhaupt als formal oder informell zu klassifizieren sind. Die drei vorzustellenden Kontakte spielen sich also in einer ‚Grauzone‘ von formaler und informeller Diplomatie ab. Das heißt: In allen drei Beispielen wird die Informa­ tionsbeziehung, ausgehend von einem formalen diplomatischen oder politischen Amt, in Bereiche erweitert, die man durchaus als informell(er) charakterisieren kann, weil in ihnen neben Dienstpflichten auch Patronageabsichten oder Geldzahlungen eine Rolle spielten. Im Anschluss daran sollen in den nächsten Kapiteln informelle, netzwerkförmige Strukturen dargestellt werden, die den Rückbezug auf eine Amtsbeziehung nicht mehr besaßen. Insgesamt ergibt sich damit ein graduelles Kontinuum abnehmender Amts- und zunehmender patronage- oder handelsförmiger Netzwerkbeziehungen. Am Anfang steht Anthonie Heinsius, eine der zentralen politischen Gestalten des Erbfolgekriegs. Voltaire meinte, Heinsius habe gemeinsam mit Marlborough und Prinz Eugen „tout le poids des alliés contra la France“ geschultert.754 Heinsius dirigierte als holländischer Ratspensionär nach dem Tod Wilhelms III. faktisch, aber in enger Abstimmung mit den komplizierten Gremien der Republik, die niederländische Außenpolitik.755 In militärische Zusammenhänge war Heinsius allerdings nur insoweit involviert, als sie eine außenpolitische Dimension besaßen. Dies unterschied seine Posi­tion von derjenigen Marlboroughs, der in beiden Bereichen agierte.756 Marlborough war, wie dargestellt, als Ambassadeur im Haag akkreditiert und kompensierte seine häufige Abwesenheit vor allem durch einen extensiven Briefwechsel mit Heinsius.757 Marlborough schrieb eng­lisch, Heinsius franzö­sisch (was mindestens bedeutet, dass beide beide Sprachen lasen und dass Marlborough diese Korrespondenz nicht seinem Sekretär überließ). Doch seine Zusammenarbeit mit Heinsius beschränkte sich nicht auf das formale Verhältnis eines Ambassadeurs zu einem Vertreter einer auswärtigen Macht. Schon insofern Staat weitgehend entmachtet habe, wäre weiter zu diskutieren, ­welche Rolle informelle Informa­tionsnetzwerke und -monopole in einer Epoche spielten, in der die Etablierung von Staat­lichkeit auch auf dem Gebiet der Informa­tion eine massive Herausforderung darstellte. Vorerst sehe ich weniger Konkurrenz als Komplementarität. Vgl. Castells, Toward a Sociology; ders., Materials; siehe dazu auch Behringer, Communica­tions Revolu­tions, 369. 754 Voltaire, Œuvres complètes, Bd. 22, 143; in dieser Tradi­tion bezeichnet Goubert die drei Politiker als Triumvirat, was zu weit geht; siehe: Goubert, Louis XIV, 286. 755 Vgl. Veenendaal, Who is in Charge; Franken, General Tendencies; Stork-­Penning, Ordeal. 756 Vgl. Stapleton, Grand Pensionary, 200. 757 Vgl. The Correspondence 1701 – 1711.

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überschreitet die Verbindung zu Heinsius die Grenzen dessen, was formale Amtskompetenzen nahegelegt hätten. Der Befund einer engen und vertrau­lichen Zusammenarbeit, die über das hinausgeht, was durch die Amtsaufgaben umschrieben wird, hat die Forschung wohl nicht zufällig dazu geführt, das Verhältnis beider in informelle Kategorien zu fassen. Da formale Beziehungen auf der Trennung von Amt und Person beruhen, muss es sich in d ­ iesem Fall, der klare Amtszuordnungen schwer macht, um informelle, ja mög­licherweise sogar in substantiellem Sinne um persön­liche Kontakte handeln. Im ähn­lich gelagerten Fall des Verhältnisses von Marlborough zu Prinz Eugen etwa wird bis in die jüngere Forschung hinein mit dem Deutungsmuster einer persön­lichen Freundschaft (in einem modernen, emo­ tionalen Sinn) gearbeitet.758 In der jüngsten Studie zu Heinsius und Marlborough wird das Problem zugespitzt auf die drei Op­tionen „Friends, Colleagues, or just working together for the Common Cause?“. Das unbedingte Vertrauen, das z­ wischen ihnen geherrscht habe, lasse es vielleicht nicht zu – so der Autor –, von Freundschaft zu sprechen, aber beide hätten mehr als kollegial zueinander gestanden.759 Zwei Dinge irritieren an einer solchen Einschätzung: erstens der psychohisto­ rische Wille zur Charakterschau großer Männer, zweitens der Anachronismus der Kategorien. Denn Marlborough und Heinsius konnten formal gesehen ja keine Kollegen sein (weil sie unterschied­liche Ämter in unterschied­lichen Ländern ausfüllten). Vor allem aber verweist die Klassifizierung als ‚Freunde‘ auf das Register des Emo­tionalen und des Persön­lichen. Plausibler ist es, das Verhältnis Heinsius-­Marlborough (und zwar inklusive der zeitgenös­sischen Freundessemantik) politisch zu deuten.760 Wenn Marlborough im Kontext der Haager Friedensverhandlungen 1709 an Heinsius schrieb:

758 Vgl. Schmidt, Prinz Eugen. 759 Veenendaal, Marlborough and Anthonie Heinsius. 760 Dass man es kaum mit einer ‚Freundschaft‘ im emo­tionalen Sinn zu tun hat, legt auch Heinsius‘ Verhalten nach 1711 nahe. Vgl. Gregg, Edward, Marlborough in Exile, 597, der darauf hinweist, dass sich Heinsius aus politischen Rücksichten einem Treffen mit Marlborough verweigerte; vgl. auch Watson, Marlborough’s Shadow, 176. – Eine andere Lesart findet sich im 18. Jahrhundert: Lord Chesterfield beschreibt im Brief an seinen Sohn vom 18. November 1748 das Verhältnis beider als Dominanz Marlboroughs: „The Pensionary Heinsius, a venerable old minister, grown grey in business, and who had governed the republic of the United Provinces for more than forty years, was absolutely governed by the Duke of Marlborough, as that republic feels to that day“ (Lord ­Chesterfield’s Letters, 118).

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„In publick I durst not be of any other opinion then what I write to Ld Townsend (seinem Mit-­Ambassadeur im Haag, M. P.), but to you as a friend I will frankly own that I think it very unreasonable to presse France to do so treacherous a thing as to deliver towns in Spaine“761,

und damit eine Dichotomie ­zwischen „in publick“ und „as a friend“ statuierte, so entspricht dies zwar einem Einsatz von Vertrauen als kommunikativer politischer Ressource, nicht aber einer affektiven Bindung.762 Dieses politische Vertrauensverhältnis ­zwischen Marlborough und Heinsius zeigte sich unter anderem an regelmäßigen Treffen im kleinen Kreis (zuweilen mit dem Sekretär des ­Staatsrates, Slingelandt) im Haag vor dem Beginn oder nach dem Ende eines Feldzugs. Ganz offensicht­lich war Heinsius für Marlborough die Instanz, die die komplizierte politische Dynamik der Generalstaaten im Sinne der Allianz modellieren konnte.763 Denn schließ­lich war die Beziehung der Seemächte untereinander die tragende Achse der Allianz. Allerdings verschob sich im Laufe des Krieges das Gewicht immer mehr in Richtung England,764 und auch das politische Verhältnis Marlboroughs zu Heinsius und umgekehrt blieb nicht ungetrübt. Marlboroughs Wunsch, die südniederländische Statthalterschaft zu erlangen, scheiterte etwa an den Niederlanden und Heinsius.765 Auch die im Laufe des Krieges divergierenden Vorstellungen über die Bedingungen, unter denen Frieden mit Frankreich zu schließen sei, entfremdeten beide zunehmend voneinander.766 Doch wie übersetzte sich das (wenn auch nicht ungetrübte) politische Vertrauens­ verhältnis z­ wischen Heinsius und Marlborough in den enger gefassten Bereich der Informa­tionsgewinnung? Was wurde ­zwischen beiden, die immerhin zwei unterschied­liche, allerdings verbündete Staaten repräsentierten, an Informa­tionen ausgetauscht? Denn nicht nur Marlboroughs, auch Heinsius‘ Informa­tionsnetz galt zeitgenös­sisch als äußerst effektiv.767 Zuerst einmal ist zu konstatieren, wie weit die Koopera­tion beider im Bereich der Informa­tionsgewinnung ging: Beide hielten sich in einem Maße über die 761 Marlborough an Heinsius, 20. Dezember 1709, in: The Duke of Marlborough’s Letters, 120. 762 Ähn­liche Probleme diskutiert im Kontext der Patronageforschung: Droste, Patronage, v. a.  559 – 563. 763 Vgl. Veenendaal, Marlborough and Anthonie Heinsius, 179 f. 764 Vgl. Onnekink, Anglo-­D utch Diplomatic Coopera­tion, 45. 765 Vgl. Veenendaal, Marlborough and Anthonie Heinsius, 186 f. 766 Vgl. Trevelyan, England, Bd. 2, 428. 767 Vgl. Frey/Frey/Rule, Introduc­tion, X; Rule, Gathering Intelligence, 742.

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jeweilige heimische Politik, vor allem aber über äußere Entwicklungen auf dem Laufenden, das über ein normales Bündnisverhältnis hinauszugehen scheint 768 – und angesichts der Personalunion unter Wilhelm III . war das Verhältnis beider Staaten ja tatsäch­lich kein normales Bündnisverhältnis. Dass es ansonsten selbst unter Verbündeten eine große Reserve gab, Geheimnisse miteinander zu teilen, zeigen plastisch die Vorsichtsbestimmungen in der Korrespondenz des kaiser­lichen Gesandten in London, Gallas.769 Man muss also annehmen, dass Marlborough und Heinsius zeitweise ihre oberste Loyalität der Stabilität der Allianz schenkten oder dass sie es mindestens für politisch sinnvoll hielten, so zu kommunizieren, als ob dies der Fall sei. Beispielsweise informierte ­Marlborough Heinsius früh (schon Anfang 1707) und ausdrück­lich vertrau­lich von seinem Vorhaben, nach Sachsen zu reisen, um den schwedischen König von einem Eingreifen in den Erbfolgekrieg abzuhalten.770 Beide berichteten regelmäßig, manchmal sogar mit Weitersendungen interzipierter Briefe, über diplomatische oder militärische Pläne des Feindes oder auch verbündeter Mächte, die sie in Erfahrung hatten bringen können,771 oder sie g­lichen die eingegangenen Informa­tionen miteinander ab. Charakteristisch dafür ist Marlboroughs Formulierung: „Our intelligences from Denmark give us great apprehensions that the present ministry in that court are in the interest of France; I doe not doubt but you have the same intelligence.“772 Schon d ­ ieses Zitat deutet an, dass es ein großes Maß an Überschneidungen der Informa­tionsquellen gab: Heinsius unterhielt wie Marlborough eine enge, auch persön­liche Verbindung zum hannoverschen Sekretär Robethon und erhielt wie Marlborough eine große Zahl interzipierter franzö­sischer diplomatischer Briefe von ­diesem.773 Der schottische Kaufmann Drummond in Amsterdam arbeitete für Heinsius wie für die eng­lische Regierung.774 Auch das hugenottische Spionagenetzwerk Etienne Caillauds belieferte Heinsius und die eng­lische Regierung. Generell war in den süd­lichen wie auch den nörd­lichen Niederlanden, wo zahlreiche formale und informelle Informa­tionsbeschaffer unterschied­licher Art 768 Vgl. Onnekink, Anglo-­D utch Diplomatic Coopera­tion, 52. 769 Vgl. Die Diplomatische Correspondenz des Grafen Johann Wenzel Gallas, 299. 770 Vgl. Stamp, Meeting, 109. 771 Vgl. The Correspondence 1701 – 1711, z. B. 5, 101, 138, 140, 156, 376. Siehe auch The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 747. 772 Marlborough an Heinsius, 4./15. Januar 1703/4, in: The Correspondence 1701 – 1711, 99. Vgl. ähn­lich auch z. B. Heinsius an Marlborough, 27. Mai 1704, in: ebd., 107. 773 Vgl. Oakley, Intercep­tion, 109. 774 Vgl. Hatton, John Drummond.

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arbeiteten, kaum etwas wirk­lich geheim zu halten.775 Charakteristisch ist die folgende Episode: Als Marlborough im Januar 1708 Cadogan auf geheime Mission in den Haag schickte, um dort über den bevorstehenden Feldzug zu beraten, wusste die Exilregierung des südniederländischen Statthalters Max Emanuel in Mons wenige Tage ­später davon; Heinsius wiederum erfuhr davon durch eigene Spione und berichtete Marlborough bereits am 20. Januar davon, dass er wisse, dass der Feind wisse, was man vorhabe. Auffällig ist wiederum, dass die Identität der Informa­tionsquellen nie preisgegeben wurde, aber auch, dass, wie oben schon angedeutet, eine Zusammenarbeit bei der Dechiffrierung interzipierter Briefe (im Unterschied zur Weitergabe bereits dechiffrierter Briefe) nicht praktiziert wurde.776 Die schon erwähnte Bruchstelle im Verhältnis Heinsius-­Marlborough war die immer drohende oder unterstellte Gefahr jeweils separater geheimer Friedensverhandlungen mit Frankreich, also eines einseitigen Aufkündigens der Allianz – genau das Szenario also, das am Ende des Krieges schließ­lich die Generalstaaten empörte.777 Noch 1706 berichtete Heinsius Marlborough vertrau­lich über eine Friedensinitiative Ludwigs XIV. Im Bewusstsein, dass die Niederländer vor allem den Krieg in Spanien gerne beendet hätten, ließ Marlborough in d ­ iesem Kontext gegenüber Heinsius zum ersten Mal die s­ päter so zentrale programmatische Maxime „No peace without Spain“ fallen.778 In den folgenden Jahren – dies legt jedenfalls die Forschung zu d ­ iesem im Halbdunkel liegenden Komplex nahe – wurden die Friedensinitiativen des franzö­sischen Königs und seines Außenministers gegenüber Den Haag regelmäßiger, und ihre Erfolgsaussichten stiegen. Heinsius neigte zunehmend dazu, Marlborough über die Gespräche (die weit davon entfernt waren, bereits ‚Friedensverhandlungen‘ darzustellen, sondern mehr einem Tasten, Vorfühlen, Ausloten von Mög­lichkeiten g­lichen) im Unklaren zu lassen.779 Die geheimen Separatverhandlungen 1709 z­ wischen den Niederlanden, dem franzö­sischen Unterhändler Rouillé und dem holstein-­gottorpschen Gesandten im Haag, Hermann Petkum, der als Vermittler tätig war, scheiterten schließ­lich 775 Vgl. Veenendaal, Het Engels-­Nederlands condominium; Veenendaal, Opening Phase, 35; siehe zur Überkreuzung verschiedener Informa­tionsnetzwerke in dieser Zeit auch: Bély, Espions, 107 – 110. 776 Vgl. de Leeuw, Black Chamber, 143 f. 777 Vgl. Stork-­Penning, Het gedrag; Veenendaal, Who is in Charge, 15. 778 Vgl. Gregg, Queen Anne, 217; Jones, Marlborough, 111 u. 129; siehe auch Godolphins Einschätzung gegenüber Harley aus dem Februar 1706, die Generalstaaten würden den Krieg in Spanien gern beenden: Calendar of the manuscripts of the Marquis of Bath, Bd. 1, 80. 779 Vgl. Reese, Ringen um Frieden, 27 f., 80, 83 f.

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unter anderem daran, dass die eng­lische Regierung (und zwar auf dem Weg über François Jaupains Spionage für Marlborough) davon erfahren hatte und daher in die Gespräche einbezogen werden musste.780 In der Forschung wird Marlboroughs Agieren in dieser Zeit unterschied­ lich beurteilt, denn parallel zur Aufdeckung der geheimen Friedensvorgespräche z­ wischen Frankreich und den Generalstaaten verhandelte Marlborough selbst heim­lich, auf dem Wege über den franzö­sischen General Berwick (seinen Neffen), mit dem franzö­sischen Außenminister Colbert de Torcy. Diese Episode wird einerseits als Ausdruck von Jakobitismus, Bestech­lichkeit und Verrat gedeutet, andererseits als Ausdruck einer kreativen Parallelak­tion zu Heinsius‘ Verhandlungen: Marlborough habe seine Gespräche entweder als Erweiterung der oder als Alternative zu den holländischen Friedensgesprächen gesehen.781 Bei Heinsius jedenfalls verstärkte sich in der Folge immer mehr die Tendenz, im Zweifel M ­ arlborough fallen zu lassen, um entweder unabhängig von England Frieden schließen zu können oder von der neuen eng­lischen Regierung ohne und gegen Marlborough in einen Frieden einbezogen zu werden.782 Während also, vor allem für die ersten Kriegsjahre, eine enge Koopera­tion im Bereich der Informa­tionsgewinnung zu erkennen ist, bildet sich auch auf d ­ iesem Feld die zunehmende Entfremdung ­zwischen den Alliierten in der zweiten Kriegshälfte ab. Das Agieren in einer Grauzone von formaler und informeller Diplomatie wich zunehmend wieder einem formalen Verhältnis. Der Übergang von formaler zu informeller Diplomatie und Informa­tions­ gewinnung lässt sich auch an einem anderen wichtigen Kontaktmann ­Marlboroughs aufzeigen: an dem schon öfter erwähnten hannoverschen Politiker Jean de ­Robethon. Robethon war als ehemaliger Privatsekretär Wilhelms III., der danach als Privat­ sekretär erst Georg Wilhelms von Braunschweig-­Lüneburg und ab 1705 des Kurfürsten Georg Ludwig tätig war, mit der eng­lischen Politik vertraut. Im Zuge der hannoverschen Erbfolge begleitete er Georg I. nach England zurück.783 Robethon kannte Marlborough noch aus England und korrespondierte mit ihm primär als Sekretär seines Kurfürsten,784 im Rahmen also einer ­diplomatischen 780 Vgl. BL Add. 61567, 28r–31r; 52r–55r; 60 f.; BL Add. 61246, 122r–125v; BL Add. 32306. 781 Vgl. zu ­diesem Zusammenhang: Legrelle, Une négocia­tion inconnue; Compton, ­Marlborough’s Secret Negotia­tions; Petrie, Marshal Duke, 230 – 233; Churchill, ­Marlborough, Bd. 2, 497 f.; Reese, Ringen um Frieden, 31. 782 Vgl. Hatton, John Drummond, 83; Weber, Friede von Utrecht, 111; in diese Richtung auch, allerdings übertrieben: Reese, Ringen um Frieden. 783 Vgl. zu ihm: Chance, John de Robethon; Pauli, Jean Robethon; Flick, Celler Hof, 72 f. 784 Vgl. die Korrespondenz in BL Stowe 222 u. BL Stowe 223, 14 – 474.

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Korrespondenz ­zwischen einem eng­lischen Minister und einem verbündeten Herrscher beziehungsweise z­ wischen dessen Sekretär. In der Regel schrieb Cardonnel (der auch eine eigene Korrespondenz mit Robethon unterhielt) Marlboroughs Briefe an Robethon auf Franzö­sisch 785 und schickte Robethon auch seine für die eng­lischen Diplomaten und Regierungsmitglieder bestimmten regelmäßigen Berichte aus dem Feldlager.786 Damit wurde Robethon in gewisser Weise als eine Art außerordent­licher eng­lischer Gesandter behandelt. Robethon war ein wichtiger Kontakt, weil er England kannte und ab 1705 für seinen Kurfürsten, den potentiellen Thronfolger, eine enge Verbindung zu Englands politischer Elite aufbaute; diese Verbindung zu whiggistischen und hannoverfreund­lichen Politikern spiegelt sich auch darin, dass er mit Marlborough eine zunehmend enge Beziehung auch über die Zeit von dessen schwindendem Einfluss und Sturz hinweg unterhielt.787 Er konnte aber darüber hinaus Interna des hannoverschen Hofes berichten (und unterhielt generell weit gespannte Korrespondenzen 788). Viel wichtiger war aber ein anderes Charakteristikum. Weit über die Korrespondenz seiner Fürsten geht seine eigene Korrespondenz etwa mit Marlborough hinaus, und zwar deshalb, weil Robethon von außergewöhn­ lichen Informa­tionsquellen Gebrauch machen konnte. Robethon organisierte die Celler Postüberwachung, die seit den 1690er Jahren eine enorme Bedeutung besaß. Über Celle lief die (auch franzö­sische diplomatische) Korrespondenz nach

785 Dies ist ersicht­lich aus einem Brief Marlboroughs an Robethon, 18. August 1710, in: BL Stowe 241, 109r, in dem sich Marlborough entschuldigt, auf Eng­lisch zu schreiben, weil Cardonnel krank sei. Während Robethon in den ersten Kriegsjahren tendenziell eher (oder wenigstens auch) Cardonnel schreibt, verschiebt sich dies in der zweiten Kriegshälfte; am 14. Januar 1706 schreibt er an Marlborough, er nehme sich die Freiheit, ihm „directement“ zu schreiben, was darauf hindeutet, dass der Regelfall die Korrespondenz mit Cardonnel ist; allerdings schreibt Robethon in der Folge zunehmend auch an ­Marlborough selbst. Siehe BL Add. 61235, 51r. 786 Vgl. z. B. BL Add. 61394, 52r; BL Add. 61235, 17r. 787 Vgl. zu ihrem Verhältnis auch: Gregg, Marlborough in Exile, 593. – Im März 1711 führten Robethon und Marlborough im Haag ein vertrau­liches Gespräch über die jakobitische Gefahr, die England drohe, und Marlboroughs Zukunft; vgl. den Bericht Robethons an den Minister Bernstorff in Hannover, 21. März 1711, in: Klopp, Fall des Hauses Stuart, Bd. 14, 672 – 677. – Vgl. auch seinen Unterstützungsbrief vom 19. Februar 1712, in einer Zeit also „où le silence auroit quelque chose de criminel, et où l’indigna­tion est une excuse legitime pour le rompre“; der gesamte hannoversche Hof, so Robethon, stehe an Marlboroughs Seite. Siehe BL Add. 61236, 121r. 788 Siehe den Überblick bei: Chance, John de Robethon, 57.

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Ost- und Nordeuropa.789 Dies ermög­lichte es Robethon, seinen Kurfürsten, vor allem aber Marlborough mit interzipierten Briefen der Franzosen zu versorgen.790 Daraus aber, wie Bély, mittels der Generalisierung impressionistischer Befunde den Schluss abzuleiten, Robethon sei Marlboroughs „source essentielle“ gewesen, führt viel zu weit.791 An Robethon lässt sich stattdessen eindrück­lich zeigen, wie stark die Literatur zur Spionage im frühen 18. Jahrhundert mit Übertreibungen, halb verstandenen Zusammenhängen und Generalisierungen operiert.792 In der Tat war Robethon ein wichtiger Informa­tionslieferant Marlboroughs (mit einer Spezialisierung auf ost- und nordeuro­päische Diplomatie und Politik) –, aber nicht sein wichtigster oder gar einziger. Die Generalisierungstendenz der Forschung ist auch zu konstatieren, wenn als Beleg für Robethons Bedeutung immer wieder eine – in der Tat spektakuläre – Episode geschildert wird, die aber durchaus ein Extremfall ist. Robethon gelang es im Frühjahr 1704, mehrere Briefe des franzö­sischen Kriegsministers Chamillart an den General Marsin vom Januar abzufangen, die die genauen Instruk­tionen Ludwigs XIV. für den Feldzug 1704 enthielten. Diese sahen einen schnellen und überraschenden Marsch großer Teile der franzö­sischen Truppen nach Bayern und die Vereinigung mit der bayerischen Armee vor; gegebenenfalls könne man dann auch Böhmen oder den ­Kaiser angreifen.793 Robethon sandte diese Informa­tionen im Mai 1704 an Marlborough und an Prinz Eugen.794 Cardonnel dankte ihm wenige Tage s­ päter und bemerkte, man finde in dem Brief „les desseins ulterieurs des Ennemis […] et J’espere que nous pourrons les traverser.“795 Wenn auch in der Literatur zuweilen der Eindruck erweckt wird, diese Informa­tionen s­ eien Marlboroughs Motiv für den Marsch an die Donau (was durchaus zutreffen könnte) und letzt­lich der Schlüssel für den Sieg bei Höchstädt gewesen, 796 fällt doch auf, dass Marlborough selbst die 789 Vgl. Oakley, Intercep­tion; Bély, Espions, 140 – 142; Kilburn, Robethon; Backscheider, Daniel Defoe, 2. 790 Vgl. Snyder, Introduc­tion, XXX. 791 Vgl. Bély, Espions, 91. 792 Die in der populären Literatur öfter geäußerte Meinung, Robethon sei ein ‚Agent‘ ­Cardonnels gewesen, ist unzutreffend; sie beruht auf Unverständnis hinsicht­lich ­Robethons Posi­tion. Vgl. z.  B. Piekalkiewicz, Weltgeschichte, 159. 793 Vgl. BL Add. 61264, 31r–47v. 794 Vgl. Robethon an Marlborough, 19. Mai 1704, in: BL Add. 61235, 13r–14r. 795 Siehe Cardonnel an Robethon, 28. Mai 1704, in: BL Stowe 222, 233r. 796 Vgl. Holmes, Marlborough, 260 f.; Piekalkiewicz, Weltgeschichte, 159.

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kopierten Briefe sowohl an Heinsius als auch an Godolphin mit dem Hinweis weiterschickte, sie ­seien „of an old date, but you will see by it what was then the thoughts of the Court of France“797. Damit ist die Nütz­lichkeit dieser Informa­tion nicht bestritten, aber relativiert. Die Episode ist zudem, anders als in der Literatur suggeriert, nicht der Normalfall. In der Regel waren Robethons Berichte und mitgesandte Interzepte eher Bestandteil einer über das diplomatische Normalmaß zwar etwas, aber nicht weit hinausgehenden Beziehung im Graubereich z­ wischen Diplo­matie und Spionage. Die Episode wird deshalb so oft kolportiert, weil sie k­lischeehaften Vorstellungen vom Sinn der Spionage entspricht: Sie handelt vom Abfangen militärischer Instruk­tionen für einen ganzen Feldzug (statt, wie sonst meist, von Gerüchten, fragmentarischen Informa­tionen, atmosphärischen Einschätzungen). Sie öffnet ein „loophole on Marlborough’s elaborate secret service“798 (was es zu erlauben scheint, sich von einer breiteren strukturgeschicht­lichen Perspektive und der Frage nach der Repräsentativität der Episode zu dispensieren). Sie scheint schließ­lich unmittelbare Entscheidungsrelevanz besessen zu haben – was man erstens, wie Marlboroughs eigene Einschätzung nahelegt, bestreiten könnte und was zweitens eine unterkomplexe Vorstellung davon transportiert, wie Informa­tion und Entscheidung miteinander zusammenhängen.799 Ohne diese Episode also zu gering gewichten zu wollen, muss sie doch in die Korrespondenz Marlboroughs mit Robethon eingebettet werden, will man ihre Bedeutung zutreffend einschätzen. Robethon hatte im April 1703 einen Briefwechsel mit Marlborough aufgenommen, offenbar weil dieser ihn gebeten hatte, ihn mit Informa­tionen zu versehen. Mit einiger Courtoisie schrieb Robethon: „Je commence aujourd‘huy à me servir de la permission que Votre Excellence m’a donnée de luy mander ce qui merite de luy etre communiqué, à present que Leurs Altesses n’ont plus de Ministres àportée de l’en informer, et je me donnera l’honneur de continuer si cette correspondence luy fait quelque plaisir.“800

797 So Marlborough an Heinsius, 27. Mai 1704, in: The Correspondence 1701 – 1711, 106; fast wortgleich an Godolphin, 16./27. Mai 1704, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 303. 798 Churchill, Marlborough, Bd. 1, 760. 799 Siehe zu ­diesem Komplex: Kapitel 4.2. 800 Robethon an Marlborough, 17. April 1703, in: BL Add. 28056, 9r–14v.

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Robethon versteht seine Korrespondenz also als Supplement zu Berichten der eng­lischen Gesandten und berichtet ausführ­lich über den Nordischen Krieg und den Aufstand in Ungarn. Auch – dies zeigt sich auch ­später immer wieder – stellt er über den reinen Bericht oder gar die schlichte Kopie abgefangener Briefe ­hinaus eigene strate­gische Überlegungen an: „V. E. jugera apres ce detail si on doit fort s’empresser à terminer la guerre du Nord, et si au contraire il n’est pas plus advantageux aux allies de la laisser continuer au moins jusqu‘à que l­ ’electeur de Bav.e soit reduit.“801 Wenn auch Cardonnel sich zuweilen über Robethons ausgedehntes geostrate­gisches Räsonnement ärgerte und ihm zuschrieb, die Alliierten wie Dummköpfe und Sklaven zu behandeln,802 so wünschte doch ­Marlborough offenbar genau diese Einbettung fragmentierter Einzelinforma­ tionen: Robethon solle ihm alles mitteilen, was er für die „cause commune“ für sinnvoll erachte.803 Marlborough gab Robethons Korrespondenz zumindest an Godolphin weiter, aber auch eine wenigstens punktuelle Weitergabe an die Secretaries of State fand statt 804 – was das Bild Robethons als ‚Agenten‘ eines exklusiv für Marlborough arbeitenden ‚Spionagesystems‘ weiter relativiert. Auch im Fortgang des Jahres 1703 berichtete Robethon vor allem über die schwedische Kriegspolitik, sandte interzipierte Briefe 805 und kündigte an, er wolle Marlborough mindestens einmal wöchent­lich schreiben, wenn dieser erlaube.806 Hier scheinen sich bereits Patronageabsichten an die formalere diplomatische Beziehung anzulagern.807 Robethons Interesse an Patronage dürfte sich vor allem aus der Hoffnung gespeist haben, enge Verbindungen zum wichtigsten Politiker des Landes aufzubauen, in dem sein eigener Landesherr voraussicht­lich König werden würde. 801 Ebd., 10v. 802 Vgl. den verärgerten Brief Cardonnels an Robethon, 24. Juni 1707, in: BL Add. 61398, 170v–171r. 803 Vgl. Cardonnel an Robethon, 6. Juli 1707, in: BL Add. 61398, 180r–v. 804 Vgl. Marlborough an Godolphin, 30. Mai 1707, in: BL Add. 61109, 125v. Am 17. Juni 1707 schrieb Robethon an Sunderland, um ihn (anstelle des abwesenden hannoverschen Gesandten) über die Entfremdung des Kaisers von den Alliierten zu unterrichten; siehe BL Add. 61492, 162r. 805 Vgl. Robethon an Marlborough, 18. Mai 1703, in: BL Add. 61235, 2v. 806 Vgl. Robethon an Marlborough, 19. Juni 1703, in: BL Add. 61235, 9r. 807 Auch im März 1706 fragt Robethon noch einmal bei Cardonnel nach, ob seine Art zu berichten Marlborough angenehm sei; siehe BL Add. 61235, 74v. Ohne weitere Belege gehen Coxe, Memoirs, Bd. 2, 58 u. Churchill, Marlborough, Bd. 1, 760, davon aus, dass Marlborough Robethon für seine Berichte bezahlt habe – was nicht auszuschließen, aber auch nicht zu beweisen ist.

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In den nächsten Jahren versuchte Robethon hin und wieder, die Verbindungswege zu Marlborough zu verbilligen und sicherer zu machen 808 und versorgte ihn vor allem mit Berichten über den schwedischen König und dessen ab der Mitte des Jahrzehnts zu beobachtende aggressivere Politik gegenüber Sachsen und dem Reich: „[L]’entrée des Suedois en Saxe est un evenement si delicat, et si capable de donner une nouvelle face aux aff.s de l’europe que j’ay crû faire plaisir à V. A. de luy communiquer les advis que nous en avons recus ce matin, Et comme nous les aurons toujours icy de la premiere main, j’auray l‘honneur, Monseigneur, de vous en faire part, si Mr Cardonnel me marque que cela vous sera agreable.“809

Damit wurde Robethon in den Jahren 1706 bis 1708 Marlboroughs hauptsäch­ liche Quelle für die schwedische Politik und auch für die Verbindungen, die Frankreich zu Schweden als einem potentiellen Verbündeten herzustellen suchte. ­Marlborough erfuhr von Robethon, dass Karl XII. nicht als Vermittler im Erbfolge­ krieg auftreten wolle.810 Gerade im Jahr 1707 fürchtete Robethon aber auch um die Geheimhaltung seiner Korrespondenz (es ist unklar, ob er sich vor Feinden innerhalb der eng­lischen Regierung oder vor franzö­sischen Spionen fürchtete) und bat Marlborough um äußerste Diskre­tion.811 Im April 1707 begleitete Robethon Marlborough offenbar sogar auf seinem Besuch im Feldlager Karls XII. in Altranstädt 812 – was angesichts dieser ungewöhn­ lichen Reise eine besondere Auszeichnung dargestellt haben dürfte. Marlborough wollte Karl XII. davon abhalten, sich in irgendeiner Weise im Spanischen Erbfolge­ krieg zu engagieren, was schließ­lich auch gelang. Die weiteren Informa­tionen, die Robethon im nächsten Jahr für ihn abfing, überzeugten Marlborough, dass vom schwedischen König tatsäch­lich keine Gefahr mehr für die Allianz ausging.813 In 8 08 Vgl. Robethon an Cardonnel, 14. Juli 1705, in: BL Add. 61235, 21r: „Je vous prie de mettre à l’advenir toutes vos lettres et vous nouvelles pour moy sous un couvert à Mons. Newbourg secret.e des depesches de S. A. S. il n‘y a point d’inconveient qu’il les ouvre, et cela m’epargnera le port des paquets, qui me seront aussi rendus quelques heures plustost.“ 809 Robethon an Marlborough, 7. September 1706, in: BL Add. 61235, 82r. 810 Siehe Robethon an Marlborough, 10. September 1706, in: BL Add. 61235, 92v; 25. November 1706, in: ebd., 96v. Vgl. auch: BL Add. 61235, 112r–114v;123r–125r; 138r–139r; 148r–v. 811 Vgl. Robethon an Marlborough, 5. August 1707, in: BL Add. 61236, 6r. 812 Vgl. Robethon an Sunderland, 17. Juni 1707, in: BL Add. 61492, 163r. 813 Vgl. z. B. Robethon an Marlborough, 21. Juni 1707, in: BL Add. 61235, 154r u. 157r–v; 24. Januar 1708, in: BL Add. 61236, 50r; 31. Januar 1708, in: ebd., 56.

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einem interzipierten Diplomatenbrief vom 28. April 1707 konnte Marlborough sogar ziem­lich zutreffend lesen, wie die Verhandlungen in Sachsen abgelaufen ­seien (die Franzosen unterhielten also ebenfalls Spione in Altranstädt), dass aber die Franzosen darüber rätselten, wie er es geschafft habe, Karl XII. in Altranstädt auf neutralem Kurs zu halten.814 Wenn auch Robethon 1708 einige Nachrichten über die bevorstehende jakobi­tische Invasion sandte,815 verlor er doch angesichts der sinkenden Bedeutung Schwedens für die alliierte Politik als Informant nach 1707 an Bedeutung. So wichtig Robethon also für Marlborough war und so sehr seine Rolle auch die eines formalen diplomatischen Korrespondenten übertraf: Von der ‚source essentielle‘ kann keine Rede sein. Noch einmal anders ist das Verhältnis von formaler und informeller Diplo­matie und Informa­tionsgewinnung im Falle Friedrich Wilhelm Grumbkows gelagert. Der preußische Oberst, der s­ päter zu den wichtigen Politikern seines Landes gehören sollte,816 wurde für Marlborough der wichtigste Informant aus Berlin, wichtiger selbst als der dortige eng­lische Gesandte. Auch an Grumbkow lässt sich zeigen, wie aus einem (militärischen) Dienstverhältnis ein informelles Informantenverhältnis wurde. Das wichtigste diplomatische Ziel, das England gegenüber der neuen brandenbur­gisch-­preußischen Monarchie verfolgte, war die Herstellung einer engen Bindung an die Große Allianz und damit die Sicherung der Subsidientruppen einerseits, die Verhinderung eines Eingreifens Preußens im Nordischen Krieg andererseits. Preußen war für England vor allem als Truppenlieferant interessant, England für Preußen als Subsidienzahler und Unterstützer bei der diplomatischen Anerkennung der Krone und dem Versuch, die oranische Erbfolge zu sichern.817 Zu Beginn von Annes Regierungszeit wurden die eng­lischen Belange in Preußen von Philip Plantamour wahrgenommen.818 Nach seinem Abzug aus Berlin im Frühjahr 1703 versuchten Marlborough und Godolphin durchzusetzen, ihn weiterhin auf der eng­lischen Gehaltsliste zu führen, was aber offenbar nicht gelang.819 814 Vgl. den mitgeschickten Brief in: BL Add. 61235, 133r; siehe dazu: Coxe, Memoirs, Bd. 2, 56 – 58. 815 Vgl. BL Add. 61236, 68r–70r; 71v; 73r–74r; 77r–78r; 87r. 816 Vgl. Klein, Grumbkow. 817 Vgl. Naujokat, England und Preußen, 45, 58 u. passim; Kroener, Only thing; vgl. auch: Feckl, Preußen, das allerdings durch das Buch von Naujokat weitgehend ersetzt ist, sowie die kurze Analyse von: Frey/Frey, Foreign Policy. 818 Vgl. Naujokat, England und Preußen, 66. Siehe Plantamours Briefe in: BL Add. 61142, 1 – 31. 819 Vgl. Cardonnel an Plantamour, 7. April 1703, in: BL Add. 61395, 54r; Plantamour an Cardonnel, 12. Mai 1703, in: BL Add. 61412, 153r–154r; Marlborough an Godolphin, 26. Juli 1703, in: Letters and Dispatches, Bd. 1, 149.

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Seit 1703 war Thomas Wentworth, Lord Raby, als Envoyé extraordinaire in Berlin tätig; als einem der relativ wenigen eng­lischen Gesandten wurde ihm 1706 sogar der Ambassadeurtitel verliehen.820 Diese Ehre für Raby war gleichzeitig eine diplo­ matische Anerkennung der jungen preußischen Monarchie und eine Belohnung für kurz zuvor zugestandene zusätz­liche Truppen.821 Berlin galt zeitgenös­sisch als schwierigster Hof Europas, als ein Hof voller Kabale und Intrigen.822 Nach dem Sturz Eberhard von Danckelmanns war Johann Kasimir Kolbe von Wartenberg zum wichtigsten preußischen Minister aufgestiegen.823 Wartenberg aber hatte einflussreiche Gegner, etwa den Geheimen Rat Ilgen, den „Vordenker der preußischen Außenpolitik“.824 Wenn auch beide in ihrem proalliierten Kurs übereinstimmten, gab es doch genügend politische und persön­liche Spannungen, die potentiell auf das Verhältnis zu den Verbündeten zurückwirken konnten. Raby war in die höfische Kabale involviert, weil er sich in hohem Maße in den Berliner Hof integriert hatte: Er unterhielt eine besonders enge Beziehung zu Wartenberg, trotz oder gerade, weil er vermut­lich eine Affäre mit dessen Frau (gleichzeitig maitresse en titre des Königs) hatte.825 In die Affäre des knapp vermiedenen Sturzes Wartenbergs im Mai 1706 war der eng­lische Diplomat ebenfalls verwickelt; in Berlin kursierten Gerüchte, Raby und die Gräfin Wartenberg ­seien die eigent­lichen Herren des Hofs.826 Kurzzeitig sah es so aus, als müsse und wolle die eng­lische Königin den für Friedrich I. so prestigereichen Ambassadeur Raby abziehen; dies wusste der König aber durch die Drohung zu verhindern, seinen eigenen Londoner Botschafter im Rang herabzustufen.827 820 Zur relativen Zurückhaltung bei der Vergabe d ­ ieses Titels siehe: Horn, British Diplomatic Service, 45. Zu den Gesandtenrängen siehe auch: Krischer, Gesandtschaftswesen. 821 Vgl. Stollberg-­Rilinger, Höfische Öffent­lichkeit, 174 f. 8 22 Vgl. Naujokat, England und Preußen, 76. Harley sprach von „that Mercurial Court“; siehe Harley an Marlborough, 31. Oktober/11. November 1704, in: BL Add. 61123, 94r. Harley sah im preußischen König ohnehin einen schwierigen Alliierten: So berichtet er Marlborough am 30. Juni/11. Juli 1704, Friedrich verbreite in ganz Europa, dass der bayerische Kurfürst Max Emanuel kurz davor stehe, zu den Alliierten überzugehen – eine während des Donaufeldzuges natür­lich kontraproduktive Nachricht. Siehe BL Add. 61123, 28r. 823 Vgl. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., 128 f.; siehe als Hintergrund auch: Hintze, Hohenzollern, 259 – 265. 824 Naujokat, Mylord Raby, 79. 825 Vgl. ebd., 77 – 79. 826 Vgl. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., 271. 827 Vgl. Stollberg-­Rilinger, Höfische Öffent­lichkeit, 175.

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Raby wurde also von der Londoner Regierung ambivalent eingeschätzt: einerseits sehr einflussreich und bestens vertraut mit den lokalen Gegebenheiten, andererseits parteiisch und eigenwillig. Im Verhältnis von Marlborough und Raby kam persön­liche und politische Antipathie hinzu. Marlborough verhinderte wiederholt eine Berufung des als verkappter Jakobit geltenden Raby auf militärische Posten; er besuchte lieber selbst Berlin, um über Subsidienverträge zu verhandeln, als Raby verhandeln zu lassen.828 Raby rächte sich für diese Demütigung, indem er (mindestens einmal) Briefe Marlboroughs mit großer Verspätung an den König weitergab, um Marlborough zu diskreditieren.829 Wegen des schwierigen Verhältnisses zu Raby (der ­später charakteristischerweise einer der eng­ lischen Unterhändler beim Utrechter Frieden wurde, den Marlborough so verab­ scheute 830) startete ­Marlborough eine Art „Parallelpolitik“831, in der ­Grumbkow eine besondere Rolle zukam. Neben Informa­tionen über die Intrigen am Berliner Hof und ihre mutmaß­ lichen Rückwirkungen auf die politischen Beziehungen beider Länder musste Marlborough auch konkreter mit Informa­tionen zu den Subsidienverträgen versorgt werden. Marlborough hatte im November 1704 mit dem König einen Subsidienvertrag geschlossen, der den Alliierten 8000 Soldaten für den italienischen Kriegsschauplatz zusicherte. Dieser Artikel wurde im Dezember 1705 erneuert.832 In ­diesem Zusammenhang sandte Friedrich I. Grumbkow ab 1704 wiederholt als Verbindungsmann ­zwischen Berlin und der alliierten Armee in Marlboroughs Feldlager. Seine Aufgabe bestand erst einmal darin, Nachrichten von der Front nach Berlin zu melden,833 in der Folgezeit wurde er aber zum offiziellen diplomatischen und militärischen Mittelsmann, der Briefe ­zwischen Marlborough und Friedrich bzw. Wartenberg überbrachte 834 oder als inoffizieller Gesandter zu Marlborough nach London geschickt wurde.835 828 Vgl. Naujokat, Mylord Raby, 74 u. 79 f. 829 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 17. Januar 1707/08, in: BL Add. 61231, 196v. 830 Cardonnel beklagte in ­diesem Zusammenhang die Feindschaft ­zwischen Marlborough und Raby; die Machtverhältnisse z­ wischen beiden hatten sich fast umgekehrt. Siehe Cardonnel an Henry Watkins, 21. November 1711, in: The Collec­tion of Autograph ­Letters, Bd. 2, 83. 831 Naujokat, Mylord Raby, 79. 832 Vgl. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., 204 f. und 247; Plassmann, Preis der Krone, 242. 833 Vgl. die Empfehlungsbriefe Friedrichs an Marlborough, 9. Juni 1704, in: BL Add. 61228, 85 f.; 19. September 1705, in: BL Add. 61229, 23r; 2. April 1707, in: BL Add. 61230, 3r; 24. März 1708, in: BL Add. 61230, 48r. 834 Vgl. BL Add. 61229, 96r, 100r, 170r; BL Add. 61230, 5v; 9r; 38r. 835 Vgl. Friedrich I. an Marlborough, 18. Februar 1710, in: BL Add. 61230, 139r.

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Dies war aber nur der offizielle Teil der Verbindung. Weit darüber hinaus reichte der informelle, ja geheime Teil: Das vertrau­liche Verhältnis, das sich ­zwischen Marlborough und Grumbkow entwickelte, führte dazu, dass ­Grumbkow für Marlborough zum ständigen Informanten über den Berliner Hof (inklusive des eng­lischen Gesandten), die Launen seines könig­lichen Herrn und dessen sprunghafte Politik wurde. „Grumbkow galt als Vertrauter Ilgens, und ­Marlborough sollte über ihn in der Folgezeit einerseits einen eigenen Kontakt zu Ilgen und zum Kronprinzen aufbauen, und andererseits durch Grumbkow über den aktuellen Stand der Politik und der Gruppierungen am Berliner Hof informiert werden.“836 Diese Informantenposi­tion legt durchaus die Frage nahe, gegenüber wem der preußische Oberst eigent­lich Loyalität zeigte.837 Grumbkow informierte Marlborough zum Beispiel über den häufig schlechten Zustand der preußischen Truppen.838 Im Auftrag Marlboroughs redete Grumbkow dem König, der in der Korrespondenz wie ein verzogenes Kind erscheint, ins Gewissen, seine militä­ rischen Zusagen nicht zu brechen.839 Grumbkow schrieb über Rabys angeb­ liche Affäre mit Wartenbergs Gattin,840 aber auch generell über Rabys Stellung am Hof.841 Im März 1707 teilte Grumbkow Marlborough mit, der König sei so aufgebracht über die ihn übervorteilenden Niederländer (es ging nicht nur um die militärische Unterstützung der Allianz, sondern immer auch um das oranische Erbe und um Geldern) und auch den ­Kaiser, dass es unmög­lich gewesen sei, mit ihm über die Verstärkung der preußischen Truppen zu sprechen, was ­Marlborough gewünscht hatte.842 Friedrich I. fühlte sich von den Generalstaaten und England nicht genügend gewürdigt und sah sich zuweilen in einer virtuellen Konkurrenz mit Savoyen, einem Mitglied der Allianz von ähn­lichem Gewicht.843 8 36 Naujokat, England und Preußen, 91; zu Unrecht sieht Hinrichs in ­diesem Verhältnis einen Schachzug Ilgens: Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., 235. Im Brief vom 4. Dezember 1706 (BL Add. 61231, 163r–v) klingt es eher so, als erkläre Grumbkow Marlborough, wer Ilgen ist; dieser scheint Ilgen also vorher nicht gekannt zu haben. 837 Snyder (The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 603, Anm. 2) kommentiert: Grumbkow „worked so closely with Marlborough that he often appeared to be acting at his behest rather than his master’s“. 838 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 9. Februar 1706, in: BL Add. 61231, 159. 839 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 19. April 1706, in: BL Add. 61231, 161v–162r. 8 40 Vgl. Marlborough an Godolphin, 20./31. Mai 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 555; siehe auch ebd., 564. 841 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 4. Dezember 1706, in: BL Add. 61231, 163r–165r. 842 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 5. März 1706/07, in: BL Add. 61231, 183r. 843 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 21. Dezember 1709, in: BL Add. 61231, 230r–v.

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­ arlborough las die von Grumbkow übermittelten Briefe Friedrichs I., die zeigM ten, wie stark sein Ressentiment gegenüber den Generalstaaten war, sogar im Kabinett vor;844 immerhin ging es darum, beide Verbündete bei der Stange zu halten. Grumbkow beriet Marlborough, wie er im Hinblick auf eine Truppenverstärkung am Erfolg versprechendsten mit Wartenberg kommunizieren solle (und empfahl hemmungslose Schmeichelei, allerdings nur in Briefen, die dem König nicht vorgelegt werden sollten – dieser hätte darin eine Zurücksetzung für sich gesehen).845 Immer wieder drohte Friedrich damit, seine Subsidientruppen aus Italien abzuziehen und sie am Oberrhein einzusetzen (also näher der Heimat, aber auch außerhalb der unmittelbaren Kampfzonen)846 – worüber Marlborough im Übrigen bereits von Robethon informiert worden war.847 Wiederum beriet Grumbkow Marlborough dabei, wie der König auf geschickte Weise von diesen Plänen abzubringen sei 848 und betätigte sich als Vermittler ­zwischen beiden.849 Die besondere Stellung Grumbkows blieb Raby nicht verborgen. Dieser suchte Grumbkow als Kreatur Marlboroughs anzuschwärzen, um dessen Stellung zu untergraben.850 Im Briefwechsel mit seinem engen Freund Cadogan (­Marlboroughs Vertrautem!), sprach er seinen Hass auf „that pretty fellow Gromkau“ und seine „little cobweb intrigues“ offen aus, den Cadogan voll und ganz teilte. Grumbkow sei „as silly as he is false“851. „He is the Last Person I know that I would either believe or trust, for he will outlye a Dutch Gazette and is no more capable of keeping a secret than a woman. However as a whisperer is the most dangerous creature, I live civilly with him so as neither to have him for my Friend or my Enemy.“852

844 Vgl. Marlborough an Godolphin, 7./18. Oktober 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1394; siehe auch Godolphin an Marlborough, 5. März 1709/10, in: ebd., 1428. 845 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 5. März 1706/07, in: BL Add. 61231, 186r. 846 Vgl. z. B. Grumbkow an Marlborough, 10. Dezember 1707, in: BL Add. 61231, 189r; siehe zu diesen Plänen, die die eng­lische Regierung sehr beunruhigten, auch den Brief ­Sunderlands an Marlborough, 5. Oktober 1708, in: BL Add. 61127, 19v–22r. 847 Vgl. Robethon an Marlborough, 15. November 1707, in: BL Add. 61236, 27r. 848 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 17. Januar 1707/08, in: BL Add. 61231, 194r–198r. 849 Vgl. ebd., 202r. 850 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 5. März 1706/07, in: BL Add. 61231, 183r. 851 BL Add. 22196, 214r; Cadogan an Raby, 12. November 1706, in: BL Add. 22196, 45v. Vgl. auch BL Add. 22196, 49v; siehe auch Frey/Frey, Grumbkow. 852 Cadogan an Raby, 19. April 1707, in: BL Add. 22196, 69v.

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Die Abneigung war gegenseitig; Grumbkow bezeichnete Raby als „ce terrible Ambassadeur“.853 Grumbkow brachte gegenüber Marlborough oft die Notwendigkeit der Geheimhaltung der Korrespondenz zum Ausdruck – schon dies deutet an, wie sehr sich seine Posi­tion vom Formalen zum Informellen verschoben hatte. ­Marlborough dürfe das, was er ihm schreibe, auf gar keinen Fall bekannt machen: „puisque sans cela ma sincerité me pourroit couter cher“854. Seine Versuche, den König davon zu überzeugen, seine Bündnispflichten zu erfüllen, müssten sehr vertrau­ lich behandelt werden.855 Auch vor Rabys Einfluss auf Wartenberg und den König fürchtete er sich so sehr, dass er Marlborough einmal darum bat, einen Brief zu verbrennen, der eine besonders maliziöse Schilderung von Wartenberg und Raby enthielt.856 (Dies geschah offenbar nicht.) Denn wenn seine wahre Meinung über Raby (oder Wartenberg, das geht aus dem Brief nicht klar hervor) d ­ iesem bekannt würde, müsse Grumbkow damit rechnen, in Festungshaft genommen zu werden: „il n’auroit point de repos, qui ne m’ait a Spando.“857 Während aber der Bericht über Hofinterna vielleicht gefähr­lich, aber kaum per se hochverräterisch war, sah dies in anderen Fällen anders aus. An der Grenze dessen, was Grumbkow erlaubt war, liegen wohl noch die Berichte über seine diplomatische Mission nach Leipzig zu Beginn des Jahres 1707: Grumbkow suchte im Auftrag seines Königs die Absichten Karls XII. von Schweden zu eruieren, der Sachsen besetzt hatte und mög­licherweise ein Bündnis mit Frankreich erwog. In mehreren langen Briefen schilderte Grumbkow Marlborough die für die Allianz heikle atmosphärische Annäherung Preußens an Schweden.858 Diese Situa­tion bewog Robethon in Hannover, der die franzö­sische Diplomatenkorrespondenz überwachte, Marlborough zu bitten „de n’en pas confier la moindre chose aux personnes de la Cour de Prusse qui ont acces aupres d’elle (d. i. Marlborough, ‚son Altesse‘), car la confidence de cette Cour pour la Suede va un dernier degré“.859 Doch Grumbkow war für M ­ arlborough als Informant offenbar so wichtig, dass er sich auf Vertrauen einlassen musste. 853 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 10. Dezember 1707, in: BL Add. 61231, 190v. 854 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 4. Dezember 1706, in: BL Add. 61231, 163r. 855 Vgl. Coxe, Memoirs, Bd. 2, 371 – 373 u. 481; diese absolute Vertrau­lichkeit wurde ­Grumbkow von Cardonnel zugesichert; siehe Cardonnel an Grumbkow, 22. März 1709, in: BL Add. 61400, 125r. 856 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 10. Dezember 1707, in: BL Add. 61231, 192r. 857 Ebd. 858 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 11. Januar 1706/07, in: BL Add. 61231, 171r–175r; 31. Januar 1706/07, in: ebd., 177v–186r; siehe auch Coxe, Memoirs, Bd. 2, 40 – 42. 859 Robethon an Marlborough, 5. August 1707, in: BL Add. 61236, 6r.

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Die ohnehin prekäre Lage wurde in dem Moment noch heikler, als der preußische König, habituell unzufrieden mit seiner Posi­tion innerhalb der Allianz, im Winter 1709 kurzzeitig in Versuchung geführt wurde. Die franzö­sische Seite versuchte, separate Friedensverhandlungen unter anderem mit Preußen anzubahnen, um die Allianz zu sprengen. Im Hintergrund standen wiederum Friedrichs Unmut über Geldern und die oranische Herrschaft, aber auch finanzielle Engpässe sowie der Eindruck, von den Seemächten ausgenutzt zu werden.860 Grumbkow wurde von Friedrich I. auch in dieser diplomatischen Mission eingesetzt und agierte als Mittelsmann.861 Gleichzeitig berichtete er aber Marlborough über diese geheimen Friedensinitiativen, die sich gegen die Allianz richteten. Da dies aber ganz offensicht­lich in den Bereich des Hochverrats fiel, schrieb Grumbkow ohne Unterschrift, mit leicht verstellter Schrift und etwas kryptisch, aber immer noch verständ­lich. „Je dirai de plus et je sais que V. A. ne me trahira pas, qu’on est actuellement en negotia­ tion avec le party contraire et que l‘homme qui vous ecrit, y a eté employe, ce qui n’auroit jamais fait, s’il ne l’avoit dans le dessein de traverser la negotia­tion, et la faire echouer.“862

Grumbkow behauptete also gegenüber Marlborough, er habe alles versucht, um die Friedensverhandlungen scheitern zu lassen – und bat Marlborough darum, seinem König neue Angebote zu machen, die diesen von der Seite Frankreichs abziehen könnten.863 Eben dies geschah auch: Grumbkow selbst setzte einen Brief auf, in dem seinem König finanzielle und diplomatische Vergünstigungen versprochen wurden. Der Brief wurde von Marlborough an Godolphin übergeben; dieser wiederum leitete ihn an die eng­lische Königin weiter, die ihn als persön­ lichen Brief an Friedrich I. schickte und ihm damit vorgeb­lich spontan schmeichelte – was den König wiederum zumindest mitbewog, die geheime Annäherung an Frankreich aufzugeben.864

860 Vgl. zum Kontext: Naujokat, England und Preußen, 207 – 213. 861 Vgl. Rule, France, 105, Anm. 34. 862 Grumbkow an Marlborough, 21. 12. 1709, in: BL Add. 61231, 235. 863 Vgl. ebd., 235 f. 864 Vgl. Coxe, Memoirs, Bd. 2, 482. Ob dieser Brief tatsäch­lich von Grumbkow stammte oder von Marlborough selbst, ist unklar; während Coxe Grumbkows Autorschaft behauptet, sieht Naujokat, England und Preußen, 213, Marlborough als Autor. Aus der Korrespondenz Marlboroughs mit Godolphin geht dies nicht klar hervor; siehe The Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1438 u. 1443.

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Die Episode zeigt schlagend, wie stark die Bindung an den eigenen Herrscher in der Kriegssitua­tion durch persön­liche, aber auch politische Loyalitäten anderer Art überlagert werden konnte – gerade angesichts eines politisch sprunghaften Herrschers inmitten eines von Intrigen dominierten Hofes. Die Loyalität ­Grumbkows gegenüber Marlborough war dagegen relativ konstant: Grumbkow fühlte sich ihm, anders als die meisten anderen Korrespondenten, so verbunden, dass er ihm nach seinem Sturz eine Art Beileidsbrief sandte, ihm aber auch zur Wiedereinsetzung in seine Ämter im Jahr 1714 gratulierte.865 Dies zeigt: Grumbkow sah in Marlborough einen Patron in einer transna­tionalen Patronagebeziehung.866 Grumbkows Interesse an Patronage dürfte dabei wesent­lich mit der überragenden Machtstellung Marlboroughs zusammenhängen, ohne dass unmittelbarere Anreize für die nicht ungefähr­liche Beziehung zu ersehen wären. Marlborough wiederum sah in Grumbkow einen Informanten, der nur deshalb so wertvoll war, weil er in einer Grauzone formaler Diplomatie agierte.867 3.4.2 En quelque sorte sous mes yeux: François Jaupain

Ebenfalls in den Bereich der informellen oder mindestens informelleren Informa­ tionsgewinnung fällt François Jaupain. Er ist schon in der Einleitung erwähnt worden – der Generalpostmeister der südniederländischen Post galt als ‚größter Feind Frankreichs‘ noch nach Marlboroughs Sturz. Seine Gefähr­lichkeit, so die zeitgenös­ sische Fremdeinschätzung, beruhte auf der Kapazität, die gesamte südnieder­ ländische Post zu interzipieren: „Car le maître de cette poste est notre plus grand ennemi, et nous ne devons point douter que dans la plupart des villes ­d’­Hollande ou soumises aux États généraux il n‘y ait des ordres pour les ouvrir.“868 Jaupain war also vor allem wichtig, weil er, auch für Marlborough, ­Interzep­tionsspionage 865 Vgl. Grumbkow an Marlborough, 26. Januar 1712, in: BL Add. 61231, 245 f.; 16. Oktober 1714, in: ebd., 247r. 866 Vgl. zu transna­tionaler Patronage: Thiessen, Diplomatie und Patronage. 867 Ab den späten 1720er Jahren arbeitete Grumbkow in einer ähn­lichen Konstella­tion auch für Prinz Eugen; vgl. Braubach, Geheimdiplomatie, 26 – 30. Im Spanischen Erbfolgekrieg dagegen war Grumbkow noch nicht für beide, Marlborough und Eugen, tätig. Überhaupt ist im Kontext des Spanischen Erbfolgekrieges kaum eine tiefer gehende oder systematische Spionage-­Zusammenarbeit ­zwischen Marlborough und Prinz Eugen zu erkennen. 868 Zitiert nach: Bély, Espions, 162. Trotz Jaupains Bedeutung wird er in einigen Kurzbeschreibungen von Marlboroughs ‚System‘ der Informa­tionsgewinnung nicht einmal erwähnt; siehe Snyder, Introduc­tion.

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durchführte. Daneben unterhielt er aber auch ein Netzwerk von Spionen, die vor allem den Statthalterhof der süd­lichen Niederlande und die Grenzregion zu Frankreich überwachten. Bei der Untersuchung des Postschiffverkehrs z­ wischen Flandern und England ist bereits geschildert worden, dass die Familie Taxis nach der Besetzung der süd­lichen Niederlande durch die Truppen Philipps V. ihr Postmonopol an den profranzö­sischen Postmeister Léon Pajot verloren hatten. Eugen Alexander von Thurn und Taxis wurde für den Fall einer Rückgewinnung der Niederlande die Restitu­tion zugesichert. Allerdings hielten sich die Alliierten nicht an diese Abmachung, sondern setzten nach dem Sieg von Ramillies Jaupain ein.869 Pajot musste sich in den noch nicht besetzten Teil der Spanischen Niederlande zurückziehen (zuerst nach Mons, ­später nach Namur) und versuchte, gemeinsam mit den Taxis in Verträgen mit Jaupain wenigstens einen Teil dessen zu retten, was ihm finanziell zustand, wie er meinte.870 Einem profranzö­sischen Postmeister Pajot, der 1706 sein Amt verlor, standen also zwei Bewerber auf der alliierten Seite entgegen: Taxis und Jaupain. Zwar hatte noch am 4. Juni 1706 ­Kaiser Joseph I. die Restitu­tion der Familie Taxis bestätigt und versichert, dass Marlborough und der Brüsseler Staatsrat sich darum kümmern würden.871 Die darauf folgende Einsetzung Jaupains anstelle der Taxis durch die Alliierten war eine politische Entscheidung, mit der Niederländer und Engländer dem K ­ aiser zeigten, wer jetzt Herr der süd­lichen Niederlande war. Zudem scheint Jaupain, der zuvor Postmeister in Brüssel und Pajots Mitarbeiter gewesen war, die Familie Taxis finanziell überboten zu haben.872 Auch in den kommenden Jahren versuchten die Habsburger, die Taxis wieder einzusetzen, drangen damit aber nicht durch.873 Obwohl sich Eugen Alexander von Thurn und Taxis auch bei Marlborough selbst beschwerte,874 war Jaupain schon Anfang Oktober (gemeinsam mit John Macky) daran beteiligt, einen Vertrag über die Einrichtung der Postlinie von Ostende nach England zu schließen, die oben beschrieben worden ist.875 Jaupain, der Anfang August ernannt 869 Vgl. van Houtte, Les postes, 19; Delepinne, Geschiedenis, 93 – 95. 870 Vgl. Vaillé, Post, 16 – 18. 871 Vgl. Quellen zur Geschichte des euro­päischen Postwesens, Teil 2, 272 f. 872 Vgl. Behringer, Im ­­Zeichen des Merkur, 575 f. 873 Vgl. Quellen zur Geschichte des euro­päischen Postwesens, Teil 2, 284 (17. Oktober 1709). 874 Vgl. Brief an Marlborough, 23. September 1706, in: BL Add. 61365, 19r; die südniederländische Post sei „iamais eté hors de ma famille“. 875 Siehe Cardonnels Brief an Cotton und Frankland, 9. August 1706, in: BL Add. 61398, 43r; vgl. auch Cotton/Frankland an Hedges, 9. August 1706, in: Calendar of State Papers,

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worden war, unterstand der Kontrolle Marlboroughs und des Staatsrats und übernahm weitgehend Pajots Postinfrastruktur. 876 Er schickte ­Marlborough noch 1706 ein Antrittsschreiben, in dem er seine Einsetzung geradezu als Ausdruck der staatsmännischen Vernunft zu verkaufen suchte. Gleichzeitig zeigte er sich aber durchaus offen für einen zukünftigen finanziellen Vergleich mit anderen Bewerbern.877 In den kommenden Jahren war es eine von Jaupains Hauptaufgaben, die alliierte Kommunika­tionssitua­tion z­ wischen den verschiedenen Kriegsschauplätzen zu verbessern.878 Doch dies machte nicht Jaupains eigent­liche Bedeutung aus. Karl de Leeuw stellt fest, dass mit der Einsetzung Jaupains eine lange Phase der Zusammenarbeit mit Marlborough und der eng­lischen Regierung begann, „which went far beyond Jaupain’s responsibilities as a post master“879. Worin Jaupains Rolle aus Sicht der Alliierten vor allem bestand, ist aus einem Brief zu ersehen, den Marlborough dem neuen K ­ aiser Karl VI . am 15. Februar 1712 – also nach seinem Sturz – schrieb. Er bat den K ­ aiser darin um Jaupains Weiterbeschäftigung und begründete dies nicht nur mit seiner guten Arbeit als Generalpostmeister, sondern machte den ­Kaiser vor allem auf Jaupains außergewöhn­lich umfangreiche Spionageaktivitäten aufmerksam. Dieser habe seit der Schlacht von Ramillies sowohl die Post in den alliierten Gebieten der Spanischen Niederlande überwacht und interzipiert als auch Spione und geheime Korrespondenten im feind­lichen Gebiet organisiert. Er habe also Initiativ- wie Interzep­tionsspionage betrieben, und zwar „dans les villes et armées des ennemis sans rien diminuer de l’atten­tion Bd. 4, 197 f.; Cardonnel an Jaupain, 14. August 1706; ders. an Macky und an Jaupain, 16. August 1706, in: BL Add. 61398, 48v; 50v–51r; 51r; Quellen zur Geschichte des euro­ päischen Postwesens, Teil 2, 1. Oktober 1706, 274. 876 Vgl. Janssens/Meurrens, Vorstelijke en private post, 86. Die Autoren gehen (ebd., 79) vom Ernennungsdatum 9. September aus. Dass Jaupain aber schon Anfang August zum Generalpostmeister gemacht wurde und dass dies maßgeb­lich auf die eng­lische Initiative zurückging, geht aus einem enthusiastischen Glückwunschbrief Cardonnels vom 8. August 1706 hervor: „J’ay esté ravi d’apprendre par l‘hon.r de Vôtre lettre de hier que Vôtre affaire estoit fini a Vôtre satisfac­tion et qu’enfin on Vous a Declaré Directeur General des postes estant persuadé que le Public en sera tres bien servi“ (BL Add. 61398, 40v–41r). 877 Vgl. Jaupain an Marlborough, 1706, in: BL Add. 61336, 150r–151r. 878 Vgl. etwa seine Pläne für die Einrichtung einer reguläre Postlinie von Flandern nach Katalonien über Mailand und Genua, Brief Jaupains an Cotton und Frankland, in: BL Add. 61601, 49r. Siehe auch die punktuellen Anweisungen Cardonnels an Jaupain zur Verbesserung der militärischen Kommunika­tion in den süd­lichen Niederlanden, 11. Oktober 1710, in: BL Add. 61372, 273v. 879 De Leeuw, Black Chamber, 142.

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qu’il a eue de veiller sur les villes soumises“. Diese Arbeit sei unter Marlboroughs Überwachung oder in seinem Auftrag geschehen: „Il a rendu tous ces services en quelque sorte sous mes yeux“.880 Schon aus Dank dafür, aber auch, weil sein Geheimdienst auch in Zukunft nütz­liche Dienste leisten könne, solle der ­Kaiser Jaupain das Amt des Generalpostmeisters belassen. Der K ­ aiser folgte dieser Bitte: Jaupain behielt sein Amt bis 1725 (als die Postpacht in den österreichischen Nieder­landen an Anselm Franz von Thurn und Taxis überging), wurde 1712 sogar nobilitiert und spionierte in der Folgezeit auch für den Wiener Hof.881 Jaupain wurde also von Marlborough protegiert. Er war als Generalpostmeister zwar formal dem Staatsrat und damit indirekt auch Marlborough unterstellt, wichtiger war aber das informelle, verhältnismäßig enge Patronageverhältnis ­zwischen Marlborough und Jaupain.882 Marlborough bat Jaupain mehrfach darum, längere Zeit in seinem Feldlager zu verbringen, „ou votre personne pourra nous estre u­ tile“.883 Worin genau die Nütz­lichkeit persön­licher Anwesenheit bestanden hat, ist schwer abzuschätzen; deut­lich wird aber eine enge informelle Bindung und eine Schätzung, die im Wesent­lichen auf Jaupains Spionagediensten für Marlborough beruhte. Seine Bedeutung für Marlborough illustriert eine spätere Episode: Im Herbst 1710 unterstützte Marlborough Jaupain zusätz­lich dabei, eine Stelle als Lieutenant Colonel im alliierten Heer zu erlangen – und zwar deshalb, weil dieser Status es erlaubt hätte, ihn im Falle seiner Gefangennahme leichter auszutauschen. Da aber der Brüsseler Staatsrat dabei mitzureden habe, wollte Marlborough dies nicht allein entscheiden. Aus den Quellen geht nicht hervor, ob die Initiative erfolgreich war, wichtiger ist aber die Bedeutung Jaupains, die aus dem Versuch spricht.884 880 Letters and Dispatches, Bd. 5, 576. 881 Vgl. Zedinger, Verwaltung, 55. – Über Jaupains weitere Karriere unter den Habsburgern ist wenig bekannt, aber immer noch mehr als über seine frühere Biographie: Man weiß über ihn, dass er überzeugter Anhänger der Alliierten war; dass er und seine Familie sich in einem jansenistischen Umfeld bewegten; dass er schließ­lich 1712 nobilitiert wurde und 1726 starb. Siehe die verstreuten Hinweise bei de Leeuw, Black Chamber, aber auch: Wouters, Placcaerten, Bd. 7, 21; Sheridan, Life and Works, 63 f. 882 Siehe z. B. den Neujahrsbrief Jaupains an Marlborough, 31. Dezember 1711, BL Add. 61368, 87r–88r. 883 Siehe die Briefe von Marlboroughs Sekretär Cardonnel, die zeigen, dass Jaupain mindestens in den Jahren 1708 und 1709 Teile der Kampagne im Lager des Herzogs verbrachte; BL Add. 61366, 120r (hier das Zitat); BL Add. 61400, 50v. Marlborough selbst spricht von drei Feldzügen, die Jaupain „avec nous“ mitgemacht habe; siehe Letters and Dispatches, Bd. 5, 576. 884 Vgl. die Briefe von Cardonnel an Lawes, 18. September u. 5. Oktober 1710, in: BL Add. 61401, 88v u. 102v.

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Jaupain begann im Dezember 1706 auch eine Korrespondenz mit S ­ underland, 885 dem er sich über Marlborough genähert hatte. Darin bot er Sunderland an, „a luy communiquer toutes les semaines ce qui viendra a ma ­connaissance“.886 Im Mai 1707 teilte Marlborough Godolphin bereits mit, Sunderland bekomme von Jaupain regelmäßige news aus Mons, also vom feind­lichen Hof Max E ­ manuels.887 Der Befund, dass die mit der Jaupain-­Korrespondenz mitgeschickten Newsletters und interzipierten Briefe im Wesent­lichen in Sunderlands – und eben nicht ­Marlboroughs – Nachlass aufbewahrt wurden, ist also, anders als in der Forschung vermutet, kein Beleg für Marlboroughs mangelhafte Informa­ tionsgewinnung und auch nicht dafür, dass sich die Secretaries of State umfassender um die Organisa­tion von Spionage bemühten als der Herzog.888 Er belegt stattdessen nur, dass Sunderland (der sich in London aufhielt) anders als Marlborough (der sehr viel reiste und die meiste Zeit im Feldlager verbrachte) seine gesamte Korrespondenz aufhob und archivierte. Alles spricht dafür, dass im Fall Jaupain Sunderland und Marlborough sehr eng zusammenarbeiteten und beide an den Nachrichten teilhatten, die Jaupain ihnen übermittelte. Dies wird auch durch weitere Indizien belegt: durch die punktuelle und ganz beiläufige Erwähnung Jaupains in ihrer Korrespondenz,889 aber auch dadurch, dass Sunderland Jaupain über Cardonnel eine Chiffre schickte,890 schließ­lich durch den Umstand, dass offensicht­lich an Cardonnel oder Marlborough geschickte Briefe Jaupains sich im Nachlass Sunderlands finden.891 Auffällig ist allerdings auch, dass Marlborough und Sunderland sich kaum inhalt­lich über die Berichte 885 Vgl. Cardonnel an Jaupain, 27. Dezember 1706, in: BL Add. 61398, 114r. Cardonnel empfahl Jaupain, Sunderland, der von Jaupains Berichten profitieren wollte, direkt zu schreiben, damit er nicht immer den Kommunika­tionsweg über Marlborough und sein Umfeld nehmen musste. Vgl. Cardonnel an Jaupain, 24. Januar 1706/07, in: BL Add. 61398, 127v. 886 Vgl. Jaupain an Sunderland, 31. Dezember 1706, in: BL Add. 61567, 3r–4r (Zitat 4r). 887 Marlborough an Godolphin, 8./19. Mai 1707, in: The Marlborough-­Godolphin Corres­ pondence, Bd. 2, 771: „I do not send you the news we have from Mons, the postmaster telling me that he sends itt to Lord Sunderland.“ 888 So: Alsop, British Intelligence, 116 f. 889 Vgl. z. B. Sunderland an Marlborough, 2. August 1708, in: BL Add. 61126,130v–131v. 890 Vgl. Jaupain an Sunderland, 24. Februar 1706/07, in: BL Add. 61567, 14r. 891 Jaupain an Cardonnel, 14. Januar 1707, in: BL Add. 61567, 12v: „Je vous prie Monsieur si vous croyez la chose bonne de communiquer les nouvelles et les copies des lettres a son Excellence Milord Sunderland, n’ayant pas eu assez de tems pour en faire un double pour ladite Excellence“. Dass ein von Jaupain interzipierter Brief in Sunderlands Nachlass ein Regest in Cardonnels Handschrift besitzt, spricht ebenfalls für einen engen Austausch; vgl. BL Add. 61568, 217r.

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Jaupains austauschten.892 Dies dürfte allerdings mehr mit Fragen des Umgangs mit Informa­tion, also mit deren Funk­tion(en) zu tun zu haben.893 Jaupain erledigte seine Spionagearbeit für Marlborough und Sunderland als Teil seiner so verstandenen Aufgaben als Generalpostmeister. Seine Ernennung dürfte insofern auch mit seinen bereits vorher geleisteten Diensten auf ­diesem Gebiet zu tun haben: Er hatte sich als Mitarbeiter der Taxis’schen Post in Brüssel als fähiger Spionageorganisator gezeigt. Daher kann seine Ernennung zum Generalpostmeister auch als Versuch verstanden werden, seine Posi­tion in einem bestimmten Maße zu konsolidieren, seinen informellen Status als Organisator von Informa­tionsgewinnung also in gewisser Weise formal zu rahmen. Für diese Deutung spricht auch Jaupains Entlohnung durch die eng­lische Regierung, die gezielt für Spionage gezahlt wurde: Sunderland sicherte Jaupain im Sommer 1707 einen Lohn von 40 Pfund alle drei Monate zu, und Jaupain versprach darauf, er werde fortfahren, „avec beaucoup de plaisir a informer VE. de tout ce qui viendra a ma connoissance“.894 Ob diese Bezahlung auch in den nächsten Jahren regelmäßig gezahlt wurde (ein Element von Formalisierung), ist unsicher und erscheint eher unwahrschein­lich. Denn eine Bitte Cardonnels aus dem Herbst 1709, Jaupain möge weiterhin Korrespondenten an der Grenze nach Frankreich unterhalten, dies aber mög­lichst kostengünstig tun, spricht eher für den Befund, dass Jaupain nicht pauschal, sondern spezifischer entlohnt wurde: „le mieux que Vous pourrez a peu des frais“.895 Dass aber Jaupains Beziehung zur eng­lischen Regierung keinesfalls in einem Amtsverhältnis aufging, ist schon daran ablesbar, dass er gleichzeitig auch Interzep­tionsspionage für den Brüsseler Staatsrat, aber auch für Heinsius betrieb.896 Die abgefangenen und abgeschriebenen Briefe vor allem des Statthalterhofs wurden also durch Jaupain den wichtigsten politischen Akteuren der Seemächte und der süd­lichen Niederlande zugäng­lich gemacht. Wie oben bereits bemerkt, fand allerdings die Dechiffrierung unabhängig voneinander statt, wenn sie nötig war – für die Engländer erledigte sie Blencowe in London. Um Jaupain noch präziser im Kontext der eng­lischen Informa­tionsgewinnung in den Spanischen Niederlanden zu situieren: Er stand in relativ engem Kontakt mit Cadogan und Lawes in Brüssel, deren Spionagenetzwerk bereits oben

892 Auffällig ist dies in BL Add. 61127, passim. 893 Siehe Kapitel 4. 894 Jaupain an Sunderland, 9. Juni 1707, in: BL Add. 61567, 67r. 895 Cardonnel an Jaupain, 9. November 1709, in: BL Add. 61400, 217v. 896 Vgl. Veenendaal, Het Engels-­Nederlands condominium, 190; de Leeuw, Black Chamber, 150.

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beschrieben wurde; jedenfalls kommt er in deren Korrespondenz zuweilen vor.897 Da sie alle mit Marlborough und auch dem Secretary Sunderland zusammen­arbeiteten, wurden mindestens in Einzelfällen Briefe an Jaupain aus London auf dem Wege der diplomatischen Post via Lawes gesendet.898 Gerade deshalb ist allerdings die weitgehend fehlende Zusammenarbeit ­zwischen beiden Netzen umso auffälliger: Jaupain arbeitete für sich, Lawes ebenfalls, obwohl beide ­Marlborough mit Informa­tion belieferten, partiell die gleichen ­Themen bearbeiteten und dieselben Kanäle nutzten.899 Sehr selten lässt sich im Bereich der Informa­tionsgewinnung eine Koopera­tion z­ wischen Lawes und Jaupain aufzeigen; vereinzelt schickte Jaupain Newsletters an Lawes.900 Oben war bereits erwähnt worden, dass ein Schwerpunkt von Lawes’ Spionageaktivität darin bestand, die Korrespondenz des bayerischen Statthalterhofes in Mons zu überwachen. Da genau dies auch eines der Hauptziele Jaupains war, ist es naheliegend, dass beide beim Versuch, in Mons einen Spion zu installieren, zusammengearbeitet haben. Allerdings geht genau dies aus der Korrespondenz nicht hervor.901 Da Lawes‘ Interzep­tionsbemühungen in Mons vor allem in das Jahr 1709 fallen, Jaupain aber, wie gezeigt werden wird, schon vorher dort jemanden beschäftigte, ist es wahrschein­licher, dass entweder beide voneinander unabhängig agierten oder dass die Initiative in d ­ iesem Fall von Jaupain ausging. Lawes begann seine Spionagearbeit in den süd­lichen Niederlanden erst in der zweiten Jahreshälfte 1707. Doch schon Anfang August 1707 erhielt M ­ arlborough von seinem Hannoveraner Korrespondenten Robethon einen interzipierten Brief, der deut­lich macht, dass Jaupain vermut­lich schon um diese Zeit begonnen hatte, den Hof in Mons zu infiltrieren.902 Der Brief, den Robethon in Celle hatte interzipieren lassen, stammte vom bayerischen Diplomaten Monasterol 903 und war an den schwedischen Gesandten in Polen, Hermelin, gerichtet. Monasterol 897 Vgl. Cadogan an Marlborough, 22. April 1709, in: BL Add. 61160, 109v. 898 Vgl. den Brief Jaupains an einen von Sunderlands Under-­Secretaries, 16. Oktober 1709, in: BL Add. 61568, 231r–v. 899 Vgl. den vereinzelten Brief Jaupains an einen der Secretaries, 28. Januar 1710, in: TNA SP 77/59, 17r, der ­zwischen den Briefen Lawes‘ und Cadogans abgelegt ist. 900 Vgl. Jaupain an Lawes, 27. Oktober 1708, in: TNA SP 77/57, 395r–398v; ähn­lich auch Lawes an Sunderland, 8. April 1709 mit beigelegtem Newsletter von Jaupain, allerdings mit der Bemerkung, dass Lawes diesen nur mitschicke, weil Jaupain befürchte, dass sein eigener Brief Verspätung habe. 901 Vgl. TNA SP 77/58, 53r; 55r; 61r–v; 76v; 88r; 97v; 110v; 130v; 132r; 159r; 209r; 299r. 902 Vgl. BL Add. 61236, 9r. Der im Folgenden besprochene Brief Monasterols stammt vom 30. Juli 1707; Robethon schickte ihn bereits am 5. August an Marlborough weiter. 903 Vgl. Frey/Frey, Ferdinand Solar.

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informierte diesen über „une lettre digne de foy venant de l’armée du Duc de Marlborough“ – also über eine Angelegenheit, die er aus Marlboroughs Feldlager erfahren hatte. Dort gab es zu dieser Zeit offenbar einen franzö­sischen Spion. Neben der Tatsache, dass es Marlborough angeb­lich gelungen war, im Umfeld des franzö­sischen Ministers Chamillart „à force d’argent“ einen Spion zu installieren, unterhalte er auch mindestens eine weitere Korrespondenz, die ihm alle Dinge zugäng­lich mache, die am Hof des bayerischen Kurfürsten in Mons vor sich gingen: „par la voye de cette correspondence secrette, et d’une autre qu’il a ailleurs, Il scait tout ce qui se passe à la Cour de l’electeur de Bavieres.“904 ­Marlborough erfuhr also sowohl, dass es in seiner Armee ein Leck gab, als auch, dass der Feind wusste, dass er mindestens einen hocheffektiven Spion in Mons unterhielt. Angesichts des Datums ist es höchst wahrschein­lich, dass der hier vermutete Spion für Jaupain arbeitete. Auch im Falle Jaupains kann man, zugunsten einer übersicht­licheren Darstellung, aber auch anschließend an Marlboroughs eigene Kategorisierung im Brief an Karl VI., z­ wischen Initiativ- und Interzep­tionsspionage unterscheiden.905 Die Berichte des erwähnten Spions gehören in den Bereich der Initia­tivspionage. Hierher gehört auch die Vielzahl von Newsletters, die Jaupain organisierte und weiterschickte, die aber zum Teil vermut­lich nicht exklusiv für ihn angefertigt wurden. Jaupain schrieb die Berichte ab oder schickte sie so weiter, wie sie ihm vorlagen. Entziffert wurden sie, falls nötig, dann in London. Sunderland und auch Marlborough übersandte Jaupain zum Beispiel Newsletters aus Spanien 906 oder Polen 907, vor allem aber von der südniederländisch-­franzö­sischen Front. Offenbar unterhielt Jaupain dort immer mehrere Kuriere, die ihn vor allem über den Standort der Truppen, deren Stärke, Feindesbewegungen und mög­liche Pläne informierten. Zuweilen schrieben offenbar auch Offiziere der spanisch-­franzö­ sischen Truppen Berichte für Jaupain, vermut­lich gegen Geld.908 Unklar ist, ob

904 BL Add. 61236, 9r. 905 Daneben befasste sich Jaupain für die Alliierten auch mit der Beobachtung und Meldung verdächtiger Reisender; vgl. Marlboroughs Brief an van den Berg, 28. Juni 1708, in: Letters and Dispatches, Bd. 4, 87; Cardonnel beauftragte ihn überdies damit, für ­Marlborough gedruckte Zeitungen aus Frankreich zu besorgen – auch dies eine Aufgabe, die einem Postmeister leichter fiel als anderen. Siehe Cardonnel an Jaupain, 12. April 1709, in: BL Add. 61400, 129v. 906 Vgl. BL Add. 61568, 23r; Add. 61264, 116r. 907 Vgl. BL Add. 61554, 139r. 908 Vgl. die Letters of Spanish officers in Elector of Bavaria’s camp 1707, in: BL Add. 61567, 56r–57v.

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alle diese Korrespondenten exklusiv für ihn arbeiteten.909 Dafür spricht aber, dass Jaupain mindestens einmal den Staatsrat um Geld für ein oder zwei zusätz­liche Kuriere bat. Marlborough unterstützte ihn darin, um ihn in Stand zu setzen „de nous donner des avis f­ réquents et justes de tous les mouvements des ennemis“910. Dafür spricht auch, dass ­Jaupain Postillione speziell damit beauftragte, das feind­ liche Feldlager auszukundschaften 911 und einmal sogar einen Korrespondent einen „affidé“ nennt, einen Getreuen also.912 Einer der Korrespondenten beschäftigte sogar offenbar selbst mehrere Kuriere, die über Standorte des feind­lichen Feld­ lagers Auskunft gaben.913 Jaupain unterhielt also eine Reihe von Spionen, die ihm Newsletters von der Front schickten. In ­diesem Zusammenhang ergab sich offenbar punktuell eine Koopera­tion mit dem Spionagenetzwerk Etienne Caillauds aus Rotterdam.914 Unklar ist, ob beide im franzö­sischen Grenzgebiet auf dieselben Spione zurückgriffen. Ihr Verhältnis zueinander bleibt im Dunkeln, aber zuweilen sandte Jaupain Newsletters, die Caillaud dechiffriert und abgeschrieben hatte, an Sunderland weiter und kommentierte sie kurz.915 Dies hieße, dass manchmal Berichte von Spionen aus den süd­lichen Niederlanden zuerst nach Rotterdam gegangen sein müssen, um, von Caillaud transkribiert, wiederum über Brüssel ( Jaupain) nach England geschickt zu werden. Warum dieser Weg gewählt wurde, ist nicht aufzulösen. Es legt aber den Schluss nahe (ähn­lich wie im Fall Lawes), dass fallweise, wenn auch selten, die Spionagenetzwerke, die unter anderem für die Londoner Regierung arbeiteten und eng mit Marlborough verbunden waren, miteinander kooperierten. Spektakulärer als die meist mit militärischen Einzelheiten gespickten Newsletters aus dem Grenzgebiet sind die Berichte seiner Spione vom Hof des bayerischen Kurfürsten und Statthalters Max Emanuel. Oben war bereits die Rede davon, dass die Gegenseite im Sommer 1707 einen Spion in Mons 909 Vgl. z. B. BL Add. 61561, 105r; 121r–128v; 133r; 145r; 149r; 179r; BL Add. 61568, 79r; 99v; 101r; 109r; 117r; 120r; 123r; 129r–v; 131v–132r; 147; 149r. 910 Vgl. Marlborough an van den Bergh, 4. Juni 1708, in: Letters and Dispatches, Bd. 4, 48. 911 Vgl. Jaupain an Sunderland, im Mai 1707, in: BL Add. 61567, 58r: „Raport d’un Postillon que J’ay envoyé pour prendre langue des Ennemis“. An anderer Stelle spricht Jaupain vom „Raport d’un home que J’envoye tous les jours vers l’armee des Ennemis“; siehe Jaupain an Sunderland, 3. Juni 1707, in: BL Add. 61552, 62r. 912 Jaupain an Sunderland, 13. Juni 1707, in: BL Add. 61567, 75r. 913 Vgl. Beilage in: Jaupain an Sunderland, 2./3. Juni 1708, in: BL Add. 61568, 107r–v. 914 Siehe nächstes Kapitel. 915 Vgl. BL Add. 61550, 112r; die obige Beobachtung beruht darauf, dass es sich um ­Caillauds und Jaupains Handschriften handelt. Siehe auch BL Add. 61548, passim.

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vermutete. Doch schon Ende Dezember 1706 begann Jaupain, Sunderland mit Berichten aus Mons zu versorgen. Aus ihnen geht hervor, dass sich Max Emanuel von der schwedischen Besatzung Sachsens eine derart durchgreifende Verschiebung der Machtverhältnisse im Reich erhoffte, dass er bereits auf eine Wiedereinsetzung als Kurfürst spekulierte, dass dies allerdings auch im franzö­sischen Lager bezweifelt wurde. Zudem wurde deut­lich, dass der franzö­sische König eventuelle Friedenshoffnungen begraben hatte und sich, allerdings erschwert durch Geldmangel, auf den nächsten Feldzug vorbereite.916 Die ökonomisch schwierige Lage Frankreichs bildete in den kommenden Jahren ein Hauptthema auch anderer Newsletters, die die eng­lische Regierung erhielt;917 das Retablissement des Kurfürsten erwies sich schnell als vergeb­ liche Hoffnung.918 Bereits im Januar 1707 legte Jaupain offen, woher er Informa­tionen wie diese hatte – in außergewöhn­licher Offenheit berichtete er: „J’ay un homme a moy, a qui je donne un bonne pension mais il est encore nouveau. J’ay cependent lieu d’esperer qu’il fera quelque chose de plus positif par la suitte. Il passe son tems avec le secretaire de Malknecht et voit une partie de ses lettres.“919

Es war Jaupain also gelungen, einen Spion im Umkreis des bayerischen Rats Malknecht (einem der wichtigsten Mitglieder der Exilregierung 920) zu platzieren oder einen Untergebenen Malknechts durch Bestechung zu gewinnen. Diese zweite Op­tion ist wahrschein­licher. Wie Jaupain sie genau bewerkstelligte, kann nicht rekonstruiert werden. Jaupain schätzte die Zuverlässigkeit seines Spions hoch ein: „les avis sont sur“921. „Mon homme de Mons“ – so nennt Jaupain seinen Spion meist 922 – zeigt 916 Vgl. Jaupain an Sunderland, 31. Dezember 1706 (der mitgeschickte Brief ist vom 29. Dezember), in: BL Add. 61567, 5r–6r. 917 Vgl. etwa auch ein Memoire über die extreme Geldknappheit in Frankreich, das Jaupain aus Douai erhielt und an Sunderland weitersandte; BL Add. 61550, 105r–106r. 918 Zur zeremoniellen Achterklärung im April 1706 siehe: THEATRI EUROPAEI Sieben­ zehender Theil, Teil III, 84 f.; siehe zum Kontext auch: de Schryver, Das dynastische Prinzip; Neumann, Die Rolle Kurbayerns. 919 Jaupain an Cardonnel, 14. Januar 1707, in: BL Add. 61567, 7r–v. 920 Vgl. Frey/Frey, Malknecht. 921 Jaupain an Sunderland, 24. Februar 1706/07, in: BL Add. 61567, 14r. 922 Jaupain an Cardonnel, 14. Januar 1707, in: BL Add. 61567, 7v. Manchmal spricht ­Jaupain auch von seinem „correspondant que j’ai a la Cour de Baviere“; siehe Jaupain an ­Sunderland, 28. Februar 1707, in: BL Add. 61567, 20r.

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in seinen Briefen eine charakteristische Unklarheit darüber, welcher Seite er sich zugehörig fühlt. Jaupain ist sein „cher ami“923, doch die franzö­sisch-­bayerische Seite ist ‚nous‘, während Jaupain und die alliierte Seite mit ‚vous‘ posi­tioniert werden. Dennoch wird eine Niederlage der Allianz als „triste et facheuse nouvelle“ bezeichnet.924 Auf der anderen Seite wird ein erfolgreicher Vorstoß der alliierten Truppen in Richtung Lille als „des mauvaises nouvelles […] elles sont tres mechantes“ charakterisiert: „Je viens de voir un ministre de notre Cour Regarder le Ciel avec des yeux plains de larmes en disant n‘y aurat il jamais de fin a nos malheures.“925 Mon homme berichtete schwerpunktmäßig über Politik und Diplomatie ­zwischen Mons und Paris sowie über die fortdauernde enge Beziehung z­ wischen Mons und der schwedischen Regierung, aber auch über militärische Details. Er konnte Briefe Malknechts und andere diplomatische Korrespondenz einsehen und abschreiben (etwa Briefe an Philipp V.) und leitete sie an Jaupain weiter.926 Mon homme hatte wiederholt Zugang zu Kopien von Briefen Max Emanuels etwa an Ludwig XIV.927 Darüber hinaus lieferte er Stimmungsberichte (die die militärische Situa­tion Frankreichs eher düster zeichneten)928 und berichtete von Hoffnungen und Ängsten am bayerischen Hof, die mit den Aufrüstungen in Dünkirchen und dem jakobitischen Invasionsversuch von 1708 zusammenhingen.929 Auch machte er Jaupain darauf aufmerksam, dass Max Emanuel einen Spion im Umkreis Marlboroughs unterhalte, und wies ihn auch im eigenen Interesse zur Vorsicht an: „je vous prie de ne comuniquer mes lettres qu’a gens que vous connoissez bien.“930 Er dürfte also der Spion sein, von dem Marlborough s­ päter selbst erfuhr und der oben erwähnt wurde. 923 Vgl. mon homme, weitergeleitet von Jaupain an Sunderland, 5. Mai 1708, in: BL Add. 61552, 102r. 924 Vgl. der Brief von mon homme, weitergeleitet von Jaupain an Sunderland, in: BL Add. 61552, 19r u. 37r. 925 Vgl. ebd., 7. April 1708, 91r–92r. 926 Vgl. die Briefe von mon homme, die Jaupain an Sunderland schickte, in: BL Add. 61552, 1v, 5r, 9r;17v; 53r. Vgl. auch: ebd., 15r; 21r (26. März 1707). 927 Vgl. z. B. Jaupain an Sunderland, 15. Januar 1707, in: BL Add. 61562, 17r. 928 Vgl. BL Add. 61552, 3v (2. März 1707). 929 Vgl. BL Add. 61562, 85r u. passim; Jaupain an Sunderland, 8. u. 10. März 1708, in: BL Add. 61550, 107r u. 109r; Jaupain an Marlborough, BL Add. 61264, 131r–132v; Beilage in Jaupain an Sunderland, 2. April 1708, in: BL Add. 61568, 60r–62r. Auch im folgenden Jahr überwachte Jaupain Dünkirchen; siehe Jaupain an Sunderland, 16. Oktober 1709, in: BL Add. 61568, 231r: „J’ay envoye un homme a Dunkerque qui m’informera de tout ce que s‘y passera pendant tout l’hiver“. 930 Brief von mon homme, 23. April 1707, in: BL Add. 61552, 29v.

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Jaupain schätzte die franzö­sisch-­schwedische Verbindung als eine Gefahr für die Alliierten ein,931 auch wenn sein Korrespondent diese Gefahr als weniger groß beschrieb.932 Mon homme versuchte offenbar auch, einen Sekretär des Grafen Monasterol (also des bayerischen Gesandten in Frankreich) als weiteren Spion anzuwerben, was nicht gelang. Mindestens erfuhr er von ihm wieder Details über die ökonomische Misere Frankreichs.933 Mon homme wurde im April 1708 verhaftet. Für Jaupain war dies gerade zu dieser Zeit (also im Umkreis der versuchten jakobitischen Invasion von Dünkirchen aus) besonders ärger­lich: „L’homme que j’aurois a la cour de Baviere qui me fournissoit les avis que j’ay eu l’honneur de communiquer a VE est arresté et mis au Prison dont je suis tres faché. Je feray mon possible pour en avoir un auttre entre tems je continueray de donner part a VE de tout ce qui viendra a ma connoissance et de luy envoyer les copies des lettres des ­ministres ennemis que je pourray intercepter. Je suis bien faché d’un Pareil contretems dans la conjoncture presente.“934

Es ist unwahrschein­lich, dass es derselbe Spion war (auch er wurde als mon homme bezeichnet), der Jaupain aus dem Feldlager der Franzosen in Gembloux schrieb. Jedenfalls hatte Jaupain 1707 auch dort einen Informanten.935 Dieser bewegte sich offenbar im engsten Umfeld Vendômes und speiste offenbar manchmal an dessen Tisch.936 Einmal ist die Rede davon, dass er mit Vendôme selbst, mit seinen Sekretären, aber auch dessen Dienern engen Umgang pflegte.937 Offenbar stand er mindestens mit seinem Cousin, der ebenfalls für die Alliierten spio­ nierte, und einem weiteren regulären Informanten (den er „l’homme connu“ nannte) im Einvernehmen.938 Er berichtete über Vendômes Unwillen, Frieden 931 Vgl. Jaupain an Cardonnel, 14. Januar 1707, in: BL Add. 61567, 7v–8v. 932 Vgl. Jaupain an Cardonnel, 14. Januar 1707, in: BL Add. 61567, 10v–11r; Jaupain an ­Sunderland, 19. März 1707, in: BL Add. 61552, 11r. 933 Vgl. ebd., 11r–v. 934 Jaupain an Sunderland, 26. April 1708, in: BL Add. 61568, 73r. 935 Vgl. Jaupain an Sunderland, 13. Mai 1707 (Beilage), in: BL Add. 61567, 77r. Vgl. zum militärischen Kontext: Junkelmann, Kurfürst Max Emanuel, 277; Dhondt, Op Zoek naar Glorie. 936 Vgl. Jaupain an Sunderland, 17. Juni 1707, in: BL Add. 61567, 80r. 937 Siehe Jaupain an Sunderland, 11. Juli 1707 (der Bericht von mon homme stammte vom 7. Juli), in: BL Add. 61567, 103r; siehe auch ebd., 95v. 9 38 Vgl. BL Add. 61567, 131r (12. August 1707); ebd., 136r (17. August). Beim homme connu könnte es sich allerdings auch um jemanden aus Marlboroughs Feldlager handeln, mit

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zu schließen, und über vage franzö­sische Pläne, die Reichskreise Schwaben und Franken für neutral erklären zu lassen;939 er schrieb, er habe die franzö­sischen Generäle eine Karte von Marlboroughs Feldlager studieren sehen – offenbar sollten Kundschafter dorthin ausgesandt werden: „vous ne feres pas mal d’avertir milord d’etre sur les gardes pour apres demain car on irat voir son camp.“940 Hin und wieder gelang es ihm, franzö­sische und bayerische Schlachtordnungen zu entwenden und zu kopieren.941 Interessant sind die Hinweise auf die Schwierigkeiten, denen der homme bei seiner Spionagetätigkeit begegnete: Er war selten allein, musste dies aber sein, um seine Berichte schreiben zu können;942 eigent­lich sollte er Jaupain täg­lich schreiben, was aber nicht immer gelang.943 Im August 1707 marschierte die franzö­sische Armee nach St. Denis – dies stellte mon homme vor neue logistische Schwierigkeiten: „J’ay touttes les peines du monde a vous envoyer mes lettres parce que la poste ne parte pas quand nous marchons, si les lettres alloient en voiture ie pourrois souvent vous dire bien des choses mais il n‘y a que les moments pour cela, a ce moment nous venons d’envoier le rest de nos bagages a Marimont, nous avons peur que Milord nous attaque et nous feront tout ce que nous pourons pour eviter une ac­tion mais l‘homme connus croit que nous n’echaperons pas a ce qu’il ma dit hier suivant qu’il connoit l‘humeur de milord.“944

Politische und militärische, strate­gische und taktische Informa­tionen unterschied­ lichsten Stellenwertes gingen permanent durcheinander; aufgeschnappte Gerüchte und eigene Beobachtungen wurden unhierarchisiert weitergemeldet. Klar war nur, dass an der Kriegsbereitschaft Frankreichs und auch am franzö­sischen Bündnis Bayerns vorerst nicht zu rütteln war. Marlboroughs Sekretär Cardonnel (der ohnehin manchmal ruppige oder schnippische Briefe schrieb) war über die Berichte ­dieses und anderer Spione von der Front nicht begeistert. Im August 1707 schrieb er Jaupain, ­Marlborough sei unzufrieden mit ihm: Er schreibe zu selten, vor allem aber schicke er keine Informa­tionen aus Paris oder Südfrankreich, sondern verzettele sich damit, unnütze dem mon homme korrespondierte. 939 Vgl. BL Add. 61567, 82r–v. 940 Vgl. ebd., 19. Juni 1707, 83r. 941 Vgl. Jaupain an Sunderland, 9. Juni 1707, in: BL Add. 61567, 67r; siehe auch die Schlachtordnung ebd., 69r–70v; vgl. eine ähn­liche Situa­tion ein Jahr ­später, ebd., 103r. 942 Vgl. BL Add. 61567, 89r. 943 Vgl. ebd., 105v. 944 BL Add. 61567, 131r (Bericht vom 12. August 1707).

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Spione an die Front zu s­ chicken, die nur Klatsch berichteten: „Je ne puis m’empecher de Vous dire aussi, que tout ce que vous avés envoié depuis assés long temps de l’armée Enemie, ne signifie pas la moindre chose, et encore vient-­il toujours tard.“945 Diese Einschätzung bildet aber nicht den Tenor der Briefe Cardonnels an Jaupain (eher scheint ihr Verhältnis herz­lich gewesen zu sein 946), sondern zeigt eher temporäre unterschied­liche Interessenschwerpunkte an. Wenige Monate ­später schrieb Cardonnel, er gebe alle Briefe Jaupains an Marlborough weiter, der sie sehr schätze.947 Jaupain selbst hatte schon Anfang 1707 in einem Brief an Marlborough eine Art Spionagemaxime formuliert, die das unermüd­liche Zusammentragen auch scheinbar unwichtiger Kleinstinforma­tionen rechtfertigte: „j’ay jugé qu’il valoit mieux donner un avis superflux que d’en negliger un necessaire.“948 Was dem Auftraggeber wichtig war, was nicht, ließ sich aus Sicht des Spions nicht immer leicht beurteilen. Diese unspezifische Funk­tionalität geht aus Jaupains Briefen oft hervor: Er unterstellte, dass mit den von ihm besorgten Informa­tionen etwas anzufangen sei, wusste aber nicht immer, was. Daher finden sich in ­diesem Zusammenhang oft unspezifische Formulierungen: „J’ay l‘honneur d’envoyer cy joint a V. E. une copie de lettre d’un Ministre Ennemy par la quelle Elle pourra voir les disposi­tions des Ennemis.“949 In der Tat aber lobten Cardonnel und Marlborough Jaupain weniger für seine Spionageberichte als für seine Interzep­tionsinitiativen. Es hat den Anschein, dass das Abfangen und Kopieren von Briefen ab 1708 in den Vordergrund von Jaupains Engagement trat, und Cardonnel teilte ihm mehrfach Marlboroughs Zufriedenheit darüber mit.950 Auf dem Feld der Interzep­tionsspionage profitierte Jaupain von der finanziellen und organisatorischen Zusammenarbeit mit seinem Vorgänger Pajot. Pajot betrieb nach wie vor die Post in den Teilen der süd­lichen Niederlande, die ‚spanisch‘ geblieben waren. Im August 1707 wurde z­ wischen dem neuen (alliiert überwachten) Staatsrat, der Statthalterregierung Max Emanuels in Mons und den Franzosen vereinbart, dass der Postverkehr z­ wischen dem Kondominatsteil der süd­lichen Niederlande und den spanisch-­franzö­sischen Gebieten unverändert fortgeführt werden sollte. Pajot ließ sich darauf ein, weil Jaupain ihn 945 Cardonnel an Jaupain, 22. August 1707, in: BL Add. 61398, 226r. 946 Siehe etwa die eher persön­lich wirkende Schlussformel im Brief Cardonnels an Jaupain, 26. April 1709, in: BL Add. 61400, 140r. 947 Vgl. Cardonnel an Jaupain, 5. März 1707/08, in: BL Add. 61399, 97r. 948 Jaupain an Marlborough, 6. Januar 1707, in: BL Add. 61264, 129r. 949 Jaupain an Sunderland, 6. August 1708, in: BL Add. 61568, 137r. 950 Vgl. Cardonnel an Jaupain, 12. April 1709 u. 3. Dezember 1709, in: BL Add. 61400, 50v u. 129v.

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gut bezahlte.951 Dadurch wurde es mög­lich, zum Beispiel Briefe von Brüssel nach Mons und umgekehrt zu ­schicken.952 Dies bot Jaupain die Mög­lichkeit, Briefe aus dem spanisch-­franzö­sischen Teil des Landes zu interzipieren, während die Post aus Versailles bereits seit 1669 nicht über Brüssel lief, sondern erst im Haag interzipiert werden konnte.953 Ob diese Interzep­tionskapazität Jaupains wichtiger war als seine Spione, wie Karl de Leeuw unterstellt, ist schwer zu beurteilen. In jedem Fall gelang es Jaupain, „to get control of all mail delivery between the part of the country still under Bavarian or French control and the north of Europe.“954 Die Interzepte, die er weiterschickte, sind in verschiedenen Quellenbeständen überliefert und daher relativ mühsam zusammenzutragen. Sie finden sich in der Korrespondenz Marlboroughs, aber auch Cardonnels, in Sunderlands Nachlass sowie im French Ministers Letterbook, einer Sammlung von Interzepten, die von Blencowe dechiffriert wurden.955 Jaupain hatte sie selbst abfangen können – oder erhielt sie als Beilage in den Briefen seiner Spione aus Mons oder von der Armee. Die zweite Op­tion wird in einigen Briefen deut­lich: Der homme in Mons konnte offenbar öfter Briefe Malknechts abschreiben.956 Auch der homme im Feldlager schickte ihm vor Ort abgeschriebene Briefe und verdeut­lichte en passant auch wieder die Nöte des Spions: Er habe einen Teil eines Briefs abgeschrieben und dechiffriert (was Jaupain oder Blencowe sicher auch für ihn übernommen hätten), doch habe die Zeit nicht mehr gereicht, um in der „secretairerie“ des Lagers den Rest des Briefs zu erhalten.957 Die abgefangenen Korrespondenzen, die Marlborough und Sunderland von Jaupain übersandt wurden, stammten von vielen verschiedenen Absendern und waren thematisch sehr divers. Darunter waren interzipierte Briefe vom baye­ rischen Hof oder aus der franzö­sischen Armee;958 Informa­tionen vom J­ akobitenhof

951 Vgl. de Leeuw, Black Chamber, 143. 952 Vgl. Quellen zur Geschichte des euro­päischen Postwesens, Teil 2, 279 f. 953 Vgl. de Leeuw, Black Chamber, 144. 954 Vgl. ebd., 142. 955 Vgl. ebd., 144. Seltener finden sich Jaupains Interzepte in der Korrespondenz anderer Secretaries of State als Sunderland; siehe aber z. B. TNA SP 77/60, 41r. 956 Siehe etwa den Brief an den bayerischen Gesandten Monasterol vom 27. November 1707, beigefügt in: BL Add. 61567, 193r. 957 Vgl. BL Add. 61567, 158r. 958 Siehe z. B. Jaupain an Marlborough, 1706, in: BL Add. 61264, 110r–113v; 127r. Siehe auch: BL Add. 61568, 245r–v; BL Add. 32306. 6r–7v.

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in St. Germain; Nachrichten über heim­liche eng­lische Jakobiten 959 oder über jakobitische Invasionspläne;960 Informa­tionen über die Uneinigkeit des feind­ lichen Lagers.961 Marlborough erfuhr via Jaupain von der Verschwörung, die 1708 Antwerpen dem Zugriff der Alliierten entziehen sollte;962 Jaupain war es auch, der Harleys clerk William Gregg als franzö­sischen Spion enttarnte, wie oben beschrieben wurde.963 Neben dem sozusagen normalen Interzep­tionsgeschäft sind zwei ­Hochphasen zu vermerken, die beide mit dem franzö­sischen Gesandten bei Max Emanuel, Pierre Rouillé, zu tun haben. Das heißt: Offenbar war es von Zufall, persön­lichen Kontakten und dem Grad der Nähe oder Ferne zu bestimmten Personen abhängig, was interzipiert wurde. Denn obwohl Rouillés Korrespondenz für die Alliierten von Interesse war, war er doch nicht der einzige oder gar wichtigste franzö­sische Diplomat, dessen Korrespondenz man hätte interzipieren wollen. Die erste Phase fällt in das Jahr 1707. Jaupain gelang es offenbar, Rouillés Korrespondenz mit dem franzö­sischen Gesandten beim schwedischen König, Jean-­Louis d’Usson de Bonnac, zu interzipieren, der sich mit dem schwedischen Heer in Polen aufhielt, aber in Danzig blieb, als die schwedische Armee Sachsen einnahm. Jaupains Hauptquelle dürfte der homme am Hof in Mons gewesen sein; dieser schickte jedenfalls öfter Briefe Rouillés.964 Selbst Briefe seines Sekretärs an einen Freund wurden interzipiert: offenbar einfach deshalb, weil man dazu in der Lage war.965 Dieses Übermaß an Informa­tionen führte aber auch dazu, dass gar nicht mehr alle Briefe dechiffriert wurden.966 Blencowe kam nicht mehr nach, vielleicht schien aber Rouillés Korrespondenz ab einem gewissen Zeitpunkt auch nicht mehr ergiebig genug. Seine Briefe müssen der eng­lischen Regierung, neben allgemeinen Einschätzungen der Kriegssitua­tion unter anderem in Spanien, einen Eindruck davon vermittelt haben, wie groß die Hoffnungen Frankreichs auf eine Verbindung mit 959 Vgl. Jaupain an Sunderland, 26. Februar 1707, in: BL Add. 61567, 22r–23v sowie 42v; siehe auch: 22. Oktober 1708, in: BL Add. 61568, 16r–v. 960 Vgl. die Beilage im Brief Jaupains an Sunderland, 1708, in: BL Add. 61568, 169r–170v; siehe auch BL Add. 32306, 20. März 1708, 110r–v. 961 Vgl. ein interzipierter Brief des Ministers Bergeyck, der an Sunderland geschickt wurde, 31. Februar 1710, in: BL Add. 61568, 237r–239r. 962 Vgl. Veenendaal, Opening Phase. 963 Vgl. A Complete Collec­tion of State Trials, Bd. 14, 1371. 964 Siehe Jaupain an Sunderland mit Beilagen des homme aus Mons, 2. u. 10. Oktober 1707, in: BL Add. 61567, 170r u. 174r. 965 Vgl. BL Add. 61152, 7v. 966 Nicht dechiffrierte Briefe Rouillés in Sunderlands Unterlagen: BL Add. 61567, 60r–61r; 109r–110r; 127r, 131r, 139r, 141r, 148r.

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Schweden waren, aber auch, dass diese Hoffnungen im Frühjahr 1707 langsam schwanden,967 dass es eine (berechtigte) Angst der franzö­sischen Seite vor dem Besuch Marlboroughs bei Karl XII. gab 968 und dass die Idee, Karl könne als Vermittler im Erbfolgekrieg auftreten, immer weniger wahrschein­lich wurde.969 Im Vergleich zum umfassenden Überblick über die schwedische Politik, den ­Marlborough durch Robethon erhielt, dürften allerdings die Jaupain’schen Interzep­tionen der Briefe Rouillés bestenfalls ergänzende Stimmungsbilder geliefert haben. Zweifellos interessanter für Marlborough und die eng­lische Regierung war die zweite Hochphase von Jaupains Interzep­tionstätigkeit. Sie betraf die geheimen Friedensgespräche z­ wischen Frankreich und den Niederlanden im Jahr 1709, in denen wiederum Rouillé eine entscheidende Rolle spielte. Vermittler z­ wischen Rouillé und der niederländischen Regierung war der holstein-­gottorpsche Gesandte im Haag, Hermann Petkum.970 Die Gespräche gehörten in eine lange Reihe von Versuchen Ludwigs XIV. ab 1705, das Bündnis durch einen Separatfrieden mit den Niederlanden zu sprengen.971 Für Marlborough und Jaupain ging es darum, die Gefahr auszuloten, ob der niederländische Verbündete die Allianz verlassen würde. Dass die eng­lische Regierung über diese Verhandlungen informiert war, war der älteren Forschung durchaus bewusst.972 Dass sie dies Jaupains Interzep­ tionen – und nicht einem unspezifischen ‚Geheimdienst‘ Marlboroughs – zu verdanken hat, wird selten gesehen.973 Rouillé als Unterhändler zu ­schicken, erwies sich als Fehler Ludwigs XIV.: Rouillé war in den nörd­lichen, aber auch den süd­lichen Niederlanden bekannt, seine Reisen etwa nach Den Haag ließen sich kaum geheim halten.974 Schon deshalb kamen die Verhandlungen kaum voran, und schließ­lich reiste Ludwigs Außenminister Colbert de Torcy selbst in die Niederlande – was wiederum von den Engländern und Jaupain genau registriert wurde. Außerdem traf sich die Tatsache, dass der König einen so hochrangigen Amtsträger entsandte, mit den 967 Vgl. die Interzepte im Briefwechsel Jaupain-­Sunderland, BL Add. 61567, 32v, 36r, 79r. 968 Vgl. die Interzepte, von Blencowe dechiffriert, in: BL Add. 32306, 97v–98r. 969 Vgl. BL Add. 32306, 96v, 98v; siehe auch die interzipierte Korrespondenz z­ wischen Rouillés Nachfolger Besenval, dem franzö­sischen Minister Chamillart und Rouillé, in: BL Add. 32258, 25r–27v; 28r–31v; 32r–35r. 970 Siehe detailliert zu den Verhandlungen: Thomson, Louis XIV and the Grand Alliance; Stork-­Penning, Het Grote Werk. Vgl. die Korrespondenz ­zwischen Petkum und Torcy, in: HMC Buckinghamshire, 317 – 366. 971 Vgl. Thomson, Louis XIV and the Grand Alliance. 972 Vgl. Churchill, Marlborough, Bd. 2, 527. 973 Siehe aber: de Leeuw, Black Chamber, 144. 974 Vgl. Thomson, Louis XIV and the Grand Alliance, 203.

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Befunden aus Jaupains Interzepten: dass näm­lich Ludwig XIV . aus ökonomischen und finanziellen Gründen im Frühjahr 1709 dringend auf Frieden angewiesen war. Dasselbe gelte für Max Emanuel. Dessen Rat Malknecht schrieb im Februar 1709 in einem von Jaupain abgefangenen Brief: „L’argent est plus rare en France que jamais et je n’oserais confier au Papier en quelle situa­tion affreuse cela mit les Finances de S. A. E. (d. i. Max Emanuel, M. P.)“.975 Marlborough und die eng­lische Regierung gelangten also zu der Überzeugung, dass Frankreich dringend Frieden suche. Ein Separatfrieden mit den Niederlanden musste daher verhindert werden, um dem Feind noch härtere Friedensbedingungen für einen allgemeinen Frieden aufzuzwingen. Die Korrespondenz Rouillés, Torcys und Petkums, die Marlborough von ­Jaupain zugäng­lich gemacht wurde, war in diesen Frühjahrsmonaten 1709 besonders dicht.976 Blencowe arbeitete offenbar unter Hochdruck an der Dechiffrierung.977 Aus einem Brief Cardonnels lässt sich erschließen, dass es wenigstens zeitweise wieder der (oder ein) homme de Mons war, dem es gelang, Rouillés Korrespondenz abzuschreiben.978 Noch Anfang März 1709 formulierte Cardonnel nur als sichere Vermutung, dass es bei Rouillés Aktivitäten um Friedensverhandlungen gehe.979 Die Angst Marlboroughs, dass hier ein Frieden ohne England geschlossen werden könne, hielt sich aber in Grenzen. Cardonnel bat zwar um die fleißige Fortsetzung der Berichte – die „curieux“ s­ eien 980 –, teilte Jaupain aber noch im April mit: „S: A: vous en remercie, mais Elle ne croit pas que ces Coquins meritent qu’elle se met en peine, cependant Elle vous prie de Luy envoyer ce que Vous recevrez de tems en tems des memes Mains.“981 975 23. Februar 1709, in: BL Add. 32306, 104v. 976 Vgl. die Briefe Petkums an Heinsius und Torcy, 21. März 1709; 11. April 1709; 19. April 1709; 30. April 1709; 4. Mai 1709, in: BL Add. 32306, 1r–v; 7r–v; 42v–44r; 46r–v; 48r; vgl. auch BL Add. 61246, passim. In ­diesem Bestand finden sich auch für das folgende Jahr eine Reihe von Briefen, v. a. von Petkum an Marlborough, die die verschiedenen Friedens­ initiativen dieser Zeit genauer dokumentieren. 977 Im April 1709 bat Cardonnel Jaupain darum, noch weitere Briefe in derselben Chiffre zu s­ chicken, weil dies die Dechiffrierung erleichtern würde. Vgl. Cardonnel an Jaupain, 26. April 1709, in: BL Add. 61400, 140r. 978 Vgl. Cardonnel an Jaupain, 4./15. März 1709, in: BL Add. 61400, 112v. 979 Vgl. Cardonnel an Jaupain, 4./15. März 1709, in: BL Add. 61400, 113r. 980 Cardonnel an Jaupain, 4./15. März 1709, in: BL Add. 61400, 113r; ähn­lich im Januar 1709/10, als wieder über Frieden verhandelt wurde; Cardonnel an Jaupain, 24. Januar 1709/10, in: BL Add. 61400, 236r: „les pieces estant assez curieuses, & donnent beaucoup de lumieres, c’est pourquoy S. A. vous recommande que rien ne Vous eschappe, s’il est possible.“ 981 Cardonnel an Jaupain, 26. April 1709, in: BL Add. 61400, 140r.

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Schon am 14. März 1709 hatte der Vermittler Petkum Torcy anvertraut, dass er wisse, dass Rouillés Reise in die Niederlande nicht habe geheim gehalten werden können. Auch Marlborough wisse bereits davon. Diese zutreffende Feststellung (dass er bereits davon wisse) konnte Marlborough kurze Zeit ­später wiederum in einem von Jaupain interzipierten Brief lesen.982 Ab Anfang März hatte Marlborough sich mithilfe von Jaupains Interzepten ein zunehmend klareres Bild vom Stand der geheimen Vorgespräche machen können und war schließ­lich in die Gespräche einbezogen worden.983 Von einem bestimmten, nicht klar zu bestimmenden Zeitpunkt an ging es also nicht mehr um ein Geheimnis im Hinblick auf den Inhalt der Korrespondenz. Dennoch wollte und konnte Marlborough auch im Fortgang der Gespräche, an denen er selbst teilnahm, begleitend die geheime Korrespondenz seiner Gesprächspartner verfolgen (um zum Beispiel zu erfahren, dass seine Gesprächspartner ihn für in England allmächtig, für „ambitieux et averitieux“ und für ein Friedenshindernis hielten)984. Am 9. April konferierte Marlborough mit Heinsius über Rouillés Friedensvorschläge.985 Schließ­lich kam es im Mai zu Verhandlungen im Haag, an denen auch Marlborough teilnahm, und zur Unterzeichnung der (am Ende scheiternden) Friedenspräliminarien.986 Die Effektivität von Jaupains Interzep­tion war also gerade in diesen ersten Monaten des Jahres 1709 besonders beeindruckend. Durch sie wie über andere Kanäle erhielt die eng­lische Regierung Informa­tionen, die sie in einer bestimmten Weise beeinflussten – sie in ­diesem Fall zu der Überzeugung führten, dass ein Friedensschluss kurz bevorstehe. Dass dieser nicht zustande kam, ist bekannt. Die harten Friedensforderungen der Alliierten umfassten unter anderem den berüchtigten Artikel 37, der Ludwig XIV . verpflichtete, im Notfall Philipp V. militärisch aus Spanien zu vertreiben.987 Der eng­lischen Regierung erschien die schließ­liche Ablehnung des Friedens durch den franzö­sischen König allerdings

982 Vgl. den interzipierten Brief Petkums an Torcy vom 14. März 1709, in: BL Add. 61246, 112r–115r, 116r–117v. 983 Vgl. de Leeuw, Black Chamber, 144. 984 Vgl. den interzipierten Brief Petkums (an Torcy?) vom 21. März 1709, in: BL Add. 32306, 46v. 985 Vgl. den interzipierten Brief Petkums (an Torcy?) vom 11. April 1709, in: BL Add. 32306, 43v. 986 Vgl. Schnettger, Erbfolgekrieg, 87 – 91; Schmidt-­Rösler, Prälimarfriedensverträge, v. a. 62; Coxe, Memoirs Bd. 2, 395 – 397. 987 Vgl. Thomson, Louis XIV and the Grand Alliance, 207; Rule, France, 97; Schmidt-­Rösler, Prälimarfriedensverträge.

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nicht einmal zwingend als Nachteil. Sunderland schrieb am 3. Juni 1709 an Lawes, von dem er die Nachricht über das Scheitern der Verhandlungen erhalten hatte, dies sei „something surprising, yet I believe, is not displeasing to any here, since probably it may end in forcing them to accept of other condi­tions than these offer’d to him, which may be more for the Advantage of the Allies“.988 Das Wissen, das man inzwischen über die desaströse franzö­sische Situa­tion zu haben meinte, hatte sich verdichtet; früher oder s­ päter musste Ludwig XIV . Frieden schließen. In ­diesem Sinne beeinflussten Jaupains Interzepte wie andere Spionageberichte die Disposi­tionen und Kalkula­tionen der eng­lischen Regierung, die das Durchhaltevermögen Frankreichs und die Entschlossenheit ­Ludwigs XIV ., für seine gloire zu kämpfen, unterschätzt haben mögen. Ein Grund für die Unnachgiebigkeit der Alliierten dürfte durchaus auch darin liegen, dass durch Briefe wie den zitierten von Malknecht, aber auch anderen von Jaupains Interzepten, ein Bild der franzö­sischen Misere gezeichnet wurde, das es den alliierten Anführern unvorstellbar machte, dass Ludwig XIV . den Frieden noch würde ablehnen können. Eine vergleichbare Konstella­tion ergibt sich im Blick auf das Spionagenetzwerk Etienne Caillauds, dem das nächste Kapitel gilt; auch dort werden die Friedensverhandlungen von 1709 eine Rolle spielen, und mit Caillaud gerät ein ebenso wichtiger informeller Akteur von Marlboroughs Informa­tionsgewinnung in den Blick. Im Unterschied zu Jaupain spielt aber im Fall Caillaud Interzep­tion kaum eine Rolle – hier wird es eher um die Frage gehen, wie man im Krieg ein Spionagenetzwerk im Feindesland aufbaute und unterhielt. 3.4.3 Il est vrai qu’il est souvent bien averti: Das Netzwerk Etienne Caillauds

Aus der Perspektive der Informa­tionsgewinnung ist der hugenottische Rotter­ damer Kaufmann Etienne Caillaud eine der zentralen Gestalten des Spanischen Erbfolgekrieges. Der Forschung ist er nicht unbekannt – doch weder die edierten 989 noch die nicht edierten Quellen sind bisher systematisch genutzt worden. Daher ist er in seiner Bedeutung massiv unterschätzt worden. David Onnekink hat en passant bemerkt, dass „the exiled Huguenots obviously did not conduct any foreign policy as such“.990 Wenn dies auch grosso modo zutrifft, so besitzt doch 988 Sunderland an Lawes, 3. Juni 1709, in: BL Add. 61651, 173r. 989 Vgl. Dedieu, Rôle politique, v. a. 339 – 353. 990 Onnekink, Models, 195.

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gerade Caillaud durch sein Spionagenetzwerk eine derartige Bedeutung, dass man ihn als einen außenpolitischen Akteur sui generis klassifizieren muss, der durchaus entscheidenden Einfluss auf den Verlauf des Spanischen Erbfolgekrieges nahm.991 Zudem war Caillaud neben seiner Spionagetätigkeit auch Kontaktmann der niederländischen und auch eng­lischen Regierung zu den südfranzö­sischen Camisarden.992 Den Kriegsparteien war die Bedeutung Caillauds als Organisator des wohl wichtigsten Spionagerings in Frankreich durchaus bewusst: Der franzö­sische Außenminister Torcy etwa schrieb an seine Gesandten bei den ­Gertruydenberger Friedensverhandlungen 1710 über Caillaud: „Ce particulier se mêle depuis long­ temps du metier de faire passer des nouvelles de France en Hollande, et il est vrai qu’il est souvent bien averti.“993 Caillaud und sein Netzwerk arbeiteten auf kommerzieller Basis für die alliierten Regierungen vor allem der Niederlande und Englands. Anders als etwa Macky hatte Caillaud kein Amt inne. In der Terminologie dieser Untersuchung war ­Caillauds Spionagedienst sowohl ein Handelsakteur als auch ein Netzwerk mit eigenen Zielen, aber auch Patronagebedürfnissen. Es ist wichtig, dies zu betonen, weil in der Literatur suggeriert wird, Caillaud sei schlicht ein Befehlsempfänger zum Beispiel von Heinsius gewesen.994 Richtiger wäre die Feststellung, dass der Rats­ pensionär zu seinen Kunden zählte 995 – was aber eben heißt, eine Netzwerk- und Handelslogik statt einer bürokratischen Beziehung in den Vordergrund zu stellen. Die Caillaud’schen Newsletters, also seine eigenen Briefe und die Briefe seiner Spione, sind in Marlboroughs Nachlass nicht enthalten. Dies ist wohl der Grund dafür, dass Caillaud im Rahmen der Beschäftigung mit Marlboroughs 991 Für Caillaud trifft eine Beobachtung von G. C. Gibbs in besonderer Weise zu: „British history in early eighteenth century was a part of European history, and, indeed, of Dutch history, and this because of the activities of the Huguenots.“ Siehe Gibbs, Intellectual and Political Influences, 287. 992 Vgl. Caillaud an Heinsius, 11. November 1703, in: De Briefwisseling van Anthonie Heinsius, Bd. 2, 535; Jurieu an Heinsius, 2. Dezember 1704, in: ebd., Bd. 3, 451 f.; Jurieu an Heinsius, 5. Januar 1705, in: ebd., Bd. 4, 6. Vgl. auch die von Caillaud geschriebenen oder weitergeleiteten militärischen Pläne, die er Marlborough zukommen ließ, in: BL Add. 61337, 125r–126v; 240r–246v; BL Add. 61338, 44r–48v; BL Add. 61399, 105r–115v sowie exemplarisch die Korrespondenz Caillauds mit den Camisarden, die er an Sunderland weitersandte; BL Add. 61563, 31r–32r. 993 Zitiert nach: Das, Pierre Jurieu, 381. 994 Vgl. tendenziell so: Veenendaal, Inleiding, XXIX. 995 Vgl. etwa: Caillaud an Heinsius, 28. Februar 1708, in: De briefwisseling van Anthonie Heinsius, Bd. 7, 103.

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‚Spionagesystem‘ bisher nicht zentral erschien. Wie im Fall Jaupains verhält es sich so, dass Caillaud für die Secretaries, vor allem Sunderland, und gleichzeitig für Marlborough tätig war. Während aber, wie bereits erwähnt, Sunderland diese Korrespondenz archivierte, ist Marlboroughs enge Verbindung zu Caillaud nur indirekt zu erschließen.996 Dieses Kapitel soll daher zweierlei leisten: Einmal sollen Caillauds Netzwerk und seine Spionageaktivitäten beschrieben werden – die anders als im Fall ­Jaupain fast vollständig aus Initiativspionage bestehen. Zum anderen soll gezeigt werden, dass Marlborough in großem Umfang Informa­tionen über ­dieses Netzwerk bezog. Im Hinblick auf Marlboroughs Informa­tionsgewinnung erlaubt die Beschäftigung mit Caillaud zwei Beobachtungen: erstens, dass Marlborough zu einem nicht geringen Ausmaß Informa­tionen erhielt, die ein bereits vor dem Spanischen Erbfolgekrieg eingerichtetes Netzwerk beschaffte. Marlborough stützte sich also auch auf bereits etablierte Strukturen, statt neue zu schaffen. Zweitens ist an Caillauds Netzwerk wiederum abzulesen, dass die Vorstellung von ‚­Marlboroughs Geheimdienst‘ in die Irre führt: Gerade die Nichtexklusivität der Informa­tionsgewinnung ist charakteristisch für Caillauds Spionagenetzwerk, das Marlborough, aber auch andere Regierungsmitglieder sowie andere Regierungen mit Informa­tionen versorgte. Um dies zu zeigen, soll zuerst die Vorgeschichte des Netzwerks vor 1702 und die Organisa­tion während des Erbfolgekrieges beschrieben werden, um anschließend die Arbeit Caillauds für Marlborough und Sunderland strukturell und inhalt­lich genauer zu beleuchten. Bereits seit den 1690er Jahren hatten einige hugenottische Exulanten von Rotterdam aus ein Spionagenetz in Frankreich errichtet. Pierre Jurieu, einer der wichtigsten Theologen der reformierten Spätorthodoxie und bekannt vor allem als Gegner Pierre Bayles 997, war der Gründer und erste Hauptorganisator.998 Jurieu 996 Oben war bereits dargestellt worden, dass etwa Alsop, British Intelligence, 116 f., aus dieser Tatsache den nicht aufrechtzuerhaltenden Schluss einer relativ schlechten Versorgung Marlboroughs mit Newsletters aus Frankreich zieht. Selbst wenn Godolphin in einem Brief an Marlborough die Caillaud’schen Newsletters einmal als „Our French newsletter which comes to my Lord Sunderland“ bezeichnet (25. Mai 1708, in: The Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 2, 993) und Marlborough selbst einmal von „Lord Sunderland’s newsletter“ spricht (Marlborough an Godolphin, 10./21. Februar 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1224), darf dies doch nicht zu der Annahme verleiten, nur Sunderland habe Caillauds Spionageberichte bezogen; in jedem Fall teilten Sunderland, Godolphin und Marlborough auf die eine oder andere Weise ihre Informa­tionen miteinander. 997 Vgl. Dingel, Orthodoxie; Matytsin, Fic­tional Letters. 998 Vgl. Das, Pierre Jurieu; kaum darüber hinaus nütz­lich: Vaultier, Espionnage.

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etablierte von Rotterdam aus ein Spionagenetz vor allem in franzö­sischen Hafenstädten, das über die dort eventuell stattfindenden Rüstungen informieren sollte.999 Darüber hinaus wurden Agenten im protestantischen Süden Frankreichs und in Paris angeworben. Von Anfang an arbeitete Etienne Caillaud als Schreiber und Dechiffrierer für Jurieu.1000 Dieser Informa­tionsdienst wurde von verschiedenen hugenottischen Gemeinden, aber auch von Wilhelm III. und Heinsius finanziert.1001 Die eng­lische Regierung war daher eine wichtige Anlaufstelle für Jurieu. Jurieu bot dem eng­lischen Staatssekretär Nottingham schon im Mai 1692 seine Dienste an.1002 Zu dieser Zeit entsandte er Spione nach Rochefort, Brest, Toulon, aber auch Paris – mit Tendenz zum Wachstum d ­ ieses Netzes (Marseille, St. Malo, Dünkirchen).1003 Die eng­lische Regierung interessierte sich am meisten für die nordfranzö­sischen Häfen, die Schiffe, die dort ein- und ausliefen, und deren Besatzung und Bewaffnung: „Ce qui nous est nécessaire, c’est d‘être bien instruits de tout ce qui se passe à l‘égard de l‘équipement des vaisseaux de guerre, quand ils doivent sortir, en quel nombre, de quelle force ils sont, où ils vont […]“1004 Jurieu selbst war dagegen mindestens genauso daran inte­ ressiert, mittelfristig protestantische Aufstände in Südfrankreich zu ermög­lichen;1005 ein Thema, das der eng­lischen Regierung meist weniger dring­lich erschien. Jurieu korrespondierte regelmäßig mit den verschiedenen eng­lischen Staatssekretären und erklärte in d ­ iesem Zusammenhang wiederholt die Funk­tionsweise des Spionagenetzes.1006 Er wies etwa darauf hin, dass neben den Agenten auch ein (später mehrere) Schreiber und ein Dechiffrierer beschäftigt werden müssten 1007 – denn natür­lich waren die Briefe der hugenottischen Spione verschlüsselt, wurden in Rotterdam entschlüsselt und abgeschrieben und so an die Interessenten weiterverkauft.1008 Die Briefe, so wird aus einer Notiz Caillauds von 1702 deut­lich, 999 Vgl. Das, Pierre Jurieu, 377. 1000 Vgl. Dedieu, Rôle politique, 208. 1001 Vgl. Rule, Gathering Intelligence, 740. 1002 Vgl. Jurieu an Nottingham, 10./20. Mai 1692, in: Dedieu, Rôle politique, 281. Rule, Gathering Intelligence, 740, sieht Heinsius als Hauptfinancier und sieht, Bély und letzt­lich Dedieu folgend, die Bedeutung der eng­lischen Unterstützung in den 1700er Jahren nicht. 1003 Vgl. Dedieu, Rôle politique, 282 f. 1004 Shrewsbury an Jurieu, 11. Oktober 1695, in: ebd., 295. 1005 Vgl. Goldgar, Impolite Learning, 199; Bély, Espions, 91. 1006 Vgl. Jurieu an Trenchard, 14./24. November 1693, in: Dedieu, Rôle politique, 284. 1007 Vgl. ebd. 1008 Sie waren also nicht etwa „public newsletters“, wie Alsop, British Intelligence, 116, annimmt.

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brauchten immer ungefähr zwei Wochen, um (wohl auf dem Postweg) von Frankreich nach Rotterdam zu gelangen, dort entschlüsselt und kopiert zu werden und dann – in der Regel gebündelt – weitergesendet zu werden.1009 Die Informa­tionen, die in England eintrafen, waren also in der Regel etwa zweieinhalb Wochen alt. Ein Hauptproblem war von Beginn an die zöger­liche Zahlungsaktivität der eng­lischen Regierung. Diese unterstützte und ermutigte Jurieu zwar.1010 Einige der Staatssekretäre (Shrewsbury etwa) zeigten sich auch überaus beeindruckt von der Effizienz des Jurieu’schen Netzwerkes; Shrewsbury las die Berichte aus Frankreich sehr genau und stellte auch Nachfragen (was insgesamt nicht sehr üb­lich war).1011 Aber die Organisa­tion des Spionagedienstes war äußerst kostspielig, auch wenn die Spione meist Glaubensbrüder waren – Katholiken zu rekrutieren war natür­lich noch viel teurer.1012 Die zöger­liche Bezahlung war ein ständiges Thema der Korrespondenz.1013 Oft schoben die Secretaries vor, die Treasury sei mit Zahlungen im Rückstand.1014 Ein zweites, damit zusammenhängendes Problem war die Sicherheit der Informanten. Jurieu schärfte seinen Korrespondenten immer wieder die Geheimhaltung zum Schutz seiner Spione ein, und auch die Bezahlung musste so geheim wie mög­lich abgewickelt werden: Die eng­lische Regierung zahlte in den 1690er Jahren – wenn sie zahlte – in Wechselbriefen über Amsterdamer Bankiers. Die Wechsel sollten, um Spuren zu verwischen, nicht an Rotterdamer Banken gehen.1015 Auch sonst legte Jurieu höchsten Wert auf Geheimhaltung: Als im Juli 1695 ein Brief eines Jurieu’schen Spions wortgleich in holländischen Zeitungen erschien, kam Angst auf; Jurieu vermutete, es s­ eien geheime Informa­tionen seines Netzwerkes von der eng­lischen Regierung weitergegeben worden. Der Secretary ­Vernon bestritt dies aber.1016 Die Geheimhaltung war offenbar nur schwer dauerhaft durchzuhalten. Ab März 1696 wurden Jurieus Spione sukzessive enttarnt, inhaftiert und zum Teil 1 009 Vgl. TNA SP 101/23, 3. u. 10. Juli 1702. Dass Caillaud die Newsletters seiner Korrespondenten gebündelt verschickte, geht hervor aus: BL Add. 61554, 91v. 1010 Vgl. z. B. Trenchard an Jurieu, 1./11. Dezember 1693, in: Dedieu, Rôle politique, 286. 1011 Vgl. Shrewsbury an Jurieu, 25. Mai 1695, in: ebd., 289. 1012 Vgl. Jurieu an Shrewsbury, 14./24. Mai 1695, in: ebd., 288. 1013 Vgl. als Beispiel nur Jurieu an Shrewsbury, 10./20. Januar 1696, in: ebd., 297, aber auch „Mémoire de ce qui est dû au 1 er de janvier 1696“, ebd., 297. 1014 Vgl. Jersey an Jurieu, 8. Dezember 1699, in: ebd., 324. 1015 Vgl. Jurieu an Shrewsbury, 30. Mai/10. Juni 1695 sowie Jurieu an Vernon, Juni 1695, in: ebd., 291. 1016 Vgl. Vernon an Jurieu, 19. Juli 1695, in: ebd., 291.

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hingerichtet. Anfang Mai war das Netz zusammengebrochen.1017 Während die eng­ lische Regierung sich darüber beklagte, nun keine Informa­tionen aus franzö­sischen Häfen mehr (vor allem aus Brest) zu bekommen,1018 richtete sich das Interesse der Rotterdamer Hugenotten auf ganz andere Probleme: Sie hatten Verwandte und Freunde verloren – Caillauds Schwager etwa, der in Rochefort spioniert hatte, wurde gehängt.1019 Sie drängten auf einen Austausch der Gefangenen, was die eng­lische Regierung nicht einmal halbherzig unterstützte, während Heinsius zumindest Hilfe in Aussicht stellte.1020 Caillaud bemühte sich jetzt mit Jurieus Hilfe um eine eng­lische Pension als Belohnung für seine Dienste und Entschädigung für seine familiären Verluste, die ihm im November 1696 in Höhe von 200 Pfund jähr­lich gewährt wurde.1021 Daneben aber machte man sich an eine rasche Reorganisa­tion des Spionagenetzes.1022 Ab dieser Zäsur von 1696 trat Etienne Caillaud an die Spitze der Organisa­ tion; Jurieu verblieb die Rolle des „intellectual godfather“.1023 In relativ kurzer Zeit gelang es, neue Spione anzuwerben: Caillaud konnte mehrfach Gerüchte über franzö­sische Invasionen oder Mordanschläge auf den eng­lischen König melden.1024 1698 konnte oder musste Caillaud sogar einen weiteren Schreiber einstellen und wies den zuständigen Secretary darauf hin, dass er Caillauds Briefe hin und wieder auch in einer anderen Handschrift erhalten werde und sich darüber nicht beunruhigen möge.1025 Die Rotterdamer bemühten sich in dieser Zeit (erfolglos) darum, ihre Kontakte auch politisch auszunutzen und den eng­lischen Secretaries die hugenottischen Interessen im Hinblick auf die Rijswijker Friedensverhandlungen nahezubringen.1026 Nach einem gescheiterten Aufstand in La Rochelle 1699 wurde es aber erneut schwieriger, Spione in franzö­sischen Häfen zu platzieren.1027 1017 Vgl. Jurieu an Vernon, 20./30. März 1696, in: ebd., 301; Jurieu an Shrewsbury, 4./14. Mai 1696, in: ebd., 305 f. 1018 Vernon an Jurieu, 28. April 1696, in: ebd., 304. 1019 Vgl. ebd., 382. 1020 Vgl. Jurieu an Vernon, 12./22. Juni, in: ebd., 308. 1021 Vgl. ebd., 336 sowie: Calendar of Treasury Books, Bd. 17, 1108. Siehe aber auch die Nachfrage Caillauds vom 12. März 1698 an Vernon: Er wisse um die schlechte Finanzlage Englands, bitte aber dennoch um die Auszahlung seiner Pension. Vgl. Dedieu, Rôle politique, 339. 1022 Vgl. Jurieu an Vernon, 2./12. Juli 1696, in: Dedieu, Rôle politique, 309. 1023 Rule, Gathering Intelligence, 740. 1024 Vgl. Dedieu, Rôle politique, 316 f. 1025 Vgl. Caillaud an Vernon, 25. April 1698, in: ebd., 339. 1026 Vgl. Jurieu an Shrewsbury, 3./13. Dezember 1697, in: ebd., 323. 1027 Vgl. ebd., 234.

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Das Verhältnis ­zwischen der eng­lischen Regierung oder einzelnen eng­lischen Amtsträgern und dem Rotterdamer Netzwerk kühlte sich aber zwischenzeit­lich ab. In den ersten Jahren nach 1700 ging die Korrespondenz sehr zurück. Hatte man sich in der Vergangenheit manchmal über die mangelnde Präzision der Informa­tionen beschwert und behauptet, die gelieferten Berichte stimmten zu oft nicht mit anderen Informa­tionen überein,1028 stand nun zur Debatte, ob die Koopera­tion ­zwischen Caillaud und der Regierung in London überhaupt fortgesetzt werden würde. Die Staatssekretäre Manchester, Hedges und Vernon äußerten zu Beginn des Erbfolgekrieges ihre Unzufriedenheit mit Caillaud immer deut­licher: Dessen Berichte kämen verspätet, die Geheimhaltung werde nicht gewahrt. Generell scheinen bestimmte eng­ lische Politiker die Refuge-­Politik und die an sie gekoppelte Informa­tionsgewinnung für ein sinkendes Schiff gehalten zu haben.1029 Zudem waren die Interessen einiger eng­lischer Sekretäre deut­lich enger gefasst als diejenigen Caillauds: Der Secretary Vernon etwa äußerte im Juli 1701, Caillauds Korrespondenten sollten eingehender über Flottenbewegungen und Schiffe in nordfranzö­sischen Häfen berichten: „les informa­tions de cette sort nous importent plus que tout le reste.“1030 Während Caillaud – und dies sollte sich durchziehen – also an der politisch-­diplomatisch-­ militärischen Gesamtsitua­tion interessiert war, beschränkte sich das Interesse der eng­lischen Regierung oft auf die Frage der franzö­sischen Invasionsfähigkeit. Diese Verschlechterung der Beziehungen beruhte nicht nur, aber auch auf gewissen innerhugenottischen Uneinigkeiten, die gleichzeitig einen Kampf um die Gunst des eng­lischen Königs darstellten. Jean de Robethon beschwerte sich 1698, noch als Sekretär Wilhelms III., über die mangelnde Geheimhaltung des Caillaud-­Kreises.1031 Dies ist deshalb auffällig, weil Wilhelm III. Jurieu und Caillaud finanziell in großem Maßstab unterstützte und sie sich immer wieder auf die Gunst und die Befehle des Königs beriefen (auch als dieser bereits nicht mehr lebte).1032 Mög­licherweise war Robethon auch ein Dorn im Auge, dass der einfache Kaufmann Caillaud durch seine Aktivitäten mit Regierungsmitgliedern und Hochadligen korrespondieren konnte – eine Aufwertung, die im Ancien Régime immer skeptisch beäugt wurde.1033 1028 Vgl. Vernon an Jurieu, 2./12. Februar 1697, in: ebd., 319. 1029 Vgl. Dedieu, Rôle politique, 235 f. u. 239; Das, Pierre Jurieu, 382. 1030 Vernon an Caillaud, 18. Juli 1701, in: BL Add. 40775, 24r. 1 031 Vgl. Caillaud an Blathwayt, 25. Februar 1698, in: Dedieu, Rôle politique, 337 f. Siehe auch ebd., 234. 1032 Vgl. z. B. Caillaud an Vernon 13. Juni 1702, in: ebd., 344. 1033 Caillaud selbst behauptete, ein relativ enges Verhältnis zu Heinsius zu haben, das ihm auch erlaube, mit d ­ iesem in politische Diskussionen einzutreten (siehe Caillaud an

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Jurieu und Caillaud ihrerseits waren davon überzeugt, dass der Zusammenbruch ihres Spionagedienstes im Jahr 1696 auf den Verrat pro-­bourbonischer Hugenotten in Rotterdam zurückgehe: Sie verdächtigten gegenüber der eng­lischen Regierung mit scharfen Worten den Rotterdamer Prediger Jacques ­Basnage und dessen Familie.1034 Diese Anschuldigungen, deren Berechtigung nicht nachzuprüfen ist, verweisen auf die politischen Divergenzen innerhalb des niederlän­dischen Refuge: Während Jurieu auf einen aggressiven antiludovizianischen Kurs und innerfranzö­ sische Aufstände setzte, empfahl Basnage den in Frankreich verbliebenen Protestanten Glaubensfestigkeit und Geduld.1035 Allerdings hinderten diese bis zur offenen Feindschaft gehenden Gegensätz­lichkeiten Jurieu und ­Basnage gegen Ende des Spanischen Erbfolgekrieges nicht daran, den Herzog von ­Marlborough gemeinsam um Unterstützung für die protestantische Sache bei den anstehenden Friedensverhandlungen zu bitten.1036 Die innercalvinistische Feindschaft zu Basnage war aber nur eine Front, an der das Caillaud’sche Unternehmen zu kämpfen hatte. In den Jahren um 1700 verschärfte sich die Konkurrenzsitua­tion zu anderen Informa­tionsanbietern, die ebenfalls von der eng­lischen Regierung beschäftigt und bezahlt werden wollten. Die Konkurrenzunternehmen waren zum einen das „bureau“ M ­ armande in Brüssel, zum anderen das „bureau“ Lamberty im Haag. Dass die ältere Forschung von „bureaux“ spricht,1037 zeigt eine gewisse Ratlosigkeit dem Phänomen gegenüber. Denn wenn man die Spionageunternehmen von Caillaud, Marmande und Lamberty auf eine Stufe stellt – und die eng­lische Regierung tat dies in gewisser Weise –, verschwimmt die Unterscheidung ­zwischen Diplo­ maten und Spionen, ­zwischen offiziellen und privaten Akteuren: Schließ­lich war das Caillaud’sche Unternehmen (wie auch das von Lamberty) privat und strukturell kommerziell, während Marmande als eng­lischer Diplomat arbeitete, aber eben auch als solcher in einer Konkurrenzsitua­tion mit nicht-­offiziellen Spionagenetzen stand. Jacob a Cere Marmande war während der 1690er Jahre eng­lischer Spion in den Spanischen Niederlanden gewesen. Von 1699 bis mindestens 1701 arbeitete Blathwayt, 1703, in: BL Add. 29323, 26v); falls dies zuträfe, wäre dies eine Erklärung für Caillauds Selbstbewusstsein auch gegenüber der eng­lischen Regierung. 1034 Vgl. Dedieu, Rôle politique, 304 f., 314 – 316, 320. 1035 Zu Basnages und Jurieus Rolle im niederländischen Refuge und deren unterschied­ lichen theolo­gischen und politischen Haltungen siehe: Knetsch, Pierre Jurieu u. Cerny, Theology. 1036 Vgl. Jurieu an Marlborough, 22. März 1708, in: BL Add. 61366, 166r. 1037 Vgl. Das, Pierre Jurieu, 382.

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er als eng­lischer Lega­tionssekretär und Envoyé Extraordinaire in Brüssel.1038 Als solcher korrespondierte er vor allem mit dem Secretary Vernon und dem Under-­ Secretary Ellis;1039 er berichtete eingehend über den Gesundheitszustand des spanischen Königs und war wohl einer der ­Ersten, die die eng­lische Regierung von dessen Tod in Kenntnis setzten.1040 Gerade im Jahr 1700 korrespondierte er mit großer Regelmäßigkeit mit der eng­lischen Regierung und wurde zur Konkurrenz für Caillaud.1041 Ein weiteres Konkurrenzunternehmen war der Newsletter-­Dienst Guillaume Lambertys. Dieser war von 1698 bis 1700 Sekretär des Grafen von Portland gewesen und agierte meist von Den Haag aus.1042 Lamberty korrespondierte 1703/04 etwa mit dem Gouverneur der Isle of Wight, Lord Cutts.1043 In der zweiten Kriegshälfte verdichtete sich seine Beziehung zur eng­lischen Regierung; sein Newsletter aus Den Haag wurde von der eng­lischen Regierung abonniert.1044 Doch schon zu Beginn des Krieges versuchten einige mit Caillaud unzufriedene eng­lische Politiker, Lamberty als Konkurrenzunternehmen zu etablieren.1045 Als Lamberty 1705 kurzzeitig verhaftet wurde, ließ Caillaud seiner Schadenfreude freien Lauf und bemerkte gegenüber Cardonnel: „Vous n’aures pas esté surpris d’aprendre que Le Sr Lemberty a este arresté. Ce qui me surprend c’est qu’on l’ait sy long temps laisé faire un sy mauvais manege dont on a esté les dupes.“1046 Auf die Konkurrenzsitua­tion (also die Tatsache, dass er kein De-­facto-­ Monopol ergattern konnte, was er durch unrealistisch niedrige Preise mög­ licherweise hätte erreichen können) reagierte Caillaud, indem er sich bestimmte Mitglieder der eng­lischen Regierung gewogen zu machen suchte und dafür ältere Kontakte mobilisierte. So korrespondierte er etwa mit dem Secretary at War William Blathwayt, der in den 1690er Jahren ein wichtiger Akteur in der Kriegsadministra­tion gewesen war und dementsprechend zu Beginn des

1038 Vgl. Horn, British Diplomatic Service, 31; siehe auch: Calendar of Treasury Books, Bd. 15, 443; Calendar of Treasury Books, Bd. 17, 151. 1039 Vgl. z. B. BL Add. 28903, 79 f.; TNA SP 77/57, v. a. 149r, 164r. 1040 Vgl. BL Add. 28906, 74v–76; 92r;103 f. 1041 Vgl. TNA SP 77/57. 1042 Vgl. Frey/Frey, Lamberty. 1043 Vgl. BL Add. 69379 art. 2; HMC Frankland-­Russell-­Astley, 126  –  142. 1044 Vgl. z. B. TNA SP 84/574, 250r. Siehe auch: Frey/Frey/Rule, Introduc­tion, XXIII; Bély, Espions, 195. 1045 Vgl. Dedieu, Rôle politique, 245; siehe auch Cardonnel an Caillaud, 12. Juli 1702, in: BL Add. 61394, 54v–55. 1046 Caillaud an Cardonnel, 22. Mai 1705, in: BL Add. 61413, 54r.

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Spanischen Erbfolgekrieges seinen Einfluss geltend machen konnte. 1047 ­Caillaud führte Blathwayt vor Augen, dass etwa Marmande schon deshalb kaum konkurrenzfähig sei, weil ein Informa­tionsdienst sich nicht von heute auf morgen einrichten lasse: „Je ne sais si on veut me couper l‘herbe sous le pied, mais je doupte que Mons. de Marmande, n‘y d’auttre puisse parvenir de longues année a establir un commerce comme celuy que j’ay.“1048 Als der Staatssekretär Nottingham versuchte, eigenständig Spione in Frankreich zu rekrutieren, und diese sich dann, ohne um dessen Rolle zu wissen, um Unterstützung an Caillaud wandten, schien dies erst eine Gefahr (weil nicht recht klar war, ob man es tatsäch­ lich mit loyalen pro-­alliierten Leuten zu tun habe), die aber zum Triumph für die Rotterdamer wurde – weil es ihnen gelang, die neuen Spione in ihr Netz einzubinden.1049 Auch wenn Caillauds Posi­tion gegenüber der eng­lischen Regierung in Zukunft nie unangefochten war, besteht doch kein Grund, die Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges als Niedergang des Refuge-­Spionagedienstes zu beschreiben, wie es die einschlägige Monographie Dedieus tut 1050 – eher im Gegenteil. Der Grund für diese Fehlinterpreta­tion liegt in einer selektiven Quellenlektüre – die sich vor allem auf die State Papers stützt, aber die Korrespondenz Marlboroughs und vor allem Sunderlands außer Acht lässt. Im Jahr 1706, so lässt sich erschließen, arbeiteten etwa zehn von Caillauds Korrespondenten in verschiedenen franzö­ sischen Städten, vor allem Hafenstädten.1051 Dies entsprach, so Caillaud, wieder dem Stand der 1690er Jahre.1052 Marlborough setzte, anders als manche unter den Secretaries of State, auf das Jurieu-­Caillaud’sche Unternehmen.1053 Eine Begründung dafür dürfte die Nähe Jurieus und Caillauds zu Heinsius darstellen. Marlborough besuchte Jurieu, als er 1047 Vgl. Burton, Secretary at War; Jacobsen, William Blathwayt. 1048 Vgl. Caillaud an Blathwayt, 1702, in: BL Add. 29323, 22v. 1049 Vgl. Jurieu an Nottingham, 20./30. Juni und 14./24. August 1702, in: Dedieu, Rôle politique, 328 f.; Caillaud an Nottingham, 30. Juni 1702, in: ebd., 343. 1050 Vgl. Dedieu, Rôle politique. 1051 Vgl. Caillaud an einen Secretary of State (Hedges?), 12. März 1706, in: Dedieu, Rôle politique, 351: „Il est vrai, Monseigneur, que vous donnez 12,000 florins pour cette correspondance, établie depuis dix-­huit années. Je suis en état de rendre compte sur cela de notre conduite, et je laisse à Votre Excellence à juger si, dans un commerce de cette nature, où il y a près de dix personnes d’employées qui exposent leur vie, on peut donner moins d’argent.“ 1052 Vgl. Caillaud an Sunderland, 30. August 1707, in: BL Add. 61548, 29v. 1053 Bély, Espions, stellt die Verbindung zu Marlborough nicht explizit her, weil er kaum über die Quellen in Dedieu, Rôle politique, hinausgeht.

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zu Beginn des Krieges 1702 in die Niederlande reiste.1054 Er traf auch Caillaud und versicherte ihn seiner Unterstützung und (was so nicht zutraf ) der Unterstützung der eng­lischen Regierung.1055 Offenbar hatte Cardonnel, der Caillaud schon vorher gekannt hatte, diesen dem Herzog vorgestellt. Marlborough beauftragte ihn, ihn mit Spionageberichten und Korrespondenzen zu versorgen. M ­ arlborough, so Caillaud, habe ihm den Auftrag gegeben, „luy envoyer la coppie des nos avis ou il sera“.1056 Caillaud wurde sogar zu Marlboroughs Klienten.1057 In der kritischen Situa­tion des Jahres 1702 konnte Caillaud sich Marlboroughs sozia­les Kapital in gewisser Weise ausleihen und es dazu n ­ utzen, sich die skeptischen Staatssekretäre gewogen zu machen: Dass Marlborough ihn gebeten hatte, ihm seine Berichte ebenfalls zuzusenden und auch, dass er sie schätze, teilte Caillaud den Secretaries wiederholt mit.1058 Aus der Korrespondenz Caillauds mit Cardonnel ist zu ersehen, dass Marlborough sich die Berichte Caillauds oft vorlesen ließ 1059 und dass ­Cardonnel seinem Glaubensbruder eine gewisse – vielleicht strate­gische – Herz­lichkeit entgegenbrachte.1060 Mit Marlboroughs Unterstützung gelang es Caillaud offenbar wieder, bei der eng­lischen Regierung eine gewisse Monopolstellung als Spionagenetz des Refuge zu erreichen.1061 Im Januar 1703 war die Stellung Caillauds so gefestigt, dass seine Bezahlung in Zukunft nicht mehr über Wechsel, sondern direkt über den Paymaster der eng­lischen Truppen auf dem Kontinent, Benjamin Sweet, 1054 Vgl. Das, Pierre Jurieu, 381; Veenendaal, Inleiding, XXIX. 1055 Vgl. Dedieu, Rôle politique, 235. 1056 So Caillaud an Blathwayt, 20. März 1703, in: BL Add. 29323, 32r–v. 1 057 Caillaud versuchte während des Krieges mehrfach, die Patronage Marlboroughs zu ­nutzen, um seinen Bruder in einem (eng­lischen) Regiment unterzubringen. Vgl. ­Cardonnel an Caillaud, 24. Juni 1702, in: BL Add. 61394, 34v; Caillaud an ­Marlborough, in: BL Add. 61284, 3. Mai 1706: 154r–v, 14. Mai 1706, 155r–v. 1058 Vgl. Caillaud an Vernon, 31. März 1702, 7. April 1702 und 13. Juni 1702, in: Dedieu, Rôle politique, 340 f. u. 344; Caillaud an Nottingham, 6. Juli 1702 und 10. Juli 1702, in: ebd., 343 f. 1 059 Vgl. zum Beispiel: Cardonnel an Caillaud, 4. u. 12. Juli 1702, in: BL Add. 61394, 45v u. 54v; 24. u. 27. Februar 1708, in: BL Add. 61399, 87r u. 92r ; 6. Januar 1709, in: BL Add. 61400, 76v; 8. Juli 1710, in: BL Add. 61401, 66r. 1 060 Vgl. Cardonnel an Caillaud, 6. Januar 1709, in: BL Add. 61400, 76v, wo es heißt, er hoffe, ihn in Rotterdam bald zu sehen und zu umarmen (embrasser). 1061 Allerdings werden Caillaud und Jurieu in der diplomatisch einschlägigen Korrespondenz mit dem Secretary Nottingham (BL Add. 61118) nirgendwo erwähnt – dort spielen andere, strate­gische ­Themen eine Rolle, aber es ist doch auffällig, dass der von beiden genutzte Informa­tionsdienst dort an keiner Stelle auftaucht.

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abgewickelt wurde. Dies war nicht nur ein Schritt zur besseren Geheimhaltung der Caillaud’schen Dienste,1062 sondern damit wurde das Caillaud’sche Netz faktisch auch zu einem mehr oder minder offiziellen Teil der eng­lischen Truppen auf dem Kontinent – ohne dabei die netzwerkförmige Handelslogik ganz aufzugeben.1063 Formale und informelle Beziehung verbanden sich also miteinander. Teilweise – dies entspricht der bereits bei Jaupain beobachteten Praxis – gab es also aus Gründen des Schutzes von Informanten die Tendenz, ihre Stellung in irgendeiner Weise zu formalisieren, sie also in Dienst- und Amtspflichten einzuspannen. Die Rivalität Caillauds zu anderen bureaux und auch deren weitgehende Überwindung ist deshalb wichtig, weil sie eines der wenigen Beispiele aus dem Spanischen Erbfolgekrieg darstellt, in dem sich eine offene Konkurrenzsitua­tion ­zwischen zwei ‚Produzenten‘, also Anbietern von Informa­tion, beobachten lässt. Die Konkurrenzsitua­tion, die immer auch die gegenseitige Beobachtung der rivali­ sierenden Produzenten sowie die daraus folgenden Preiskalkula­tionen umfasst, ist ein konstituierendes Merkmal eines Marktes.1064 Im Fall der Rivalität z­ wischen Caillaud und anderen bureaux ist also – jedenfalls im Hinblick auf das Moment der Konkurrenz – zeitweise eine Quasi-­Marktsitua­tion zu beobachten. Weitere in der Literatur oft genannte Marktcharakteristika wären die Nutzung von Geld (die im Fall Caillauds eine immense Rolle spielt), aber eben auch die Tatsache, dass auf dem Markt ‚ohne Ansehen der Person‘ agiert wird und dieser auch keine sozia­len Bindungen stiftet.1065 Diese letzteren Punkte sind im Fall Caillaud ganz offensicht­lich nicht zutreffend – Ansätze zur amtsmäßigen Formalisierung, vor allem aber Patronage stehen einer reinen Marktlogik entgegen. Wenn man es also durchaus mit dem kommerziellen Handel von Informa­tionen zu tun hat, dann doch nicht in einer eigent­lich marktförmigen Weise.1066 1062 Vgl. Caillaud an Nottingham, 5. Januar 1703, in: Dedieu, Rôle politique, 330. 1063 Daneben belieferte Caillaud als Kaufmann die eng­lischen Offiziere mit Wein (siehe The collec­tion of Autograph Letters, Bd. 2, 69; Caillaud an Blathwayt, 20. November 1703, in: BL Add. 38710, 100r, 119v; Cardonnel an Caillaud, 21. Mai 1708, in: BL Add. 61399, 141v) und arbeitete wenig erfolgreich als Agent des Regiments des Baron Walef, geriet damit allerdings 1708 in finanzielle Schieflage – was sein Drängen auf Bezahlung gegenüber der eng­lischen Regierung zusätz­lich plausibel macht. Siehe Letters and Dispatches, Bd. 5, 179. 1064 Vgl. so: White, Markets. 1065 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 382 f. 1066 Vgl. Roosen, Age of Louis XIV, 152: „Informa­tion was almost like an item of trade in diplomatic circles“; vgl. so auch: Bély, Espions, 59; de Bruin, Geheimhouding, 63; Opitz, Diplomacy, 73; eher als Gabentausch beschreibt diese Mechanismen: Anderson, Rise of Modern Diplomacy, 56.

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Was aber vor allem auffällt, ist der Umstand, dass die Akteure nicht auf einem Markt agieren wollten. Vor allem Jurieu und Caillaud empfanden die offene Marktsitua­ tion als nachteilig und strebten eine Monopolstellung an, die sie durch persön­liche Kontakte zu erlangen hofften. Sie versuchten also, die für Marktsitua­tionen charakteristische Irrelevanz persön­licher Bindungen zu umgehen. Auch die eng­lische Regierung tendierte im Zweifelsfall eher dahin, informelle Netzwerke wenigstens teilweise zu formalisieren, als sie in einer marktförmigen Konkurrenzsitua­tion gegeneinander auszuspielen – und zwar offenbar, weil neben Geld auch durch langjährige Arbeit erworbenes Vertrauen einen wichtigen Grund für die Koopera­tion darstellte. Die auf diese Vertrauensressource rekurrierende Praxis der Berufung unter anderem auf Marlborough behielt Caillaud auch ­später bei, um sich bei neuen Staatssekretären einzuführen. Als Sunderland 1706 Secretary wurde, stellte sich Caillaud ihm brief­lich vor. Etwas unbestimmt ließ er ihn wissen, dass seine Vorgänger nicht immer eine große Unterstützung gewesen s­ eien. Auch daher strich Caillaud seine langjährigen Kontakte zu Blathwayt, vor allem aber zu Marlborough und Cardonnel heraus.1067 Auch Henry Boyle erhielt 1710 einen entsprechenden Brief, der ihn darüber aufklärte, dass „milord Sunderland ainsi que milord Duc de Malborough, en ont toujours témoigné être satisfaits“.1068 Ein wichtiger Punkt, der die Korrespondenz mit neuen Secretaries stets eröffnete, war die Forderung, die zu Beginn jedes Vierteljahres zu zahlenden 3000 niederländischen Gulden weiter zu erhalten.1069 Auch Caillaud beklagte immer wieder die mangelnde Zahlungsmoral der Londoner Regierung, die ihm als ein Haupthinder­ nis seiner Arbeit erschien.1070 Mit einigem Selbstbewusstsein formulierte Jurieu: „Car nos correspondents en France continuent aussi bien que jamais. Il ne s’agit que de les bien payer.“1071 Das entspricht den Beobachtungen zur ­Vorkriegszeit, 1067 Vgl. Caillaud an Sunderland, Sommer 1706, in: BL Add. 61548, 5r, 7r–v. 1068 Vgl. Caillaud an Boyle, 14. Juli 1710, in: Dedieu, Rôle politique, 353. Diesem Brief geht ein anderer Cardonnels an Caillaud voraus, der diesen an Boyle weiterverweist (bis zu Sunderlands Sturz im Sommer 1710 war dieser Caillauds Hauptansprechpartner gewesen); dieser Brief zeigt wiederum die enge Verbindung ­zwischen Marlborough/ Cardonnel und Caillaud. Vgl. Cardonnel an Caillaud, 8. Juli 1710, in: BL Add. 61401, 65v–66r. 1069 Vgl. z. B. Jurieu an Nottingham, 27. Mai/4. Juni 1702, in: Dedieu, Rôle politique, 327; Caillaud an Boyle, 14. Juli 1710, in: ebd., 353. 1070 Vgl. z. B. Caillaud an Blathwayt, 8. Januar 1704, in: BL Add. 38711, 4v–5r; Jurieu an Ellis, 2. März 1705, in: BL Add. 28916, 96r; Caillaud an Sunderland, 18. März 1707, in: BL Add. 61548, 15r–v; Caillaud an Sunderland, 1. April 1707, in: BL Add. 61548, 25r; Cardonnel an Caillaud, 19. Dezember 1707, in: BL Add. 61399, 42v. 1071 Jurieu an Sunderland, 1706, in: BL Add. 61548, 1r.

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was bedeutet, dass selbst die einigermaßen dramatische Kriegssitua­tion und eine dadurch gesteigerte Notwendigkeit, schnell und sicher an Informa­tionen zu kommen, die Zahlungspraktiken der Regierung kaum veränderten. Mit dem Regierungswechsel von 1710 und vor allem den Friedenspräliminarien mit Frankreich aber passte Caillauds antifranzö­sische Stoßrichtung der eng­ lischen Regierung immer weniger, und im September 1712 wurde sein Engagement aufgekündigt.1072 Nach dem Regierungsantritt von Georg I. nahm Caillaud seine Dienste für die neue Whig-­Regierung wieder auf (er berichtete jetzt allerdings weniger aus Frankreich als aus den Niederlanden) und erhielt ab 1715 auch seine zwischenzeit­lich unterbrochene Pension wieder ausgezahlt.1073 Es sind krisenhafte Momente wie die Aufkündigung von Caillauds Engagement, aber auch Augenblicke alltäg­licher Schwierigkeiten, in denen deut­licher als sonst über die Funk­tionsweise, den Nutzen und die praktischen Probleme des in Frankreich operierenden Spionagenetzwerks reflektiert wird. Der Under-­Secretary Lewis, der Caillaud 1712 aus eng­lischen Diensten entließ, hatte ­diesem offenbar vorgeworfen, seine Spionage sei insgesamt nutzlos gewesen – ein Vorwurf, den Caillaud nicht auf sich sitzen ließ. Er selbst habe bei ­diesem Spionagegeschäft Familienmitglieder und Freunde verloren; die Vorgängerregierungen s­ eien immer zufrieden gewesen; die Spionageberichte schließ­lich hätten die eng­lische Regierung „avec la dernière exactitude“ über alles informiert, „ce qui se passait dans tous les ports de mer de France“.1074 Und wenn die gegenwärtige Londoner Regierung Caillauds Newsletters nutzlos finde – könne das vielleicht daran liegen, dass sie keine spezifischen Wünsche geäußert habe, worüber sie informiert werden wolle? „Autrefois, Messeigneurs les Secrétaires d’etat me faisaient donner des ordres de temps en temps, sur ce qu’ils voulaient savoir. On les a suivis et ils en ont été contents.“1075 In der Tat bat Caillaud die Secretaries von Zeit zu Zeit – gerade in Briefen zum Amtsantritt der Staatssekretäre – um Instruk­tionen oder spezielle Informa­ tionswünsche, betonte also den kommerziellen Dienstleistungscharakter seiner Spionage: „Sy votre grandeur desire estre informée de quelque chose de particulier 1072 Vgl. Caillaud an den Under-­Secretary Lewis, 13. September 1712, in: Dedieu, Rôle politique, 354. 1073 Vgl. Dedieu, Rôle politique, 357 f. Jahre ­später, im August 1721, bat Caillaud Sunderland noch einmal darum, seine Pension von 200 Pfund auch weiterhin zu erhalten, weil er immer sein „attachement inviolable pour la cause commune“ gezeigt habe; siehe BL Add. 61548, 70r–71r. 1074 Vgl. Caillaud an den Under-­Secretary Lewis, 13. September 1712, in: Dedieu, Rôle politique, 355. 1075 Ebd.

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de France ou d’ailleurs, vous n’auras que donner vos ordres, nous les suiverons et les fairons Executer autant qu’il nous sera possible.“1076 Dagegen ist relativ selten zu beobachten, dass eng­lische Regierungsmitglieder Caillaud direkt um spezi­ fische Informa­tionen baten. Als Beispiel wäre aber zu nennen, dass Cardonnel im Herbst 1708 für Marlborough bei Caillaud nachfragte, wie die Niederlage von Oudenaarde in Versailles aufgenommen worden sei.1077 Ebenfalls relativ selten findet sich in der Korrespondenz offene Kritik an Caillauds Berichten. Wenn etwas kritisiert wurde, dann die Trockenheit der Berichte, aber auch, dass diese bereits veraltet ­seien.1078 Diese Kritik konterte Caillaud in der Regel erstens mit dem unspezifischen Hinweis auf sein persön­liches Engagement und die Tat­sache, dass er selbst Familienmitglieder und Freunde verloren habe,1079 verwendete also ein eher emo­tionalisierendes Argument. Politisch immunisierte er sich gegen Kritik, indem er immer wieder auf die ‚gemeinsame Sache‘, die cause commune hinwies – ein Begriff, der selbstverständ­lich Verschiedenes meinen konnte.1080 Vor allem aber führte Caillaud seinen Kritikern unter den Secretaries of State immer wieder die immensen Schwierigkeiten seines Unternehmens vor Augen. Seine Erklärungen zeigen, dass Spionage eine teure, schwierig zu organisierende und gefähr­liche Arbeit war. Dies betraf das Problem der Postinfrastruktur (denn auch der Caillaud’sche Dienst litt natür­lich unter dem erschwerten und zeitweise verbotenen Posttransport ­zwischen den Niederlanden und Frankreich).1081 Dazu trat die Gefahr der Interzep­tion der Briefe 1082 und der Aufdeckung der Spione.1083 1076 Caillaud an Sunderland, Sommer 1706, in: BL Add. 61548, 8r; siehe auch Jurieu an Manchester, 2./12. Mai 1702, in: Dedieu, Rôle politique, 326; Caillaud an Nottingham, 5. Januar 1703, in: ebd., 330. 1077 Vgl. Cardonnel an Caillaud, 18. Juli 1708, in: BL Add. 61399, 208v. 1078 Vgl. Caillaud an einen Secretary of state (Hedges?), 12. März 1706, in: Dedieu, Rôle politique, 351. 1079 Vgl. ebd. 1080 Vgl. Caillaud an Sunderland, Sommer 1706, in: BL Add. 61548, 7v. Wenn Caillaud gegenüber Blathwayt bemerkt, die eng­lische Königin sei „si utile a la cause commune“ (BL Add. 29323, 22r), wird deut­lich, dass die cause commune des Krieges für Caillaud primär auf das Schicksal der Hugenotten bezogen blieb. 1081 Siehe Caillaud an Vernon, 15. Juni 1703, in: Dedieu, Rôle politique, 347; Caillaud an Sunderland, 18. März 1707, in: BL Add. 61548, 15v. 1082 Vgl. Caillaud an Sunderland, 10. April 1708, in: BL Add. 61549, wo es um veränderte Postwege und daher längere Zustellungsdauern aufgrund vermuteter feind­licher Interzep­ tion geht; siehe auch Caillaud an Sunderland, 18. März 1707, in: BL Add. 61548, 15v. 1083 Vgl. Caillaud an einen Secretary of State (Hedges?), 12. März 1706, in: Dedieu, Rôle politique, 351; Caillaud an Sunderland, 1. März 1707, in: BL Add. 61548, 9r–v; Caillaud an Sunderland, 1. März 1708, in: BL Add. 61562, 177r. Caillaud schlug in einem solchen

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Einmal beschwerte sich Sunderland offenbar darüber, dass er Caillauds Abschriften der Spionagebriefe nicht lesen konnte – was Caillaud wiederum veranlasste, über sein Unternehmen Auskunft zu geben: Das Problem bestehe darin, dass in Rotter­ dam so viel abzuschreiben sei, dass nicht immer nur er, Caillaud (dessen Schrift Sunderland gut lesen konnte), die Briefe abschreiben könne.1084 Dazu komme aber, dass seine Korrespondenten in Frankreich oft derart im Geheimen arbeiten müssten, dass ihre Briefe schwer zu lesen und langsam oder unpräzise zu dechiffrieren s­ eien.1085 Caillaud scheint Korrespondenten überall in Europa gehabt zu haben und konnte immer wieder mit vermischten Nachrichten aus Deutschland, der Schweiz oder gar England aufwarten.1086 Eindeutiger Schwerpunkt aber war Frankreich; dazu kamen die Niederlande und die Verbindungen ­zwischen Frankreich und den vor allem nörd­lichen Niederlanden. Um nur wenige Beispiele zu geben: Caillaud wies auf Überläufer im Umkreis des Jakobitenhofes hin 1087 – er hatte also offenbar entweder Korrespondenten in St. Germain oder mindestens Kontakte dorthin. Er organisierte die Überwachung des in Paris lebenden niederländischen Arztes ­Adriaan Helvetius, der von den Franzosen im Herbst 1705 in den Haag geschickt worden war, um die Mög­lichkeiten für einen franzö­sisch-­niederländischen Separatfrieden auszuloten, und sich dort mit niederländischen Politikern traf.1088 Caillaud war der Meinung, die eng­lische Regierung solle „avec fermeté“ mit der niederländischen Regierung reden, um einen mög­lichen Riss in der Allianz zu vermeiden.1089 Caillaud informierte aber Sunderland auch über geheime Friedensinitiativen der Haager Regierung, die im Frühjahr 1707 einen Unterhändler nach Paris schickte.1090 Fall (vermut­lich nicht erfolgreich) vor, die gefangen genommenen Spione gegen noch gefangen zu nehmende franzö­sische Spione in England auszutauschen. Vgl. Caillaud an Sunderland, 1. April 1707, in: BL Add. 61548, 22r. 1084 Vgl. Caillaud an Sunderland, 30. August 1707, in: BL Add. 61548, 28r. 1085 Vgl. ebd., 28v: „comme le correspondant est obligé descrire en jnvisibles il ne peut pas y aporter toute l’exactitudes qu’on y pourroit avoir s’il escrivait autrement: et il nous faut de temps pour deschifre toutes leurs lettres.“ Für Hinweise auf Schwierigkeiten von Caillauds Dechiffreur vgl. auch BL Add. 61557, 204v–206r. 1 086 Vgl. Caillaud an Blathwayt, in: BL Add. 29323, passim; Caillaud an Sunderland, in: BL Add. 61548, 41v. 1087 Vgl. Caillaud an Marlborough, 19. April 1706, in: BL Add. 61264, 99r–v. 1088 Vgl. Caillaud an Marlborough, 14. Oktober 1705 u. 12. Januar 1705/06, in: BL Add. 61264, 89r–924r. Siehe auch zu Helvetius‘ geheimen Berichten nach Frankreich: van der Bijl, De franse politieke agent. 1089 Caillaud an Marlborough, 14. Oktober 1705, in: BL Add. 61264, 92r. 1090 Vgl. Caillaud an Sunderland, 18. März 1707, in: BL Add. 61548, 15v–16r; 22. März 1707, in: ebd., 17v–19v.

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Als es zu größeren multilateralen Verhandlungen kam, lieferte er den Secretaries eine (zu Unrecht eher optimistische) Einschätzung der Gertruydenberger Friedensverhandlungen von 1710,1091 die die Secretaries komplementär zu den Berichten der eng­lischen Teilnehmer, etwa Marlboroughs, lesen konnten. Daniel Defoe hatte in seiner Programmschrift für Harley von 1704 angeregt, für eine bessere Versorgung der eng­lischen Regierung mit Informa­tionen aus Frankreich Spione in Paris, aber auch in den Hafenstädten Toulon, Brest und Dünkirchen zu installieren.1092 Er wies auf die offensicht­liche Bedeutung von Spionage in Frankreich hin – wusste aber nichts davon, dass in den von ihm genannten Städten und vielen mehr seit anderthalb Jahrzehnten ein ausgedehntes Spionagenetzwerk tätig war, das zwar nicht von den Staatssekretären organisiert, aber doch von ihnen mitfinanziert wurde. Caillaud gelang im großen Stil, was ansonsten nur punktuell mög­lich war: der eng­lischen Regierung näm­lich ein umfassendes, regional differenziertes, militärisch wie politisch relevantes Bild der Situa­tion in Frankreich zu liefern. Damit erschloss er ein Land, das ansonsten wegen der durch die Kriegssitua­tion massiv erschwerten oder gekappten Reise- und Kommunika­tionsmög­lichkeiten eine Art black box darstellte, über die man nur vage Informa­tionen besaß. Während in Caillauds Briefen manchmal das politische Räsonnement überhandnimmt, verhält es sich in der Regel mit den von ihm mitgeschickten Newsletters seiner Spione anders. Der Korrespondent in Brest etwa beschränkte sich darauf, ein- und ausfahrende Schiffe, bewaffnete und unbewaffnete Schiffe zu registrieren. Dies diente eher routinemäßig dazu, die eng­lische Regierung auf dem Laufenden zu halten.1093 Ähn­lich verhielt es sich etwa mit den Korrespondenten in Bordeaux (der eine Zeit lang Rochefort und La Rochelle mit abdeckte)1094, in Cambrai 1095, in La Rochelle 1096, Rochefort 1097, St. Malo 1098 1091 Vgl. Caillaud an den Under-­Secretary Hopkins, 7./18. April u. 26. April/6. Mai 1710, in: BL Add. 64928, 123v–124r u. 128r–130v. Siehe auch Caillaud an Sunderland, in: BL Add. 61562, 108v–123v. Auch die Übergänge z­ wischen geheimen und offenen Friedensverhandlungen hatte Caillaud notiert; siehe Caillaud an Hopkins, 3. Mai 1709, in: BL Add. 61548, 51r–59r. 1092 Vgl. Warner, Unpublished Political Paper, 136. 1093 Vgl. BL Add. 61548, November 1706 – 1709, 104r–187v. Bei Gefahr begab sich der Korres­ pondent nach Quimper und berichtete von dort aus; siehe Brief vom 13. Februar 1708, in: BL Add. 61548, 162r. 1094 Vgl. BL Add. 61548, 72r–103v. 1095 Vgl. BL Add. 61548, 188r–202v. 1096 Vgl. BL Add. 61551, 1r–102v. 1097 Vgl. BL Add. 61561, 9r–44v. 1098 Vgl. BL Add. 61561, 45r–54v.

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und Toulon 1099, die zeitweise alle mehrfach im Monat (meist wöchent­lich) an ­Caillaud schrieben. Nicht zu Unrecht brüstete sich Caillaud: „Quand au correspondance des ports de la Mer elles sont sur un pied si solides que j’ose bien assurer que l’on auroit bien de la peine a en soutenir de semblable, et qu’il est plus difficile qu’on ne pense d’avoir de telles habitudes en France, car malgre toutes les diffi­ cultes nous avons toujours este informé en temps de ce qui ce fait dans les ports.“1100

Auch in Dünkirchen hatte Caillaud einen Spion platziert. Dieser Hafen sollte im Vorfeld des jakobitischen Invasionsversuchs von 1708 zum Hauptobjekt der alliierten Spionage werden. Auch Macky und Jaupain – dies ist bereits dargestellt worden – hatten Spione dorthin gesandt. Doch auch wegen der Nähe zum Kriegsgebiet war die Frequenz der Dünkirchener Spionageberichte noch höher als bei anderen franzö­sischen Kriegshäfen. Der Korrespondent schrieb wöchent­lich, und daher ergibt sich gerade für die Jahre 1707 und 1708 eine sehr hohe Dichte an Spionageberichten, die allerdings gerade für 1707 kaum mehr als Hafenbeobachtung darstellen und etwa Listen von Schiffen und deren Bewaffnung enthalten.1101 Militärisch relevant wurden die Berichte aus Dünkirchen allerdings im Frühjahr 1708 im Kontext des jakobitischen Invasionsversuchs. Caillaud schickte offenbar noch mindestens einen weiteren Spion dorthin, wies aber seine Briefpartner auch darauf hin, wie gefähr­lich für seine Spione die Situa­tion dort gerade in ­diesem Zeitraum war: „La Correspondance de ce Lieu est a present difficile, on a arresté et visité plusieurs Lettres, Les amis n’oseroient escrire en droiture.“1102 Auch an anderen Orten als in den franzö­sischen Hafenstädten, und dies macht Caillauds Spionagedienst noch eindrucksvoller, waren seine Spione und Korrespondenten am Werk: Sie lieferten kleinteilige Kriegsberichterstattung vom südniederländischen Kriegsschauplatz (die weniger für Marlborough als für die Secretaries in London von Interesse gewesen sein dürfte) und aus dem südniederländisch-­franzö­sischen Grenzgebiet. Komplementär zu Jaupain (mit dem es punktuell eine Zusammenarbeit gegeben haben muss: Caillauds Berichte wurden zuweilen von Jaupain weitergeschickt) und dessen Spion in Mons unterhielt auch Caillaud Berichterstatter im Umkreis Max Emanuels und der franzö­ sischen Armee.1103 1099 Vgl. BL Add. 61561, 57r–68v. 1100 Caillaud an Sunderland, 30. August 1707, in: BL Add. 61548, 29r–v. 1101 Vgl. BL Add. 61549. 1102 Caillaud an Sunderland, 1. März 1708, in: BL Add. 61562, 177r. 1103 Vgl. z. B. BL Add. 61561, 105r–179v; 196 – 201 und passim.

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Dem Korrespondenten Caillauds in Brüssel gelang es im Mai 1708 offenbar, seinerseits einen homme zu rekrutieren, der ins franzö­sische Lager geschickt wurde.1104 Dieser berichtete über den Zustand der franzö­sischen Truppen und traf öfter heim­lich mit Cardonnel und Cadogan zusammen, was wiederum auf die Zusammenarbeit Caillauds mit Marlborough hindeutet.1105 Caillauds Korrespondent spricht sogar explizit von „ses services a Mylord Duc, & a Mr Cadogan“.1106 Diese Dienste bestanden auch darin, franzö­sische Spione in der alliierten Armee aufzudecken.1107 Dieser und mög­licherweise weitere Korrespondenten sandten (vor allem im Spätsommer 1709) eine große Zahl von Berichten, die direkt aus dem franzö­sischen Feldlager stammten.1108 Öfter wurden auch hier (listenartige) Beschreibungen franzö­sischer Garnisonen mitgeschickt.1109 Allenthalben wird in den Berichten die angespannte Lage innerhalb der franzö­sischen Armee deut­lich, aber auch, wie gefähr­lich es gewesen sein muss, dort zu spionieren.1110 Für ­Marlborough könnten hier unter anderem die Hinweise auf die zerstrittene franzö­sische Generalität von Interesse gewesen sein.1111 Quantitativ wichtiger als die Kriegsberichterstattung aus den süd­lichen Niederlanden aber waren andere Spionageberichte. Caillaud besaß näm­lich nicht nur in den franzö­sischen Hafenstädten, sondern weit darüber hinaus geheime Korrespondenten. Allein die geographische Streuung der vor allem ab 1707 von ­Caillaud an Sunderland und Marlborough gesandten Newsletters ist beein­druckend. Caillaud sandte Berichte aus Münster, Berlin, Hannover, Stuttgart, aus Ungarn, Genua, Livorno, Neapel, Rom, San Remo, Turin, aus Warschau, Lissabon, Bern 1104 Vgl. Brief an Caillaud, 24. Mai 1708, in: BL Add. 61562, 38r. 1105 Vgl. Brief vom 2. Juli 1708, in: BL Add. 61562, 48r: „notre homme a resté cinq jours a l’armée de France, il arriva hyer au soir, et on a depesche un Courrier a Mr.s Cadogan et Cardonnel aussy tôt pour leur faire scavoir ce que cet homme raporte“; am 9. Juli wird sogar berichtet, der „homme“ sei durch den Wald geschlichen, um Cardonnel persön­lich einen Bericht zu erstatten: ebd., 50v. 1106 Brief vom 26. Juli 1708, in: BL Add. 61562, 62r. 1107 Vgl. Brief vom 27. September, in: BL Add. 61562, 84r. 1108 Vgl. BL Add. 61552, 139r–176v; siehe auch BL Add. 61550. In Maubeuge arbeitete im Jahr 1709 eine Person aus dem Gefolge des franzö­sischen Marschalls Villars für C ­ aillaud, die man hatte bestechen können. Siehe Brief aus Maubeuge, 25. September 1709, ebd., 208r u. 211v. 1109 Vgl. BL Add. 61561, 96r–v; 101r; 120r (alle 1709). 1110 Vgl. Brief an Caillaud aus Quesnoy, 14. November 1709, in: BL Add. 61561, 3r: „Vous ne sauriez croire, combien le danger est grand en voyageant en ces quartiers ici l’on trouve toujours des personnes egorgées, et d’autres depouillées.“ 1111 Vgl. 9. Dezember 1708, in: BL Add. 61548, 188r.

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oder Neuchâtel.1112 Noch wichtiger als diese meist vereinzelten Newsletters, die Caillaud eher gekauft als selbst organisiert haben dürfte, waren die Berichte seiner eigenen Spione aus Lyon 1113, Marseille 1114 und, allerdings unregelmäßig, vielen anderen Städten.1115 Für die Transmission franzö­sischer Newsletters und Spionagekorrespondenz wurde, soweit sich dies erschließen lässt, um 1709 Genf als Knotenpunkt immer wichtiger. Es scheint, als habe Caillaud seine Berichterstatter angewiesen, aus Sicherheitsgründen ihre Berichte nach Genf zu s­ chicken, von wo sie gesammelt weitergesandt wurden. Offenbar hatte Caillaud auch dort einen Verbindungsmann, der seinerseits selbst Korrespondenten in Frankreich unterhielt, deren Briefe er an Caillaud weiterverkaufte. Jedenfalls unterstützte M ­ arlborough Caillaud bei seinem Vorstoß, von Sunderland für den anonymen Genfer Korres­pondenten zusätz­liche Mittel zu erhalten.1116 Aus den über Genf weitergesandten Newsletters aus Frankreich muss die eng­lische Regierung vor allem einen Eindruck gewonnen haben: den Eindruck näm­lich vom spätestens 1709 manifesten finanziellen und ökonomischen Elend der franzö­sischen Armee und Frankreichs generell.1117 Dies ist nun auch das Thema, das die Berichte von Caillauds vielleicht spektakulärstem Spion durchzieht. Schon 1702 pries Jurieu dem Secretary of State Manchester den aktuellen Korrespondenten in Paris an. Auch wenn er etwas zu viel räsoniere und sich nicht auf Fakteninforma­tionen beschränke, sei er doch der beste Berichterstatter, den das Jurieu-­Caillaud’sche Unternehmen jemals in Paris gehabt habe. Er habe Kontakte an den Hof und in die Regierung,1118 es sei unmög­lich, einen besseren Spion zu finden – außer es würde gelingen, jemanden direkt im Conseil du Roi zu platzieren: „C’est un homme qui est d’une famille considérable, qui a de bonnes habitudes chez les ministres et ailleurs, qui écrit bien, bon politique, qui entend parfaitement bien les intérêts des princes, qui nous a envoyé plusieurs disserta­tions politiques qui lui font beaucoup

1112 Vgl. BL Add. 61566, passim. 1113 Vgl. BL Add. 61551, 103r–116v; BL Add. 61564, 176v. 1114 Vgl. BL Add. 61551, 117r–206v; BL Add. 61563, 3r. 1115 Vgl. BL Add. 61564, passim. 1116 Vgl. Caillaud an Sunderland, 23. Juli 1709, in: BL Add. 61564, 175r. 1117 Vgl. etwa BL Add. 61564, 92r–99v, 164r–172r; BL Add. 61563, 155r–159r (alle 1709); siehe aber auch schon den Bericht des Genfer Bürgers Jacob Grenus von 1707, den Caillaud Sunderland schickte: BL Add. 61548, 11r–13v. 1118 Vgl. Jurieu an Manchester, 2./12. Mai 1702, in: Dedieu, Rôle politique, 326.

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d‘honneur. C’est un bon protestant, plein de zèle pour la bonne cause. Il sérait très difficile de trouver dans un autre sujet tant de bonnes qualités.“1119

Es ist nicht unwahrschein­lich, aber auch nicht beweisbar, dass es sich bei d ­ iesem Spion um denselben handelt, den auch Caillaud fünf Jahre s­ päter gegenüber ­Sunderland lobt: Der Berichterstatter „nous donne des nouvelles de la Cour de St Germain, de celle de Versailles, et de la Mer“. Auch er wird dadurch charakterisiert, dass er gerne ausführ­lich seine eigenen Einschätzungen darlege.1120 Jedenfalls sind in den Sunderland Papers etwa 400 Berichte eines anonymen Informanten enthalten, die von 1706 bis 1710 (also bis zu Sunderlands Entlassung) reichen.1121 Seine Identität ist schon deshalb letztgültig nicht festzustellen, weil die Berichte, jedenfalls in der mir vorliegenden Version (weitere Abschriften mögen anderswo liegen), von Caillaud und mindestens zwei seiner Schreiber kopiert wurden. Klar ist aber: „The writer must have been a man of posi­tion and intelligence, and his contacts were wide and various.“1122 Am wahrschein­lichsten ist, dass es sich bei dem Spion um den für Hessen-­Kassel, Hannover und Preußen arbeitenden Agenten Daniel de Martine handelt, der sich einen lukrativen Nebenverdienst versprach. 1123 Martine, der nach dem Krieg Resident für Hessen-­Kassel in Paris wurde,1124 hatte sich bereits 1702 an den eng­lischen Staatssekretär Manchester gewandt, um mit ­diesem eine geheime Korrespondenz anzuknüpfen.1125 Insofern ist es gut mög­ lich, dass es sich bei dem Korrespondenten, den Jurieu im Jahr 1702 so pries, und 1119 Vgl. Jurieu an einen der Secretaries of State, 1702, in: Dedieu, Rôle politique, 342. 1120 Caillaud an Sunderland, 30. August 1707, in: BL Add. 61548, 29r. 1121 Dies spricht neben anderem für die Weiterleitung der Berichte via Caillaud in Rotter­ dam an Sunderland (in dessen Nachlass die Berichte erhalten sind) in London und ggf. parallel oder zeit­lich versetzt an Marlborough. In der Literatur wird ohne Begründung (aber vermut­lich, um die Vorstellung eines eigenständigen Marlborough’schen ‚Geheimdienstes‘ zu belegen) vermutet, die Berichte s­ eien erst an Marlborough, dann an Sunderland geschickt worden (vgl. Churchill, Marlborough, Bd. 2, 549) oder gar, dass Marlborough die Berichte von Robethon aus Hannover (statt von Caillaud aus Rotterdam) erhielt – was angesichts der Identifika­tion als hannoverscher Gesandter Martine nicht abwegig ist (siehe Chance, John de Robethon, 57), aber dennoch nicht zutrifft; siehe so: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 993, Anm. 1. 1122 Churchill, Marlborough, Bd. 2, 549. Spekula­tionen über seine Identität bei: Dedieu, Rôle politique, 232 f.; Falkner, Marlborough’s Wars, 15; Piekalkiewicz, Weltgeschichte, 159. 1 123 Vgl. für diese Interpreta­tion: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 993, Anm. 1; Rule, Gathering Intelligence, 738. 1124 Vgl. Schmidt, Die deutschen diplomatischen Vertreter, 32; weitere biographische Hinweise bei Externbrink, Carnaval, 264, Anm. 18. 1125 Vgl. HMC Manchester, 14.

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ebenfalls bei demjenigen, den Caillaud 1707 lobte, um Martine handelt. Zwar war Martine allgemeiner als Informant der Reichsstände tätig, die im Krieg gegen Frankreich standen 1126 und daher mit Sicherheit kein exklusiver Korrespondent Caillauds. Doch mindestens Teile der Berichte in Sunderlands Nachlass sind persön­lich an Caillaud gerichtet, stellen also keine semi-­öffent­lichen Newsletters dar. Gelegent­lich wird jedenfalls deut­lich, dass „Martine“ an Caillaud und nur an ihn schreibt: „On m’a rendu votre lettre, et je tascheray toujours a m’acquitter le mieux que je pourray de vos commissions, et à vous mander fidellement toutes choses.“1127 Natür­lich ist es dennoch mög­lich, dass Teile von „Martines“ Berichten Serienbriefe darstellten. Die „Martine“-Berichte aus Versailles und Paris bieten, als Ganzes gelesen, eine interessante geheime Chronik von Hof und Regierung Frankreichs in den Jahren 1706 bis 1710 – geschrieben von einem nahen Beobachter mit guten Kontakten, der oft mehrmals pro Woche Berichte schickte. Winston Churchill vergleicht sie sogar mit Saint-­Simon.1128 Hier kann es nur um die groben inhalt­lichen Konturen ­dieses äußerst umfangreichen Quellenkorpus sowie um die Frage gehen, was sie über die Struktur von Caillauds Spionage­unternehmen aussagen. Es wäre allerdings im Hinblick auf franzö­sische Innen- und Außenpolitik, aber auch die Funk­tionsweise des Versailler Hofes interessant, sie eingehender auszuwerten, als dies hier geschehen kann. Es würde sich daraus vermut­lich ein relativ geschlossener Stimmungs- und Lagebericht aus Paris und Versailles in der zweiten Hälfte der 1700er Jahre ergeben.1129 „Martine“ traf sich mit Mitarbeitern von Ministern, berichtete sogar – wenn auch wohl aus zweiter Hand – aus dem Conseil secret, ging zum Lever du Roi 1130, war bei hohen Adligen oder Offizieren zu Gast, verschaffte sich Zugang zu Briefen, berichtete über Hofklatsch, Intrigen, politische Pläne.1131 Er legte Newsletters aus Spanien oder Frankreich bei;1132 schickte Pamphlete und gedruckte Gedichte mit, die über die öffent­liche Meinung in Frankreich informierten 1133 1126 Externbrink, Carnaval, 265. 1127 Siehe etwa den Brief vom 18. Mai 1708, in: BL Add. 61156, 146r. 1128 Vgl. Churchill, Marlborough, Bd. 2, 549. 1129 Vgl. BL Add. 61553 – 61560. Snyder schreibt zu Recht über „Martines“ Berichte: „They have been almost totally ignored, but undeservedly so“ (Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 993, Anm. 1). 1130 Siehe Brief vom 30. Dezember 1709, in: BL Add. 61559, 192r. 1131 Vgl. BL Add. 61553, passim; siehe auch BL Add. 61555, 107r, 113r, 177r. 1132 Vgl. z. B. BL Add. 61555, 28r u. 143r; BL Add. 61558, 219r–220r; BL Add. 61159, 95r–98v; 139v. 1133 Vgl. BL Add. 61554, 102r–v; BL Add. 61556, 123r–123v; BL Add. 61558, 93r–v; BL Add. 61559, 165r–166v.

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oder sandte gedruckte oder abgeschriebene militärische und politische Anweisungen ­Ludwigs XIV.1134 Vor allem aber schrieb „Martine“ selbst, fragte auch bei Caillaud nach, ­welche Art von Informa­tionen dieser wünsche 1135 – und räsonierte über die Lage Frankreichs und den Krieg im Allgemeinen. Die eng­lische Regierung und Marlborough müssen aus diesen Berichten neben vielen Details auch erfahren haben, wie in Frankreich über bestimmte Kriegsereignisse, Niederlagen wie Siege, gedacht wurde – und offenbar war dies genau das, was Caillaud seinem Korrespondenten auftrug: „Vous me demandés ce qu’on pense icy de l’expedi­tion de Toulon, il est certain comme je vous l’ay dejà dit, qu’on attribue au Duc de Savoye le manque de succes.“1136 „Martine“ informierte die eng­lische Regierung darüber, wenn militärische Niederlagen Frankreichs in Spanien vor der franzö­sischen Öffent­lichkeit geheim gehalten wurden;1137 schrieb über die desolate franzö­sische Finanzlage;1138 gab Caillaud auf Nachfrage Auskunft zu franzö­sischen Agenten, die scheinbar für England spionierten.1139 Im Frühjahr 1708 stand, wie auch in der übrigen Spionagekorrespondenz der eng­lischen Regierung, die versuchte jakobitische Invasion von Dünkirchen aus im Fokus der Berichte „Martines“.1140 Da dieser weit vom Geschehen entfernt war und Caillaud auch selbst Spione in Dünkirchen unterhielt, konnte die Bedeutung von „Martines“ Berichten nicht im Faktischen liegen. Stattdessen musste und sollte er sich auf eine Beobachtungsebene zweiter Ordnung konzentrieren und über Wahrnehmungen und Deutungen in Paris berichten. „Martine“ war offenbar bewusst, dass es seinen Briefpartnern nicht nur um Fakten, sondern auch um politische Stimmungslagen ging. So schrieb er im August 1708, Caillaud wisse

1134 Vgl. BL Add. 61554, 112r; BL Add. 61555, 5r–8r; 50r; 87r–88v; 111r–112v; 181r–181v. 1135 Vgl. Brief vom 21. Mai, in: BL Add. 61556, 150v: „On me fait un tres grand plaisir de me faire des ques­tions sur ce qu’on desire scavoir cela me donne lieu de m’informer des choses, et a remplir mon devoir, autant qu’il est possible.“ 1136 Brief vom 12. September 1707, in: BL Add. 61554, 113r. 1137 Vgl. Brief vom 17. Januar 1707, in: BL Add. 61553, 36r. 1 138 Vgl. Brief vom 16. September 1707, in: BL Add. 61553, 121r, wo es sogar heißt: „Je vous ay promis par ma derniere de m’etendre un peu sur le chapitre de nos finances“. Generell spricht „Martine“ von „nos“, wenn er Frankreich meint, und den „ennemis“, wenn er die Alliierten meint; dies ist aber mehr eine neutrale Posi­tionsbestimmung als eine (affektive) Loyalitätsbekundung. Siehe z. B. Brief vom 10. Oktober 1707, in: BL Add. 61554, 184r. 1139 In den Kontext der William-­Gregg-­Affäre aus dem Frühjahr 1708 (siehe oben, Kapitel 3.3.1) gehört wohl der Brief „Martines“ vom 17. Februar 1708, in: BL Add. 61556, 21r. 1140 Vgl. BL Add. 61556, passim.

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genauso gut oder besser als er, was in Flandern vor sich gehe – „mais je ne laisseray pas, de vous mander ce que nous en aprenons icy“.1141 In den Jahren 1709 und 1710 legen „Martines“ Berichte vor allem Zeugnis darüber ab, wie katastrophal die franzö­sische Lage und wie stark die Friedenssehnsucht der franzö­sischen Regierung, aber auch der Bevölkerung war. Es sei zweifelhaft, schreibt „Martine“ zu Beginn des Jahres 1709, ob der kommende Feldzug überhaupt bezahlt werden könne – schon deshalb wolle man Frieden und müsse ihn wollen.1142 Auf explizite Nachfrage Caillauds bestätigte „Martine“ diese Angaben noch einmal. Er übertreibe nicht: Der Zusammenbruch Frankreichs stehe kurz bevor.1143 Friedensgerüchte schwirrten in Versailles umher; „Martine“ war sicher, dass der König die Unterstützung für Philipp V. nicht mehr lange würde aufrechterhalten können: „on sera obligé icy d’abandonner les Interest du Roy Philippe.“1144 In Übereinstimmung mit den Berichten anderer Spione Caillauds ist gerade Anfang 1709 auch sehr viel von der extremen, ja lebensbedroh­lichen Kälte die Rede.1145 Der Winter 1708/09 war so hart (und Frankreich hatte ihm noch weniger entgegenzusetzen als die anderen Krieg führenden Länder), dass er durchaus in direktem Zusammenhang mit den 1709 aufgenommenen Friedensverhandlungen im Haag steht.1146 Andere Korrespondenten Caillauds berichteten seitenlang von der Teuerung und vom Zusammenbruch des Handels. Es sei so kalt, dass der Wein erfriere.1147 Ein anderer Autor schreibt: „Tout est icy dans une misere ­Extreme, point d’argt point de bleds, les officiers point payes, qui y meurent de faim, et de Misere.“1148 „Martine“ vermerkt, dass wegen der ­großen Kälte seine 1141 Brief vom 31. August 1708, in: BL Add. 61557, 69r. 1142 Vgl. Briefe vom 11. u. 15. Februar 1709, in: BL Add. 61558, 35r, 75r, 83r. Vgl. Rowlands, Keep Right. 1143 Vgl. Brief vom 26. April 1709, in: BL Add. 61158, 128. Siehe ähn­lich auch die Antwort auf eine Nachfrage Caillauds zum ökonomischen Zustand Frankreichs, 13. Dezember 1709, in: BL Add. 61559, 167r. 1144 Brief vom 9. April 1709, in: BL Add. 61158, 134. 1145 Die im Folgenden zitierten Kälteschilderungen scheinen relativ gebräuch­lichen Topoi der Kältebeschreibung zu folgen; siehe erste Hinweise dazu bei: Landsteiner, Bäuer­ liche Meteorologie, v. a. 61. Diese Topoi dürften der sozia­len und klimatischen Realität nicht exakt entsprochen, sondern stattdessen als bekannte kommunikative Chiffren fungiert haben. Siehe zum Toposproblem: Bornscheuer, Topik, 91 – 108. 1146 Vgl. Goubert, Louis XIV, 304 f.; zum „Extremwinter 1708/09“ siehe auch Mauelshagen, Klimageschichte, 70 f. 1147 Vgl. BL Add. 61548, 12. u. 29. Januar 1709, 73r–74v. 1148 BL Add. 61548, 7. März 1709, 184r.

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Tinte immer wieder einfriere,1149 malt Bilder von Hunger und Skorbut und schließt: „Depuis la Crea­tion du monde on n’a point veu un tems si dur.“1150 Insofern ist es kein Wunder, dass das letzte Jahr seiner Berichte (vom Sommer 1709 bis zum Sommer 1710) vom Thema Frieden beherrscht wird – vom Wunsch danach, von der Sicherheit, dass ein separater Friedensschluss mit den Niederlanden oder ein allgemeiner Frieden kurz bevorstehe, von den Zweifeln daran, ob und wann es dazu komme.1151 Auch wenn noch nicht sicher sei, wie der König mit dem jakobitischen Exilhof verfahren werde – eines sei sicher, so „Martine“ im F ­ ebruar 1710: „Il est donc certain que nous sommes forcez à faire la paix, faute de pouvoir soutenir la Guerre.“1152 In der Forschung wird darüber gerätselt, warum die Alliierten im Jahre 1709 Frankreich so harte Friedensbedingungen stellten, dass es schließ­lich zu einem für die Alliierten überraschenden Abbruch der Gespräche kam.1153 Dies war im Zusammenhang mit Jaupain bereits angesprochen worden; für Caillaud stellt sich dieselbe Frage, und auch die Antwort ist ähn­lich. Warum also riskierten die Alliierten eine Demütigung des Sonnenkönigs, indem sie ihn dazu zwingen wollten, bei der Vertreibung Philipps V. aus Spanien mitzuwirken? Hier kann der Leser der aus Frankreich stammenden und von Caillaud übermittelten Berichte mutmaßen, dass die über Monate eingehenden Schilderungen über den extrem kalten Winter, die Missernten, die Infla­tion bei den alliierten Verhandlungsführern ein übertriebenes Bild davon erzeugt haben, wie stark die Franzosen auf Frieden angewiesen ­seien. Ohne dass dies beweisbar wäre, ist es doch plausibel anzunehmen, dass Caillauds Berichte für die alliierten und vor allem die eng­lischen Politiker die Referenzgröße waren, wenn es um allgemeine politische Stimmungsberichte aus Frankreich ging. Caillaud war mit seinem kommerziellen Spionageunternehmen auch in dieser Hinsicht ein durchaus einflussreicher Akteur des Spanischen Erbfolgekrieges: Caillauds Spionagenetz diente dazu, den Krieg so zu führen, wie er geführt wurde.1154 1149 Brief vom 11. Januar 1709, in: BL Add. 61558, 15r. 1150 Brief vom 5. Mai 1709, in: BL Add. 61558, 144r. 1151 Vgl. etwa BL Add. 61559, 5. August 1709 (43r); 26. August 1709 (67r); 26. November 1709 (139r); BL Add. 61560, 20. Januar 1710 (25r); 28. Februar 1710 (68r); 21. April 1710 (135r). 1152 Brief vom 28. Februar 1710, in: BL Add. 61560, 68r. 1153 Vgl. Thomson, Louis XIV and the Grand Alliance, 207; Reese, Ringen um Frieden, 235; Rule, France, 97; Schmidt-­Rösler, Prälimarfriedensverträge. 1154 Auch gegenüber Heinsius vertrat Caillaud die Posi­tion, Frankreich werde den Krieg nicht mehr länger weiterführen können: Caillaud an Heinsius, 25. November 1709, in: De briefwisseling van Anthonie Heinsius, Bd. 9, 455. Aus Marlboroughs Briefwechsel

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Es bildete, weil sein Spionagedienst so groß, seine Informa­tionen über Frankreich so umfassend und seine Beziehungen zur eng­lischen Regierung so dauer­haft waren, ein „strong tie“ innerhalb von Marlboroughs Informa­tionsnetzwerken. „Strong ties“ aber, so die Netzwerkforschung, sind zwar innerhalb eines Netzwerkes leichter zu organisieren als „weak ties“, sind in ihrer Informa­tionsreichweite auch eingeschränkter. Sie reproduzieren eher als die schwachen Informa­tionskontakte, die ein Akteur besitzt, bereits vorhandenes Wissen. Überraschende, neue Informa­ tionen werden nicht selten gerade von „weak ties“ geliefert.1155 Caillaud als starke, stabile Verbindung besaß in gewisser Weise ein Monopol darauf, wie Marlborough die aktuelle Lage Frankreichs einschätzte. Daher dienten Caillauds Aktivitäten auch dazu, den Krieg zu verlängern – ohne dass dies beabsichtigt gewesen wäre. Diese Deutung führt jedoch bereits weit über die Frage nach der Struktur von Caillauds Informa­tionsunternehmen und dessen Arbeit für Marlborough und die eng­lische Regierung hinaus. Sie verweist voraus auf die Frage nach den Funk­tionen und Funk­tionalisierungen der gewonnenen Informa­tionen, die s­ päter eingehend behandelt werden soll. Hier war vor allem zu zeigen, wie Caillaud als informeller Akteur der Informa­tionsgewinnung agierte, wie stark seine Spionage­aktivitäten handelsförmig organisiert waren und wie er mit Marlborough und der eng­lischen Regierung, vor allem Sunderland, zusammenarbeitete. 3.4.4 Wem kann man trauen? Individuelle Spionage als Problem

Nach der Analyse der Netzwerke Jaupains und Caillauds soll es in d ­ iesem letzten Kapitel um individuelle Spione gehen – um Informa­tionsakteure also, bei denen weder Dienst- oder Amtspflichten noch eine Einbindung in eine umfassendere netzwerkartige Struktur erkennbar sind. Denn während etwa Macky im Dienst der eng­lischen Regierung einzelne Spione wie Fonseca dauerhaft an sich band und Caillaud als Organisator und Sprachrohr einer äußerst ausgefeilten kommerziellen Geheimdienststruktur erkennbar wird, findet sich am anderen Ende des Spektrums eine Vielzahl einzelner, offenbar allein handelnder Berichterstatter geht allerdings hervor, dass Heinsius anders als Caillaud und die eng­lische Regierung nicht vom kurz bevorstehenden Zusammenbruch Frankreichs überzeugt war. Siehe Marlborough an Godolphin, 5./16. April 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Corres­pondence, Bd. 3, 1241: Die Niederländer glaubten, „France is not in the bad condi­tion wee think them in“. Insofern war vielleicht bei Caillaud der Wunsch der Vater des Gedankens. 1 155 Vgl. Granovetter, Strength of weak ties.

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und Informanten. Gerade an ihrem Beispiel ist besonders gut zu diskutieren, ob und wie eigent­lich in einer unübersicht­lichen Situa­tion die Vertrauenswürdigkeit von Informanten sichergestellt wurde. Die Überlieferung (etwa die Nachlässe Marlboroughs und Sunderlands in den Blenheim Papers) konfrontiert den Historiker oft mit einem Halbdunkel, aus dem einzelne Spione oft völlig kontextlos auftauchen, aufgeregt dies und das berichten und wieder verschwinden. Um mit einem Beispiel zu beginnen, das die Arbeit mit diesen Quellen gut charakterisiert: Marlborough berichtete dem Secretary Nottingham im Februar 1704 zweimal von einem gewissen Nerinx, der unter falschem Namen, angeb­lich aber ohne zu wissen, worum es sich handelte, pseudonyme feind­liche Briefe weitergeschickt hatte.1156 An anderer Stelle der Überlieferung taucht Nerinx nicht mehr auf. Marlborough war offenbar unklar, was das sollte und wie man weiter verfahren könne. Dem späteren Historiker geht es nicht ganz anders. Solche anekdotischen Einzelheiten häufen sich in der Korrespondenz ­Marlboroughs und der Secretaries of State: Man könnte erzählen von franzö­ sischen Bankiers, die auf Finanzgeschäfte mit der eng­lischen Regierung hofften und als Informa­tionsquelle angezapft wurden oder mindestens werden sollten,1157 von Gerüchten über jüdische Kuriere, die angeb­lich Marlboroughs Briefe nach England weiterleiteten,1158 von Rotterdamer Druckern, die gedruckte und geschriebene Zeitungen miteinander verg­lichen und auf dieser Grundlage empfahlen, die Printmedien stärker zu zensieren, um dem Feind nicht allzu viel über die alliierte Strategie zu verraten,1159 von Württemberger Ministern, die Marlborough über angeb­lich jakobitische Attentatspläne auf die eng­lische Königin informierten,1160 1156 Vgl. Letters and Dispatches, Bd. 1, 225 f., 238. 1157 Marlborough an Sunderland, in: BL Add. 61303, 185r. 1158 Dies wird behauptet in einem Brief des franzö­sischen Ministers Torcy an Shrewsbury aus Marlboroughs Exilzeit, der Marlborough irgendwie zugäng­lich gemacht worden sein muss; dort (BL Add. 61263, 33r), heißt es: „That his correspondent who passes his Letters to England and forwards those that are writ to him, is a Jew att Amsterdam nam‘d Alexander Fayl.“ Bély, Espions, 172, liest fälschlich „Fayt“; er diskutiert die Frage nach jüdischen Spionen und kommt zu der Einschätzung, sie ­seien eher marginal gewesen; ein Befund, der sich an meinem Material bestätigt. 1159 Vgl. Reynier Leers an Marlborough, 16. Januar 1705, in: BL Add. 61308, 7 – 8. 1160 Vgl. die Briefe des Württemberger Ministers Jacquin de Bethoncourt an Marlborough, 20. Februar 1710, 3. März 1710, 12. Juni 1710, in: BL Add. 61227, 19r–36r; siehe auch die Antworten Marlboroughs, 29. Juni 1710 u. 13. November 1710, in: BL Add. 61401, 58r u. 127v. Ob die eng­lische Regierung diese Hinweise ernst nahm, ist nicht zu ermitteln; in einem Brief des Ambassadeurs Townshend an Marlborough klingt dies zumindest

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von Genfer Bürgern, die von brandgefähr­lichen neu erfundenen franzö­sischen Waffen berichteten, diese aber – so stellte sich im Laufe des Briefwechsels h ­ eraus – eigent­lich der eng­lischen Regierung verkaufen wollten.1161 Insgesamt also: ein Gestrüpp von Nachrichten. Die Knappheit d ­ ieses Kapitels entspricht damit nicht der Quantität der Überlieferung – die sich aber eben nur narrativ (worum es hier nicht gehen kann), kaum strukturell und analytisch erschließen ließe. Was lässt sich aber über individuelle Spione überhaupt generalisierend sagen, ohne einfach individuelle (und oft dazu meist unvollständige) Geschichten zu erzählen? Laut Lucien Bély gab es für Spione um 1700 drei Hauptmotiva­tionen: Religion, Geld, Liebe.1162 Während Liebe (also etwa durch Liebesbeziehungen initi­ierte höfische Spionage) in den Quellen, die dieser Studie zugrunde liegen, keine Rolle zu spielen scheint, sind Religion und Geld oft als Antrieb zu erkennen. Welche Funk­tionen die Spione mit ihrem Tun verbanden und was sie sich davon erhofften, wird in Kapitel 4 noch einmal zur Sprache kommen. Auffällig ist aber, dass viele dieser Informanten kaum ‚im Auftrag‘ der eng­lischen Regierung oder M ­ arlboroughs handelten, sondern eher von Eigeninitiative geleitet waren. Zusätz­lich kann man feststellen, dass sie insofern in besonderem Maße als Einzelne handelten, als sie sich – dies wird jedenfalls nicht sichtbar – nicht auf einem Informa­tionsmarkt bewegten und etwa ihr Angebot und dessen Preis nach Beobachtung konkurrierender Anbieter modellierten. Ihnen ging es also um das Verkaufen von Informa­tionen, aber nicht im Rahmen eines Marktes.1163 Viele Spione berichteten auch, anders als zum Beispiel Caillaud, nicht in regelmäßigen Abständen, sondern, so darf man annehmen, auf der Suche nach punktueller finanzieller Unterstützung. Im Bereich der individuellen Spionage tritt an die Stelle von Bélys Trias (Geld – Liebe – Religion) eine leicht veränderte: diejenige von Glauben, Geld und Geltungsdrang – drei Motive, die oft nicht getrennt, sondern in enger Verzahnung auftraten. Über die subjektive Motivseite ist aber fast nichts zu sagen. Ohne also allzu sehr spekulieren zu wollen: Im Bereich der individuellen informellen Spionage ist das Spektrum, das vom ‚Seriösen‘ und ‚Nütz­lichen‘ zum Obskuren und Skurrilen reicht, besonders groß. nicht so. Vgl. Townshend an Marlborough, 28. Januar 1710, in: BL Add. 61148, 190r. Zu Jacquin siehe auch: Steinemann, Neutralitäts- und Wirtschaftspolitik. 1161 Vgl. die Briefe eines Gallatin an Marlborough, 29. Oktober 1705, in: BL Add. 61308, 212v–214r; siehe auch BL Add. 61309, 6r–8v. 1162 Vgl. Bély, Espions, 52. 1163 Zu ­diesem Element von Marktförmigkeit siehe White, Markets. Allerdings kann man vermuten, dass die Akteure dennoch abzuschätzen versuchten, was mög­liche Konkurrenten für ähn­liche Informa­tionen fordern würden – was die Handelsbeziehung wiederum an eine Marktbeziehung annähern würde.

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Weil die individuelle Spionage aber eben nicht nur Obskures lieferte, trifft es vielleicht zu, wenn J. D. Alsop meint: „A large propor­tion of useful intelligence actually reached the administra­tion by chance opportunity rather than deliberate planning.“1164 In d ­ iesem Fall wären die individuell agierenden Informanten „weak ties“ – schwache Informa­tionsverbindungen, die aber oft besonders nütz­lich sind, gerade weil sie Informa­tionen liefern können, die anderswo nicht erhält­lich sind.1165 Was aus diesen Berichten tatsäch­lich nütz­lich war, ist schwer zu beurteilen, weil selten explizit darüber Rechenschaft abgelegt wurde. Zwar ist zu erkennen, dass aus dem Secret Service Fund oder aus anderen Töpfen manchmal Geldsummen für intelligence einzeln agierender Spione gezahlt wurden, aber dies darf man wohl auch nicht überbewerten. In den Aufzeichnungen der Treasury finden sich Eintragungen wie „Samuel Eyres, 200l., in satisfac­tion for service performed by Capt. Knap, who was employed on board a Swedish ship to go to the ports of West France for intelligence pursuant to a significa­tion of her Majesty’s pleasure by letter from Sir Charles Hedges, Principal secretary of State“1166

oder auch kleine Summen „for foreign Gazettes furnished for the use of the Treasury“1167. Wenn die Zahlung einer Summe allerdings mit der Auflage verbunden wurde, die Regierung nicht weiter um Geld anzugehen,1168 darf man Zweifel haben, für wie nütz­lich die eingesandten politischen Informa­tionen gehalten wurden – und ob es nicht eher darum ging, lästige Petenten abzufinden. Offenbar war das Feld der Spionage auf der einen Seite ein Anziehungspunkt für Personen, die Geld brauchten. Auf der anderen Seite war für seriöse Informa­tionsgewinnung kaum etwas wichtiger als Geld. Die Aussage eines solchen Spions kann verallgemeinert werden: „my poverty is a great hindrance to any intelligence.“1169 Kommerzielle und politische Interessen verfolgte der Amsterdamer Kaufmann John Drummond, der, offenbar über Handelskontakte, ein großes Informantennetzwerk unterhielt, das er für die eng­lische Regierung nutzte.1170 Er unterhielt 1164 Alsop, British Intelligence, 115. 1165 Vgl. Granovetter, Strength of weak ties. 1166 Calendar of Treasury Books, Bd. 28, Teil 2, 441 (31. Mai 1706). 1167 Ebd., 447, siehe auch: 449, 451, 457. Vgl. auch BL Add. 28080, darin: Payments made out of Her Ma.ts Secret-­Service-­Moneys since Micha.s 1708. 1168 Vgl. Calendar of Treasury Books, Bd. 28, Teil 2, 460. 1169 John Ogilvie an Harley, 29. April 1706, in: HMC Portland, Bd. 4, 298. 1 170 Vgl. die Hinweise im Brief Drummonds an Horatio Walpole, 20. Oktober 1710, in: BL Add. 38501, 153r.

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­ orrespondenzen nach St. Germain-­en-­Laye und in die nordfranzö­sischen HafenK städte.1171 Gerade für Informa­tionen über Häfen, Schiffe und Marine­angelegenheiten scheinen Kaufleute eine wichtige Quelle gewesen zu sein.1172 Drummond schrieb regelmäßig Berichte für die Londoner Regierung,1173 war allerdings in der zweiten Hälfte des Krieges stärker noch als für ­Marlborough für die Secretaries Harley und St. John tätig. Doch auch M ­ arlborough stand in Kontakt mit ihm. Dies sollte in dem Moment eine große Rolle spielen, als z­ wischen den Rivalen Marlborough und Harley zu vermitteln war. In ­Marlboroughs Hauptquartier hielt Drummond vor allem Verbindung zu M ­ arlboroughs Deputy Judge Advocate Henry Watkins.1174 Und auch in den Abrechnungen des Deputy Paymaster der Truppen, Benjamin Sweet, wird Drummond erwähnt. Offenbar erhielt er für unspezifizierte Leistungen einige Male Geld von Marlboroughs Sekretär Cardonnel.1175 Man darf vermuten, dass es sich hierbei um intelligence handelte. Drummond war dabei sicher kein individueller Akteur im selben Sinne, wie die disparaten Spione, die sich hin und wieder an die Regierung wandten, individuell agierten – denn er unterhielt selbst ein Spionagenetzwerk. Im Kontext von Marlboroughs Informa­tionsgewinnung ist er dennoch nur am Rande von Interesse, dazu waren seine Informa­tionskontakte zu Marlborough zu punktuell. Neben Caillaud wären andere Akteure des hugenottischen Refuge namhaft zu machen, die aus offenbar religiösem Antrieb, der sich als antifranzö­sische Tendenz manifestierte, den Alliierten zuarbeiteten – wenn auch in weitaus geringerem Umfang als Caillaud. Ein Beispiel ist der Amsterdamer Buchhändler und Drucker Louis Renard.1176 Dieser vertrieb eine hugenottische Exulantenzeitung und bot, offenbar ebenfalls mit starker religiöser Motiva­tion, M ­ arlborough seine Dienste an.1177 In der Regel kommunizierte er mit Marlboroughs Sekretär ­Cardonnel und schickte d ­ iesem, vor allem in der zweiten Kriegshälfte, Newsletters weiter, die er durch franzö­sische Verbindungen erhalten hatte. Renard,

1171 Vgl. Hatton, John Drummond. 1172 Vgl. Alsop, British Intelligence, 115. 1173 Vgl. die Hinweise im Brief Drummonds an den Under-­Secretary Ellis, 20. Januar 1705, in: BL Add. 28916, 190r. 1174 Vgl. HMC Eglinton, 141 – 144. 1175 Vgl. z. B. BL Add. 61406, 91v. 1176 Zu Renard, der ­später v. a. als Herausgeber illustrierter naturkund­licher Bücher bekannt wurde, siehe auch: Pietsch, Renard, v. a. 60. 1177 Vgl. Renard an Marlborough, 31. April 1702 (?), in: BL Add. 61306, 78r–v; Renard segnet Marlborough am Ende seines Briefes. Siehe zu ihm auch: De briefwisseling van Anthonie Heinsius, Bd. 10, 348, Anm. 2.

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der auch mit Heinsius korrespondierte, hatte offenbar einen Kontaktmann in Versailles und transferierte auch Nachrichten aus Spanien.1178 Einige wenige seiner memoires sind in Marlboroughs Nachlass enthalten oder erwähnt;1179 es gibt auch einige Hinweise auf Geldzahlungen an ihn.1180 Geld und Religion sind hier also kaum als getrennte Motive namhaft zu machen. Doch sind die Hinweise auf Renard so spär­lich, seine Newsletters (im Vergleich etwa zu denjenigen Jaupains oder Caillauds) so selten oder so schlecht überliefert, dass es sich kaum rechtfertigen lässt, in ihm einen besonders zentralen Kontaktmann zu sehen, wie dies die Forschung etwas willkür­lich getan hat.1181 Einen explizit religiösen, protestantischen Akzent besaßen die Aufstandsbewegungen in Ungarn und in Frankreich. Allerdings finden sich aus dem ungarischen Kontext kaum Informanten – Ungarn war zwar immer wieder Thema der Korres­pondenz zum Beispiel Marlboroughs, aber die direkten Korrespondenzpartner waren eher Projektemacher, die auf politische oder finanzielle Unterstützung aus waren, aber weniger Informa­tionen aus den Konfliktgebieten lieferten. Ähn­liches gilt für die franzö­sischen Protestanten. Gerade Informa­tionen aus dem franzö­sischen Süden wurden (anders als etwa aus nordfranzö­sischen Häfen, vom baye­rischen Statthalterhof in den süd­lichen Niederlanden oder vom schwedischen König) oft über individuelle Initiativen beschafft. Die Hauptinforma­tionsquelle für die südfranzö­sische Situa­ tion, die Mög­lichkeit eines Angriffs vom Mittelmeer aus und die Chancen für einen Angriff auf Toulon (der schließ­lich, mit gemischtem Erfolg, 1707 stattfand)1182 waren also weniger die Exilhugenotten als die ­eng­lischen Diplomaten

1 178 Vgl. Buys an Heinsius, 3. Januar 1711, in: De briefwisseling van Anthonie Heinsius, Bd. 11, 474. 1179 Vgl. Godolphin an Marlborough, 22. April 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 526; Godolphin an Marlborough, 28. März 1707, in: ebd., Bd. 2, 741; Cardonnel an Renard, 26. März 1710, in: BL Add. 61400, 505r. 1180 Vgl. Cardonnel an Renard, 8. Juli 1706, in: BL Add. 61398r (50 Pfund); vgl. auch: Calendar of Treasury Books, Bd. 28, Teil 2, 450, 570, 570, 475, 485. Unklar bleiben die Klagen Cardonnels über Renard im Brief an Henry Watkins, 1. November 1709, wo es ebenfalls um Finanzen geht, in: The collec­tion of Autograph Letters, Bd. 2, 78. 1181 Vgl. Snyder, Introduc­tion, XXX ; in unkritischer Fortschreibung: Bély, Espions, 91 und Rule, Gathering Intelligence, 739. Auch dass Renard seine Dienste für die spätere Tory-­Regierung fortsetzte, spricht nicht für eine zentrale Rolle in ­Marlboroughs Informa­tionssystem. Vgl. Cardonnel an Renard, 11. Dezember 1711, in: BL Add. 61402, 164r. 1182 Vgl. Paoletti, Prince Eugene; siehe zum Kontext: Hattendorf, England, 150 – 153.

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in Savoyen,1183 Informanten aus der Schweiz 1184 sowie einzelne alliierte Offiziere.1185 Manche der hugenottischen Informanten für franzö­sische Belange verbanden eigene, oft waghalsige militärische Projekte mit dem Angebot, der eng­lischen Regierung Informa­tionen zu liefern.1186 In der Forschung hat sich für diese Kategorie von Informanten der Begriff des ‚Abenteurers‘ eingebürgert 1187 – ein Phänomen, das vor allem im literarischen Imaginarium des 18. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle einnahm,1188 aber auch in der Wirk­lichkeit vorkam. Auch für diese hugenottischen Abenteurer waren Geld und Glaube unauflös­lich anein­ ander gebunden. Wollten sie ihre religiös-­politischen Interessen im Süden Frankreichs verfolgen, benötigten sie zuallererst Geld. Die Hauptquelle für Südfrankreich und die protestantischen Aufstandsversuche dort war aber wiederum Caillaud – und damit ein Akteur, der eben nicht individuell und für die eng­lische Regierung ungreifbar agierte.1189 Einer der Agenten, die für ihn arbeiteten, war allerdings auch direkt mit Marlborough verbunden. David Flotard, ein südfranzö­sischer Flüchtling, war ein Agent des Marquis de Miremont, eines derjenigen hugenottischen Anführer, die sich in Konkurrenz zueinander bei der eng­lischen Regierung lieb Kind zu machen suchten.1190 Diese Projektemacher, Politiker und Informanten waren meist untereinander verfeindet.1191 Flotard ist unter ihnen noch derjenige, der am ehesten Informa­tionen aus erster Hand besaß. Er war 1703 inkognito in die Cevennen gereist (obwohl seine

1183 Vgl. Chetwynd an Marlborough, in: BL Add. 61151. Vgl. auch die Briefe des eng­lischen Konsuls in Venedig, Broughton, an Sunderland, in: BL Add. 61534. 1184 Vgl. die Briefe des Lausanner Bürgers Seignieux an Marlborough, 1706/07, in: BL Add. 61310, 76r, 190r; vgl. auch die Schweizer Newsletters in: BL Add. 61264; sowie Marquis d’Arsellières (der als eng­lischer Diplomat ohne Rang in Genf arbeitete) an Marlborough, in: BL Add. 61145, 12r–13r. 1185 Vgl. z. B. die Briefe des nach Lissabon entsandten niederländischen Generalmajors Montaciel an Marlborough, 1706/07, in: BL Add. 61310, 42r, 164r. 1 186 Vgl. z. B. Du Coudray an Marlborough, 20. Juli 1706, in: BL Add. 61309, 191r–192v; siehe ähn­lich auch die Briefe des auf eng­lischen Kriegsschiffen dienenden hugenot­ tischen Schiffskaplans John Sorsoleil an Sunderland und Marlborough von 1707, in: BL Add. 61648, 101r–104r sowie BL Add. 61311, 99r–102r. Individuelle Invasionsprojekte auch in: BL Add. 61648, 1r–35r, 157r–158v, 163r–164v. 1187 Vgl. Bély, Espions, 55 sowie: Braubach, Geschichte und Abenteuer. 1188 Vgl. zum v. a. literarischen Kontext: Roth, Les aventuriers. 1189 Vgl. etwa BL Add. 61554. 1190 Vgl. Shears, Miremont. 1191 Vgl. zu den hugenottischen Projektemachern: Boles, Huguenots; Jones, Antoine de Guiscard; Glozier, Schomberg. Vgl. zu diesen Projekten auch BL Add. 61337 u. 61339.

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Gegner dies bestritten);1192 deshalb konnte er eine Zeit lang Informa­tionen über das Geschehen in den Cevennen an Marlborough weitergeben.1193 Doch obwohl Flotard vielleicht nicht wusste, dass Caillaud, dem er seine Berichte und die Berichte seiner Korrespondenten meist schickte, ein riesiges Spionagenetzwerk in Frankreich unterhielt,1194 war er doch überzeugt, dass die eng­lische Regierung die meisten seiner Berichte ohnehin von Caillaud erhielt. Flotard schrieb an Cardonnel: „Sy ie n’ay pas l‘honneur de vos Escrire plus souvent pour vous informer de ce qui se passe dans l’afaire des Camisars, c’est ce que ie suis tres persuadé que Mr Caillaud auquel i’envoye tous les originaux de leur lettres vous en fait part.“1195 Während sich für die eng­lische Regierung im Fall Flotards also der Hintergrund auf ein ganzes Informantennetzwerk öffnete (dem man schon wegen seiner Größe eher Vertrauen schenken zu können meinte als einzeln agierenden Personen), handelte Flotard vermut­lich unwissend innerhalb dieser Struktur, als individueller Informant Caillauds, der mit anderen camisardischen und hugenottischen Akteuren konkurrierte. Ohne es zu wissen, war auch Flotard in eine Informa­tionsstruktur eingebunden – was ihn graduell vertrauenswürdiger erscheinen ließ. Generell waren die höher organisierten kommerziellen oder anderen Informa­ tionsanbieter im Vorteil. Aufseiten etwa der Secretaries herrschte gegenüber Informantenkandidaten oft erst einmal Misstrauen vor: Der Staatssekretär Vernon bemerkte schon 1698 gegenüber John Macky: „It is very hard I see to find Persons fitt to be confided in such as are both prudent and honest.“ Mög­liche Korrespondenten müssten ihre Fähigkeiten erst einmal beweisen; viele Berichte s­ eien unbrauchbar, weil „doubtfull if not amusing“. Im Zweifelsfall, so Vernon, verlasse er sich eher auf Leute, die ihm bekannt ­seien.1196 Eine ähn­liche Einschätzung spricht aus einem Brief Harleys an Marlborough von 1708: Ein John Lang, der in franzö­sischer Kriegsgefangenschaft gewesen war, sandte eine Liste von in Toulon neu ausgerüsteten Kriegsschiffen – im Grunde eine willkommene Informa­ tion, aber Harley bemerkte misstrauisch: „the Person who writes it, is one I never did correspond with.“1197 Auch an einem weiteren Beispiel ist das Misstrauen 1192 Vgl. die Darlegungen Flotards an Sunderland, 15. Juni 1708, in: BL Add. 61648, 105r–108v; zu den Auseinandersetzungen z­ wischen verschiedenen Frak­tionen siehe auch Flotards Brief an Godolphin, 2. April 1709, in: BL Add. 61113, 71r. 1193 Vgl. z. B. Flotard an Marlborough, 26. August 1704, in: BL Add. 61258, 91r–92r. 1194 Vgl. Dedieu, Rôle politique, 232. 1195 Flotard an Cardonnel, 26. August 1704, in: BL Add. 61413, 37r. 1196 Siehe BL Add. 40772, 320r und 345r. 1197 Harley an Marlborough, 16. März 1707/08, in: BL Add. 61125, 78r; der Brief John Langs ist beigefügt, ebd., 81 f.

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der Regierung gegen individuell agierende unbekannte Spione abzulesen. Die anonyme Bewerbung eines H. B. bzw. eines C. D. um die ‚Stelle‘ eines Spions, die sich in den Unterlagen der Secretaries Sunderland und Boyle findet, ist in der Forschung als Beleg für die Unprofessionalität eng­lischer Regierungsspionage gelesen worden. Man muss nicht ins Gegenteil verfallen, um diese Bewertung unzutreffend zu finden. „Mylord, Having heard that a Gentleman is wanting to be Imploy’d upon the Coast in procuring intelligence from France, I presume to offer my humble services to your Lordship. I write and speak the French any waye as well as the English, and know so much of the people and all of the country that I have ground to believe I cou’d be usefull to the Governm.t that way.“1198

Der Bewerber bat darum, über die London Gazette benachrichtigt und zu einem persön­lichen Gespräch eingeladen zu werden. J. D. Alsop hat aus dieser Bewerbung geschlossen, die Einstellungsstandards für potentielle Spione könnten nicht sehr hoch gewesen sein – weil in d ­ iesem Fall nur Kenntnisse der Sprache und des Landes behauptet werden.1199 Dies scheint mir ein voreiliger Schluss zu sein, denn der geheimniskrämerische Brief von H. B. oder C. D. führte, soweit man sehen kann, eben nicht zu einer Einstellung als Spion. H. B./C. D. taucht in der Korrespondenz Sunderlands und Boyles nicht wieder auf, und auch die London Gazette forderte ihn nicht zum persön­lichen Gespräch auf.1200 Damit reiht sich dieser Fall eher ein in die nicht geringe Zahl von Peti­tionen, die mit dem Angebot angeb­lich hochrelevanter Informa­tionen Pensionen der Regierung zu erhalten versuchten. Manche dieser Spionageberichte lesen sich als geleitet von wahnhaft wirkenden Einsichten in die politische Weltlage.1201 1198 H. B. an Sunderland, 22. Februar 1709/10, in: BL Add. 61596, 68r; siehe den identischen Brief von C. D. vom selben Tag an Boyle, in: TNA SP 34/11, 191r. 1199 Vgl. Alsop, British Intelligence. 1200 Durchgesehen wurde ein Monat der ‚Advertisements‘ der London Gazette, also die Ausgaben 4814 (24. Februar 1709/10) bis 4824 (20. März 1709/10). Generell finden sich dort keine Anzeigen, die auf eine Verbindung zum Problem der Informa­tionsgewinnung schließen lassen. Siehe: https://www.thegazette.co.uk. 1201 Vgl. etwa die ausgesprochen wirren Berichte einer Ann Hamilton an Sunderland und Godolphin im Umkreis der jakobitischen Invasion von 1708, die im Wesent­lichen eine paranoide Weltsicht, akuten Geldmangel und Bitte um Almosen widerzuspiegeln scheinen. Insofern würde ich die Tatsache, dass die Regierung ihr schließ­lich zweimal eine Pension von 20 bzw. 10 Pfund zusprach, nicht zu hoch gewichten. Vgl. Ann Hamilton an Sunderland, 9. September 1707, in: BL Add. 61607, 59r–62v; dies. an Sunderland,

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Individuelle und einmalige Ak­tionen genossen im von Misstrauen durchzogenen Feld der Informa­tionsgewinnung also kein hohes Ansehen. Wie aber konnte Vertrauenswürdigkeit überhaupt produziert werden? Allein die Tatsache der Verstetigung einer Korrespondenz war offenbar Zeichen ­­ für erhöhte Vertrauenswürdigkeit – was im Umkehrschluss heißt: Einzelne Berichte individueller Informanten wurden fast immer vernachlässigt. Geldzahlungen für Informa­tionen, so oft sie vorkamen, waren nicht strukturbildend genug, um Misstrauen auszuräumen; hierfür war im Zweifel ein durch Patronage generalisiertes Vertrauen nütz­licher. Ob Korrespondenzen verstetigt wurden, weil sie vertrauenswürdig erschienen, oder sie vertrauenswürdig erschienen, weil sie verstetigt worden waren, ist letzt­lich nicht klar zu entscheiden. Vermut­ lich ist auch deshalb schwer zu bestimmen, wer die Henne ist, wer das Ei, weil die Verbindung von Strukturbildung und Vertrauen zirkulär verläuft. Vertrauen besitzt „jenen zirkulären, sich selbst voraussetzenden und bestätigenden Charakter, der allen Strukturen eigen ist, die aus doppelter Kontingenz entstehen. Es macht Systembildungen mög­lich und gewinnt aus ihnen dann wieder die Kraft zu verstärkender, riskanterer Reproduk­tion“.1202

Die eng­lische Regierung und Marlborough wollten also neue Informa­tionen – aber nur selten neue Informanten. Sie misstrauten ‚weak ties‘ in relativ hohem Maße und konnten sie daher mutmaß­lich auch nicht optimal ­nutzen. Informanten konnten aber ihre Vertrauenswürdigkeit über die Einbindung in eine bekannte Struktur nachweisen (wie im Fall Flotard), oder eben dadurch, dass sie – als individuelle Informanten – schon lange Kontakte mit ihren Korrespondenzpartnern pflegten. Wie in Patronage­ beziehungen (und in der Tat ging es ja oft auch darum) bildete „Anciennität“ ein „symbo­lisches Kapital“.1203 Auf dem Weg über externe Kriterien wie die Dauer einer Korrespondenzbeziehung oder die Einbindung in eine bekannte Struktur konnte so ein gewisses Maß an Vertrauen als „mittlerer Zustand z­ wischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen“1204 entstehen. Niklas Luhmann hat diese Funk­tionsweise des Vertrauens so erklärt: 18. Mai 1708, in: BL Add. 61615, 95; dies. an Godolphin, undatiert, in: BL Add. 61615, 97r–v; dies. an Godolphin, undatiert, in: BL Add. 61615, 99r. Siehe auch: Calendar of Treasury Books, Bd. 28, Teil 2, 463 u. 466. – Ein anderes Motiv, näm­lich persön­liche Denunzia­tion missliebiger Bekannter, scheint durch im Brief Charles Cranburns an Sunderland, 24. Juli 1708, in: BL Add. 61608, 27r. 1202 Luhmann, Sozia­le Systeme, 181. 1203 Vgl. Thiessen, Diplomatie und Patronage, 239 – 242. Siehe zu Vertrauen in diplomatischen Beziehungen auch die instruktive Studie: Haug, Vertrauen. 1204 Simmel, Soziologie, 393.

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„Man kann sich über künftiges Verhalten anderer nicht vollständig und nicht zuverlässig informieren. Aber man kann diese Problematik in einen anderen Bereich verlagern, in dem sie besser bewältigt werden kann. Man unterrichtet sich stattdessen über gewisse strukturelle Eigenarten des sozia­len Systems, in dem man mit anderen zusammenlebt, und gewinnt dadurch die notwendigen Anhaltspunkte für eine Vertrauensbildung, mit der man den Informa­tionsmangel überbrückt. Wie in so vielen funk­tionalen Zusammenhängen erspart auch hier Struktur Informa­tion.“1205

In ­diesem Zusammenhang ist auch ein Evalua­tionsmechanismus zu beobachten, der als Quasi-­Bürgschaft neuer Spione funk­tioniert: In Fällen, in denen neue individuelle Spione nicht direkt mit Marlborough oder den Secretaries of State in Verbindung traten, sondern ihre Berichte auf dem Weg über bekannte Strukturen sandten, agierten die Köpfe dieser Strukturen (also Spionageorganisatoren wie Macky, Lawes, Jaupain oder Caillaud) als Garanten für die Vertrauenswürdigkeit der Informanten. Die üb­liche Formulierung in ­diesem Zusammenhang ist, man habe die vorliegenden Informa­tionen „from a good hand“ oder „from a verie good hand“.1206 Diese Formulierung zielt nicht auf die Qualität der Handschrift, sondern auf die der Informa­tion – und führt doch noch einmal den medialen Aspekt der Spionage vor Augen. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass diese Formulierung vor allem in Zeiten erhöhten politischen und militärischen Drucks gebraucht wird, also etwa im Umkreis der Dünkirchener Jakobiteninvasion von 1708. Solche Zusammenhänge erhöhten offenbar die Notwendigkeit, genauer hinzusehen, mit wem man es eigent­lich zu tun hatte. Bemerkenswert ist allerdings, dass im Rahmen der Informa­tionsgewinnung der eng­lischen Regierung ein Faktor praktisch keine Rolle spielt, den man für typisch vormodern zu halten geneigt ist. Während die Einbindung in eine Struktur und die Anciennität der Beziehung wichtige Gradmesser für die Vertrauenswürdigkeit des Informanten und der Informa­tion waren, galt dies für den sozia­len Rang des Informanten nicht im selben Umfang. Anders als im juristischen oder wissenschaft­lichen Kontext spielte die ­sozia­le Konnota­tion der Glaubwürdigkeit kaum eine Rolle. Obwohl sozia­ler Status als Glaubwürdigkeitsindex zum Beispiel auch in der Naturkunde des späteren 17. Jahrhunderts an Bedeutung verlor, 1205 Luhmann, Vertrauen, 36. 1206 Vgl. z. B. Macky an Sunderland, 7. Februar 1706/07, in: BL Add. 61601, 171r; Dayrolle an Harley, 20. Februar/2. März 1707, in: House of Lords Manuscripts N. S., Bd. 8, 102; Lawes an Sunderland, 3. März 1708, sowie Lawes an den Under-­Secretary Tilson, 4. Juli 1708, in: TNA SP 77/57, 243r u. 329v; Stepney an Addison, 21. März 1707, in: BL Add. 61534, 129r; Cadogan an Sunderland, 23. Dezember 1709, in: TNA SP 77/58, 329r.

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war er dort und anderswo doch noch lange ein wichtiger Gradmesser dafür, ob man einer Person glauben konnte oder nicht.1207 Spione dagegen mussten nicht zwingend Adlige oder Gentlemen sein, damit man ihnen glaubte.1208 Im Feld der Spionage waren so hohe Ansprüche an Status und damit Glaubwürdigkeit der Informanten nicht realisierbar – die eng­lische Regierung konnte sich vermut­lich schlicht nicht leisten, die Frage des sozia­len Rangs der Informanten besonders hoch anzusetzen. Und da man ja Informa­tionen aus unterschied­lichen Kontexten und sozia­len Milieus – vom Hof bis zur Hafenstadt – erlangen wollte, wäre eine zu große Aufmerksamkeit für den sozia­len Status eines Informanten auch dysfunk­tional gewesen. In ­diesem unübersicht­lichen Bereich, in dem es darum ging, schnelle, aber auch mög­lichst glaubwürdige Informa­tionen über Sachverhalte zu erlangen, über die man sonst überhaupt keine Kenntnisse gehabt hätte, war es nicht mög­lich, einfach die Glaubwürdigkeitsstandards aus anderen sozia­ len Bereichen zu übertragen. Dem sozia­len Rang eines Informanten kam daher keine auffällige Bedeutung zu. Es musste ausreichen und reichte de facto auch aus, auf die Anciennität einer sozia­len Beziehung und auf die Einbindung in eine bekannte Struktur zurückzugreifen. Beides aber stand einzeln agierenden Spionen meist nicht zur Verfügung. Dieses Kapitel hat gezeigt, w ­ elche Netzwerke (verstanden als informelle, patronage- oder handelsförmige Beziehungen) Marlborough für seine Informa­ tionsgewinnung nutzte. Die Netzwerke, auf die zurückgegriffen wurde, bestanden oft schon vor dem Spanischen Erbfolgekrieg, wurden also selten von ­Marlborough allein aufgebaut. Auch in dieser Hinsicht ist deut­lich geworden, dass ­Marlborough nur in manchen Fällen allein agierte, meist aber eng in das Gefüge der eng­lischen Regierung eingebunden war, mit der er gewonnene Informa­tionen teilte. Allerdings ergibt sich in einigen Fällen (etwa Grumbkow oder, auf andere Weise, Jaupain) der Eindruck einer besonderen Nähe zu Marlborough, die durch Patronage hervorgebracht oder verstärkt wurde. In vielen Fällen gingen die informellen Kontakte aus formalen Amtszusammenhängen hervor (wie in den Fällen Grumbkow oder Robethon), entsprangen indirekten Dienstbeziehungen ( Jaupain) oder wurden teilformalisiert (Caillaud). Damit ist ein graduelles Kontinuum abnehmender Amts- und zunehmender patronage- oder handelsförmiger Netzwerkbeziehungen zu konstatieren.

1207 Vgl. Dear, From Truth to Disinterestedness. 1208 Siehe zum sozia­len Status als Garant wissenschaft­licher Glaubwürdigkeit v. a. Shapin, Social History.

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3.5 Der Herzog liest kaum Zeitung: Die Rolle der Presse Am Ende ­dieses langen Kapitels über die Strukturen der Informa­tionsgewinnung steht nicht zufällig die gedruckte Zeitung. Denn an der Presse um 1700 ist abzulesen, wie die drei Strukturen, die in d ­ iesem Teil der Studie behandelt worden sind, miteinander interagierten. Die Presse griff erstens zum Teil auf eine organisa­tionsförmige Struktur zurück: So war die London Gazette ein Propagandaorgan der eng­lischen Regierung. Die Presse bediente sich zweitens zur Informa­tionsgewinnung des Unterbaus der Netzwerke und Newsletters. Drittens war sie in hohem Maße auf die Infrastruktur der Post angewiesen. An der Presse erweist sich also vor allem die enge Verflechtung der drei Strukturformen, die in ­diesem Kapitel analytisch getrennt vorgestellt worden sind. Auch die Presse konstituierte also das informa­tionelle Umfeld mit, in dem Marlborough agierte. Aber in welcher Weise? Jürgen Habermas unterschied in seinem viel debattierten Buch über den Strukturwandel der Öffent­lichkeit ­zwischen einer vormodernen „repräsentativen Öffent­lichkeit“, die durch monar­ chische Repräsenta­tion, Zeremoniell und Propaganda geprägt war, und einer bürger­lichen, kritischen Öffent­lichkeit, die aus der Zivilgesellschaft heraus mittels des Mediums der Presse die Autorität monarchischer Politik infrage stellen konnte.1209 Für Habermas war das frühe 18. Jahrhundert, also genau die Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges, die Periode des Umbruchs, in der sich ein neues Modell kritischer Öffent­lichkeit herausgebildet habe, das auf die Aufklärung vorausweise. Dieser kategoriale Umbruch wird in der neueren Forschung, gegen Habermas, eher noch früher angesetzt.1210 Gerade für England, Habermas’ Paradebeispiel einer kritischen Öffent­lichkeit, trifft es aber zu, dass das frühe 18. Jahrhundert pressegeschicht­lich einen Qualitätssprung vollzog.1211 Doch das Habermas-­ Modell verzeichnet in mancher Weise die Bedeutung der Presse – sie war nur ein Element unter anderen, das Öffent­lichkeit um 1700 konstituierte: Neben anderen Kritikpunkten wäre zumindest an die Persistenz der geschriebenen Zeitung zu denken, die zwar langfristig ins Hintertreffen geriet, aber eben nicht auf einen Schlag verschwand und vor allem eng mit der gedruckten Zeitung 1209 Vgl. Habermas, Strukturwandel. 1210 Vgl. Schaich, Public Sphere; Freist, Öffent­lichkeit; Lake/Pincus (Hrsg.), Politics. 1211 Zur sehr viel restriktiveren Presselandschaft Frankreichs siehe Feyel, L’Annonce; zur Situa­tion in den Niederlanden siehe: Morineau, Zeitungen.

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verflochten war.1212 Damit stellt sich die Frage, w ­ elche Rolle gedruckten Zeitungen zukam.1213 Nach der Aufhebung der Vorzensur durch den Licensing Act von 1695, der im Prinzip die Pressefreiheit einführte,1214 wurde eine ganze Reihe neuer Zeitungen gegründet; London wurde zum bedeutendsten Zeitungsort nicht nur Englands, sondern Europas.1215 Die London Gazette, die in der Restaura­tionszeit ein Nachrichtenmonopol besessen hatte,1216 blieb auch in Annes Regierungszeit die offiziel­le Zeitung der Regierung, die sich allerdings auf dem neuentstehenden Markt behaupten musste. Die Gazette changierte in ihrem Profil daher charakteristisch ­zwischen einer Zeitung und einem offiziösen Verlautbarungsblatt der Regierung, was ihr auf dem Markt gewisse Akzeptanzprobleme bescherte. Sie wurde von einem Under-­Secretary redigiert, lag also im Einflussbereich der Secretaries of State – was sie einer Politisierung im Sinne der jeweils amtierenden Regierung unterwarf.1217 Diese Regierungspropaganda musste, wie so viele disparate Aufgaben, aus dem Secret Service Fund bezahlt werden.1218 Neben der London Gazette standen andere, eher unabhängige oder parteinahe Blätter. In Annes Regierungszeit existierten mindestens 20 täg­liche und wöchent­ liche Zeitungen mit Auflagen von mehreren Hunderten bis Tausenden.1219 Im Jahre 1712, so eine Schätzung, wurden wöchent­lich 20.000 bis 25.000 Zeitungsund Zeitschriftenexemplare verkauft.1220 Der Spectator schrieb 1712: „There is no 1212 Vgl. Böning, Handgeschriebene und gedruckte Zeitung. 1213 Vgl. zum breiteren Kontext der hier behandelten ­Themen zuletzt: Pettegree, Inven­tion of News. 1214 Zusammenfassend zur eng­lischen Presse um 1700 siehe: Winkler, Wörterkrieg; M ­ etzdorf, Politik, 53 – 7 8; Harris, Print Culture; Speck, Politics and the Press; de Beer, English Newspapers. Zum Problem der Zensur siehe: Tortarolo, Zensur, sowie das Themenheft: Censorship in Early Modern Europe. 1215 Dies änderte sich auch im 18. Jahrhundert nicht, auch wenn die Pressefreiheit durch den Stamp act von 1712 und die damit einhergehende massive Erhöhung der Zeitungspreise faktisch wieder eingeschränkt wurde. Vgl. Downie, Robert Harley, 148; Enkemann, Journalismus, 170. Zur medialen Situa­tion in London siehe: Krischer, Politische Kommunika­tion. 1216 Vgl. Fraser, Intelligence. 1217 Vgl. Handover, History of the London Gazette, v. a. 38 – 45; siehe auch: Harris, Newspaper Distribu­tion. 1218 Vgl. Downie, Development, 121. 1219 Vgl. Snyder, Circula­tion, sowie ders., A Further Note. Eine Aufstellung der wichtigsten Zeitungen bei: Knights, Representa­tion, 382 – 384. Siehe auch: Sutherland, Circula­tion; Price, Note. 1220 Vgl. Metzdorf, Politik, 56.

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humour in my Countrymen which I am more inclined to wonder at, than their general thirst after News.“1221 Die eng­lischen Zeitungen berichteten auf der Grundlage meist übersetzter Berichte vor allem über Ereignisse der interna­tionalen Politik. Hierbei stellten vor allem die niederländischen Zeitungen einen Nachrichtengrundstock für die eng­lische Presse dar.1222 Diese waren teilweise Gründungen hugenottischer ­Exilanten, die heim­lich auch in Frankreich gelesen werden konnten.1223 Die nieder­ ländischen Zeitungen galten aber zeitgenös­sisch nicht durchgehend als zuverlässig; ­Marlboroughs Quartermaster-­General Cadogan etwa schreibt über jemanden, den er für unehr­lich hält (näm­lich den preußischen Oberst Grumbkow), in quasi sprichwört­licher Manier: „He is the Last Person I know that I would either believe or trust, for he will outlye a Dutch Gazette.“1224 Das größere Problem waren aber selbstverständ­lich die franzö­sischen Zeitungen. Ein längerer Brief Daniel Defoes an Godolphin 1225 vom 3. August 1708 zeigt die Gefahr, die politische Beobachter den Übersetzungen gerade franzö­sischer Nachrichten (vor allem aus gedruckten Zeitungen, aber auch aus handgeschriebenen Newsletters) zusprachen: „It seems at this time, my Lord, very prejudiciall that the public newsmen, particularly the Dayly Courant and the Post Boys, and a postscript by the Flying Posts are suffered to translate the bluster and form’d storys which the Paris Gazette, the Mercure Gallant, and Gazette à la Main spread over the world.“1226

Gegen die Gefahr, die von der franzö­sischen Presse ausgehe, könne man nur vorgehen, indem man selbst eng­lische Nachrichten ins Franzö­sische übersetze und sie in Paris verbreite – und in der Tat erschienen in Frankreich während des Krieges einige wenige franzö­sischsprachige, proalliierte Pamphlete, die offenbar

1221 Zitiert nach: Ewald, Newsmen, VIII. 1222 Vgl. de Beer, English Newspapers, 124 f.; zur prominenten Rolle niederländischer Zeitungen und hier vor allem der exilhugenottischen Journalisten siehe auch: Gibbs, Intellectual and Political Influences, v. a. 284. 1223 Vgl. Raban, Newspaper, 400; Tischer, Obrigkeit­liche Instrumentalisierung, 465; D ­ epezay, French Gazette. 1224 Cadogan an Raby, 19. April 1707, in: BL Add. 22196, 69v. 1225 Defoe, eigent­lich ein Klient Harleys, arbeitete nach Harleys Sturz 1708 für Godolphin, bevor er 1710 wieder zu Harley wechselte; siehe HMC Portland, Bd. 4, VIII und 473 sowie: Rogers, Defoe’s Distribu­tion Agents, 160 f. 1226 HMC Marlborough, 44.

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Marlboroughs Umgebung entstammten.1227 Defoes eigene Versuche, in dieser Sache als Übersetzer tätig zu werden, ­seien aber, so klagt er, von der Regierung nicht unterstützt oder sogar verboten worden.1228 Die Folge sei, dass erstens die franzö­ sische Bevölkerung über die Kriegssitua­tion desinformiert werde und zweitens der Eindruck entstehe, die eng­lische Regierung desinformiere die eigene Bevölkerung – ein Problem, das der scharfsichtige Defoe klarer sah als andere Zeitgenossen: „In one of the last Flying Posts which I saw here they have news from Ghent that all things were very plentifull and cheap in the French camp, and that their army increased every day; when our advises from the army published that the enemy were very much straightened in their quarters and found it hard to subsist; at least, my Lord, this makes the people believe that the Government, according to the French mode, orders wrong accounts of things to be spread abroad, and that those are the only true accounts.“1229

Wenn der Krieg zum zentralen Motor der entstehenden Öffent­lichkeit (mit allen ihren solcherart beschaffenen Schattenseiten) wurde,1230 stellten die Zeitungen innenpolitisch gleichzeitig aber wichtige Foren der Parteipolitik dar: „Whig and Tory were […] in part print communities“1231 – ein Charakteristikum, das auf dem Kontinent Befremden hervorrief.1232 Die Presse entwickelte sich in dieser Zeit zu einem wichtigen Kanal für die parlamentarische Lobbyarbeit, auch und gerade im Hinblick auf die eng­lischen Außenbeziehungen.1233 Man darf also von einer recht gut ausgebildeten Form von öffent­licher Meinung ausgehen, die „im Sinne einer dauerhaften Beobachterperspektive zweiter Ordnung“1234 funk­tionierte. Diese Funk­tion von Öffent­lichkeit und Presse war allerdings auch starker Kritik ausgesetzt: Die Königin blieb genau wie ihr Vorgänger besorgt über die neue Informa­tionskultur.1235 Die politische Elite des Landes stand der Presse meist mindestens ambivalent gegenüber, weshalb es auch zu mehreren Versuchen kam,

1227 Vgl. Klaits, Printed Propaganda, 254 f. 1228 Vgl. HMC Marlborough, 44. 1229 Ebd., 45. 1230 Vgl. Gestrich, Public Sphere, 421 f. u. 427. 1231 Knights, Representa­tion, 222. 1232 Vgl. Schlögl, Politik beobachten, 615 f. 1233 Vgl. Black, Parliament, 23 f.; McJimsey, Shaping the Revolu­tion; Jupp, The Governing of Britain, 99. 1234 Krischer, Politische Kommunika­tion, 85. 1235 Vgl. Cowan, Rise of the Coffeehouse, 43.

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die Vorzensur wieder einzuführen.1236 Das Cabinet bemühte sich um Arkanpolitik und die Instrumentalisierung der Öffent­lichkeit.1237 Marlborough zeigte eben diese Ambivalenz, wenn er einerseits im Laufe des Krieges seinen Chaplain-­General Francis Hare unumwunden zum Propagandachef machte, andererseits immer wieder Misstrauen gegenüber der gedruckten Presse artikulierte. ­Marlborough selbst besaß offenbar eine „almost unbalanced fear of the press“1238, die seiner Abneigung gegen Parteipolitik und innenpolitische Ränke überhaupt entsprach. Gerade gegen Ende des Krieges wurde Marlboroughs Misstrauen gegen „the villanous way of printing, which stabes me to the heart“1239 geradezu zu einem Grundton seiner Korrespondenz. In ­diesem Sinne war Marlborough Anhänger und Akteur von Arkanpolitik. Seine Frau Sarah dagegen stand der Presse weniger ambivalent gegenüber und bediente sich ab 1709 des radikalen Whigs Arthur Maynwaring als persön­lichem Propagandisten.1240 Die offiziöse London Gazette druckte unter anderem das, was aus den Berichten aus Marlboroughs Feldlager (in der Regel geschrieben von seinem Sekretär Cardonnel, manchmal gemeinsam mit Hare) oder aus den Zirkularbriefen der Gesandten an die Öffent­lichkeit gelangen sollte.1241 Im Hauptquartier wurde regelmäßig die eng­lische Presse darauf überprüft, wie Marlborough dargestellt wurde, und spätestens ab 1706 wurden auch gezielt positive Nachrichten lanciert.1242 Dies geschah aber anonym – so bat etwa Cardonnel im Jahr 1709 den Under-­Secretary Tilson darum, einen Brief der Generalstaaten an Marlborough im Post Man zu veröffent­lichen: „but don’t let it be known to come from us“1243. Auch versuchte Marlborough, die Berichterstattung über seine Person insofern zu beeinflussen, 1236 Vgl. Downie, Development, 116 – 118. 1237 Vgl. Hattendorf, England, 1 – 3. 1 238 McInnes, Appointment of Harley, 260, Anm. 18. – Auch in ­diesem Punkt unterscheidet sich Harley von Marlborough: Harley gilt geradezu als der erste Tory „who saw news produc­tion as an opportunity, rather than a necessity“: Sommerville, News Revolu­tion, 126. 1239 Marlborough an Sarah, 5./16. April 1711, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1662; siehe auch Marlborough an Sarah, 8./19. Oktober 1711, in: ebd., Bd. 3, 1682. 1240 Vgl. Harris, Passion for Government, 142; Snyder, Daniel Defoe. 1241 Vgl. Horn, Marlborough’s First Biographer, 152 f.; Metzdorf, Politik, 129. Siehe aber auch Hattendorf, England, 210: „At times, there appeared to be a distor­tion of news in the London Gazette. From time to time, the envoys abroad who supplied informa­tion in the form of newsletters complained that the official news was quite different from what they had reported to Whitehall.“ 1242 Vgl. Metzdorf, Politik, 130. 1243 Zitiert nach Metzdorf, Politik, 131, Anm. 250.

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als er zuweilen der Gazette Berichte verweigerte und sie anderswo (eben zum Beispiel im hugenottischen Post Man) drucken ließ, wenn er mit der Arbeit der Gazette unzufrieden war.1244 1706 wies Marlborough den Secretary Harley an, bestimmte vertrau­liche Informa­tionen, die er ihm schicke, ebenfalls im Post Man zu veröffent­lichen. Gleichzeitig sollten aber die offiziellen Berichte Cardonnels aus dem Feldlager weiter in der Gazette erscheinen: „As all truths may not be proper to be in the Gazet, I desire the favour of you that during this Campagne, when I send in your Letter as I now do a paper of news, you will let it be inserted in the Postman, and what is to be in the Gazet Mr. Cardonnel will send it to the office as formerly.“1245

Diese propagandistische, weil bewusste und gesteuerte Herangehensweise an die Presse lässt sich aber nicht nur an Marlboroughs Imagepolitik nachvollziehen. Die Propagandafunk­tion der Presse bezieht sich auch auf einen noch unmittelbarer kriegsrelevanten Kontext. So wurde mehrfach versucht (oder mindestens darüber gesprochen, es zu versuchen; das bleibt im Dunkeln), über gedruckte Zeitungen als einem in allen sozia­len Schichten verbreiteten Informa­tionsmedium das allzeit drängende Problem der Deser­tion zu bearbeiten. Eine franzö­sische Massendeser­tion sollte 1706 dadurch ausgelöst werden, dass man mög­lichen Deserteuren zwei oder drei Dukaten versprechen wollte – und dies in die Zeitung zu setzen vorhatte.1246 Auch die Begnadigung südniederländischer Deserteure, die im Kriegsgebiet übergelaufen waren, sollte 1708 in den Brüsseler und Antwerpener Zeitungen bekannt gegeben werden. Hier war sogar daran gedacht, dass der Generalpostmeister Jaupain diese Zeitungen an der Grenze zu Frankreich verteilen lassen sollte.1247 Pamphlete als weniger stark auf Fakten, sondern auf Meinungen abzielende, nicht-­periodische Presseerzeugnisse, waren ein weiterer wichtiger Bestandteil der eng­lischen Öffent­lichkeit.1248 Dies erfuhr Marlborough im positiven wie im 1244 Vgl. Handover, History of the London Gazette, 36 f.; Hanson, Government and the Press, 86. Siehe auch: Boyle an Marlborough, 14. Dezember 1708, in: HMC ­Marlborough, 35 sowie Calendar of the manuscripts of the Marquis of Bath, Bd. 1, 485. – Zum Post Man siehe: Raban, Newspaper. 1245 Marlborough an Harley, 6. Mai 1706, BL Add. 61125, 148r. 1246 Vgl. BL Add. 61336, 134 – 136; es handelt sich hierbei um ein undatiertes und anonymes Memorandum, das nach Ramillies geschrieben worden sein muss. 1247 Vgl. Cardonnel an John Lawes, 9. Juni 1708, in: BL Add. 61399, 173r. 1248 Zur quantitativ beeindruckenden, thematisch ausdifferenzierten und politisch einflussreichen Pamphletistik der Regierungszeit Annes siehe bibliographisch: Morley, Queen Anne Pamphlets. Siehe generell auch: Mörke, Pamphlet.

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negativen Sinne. War er in den ersten Kriegsjahren das bewunderte Objekt der Pamphletistik, brach gegen Ende des Krieges eine Medienkampagne gegen ihn los. Doch bereits vorher spaltete Marlborough als von den Whigs geliebter, von den Tories beargwöhnter Anhänger einer Kriegspolitik die öffent­liche Meinung. Marlboroughs „disputed print persona structured a stable partisan politics“1249. Marlborough ging sehr rabiat, meist auf recht­lichem Wege, gegen missliebige Berichterstattung vor.1250 In einem Fall ist dokumentiert, dass der Wegfall der Vorzensur dem Arkanpolitiker Marlborough nur den Ausweg zu lassen schien, missliebigen Journalisten Prügel anzudrohen und dies auch in die Tat umsetzen zu lassen. Der Journalist John Tutchin, dessen Observator sich in ausgesprochener Deut­lichkeit zum Kriegsgeschehen, zu den Parteien, aber auch zu Marlborough äußerte, war ihm dabei wiederholt ein besonderer Dorn im Auge. Bei Tutchin handelte es nicht um einen Tory, sondern um einen kritischen Whig. Die Regierung sah in ihm ein Sprachrohr seines Patrons, des radikalen Parlamentariers Haversham, der auch in anderem Zusammenhang die Politik der Regierung und Marlboroughs lautstark kritisierte.1251 Marlborough warf seiner Frau schon 1704 vor, der schlimmste aller Journalisten sei einer ihrer Whig-­Freunde: „I find the most mallicious are those of your friend the Observator“1252. Im Oktober 1706 schrieb er dann an Harley über Tutchin: „If I can’t have justice done me, I must find some friend that will break his and his printer’s bone“1253 – eine Initiative, die von St. John unterstützt wurde.1254 Es war offenbar keine einmalige Berichterstattung, sondern die generelle „out­ spokenness“ Tutchins, die den mit dieser Art von Presse nicht vertrauten Höfling und Soldaten Marlborough verstörte.1255 Tutchin soll am 23. September 1707 im 1249 Claydon, A European General, 301. Zur Pamphletistik rund um Marlborough siehe: Müllenbrock, Herzog von Marlborough; Späth, Facts and Fac­tions; Müllenbrock, Culture of Conten­tion; Herman, Business; Bély, Espions, 266 – 272. 1250 Vgl. Metzdorf, Politik, 76 u. 188. 1251 Vgl. Marlborough an Harley, 8. Juli 1706, in: Calendar of the manuscripts of the Marquis of Bath, Bd. 1, 105 sowie St. John an Harley, 10. Oktober 1706, in: HMC Portland, Bd. 4, 338; siehe zu dieser Affäre: Foot, The Pen and the Sword, 71. – Zu Haversham, einem „political chameleon“, der mit immer extremen Ansichten sowohl bei den Whigs als auch bei den Tories als problematisch galt, siehe: Gauci, Thompson. Siehe auch unten, Kapitel 4.2. 1252 Marlborough an Sarah, 19./30. Juli 1704, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 344. 1253 Marlborough an Harley, 8. Juli 1706, in: Calendar of the manuscripts of the Marquis of Bath, Bd. 1, 105. 1254 Vgl. St. John an Harley, 10. Oktober 1706, in: HMC Portland, Bd. 4, 338. 1255 Downie, Tutchin.

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Gefängnis gestorben sein, nachdem er verprügelt worden war – ob Marlborough damit zu tun hatte, ist unklar, aber nicht unwahrschein­lich.1256 Dieses Problem unliebsamer Veröffent­lichungen blieb aber nicht auf die gedruckte Presse beschränkt: Ein Rotterdamer Drucker meldete Marlborough etwa im Januar 1705, in den niederländischen Zeitungen ­seien Berichte über eng­ lische Truppenstärken und militärische Pläne aufgetaucht, die dem Feind besser verborgen blieben. Sie entstammten, so hatte die Recherche des Druckers ergeben, dem handschrift­lichen Londoner Newsletter John Dyers 1257 – einem vor allem in England sehr populären Nachrichtenmedium, das wegen seiner Tory-­Linie bereits öfter Mitgliedern der Regierung, auch Marlborough, Probleme bereitet hatte.1258 Hier zeigt sich wiederum deut­lich die enge Verschränktheit handschrift­licher mit gedruckten Zeitungen im zeitgenös­sischen Informa­tionssystem. Doch jenseits von Marlboroughs Nutzung der Presse für Propaganda (oder der Abwehr kritischer Stimmen) – war sie auch Informa­tionsmedium? Erfuhr, um dies zuzuspitzen, auch jemand wie Marlborough manches einfach aus der Zeitung? Donald Haks hat gezeigt, dass etwa die niederländische Regierung oft nicht besser informiert war als die niederländische Presse.1259 Dies entspricht einer Beobachtung des zeitgenös­sischen Beobachters Kaspar Stieler: „[S]o melden doch die gedruckte Zeitungen oft ein weit mehrers/ wovon auch nicht einmal Residenten und Agenten Wissenschaft gehabt haben/ als die sich selbsten Unserer Zeitungen bedienen: wiewol/ die Warheit zusagen/ dergleichen Personen sehr einfältig thun/ wenn sie nichts anderes berichten/ als was schon im Druck/ und also jedermännig­ lich ihres Orts bewust ist.“1260

In jedem Fall war die Zeitungslektüre eine wichtige Aufgabe von Diplomaten; eine gängige Beilage diplomatischer Korrespondenz waren gedruckte Zeitungen.1261 Schon im 17. Jahrhundert wurde davon gesprochen, dass die Zeitungen Armeen ersetzen könnten: Sie ­seien „Maßnahmen der Kriegsführung“1262. Auch hier illustriert ein Stieler-­Zitat plastisch die zeitgenös­sische Deutung: 1256 Vgl. ebd. 1257 Vgl. Reynier Leers an Marlborough, 16. Januar 1705, in: BL Add. 61308, 7 f. 1258 Vgl. Cowan, Dyer. Zu Dyer siehe auch: Barber, It is Not Easy. 1259 Vgl. Haks, War. 1260 Vgl. Stieler, Zeitungs Lust und Nutz, 74; siehe auch ebd., 107. 1261 Vgl. Wild, Formen, 248. 1262 Vgl. Behringer, Veränderung der Raum-­Zeit-­Rela­tion, 74  f.; Fritsch, Diskurs, 40; im lateinischen Original ist die Rede von „stratagemata bellica“: Fritsch, Discursus, Caput III.

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„Sonsten dienen die Zeitungen denen Krieges-­Räten/ Commissarien/ Quartiermeistern und andern Bedienten der Kriegesämter darzu/ dass sie wissen/ ­welche Wege offen oder verhauen/ besetzet oder ledig/ sicher oder unsicher seyn? Wo noch etwas vor Mann und Pferde zu holen? oder/ Ob die Oerter/ wo die Route hingehet/ vom Feinde schon ausgefressen seyn? Man muss auch Bericht von der Gesundheit des Landes/ und Verlaufung des Hauswirts haben/ damit man unterweges nicht Noht leide/ oder sonst/ auser des Feindes Zutuhn/ in Gefahr gerate.“1263

Trotz dieser Informa­tionsfunk­tion blieb die gedruckte Zeitung doch gegenüber handschrift­lichen Newsletters für die eng­lischen Politiker und auch für ­Marlborough ein untergeordnetes Medium. Als Medium der Informa­tionsgewinnung war das System der mehr oder minder exklusiven geschriebenen Zeitungen – bis hin zu vollends exklusiven Spionageberichten – die einschlägigere Informa­tionsquelle.1264 Dies ist ja im Hinblick auf Spionageberichte bereits deut­lich geworden. Erst dann, wenn eine große Zahl von Newsletters zur Verfügung stand, konnte der Zeitung eine „subsidiäre Bedeutung“1265 zukommen, und dies unter anderem schlicht deshalb, weil stärker noch als bei handgeschriebenen Zeitungen der Ursprung der Informa­tionen vollständig im Dunkeln lag. „Much of the foreign news in contemporary newspapers, therefore, in so far as much news related to current diplomatic negotia­tions, was probably diplomatic gossip – a useful supplement to the intelligence services of the great powers.“1266 Es gab seltene Fälle, in denen die gedruckten Zeitungen tatsäch­lich relativ frühe Informanten waren. Die Postmasters General, die Zugang zu niederländischen Zeitungen hatten, informierten Sunderland über den rus­sischen Sieg bei Poltawa, den die Harlem Gazette vermeldet habe.1267 Doch meist blieben Zeitungen nachrangig: Ist in den sehr unvollständigen Kabinettsmitschriften schon das Vorlesen von intelligence eher selten verzeichnet, gilt dies in noch stärkerem Maße für gedruckte Zeitungen: Harley vermerkt einmal, es ­seien „printed news from Italy“ vorgelesen worden 1268 – dies ist aber eine Ausnahme.

1263 Stieler, Zeitungs Lust und Nutz, 86. 1264 Vgl. Barber, It is Not Easy. 1265 Vgl. Weber, Arkanum, 60. 1266 Gibbs, Revolu­tion, 74. 1267 Interessanterweise ist dort neben der zutreffenden Informa­tion von der schwedischen Niederlage auch die unzutreffende Informa­tion über den Tod Karls XII. vermerkt. Siehe Frankland und Evelyn an Sunderland, 29. Juli 1709, in: BL Add. 61601, 133r. 1268 Vgl. BL Add. 70337, unpag., 19. Juli 1706.

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Marlborough selbst schickte einmal eine franzö­sische Zeitung an Godolphin, die er offenbar in Flandern erhalten hat, schränkte aber deren Nachrichtenwert sofort gegenüber der Newsletter-­Korrespondenz ein: „I send you one shete of the Paris Gazet, that you may see what thay say of the affaires of Spain. I hope you will have better news from that country by the way of Portugale.“1269 Die subsidiäre oder supplementäre Bedeutung von gedruckten Zeitungen wird in Marlboroughs Umfeld punktuell deut­lich, wenn es heißt, man habe Zeitung gelesen, warte aber noch auf persön­liche Berichte.1270 Dieser Befund der untergeordneten Bedeutung der Presse lässt sich an ­Marlboroughs Nachlass leicht nachvollziehen. Die wenigen gedruckten Zeitungen, die im Nachlass aufbewahrt worden sind, stützen die These, dass es hier kaum nur um Informa­tionsgewinnung ging. Zwar finden sich vereinzelt gedruckte Versionen von Newsletters, die aber vor allem belegen, dass handschrift­liche und gedruckte Medien sich aneinander anlagerten.1271 Im Kontext der geheimen Newsletters sind komplementär auch einige wenige gedruckte Zeitungen abgeheftet, die aus Amsterdam, Amiens und Paris stammen.1272 Auch finden sich in den Quellen vereinzelt Hinweise darauf, dass Marlborough sich durch C ­ ardonnel regelmäßig mit franzö­sischen Zeitungen versorgen ließ. Diese wurden allerdings charakteristischerweise selbst im Sommerhalbjahr nach London – also nicht an Marlboroughs südniederländischen Aufenthaltsort – geschickt.1273 Die von ­Marlborough selbst aufbewahrten Zeitungen wirken nicht planmäßig gesammelt, sondern zufällig aufgehoben. Zudem erscheinen sie ungelesen. Zum Teil enthalten die Zeitungen Berichte über Marlborough selbst, allerdings ist nichts Auffälliges zu bemerken. Es lässt sich kaum mehr erschließen, als dass M ­ arlborough mehr oder minder regelmäßig mit Zeitungen aus den Niederlanden und auch aus Frankreich versorgt worden sein muss. Es ging also eher darum, bestimmte Informa­tionen im Zweifelsfall ­später parat zu haben – nicht darum, durch die Presse schnell und zuverlässig informiert zu werden.

1 269 Marlborough an Godolphin, 3./14. Oktober 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 700; ähn­lich auch Marlborough an Godolphin, 15./26. Juli 1708, in: ebd., Bd. 2, 1037. 1270 Vgl. Brydges an St. John, 9. September 1709, in: Letters from James Brydges, 127. 1271 Vgl. BL Add. 4747, 149r: Suplement Aux NouvelIes Extraordinaires, Leiden, 12. April 1707. 1272 Vgl. BL Add. 61265 A, 79r–97v; 98r–99v;100r–105v. 1273 Vgl. Cardonnel an Jaupain, 12. April 1709, in: BL Add. 61400, 129v: „Je vous prie d’envoyer par chaque ordinaire voye de la Brille une Gazette de Paris adressée a Mons.r Walpole Secretaire de Guerre a Londres.“

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Ein ähn­licher Befund ergibt sich bei den Bänden der Nouvelles des cours de l’Europe, einem monat­lich im Haag publizierten Organ, von dem Marlborough die Bände von Juli bis Oktober 1704 aufbewahrte.1274 Dies sind aber nun gerade die Bände, die ausführ­lich über den Donaufeldzug und die Schlachten vom Schellenberg und von Höchstädt berichten. Marlborough hob also, so darf man schließen, diese Bände auf, um eine ausführ­liche externe Dokumenta­tion seiner spektakulärsten militärischen Kampagne zu besitzen. Die Tatsache, dass diese Zeitung sich in Marlboroughs Papieren findet, belegt also eher die verständ­liche Eitelkeit des Feldherrn als den Versuch, die gedruckte Zeitung als Medium der Informa­tionsgewinnung heranzuziehen. Als Fazit ist festzuhalten, dass die Presse für die eigent­liche Gewinnung von Informa­tion, etwa für den Herzog von Marlborough, eher marginal und subsidiär blieb. Sie musste in besonders hohem Maße durch die Lektüre anderer Medien gegengeprüft werden. Die Presse stellte also eine Ergänzung zu anderen Informa­ tionskanälen dar – nicht mehr.

3.6 Zwischenergebnisse Versucht man sich zu vergegenwärtigen, in welcher Weise die bisherige Untersuchung gegenüber der vorliegenden Forschung Erkenntnisfortschritte erbracht hat, kann dies im Hinblick auf die methodische Perspektive, aber auch im Hinblick auf die empirischen Gehalte geschehen. Methodisch wurde eine Umorientierung von vereinzelten pittoresken Spionagegeschichten zu strukturellen Zusammen­ hängen der Informa­tionsgewinnung vorgeschlagen, innerhalb derer die einzelne Episode erst Sinn ergibt. Dies lenkte den Blick weg von einer Geschichte angeb­ lich einzeln operierender Spione und spektakulärer Einzelereignisse, weg von einer Geschichte der Informa­tionsgewinnung, die zwar ein ‚System‘ behauptet, dessen Strukturen aber nicht aufweisen konnte. Stattdessen hat es sich als produktiv erwiesen, ­zwischen Infrastrukturen als Rahmenbedingungen, stärker forma­lisierten Organisa­tionen und schwächer oder nicht formalisierten Netzwerken zu unterscheiden. Aus dem Bereich der Infrastrukturen (also derjenigen Strukturen, die die Rahmenbedingungen von Marlboroughs Informa­tionsgewinnung darstellten) ­wurden Geld, Brief, Post und Landkarte vorgestellt. Die Finanzierung der Informa­ tionsgewinnung erwies sich dabei als tendenziell defizitär und empirisch erstaun­lich 1274 Vgl. BL Add. 61265 B.

Zwischenergebnisse

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schwer zu erforschen. Ähn­liche Quellenprobleme ergaben sich im Hinblick auf die Kartographie, deren Stellenwert für Marlboroughs Informa­tionsgewinnung unklar bleibt. Briefe besaßen vor allem deshalb eine große Bedeutung, weil sie als schrift­liche Distanzkommunika­tion einen euro­päischen Krieg dieser Größenordnung erst mög­lich machten. An ihnen lässt sich auch das komplexe Ineinander von Geheimhaltung und Öffent­lichkeit(en) sichtbar machen. Die Post, hier exemplarisch: die Schiffspost z­ wischen England und dem Kontinent, erwies sich für die Akteure ebenfalls als zentral; Marlborough und sein Umfeld befassten sich in auffällig hohem Maße mit dem „infrastructuring“ der Postverbindungen. Wichtig war im Hinblick auf organisa­tionsförmige Strukturen der Informa­tionsgewinnung der Aufweis der engen Einbindung Marlboroughs in die Informa­tionsgewinnung der Secretaries of State und der eng­lischen Diplomatie. Die netzwerkförmigen Strukturen, etwa die Postinterzep­tion Jaupains oder der Spionagedienst C ­ aillauds, haben sich bei genauerer Untersuchung als viel zentraler erwiesen, als dies die Forschung bisher eingeschätzt hat (während die Bedeutung etwa Robethons eher relativiert wurde). Bei diesen Netzwerken handelte es sich um größere und relativ dauerhafte Strukturen und nicht um nur punktuell operierende Einzelakteure; dies war wichtig, weil erst die Einbindung in eine größere und bereits länger bekannte Struktur der Informa­tionsgewinnung das Vertrauen der eng­lischen Regierung hervorbringen konnte. „Weak ties“ traten demgegenüber in den Hintergrund. Während sich also amts- und netzwerkförmige Strukturen als zentral erwiesen, blieb die Informa­tionsbedeutung der Presse eher subsidiär. Spezifisch vormodern erscheint gerade im Hinblick auf die genannten Strukturzusammenhänge das hohe Gewicht individueller Akteure: Es ist kein Zufall und auch nicht ausschließ­lich einer exemplarischen Auswahl geschuldet, dass die Strukturen der Informa­tionsgewinnung in hohem Maße als personenabhängige Strukturen (oder Strukturen, die sich in bestimmten individuellen Konfigura­ tionen manifestieren) beschrieben worden sind. Die Tatsache schließ­lich, dass einige der Informanten vor allem Marlboroughs nach 1712 bei der eng­lischen Regierung in Ungnade fielen, belegt sowohl die Bedeutung einzelner Personen als auch den Umstand, dass außenpolitische Informa­tionsgewinnung immer auch innenpolitische Effekte nach sich zog. Die Grenzen ­zwischen formalen und informellen Kanälen verschwimmen öfter (ein Befund, der aber erst dann sinnvoll erhoben werden kann, wenn man die Differenzierung formal/informell zuerst einmal zugrunde legt). Auffällig sind etwa die wiederholt zu beobachtenden Versuche, informelle Netzwerke wenigstens partiell formal zu rahmen (etwa im Fall Caillauds oder Jaupains). Wichtig ist auch die Beobachtung, dass informelle sich oft an formale Strukturen anlagerten. Dies wurde etwa in der Zusammenarbeit Mackys mit Fonseca (also eines

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staat­lichen Coastal Director mit einem Spion) oder am diplomatischen Spionagenetz John Lawes‘ gezeigt. Dennoch haben sich die Spezifika verschiedener Strukturen immer wieder deut­lich zeigen lassen: Hier standen organisa­tionsförmige Amts- und Dienstpflichten gegen informelle, auf Tauschbeziehungen (Geld oder Patronage) beruhenden Strukturen. Der Blick in die verstreuten Kurzresümees von Marlboroughs ‚Geheimdienst‘ in der Literatur kann helfen, noch einmal klarer zu konturieren, was die bisherige Untersuchung empirisch ergeben hat. Grotesk ist etwa die Beschreibung von Marlboroughs Informa­tionsgewinnung in der populären Geheimdienstliteratur: „Als Heerführer der britischen Armee in den Niederlanden […] richtet ­Marlborough zwei gesondert geführte Nachrichtenabteilungen ein: Der eine Dienst untersteht ­William Cadogan, zuständig für die taktische Aufklärung des Schlachtfeldes, den anderen leitet Adam de Cardonnel, verantwort­lich für den weitreichenden strate­gischen und poli­ tischen Bereich. Cadogan ist ein erstklassiger Nachrichtenoffizier, der durch seine Fähigkeit, schnelle und genaue Beurteilungen der gegnerischen Absichten zu ermitteln, das uneingeschränkte Vertrauen des Herzogs von Marlborough besitzt. Das von Adam de Cardonnel aufgebaute Spionagenetz erstreckt sich über ganz Europa.“1275

Nun ist das Genre der populären Geheimdienstgeschichte sicher ein leichter ­Gegner. Dennoch fällt auf, wie anachronistisch die genutzten Kategorien sind. Seriö­sere Überblicke stellen knapp und additiv verschiedene Einzelspione oder Netzwerke nebeneinander (in der Regel kommen mindestens Caillaud und ­Robethon vor), ohne zu differenzieren, ob man es mit diplomatischen Akteuren, kommerziellen Firmen, Personen mit indirekt dienst­lichen, aber auch durch Patro­ nage angeleiteten Interessen (dies wäre der Fall Jaupain) zu tun hat.1276 Zu Recht wird manchmal darauf hingewiesen, dass Marlboroughs Informa­tionsgewinnung sich an bestehende Informa­tionsnetze anlagerte oder sie nutzte.1277 Dass daraus allerdings, wiederum vorschnell generalisierend, zum Beispiel auf die alles überragende Bedeutung bestimmter Informanten geschlossen wird, ist ein Problem, das die gesamte Literatur durchzieht.1278 Auch ist es falsch, wenn aus der Verbindung von Marlboroughs Informa­tionsgewinnung mit anderen Strukturen 1275 Piekalkiewicz, Weltgeschichte, 159; die Passage ist im Wesent­lichen aus einem anderen populärhistorischen Werk übernommen: Haswell, Spies, 46 – 50. 1276 Vgl. Snyder, Introduc­tion, XXX; in weniger ausgeprägter Form auch: Rule, Gathering Intelligence. 1277 Vgl. etwa Bély, Espions, 92. 1278 Siehe ebd., 91, im Hinblick auf Robethon.

Zwischenergebnisse

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(inner- wie außerhalb der eng­lischen Regierung) geschlossen wird: „The value of M ­ arlborough’s own intelligence network should not be over-­estimated.“1279 ­Marlboroughs eigenes „intelligence network“ bestand eben genau darin, auf verschiedenste politische, diplomatische, militärische und kommerzielle Verbindungen und Netzwerke zurückgreifen und mit ihnen zusammenarbeiten zu können. Auf der anderen Seite erweist sich die Rede von „Marlborough’s Secret Service“1280, die seine Koopera­tion mit der eng­lischen Regierung herunterspielt oder ignoriert, als entweder missverständ­lich oder schlicht falsch. Es gab weder einen Geheimdienst Marlboroughs noch generell einen Geheimdienst der eng­ lischen Regierung – es gab nur ein komplexes Zusammenspiel von Infrastrukturen, Organisa­tionen und Netzwerken. Ein grundsätz­licher Zug der vorliegenden Literatur – die Konzentra­tion auf pittoreske Einzelfälle und Einzelgestalten – ist aber nicht nur deshalb problematisch, weil er die strukturelle Verfasstheit von Marlboroughs System der Informa­tionsgewinnung, wenn man es denn so nennen will, nicht erfassen kann. Sie ist auch deshalb irreführend, weil sie zu einer ziel-, erfolgs- und ergebnis­ orientierten Sicht auf Informa­tionsgewinnung und Spionage verleitet und damit eine einseitige Verzerrung nicht nur der Strukturen, sondern auch der Funk­tionen von Informa­tionsgewinnung mit sich bringt. Eine Perspektive, die immer nur an strate­gisch oder politisch ‚wichtigen‘ Fällen von Spionage ansetzt, verkennt, dass diese die absolute Ausnahme waren und dass die Funk­tionalität von und genereller der Umgang mit Informa­tionen anders und breiter bestimmt werden müssen. Dies legt es nahe, grundsätz­licher darüber nachzudenken, ­welche Funk­ tionen Informa­tion und ihre Gewinnung überhaupt besaßen. Denn offenbar hängen Funk­tion und Struktur ja zusammen, wenn sie auch nicht ineinander aufgehen. In ­diesem Kontext kann ein Diktum Niklas Luhmanns als Überleitung zur Untersuchung der Funk­tionen von Informa­tion dienen. Luhmann schreibt: „Organisa­tion, ja Systembildung überhaupt, kann in ihrem Kern als stets prekäre Übersetzung von Funk­tionen in Strukturen begriffen werden.“1281 Die vorliegende Studie ist von den Strukturen ausgegangen, um in einem zweiten Schritt nun nach Funk­tionen zu fragen. Es muss im Folgenden also um eine Rückübersetzung gehen. 1279 Snyder, Introduc­tion, XXX ; siehe auch Bély, Espions, 92: „Même s’il ne faut pas ­surestimer l’efficacité de ce réseau, il apparaît que l’espionnage militaire s‘était developpé autour de Marlborough et qu’il devenait sans doute un espionnage politique à dimension interna­tionale.“ 1280 Churchill, Marlborough, Bd. 2, 549. 1281 Luhmann, Zweckbegriff, 261.

Funktionen der Information

4 Funktionen der Information 4.1 Funktionen der Information: Methodische Überlegungen Funk­tionen zu behandeln, ist komplizierter, als sich mit Strukturen zu beschäftigen. Denn Strukturen sind jedenfalls teilweise beobachtbar; wo sie nicht sichtbar sind, kann die Forschung sich nicht mit ihnen befassen. Strukturen lassen sich also beschreiben. Funk­tionen dagegen sind nicht deskriptiv zu erfassen, sondern nur interpretatorisch. Dies hat mit den Spezifika des Funk­tionsbegriffs zu tun, der Zusammenhänge annimmt, die den Akteuren mög­licherweise nicht bewusst sind und die auch nicht einfach in den Quellen erwähnt werden, sondern erschlossen werden müssen. Funk­tionen von Informa­tion zu benennen, ist in höherem Maße als im Fall von Strukturen Konjektur. Wozu dient also Informa­tion, w ­ elche Funk­ tionen erfüllt sie? Und was heißt das überhaupt? Der Begriff der „Funk­tion“ scheint Historikern geläufig: Meist meinen sie damit kaum mehr als den Umstand, „dass ein Phänomen […] zu irgend etwas nütze ist“1. Doch der Begriff ist komplex: Hinter ihm verbergen sich so unterschied­liche Konnota­tionen wie subjektive Inten­tionen und objektive ­Zwecke; kausale Ursachen; Nutzen und Gebrauchsweisen; intendierte und nicht intendierte Konsequenzen des Handelns. Überdies ist der Begriff – gerade in der strukturfunk­tionalistischen Tradi­tion – stark auf die Erhaltung und Reproduk­ tion ganzer Systeme bezogen und nur schwer mit einer akteurstheoretischen Perspektive zu verbinden.2 Alles dies scheint eher gegen als für den Begriff der Funk­tion zu sprechen. Dennoch soll der Begriff hier, wenn auch in pragmatischer Weise, genutzt werden, gerade weil er die intendierten wie die unintendierten, die bewussten wie unbewussten, die expliziten wie die impliziten Absichten, Zwecke und Nutzungsweisen umfasst, die einem bestimmten sozia­len Phänomen oder einem bestimmten Handeln zugeschrieben werden. In lockerer Anlehnung an Robert Merton kann man also an „manifeste“ (bewusste, explizite) wie an „latente“ (oder implizite) Funk­tionen der Informa­tionsgewinnung und der 1 Mergel, Geschichte und Soziologie, 633. 2 Vgl. statt vieler Belege: Reckwitz, Problemzusammenhang, der auch deut­lich macht, dass ein revidierter Funk­tionalismus, der sich z. B. an Luhmann oder Giddens orientiert, auch Paradoxien, unintendierte Konsequenzen und Dissonanzen zu integrieren vermag und damit die stark auf Systemstabilisierung zielende Funk­tionalismustheorie etwa Parsons‘ hinter sich lassen kann. Dennoch ist es theorietechnisch umstritten, ob sich Funk­tionalismus und Akteurszentrierung sinnvoll verbinden lassen; vgl. Campbell, A Dubious Distinc­tion, 35.

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Informa­tion denken.3 Daher ist es wichtig, neben einer Aufmerksamkeit für die Funk­tionen der Informa­tion im Sinne von Zwecken auch die Gebrauchsweisen, die Nutzung von Informa­tion im Auge zu behalten. Neben der sozusagen objektiven Funk­tionsbestimmung müssen die Praktiken der Informa­tionsnutzung in den Blick genommen werden, um sich dem Problem der Funk­tionen der Informa­ tionsgewinnung auf angemessene Weise zu nähern. Die gängigste Funk­tionsbestimmung von Informa­tion und damit auch der Gewinnung von Informa­tionen ist es, ihr einen instrumentellen Nutzen zuzuschreiben, sie also als in irgendeinem Sinne handlungsrelevant anzusehen. Die Handlungs- und Praxisrelevanz ist dementsprechend aus gutem Grund oben als konstitutives Element der Defini­tion von Informa­tion betont worden. Mindestens gilt diese Praxisrelevanz subjektiv: In der Regel glauben Akteure, dass die von ihnen erhobenen Informa­tionen einen instrumentellen, handlungsleitenden Nutzen besitzen. Diese Vorstellung verdichtet sich in der Rela­tion von Informa­ tion und Entscheidung: Informa­tionen dienen dazu, Entscheidungen vorzubereiten, abzusichern, herbeizuführen. Dieses Thema ist im Rahmen einer großen Zahl von sozia­lpsycholo­gischen, politik- und wirtschaftswissenschaft­lichen Entscheidungstheorien untersucht worden. In diesen decision sciences wird Informa­tion in aller Regel als Ressource behandelt, die zum Treffen von Entscheidungen dient. Diese wissenschaft­liche Tradi­tion geht vom Bild eines einzelnen, ra­tional entscheidenden Individuums aus, das mehr oder minder klare Präferenzen besitzt, Kosten minimiert und Nutzen maximiert. Aus dieser Perspektive sind Informa­tion und Entscheidung insofern linear und kausal verknüpft, als Entscheidungen zu einem guten Teil auf Informa­tionen beruhen. Gerade dies mache ihre Ra­tionalität (oder deren Mangel) aus. Oft stellt aber die Verknüpfung von Informa­tion und Entscheidung weniger eine Interpreta­tion menschlichen Handelns dar als vielmehr eine unhinterfragte Basisprämisse.4 In Rahmen dieser Theorietradi­tion ist für die vorliegende Arbeit die vor allem von politikwissenschaft­licher Seite geführte Diskussion über die Modalitäten des außenpolitischen decision-­making von Interesse. Hier stehen spieltheoretische, sozia­lpsycholo­gische und ra­tional choice-­Ansätze im Vordergrund; die Debatte dreht sich um die Frage von Machtinteressen, von 3 Vgl. Merton, Manifest and Latent Func­tions. Mertons Terminologie ist harsch kritisiert worden: Er unterscheide z. B. nicht ­zwischen unantizipierten und unintendierten Konsequenzen. Teile der Kritik sind in die obige Begriffserklärung eingeflossen. Siehe dazu: Helm, Manifest and Latent Func­tions; Campbell, A Dubious Distinc­tion. 4 Umfassende Belege würden den Rahmen dieser Studie sprengen; es möge genügen, auf einen einzigen kritischen Überblick zu verweisen: Hegmann/Reckling, Homo Oeconomicus.

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Gewinnmaximierungs- und Kostenminimierungsstrategien von Entscheidungen, aber auch um die Bedeutung von Perzep­tion und Informa­tion für Entscheidungen.5 Im Zuge einer kulturwissenschaft­lich reformulierten Außenpolitikforschung werden in jüngerer Zeit gegen „realistische“ oder ra­tional choice-­Ansätze zwar auch die Anregungen der kulturanthropolo­gischen Forschung betont,6 doch hat dies noch kaum zu einer umfassenden Neukonzeptualisierung des Problemfeldes geführt. Mindestens drei Gründe sprechen gegen eine Übertragung dieser Theorietradi­ tionen auf das Thema dieser Untersuchung: Erstens ist die politikwissenschaft­liche Interna­tional Rela­tions-­Forschung an verallgemeinerungsfähigen Modellen des politischen decision making interessiert – wogegen Historiker in letzter Instanz eher die kulturellen und historischen Spezifika von Einzelfällen betonen.7 Zweitens entstammen die empirischen Beispiele der politikwissenschaft­lichen Debatten meist der Zeitgeschichte und fußen damit auf einem empirischen Material, das qualitativ wie quantitativ andere Methoden und Reflexionen erfordert als die Quellen dieser Studie. Die Frage nach dem Zusammenhang von Informa­tion und Entscheidungsfindung gerade für die Vormoderne (oder auch: den allmäh­lichen Übergang zur Moderne) benötigt also eine empirische Unterfütterung, die allerdings oft nur schwierig zu leisten ist. Die black box der politischen Entscheidung lässt sich für frühneuzeit­liche Politik schon aus Quellengründen nur selten befriedigend inspizieren. Gravierender ist aber der dritte Grund: Die bisher angesprochenen Theorieansätze diskutieren, wie eigent­lich Informa­tionen und Entscheidungen zusammenhängen und wie der mentale und verfahrensmäßige Weg von der Informa­tion zur Entscheidung verläuft. Dass aber Informa­tionen der Entscheidung und nur ihr dienen, dass sie einen instrumentellen Nutzen und nur diesen haben oder doch haben sollten: Diese Prämisse wird nicht infrage gestellt, ja nicht einmal diskutiert. Diese Leerstelle muss mit einer anderen theoretischen Herangehensweise aufgefüllt werden – nicht um den instrumentellen Nutzen von Informa­tion für Entscheidungen zu bestreiten, aber doch als Korrektiv zu dieser zu einfachen 5 Zum Zwecke einer klaren Absetzung dieser Theorietradi­tionen von den von mir präfe­rierten ist die Darstellung hier absicht­lich zugespitzt. Vgl. zu diesen Ansätzen exemplarisch: Kydd, Methodological Individualism; Mintz/DeRouen, Understanding ­Foreign Policy Decision Making; Stein, Foreign Policy Decision-­Making. Aus der älteren Forschung siehe überdies: Haftendorn, ­Theorie; Larson, Role of Belief Systems; Hunt, Ideology. 6 Vgl. Lehmkuhl, Entscheidungsprozesse; Niedhardt, Selektive Wahrnehmung. 7 Zum schwierigen Verhältnis von politikwissenschaft­licher und historischer Forschung zu interna­tionalen Beziehungen siehe: Levy, Too Important; Schroeder, History.

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Konzep­tion. Hierfür bieten sich Überlegungen des Neoinstitu­tionalismus und der Systemtheorie an.8 Diese Theorietradi­tionen (auch weil sie von einer zu starren Modellbildung absehen) tendieren nicht zu einer ra­tionalistischen Überhöhung des Phänomens der Entscheidung, und sie interessieren sich erst recht nicht für die kryptonormative Frage, wie ra­tional Entscheidungen sind. Vor allem aber, und dies ist für die vorliegende Untersuchung wichtiger, erlauben sie es, die mög­ licherweise kultur- und situa­tionsspezifisch variierenden Funk­tionen von Informa­ tion empirisch präziser zu konturieren. Denn es trifft zwar zu, dass Informa­tion zum Entscheiden diente und dient – aber eben nicht nur. Die gängige Kopplung von Informa­tion und Entscheidung, die natür­lich auf der Selbstwahrnehmung der Akteure beruht, ist zwar nicht falsch, aber doch partiell eine Selbsttäuschung. Die Rela­tion ­zwischen Informa­tion und Entscheidung ist stattdessen als komplex und nichtlinear zu denken: Entscheidungen können nicht kausal aus Informa­ tionen hergeleitet werden, und: Informa­tion besitzt noch weitere Funk­tionen als Entscheidungsfindung.9 Dies soll im Folgenden plausibel gemacht werden. Anhand von Untersuchungen zu modernen Organisa­tionen hat der Neoinstitu­ tionalismus einige grundlegende Axiome zum Funk­tionieren von Organisa­ tionen infrage gestellt: So werde politisches und administratives Handeln oft, aber fälschlich, so beschrieben, als orientiere es sich an Werten und Zielen, die vorher festgelegt und hierarchisiert und im Vollbewusstsein aller Informa­tionen eingeschätzt worden ­seien. Stattdessen kämen Entscheidungen de facto auf viel weniger lineare, oft anarchische Weise zustande.10 Allerdings arbeiten formalisierte Organisa­tionen mit Ra­tionalitätsmythen und stellen sich selbst und auch ihre Informa­tionsnutzung als effizient und ra­tional dar.11 Organisa­tionen neigen daher zur Nachra­tionalisierung von Entscheidungen und befassen sich damit, „im nachhinein plausible Geschichten zu rekonstruieren, um zu erklären, wo sie gerade stehen, selbst wenn keine derartige Geschichte sie genau an diese Stelle gebracht hat.“12 Zudem „haben Organisa­tionen die Tendenz, Nicht-­Entschiedenes

8 Vgl. als programmatischen Text: March/Olsen, New Institu­tionalism; als Überblick vgl. Walgenbach, Institu­tionalistische Ansätze. Instruktiv zur Luhmannschen Entscheidungstheorie: Seidl, Kollektive Entscheidungen. Für eine andere Theorietradi­tion, die aber in den Basisprämissen durchaus kompatibel erscheint, siehe auch: Lübbe, ­Theorie der Entscheidung. 9 Vgl. Feldman/March, Informa­tion in Organisa­tions. 10 Vgl. Lindblom, Science; Cohen/March/Olsen, Garbage Can Model. 11 Vgl. Meyer/Rowan, Institu­tionalized Organiza­tions. 12 Weick, Prozeß, 14.

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im Nachhinein als Resultat eines Entscheidungsvorgangs zu deklarieren“ und auch das Nicht-­Entscheiden als eine Entscheidung zu behandeln.13 Doch neben diese strukturelle Ineffizienz treten andere Gründe. Besonders eingehend sind Martha Feldman und James March der Frage nachgegangen, warum – so der empirische Befund in modernen Organisa­tionen – deren Umgang mit Informa­tionen eben nicht (nur) zielgerichtet, instrumentell und effizient ist. Sie formulieren prägnant die üb­liche Vorstellung davon, wie Informa­tion und Entscheidung zusammenhängen: „[R]elevant informa­tion will be gathered and analyzed prior to decision making; informa­ tion gathered for use in a decision will be used in making that decision; available informa­tion will be examined before more informa­tion is requested or gathered; needs for informa­tion will be determined prior to requesting informa­tion; informa­tion that is irrelevant to a decision will not be gathered.“14

So einleuchtend d ­ ieses idealtypische Modell ist – empirisch ist der Konnex ­zwischen Informa­tion und Entscheidungen in Organisa­tionen oft eher schwach. Feldman und March weisen darauf hin, dass oft die gewonnenen Informa­tionen nichts mit dem Thema zu tun haben, über das entschieden werden muss; dass Informa­tionen auch dann weitergesammelt werden, wenn bereits eine Entscheidung gefallen ist; dass viele verfügbare Informa­tionen gar nicht herangezogen werden, aber dennoch darüber geklagt wird, dass zu wenig Informa­tionen vorlägen: „In short, most organiza­tions and individuals often collect more informa­tion than they use or can reasonably expect to use in the making of decisions. At the same time, they appear to be constantly needing or requesting more informa­tion, or complaining about inadequacies in informa­tion.“15

Woran liegt das? Neben der mög­lichen Paralysierung von Organisa­tionen durch Informa­tionsüberlastung führen Feldman und March verschiedene Erklärungen an: Erstens s­ eien oft diejenigen Akteure, die die Informa­tion sammeln, und diejenigen, die für deren Auswertung und Nutzung zuständig sind, nicht dieselben.16 Das führe zu einer Situa­tion, in der man sich lieber der Kritik aussetze, 13 Martens/Ortmann, Organisa­tionen, 436. 14 Feldman/March, Informa­tion in Organisa­tions, 172. 15 Ebd., 174. 16 Holzer, Spielräume, 267, formuliert, dass in Bürokratien „Sachwissen und Entscheidungskompetenzen oft nur lose gekoppelt sind“.

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zu viele als zu wenige Informa­tionen beschafft zu haben. Zweitens neigten die Entscheidungsverantwort­lichen dazu, den Nutzen von Informa­tionen sehr hoch anzusetzen, ihre Beschaffungskosten aber sehr niedrig.17 Ein dritter, hier noch wichtigerer Grund für die schwache Kopplung von Informa­ tion und Entscheidung ist aber wohl, dass eine große Zahl der Informa­tionen, die eine Organisa­tion sammelt, gar nicht im „decision mode“, sondern im „surveillance mode“ beschafft wird.18 Das heißt: Organisa­tionen sorgen für die Beschaffung auch von solchen Informa­tionen, die im Moment überhaupt keine Entscheidungsrelevanz besitzen,19 von denen aber angenommen wird, dass sie irgendwann einmal Entscheidungsrelevanz besitzen könnten. Wenn also die Forschung stillschweigend Informa­tionsgewinnung als etwas und nur als etwas behandelt, das im Rahmen von Entscheidungsprozessen behandelt werden muss, führt dies mindestens teilweise auf die falsche Fährte, denn es unterschätzt den Umstand, dass die Informa­ tionsgewinnung meist im Modus des Potentialis geschieht. Dieser ist viel charakteristischer ist als die gezielte Informa­tionserhebung im Hinblick auf eine zu treffende Entscheidung. Denn es ist ja offenkundig, dass nicht alle Informa­tionen, die eine Organisa­tion zu gewinnen sucht, faktisch dem Entscheiden dienen (oder auch nur dienen sollen). Organisa­tionen könnten Informa­tionen für wichtig halten, um sich einen Gesamtüberblick über eine Situa­tion zu beschaffen. Sie werden kurz-, mittelund langfristige, taktische wie strate­gische Informa­tionen notwendig oder nütz­lich finden. Positiv formuliert heißt dies: Organisa­tionen sammeln Informa­tionen in einem viel höheren Maße als unmittelbar relevant, weil sie davon ausgehen, dass diese Informa­tionen ihnen in einer unbekannten Zukunft ermög­lichen werden, noch unbekannte Probleme zu lösen. Es geht also schlicht um die Erhöhung potentieller zukünftiger Anschlussfähigkeiten. Oder anders, eher ex negativo formuliert: Organisa­tionen sammeln Informa­tionen, um im Falle eines Falles keinen Fehler gemacht zu haben. Es geht also um Überblick, Vorsorge, Unsicherheitsminimierung. Dass Unsicherheit dabei nie vollständig aufgehoben werden kann, sondern mittels Informa­tionen in beherrschbar scheinende Form gebracht wird, hat die Risikosoziologie einleuchtend herausgearbeitet.20 Organisa­tionen zielen also auf „die H ­ erstellung

17 Vgl. Feldman/March, Informa­tion in Organisa­tions, 175 f. 18 Vgl. ebd., 174 – 176. 19 Vgl. ebd., 176. 20 Ich verweise nur auf Knights Unterscheidung z­ wischen Unsicherheit und (dem als beherrschbarer geltenden) Risiko; vgl. Knight, Uncertainty, 233, und die diese Unterscheidung immer wieder kritisch aufnehmende Diskussion, z. B.: Grundmann, Risiko­ soziologie; Bonß, Risiko; Luhmann, Risiko und Gefahr.

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eines tragfähigen Sicherheitsniveaus“21. Sie handeln aus Gründen der Vorsorge, der Unsicherheitsminimierung oder der Sicherheit – wenn man Sicherheit versteht als „ein dynamisches Nicht-­Ereignis (= ein Fehler, der nicht eintritt)“.22 Sicherheit oder die Vermeidung/Minimierung von Unsicherheit ist insofern eine Funk­tion von Informa­tionsgewinnung, als sie im Hinblick auf eine unbekannte Zukunft die Chance zu bieten scheint, potentielle Fehler zu vermeiden. Da aber die Zukunft ungewiss ist, kann diese Vorsorgefunk­tion im „surveillance mode“ durchaus zu einer gewissen Fetischisierung von Informa­tion führen, also zu einer Verselbstständigung der Informa­tionsgewinnung, die zunehmend von der Frage danach abgekoppelt wird, ob sich mit ihr überhaupt jemals irgend etwas wird anfangen lassen. Dies leitet bereits über zur wichtigen symbo­lischen Funk­tion von Informa­tionen. Sich als „Entscheider“ darzustellen, der die besten Informa­tionsquellen besitze und nutze und sie in intelligenter und zielführender Weise einsetze: Dies sei, so Feldman und March, ein zentrales Selbstbild von Organisa­tionsakteuren. „The gathering of informa­tion provides a ritualistic assurance that appropriate attitudes about decision making exist.“ Informa­tion sei daher oft nicht so sehr die Handlungsgrundlage, sondern eine „representa­tion of competence and a reaffirma­tion of social virtue“23, eine Repräsenta­tion also von Kompetenz und (dadurch) auch von Legitimität. Organisa­tionen und ihre Mitglieder legitimieren sich über die Nutzung von Informa­tion und dadurch, dass sie zum Beispiel bessere Informa­ tionsquellen zu besitzen scheinen als die Organisa­tionsumwelt.24 Subjektiv hat das auch dann, wenn Informa­tionen für Entscheidungen gar nicht herangezogen werden, einen (wenn auch unspezifischen) instrumentellen Nutzen: Informa­ tionsbeschaffung erscheint für Organisa­tionen als eine Art von Kontrolle über die Welt und ihre Probleme. Deshalb werden sie bei erfolgreichen Handlungen auch als relevant dargestellt.25 Dies kann in unübersicht­lichen Konstella­tionen wiederum einen instrumentellen Effekt produzieren: Wenn über einen längeren Zeitraum unklar bleibt, ob eine Entscheidung gut oder schlecht gewesen ist und was dafür überhaupt Kriterien sein könnten, erscheint eine informa­tionsbasierte Entscheidung als die bessere Lösung als eine nicht-­informa­tionsbasierte. Damit wird Informa­tion zum Signal für eine kompetente Entscheidung.26 21 Weick, Prozeß, 15. 22 Martens/Ortmann, Organisa­tionen, 440 mit Rückgriff auf Weick/Sutcliffe, Managing the Unexpected, 40. 23 Feldman/March, Informa­tion in Organisa­tions, 177. 24 Vgl. ebd., 178. 25 Vgl. ebd., 180. 26 Vgl. ebd., 179; zum Problem des signaling siehe auch: Meyer, Organiza­tional Structure.

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Als Fazit können Feldman und March festhalten: „people who gather and use informa­tion will tend to be people who believe that informa­tion gathering is important.“27 Feldmans und Marchs Studie zeigt also, dass in Organisa­tionen Informa­tionen neben ihrem instrumentellen Nutzen für Entscheidungen auch ganz andere Funk­tionen besitzen: eine Funk­tion der Ver- und Absicherung und eine symbo­lische Funk­tion, die auf Statusfragen innerhalb der Organisa­tion abzielt. Die Rela­tion ­zwischen Informa­tion und Entscheidung erweist sich also als nichtlinear. Die gängige Kopplung von Informa­tion und Entscheidung verkennt, dass Informa­tionen in der Regel nicht nur manifeste, intendierte Funk­tionen besitzen, sondern auch latente, unerkannte und unintendierte.28 Mög­licherweise ist daher die Vorstellung zu einfach, „that the main point of a decision-­making process is a decision“29. Nun ist die eng­lische Regierung um 1700, wie dargestellt, kaum eine moderne Organisa­tion. Die Frage ist also, in welchem Umfang die an modernen Organisa­tionen gesammelten Befunde der zitierten Neoinstitu­tionalisten auch für die in dieser Studie beschriebene Konstella­tion zutreffen: für eine Regierung, die wesent­lich schwächer bürokratischen Funk­tionsregeln folgt als moderne Organisa­tionen, einen mit dieser Regierung eng verbundenen und dennoch vielfach herausgehobenen Akteur sowie zahlreiche informelle Netzwerke.30 In jedem Fall können die Befunde der Organisa­tionssoziologie dazu anregen, den Konnex von Informa­tion und Entscheidung nicht allzu einfach zu konzipieren. Was tragen genuin historische Studien zu ­diesem konzep­tionellen Problem bei? Obwohl das Problem der Entscheidung ein zentrales historisches Problem ist, fällt es doch gerade für die Frühe Neuzeit und gerade innerhalb bestenfalls rudimentär ausgebildeter bürokratischer Institu­tionen einigermaßen schwer zu rekonstruieren, wie Entscheidungen faktisch zustande kamen.31 In der Regel wird auch in der historischen Forschung wie außerhalb, und meist eher implizit als explizit, davon ausgegangen, dass Informa­tion dem Entscheiden dient. Dies scheint erstens schon deshalb plausibel zu sein, weil sich vor allem Politik­ historiker besonders für (kollektiv bindende) Entscheidungen interessieren und daher Informa­tion primär im Hinblick auf Entscheidungshandeln in den Blick 27 Feldman/March, Informa­tion in Organisa­tions, 181. 28 Vgl. Merton, Manifest and Latent Func­tions. 29 March/Olsen, New Institu­tionalism, 742. 30 Vgl. dazu die Differenzierungen bei Feldman/March, Informa­tion in Organisa­tions, 183. 31 Siehe zum Problem des Entscheidens aus historischer Sicht: Stollberg-­Rilinger/Krischer (Hrsg.), Herstellung, darin u. a. Krischer, Problem des Entscheidens.

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gerät.32 Der instrumentelle Nutzen von Informa­tion ist daher auch in historischen Arbeiten in der Regel eine Ausgangsprämisse.33 In vielen Fällen kann sie auch gar nicht bestritten werden: Wenn etwa Kaufleute 34 und Diplomaten 35 Informa­ tionen sammeln und erwerben, dann hat dies in der Tat oft mit instru­mentellen Zwecken zu tun. Wenn diplomatische Informa­tionen in tradierte Denkrahmen eingefügt werden, um zu Entscheidungen etwa über Bündnisop­tionen zu kommen, ist dies ohne Zweifel eine instrumentelle Funk­tion.36 Und wenn im Zuge der Ra­tionalisierung von Herrschaft im 18. Jahrhundert 37 eine Aufwertung staat­ licherseits gesammelter Informa­tionen über die Bevölkerung, die Geographie und die Ökonomie eines Territoriums zu beobachten ist, sollten diese Informa­tionen politisch relevanten Entscheidungen dienen.38 „Die innere Expansion staat­licher Herrschaft erfolgte über die Zentralisierung von Wissen, auf dessen Grundlage die politischen, gesellschaft­lichen und ökonomischen Verhältnisse planvoll gesteuert werden sollten.“39 Dass die Politik planvoll gesteuert werden ‚sollte‘ – dies aber nicht immer gelang –, deutet aber überdies darauf hin, dass das im Laufe der Frühen Neuzeit stetig zunehmende Bemühen, Informa­tionen jeder Art zu sammeln, auch mit einem sich langsam wandelnden Verständnis von Herrschaft zusammenhängt. Schon für das 16. Jahrhundert ist partiell ein „Planungsphantasma“40 der Herrschenden zu erschließen. Erst recht für das 18. Jahrhundert muss mit „einer gewandelten Vorstellung vom Funk­tionieren, von der Struktur und von der Steuer­barkeit sozia­ler Organisa­tionen“41 gerechnet werden. Dieses P ­ lanungsphantasma führte auch zu 32 Obwohl sich um genau diese relativ enge Fassung des Bereichs des Politischen, also die Fokussierung auf kollektiv bindende Entscheidungen, in jüngerer Zeit eine Debatte entsponnen hat, scheint mir dies doch die plausibelste Defini­tion. Siehe in diese Richtung: Stollberg-­Rilinger, Kulturgeschichte des Politischen. Gegen diese Fokussierung auf Entscheidungen polemisiert: Landwehr, Diskurs; siehe zur Diskussion: Weidner, Geschichte des Politischen. 33 Siehe so zuletzt auch die monumentale Studie von: Rule/Trotter, World of Paper, 11 f. u.  371 – 434. 34 Vgl. Brennig, Zeit. 35 Vgl. Friedrich, Beobachten und beobachtet werden. 36 Vgl. Externbrink, Kommunika­tion. Zum Begriff des Denkrahmens siehe: Zwierlein, Discorso und Lex Dei. 37 Vgl. Niedhart, Aufgeklärter Absolutismus. 38 Vgl. Brewer, Sinews of Power, 221 – 249; Higgs, Informa­tion State. 39 Gottschalk, Wissen, 171. 40 Brakensiek, Verwaltungsgeschichte, 278. 41 Friedrich, Archive und Verwaltung, 376.

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einer Aufwertung des Themenkomplexes Sicherheit – weil man immer stärker der Meinung war, Sicherheit lasse sich zum Beispiel durch planvolle Informa­ tionsgewinnung herstellen, oder mindestens lasse sich dadurch Unsicher­heit minimieren.42 Spionage etwa konnte dabei (so eine der wenigen Studien, die sich auf die Frage nach ihren Funk­tionen überhaupt ernsthaft einlassen) eine Hilfsfunk­tion einnehmen: Sie war vor allem für die Defensive wichtig und wurde zur Absicherung genutzt.43 Das Sammeln von Informa­tionen diente zudem offenbar einer verstärkten Selbstdarstellung von Herrschaft und Herrschern als besonders ra­tional und wurde damit zum Instrument der Legitimitätsproduk­tion.44 Wenn Herrscher bestimmte arkane, etwa außenpolitische, Informa­tionen an ihre Bevölkerung weitergaben, war dies ebenso ein Legitimierungsversuch, der im Gegenzug aber die Mög­lichkeit schuf, die Herrscher zu kritisieren.45 Dennoch – und das erklärt die zunehmend systematisierte obrigkeit­liche Informa­tions- und Medienpolitik der späteren Frühneuzeit – ist auch dieser symbo­lische Nutzen als à la longue instrumentell positiv eingeschätzt worden.46 In anderen Kontexten – dies ist bei den Überlegungen zum Netzwerkbegriff bereits angeklungen – konnte Informa­ tion dazu dienen, eine Patronagebeziehung anzubahnen oder zu stabilisieren.47 Der Akt des Informierens war auch eine Loyalitätsbekundung.48 Spezifisch frühneuzeit­lich ist also der hohe Wert, der Patronagebeziehungen zugeschrieben wird und der oft eine Normenkonkurrenz von administrativem Funk­tionalismus und Patronagenorm hervorbringt.49 Informa­tion als Patronagewährung unterläuft eine zu eindeutige Unterscheidung ­zwischen instrumentellem und symbo­ lischem Handeln:50 Wenn Patronage auch für den Patron wie für den Klienten einen unbestreitbaren Nutzen besitzt, so muss doch dieser Nutzen weder für 42 Zu Sicherheit als Thema der frühneuzeit­lichen Geschichte siehe Kampmann/Mathieu, Sicherheit; Kampmann/Niggemann (Hrsg.), Sicherheit; de Graaf/Zwierlein, Historicizing Security. 43 Vgl. Kahn, Historical Theory, 10. 44 Vgl. Behrisch, Politische Zahlen, 571. 45 Vgl. Gestrich, Politik im Alltag, 12; siehe auch Böning, Weltaneignung, 113 f. 46 Vgl. Weber, Johannes, Novellen, 22; zur symbo­lischen Nutzung obrigkeit­licher Informa­ tion siehe auch: Fogel, Les cérémonies. 47 Vgl. generell: Droste, Patronage. 48 Vgl. Brendecke, Imperium, 200. 49 Vgl. Thiessen, Diplomatie und Patronage, 37; Brendecke, Buch der Beschreibungen, 355. 50 Vgl. zu dieser Differenz Stollberg-­Rilinger, Symbo­lische Kommunika­tion, v. a. 497 f.; zu dieser Unterscheidung, aber auch den Überschneidungen beider Aspekte, siehe Köhler, Strategie und Symbolik.

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den Patron noch für den Klienten in einem unmittelbar instrumentellen Nutzen bestehen bzw. die Funk­tionen von Informa­tion als Patronagewährung können durchaus divers ausfallen: Erwartet sich ein Patron davon vielleicht einen instru­ mentellen Nutzen im Hinblick auf informa­tionsbasiertes Handeln, so verfolgt der Klient andere instrumentelle wie symbo­lische Zwecke. Dabei, dies ist auch aus den Ausführungen über die neoinstitu­tionalistische Organisa­tionstheorie deut­lich geworden, können symbo­lische Funk­tionen durchaus sekundär dazu dienen, Zwecke zu erreichen. Bezieht man diese Überlegungen auf den Fall Marlborough, so ist daran zu erinnern, dass das meiste, was hier und im Folgenden über die Funk­ tionen der Informa­tionsgewinnung gesagt wird, von Marlborough und der eng­lischen Regierung, also von der Nachfrageseite her, gedacht ist. Es geht schließ­lich um deren Gewinnung von Informa­tion. Anders darstellen würde sich die Konstella­tion dann, wenn man von der Anbieterseite ausgehen würde, die ebenfalls partiell einbezogen werden muss, um zu klareren Aussagen über die generelle Funk­tionalität der Informa­tionsgewinnung zu gelangen. Lucien Bélys Trias von Geld, Liebe und Religion mag den Nachteil haben, die Funk­tionen des Angebots von Informa­tion auf letzt­lich psycholo­gische Motivlagen zu verkürzen,51 ist aber ein Hinweis darauf, dass die Funk­tionen, die Informa­tion/Informa­tionsgewinnung besaß oder die ihr zugeschrieben wurden, danach differieren konnten, ob man Anbieter oder Nachfrager war. Dies scheint offensicht­lich, ist aber im Hinblick zum Beispiel auf die Patro­ nageproblematik wichtig – wenn Informa­tionsanbieter Marlborough mit Informa­tionen versorgten, um Patronagebeziehungen anzubahnen, dann besaß die Informa­tion für Marlborough eine instrumentelle Funk­tion (im Hinblick auf die Nutzung der Informa­tion), für den Anbieter aber mög­licherweise eine symbo­lische (die Erlangung von Gunst) und nur sekundär instrumentelle (die Förderung spezifischer Anliegen). Es wäre denkbar, dass bestimmte Funk­tionen der Informa­tion vorzugsweise in eher formal und amtsmäßig organisierten Strukturen, andere eher in informellen Netzwerken erfüllt werden. Im Rückgriff auf das vorherige Kapitel und im Vorgriff auf die weitere Untersuchung kann aber bereits hier thesenhaft formuliert werden, dass eine klare und eindeutige Zuordnung von Funk­tionen zu Strukturen nicht erkennbar ist. Es gibt zwar bestimmte Tendenzen und Funk­tionsübergewichte innerhalb bestimmter Strukturzusammenhänge (so ist etwa Patronage als Funk­ tion von Informa­tionskontakten stärker in informellen Netzwerken als in formalen 51 Vgl. Bély, Espions, 52.

Funktionen der Information: Methodische Überlegungen

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Amtsbeziehungen angesiedelt), doch insgesamt ergibt sich ein Bild eines komplementären Nebeneinanders der verschiedenen Strukturen im Hinblick auf die zu erreichenden Funk­tionen, aber keine klare Zuordnung von Strukturen zu Funk­tionen. Die Komplementarität der Strukturen, ihre Koopera­tion und daher auch ihr nie eindeutiger und einsinniger Bezug auf Funk­tionen ist schon deshalb ein wichtiger Befund, weil dies im Rahmen etwa der Funk­tionstheorie Robert Mertons anders gesehen wird. Merton formulierte axiomatisch: „Structure affects func­tion and func­tion affects structure“52. Dies ist eine sehr zugespitzte These, die mit der oben zitierten Aussage Luhmanns (die Strukturen als „prekäre Übersetzungen“ von Funk­tionen charakterisiert 53) zusammenpasst und die im Folgenden zu überprüfen ist. Für den Fortgang der Untersuchung heißt dies, dass neben dem entscheidungsleitenden Nutzen von Informa­tion mindestens drei weitere Funk­tionen zu identifizieren sind: Sie dient der Vorsorge, der Unsicherheitsminimierung und dem Überblick; sie lässt sich als Patronagewährung gebrauchen; sie ist ein Symbol für Effizienz und Kompetenz, das für die eigene Legitima­tion nutzbar zu machen ist. All dies sind Funk­tionen, die in mehr oder minder strate­gischer Weise auch der Erreichung von Zwecken dienen können – nur sind dies andere Zwecke als derjenige der Entscheidung. Die vier Hauptfunk­ tionen der Informa­tionsgewinnung sollen im Folgenden am Quellenmaterial exemplifiziert werden; manchmal geschieht dies im Rückgriff auf verstreute Quellen­belege, die synthetisiert werden, manchmal auch mit Bezug auf besonders einschlägige Einzelbeispiele. Dabei sollen die ersten beiden Punkte – ‚Entscheidung‘ und ‚Vorsorge/Sicherheit‘ – gemeinsam behandelt werden, weil sie beide wenigstens potentiell auf eine instrumentelle Funk­tionalisierung von Informa­tion zielen; Informa­tionen, die zur Vorsorge und zur Absicherung gewonnen werden, sind ja mindestens dazu gedacht, in bestimmten noch unbekannten, unvorhersehbaren Situa­tionen entscheidungsrelevant werden zu können. Dies gilt für die Informa­tionen, die hier den Funk­tionen Patro­ na­ge sowie Kompetenz- und Legitimitätsrepräsenta­tion zugeordnet werden, nicht in derselben Weise.

52 Merton, Manifest and Latent Func­tions, 136. 53 Vgl. Luhmann, Zweckbegriff, 261.

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Funktionen der Information

4.2 Instrumentelle Funktionen von Information You never know what you‘re going to need when you need it. Dick Cheney You never know what is enough unless you know what is more than enough. William Blake

4.2.1 Nützlichkeit und Nutzung von Informationen

Dass Informa­tion auf instrumentelle Weise – also zum Handeln – nütz­lich ist, ist eine geradezu axiomatische Auffassung Marlboroughs und der eng­lischen Regierung.54 Allerdings wird diese Auffassung – wohl weil sie den Akteuren trivial erscheint – selten programmatisch geäußert. Wieder ist es Defoe, der, selbst ein Spion, den Nutzen von Informa­tion und Spionage besonders klar ausdrückt und diesen Nutzen auch in bestimmter Weise perspektiviert. Spionage sei dann besonders nütz­lich, wenn gleichzeitig feind­liche Spionage verhindert werde: „As intelligence abroad is so considerable, it follows in proporcion that the most usefull thing at home is secrecy; for, as intelligence is the most usefull to us, so keeping our enemyes from intelligence among us is as valluable a head.“55 In einem Brief an Godolphin betont Defoe den Nutzen gerade geheimer Informa­tionen als Instru­ ment einer arkanen Regierungspolitik, die für ein als public, als Öffent­lichkeit, angesprochenes Gemeinwohl agiere: „I kno (!) nothing can be more agreeable to your Lordshipp or more useful to the publick services than plain, naked, and unbyasst accounts both of persons and things, and your Lordshipp shall always find me endeavouring to act the honest rather than the artfull part in my accounts.“56 Und wieder sind es eher gewiefte Spionageorganisatoren als Politiker – näm­lich 54 Dies entspricht modernen Auffassungen zum Nutzen von Spionage. Interessanterweise ist in jüngerer Zeit das Konzept der „ac­tionable intelligence“ entwickelt worden, also einer Spionage, die durch ihre Effizienz von vornherein darauf ausgerichtet ist, handlungsleitend wirken zu können. Vgl. Krieger, Geschichte der Geheimdienste, 15. Der Ausdruck „ac­tionable intelligence“ belegt dabei zweierlei: erstens den Wunsch nach prompter Nutzung von Informa­tion, zweitens (implizit) den Umstand, dass dies nicht immer ganz einfach ist. 55 Warner, Unpublished Political Paper, 137. 56 Defoe an Godolphin, 20. Mai 1708, in: HMC Marlborough, 48.

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Jaupain und Caillaud –, die hin und wieder maximenartig ihre Einstellung dazu preisgeben, wie mit der überbordenden Menge von Informa­tionen umgegangen werden soll. Jaupain etwa, dies war oben bereits zitiert worden, äußerte M ­ arlborough gegenüber, es sei „mieux donner un avis superflux que d’en negliger un necessaire“57. Angesichts der Unsicherheit darüber, ­welche Informa­tionen nütz­lich sein könnten, sei es unumgäng­lich, so viele wie mög­lich zu sammeln. Eine ähn­liche Auffassung formuliert auch Caillaud: Es gebe zwar „des nouvelles qu’on regarde comme romanesque, et a quoy on ne fait pas d’aten­tion“, aber dies sei falsch: „en bonne Politique, on ne doit rien negliger, et qu’il faut faire usage de tout“58. Dass man allerdings kaum „usage de tout“ machen konnte, die eng­lische Regierung dies weder jemals vorhatte noch jemals tat, erinnert wieder an eine organisa­tionssoziolo­gische Beobachtung: Informa­tionsbeschaffer und Entscheidungsträger sind nicht identisch, und ihre Vorstellungen darüber, worin der generelle und spezifische Nutzen von Informa­tionen besteht, differieren mög­licherweise.59 Auch sonst wird in der Korrespondenz etwa z­ wischen Marlborough und ihm verbundenen Informanten unspezifisch auf die Nütz­lichkeit der jeweils gelieferten Informa­tion abgehoben. Allerdings geschieht dies meist im Konjunktiv: So weist Cardonnel Jaupain an, dieser möge Marlborough alles berichten, „que Vous croyerez lui puisse estre d’aucune utilité“60, oder auch eine besonders ertragreiche feind­liche Korrespondenz weiter interzipieren, „qui peut etre d’une grande u­ tilité“61. Ein Bewerber für den Posten eines Spions verweist gegenüber Sunderland auf die Nütz­lichkeit der von ihm prospektiv zu liefernden Informa­tionen für die Regierung;62 die Bezahlung für Caillaud wird mit Hinweis auf die Nütz­lichkeit seiner Spionage begründet,63 und Caillaud selbst bringt das naheliegende Argument der Nütz­lichkeit ins Spiel, als ihm gegen Ende des Krieges die eng­lische Regierung die Weiterbeschäftigung verweigern will.64 Dass in allen diesen Fällen von einer instrumentellen Nütz­lichkeit die Rede ist, liegt auf der Hand. Wenn „utilité“ behauptet wird oder eine Informa­tion als „useful“ eingeschätzt wird, ist immer gemeint, dass die vorliegende Informa­tion strate­gische oder taktische Bedeutung besitzt, kurz- oder langfristig also dazu 57 Jaupain an Marlborough, 6. Januar 1707, in: BL Add. 61264, 129r. 58 Caillaud an Blathwayt, 8. Januar 1704, in: BL Add. 38711, 3v–4r. 59 Vgl. Feldman/March, Informa­tion in Organisa­tions, 175 f. 60 Cardonnel an Jaupain, 3. Dezember 1709, in: BL Add. 61400, 50v. 61 Cardonnel an Jaupain, 24. März 1709, in: BL Add. 61400, 127r. 62 H. P. an Sunderland, 22. Februar 1709/10, in: BL Add. 61596, 68r. 63 Vgl. Blathwayt an Lowndes, 9. Juni 1697, in: Dedieu, Rôle politique, 336. 64 Vgl. Caillaud an Lewis, 21. Oktober 1712, in: Dedieu, Rôle politique, 355.

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dient, im Sinne des Sprechers ‚bessere‘ Politik zu machen. Dies wiederum heißt: bessere, richtige Entscheidungen zu treffen oder die Mög­lichkeit zu besitzen, Fehler zu vermeiden, also angesichts einer unüberschaubaren Lage und einer unklaren zukünftigen Entwicklung Unsicherheit zu minimieren. Marlborough und die eng­lische Regierung sehen sich sehr weitgehend im „decision mode“ und im „surveillance mode“, wenn sie auf die extensive Sammlung von Informa­tion dringen. Viel seltener als ­dieses – analog zum angesprochenen ‚Planungsphantasma‘ der Politik des 18. Jahrhunderts – vielleicht als ‚Nütz­lichkeitsphantasma‘ zu rubrizierende Phänomen findet sich aber die nachträg­liche Einschätzung, diese oder jene spezifische Informa­tion sei tatsäch­lich in ­diesem Sinne von Nutzen gewesen.65 Was lässt sich aber für Marlborough und die eng­lische Regierung über die Verarbeitung und Nutzung von Informa­tion überhaupt sagen? Um diese Frage zu beantworten, sollen die verschiedenen Schritte oder Stadien, aus denen sich ein so diffuses und komplexes Phänomen wie ‚Nutzung‘ zusammensetzt, analytisch getrennt und jeweils gesondert behandelt werden. Michael Kempe hat aus der Perspektive einer Wissensgeschichte der Spionage vier epistemische Opera­ tionen ausgemacht: das Sammeln von Informa­tion, ihre Analyse, ihre Beurteilung, schließ­lich ihre Verwertung.66 Als fünfte Opera­tion könnte man das Aufbewahren und Archivieren von Informa­tion nennen, die es mög­lich machen, s­ päter auf sie zurückzugreifen und langfristig aus ihr zu lernen.67 Allerdings sind diese fünf Opera­tionen anhand des Quellenmaterials der vorliegenden Studie kaum trennscharf und zufriedenstellend zu beleuchten. Dies mag daran liegen, dass (anders als im Fall des von Kempe analysierten, vor allem gegen innenpolitische Gegner eingesetzten Geheimdienstes Walsinghams im 16. Jahrhundert) die Informa­tionssammlung meist gerade nicht im ‚decision mode‘ stattfand. Daher erübrigten sich die Schritte von Analyse bis Verwertung zum Teil von vornherein. Kempe geht es um Walsinghams Überwachung 65 Vgl. als Beispiel Sunderland an Cadogan, 22. November 1709, in: BL Add. 61651, 195v, wo es heißt, Cadogan möge für die weitere Überwachung mög­licher franzö­sischer Aufrüstungen in Dünkirchen denselben Spion einsetzen wie im Kontext des Invasionsversuches aus dem vorherigen Jahr, „whose Intelligence prov‘d very usefull“. 66 Vgl. Kempe, Burn after Reading, 363 – 365. 67 So würde aus der Informa­tionsgewinnung, ähn­lich wie in der zyk­lischen Phasenheuristik der policy cycle-­Forschung, ein rekursives Geschehen, ein methodisch abgesichertes Vorgehen. Vgl. Blum/Schubert, Politikfeldanalyse; siehe auch: Hall, Policy Paradigms. Zum analogen intelligence cycle siehe knapp: Krieger, Geschichte der Geheimdienste, 15.

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verdächtiger Untertanen – deshalb beginnt bei Kempe für ­Walsingham das Erheben von Informa­tion in dem Moment, in dem ein Anfangsverdacht vorliegt, weswegen dann halbwegs spezifische Informa­tionen gesammelt werden, die diesen Verdacht erhärten sollen.68 Dies ist aber gerade nicht der Ausgangspunkt Marlboroughs und der eng­lischen Regierung. Sie sind nur im Ausnahme­fall auf spezifische, bereits im Vorfeld zu spezifizierende Informa­tionen aus. Stattdessen geht es ihnen beim Aufbau und Einsatz von Infrastrukturen, Organisa­tionen und Netzwerken, bei der Informa­tionsgewinnung auf politischer, diplomatischer und militärischer Ebene um die Erhebung mög­lichst vieler unterschied­ licher Informa­tionen, die nicht alle einem konkreten Nutzen gedient haben können, sondern vor allem für die Gewinnung eines Überblicks als notwendig erachtet wurden. Die Informa­tionen, die Diplomaten, Spione und Militärs um 1700 beschafften, umfassten ja ein äußerst großes Spektrum: von der landeskund­lichen Belehrung über dynastische Informa­tionen bis hin zu strate­gisch oder taktisch einschlägigen Informa­tionen über feind­liche Opera­tionen. In einem vielsagend „The Kinds of Informa­tion Which Interested Diplomats“ überschriebenen Abschnitt seines Buches weist William Roosen darauf hin, dass „the amount and variety of informa­tion which they wrote about cannot be overemphasized“69. Dabei interessiert sich Roosen nur für diplomatische Akteure im engeren Sinne – also eine kleinere Gruppe als die, um die es in der vorliegenden Studie geht. ­Marlborough äußerte gegenüber eng­lischen Politikern oder Heinsius immer und immer wieder den Wunsch, sich aus Politik und Krieg zurückzuziehen. War dies sicher auch ein politisches Druckmittel 70, so ist doch bedeutsam, dass er auch in privaten Briefen an seine Frau oder an Godolphin ständig von Überlastung sprach.71 Stellt man in Rechnung, dass informa­tion overload ein breit diskutiertes Phänomen der Zeit darstellt,72 wird vorstellbar, dass Marlboroughs Rückzugswunsch eben auch mit Informa­tionsüberlastung 68 Vgl. Kempe, Burn after Reading, 364. 69 Roosen, Age of Louis XIV, 143. 70 Vgl. Jones, Marlborough, 73; Speck, Birth of Britain, 11. 71 Vgl. Holmes, Marlborough, 308, der Migräneanfälle diagnostiziert. Auch schlechte Nachrichten drückten auf die Stimmung: „I find that every ill news has soe great an effect upon my temper, that if I continue serving, I shall bee very miserable.“ ­Marlborough an Sarah, 9./20. April 1703, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 166. 72 Vgl. zur Diskussion in der eng­lischen Literatur um 1700: Ellison, Fatal News. Das Problem ist bisher vor allem in wissensgeschicht­lichen Kontexten bearbeitet worden. Siehe Rosenberg, Early Modern Informa­tion Overload; Blair, Reading Strategies.

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oder doch mindestens mit einem relativ nachvollziehbaren Problem der aufmerksamkeitsökomischen Prioritätensetzung zu tun haben dürfte.73 Obwohl dies in den Quellen kaum explizit benannt wird (und ohne psycholo­gisch allzu wild spekulieren zu wollen), kann man zudem festhalten, dass die riesige Menge an Briefen es subjektiv wie objektiv schwierig machte, wichtige von unwichtigen Informa­tionen zu unterscheiden.74 Berichtet wurde das, was für wichtig gehalten wurde, und das, von dem man annahm, dass es der Adressat noch nicht wisse, es aber brauchen könne – so war in der Einleitung „Informa­tion“ definiert worden. Relevanzkriterien oder Suchstrategien waren daher nur im Einzelfall zu benennen; generalisieren ließen sie sich nicht, wollte man nicht die Gefahr heraufbeschwören, versehent­lich etwas Wichtiges zu vernachlässigen. Schon wegen dieser breiten Streuung ist es äußerst unwahrschein­lich, dass Informa­tionen nur mit der Absicht gesammelt wurden, direkt benutzt werden zu können – auch deshalb ist es so schwierig, ihre spezifische Funk­tion genau zu bestimmen.75 Eben wegen der Quantität, aber auch der diffusen und polymorphen Qualität der gewonnenen Informa­tionen ist es nicht mög­lich, die recht lineare Abfolge epistemischer Opera­tionen, die Kempe skizziert, am Fall Marlboroughs nachzuvollziehen. Dennoch können einzelne der Opera­tionen, wenn auch nur skizzenhaft, konturiert werden. Das Sammeln von Informa­tion als erste dieser fünf Opera­tionen hat im bisherigen Verlauf der Untersuchung im Vordergrund gestanden. War schon ihre Erforschung umfangreich und kompliziert, so war sie doch immerhin mög­lich; die Strukturen und auch die in ihrem Rahmen verwandten Praktiken der Informa­tionsgewinnung ließen sich einigermaßen deut­lich rekonstruieren. Für die anderen Schritte, die Kempe vorschlägt, gilt dies nicht in gleichem Maße. Schon der Aspekt der Analyse gestaltet sich nicht einfach (mit Analyse ist hier im Anschluss an Kempe die Zusammensetzung von Faktenwissen aus unterschied­lichen Informa­tionsquellen gemeint). Er fällt oft mit dem Aspekt der Bewertung zusammen und ist deshalb in der Darstellung nicht sinnvoll zu isolieren. Ich beginne also mit einigen Bemerkungen zu Analyse und Evalua­tion von Informa­tion, bevor der Bereich der Archivierung 73 Vgl. zum Komplex der Aufmerksamkeitsökonomie: Simon, Designing Organiza­tions; Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. 74 Siehe Kittler, Signal, 344: „Daß das Maximum an Informa­tion nichts anderes besagt als höchste Unwahrschein­lichkeit, macht es aber vom Maximum an Störung kaum mehr unterscheidbar.“ Zur Unterscheidung von Informa­tion und Störung/Rauschen/noise siehe auch Luhmann, Sozia­le Systeme, 197. 75 Vgl. Roosen, Age of Louis XIV, 143 – 148.

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von Informa­tionen skizziert werden soll. Dem Problem der praktischen Verwertung (zum Beispiel im Rahmen einer politischen Entscheidung) widmen sich die Kapitel 4.2.2 und 4.2.3. Lässt sich überhaupt nachvollziehen, wie Informantenberichte – z. B. Briefe von Spionen – gelesen wurden? Die Quellen geben hierfür wenig konkrete Hinweise. Obwohl um 1700 im gelehrten Bereich bereits eine Vielzahl elaborierter Praktiken des Lesens bereitstanden, die durchaus auch zum Kernbestand administrativer Praxis gehörten (etwa das Anfertigen von Regesten oder Exzerpten zur Weiterverwendung)76, sind doch gerade in den Spionageberichten, die Marlborough oder Sunderland vorlagen, kaum Spuren dieser aktiven Lesepraxis zu entdecken. Hin und wieder finden sich zwar handschrift­liche Anstreichungen oder Vermerke, aber es ist offenkundig, dass in der überwältigenden Zahl aller Fälle die Berichte und Briefe zwar (mög­licherweise) gelesen wurden, dass aber vor allem ein Themenbereich ein intensiveres Interesse eng­lischer Regierungsmitglieder fand: die Gefahr einer franzö­sisch-­jakobitischen Invasion und, damit zusammenhängend, die Größe und Ausrüstung der franzö­sischen Kriegsflotte. Dies ist der Bereich, in dem in größerem Umfang Rand­notizen und Unterstreichungen auftreten.77 Im Vorfeld der Dünkirchen-­Invasion im Frühjahr 1708 schreibt auch Caillaud selbst Kurzregesten, um die Aufmerksamkeit der regierungsseitigen Leser auf Kernaussagen zu lenken; er formuliert dort Hypothesen im Hinblick darauf, was sich vor seinen Augen entwickelt: „Il n’est pas a douter ou l’ennemy a quelque dessein, soit en Angleterre, Ecosse, soit sur les cotes d’Hollande […] J’ay Escrit pour qu’on ait soin de nous jnformer de toutes choses autant qu’il ce poura Les penetrer en France.“78 Auch außerhalb ­dieses Themenbereiches war es Caillaud, der (im Hinblick auf die katastrophale Finanzsitua­tion Frankreichs im Jahr 1709) zuweilen die Berichte seiner Spione mit Bemerkungen wie „ce sy merite atten­tion“ versah, um die Rezep­tion der eng­lischen Regierung zu lenken oder um deut­lich zu machen, was er sich von der eng­lischen Regierung erhoffte.79 Sunderland und seine Mitarbeiter dagegen interessierten sich – soweit man dies aus Anstreichungen schließen darf – auch nach dem Frühjahr 1708 vor allem für die Mög­lichkeit eines nochmaligen 76 Vgl. Zedelmaier, Buch; Vismann, Akten, 169 – 179; Blair, Reading Strategies. 77 Vgl. z. B. aus den Newsletters des Caillaud-­Spions „Martine“, BL Add. 61557, 102v. 78 Caillaud an Sunderland, 28. Februar 1708, in: BL Add. 61551, 17v–18r. 79 Caillaud an Sunderland, 23. Juli 1709, in: BL Add. 61564, 164r. Luhmann, Soziolo­gische Aspekte, 597, sieht in der Formulierung spezifischer „Entscheidungserwartungen“ sogar einen der wichtigsten Aspekte von Informa­tion bzw. eines der wichtigsten Motive desjenigen, der Informa­tionen beschafft.

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Invasionsversuches.80 Insgesamt gewinnt man auch hier wieder den Eindruck, dass der hugenottische Spionageunternehmer Caillaud sich viel umfassender für die Gesamtsitua­tion des Krieges und den Zustand seines Heimatlandes Frankreich interessierte als die eng­lischen Under-­Secretaries, deren Anstreichungen jedenfalls ausschließ­lich auf die Frage der franzö­sischen Marinestärke und eine Invasionsgefahr zielten. Dieser Bereich der Beobachtung franzö­sischer Häfen und Flottenaktivitäten ist im Übrigen auch das einzige Thema, das die Secretaries dazu veranlasste, ihre Spionageberichte häufig, allerdings in unregelmäßigen Abständen, zur Kenntnisnahme an die Commission of the Admiralty zu ­schicken.81 Auch umgekehrt versorgte die Admiralitätskommission die Secretaries of State manchmal mit Spionageberichten, die diese dann zum Beispiel auch Marlborough zugäng­lich machten.82 Hier liegt also Informa­tionsaustausch z­ wischen verschiedenen Zweigen der Regierung vor, der durchaus routinemäßig ablief, aber nicht den Normalfall darstellte. Damit kann bereits zum zweiten Punkt in Kempes Stadienschema, der Evalua­ tion von Informa­tion, übergegangen werden. Wie bewertet man Informa­tion, vor allem im Hinblick auf die fundamentalste aller Fragen: Stimmen die ­Infor­ma­tionen? Wie geht man mit d ­ iesem Problem um, wenn für eine gegebene Informa­tion oft nur ein einziger Bericht vorliegt und wenn langwierige Evalua­tionsopera­tionen in manchen Fällen schon deshalb ausfallen müssen, weil das Spionagegeheimnis gerade im Krieg unter Zeitdruck gewonnen wird und genutzt werden soll? „Ein großer Teil der Nachrichten, die man im Kriege bekömmt“, heißt es noch bei C ­ lausewitz, „ist widersprechend, ein noch größerer ist falsch und bei weitem der größte einer ziem­lichen Ungewißheit unterworfen.“83 Kempe bezeichnet das aus vor allem geheimer Informa­tionsgewinnung stammende Wissen insofern auch als „suspektives Wissen“ – „ein Wissen, das den Selbstzweifel kaum je ganz abzuschütteln 80 Siehe den Brief Caillauds vom 23. November 1708, wo der Leser folgenden Satz unterstrichen hat: „L’on parle mesme sourdement du renouvellement de l’entreprise du petit Roy Jacques, qui doit diton aller incognito à Brest“ (BL Add. 61557, 177r). 81 Siehe die vom Under-­Secretary oder einem Clerk stammende Randbemerkung „sent to admiralty“ o. ä., in: BL Add. 61498, 137r; BL Add. 61548, 117v, 120r u. passim; BL Add. 61549, passim; BL Add. 61551, passim; BL Add. 61553, 164v, 184v, 196v u. Ä.; BL Add. 61557, 102v; BL Add. 61561, 10v; BL Add. 61653, 130r. Zur Informa­tionsgewinnung der Admiralität siehe knapp: Hattendorf, England, 36. 82 Siehe Boyle an Marlborough, 25. August 1710, in: BL Add. 61130, 169r sowie Josiah ­Burchett, Secretary of the Admiralty, an Sunderland, 5./16. Februar 1707/08, in: BL Add. 61582, 56r; Pringle an Burchett, 13. Juni 1710, in: BL Add. 61653, 214r. 83 Clausewitz, Vom Kriege, 92. Zum berühmten ‚Nebel‘ des Krieges, der aus dieser Situa­ tion erwächst, siehe ebd., 65.

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vermag, ein Wissen mit dem Index des Fragwürdigen, des Trügerischen“84. Ist unter solchen Bedingungen überhaupt Verifika­tion mög­lich?85 Vormoderne Politiker besaßen kaum Mög­lichkeiten, aus der Vielzahl eingehender Informa­tionen sicheres Wissen zu generieren, waren überdies mit Gerüchten und Halbwissen konfrontiert und wussten dies auch.86 Für die Regierung in London bedeutete dies noch mehr als für den auf dem Kriegsschauplatz stehenden Herzog von Marlborough: „Our world heer is full of storys, […] but it is hard to judg (!) without hearing the circumstances & what can be alleag’d on both sides.“87 Auch die oben beschriebene mangelnde Ausdifferenzierung dessen, was überhaupt als Informa­tion angefordert und geliefert wurde, machte eine diffe­ renzierte Evaluierung schwierig. Zwar war auch Marlborough, und dies ist bei den Ausführungen etwa über Newsletters deut­lich geworden, an den euro­päischen „Nachrichtenhimmel“ angeschlossen. So nennt Cornel Zwierlein die politisch-­ mediale Konfigura­tion, die seit dem 16. Jahrhundert „ein ständig aktualisiertes Bild von großen Teilen Europas“ generierte, „das zudem an allen Empfangsposi­tionen weitgehend identisch war“.88 Hätte man sich Zeit gelassen, hätte der Nachrichtenhimmel einem nach und nach fast alle Informa­tionen präsentiert, die man hätte wissen wollen, und dabei auch Falschinforma­tionen sukzessive aussortiert. Doch die Zeit, Informa­tionen sorgfältig zu evaluieren – etwa durch das Einholen zweiter, dritter, vierter Augenzeugenberichte –, fehlte im Krieg nicht selten, und zwar nicht nur im unmittelbaren militärischen Kontext. Das gesamte Informa­ tionserhebungsverhalten der eng­lischen Regierung und Marlboroughs fand angesichts der Kriegssitua­tion unter Hochdruck statt. Alles wurde immer als sehr wichtig und als sehr dring­lich empfunden. Es mangelte nicht am Willen zur sorgfältigen Evaluierung, sondern an Zeit dafür.89 Die allgegenwärtigen Klagen über die Langsamkeit und Unzuverlässigkeit der Post sind ein besonders hervorstechendes Indiz für diese Empfindung von Zeitdruck. In der Forschung ist sowohl die Rede von

84 Kempe, Burn after Reading, 363. Die berüchtigte Aussage des früheren US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld mag politisch fragwürdig sein, trifft aber in der Sache zu: „There are known knowns; there are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also unknown unknowns – there are things we do not know we don‘t know.“ 85 Skeptisch dazu: Horn, Der geheime Krieg, 31. 86 Vgl. Roosen, Age of Louis XIV, 157. 87 Harley an Marlborough, 6./17. Juni 1704, in: BL Add. 61123, 12r. 88 Zwierlein, Discorso und Lex Dei, 278. 89 Siehe Horn, Der geheime Krieg, 135: „Im Kriegsgeheimnis geht es nicht mehr um die Differenz wissen/nicht wissen, sondern um früher/später wissen.“

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einem „strukturellen Nachrichtendefizit“90 als auch von einem „zumeist herrschende(n) Nachrichtenchaos“91. Beides trifft wohl zu: Die Beschaffung von (immer als zu wenig erscheinenden) Informa­tionen und die Bändigung der (dann immer zu unübersicht­lichen) Informa­tionssitua­tion gelang nur partiell. Vor ­diesem Hintergrund trifft es sowohl zu, dass die Akteure zu viele Informa­tionen besaßen (die sie nicht vernünftig verarbeiten konnten) als auch zu wenig (weil ihnen Informa­tionen zur Bewertung anderer Informa­tionen fehlten). Die große Vielzahl von Informa­ tionen schloss gerade nicht aus, dass konstant darüber geklagt wurde, man habe zu wenig davon: Informa­tionsgewinnung, das zeigen organisa­tionssoziolo­gische wie historische Studien, wird immer als defizitär eingeschätzt.92 Welche Evalua­tionsmög­lichkeiten standen hinsicht­lich ­dieses inhalt­lich diffusen und epistemolo­gisch unklaren Wissens sowie eines subjektiv empfundenen Zeitdrucks überhaupt zur Verfügung? Was jedenfalls nicht zur Verfügung stand, waren institu­tionalisierte, formalisierte Mechanismen der Evalua­tion, schon gar nicht ­solche, die alle der Regierung zugehenden Informa­tionen zentral ausgewertet hätten. Um die begrenzten vormodernen Mög­lichkeiten der Analyse und Bewertung klar zu konturieren, ist es hilfreich, sie vom (post)modernen Ansatz der Big Data abzugrenzen. Dies ist deshalb nicht abwegig, weil Big Data ja vor allem dadurch definiert ist, dass die Menge an gesammelten und der Analyse zugrunde gelegten Daten sehr groß ist – und auch die Informa­tionsflut, der sich die eng­ lische Regierung um 1700 gegenübersah, als überwältigend groß (gleichzeitig aber als diffus und defizitär) empfunden wurde. Während es aber in der Gegenwart darum geht, aus einer großen Zahl homogener Daten statistische Muster abzulesen, also gerade nicht auf individuelle Ausprägungen zu achten,93 kann – dies ist trivial, aber wichtig – vormoderne Informa­tionsanalyse nicht nach statistischen Mustern suchen, sondern muss im Gegenteil Einzelfälle je separat analysieren. Doch selbst in dieser Hinsicht ist die Vorgehensweise der eng­lischen Regierung kaum als methodisch zu bezeichnen. Insgesamt ergeben sich hinsicht­lich der Frage nach ‚Nutzung‘ von Informa­tion vor allem zwei Charakteristika: näm­ lich die weitgehend ad hoc verfahrende Vorgehensweise der eng­lischen Regierung und Marlboroughs und ein sehr niedriger Grad an Systematisierung der Informa­tionsnutzung. Die Informa­tionsevalua­tion der eng­lischen Regierung blieb punktuell und spezifisch, d. h. auf je einzelne Informa­tionen bezogen. Einzelne Akteure evaluierten auf der Grundlage ihrer verschiedenen Informa­tionsquellen, 90 Gestrich, Absolutismus, 137. 91 Anklam, Wissen, 159. 92 Vgl. Friedrich, Delegierter Augenschein, 129. 93 Vgl. Boyd/Crawford, Critical Ques­tions.

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gegebenenfalls auch gemeinsam, die Informa­tionen. Die Schwierigkeiten der Evaluierung sind wohl ein Hauptgrund dafür, dass die von der Forschung manchmal gezeichnete Sonderstellung Marlboroughs und auch die Vorstellung eines von der eng­lischen Regierung unabhängig agierenden Informa­tionssystems nicht zutreffen dürfte: Marlborough brauchte näm­lich nicht nur zum Sammeln von Informa­tion, sondern auch für deren Bewertung die Informa­tionskanäle anderer Regierungsmitglieder. Allerdings wurden die Evaluierungsmechanismen nicht aus sozia­len oder politischen Beziehungen entbettet; sie blieben gebunden an die persön­liche oder politische Nähe z­ wischen den Akteuren. Das heißt: Marlborough tauschte sich mit Godolphin aus – aber auch mit den Secretaries of State, vor allem aber dann, wenn sie ihm persön­lich oder politisch nahestanden. Informa­tionsbewertung fand vor allem auf zwei Arten statt: erstens durch den Abgleich von Informa­tionen, zweitens durch die Einschätzung des Informanten. Daneben stand drittens die Lektüre von interzipierten feind­lichen Briefen – die schon deshalb hochgeschätzt wurden, weil sie authentisch wirkten und dies auch meistens waren. Damit boten sie in einer Situa­tion, in der Evalua­tion nur schwierig durchzuführen war, den Vorteil, hinsicht­lich ihres Informa­tionsgehaltes nicht mehr weiter evaluiert werden zu müssen.94 Interzipierte Briefe konnten wegen ­dieses unterstellten epistemolo­gischen Status eingesetzt werden, um ihrerseits andere Informa­tionen zu bestätigen.95 Ähn­lich wurden auch gedruckte Zeitungen genutzt.96 Beim Abgleich mög­lichst mehrerer Informa­tionen zum selben Themenbereich ging es darum, erhaltene Informa­tionen mittels anderer zu bestätigen,97 aber auch um „Überschneidungswissen“, also um die Zusammensetzung von Informa­ tionen aus verschiedenen Quellen zu einem Gesamtbild.98 Die Korrespondenten 94 Allerdings mussten sie manchmal erklärt und interpretiert werden. Vgl. ­Marlborough an Sunderland, 28. Januar 1708/09, in: BL Add. 61494, 107r: „You will by this post receive […] the copies of three letters from Mons.r de Bergieck, if you please to keep them till my arrivall in England I shall be able to explain some part of them, which is not to be done so well by letter.“ 95 Vgl. z. B. Marlborough an Heinsius, 3. September 1704, in: The Correspondence 1701 – 1711, 129; Sunderland an Lawes, 17. Mai 1709, in: BL Add. 61651, 165v. Dort heißt es über einen interzipierten Brief, man ersehe aus ihm, „that the victory they boast of in Portugal, is not near so considerable as the other letter would make it appear to be“. 96 Marlborough an Godolphin, 3./14. Oktober 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 700: „I send you one shete of the Paris Gazet, that you may see what thay say of the affaires of Spain. I hope you will have better news from that country by the way of Portugale.“ 97 Vgl. Hattendorf, England, 31. 98 Vgl. Hahn, Geheim, 36.

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Marlboroughs wussten, dass ihre Berichte selten exklusiv rezipiert wurden. Eine Standardformulierung für diese Situa­tion lautete: „Your Grace will likewise hear from other hands […]“99. Mehrere gleichlautende Berichte erhöhten die Glaubwürdigkeit einer Informa­tion dramatisch.100 Der Ver- und Abgleich verschiedener, auch auf verschiedenen Wegen gewonnener Informa­tionen stellte eine Standardpraxis innerhalb der verschiedenen Zweige der eng­lischen Regierung dar;101 zusätz­lich g­lich Marlborough seine Spionageinforma­tionen mit Heinsius ab.102 Schon aus d ­ iesem Grund ist eine eindeutige Zuordnung von bestimmten Informa­tionsstrukturen zu bestimmten Funk­tionen (wie dies oben mit dem Merton-­Diktum eingeführt wurde) nicht plausibel. Die Strukturen der Informa­ tionsgewinnung wurden komplementär genutzt. Der Abgleich verschiedener Informa­tion musste besonders dann Anwendung finden, wenn Informa­tionen von einem weit entfernten Kriegsschauplatz erlangt werden sollten, vorzugsweise von der Iberischen Halbinsel. Für die süd­ lichen Nieder­lande war Marlboroughs Informa­tionslage naturgemäß viel besser. ­Marlborough und Godolphin hielten sich gegenseitig auf dem Laufenden darüber, wer von beiden Newsletters aus Portugal zuerst erhielt;103 doch für die spanische Situa­tion wurden daneben auch Korrespondenten aus Frankreich herangezogen.104 Für den italienischen Schauplatz ist dieser Abgleich verschiedener Kanäle ebenfalls 99 Blathwayt an Marlborough, in: BL Add. 61133, 61r u. ö. 100 Siehe Lawes an Sunderland, 29. Juni 1709, in: TNA SP 77/58, 119v–120r: „The inclosed Advice of the French Troops being recall‘d from Spain, comes from the Envoy of Sweden at Paris to a person here. The Internonce at this Place has the like Intelligence, and Count Sinzendorff is of opinion, it may be true.“ 101 Vgl. z. B. Hedges an Marlborough, 2. Oktober 1705, in: BL Add. 61122, 29r. 102 Vgl. Marlborough an Heinsius, 4./15. Januar 1703/4, in: The Correspondence 1701 – 1711, 99. Vgl. ähn­lich auch z. B. Heinsius an Marlborough, 27. Mai 1704, in: ebd., 107. 103 Vgl. The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 142 (4./15. November 1702). 1 04 Vgl. Marlborough an Godolphin, 8. Oktober 1702, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 123: „I could wish with all my heart you had better news from Cadiz then I am afraid you will, for thoe I doe not give credit to what is write from Paris, yet I doe not like there naming the day our men returned on shipeboard […]“. Siehe auch: Godolphin an Marlborough, 29. April 1707, in: ebd., Bd. 2, 757: „The French letters tell us wee may expect every day to hear of battell in Spain.“ Vgl. ebenfalls: ­Marlborough an Harley, 2. Oktober 1705, in: Letters and Dispatches, Bd. 2, 288: „We have no confirma­tion yet of the news I sent you the last post from Catalonia; but as the Paris letters are silent as to the affairs of those parts, it is a very good sign they go well on our side.“ Siehe ähn­lich auch Marlborough an Harley, 17. Mai 1706, in: ebd., Bd. 2, 513; Marlborough an Harley, 2. August 1706, in: ebd., Bd. 43; Hedges an Marlborough, 18. September 1705, in: BL Add. 61122, 19r.

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oft beobachtbar.105 Allerdings war immer in Rechnung zu stellen, von wem genau bestimmte Informa­tionen über die weit entfernten Kriegsschauplätze stammten: Kamen sie – unbestimmt – „from the French“ (also nicht zwangsläufig von pro-­ alliierten Spionen), wurden sie mit Vorsicht behandelt.106 In dieser unsicheren Situa­tion konnte das Fehlen oder Ausbleiben von Informa­ tion sowohl Positives als auch Negatives bedeuten – je nach der Erwartungshaltung der Akteure. War aus dem franzö­sischen Feldlager in Flandern zum Beispiel nichts Neues über die Situa­tion in Spanien oder Italien zu erfahren, konnte dies als eher gutes ­­Zeichen gewertet werden.107 Wartete man auf Nachrichten über eine Schlacht in Spanien, von der man – wie im Falle von Barcelona im Jahr 1706 – nicht viel erhoffte, konnte das Ausbleiben von Briefen darauf hindeuten, dass es schlecht stand.108 Hatte man selbst schlechte Nachrichten, erhoffte man sich vom Briefpartner auf der anderen Seite des Ärmelkanals bessere.109 Wann allerdings eine partikulare Informa­tion zu einem begründeten und gerechtfertigten Wissen wurde, blieb kontingent. So erklären sich umständ­liche Formulierungen wie die aus einem Brief Marlboroughs an Raby, in dem er angesichts einer Mailänder Nachricht über einen alliierten Sieg in Spanien schrieb, sie sei „I hope well enough grounded to congratulate with you upon it“110. Wichtig, aber nur im Einzelfall mög­lich, war neben der eigenen Nutzung von Informa­tion auch die Aufklärung feind­licher Desinforma­tionsversuche, die ebenfalls Teil der Informa­tionsevalua­tion darstellte: Als Marlborough etwa im November 1710 einen angeb­lichen Brief des Mailänder Gouverneurs Graf ­Colmenero erhielt, der scheinbar hochwichtige Geheimnisse enthielt, konnte er 105 Vgl. nur: Marlborough an Godolphin, 7./18. September 1706, in: The Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 2, 671. 106 Vgl. Marlborough an Godolphin, 10. Mai 1706, in: Letters and Dispatches, Bd. 3, 357. 107 Vgl. Marlborough an Harley, 22. August 1707, in: Letters and Dispatches, Bd. 3, 525 f.: „We have nothing yet directly from Provence, nor anything material by the Paris letters, but a trumpeter of M. Vendôme’s who came in this evening from the French camp, assures us they are in the like ignorance there, which makes me hope we shall soon have good news from these parts.“ Siehe auch: Marlborough an Godolphin, 2./13. September 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 666: „Wee have all the reason imaginable by the silence of the French to expect good news from Italie.“ 108 Vgl. Godolphin an Marlborough, 6. Mai 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Corres­ pondence, Bd. 1, 537: „We are yett without letters from you and consequently still in pain for the fate of Barcelona.“ 109 Vgl. Marlborough an Godolphin, 31. August/11. September 1702, in: The Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 1, 111. 110 Marlborough an Raby, 21. August 1710, in: Letters and Dispatches, Bd. 5, 109.

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die Angelegenheit durch eine Nachfrage bei Colmenero selbst, aber auch durch einen von Prinz Eugen durchgeführten Schriftvergleich des ‚echten‘ mit dem ‚falschen‘ Colmenero aufklären.111 Nach Ansicht eines Biographen war gezielte Desinforma­tion auch eine „standard practice“ Marlboroughs selbst, die sich allerdings außerhalb des Kontextes des lange geheim gehaltenen Donaufeldzuges selten nachweisen lässt.112 Dass angesichts der Schwierigkeiten, trotz der Vielzahl von Informa­tions­ kanälen eine partikulare Informa­tion zu evaluieren, und angesichts des subjektiv empfundenen Zeitdrucks oft auf die Bewertung von Informanten statt auf die Bewertung ihrer Informa­tionen gesetzt wurde, ist oben bereits angedeutet worden. Bei der Rekrutierung neuer Informanten wurde darauf geachtet, dass sie in eine bereits mög­lichst lange bestehende, der Regierung bekannte Struktur (etwa ein bekanntes Spionagenetzwerk) eingebunden waren. Man vertraute einer spezifischen Informa­tion eines spezifischen Informanten am ehesten dann, wenn man der Struktur, in die er eingebunden war, ein generelleres „Systemvertrauen“ entgegenbringen konnte.113 Dies entsprach der generellen Präferenz der eng­ lischen Verwaltung (jeder Verwaltung?) für „the strict reliance upon precedent and thus the priority given to continuity and stability in the administrative process“114. Das heißt: Mangels besserer Evaluierungsmethoden und unter Zeitdruck spielte Vertrauen „als die Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen“115, eine eminente Rolle. Und zwar galt dies generell, auch über den Bereich der Rekrutierung neuer Spione hinaus. Vertrauenswürdigkeit musste auf allen Ebenen hergestellt und betont werden. Caillaud stellte gegenüber skeptischen Regierungsmitgliedern immer wieder die „solidité“ seiner Informa­tionen und damit auch die Vertrauenswürdigkeit seiner 111 Vgl. Marlborough an St. John und an den Grafen Colmenero, 2. u. 3. November 1710, in: Letters and Dispatches, Bd. 5, 204 f. u. 207. 112 Vgl. Chandler, Marlborough, 114. Ebenfalls nur punktuell zu zeigen sind eng­lische oder franzö­sische Initiativen, jeweils abgefangene Briefe zu veröffent­lichen: zur Diskreditierung des Gegners oder um in der Allianz Unfrieden zu säen. Vgl. dazu Marlborough an Heinsius, 20./31. Januar 1710, in: The Correspondence 1701 – 1711, 481. Siehe zu dieser Praxis auch Weber, Arkanum, 71. – Ein ähn­licher Fall (ein interzipierter Brief C ­ hamillarts an Berwick, der in England veröffent­licht wurde) findet sich bei Crull, Compleat History, 506 – 513. Allerdings ist hier schwer nachzuvollziehen, ob es sich um einen echten interzipierten Brief oder eine propagandistische Fälschung handelt. Die Praktiken der Desinforma­tion scheinen insgesamt seltener zu sein, als man vielleicht annimmt. 113 Vgl. Luhmann, Vertrauen, 46. Siehe auch: Luhmann, Sozia­le Systeme, 181. 114 Marshall, Sir Joseph Williamson, 30. 115 Simmel, Soziologie, 393.

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Person heraus (die er zugleich durch Berufung auf andere Regierungsmitglieder zu validieren suchte).116 Wenn es nicht um die Spionageorganisatoren, sondern die Informanten selbst ging, wurden Formulierungen wie die bereits genannten eingesetzt: Die Informa­tionen stammten „from a good hand“117, „from a very good hand“118 oder ausnahmsweise auch einmal „from no certain hand“119. Alles dies war für den Empfänger nicht nachzuprüfen – es musste Vertrauen zugeschossen werden. Wenn ein Informant einmal erfolgreich gearbeitet hatte, wurde er dementsprechend wieder eingesetzt, ja es wurde – eben wegen des Vertrauensproblems – sogar darauf gedrungen, ihn wieder einzusetzen. Aus Sorge über neue Invasionsversuche von Dünkirchen aus stellte Marlborough im Jahr 1709 sicher, dass der bewährte letztjährige Informant wieder eingesetzt wurde: „You may be sure that care shall be taken to know what passes at Dunkerk for the same man that gave the intelligence the last yeare has his allowance continued.“120 In einer unübersicht­lichen Welt war ohne Vertrauen also nicht auszukommen. Angesichts der beschriebenen Bedingungen fällt umso mehr auf, wenn doch einmal eine umfassendere, methodisierte Evalua­tion stattfand. Im Rahmen dieser Studie ist vor allem eine Episode von Interesse, die den jakobitischen Invasions­ versuch von 1708 betrifft. In ­diesem Fall scheinen – dies zeigt die abgewehrte Invasion – die Informa­tionsgewinnung und die ihr folgenden Entscheidungen effizient gewesen zu sein. Angesichts seiner strukturierenden Funk­tion für das politische Feld Englands im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts 121 ist es kaum erstaun­lich, dass es gerade ­dieses Thema war, dass zum seinerseits hochgradig partei­politisch aufgeladenen Versuch einer systematisierten Informa­tionsevalua­ tion führte. Charakteristischerweise fand aber diese organisierte Evalua­tion ex post statt – also nicht im Verlauf der oder kurz nach der Informa­tionserhebung selbst, sondern deut­lich ­später, mit einem viel größeren Überblick und unter Einbeziehung aller nur mög­lichen Quellen. Die Frage, ob man die richtigen Entscheidungen zur Abwehr der Invasion getroffen habe, stellte sich dabei weniger 116 Siehe z. B. Caillaud an Nottingham, 30. Juni 1702, in: Dedieu, Rôle politique, 343. 117 Vgl. z. B. Lawes an den Under-­Secretary Tilson, 4. Juli 1708, in: TNA SP 77/57, 329v; Lawes an Tilson, 23. Dezember 1709, in: TNA SP 77/58. 118 Vgl. z. B. Stepney an Addison, 21. März 1707, in: BL Add. 61534, 129r; Lawes an ­Sunderland, 3. März 1708, in: TNA SP 77/57, 243r. 119 Lawes an Sunderland, 13. Juni 1709, in: TNA SP 77/58, 97r–v. 120 Marlborough an Godolphin, 30. Juni/11. Juli 1709, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 2, 1298. Allerdings kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, wer dieser Spion war; siehe dazu Kapitel 3.3.1. 121 Vgl. Bennett, English Jacobitism.

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als die Frage, ob man sie früh genug getroffen habe. Diese Frage erschien den Debattenteilnehmern ganz wesent­lich als eine Frage nach dem Zeitpunkt, zu dem bestimmte Informa­tionen verfügbar gewesen waren. Im Dezember 1708 bat das House of Lords – zeitgleich auch das House of Commons – darum, umfäng­lich darüber informiert zu werden, was zu welchem Zeitpunkt im Frühjahr desselben Jahres über die Dünkirchener Aufrüstungen bekannt gewesen war – schon um einer Wiederholung gegebenenfalls besser begegnen zu können.122 Die Lords, so spezifizierten sie im Januar, wollten wissen, „what Time Her Majesty had First Notice of the intended Invasion on Scotland? What Orders were thereupon given in rela­tion to Scotland?“123 Aus einer Kabinettsmitschrift Sunderlands vom 6. Januar 1708/09 geht hervor, dass er diese Papiere einreichen sollte. Die Admiralität sollte „all the intelligences that were given of the design’d invasion“ zusammenstellen, aber auch „copies of all the orders that were given from the first news of the design’d invasion“ vorbereiten. Zusätz­lich nahm sich Sunderland vor, auch die Korrespondenz mit Lawes noch einmal durchzusehen.124 Im Februar 1709 wurden die umfangreichen Papiere verschiedener Behörden beiden Häusern zur Prüfung vorgelegt.125 Nach einigen Diskussionen kamen beide Häuser Anfang März 1709 zu dem Schluss, dass alles ordnungsgemäß abgelaufen sei.126 Der Hintergrund dieser Untersuchung war der Wahlsieg der Whigs von 1708, die von der antijakobitischen Paranoia profitiert hatten. Allerdings verlief die Untersuchung schon deshalb einigermaßen moderat, weil einige der noch amtierenden Whig-­Minister bereits 1708 im Amt gewesen waren: Man wollte also die antijakobitische Stimmung weiter anheizen, den Ministern aber nicht zu sehr schaden. Die Whig-­Minister selbst sahen schon in der leisesten Gefahr einer erneuten Invasion (und noch mehr in einer verfrühten öffent­lichen Diskussion darüber) ein ökonomisches Risiko: „the least attempt of that kind would give such a

122 Journal of the House of Lords, Bd. 18, 23. Dezember 1708. 123 Journal of the House of Lords, Bd. 18, 12. Januar 1709. 124 Vgl. Sunderlands Mitschrift in: BL Add. 61499, 101r. In den Papieren der Staatssekretäre findet sich auch ein Text, in dem – wohl zur Vorbereitung der geplanten Unter­ suchung – einer der Under-­Secretaries Boyles die Informa­tionen, die über die Diplomaten in Den Haag und Brüssel gewonnen wurden, zusammenstellte. Siehe TNA SP 84/574, 220r–240r. 125 Vgl. Journal of the House of Lords, Bd. 18, 13. Februar 1709. 126 Siehe Journal of the House of Lords, Bd. 18, 2. März 1709; The History and Proceedings of the House of Commons, Bd. 4, 8. März 1709, sowie: The London Diaries of William Nicolson, 482, Anm 81.

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terrible shock to creditt.“127 Der wegen anderer Gründe abgesetzte Secretary ­Harley unterstellte Marlborough und seinen Mitstreitern in einem unveröffent­lichten Text verzögerte Entscheidungen und gleichzeitig jakobitische Sympathien.128 Der rigoros antijakobitische Tory (ehemals Whig) Haversham dagegen attackierte die Regierung öffent­lich: Die Minister hätten der Königin Informa­tionen vorenthalten; die Gefahr sei noch lange nicht vorbei.129 Überdies hätten die Lords die angeforderten Papiere gar nicht gelesen, und das Unterhaus verweigere die Drucklegung dieser für die Na­tion so wichtigen Papiere (was Haversham dann selbst besorgte).130 Während diese Untersuchung das Interesse der älteren Forschung vor allem deshalb fand, weil sie versprach, im Hinblick auf die Fakten etwas Licht auf die verworrenen Vorgänge des Frühjahrs 1708 zu werfen,131 scheint sie mir in anderer Hinsicht aufschlussreich: Gerade in Krisensitua­tionen versuchte im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrzehnt das Parlament wiederholt, eine Evalua­tion von Entscheidungen durchzuführen.132 Nur im Fall der jakobitischen Invasion aber stand die Frage im Vordergrund, wann w ­ elche Informa­tionen vorgelegen hätten. Entscheidungsevalua­tion war hier Informa­tionsevalua­tion. Die Untersuchung führte aber nicht zu einer Debatte darüber, ob man die Informa­tionsgewinnungsund -nutzungsmechanismen generell überdenken müsse. In dieser Hinsicht blieb ein „organiza­tional learning“, wie die Organisa­tionssoziologen sagen würden, aus.133 Dies aber war angesichts der beschriebenen Rahmenbedingungen der Gewinnung und Nutzung von Informa­tion vielleicht auch nicht überraschend. Als weitere Phase der ‚Nutzung‘ von Informa­tion ist die Archivierung der Informa­tionen zu nennen. Briefe, Memoranden, Verträge mussten aufbewahrt werden, um sich die Chance zu eröffnen, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal auf sie zurückzugreifen. Archivierung diente also der Strukturierung von Informa­tion und Wissen im Hinblick auf eine mög­liche spätere Wiedervorlage.134 Dies war angesichts des diffusen und quantitativ unüberschaubaren Materials, dem sich die eng­lische Regierung und Marlborough gegenübersahen, einerseits notwendig, andererseits auch kompliziert. Zwar existierte das State Paper Office seit 127 Sunderland an Cadogan, 20. Dezember 1709, in: BL Add. 61651, 201r. 128 Vgl. Harley, Plaine English, 108. 129 Vgl. The Lord Haversham’s Speech. Zu Haversham siehe Kapitel 3.5. 130 Vgl. An Account of the Late Scotch Invasion. 131 Vgl. Lascelles/Davidson, Introduc­tion. 132 Siehe McJimsey, Crisis Management. 133 Vgl. March/Olsen, Uncertainty. 134 Vgl. Friedrich, Archive und Verwaltung; Head, Knowing Like a State.

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dem 16. Jahrhundert 135 und die Secretaries waren gehalten, nach dem Ende ihrer Amtszeit ihre Papiere dort abzugeben, um sie zentral zusammenzuführen, aber dies geschah nicht regelmäßig.136 In einem Bericht vom Beginn des 18. Jahrhunderts wurde festgestellt, dass seit 1670 kaum noch aus dem Amt a­ usgeschiedene Staatssekretäre ihre Papiere abgeliefert hätten.137 Noch der heutige Aufbewahrungsort der Papiere der Secretaries spiegelt diese Situa­tion wider: Während die Papiere Sunderlands im Zusammenhang der Blenheim Papers in der British Library aufbewahrt werden (wo sich zum Teil auch die Papiere Harleys finden), sind die Dokumente anderer Secretaries, etwa Boyles und St. Johns, in den Na­tio­nal Archives (also dem Nachfolger des State Paper Office) zu finden. Diese Diskrepanz deutet auf den latent ungeklärten Status dieser Papiere um 1700: Waren die Briefe, die einem Staatssekretär zugesandt wurden, öffent­liche Dokumente oder private Mitteilungen? Die Versuche zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die Archivierungspraxis zu verbessern, konnten sich also ausschließ­lich auf diejenigen Papiere beziehen, die im State Paper Office zusammengetragen waren. In anderen Fällen wurde teilweise viel aufgehoben (Sunderland), teilweise aus unbekannten Gründen viel vernichtet (Marlborough). Eine methodisierte Nutzung früherer Dokumente musste sich unter solchen Bedingungen schwierig gestalten. Doch selbst dann, wenn innerhalb einer Amtszeit (und nicht s­ päter) auf frühere Dokumente zurückgegriffen werden sollte, dürfte die sehr uneinheit­liche Aufbewahrungspraxis einen methodischen Rekurs auf früheres Wissen schwierig gemacht haben. Man konnte nie wissen, ob und wann man eine Akte oder einen Brief noch einmal würde brauchen können – und diese Unkenntnis im Hinblick auf Rückgriffsnotwendigkeiten und Zeithorizonte erschwerte die methodische Nutzung von Informa­tionen über einen längeren Zeitraum hinweg.138 Wenn auch die Briefpartner der Secretaries of State, etwa die Spionageorganisatoren, annahmen, dass ihre Berichte für eine eventuelle spätere Nutzung archiviert würden, so ist dies doch sicher nicht methodisch und durchgehend geschehen.139 Im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wurde versucht, das zentrale Regierungsarchiv im Tower (also den Vorläufer des Public Record Office) zu reorgani­ sieren. Diese Initiative ist insofern zeittypisch, als zeitgleich auch an anderer 135 Vgl. Burke, Social History, 140. 136 Vgl. Thomson, Secretaries of State, 143 f. 137 Vgl. Journal of the House of Lords, Bd. 18, 4. März 1706. 138 Vgl. die Hinweise zu ähn­lichen Problemen bei Vismann, Akten, 176 – 178. 139 Vgl. den Brief Jurieus an den Secretary Nottingham, 20./30. Juni 1702, in: Dedieu, Rôle politique, 327.

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Stelle versucht wurde, die Aufbewahrung politischer Dokumente zu professionalisieren: Im Rahmen von Torcys Académie politique, einer franzö­sischen Diplo­ matenschule, nahm die Installa­tion eines Archivs als diplomatisches Arbeitsinstrument eine große Rolle ein.140 (Typisch ist allerdings ebenfalls, dass auch ­dieses Projekt scheiterte.) Im Jahr 1703 richtete das House of Lords eine Kommission ein, die dem House über den Zustand des State Paper Office berichten sollte.141 Diese Kommission und weitere Unterkommissionen beschäftigten sich bis 1714 mit verschiedenen Problemen, die das staat­liche Archiv betrafen. Nicht nur befanden sich die verschiedenen Gebäude in Whitehall und im Tower in einem desolaten Zustand, vor allem monierte die Kommission erstens den Zustand der Akten selbst, zweitens aber auch deren Unordnung. Einige dieser Missstände (etwa hinsicht­lich der Gebäude) wurden behoben, andere wurden letzt­lich hingenommen. Der schlechte Zustand der Archive wurde vor allem auf die chaotische Amtsführung früherer Keeper zurückgeführt. Das Problem wurde also personalisiert,142 was es ermög­lichte, auf zukünftige bessere Amts­ inhaber zu hoffen und diese finanziell besser auszustatten, statt das Problem organisatorisch durchgreifend zu bearbeiten. Insofern versandeten die Reform­ anstrengungen schließ­lich. Aus den Untersuchungsberichten tritt ein archiva­lisches Chaos hervor – man war angeb­lich 1706 nicht einmal in der Lage, den Friedensvertrag von Rijswijk aufzufinden.143 Während ältere Dokumente einigermaßen übersicht­lich zugäng­ lich ­seien, gelte dies gerade für die mutmaß­lich so wichtigen Papiere der letzten zehn Jahre nicht mehr. Dies liege auch an den jeweiligen Aufbewahrungsorten: Ältere Dokumente ­seien aufbewahrt „in a large spacious room where the records lie in good order, with labels and endorsements upon them distinguishing the times“ – die jüngeren Akten dagegen s­ eien völlig unzureichend untergebracht: „the Room under this, was formerly a Cook’s Shop, and is now partly a Wash-­ house and partly a Stable; which is a very improper Situa­tion for Records of so much Consequence.“144 Generell wurde angeregt, unnütze Papiere zu kassieren, ein klareres Ordnungssystem zu finden und eine bessere Indexierung einzuführen. Dies solle einer besseren Benutzbarkeit dienen: „That those Papers that are of no Use, nor serve for Curiosity, should be laid aside; and the rest, to be made useful, 140 Vgl. Schweizer, François de Callières, 620. 141 Das Folgende nach: Hallam, Problems; Cobb, H. S., Politicians and Archives; Marshall, The Secretaries‘ Office. 142 Vgl. Marshall, Sir Joseph Williamson, 26. 143 Journal of the House of Lords, Bd. 18, 4. März 1706. 144 Journal of the House of Lords, Bd. 18, 20. April 1709.

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should be bound up in Volumes, with proper Indexes; and a Catalogue made of the Volumes, referring to the Presses where they are placed.“145 Dass diese Maßnahmen die Benutzbarkeit des Archivs verbessert haben dürften, ist angesichts der vorherigen Zustände kaum bestreitbar. Dennoch folgt die Reform insofern dem ‚Nütz­lichkeitsphantasma‘, als angesichts einer kontingenten Zukunft kaum im Vorhinein festzulegen war, was wann noch einmal von Nutzen sein würde. Im Überblick über die verschiedenen Prozesse, in die die instrumentelle Nutzung von Informa­tion analytisch zerlegt werden kann (Sammeln, Analysieren, Bewerten, Archivieren), fällt für die eng­lische Situa­tion um 1700 demnach erstens ein ausgeprägtes Nütz­lichkeitsphantasma auf. Zweitens ist deut­lich, dass die Informa­tionsnutzung insgesamt innerhalb einer amtsförmigen, halbwegs formalisierten Weise ablief, aber dennoch (vom Blickpunkt einer modernen Verwaltung aus) große Defizite der methodischen Nutzung zu beobachten sind. Allerdings sind diese Defizite zeitgenös­sisch durchaus erkannt und kritisiert worden: Im Hinblick auf die parlamentarische Informa­tionsevalua­tion von 1709 und auf die Reorganisa­tionsbemühungen des State Paper Office ist ein Bewusstsein dafür erkennbar, dass Reformen wünschenswert waren. Allerdings bleiben diese Initiativen Ausnahmen – schon weil innerhalb der parteipolitisch aufgeheizten Situa­tion Englands um 1700 Reformversuche nur in Sondersitua­tionen und meist schon mit Blick auf ihre parteipolitischen Effekte, nicht zwingend aber im Hinblick auf eine tatsäch­liche Verbesserung der Informa­tionsnutzung vollzogen wurden. Eine Reform zum Beispiel der Informa­tionsevalua­tion ließ sich schon deshalb schwer umsetzen, weil die Rahmenbedingungen der Informa­tionsnutzung – vor allem Zeitdruck – umfangreiche und zeitraubende methodische Mechanismen nicht zuließen. Allerdings schwächt sich dieser Defizitbefund dann deut­lich ab, wenn man nicht annimmt, dass auf der Basis der eingegangenen Informa­tionen immer Entscheidungen getroffen werden sollten, wenn die Sammlung und Nutzung von Informa­tionen also gar nicht im „decision mode“, sondern im „surveillance mode“ vor sich ging. Sollten denn Entscheidungen getroffen werden? Und was lässt sich überhaupt zur Entscheidungspraxis Marlboroughs und der eng­ lischen Regierung sagen? Welche Bedeutung kam in ­diesem Zusammenhang Informa­tionen zu?

145 Journal of the House of Lords, Bd. 18, 4. März 1706.

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4.2.2 Informationen und Entscheidungen

In der jüngsten Synthese zur eng­lischen Regierung des 18. Jahrhunderts ist die Rede von „five or six individuals involved in foreign policy decision-­making“146. Dies könnte eine Idealsitua­tion für eine Methodik sein, die sich im Sinne der ‚alten‘ Politikgeschichte oder der neueren „High politics“-Forschung explizit mit den Entscheidungsprozessen einer sehr begrenzten Elite auseinandersetzen möchte.147 Doch selbst wenn man diese Vorgehensweise nicht für in manchem Sinne zweifelhaft hielte, wäre sie auf das vorliegende Problemfeld unmög­lich anwendbar: Gerade für die eng­lische Außenpolitik bis 1750 ist es schon quellenmäßig praktisch unmög­lich, über Spekula­tionen hinauszugelangen, wie eigent­lich genau Entscheidungen getroffen wurden.148 Ähn­liches gilt selbst für zentrale militärische Entscheidungen Marlboroughs wie seinen Entschluss, im Frühjahr 1704 ohne Absprache mit dem niederländischen Bündnispartner an die Donau zu marschieren: Hier sind zwar Vorbereitungen, einzelne Pläne und Absprachen rekonstruierbar, doch viel weiter gelangt man auch hier nicht.149 Es fehlen schlicht die Quellen. Zwar ist hin und wieder zu beobachten, wie vor allem grundsätz­liche strate­ gische Ausrichtungen, die für ein ganzes Kriegsjahr gelten sollten, ausgearbeitet wurden (weniger schon, wie sie operativ umgesetzt wurden).150 Auch weiß man, dass sich Harley, Godolphin und Marlborough in den Winterhalbjahren der Kriegsjahre bis 1708 mindestens zweimal wöchent­lich trafen, um im kleinen Kreis Entscheidungen des Kabinetts vorweg festzulegen.151 Doch wenn auch der eigent­liche Ort außenpolitischer Entscheidungen das Kabinett war,152 spielten sich doch Entscheidungsfindungsprozesse in der vergleichsweise dezentral organisierten eng­lischen Regierung in komplizierter Weise auf verschiedenen Ebenen

146 Jupp, The Governing of Britain, 38. 147 Vgl. Nicklas, Macht, v. a. 17; Craig, High Politics. 148 Vgl. Jupp, The Governing of Britain, 38 u. 42. 149 Vgl. Hattendorf, English Grand Strategy; Francis, Marlborough’s March; Mathis, ­Marlborough und Wratislaw; ders., Neue Aspekte; Delfiner, Saving an Empire. 150 Vgl. Snyder, Formula­tion. Dort sind mehrere Memoranden außenpolitischer Gespräche ­zwischen Cowper und Godolphin aus dem September 1707 abgedruckt, die als Vorbereitung auf Cabinet-­Sitzungen dienten. Hattendorf, England, 54, weist allerdings darauf hin, dass die außenpolitischen Leitlinien der eng­lischen Regierung sich nur ex post rekonstruieren lassen – sie sind kaum jemals programmatisch festgehalten. 151 Vgl. Snyder, Godolphin and Harley, 247 f. 152 Hattendorf, England, 25: „The business of formulating decisions within the central government took place within the cabinet.“

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ab.153 Marlborough nahm hier eine bedeutende, aber nicht etwa eine überragende Rolle ein: „he was an important figure in a complex, bureaucratic process of decision making.“154 Welche Bedeutung Informa­tionen, die mithilfe der infrastrukturellen, amts- und netzwerkförmigen Strukturen gewonnen worden waren, innerhalb ­dieses Prozesses zukam, bleibt damit aber eine offene Frage. Man kann ihr nachgehen, wenn man Harleys und Sunderlands Mitschriften der Kabinettssitzungen studiert. Dabei handelt es sich nicht um offizielle Protokolle, sondern um unvollständige, unregelmäßige und vor allem inoffizielle Mitschriften, die oft eher Erinnerungsstütze für den Autor waren als Verlaufs- oder Ergebnisprotokoll.155 Trotz dieser offenkundigen Nachteile sind sie der einzige Einblick in die Arbeitsweise des Kabinetts. Doch unabhängig von der Frage, wie hilfreich diese Quellen für die Rekonstruk­tion von Entscheidungsprozessen des Kabinetts sind, stellt sich für den vorliegenden Zusammenhang ja noch eine vorgelagerte Frage: In welcher Weise kommt Informa­tion ins Spiel, und lässt sich ihre Verarbeitung im Prozess der Entscheidungsfindung rekonstruieren? Während Sunderland in seinen Mitschriften fast nie auf intelligence zu sprechen kommt,156 ist in Harleys umfangreicheren Mitschriften häufig unspezifisch verzeichnet, dass im Kabinett intelligence vorgelesen worden sei.157 Es ist oft die Rede von „french intelligence“ oder „french letters“; hierbei könnte es sich um Spionageberichte wie diejenigen handeln, die von Caillauds Spionagefirma stammten.158 Offenbar teilten die Kabinettsmitglieder sich also gegenseitig mit, was sie in Erfahrung gebracht hatten; die Diskussion darüber wurde aber nicht proto­kolliert. Es ist nicht einmal festgehalten, wer die jeweiligen Informa­tionen zur Verfügung gestellt hatte.159 Insofern steht ­intelligence hier auf einer Stufe mit 153 Vgl. Hattendorf, England, 22 – 24; siehe auch: ders., English Governmental Machinery. 154 Vgl. Hattendorf, England, 266. 155 Vgl. Plumb, Organiza­tion, 137; Hattendorf, England, 333, Anm. 30. Vereinzelt liegen auch Minutes anderer Amtsträger und anderer Gremien vor; siehe die Mitschrift des Secretary at War Granville von 1710/11, in: BL Add. 61134, 1r–38v. 156 Vgl. BL Add.  61498 – 61500. 157 Vgl. BL Add.  70334 – 70338. 158 Vgl. etwa: BL Add. 70334, 28. Mai 1704; BL Add. 70335, 9. Juli 1705, 21. September 1705 (hier ist zusätz­lich vermerkt: „from Rotterdam“, was für Caillaud spricht), 9. Oktober 1705; BL Add. 70336, 20. November 1705, 22. November 1705, 2. Dezember 1705, 23. Dezember 1705, 10. Februar 1705/06, 24. Februar 1705/06; BL Add. 70338, 30. Januar 1707/08. 159 Marlborough hatte Godolphin die Vollmacht gegeben, selbst zu bestimmen, was er aus der Korrespondenz mit dem Herzog im Kabinett vorlesen wollte. Siehe Marlborough an Godolphin, 4./15. Mai 1706, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 1, 536.

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der großen Zahl von Briefen etwa der eng­lischen Gesandten oder Marlboroughs, die dem Kabinett vorgelegt wurden.160 Zusätz­lich wurden mehrere Male interzipierte Briefe franzö­sischer Diplomaten und Militärs vorgelesen, die offenbar, wie einmal vermerkt wird, von Marlborough stammten.161 Diesen Quellen kann man also entnehmen, worüber verhandelt wurde und wie sich nach und nach Entscheidungen oder Posi­tionen in bestimmten Fragen herauskristallisierten. Was man nicht sehen kann, sind Verknüpfungen spezi­ fischer Informa­tionen mit spezifischen Entscheidungen. Dies gilt generell, auch über die Entscheidungsprozesse des Kabinetts hinaus. Man sieht Informa­tionen, man sieht Handlungen, man sieht (seltener) Entscheidungen. Ihre jeweilige Verbindung aber bleibt in den meisten Fällen im Dunkeln: Man muss sich mit „Einsichten in das Bedingungsgefüge des zeitgenös­sischen Denkens, Sprechens, Entscheidens und Handelns“162 begnügen. Nun ist die Frage nach Entscheidungsprozessen der eng­lischen Regierung und Marlboroughs hier nicht das Thema – oder nur insofern, als es nicht unplausibel ist, die instrumentellen Funk­tionen von Informa­tionen unter anderem in ihrer Rolle als Entscheidungsressource zu vermuten. Nur im Einzelfall ist es mög­lich, den Weg zu verfolgen, der von der einzelnen Spionageinforma­tion zu einer Entscheidung führt: so etwa bei der Abwehr des jakobitischen Invasionsversuchs vom Frühjahr 1708. Dies ist in d ­ iesem Fall aber vor allem aus zwei Gründen mög­lich: erstens, weil die erwähnte nachträg­liche parlamentarische Untersuchung von 1709 alle verfügbaren Informa­tionen zusammentrug und retrospektiv evaluierte. Aus dieser Untersuchung geht hervor, dass ab Dezember 1707 Informa­tionen vorlagen, dass die Franzosen in Dünkirchen eine Flotte ausrüsteten; unklarer war lange, was deren Ziel sein würde. Als sich im Februar aus verschiedenen Berichten immer deut­licher ergab, dass eine Invasion in Schottland vorbereitet wurde, gab die Admiralität den Befehl, selbst eine Flotte aufzustellen.163 Zwar gelang es dem Pretender, am 12. März bis vor Edinburgh vorzudringen, aber die jakobitische Flotte wurde zerschlagen und musste am 20. März in völliger Auflösung nach Dünkirchen zurückkehren.164 Der zweite Grund für die unzweideutige Verbindung 160 Vgl. v. a. BL Add. 70336. 161 Vgl. BL Add. 70335, 13. Februar 1704/05; siehe auch ebd., 30. Oktober 1705 sowie BL Add. 70336, 13. November 1705. 162 Brendecke, Imperium, 309. 163 Vgl. Lascelles/Davidson, Introduc­tion, IV–V. 164 Vgl. ebd., V–VIII. Siehe auch: Gibson, Playing the Scottish Card. Die lange währende Ungewissheit der Zeitgenossen, was das Ziel der Invasion sein werde, vollzieht ein Gedicht (von Swift?) einige Monate ­später nach: vgl. A Trip to Dunkirk.

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von Informa­tionen und Entscheidung ist in d ­ iesem Fall aber, dass – als einmal ein Verdacht entstanden war, dass eine Gefahr ins Haus stehe – die gezielte Informa­ tionsgewinnung massiv verstärkt wurde.165 Diese gezielte Informa­tionsgewinnung, die bereits im Hinblick auf eine zu treffende Entscheidung erfolgt, ist aber, wie erwähnt, eher die Ausnahme als die Regel. Meist gab es keine konkreten Informa­ tionswünsche, sondern eher den diffusen Auftrag an die Spione, alles zu berichten, was bedeutsam sein könnte. Relativ häufig ist es dagegen mög­lich, mit einiger Plausibilität Verknüpfungen bestimmter Informa­tionsbestände (kaum: partikularer Einzelinforma­ tionen) und bestimmter Entscheidungen zu behaupten. Zum Beispiel reiste Marlborough im April 1707 nach Sachsen in das Altranstädter Feldlager des schwedischen Königs Karl XII . Es gelang ihm, den König von seinem (vermut­ lichen) Plan abzubringen, dem ­Kaiser den Krieg zu erklären, was zu einer Kopplung des Spanischen Erbfolgekrieges mit dem Nordischen Krieg geführt hätte.166 Obwohl unklar ist, was Marlborough mit Karl in Altranstädt genau vereinbarte,167 erschien die Reise der eng­lischen Regierung als ein Erfolg, „of as great Consequence to the common cause, as a Battle won“168. Warum aber Marlborough den Entschluss fasste, diesen unüb­lichen Schritt zu gehen und zwar im Auftrag der Königin, aber ohne offiziellen diplomatischen Rang 169 nach Sachsen zu reisen, ist unklar. Es ist aber wahrschein­lich, dass die immer dring­licheren Berichte Robethons aus dem Frühjahr 1707 den entscheidenden Anstoß für diese Reise gaben.170 Anders ausgedrückt: Ohne die Berichte und Interzep­tionen Robethons hätte Marlborough die Lage vermut­lich weniger dramatisch eingeschätzt – ohne dass dieser Befund gleichzeitig bedeuten würde, dass man eine eindeutige und lineare Verknüpfung ­zwischen Informa­tion und Reiseentschluss herstellen dürfte. In einem anderen Fall verhält es sich ähn­lich: In den Kapiteln über Jaupain und Caillaud war thesenhaft formuliert worden, dass es deren Berichte (und diejenigen anderer Informanten) im und nach dem harten Winter 1708/09 waren, die bei den Alliierten den Eindruck erzeugten, Frankreich stehe vor dem Zusammenbruch. In den Berichten etwa der Spione Cauillauds waren apokalyptische Bilder von Kälte

165 Vgl. z. B. nur TNA SP 77/57. 166 Vgl. Simms, Three Victories, 55; Stamp, Meeting; Milne, Diplomacy. 167 Vgl. Hatton, Charles XII, 224 f. 168 Sunderland an Marlborough, 29. April 1707, in: BL Add. 61126, 39r. 169 Vgl. Jones, Marlborough, 139. 170 Siehe Kapitel 3.4.1.

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und Elend gezeichnet worden.171 Marlborough bemerkte gegenüber ­Godolphin, falls diese Berichte zuträfen, müsse es zu einem Frieden kommen.172 Sunderland schrieb: „by our advices, the French troops as well as the country are in such a miserable condi­tion, that either the King of France must comply with what the allies shall think necessary to demand of him, or there seems nothing can hinder our army from marching to Paris.“173 Aus Rouen erfuhr die eng­lische Regierung, dass „les affaires du Royaume sont tellement en desordre qu’il faut faire La Paix, a quelles condi­tions que voudront Les Allies“174. Aus Paris berichtete der eng­lische Kaufmann Hodges: „No body here doubts the peace.“175 All diese Berichte dürften – angesichts mangelnder anderer Einblicke in die ökonomische, finanzielle, ­sozia­le, politische Situa­tion Frankreichs – ein Hauptgrund dafür gewesen sein, warum die Alliierten im Jahre 1709 Frankreich Friedensbedingungen stellten, die für Ludwig XIV. entehrend wirkten und die schließ­lich – zur Überraschung der Alliierten – zum Abbruch der Friedensverhandlungen führten.176 Allerdings gilt auch hier wieder: Über eine plausible Kausalannahme kommt man nicht hinaus. Eine lineare Verknüpfung z­ wischen einer spezifischen Informa­tion A und einer spezifischen Entscheidung B ist auch hier nicht zu erkennen. 4.2.3 Mother of prevention

In den allermeisten Fällen ist nicht konkret zu zeigen, was die eng­lische Regierung mit den eingehenden Informa­tionen eigent­lich genau gemacht hat oder ob sie etwas damit gemacht hat. Der Konnex von Informa­tion und Entscheidung jedenfalls hat sich genau wie die generelle Vorstellung einer unproblematischen ‚Nutzung‘ von Informa­tion als methodisch wie empirisch problematisch erwiesen. Damit stellt sich auch für die vorliegende Studie die Frage, die Arndt Brendecke

171 Vgl. die Berichte von Caillauds Spionen an Sunderland aus dem Januar und Februar 1709, in: BL Add. 61548, 73r–82r und 184r. 172 „If Lord Sunderland’s newsletter be true, I should hope the king of France were in ­earnest, and then there would be a peace“: Marlborough an Godolphin, 10./21. Februar, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1224. 173 Sunderland an Galway, 2. Juni 1709, zitiert nach: Hattendorf, England, 201. 174 Extrakt eines Newsletters aus Rouen vom 28. April 1709 an Sunderland, in: BL Add. 61552, 212r. 175 Hodges an Sunderland, 25. Mai 1709, in: BL Add. 61600, 146. 176 Vgl. Thomson, Louis XIV and the Grand Alliance, 207; Reese, Ringen um Frieden, 235; Rule, France, 97; Schmidt-­Rösler, Prälimarfriedensverträge.

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in einem verwandten Zusammenhang formuliert hat: „Warum lässt sich fast nirgends zeigen, dass das akkumulierte Wissen tatsäch­lich eingesetzt wurde, dass politische Entscheidungen auf seiner Basis getroffen wurden?“177 Man kann diese Frage auf mehreren Ebenen beantworten, mindestens aber legen sich vier mög­liche Antworten nahe, deren Überzeugungskraft im Folgenden diskutiert werden soll. Eine erste Begründung betrifft die Quellenebene. Man kann – zutreffend – darauf verweisen, dass es für die Phase z­ wischen dem Sammeln und der Bewertung von Informa­tion und dem Treffen einer wie auch immer gearteten Entscheidung keine Quellen gibt und dass das Treffen einer Entscheidung oft nur aus späteren Handlungen rekonstruierbar ist, aber in den Quellen gar nicht thematisiert wird. „For both postal intercep­tion and news management, there is a certain amount of informa­ tion, although there are no comprehensive records of a central agency permitting an evalua­tion of how the situa­tion appeared to the government and enabling us to follow policy formula­tion in this field.“178

Diese Erklärung durch ein Quellendefizit ist sicher nicht falsch, greift aber zu kurz – weil sie immer schon voraussetzt, dass Informa­tion und Entscheidung miteinander verbunden sind (oder: es sein sollten). Eine zweite Mög­lichkeit wäre, dass ein Übermaß von Informa­tionen dazu führte, dass Wichtiges nicht mehr von Unwichtigem unterschieden werden konnte, ja dass die handelnden Akteure von informa­tion overload geblendet oder paraly­ siert wurden. Kempe hat eine ­solche Konstella­tion für die eng­lische Spionage des 16. Jahrhunderts rekonstruiert, in der „nicht die Spär­lichkeit an Informa­tionen, sondern im Gegenteil ihr Überfluss das Problem“ darstellte: Diese Situa­tion „machte blind für das Offenkundigste, das gerade deshalb für das Unwahrschein­ lichste gehalten wurde“179. Auch dies mag für die eng­lische Regierung im Spanischen Erbfolgekrieg zuweilen zutreffen. Im Fall der Dünkirchener Jakobiteninvasion von 1708 ist es nicht unwahrschein­lich, wenn auch kaum strikt nachzuweisen, dass das verwirrende Übermaß teilweise widersprüch­licher Informa­tionen die Reak­tion der eng­lischen Regierung zumindest verzögerte. Insgesamt hängt aber eine ­solche Erklärung stark davon ab, dass Informa­tion zentral gesammelt wird: Nur im Fall eines Zusammenlaufens von Informa­tionen an einer einzigen Stelle ist ein paradoxer Effekt wie Erblindung durch Informa­tionsübermaß überhaupt 177 Brendecke, Imperium, 22. 178 Black, Intelligence, 370. 179 Kempe, Burn after Reading, 377.

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vorstellbar. Die eng­lische Situa­tion ist aber eher dadurch gekennzeichnet, dass die verschiedenen Akteure zwar zusammenarbeiteten, Informa­tionsgewinnung aber in einem relativ hohen Maße dezentral stattfand, je nachdem, ob die Akteure sie für vorrangig hielten, und je nachdem, wie stark sie mit anderen Akteuren kooperieren wollten. Eine dritte mög­liche Erklärung dafür, dass im eng­lischen Fall Informa­tion und Entscheidung nur schwach verbunden zu sein scheinen, könnte also in der relativ schwachen formalen Organisa­tion der eng­lischen Regierung liegen. Diese könnte dazu geführt haben, dass es zwar mög­lich war, große Mengen an Informa­ tion anzuhäufen, aber mög­licherweise (noch) nicht, sie auch entsprechend zu ­nutzen. Doch was würde dieser Hiatus von Informa­tionserhebungs- und Informa­ tionsverarbeitungskapazität bedeuten? Würde diese Interpreta­tion die „Vormodernität“ der geschilderten Konstella­tion belegen, weil hier eine defizitäre Organisa­tion noch nicht in der Lage war, Informa­tion und Entscheidung enger zu koppeln?180 Oder würde sie nahelegen, dass die generelle Vorstellung d ­ ieses Zusammenhangs zu ra­tionalistisch ist und wir dazu neigen, die Vormoderne in dieser Hinsicht als defizitär zu beschreiben, um mittels einer dramatischen Bürokratisierungsteleologie die Modernität der Moderne in besonders hellem Licht erscheinen zu lassen?181 Man sollte vielleicht die Mög­lichkeit einer ‚Ra­tionalisierung‘ von Entscheidungshandeln im Übergang zur Moderne nicht allzu kategorisch als Modernisierungsmythos ansehen – denn es ist ja deut­lich erkennbar, dass es im Hinblick auf formale Organisa­tion Defizite innerhalb der eng­lischen Regierung gab (die durchaus auch gesehen wurden), die eine enge Verbindung von Informa­tion und Entscheidung eher erschwerten. Unabhängig aber von der Frage, ob dieser Befund in der Moderne genauso oder etwas weniger zutrifft als in der Frühen Neuzeit, ist zuerst einmal festzuhalten, dass für die eng­lische Regierung um 1700 vieles auf eine lose Kopplung von Informa­tion und Entscheiden hindeutet – ein Befund, der den Diagnosen der Organisa­tionssoziologie entspricht. Dies führt zur vierten und letzt­lich wichtigsten Erklärung: Vom Alltagswissen bis hin zu den sozia­lwissenschaft­lichen decision sciences wird Informa­tion zu eindeutig als Ressource für Entscheidungen konzipiert. Dies ist eine unproduktive Verengung. Es bleibt selbstverständ­lich sinnvoll, wenn auch schwierig, die Abfolge von 180 Oft wird der Erste Weltkrieg als Zäsur der Geheimdienstgeschichte genannt; erst jetzt habe sich eine durchgreifende Institu­tionalisierung vollzogen. Vgl. Horn, Der geheime Krieg, 139. Dagegen setzt Kahn die Zeit um 1800 als Epochenschwelle an: Vgl. Kahn, Historical Theory, 5. 181 Dies ist die These von: Brendecke, Imperium, 23; siehe auch: ders., Buch der Beschreibungen.

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Informa­tionsbeschaffung, Bewertung und Verarbeitung, Entscheidungsfindung und Handlung zu untersuchen. Doch übersieht eine s­ olche Engführung nicht nur die symbo­lischen Funk­tionen der Informa­tionsgewinnung, sondern auch die vermut­ lich wichtigste instrumentelle Funk­tion: Man darf vermuten, dass es denjenigen, die Informa­tionsgewinnung anstießen, oft weniger um konkrete Details ging als um ein generelles Gefühl von Sicherheit und Informiertheit. Schon zeitgenös­sisch galt intelligence als „mother of preven­tion“182. Eine zentrale Funk­tion der Informa­ tionen, die Marlborough und die eng­lische Regierung sich beschafften, bestand in routinemäßig ablaufenden Versuchen der Unsicherheitsminimierung. Informa­tion diente der Gewinnung eines Überblicks und damit der Verringerung von Unsicher­ heit darüber, was die feind­lichen Mächte gerade taten und vorhatten. Man wollte auf dem Laufenden sein. Das fast obsessive Sammeln von Informa­tionen (und dies erinnert an die Szenarien der Organisa­tionssoziologie) diente damit oft keinem unmittelbarem Zweck, sondern erfolgte eher tentativ und im Hinblick auf nur mög­licherweise eintretende Op­tionen. Es ging um „knowledge which may not have been of any immediate value but may have been useful for decision-­making at some future point“183. Wieder ist der Modus potentialis zentral. Das hieß im Regelfall: Mit den eingehenden Informa­tionen wurde nichts gemacht – sie wurden zur Kenntnis genommen. Es sollte auch gar nichts mit ihnen gemacht werden. Der größte Nutzen von Informa­tion bestand darin, sie nicht ­nutzen zu müssen.

4.3 Information und Patronage 4.3.1 Patronage und Informationsgewinnung

Die Einbindung individueller Informanten in eine bereits bekannte größere Struktur oder die Dauer der Bekanntschaft diente, dies ist oben dargestellt worden, als Gradmesser für die Vertrauenswürdigkeit von Informanten und Informa­tionen. Bereits bestehende ­sozia­le Beziehungen (um es so offen zu formulieren) fungierten also als Glaubwürdigkeitsgarantie für Informa­tionen. Oft wurde das Verhältnis von Informa­tion und sozia­ler Beziehung aber auch andersherum gedacht: Informa­tion diente zur Anbahnung und Aufrechterhaltung von Beziehungen, die oft regelrechte Patronagebeziehungen waren. Ein Patronageverhältnis z­ wischen 182 Vgl. Raymond, Introduc­tion, 3. Zur Sicherheit als außenpolitischer Obesession aller Mächte in den Jahren um 1700 (zusätz­lich zur Literatur in Kapitel 4.1): Gibbs, Revolu­ tion, 61; Franken, General Tendencies, 4. 183 Marshall, Sir Joseph Williamson, 30.

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zwei oder mehreren Akteuren 184 ist dadurch gekennzeichnet, dass ein status- oder ranghöherer Patron und eine oder mehrere rangniedere Klienten ein Verpflichtungsverhältnis eingehen, das auf gegenseitigen Leistungen beruht. Diese Leistungen können in Geldzahlungen bestehen, wichtiger aber sind Schutz, Unterstützung, Dienste. Diese Dienste konnten beispielsweise Informa­tionen sein, die ein Klient einem Patron lieferte.185 „Sicheres ­­Zeichen für die Etablierung von Nachrichten in Briefwechseln sind Aufforderungen zur Übermittlung von Neuigkeiten oder Entschuldigungen von Korrespondenten, die nichts Neues zu berichten wussten. Gegenseitigkeit war eine ungeschriebene Spielregel des Austauschs, aber was man für Nachrichten bekam, konnte auch anderes sein als Nachrichten.“186

Brief­lich übermittelte Informa­tionen waren also geeignete Instrumente für den Aufbau einer Patronagebeziehung: Bei der Informa­tionsübermittlung geht es schließ­lich neben dem ‚Inhaltsaspekt‘ immer auch um den ‚Beziehungsaspekt‘.187 In Briefwechseln wird sozia­les Kapital aktiviert, angesammelt, transformiert oder produziert;188 sie benötigen, produzieren aber auch symbo­lische oder materielle Gaben und werden so zu einem wichtigen Medium von Gabentausch und Patro­ nage.189 Gerade Briefe sind ein Instrument symbo­lischer Kommunika­tion, daher sind die für das Ancien Régime typischen Nebenfunk­tionen sehr deut­lich zu beobachten: so etwa die Signalisierung von Rang und Ehre über sehr ostentative ­­Zeichen wie Anrede, Unterschrift, Schriftakkuratesse, Gebrauch von Abkürzungen, Briefpapier etc.190 „Early modern letters were not only a vehicle for narrated informa­tion, but also a formal social act.“191 184 Heiko Droste unterscheidet ­zwischen dyadisch aufgebauter Patronage und netzwerk­ artig strukturiertem Klientelismus. Dies kann hier auf sich beruhen, weil im Falle ­Marlboroughs eben ins Auge fällt, dass sich die Korrespondenten jeweils einzeln und gezielt an ihn als den Netzknotenpunkt wenden, man es hier also doch eher mit einer Patronagebeziehung (bzw. einer Vielzahl davon) ­zwischen zwei Personen zu tun hat. Vgl. Droste, Im Dienst der Krone, 252. 185 Zu Patronagebeziehungen siehe instruktiv: Kettering, Patronage; Pfister, Politischer Klientelismus; Hengerer, Amtsträger. 186 Mauelshagen, Netzwerke des Nachrichtenaustauschs, 409. 187 Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson, Kommunika­tion, 53. 188 Vgl. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, v. a. 193. 189 Vgl. Roche, Réseaux, 12. 190 Vgl. Sternberg, Epistolary Ceremonial; Droste, Briefe als Medium. 191 Sternberg, Epistolary Ceremonial, 36.

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Während in der Gabentausch-­Literatur oft der Aspekt des zeit­lichen Intervalls ­zwischen Gabe und Gegengabe betont wird,192 reicht es hier aus, den Komplex Gabentausch/Patronage von anderen Modi der Informa­tionsgewinnung abzusetzen. Patronage verlief insofern gabentauschförmig, als sie informellen Regeln folgte. Leistung und Gegenleistung waren sozia­l gefordert, aber nicht formal einklagbar. Dies unterscheidet sie von zwei anderen Modi der Informa­tionsgewinnung: der amtsförmigen und der handelsförmigen. Im Amtskontext – dies ist etwa an der Korrespondenz der Secretaries of State, an den eng­lischen Diplomaten und im militärischen Rahmen gezeigt worden – war Informa­tionsgewinnung eine Dienstpflicht. In anderen Zusammenhängen – man erinnere sich an Caillauds Spionagefirma – war Informa­tion ein Handelsprodukt, das verkauft und gekauft wurde. Die Abgrenzung von Dienstpflicht und Patronageverhältnis ist dabei unscharf. Die Literatur zur frühneuzeit­lichen Patronage betont immer wieder, dass sich aus Patronageverhältnissen zwar eine gewisse Normenkonkurrenz zu und damit Dysfunk­tionalität für Amtsverpflichtungen ergeben konnte,193 aber auch, dass beide Beziehungsarten sich gegenseitig komplementär ergänzten, Amts- und Patro­nagepflichten also einträchtig nebeneinanderstehen konnten.194 Es wäre daher ein Missverständnis, wollte man in der longue durée vorschnell eine Art Entwicklungsgeschichte der Informa­tionsgewinnung von der Patronage zur Bürokratie konstruieren: Das Interessante an der Situa­tion um 1700 liegt wohl eher in den verschiedenen Mög­lichkeiten, Informa­tionsgewinnung zu strukturieren und zu organisieren – und in deren enger Verknüpfung.195 Ähn­lich ambivalent ist die Beziehung ­zwischen Handels- und Patronagemodus der Informa­tionsgewinnung: Es ist auffällig, dass die diplomatiegeschicht­liche Literatur in ihrer Einschätzung der Informa­tionsbeschaffung ­zwischen Handel und Patronage, z­ wischen Informa­tionskauf und Informa­tionsgabe changiert.196 Eine Entscheidung ­zwischen beiden wäre aber eine unproduktive interpretative Zuspitzung in die eine oder andere Richtung; es gibt in der Tat beides, oft 192 Vgl. Bourdieu, Ökonomie, 164; Stollberg-­Rilinger, Zur mora­lischen Ökonomie, v. a. 195. 193 Vgl. Thiessen, Diplomatie und Patronage. 194 Vgl. Droste, Patronage; Hengerer, Amtsträger, 64. 195 Ein ähn­liches Argument mit gleichzeitiger Skepsis gegenüber zu linearen Entwicklungslinien formuliert Natalie Zemon Davis, die das Geschenk (die Gabe) als Verhaltensmodus neben dem Zwang und dem Kauf sieht; in mein Modell transponiert hieße dies: Patronage und Gabentausch stehen neben bürokratisch-­staat­licher Organisa­tion und dem Handel mit Informa­tionen. Vgl. Davis, Die schenkende Gesellschaft, 19. 196 Vgl. Roosen, Age of Louis XIV, 152; Bély, Espions, 59; de Bruin, Geheimhouding, 63; Opitz, Diplomacy, 73 (Marktförmigkeit); Anderson, Rise of Modern Diplomacy, 56 (Gabentausch).

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miteinander verbunden. Dies liegt unter anderem daran, dass die klare moderne Differenzierung von Kaufen und Schenken für die Vormoderne ohnehin nicht ganz zutrifft. Barbara Stollberg-­Rilinger spricht von „fließende(n) Übergänge(n) ­zwischen Geschenk und Bezahlung, Geschenk und Besoldung, Geschenk und Bestechung, Geschenk und Tribut“197. Es liegt aber auch daran – dies ist bereits angeklungen –, dass in der Regel reine Handelsverhältnisse von den entscheidenden Akteuren für problematisch gehalten wurden. Zwar wurde in einer großen Zahl von Fällen Informa­tion für Geld gekauft. Doch am vielleicht prominentesten Falle Caillaud ist gleichzeitig abzulesen, dass diese Handelsbeziehung durch eine Patronagebeziehung z­ wischen Marlborough und Caillaud, vielleicht auch ­zwischen Sunderland und Caillaud, ergänzt wurde. Schon aus Gründen der Vertrauenswürdigkeit wurden rein finanzielle Verbindungen skeptisch eingeschätzt. Dies hängt damit zusammen, dass Geld – anders als die Verpflichtung und das Vertrauen, das in Patronageverhältnissen prozessiert wird – kaum in der Lage ist, stabile ­sozia­le Strukturen auszubilden: Geld hat, so die einschlägige Forschung, die Tendenz zur Anonymisierung von Sozia­lbeziehungen und zur Nichtbeachtung der Person. Geld „schafft zwar Beziehungen ­zwischen Menschen, aber es lässt die Menschen außerhalb derselben“198. Die ständische Egalisierung, die mit Geld einherging, war im Kontext der Informa­tionsgewinnung zwar zum Teil unvermeid­lich. Die Untersuchungen zum Secret Service Money haben das gezeigt. Dort wurde aber auch plausibel gemacht, dass Geld nicht die einzige Währung war, mit der Informa­tionen bezahlt wurden. Patronage ergänzte die finanziellen Ressourcen, die eingesetzt wurden; wie beim Verhältnis von Patronage und Amt ist auch hier eine Komplementarität, oft auch eine Verdopplung der einen sozia­ len Beziehung durch die andere zu beobachten. Marlboroughs Patronagenetze sind nie umfassend untersucht worden; die Konturen eines alle Bereiche seiner Tätigkeit betreffenden sozia­len Strukturierungsmusters lassen sich nur erahnen. Marlborough war – zumindest bis 1710 – gemeinsam mit Godolphin der wichtigste Patronagebroker der Königin. Die Besetzung diplomatischer Ämter lief weitgehend über die beiden.199 Patronage, die auch über Informa­tion lief, verdoppelte im diplomatischen Dienst die offizielle Beziehung, die die Gesandten zu Marlborough unterhielten. Wenn die Ambassadeurs und Envoyés der eng­lischen Krone Marlborough als Ambassador General generell in hohem Maße in ihre bilateralen Korrespondenzen einbanden, 197 Stollberg-­Rilinger, Zur mora­lischen Ökonomie, 189. 198 Simmel, Philosophie des Geldes, 404. 199 Vgl. Snyder, Diplomatic Service; siehe zum Problemkomplex Patronage auch: Metzdorf, Politik.

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wurde doch d ­ ieses Amtsverhältnis in manchen Fällen durch eine Patronage­ beziehung ergänzt, wie dies in der Korrespondenz Marlboroughs mit dem Lissa­ boner Gesandten Paul Methuen deut­lich wird.200 Im diplomatischen Kontext sind auch, wie erwähnt, transna­tionale Patronageverhältnisse zu beobachten, für die der preußische Oberst Grumbkow und dessen geheime Berichterstattung ein gutes Beispiel darstellen. Sowohl im Fall des südniederländischen Generalpostmeisters Jaupain als auch im Fall der Spionagefirma Caillaud ist festgestellt worden, dass Amts- oder Handelsverpflichtungen durch Patronagebeziehungen ergänzt und verstärkt wurden. Wie werden diese Patronagebeziehungen sprach­lich gefasst? Die Begriffe „Patron“ und „Klient“ tauchen in den Quellen relativ selten auf, stattdessen ist zuweilen die Rede von Freundschaft, oft von „protec­tion“.201 Dies entspricht der kunstvollen Uneindeutigkeit der Termini, die im England des 17. und 18. Jahrhunderts in höfischen wie städtischen Kontexten für Patronagebeziehungen verwendet wurden.202 Anscheinend war es in den hier beobachteten Fällen meist inopportun, das Patronageverhältnis, die ihm innewohnende Asymmetrie und seine spezifische Verpflichtungsstruktur allzu offen zu thematisieren.203 Die Einsetzbarkeit von Informa­tion im Rahmen von Patronage konnte dazu führen, dass der Inhalt der Informa­tion gleichgültig wurde. Hier überwog dann der Beziehungsaspekt eindeutig den Inhaltsaspekt. Der Marquis d’Arsellières, der als eng­lischer Gesandter ohne Rang in Genf tätig war und ­später ein wichtiger Informant über die Schweizer Verhältnisse wurde, eröffnete seinen Briefwechsel mit Marlborough auf bemerkenswerte Weise: Er berief sich auf den Secretary at War, William Blathwayt, der ihm eine Korrespondenz mit Marlborough nahegelegt hatte, und fuhr dann fort: 200 Vgl. Paul Methuen an Marlborough, BL Add. 61145, 201v. 201 So spricht etwa, um nur wenige Beispiele zu nennen, Philippe de Bourgogne, Graf von Beveren, von „protec­tion“ und „amitié“; siehe sein Brief an Marlborough, 5. Juli 1711, in: BL Add. 61315, 85v. Siehe etwa auch Marlboroughs Aufforderung an den Secretary of State Hedges, ihm wie einem „friend“ zu berichten: Letters and Dispatches, Bd. 1, 306. 202 Vgl. z. B. Peck, Court Patronage, 12 – 29; Patterson, Urban Patronage, 16; Tadmor, Family, 214 f. 203 Dies entspricht dem Befund Aschs; siehe Asch, Euro­päischer Adel, 114 f. Dagegen betont Hengerer, Amtsträger, 77, die Legitimität einer Patronagesprache gerade gegenüber anderen Semantiken: „Das Reden über Verhalten oder Beziehungen in der Sprache von Patronage ver- bzw. überdeckt so die übrigen Dimensionen von Sozia­lbeziehungen (wie etwa Markt oder Macht) und schafft ein Spektrum der Sagbarkeit und der Unsagbarkeit, also eine spezifische Evidenz und eine spezifische Latenz.“ Dies trifft aber für England um 1700 eher nicht zu.

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„Cette ville est si petite estendue et sie eloignee des lieux de la guerre qu’il est rare qu’il se passe de choses dignes d’estre escrites a Vostre Grandeur, cependant ie prendrai la liberté de l’informer de ce qui viendra a ma connoissance. Ie m’estimerois heureux si ie pouvois meriter l‘honneur de sa puissante protec­tion par mon attachement.“204

Der Marquis wies also darauf hin, dass es aus Genf nichts zu berichten gäbe – und bewarb sich dennoch um Patronage. Welche Funk­tion ­dieses Patronagesuch für den Marquis erfüllte, lässt sich leicht denken: Er versprach sich davon Unterstützung jedweder Art für die Zukunft. Wenn dies so ist, dann werden die Informa­tionen, die in Korrespondenznetzwerken ausgetauscht werden, mög­licherweise generell zwar eine instrumentelle Funk­ tion besitzen, diese instrumentelle Funk­tion wird sich aber zum Beispiel weniger auf das beziehen, was man üb­licherweise als Funk­tion von Informa­tion anspricht, sondern eher auf Patronageprobleme bezogen sein. Demnach kann sie nach der Defini­tion Wolfgang Reinhards zum Beispiel als Instrument der „Mikropolitik“ dienen, ist also „der mehr oder weniger planmäßige Einsatz eines Netzes informeller persön­licher Beziehungen zu politischen Zwecken, wobei die Besetzung einer Stelle und der Rang ihres Inhabers politisch in der Regel sehr viel wichtiger ist, als das, was diese Person anschließend treibt“205. Warum aber ging Marlborough auf das Patronagegesuch des Marquis ein (dass er dies tat, ist aus der Fortführung des Briefwechsels zu ersehen 206)? Warum betrieb er überhaupt Informa­tionsgewinnung auf dem Weg über Patronage? Denn während im Fall von Amtsbeziehungen klar ist, ­welche Funk­tionen die Informa­tionsgewinnung erfüllt (der Informant ist qua Amt dazu verpflichtet und wird dafür bezahlt, dem Dienstherrn potentiell relevante Informa­tionen zu liefern), und dies ebenso für den Kauf und Verkauf von Informa­tionen gilt (hier wird Geld gegen relevante Informa­tion ausgetauscht), liegt der Fall bei Patronage etwas anders: Hier ist zu fragen, ob die Informa­tionen für den Patron nur oder überwiegend eine instrumentelle Funk­tion einnehmen, ob also Patronageersuche 204 Vgl. Gaspard Perrinet, Marquis d’Arsellières, an Marlborough, 9./20. Juni 1702, in: BL Add. 61145, 1v–2r. Diese Kommunika­tionssitua­tion kam öfter vor und kann darauf verweisen, dass die Wünsche von Informant und Informiertem nicht immer identisch waren. So schrieb etwa Marmande aus Brüssel an an den Under-­Secretary Ellis: „tout ce que je puis faire pour vostre instruc­tion c’est de vous informer des faits pour exercer vostre Esprit; le mal est pour moy que Je n’en ay pas, tout est paisible icy; Dieu veuille que cela dure.“: Marmande an Ellis, 2. Oktober 1700, in: BL Add. 28906, 64r. 205 Reinhard, Amici e creature, 312. 206 Vgl. BL Add. 61145, 1 – 22v.

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deshalb positiv beantwortet werden, weil sie der Informa­tionsgewinnung dienen. Es ist wahrschein­lich, dass auch für Marlborough die Informa­tionsgewinnung nur ein Aspekt unter mehreren war. Denn Patronage diente ja auch dem Patron: Sie stellte, wenn auch unspezifisch, Einfluss her; sie war eine weitere Machtressource neben anderen.207 Dieses Phänomen lässt sich besonders einschlägig am Bereich des Militärs diskutieren. Militärische Informa­tionsgewinnung war ein Feld, auf dem Patronagebemühungen von besonders großer Bedeutung waren. Verschwimmt hier die unmittelbare instrumentelle Funk­tion von Informa­tion hinter dem Aufbau einer Patronagebeziehung? Oder sind andere, sekundäre Funk­tionen von Informa­tion zu erkennen, die nur auf dem Weg über Patronage zu erreichen waren? 4.3.2 Information, Patronage, Allianz: Militärische Informanten als Klienten

Im Kapitel über Militärs als Informanten 208 wurde darauf hingewiesen, dass gerade im militärischen Kontext die Patronagegesuche, die sich an die Informa­ tionsübermittlung anschlossen, besonders häufig zu sein scheinen. Militärische Patronage ist bisher vor allem für die franzö­sische Armee unter Ludwig XIV . untersucht worden.209 Marlboroughs militärische Patronagenetze, die zum Teil noch aus der Zeit der Glorious Revolu­tion stammten,210 sind bisher nicht syste­ matisch erforscht worden. Klar ist aber, dass in der Phase seiner größten Macht keine oder kaum Stellenbesetzungen innerhalb der eng­lischen Armee ohne ­Marlboroughs Einverständnis vorgenommen werden konnten.211 Allerdings ist bisher der Informa­tionsaspekt als wichtige Patronagewährung kaum beachtet worden – erst recht nicht im Kontext der transna­tionalen alliierten Armee. Hier besitzt allerdings, wie gesagt, der Zusammenhang von Informa­tion und Patro­ nage eine hervorstechende Bedeutung. 207 Zu Patronage als „important instrument of political control“ siehe: Peck, Court Patronage, 15. Zu den sozia­l zentralen, instrumentell aber oft unspezifischen Funk­tionen von Patro­ nage für den Patron siehe daneben v. a.: Dewald, European Nobility, 42. Mit Heinrich Popitz könnte man die Funk­tion von Patronage für den Patron auch als „instrumentelle Macht“ bezeichnen, die in der „Steuerung des Verhaltens anderer durch Drohungen und Versprechungen“ besteht – wobei für Patronage der Aspekt des (unspezifischen) Versprechens charakteristisch ist. Siehe Popitz, Phänomene der Macht, 79. 208 Siehe Kapitel 3.3.3. 209 Vgl. Rowlands, Dynastic State, 282 – 285, 349 – 362. 210 Vgl. Jones, Marlborough, 40 f. 211 Vgl. Burton, Committee of Council, 81; siehe auch: Bély/Bérenger/Corvisier, Guerre et paix, 56 f.

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Dies sei an wenigen Beispielen illustriert: Viele Offiziere sprechen davon, es sei ihre Pflicht (devoir), Marlborough zu informieren – und machen damit darauf aufmerksam, dass es sich bei den Beziehungen z­ wischen den meist in niederländischen Diensten stehenden Offizieren und dem eng­lischen Oberkommandierenden der Allianztruppen um amtsähn­liche Beziehungen mit relativ klar umrissenen Dienstpflichten handelte. Allerdings war es offensicht­lich nicht so, dass alle höheren Offiziere jederzeit und überall gehalten waren, direkt an Marlborough zu schreiben. In bestimmten Fällen bat Marlborough selbst bestimmte Offiziere, ihn auf dem Laufenden zu halten – was, nicht zu Unrecht, als besondere Auszeichnung verstanden wurde: „Comme votre Altesse me fit la Grace de m’ordonner a son depart de l’armée de l’informer de ce qui sie passeroit du coté des Ennemis j’auray l‘honneur de vous dire […]“212. Der kaiser­liche Offizier Hohendorff spricht schlicht von der „permission“, die Marlborough ihm gegeben habe, ihm zu schreiben.213 Doch konnte man auch schreiben (z. B. eben mit Verweis auf devoir), wenn man nicht dazu aufgefordert worden war.214 Dies galt in mindestens einem Fall sogar für einen schwedischen Oberst – Angehöriger also eines Heeres, das mit England weder verbündet noch verfeindet war: Marlborough hatte 1707 (im Umkreis der schwedischen Besetzung Sachsens) ein großes Interesse an Informa­tionen über die schwedische Armee, und der schwedische Oberst Hamilton hatte offenbar ein mindestens ebenso großes Interesse an Marlboroughs Protek­tion.215 Auffällig ist aber in der Mehrzahl solcher Formeln vor allem in Briefen niederländischer Offiziere und Festungsgouverneure, dass kunstvoll im Unklaren gelassen wird, wer eigent­lich wem einen Gefallen tut, wer wem eine Gunst erweist, wie devoir und grace (oder ordre und honneur) sich zueinander verhalten. In vielen Fällen verbinden sich militärische Dienstpflicht und höfisch anmutende Etikette und Rhetorik unauflös­lich: „Vôtre Altesse me fit l‘honneur au Camp de Rosselaer de me dire de luy êcrire, lorsque je pris conge d’elle. C’est pour obeir à cet ordre, 212 Vgl. van Wassenaer an Marlborough, 25. November 1706, in: BL Add. 61310, 135r. 2 13 Vgl. Hohendorff an Marlborough, Wien, 3. Februar 1708, in: BL Add. 61310, 194r; zu Hohendorff siehe: Braubach, Vertrauter, 126 – 162. 214 Vgl. den Brief des hannoverschen Generalmajor Villers, 27. August 1705, in: BL Add. 61308, 166r. Siehe auch den Brief des kaiser­lichen Offiziers Grad Harrsch, in: BL Add. 61311, 115r–122v. Der kaiser­liche Oberst Baron Browne de Camus scheint dagegen nicht auf Marlboroughs Protek­tion gehofft zu haben; er teilt ­diesem mit, er schreibe ja bereits an den eng­lischen Residenten Davenant. Vgl. BL Add. 61310, 98v–99r. 215 Siehe die Briefe Hugo Johan Hamiltons an Marlborough, der Marlborough bittet, über die schwedische Armee berichten zu dürfen; BL Add. 61311, 28r, 62r, 95r.

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que je prends la Liberté de dire […]“216. Oder auch: „Je prend la Liberté (Comme êstant Le moindre de mes devoirs) de donner a Vôtre Altesse Les avis en detail des mesures et preparatifs de l’Ennemi […]“217. Selten verbanden sich mit solchen Formeln handfeste und explizite Wünsche, zum Beispiel eine Empfehlung Marlboroughs an Heinsius.218 In den meisten Fällen wurde eher auf unspezifische protec­tion abgezielt, die irgendwann einmal von Nutzen sein konnte. Dass die gerade in militärischen Kontexten verbreitete Verbindung von Informa­tionspflicht und Patronagegesuch sogar gewisse Dysfunk­tionalitäten ausbilden konnte, wird deut­lich aus einem Brief des in niederländischen Diensten stehenden schwedischen Generalleutnants Bengt Oxenstierna. Jedenfalls erweckt Oxenstierna den Eindruck (und auch dies wird wiederum höfische Rhetorik sein), er leite nur angenehme, nicht aber unangenehme Informa­tionen weiter, um Marlborough nicht zu verletzen: „La repugnance que j’ay de mander a Vostre Altesse de nouvelles desagreables est uniquement cause qu’elle n’a point receu de mes lettres depuis nostre arrivée devans cette place, car de la maniere que les choses y sont allées jusqu’icy, je n’aurois pû vous en informer Milord sans vous chagriner, et j’ay mieu aime laisser cette Commission a un autre. ­Pardonnez moy s’il vous plaie cette delicatesse, et seriez tres persuadés que quand les affaires iront mieux vous n’eurez point a vous plaindre de mon irregularité.“219

Nun war dies eher die Ausnahme als die Regel, die darin bestand, dass sich zwar Patronagebitten eng an dienst­liche militärische Informa­tion anlagerten, diese aber nicht derart überlagerten, wie es aus dem gerade zitierten Passus deut­lich wird. Doch wenn der Eindruck zutrifft, dass gerade in militärischen Kontexten Informa­tion und Patronage auf überaus enge Weise miteinander verknüpft waren: 216 Brief des niederländischen Generalmajors Montaciel an Marlborough, 5. Juli 1706, in: BL Add. 61309, 200r. 217 Brief des kaiser­lichen Obersten in niederländischen Diensten van Guethem, 23. ­Februar 1707, in: BL Add. 61310, 202r–v. Siehe auch den Brief des niederländischen Offiziers Reinaud während der Belagerung von Lille, 20. November 1708, in: BL Add. 61312, 159r: „apres l’ordre dont Il â pleu à votre Altesse de m‘honnorer Je n’ai vouleu manquer a L’informer de ce qui set passé depuis se tems la au siege de la citadelle.“ 218 Siehe Brunet de Rochebrune an Marlborough, 10. Mai 1710, in: BL Add. 61204, 90r: „Si Vostre Altesse Serenissime est satisfaite des nouvelles que j’ay l’honneur de luy commu­niquer quelques fois, je la supplie tres humblement d’avoir la bonté d’en marquer sa satisfac­tion dans les premieres lettres qu’elle ecrira a Monsieur le Conseiller pensionnaire […]“. 219 25. Juni 1706, in: BL Add. 61309, 149r.

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Was bedeutet das dann? Marlborough besaß ja innerhalb der eng­lischen Armee (und auch der eng­lischen Diplomatie) jedenfalls in der Zeit seines größten Einflusses relativ große Freiheiten, Stellen mit seinen Klienten zu besetzen.220 Diplo­maten und auch Militärs niederer Ränge waren ihm nicht selten in Patronage­beziehungen verbunden; dies ist in den vorherigen Kapiteln manchmal zur Sprache gekommen. Die Offiziere und Kommandanten, mit denen Marlborough in Flandern korrespondierte, waren allerdings gerade keine Engländer, sondern gehörten in der Regel zur niederländischen Armee. Diese unterstanden zwar in letzter ­Instanz, aber eben praktisch doch relativ indirekt Marlboroughs Kommando. Auch sie suchten Patronage, bei der es allerdings selten um die Erlangung von Ämtern ging (auf diese hätte Marlborough keinen direkten Einfluss gehabt), sondern um unspezifischere Einflussnahmen. Das heißt: Es ist relativ naheliegend, warum (im Sinne subjektiver Motiva­tion) so viele Offiziere der Allianz Marlboroughs Patro­ nage wünschten. Doch auch für Marlborough waren sicher zwei Aspekte wichtig: erstens eine Ausweitung seines Einflusses über formale Amtsbeziehungen hinaus, zweitens die Tatsache, dass dies eine finanzielle Erleichterung bedeutete. Die Patronage suchenden Offiziere und Kommandanten bezahlten ja die ­Spio­ne, die sie aussandten und deren Berichte sie Marlborough zugäng­lich machten, selbst – Marlborough entstanden also keine Kosten. Plausibel ist aber auch die Annahme, dass die Patronageverbindungen gerade in der Situa­tion der Allianz dazu dienten, Offiziere verschiedener Länder fester an ihren obersten Kommandierenden zu binden. Die internen Funk­tionsweisen frühneuzeit­licher Militärbündnisse sind bisher kaum erforscht; zu den sozia­len Praktiken, die genutzt wurden, um eine transna­tionale Allianz zu organisieren, ihr Kohäsion zu verleihen und unvermeid­liche Konflikte zu lösen, gibt es kaum Untersuchungen.221 Dies gilt auch für die alliierte Armee im Spanischen Erbfolgekrieg. Die wenigen Beiträge, die sich mit ihrem internen Funk­tionieren beschäftigen, lassen aber mindestens erkennen, dass es Probleme gab: Übereinstimmend, wenn auch in den Wertungen unterschied­lich, betonen alle Arbeiten die Abstimmungsprobleme z­ wischen eng­lischem Oberkommandierenden und niederländischen Felddeputierten. Das politische wie militärische Problem der fragilen Allianz der Seemächte bestand ja darin, dass die Niederländer einem eng­lischen Oberkommandierenden nur unter der Bedingung zugestimmt hatten, 220 Vgl. Snyder, Diplomatic Service; Burton, Committee of Council, 81. 221 Vgl. Cesa, Allies; siehe dazu: Externbrink, Rezension. Wenige Bemerkungen, die eher mit dem Problem der Entscheidungsfindung in einer Allianzarmee zu tun haben, bei: Handrick, Pragmatische Armee, 279 – 287. Zum Forschungsstand siehe auch: K ­ aiser, Bündnis.

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dass ­diesem ein Konsulta­tionsgremium zur Seite gestellt wurde, das überdies im Zweifelsfall mit Den Haag Rücksprache halten sollte.222 Der Umstand, dass dies aus Sicht der Engländer und auch der eng­lischen Forschung die Durchschlagskraft der Allianztruppen erheb­lich minderte und objektiv zu regelmäßigen Verzögerungen führen musste, ist aber mög­licherweise nur der hervorstechendste Aspekt eines grundsätz­licheren Problems: des Problems näm­lich, wie in einer trans­na­ tionalen Armee mit einer zwar formal klar geregelten, in der Praxis aber äußerst kraftraubenden Befehlsordnung Zusammenhalt herzustellen war. Insofern bildeten die transna­tionalen Patronagebeziehungen, die aus Informa­tionskontakten hervorgingen, eine Mög­lichkeit, die in der Allianzsitua­tion ausfransenden formalen Dienst- und Pflichtbeziehungen innerhalb des Militärs komplementär zu ergänzen. Die Relevanz von Informa­tion bemaß sich hier nicht zwangsläufig an ihrer unmittelbaren instrumentellen Bedeutung, sondern eher daran, dass sie ein Mittel war, über Informa­tionskorrespondenzen und die aus ihnen erwachsende Patronage der alliierten Armee eine gewisse Kohäsion zu verleihen. Damit dienten diese Patronagebeziehungen nicht nur dem jeweiligen Klienten, sondern auch Marlborough als Patron.

4.4 Information als Repräsentation von Kompetenz und Legitimität 4.4.1 Lett me know every thing: Kompetenzrepräsentation oder Fetischismus?

Neben der instrumentellen Nutzung von Informa­tion für Entscheidungen oder zur Unsicherheitsminimierung und ihrem Einsatz als Patronagemedium soll hier ein weiterer Punkt benannt werden, der die häufig beobachtbare „conspicuous over-­consump­tion of informa­tion“223 erklären kann. Oft drängt sich der Eindruck auf, man habe es mit einer Art von Informa­tionsfetischismus zu tun – verstanden als Selbstzweckhaftigkeit der Informa­tionsgewinnung, die poten­tielle Nutzungsmög­lichkeiten aus dem Auge verliert.224 Die organisa­ tionssoziolo­gische Forschung hat, dies ist bereits zitiert worden, das Phänomen 222 Vgl. Stapleton, ‚By thes difficultys‘, aber auch die älteren Arbeiten von: Coombs, Augmenta­ tion; Wijn, Le duc de Marlborough. 223 Feldman/March, Informa­tion in Organisa­tions, 182. 224 Zum Problem des Informa­tionsfetischismus siehe: Weltz, Informa­tion; Hartmann, Fetisch Informa­tion.

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der geradezu demonstrativen Informa­tionsgewinnung anders zu erklären versucht. Statt von einem Selbstzweck auszugehen, weist sie auf die Sekundärfunk­tionen von Informa­tion hin: Informa­tion sei eben nicht nur unmittelbar entscheidungsoder handlungsrelevant, sondern sie biete in organisa­tionsförmigen Strukturen auch eine Mög­lichkeit der „representa­tion of competence“225. Informa­tion sei die wichtigste Ressource, um eine Entscheidung und einen Entscheidungsträger als kompetent, ra­tional und effizient auszuweisen. Damit werde sie zum Legitimita­tionsargument – und zwar weitgehend unabhängig von ihrer Nütz­ lichkeit und Nutzung. Für andere frühneuzeit­liche Kontext, etwa für den spanischen König ­Philipp II., ist diese Legitima­tionsfunk­tion von Informa­tion eindrück­lich herausgearbeitet worden.226 Auch für die eng­lische Bürokratie des 17. Jahrhunderts ist darauf hingewiesen worden, dass neben bürokratischer Effizienz auch Statusfragen eine große Bedeutung für die Akteure und ihr Informa­tionsverhalten besaßen.227 Auffällig ist allerdings für die eng­lische Regierung um 1700 und auch für Marlborough, dass dieser Aspekt sehr selten thematisiert wird. Genau wie die gezielte Evalua­tion von Informa­tion, die oben diskutiert wurde, ist auch die offensive Argumenta­tion mit der eigenen Informiertheit vergleichsweise selten zu beobachten. Dieser Umstand mag damit zusammenhängen, dass die Legitima­tionsfunk­tion von Informa­ tion mutmaß­lich eng mit einem relativ hohen Grad an Organisa­tionsförmigkeit zusammenhängt – weshalb die Organisa­tionssoziologie sie gerade in ­diesem Umfeld hat feststellen können. Die relativ schwach organisa­tionsförmige Struktur der eng­lischen Regierung um 1700 und auch das Neben- und Ineinander von adligem und administrativem Selbstverständnis der Akteure legten diese Op­tion nicht zwingend nah. So wie die Secretaries of State Informa­tionsgewinnung individuell eine unterschied­lich große Bedeutung beimaßen, genauso wurde auch die Repräsenta­tion der eigenen Kompetenz durch Informa­tion und Informiertheit nur punktuell eingesetzt. Allerdings dürfte die immer wieder beobachtete Diskre­tion, mit der Politiker die Identität ihrer Informa­tionsquellen geheim hielten, ebenfalls eine Art implizites Legitima­tionsargument darstellen: Mög­licherweise ging es dabei nicht nur um den Schutz der eigenen Informanten, sondern auch darum, die Umwelt darüber im Unklaren zu lassen, wie groß und wie gut der eigene Informantenkreis war.

225 Feldman/March, Informa­tion in Organisa­tions, 177. 226 Vgl. Brendecke, Imperium, v. a. 82. 227 Vgl. Marshall, Sir Joseph Williamson, 25.

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Dennoch ist zuerst einmal eine Differenz zu den Ergebnissen der auf die Moderne bezogenen Organisa­tionsforschung zu konstatieren. Es gibt charakteristischerweise zwei Ausnahmen von dieser Regel: Gerade für die beiden Politiker, die als Secretaries in besonders auffälligem Maße an Informa­tionsgewinnung interessiert waren und in dieser Hinsicht besonders eng mit Marlborough kooperierten, ist die Funk­tion von Informa­tion als Kompetenzrepräsenta­tion mindestens plausibel zu machen: für Sunderland und für Harley. Damit können beide in einem in dieser Hinsicht eher uninteressierten Umfeld als Pioniere einer neuen Nutzung von Informa­tion gelten – einer Nutzung allerdings, die erst einmal wenig mit dem instrumentellen Nutzen von Informa­tion zu tun hat. Oben ist bereits auf die auffällige Emphase hingewiesen worden, die S ­ underland in seiner Korrespondenz mit dem Brüsseler Gesandtschaftssekretär John Lawes an den Tag legte, um diesen dazu anzuhalten, so oft und so ausführ­lich wie mög­lich die von ihm gewonnenen Informa­tionen zu übermitteln.228 Dieser Kontext ist einer der wenigen, in denen Informa­tionsgewinnung offen als Kompetenzrepräsenta­tion benannt wird. Gleich zu Beginn der Korrespondenz teilte Sunderland Lawes mit: „I desire you will send me frequent and punctual accounts of all publick occurrences that comes to your knowledge.“229 Dieser Grundton hält sich durch: „I thank you for your constant accounts of all that has passed before Brussells, and desire you will continue to lett me know every thing material that passes in those parts.“230 „I have received yours of the 18th 25th past, 4th & 8th Inst. N. S. and return you my thanks for the Intelligence they contain which I desire you will continue to send me from time to time as often as you have any thing worth communicating.“231 „I desire you will continue to send me what Intelligence you can from your parts.“232 Diese konstante Aufforderung wird von Zeit zu Zeit auf auffällige Weise qualifiziert, was die Frage nahelegt, worin eigent­lich genau die Funk­tion der Informa­tion bestand. Zuweilen wird die Informa­tionsforderung geradezu als Grußformel eingesetzt, die den Brief beschließt: „you need not doubt but particular accounts of all occurrences on your side will be very acceptable to […]“233; auch sonst wirkt die Aufforderung formelhaft. Angesichts des Umstandes, dass kaum die Mög­lichkeit bestand, alle eingehenden Informa­tionen in sinnvoller 228 Vgl. Kapitel 3.3.2. 229 Sunderland an Lawes, 27. Oktober 1707, in: BL Add. 61651, 70v. 230 3. Dezember 1708, in: BL Add. 61651, 140v. 231 4. März 1708/09, ähn­lich auch 4. Oktober 1709, 28. März 1710, in: BL Add. 61651, 154r; 188v; 213r. 232 22. April 1709, in: BL Add. 61651, 161v. 233 17. Juni 1709, in: BL Add. 61651, 175r.

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Weise zu verarbeiten und sie instrumentell zu n ­ utzen, liegt es nahe, mindestens auch eine selbstlaufende, durch die Organisa­tionsförmigkeit der Korrespondenz mitbedingte Routine zu unterstellen. Dass nicht alles, was Lawes in so großer Quantität übermittelte, gleich wichtig war, lässt auch Sunderland durchscheinen, wenn er durch ein „may be“ deut­lich macht, dass es mindestens so sehr um potentielle als um aktuelle Informa­tionen, mindestens so sehr um das Ausschließen von Eventualitäten wie um das Ausführen von Handlungen geht: „I hope you will continue your applica­tion to have full Informa­tion of what passes on the Frontiers, which you must be sensible may be of very great consequence in this Juncture.“234 Sunderland bezeichnet die Berichte Lawes in der Regel auch nicht als dring­lich oder wichtig, sondern eher als „acceptable“235. An anderer Stelle schreibt er: „there being nothing in your Letters which require a particular return, I should not have given you the trouble of this, were it not that I judge it agreable to you to know that they come safe to my hands.“236 Als Lawes einmal nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt schreibt, wirft ­Sunderland ihm dies vor, und zwar mit einem Argument, das wiederum die Frage nach der Funk­tion der diplomatischen Informa­tionsgewinnung nahelegt: „with five Mailes from Ostend last week there was not one letter either for my self or any in my office, which you must be sensible does not look very well“237. Es ‚sah also nicht gut aus‘, wenn Sunderland als Secretary und Behördenchef nicht regelmäßig und ordent­lich informiert wurde. Es ging ihm offenbar nicht nur um entscheidungsrelevante Informa­tionen, sondern auch um die Selbstdarstellung des Amtsträgers, um seine „representa­tion of competence“238. Auch wenn der Kontext die tagesaktuell brisante Frage nach mög­lichen Dünkirchener Aufrüstungen ist, lässt sich doch angesichts der zitierten Belege die Interpreta­tion nicht von der Hand weisen, es sei hier (auch) um die sekundäre Funk­tion der Legitimitätsrepräsenta­ tion gegangen. Als Robert Harley 1708 aus seinem Amt als Secretary of State entlassen wurde, schrieb er in einem Brief an den Herzog von Newcastle: „I am master of no news or intelligence and take no more pleasure in the schemes and projects which are every day new, than in hearing the dreams of a sick man.“239 Gerade Harley wurde aber immer wieder nachgesagt, er liebe Informa­tionen um ihrer selbst willen und 234 24. Januar 1709/10, in: BL Add. 61651, 209r. 235 9. September 1709, in: BL Add. 61651, 185v. 236 8. Juli 1709, in: BL Add. 61651, 178r. 237 22. November 1709, in: BL Add. 61651, 195v. 238 Feldman/March, Informa­tion in Organisa­tions, 177. 239 Harley an den Duke of Newcastle, 17. Juni 1708, in: HMC Portland, Bd. 2, 205.

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sei unersätt­lich nach ihnen.240 Nicht von ihm selbst stammt allerdings eine Aussage, die die Nutzung von Informa­tion als legitimierende Kompetenzrepräsen­ta­ tion deut­lich macht, sondern von einem Gegner: Marlboroughs Feldkaplan und publizistisches Sprachrohr Francis Hare schrieb Ende 1710 einen langen Brief an Marlboroughs Frau Sarah, in dem er den Zustand der eng­lischen Politik und die wichtigsten Akteure kommentierte. Harley, so schrieb Hare, sei als Secretary auch deshalb ein schlechter Behördenleiter gewesen, weil er zu viel Energie darauf verwendet habe, eigene Spionagenetze in Frankreich aufzubauen. Oben war ausgeführt worden, dass sich einige von Harleys Spionen in Frankreich als Doppelagenten entpuppt hatten.241 Hare bemerkte: „And what appeared of his intelligence with France is much to his disadvantage; it shewing an ill-­managed and expensive affecta­tion to appear considerable in his office, with very little or no advantage to the service.“242 Harleys Informa­tionsgewinnung sei also unnütz, teuer und ineffektiv gewesen, habe aber dazu dienen sollen, ihn als „considerable“ dastehen zu lassen – eine Bemerkung, die wiederum zeigt, dass das Deutungsmuster, das Informa­tion und Kompetenz miteinander verknüpfte, durchaus verfügbar war, wenn es auch relativ selten eingesetzt wurde. Wegen dieser Seltenheit erscheint extensive Informa­tionsgewinnung dem späteren Beobachter als tendenziell fetischistisch, weil selbstzweckhaft. Von Marlborough selbst gibt es kaum s­ olche Aussagen wie diejenige von Sunderland und diejenige über Harley. Wenn auch, wie breit gezeigt wurde, Informa­tionsgewinnung eine zentrale Aufgabe aller seiner Tätigkeitsfelder war, berief sich doch Marlborough selten auf Informa­tionen, um sich und seine Handlungen zu legitimieren oder sich selbst als kompetent zu repräsentieren – mit einer entscheidenden Ausnahme, die im nächsten Kapitel diskutiert werden soll. Doch auch in seinem Fall ist ex negativo zu sehen, wie er subjektiv Macht und Einfluss an Informa­tion und ihre Nütz­lichkeit koppelte: Während des Jahres 1711 begann der Treasurer Harley näm­lich nicht nur damit, die Korrespondenz der Gesandten alliierter Mächte in London zu überwachen,243 er fing auch die Korres­ pondenz seines Erzfeindes Marlborough ab – jedenfalls nahm M ­ arlborough das an. Sein Machtverfall äußerte sich nicht zuletzt in Informa­tionsparanoia. Bereits 240 Vgl. Plumb, Organiza­tion, 138. Auch nach seiner Demission unterhielt Harley übrigens Spione am Hof, um z. B. Marlboroughs Frau Sarah zu überwachen. Vgl. Harris, Passion for Government, 145. 241 Vgl. Kapitel 3.3.1. 242 Francis Hare an Sarah, 1. Dezember 1710, in: Private Correspondence of Sarah, Bd. 2, 54. 243 Vgl. Jarnut-­Derbolav, Österreichische Gesandtschaft, 480.

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im Sommer 1710 zeigte er sich Godolphin und Sarah gegenüber überzeugt, dass Harley ihre Briefe interzipiere,244 und diese Sorge (Marlborough hätte gesagt: diese Gewissheit) verschärfte sich im folgenden Jahr.245 Aus einem Nutznießer der Informa­tionsgewinnung war Marlborough, jedenfalls in seiner eigenen Wahrnehmung, zu deren Opfer geworden. Tatsäch­lich dürfte seine eigene politische Informa­tionslage sich im Jahr 1711 dramatisch verschlechtert haben.246 Der wichtige Brüsseler Spionageorganisator John Lawes etwa arbeitete jetzt wie andere Spione für den politischen Gegner in London (allerdings waren Caillaud und vor allem Jaupain Marlborough weiter eng verbunden). Viel massiver war der Informa­tionsrückgang im Hinblick auf die eng­lische Politik: Marlboroughs enger Freund Godolphin war als Treasurer genauso entlassen worden wie sein ungeliebter Schwiegersohn Sunderland als Secretary. Seine Frau Sarah war vom Hof entfernt worden und fiel daher als Informa­tionsagentin aus. Die Tatsache, dass Marlborough im Jahr 1711 begann, den populären Newsletter John Dyers zu abonnieren,247 um überhaupt noch auf dem Laufenden zu sein, spricht Bände: Vorher hatte er das schlicht nicht nötig gehabt. Informa­tionsrückgang und Machtverfall entsprachen sich also – und zwar unabhängig von der Frage, wie nütz­ lich Informa­tionen im Einzelnen tatsäch­lich waren. Vor allem aber erschienen ­Marlborough, dies zeigt die Episode, Informa­tionen als Voraussetzung erfolgreichen Handelns unabdingbar. Abgesehen von dieser Periode schwindender Macht spielte allerdings in ­Marlboroughs Selbstverständnis militärischer Erfolg eine so zentrale Rolle, dass Marlborough, wenn er explizit darüber reflektierte, Informa­tion fast ausschließ­lich als komplementäre Unterstützung für militärische Ak­tionen ansah. Dafür ist eine Aussage Marlboroughs charakteristisch: In der Korrespondenz mit Heinsius ging es im Winter 1704/05 um die Frage, ob und wie man an gesicherte Informa­tionen über die gerüchteweise kolportierte Mög­lichkeit eines Bündniswechsels des baye­ rischen Kurfürsten gelangen könne.248 Marlborough ließ sich über die geheime 244 Vgl. Marlborough an Godolphin, 24. Juni/5. Juli 1710; Marlborough an Sarah, 26. Juni/7. Juli 1710; Marlbough an Godolphin, 19./30. August 1710; Godolphin an ­Marlborough, 29. August 1710, alle in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1543, 1546, 1609, 1617. 245 Vgl. Marlborough an Sarah, 5./16. April 1711; Marlborough an Sarah, 11./22. Oktober 1711, beide in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1662 u. 1684. 246 Vgl. Coxe, Memoirs, Bd. 3, 65. 247 Vgl. Barber, It is Not Easy, 296; siehe auch Marlborough an Sarah, 25. September/6. Oktober 1711, in: The Marlborough-­Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1641. 248 Max Emanuel versuchte nach der Höchstädter Niederlage, den Alliierten den Eindruck zu vermitteln, er denke darüber nach, sich aus dem franzö­sischen Bündnis zu lösen.

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Annäherung auf dem Laufenden halten und schrieb an Heinsius: „if you can order it so as to know their thoughts without its being made publick, it might be of use“249. Weitaus wichtiger aber als die geheim gewonnenen Informa­tionen sei etwas anderes: näm­lich militärische Siege. Marlborough setzte den zitierten Satz so fort: „but the surest way to make it succeed is to be early in the field.“250 Ohne diesen vereinzelten Beleg überzustrapazieren, zeigt er doch die Rangordnung, in die Marlborough die Gewinnung von Informa­tion einordnete. Schon deshalb war Informa­tion als Kompetenzrepräsenta­tion und Selbstlegitima­tion für ihn nicht zentral. Allerdings gibt es eine Ausnahme, und zwar im Kontext von Marlboroughs Sturz. 4.4.2 His Eyes and Ears must be in all Secret Cabinets: Legitimation durch Information?

Für Marlborough war die Selbstlegitima­tion mit oder durch Informa­tion keine administrative Standard-, sondern eine politische Ausnahmepraxis. Zu kaum einem anderen Zeitpunkt in Marlboroughs Karriere während des Spanischen Erbfolge­ krieges tritt die Bedeutung von Informa­tion als Repräsenta­tion von Effizienz so deut­lich hervor wie im Moment seines Sturzes. Diese Repräsenta­tion konnte und sollte gleichzeitig – so auch in ­diesem Fall – das eigene Verhalten legitimieren. Es ging dabei allerdings nicht um spezifische Einzelinforma­tionen, sondern um den generellen Komplex der Informa­tionsgewinnung als essentielles Element der Kriegführung. Die Beschuldigungen des Herbstes und Winters 1711, öffent­liche Gelder veruntreut zu haben, versuchte er, wie bereits zu Beginn ­dieses Buchs angedeutet, durch den Hinweis auf die Gewinnung von intelligence abzuwehren. Warum griff Marlborough in seiner Verteidigung gerade auf das Thema Informa­ tionsgewinnung (und nicht auf andere ­Themen) zurück? Die Frage so zu formulieren, bedeutet bereits, die Aussagen Marlboroughs, er habe das gesamte Geld, um das Diese Überlegungen (und die verwirrenden Annäherungsversuche, vermittelt durch den preußischen König) dienten wohl vor allem dazu, Zeit zu gewinnen. Zu den Geheimtreffen ­zwischen dem bayerischen Sekretär Reichardt und dem preußischen General­adjutanten Berlepsch siehe die Korrespondenz von Berlepsch mit ­Marlborough, in: BL Add. 61307 ff. 46r–48v, 57r–66v. Bereits vor Höchstädt hatten Reichardt und ­Berlepsch in diese Richtung verhandelt; siehe auch Marlboroughs Briefe an Harley aus dem Juni 1704, in: TNA SP 87/2, 65v–78r. Zum Kontext der preußischen Vermittlungsversuche siehe Naujokat, England und Preußen, 82 – 84. 249 Marlborough an Heinsius, 21. Dezember/1. Januar 1704/05, in: The Correspondence 1701 – 1711, 157. 250 Ebd.

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es ging, für intelligence verwendet, in Zweifel zu ziehen. Auch dies muss diskutiert werden; wenn aber plausibel gemacht werden kann, dass mindestens Teile d ­ ieses Geldes für andere Zwecke genutzt wurden und also mög­liche andere Begründungen bereitgestanden hätten, um die Nutzung des Geldes zu begründen, muss natür­lich beantwortet werden, warum Marlborough gerade darauf verfiel, mit intelligence zu argumentieren. Die These ­dieses Kapitels ist, dass Informa­tionsgewinnung sich deshalb als Argument anbot, weil diese sich erstens als Repräsenta­tion des eigenen umsichtigen, effizienten und erfolgreichen Handelns ­nutzen ließ; zweitens, weil dieser Zweck mit guten Gründen als konstitutiv intransparent behauptet werden konnte. Die Behauptung, das Geld für intelligence aufgewendet zu haben, war damit vermut­lich dasjenige Argument, das am wenigsten leicht zu widerlegen war. Dann stellt sich allerdings die Frage, warum Marlborough – angesichts eines so klug konzipierten Arguments – dennoch über die Affäre stolperte. In d ­ iesem Kapitel sollen diese Fragen behandelt werden, indem der Verlauf der Kontroverse und der Verhandlungen dargestellt werden. Zuvor müssen aber einige Hinweise zu den Problembereichen der Korrup­tion und des Favoritenwesens gegeben werden, die die Vorgänge des Winters 1711 erst verständ­lich machen. Denn der Sturz Marlboroughs verlief im Hinblick auf Korrup­tionsvorwürfe und deren Verknüpfung mit dem Favoritenwesen geradezu mustergültig. Das Problem frühneuzeit­licher Korrup­tion ist in jüngerer Zeit breit diskutiert worden. Die systematische Defini­tion des Phänomens (das meist breit als Erlangung eines privaten Vorteils durch Missbrauch eines öffent­lichen Amtes gefasst wird) hat sich dabei als schwierig erwiesen – auch weil den jeweiligen Defini­ tionen implizite Annahmen zum Beispiel über Vormodernität oder Modernität von Korrup­tion zugrunde liegen. So wird etwa einerseits Korrup­tion zu einem spezifisch vormodernen Phänomen erklärt, das durch den Ausbau formalisierter Organisa­tionen (inklusive schrift­lich normierter Erwartungshaltungen) in der Moderne abgenommen habe. Andererseits wird argumentiert, dass erst der Ausbau formalisierter Organisa­tionen Korrup­tion – als Abweichung von den normierten Erwartungen – mög­lich gemacht habe. Damit erscheine die Vormoderne nur in der modernen Rückschau als korrupt, dies sei aber eine anachro­ nistische Zuschreibung. Die besten Arbeiten zum Thema haben allerdings versucht, diese offensicht­ lich unproduktive Alternative zu überwinden.251 Vor allem zwei Hinsichten sind für ­dieses Kapitel weiterführend: Erstens gehört die Kommunika­tion über 251 Ich folge hier: Plumpe, Korrup­tion; Engels, Politische Korrup­tion; Thiessen, Korrup­tion und Normenkonkurrenz.

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Korrup­tion ganz zentral zum Phänomen Korrup­tion dazu – sie stellt im Falle einer ausgebildeten Öffent­lichkeit (die man für England um 1700 annehmen darf ) ein „kommunikatives Selbsterregungsschema“ bereit.252 Zweitens ist in der Vormoderne eine Gemengelage miteinander konkurrierender Normen in Rechnung zu stellen: einerseits eine (wenn auch weniger eindeutige) Korrup­ tionssemantik, die die private Vorteilsnahme von Amtsträgern mindestens mora­ lisch inkriminierte, andererseits geradezu eine Pflicht zur Bereicherung als Element einer sozia­len Norm (etwa im Rahmen von Patronageerwartungen). Da beide Normen – diejenige der Amts- wie diejenige der Patronagelogik – nebeneinander herliefen, wurde ­dieses Problem in der Regel mittels eines kasuistischen Systems von Ausnahmen gelöst, aber auch dadurch, dass Korrup­tion erst dann thematisiert und verfolgt wurde, wenn dies politisch opportun war.253 Korrup­tion wurde daher erst dann zum Problem, wenn plausibel ein Übermaß an persön­licher Bereicherung behauptet werden konnte, vor allem aber, wenn sie sich als „Mittel der Delegitima­tion der Stellung von Gegnern im Machtkampf ­zwischen konkurrierenden Hoffak­tionen“ anbot.254 Dies bedeutet vor allem, dass der Korrup­tionsvorwurf politisierbar war – ein Phänomen, das sich am Fall Marlboroughs in Reinform ablesen lässt. Der Vorwurf der Bestech­lichkeit, der Korrup­tion oder der Veruntreuung öffent­ lichen Geldes entzündete sich besonders gern an Favoritengestalten. M ­ arlborough war lange Zeit Annes Favorit gewesen oder bildete jedenfalls mit seiner Frau zusammen ein Favoritenpaar.255 Den Favoriten kennzeichnet die „persön­liche und tendenziell exklusive Gunst des Herrschers, die über das üb­liche Vertrauen gegenüber wichtigen Amtsträgern hinausgeht“256 – auch wenn Marlboroughs Stellung natür­lich auch durch seine formalen Aufgaben definiert war.257 Gerade in England erscheint die Favoritenrolle nach 1688 als Antwort auf die Frage, wie ein Monarch angesichts eines wachsenden und sich autonomisierenden Regierungsapparats seinen persön­lichen Einfluss geltend machen konnte.258 Gerade in England gab es 252 Plumpe, Korrup­tion, 30. 253 Vgl. Thiessen, Korrup­tion und Normenkonkurrenz; Engels, Politische Korrup­tion, 324 – 326. 254 Thiessen, Diplomatie vom type ancien, 485. 255 Zuvor war Marlborough der schließ­lich verräterische Favorit Jakobs II. gewesen; so kennzeichnet ihn noch Macky in seinen „Characters“; siehe Memoirs of the Secret Services, 4 f. 256 Asch, Schlußbetrachtung, 517. Siehe auch: ders., Lumine solis. 257 Vgl. zusätz­lich zur zitierten Literatur die Bemerkungen zum Mischphänomen des Günstling-­Ministers bei: Brockliss, Concluding Remarks. 258 Vgl. Onnekink, Mynheer Benting, 706 f.

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aber auch eine Tradi­tion der öffent­lichen Kritik am Favoritenwesen;259 bei Defoe heißt es: „the nacion is perticularly jealous of Favourites.“260 Diese Kritik wurde unter anderem dadurch angeheizt, dass die Figur des Favoriten – und dies galt auch für Marlborough – oft vor allem im Kontext von Geheimpolitik, also dem öffent­lich nur schwer zugäng­lichen Bereich der Arkana oder der monarchischen Prärogative angesiedelt war.261 Auch die Perzep­tion einer potentiellen Rivalität zum Herrscher, der ein besonders erfolgreicher Favorit ausgesetzt war, konnte Grund genug für seinen Sturz sein.262 Ein weiterer klas­sischer Topos der Favoritenkritik ist seine Verwicklung in dubiose Finanzgeschäfte.263 In allen diesen Hinsichten erscheint Marlboroughs dismissal als klas­sischer Favoritensturz.264 Das Spektrum der Korrup­tions- und Favoritenkommunika­tion (also der kursierenden stereotypen Deutungsmuster, die 1711 ohne Weiteres aktiviert werden konnten) lässt sich mit Rückgriff auf zwei öffent­lich verbreitete Gelegenheitsgedichte aus den ersten Kriegsjahren ermessen. In dem satirischen Gedicht „­Bribery and Simony: Or, a Satyr Against the Corrupt Use of Money“, das Edward Ward 1703 anonym veröffent­lichte, ging es zwar, soweit man sehen kann, nicht um Marlborough und dessen (ihm ­später vorgeworfene) Verschwendung öffent­licher Gelder, aber doch um den Typus des „fighting hero“, der vor allem für die eigene finanzielle Bereicherung kämpfe: „‘tis Pay and hopes of Plunder makes him fight“265. Wards Text identifizierte also den Krieg und das Militär als ein Setting, in dem Korrup­tion besonders leicht blühen könne. Am anderen Extrem der Skala von Korrup­tions- und Favoritendiskurs steht die von Joseph Addison im Nachgang der battle of Blenheim 1704 veröffent­ lichte Apotheose Marlboroughs, in der en passant ein ganz anderer Typus des eng­lischen Favoriten charakterisiert wird (der sich vermut­lich vor allem von seinem franzö­sischen Gegenstück unterscheidet): Der Favorit erscheint hier als enger Freund des Monarchen, der dessen Vertrauen aber auch verdient – er 259 Vgl. Worden, Favourites. 260 Warner, Unpublished Political Paper, 132. 261 Vgl. Asch, Schlußbetrachtung, 521. 262 Vgl. ebd., 523. 263 Vgl. ebd., 527. 264 Dies wird in der Forschung selten systematisch angesprochen, da die Favoritismusforschung sich stark auf den Zeitraum 1550 – 1650 konzentriert; vgl. Brockliss, Concluding Remarks. Und in der Tat ist diese Periode eine der Hochzeiten des Favoritismus, während die späte Frühneuzeit nur partiell von ­diesem Phänomen berührt wird. Wichtig ist sicher, dass Marlborough nicht allein Favorit war, sondern in ein Favoritenpaar eingebunden war. 265 Ward, Bribery, 11.

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ist nicht etwa eine karikaturhafte Figur höfischer Kabale, sondern hat seinen Platz durch sozusagen bürger­liches Leistungsethos gewonnen: „Thy (d. i. Englands) favourites grow not up by fortune’s sport, / Or from the crimes or follies of a court. / On the firm basis of desert they rise, / From long-­try’d faith, and friendship’s holy ties.“266 Rekapituliert man in d ­ iesem Lichte die systematischen Beobachtungen zu Korrup­tion und Favoritismus und sucht sie auf Marlborough zu beziehen, so wird deut­lich, wie genau die Affäre des Herbstes 1711 dem Modell eines Favoritensturzes durch Korrup­tionskommunika­tion folgt. Deut­lich ist näm­lich erstens, dass sich Marlborough und auch dessen Umfeld im Krieg und durch den Krieg im großen Maßstab bereichert hatten. Marlboroughs Geldgier war schon zeitgenös­sisch berüchtigt.267 Neben mutmaß­lich anderen Einnahmequellen bezog Marlborough etwa Geld aus dem Ämterverkauf innerhalb der Armee, der zeitgenös­sisch üb­lich war und sich in einer Grauzone z­ wischen Legalität und Illegalität abspielte.268 Dass Cadogan, der Paymaster of the Forces Abroad Brydges, wohl auch Cardonnel sich im Laufe des Krieges auf ungeheure Weise bereichert hatten, ist schon mehrfach angedeutet worden: Man denke an die Anschuldigungen der Niederländer gegen Cadogans Bestech­lichkeit als Diplomat in Brüssel 269 oder die Insidergeschäfte, die in Marlboroughs Umfeld aufgrund des Wissens über Truppenbewegungen getätigt werden konnten.270 Marlborough war – gegen Godolphins Rat – nicht gegen diese illegalen Praktiken vorgegangen.271 Ob und wie er selbst in sie verstrickt war, ist kaum einzuschätzen. Allerdings stellen Marlborough und sein Umfeld wohl ein frühes (wenn nicht sogar das früheste Beispiel) für das System dar, das am Ende des Ancien Régime „old corrup­tion“ genannt wurde: die 266 Addison, The Campaign, 3. Am Druckdatum dieser fünften Auflage (1713) ist zu ersehen, dass ­dieses Gedicht auch während des Exils Marlboroughs als Meinungsäußerung der Whig-­Opposi­tion kursierte. – Siehe ähn­lich auch (allerdings ohne explizite Nutzung des Favoritenbegriffs): Hare, The Allies, 49. 267 Siehe Fassmann, Gespräche In Dem Reiche derer Todten, Sieben und Viertzigste Entre­ vuë, 1077 – 1081; Goslinga, Mémoires, 43; vgl. auch die Hinweise auf die niederländische Sicht bei Veenendaal, Opening Phase, 45 u. 48. Vgl. auch die Spielkarte von 1712, die Marlborough beim Geldzählen zeigt – allerdings sagt Marlborough hier auch, wohl zutreffend: „I am not the first“: http://www2.warwick.ac.uk/fac/arts/history/students/ modules/hi979/fiscalmilitary/marlborough_card.jpg. 268 Vgl. Scouller, Armies of Queen Anne, 69 – 7 1, der allerdings diese Praxis apologetisch als Schutzmaßnahme vor dem Einfluss des Parlaments deutet. 269 Siehe Kapitel 3.3.2. 270 Vgl. Watson, Marlborough’s Shadow, 107; Graham, Auditing Leviathan; Davies, Seamy Side. 271 Vgl. Sundstrom, Sidney Godolphin, 121 f.

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Selbstreproduk­tion der Amtseliten durch eine Art politisch institu­tionalisierter Geldabzweigung, die im 18. Jahrhundert ein charakteristisches Merkmal der politischen Kultur Englands wurde.272 Ein Musterfall eines Favoritensturzes durch Korrup­tionskommunika­tion ist aber der Fall Marlboroughs zweitens auch deshalb, weil an ihm deut­lich wird, dass Korrup­tionsvorwürfe erst dann in dring­licher Weise erhoben wurden, als die Beendigung der politischen und militärischen Karriere Marlboroughs opportun und durchsetzbar schien. Er war Ende 1711 innerhalb der Regierung isoliert, galt als Hemmschuh für den separaten Frieden mit Frankreich, hatte sich in den letzten Jahren von der Königin entfremdet und war durch das Gesuch der Captain-­Generalcy for Life in den Ruf von Herrschsucht geraten.273 Das heißt: Auch wenn Teile der Vorwürfe gegen den notorisch geldgierigen General zutreffen dürften, hängen dennoch der Umstand, dass sie überhaupt erhoben wurden, und der Zeitpunkt, zu dem dies geschah, mit dem politischen Umschwung in England und der schwindenden Macht Marlboroughs zusammen. In einem Traktat, den Robert Harley nach seinem Sturz im August 1708 skizziert hatte, waren bereits eine ganze Reihe der 1711 gegen Marlborough erhobenen Vorwürfe angedeutet: Neben dem Vorwurf, mit dem jakobitischen Exilhof im Bunde zu sein und den Parteienstreit anzuheizen, legte Harley den Akzent vor allem auf die systematische finanzielle Ausnutzung des Krieges durch Marlborough, der den Krieg geradezu zur Bereicherung für sich und seine Familie führe.274 Doch charakteristischerweise blieb dieser Text 1708 unveröffent­licht. Die Vorwürfe wurden erst in dem Moment öffent­lich artikuliert, als die reale politische Chance bestand, Marlborough abzusetzen. Zwar war der Godolphin-­Administra­tion insgesamt von den Tories seit Jahren der zu sorglose Umgang mit öffent­lichen Geldern vorgeworfen worden,275 und gegen Ende des Jahrzehnts wurden die kritischen Stimmen lauter, die den sich hinziehenden Bau von Blenheim Palace (ein ungeheuer teures Geschenk an Marlborough nach dem Sieg von H ­ öchstädt) als Verschwendung öffent­licher Gelder brandmarkten.276 Marlborough wurde 272 Vgl. Knights, Rise of Old Corrup­tion; Harling, Parliament. 273 Zu Versuchen Marlboroughs, den Friedensprozess zu sabotieren, siehe Jones, ­Marlborough, 199. 274 Vgl. Harley, Plaine English. 275 Vgl. Coxe, Memoirs, Bd. 3, 267. 276 Vgl. etwa die Hinweise in: The Speech of the Lord Haversham’s Ghost, 4. Marlborough beauftragte den Paymaster of the Forces Abroad, Brydges, noch im Oktober 1711 damit, für eine akkurate Abrechnung der Baukosten zu sorgen; siehe Marlborough an Brydges, 1. Oktober 1711, in: Letters and Dispatches, Bd. 5, 518.

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von Swift als „Crassus“ bezeichnet; sein Geiz und seine Geldgier waren ab 1710 immer wieder Kritikpunkte in der öffent­lichen Debatte.277 Die Vorwürfe finanzieller Misswirtschaft, die sich gegen Godolphin und dessen gesamtes Umfeld richteten, versuchte Marlboroughs Gefolgsmann Robert Walpole in einem anonymen Pamphlet zu widerlegen.278 Und Marlborough selbst, sensibel für die Gefahr, die sich aus der neuen Machtposi­tion Harleys für ihn ergeben hatte, gab sich im Sommer 1711 gegenüber Harley geradezu als vorbild­ licher Haushälter, der das problematische Finanzgebaren in seinem Umfeld zu unterbinden suchte: „I am very sensible how necessary good husbandry is in the vast expence we are att, I have hethertoo heartily endeavour’d to putt an end to itt, and assure you that while the Na­tion is oblig’d to bare that heavy burden, it shall be my constant study to manage that part of the Warr I am concern’d in, with the utmost frugality.“279

Doch im Herbst 1711 nahm die Angelegenheit an Fahrt auf, und die Korrup­ tionskommunika­tion verdichtete sich. Jonathan Swifts im November erscheinendes wüstes Pamphlet „The Conduct of the Allies“ – eine Propagandaschrift für die neue Regierung und gegen den Krieg – war auch ein Angriff auf Marlborough und dessen Finanzgebaren. Diese Schrift, die in bis zu 11.000 Exemplaren zirkulierte, zerstörte Marlboroughs Glaubwürdigkeit.280 Mit einem empörten Gestus der Enthüllung des Klandestinen – der in der eng­lischen Pamphletistik dieser Zeit sehr üb­lich war 281 – wurde der General als machtversessen, geldgierig und korrupt decouvriert. Der Krieg sei geführt worden, „to enlarge the Territories of the Dutch, and encrease the Fame and Wealth of our General“282. Die Dauer des Krieges und die manifeste Unfähigkeit, diesen zu beenden, beruhe ganz wesent­ lich auf einer Verschwörung der Whigs und Marlboroughs, die den Krieg zur eigenen Bereicherung weiterführten und auf der Basis ihres Wissens über die 277 Vgl. Swifts Artikel im „Examiner“ Nr. 27, aus dem Februar 1711, in: Swift, Miscellanies in Prose, Bd. 9, 151 – 160. Zu den publizistischen Auseinandersetzungen v. a. seit 1710 mit Ad-­Hominem-­Angriffen auf Marlborough: Downie, To Settle the Succession, 78 – 85. 278 Vgl. Walpole, A State Of the Five and Thirty Millions. Vgl. dazu: Chandler, ­Marlborough, 302. 279 Marlborough an Harley, 22. Juni 1711, in: BL Add. 61125, 154r. 280 Vgl. Hattendorf, Churchill, 629. 281 Vgl. Bullard, Politics of Disclosure, 9. 282 Swift, Conduct of the Allies, 27 f. Zur Medienkampagne gegen Marlborough siehe knapp: Müllenbrock, Herzog von Marlborough; Späth, Facts and Fac­tions.

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Kriegsumstände lukrative Kreditgeschäfte tätigten.283 „So that whether this War were prudently begun or not, it is plain, that the true Spring or Motive of it, was the aggrandizing a particular Family, and in short, a War of the General and the Ministry, and not of the Prince or People.“284 Bereits Ende Oktober berichtete Marlborough Godolphin erregt über Vorwürfe der Commissioners for Taking, Examining and Stating, the Public Accounts of the Kingdom gegen ihn.285 Diese ständige Kommission, die nach der Glorious Revolu­tion gegründet worden war, stellte kein Äquivalent zu einem modernen Rechnungshof dar, besaß aber genügend Einfluss, um als Nukleus einer Opposi­tion gegen die Regierung zu fungieren, wie dies auch 1711 geschah.286 Marlborough wurden zwei Vorwürfe gemacht: Er habe von 1702 bis 1711 von den Vertragspartnern für die Brotversorgung der Armee jähr­lich eine Summe erhalten, die etwa einem Prozent, im Durchschnitt 66.000 Gulden, der an die Kontrakteure gezahlten Summe entsprach. Außerdem habe er von verschiedenen euro­päischen Souveränen jeweils 2 ½ Prozent des Soldes für die ihm zur Verfügung gestellten Subsidientruppen bekommen; insgesamt etwa 2,8 Millionen Gulden. Beides sei illegal und eine Zweckentfremdung öffent­licher Gelder gewesen.287 Marlboroughs Erklärung für die scheinbar illegal eingenommenen Gelder lief darauf hinaus, dass es schon seit Jahrzehnten üb­lich sei, dass der Befehlshaber der alliierten Truppen in den Niederlanden einen Anteil an den Subsidiengeldern erhalte: Er konnte sogar auf ein Ermächtigungsschreiben Königin Annes von 1702 verweisen, das sich in seinen Papieren befand,288 und in einem jeweils gleichlautenden Schreiben bestätigten dies eine Reihe euro­ päischer Monarchen und Diplomaten. 289 Insgesamt, so ­Marlborough, habe er die öffent­liche Hand sogar weniger gekostet als nötig – er habe vielmehr 283 Vgl. Swift, Conduct of the Allies, 64. 284 Swift, Conduct of the Allies, 60. 285 Vgl. Marlborough an Godolphin, 30. Oktober/10. November 1711, in: The Marlborough-­ Godolphin Correspondence, Bd. 3, 1685. 286 Vgl. Downie, Commission of Public Accounts; Knights, Parliament. 287 Vgl. van Nimwegen, Subsistentie, v. a. 305; Rabinowicz, Sir Solomon de Medina, 61 – 70 sowie die Quellendokumenta­tion bei: Cobbett, Parliamentary History, Bd. 6, Sp. 1050 – 1088. 288 Vgl. BL Add. 61326, 129r–130v. Siehe auch die Bestätigung vom 2. Juli 1706, in: HMC Marlborough, 16. 289 Vgl. BL Add. 61326, 153r–204r. Diese Briefak­tion wurde von Cardonnel und Cadogan organisiert; siehe den Brief von Cardonnel an Cadogan, 24. Dezember 1711, in: The Collec­tion of Autograph Letters, Bd. 2, 97 f. Dass diese konzertierte Briefak­tion der euro­päischen Öffent­lichkeit nicht verborgen blieb, geht hervor aus: Fassmann, Gespräche In Dem Reiche derer Todten, Sieben und Viertzigste Entrevuë, 1145.

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angesichts der unzureichenden Spionagefinanzierung durch sein Handeln Geld gespart.290 Marlborough bediente sich bei seiner Verteidigung für ihn ganz unüb­licher Wege: Er sprach im Oberhaus – was er selten tat – und gab seine Verteidigungsschrift in den Druck. Dass daneben auch zum Teil anonyme gedruckte Verteidigungsschriften mehrerer Vertrauter standen, war schon weniger unüb­lich und entsprach seiner Propagandapraxis.291 Doch die Veröffent­lichung einer eigenen Schrift zeigt seine ganze Bedrängnis und den daraus resultierenden, wenn auch scheiternden Versuch, die öffent­liche Meinung zu mobilisieren.292 Neben diesen öffent­lichkeitssteuernden Instrumenten steht aber eine andere Praxis, näm­lich eine (noch abgewendete) Duellforderung Marlboroughs an den Earl of Poulett nach dessen Oberhausrede, in der dieser Marlborough besonders scharf persön­ lich attackiert hatte.293 Trotz aller Bemühungen Marlboroughs entließ ihn die Königin am 30. Dezember 1711 aus all seinen Ämtern, vorgeb­lich, um eine störungsfreie Untersuchung der Vorwürfe zu garantieren. Am 24. Januar 1712 schließ­lich beschloss die Commission, der Empfang des Geldes der Brotkontrakteure sei illegal gewesen und die Ausgaben der 2 ½ Prozent von den Subsidiensummen hätten transparent belegt werden müssen.294 Das Verfahren wurde an ­diesem Punkt allerdings vorläufig eingestellt; es entwickelte sich daraus kein parlamentarisches Impeachment-­Verfahren, doch die Gefahr einer Fortsetzung war nicht gebannt und blieb bis zum Tod der Königin im Jahr 1714 bestehen. Marlborough hatte Angst vor einer Verurteilung und auch davor, das angeb­lich veruntreute Geld zurückzahlen zu müssen.295 Daher verließ er England und ging ins kontinentale Exil.296 Marlboroughs eigene Erklärung drehte sich von Beginn an um die Behauptung, er habe die Summen vor allem für Informa­tionsgewinnung, also für „keeping secret correspondence, and getting intelligence of the enemies mo­tions and designs“297, 290 Vgl. Marlboroughs Verteidigungstext, in: BL Add. 61326, 152v. 291 Siehe Metzdorf, Politik, 417 – 429. 292 Vgl. The Case of his Grace; vgl. Foot, The Pen and the Sword, 324 u. 345. Den Einsatz von gedruckten Verteidigungsschriften zur Steuerung der Öffent­lichkeit in Krisensitua­ tionen um 1700 diskutiert an einem anderen Beispiel auch: McJimsey, Crisis Management, v. a. 575. 293 Vgl. Churchill, Marlborough, Bd. 2, 951 f. 294 Vgl. Harris, Passion for Government, 187. 295 Vgl. Churchill, Marlborough, Bd. 2, 971. Vgl. die anschau­liche Schilderung des eng­lischen Impeachment-­Verfahrens bei: Krischer, Korrup­tion, 311. 296 Vgl. Gregg, Marlborough in Exile. 297 Cobbett, Parliamentary History, Bd. 6, Sp. 1050.

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genutzt. Zuerst einmal: Ob die von Marlborough vorgelegten Berechtigungsschreiben der Königin ihm tatsäch­lich erlaubten, so viel Geld für einen solchen Zweck auszugeben (auch dies war einer der umstrittenen Punkte), ist kaum objektiv zu beantworten. Charakteristisch ist sicher, dass seinem Nachfolger als Oberkommandierender, dem Herzog von Ormonde, die angeb­lich so problematischen Summen wie selbstverständ­lich weitergezahlt wurden.298 Charakteristisch sind aber auch die Versuche etwa Cardonnels, die Aussagen der Brotkontrakteure vor der Commission in Marlboroughs Sinne zu beeinflussen; man müsse sie als eine ganz selbstverständ­liche und bereits seit Langem gepflegte Praxis erscheinen lassen („make appear“) – was eher darauf hindeutet, dass sie genau dies nicht waren.299 Genauso wenig, wie es letzt­lich mög­lich ist, die recht­liche Grundlage von Marlboroughs Handeln zu objektivieren, ist es mög­lich, faktisch zu beurteilen, ob Marlboroughs Behauptung überhaupt zutrifft.300 Die moderne Forschung hat die Frage danach, ob Marlborough das Geld tatsäch­lich für Informa­tionsgewinnung nutzte, aus eben ­diesem Grund selten gestellt: Sie ist schlicht nicht seriös beantwortbar. Was zu konstatieren ist, ist eine eklatante Unterfinanzierung der regierungsseitigen Spionage, die Marlboroughs Argument nicht völlig aus der Luft gegriffen erscheinen lässt. Ebenfalls ist allerdings die immense Bereicherung Marlboroughs während des Krieges festzuhalten. Der Marlborough-­Biograph Ivor Burton schließt ohne starke Belege: „It is true that Marlborough did employ some of the money for intelligence work, but nothing like 2 ½ per cent of the entire cost of the 30,000 auxiliary troops could possibly have been needed for this purpose.“301 Dies scheint mir nicht nachweisbar zu sein, auch wenn es einige Plausibilität besitzt. Ebenso plausibel wie diese Korrup­tionsdeutung, für den hier behandelten Zusammenhang aber bedeutender, ist der Umstand, dass die Vorwürfe in dem Moment virulent wurden, als die Regierung sich Marlboroughs entledigen wollte. Man hat es ganz eindeutig mit einer typisch vormodernen Korrup­tionsaffäre zu tun, in der zweifellos valide Vorwürfe dann eingesetzt wurden, wenn es politisch opportun war.302 298 Vgl. Ashley, Marlborough, 135 f. 299 Vgl. Cardonnel an Cadogan, 24. Dezember 1711, in: The Collec­tion of Autograph ­Letters, Bd. 2, 97. 300 In den Rechnungsbüchern des Deputy Paymaster Sweet in: BL Add. 61406, wo es durchaus um Subsidiengelder und Brotkontrakte geht, fehlen Belege dafür, dass ­dieses Geld für Informa­tionsgewinnung ausgegeben wurde. Dies kann allerdings natür­lich kein Argument ex silentio gegen diese Behauptung sein. 301 Burton, Captain-­General, 188. 302 Vgl. Metzdorf, Politik, 420.

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Wichtiger als alle diese letzt­lich unlösbaren Probleme ist der kommunikative Gesamtkontext: Die Debatte mit den Commissioners und auch deren öffent­ liches Echo drehte sich in einem erheb­lichen Maße um die Fragen, ob es sich bei dem Geld um „publick money“ handele; ob Marlborough berechtigt gewesen sei, diese Summen für ­welche Zwecke auch immer abzuzweigen; ob sich aus Dokumenten aus der Regierungszeit Wilhelms III. nachweisen ließe, dass die von ­Marlborough geübten Praktiken angesichts der offensicht­lichen Unterfinanzierung der Informa­tionsgewinnung bereits lange gängig waren; ob sich schließ­lich aus der Nutzung für intelligence, wie auch immer es um ihre Legitimität bestellt war, eine Vernachlässigung anderer Bereiche der Kriegführung ergeben habe.303 Hier ist deut­lich zu beobachten, dass Marlboroughs Versuch, durch den Verweis auf die angeb­liche Nütz­lichkeit von intelligence und damit durch eine für besonders überzeugend gehaltene Begründung die Vorwürfe zum Verstummen zu bringen, ganz offenbar nicht gelang. Sie konnte wohl auch nicht gelingen: Zu sehr ging es im Winter 1711/12 bereits darum, Marlborough in jedem Fall seine Ämter zu entziehen. Argumente, wie plausibel sie auch sein mochten, fungierten nur noch als juristische Fassade eines politischen Spiels. Das Argument, das Geld sei für intelligence ausgegeben worden, wurde von Marlborough und seinen Anhängern immer wieder vorgebracht, während seine Gegner sich darauf kaum einließen. Auch die zeitgenös­sischen Pamphlete behandeln den Problemkomplex der Informa­tionsgewinnung nur am Rande. Offenbar war allen Kommentatoren bewusst, dass dies im Wesent­lichen ein Vorwand für politisches Handeln war.304 In den Streitschriften gegen Marlborough wurde auf seine Geldgier und seine übergroße Machtstellung abgehoben; die Frage, ob das zur Diskussion stehende Geld tatsäch­lich für Spionage ausgegeben worden sei, wurde in der Regel nicht einmal erwähnt. Dies lag wohl daran, dass man nicht geneigt war, daran zu glauben, sondern von einer Zweckentfremdung öffent­licher Gelder ausging. In dem Flugblatt „The Grand Enquiry, or, What’s to be done with Him?” heißt es knapp: „And had for Private Ends employ’d / What Publick Weal should have enjoy’d“305. Nicht einmal der mit den finanziellen Anforderungen der Spionage vertraute Defoe erwähnte ­dieses Thema in einem Pamphlet, in dem er 303 Vgl. als Quellen v. a.: Cobbett, Parliamentary History, Bd. 6, Sp. 1050 – 1088; The Case of his Grace; als parteiische Pamphlete: The Comparison or Whiggish Fulsom Flattery; Hare, The Conduct of the Duke of Marlborough; The Informa­tion Against the Duke of Marlborough. 304 Siehe die lange Liste von kommentierenden Pamphleten in: Horn, Marlborough: A Survey, v. a.  348 – 392. 305 The Grand Enquiry.

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die Absetzung Marlboroughs rechtfertigte; weder stimmte er Marlborough im Hinblick auf den enormen Geldaufwand für die Informa­tionsgewinnung zu, noch widerlegte er ihn.306 Auch die von Swift in den 1730er Jahren verfasste, aber auf zeitgenös­sischen Notizen beruhende „History of the Four Last Years of the Queen“ zeigt implizit, dass es in der Kontroverse um die Geldveruntreuung Marlboroughs jedenfalls nicht darum ging, unparteiisch auszuloten, ob Marlborough das Geld für Secret Services hätte ausgeben dürfen. Stattdessen erscheint die Affäre als ganz und gar politische Angelegenheit, in der die Korrup­tionsvorwürfe Marlboroughs Gegnern (zu denen Swift gehörte) als bequemes Mittel zum Zweck erschienen. Die Frage, ob d ­ ieses Geld überhaupt für die von Marlborough benannten Zwecke ausgegeben wurde – also die Frage nach der faktischen Richtigkeit seiner Aussagen – war dabei weit weniger von Interesse als der Versuch, ihm auf welchem Weg auch immer Verschwendung und illegitime Selbstbereicherung nachzuweisen.307 Das Verfahren gegen Marlborough sei „schnöde“ gewesen, wie David Fassmann im Reich urteilte.308 Offenbar erkannte man also auch hier die politische Absicht und war dementsprechend verstimmt. Aus all dem ist nicht zwangsläufig zu schließen, dass Marlboroughs Informa­ tionsgewinnung nicht wichtig gewesen sei oder dass das in Rede stehende Geld überhaupt nicht dafür benutzt worden sei. Dennoch sind die Aussagen ­Marlboroughs und seiner Verteidiger wohl weniger für ­dieses Problem aussagekräftig als vielmehr kommunikative Akte, die das Phantasma effektiver Spionage argumentativ zu ­nutzen versuchten: „We may, in a great measure, attribute most of the advantages of the war in this country to the timely and good advices procured with the help of this money.“309 Spionage als Begründung dafür, warum das zur Diskussion stehende Geld ausgegeben worden war, ohne dass sich dafür Belege erhalten hatten, spielt also vor allem in den Verteidigungsschriften eine Rolle. ­Marlborough selbst betonte die zentrale Bedeutung von Spionage für die Kriegführung: „I cannot suppose that I need say how Essential a part of the Service this is, that no War can be conducted successfully without early and good Intelligence, and that such Advices can’t be had but at a very great Expence. No body can be ignorant of this, that knows any thing of Secret Correspondence, or considers the Numbers of Persons that must be employ’d in it, the great Hazard they undergo, the variety of Places in which 306 Vgl. Defoe, No Queen: Or, No General. 307 Vgl. Swift, The History of the Four Last Years, 151 – 154. 3 08 Fassmann, Gespräche In Dem Reiche derer Todten, Sechs und Viertzigste Entrevuë, 999. 309 Cobbett, Parliamentary History, Bd. 6, Sp. 1050 f.

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the Correspondences must be kept, and the constant necessity there is of supporting and feeding this service: not to men­tion some extraordinary Expences of a Higher Nature, which ought only to be hinted at.“310

Marlborough ging nicht ins Detail, an welcher Stelle und zu welchem Zeitpunkt genau der Nutzen von Spionage sich bewiesen habe. Stattdessen verwies er pauschal auf seine militärischen Erfolge und führte diese geradezu als Beleg für eine erfolgreiche und damit teure Spionage großen Stils an: „[T]he many Successful Ac­tions, such as have surpassed our own Hopes, or the Apprehensions of the Enemy in this present War in Flanders, to which our constant good Intelligence has greatly contributed, must convince every Gentleman, that such Advices have been obtained, and consequently that this Money has been rightly applied.“311

Im Brief der euro­päischen Monarchen hieß es gar, neben Gottes Hilfe s­ eien die geheimdienst­lichen Tätigkeiten der wichtigste Erfolgsfaktor des Krieges gewesen: „la prudente et sage administra­tion de ces deniers a principalement contri­ bué, après la benedic­tion de Dieu au gain de tant des Victoires glorieuses“312. In einer angeb­lich von einem ehemaligen Offizier Marlboroughs stammenden anonymen Rechtfertigungsschrift wurde ähn­lich argumentiert: Marlboroughs „Eyes and Ears must be in all Secret Cabinets“, daher sei der zweifellos teure Secret Service unabdingbar gewesen: „and, without doubt, his Intelligence must be very good“313. Eine andere Verteidigungsschrift malte die Nütz­lichkeit von Spionage noch breiter aus: „Can it be imagin’d he has not had his Spies in every Place, a whole Army of them in Constant Pay to shew him where to find the Enemy unguarded, where to guard himself against him? Must he not have often drawn his Intelligence from the Fountain’s Head, from the first Counsells of the Enemy to be able to countermine all his Projects? And cou’d all this be done without Expence? Are this Sort of People so cheaply hir’d to expose themselves to the Danger of Dying infamously every Hour of their Lives?“314

310 The Case of his Grace, 8. 311 The Case of his Grace, 9. 312 Vgl. (als Beispiel für viele gleichlautende Briefe) den Brief des pfälzischen Kurfürsten Johann Wilhelm, in: BL Add. 61326, 183. 313 A Short Narrative of the Life and Ac­tions, 35. 314 A Speech without Doors, 6 f.

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Diesen Strang der Argumenta­tion – den Umstand näm­lich, dass Spionage teuer, aber dafür auch unermess­lich nütz­lich sei – brachte der hugenottische Journalist Abel Boyer 15 Jahre ­später noch einmal auf den Punkt: Für Marlborough sei es „absolutely necessary“ gewesen, „to be very watchful, and to employ Money without measure, to get intelligence of their Designs. And therefore it was natural to think, the Result of this Scrutiny should have been to return the Duke Thanks for imploying that Money so much to the advantage of the Common Caus“315.

Die Behauptung, Marlboroughs Informa­tionsgewinnung und Spionage sei nütz­ lich und effizient gewesen (und deshalb habe viel Geld in sie investiert werden müssen), stellte aber nur den ersten Teil des Arguments dar, das Marlborough und seine Verteidiger vorbrachten. Zusätz­lich bemühten sie sich, der Öffent­lichkeit die Unmög­lichkeit einer transparenten Belegpraxis vor Augen zu stellen. Dass es keine Abrechnungen für das Geld gab, wurde unter den Händen Marlboroughs und seiner Verteidiger gerade zum Argument dafür, dass es für Spionage ausgegeben worden sein müsse – denn, wie Marlborough selbst ausführte, der Bereich der Informa­tionsgewinnung erlaube keine transparente Rechnungslegung: „The Nature of the Thing not admitting of a particular Account“316. Auch dieser Punkt wurde von Marlboroughs publizistischen Verteidigern ausbuchstabiert. Die Praktiken der geheimen Informa­tionsgewinnung „never were or can be accounted for, without destroying the End and Use of secret Service“317. „Is the Duke to deliver a List of all his secret Correspondents? The Rewards he has given to them? And to produce the Receipt of every one before the Parliament? And what would be the End of this, but all those Correspondents should be broken upon the wheel for betraying the Enemy into his Hands?“318

315 Boyer, Memoirs of Queen Anne, 130. 316 The Case of his Grace, 12, siehe auch ebd., 13. 317 The Informa­tion Against the Duke of Marlborough, 19. 318 A Speech without Doors, 36. Ähn­lich auch: The Informa­tion Against the Duke of Marlborough, 20: Marlborough könne nicht angeben, „how, when, or to whom, or in what manner the same (die Geldsummen, M. P.) were disposed of, all Footsteps thereof being, as near as could be, destroyed, lest the many good Effects arising by the secret Disposi­tion of that Money should have been put to an End, and the Persons therein concern’d, in Viola­tion of the Faith given them, subjected to the greatest Mischiefs and Incoveniences.“

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Marlborough und seine Anhänger versuchten also, einer relativ ausweglosen Situa­tion durch den Verweis auf Spionage zu begegnen: Sie leiteten die militärischen Erfolge des Herzogs aus erfolgreicher Informa­tionsgewinnung her, und sie unterstützten diese Behauptung mit dem Hinweis auf die konstitutive Nicht-­Belegbarkeit von Spionage. Dieses Ex-­Silentio-­Argument war Ende 1711 vielleicht das einzige, das noch einen Hauch von Erfolg versprach. Dennoch blieb es, gerade wegen seiner argumentativen Fragilität, zweischneidig. Überzeugen konnte Marlborough seine Gegner nicht. Dies kann an einer letzten Episode einigermaßen schlagend demonstriert werden: Im November 1711, also im Verlauf der Untersuchungen der Commission, versuchte Marlborough Harley dazu zu bewegen, bei der Königin noch einmal ein gutes Wort für ihn einzulegen. Sein Argument sollte den seinerseits sehr um die Organisa­tion von Spionage bemühten Harley überzeugen; insofern verwies Marlborough auch hier auf den Komplex der Informa­tionsgewinnung: „No one knows better than your lordship the great use and expense of intelligence, and no one can better explain it.“319 Als im Sommer 1713 die akute Gefahr zu wachsen schien, dass das Verfahren gegen ihn wieder aufgenommen werden könnte,320 schrieb Marlborough aus Frankfurt erneut an Harley. Noch immer zeigte er sich erstaunt über die Anschuldigungen der Commissioners und über deren (von Harley sicher so gewollte) sophistische Verdrehung der Zusammenhänge. Auffälliger ist aber, dass Marlborough in ­diesem Zusammenhang nicht mehr auf die Nütz­lichkeit und Notwendigkeit von intelligence zu sprechen kam.321 Die selbstlegitimierende Argumenta­tion mit dem Komplex der Informa­tionsgewinnung hatte ihre Zeit gehabt. Sie hatte aber nicht funk­tioniert und wurde nicht wieder aufgegriffen. Auch dies zeigt insgesamt die Grenzen der Legitima­tionsfunk­tion von Informa­tion für die eng­lischen Akteure.

4.5 Zwischenergebnisse Die Untersuchung der Funk­tionen der Informa­tionen orientierte sich an der Beobachtung des Neoinstitu­tionalismus, dass Informa­tionen in Organisa­tionen nicht oder jedenfalls nicht nur gesammelt werden, um instrumentell (das heißt: für Entscheidungen) genutzt zu werden. Obwohl diese Auffassung ein zentrales Selbstbild von Organisa­tionsakteuren ist, sind doch die Informa­tionen kaum 319 Marlborough an Harley, 10. November 1711, in: Coxe, Memoirs, Bd. 3, 263. 320 Vgl. Gregg, Marlborough in Exile, 603 f. – die Folge war die mindestens rhetorische Wiederannäherung Marlboroughs an den jakobitischen Pretender. 321 Vgl. Marlborough an Harley, 9. Juni 1713, in: BL Add. 61125, 139r–v.

Zwischenergebnisse

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linear auf Entscheidungen bezogen. Noch wichtiger ist aber, dass Informa­ tionen darüber hinaus weitere Funk­tionen besitzen: etwa die Symbolisierung von Kompetenz. Das selbstzweckhaft anmutende Sammeln von Informa­tionen in Organisa­tionen hat auch mit unterschied­lichen Einschätzungen ihrer Nütz­ lichkeit seitens derjenigen zu tun, die sie beschaffen, und seitens derjenigen, die sie ­nutzen wollen. Mit dieser Abwendung von einer nur auf Entscheidungshandeln bezogenen Konzep­tion der Funk­tionen von Informa­tion wird der Begriff der Funk­tion bewusst weit gefasst und umschließt latente wie manifeste Funk­ tionen, Zwecke wie Nutzungsweisen. Ausgehend von d ­ iesem organisa­tionssoziolo­gischen Szenario wurden für ­Marlborough und die eng­lische Regierung vier mög­liche Funk­tionen der Informa­ tion identifiziert: Entscheidung, Unsicherheitsminimierung, Patronage sowie Kompetenz- und Legitimitätsrepräsenta­tion. Es zeigte sich, dass die Nutzung von Informa­tion durch die eng­lische Regierung zwar annäherungsweise in die Schritte Analyse, Evalua­tion, Verwertung und Archivierung eingeteilt werden kann. Vor allem aber wurde deut­lich, wie improvisiert und – gemessen am Ideal­ typus bürokratischer Informa­tionsnutzung – defizitär Analyse, Evalua­tion und Archivierung abliefen. Allerdings konnte an jeweils signifikanten Einzelfällen (vor allem der Ex-­post-­Evalua­tion des Invasionsversuchs von 1708 und dem Versuch einer Neuordnung des State Paper Office) der Versuch beobachtet werden, diese Schritte zu methodisieren. Im Hinblick auf die instrumentelle Nutzung von Informa­tion ergab sich, dass die Verknüpfung spezifischer Informa­tionen mit spezifischen Entscheidungen zwar hin und wieder plausibel zu machen, aber fast nie nachzuweisen ist. Dies liegt unter anderem an der Quellenlage, vor allem aber daran, dass (wie auch der neoinstitu­tionalistische Theorieentwurf nahelegte) die Akteure ganz offensicht­ lich Informa­tionen (trotz zum Teil widersprechender Selbstaussagen) nicht, oder jedenfalls nicht nur, mit dem Ziel einer unmittelbaren Nutzung sammeln ließen. Stattdessen bestand der wichtigste Nutzen von Informa­tion in ihrer Funk­tion als mother of preven­tion, also in der Minimierung von Unsicherheiten in einer als kontingent und unübersicht­lich erfahrenen Welt. Neben diese direkt instrumentelle Nutzung von Informa­tion trat ihre Funk­tion für die Herstellung und Stabi­ lisierung von Patronagebeziehungen (was vor allem im Hinblick auf die komplizierte Situa­tion der Militärallianz gewisse Kohäsionseffekte mit sich gebracht haben dürfte). Weniger prominent war angesichts des recht geringen Grades an formaler Organisa­tion innerhalb der eng­lischen Regierung die Nutzung von Informa­tion als Repräsenta­tion von Kompetenz und Legitimität – wenn diese auch, in generalisierter Weise, das Hauptargument Marlboroughs im Zuge seiner Verteidigung gegen die Korrup­tionsvorwürfe von 1711 darstellte.

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Das Verhältnis von Strukturen und Funk­tionen erwies sich insgesamt als komplementär: Anders als von Merton und Luhmann nahegelegt, erfüllten die Strukturen der Informa­tionsgewinnung, die Marlborough und die eng­lische Regierung aufbauten und nutzten, keine je spezifischen Funk­tionen. Ob eine Informa­tion auf dienst­lichem oder auf informellem Wege, durch eine Organisa­tion oder durch ein Netzwerk gewonnen wurde, spielte vielleicht im Hinblick auf ihre Bewertung eine Rolle, war aber hinsicht­lich ihrer Nutzung letzt­lich irrelevant.

5 Ergebnisse 5.1 Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung Um die Ergebnisse der vorliegenden Studie zusammenzufassen, soll noch einmal auf die vier Thesen zurückgegriffen werden, die in der Einleitung formuliert worden sind. Dabei wird nicht einfach wiederholt werden, was in den beiden Zwischenfazits (Kapitel 3.6 und 4.5) gesagt worden ist (auf die die Leserin und der Leser ausdrück­lich noch einmal verwiesen ­seien). Hier geht es noch stärker darum, die Erträge der Untersuchung systematisch zu konturieren. Die erste These lautete, dass Informa­tion den Akteuren als eine zentrale Voraus­ setzung erfolgreichen Handelns erschien und Informa­tionsgewinnung daher als zentrales Element der politischen, diplomatischen und militärischen Praxis um 1700 angesehen werden muss. Für die Untersuchung hieß dies, die Bedeutung von Informa­tionsgewinnung innerhalb des Spanischen Erbfolgekrieges durchzuspielen und diesen Krieg von der Informa­tionsgewinnung her zu beschreiben. Aus dieser Perspektive erwies sich der Erbfolgekrieg in vielfacher Hinsicht als Informa­tionskrieg – als Krieg, in dem Informa­tion und Spionage eine zentrale Ebene des Akteurshandelns darstellten und in dem um den Aufbau und die Nutzung von Strukturen, vor allem Infrastrukturen der Informa­tionsgewinnung gerungen wurde. Die These hat aber noch einen zweiten Akzent: Informa­tion „erschien“ den Akteuren als wichtig, und daher war sie wichtig. Unabhängig von der Frage näm­lich nach der tatsäch­lichen Nutzung gewonnener Informa­tionen lässt sich mit d ­ iesem Themenkomplex ein Bereich identifizieren, der das alltäg­liche Handeln politischer, diplomatischer und militärischer Akteure in hohem Maße prägte und strukturierte. Schaut man etwa auf die Versuche der Stabilisierung der Postinfrastruktur, aber auch auf das Phänomen der Interzep­tion, dann wird deut­lich, dass der Aspekt der Informa­tionsgewinnung für die Akteure zentral war. Es ist schwer auszumachen und stand auch nicht im Mittelpunkt der Untersuchung, ob und inwiefern sich die Situa­tion während des Spanischen Erbfolgekrieges von der Situa­tion davor oder danach unterschied. Abgezielt wurde auf eine Fallstudie frühneuzeit­licher Informa­tionsgewinnung – das heißt auf eine einerseits exemplarische Situa­tion, die aber andererseits individuell über das rein Beispielhafte hinauswies.1 Die hier beschriebene Konstella­tion war für das Ancien Régime relativ typisch, wies aber einige spezifische Elemente auf: die Kriegssitua­tion, die 1 Vgl. zum Unterschied von Beispiel und Fallstudie: Pohlig, Vom Besonderen zum Allgemeinen.

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Ergebnisse

zwar fließende Übergänge zum Friedenszustand aufwies, aber das generelle Problem von Geheimhaltung und Geheimnisaufdeckung ins Extrem steigerte; die herausgehobene Posi­tion Marlboroughs; schließ­lich der gegenüber der älteren Frühneuzeit höhere Grad an (auch für Informa­tionsgewinnung mobilisierbarer) Organisa­tionsförmigkeit, ein vermut­lich größerer Umfang von Initiativ- wie von Interzep­tionsspionage, aber auch eine verbesserte Postinfrastruktur. Die zweite These lautete, dass für die Informa­tionsgewinnung der Aufbau neuer und die Nutzung bestehender Infrastrukturen, Organisa­tionen und Netzwerke zentral war. Diese sollten dem Problem Rechnung tragen, wie unter Distanzbedingungen Kommunika­tion organisiert und stabilisiert werden konnte. Im Zentrum des ersten Hauptteils der Arbeit stand also ein Strukturbegriff, der erstens nicht jenseits des Handelns der Akteure angesiedelt war, sondern als auf Dauer gestelltes Handeln beschrieben wurde. Zweitens wurde ­dieses Handeln, das Strukturen produzierte, aber auch auf ihnen beruhte, im Wesent­ lichen als kommunikatives Handeln beschrieben – Kommunika­tion, vor allem schrift­liche und brief­liche Kommunika­tion, erwies sich als strukturbildend, aber auch als auf Strukturen angewiesen. Dieser Strukturbegriff ermög­lichte es, die Informa­tionsgewinnung Marlboroughs und der eng­lischen Regierung in eine Strukturgeschichte der Informa­tionsgewinnung zu integrieren, statt (wie dies üb­licher ist) eine pittoreske Geschichte unverbundener Personen und Ereignisse zu erzählen. Die drei gewählten Strukturbegriffe – Infrastrukturen als (oft materielle) Rahmenbedingungen des Handelns sowie weiterer Strukturbildung; organisa­tionsförmige Strukturen; informelle, auf Geldzahlungen oder Patronage beruhende Netzwerke – erwiesen sich als hilfreich, um die Kontexte und Kanäle von Marlboroughs Informa­tionsgewinnung typolo­gisch voneinander abzusetzen, aber auch, um sie in einem zweiten Schritt aufeinander zu beziehen und in ihrer Verflechtung zu untersuchen. In jedem Fall war aber für diese Art von Strukturgeschichte der Befund charakteristisch, dass indivi­ duelle Personen eine besondere Rolle spielten. Die Informa­tionsstrukturen, mit denen und innerhalb deren Marlborough agierte, hingen in hohem Maße von individuellen Personen und deren Engagement ab (dies gilt für die Secretaries of State im selben Maße wie für eine Spionagefirma wie die Caillauds). Eine solcherart konstruierte vormoderne Strukturgeschichte wird, dies kann heuristisch formuliert werden, das individuelle Moment generell in höherem Maße einzubeziehen haben, als dies eine tradi­tionelle Strukturgeschichte getan hat. Dieses individuelle Moment hat in großem Umfang mit der Notwendigkeit zu tun, Vertrauen zu produzieren – was dann leichter fiel, wenn Informanten in bekannte, größere Strukturen eingebunden waren, die wiederum an spezifische individuelle Personen gekoppelt waren.

Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung

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Hingewiesen wurde in ­diesem Zusammenhang auch auf die kontinuier­lich problematische Vermittlung dreier den Akteuren wichtiger Parameter: Entscheidend und problematisch erschienen den Akteuren erstens die Geschwindigkeit und zweitens die Sicherheit der Informa­tions-, vor allem der Postübermittlung. Waren beide schon miteinander kaum zu versöhnen, so erwiesen sie sich beide drittens eng gekoppelt an das Problem der Finanzierung der Informa­tionsgewinnung – meist: der Unterfinanzierung der Informa­tionsgewinnung, die sowohl in amtsals auch in netzwerkförmigen Strukturen zu beobachten ist. Allerdings war Geld nicht die einzige Währung, in der Informa­tionen bezahlt wurden: Fast genauso wichtig waren andere tauschförmige Arrangements, etwa Patronage. Die dritte These bezog sich auf den Umstand, dass Marlboroughs Informa­ tionsgewinnung in enger Verknüpfung mit der eng­lischen Regierung verlief. Im Einklang mit der neueren Forschung wurde damit die Vorstellung eines autonom und allein handelnden politischen und militärischen Akteurs zugunsten der Rekonstruk­tion von Verflechtungen Marlboroughs mit anderen Regierungsakteuren relativiert. Die Wege der Informa­tionsgewinnung, die Marlborough beschritt, hätte er ohne diese Einbindung nicht gehen können. Dies mindert nicht ­Marlboroughs Sonderrolle innerhalb Englands im Spanischen Erbfolgekrieg, sondern erlaubt es eigent­lich erst, diese präziser zu beschreiben (und darauf zu verweisen, dass sie eben auf der eigentüm­lichen Kopplung formaler Amtskompetenzen mit informeller Macht beruhte). Um zu ermessen, wo Marlborough mit eng­lischen Regierungsgremien kooperierte und wo er unabhängig von ihnen handelte, erwies sich die idealtypische Unterscheidung ­zwischen formalen und informellen, amts- und tauschförmigen Wegen – kurz: z­ wischen Organisa­tionen und Netzwerken – als hilfreich. Denn mittels dieser Unterscheidung konnte einerseits gezeigt werden, dass die Übergänge z­ wischen formalen und informellen Wegen der Informa­tionsgewinnung oft fließend waren, dass beide Bereiche überlappten oder sich informelle Netzwerke an Organisa­tionsstrukturen anlagerten. Andererseits konnte die Beschreibung dieser Übergänge überhaupt erst auf der Basis idealtypischer Differenzierungen erfolgen. So wichtig also auch in Zukunft die Einbeziehung informeller Strukturen für die Erforschung von Politik und Diplo­matie der Frühen Neuzeit sein wird, so problematisch erscheint es doch, den Gegensatz von amts- und tauschförmigen Strukturen vorschnell einzuebnen (so verständ­lich dies vor dem Hintergrund einer Forschungstradi­tion erscheint, die informelle Strukturen meist schlicht ignoriert hat). Viertens wurde die These formuliert, dass neben die direkt instrumentelle Entscheidungsfunk­tion andere Funk­tionen von Informa­tion traten, die die Akteure nicht immer explizit formulierten: die Minimierung von Unsicherheit, die Nutzung zu Patronagezwecken und die Repräsenta­tion von Kompetenz oder

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Ergebnisse

Legitimität. Kapitel 4 dieser Untersuchung hat diese Annahme empirisch belegen können. Die politikwissenschaft­liche wie historische Forschung neigt dazu, die direkt instrumentelle Funk­tion von Informa­tionen für Entscheidungen sehr hoch anzusetzen – und muss dann oft Umsetzungsdefizite konstatieren. Allerdings begegnet diese Interpreta­tion eben nicht nur empirischen Problemen (etwa dem Umstand, dass oft die Quellen fehlen, die eine Verknüpfung von Informa­tion und Entscheidung zeigen), sondern erweist sich auch als methodische Verengung. Eine Konzep­tion der Funk­tionen von Informa­tion, die (im Einklang mit der neoinstitu­tionalistischen Organisa­tionssoziologie) diese Prämisse relativiert, wird den Funk­tionsbegriff weiter fassen müssen und ihn auf manifeste wie latente Zwecke wie Nutzungsweisen beziehen. Die zentralen Begriffe der Struktur und der Funk­tion zielten damit also nicht auf einen mechanis­tischen Strukturfunk­ tionalismus, sondern im Gegenteil auf eine in hohem Maße akteursorientierte Perspektive. Die Akteure nutzten Informa­tionen durchaus als Reservoir für ihr Entscheidungshandeln. Und ein potentieller Praxisbezug war – neben dem Element der Neuheit – ja auch als Element der hier verwandten Informa­tionsdefini­ tion benannt worden. Vor allem folgten die Akteure aber einem ausgeprägten Nütz­lichkeitsphantasma: Sie waren zwar durchaus der Meinung, dass Informa­ tionen entscheidungsrelevant waren oder sein sollten, waren sich aber meist auch im Klaren darüber, dass in einer Kriegssitua­tion schlicht jede mög­liche ­Infor­ma­tion potentiell von Belang sein konnte. Daher ergibt sich der Gesamt­ eindruck von Dring­lichkeit und großem Zeitdruck, der die hier vor allem untersuchten Briefe fast durchgehend kennzeichnet. Die Potentialität ist zentral: Informa­tion erscheint in dieser Perspektive empirisch und methodisch eher als Vorsorge gegen gegenwärtige und unvorhersehbare zukünftige Unsicherheit; sie ist mother of preven­tion, die diese Unsicherheit so weit wie mög­lich minimieren soll. Allerdings war hier auch deut­lich zu beobachten, dass die Interessenlagen der unterschied­lichen Akteure durchaus differieren konnten: Während die eng­ lische Regierung sich in besonderem Maße für mög­liche jakobitisch-­franzö­sische Invasionen interessierte, war etwa der Aufmerksamkeitsfokus einer Spionagefirma wie der Caillauds deut­lich breiter. Neben die Nutzung für Entscheidungen und Unsicherheits­minimierung trat aber der Einsatz von Informa­tion als Patronage­ währung (was vor allem im Rahmen der Allianzarmee eine gewisse Kohäsion produzieren konnte) sowie – was sich aus dem begrenzten Organisa­tionsgrad der eng­lischen Regierung erklärt – in geringerem Maße auch als Repräsenta­tion von Kompetenz und Legitimität der Akteure. Der Umstand, dass die Verknüpfung von Informa­tion und Entscheidung oft schattenhaft bleibt, sollte also nicht zu der vorschnellen Deutung führen, dass man es in der beschriebenen Konstella­tion mit einer typisch vormodernen (im Sinne

Marlboroughs Geheimnis

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von: defizitären) Situa­tion zu tun habe. Eher ist zu vermuten, dass die Diffusität ­dieses Zusammenhangs und auch die besondere Wichtigkeit des Potentialis ein Charakteristikum auch moderner Organisa­tionen sind – gerade im Fall von Spionageorganisa­tionen, die generelle Überblicke, nicht spezifische Informa­tionen zu erlangen suchen, wird die Bedeutung der Funk­tion der Unsicherheitsminimierung immer größer sein als diejenige der Entscheidungsrelevanz. Dennoch zielte die Studie insgesamt eher auf das Profil einer Informa­tionsvormoderne als einer Informa­tionsmoderne: etwa im Hinblick auf das hohe Gewicht von Personen innerhalb von Strukturen. Zwar ist deut­lich, dass moderne Organisa­tionen in hohem Maße Ra­tionalitätsfassaden aufbauen und Selbstbilder pflegen, die durch eine effiziente Nutzung von Informa­tionen geprägt sind;2 daher dürfte auch moderne und postmoderne Informa­tionsgewinnung in ­diesem Sinne vormoderne Züge besitzen. Dennoch ist nach wie vor zu vermuten, dass sich im Zuge des Übergangs zur Moderne tatsäch­lich Effizienzgewinne verbuchen lassen. Ohne diese Frage letzt­lich entscheiden zu können, präsentierte die Studie auch hinsicht­ lich der Informa­tionsnutzung einen Typus vormoderner Informa­tionsgewinnung, der – bei einer gewissen Neigung zur epochentypolo­gischen Zuspitzung – als exemplarisch für die frühneuzeit­liche Situa­tion gelten darf.

5.2 Marlboroughs Geheimnis In der älteren Forschung ist Marlboroughs Informa­tionsgewinnung öfter mit seinem Charakter in Beziehung gesetzt worden: Marlborough habe einen besonders ausgeprägten Sinn für Geheimnisse und Geheimhaltung besessen;3 er sei schon seinen Zeitgenossen als besonders diskret, wenn nicht geheimnisvoll erschienen. 4 Nun führen psycholo­gische Spekula­tionen in ­diesem Fall nicht sehr weit. Es ist – ohne einen ausgeführten Vergleich – sowohl unklar, ob und inwiefern sich ­Marlboroughs Informa­tionsgewinnung von derjenigen anderer Politiker, Diplomaten, Generäle um 1700 unterschied, als auch, ob dies in irgendeiner Weise mit Marlborough als Person zusammenhängt. Was allerdings deut­lich wird, ist die Kopplung von Marlboroughs Methoden der Informa­tionsgewinnung an seine spezi­fische Rolle, die verschiedene formale Amtskompetenzen mit einer besonderen informellen Machtposi­tion innerhalb Englands und der Allianz verband. Dies 2 Dass diese mythisierende Selbstbeschreibung selbst für den Komplex Big Data gilt, betonen: Boyd/Crawford, Critical Ques­tions, 663. 3 Vgl. Belloc, Tactics and Strategy, 31 f. 4 Vgl. Trevelyan, England, Bd. 1, 188.

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Ergebnisse

zu konstatieren, heißt, eine psycholo­gische durch eine politische Argumenta­tion zu ersetzen. Damit ist die vorliegende, biographisches und systematisches Interesse miteinander in Beziehung setzende Studie – ohne doch ein strikt biographisches Vorhaben zu verfolgen – vergleichbar mit Ansätzen der neueren Biographieforschung, die die Besonderheit spezifischer Personen „in der Zusammenfügung von vorhandenen Zügen in einer außergewöhn­lichen Weise“ sieht.5 Es hat sich erwiesen, dass es zwar mög­lich und angesichts der Zentralstellung Marlboroughs im Spanischen Erbfolgekrieg auch sinnvoll ist, ihn heuristisch zum Mittelpunkt eines Informa­tionsnetzes zu erklären und dann zu zeigen, wie er (durch eigene Informanten, aber auch auf dem Umweg über die Secretaries of State etc.) mit Informa­tionen versorgt wurde. Als nicht adäquat hat sich dagegen die Vorstellung eines autonom agierenden Informa­tionsdienstes herausgestellt. Insofern diente die vorliegende Studie auch dazu, der hagiographischen Überhöhung Marlboroughs (die sich auch in der Annahme eines außerordent­lich effizienten autonomen ‚Geheimdienstes‘ zeigt) eine Perspektive entgegenzusetzen, die eine personalisierende Herangehensweise gerade problematisiert. Ob die Informa­ tionsgewinnung Marlboroughs (auch in Zusammenarbeit mit der eng­lischen Regierung) das oder ein Geheimnis seines Erfolges darstellte, ist dabei kaum beantwortbar. Was aber deut­lich wird, ist die diskursive Omnipräsenz eines Nütz­ lichkeitsphantasmas hinsicht­lich der Bedeutung von Informa­tion und Spionage. Die Akteure gingen davon aus und taten alles dafür, dass daran geglaubt wurde, dass (geheime) Informa­tionsgewinnung eine zentrale Rolle für eine effektive und erfolgreiche Tätigkeit spielte. „This most secret man“6 behält trotz der vorliegenden Untersuchung einen Teil seines Geheimnisses: weil unklar bleiben muss, wie die beschriebenen Strukturen und Funk­tionen mit Marlboroughs Charakter zusammenhängen, aber auch, weil in ­diesem Bereich die Überlieferungslage sehr kompliziert ist und daher vieles konstitutiv im Dunkeln bleibt. Dennoch ist deut­lich geworden, dass die Welt der Informa­tion Strukturen besaß und dass die Informa­tionen Funk­tionen erfüllten, die sich – manchmal leicht, manchmal weniger leicht – rekonstruieren lassen.

5 Bödeker, Biographie, 29. 6 Trevelyan, England, Bd. 1, 324.

6 Quellen- und Literaturverzeichnis 6.1 Quellen 6.1.1 Ungedruckte Quellen

British Library, London Große Teile der benutzten Bestände sind beschrieben in: Catalogue of Addi­tions to the Manuscripts: The Blenheim Papers; Addi­tional Manuscripts 61101 – 61710, Addi­tional Charters 76069 – 76142, Detached Seal CCV.8, Appendices of Printed Items, hrsg. v. The British Library, 3 Bde., London 1985; Jones, Clyve, The Harley Family and the Harley Papers, in: British Library Journal 15 (1989), 123 – 133; Catalogue of the Stowe Manuscripts in the British Museum, 2 Bde., London 1895. BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL BL

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Quellen

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The Na­tional Archives, Kew TNA SP 34/9 TNA SP 34/10 TNA SP 34/11 TNA SP 34/12 TNA SP 34/14 TNA SP 34/15 TNA SP 34/16 TNA SP 34/17 TNA SP 34/18 TNA SP 34/19 TNA SP 34/29 TNA SP 77/57 TNA SP 77/58 TNA SP 77/59 TNA SP 77/59 TNA SP 77/60 TNA SP 77/61 TNA SP 84/233 TNA SP 84/574 TNA SP 87/2 TNA SP 87/4 TNA SP 87/5 TNA SP 101/7

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Wunder, Heide, Überlegungen zum Wandel der Geschlechterbeziehungen im 15. und 16. Jahrhundert aus sozia­lgeschicht­licher Sicht, in: Wandel der Geschlechter­beziehungen zu Beginn der Neuzeit, hrsg. v. Heide Wunder/ Christine Vanja, Frankfurt a. M. 21993, 12 – 26. Würgler, Andreas, Medien in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 85), München 2009. Würgler, Andreas, Voices from among the ‚Silent Masses‘. Humble Peti­tions and Social Conflicts in Early Modern Central Europe, in: Interna­tional Review of Social History 46 (2001), Supplement 9, 11 – 34. Yardeni, Myriam, The Birth of Political Consciousness among the Huguenot Refugees and their Descendants in England (c. 1685 – 1750), in: From Strangers to Citizens. The Integra­tion of Immigrant Communities in Britain, Ireland and Colonial America, 1550 – 1750, hrsg. v. Randolph Vigne/Charles Littleton, Brighton u. a. 2001, 404 – 411. Zedelmaier, Helmut, Buch, Exzerpt, Zettelschrank, Zettelkasten, in: Archivprozesse. Die Kommunika­tion der Aufbewahrung, hrsg. v. Hedwig Pompe/­Leander Scholz, Köln 2002, 38 – 53. Zedinger, Renate, Die Verwaltung der Österreichischen Niederlande in Wien (1714 – 1795). Studien zu den Zentralisierungstendenzen des Wiener Hofes im Staatswerdungsprozeß der Habsburgermonarchie, Köln/Weimar/Wien 2000. Zernack, Klaus, Das Zeitalter der Nordischen Kriege von 1558 bis 1809 als frühneuzeit­liche Geschichtsepoche, in: Zeitschrift für historische Forschung 1 (1974), 55 – 79. Zwierlein, Cornel, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der franzö­sischen Religionskriege in Italien und Deutschland, Göttingen 2006.

7 Personenregister Das Personenregister erfasst Erwähnungen im Text des Buches, nicht aber in den Anmerkungen. John Churchill, Herzog von Marlborough, ist nicht in das Register aufgenommen, weil er auf nahezu jeder Seite erwähnt wird.

A Addison, Joseph  82, 170, 359 Alègre, Yves d’ 57 Alonne, Abel Tasien d’ 169 Alsop, J.D.  88, 279, 284 Anne (Königin von England und Schottland, ab 1707 von Großbritannien)  11, 19, 29 – 31, 36, 46, 54, 58, 64, 66 – 69, 72 – 83, 85 f., 99, 110 f., 117, 124, 140, 145, 151 f., 156 f., 161 f., 165 f., 189, 191, 196, 225 f., 231, 277, 289, 291, 329, 336, 343, 358, 361, 363 – 365, 370 Arsellières (Gaspard Perrinet, Marquis d’Arsellières)  192, 344 f.

Blencowe, William  39, 165 – 170, 237, 246 f., 249 Blödner, Cyriacus  142 Bonnac ( Jean-Louis d’Usson, Marquis de Bonnac)  247 Boufflers, Louis-François de  210 Boyer, Abel  369 Boyle, Henry  139, 154, 199, 263, 284, 330 Brendecke, Arndt  26, 337 Broughton, George  194 Brydges, James  67, 155, 360 Bucholz, Robert O.  30 Burke, Peter  35 Burton, Ivor  365

B

C

Basnage, Jacques  258 Bauwens, J.  134 Bayle, Pierre  253 Bayly, C.A.  26 Behringer, Wolfgang  90 Bély, Lucien  15, 19, 31, 39, 109, 221, 278, 312 Bergeyck ( Jan van Brouchoven, Graf von Bergeyck)  51, 167 Berwick ( James Fitzjames, Herzog von Berwick)  59, 219 Black, Jeremy  163 Blathwayt, William  259 f., 263, 344

Cadogan, William  67, 108 – 110, 155, 182, 196 – 199, 201 f., 205, 218, 229, 237, 269, 290, 300, 360 Caillaud, Etienne  38, 107, 123, 154, 157, 159, 169, 173, 217, 240, 251 – 276, 278, 280 – 283, 286 f., 299 f., 315, 319 f., 326, 334, 336, 342 – 344, 355, 374, 376 Callières, François de  187, 195 Cardonnel, Adam de  40, 102 f., 108 – 111, 124, 126 f., 134, 144, 152, 154, 172, 178 f., 184, 199, 208, 220 f., 223 f., 236 f., 244 – 246, 249, 259, 261, 263, 265, 269, 280, 283, 292 f., 297, 300, 315, 360, 365

454

Chamillart, Michel de  161, 221, 239 Chanclos, Denis François de Retz de  201 Chetwynd, John  193 Churchill, Winston  30, 105, 272 Clausewitz, Carl von  320 Colmenero, Graf von  325 f. Cotton, Robert  s. Postmasters General Coxe, William  40 Craggs, James  80 Cutts, John  259

D Danckelmann, Eberhard von  226 Darnton, Robert  33 Davenant, Henry  162, 192, 198, 207 De Leeuw, Karl  234, 246 Defoe, Daniel  13, 62, 83, 98, 148 f., 159, 161, 267, 290 f., 314, 359, 366 Delbrück, Hans  49 Dewald, Jonathan  171 Dopff, Daniel Wolff van  205 Dretske, Fred  34 Drummond, John  159, 217, 279 f. Duchhardt, Heinz  61 Dummer, Edmund  139 Dyer, John  295, 355

E Ellis, John  154, 175, 177, 259 Erlach, Hieronymus von  207 Eugen (Prinz Eugen von Savoyen)  28, 44, 51, 60, 190, 204, 214 f., 221, 326 Evelyn, John  45, 65, 121

Personenregister

F Fassmann, David  367 Feldman, Martha S.  306, 308 f. Flotard, David  282 f., 285 Fonseca, John de  151, 173, 181 – 186, 211, 276, 299 Foucault, Michel  141 Frankland, Thomas  s. Postmasters General Friedrich I. von Preußen  226 – 231

G Gallas, Johann Wenzel von  136, 217 Georg I. von England  181, 219, 264 Godolphin, Sidney  30, 39, 52 f., 64, 66 – 68, 75 – 7 7, 81 f., 85 f., 105, 110, 112, 114, 123, 129 f., 132 f., 137 – 139, 145, 151 f., 154, 156, 158, 162, 164, 177 – 179, 191, 193, 222 f., 225, 231, 236, 290, 297, 314, 317, 323 f., 333, 337, 343, 355, 360 – 363 Goslinga, Sicco van  63 Gregg, Edward  30 Gregg, William  161, 247 Grumbkow, Friedrich Wilhelm von  38, 211, 225, 227 – 232, 287, 290, 344

H Habermas, Jürgen  26, 288 Hamilton, Hugo Johan  347 Hare, Francis  108, 292, 354 Harley, Robert  39, 62, 66, 75 – 7 7, 81 – 85, 98, 110 f., 121, 128 – 130, 133, 148, 150, 153 – 162, 170, 177, 183 – 186, 247, 267, 280, 283, 293 f., 296, 329 f., 333 f., 352 – 355, 361 f., 370 Hattendorf, John  20, 29 f.

455

Personenregister

Haversham ( John Thompson, Baronet Haversham)  294, 329 Hedges, Charles  115, 152 – 154, 175, 257, 279 Heinsius, Anthonie  39, 44, 58, 105, 164, 169, 190 f., 211, 214 – 219, 222, 237, 250, 252, 254, 256, 260, 281, 317, 324, 348, 355 f. Helvetius, Adriaan  266 Hermelin, Olof  238 Hill, Richard  193 Hohendorff, Georg Wilhelm von  347 Holmes, Geoffrey  29

I Ilgen, Heinrich Rüdiger von  226, 228

J Jakob II. von England  45, 63, 65 f. James Francis Edward Stuart  45 f., 185, 335 Jaupain, François  12 – 14, 16, 39, 107, 131 – 133, 157, 161, 166, 173, 178, 197, 199 – 201, 219, 232 – 251, 253, 262, 268, 275 f., 281, 286 f., 293, 299 f., 315, 336, 344, 355 Jones, J.R.  30 Joseph Ferdinand von Bayern  43, 47 Joseph I. (Kaiser)  51 f., 56, 58, 68, 136, 161, 192, 233 Jurieu, Pierre  253 – 258, 260, 263, 270 f.

K Karl II. von England  63, 99 Karl II. von Spanien  42 f., 46 Karl III./VI. (Erzherzog Karl, später Karl III. von Spanien, dann Kaiser Karl VI.)  43, 58, 234 f., 239

Karl XII. von Schweden  51, 167, 192, 217, 224 f., 230, 247 f., 281, 336 Kempe, Michael  316 – 318, 320, 338 Knights, Mark  73 Körber, Esther-Beate  162 Koselleck, Reinhart  26 Kugeler, Heidrun  27, 79

L Lamberty, Guillaume de  258 f. Lang, John  283 Lawes, John  107, 155, 157, 169 f., 173, 184, 186, 195 – 203, 237 f., 240, 251, 286, 300, 328, 352 f., 355 Leopold I. (Kaiser)  42 – 44, 46, 51, 55, 65 Lewis, Erasmus  264 Ludwig von Baden (Markgraf )  146, 192, 207 Ludwig XIV.  28, 42 – 48, 53 f., 58, 121, 218, 221, 241 f., 248 – 251, 273, 337, 346 Luhmann, Niklas  21, 37, 92 f., 285, 301, 313, 372 Luttrell, Narcissus  132

M Macky, John  103, 120 – 122, 132 – 136, 138 – 140, 151, 154, 157, 173 – 186, 211, 233, 252, 268, 276, 283, 286, 299 Malknecht, Alois Freiherr von  167, 200 f., 241 f., 246, 249, 251 Manchester (Charles Edward Montagu, Herzog von Manchester)  257, 270 f. March, James  306, 308 f. Marlborough, Herzogin von (Sarah Churchill)  64, 66, 77, 79 – 81, 86, 106, 110 f., 114, 117, 137, 139, 152, 156, 158, 164, 292, 294, 317, 354 f., 358 Marmande, Jacob a Cere  258 – 260

456

Marsin, Ferdinand de  221 Martine, Daniel de  271 – 275 Max Emanuel von Bayern  50 f., 61, 144 f., 167, 200, 218, 236, 239 – 242, 245, 247, 249, 268, 355 Maynwaring, Arthur  292 Merton, Robert K.  302, 313, 324, 372 Methuen, Paul  344 Metzdorf, Jens  30 Miremont (Armand de Bourbon, Marquis de Miremont)  282 Mittelstraß, Jürgen  34 Monasterol (Ferdinand Solar, Graf von Monasterol)  163, 238, 243 Murray, George  39

N Naudin (Familie)  142 Nerinx 277 Northey, Edward  165 Nottingham (Daniel Finch, Earl of Nottingham)  149, 152 f., 254, 260, 277

O Ong, Walter J.  37 Onnekink, David  251 Ormonde ( James Butler, Herzog von Ormonde)  365 Ouwerkerk (Hendrik van NassauOuwerkerk) 143 Oxenstierna, Bengt  348

P Pajot, Léon  131, 233 f., 245 f. Penn, William  77 Peter der Große  192 Petkum, Hermann  58, 167, 218, 248 – 250

Personenregister

Philipp II. von Spanien  351 Philipp V. von Spanien (zuvor Philipp von Anjou)  43 – 45, 51, 60, 131, 233, 242, 250, 274 f. Plantamour, Philip  225 Postmasters General  118 – 120, 124, 127, 130 – 135, 138, 157, 174, 176, 178, 183, 185, 296 Poulett, John, Earl of  364 Pretender  s. James Francis Edward Stuart Prior, Matthew  180

R Raby (Thomas Wentworth, Earl of Strafford, Baron Raby)  226 – 230, 325 Ranke, Leopold von  69 Reinhard, Wolfgang  345 Renard, Louis  102, 280 f. Robethon, Jean de  38 f., 162, 192, 211, 217, 219 – 225, 229 f., 238, 248, 257, 287, 299 f., 336 Rooke, George  149 Roosen, William  47, 317 Rouillé , Pierre  163, 167, 218, 247 – 250

S Saint-Simon (Louis de Rouvroy, Herzog von Saint-Simon)  272 Schilling, Heinz  48 Shrewsbury (Charles Talbot, Herzog von Shrewsbury)  139, 177, 181, 255 Slack, Paul  32 Slingelandt, Simon van  216 Snyder, Henry L.  30, 159 Sophie von Hannover (Kurfürstin von Braunschweig-Lüneburg) 177

457

Personenregister

St. John, Henry  52, 154 f., 196, 280, 294, 330 Stanyan, Abraham  207 Stepney, George  144, 163, 177, 196, 198 Stieler, Kaspar  295 Stollberg-Rilinger, Barbara  343 Sunderland (Charles Spencer, Earl of Sunderland)  38, 81 f., 84, 115, 153 – 160, 165 f., 170, 179, 182 – 185, 189, 194 f., 198 – 200, 202 f., 236 – 241, 246, 251, 253, 260, 263, 266, 269 – 272, 276 f., 284, 296, 315, 319, 328, 330, 334, 337, 343, 352 – 355 Sweet, Benjamin  102, 261, 280 Swift, Jonathan  57, 59, 155, 362, 367

T Tallard (Camille d’Hostun, Herzog von Tallard)  161 Thiessen, Hillard von  19, 22, 25, 90 Thomas, Jean  145 – 147 Thurn und Taxis (Familie)  119, 131, 136, 166, 233, 235, 237 Tilson, George  292 Torcy, Jean-Baptiste Colbert de  201, 219, 248 – 250, 252, 331 Townshend, Charles  189, 216 Turenne (Henri de La Tour d’Auvergne, vicomte de Turenne) 63 Tutchin, John  294

V van der Poel, Jacob  104, 124 – 126, 128 f., 134, 137 Vauban, Sébastien Le Prestre de  145, 147 Vendôme (Louis II. Joseph de Bourbon, Herzog von Vendôme)  144, 243

Vernon, James  122, 175, 255, 257, 259, 283 Vianen, Jan van  143 Villars, Claude-Louis-Hector de  60, 144 Voltaire  69, 214

W Wallis, John  165 Walpole, Robert  80, 140, 362 Walsingham, Francis  316 f. Ward, Edward  359 Wartenberg, Catharina von  226 Wartenberg, Johann Kasimir Kolbe von  226 – 230 Watkins, Henry  107 f., 111, 280 Weber, Max  92 Weise, Christian  141 Wicquefort, Abraham de  187 Wilhelm III. von England  43 – 45, 47, 54, 56, 63 f., 67, 72, 78 f., 101, 129, 145 f., 165, 174, 214, 217, 219, 254, 257, 366 Winn, James Anderson  30

Z Zwierlein, Cornel  321

ANNETTE GERSTENBERG (HG.)

VERSTÄNDIGUNG UND DIPLOMATIE AUF DEM WESTFÄLISCHEN FRIEDENSKONGRESS HISTORISCHE UND SPRACHWISSENSCHAFTLICHE ZUGÄNGE

Münster und Osnabrück waren in den Jahren von 1643 bis 1648 Schauplätze bedeutender europäischer Verhandlungen. Räumlich und zeitlich entstand hier ein »Verdichtungsraum«, in dem sich die kommunikativen Formen der Diplomatie nicht nur abbildeten, sondern neu konfigurierten. Dieser Dynamik widmen sich die Beiträge des Bandes. Sie beleuchten aus Sicht eng aufeinander bezogener historischer und linguistischer Teildisziplinen in quellennahen Analysen Stand und Entwicklung der sprachlichen Ausdrucksformen auf dem Westfälischen Friedenskongress: die Rolle der Einzelsprachen und ihre Konkurrenz, Entstehungsbedingungen und Erschließung der Quellen und die Funktionen ihrer sprachlichen Gestaltung. 2014. 298 S. 4 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-21004-5

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EXTERNA GESCHICHTE DER AUSSEN BEZIEHUNGEN IN NEUEN PERSPEK TIVEN HERAUSGEGEBEN VON ANDRÉ KRISCHER, BARBARA STOLLBERG-RILINGER, HILLARD VON THIESSEN UND CHRISTIAN WINDLER

BD. 1 | HILLARD VON THIESSEN, CHRISTIAN WINDLER (HG.) AKTEURE DER AUSSEN BEZIEHUNGEN NETZWERKE UND INTERKULTURA LITÄT IM HISTORISCHEN WANDEL 2010. VIII, 546 S. 6 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-20563-8

BD. 4 | CORINA BASTIAN VERHANDELN IN BRIEFEN FRAUEN IN DER HÖFISCHEN DIPLOMATIE DES FRÜHEN 18. JAHRHUNDERTS 2013. 497 S. GB. | ISBN 978-3-412-21042-7

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ROBERT REBITSCH

DIE ENGLISCH-NIEDERLÄNDISCHEN SEEKRIEGE

Die Englisch-Niederländischen Seekriege waren Konfrontationen zwischen der aufstrebenden Seemacht England und der etablierten Seemacht der Niederlande. Die großen Schlachten ereigneten sich im Ärmelkanal und in der Nordsee, die Nebenschauplätze des Krieges sind im Mittelmeer, an der Westküste Afrikas, in der Karibik und in Südostasien zu finden. Diese Seekriege wurden in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft bisher kaum behandelt. Es gibt keine moderne deutschsprachige Monographie zu dieser Thematik und sie finden in Handbüchern zur europäischen Geschichte des 17. Jahrhunderts kaum Erwähnung. Es ist das Ziel des vorliegenden Werkes die Kontrahenten der Kriege vorzustellen, die politischen, ökonomischen sowie konfessionell-ideologischen Rahmenbedingungen darzulegen, die einzelnen Ursachen und Motive für die Kriege aufzuzeigen, militärische Kapazitäten sowie Strategie und Taktik der Seekriegsführung zu erläutern, den Verlauf der Kriege zu beschreiben und ebenso auf die Auswirkungen und Konsequenzen der bewaffneten Konflikte einzugehen. 2014. 375 S. 2 S/W ABB. GB. 135 X 210 MM | ISBN 978-3-205-79470-7

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THOMAS LAU

DIE KAISERIN. MARIA THERESIA

Im Alter von nur 23 Jahren war Maria Theresia (1717–1780) wie aus dem Nichts auf der europäischen Bühne erschienen und vieles sprach dafür, dass sie sie genauso rasch wieder verlassen würde. Das Haus Habsburg stand vor dem Bankrott. Nur wenn es sich wandelte, würde es fortbestehen können. Maria Theresia verkörperte diesen Wandel – im wahrsten Sinne des Wortes. Immer wieder neu und immer wieder anders wusste sie über 40 Regierungsjahre hinweg ihre Person wie ihren werdenden Staat den neuen Zeitansprüchen anzupassen. Versatzstücke alter Rollenbilder wurden von ihr neu arrangiert und weiblich uminterpretiert. Der Historiker Thomas Lau zeigt Maria Theresia als Königin und Kaiserin, als Mutter des Vaterlands und von sechzehn Kindern, als Ehefrau und Witwe, als Reformerin und fromme Tochter der Heiligen Mutter Kirche, als kalte Ingenieurin der Macht und als vermeintlich schwache Frau. Eine kundige, gut erzählte Biographie über die einzige weibliche Regentin in der habsburgischen Geschichte und eine der herausragenden Herrscherpersönlichkeiten der Neuzeit. 2016. 432 S. 23 FARB. ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-205-79421-9

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K ARL VOCELK A

DIE FAMILIEN HABSBURG UND HABSBURG-LOTHRINGEN POLITIK – KULTUR – MENTALITÄT

Diese kompakte Geschichte ist für Leser bestimmt, die sich schnell Information zu den Habsburgern verschaffen wollen. Die politische Rolle der Familie in weiten Teilen Europas, aber auch ihre menschlichen Situationen und Konflikte werden kurz dargestellt. Nach einer Einführung in ihre Geschichte als Herrscher im Heiligen Römischen Reich und der Habsburgermonarchie widmet sich der Band auch den spanischen Habsburgern, den Nebenlinien in Italien und der Position der nicht regierenden Männer, Frauen und Kinder der Habsburger. Zwei weitere Teile sind der Mentalität der Familie und den kulturellen Leistungen der Dynastie gewidmet. Erziehung, Sendungsbewusstsein, Frömmigkeitsverhalten und Jagdleidenschaft sind ebenso Themen dieses Buches wie Repräsentation und Propaganda, Schlösser und Gärten, Feste und Sammlungen der Familie. 2010. 243 S. GB. 1 KARTE, 3 STAMMBÄUME 135 X 210 MM. ISBN 978-3-205-78568-2

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