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German Pages 228 [234] Year 2012
Geschichte Franz Steiner Verlag
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Jürgen Elvert / Sigurd Hess / Heinrich Walle (Hg.)
Maritime Wirtschaft in Deutschland Schifffahrt – Werften – Handel – Seemacht im 19. und 20. Jahrhundert
Jürgen Elvert / Sigurd Hess / Heinrich Walle (Hg.) Maritime Wirtschaft in Deutschland
h i s to r i s c h e m it t e i lu n g en – b e i h e f te Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V. herausgegeben von Jürgen Elvert
Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Heinz Duchhardt, Michael Epkenhans, Beatrice Heuser, Michael Kißener, Ulrich Lappenküper, Bea Lundt, Christoph Marx, Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale, Reinhard Zöllner
Band 82
Jürgen Elvert / Sigurd Hess / Heinrich Walle (Hg.)
Maritime Wirtschaft in Deutschland Schifffahrt – Werften – Handel – Seemacht im 19. und 20. Jahrhundert
Vorträge der schifffahrtshistorischen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Schifffahrts- und Marinegeschichte (DGSM) in Hamburg vom 5.–7. November 2010
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Passagierdampfer Cap Arcona beim Auslaufen aus dem Hamburger Hafen in den 1930er Jahren. Gemälde von Ernst Fromhold im Besitz der Hamburg Südamerikanischen Dampfschifffahrts-Gesellschaft. Aus: Seefahrt und Geschichte. Ausstellungskatalog hrsg. vom Deutschen Marine Institut und dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Konzeption und Redaktion Heinrich Walle, Verlag E. S. Mittler & Sohn, Herford-Bonn 1986, S. 155
Dieses Buch erscheint auch als Band 17 der Reihe „Beiträge zur Schifffahrtsgeschichte“, herausgegeben von der DGSM. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10137-0
INHALTSVERZEICHNIS Geleitwort ............................................................................................................... 7 SIGURD HESS Einführung .............................................................................................................. 9
SCHIFFAHRT HEINRICH WALLE Einführung .............................................................................................................. 11 MELANIE LEONHARD Rickmers: Vom Segelschiff zum Konzern. Schiffahrt, Schiffbau, Handel 1834-1918 ............................................................... 33 BIRGIT BRAASCH Die Entwicklung des Tourismus über den Atlantik am Beispiel der Cunard Linie ................................................................................. 45
WERFTINDUSTRIE SÖNKE NEITZEL Einführung .............................................................................................................. 56 DIRK J. PETERS Die Entwicklung der deutschen Werftindustrie von 1850 bis 1914 und ihre Beziehung zu Großbritannien ................................................................... 60 CORD EBERSPÄCHER Armstrong, Vulcan&Schichau: Deutsch-englische Werftrivalität um die chinesische Marine zwischen 1870 und 1895 ............................................ 77 JOHANNA MEYER-LENZ Deutschland als Nachzügler – Das Beispiel Blohm&Voss .................................... 90 HAJO NEUMANN Werftindustrie und technologischer „Spin-off“ am Beispiel der „Otto Hahn“ ...... 106
HANDEL SIGURD HESS Einführung .............................................................................................................. 118
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INHALTSVERZEICHNIS
JÜRGEN G. NAGEL Reichtum über See: Ostasienfahrer im 17. und 18. Jahrhundert ............................ 121 ROBERT RIEMER Handel und Industrialisierung im Zeitalter des Imperialismus .............................. 124 FRANZ BÖNI Handel im Zeichen der Globalisierung – Von der Verwundbarkeit des Reichtums gestern und heute .................................. 136
SEEMACHT ULRICH OTTO Einführung .............................................................................................................. 168 ROLF HOBSON Zur Ideologie von Seemacht ................................................................................... 170 MICHAEL EPKENHANS Flotten und Flottenrüstung im 20. Jahrhundert ...................................................... 176 ANDREW LAMBERT Seemacht und Geschichte – Der Aufbau der Seemacht im kaiserlichen Deutschland ........................................ 190 THOMAS KOSSENDEY Deutschland und die See im 21. Jahrhundert ......................................................... 210 AUTOREN UND HERAUSGEBER ................................................................................. 218 NAMENSREGISTER ................................................................................................... 221
GELEITWORT ZUM BEIHEFT DER „HISTORISCHEN MITTEILUNGEN DER RANKE-GESELLSCHAFT“ UND DEN „BEITRÄGEN ZUR SCHIFFFAHRTS- UND MARINEGESCHICHTE“ DER DGSM JÜRGEN ELVERT UND SIGURD HESS
Der Tagungsband „Maritime Wirtschaft in Deutschland: Schifffahrt – Werften – Handel – Seemacht im 19. und 20. Jahrhundert“ wird von der Ranke-Gesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Schifffahrts- und Marinegeschichte gemeinsam herausgegeben. Kooperation erzielt bessere Ergebnisse und erweitert den Interessentenkreis. Das Buch erscheint als ein Beiheft der Historischen Mitteilungen der RankeGesellschaft. Es fühlt sich dem Erbe des im Jahre 2010 verstorbenen Nestors der modernen deutschen Marinegeschichtsschreibung, Prof. Dr. Michael Salewski, verpflichtet. Salewski hielt zwischen 1984 und 2000 den Vorsitz der RankeGesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V. inne und hatte in dieser Funktion auch die Historischen Mitteilungen mitbegründet. Als eine Zeitschrift, die sich der Förderung des öffentlichen Geschichtsbewusstseins verpflichtet fühlt, deckt sie in ihren „Beiheften“ ein breites Spektrum der Geschichtswissenschaften ab. Gleichwohl haben Aspekte und Probleme der Schifffahrts- und Marinegeschichte dabei von Anfang an einen deutlichen Schwerpunkt gebildet. Hier sei zum Beispiel an den von Jürgen Elvert, Jürgen Jensen und Michael Salewski im Jahre 1992 herausgegebenen Band „Kiel, die Deutschen und die See“ erinnert, ebenso an die Monographie Heinrich Walles über „Die Tragödie des Oberleutnants zur See Oskar Kusch“ (1994) oder die beiden Bände über „Die Deutschen und die See“ von Michael Salewski (1998 und 2002). In der Reihe der Beihefte der Historischen Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft steht dieses Buch somit in einer deutlich erkennbaren maritimen Traditionslinie. Die „Beiträge zur Schifffahrtsgeschichte“ wurden 1999 mit dem Ziel herausgegeben, vorrangig die Vorträge der verschiedenen Tagungsveranstaltungen der Deutschen Gesellschaft für Schiffahrts- und Marinegeschichte (DGSM) e.V. zu publizieren und sie einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Sie bieten ein Forum für neue und diskussionswürdige Forschungsergebnisse zu ausgewählten Themenkreisen der Schifffahrts- und Marinegeschichte. Sie öffnen sich einem weiten inhaltlichen Rahmen und dem Interessentenkreis von Historikern, maritimhistorisch interessierten Lesern, einschließlich derer der Schifffahrtsmedizin, sowie aktiven und ehemaligen Angehörigen der deutschen Handelsschifffahrt und der deutschen Marine. Heute reicht das Spektrum der Veröffentlichungen von der Schriftfassung der Vortragsreihen von Tagungen und Symposien über wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten bis zur Publikation unbekannter oder seltener Dokumente. Einige Bände wurden bewusst als Festschriften konzipiert und bedeutenden Persönlichkeiten gewidmet, die im Bereich der Schiffahrts- und Mari-
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negeschichte tätig waren und sind. Die DGSM konnte so ihre verdienten Mitglieder, Univ.-Prof. Dr.med. Dr.h.c. Hans Schadewaldt (Bd. 8, 2005), Prof. Dr.phil. Jürgen Rohwer (Bd. 10, 2004) und Dr.med. Hartmut Nöldeke (Bd. 12, 2006) für ihr umfassendes akademisches Werk ehren. Damit soll die Kenntnis und das Verständnis der allgemein politischen, wirtschaftspolitischen und handels- und seefahrtsgeschichtlichen Aspekte, sowie der maritimen strategischen, technischen, sozialen und kulturellen Aspekte deutscher und internationaler Schifffahrt- und Marinegeschichte erweitert und vertieft werden. An dieser Stelle sei den in diesem Buch versammelten Autorinnen und Autoren ausdrücklich für die rasche Ablieferung ihrer Beiträge gedankt, womit eine zügige Veröffentlichung der Tagungsergebnisse sichergestellt werden konnte. Bedanken möchten sich die Herausgeber ferner bei Frau Pascale Schemensky (Köln) für ihre konstruktive und sorgfältige Arbeit bei der Erstellung der Druckvorlage. Köln und Rheinbach, im Dezember 2010 Jürgen Elvert
Sigurd Hess
MARITIME WIRTSCHAFT IN DEUTSCHLAND: SCHIFFAHRT – WERFTEN – HANDEL – SEEMACHT IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT SIGURD HESS
Das Programm der DGSM läßt sich leicht aus dem Namen ablesen und so ist auch die Idee zu der Schiffahrtshistorischen Tagung „Maritime Wirtschaft in Deutschland“ entstanden, die vom 5. bis 7. November 2010 in Hamburg stattfand. Wir alle sind in irgendeiner Form vom Meer abhängig. Das Meer und die Deutschen ist ein besonderes Thema – mehr Menschen müssen erkennen, welche elementare Bedeutung die See für unsere hochindustrialisierte, dienstleistungsorientierte und führende Handels- und Schiffahrtsnation hat. Die Beschäftigung mit der Geschichte der maritimen Wirtschaft liefert eine Art Plausibilitätstest, ob die Erfahrungen der Vergangenheit in Einklang mit den Entscheidungen der Gegenwart und den zukünftigen Erwartungen stehen. Insofern traf die Bemerkung eines vielbeschäftigten Admirals auf wenig Verständnis, der auf die Einladung zu dieser Tagung antwortete: „Für Geschichte haben wir keine Zeit, wir müssen nach vorne schauen“. Eine anspruchsvolle Tagung ist von der DGSM und ihren ehrenamtlich arbeitenden Mitarbeitern nicht alleine zu bewältigen. Der Vorstand der DGSM dankt daher ganz besonders für die Kooperation mit dem Deutschen Maritimen Institut, der Ranke-Gesellschaft und dem wissenschaftlichen Beirat der DGSM. Dass die Tagung in diesem inspirierenden Gebäude, dem Kaispeicher B in Hamburg stattfinden konnte, verdanken wir der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Maritimen Museum. Der Kaispeicher ist Teil der Hamburger Speicherstadt, die auf Tausenden von Eichenpfählen gegründet worden ist. Mit der Ortswahl und dessen Geschichte werden die vier Sektionen der Tagung „Schiffahrt – Werften – Handel – Seemacht“ exemplarisch und trefflich angedeutet. 1881 wurde das Zollanschlußabkommen zwischen der Hansestadt Hamburg und dem Deutschen Kaiserreich abgeschlossen. Auf den ehemaligen Elbinseln Kehrwieder und Wandrahm wurde eine Speicherstadt gebaut, im neuen Freihafengelände wurden 20.000 Menschen zwangsumgesiedelt und 1.000 Wohnhäuser abgerissen. Hamburger Schiffahrt und Schiffbau öffneten dem Deutschen Kaiserreich „das Tor zur Welt“ und sorgten für Wohlstand und vermehrten den Reichtum. 1918, am Ende des sinnlosen Weltkrieges, der „Urkatastrophe Europas“, lagen Schiffahrt, die Werften und der Hafenbetrieb darnieder; nach dem pervertierten Umgang mit Seemacht traute sich keiner mehr, das Wort in den Mund zu nehmen. Trotz der einschränkenden Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags gelang der Neuanfang, der jedoch durch den Zweiten Weltkrieg in katastrophaler Weise zunichte gemacht wurde. 1945 lag alles in Trümmern, dennoch wurde erneut und in wenigen Jahren Schiffahrt, Werften und Hafenbetrieb wieder
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in Gang gebracht. Seit 1990 boomt der Hamburger Hafen, der mit der deutschen und europäischen Vereinigung sein östliches Hinterland wiedergewonnen hat. 2004 wird die nicht mehr benötigte Speicherstadt der neuen Hafencity zugeschlagen. Das Rotklinkergebäude in der beeindruckenden norddeutschen Backsteinarchitektur wird renoviert und mit der Schenkung der riesigen Sammlung Tamm entsteht das faszinierende Internationale Maritime Museum. Die hier ausgestellte spannende Geschichte der Seefahrt hat die Tagung, die anregenden Vorträge, eine lebhafte Diskussion und gute Gespräche in den Pausen beflügelt. Die Ergebnisse dieser Tagung sind in dem vorliegenden Tagungsband veröffentlicht, deren historische Themen in die Zukunft weisen. Das 21. Jahrhundert ist ein maritimes Jahrhundert. Wir leben in einer unsicheren Welt, nicht erst Goethe hat uns daran erinnert: „Krieg, Handel, Piraterie; dreieinig sind sie, nicht voneinander zu trennen“ (Goethe, Faust II). Zur Wahrung deutscher und europäischer Sicherheitsinteressen gehört es u.a. den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands zu fördern und zu schützen. Wie wenig sachlich die deutsche Diskussion zu diesem Thema geführt wird, konnte man an den Interviewbemerkungen des Bundespräsidenten Horst Köhler und der anschließenden Medienreaktion ablesen, die ihn zum Rücktritt veranlaßten. Der maritime Standort Deutschland ist aber auch von innen bedroht. Die Gleichgültigkeit und das freundliche Desinteresse der Deutschen über diesen Wirtschaftszweig gibt Anlaß zur Sorge. Dabei beschränkt sich die Bedeutung des maritimen Sektors nicht allein auf die Küstenregionen, denn die Zulieferindustrie für den internationalen Schiffbau ist vor allem in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen angesiedelt. Die Zukunft des maritimen Standorts Deutschland ist also nicht nur eine Frage für „Pfeffersäcke“ und „Fischköppe“. Die Handelswaren des „Vizeexportweltmeisters“ kommen schließlich aus allen deutschen Ländern und werden zu über 90 % über See verschifft und transportiert. Deutsche Reeder betreiben die drittgrößte Seehandelsflotte (nur übertroffen von Japan und Griechenland) und die deutsche Containerschiffsflotte hält mit 35 % die Spitzenposition in der Welt. Etwa 150.000 Schiffe laufen jährlich deutsche Häfen an. Die deutsche maritime Wirtschaft beschäftigt fast 400.000 Menschen und erzielt einen Umsatz von etwa 50 Mrd. € im Jahr (Jahresbericht 2010 des Flottenkommandos). Die Weltmeere bilden damit die hochempfindliche und soziale Infrastruktur unserer modernen Industriegesellschaft. Die Beiträge dieses Bandes verdeutlichen für die deutsche Seefahrernation den weiterhin gültigen Grundsatz: „Navigare necesse est – Seefahrt tut Not“.
SCHIFFAHRT – EINFÜHRUNG HEINRICH WALLE
Ursachen und Entwicklung des deutschen Überseehandels Die Entwicklung der deutschen Seeschiffahrt war seit den Napoleonischen Kriegen bis zur Gründung des Deutschen Reiches in starkem Maße durch einen fortschreitenden Rückgang innerdeutscher und internationaler Handelsbeschränkungen gekennzeichnet. Dennoch stand zunächst einem Aufschwung die zollpolitische Zerrissenheit des Hinterlandes im Wege. Andererseits bedurfte es der Schaffung eines Verkehrssystems, wodurch die Expansion des Überseehandels organisiert und in verhältnismäßig feste Bahnen gelenkt wurde. Ursache für die seit dem Ende des 18. Jh. in den einzelnen Staaten unterschiedlich und schrittweise einsetzende Aufhebung dieser Beschränkungen und Navigationsgesetze war die Abkehr vom Merkantilismus, die einen Übergang zu fortschreitender Liberalisierung des Handels zur Folge hatte, welche in den 70er Jahren ihren Höhepunkt erreichen sollte. Die Navigationsakte Englands von 1651, die noch Jahrhunderte in Kraft blieb, war für die deutsche Seeschiffahrt eine Fessel besonderer Art. Ursprünglich vor allem gegen die Schiffahrt der Niederlande gerichtet, sahen ihre Bestimmungen vor, dass der Güteraustausch innerhalb britischer Häfen, der Handel mit den Kolonien, sowie der Import von Gütern aus Asien und Afrika nur britischen Schiffen vorbehalten war. Bestimmte Artikel Europas durften jedoch mit Schiffen der Ursprungsländer nach England importiert werden. Dadurch wurde die deutsche Seeschiffahrt vorwiegend auf den Verkehr mit Ländern des europäischen Kontinents beschränkt. Ein Überseehandel war nur mit Ländern außerhalb des britischen Kolonialbesitzes möglich. Man empfand auch in England seit den 20er Jahren des 19. Jh. diese Beschränkungen als Hindernis einer weiteren Ausbreitung von Industrie und Handel, der vor allem auf den ungehinderten Export angewiesen war, denn die Bestimmungen der Navigationsakte hatten bei anderen Staaten im Sinne einer Reziprozitätspolitik (z.B. in Preussen) zu Gegenmaßnahmen geführt. So kam es zur schrittweisen Aufhebung dieser Bestimmungen. 1849 kam die Navigationsakte endgültig in Fortfall und seit 1854 stand auch der englische Küstenhandel Schiffen fremder Flaggen offen. Außer den direkten Handelsverboten behinderten Zölle, die von vielen Küstenstaaten erhoben wurden, die deutsche Seeschiffahrt erheblich in ihrer Entwicklung. Hier kam es nach 1815 zu einem schrittweisen Abbau, indem die deutschen Küstenstaaten und später der Zollverein bemüht waren, Verträge möglichst nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit abzuschließen. Als schwerwiegende Behinderung, vor allem für die Reederei der Ostsee, wurde der seit dem 13. Jh. von Dänemark erhobene Sundzoll empfunden. Erst
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HEINRICH WALLE
nach langwierigen Bemühungen der Großmächte und auf Druck der Vereinigten Staaten von Amerika erklärte sich schließ1ich die dänische Regierung bereit, diesen Zoll vom 1. April1857 an aufzuheben. In den 60er Jahren wurden solche Vereinbarungen auch mit anderen Staaten getroffen, so dass um 1870 mit Ausnahme der Küstenschiffahrt und Fischerei in einzelnen Staaten (z.B. USA, Rußland, Frankreich) alle Vorteile, die die Flagge des Gastlandes genoss, auch den deutschen Schiffen zukamen. Die 39 Staaten und Städte, die den seit 1815 gegründeten Deutschen Bund ausmachten, waren alle Zollgebiete. So gab es weder einen einheitlichen noch hinreichend großen Wirtschaftsraum. „Den ersten Schritt, um diesem unleidlichen Zustand zu begegnen, bedeutete das preußische Zollgesetz von 1818, eine Meisterleistung der absolutistisch regierenden, aber fortschrittlich gesonnenen Bürokratie …“, wie P.E. Schramm schrieb, „… die innerhalb Preußens alle Binnenzölle und Akzisen wegfegte und dadurch für zehn Millionen Menschen ein einheitliches Wirtschaftsgebiet schuf“. Einen weiteren Schritt auf diesem Wege bildete der 1834 von Preußen zusammen mit den süddeutschen Staaten gegründete Zollverein. „Es verstand, im Zollverein die freihändlerischen Wünsche der norddeutschen Kaufleute und Landwirte mit den schutzzöllnerischen Wünschen der süddeutschen Industriellen kontinuierlich auszugleichen.“ Hannover und Oldenburg traten allerdings erst 1854, Schleswig-Holstein 1867, Mecklenburg und Lübeck 1868 bei. Bremen und Hamburg behielten aber noch bis 1888 ihre Zollhoheit. Sie waren dadurch begünstigt, dass hier die Waren lange unverzollt lagern konnten, ehe sie ins Innere Deutschlands weiter transportiert wurden. Dadurch gewannen die Hansestädte eine erhebliche Flexibilität für ihre Handelsdispositionen. Von besonderer Bedeutung war aber der Umstand, dass ausländische Staaten in Europa und Übersee mit dem Zollverein Handelsverträge abschließen konnten. Ein weiterer Schritt auf dem Wege der Bildung eines gesamtdeutschen Wirtschaftsraumes war die Schaffung des Norddeutschen Bundes 1867, dem nunmehr alle Küstenstaaten Deutschlands angehörten und worin vom 1. April 1868 an, alle deutschen Handelsschiffe unter der Flagge Schwarz-Weiß-Rot mit gleichen Rechten eine „einheitliche Handelsmarine“ bildeten, wie es in Artikel 54 der Bundesverfassung hieß. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Zollverein zahlreiche Binnenzölle beseitigt und so den Verkehr einheimischer und fremder Waren gefördert, wovon vor allem der Seehandel profitierte. Entscheidend war aber hier vor allem der freie Zugang zu den großen Seehäfen an den Mündungen von Weser, Elbe und Oder. Der seit dem Dreißigjährigen Krieg von Oldenburg erhobene Elsflether Zoll wurde in einer Vereinbarung mit Bremen 1820 aufgehoben. Nach Abschluß der Weserschiffahrtsakte im Jahre 1832 durch die Anliegerstaaten, kam es erst nach dem Abschluß von Sonderverträgen 1865/66 zum endgültigen Fortfall der Schiffahrtsabgaben auf der Weser. Auf der Elbe wurde die 1815 in Wien zwischen Preußen und Sachsen geschlossene Schiffahrtsakte 1821 auf zehn weitere Uferstaaten ausgedehnt. Das für den Seehandel entscheidende Hindernis, der von Hannover bei
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Stade erhobene Elbzoll, fiel erst 1861. Ein Bundesgesetz beseitigte schließlich 1870 sämtliche Elbzölle. So ist nun zu beobachten, dass erst nach 1850 die völkerrechtlichen Bedingungen geschaffen waren, die deutschen Schiffen den Verkehr mit den Häfen der Welt ermöglichten. Nach einem weiteren Jahrzehnt waren dann auch die vertraglichen Regelungen für ihre Gleichstellung mit den Schiffen der Handelspartner erreicht und die wichtigsten innerdeutschen Zollschranken niedergerissen worden. Zwischen 1850 und 1870 hatte sich Deutschlands Wirtschaft so weit fortentwickelt, dass der Punkt zu einem sich selbst tragendem Wachsen überschritten wurde, d.h. einem Wachstum, welches nicht auf dirigistischen Maßnahmen beruhte. Rohstoffeinfuhr und die Ausfuhr von Agrar- und Industrieprodukten waren erheblich gewachsen. Rolf Engelsing gibt für die Zeit von 1820 bis 1850 ein Wachstum des Gesamtwertes deutschen Außenhandels von 0,8 auf 1,1 Milliarden Mark an. Dieser Wert verdoppelte sich dann von Jahrzehnt zu Jahrzehnt und erreichte 1872 schon 6,5 Milliarden Mark. Pro Kopf der Bevölkerung waren das 1820 etwa 31 und 1872 ungefähr 156 Mark. Ein Großteil dieses Handels ging über die deutschen Seehäfen. Voraussetzung dafür war deren verkehrsmäßige Anbindung an die landwirtschaftlichen und gewerblichen Produktionsstätten im deutschen Binnenland. Diesem Handelsaufschwung war deshalb die Schaffung eines immer dichter und leistungsfähiger werdenden Binnenverkehrsnetzes in Deutschland vorangegangen, welches seinerseits auch Voraussetzung für ein weiteres Wirtschaftswachstum geworden war. Schon in der zweiten Dekade des 19. Jh. hatte sich das Augenmerk auf die Binnenwasserstraßen gewandt. Ihre Verbesserung durch Flussregulierung und Kanalbau wurde in Aussicht genommen. Zunächst erreichte man aber eine Leistungssteigerung durch die Einführung der Dampfmaschine, mit deren Hilfe der Transport größerer Schiffseinheiten billiger, schneller und bequemer als durch Menschen- oder Pferdekraft, besonders flussaufwärts, ermöglicht wurde. Die ersten Dampfschiffe fuhren schon 1817 auf der Weser, 1818 auf der Elbe und dem Rhein. Von den 30er bis in die 70er Jahre hatte sich die Tragfähigkeit der Binnenschiffe auf Rhein, Weser, Elbe und Oder nahezu verfünffacht. Da das deutsche Binnenwasserstraßennetz durch die Süd-Nordrichtung der großen Ströme bestimmt wird, konnten Querverbindungen nur durch Kanalbauten künstlich geschaffen werden. Aus technischen, finanziellen und politischen Gründen verzögerte sich der Ausbau, und die Binnenwasserstraße trat an Bedeutung nach den 50er Jahren hinter der des Eisenbahnnetzes zurück. Für die Seestädte wurde deshalb die Verbindung mit dem Hinterland über die Binnenwasserstraße von zweitrangiger Bedeutung, Verhältnisse, die sich am Ende des 19. Jh. wieder ändern sollten. Für die Seestädte war hingegen die Leistungsfähigkeit des seewärtigen Teils des Stroms, woran sie lagen, von lebenswichtiger Bedeutung. Die beiden Hansestädte, Bremen und Hamburg, waren am stärksten von der Versandung der Weser und Elbe bedroht. Erst 1895 war die Fahrrinne der Weser auf 5 m vertieft worden. In Hamburg waren die Verhältnisse etwas günstiger. Nach Abschluß des ersten Köhlbrandvertrages 1868 zwischen der Hansestadt und Preußen begann „eine Ära
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durchgreifender, über einige Menschenalter sich erstreckender strombautechnischer Arbeiten.“ Weitere Verbesserungen des Fahrwassers wurden in den 80er Jahren erreicht, entscheidender waren aber die durch Abschluß des zweiten und dritten Köhlbrandvertrages 1896 und 1908 ermöglichten Stromkorrekturen und ausbauten. Zur wichtigsten Verkehrsader, welche die deutschen Seehäfen mit dem Hinterland verbinden sollte, wurde die Eisenbahn. Im Gegensatz zum Ursprungsland England, gingen auf dem europäischen Kontinent die Eisenbahnen im Wesentlichen der industriellen Entwicklung voraus und trugen daher maßgeblich zu dem nun verstärkt einsetzenden Wirtschaftswachstum ursächlich bei. Schon vor Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie Nürnberg-Fürth 1835, hatten weitblickende Männer, wie der bedeutende Wirtschaftstheoretiker und Politiker Friedrich List (1833), oder früher noch der Industrielle Friedrich Harkort (1825), die Anlage eines einheitlichen Eisenbahnnetzes in Deutschland gefordert. Dieser Grundforderung stand vor allem die politische Zerrissenheit Deutschlands entgegen, dennoch überwogen aber später die koordinierenden Kräfte, so dass „sich das deutsche Eisenbahnnetz ohne übertriebene Konkurrenz und Doppelaufwand zu einer sinnvollen Einheit zusammenfügte und kein Stückwerk und Wirrwar entstand“, wie Rolf Engelsing bemerkt. Um 1870 waren die Verbindungen zwischen den einzelnen Staaten schon so weit miteinander verflochten und die Verwaltungen soweit angeglichen, dass in diesem Jahr ein „Betriebs- und Bahnpolizeireglement für die Eisenbahnen des Norddeutschen Bundes“ und 1871, nach der Reichsgründung, für die deutschen Eisenbahnen erlassen werden konnte. Von dem neuen Verkehrssystem sollten die Hansestädte Bremen und Hamburg am meisten profitieren. Der große Bremer Bürgermeister Johann Smidt erkannte schon 1825 die Möglichkeiten eines Schienenweges als leistungsfähige Verbindung zur Bremer „Handelsprovinz“, damals vor allem Hannover, Hessen, einige Teile von Westfalen und Thüringen. Die Eisenbahnen waren für Bremen, das Ludwig Beutin einen „Eisenbahnhafen“ nennt und für Hamburg die ganz entscheidende Grundlage für ein später alle anderen deutschen Häfen überragendes Wachstum, wobei Hamburg durch die Kombination von Eisenbahn und leistungsfähiger Binnenwasserstrasse die größten Vorteile hatte. So ist auch hier zu beobachten, dass erst im 6. und 7. Jahrzehnt des 19. Jh. die verkehrsmäßige Anbindung der landwirtschaftlichen und industriellen Produktionszentren Deutschlands durch Wasserstraßen und vor allem durch die Eisenbahn erreicht worden war. Diese Verkehrsadern sollten zu den wichtigsten Voraussetzungen für das spätere Wachsen des Überseehandels werden. Bei der Entwicklung der Fahrtgebiete der deutschen Handelsschiffe spielten, außer wirtschaftlichen Gesichtspunkten und der Ausräumung von handels- und zollpolitischen Hindernissen seit den 50er Jahren, auch schon die Einführung des Dampfschiffes eine Rolle, was hauptsächlich an der zu dieser Zeit beginnenden Linienfahrt zu beobachten war. Die Schiffe aus den deutschen Ostseehäfen waren in der Hauptsache im europäischen Küstenverkehr beschäftigt. Nachdem 1824 die vertraglichen Regelungen geschaffen waren, bildeten bis zur Einführung der Getreideschutzzölle 1879 die Kornausfuhr und parallel dazu der Export von Holz das
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Rückgrat der Ostseeschiffahrt. Rückfracht von England war trotz Zollbelastung bis in die 60er Jahre Kohle. Tonnage, die mangels Ladungsaufkommen keine Beschäftigung in der Ostsee fand, wurde anderwärts im Zwischenverkehr eingesetzt. So wurden transozeanische Reisen zunächst von der Ostsee aus nur selten unternommen. Die Mehrzahl der Ostseeschiffe, kleinere Segler, war im Küstenverkehr innerhalb der Ostsee beschäftigt. Seit den 50er Jahren wurden dort in zunehmendem Maße Dampfschiffe eingesetzt. Aufgrund ihrer von Wind und Wetter erheblich unabhängigeren Bewegungsmöglichkeit und höheren Geschwindigkeit waren Dampfschiffe in der Lage, schnelle und vor allem regelmäßige Verbindungen zu schaffen. Nach der Jahrhundertmitte wurden Dampfer zunächst vorwiegend in der Englandfahrt eingesetzt, da sich der Küstenverkehr innerhalb der Ostsee nur für sehr wenige Dampfer rentierte. Für die Entwicklung der Fahrtgebiete deutscher Schiffe aus Häfen des Nordseebereiches gilt die einleitende Bemerkung, welche Max Peters seiner Darstellung der Entwicklung der Bremer und Hamburger Reederei voranstellte: „War die Aufhebung der Navigationsakte schon für die Ostseereeder das wichtigste Ereignis des 19. Jh. gewesen, so erst recht für die Nordseereeder. Bisher hatten ihre Schiffe, außer im Verkehr mit Amerika, größere Fahrten kaum unternehmen können. Jetzt durften sie Kanada, Westindien, das Kapland, Ostindien, Hinterindien und Australien mit in ihre Unternehmungen einbeziehen. Für sie bedeutete die Beseitigung der Navigationsakte die Erschließung neuer Welten“. Peters wies dann auf die Möglichkeit der Umgehung des englischen Zwischenhandels hin, die sich seither in immer stärkerem Maße bot und auf die Tatsache, dass ein direkter Überseehandel deutscher Firmen eine der wichtigsten Voraussetzungen und Grundlage für die Entwicklung einer eigenen Reederei werden sollte. Behindert wurde diese Entwicklung zunächst noch durch das geringe Exportgüteraufkommen und einen entsprechend kleinen Importbedarf. Erschwerend kam hinzu, dass das deutsche Banksystem in seinen Überseebeziehungen noch wenig ausgebildet war, wodurch die Inanspruchnahme vor allem Londoner Bankhäuser bei der Abwicklung von Fernhandelsgeschäften notwendig wurde, wie etwa hauptsächlich in China. So war ein direkter deutscher Überseehandel mit Ausnahme nach Amerika um die Mitte des 19. Jh. noch recht gering. Bremen entwickelte sich dank seiner besseren Verkehrswege zum Binnenland und aufgrund besserer Auswandererschutzgesetze, sowie besonderer Werbung zum bedeutendsten deutschen Auswandererhafen. Später, nach dem Abflauen der Auswandererzahlen entwickelte sich diese Stadt nach der Mitte der 80er Jahre zum wichtigsten deutschen Hafen für den Passagierdienst nach Übersee. Infolge dessen kam es schon relativ früh zur Einrichtung von Liniendiensten. Als „Packetfahrt“, wie die Linienfahrt im frühen 19. Jh. genannt wurde, errichtete in Bremen die Firma H.H. Meier & Co. 1828 eine erste eigene Linie nach New York. Am 27. Mai 1847 entstand unter dem Eindruck der Bremer Konkurrenz die nachmalig größte deutsche Reederei, die „Hamburg-Amerikanische-Packetfahrt-ActienGesellschaft“, kurz HAPAG genannt. Bei ihrer Gründung hatten 41 Firmen, darunter viele später bedeutende Reedereien, Aktien gezeichnet. Im Oktober 1848 wurde mit vier Segelschiffen der Linienverkehr nach den USA aufgenommen. Die
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erste Dampferlinie von Europa nach den USA war 1840 durch die britische Cunard-Line eröffnet worden, die regelmäßige Fahrten zwischen Liverpool und Boston, später New York durchführte. Wie diese traditionsreiche Reederei sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Einstieg in das Touristikgeschäft den neuen wirtschafts- und verkehrstechnischen Veränderungen anzupassen verstand, berichtet Birgit Braasch in ihrem Beitrag. In Amerika wurde 1846 der erste Versuch einer Dampferlinie von New York nach Bremen unternommen, die zur schnelleren Übermittlung der Post von der US-Regierung subventioniert wurde. Mit der Abreise des Schraubendampfers „Helena Sloman“ wurde am 29. Mai 1850 von Hamburg die erste deutsche Dampferlinie nach New York und auch nach Amerika eröffnet. Den ersten Bremer Versuch einer Dampferlinie nach Amerika unternahm 1853 die Firma Fritze & Co mit zwei Raddampfern der ehemaligen Reichsflotte von 1848-1852. Das Unternehmen erwies sich bald als Fehlschlag. Am 20. November 1857 gründeten H.H. Meier und Eduard Crüsemann den Norddeutschen Lloyd als reine Dampferreederei. Der NDL eröffnete mit vier Schiffen im folgenden Jahr die Linie Bremen-New York. Aber erst 1864 begann sich diese Reederei, die bis 1914 zur zweitgrößten deutschen Reederei werden sollte, zu rentieren. HAPAG und NDL waren sogar vor 1914 die größten Reedereien der Welt. Von einiger Bedeutung für den deutschen Überseehandel um 1870 war der Verkehr zu den hinterindischen Reishäfen und den Häfen Indonesiens. Hauptsächlich Bremen, Deutschlands größter Reisimporteur, welcher bis 1851 den Reis vornehmlich aus den nordamerikanischen Carolinas einführte, importierte nach einer Senkung des Einfuhrzolls den billigeren ostindischen Reis. Ein Höhepunkt mit Ankunft von 25 Bremer Segelschiffen zu 17.000 Registertonnen (Reg.Ts.) war schon 1856 erreicht. Obgleich der Bremer Reisimport wuchs, wurden Bremens Segelschiffe durch die englische Konkurrenz stark bedrängt, denn 1866 trafen von 69 Reisseglern nur 10 Schiffe unter der Bremer Flagge an der Weser ein. Die deutschen Schiffe waren in der Indienfahrt der englischen Konkurrenz in den 60er Jahren trotz Gleichstellung der deutschen Produkte unterlegen, da es aus deutschen Häfen keine Ladungen nach Hinterindien gab und man sich deshalb mit weniger einträglichen Kohleladungen aus England zufrieden geben musste. Die Reisfahrt nach Hinterindien und Indochina wurde nach 1872 vor allem von dem Bremer Haus Rickmers betrieben, welches Reis mit eigenen Segelschiffen zu den firmeneigenen Reismühlen nach Deutschland bringen ließ, wie dies im folgenden Referat von Melanie Leonhard eingehend behandelt wird. Seit der Mitte des 19. Jh. breitete sich der deutsche Überseehandel nach der Aufhebung von Handelsbeschränkungen und der Erreichung einer Gleichstellung schnell in alle Teile der Welt aus. Der überwiegende Teil der deutschen Handelstonnage war damals noch im Güteraustausch mit den europäischen Häfen beschäftigt, wobei England der wichtigste Handelspartner war. Der Schwerpunkt des Überseehandels lag im Nordseebereich, wo die Hansestädte Bremen und Hamburg eine führende Rolle einnahmen, die beträchtliche Anteile ihrer Tonnage im Überseehandel einsetzten. Der Verkehr mit den Häfen an der Ostküste Nord- und Südamerikas war zahlenmäßig am umfangreichsten, wobei Bremen im Handel mit
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den USA und Hamburg im Verkehr mit den Häfen Südamerikas Schwerpunkte setzten. Außerdem wurden Verbindungen zur amerikanischen Westküste, Asien, Australien und Afrika geknüpft, die sich jedoch unterschiedlich entwickelten. Sobald die Handelsbeziehungen enger wurden und Güteraufkommen oder Auswanderung es sinnvoll erscheinen ließen, begann man mit der Einrichtung von Liniendiensten. Der Umstand, dass in Deutschland vor 1870 die Produktion auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger Exportgüter und ein für die Einfuhr von überseeischen Rohstoffen aufnahmefähiger Markt erst langsam heranwuchsen, führte dazu, dass ein großer Teil der deutschen Handelstonnage teilweise oder ganz in der Zwischenfahrt, d.h. im Güteraustausch zwischen außerdeutschen Häfen und in der Trampfahrt beschäftigt war. Grosse Gefährdungen der damaligen Schiffahrt bestanden in einem Fehlen von systematischen Erfassungen und Publikationen von Seefahrtshindernissen. Die kartographische Aufnahme, Betonnung und Befeuerung der Küsten steckten noch in den Anfängen und erfolgten nach verschiedenen Systemen. In Deutschland wurde das Seezeichenwesen von den einzelnen Küstenstaaten unterschiedlich gehandhabt. Erst 1873 einigte man sich auf eine Unterstellung desselben unter die Aufsicht des Reiches, jedoch konnte eine einheitliche Regelung erst 1887 durch ein Reichsgesetz bestimmt werden. Eine weitere Gefährdung der Seefahrt bestand im Fehlen weitreichender Signal- und Beobachtungsanlagen, so dass man den Naturgewalten auf See ziemlich hilflos ausgesetzt war. Hier sollte dann die Arbeit der nach 1871 eingerichteten Deutschen Seewarte und des Hydrographischen Bureaus wirksam werden.
Organisation des deutschen Überseehandels Die Errichtung und der Ausbau eines weltweiten Netzes überseeischer Verbindungen mit einer seit der Jahrhundertmitte zunehmenden Zahl von Liniendiensten konnten nur durch eine den Verhältnissen angepasste Struktur der Reederei ermöglicht werden. Robert Miles Sloman jr., der Enkel des Gründers dieser berühmten Reederei, schrieb 1899: „Etwas besonders Charakteristisches war der Umstand, dass es damals (Ende der 30er Jahre des 19. Jahrhundert; Anmerkung des Verf.), mit wenigen Ausnahmen keine Rhedereien im eigentlichen Sinne des Wortes gab. Es waren mehr Schiffseigenthümer als wirkliche Rheder. Häuser von Bedeutung besaßen stets ein oder mehrere Schiffe; ich glaube fast, man war der Ansicht, dass es zur Stellung derselben gehörte“. Die „Kaufmannsreederei“, in der die Schiffe nicht Zweck der Unternehmung waren, sondern für den Transport der firmeneigenen Waren eingesetzt wurden, herrschte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert vor. Für Bremen gibt Rolf Engelsing die „Trennung von Importeur und Reeder“, wodurch aus den Kaufmannsreedereien Importfirmen und Korrespondentfrachtreedereien werden, für die Zeit um 1870 an, da jetzt nach Fortfall des Auswanderergeschäftes für die Segelschiffsreederei das Frachtgeschäft in den Vordergrund gerückt werden musste.
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Es war die Kaufmannsreederei, die dieses Netz in der Hauptsache aufbauen half und damit die Voraussetzungen für die Einführung der überseeischen Dampfschifffahrt schuf. Die Entwicklung war gekennzeichnet, „wachsende Mengen zu schwindenden Preisen zu verhandeln und ihre Lagerhaltung bei rascherem Umsatz zu spezialisieren“. Der für Anschaffung und Unterhalt von Schiffen festgelegte Kapitalanteil fehlte deshalb für die Ausdehnung des Handelsgeschäftes, so dass schon aus Gründen eines rationelleren Kapitaleinsatzes die Trennung von Reederei und Handel begünstigt wurde. Beim Übergang zum Dampfschiff und später auch bei der Einführung der großen stählernen Segler waren Kapitalien nötig, die eine Handelsfirma in der Regel ihrem Geschäft nicht entziehen konnte. Die Verselbständigung der Reederei war deshalb nach Werner Sombart „nichts anderes, als die Herausbildung zu rein kapitalistischer Organisation“. Wie die Beispiele der Gründungen späterer Großreedereien zeigten, wurden diese Dampferreedereien alle als Aktiengesellschaften konstituiert, wobei in steigendem Maße auch Kapital aus dem Binnenland beteiligt wurde. Diese Entwicklung war begleitet von einem wachsenden Zurücktreten des persönlichen Momentes, denn die Anteilsinhaber standen vielfach in keiner persönlichen Beziehung zur Unternehmung. Gleichzeitig war sie gekennzeichnet durch eine starke Kapitalexpansion und Konzentrationstendenz. Wurden bei der Gründung der HAPAG 1847 300.000 Mark Banco in 60 Aktien zu je 5.000 Mark Banco von 41 Firmen aus Hamburg aufgebracht, so gab es am Ende des 19. Jh. nach einer Statistik des Büro Veritas in Deutschland 115 Reedereien für eiserne Segelschiffe und 256 Dampfschiffsreedereien, wovon 29 Aktiengesellschaften mehr als 1 Million Reichsmark Aktienkapital besaßen. Die beiden größten Unternehmen, HAPAG und NDL, verfügten damals zusammen über Aktiva von etwa 260 Millionen Reichsmark. Walter Kresse beobachtete, dass schon Ende der 80er Jahre in Hamburgs Reedereien die Aktiengesellschaft die vorherrschende Betriebsform war. Die Trennung von Reederei und Handel vollzog sich keineswegs ausschließlich. Wie Melanie Leonard in ihrem Beitrag aufzeigt, firmierte die schon genannte Bremer Reederei Rickmers ab 1889 als „Rickmers Reismühlen, Rhederei und Schiffbau Aktiengesellschaft“, womit die Aktivitäten dieser großen Firma bezeichnet sind. Häuser, wie etwa Woermann, oder die berühmte Segelschiffsreederei Laeisz pflegten vielseitige Aktivitäten im Import- und Versicherungsgeschäft oder waren an anderen Reedereien beteiligt. Diese Vielfalt unternehmerischer Interessen war durchaus auch für viele andere Firmen kennzeichnend, wie dies auch Johanna Meyer-Lenz in ihrem Beitrag über die Firma Blohm & Voss verdeutlicht. Eine weitere Organisationsform der Reederei, die „Partenreederei“, hatte um 1870 vor allem für die deutsche Segelschiffahrt Bedeutung. Dieses aus der Antike stammende Rechtsinstitut existiert noch gegenwärtig in der Bundesrepublik. Dabei handelt es sich, nach § 489 des Handelsgesetzbuches, um den gemeinsamen Besitz eines Schiffes zum Erwerb durch Seefahrt für gemeinschaftliche Rechnung. Am Erwerb durch Seefahrt interessierte Personen legten Kapital zum Erwerb eines Schiffes zusammen. Durch die Anteile, die Schiffsparten, waren die Anteilsinhaber Mitbesitzer des Schiffes. Außer diesem besaß die Partenreederei
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kein Grundkapital; für jede Reise musste ein besonderer Fonds zusammengebracht werden, wie auch über jede Reise gesondert Buch zu führen war und der angefallene Gewinn umgehend verteilt werden musste. Durch die „Nachschusspflicht“ waren die Anteilsinhaber, die Mitreeder, zur Weiterinvestition für die Durchführung der nächsten Reise oder einer Instandsetzung des Schiffes verpflichtet. Die Assoziierung von Kapital in Form von Parten war auch bei größeren Unternehmen üblich, wie beispielsweise Sloman seine 1848 eröffnete Linie nach London bis 1860 als Partenreederei betrieb, wobei verschiedene Firmen als Parteninhaber auftraten. Walter Kresse bezeichnete als „Kapitänsreedereien“ solche Firmen, wo der Kapitän wenigstens 50% des Schiffswertes besaß und als Reeder fungierte. Kapitänsreedereien waren somit eine Variante der Partenreederei. Wie der Aufbau dieser Unternehmensform zeigt, war die Partenreederei eine umständliche Geschäftsorganisation, deren Eigentümlichkeiten durch Kapitalknappheit bestimmt wurde, welche ihren Hauptgrundzug bildete. Um funktionsfähig zu sein, war das persönliche Interesse, die Anteilnahme und teilweise auch eine gewisse Fachkenntnis der Mitreeder Voraussetzung. Diese persönliche Bindung der Teilhaber war das zweite Charakteristikum der Partenreederei und stand ganz im Gegensatz zur Anonymität der Aktiengesellschaften, deren Aktionäre ihre Papiere vielfach nur als Ware oder Spekulationsobjekt betrachteten. Kapitalmangel und das Unvermögen, Rücklagen bilden zu können, waren auch der Hauptgrund dafür, dass von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Dampfer von Partenreedereien bereedert wurden. Wenngleich das Volumen des Güteraustausches mit europäischen Häfen bei weitem das des Überseehandels übertraf, so war doch ein namhafter Anteil der deutschen Handelsschiffe in irgend einer Weise im Überseeverkehr beschäftigt. Wie an der Beratungstätigkeit der Norddeutschen Seewarte hervorgehen wird, befuhren Schiffe unter der neuen Flagge des Norddeutschen Bundes am Ende des 7. Jahrzehntes im 19. Jh. alle Weltmeere.
Die Entwicklung der deutschen Handelsflotte 1870-1914 Das Fehlen einer einheitlichen Statistik und mehr noch, die Anwendung unterschiedlicher Vermessungsmethoden, belasten alle Zahlenangaben über deutsche Schiffe vor 1873. Eine grundlegende Änderung schuf erst das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch, dessen Einführung in Preußen das Gesetz vom 24. Juni 1861 vorsah und welches am 1. März 1862 in Kraft getreten war. Der Artikel 432 des Handelsgesetzbuches ordnete die Aufnahme der Schiffe in ein Schiffsregister an, während Artikel 53, § 1 des Einführungsgesetzes den preußischen Schiffen die Eintragung in ein Schiffsregister im Heimathafen vorschrieb. Damit war eine einheitliche Grundlage zur Registrierung geschaffen worden, die aber erst endgültig durch das Bundesgesetz vom 5. Juni 1869 für alle Staaten des Norddeutschen Bundes Geltung erhielt. Über die Anwendung gleichartiger Vermessungsmethoden hatten sich Preußen, Oldenburg und Hannover 1862 geeinigt. Einheitlichkeit wurde aber erst durch die Einführung der „deutschen Schiffsvermessungsordnung
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(Sch.V.O.)“ vom 5. Juli 1872 erreicht, die für alle Schiffe des Deutschen Reiches von 1873 bis 1895 galt. 1888 waren einige Modifikationen erlassen worden. Die Sch.V.O. lehnte sich eng an das durch Gesetz vom 11. April 1854 in England eingeführte „Moorsom'sche System“ der Ermittlung des Schiffsraumgehaltes an, das dort seit dem 1. Mai 1855 in Kraft getreten war. Vor Annahme des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches am 5. April 1869 gab es keine offizielle statistische Erfassung aller deutschen Handelsschiffe. Allein schon die unterschiedlichen Maßeinheiten in den einzelnen deutschen Küstenstaaten machten eine gleichartige Erfassung unmöglich. Ein weiterer Umstand, der die Statistiken verzerren musste, war, dass noch keine Übereinkunft über die Untergrenze der aufzunehmenden Seeschiffe erreicht war und ferner, dass man teilweise noch in Küsten- und Seeschiffe unterschied. Lag die Untergrenze tief, so hatte das ein Anschwellen der Schiffszahlen in oft beträchtlichem Ausmaße zur Folge und ein entsprechendes Absinken des durchschnittlichen Tonnagewertes. Die Sch.V.O setzte deshalb die Untergrenze eines Seeschiffes 50 Kubikmeter oder 17,65 Reg. Ts. Brutto Raumgehalt (BRT) fest. Diese Regelung galt aber nur für Deutschland. Staatliche Statistiken und solche privater Institute hatten unterschiedliche Regelungen. In Hamburg entstand im März 1867 die deutsche Klassifikationsgesellschaft „Germanischer Lloyd“, die ihren Sitz zunächst in Rostock, seit 1873 aber in Berlin hatte. 1868 erschien der erste Band des Schiffsregisters in deutscher und englischer Sprache. Der Anlass zur Gründung dieser Institute war vor allem das Bestreben der Versicherer gewesen, ihr Risiko nicht noch durch materielle Unzulänglichkeit des Versicherungsobjektes zusätzlich zu erhöhen. Dadurch, dass kein Schiff „ungeklasst“ zu versichern war und dass kaum ein Verlader einem unklassifizierten Schiff seine Ladung anvertraute, sowie einer Ablehnung des Versicherungsschutzes für Ladungen auf solchen Schiffen, erfassten diese Gesellschaften den größten Teil der Seeschiffe der Welt. Durch ihre ausgedehnten und bis ins letzte Detail reichenden Bauvorschriften und Materialstandards, die sehr vorsichtig vorgehend, dem jeweiligen technischen Entwicklungsstand angepasst wurden, leisteten sie einen entscheidenden Beitrag zur Erhöhung der Sicherheit auf See. Ihre jährlich erscheinenden Schiffsregister enthalten ausführliche Angaben über die Beschaffenheit der registrierten Schiffe. So ist im Grunde genommen jede zusammenfassende Angabe über den Bestand der deutschen Seeschiffe vor 1873 ohne nähere Differenzierung ungenau. Zusammenstellungen über den Bestand der deutschen Handelsschiffe beruhten vorwiegend auf Informationen von privater Seite, wie etwa die in der neueren Literatur wiederholt genannte Schrift des Stralsunder Navigationslehrers C. Lorenz, der 1865 eine Zusammenstellung aller deutschen Handelsschiffe veröffentlichte. Nach Lorenz verfügten die deutschen Küstenstaaten 1865 über 4.354 Seeschiffe, 76 Dampfer und 4.278 Segelschiffe. Seine Zahlen weichen von denen nachträglich zusammengestellter Statistiken ab. In der Statistik des Deutschen Reiches berücksichtigte man jedoch auch für die Angaben 1871 und 1872 die Untergrenze von 50 m³ bzw. 17,65 BRT. Die Maßangaben sind für die Zeit vor 1871 und bei Segelschiffen nach Nettoregistertonnen (NRT), für die Zeit nach 1871 nach Bruttoregistertonnen (BRT) und in
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Kubikmetern angegeben, während die Schiffsliste im Anhang des Signalbuchs noch eine Vielfalt von Maßeinheiten beibehalten hatte. Die wohl umfassendste Zusammenstellung über den „Bestand der Seeschiffe in den deutschen Häfen“ von 1851 bis 1871 sind wohl die Tabellen, welche Max Peters 1905 veröffentlichte. Peters hat diese vielfach zitierten Zusammenstellungen aus den verschiedensten Quellen vorgenommen und alle Maßangaben auf Register Tons bezogen. In Einzelfällen, wie etwa für Hamburg, weichen seine Angaben von späteren Zusammenstellungen ab. In diesem Beitrag wurden die Peters'schen Daten zur Aufstellung der graphischen Darstellung von der Entwicklung der deutschen Handelsflotte (siehe Tafel 1 bis 4) benutzt. Für 1871 sind die Angaben aus der Reichsstatistik entnommen worden, die auch allgemein in der Literatur Verwendung finden. Nach der Aufhebung der Navigationsakte existierten 1860 etwa 4.800 deutsche Schiffe zu 0,81 Millionen Reg.Ts. Der Anteil der Dampfer betrug 83 Schiffe zu etwa 30.000 Reg.Ts. Auf die Nordseeküste entfielen davon etwa 2.800 Schiffe zu 430.000 Reg.Ts., davon 35 Dampfer zu 21.000 Reg.Ts. Ein Jahrzehnt später, 1870, umfasste die deutsche Handelsflotte rund 5.000 Schiffe zu 1 Million Reg.Ts., woran der Anteil der Dampfer mit 126 Schiffen zu 81.000 Reg.Ts. betrug. Auf die Nordseeküste entfielen davon ungefähr 2.800 Schiffe zu 0,56 Millionen Reg.Ts. und 66 Dampfer zu 70.000 Reg.Ts. Wie klein die deutsche Handelsflotte war, geht aus einem Vergleich mit der Handelsflotte Englands hervor, der damals weltgrößten Handelsflotte. Diese war 1860 knapp 28.000 Schiffe groß und vermaß rund 4,6 Millionen NRT. Der Dampferanteil betrug 2.000 Schiffe zu 450.000 NRT. 1870 waren es 26.367 Schiffe zu 5.691.000 NRT, davon 3.178 Dampfer zu 1.113.000 NRT. Im internationalen Vergleich nahmen sich die Handelsflotten der wichtigsten Seefahrtnationen wie folgt aus: 1860: Welthandelstonnage: ca. 11,48 Millionen Reg.Ts.; davon entfielen auf Großbritannien: 4,7; USA: 2,03; Frankreich: 1,01; Britische Besitzungen: 0,99; Deutsche Staaten: 0,81; Norwegen: 0,52; Niederlande: 0,52 Millionen Reg.Ts. 1870: Welthandelstonnage: ca. 13,63 Millionen Reg.Ts.; davon entfielen auf Großbritannien: 5,7; Britische Besitzungen: 1,48; USA: 1,35; Frankreich: 1,08; Norddeutscher Bund: 1,0; Norwegen: 0,95; Italien: 0,88; Niederlande: 0,45 Millionen Reg.Ts. 1900: Welthandelstonnage: ca. 29,04 Millionen BRT; davon entfielen auf Großbritannien: 13,24; USA: 2,75; Deutsches Reich: 2,65; Norwegen: 1,64; Frankreich: 1,35; Italien: 0,98 Millionen BRT. 1914: Welthandelstonnage: ca. 49,07 Millionen BRT; davon entfielen auf: Großbritannien: 19,25; Deutsches Reich: 5,45; USA: 5,32; Norwegen: 2,50; Frankreich: 2,31; Japan: 1,70; Italien: 1,66 Millionen BRT. Die Statistik des Norwegers Kiaer, dessen Aufstellungen im letzten Drittel des 19. Jh. allgemein geschätzt wurden und der die Angaben bis 1895 entnommen wurden, unterschied die englischen Schiffe in solche, die im Vereinigten Königreich und solche, die in den damaligen britischen Besitzungen registriert waren. In
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anderen zeitgenössischen Zusammenstellungen wurden beide Werte oft zusammengenommen. Der Anteil deutscher Tonnage an der Welthandelstonnage wuchs von 6,6% im Jahre 1850 über 7,1% in 1860, 7,3% in 1870, 9% in 1880, 7,2% in 1890, 9,1% in 1900, auf 11,1% im Jahre 1914. Der prozentuale Anteil der deutschen Handelsflotte im Vergleich zu derjenigen im Vereinigten Königreich und an der gesamten Tonnage unter dem Union Jack war von 13,8%, bzw. 11,9% im Jahre 1850 auf 43,9%, bzw. 28,3% in 1914 gestiegen (s. Tafel 2). Die deutsche Handelstonnage stand, wenn man die Tonnage des Vereinigten Königreiches und der britischen Besitzungen zusammennimmt, bis zur Jahrhundertwende immer an dritter oder vierter Stelle der Handelsflotten der Welt und war dann bis 1914 auf den zweiten Platz aufgerückt. Die Tonnage der USA musste infolge der Verluste durch den Bürgerkrieg starke Einbußen erleiden, so dass ihr Wert bis in die 90er Jahre unter dem der Tonnage der britischen Besitzungen lag. Erst um die Jahrhundertwende hatte sie diese wieder übertroffen. Bis 1914 wurde sie aber von der deutschen Tonnage überrundet und auf den dritten Platz in der Weltrangliste zurückgedrängt. Frankreichs Tonnage wurde nach 1870 von der deutschen überrundet. Die Höchstzahl aller deutschen Segelschiffe gibt die Reichsstatistik mit 4.469 Schiffen für 1877 an, während 1880 das Jahr des höchsten Tonnagestandes der gesamten deutschen Segelschiffahrt mit 974.943 NRT war (s. Tafel 1 und 4). Der prozentuale Anteil der Dampfertonnage war nach den Werten von Peters von 3,9% im Jahre 1860 auf 8,3% der Gesamttonnage im Jahre 1871 gestiegen, wie die Statistik des Deutschen Reiches ausweist. Nach weiteren 10 Jahren, 1880, umfasste die Dampfertonnage schon 20% der deutschen Gesamttonnage und seit 1891 überwog sie. Im Vergleich dazu (s. Tafel 2) hatte in Großbritannien die Segelschiffstonnage mit 4,937 Millionen NRT 1865 ihren Höchststand und schon 1863 (s. Tafel 1) mit 26.339 Schiffen die Höchstzahl erreicht. Seit 1893 überwog die Dampfertonnage bei einem Stand von 3,728 Millionen NRT und seit 1904 war sogar die Dampferzahl mit 10.370 Schiffen höher als die Segelschiffszahl. In Deutschland übertrafen 1914 die 2.765 Segelschiffe immer noch mit 595 Einheiten die Dampferzahl. So stand die deutsche Handelsflotte in den Jahren kurz vor der Reichsgründung noch ganz im Zeichen der Segelschiffahrt. Dennoch zeichnete sich der Niedergang der Segelschiffahrt schon deutlich ab, denn Hamburg hatte mit 517 Seglern zu 76.835 Commerz Lasten (ca. 172.000 NRT) 1866 den Höhepunkt erreicht, den Bremen 1868, mit 271 Segelschiffen zu 144.740 Reg. Ts. erlangen sollte. Von den genannten 2.470 hochseefähigen Segelschiffen trugen um 1870 etwa 900 Vollschiffe und Barken die Hauptlast des Überseeverkehrs. Von den Briggen, Schonerbarken und Schonerbriggen dürfte wenig mehr als die Hälfte überwiegend in der überseeischen Fahrt beschäftigt gewesen sein. Der andere Teil fuhr im Nord- und Ostseeraum in der europäischen oder Mittelmeerfahrt, so dass etwa 570 dieser Schiffe für den Überseeverkehr in Frage kamen. So waren vermutlich nur ungefähr 1.500 deutsche Segelschiffe im Überseehandel eingesetzt und nur ein
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Drittel der deutschen Handelsflotte verkehrte auf allen Weltmeeren. Wie die „amtliche Liste“ von 1873 weiter aussagt, waren 88 Schraubendampfer mit einem Chronometer ausgerüstet, so dass auf Grund dieser Angabe die Zahl der tatsächlich im Überseeverkehr tätigen Dampfer ziemlich genau feststeht.
Die Regelung der Ausbildung für Kapitäne und Steuerleute Artikel 54 der Verfassung des Norddeutschen Bundes verpflichtete die Bundesstaaten zur Festsetzung der Bedingungen, von denen die Erlaubnis zur Führung eines Seeschiffes abhängig gemacht werden sollte. Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869 bestimmte in § 31, dass Seeschiffer, Seesteuerleute und Lotsen ihre erforderlichen Fachkenntnisse durch Befähigungszeugnisse vor der zuständigen Verwaltungsbehörde nachzuweisen hatten. In der Bekanntmachung des Bundeskanzlers vom 25. September 1869 wurden dann die „Vorschriften über den Nachweis der Befähigung als Seeschiffer und Steuermann auf deutschen Kauffahrteischiffen“ veröffentlicht. Am 30. Mai 1870 erließ der Bundesrat die dazu notwendigen Durchführungsbestimmungen als „Anordnungen über die Prüfung der Seeschiffer und Seesteuerleute für große Fahrt“ und als „Anordnungen über die Prüfung der Seeschiffer für kleine Fahrt“. Durch diese gesetzlichen Regelungen wurde einmal erreicht, dass von nun an ein Steuermanns- oder Kapitänspatent in allen Häfen der deutschen Küste anerkannt und dass ein vorgeschriebener Mindestwissensstand an nautischem Fachwissen nachgewiesen wurde. Man hatte damit auch eine bisher nicht da gewesene Freizügigkeit erreicht, indem jetzt Seeleute, die beispielsweise in Ostfriesland oder Mecklenburg ihr Patent erworben hatten, als Schiffsoffiziere oder Kapitäne auf Hamburger oder Bremer Schiffen fahren konnten. In Preussen war die Ausbildung zum Nautiker am durchgreifendsten geregelt. Man hatte sogar Anfang der 40er Jahre Versuche einer gemeinsamen Ausbildung von Handelsschiffs- und Kriegsschiffsoffizieren durchgeführt. Seit 1811 war eine staatliche Prüfung für Schiffer und Steuerleute obligatorisch, die 1824 auch für die nur auf kleinen Reisen Beschäftigten vorgeschrieben wurde. Die angehenden Nautiker hatten 12 Monate lang eine der Navigationsschulen zu besuchen, um danach zur Steuermannsprüfung zugelassen zu werden. Nach Ableistung einer weiteren vorgeschriebenen Fahrenszeit konnten sie nach erneutem 6-monatigem Schulbesuch die Kapitänsprüfung ablegen. Bei der Diskussion, ob man einen 6 Monate oder 18 Monate dauernden Schulbesuch festsetzen sollte, stand immer die finanzielle Belastung der Steuermannsschüler im Hintergrund, die während der Zeit des Schulbesuches kein Einkommen hatten und sich den Lebensunterhalt für diese Zeit sowie das Schulgeld während ihrer Fahrenszeit als Matrosen zusammensparen mussten. Dank des politischen Übergewichtes Preußens, vermochten sich die Vertreter der Hansestädte nicht durchzusetzen, so dass die neuen Bestimmungen ziemlich den preußischen Verhältnissen entsprachen. Die Vorschriften vom 25. September 1869 definierten in § 1 den Bereich der „Küstenschiffahrt“, in § 2 den der „Kleinen Fahrt“, welche den Ostseebereich und die Nordsee bis 61q Nordbreite umfass-
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te. In § 3 wurde die „Große Fahrt“ als „Europäische Fahrt“, d.h. zwischen den europäischen Häfen, einschließlich denen des Mittelmeers und des Schwarzen Meers festgelegt. Die darüber hinausgehenden Reisen galten als „Außereuropäische Fahrt“. So gab es nach § 5 eine „Schifferprüfung für kleine Fahrt“, nach § 7 die „Steuermannsprüfung“ und nach § 9 die „Schifferprüfung für große Fahrt“. Die Zulassung zum „Steuermann auf großer Fahrt“ schrieb als Voraussetzung eine Fahrenszeit von wenigstens 45 Monaten nach Vollendung des 15. Lebensjahres vor. Davon waren 24 Monate als Vollmatrose auf Kauffahrteischiffen, oder als Matrose der I. bzw. II. Klasse in der Bundeskriegsmarine zu fahren. Insgesamt mussten von dieser Vollmatrosenzeit 12 Monate auf einem Segelschiff gefahren werden. Die Zulassung zur Prüfung konnte schon nach 33 Monaten Fahrenszeit und 12 monatigem Dienst als Vollmatrose an Bord von Segelschiffen erfolgen. Später wurde die Zulassung zur Steuermannsprüfung erst nach Ableistung der vollen Fahrenszeit gestattet, so dass das Patent auch nach dem Erwerb sofort gültig war. Die Schifferprüfung durfte nach § 10 erst nach Ableistung einer Dienstzeit von 24 Monaten als Steuermann abgelegt werden. Der Prüfungsstoff enthielt, wie er in den Anordnungen vom 30. Mai 1870 niedergelegt war, außer rein navigatorischen Themen bei der „Schifferprüfung für große Fahrt“ auch den Nachweis englischer Sprachkenntnisse zum Gebrauch britischer Seekarten, des „Nautical Almanach“, sowie zur Erteilung von Lotsenkommandos. Im Fache Nautik wurden der Gebrauch der Barometer und Thermometer, sowie Kenntnisse der Luft- und Meeresströmungen und des Gesetzes der Stürme, mithin also schon die Grundlagen der meteorologischen Navigation, geprüft. Den Besuch einer Navigationsschule sahen diese Bestimmungen noch nicht als verpflichtend vor. Allerdings kam die private Vorbereitung auf die Steuermanns- und Kapitänsprüfung immer mehr in Fortfall, da auch in den Gegenden, wo früher diese Art der Vorbereitung vorherrschte, seit der Mitte des 19. Jh. Navigations- oder Seefahrtsschulen eröffnet wurden, wie 1842 in Papenburg, 1854 in Leer, 1856 in Elsfleth, 1847 in Wustrow und 1859 in Rostock. Diese 1869/70 erlassenen Bestimmungen blieben bis 1931 im Großen und Ganzen bestehen, wenngleich in den Einzelheiten Änderungen vorgenommen wurden, wie in den „Bekanntmachungen, betreffend den Nachweis der Befähigung als Seeschiffer und Seesteuermann auf deutschen Kauffahrteischiffen“ vom 6. August 1887 und vom 5. Mai 1904. Ein Schulbesuch der Seefahrtsschule wurde erst 1925 obligatorisch. Der Personalbestand der gesamten deutschen Handelsschiffe betrug 1851 27.226 Seeleute und war auf 38.908 Köpfe im Jahre 1861 gestiegen. 1871 waren es schon 39.475 und 1880 40.832 Männer. Die Zeitschrift Hansa nennt für 1869 rund 5.000 deutsche Kapitäne und 7.000 Steuerleute. Die Mehrzahl dieser Seeleute kam bis etwa 1870 vorwiegend von der Küste. So stellte die bäuerliche Bevölkerung, vor allem von der Nordseeküste, zahlreiche Seeleute, meist die nicht erbberechtigten Söhne. Emil Fitger beobachtete, dass die wachsende Industrialisierung Norddeutschlands dieses Mannschaftsreservoir aufsog und stattdessen in immer stärkerem Maße Leute aus dem Binnenland zur See gingen. Diese Ent-
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wicklung wurde durch die Verordnungen von 1869 und 1870 begünstigt, indem nunmehr der Zugang zum Kapitänsberuf nicht mehr sozusagen innerhalb der Familie „vererbt“ wurde, wie dies noch in den 60er Jahren besonders stark in den kleineren Reedereiplätzen, wie Blankenese oder Papenburg und an den Mecklenburgischen Küste ausgeprägt war, wo zudem der Kapitän und seine Familie vielfach am Besitz des Schiffes beteiligt war. Die Möglichkeit zum Erwerb eines Kapitänspatentes stand jetzt jedermann nach Ableistung der vorgeschriebenen Fahrenszeit, entsprechender Eignung und Befähigung offen. Der Kapitän wurde aber auch in zunehmendem Maße Angestellter einer Reederei ohne Beteiligung am Schiff. Der dornenreiche Weg aufs Achterdeck in die Kapitänskajüte begann auf deutschen Schiffen immer als Schiffsjunge vor dem Mast und setzte die Bewährung im Matrosendienst voraus.
Die Gründung von Nautischem Verein und der Seewarte Wie die Entwicklung der deutschen Handelsmarine deutlich macht, konnte erst im 6. und 7. Jahrzehnt des 19. Jh. ihr Verkehrsgebiet vom Nord- und Ostseebereich und der Fahrt nach den europäischen Häfen über die ganze Welt ausgedehnt werden. Von 1850 bis 1870 hatte sich ihre Tonnage verdoppelt. Dieser Aufschwung war die Folge eines Wechselprozesses einander sich bedingender Faktoren politischer, wirtschaftlicher und technischer Art. Die Gründung des Norddeutschen Bundes von 1867, in dessen Verfassung erstmalig eine „Handelsmarine“ als rechtlicher Begriff erschien, setzte der infrastrukturellen Entwicklungsphase zunächst einen gewissen Endpunkt, der außerdem durch die Regelungen über die nautischen Patente 1869/70 und vorher schon durch die von 1862 bis 1867 in zeitlicher Abstufung bei allen Mitgliedsstaaten des Norddeutschen Bundes erfolgte Einführung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches, dessen fünftes Buch die Bestimmungen über den Seehandel enthielten, gekennzeichnet war. In diesem Zusammenhang ist auch die Gründung der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ am 29. Mai 1865 in Kiel zu nennen, die ein Zusammenschluss kurz vorher gegründeter lokaler Vereine in Emden, Hamburg und Bremen war. Der wachsenden Bedeutung der deutschen Handelsflotte entsprach auch die Gründung des „Germanischen Lloyd“, der deutschen Klassifizierungsgesellschaft für Schiffe, die 1867 erfolgte. Eine besondere Rolle sollte der am 11. Januar 1868 in Hamburg gegründete „Deutsche Nautische Verein“, kurz „Nautischer Verein“, spielen. Durch den Zusammenschluss mehrerer, bereits bestehender solcher Vereine, bildete sich am 14. April 1868 in Berlin der Dachverband unter dieser Bezeichnung. Der Nautische Verein, dem Reeder, Kapitäne und andere an der Seefahrt interessierte Personen angehörten, sollte die Interessenvertretung der Seefahrtskreise in Deutschland werden. Der Verein befasste sich mit allen nautischen, meteorologischen und hydrographischen Problemen der Seefahrt, aber auch mit technischen und rechtlichen Fragen. Durch seine Diskussion und Vorschläge beeinflusste und unterstützte er die Gesetzgebung. Auf der Tagesordnung seiner zweiten ordentlichen Generalver-
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sammlung in Berlin wurden 1870 die damaligen Ziele klar umrissen: „die indirekte Vermehrung des Erwerbes durch die Seeschiffahrt, zu erzielen durch die Verbesserung des Tonnen-, Baken- und Lotsenwesens, Aufhebung der Schiffahrtsabgaben, Errichtung von Zweigstationen der Seewarte, Verbesserung und Vereinfachung der Gesetzgebung in Seesachen, Gründung von Seegerichten“. Zum ersten Vorsitzenden des in Hamburg neu gegründeten Nautischen Vereins wurde Wilhelm von Freeden (1822-1894), der Gründer der Norddeutschen Seewarte gewählt. Dem Vorstand des Gesamtverbandes gehörte er von 1870 bis 1872 an. Mit der Ausdehnung des Verkehrs deutscher Schiffe nach Übersee wurde das Fehlen von nautischen Publikationen in deutscher Sprache in steigendem Maße fühlbar. Es gab damals in Deutschland noch kein zentrales Institut, das sich mit Sammeln, Auswerten und Publikation von Seefahrtshindernissen, nautischen Erfahrungen und ozeanographischen Erkenntnissen beschäftigte. Ebenso fehlte eine zentrale Behörde, der die navigatorische Sicherung aller deutschen Küsten oblag. So war die Zeit reif geworden für die Gründung eines nautisch- meteorologischen Instituts, wie es in Gestalt der „Norddeutschen Seewarte“ durch den Navigationslehrer Wilhelm von Freeden in Angriff genommen wurde, die am 1. Januar 1868 in Hamburg ihre Arbeit aufnahm. Als „Deutsche Seewarte“ wurde dieses Institut durch ein Reichsgesetz am 26. Dezember 1875 als staatliche Einrichtung der Kaiserlichen Marine unterstellt.
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Literatur Die Einleitung beruht auf: Heinrich Walle: Rahsegler in Deutschland. Von der Seewarte zur „Gorch Fock“, Kleine Reihe zur Militär-und Marinegeschichte, Band 17, hrsg.von Jens Graul, Jörg Hillmann und Stephan Huck, Bochum 2009, Kapitel I: Deutsche Handelsschiffahrt um 1870, S. 20 bis 85.
Die folgende Literaturliste enthält die wichtigsten Arbeiten zu dieser Thematik: Bessell, Georg: 1857-1957, Norddeutscher Lloyd, Geschichte einer Bremischen Reederei, hrsg. vom Norddeutschen Lloyd, Bremen 1957. Beutin, Ludwig: Die preussische Rhederei, in: Zeitschrift des Königlich Preussischen Statistischen Bureaus, 10. Jahrg. 1870, s. 311 ff. Fitger, Emil: Die wirtschaftliche und technische Entwicklung der Seeschiffahrt von der Mitte des 19. Jh. bis z. Gegenwart, Schriften des Vereins für Socialpolitik CIII 1, Leipzig 1902. Flamm, Oswald: Deutscher Schiffbau, ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Seeschiffahrt, Leipzig 1907. Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hrsg. von Hermann Aubin und Wolfgang Zorn, Band 2, Stuttgart 1976. Hertz, Richard: Das Hamburger Seehandelshaus J. C. Godeffroy & Sohn, 1766-1879, Veröffentlichungen des Vereins für Hamburgische Geschichte, Band 4, Hamburg 1922. Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789: Band I., Reform und Restauration, 1789-1830, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz (1957) 21967; Band II., Der Kampf um Einheit und Freiheit, 1830-1850, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz (1960) 1968; Band III., Bismarck und das Reich, Stuttgart 1963. Kresse, Walter: Die Entwicklung der Eigentumsformen in Hamburgs Seeschiffahrt, 1824-1888, in: Das Historische Museum als Aufgabe, Forschungen und Berichte aus dem Museum für Hamburgische Geschichte, 1946-1972, hrsg. von Wilhelmine Jungraith-Mayr, Mitteilungen aus dem Mus. f. Hambg. Geschichte, Band VI, hrsg. von Walter Hävernick, Hamburg 1972, S. 213 ff. Leckebusch, Günther: Die Beziehungen der deutschen Seeschiffswerften zur Eisenindustrie an der Ruhr in der Zeit von 1850 bis 1930, Phil. Diss. Köln, Schriften zur Rheinisch-Westphälischen Wirtschaftsgeschichte, Neue Folge der Veröffentlichungen des Archivs für RheinischWestfälische Wirtschaftsgeschichte, Band 8, Köln 1963. Lehmann-Felskowski: „Volldampf Voraus!“ Deutschlands Handelsflotte und Schiffbau in Wort und Bild, Berlin, o. J. (1899) Mathies, Otto: Hamburgs Reederei, 1814-1914, Hamburg 1924. Peters, Max: Die Entwicklung der deutschen Reederei seit Beginn dieses Jahrhunderts, Band I, Jena 1899; Band II, Jena 1905. Radunz, Karl: Hundert (100) Jahre Dampfschiffahrt, 1807-1907, Rostock 1907. Ruhwedel, Edgar: Die Partenreederei, das Erscheinungsbild einer historisch gewachsenen Gesellschaft im modernen Recht, Jur. Hab. Schrift, Frankfurt/M. 1973, Bielefeld 1973. Schramm, Percy, Ernst: Hamburg, Deutschland und die Welt. Leistung und Grenzen hanseatischen Bürgertums in der Zeit zwischen Napoleon I. und Bismarck, ein Kapitel deutscher Geschichte, Hamburg (1943) 1952. Schwarz, Tjard/Halle, Ernst: Die Schiffbauindustrie in Deutschland und im Auslande, 2 Bände, Berlin 1902.
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HEINRICH WALLE
Sartorius von Waltershausen, A.: Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1815-1914, Jena 2. Aufl.1923. Vogel, Walter: Die Grundlagen der Schiffahrtstatistik. Ein kritischer Beitrag zur Wertung der Handelsflotte und des Seeverkehrs des Deutschen Reiches. Veröffentlichungen des Instituts für Meereskunde an der Universität Berlin, Neue Folge, B. Historisch-volkswirtschaftliche Reihe, Heft 1, Berlin 1911. Voigt, Fritz: Verkehr, Band I/1 und Band I/2, Die Theorie der Verkehrswirtschaft, Berlin 1973, Band II/1 und Band II/2: Die Entwicklung des Verkehrssystems, Berlin 1965.
RICKMERS: VOM SEGELSCHIFF ZUM KONZERN SCHIFFAHRT, SCHIFFBAU, HANDEL 1834-1918 MELANIE LEONHARD
Wachstum durch Flexibilität 1834 gründete der Helgoländer Schiffszimmerer Rickmer Clasen Rickmers (18071886) im noch jungen Hafenort Bremerhaven eine kleine Schiffbauwerkstatt. Bis zu seinem Tode im Jahr 1886 entwickelte er diese kleine Werkstatt zu einem weltweit verflochtenen Mischkonzern. Bereits Ende der 1830er Jahre war sein Unternehmen regional etabliert und es gelang R.C. Rickmers, neben Reparaturund Umbauaufträgen auch Aufträge für erste Neubauten einzuwerben. Bald unternahm er einige Betriebserweiterungen, um das Marktpotential, das sich ihm bot auszuschöpfen. Obwohl der Ausbau seiner Werft im Vordergrund stand, betätigte R.C. Rickmers sich auch in anderen Bereichen, beispielsweise als Schadensgutachter nach Havarien und Makler.1 Die Ausübung dieser Nebentätigkeiten erwies sich in mehrfacher Hinsicht für den jungen Unternehmer als günstig. Einerseits ermöglichte sie ihm zusätzliche Einnahmen, andererseits verschaffte sie ihm Kontakte zu Akteuren, die sich wie er selbst im maritimen Sektor unternehmerisch betätigten und somit Kontakte zu potentiellen Auftraggebern. Das berufliche Engagement außerhalb seines eigenen Unternehmens war also nicht nur finanziell lukrativ, sondern hatte auch eine strategische Bedeutung für den Erhalt und die Weiterentwicklung der 1834 gegründeten Rickmers Werft. Diese Vernetzung bildete die Grundlage seiner Etablierung als Schiffbauer in der Unterweserregion. In den 1840er Jahren stieg R.C. Rickmers durch den Erwerb einiger Anteile an Neubauten seiner Werft in das Reedereigeschäft ein.2 Die Betätigung als Partenreeder – also als Mitglied einer Eigentümergemeinschaft eines Schiffes – war der erste Schritt zu einer weiteren Expansion seines Unternehmens.3 Zunächst erwarb R.C. Rickmers bei sich bietenden Gelegenheiten Parten an auf seiner Werft in Auftrag gegebenen Schiffen. In einem zweiten Schritt bereederte R.C. Rickmers Schiffe im Auftrag von Partenreedereien. In diesen Fällen fungierte er in der Regel als Miteigentümer – da er ebenfalls einige Parten an den
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Leonhard, Melanie, Die Unternehmerfamilie Rickmers 1834-1918. Schiffbau, Schiffahrt Handel. In: DEUTSCHE MARITIME STUDIEN Band 8 (Bremen 2009), S. 24. Ein Beispiel für diese Parten sind die Beteiligungen an den Schiffen WESER und ATHENE 1842. Zur Definition der Partenreederei als Rechtsform und Unternehmenstyp siehe auch: Ruhwedel, Edgar, Die Partenreederei. Das Erscheinungsbild einer historisch gewachsenen Gesellschaft im modernen Recht. Bielefeld, 1973, S. 23f.
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entsprechenden Schiffen besaß – und gleichzeitig als Korrespondentreeder.4 Trotz des faktischen Ausbaus seiner Aktivitäten als Reeder, die zunächst mit der vollständigen Übernahme der BASSERMANN auf eigene Rechnung im Jahre 1848 ihren Höhepunkt erreichte, stand nach wie vor seine Werft im Zentrum seines unternehmerischen Interesses. R.C. Rickmers erwarb Anteile an Schiffen, um deren Baufinanzierung sicher zu stellen und damit die Auslastung seines Schiffbaubetriebs zu gewährleisten. Er schloss also mit jeder Teilhaberschaft eine Finanzierungslücke innerhalb eines bereits geplanten Bauprojektes einer bestehenden Partenreederei. Neben dem Effekt, dass er mit Hilfe seiner eigenen Beteiligung auf diese Weise Bauaufträge für das eigene Unternehmen einwerben konnte, konnte er von seinen Schiffsparten auch noch Jahre später durch finanzielle Ausschüttungen profitieren, bevor er seine Anteile wieder verkaufte. Das finanzielle Engagement bei der Realisierung von Neubauten zahlte sich also mehrfach aus.
Vom Schiffbauer zum Reeder Ende der 1840er Jahre musste R.C. Rickmers einige Anstrengungen unternehmen, um seine Schiffbaukapazitäten regelmäßig auszulasten. Er begann damit, Neubauten auf Kiel zu legen ohne Aufträge hierfür erhalten zu haben. Zunächst übernahm er die Kosten für diese Schiffe selbst und suchte während der Bauzeit nach potentiellen Käufern. Es gelang ihm jedoch nicht immer, noch vor der Fertigstellung des Neubaus einen Käufer zu finden. Für diese Schiffe trat er dann selbst als Reeder auf, bis er sie an andere Käufer veräußern konnte. Es lag dabei nicht in seinem Interesse, die Schiffe dauerhaft zu unterhalten. Sobald sich eine Gelegenheit bot, verkaufte er diese wieder. Trotz der finanziellen Gewinne, die er mit seinem Reedereigeschäft erzielte, kam es in dieser Phase der Unternehmensentwicklung nicht zu einem Ausbau dieses Geschäftsfeldes. Das Engagement als Reeder diente nur dazu, die Kapazitäten der Rickmers Werft gewinnbringend auszunutzen. Mit Hilfe dieser Verknüpfung seines unternehmerischen Wirkens als Reeder und als Schiffbauer gelang es R.C. Rickmers, seine Werft bis zur Mitte der 1850er Jahre immer weiter auszubauen. Unabhängig von der Auftragssituation, die durch R.C. Rickmers durch seinen Einstieg in das Reedereigeschäft abgekoppelt von den herrschenden Marktbedingungen stabilisiert wurde, waren die Expansionsmöglichkeiten der Rickmers Werft in Bremerhaven durch die herrschenden politischen Rahmenbedingungen begrenzt. Nach seiner Gründung 1827 war der Hafenort schnell zu einer kleinen Stadt innerhalb der Hannoverschen Grenzen gewachsen. Daher gab es innerhalb Bremerhavens kaum Entwicklungsmöglichkeiten für flächenintensive Unternehmen, wie beispielsweise eine Werft. Nach einer Phase der Stagnation Ende der 1840er Jahre zog die Schiffbaukonjunktur Anfang der 1850er Jahre spürbar an, wodurch die Nachfrage nach seefähigen Schiffen im gesamten europäischen Raum ständig anstieg. Von dieser Nachfragesteigerung konnte auch R.C. Rickmers profitieren. Darüber hinaus war es dem Schiffbauer innerhalb der 4
Zu den Aufgaben und Pflichten eines Korrespondentreeders siehe auch: Ruhwedel, Die Partenreederei, S. 458.
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ersten zwei Jahrzehnte seit der Gründung seines Unternehmens gelungen, auch qualitativ Maßstäbe zu setzen. Die Rickmers Werft wurde inzwischen auch über den Nordseeraum hinaus mit den Aufmerksamkeit erregenden Segelschiffbauten in Verbindung gebracht. 1854, nach dem Bau des Klippers IDA ZIEGLER, erreichte sein Ansehen in der Fachöffentlichkeit einen Höhepunkt. Bei der Konstruktion dieses Schiffstyps hatte R.C. Rickmers sich von den amerikanischen Klippern inspirieren lassen. Dieser Schnellseglertyp war jedoch gerade bei starkem Wind und hohem Seegang relativ instabil. Diesen Nachteil kompensierte R.C. Rickmers, indem er ein Schiff mit einer ähnlichen Takelung wie die der Klipper entwarf, es jedoch mit einem etwas völliger gehaltenen und damit tragfähigeren Rumpf ausstattete. Das erste Schiff dieses Typs, der auch als „deutscher Klipper“ bezeichnet wurde, war die IDA ZIEGLER. Die öffentliche Aufmerksamkeit erreichte ihren Höhepunkt, als R.C. Rickmers ein Modell der IDA ZIEGLER auf der Pariser Weltausstellung von 1855 vorstellte, dass dort mit einer Auszeichnung bedacht wurde. Dieser Würdigung seiner Schiffbaukunst verdankte R.C. Rickmers über Jahre einen ausgezeichneten Ruf als Schiffbauer.5 Ein weiterer Faktor, der in diesen Jahren sein Unternehmen beflügelte, war vor allem der Auswandererverkehr, der große Zuwachsraten verzeichnete. Viele Reeder waren auf der Suche nach Werftplätzen, um ihre Schiffe für den Transport von Auswanderern in Richtung Amerika umbauen zu lassen. R.C. Rickmers gelang es, zahlreiche Umbauaufträge für ältere Segelschiffe einzuwerben. Allerdings genügte sein Werftgelände den Anforderungen, die die neue wirtschaftliche Situation stellte, nicht mehr. Neben dem Mangel an ausreichenden Lagerkapazitäten, der durch die gute Auftragslage immer dramatischer wurde, waren auch die eigentlichen Betriebsanlagen, wie die Helgen, für die inzwischen nachgefragten Schiffsgrößen zu klein geworden. Das Platzproblem wurde zusätzlich dadurch verschärft, dass die gute Konjunktur im Schiffbau die Beschäftigung zusätzlicher Arbeitskräfte erforderte. Aufgrund des unzureichenden Wohnungsangebotes innerhalb Bremerhavens mussten diese Werftarbeiter auf dem Gelände der Werft untergebracht werden. Trotz intensiver Bemühungen gelang es ihm jedoch nicht, innerhalb Bremerhavens geeignete Flächen für die nötige Erweiterung seiner Werft zu erwerben oder dauerhaft zu pachten. In dieser Situation konnte R.C. Rickmers von der Konkurrenz zwischen dem inzwischen prosperierenden Städtchen Bremerhaven und der auf Hannoverischem Gebiet 1845 neu gegründeten Stadt Geestemünde profitieren. Beiden Städte wetteiferten um die Teilhabe am wachsenden Überseehandel. R.C. Rickmers bewarb sich schließlich auch um einen Bauplatz in Geestemünde. 1857 gelang es ihm, ein großes, zusammenhängendes Stück Land auf der Geesthelle an der Geeste dauerhaft zu pachten.6 Dieses Grundstück bot ihm nun neue 5 6
Vgl. hierzu Leonhard, Rickmers 1834-1918, S. 41. Zuvor waren Bemühungen von ihm ein geeignetes Stück Land in Geestemünde zu erwerben erfolglos geblieben. Es gab seitens der Geestemünder Verwaltung Vorbehalte an die Vergabe zu großer Grundstücke an Bremer Bürger. Hierzu auch: Peters, Dirk, Der Seeschiffbau in Bremerhaven von der Stadtgründung (1827) bis zum Ersten Weltkrieg. Hannover, 1981, S. 142.
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Entfaltungsmöglichkeiten. Neben dem Neubau von Helgen und großzügigen Werkstätten sowie Lagerräumen für Schiffbaumaterial, realisierte R.C. Rickmers den Bau einer Villa für seine Familie direkt auf dem Werftgelände und errichtete Arbeiterwohnungen rund um den neuen Schiffbaubetrieb. Seine weitreichenden Planungen sahen den Bau eines regelrechten Rickmers Dorfes vor.
1840 lieferte die Rickmers Werft die 240 BRT große Bark „Maria Franziska“ ab. (Familienarchiv Rickmers)
Die 1857 neu eröffnete Rickmers Werft in Geestemünde erfüllte alle Anforderungen eines modernen Schiffbaubetriebes für hölzerne Segelschiffe. Obwohl es auch in Deutschland bereits erste positive Erfahrungen mit dem Bau von Eisen- bzw. Stahlschiffen gab und auch der Dampfantrieb sich in der Schiffahrt immer mehr etablierte, verließ sich R.C Rickmers auch nach dieser enormen Expansion seines Unternehmens ausschließlich auf die von ihm erlernten Techniken des hölzernen Segelschiffbaus. Kurz nach der Eröffnung der neuen Rickmers Werft in Geestemünde, kam der Schiffbau in der gesamten Region in Folge der Weltwirtschaftskrise von 1857 fast vollständig zum Erliegen. Um dennoch seine neue Werft wenigstens in einem bescheidenen Rahmen auslasten zu können, bediente R.C. Rickmers sich einer Methode, die er bereits in der Vergangenheit erfolgreich angewendet hatte. Er baute Schiffe ohne einen Auftraggeber zu haben. Nach ihrer Fertigstellung stellte er sie auf eigene Kosten in Dienst. Schließlich gründete er 1859 auch formal eine Reederei, die den Namen „Rickmers Rhederei“ trug, jedoch gesellschaftsrechtlich ein Teil der Personengesellschaft R.C. Rickmers OHG war, zu der auch seine Werft gehörte. Diese Verknüpfung von Schiffbau und Reedereigeschäft intensivierte er auch in den 1860er Jahren immer mehr.
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Schiffahrt um des Schiffbaus Willen Auch nach dem Abklingen der Wirtschaftskrise gelang es nicht mehr, nennenswerte Neubauaufträge von externen Auftraggebern zu erhalten. Der wichtigste Abnehmer für Neubauten wurde nun die eigene Reederei. Deren Flotte wurde daher auch immer größer und musste gewinnbringend unterhalten werden.7 Konnte R.C. Rickmers keine Ladung zu günstigen Frachtraten erhalten, erwarb er immer wieder auch Ladung auf eigene Rechnung, die er dann auf seinen Schiffen transportierte, um sie an ihrem Bestimmungsort selbst zu verkaufen. Hierunter waren Salz- und Holzladungen, Getreide, aber auch Reis. Das führte dazu, dass R.C. Rickmers von der Baufinanzierung eines Schiffes, seiner Bereederung bis hin zum Verkauf der Ladung des selben Schiffes nicht nur an allen wesentlichen Stufen des Seetransportes beteiligt war, sondern sie vollständig finanzierte und kontrollierte. Seine unternehmerische Entwicklung war seit 1834 nicht nur durch eine extreme Ausdifferenzierung seiner Tätigkeiten, sondern auch durch einen hohen Grad an vertikaler Integration der verschiedenen Teilbereiche in das Gesamtunternehmen gekennzeichnet gewesen. In der Unternehmensgeschichtsschreibung ist dieser Prozess nur für produzierende Unternehmen im engeren Sinne beschrieben worden.8 Dennoch lässt sich auf Basis der gewonnen Erkenntnisse zeigen, dass auch das, was R.C. Rickmers getan hat, um seinen Schiffbaubetrieb zu subventionieren, dieser beschriebenen vertikalen Integration in gewisser Hinsicht entspricht. Während Unternehmen, die beispielsweise Verbrauchsgüter produzieren, Produzenten von Vorstufen und/oder Rohstofflieferanten ihrer Produkte in einer Expansionsphase in ihr Unternehmen integrierten, bildete in unserem Falle der Produzent – nämlich die Werft – im Unternehmen von R.C. Rickmers die erste Stufe. Er integrierte dann den wichtigsten Abnehmer für sein Produkt „Schiffe“ – die Reederei – in sein Unternehmen. Mit der Gründung der Reederei wiederum stellte sich die Frage, wie die Flotte stets gewinnbringend beschäftigt werden konnte. Dieses Problem löste R.C. Rickmers mit dem Erwerb und dem Wiederverkauf von Waren, die er dann auf seinen Schiffen transportierte. Diese starke Ausweitung seines unternehmerischen Handelns war keineswegs das Ergebnis einer im Vorwege festgelegten Entwicklungsstrategie, sondern das Resultat mangelnder Nachfrage nach Schiffsneubauten. Schrittweise verschaffte sich R.C. Rickmers über die Gründung einer Reederei und den Warenhandel Kontrolle über die Nachfrage nach seinen Produkten. Diese Produkte waren hölzerne Segelschiffe.
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Im ersten Jahr nach der Eröffnung wurden insgesamt vier Schiffe auf eigene Rechnung gebaut und in die Flotte eingestellt: 1859 Vollschiff WILLI RICKMERS, 1860 Vollschiff HELGOLAND, 1860 Bark ENERGIE, 1861 Bark DODO. Die vertikale Integration wurde zunächst von Alfred Chandler beschrieben, der damit einen Beobachtungsrahmen für bestimmte Expansionsschritte lieferte. Hartmut Berghoff geht in seiner Arbeit auf die Anwendbarkeit dieses Begriffs ein. Berghoff, Hartmut, Moderne Unternehmensgeschichte. Paderborn, 2004, S. 63f.
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Diese Schmuckpostkarte zeigt eine Illustration des 1857 auf der Geestehelle neueröffneten Werftgeländes der Rickmers Werft (Familienarchiv Rickmers)
Auf dem Weg zum Konzern Nachdem es aufgrund des Ausbruches des Amerikanischen Bürgerkrieges 1861 zunächst zu einem kurzfristigen Einbruch des Seehandels über den Atlantik, vor allem in die Südstaaten, kam, da die Häfen der Staaten, die sich von der Union abgewandt hatten, von Präsident Lincoln als blockiert erklärt wurden,9 wuchs der Seehandel ab Mitte des Jahrzehnts wieder deutlich an. Hiervon profitierte auch R.C. Rickmers mit seiner stetig wachsenden Flotte.10 Um immer genug Ladung für seine Flotte zu haben, wandte sich R.C. Rickmers in den 1860er Jahren einem neuen Geschäftfeld zu: dem Reistransport aus Asien. Die Reisnachfrage war in Nord- und Mitteleuropa seit Mitte des Jahrhunderts ständig gestiegen. R.C. Rickmers profitierte mit seiner wachsenden Flotte von der großen Nachfrage nach Transportkapazitäten für Reis, der in den europäischen Mühlen verarbeitet wurde. Das Reistransportgeschäft entwickelte sich so gut, dass R.C. Rickmers im Jahre 1872 mit dem Erwerb von Anteilen an der Bremer Reismühle Ichon & Co. die Gelegenheit ergriff, sich auch in der Reisverarbeitung zu betätigen. 1878 übernahm er die Mühle schließlich vollständig und 9
Die Folgen des amerikanischen Bürgerkrieges für die Handelsschiffahrt werden auch anschaulich beschrieben in: Bessel, Georg, 1857-1957 Norddeutscher Lloyd. Geschichte einer bremischen Reederei. Bremen, 1957, S. 151f. 10 Zu der genauen Flottenentwicklung siehe auch Kludas, Arnold, 150 Jahre Rickmers. Bremen, 1984, S. 112.
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benannte sie in „Rickmers Reismühle“ um. Schrittweise baute er die Bremer Rickmers Reismühle zum größten Reisverarbeitungsbetrieb in Nordeuropa aus. Mit dem Einstieg in die Mühlenindustrie schuf R.C. Rickmers die Grundlage für den Ausbau seines Unternehmens zu einem weltweit agierenden Handelskonzern. Mit dem Erfolg der Reismühle wuchs auch der Bedarf an Tonnage zum Reistransport. Nach und nach wurden weitere Schiffe, die auf seiner Werft entstanden, in Dienst gestellt. Durch die Bedürfnisse des Reishandels sicherte R.C. Rickmers die Beschäftigung für die eigene Flotte und damit auch die Nachfrage nach Neubauten der Werft. Anfang der 1880er Jahre umfasste R.C. Rickmers Unternehmen eine große Holzschiffswerft in Geestemünde, eine Segelschiffsreederei und eine Reismühle in Bremen sowie eine Stärkefabrik in Hannoversch Münden.11 Doch der wirtschaftliche Aufstieg von R.C. Rickmers verschleierte die latenten Probleme der Rickmers Werft, dem einstigen Herzstück des Unternehmens. Als gelernter Holzschiffbauer hielt R.C. Rickmers an dem traditionellen Baustoff Holz fest. Er selbst wollte sich jedoch Zeit seines Lebens nicht mit dem modernen Schiffbau befassen. So ließ er bis zu seinem Tode 1886 keine strategische Neuausrichtung seiner Werft zu. Als er starb, hatten Dampfschiffe die Segelschiffstonnage aus vielen Fahrtgebieten der Welt bereits verdrängt.
Rickmer Clasen Rickmers (1807-1886) entwickelte innerhalb seines Lebens aus einer kleinen SchiffbauWerkstatt einen weltumspannenden Schifffahrtskonzern (Familienarchiv Rickmers)
11 Die Reisstärkefabrik wurde 1883 unter dem Namen „W. Rickmers & Co., Reisstärkefabrik Union“ in Hannoversch Münden gegründet.
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Generationswechsel Nach dem Tode von R.C. Rickmers 1886 übernahmen dessen Söhne Andreas Clasen (1835-1924), Peter Andreas (1838-1902) und Wilhelm Rickmers (1844-1891) das Unternehmen. Sie waren im Laufe der vergangenen Jahre bereits in die Geschäftsführung eingebunden worden, jedoch hatte sich ihr Vater bis zu seinem Tode stets alle Entscheidungsbefugnis vorbehalten. 1889 fassten sie die väterlichen Unternehmen in einer Aktiengesellschaft namens „Rickmers Reismühlen, Rhederei und Schiffbau AG“ zusammen. Im Namen der Gesellschaft spiegelt sich auch eine neue Schwerpunktsetzung im Unternehmen wieder. Neben der überfälligen Umstellung der Rickmers Werft von Holz- auf Eisen- bzw. Dampfschiffbau und der Modernisierung der eigenen Flotte erfolgte auch ein weiterer Ausbau der Reisverarbeitungssparte innerhalb des Familienkonzerns. Neben dem Ausbau der Reismühle in Bremen gehörte auch der Erwerb einer Reismühle in Siam zu den Expansionsmaßnahmen.12 Die Flotte der Rickmers Reederei war nach der Gründung der Rickmers AG und nach den inzwischen erfolgten Modernisierungsmaßnahmen zu einem technischen Gemischtwarenladen geworden. Neben den verbliebenen hölzernen Seglern, wurden von der Werft seit Anfang der 1890er auch Stahlsegler abgeliefert und die ersten Dampfer in Dienst gestellt. Es war das Ziel, schrittweise ebenso wie die Bremer Reederei Norddeutscher Lloyd (NDL), einen Liniendienst zu den ostasiatischen Häfen anzubieten.13 Die Tatsache, dass die Dampfer des NDL oftmals wegen Platzmangels angebotene Ladung nicht mitnehmen konnten, beförderte die Entscheidung von Andreas und Peter Rickmers diesen Schritt zu wagen und hierfür weitere Dampfer bauen zu lassen.14 Zunehmende Beschwerden von Verladern, die sich über die Ablehnung von Gütern beklagten, ließen ein Engagement sinnvoll erscheinen. Zunächst aber fehlte es an geeigneten Schiffen. Mit nur zwei Dampfern verfügte die Rickmers Reederei nicht über ausreichende Kapazitäten, um Verladern und Agenturen regelmäßig ihre Dienste anzubieten. Darüber hinaus fehlte es immer noch an Erfahrung im Umgang mit den modernen Dampfschiffen und an ausreichend qualifiziertem technischem und nautischem Personal. Erst 1896 kam es durch die Ablieferung der MARIA RICKMERS und der DEIKE RICKMERS, und 1902 der MARIA RICKMERS, der ELLEN RICKMERS und der ELISABETH RICKMERS zu einem spürbaren Anstieg der Reisen unter der Rickmers Flagge. 1896 sollte schließlich eine regelmäßige Verbindung zwischen Bremerhaven-MiddelsbroughAntwerpen-Suez nach Penang-Singapore-Shanghai-Yokohama und Hiogo ange-
12 Es handelte sich hierbei um die 1894 durch Rickmers übernommene Reismühle von Markwald & Co. in Bangkok sowie um einen Hamburger und Österreich-Ungarischen Reismühlenbetrieb. 13 Rübner, Hartmut, Konzentration und Krise der deutschen Schiffahrt. Maritime Wirtschaft und Politik im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Bremen, 2005, S. 42. 14 Bessel, NDL, S. 57.
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boten werden.15 Die Umstellung auf einen regelmäßigen Liniendienst, in dessen Rahmen stets dieselben Häfen zu verlässlichen Zeiten bedient werden sollten, gestaltete sich sehr schwierig. Anders als bei dem bisher erfolgreich betriebenen Trampgeschäft mit Segelschiffen, war für das Funktionieren von Liniendiensten auch eine verlässliche Infrastruktur an Land erforderlich. Das System, den Kapitän auch vor Ort praktisch gleichzeitig als Disponenten für die Beschaffung von Ladung und gegebenenfalls für deren Wiederverkauf einzusetzen, funktionierte nicht mehr. Es musste auch eine Agenturinfrastruktur in den Hafenstädten aufgebaute werden.
Rückzug aus der Ostasienfahrt 1901 erfolgte unter Führung von Rickmers die Gründung der Bremer „Reis- und Handels AG“ – ein Zusammenschluss zahlreicher norddeutscher Reisverarbeitungsbetriebe – in den die Rickmers Reismühlen eingebracht wurden. Seit der Jahrhundertwende gestaltete sich das Reedereigeschäft im angestammten Fahrtgebiet Ostasien immer schwieriger. Seit dem Einstieg in das Liniengeschäft lieferte sich Rickmers einen intensiven Konkurrenzkampf mit der HAPAG und dem NDL. Nach dem frühen Tode seines Bruders Peter im Jahre 1902 – Wilhelm Rickmers war bereits 1891 verstorben – ergriff Andreas Rickmers, der nun allein die Geschäftsführung verantwortete, die Gelegenheit für eine tiefgreifende Umstrukturierung des Konzerns. Er verkaufte 1903 große Teile der Flotte an den NDL und traf mit der Bremer Reederei die Vereinbarung, dass sich Rickmers gegen die Zahlung einer Entschädigungssumme bis zum Jahr 1913 aus dem Ostasienverkehr zurückziehen würde. Darüber hinaus wurde vertraglich festgelegt, dass Rickmers bis dahin auch nicht zu anderen Liniendiensten, die durch den NDL betrieben wurden, in Konkurrenz treten würde. Die verbliebenen Schiffe der Rickmers-Flotte wurden gleichzeitig für die Dauer von 10 Jahren an die Reis- und Handels AG verchartert. Damit gab es faktisch keine Schiffahrtsaktivitäten unter der Rickmers-Flagge mehr. Diese strategische Neuausrichtung des Konzerns, die die Schiffahrtsaktivitäten auf die Dienstleistung für die Reis- und Handels AG oder gelegentliche Trampschiffahrt reduzierten, führte zu massiven innerfamiliären Konflikten.
Wiedereinstieg in die Linienfahrt Es kam zu zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen Andreas und seinen Neffen Robert (1864-1948) und Paul (1873-1946), den Söhnen seines Bruders Peter Rickmers. Vor allem Paul Rickmers war enttäuscht darüber, dass sein Onkel keine Perspektiven in der Linienschiffahrt sah. Die Fronten waren derart verhärtet, dass er das Familienunternehmen verließ und sich in Hamburg mit dem Handelshaus „Rickmers & Co.“ selbstständig machte.
15 Rickmers Archiv, ST7 II Manuskripte Paul Rickmers, S. 23.
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Die Flotte der Rickmers Rhederei vor dem Ersten Weltkrieg. Auf der Übersicht finden sich handelsschriftliche Notizen von Paul Rickmers (Familienarchiv Rickmers)
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1910 gelang es ihm jedoch gemeinsam mit seinem Bruder Robert Rickmers, den Onkel aus dem Unternehmen zu drängen und die Geschäftsführung der „Rickmers Reismühlen, Rhederei und Schiffbau AG“ zu übernehmen. In Folge der langen Auseinandersetzung über seinen Führungsstil schied Andreas Rickmers aus dem Unternehmen aus. Er verkaufte seine Anteile an dem Unternehmen an die Erben seines Bruders. Paul Rickmers schwebte eine vollständige Neuausrichtung des Unternehmens vor. Den Schwerpunkt der unternehmerischen Aktivität sollte von nun an ein moderner ostasiatischer Liniendienst bilden. Bis 1913 unterlag Rickmers jedoch noch den Beschränkungen aus dem Konkurrenzausschlussvertrag mit dem NDL.16 Um dennoch einen Liniendienst einrichten zu können, der Hamburg und Bremen bzw. Bremerhaven mit den ostasiatischen Häfen verband, machte sich Paul Rickmers seine 1905 in Hamburg gegründete Firma „Rickmers & Co.“ zunutze. Unter deren Regie wurde schließlich 1911 auf Kosten und Rechnung der Rickmers Reismühlen Rhederei und Schiffbau AG ein Liniendienst mit dem Namen Rickmers Sibirien Linie etabliert. Dieser Dienst rief zwar den Argwohn des NDL hervor, jedoch konnte sich Rickmers zunächst darauf berufen, mit der Sibirien Linie und dem Endhafen Wladiwostok keinesfalls direkt in Konkurrenz mit dem NDL zu treten. Schrittweise erweiterte Paul Rickmers den Service der Sibirien Linie, die nicht selten auch japanische Häfen bediente und richtete zudem 1913 einen zusätzlichen Liniendienst für die Levante Häfen unter dem Namen Rickmers Orient Linie ein. Im Verlauf der Umstrukturierungen wurde auch der Unternehmensname an die neuen Gegebenheiten angepasst. Dem Ausscheiden des Reishandels aus dem Familienkonzern wurde mit der Streichung des Wortes Reismühle aus dem Namen Rechnung getragen, der fortan „Rickmers Rhederei und Schiffbau AG“ lautete.
Das Ende eines Familienkonzerns Dieser offensive Kurs noch vor dem formalen Ende des einst geschlossenen Konkurrenzausschlussvertrages mit dem NDL sorgte für neuerliche Konflikte innerhalb der Inhaberfamilie. Paul Rickmers Bruder Robert befürchtete, der NDL könnte die Expansion der Schiffahrtsaktivitäten unter der Rickmers-Flagge zum Anlass nehmen, um Regressansprüche geltend zu machen. Besonders umstritten war die Erweiterung der Sibirien Linie um weitere ostasiatische Häfen und die damit verbundene Umbenennung des Dienstes in „Rickmers Ostasien Linie“ 1913 kurz vor dem Ablauf des Abkommens mit dem NDL. Während Paul Rickmers auf konsequenten Ausbau der Linienschiffahrt setzte, forderten ihn seine Brüder, allen voran Robert Rickmers, zu einem maßvolleren Kurs auf. Diese unterschiedlichen Haltungen führten zu immer größeren Auseinandersetzungen innerhalb des Konzerns. Darüber hinaus hatte die Erweiterung des Sibiriendienstes und dessen Umbenennung scharfe Proteste aus dem Hause des NDL zur Folge. Der Wiedereinstieg in das Liniengeschäft und der schnelle Ausbau der einzelnen Dienste erfor16 Zu den genauen Modalitäten des Vertrages siehe auch: Leonhard, Rickmers 1834-1918, S. 162f.
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derte ein ambitioniertes Neubauprogramm. Um den Anforderungen eines zuverlässigen Linienverkehrs gerecht zu werden, benötigte man moderne und leistungsfähige Frachtdampfer. Auf der Bremerhavener Rickmers Werft wurden in den Jahren 1910 bis 1914 neun Dampfer für die eigene Flotte gebaut. Doch der ehrgeizige Kurs von Paul Rickmers wurde im Sommer 1914 vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges überschattet. Durch den Krieg kam die gesamte deutsche Linienschiffahrt nahezu zum Erliegen und er unterband auch eine weitergehende Eskalation des Streites zwischen dem NDL und Rickmers und die damit in Verbindung stehenden Auseinandersetzungen innerhalb der Unternehmerfamilie. Nach vielen Konflikten mit seinen Geschwistern über den Kurs des Familienunternehmens entschied sich Paul Rickmers, seine Verwandten aus dem Geschäft zu drängen.17 Mit Hilfe einer Berliner Bank und eines Strohmannes brachte er 1917 alle Anteile des Familienkonzerns unter seine Kontrolle.18 Danach begann er, das Unternehmen nach seinen Vorstellungen umzustrukturieren. Die „Rickmers Rhederei AG“ wurde ganz auf den Stückgut-Liniendienst nach Ostasien ausgerichtet. Für die Ladungsakquise wurde bereits 1914 eine eigene Frachtagentur gegründet: die „Rickmers-Linie“. Die „Rickmers Werft“ sollte nur noch Schiffe für die eigene Flotte bauen. Während des Krieges wurde das Unternehmen unter der Leitung von Paul Rickmers vollständig neu strukturiert. Er nutzte die Zeit des Stillstandes zur Vorbereitung und schließlich zur Realisierung seiner eigenen Vorstellungen.
17 Leonhard, Rickmers 1834-1918, S. 223. 18 Bei der Bank handelte es sich um das von Hjalmar Schacht geführte Bankhaus „Nationalbank für Deutschland“. Siehe hierzu auch: Kopper, Christopher, Schacht, Hjalmar: Aufstieg und Fall von Hitlers mächtigstem Bankier. München, 2006.
DIE ENTWICKLUNG DES TOURISMUS ÜBER DEN ATLANTIK AM BEISPIEL DER CUNARD LINIE BIRGIT BRAASCH
Unter den Reedereien, die Passagierschiffe über den Nordatlantik fahren ließen, ist auf lange Sicht gesehen die Cunard Linie wohl die erfolgreichste. Zwar gehört sie inzwischen zur Carnival Corporation, aber die Ozeanriesen fahren weiterhin unter dem Namen Cunard. Erst im Oktober 2010 brach die Queen Elizabeth >QE@ zu ihrer Jungfernreise auf.1 Neben der QE fährt die Queen Mary 2 >QM2@ über den Nordatlantik. Das Besondere an diesen beiden Schiffen ist ihre Ähnlichkeit mit den atlantischen Linienschiffen der Nachkriegszeit, die die Hauptverbindung zwischen Europa und Amerika darstellten, bevor die Mehrheit der Passagiere auf das Flugzeug umstieg. Zusätzlich zur Farb- und Namensgebung der beiden Schiffe liegt der Rückbezug der QE zu den ehemaligen Flaggschiffen Queen Mary (1939-1967) und Queen Elizabeth (1940-1968) vor allem in der Innenausstattung. So wurde der Wandschmuck der Midships Bar direkt von der alten Queen Mary übernommen.2 Dort schmückte ein 1934 von dem Künstler MacDonald Gill geschaffenes Paneel das Restaurant der 1. Klasse und ab 1947 bewegten sich Modelle der beiden Cunard Queens entsprechend ihrer Position über den Atlantik.3 Ein wichtiger Rückgriff der QM2 zu den alten Linienschiffen liegt in ihrer Konstruktion als „Ocean Liner“, welche den Schwerpunkt in der Werbung Cunards bildet.4 Auf den Kabinendecks des Schiffes befinden sich Bildergalerien, die die Geschichte der Cunard Linie wiedergeben. Mit dieser rückwärtsgewandten Ausstattung der beiden Cunard Schiffe sollten zweifellos Passagiere angesprochen werden, die ihrer Nostalgie für die alten Ozeanriesen mit der Fahrt über den Atlantik Ausdruck verleihen. Dennoch möchte ich diesen Bezug auf die Geschichte der Cunard Linie nicht als Nostalgie abwerten, sondern begreife ihn als einen Teil der Konzeption von der Geschichte des Reisens über den Atlantik – mit der Cunard Linie im Speziellen und mit den großen Linienschiffen im Allgemeinen. Im Folgenden möchte ich diese Geschichte etwas näher beleuchten und konzentriere mich dabei auf die Zeit von 1947 bis in die Mitte der 1960er Jahre. Meine Ausführungen basieren auf „Oral-History“ Inter1 2
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Cunard – Über Cunard >Online@. 5 Januar 2010. URL: http://www.cunard.de/about/NW/index.php?ID=55 >9 Februar 2011@. Focus Online – „Queen Elizabeth“: Eine neue Königin erobert die Meere >Online@. 11 Oktober 2010. URL: http://www.focus.de/reisen/kreuzfahrt/queen-elizabeth-eine-neue-koeniginerobert-die-meere_aid_558863.html >31 Oktober 2010@. Description of Decorative Panel on Queen Mary. D42/PR4/25-26, Cunard Archives, University of Liverpool Special Collections and Archives, Liverpool. Cunard – QM2 >Online@. 2006. URL: http://www.cunard.de/fleet/QM/ >31 Mai 2010@.
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views mit Passagieren, die in dieser Zeit den Atlantik überquert haben und auf Dokumenten von und über die Cunard Linie, wie z.B. Werbematerial und Zeitungsartikel. Dabei konzentriere ich mich auf Schlussfolgerungen in den Bereichen der Interpretation der Entwicklung des Tourismus über den Atlantik und eng damit zusammenhängend auf methodische Überlegungen zu diesem Bereich der Schiffahrtsgeschichte. Ich beginne 1947 mit einer groben Charakterisierung des Hintergrunds zur Entwicklung des Tourismus auf beiden Seiten des Atlantiks. Während Europa unter den wirtschaftlichen Folgen des Krieges litt, schafften es die USA, eine Wirtschaftskrise wie nach dem Ersten Weltkrieg zu verhindern und schufen die Grundlage für einen Wohlstand, der vor allem das Leben der Mittelschicht in den 1950er und 1960er Jahren prägte.5 Auf der anderen Seite des Atlantiks in Großbritannien litt die Bevölkerung unter Lebensmittelknappheit und die Regierung kämpfte für einen Werterhalt des Britischen Pfundes. In dieser Zeit schaffte es die Cunard Linie, ihre beiden Flaggschiffe, die Queen Elizabeth und Queen Mary nach deren Einsatz als Truppentransporter wieder in den Passagierdienst zu stellen. Als erste europäische Passagierschiffe, die nach dem Krieg wieder in den Dienst gestellt wurden, erfüllten die beiden Schiffe die wichtige Rolle eines Transportmittels über den Atlantik und waren eine Einnahmequelle für Amerikanische Dollar, die in Großbritannien dringend benötigt wurden.6 Vor allem gab es in den USA seit den 1950er Jahren genügend Touristen, die ihr Geld für eine Reise über den Atlantik und dann auf dem europäischen Kontinent ausgeben wollten.7 Ab Mitte der 1950er Jahre benutzten diese Touristen dann in zunehmendem Maße das Flugzeug für ihre Reise nach Europa. So überquerten 1958 erstmalig mehr Menschen den Atlantik mit dem Flugzeug als mit dem Schiff.8 Dieser „Sieg“ des Flugzeugs über das Schiff prägte sowohl die Entwicklung des Tourismus über den Atlantik – mit und durch die Cunard Linie, als auch die Erinnerungen an die Überfahrten auf den Passagierschiffen. Das bildet einen wichtigen Ansatzpunkt, um sich ein Zeitbild dieser Jahre zu verschaffen. Wirt-
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Barbara Ehrenreich, Fear of Falling: The Inner Life of the Middle Class (New York: Harper Perennial, 1989), 25ff; Christopher Endy, Cold War Holidays: American Tourism in France (Chapel Hill, London: University of North Carolina Press, 2004), S. 16. John Beckerson, „Marketing British Tourism: Government Approaches to the Stimulation of a Service Sector, 1880-1950,“ in The Making of Modern Tourism: The Cultural History of the British Experience, 1600-2000, ed. Hartmut Berghoff, et al. (Basingstoke: Palgrave, 2002), 149; Frank Jackson: The New Air Age: BOAC and Design Policy 1945-60, Journal of Design History 4, no. 3 (1991), 70; George Eglin, „Atlantic Diary“ in Pages from the Liverpool Echo and Evening Express, 13.11.1959, PR 3/20/17, Cunard Archives, University of Liverpool Special Collections and Archives, Liverpool. Jürgen Heideking and Christof Mauch, Geschichte der USA, 6th ed. (Tübingen, Basel: A. Francke, 2008), S. 307. Terry Coleman, The Liners: A History of the North Atlantic Crossing (London: Penguin, 1976), 183; R.E.G. Davies, History of the World’s Airlines (London: Oxford University Press, 1964), 470; Francis E. Hyde, Cunard and the North Atlantic 1840-1973: A History of Shipping and Financial Management (London, Basingstoke: Macmillan, 1975), 296; Kurt Ulrich, Monarchs of the Sea: The Great Ocean Liners (London: Tauris Parke, 1998), S. 133.
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schaftsgeschichtlich betrachtet, sieht die Rechnung recht einfach aus: Mit der schnelleren und seit etwa 1964 auch preisgünstigeren Möglichkeit, den Atlantik zu überqueren, konnten die Reedereien nicht mithalten. Diese hofften aber, dass die Passagierzahlen insgesamt weiter steigen würden und reagierten spät auf die neuen Herausforderungen.9 Cunard unternahm z.B. durch den Zusammenschluss mit der British Overseas Airways Corporation zu BOAC-Cunard den Versuch, eine Zusammenarbeit zwischen Schiff- und Luftfahrt zu organisieren. Dieser Zusammenschluss hielt allerdings nur von 1962 bis 1966, als Cunard die Anteile an der BOAC wieder verkaufte.10 Cunard und andere Reederein gingen dazu über, ihre Passagierschiffe im Winter zu Kreuzfahrten und im Sommer zur Atlantiküberquerung einzusetzen und viele dieser Schiffe wurden spätestens Ende der 1960er Jahre aus dem Dienst genommen, wie Cunards Queen Mary und Queen Elizabeth.11 Vor dem Hintergrund dieser wirtschaftlichen Entwicklung der Atlantiküberfahrt möchte ich aus kulturgeschichtlicher Sicht den Wechsel vom Schiff zum Flugzeug als meistgenutztes Verkehrsmittel zur Atlantiküberquerung betrachten. Dabei gehe ich auf das Bild des Nordatlantiks ein, welcher „touristifiziert“ wurde. Daneben lässt sich ein Wandel dessen feststellen, was als luxuriös gesehen wurde. Als letzten Punkt behandele ich die soziale Stellung der Passagiere. Die herausgehobene soziale Stellung der Reisenden an Bord war ein wichtiger Aspekt der Atlantiküberquerung mit dem Schiff und die herausgehobene Stellung der Fahrgäste wurde durch die steigenden Möglichkeiten des Reisens mit dem Flugzeug bedroht. Da durch die an Bord servierten Mahlzeiten verschiedene Aspekte deutlich zu machen sind, werde ich mich auf Beispiele aus dem Bereich des Essens konzentrieren. Ich beginne mit dem Bild des Atlantiks als Beweggrund für den Tourismus über den Atlantik: Hier lässt sich keine lineare Entwicklung feststellen, aber eine Tendenz der zunehmenden „Touristifizierung“ des Wassers. Damit meine ich, dass der Atlantik ein Teil der Attraktion der Überfahrt wurde. Bevor die See nun Gegenstand der touristischen Attraktion und sogar Mittel der Erholung werden konnte, musste sie technisch beherrschbar gemacht werden. In den 1950er Jahren
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Harald Focke: 1945-1970: Wieder auf allen Meeren, in: Der Norddeutsche Lloyd: Von Bremen in die Welt ǥGlobal Player’ der Schifffahrtsgeschichte, ed. Dirk J. Peters (Bremen: Hauschild, 2007), 88, 94; Arnold Kludas and Karl-Theo Beer, Die glanzvolle Ära der Luxusschiffe: Eine illustrierte Kulturgeschichte im Spiegel zeitgenössischer Quellen (Hamburg: Koehlers Verlagsgesellschaft, 2005), S. 193. 10 Cunard Steam Ship Company, A Personal Message from the Chairman to the Staff Ashore and Afloat (6 Juni 1962), D42/PR4/42/1, Cunard Archives, University of Liverpool Special Collections and Archives, Liverpool; –,Cunard Selling Its Share in BOAC-Cunard to BOAC (16 September 1966). PR3/22/17b, Cunard Archives, University of Liverpool Special Collections and Archives, Liverpool. 11 „So It’s Farewell, Old Lady“ in Southern Evening Echo (31.10.1967), D42/PR4/25-26, Cunard Archives, University of Liverpool Special Collections and Archives, Liverpool; David F. Hutchins, RMS Queen Elizabeth: From Victory to Valhalla (Southampton: Kingfisher, 1990), S. 96.
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scheint es den Bedarf gegeben zu haben, diese Beherrschbarkeit zu betonen. So endet der 1958 angelaufene Titanic Film „A Night to Remember“ basierend auf dem Roman von Walter Lord mit der Beruhigung, dass neue Technologien ein ähnliches Unglück nun verhindern würden. Der Film endet nicht mit der Bergung der Überlebenden, sondern im Abspann heißt es „>b@ut this is not the end of the story – for the sacrifice was not in vain. Today, there are lifeboats for all. Unceasing radio vigil and, in the North Atlantic, the international ice patrol guards the sea lanes making them safe for the people of the world“.12 Dieses Beispiel deutet an, dass man erkannt hatte, die Sicherheit der Atlantiküberquerung zu betonen. Besonders in den späten 1950er Jahren zeigte sich in Werbung von Cunard außerdem, dass nicht nur die Kontrolle über das Wasser, sondern dessen touristische Qualitäten in den Vordergrund gestellt wurden. Anstelle der oft verwendeten Bilder eines rauhen Atlantiks wurden die Schiffe in ruhiger See gezeigt und das Meer als der Hintergrund für Freizeitaktivitäten an Bord dargestellt.13 Mehr noch, der Atlantik wurde selbst zu einem Teil der Freizeitaktivitäten der Atlantiküberquerung. So stellte Cunard Passagiere, die den Ozean genießen, in den Mittelpunkt der Werbung.14 Mein „Oral-History“ Partner Ted Scull beschreibt den Spaziergang auf dem Deck rund um das Schiff und sein Verhältnis zum Wasser als einen wichtigen Teil der Überfahrt. Er erklärt: „I like communicating with the sea; I like walking around the deck; I like a ship that has a circular promenade. I try to walk 4 or 5 miles a day >…@. A lot of fresh air. The scenery changes. On one side of the ship it looks one way and on the other side of the ship the ocean looks different. You know, you are heading into the wind or you’re heading away from the wind“.15 Für Ted Scull war dementsprechend die Verbindung mit dem Wasser ein zentraler Beweggrund für die Überfahrt mit dem Schiff. Auch in Verbindung mit den Mahlzeiten an Bord wurde die See als ein wichtiger Bestandteil der Atlantiküberquerung angesehen. So warb Cunard: „The sea air is well known as a sharpener of appetites“.16 Außerdem entwickelte sich auf Cunard Schiffen eine spezifische Art, die Zwischenmahlzeiten einzunehmen. So wurde um 11:00 Uhr zwischen dem Frühstück und dem Mittagessen eine heiße Suppe an Deck serviert, und Ted Scull erinnerte sich daran, wie er in eine Decke gewickelt mit der dampfenden Suppe in den Händen an Deck saß und sich mit Freunden und Bekannten unterhalten hat.17 Zwischen Mittag- und Abendessen bot Cunard mit dem typischen englischen „Tea“ noch eine weitere Zwischenmahlzeit an. Der Tee, traditionell mit Scones oder Keksen serviert, wurde zu den Passagie-
12 A Night to Remember, Directed by Roy Baker, Produced by William Macquitty, 1993 ed. (United Kingdom: 1958 [1993]), min. 117:14. 13 Cunard Steam Ship Company, Atlantic Fairway (1958). E/Cunard/Brochures, National Maritime Museum, Greenwich. 14 –, Travel in Its Finest Sense (ca. 1960), E/Cunard/Brochures, National Maritime Museum, Greenwich. 15 Ted Scull, Interview, 20. Oktober 2008, New York, min. 45. 16 Cunard Steam Ship Company, Travel in Its Finest Sense. 17 Scull, Interview, min. 17.
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ren an Deck gebracht, so dass diese überall an Bord sitzen konnten.18 Die Einnahme der Suppe an Deck ist keine Erfindung der Nachkriegszeit. Es ist aber interessant, dass der Atlantik als Hintergrund zu den Passagieren, die an Bord ihre Suppe einnehmen, ein zentrales Bildmotiv für die Werbefotografie war.19
Cunard Werbung: „The stately ships of Britain“, 1958
Ich sehe diese Touristifizierung des Atlantiks im Zusammenhang mit der Einführung des Flugzeugs. Gegen das hohe Tempo der Flugzeuge und eine Entfernung vom Wasser setzte Cunard eine Werbung für die Überfahrt auf Passagierschiffen, die ein Ausruhen vom hektischen Leben und einen touristischen Bezug zum Atlantik in den Vordergrund stellte.20 Diese Möglichkeit, den Atlantik in Ruhe zu erfahren, ist ein Aspekt, der den Luxus der Atlantiküberfahrt mit dem Schiff ab den 1950er Jahren ausmachte. Anhand des Essens, das an Bord der Ozeanriesen serviert wurde, lassen sich neben der Zeit als ein Luxusgut die Qualität und Quantität des Essens sowie eine soziale Abgrenzung ablesen.
18 Cunard Steam Ship Company, The Stately Ships of Britain (ca. 1958), D42/PR4/25, Cunard Archives, University of Liverpool Special Collections and Archives, Liverpool. 19 –, Cunard New York to Europe. The Queens 1st Class (o.D.), 2003.33.262, South Street Seaport Museum, New York. 20 –, The Rising Tide (1965) PR 3/22/28, Cunard Archives, University of Liverpool Special Collections and Archives, Liverpool.
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Im Gegensatz zu der Überfahrt mit dem Schiff, war der Überflug so kurz, dass eine einzige Mahlzeit ausreichte, um seinen Ablauf zu strukturieren. Nach den vier Gängen, bei denen es wichtig war, dass in der 1. Klasse Alkohol gereicht wurde,21 hatte laut PanAm der Passagier gerade noch genug Zeit, um kurz zu schlafen.22 Auf der Überfahrt mit dem Schiff dagegen, wurden insgesamt fünf Mahlzeiten serviert, die nicht allein den Zeitraum der gesamten Überfahrt, sondern jeden einzelnen Tag strukturierten. Da es neben den Spielen an Deck wenig Programm gab, wurde ein Großteil des Tages in Vorfreude auf die nächste Mahlzeit verbracht. Nach dem Frühstück, das auch im Bett serviert werden konnte, gab es, wie schon erwähnt, eine Suppe an Deck. Nach dem Mittagessen war Zeit, um sich zurückzuziehen oder sich an Deck auszuruhen, um dann für den Tee am Nachmittag wieder aufzuwachen.23 Nach dem Tee war es schon fast Zeit, sich für das Abendessen herzurichten, insbesondere, wenn die Passagiere sich mit Cocktails auf das Essen einstimmen wollten.24 Die Mahlzeiten zeigen also den Luxus, viel Zeit zur Verfügung zu haben und diese mit ausführlichen Mahlzeiten zu füllen. Als zweiten Punkt des Luxus der Überfahrt auf den Schiffen können Quantität und Qualität des Essens angeführt werden. Dieser Luxus wird vor allem im Vergleich mit der Rationierung, die in Großbritannien bis 1954 in Kraft war, deutlich.25 Um während der gesamten Überfahrt eine hervorragende Verpflegung anbieten zu können, führten die Schiffe große Mengen an Lebensmitteln mit sich. So warb die Cunard Linie mit Superlativen, indem sie ihre Schiffe als „The World’s Wonder Ships“ bezeichnete und das beispielsweise damit begründete, dass sie 70.000 Tonnen Fleisch mit sich führten und die Größe ihrer Kühlräume den Kühlschränken von 15.000 Wohnhäusern gegenüberstellte.26 Gegenüber der einheimischen Bevölkerung musste die Reederei betonen, dass das Essen an Bord nicht die Rationen in Großbritannien beeinflusste, sondern in den USA erworben wurde.27 Diese Menge an Esswaren wurde benötigt, um vor allem in der 1. Klasse üppige Menüs mit fünf und mehr Gängen anzubieten. In den unteren Klassen, die auf den großen Schiffen aus Touristen- und Kabinenklasse bestanden, waren die Menüs nicht ganz so aufwendig, aber dennoch verhältnismäßig luxuriös. Den ku-
21 Roger Bilstein, Travel by Air: The American Context, Archiv für Sozialgeschichte 33 (1993), S. 284. 22 Pan American World Airways, Two Dozen Choices Plus Champagne on New PanAm Jet Menu, Press Release (1958), Box 247, Folder 2, Pan American World Airways, Inc. Records, Special Collections, University of Miami Libraries, Miami. 23 Cunard, Travel in Its Finest Sense. 24 –, Atlantic Fairway. 25 Ina Zweiniger-Bargielowska, Living Standards and Consumption, in A Companion to Contemporary Britain 1939-2000, ed. Paul Addison and Harriet Jones (Malden, Oxford, Carlton: Blackwell, 2005). 26 Cunard Steam Ship Company, Queen Mary, Queen Elizabeth. The World's Wonder Ships (ca. 1949), D42/PR3/19/31, Cunard Archives, University of Liverpool Special Collections and Archives, Liverpool. 27 Clive Brooks, Atlantic Queens (Sparkford: Haynes, 1989), S. 55.
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linarischen Höhepunkt der Atlantiküberquerung markierte das Gala Dinner, zu welchem Passagiere der 1. Klasse, die am 14. Februar 1958 von New York nach Liverpool aufgebrochen waren, unter sieben verschiedenen Hauptgerichten auswählen konnten.28 Neben der Auswahl an Gerichten und der Menge der Gänge markierte die Verwendung französischer Ausdrücke den Luxus der angebotenen Gerichte.29 Gleichzeitig setzte diese gehobene Sprache voraus, dass die Passagiere mit den französischen Termini vertraut waren und bildete so ein Kriterium, anhand dessen sich die Passagiere untereinander, vor allem aber von denen, die sich keine Überfahrt über den Atlantik leisten konnten, absetzten. Bill Miller berichtet, dass im Gegensatz zu Cunard die United States Linie darauf achtete, amerikanische Speisen anzubieten, da einige amerikanische Touristen auf den europäischen Schiffen nicht wussten, was sie bestellten, da sie deren französische Bezeichnungen nicht verstanden.30 Die Mahlzeiten, die an Bord der atlantischen Passagierschiffe serviert wurden, waren also nicht nur ein Zeichen für den Luxus der Überfahrt, sondern hatten auch eine soziale Funktion. Während es wichtig war, die Etikette des gehobenen Essens zu beherrschen, Verständnisprobleme hier aber nicht unbedingt sichtbar wurden, war der „Captain’s Table“, ein deutliches Zeichen, wer zu den ausgewählten Passagieren zählte, da man nur auf Einladung des Kapitäns an seinem Tisch Platz nehmen durfte. Doch auch die Berichte von weniger privilegierten Passagieren zeigen, dass die soziale Komponente des gemeinsamen Essens ein zentraler Teil der Überfahrt war.31 So bestand ein wichtiger Gang direkt nach dem Borden und der Inspektion der Kabine darin, zum Obersteward zu gehen, um sicherzustellen, dass dieser den gewünschten Tisch reservierte.32 Im „Oral History“ Interview berichtete Ted Scull von einer Überfahrt, auf der er viel Zeit damit verbrachte, mit seinen Tischgenossen Scrabble zu spielen. Neben Ted, der Amerikaner ist, saßen ein Neuseeländer, ein Kanadier und ein Engländer am Tisch. Alle waren Akademiker und mussten sich darauf einigen, welche englische Schreibweisen beim Legen der Scrabble Wörter gelten sollten. Gerade für Alleinreisende boten die anderen Passagiere am Tisch nicht nur gute Unterhaltung während der Mahlzeiten, sondern die Kontakte, die bei den Mahlzeiten geknüpft wurden, dienten der Bildung von Gruppen, in denen auch die Zeit zwi-
28 Cunard Steam Ship Company, Gala Dinner Queen Elizabeth (17 Februar 1958), PR3/20/12/k, Cunard Archives, University of Liverpool Special Collections and Archives, Liverpool. 29 Stephen Mennell, The Culinary Culture of Europe Overseas, in Essen und kulturelle Identität: Europäische Perspektiven, ed. Hans Jürgen Teuteberg, Gerhard Neumann, and Alois Wierlacher (Berlin: Akademie Verlag, 1997), S. 461. 30 William H. Miller, SS United States: The Story of America's Greatest Ocean Liner (Sparkford: Patrick Stephens, 1991), S. 111. 31 Lydia DeGuio, Narrative of the Trip of 1953 (2001), Lydia DeGuio Papers, Independence Seaport Museum, Philadelphia. 32 Vincent Lowe, Interview, 8. Oktober 2008, New York, min. 52.
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schen den Mahlzeiten gefüllt wurde. Die Bekanntschaften, die auf der Überfahrt gemacht wurden, hielten teilweise noch über die Fahrt hinaus.33 Die Mahlzeiten an Bord zeigen aber auch, wie sich die verschiedenen Gruppen, z.B. in Bezug auf ihre Nationalität, voneinander absetzten. So suggerieren Zeitungsberichte, dass der englische „Tea“ vor allem den amerikanischen Passagieren gefallen habe.34 Diese amerikanische Vorliebe für englische Bräuche deutet auf eine weitere wichtige Rolle des Essens auf den Passagierschiffen hin: Die Mahlzeiten waren nicht nur ein Ausdruck des Luxus der Atlantiküberquerung und boten die Möglichkeit möglichst Kontakte in höheren sozialen Schichten zu knüpfen, sondern sie waren auch ein wichtiges Merkmal der Nationalität der Schiffe und der Passagiere. Für die Cunard Schiffe war der Tee, der serviert wurde und vor allem der gute Service an Bord ein wichtiges Erkennungsmerkmal, welches Stolz in der Heimat auslöste und amerikanische Touristen anzog. Diese amerikanischen Touristen lösten entsprechend der politischen und wirtschaftlichen Situation zwischen den beiden Ländern allerdings durchaus ambivalente Reaktionen aus. Auf der einen Seite wurde das Geld, das sie brachten, dringend benötigt. Auf der anderen Seite fand eine gewisse Abneigung z.B. ihren Ausdruck darin, dass die amerikanische Sitte, ihren „Whisky on Ice“ zu trinken, abfällig kommentiert wurde.35 Die Beispiele zeigen, dass die Erfahrungen der Überfahrt eng mit der sozialen Position der Passagiere verbunden waren. Die Möglichkeit, mit Passagieren aus der gleichen und sogar einer höheren sozialen Schicht zusammenzukommen, machte den Reiz der Atlantiküberquerung aus. So beschreibt mein „Oral-History“ Partner Vincent Lowe, wie er die Möglichkeit hatte, mit den Windsors Cocktails zu trinken. Mit den Windsors waren der Herzog von Windsor und seine amerikanische Frau gemeint, wegen der er den britischen Thron hatte aufgeben müssen. Trotz ihres aufwändigen Reisestils waren die Windsors auf den Passagierschiffen gern gesehene Gäste, weil sie soziales Prestige durch ihre vielen Fahrten zwischen Europa und Amerika mitbrachten.36 Vincent beschreibt, dass er mit ihnen Cocktails trinken durfte, während andere Gäste nur Blicke zu ihnen hinüber werfen konnten. Sogar nach seiner Überfahrt musste er wiederholt seinen Freunden berichten, wie er die Begegnung mit dem berühmten Paar empfunden hat.37 Während die Windsors mit ihren fünf Hunden weiterhin mit dem Schiff fuhren, wechselten andere Prominente Passagiere schneller zu den Flugzeugen.38 Die Flugzeuge können also insofern mit einem sozialen Absinken in Verbindung gebracht werden, als dass auf der einen Seite die prominenten Passagiere zuerst das Ver-
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Scull, Interview, min. 13. Eglin, Atlantic Diary, 18.11.1959. Ibid., 14.11.1959. William Miller, Interview, 22. Oktober 2008, min. 18. Lowe, Interview, min. 43. Miller, Interview, min. 18; Lucy Herald, Interview 26. April 1993, M0100, Oral Histoy Archives, Southampton City Council, Southampton, min. 11.
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kehrsmittel wechselten und auf der anderen Seite das Flugzeug einer größeren Anzahl der Bevölkerung die Überquerung des Atlantiks erlaubte.39 Mit diesem Aspekt des sozialen Absinkens komme ich zur Interpretation des Wechsels vom Schiff zum Flugzeug und möchte Schlussfolgerungen in zwei verschiedenen Bereichen ziehen. Einmal geht es mir um die Interpretation der Entwicklung des Tourismus über den Atlantik in der Tourismusgeschichte und eng damit zusammenhängend möchte ich ein paar methodische Gedanken zu diesem Kapitel der Schiffahrtsgeschichte äußern. In seinem strittig diskutierten Buch „Abroad“ proklamiert der Literaturwissenschaftler Paul Fussell „We are all tourists now“.40 Er verbindet die in der Tourismusgeschichte noch immer gemachte Unterscheidung zwischen „Reisenden“ und „Touristen“ mit dem Wechsel vom Schiff zum Flugzeug als hauptsächliches Reisemittel und sieht Tourismus als eine Entfernung von der Realität, die stattdessen mit einer Pseudorealität ersetzt würde. Fussell, der sein Buch bereits 1980 veröffentlichte, macht diese Entwicklung nicht nur allgemein an einem Wechsel vom Schiff zum Flugzeug fest, sondern sieht speziell die Abwesenheit der großen Linienschiffe zur Atlantiküberquerung als ein Zeichen für das Tourismuszeitalter.41 Während es unstrittig ist, dass sich mit dem Wechsel vom Schiff zum Flugzeug als Transportmittel über den Atlantik vieles an der Art des Reisens änderte, so scheint mir diese negative Interpretation eines Wandels hin zum Tourismus nicht haltbar, d.h. sie erwächst aus der Vorstellung eines sozialen Abstiegs, die ich oben skizziert habe. Der Luxus, der mit der Überfahrt auf den Schiffen in Verbindung gebracht wird, steht im Kontrast zu den Flugzeugen, auf denen meist auf einem Klapptisch gegessen wird und die Kommunikation mit Passagieren neben den direkten Nachbarn schwierig ist. Diese Interpretation übersieht dabei aber, dass das Privileg, in ein Land auf der jeweils anderen Seite des Atlantiks zu reisen, immer noch ein Privileg geblieben ist – selbst wenn jetzt eine größere Anzahl Menschen das Flugzeug nutzen kann. Zudem kann nicht davon ausgegangen werden, dass durch den Wechsel des Transportmittels eine Pseudorealität entstanden sei. Auf der einen Seite ist auch die Erfahrung des Fliegens eine reelle, selbst wenn sie auf das Flugzeug hoch über dem Wasser beschränkt ist. Auf der anderen Seite habe ich beschrieben, wie der Atlantik in der Reaktion auf die Einführung des Flugzeuges weiter in das Blickfeld gerückt wurde und ein wichtiger Bestandteil der Überfahrt mit dem Passagierschiff wurde. Es fand gleichzeitig zur Abwendung vom Wasser also ein Hinwendung zu ihm statt. Interessant ist, dass der Atlantik dabei mit touristischen Qualitäten in Verbindung gebracht wurde, die sich auch in der Werbung für See-
39 Lowe, Interview, min. 38. 40 Paul Fussell, Abroad: British Literary Traveling between the Wars (Oxford: Oxford University Press, 1980), S. 49. 41 Ibid., S. 37.
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bäder fanden.42 Hier geht es aber nicht, wie in der geläufigen Interpretation eines Wandels vom „Reisen“ zum „Tourismus“ um die Flugzeuge, die mit dem Tourismus in Verbindung gebracht wurden, sondern um die Passagierschiffe, die in dieser Interpretation mit dem „Reisen“ gleichgesetzt werden. Nun, dreißig Jahre nachdem Fussell die Abwesenheit der großen transatlantischen Linienschiffe beklagte, fahren, wie ich einführend erwähnt habe, wieder Schiffe der Cunard Linie über den Atlantik, von denen zumindest die QM2 auch von ihrer Bauweise her als „Ocean Liner“ bezeichnet werden kann. Ihre Überfahrt von New York nach Southampton im November 2010 konnte mit einer Web Cam auf der Brücke „live“ verfolgt werden. Es ließ sich vom Computer aus sechs Tage lang der Bug des Schiffes auf dem weiten Atlantik beobachten.43 Cunard wirbt für die Transatlantik Passagen: „Vor der imposanten Kulisse des Nordatlantiks können Sie jeden Moment an Bord intensiv genießen“.44 Die in den 1950ern einsetzende Hinwendung zum Atlantik wird also hier fortgeführt. Da im Gegensatz zu Schiffen der 1950er und 1960er Jahre die Kabinen auf den oberen Decks einen Balkon besitzen, lässt sich der Atlantik auch tatsächlich genießen und es wird eine touristische Erfahrung des Wassers ermöglicht. Mit der Fortführung dieser Tendenzen komme ich zu meinem letzten Punkt, der Schiffahrtsgeschichte. Ein Großteil der Werke über die Atlantiküberquerung auf den Cunard Schiffen kann der Populärgeschichte zugeordnet werden und folgt der Nostalgie für diese Schiffe. In diesen Werken sowie in der Prägung ihrer Geschichte durch die Cunard Linie, indem z.B. alte Bilder auf den Schiffen aufgehängt werden, vermischen sich Erinnerung und Geschichte. Damit meine ich, dass die Darstellung der Geschichte, die hier von der Entwicklung des Tourismus über den Atlantik vorgelegt wird, von der Erinnerung an diese Zeit geprägt wird. Besonders die Einführung des Flugzeuges und der Wegfall der Notwendigkeit, den Atlantik mit einem Passagierdampfer überqueren zu müssen, sind hier die Auslöser einer Sehnsucht nach den alten Schiffen. Die Autoren einiger Berichte über die Passagierschiffahrt haben diese noch miterlebt und lassen ihre Erlebnisse in ihre Bücher einfließen. Andere, die zur Überfahrt auf den Passagierschiffen befragt werden können, werden in ihrer Erinnerung sowohl von bestehenden Geschichten als auch von Bildern wie sie über die gegenwärtigen Passagierschiffe weitergegeben werden, beeinflusst. Indem ich „Oral-History“ Interviews durchgeführt habe, habe ich also in erster Linie Erinnerungsgeschichte geschrieben. In diesem Artikel sind stellvertretend nur Ted Scull und Vincent Lowe zu Wort gekommen. Andere haben aber ähnliche Erfahrungen gemacht. An dieser Erinnerungsgeschichte hat Cunard entscheidend mitgewirkt,
42 John Beckerson and John K. Walton, Selling Air: Marketing the Intangible at British Resorts, in Histories of Tourism: Representation, Identity and Conflict, ed. John K. Walton, Tourism and Cultural Change (Clevedon, Buffalo, Toronto: Channel View Publications, 2005). 43 Cunard – Queen Mary 2 >Online@ 4 November 2010. URL: http://www.cunard.com/Ships/Queen-Mary-2/Bridge-Web-Cam >4 November 2010@. 44 Cunard – Fahrtgebiete >Online@ 2006. URL: http://www.cunard.de/fahrtgebiete/TP/TA/ >4.11.10@.
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indem die Reederei sowohl durch Werbung als auch durch die jetzigen Schiffe das historische Bild der Atlantiküberfahrt beeinflusst hat. Die Geschichte der Atlantiküberquerung ist dabei eng mit dem Nordatlantik als Ozean und dessen Bild verbunden. Gleichzeitig bestimmt die Geschichte der 1950er und 1960er Jahre in einem nicht unbeträchtlichen Maße die Popularität der neuen Cunard Schiffe.
WERFTINDUSTRIE – EINFÜHRUNG SÖNKE NEITZEL
1913 bemerkte der französische Schriftsteller Charles Péguy, dass sich Europa in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr verändert habe als zuvor seit der Geburt Jesu Christi.1 Natürlich war diese Behauptung übertrieben, aber sie verdeutlicht, dass weite Teile Europas seit 1870 einem tiefgreifenden Wandel unterzogen waren, der nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens betraf. Der Hauptmotor dieses Wandels war die zweite industrielle Revolution, die vor allem Westeuropa und die USA, aber auch schon einige Länder in Süd- und Osteuropa erfasste. Sie war gekennzeichnet durch etliche technische Erfindungen, die einen gewaltigen Aufschwung neuer Industriezweige bewirkten. 1856 hatte der englische Erfinder Henry Bessemer (1813-1898) ein Verfahren zur Herstellung von Stahl entwickelt, der nun in gleichbleibend guter Qualität produziert werden konnte. Stahl hatte erhebliche Vorteile gegenüber dem bislang verwendeten Eisen vorzuweisen und bot vollkommen neue Möglichkeit im Maschinen- wie im Schiffbau. Die Stahlherstellung wurde in den folgenden Jahren ständig verbessert. So entwickelte 1879 Sidney Gilcrist Thomas ein neues Verfahren zur Umwandlung phosphorhaltiger Erze in Stahl, das die Produktionskosten um bis zu 90 % herabminderte und damit wegweisend für die Massenproduktion von Stahl war. Da Stahl die Grundlage des Maschinen- und Anlagenbaus und somit des Aufbaus von Industriebetrieben, die Grundlage des Verkehrswesens (sprich Schiff- und Eisenbahnbau) und die Grundlage der militärischen Rüstung war, avancierte seine Erzeugung zum Gradmesser der Industrialisierung, ja der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes. In Europa war Großbritannien durch seinen technologischen Vorsprung noch lange nach 1870 hierbei führend. Das Deutsche Reich hat dann aber in einer dramatischen Aufholjagd sein Industrialisierungsniveau von 1880 zu 1900 mehr als verdoppelt. Sinnbild dieses Prozesses war der Aufbau einer äußerst leistungsfähigen Stahlindustrie, deren Ausstoß den der britischen Konkurrenz bereits Mitte der 1890er Jahre überstieg und die wesentliche Impulse durch den boomenden Eisenbahnbau erhielt. Der 1870 angestoßene Prozess hielt mit nahezu unverminderter Dynamik auch nach 1900 an, so dass Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg die führende Industriemacht in Europa war, die ihr Potential noch immer nicht ausgeschöpft hatte2. Das Deutsche Reich entwickelte in einigen Sparten
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Robert Hughes, The Shock of the New: Art and the Century of Change. (Second Edition) London, 1991, S. 9. Zum wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg siehe zusammenfassend: Werner Plumpe, Eine wirtschaftliche Weltmacht? Zur ökonomischen Bedeutung Deutschlands von 1870 bis 1914. In: Bernd Heidenreich, Sönke Neitzel (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich, 1890-1914, Paderborn, 2011, S. 39–60. Ausführlich vgl. Corneli-
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geradezu eine Monopolstellung, so etwa in der Elektroindustrie. Stellvertretend für diese Position steht der Aufstieg Werner von Siemens, der 1867 den ersten Dynamo erfand und aus einer kleinen Werkstatt ein Weltunternehmen formte. Mittel- und langfristig waren die Erfindung des ersten Benzinmotors von Karl Benz (1885) und des ersten Dieselmotors durch Rudolf Diesel (1897) ähnlich bedeutend. Auch in der boomenden Chemieindustrie nahm Deutschland bald eine weltweit führende Stellung ein und hatte im Bereich der industriellen Farbenherstellung sogar ein Monopol inne. 90% der Weltproduktion kamen aus dem Deutschen Reich. Die überlegene Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie in etlichen wichtigen Schlüsselbranchen lässt sich aus einer ganzen Reihe von Umständen erklären. In Deutschland hatte der Industrialisierungsprozess später als in Großbritannien begonnen, die Industrieanlagen waren daher oftmals auch moderner. Zudem gab es im Reich keinen Kapitalmangel für die besonders investitionsaufwendigen neuen Industriezweige, da die deutschen Großbanken selbst Anteile der Aktiengesellschaften erwarben und so als Unternehmer auftraten. Zuletzt war das deutsche Bildungssystem eines der fortschrittlichsten der Welt, insbesondere die Qualität der polytechnischen Hochschulen und die Universitäten, die im Bereich der chemischen und physikalischen Grundlagenforschung unangefochten an der Weltspitze standen. Man darf freilich nicht den Fehler machen, sich an der Erfolgsbilanz der deutschen wirtschaftlichen Entwicklung zu sehr zu berauschen. An die Dynamik und Kraft der Vereinigten Staaten reichte sie nicht heran, und Großbritannien blieb im Investitionsbereich, Außenhandel und Schiffbau unangefochten die Nr. 1. Aber natürlich war der Wandel, der sich in den Jahrzehnten nach 1871 vollzog grundlegend: Deutschland beeindruckte die Welt fortan nicht nur durch seine militärische Stärke und seine neue politische Bedeutung als Großmacht in der Mitte Europas. Nun kam auch noch eine ungeahnte wirtschaftliche Dynamik hinzu, die prinzipiell zwar die meisten Länder Europas erfasste, das Deutsche Reich aber in ganz besonderem Maße. Und natürlich wirkte die steigende Wirtschaftskraft stark auf die Außenpolitik ein. Das Land wurde zum „global player“, weil es als bedeutende Exportnation weltweit Märkte eroberte, andere Mächte verdrängte. Der deutsch-englische Gegensatz erklärt sich teilweise aus diesem Umstand. Insbesondere der öffentlichen Meinung diente die Konkurrenzsituation zu geharnischten Attacken gegen Deutschland. Zudem bedeutete wirtschaftliche Potenz meist (nicht immer) auch militärische Macht, so dass sich das Potential Berlins weiter vermehrte. Der unmittelbare Zusammenhang wird beim Flottenwettrüsten ab 1906 erkennbar. Nur Deutschland und die USA waren in der Lage, den Briten beim Bau der neuen Schlachtschiffe der „Dreadnought“-Klasse zu folgen. Nur dank der weitentwickelten deutschen Schwerindustrie war die Reichsleitung also überhaupt in der Lage, Großbritannien den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen. Im Übrigen galt der Kriegsschiffbau bis weit in den Kalten Krieg hinein als ein wichtiger Indikator wirtschaftlicher und technologischer Leistungsfähigkeit. us Torp, Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Göttingen, 2005.
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Man denke nur daran, dass es keine Nation nach dem Zweiten Weltkrieg schaffte, den USA im Bau atomgetriebener Flugzeugträger auch nur annähernd das Wasser zu reichen. Im Rahmen des allgemeinen Aufschwungs vermochte sich auch die deutsche Werftindustrie zu einem „global player“ zu entwickeln. Dirk J. Peters verdeutlicht in seinem Überblicksbeitrag, dass die eigentliche Start-Phase des deutschen Seeschiffbaus in der Zeit von 1880 bis 1900 zu verorten ist. In diesen Jahren schloss der deutsche Schiffbau von bescheidenen Anfängen kommend qualitativ und quantitativ zur Weltspitze auf. Ermöglicht wurde dies vor allem durch eine kluge staatliche Förderpolitik, so etwa die zollfreie Einfuhr von dringend benötigten Schiffbaumaterialien aus Großbritannien oder die enge Vernetzung von Zulieferern und Werften durch einen Spezialtarif für den Warentransport auf der Eisenbahn. Peters betont einmal mehr, dass diese Entwicklung wesentlich durch die Wissensproduktion an den deutschen Hochschulen begünstigt wurde. Der Großraum Berlin entwickelte sich mit der TH in Charlottenburg als Mittelpunkt zur wichtigsten akademischen und wissenschaftlichen Lehr- und Forschungsstätte für den deutschen Schiff- und Schiffsmaschinenbau. Aber Berlin stand damit nicht allein, sondern wurde durch andere Institute flankiert, etwa die TH Hannover oder die TH Danzig. Nicht zuletzt aufgrund des technologischen Fortschritts im eigenen Land waren die deutschen Werften ab 1890 auch in der Lage, moderne Schnelldampfer für den Überseeverkehr zu bauen und in diesem Hochleistungssegment den englischen, schottischen und irischen Werften Konkurrenz zu machen. Und dennoch blieb Großbritannien im Weltschiffbau dominierend. 1912 wurden 63 Prozent aller Dampfschiffe auf britischen Werften gebaut, auf Platz zwei folgte – mit deutlichem Abstand – Deutschland mit einem Anteil von 13,25 Prozent. Johanna Meyer-Lenz plädiert in ihrem Beitrag dafür, den deutsch-britischen Vergleich auf der Mikroebene weiter auszudifferenzieren. Die Geschichte der Hamburger Großwerft Blohm & Voss zeigt nämlich, dass einzelne deutsche Betriebe es schafften, zu den europäischen – sprich britischen – Spitzenwerften aufzuschließen. Der große Strom an deutschen Auswanderern nach Amerika wirkte als Katalysator für den Ausbau des Transatlantikverkehrs mit großen und modernen Passagierdampfern. Der Aufstieg der Vereinigten Staaten zur führenden Weltwirtschaftsmacht flankierte diese Entwicklung und führte zu entsprechenden Impulsen auch für den Frachtverkehr. Die enge Kooperation mit der HAPAG als größter Reederei der Welt bedingte ein ständiges Wachstum der Werft, so dass sie immer wieder in der Lage war, das jeweils größte Passagierschiff ihrer Zeit zu bauen. Die Expansion des Unternehmens wurde getragen von der evolutionären Weiterentwicklung der Unternehmensstrukturen hin zu einer modernen gremienorientierten Verwaltung, die auch die ständige Verbesserung der Vernetzung des Unternehmens und so die Behauptung der zentralen Marktposition sicherstellte. Das Beispiel Blohm & Voss verdeutlicht, dass Deutschland trotz des geringeren Umfanges der Schiffbauproduktion sehr bald aus der Rolle eines Juniorpartners der britischen Werftindustrie herauswuchs und auf dem Weltmarkt seit den
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1890er Jahren den britischen Betrieben im wichtigen Segment der prestigeträchtigen Hochtechnologie auf Augenhöhe begegnete. Die international bedeutende Rolle hat der deutsche Schiffbau durch den Ersten Weltkrieg dauerhaft eingebüßt. In der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg vermochte er dennoch in einzelnen Segmenten wieder Anschluss an die Weltspitze zu gewinnen. Ein Beispiel dafür, dass deutsche Werften auch nach 1945 wieder technologische Spitzenprodukte herstellen konnten, war der Bau der „Otto Hahn“, des knapp 17.000 BRT großen einzigen deutschen atomgetriebenen Frachters. Seine Fertigstellung 1968 und der gut zehnjährige Betrieb waren eine bemerkenswerte Pionierleitung, wie Hajo Neumann in seinem Beitrag zu Recht festhält. Gleichwohl konnten sich atomgetriebene Frachter auf dem Weltmarkt nicht durchsetzen, da ihnen aus Sicherheitsgründen von den meisten Häfen die Anlaufgenehmigung verweigert wurde. Ein wirtschaftlicher Betrieb war so von vornherein nicht möglich. 1979 wurde der Atombetrieb stillgelegt, die deutsche Atomschiffahrt war damit ebenso Geschichte, wie die Blüte des deutschen Schiffbaus vor dem Ersten Weltkrieg.
DIE ENTWICKLUNG DER DEUTSCHEN WERFTINDUSTRIE VON 1850 1 BIS 1914 UND IHRE BEZIEHUNG ZU GROßBRITANNIEN DIRK PETERS
Seit etwa 1850 setzten zwei einschneidende technische Veränderungen völlig andere Maßstäbe für die deutschen Seeschiffswerften, nämlich die Verwendung des Eisens und später des Stahls als neues Baumaterial und die Einführung der Dampfmaschine als neue Antriebskraft. Zugleich verlangten der rasch zunehmende Auswanderer- und Warenverkehr nach Übersee (in erster Linie nach Nordamerika) und der Rohstofftransport nach Europa größere Schiffsabmessungen und konstantere und schnellere Beförderungsleistungen, wie sie eben nur durch die Eisenbauweise und die mit Dampf angetriebene Schiffsschraube zu erzielen waren. Technischer Fortschritt und wachsender Transportbedarf bedingten und förderten einander. Deutschland als industrielles Nachfolgeland und der deutsche Seeschiffbau waren diesen Innovationen nicht gewachsen und konnten nicht mit England konkurrieren.
Übergang zum Eisen- und Dampfschiffbau Als sich das eiserne Dampfschiff etwa seit den 1870er Jahren im Überseeverkehr durchzusetzen begann, mussten sich die deutschen Werften umstellen. Während in Großbritannien ein kontinuierlicher Wechsel vom Holz- zum Eisenschiffbau, der durch die Struktur der Wirtschaft begünstigt wurde (hier bestand eine eisenverarbeitende Industrie, die in der Nähe der Werften lag), ohne größere Anpassungsschwierigkeiten eingesetzt hatte, „ist in Deutschland eine an vielen Orten blühende Industrie zugrunde gegangen, und es bedurfte langer Jahre, bis die deutsche Eisenerzeugung und der Maschinenbau sich so weit entwickelt hatten, dass sie den Bedürfnissen und Anforderungen des Eisenschiffbaus genügen konnten.“2 Im deutschen Binnen- und Flussschiffbau hatten sich die technischen Neuerungen schon eher durchgesetzt. Die ersten hölzernen Rad- und Schraubendampfer entstanden – mit Unterstützung englischer Konstrukteure und mit englischen Schiffsmaschinen ausgerüstet – 1816 bis 1818 in Pichelsdorf an der Havel in der Nähe von Berlin und in Grohn bei Vegesack (heute Stadtteil von Bremen) an der 1
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Dieser Aufsatz ist eine aktualisierte Zusammenfassung aus Dirk J. Peters: Der Seeschiffbau in Bremerhaven von der Stadtgründung bis zum Ersten Weltkrieg, 2. Aufl., Bremerhaven 1992 und Dirk J. Peters, Der Schiffbauingenieur: Ein neues Berufsbild für den industrialisierten Schiffbau, in: Rudolph Haack (1833-1909). Industrie-Pionier unter drei Kaisern, hrsg. von Eckard Schinkel und Lars U. Scholl, Bremerhaven 2009, S. 67-71. Hermann Wilda, Neuzeitlicher Schiffbau in Deutschland, in: Die Fortschritte des Deutschen Schiffbaus, Berlin 1909, S. 29.
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Unterweser auf der Werft von Johann Lange. Die ersten in Deutschland aus Eisen fertig gestellten Fluss- und Raddampfer bauten in den Jahren 1834 bis 1839 die „Kgl. Preuß. Seehandlungs-Societät“ in Berlin-Moabit an der Spree, der Dresdener Aktien-Maschinenbau-Verein zu Uebigau an der Elbe und die Ruhrorter Gutehoffnungshütte am Niederrhein. Während das erste eiserne Dampfschiff, die AARON MANBY, 1820/21 in England fertig gestellt wurde, begann man an der deutschen Nord- und Ostseeküste mit den frühesten Bauversuchen von eisernen Dampfern in den 1840er Jahren. In Deutschland benötigte der Eisenschiffbau eine lange Anlaufzeit, um sich von den traditionellen Konstruktionsformen zu lösen, die im hölzernen Segelschiffbau jahrhundertelang gepflegt und bewahrt worden waren. An der Weser machte Johann Lange, ein Sohn des berühmten Schiffbauers Lange aus Vegesack, mit der GUTENBERG den Anfang. 1845 erfolgte der Stapellauf auf dem Schiffbauplatz in Grohn. Weiter muss in diesem Zusammenhang Carsten Waltjen aus Bremen erwähnt werden, in dessen Firma 1847 der Radschleppdampfer ROLAND entstand. An der Elbe baute man im Hamburger Raum seit 1840 eiserne Dampfschiffe. Allerdings handelte es sich um Flussdampfer, die für die Seeschiffahrt nicht geeignet waren. Die Wilhelmsburger (heute Stadtteil von Hamburg) ReiherstiegWerft ließ sich Ende der 1850er Jahre auf den Bau eines eisernen Seeschiffes ein. An der Weser entstanden 1866 bei C. Waltjen & Co. in Bremen die ersten Seedampfer für den Norddeutschen Lloyd (NDL), die im Englanddienst und im Seebäderverkehr eingesetzt wurden. Bezeichnend für den unterentwickelten Stand der deutschen Werften war, dass die Hapag (Hamburg-Amerikanische PacketfahrtActien-Gesellschaft) und der NDL ihre seit Mitte der 1850er Jahre entstandenen Seeschiffe für lange Zeit bei Schiffbaufirmen in Großbritannien bestellten, insbesondere bei den schottischen Werften Caird & Co. in Greenock und John Elder in Glasgow. An der Ostseeküste leisteten Schichau in Elbing, Klawitter in Danzig, Schweffel & Howaldt in Kiel, Früchtenicht & Brock (Vorgängerfirma des Stettiner Vulcan) in Bredow bei Stettin und Zeltz & Tischbein in Rostock Pionierdienste im Bau von zunächst kleinen Eisen- und Dampfschiffen. Es sollte aber noch bis zum Ende der 1880er Jahre dauern, bis eine deutsche Seeschiffswerft (Stettiner Vulcan) in der Lage war, große Schnelldampfer für die Hapag und den NDL zu bauen. Der Übergang vom Segelschiff zum Dampfschiff vollzog sich nicht plötzlich, sondern erstreckte sich über mehrere Jahrzehnte. Fast parallel mit dem Wechsel vom Holz- zum Eisen- und Stahlschiff erfolgte der Wandel der Antriebskraft. Bei der Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 setzte sich die deutsche Handelsflotte noch zu einem überwiegenden Teil aus Seglern zusammen. In diesem Zeitraum zählte man nach der Statistik nur 127 Dampfschiffe, aber noch 4320 Segelschiffe, während es 1875 bereits 330 Dampfer und 1317 Segler gab. Dreißig Jahre später hatte sich das Verhältnis umgekehrt. 1904 existierten 786 Dampf- und 225 Segelschiffe über 1000 BRT. 1908 bestand der deutsche Handelsschiffsraum aus 968 Dampfern und 169 Seglern über 1000 BRT. 1913 umfasste die deutsche Handelsschiffstonnage etwa 5,0 Millionen BRT, wovon die Dampfschiffe allein 4,7 Millionen BRT ausmachten.
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Werftanlagen des Stettiner Vulcan, 1861 (Archiv Deutsches Schiffahrtsmuseum)
Staatliche Subventionen zur Förderung der Schiffbauindustrie Erst gezielte Maßnahmen durch den Staat machten den deutschen Seeschiffbau schließlich wieder konkurrenzfähig. Entgegen der allgemeinen Wirtschaftspolitik, welche vom Freihandel zum Schutzzoll übergegangen war, beschloss der Reichstag 1879 die zollfreie Einfuhr von Schiffbaumaterialien. Dadurch erhielten die Werften eine Chance, diese Produkte billig aus England einzuführen, während die deutsche Eisen- und Stahlindustrie noch nicht in der Lage war, die von den Werften verlangte Qualität für Schiffbauerzeugnisse zu erfüllen. Zu den weiteren staatlichen Förderungen gehörten die Reichssubventionsgesetze von 1885 bis 1893, welche im Rahmen einer nationalen und imperialistischen Überseepolitik betrachtet werden müssen. Diese Gesetze besagten, dass die subventionierten Schiffe für die Reichspostdampferlinien nach Ostasien und Australien nur auf deutschen Werften und mit deutschen Materialien gebaut werden durften. Ferner muss in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Flottenbaus für den deutschen Seeschiffbau genannt werden. Die Aufträge der Kaiserlichen Marine auch für Privatwerften und die Bestellungen der Hapag und des NDL begründeten schließlich den Anschluss an den internationalen Standard, so dass der deutsche Seeschiffbau ab Anfang des 20. Jahrhunderts wieder konkurrenzfähig war. Trotz der unbestrittenen Erfolge des deutschen Seeschiffbaus, dessen Anteil am Weltschiffbau um 1900 etwa 10 Prozent betrug, behauptete Großbritannien seine führende Stellung um die Jahrhundertwende mit etwa 65 Prozent der in der ganzen Welt hergestellten Tonnage.
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Reichspostdampfer PREUßEN des NDL, um 1890 (Archiv Deutsches Schiffahrtsmuseum)
Panzerschiff PREUßEN der kaiserlichen Marine, um 1875 (Archiv Deutsches Schiffahrtsmuseum)
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Passagierdampfer RUGIA der Hapag, um 1885 (Archiv Deutsches Schiffahrtsmuseum)
Eisenschiffbaubetriebe Neben der staatlichen Marinewerft in Danzig, die aus dem 1844 gegründeten preußischen Marinedepot hervorgegangen war, und den Marinewerften in Wilhelmshaven und Kiel, die 1869 ihren Betrieb mit dem Bau von eisernen Kriegsschiffen aufnehmen konnten, gab es 1888 über 20 private Seeschiffswerften, welche den Eisenschiffbau ausübten. Zusammen hatten die privaten und staatlichen Schiffbauwerkstätten ungefähr 25 000 Beschäftigte. Von den alten Holz- und Segelschiffbauunternehmen hatten u. a. Klawitter in Danzig, Stülcken in Hamburg, Tecklenborg und Rickmers in Geestemünde (heute Stadtteil von Bremerhaven) den Übergang zur eisenverarbeitenden Fertigung geschafft, während andere Betriebe, wie z. B. der Stettiner Vulcan, Schichau in Elbing, die Stettiner Oderwerke, die Germania-Werft in Kiel, die Flensburger Schiffbaugesellschaft, Blohm & Voss in Hamburg und Seebeck in Geestemünde, aus Eisengießereien und Maschinenwerkstätten hervorgegangen waren oder neu gegründet wurden. Neben dem Schiffsneubau spielte das Reparaturgeschäft eine immer größere Rolle bei den deutschen Werften, was sich in der stetigen Vermehrung der Trockendocks, Patentslips und Schwimmdocks bestätigte.
Beschäftigtenzahlen und hergestellte Tonnage Wenn man sich ein ungefähres Bild von dem Aufstieg des deutschen Seeschiffbaus von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg machen will, so kann man als Vergleich den Umfang der Handelsflotte sowie die Beschäftigtenzahlen und die Jahresproduktion der deutschen Werften heranziehen, die seit 1898 vom Germanischen Lloyd aufgestellt und veröffentlicht wurden. Während die deutsche Handelsflotte 1850 etwa eine Größe von 16.046 BRT aufwies, stieg sie bis 1888 auf 1.359.389 BRT und zählte 1913 5.321.715 BRT. 1888 betrug die Beschäftigtenzahl in der deutschen Werftindustrie etwa 25.000, klettert dann 1900 auf 60.000 und machte im Jahre 1913 ungefähr 100.000 Arbeiter und Angestellte aus. Bis 1880 hatte der
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deutsche Seeschiffbau noch keine große Bedeutung. Die Jahresproduktion betrug rund 50.000 BRT und stieg bis 1883 auf etwa 135.000 BRT an. Ein kontinuierlicher Aufschwung setzte jedoch in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre ein und hielt im Wesentlichen bis zum Ersten Weltkrieg an, abgesehen von der Konjunkturkrise in den Jahren von 1904 bis 1910. Neben den Aufträgen der Kriegsmarine waren die großen deutschen Reedereien die wichtigsten Auftraggeber für die Seeschiffswerften an der Nord- und Ostseeküste.
Signet des Germanischen Lloyd in einer Collage von Gero Klemke, 1998 (Archiv Deutsches Schiffahrtsmuseum)
Struktur der Werftindustrie und ihre Beziehung zu den Eisen- und Stahlwerken Der Eisenschiffbau verlangte im Vergleich zu den Werften, die hölzerne Segelschiffe herstellten, noch wesentlich mehr Fremdleistungen, so dass um 1890 auf einen Beschäftigten im Seeschiffbau 7-10 Beschäftigte aus Zulieferbetrieben kamen. Folgende Voraussetzungen mussten für den erfolgreichen Aufbau einer modernen Schiffbauindustrie erst erbracht werden. „1. Das schon gedachte Vorhandensein einer großen Rhederei und Kriegsmarine; denn keine Nation kann erwarten, allein als Schiffslieferantin für das Ausland eine große Schiffbauindustrie zu schaffen; ja keine Werft erhält heute Lieferungen für
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das Ausland, wenn sie nicht für den gleichen Typ sich daheim als lieferungsfähig erweist. 2. Grosse Kapitalien zur Anlage der umfangreichen und kostspieligen Betriebseinrichtungen, und zur Bereitstellung der angesichts der Langwierigkeit der Bauperiode und des hohen Werthes der Objekte nothwendigen großen Betriebsfonds. 3. Ein System von technischen Unterrichtsanstalten verschiedener Stufen, in dem sich die Werftleiter und ihr Personal die nöthigen technischen Kenntnisse erwerben können. 4. Das Vorhandensein eines wohlgeordneten, gelehrigen Stabes von leistungsfähigen und willigen Arbeitern, denen durch hohe Löhne, befriedigende Arbeitsbedingungen und sociale Maassnahmen der Schiffbau ein ständig anziehender Gewerbszweig ist. 5. Eine leistungsfähige Eisen- und Kleineisenindustrie, vorbereitet auf die Erzeugung der Schiffbaumaterialien. 6. Eine ausgebildete und specialisirte Maschinenindustrie zur Lieferung von Kraft- und Arbeitsmaschinen für den Werftbetrieb und von Hilfsmaschinen für die Schiffe. 7. Ein wohlgeordnetes Transportwesen der Eisenbahnen, der See- und Flussschiffahrt, welches den Werften den raschen, billigen, geregelten Bezug der Betriebsmittel, Kohlen- und Schiffbaumaterialien ermöglicht. 8. Ein System von staatlichen, behördlichen und polizeilichen Maßnahmen, welches daheim den Betrieb des Schiffbaues nach Kräften sichert und erleichtert und nach aussen hin die Schiffahrtspolitik des Landes durch weitsichtige politische Maassnahmen zu Wasser und zu Land schützt und entfaltet.“3 Wie sah nun die Struktur der deutschen Seeschiffswerften in der Anfangsperiode des Eisenschiffbaus aus? Die Beziehungen zu den Eisenhütten in West- und Mitteldeutschland, insbesondere im Ruhrgebiet, waren so gut wie gar nicht entwickelt. Die sich entfaltende Eisenindustrie konzentrierte sich auf den Absatz ihrer Produkte im Binnenland und war durch den einsetzenden Boom im Eisenbahnbau voll ausgelastet. Aus den Zeiten des Holzschiffbaus unterhielten die Werften an der Ost- und Nordseeküste traditionelle Geschäftsverbindungen zur englischen eisenverarbeitenden Industrie. Die Hansestädte Hamburg und Bremen verstanden sich als Handelszentren und waren nach Großbritannien und Nordamerika ausgerichtet. Es gab zwischen den sich entwickelnden west- und mitteldeutschen Industriebezirken und dem Seeschiffbau der Küstenregion keine gewachsene Interessenidentität, was auch ursächlich mit der historischen Entwicklung und dem politischen Zustand Deutschlands in jener Zeit zusammenhing. Als Zulieferer für die Seeschiffswerften im Nord- und Ostseeraum kamen die deutschen Walzwerke kaum in Frage, weil sie die Schiffbaumaterialien in der geforderten Güte und Menge gar nicht herstellen konnten. Zudem konnte sich die westdeutsche Eisenund Stahlindustrie erst in dem Moment auf die Lieferung von Schiffbauprodukten spezialisieren, als genügend Aufträge von den privaten Reedereien und der staat3
Ernst von Halle, Die volkswirthschaftliche Entwickelung des Schiffbaues in Deutschland und den Hauptländern, in JAHRBUCH DER SCHIFFBAUTECHNISCHEN GESELLSCHAFT 3 (1902), S. 204-205.
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lichen Marineverwaltung für den Ausbau einer deutschen Handelsflotte und Kriegsmarine vorlagen. Um 1900 lieferten die englischen Eisen- und Stahlwerke etwa ein Drittel ihrer gesamten Produktion an die Werften, während in Deutschland der Anteil des Schiffbaus weniger als ein Fünfzehntel ausmachte. Außerdem war der Transport der Güter aus dem rheinischen Raum und Westfalen zu den Schiffbauplätzen zu weit und zu teuer, da die nötige Infrastruktur noch nicht vorhanden war. England besaß durch die unmittelbare Nähe von Schiffbauwerkstätten, Erz- und Kohlegruben und Walzwerken natürliche Standortvorteile. Die englischen eisenverarbeitenden Betriebe waren der deutschen Konkurrenz weit überlegen, kapitalkräftig und hatten gute Absatzchancen bei den einheimischen und ausländischen Werften, weil sie ihre Schiffbaumaterialien kostengünstiger produzieren, billiger und schneller anbieten konnten. Durch den Übergang vom Holz- und Segel- zum Eisen-, Stahl- und Dampfschiffbau erhielten die Werftplätze an der Nordseeküste ein größeres Gewicht. Die Schiffbauwerkstätten an der Ems, Jade, Weser, Geeste, Elbe und in Schleswig-Holstein lagen günstiger zu den Walzwerken im Ruhrgebiet als die Unternehmen in Rostock, Stettin, Danzig, Elbing und Memel. Eine weitere Vorbedingung für die Leistungsfähigkeit der Werften war der direkte Eisenbahnanschluss, da der Transport der Schiffbaumaterialien aus Deutschland fast ausschließlich über das Schienennetz abgewickelt wurde. Wichtige Impulse für die Anknüpfung von Verbindungen des Seeschiffbaus zur deutschen Eisenindustrie gaben die Flottenbaupläne zum Aufbau einer Norddeutschen Bundesflotte und später einer Kaiserlichen Marine. Grundlage dieser Pläne war die Forderung nach einer weitestgehenden Unterstützung der einheimischen Werft- und Eisenindustrie. Deutsche Unternehmen sollten bei der Auftragsvergabe bevorzugt werden, sofern sie finanziell und qualitätsmäßig mit ausländischen Betrieben konkurrieren konnten. Mit Hilfe der Marineverwaltung, die durch ihre strengen Abnahmenormen zu einer Anhebung der Qualität beitrug, waren einige deutsche Firmen der Schwerindustrie in der Lage, Schiffsbleche, Panzerplatten und Schiffsartilleriesysteme herzustellen, die der englischen Güte entsprachen. Neben den staatlichen Marinewerften Danzig, Wilhelmshaven und Kiel waren der Stettiner Vulcan, Schichau in Elbing und Danzig, die AG „Weser“ in Bremen, Blohm & Voss in Hamburg sowie die Germania-Werft und Howaldtswerke in Kiel maßgeblich am Kriegsschiffbau beteiligt. Obwohl einige westdeutsche Unternehmen Schmiedestücke, Panzerplatten, Form- und Gussstahlerzeugnisse seit den 1860er Jahren an die Werften lieferten, kam es erst nach der Jahrhundertwende zur Ausbildung einer regelrechten Zulieferindustrie. Und obwohl die deutschen Hüttenwerke mit der Qualität und dem Preisniveau der englischen Produkte allmählich Schritt halten konnten, blieb die zollfreie Einfuhr von Schiffbaumaterialien ein unverzichtbarer Faktor für die deutsche Schiffbauindustrie. Nur so war ein Wettbewerb zwischen ausländischen und deutschen Erzeugnissen gewährleistet, der den Werften Gelegenheit bot, sich für das jeweils günstigere Angebot zu entscheiden. Um die nach wie vor bestehende Vormachtstellung der englischen Schiffbauprodukte auf dem deutschen Markt zurückzudrän-
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gen, einigten sich nach langen und schwierigen Verhandlungen Abgesandte der Eisenbahnverwaltung, Werften und Eisen- und Stahlindustrie auf einen sehr günstigen Ausnahmetarif für deutsche Schiffbaumaterialien. Dieser Billigtarif der Eisenbahn trat am 1. Februar 1898 in Kraft, verschaffte den deutschen Erzeugnissen eindeutige Wettbewerbsvorteile und erreichte letztendlich sein Ziel, für einen vermehrten Absatz der einheimischen Schiffbauprodukte zu sorgen. Mit der Umstellung auf den Eisen-, Stahl- und Dampfschiffbau hatten die wichtigen deutschen Werftunternehmen ihre innere Struktur völlig verändert. Zu einem modernen Schiffbaugroßbetrieb gehörten Maschinenfabriken, Kesselschmieden, Gießereien, Turbinenwerkstätten und Reparaturanlagen. Folglich benötigten die Firmen viel mehr Rohmaterialien und Ausrüstungsgegenstände sowohl für die zu bauenden Schiffe als auch für den Betrieb selbst. Es bildete sich eine Hilfsindustrie (Kranbau, Werkzeugmaschinen, Elektroerzeugnisse), die speziell auf den Schiffbau ausgerichtet war. Direkte Beteiligungen der Eisen- und Stahlindustrie an den Seeschiffswerften gab es vor dem Ersten Weltkrieg u. a. durch den Krupp-Konzern, der die Kieler Germania-Werft am 1. Oktober 1896 übernahm und völlig neu aufbaute. Obwohl sich die einheimischen Schiffbaumaterialien mit Hilfe der Billigtarife der Eisenbahn, der Subventionsgesetze für die Reichspostdampferlinien und der Maßnahmen der Marineverwaltung auf dem deutschen Markt durchsetzen konnten und der Verbrauch stetig zunahm, betrug der Anteil der Schiffbauerzeugnisse an der Gesamtproduktion der deutschen Eisen- und Stahlindustrie für den Zeitraum von 1890 bis 1914 ungefähr je nach Konjunkturlage nur zwischen 2 bis 5 Prozent. Bei der Blechherstellung machte der Anteil der für den Schiffbau bestimmten Produktion etwa 10 Prozent aus. Die Lieferung der Schiffbaumaterialien stammte zu einem Viertel aus Oberschlesien, während 75 Prozent aus dem westdeutschen Raum kamen.
Sozialgeschichtliche Aspekte Bei den Arbeitskonflikten von 1876, als die Arbeit auf allen Werften an der Unterweser und Elbe ruhte, standen sich bereits überregionale Arbeiterorganisationen und Arbeitgeberverbände gegenüber. Die Holzschiffbauer hatten sich bereits 1873 in dem „Allgemeinen Deutschen Schiffszimmerer-Verein“ zusammengeschlossen, in dem zwei Jahre später schon ca. 3.300 Mitglieder von etwa 6.000 auf den Werften beschäftigten Handwerkern organisiert waren. An der Ostseeküste bestand seit 1872 der „Verein Norddeutscher Schiffbaumeister“, der sich 1874 mit den Werftunternehmern des Nordseegebietes als „Deutscher Schiffbauverein“ konstituierte, aus dem der „Verein Deutscher Schiffswerften“ hervorging. Im „Gesamtverband Deutscher Metallindustrieller“, der 1890 gegründet wurde, gab es später eine Unterorganisation „Gruppe Deutscher Seeschiffswerften“. Bei den Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften an der Geestemündung sprach der „Arbeitgeberverband Unterweser“ ein gewichtiges Wort mit. Die Werftunternehmer versuchten, die organisierten Mitglieder der Schiffszimmerer durch Aussperrung zum Austritt aus ihrem Verband zu bewegen, wie der Konflikt von 1876
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zeigte, wohingegen die Holzschiffbauhandwerker in den Firmen eine Zwangsmitgliedschaft in ihrem Verband durch Streikmaßnahmen erreichen wollten. Bei den Streiks von 1874 und 1877/78 auf den Werften an der Geestemündung spielten hauptsächlich die Auseinandersetzung um Lohnabzüge und Arbeitszeitregelungen eine Rolle. Die auf Tradition bedachten Schiffszimmerer wollten mit den anderen Berufsgruppen des Eisenschiffbaus, welche sich ebenfalls in Branchen-, Fach- und Gewerkvereinen zu organisieren begannen, nicht zusammenarbeiten und versuchten hartnäckig, den Abbau ihrer erworbenen Privilegien und ihren sozialen Abstieg zu verhindern. Es gab zwar Bestrebungen, die verschiedenen Berufsgruppen des Schiffbaus in einer fachübergreifenden und schlagkräftigen Gewerkschaftsorganisation zusammenzufassen, doch blieben diese Versuche letztendlich zum Scheitern verurteilt. Diese branchenübergreifenden Ziele, die sich nach dem Prinzip der Produktorientierung richteten, vertrat der 1888 gegründete „Zentralverband der Werftarbeiter“, der aus dem 1882 gebildeten „Eisen- und Holzschiffbauer-Verein“ entstand, der sich dann „Allgemeiner Deutscher SchiffbauerVerein“ nannte. Diese gemeinsame Organisation der Holz- und Eisenschiffbauer löste sich jedoch 1895/96 wieder auf und wurde noch einmal 1896 in Bremerhaven unter Führung von Otto Oellerich als „Deutscher Werftarbeiter-Verband“ gegründet, der nur bis 1905 bestand. Die Mitglieder schlossen sich dem „Deutschen Metallarbeiterverband“ und dem „Deutschen Holzarbeiterverband“ an. Als Folge dieser Spaltung und Aufsplitterung in Fachorganisationen trat eine Schwächung der Gewerkschaftsbewegung ein. Bis 1914 hatten sich die meisten Schiffbauarbeiter in Deutschland in Gewerkschaften zusammengeschlossen, wobei der Grad der Organisation in den einzelnen Berufszweigen unterschiedlich hoch war und regional erhebliche Differenzen aufwies. Die christlichen, Hirsch-Dunckerschen und gelben oder nationalen Arbeitnehmerverbände spielten nur eine untergeordnete Rolle. Die Zeit von 1900 bis zum Ersten Weltkrieg kann als ausgesprochene Kampfund Streikperiode angesehen werden, in der es bei den deutschen Seeschiffbaufirmen fast in jedem Jahr regelmäßig zu Arbeitskonflikten kam. Den in den verschiedenen Gewerkschaften organisierten Werftarbeitern ging es hauptsächlich um Lohnerhöhungen, Fragen der Akkordarbeit, Verringerung der Arbeitszeit, Aufhebung des Arbeitsnachweises, Verbesserung der Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen und Anerkennung als Tarifpartner. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass durch die Krise des Holz- und Segelschiffbauhandwerks der Schiffszimmermann seine privilegierte und dominierende Stellung einbüßte. Als Folge der Industrialisierung des Seeschiffbaus entstanden Großbetriebe mit einer in viele Berufszweige mit unterschiedlicher Bezahlung differenzierten Belegschaft. Es bildeten sich Fachvereine und Branchengewerkschaften mit eigenen Partikular- und Sonderinteressen, die durch diese Aufsplitterung insgesamt zu einer Schwächung der Gewerkschaftsbewegung führten und sich analog den Werftunternehmern überregional organisierten. Bis zum Ersten Weltkrieg trat auch im industriell betriebenen Seeschiffbau keine spürbare Erleichterung der kargen Existenz einer Werftarbeiterfamilie ein. Genau wie dem
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Schiffszimmermann blieb dem Industriearbeiter des Seeschiffbaus oft nur das Mittel des Streiks, um eine Verbesserung seiner Lage und Rechte zu erreichen.
Ausbildung und Wissenschaft Der Übergang vom Holz- und Segelschiffbauhandwerk zur Eisen-, Stahl- und Dampfschiffbauindustrie erforderte die Anwendung naturwissenschaftlicher Grundlagen und die Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Verbindung mit praktischen Versuchen zur Ermittlung der günstigsten Schiffsform. Die herkömmlichen Konstruktionsmethoden und Arbeitsweisen des handwerklichen Schiffbaugewerbes reichten nicht mehr aus. Die moderne Schiffbautechnik verlangte mehr technisch und theoretisch geschultes Personal. Seit dem 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Frankreich, Skandinavien und England Schiffbauschulen und Lehrbücher, die das „Geheimnis der Schiffbaukunst“ vermittelten. Hier spielen u. a. die Arbeiten von Henry-Louis du Hamel du Monceau (1700-1782), in der deutschen Übersetzung von Christian Gottlob Daniel Müller (1753-1814) und von Fredric Henrik af Chapman (1721-1808) eine wichtige Rolle. Für den deutschsprachigen Schiffbauunterricht sind die Publikationen von Julius Prömmel (1812-1870) und von Carl Ferdinand Steinhaus (1826-1899) von Bedeutung. Prömmel lehrte an der österreichischen Marineakademie in Triest und Steinhaus war seit 1853 Lehrer für Schiffbau an der Gewerbeschule in Hamburg. In Deutschland stellten schon 1750 Stettiner Bürger Überlegungen an, eine Schiffbauschule zu gründen. 1810 und 1811 gab es in Preußen bereits Bestimmungen und Verordnungen über eine staatliche Prüfung für Schiffbaumeister, in den anderen deutschen Küstenländern lag die Ausbildung in den Händen der Zünfte. Die preußische Verordnung vom 7. September 1811 besagte, dass Seeschiffbauer, Lotsen, Steuerleute und Seeschiffsführer sich der Prüfung einer Kommission stellen mussten, die aus Seeschiffern, Reedern und Schiffbaumeistern bestand. 1834 konnte der Unterricht an der „Königlichen Schiffbauschule zu Stettin“ aufgenommen werden, der an der dort bereits existierenden Navigationsschule stattfand. Als Lehrer hatte der preußische Staatsrat Peter Christian Wilhelm Beuth (1781-1853), der sich für die staatliche Forderung der Gewerbepolitik und des technischen Bildungswesens einsetzte, einen Sohn des bekannten Danziger Werftbesitzers Klawitter engagiert. Gustav David Klawitter (um 1800-1838) erhielt nach seiner Meisterprüfung 1830 ein Stipendium und machte am Berliner Gewerbeinstitut in Mechanik und Mathematik eine Ausbildung. Er wurde mit einem Stipendium nach Dänemark, England, Frankreich und Holland geschickt, um seine Kenntnisse zu vervollkommnen. Klawitter hatte Bauzeichnungen entwickelt, nach denen gelehrt wurde. Als weitere Lehrperson unterrichtete ein Mathematiker an der Schiffbauschule. Der Schwerpunkt der Ausbildung lag eindeutig in der praktischen Unterweisung. Nachfolger von Klawitter, der 1838 gestorben war, wurde 1841 Carl Alexander Elbertzhagen (1814-1880). Er hatte gleichfalls ein theoretisches und praktisches Studium auf Staatskosten absolviert und in England,
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Frankreich und Amerika praktische und theoretische Erfahrungen gesammelt. Der Lehrgang an der Stettiner Schiffbauschule dauerte zwei Jahre und fand nur im Winter statt. Mit der Zeit steigerten sich die Anforderungen dieser Schiffbauschule, die 1847 nach Stettin-Grabow verlegt und 1871 aufgelöst wurde. Von 1841 bis 1871 wurden an der Anstalt 105 Absolventen unterrichtet, von denen etliche Schüler später leitende Stellungen bei den deutschen Werften oder in der Marine bekleideten. Als Beispiele sind Rudolph Haack (1833-1909, Schiffbaudirektor des Stettiner Vulcan, des führenden Schiffbaubetriebes im 19. Jahrhundert) und Joseph Lambert Meyer (1846-1920, Gründer der heutigen weltbekannten Meyer Werft in Papenburg) zu nennen. Für die Entwicklung des modernen deutschen Schiffbaus hat die Schiffbauschule in Stettin-Grabow als Vorläufer der späteren Technischen Hochschulen eine erhebliche Bedeutung erlangt.
Porträt Joseph Lambert Meyer, um 1910 (Archiv Deutsches Schiffahrtsmuseum)
Bereits 1861 war am „Königlichen Gewerbeinstitut“ in Berlin, das aus der 1821 ins Leben gerufenen Königlichen Gewerbeschule hervorgegangen war, eine Abteilung für Schiffbau eingerichtet worden, die der Fakultät für Maschineningenieurwesen unterstellt war. 1879 wurden die Gewerbeakademie und Bauakademie
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zur Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg vereinigt. 1882 wurde der dreijährige Lehrplan des Schiffbaustudiums auf vier Jahre erweitert. 1894 kam es zu einer selbständigen Fakultät für Schiff- und Schiffsmaschinenbau. Der Lehrkörper der Schiffbauabteilung bestand hauptsächlich aus Beamten und Ingenieuren der Marineverwaltung, die den zukünftigen höheren technischen Nachwuchs sowohl für den Kriegsschiffbau als auch für den Handelsschiffbau ausbildeten. Die Absolventen führten die Bezeichnung „Diplomingenieure“. Ab 1899 durften die Technische Hochschule Berlin-Charlottenburg und die anderen Technischen Hochschulen in Deutschland den akademischen Titel „Dipl.-Ing.“ vergeben. Auf Initiative von Kaiser Wilhelm II. erlangten die Technischen Hochschulen 1899 auch das Promotionsrecht für Diplomingenieure („Dr.-Ing.“). Damit waren die Technischen Hochschulen den Universitäten formal gleichgestellt. Nach der deutschen Reichsgründung 1870/71 mit der zunehmenden Bedeutung der Marine und Handelsschiffahrt im Zuge des imperialen Weltmachtstrebens erhielten auch die technischen Wissenschaften und die maritime Forschung mehr Gewicht, was mit einem sozialen und gesellschaftlichen Aufstieg der Ingenieure einherging. In der Folgezeit übernahmen auch Ingenieure aus der Privatindustrie einige Dozentenstellen an den Technischen Hochschulen. 1904 erhielt der Schiffbauingenieur Walter Laas (1870-1951), der u. a. bei der Germania-Werft in Kiel und bei der Tecklenborg-Werft in Geestemünde tätig gewesen war, einen Ruf als Professor an die Technische Hochschule Berlin-Charlottenburg. Berlin entwickelte sich zur wichtigsten akademischen und wissenschaftlichen Lehr- und Forschungsstätte für den deutschen Schiff- und Schiffsmaschinenbau. An der damaligen Technischen Hochschule Hannover (heute Universität Hannover) bestand von 1880 bis 1910 eine Ausbildungsmöglichkeit für den Schiff- und Schiffsmaschinenbau. Die Professur wurde von Wilhelm Riehn (1842-1920) wahrgenommen. Die 1904 gegründete Technische Hochschule Danzig richtete gleichfalls eine Abteilung für den Schiffbau ein. Wilhelm Karl Christian Schnappauf (1870-1938) und Johann Heinrich Schütte (1873-1940) wurde als Professoren berufen. Neben den Technischen Hochschulen gab es seit Mitte der 1890er Jahre Schiffbau- und Schiffsmaschinenbauschulen in Bremen (1894), Hamburg (1895) und Kiel (1901), die für die Ausbildung von Technikern, Zeichnern und Konstrukteuren zuständig waren. Auch die Marineakademie in Kiel sorgte seit 1866 für den wissenschaftlich ausgebildeten Nachwuchs im Schiffbau und Schiffsmaschinenbau und bildete die Ingenieure der Kaiserlichen Marine aus. In den Jahren 1899/1900 waren auf den staatlichen Marinewerften in Danzig, Kiel und Wilhelmshaven 1.033 Ingenieure, Techniker und Zeichner bei einer Gesamtbelegschaft von 15.781 Mitarbeitern tätig. In der privaten deutschen Schiffbauindustrie waren im gleichen Zeitraum 1.712 Techniker bei einer Gesamtzahl von 34.670 Mitarbeitern beschäftigt. Von den insgesamt 2.745 auf den Werften beschäftigten technischen Angestellten gehörten allerdings 1.231 zu den Werkmeistern, die keine staatliche Prüfung besaßen, sondern nur eine betriebsinterne Schulung absolviert hatten. Die Anzahl der Studierenden für Schiffbau und
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Schiffsmaschinenbau an den Technischen Hochschulen betrug 1899/1900 270 Personen, die 1906/07 auf 420 Hörer angestiegen war. Von den 1907 in der deutschen Werftindustrie 998 hier tätigen Schiffbau- und Maschinenbauingenieuren hatten 221 nach einem etwa fünfjährigen Studium eine akademische Prüfung und 589 nach einer Studiendauer von 2,5 Jahren einen Fachschulabschluss erworben. In Übigau bei Dresden wurde im Jahre 1892 die erste deutsche Schleppversuchsanstalt eingerichtet. Hier befasste man sich vor allem mit den schiffbautechnischen Problemen der Fluss- und Binnenschiffahrt. 1899/1900 wurde die Schleppversuchsstation des Technischen Betriebes des Norddeutschen Lloyd in Bremerhaven fertig gestellt, die unter der Leitung des jungen Schiffbauingenieurs Johann Heinrich Schütte stand, der 1904 an der neugegründeten Technischen Hochschule Danzig die Professur für theoretischen Schiffbau und Schiffskonstruktion übernahm und 1922 an die renommierte Technische Hochschule BerlinCharlottenburg überwechselte. Er gehörte auch zu den Gründungsmitgliedern des Unterweser-Bezirksvereins des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), der 1903 in Bremerhaven entstanden war. Der 1856 gegründete VDI nahm bei der Professionalisierung der Ingenieurausbildung eine wichtige Stellung ein. Schütte hatte bereits im italienischen Spezia (heute La Spezia) Schleppversuche mit den Modellen der beiden Lloyd-Schnelldampfern KAISER WILHELM DER GROSSE und KAISER FRIEDRICH unternommen. Schütte gelang es, wertvolle wissenschaftliche Erkenntnisse und verlässliche Konstruktionsunterlagen für den Bau künftiger großer Ozeanpassagierschiffe und Schnelldampfer zu entwickeln. Neben der Anlage des NDL in Bremerhaven gab es seit 1903 noch die „Königliche Versuchsanstalt für Wasserbau und Schiffbau“ in Berlin und seit 1906 die Marineversuchsanstalt in Berlin-Lichtenrade. 1913 bis 1915 wurde die Hamburgische Schiffbauversuchsanstalt (HSVA) von deutschen Reedereiunternehmen und Werftbetrieben errichtet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auf der Bremerhavener Versuchsstation des NDL bereits Experimente mit den Modellen des Wiener Ingenieurs und Konstrukteurs Fritz Franz Maier durchgeführt wurden. Maier gilt als Begründer der „Maierform“, die mit ihrem V-förmigen und breit auslaufenden Vorsteven geringeren Widerstand bietet, dem Schiff mehr Frachtraum verleiht und es seetüchtiger macht. Diese Schiffsform erlangte allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg internationale Anerkennung. Die zunehmende Spezialisierung und Forschung in der Schiffbautechnik schufen neue Arbeitsgebiete für die Ingenieure und verlangten nach einer wissenschaftlichen Institution, in der die auftretenden Probleme diskutiert werden konnten. 1899 kam es in Berlin zur Errichtung einer Organisation mit dem Titel „Schiffbautechnische Gesellschaft e.V.“. Als Schirmherr der Vereinigung fungierte Kaiser Wilhelm II. (Siehe S. 75, Gründungsurkunde der Schiffbautechnischen Gesellschaft, 1899) Bei der Ausbildung von qualifizierten Ingenieuren für die Schiffbauindustrie, die Reedereien und die Kaiserliche Marine im wilhelminischen Kaiserreich spielten neben der Marineverwaltung und den bedeutenden deutschen Werften auch
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die beiden größten deutschen Reedereien mit Weltgeltung, der NDL in Bremen und die Hapag in Hamburg, eine wichtige Rolle.
Schnelldampfer KAISER WILHELM DER GROßE des NDL im Kaiserdock I in Bremerhaven, 1899 (Archiv Deutsches Schiffahrtsmuseum)
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Gründungsurkunde der Schiffbautechnischen Gesellschaft, 1899 (Archiv Deutsches Schiffartsmuseum)
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Schlussbetrachtung Seit etwa 1850 setzten zwei technische Veränderungen völlig andere Maßstäbe für die deutschen Seeschiffswerften, nämlich die Verwendung des Eisens und später des Stahls als neues Baumaterial und die Einführung der Dampfmaschine als neue Antriebskraft. Deutschland als industrielles Nachfolgeland und der deutsche Seeschiffbau waren diesen Innovationen nicht gewachsen und konnten nicht mit den technisch überlegenen englischen und schottischen Werften konkurrieren. Der NDL in Bremen und die Hapag in Hamburg bestellten ihre Schiffe in Großbritannien, weil der deutsche Seeschiffbau erst ab etwa 1890 in der Lage war, moderne Schnelldampfer für den Überseeverkehr herzustellen. Eine wichtige Rolle spielte auch die kaiserliche Marineverwaltung, die den Bau von Kriegsschiffen auf einheimischen Werften förderte. Erst gezielte Maßnahmen durch den Staat, wie die zollfreie Einfuhr von Schiffbauerzeugnissen aus England, die Subventionen durch die Reichspostdampfergesetze und Billigtarife der Reichsbahn für eine Absatzsteigerung der deutschen Eisen- und Stahlprodukte im Schiffbau waren Voraussetzungen für den Aufstieg der deutschen Werftindustrie. Mit der Umstellung auf den Eisen-, Stahl- und Dampfschiffbau hatten die deutschen Werften ihre Struktur völlig verändert. Zu einem modernen Schiffbaubetrieb gehörten Maschinenfabriken, Kesselschmieden, Gießereien, Mechanische Werkstätten, Dockeinrichtungen, Krananlagen und Hebefahrzeuge sowie kaufmännische Abteilungen. Die Werften wurden als Aktiengesellschaften mit fremden Kapital geführt. Der industrielle Schiffbau verlangte auch viel mehr technisch geschultes und theoretisch auf wissenschaftlicher Basis geschultes Personal. Die Professionalisierung der Ingenieurausbildung, die Einführung von Schleppversuchsanstalten sowie die Entwicklung von standardisierten Bauvorschriften durch den Germanischen Lloyd waren entscheidende Stationen für die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Werften. Trotz der unbestrittenen Erfolge des deutschen Seeschiffbaus betrug der Anteil am Weltschiffbau um 1900 etwa 10 Prozent, während Großbritannien mit 65 Prozent der in der Welt hergestellten Schiffbautonnage seine Vormachtstellung in diesem Zeitraum immer noch eindrucksvoll demonstrierte. 1912 betrug der Anteil Großbritanniens und Irlands mit den britischen Kolonien am Weltschiffbau bei den Dampfschiffen ca. 63 Prozent, während Deutschland an zweiter Stelle mit 13,25 Prozent lag. Auf den weiteren Plätzen folgten mit Abstand die Vereinigten Staaten von Amerika mit 5,72 sowie Frankreich mit 5,52 und die Niederlande und Belgien mit 3,86 und Österreich-Ungarn mit 2,16 Prozent.4
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Übersicht des deutschen Schiffbaues und des Weltschiffbaues, in NAUTICUS. JAHRBUCH FÜR DEUTSCHLANDS SEEINTERESSEN, 16. Jg. (1914), Berlin 1914, S. 694-695.
ARMSTRONG, VULCAN & SCHICHAU: DEUTSCH-ENGLISCHE WERFTRIVALITÄT UM DIE CHINESISCHE MARINE ZWISCHEN 1870 UND 1895 CORD EBERSPÄCHER
Wo es im 19. Jahrhundert um militärische Modernisierung ging, waren die Rollen fest verteilt: In Marinesachen wandte man sich an Großbritannien, in Heeresangelegenheiten an Deutschland – mindestens seit dem deutschen Sieg über Frankreich 1870/71. Mit wenigen Ausnahmen galt dieses Schema für praktisch alle Staaten außerhalb Europas, ob Chile, Argentinien, das Osmanische Reich oder Japan.1 Dies galt auch für die chinesische Marine, die in der ersten Phase ihrer Modernisierung beinahe ihr sämtliches schwimmendes Material in Großbritannien kaufte. Dieser Grundsatz änderte sich in China ab dem Ende der 1870er Jahre. China bestellte die neuen Panzerschiffe für seine Beiyang-Flotte nicht in Großbritannien, sondern beim Vulcan in Stettin. Dazu übernahm die chinesische Marine in den folgenden Jahren auch eine Reihe von deutschen Experten, beispielsweise für die Modernisierung des Torpedowesens und den Aufbau der Küstenbefestigungen. Die Rolle Deutschlands in der Entwicklung der modernen chinesischen Marine hat bislang keine adäquate Aufmerksamkeit erfahren. Während von deutscher Seite die internationalen Verflechtungen des deutschen Kaiserreichs nur unzureichend behandelt worden sind, widmen auch die speziellen Werke über die Marine der späten Qing-Zeit den Bezügen zu Deutschland oft nur wenige Bemerkungen.2 Erst in der jüngeren Forschung aus der Volksrepublik China hat dieses Thema mehr Aufmerksamkeit erfahren.3 Trotzdem ist bis heute Lee Kuochi der einzige Historiker, der in der Behandlung des Themas überhaupt deutsches Archivmaterial verwendet hat4 – der weitaus größte Teil der umfangreichen Akten ist bis heute unbeachtet. Im Zuge seiner Archivrecherchen zu den deutschchinesischen Beziehungen in den vergangenen Jahren hatte der Autor für den vor-
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Jonathan A. Grant: Rulers, Guns, and Money. The Global Arms Trade in the Age of Imperialism. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2007, S. 80ff. and 116ff. So das ansonsten hervorragende Standardwerk von John L. Rawlinson: China’s Struggle for Naval Development, 1839-1895. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1967. Ähnliches gilt für Bruce Swanson: Eighth Voyage of the Dragon. A History of China‘s Quest for Sea Power. Annapolis, Maryland: Naval Institute Press 1982 und Richard N. J. Wright: The Chinese Steam Navy 1862-1945. London: Chatham Publishing 2000. Beispielsweise Jiang Ming: Die Flotte unter der Drachenflagge. Aufstieg und Fall der modernen chinesischen Marine. Beijing: Xinhua Shudian 2003. Vgl. auch Wang Jiajian: Li Hongzhang und die Beiyang-Flotte. Peking: Sanlian Bookstore 2008. Lee Kuochi: Die chinesische Politik zum Einspruch von Shimoseki und gegen die Erwerbung der Kiautschou-Bucht. Studien zu den chinesisch-deutschen Beziehungen von 1895-1898. Münster 1966.
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liegenden Artikel Gelegenheit, nicht nur die relevanten Quellen aus den Beständen des Auswärtigen Amts und der Kaiserlichen Marine zu sichten, sondern erhielt auch Zugang zu unveröffentlichten chinesischen Dokumenten aus dem Ersten Historischen Archiv in Peking. In diesem Artikel können nur die wichtigsten Aspekte dieser Geschichte aufgezeigt werden, das vollständige Material soll später in eine umfassende Untersuchung der deutsch-chinesischen Marine- und Militärbeziehungen einfließen.
Chinas Selbststärkung zur See Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfügte das chinesische Reich über keine nennenswerte Seemacht. Im Verlauf der ersten großen Konfrontation mit einer westlichen Macht, dem ersten Opiumkrieg 1839-1842, wurde der Großmacht aufgezeigt, dass sie den britischen Kriegsschiffen nichts entgegen zu setzen hatte. Bereits während des Opiumkriegs gab es erste Versuche, westliche Schiffstechnik zu imitieren. Verschiedene Beamte plädierten für weiter gehende Maßnahmen, besonders Wei Yuan plädierte in seinem wichtigsten Werk, dem in den 1840er und 1850er Jahren in immer wieder erweiterten Versionen erschienenen „Haiguo Tuzhi“, für den Aufbau einer Marine.5 China sollte langfristig eine eigene Seemacht aufbauen, um das Gebiet des „Nanyang“, des südlichen Ozeans, als eigenen Einflussbereich zu sichern; dazu sollten kurzfristig auch westliche Waffen und Kriegsschiffe angekauft werden, weiter sollte China selbst die notwendigen Kenntnisse und Techniken erwerben, um später von den westlichen Ländern unabhängig zu werden.6 Doch während und nach dem ersten Opiumkrieg kam es nur zu einer unsystematischen Erneuerung der Küstenverteidigung, während des zweiten Opiumkriegs 1856-1860 bot sich im Wesentlichen dasselbe Bild: Britische Kriegsschiffe versenkten nach Belieben die wenigen Kriegsdschunken, die nach Maßstäben des mittleren 19. Jahrhunderts militärisch obsolet waren. Erst unter dem Eindruck der Niederlage gegen Briten und Franzosen und der Besetzung der Hauptstadt Peking 1860 setzte sich unter den chinesischen Entscheidungsträgern die Überzeugung durch, dass grundlegende Reformen zur Modernisierung des Landes einzuleiten seien. Diese sogenannte Selbststärkungsbewegung umfasste zahlreiche Bereiche des Wissenstransfers, vom westlichen Recht bis zu industriellen Techniken, ihr eindeutiger Focus waren aber Heer und Marine.7 Der erste Versuch in den frühen 1860er Jahren, mit der sogenannten
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Wei Yuan: Illustrierte Abhandlung der maritimen Länder, 3 Bde. Hunan 1998, hier Bd. 3, S. 1997ff. Vgl. Jane Kate Leonard: Wei Yuan and China‘s Rediscovery of the Maritime World. Harvard: Harvard University Press 1984, S. 190ff. Zu Auftakt und Entstehung siehe Jonathan Spence: Chinas Weg in die Moderne. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg 1995, S. 244ff., sowie Ssu-yu Teng und John King Fairbank: China‘s Response to the West. A Documentary Survey 1839-1923. Harvard: Atheneum 1967, S. 61-84. Wichtigstes chinesisches Standardwerk ist immer noch Fan Baichuan: Die neue Politik der ausländischen Angelegenheiten in der Qing-Zeit, Shanghai: Shanghai Bookstore
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Lay-Osborn-Flottille eine erste Einheit von Kanonenbooten für den Einsatz auf den Inlandgewässern gegen die Aufstandsbewegung der Taiping aufzustellen, scheiterte an den Kontrollansprüchen des ersten Generalinspekteurs des chinesischen Seezolls, Horatio Nelson Lay, der den Befehl über die in England beschafften Schiffe nicht den chinesischen Auftraggebern überlassen wollte. Nachdem es zu Beginn der 1870er Jahre angesichts der Aufstände gegen die chinesische Herrschaft in Zentralasien noch einmal zu einer Kontroverse über die militärischen Prioritäten des Qing-Reiches gekommen war – Kontinentalorientierung auf das Heer oder Küstenorientierung auf eine neue Marine – nahm die Entwicklung der modernen chinesischen Marine in den 1870er Jahren Fahrt auf. Es bildete sich ein System von vier Marinestationen heraus: Beiyang, Nanyang, Fujian und Guangdong (Kanton). Während die räumliche Einteilung in Nord- und Südflotte, sowie den Flottillen der Küstenprovinzen Fujian und Guangdong durchaus durchdacht erscheinen mag, kann von einem wirklichen System kaum die Rede sein. Entwickelte sich die Beiyang-Flotte durch die Ankäufe von Kriegsschiffen in England und dann Deutschland zu einer formidablen Stärke, blieb der militärische Wert der Nanyang-Flotte zweifelhaft – sie war in erster Linie mit Kriegsschiffen aus dem Jiangnan-Arsenal und der Marinewerft in Fuzhou ausgerüstet, die den westlichen Schiffen in dieser Zeit noch in fast jeder Hinsicht unterlegen waren. Die Fujian-Flottille erreichte nie eine nennenswerte Stärke und ging im Krieg mit Frankreich 1884 fast vollständig verloren. Die Guangdong-Flottille spezialisierte sich fast völlig auf Torpedoboote mit der Torpedostation in Whampoa als Zentrum. Dies lag an dem dezentralen Aufbau der militärischen Modernisierung Chinas. Auch wenn die finanziellen Mittel zum größten Teil von der Kaiserlichen Regierung in Peking kamen (und meistens aus den Einnahmen des chinesischen Seezolls stammten), war die Modernisierung des Militärs Sache der Provinzen.8 Die Organisatoren waren somit in der Regel die Generalgouverneure der wichtigsten Provinzen, an erster Stelle der Generalgouverneur der Provinz Zhili, Li Hongzhang. Er war nicht nur für den Aufbau der Beiyang-Flotte zuständig, sondern provinzübergreifend für die gesamte Küstenverteidigung Nordchinas verantwortlich. Auf ihn gehen die Bestellungen für die beiden Panzerschiffe zurück, von denen hier die Rede sein wird.
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Publishing House 2009 [Das Werk stammt schon aus den 1980er Jahren und hat inzwischen zahlreiche Auflagen erlebt.] Weiter ist zu nennen Xia Dongyuan: Geschichte der Selbststärkungsbewegung. Shanghai: Huadong Shifan Daxue Chubanshe 1992. Dazu gibt es eine achtbändige Quellenedition zum Thema, die erstmals 1959 erschienen ist: Selbststärkungsbewegung. 8 Bde., Shanghai: Renmin Chubanshe und Shanghai Shudian Chubanshe 2000. Der Zentralregierung der Qing in Peking unterstanden nur die Armeen der Acht Banner, die wiederum von den Reformen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum berührt wurden.
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Panzerschiffe für die Beiyang-Flotte Hatte Li in den 1870er Jahren in erster Linie Kanonenboote angekauft, wuchs vermutlich spätestens ab der Besetzung der Ryukyu-Inseln durch Japan 1879 der Wunsch, Panzerschiffe für die Beiyang-Flotte anzuschaffen. Gleichzeitig begann Li, Hart als Vermittler zu mißtrauen, da dieser ihm weiter die Bestellung von Kanonenbooten nahelegte.9 Li Hongzhang beauftragte dann 1880 über den chinesischen Gesandten in Berlin, Li Fengbao, den Vulcan in Stettin mit dem Bau von zwei Panzerschiffen, „Chen Yuan“ und „Ding Yuan“ und später einem Kreuzer, der „Ji Yuan“.10 Für die meisten Beteiligten kam diese Entscheidung weitgehend aus heiterem Himmel.
Profil und Deckansicht der chinesischen Panzerkorvette „Ding Yuan“ Bild: J. F. von Kronenfels: Die Kriegsschiffbauten 1881-1882, Wien u.a. 1883
Unter den Großmächten war das Deutsche Reich einer der unwahrscheinlichsten Partner für eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Marine. Die preußischdeutsche Marine war jung und hatte während des Krieges gegen Frankreich 1870/71 keine Gelegenheit gehabt, sich nennenswert auszuzeichnen – die beiden in Ostasien stationierten Korvetten „Hertha“ und „Medusa“ hatten sich während des gesamten Krieges in die neutralen japanischen Gewässer zurückgezogen und beschränkten sich darauf, fiktive Operationspläne zu entwerfen. Im Kriegsschiffbau fiel die Bilanz wenig besser aus. Zwar entwickelte sich die deutsche Werftindustrie in dieser Phase beachtlich, aber in China war Deutschland in der Handelsschiffahrt noch fast ausschliesslich mit kleineren Segelschiffen vertreten und vermittelte das Bild einer harmlosen und etwas rückständigen Nation ohne martialische Kapazitäten zur See. Die Geschichte des deut-
9 Rawlinson, S. 73. 10 Vgl. u.a. Chen Yue: Chronik der Schiffe der Beiyang-Flotte. Jinan: Shandong Huabao Verlag 2009, S. 61ff.
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schen Kriegsschiffbaus war noch kürzer als die der Marinen. Bis in die 1860er Jahre hatte die preußische Marine den Großteil ihres schwimmenden Materials in England gekauft und erst in den 1870er Jahren wurde der Flottenbau in erster Linie mit deutschen Werften bestritten. Der Hintergrund für die Entscheidung Chinas, sich zur Marinekooperation an Deutschland zu wenden, war komplex.11 Als Hintergrund ist auf die generell positive Meinung Chinas von Deutschland als Militärmacht hinzuweisen. Der Sieg über Frankreich war in China mit großer Aufmerksamkeit registriert worden: Nicht nur hatte Preußen-Deutschland einen von Chinas Feinden aus dem Opiumkrieg eindrucksvoll geschlagen, aber gleichzeitig schien Deutschland in Ostasien ohne aggressive Ambitionen zu sein und damit als ein idealer Partner.12 So schrieb der Generalinspekteur des Chinesischen Seezollamts, Robert Hart, über Li Hongzhang, den Generalgouverneur der Provinz Zhili, Schlüsselfigur der chinesischen Außenpolitik und Spiritus Rektor der Beiyang-Flotte: „Li glaubt an Deutschland weil Frankreich verhauen wurde – und entsprechend an KruppKanonen“.13 Von chinesischer Seite waren neben der Zentralregierung in Peking und Generalgouverneur Li Hongzhang auch die Gesandten in Berlin, Li Fengbao, und London, Zeng Jize, sowie Robert Hart in den Entscheidungsprozess involviert. Li begann anscheinend in dieser Phase, Zeng zu misstrauen, der die englischen Werften favorisierte. Da er auch gegen Harts Empfehlungen zum Kauf weiterer Kanonenboote (s.o.) wachsenden Argwohn hegte, bot Deutschland als Partner einen willkommenen Ausweg.14 Chinesischen Entscheidungsträgern war durchaus bewusst, dass England die führende Seemacht und Deutschland allenfalls ein „Newcomer“ war. Aber die deutschen Angebote waren preiswert und da der Stellenwert chinesischer Aufträge für Deutschland ungleich höher war, kam eine große Bereitschaft seitens Reichsregierung und Kaiserlicher Marine hinzu, die chinesischen Schiffsbauten zu begleiten. Anscheinend war China vor diesem Hintergrund sogar bereit, Abstriche bei der Qualität zu machen – in dem sicheren Bewusstsein, dass die neuen Panzerschiffe in jedem Fall die schlagkräftigsten Einheiten in ganz Ostasien sein würden.15 Hart verstand deutlich, dass Deutschland bereit war, in die Aufträge für den „Vulcan“ zu investieren: „Ich fürchte, Deutschland wird in den Bestellungen in Stettin so verbindlich werden, dass es für China schwierig wird, sich noch anders
11 Dazu auch Jing Chunxiao: Mit Barbaren gegen Barbaren. Die chinesische Selbststärkungsbewegung und das deutsche Rüstungsgeschäft im späten 19. Jahrhundert. Münster et.al.: LIT Verlag 2002, S. 91ff. 12 Paul Wentzel, Konsul in Tianjin, an den deutschen Gesandten in Peking, Guido von Rehfues, 30. Mai 1871, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA-AA), R 252828. 13 The I.G. in Peking. Letters of Robert Hart, Chinese Maritime Customs 1868-1907. Hg. von John K. Fairbank et al. 2 Bde., Cambridge, Mass.: Belknap Press 1975, hier Bd. 1, S. 381 (Übersetzung C.E.). 14 Rawlinson, S. 76. 15 Jiang Ming, S. 125-127.
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zu orientieren.”16 In der Tat erschienen die chinesischen Aufträge der deutschen Seite als eine einzigartige – und völlig unerwartete – Gelegenheit. Die chinesischen Bestellungen waren die ersten Kriegsschiffe, die auf einer deutschen Werft für eine ausländische Macht gebaut werden würden und entsprechend sollte dieses Projekt unbedingt mit allen Mitteln zum Erfolg geführt werden.17 Wie weit die Kaiserliche Marine zu gehen bereit war, zeigte sich in der engen Kooperation mit dem chinesischen Gesandten in Berlin, Li Fengbao. Mit dem Einverständnis Admirals von Stosch erhielten der Vulcan und seine Auftraggeber umfassendes Material zur Planung der neuen Panzerschiffe. Die Blaupause bildete die „Sachsen“-Klasse, „davon Zeichnungen, Baunachrichten etc. nach eingeholter Genehmigung des Chefs der Admiralität für diesen Schiffsneubau direkt benutzt wurden.“18 Mit geringfügigen Abweichungen wurde das Vorbild „Sachsen“ im Wesentlichen übernommen – vor allem wegen ihres vergleichsweise geringen Tiefgangs, der das Vorbild auch für Einsätze in den chinesischen Küstengewässern geeignet erscheinen liess. Wichtigster Unterschied war die Aufstellung der Türme „in einer diagonal gestellten, violinartig geformten, aber offenen Panzerbatterie [...], dass je 2 der 30,5cm Geschütze gemeinschaftlich auf einer Drehscheibe parallel nebeneinander aufgestellt sind.“19 Pate hatten hier wohl die damals brandneuen italienischen Panzerschiffe „Italia“ und „Lepanto“ gestanden20, es gibt aber auch erhebliche Übereinstimmungen des fertigen Schiffes mit der zeitgenössischen HMS „Inflexible“.21 War es schon bemerkenswert genug, dass der „Vulcan“ und seine chinesischen Auftraggeber die Pläne für die „Sachsen“-Klasse verwenden konnten, deren Typschiff erst 1877 in Dienst gestellt worden war, so begleitete die Admiralität den gesamten Bauprozess von der Testbeschiessung der Panzerplatten bis zu den Probefahrten auf der Ostsee. Bereits im Dezember 1880 fragte Li Fengbao bei Stosch wegen der Abnahme der Panzerplatten für das erste Panzerschiff an, da er selbst nicht über die Mittel verfüge, um eine Testbeschiessung durchzuführen.22 Die Marine war sofort einverstanden und sagte zu, die Panzerplatten aus der Dillinger Hütte bereits bei der Produktion überwachen zu lassen, und die weiteren (ein Teil kam aus Sheffield), auf dem Schiessplatz des preußischen Heeres in Cummersdorf zu testen.23Auch das Kriegsministerium war einverstanden und wies nur darauf hin, dass bei der
16 The I.G. in Peking, Bd. 1, S. 386 (Übersetzung C.E.). 17 Die Aktenserie des Auswärtigen Amts zum „Bau fremder Kriegsschiffe auf deutschen Werften“ wurde offensichtlich 1881 aus Anlass der chinesischen Aufträge angelegt. Die erste Anfrage einer weiteren fremden Nation erfolgte 1887 aus Korea, das ein ausrangiertes Kriegsschiff als Zollkreuzer erwerben wollte. Das erste weitere Bauvorhaben wurde 1888 mit Chile verhandelt. Bundesarchiv Berlin (BA-R), R 901/22588-22592. 18 Bericht des Wirklichen Admiralitätsrats Dietrich über die Panzerkorvette Ting-Yuen, 15. Juni 1883, Bundesarchiv-Militärarchiv (BAMA), RM 1/2181. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Wright, S. 51. 22 Li Fengbao an Stosch, 28. Dezember 1880, BAMA RM 1/2179. 23 Stosch an Li, 14. Januar 1881, BAMA RM 1/2179.
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Testbeschiessung auf dem Militärgelände keine chinesischen Offiziere anwesend sein dürften.24
Die Panzerkorvette „Sachsen“ war Vorbild für die beim Vulcan gebauten, chinesischen Panzerschiffe. Bild: Illustrierte Zeitung vom 20. Oktober 1877
Die Zusammenarbeit lohnte sich für die chinesische Seite, denn die aus Sheffield gelieferten Compound Panzerplatten25 erwiesen sich bei ersten Tests als untauglich – die Widerstandsfähigkeit war zu gering, die Testplatte war schon beim zweiten Schuss durchschlagen worden.26 Auch wenn die zweite Lieferung besser ausfiel und den Test bestand, zog der chinesische Gesandte die Konsequenzen: Die Panzerplatten für das zweite Panzerschiff wurden allein von den Dillinger Hüttenwerken ausgeführt.27 Ein Gesichtspunkt bei der großen Kooperationsbereitschaft der Kaiserlichen Marine war sicherlich eine Portion Eigennutz: Man wollte diese Gelegenheit nutzen, um für künftige eigene Schiffsbauten von den gemachten Erfahrungen zu profitieren. So verwies bereits eine Randbemerkung auf der Anfrage Li Fengbaos wegen der Prüfung der Panzerplatten darauf: „Abgesehen von dem Interesse allgemeiner Natur haben wir noch ein specielles. Die Chinesen beabsichtigen Compound Panzer Platten zu bestellen und würde die Prüfung derselben unsere Erfahrungen bereichern.“28 Das galt natürlich umso mehr für die Ergebnisse der Probe-
24 Kriegsminister von Kameke an Stosch, 24. Januar 1881, BAMA RM 1/2179. 25 Eine damals noch sehr neue Entwicklung aus Sheffield, Stahlplatten auf Walzeisen zu schweissen und damit eine deutliche Verstärkung des Panzers zu erzielen. Ulrich Israel/Jürgen Gebauer: Kriegsschiffe unter Dampf und Segel. Berlin: Militärverlag der DDR 1988, S. 70f. 26 Stosch an Li, 30. Juni 1881, BAMA RM 1/2179. 27 Li an Stosch, 26. Januar 1882, BAMA RM 1/2180. Die Dillinger Hüttenwerke hatten inzwischen das Patent für den Compound Panzer aus Sheffield erworben, konnten also nun das gleiche Material liefern. Siehe Israel/Gebauer, S. 71. 28 Randbemerkung zum Schreiben Li an Stosch, 28. Dezember 1880, BAMA RM 1/2179.
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fahrten und die Endabnahme, über die jeweils ein ausführlicher Bericht angelegt wurde. So sezierte der Admiralitätsrat Dietrich in seinem 41seitigen Bericht über die gerade fertig gestellte Panzerkorvette „Ding Yuan“ die Vor- und Nachteile des Schiffes auf das Genaueste.29 So lobte er die stärkere Maschinenleistung und das größere Kaliber der Hauptartillerie (4 x 30,5cm Geschütze gegenüber 6 x 26 cm Geschützen bei der „Sachsen). Er bemängelte jedoch vor allem die Aufstellung der Geschütztürme, die zwar theoretisch einen guten Bestreichungswinkel zu beiden Seiten boten, könnte aber tatsächlich bei „ausgerannten Geschützen nicht komplett gedreht werden, da der Kommandoturm im Weg steht.“ Dies habe es auch bei deutschen Konstruktionen gegeben, Dietrich nennt hier SMS „Friedrich der Große“, sei aber inzwischen unzulässig – und bei der „Ding Yuan“ nicht mehr zu beheben. Zwei Schwachpunkte hob er besonders hervor: Auf Wunsch des chinesischen Gesandten seien an Bug und Heck zusätzliche Geschütze aufgestellt worden, deren Sinn Dietrich nicht nachvollziehen konnte und die seiner Meinung nach vor allem die Fahrtüchtigkeit des Schiffes beeinträchtigten. Zum Zweiten bemängelte er die „ganz außerordentlich geringe Dotirung“ der Munition; pro Geschütz seien nur 50 Schuss gestaut, während in der Kaiserlichen Marine 150 Standard seien. Dieser Umstand erschien ihm besonders befremdlich, da er nach der Auslieferung nach China erhebliche Schwierigkeiten bei der Nachbeschaffung erwartete – Dietrich sollte Recht behalten, ein Faktor für die chinesische Niederlage in der Seeschlacht am Yalu 1894 war Mangel an Munition für die großen Geschütze.30 Insgesamt kam Dietrich aber zu einem durchaus positiven Ergebnis – besonders für die deutsche Seite: „Ting-Yuen (Ding Yuan, d.Verf.) ist, alles zusammengefaßt, ein Schiff, das den englischen bezüglich Leistungen mindestens ebenbürtig zur Seite zu stellen ist und dem deutschen Konstrukteur und dem deutschen Erbauer überall Ehre machen wird.“ Als das zweite Panzerschiff, die „Chen Yuan“, 1882 vom Stapel gelassen wurde, wohnte auch Albrecht von Stosch als Chef der Marine der Zeremonie bei; er pries in seiner Ansprache die Stärke des Schiffes und seiner Bewaffnung, die Gewähr bieten sollten, dass der chinesische Kaiser seine Meere beherrschen solle.31 Die chinesischen Vertreter waren mit der Kooperation sehr zufrieden und 1884 konnte Li Fengbao aus Berlin nach Peking melden, dass die Schiffe nach Plan zur vollsten Zufriedenheit fertiggestellt seien.32 Als Konsequenz folgte ein weiterer Schub von Aufträgen, China orderte einen weiteren Kreuzer und sieben Torpedoboote. Allerdings hatte sich in der Zwischenzeit die politische Lage in Ostasien verändert. Während die beiden Panzerschiffe „Ding Yuan“ und „Chen Yuan“ nach Abschluss der Testfahrten und bereits mit der Überführungsmannschaft bereit zur 29 Bericht des Wirklichen Admiralitätsrats Dietrich über die Panzerkorvette Ting-Yuen, 15. Juni 1883, BAMA RM 1/2181 30 Swanson, S. 108. 31 Hamburgischer Correspondent, 30 November 1882. 32 Erstes Historisches Archiv in Peking, Junjichu 03-9389-02.
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Abfahrt waren, eskalierten die Spannungen zwischen China und Frankreich im Tongking-Konflikt. Angesichts des drohenden Kriegszustandes entschied Bismarck, das Auslaufen der beiden Schiffe zu stoppen. Als neutrale Macht sah Deutschland es als ausgeschlossen an, zu dieser Zeit Kriegsmaterial an eine mögliche Kriegspartei zu liefern. Beide Panzerschiffe blieben in Kiel und ihre Ausfahrt verzögerte sich bis zum Frühjahr 1885.
Konkurrenzkampf zwischen Deutschland und England England war von Chinas Umschwenken auf Deutschland zunächst überrascht worden, es folgten aber schnell Bemühungen, wieder in den Wettbewerb einzusteigen und die beherrschende Position der 1870er Jahre zurückzugewinnen. Die Flut von Aufträgen für deutsche Panzerschiffe und Torpedoboote ließ bei den englischen Vertretern bis hin zu dem nominal neutralen Robert Hart Befürchtungen über weitergehende deutsche Ambitionen wach werden. Hart warnte im Oktober 1883: „Li & Co. gehen nach allen Seiten auf deutsche Produkte.“33 Er hatte richtig beobachtet, neben Material für die Marine orderten chinesische Generalgouverneure auch beachtliche Mengen von Kanonen und Gewehren. Fast noch alarmierender waren die Neuigkeiten über deutsche Militärinstrukteure. Vor allem die steigende Zahl deutscher Berater in der chinesischen Marine wurden mit Argwohn betrachtet. So hatte Li Hongzhang mit Constantin von Hanneken einen deutschen Offizier als Verantwortlichen für die Küstenverteidigung Nordchinas in seinen Diensten und 1883 kam mit Kapitän zur See Felix Hasenclever ein deutscher Seeoffizier zur Beiyang Flotte, um den Aufbau neuer Marinebasen und vor allem einer Torpedostation zu organisieren. Auch die Panzerschiffe wurden von deutschen Marinefachleuten begleitet und Hart klagte schon 1883 über den deutschen Wettbewerb nach dem Prinzip „billiger Arbeit“.34 Während der Engländer Captain Lang als Kommandeur der Beiyang Flotte ein Salär von 600 Taels im Monat bezog, seien deutsche Offiziere bereit, mit gerade einmal 100 Taels ihren Dienst zu versehen. Im folgenden Jahr verließ Lang angesichts des Krieges mit Frankreich die chinesischen Dienste und fast gleichzeitig heuerte Li Fengbao mit Unterstützung der Firma Krupp eine ganze Gruppe deutscher Instrukteure an.35 Während Li damit hauptsächlich die Absicht verfolgte, Frankreich eine deutsche Unterstützung für China zu suggerieren, stieg damit nebenher auch wiederum die deutsche Präsenz in der chinesischen Marine. Die deutsche Regierung war wenig begeistert über diese „Militärmissionare“, und die meisten von ihnen waren schlecht ausgesucht. Der Seeoffizier Sebelin, der Langs Position ausfüllen sollte, machte sich schnell Feinde, indem er versuchte, die Beiyang Flotte nach seinen Vorstellungen umzubauen – er scheiter-
33 The I.G. in Peking, Bd. 1, S. 493. 34 The I.G. in Peking, Bd. 1, S. 455. 35 Vgl. Elisabeth Kaske: Bismarcks Missionäre. Deutsche Militärinstrukteure in China 18841890. Wiesbaden: Harrassowitz 2002.
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te und schließlich waren sogar die deutschen Vertreter froh über sein schnelles Abtreten. England übte auf breiter Linie, die von Vertretern der Firma Armstrong bis zu Robert Hart reichten, Druck auf Li Hongzhang aus, künftige Aufträge wieder nach England zu vergeben. Li reagierte darauf 1885 mit einer geradezu salomonischen Lösung: Von den nächsten vier Aufträgen sollten je zwei an Armstrong und Vulcan gehen. Der deutsche Gesandte in Peking, Max von Brandt, erfuhr Anfang Oktober 1885 von der neuen Verteilung der Schiffbauaufträge: Nach „einer vertraulichen Mittheilung“ Li Hongzhangs habe dieser „zwei der vier für die chinesische Marine zu beschaffenden kleinen Panzerfahrzeuge“ bei Armstrong in Auftrag gegeben, „um endlich einmal, wie er sagte, dem ewigen Gerede der Engländer über die Ueberlegenheit der englischen Werften über die deutschen ein Ende zu machen.“36 Die beiden anderen Schiffe sollten beim Vulcan gebaut werden. Von Brandt wies darauf hin, dass die deutsche Werft damit bei dieser neuen Auftragsrunde im direkten Wettbewerb mit der britischen Konkurrenz stand und es entsprechender Anstrengungen bedürfe, um dabei weiter gut abzuschneiden: „Von dem Ausfall der von den beiden Werften gelieferten Schiffe wird es daher im Wesentlichen abhängen, ob die Bestellungen für die chinesische Marine künftig in Deutschland oder in England gemacht werden und dürfte es unter diesen Umständen dem Verwaltungsrat des Vulcan nicht dringend genug an‘s Herz gelegt werden, sich gerade bei dieser Gelegenheit ganz besonderer Aufmerksamkeit und Pünktlichkeit zu befleißigen.“ Aus deutscher Sicht konnte Brandt immerhin positiv verbuchen, dass auch die Geschütze für die in England zu bauenden Schiffe von Krupp kommen sollten.37 Der Bericht wurde im Auswärtigen Amt sehr ernst genommen und praktisch direkt an die Direktion des Vulcan weitergeleitet. Der Marine wurde vertraulich mitgeteilt, dass es darauf ankomme, der englischen Konkurrenz in Ausführung und Pünktlichkeit nicht nachzustehen: „Nur dann ist Hoffnung vorhanden, dass das Terrain welches die deutsche Diplomatie der deutschen Industrie erschlossen hat, derselben erhalten bleibt.“38 Letztendlich lieferten beide Seiten rechtzeitig. Captain Lang, der inzwischen seinen Posten als Chef der Beiyang Flotte wieder angetreten hatte, reiste persönlich nach Europa um die neuen Schiffe zu inspizieren. Die Resultate waren zufriedenstellend und die Schiffe wurden – dieses Mal ohne Verzögerung – nach China überführt. Fast zur gleichen Zeit setzte eine öffentlich geführte Kontroverse über die Qualität der Schiffe ein: England und Deutschland, Armstrong und Vulcan stritten sich vor allem über die Presse, wer die besseren Schiffe gebaut habe. Armstrongs Vertreter in China lancierten eine Serie von Artikeln in der englischsprachigen Presse in den chinesischen Vertragshäfen, während deutsche Gesandt-
36 Max von Brandt an Otto von Bismarck, 11. Oktober 1885, BAMA, RM 1/2181. 37 Max von Brandt an Otto von Bismarck, 11. Oktober 1885, BAMA, RM 1/2181. 38 Herbert von Bismarck an Vizeadmiral Graf von Monts, 1. Dezember 1885, BAMA RM 1/2181.
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schaft und Konsulate bemüht waren, Vorwürfe zu widerlegen und für deutschfreundliche Artikel zu sorgen – die sich aber vor allem auf die deutschsprachige Presse, den in Shanghai erscheinenden „Ostasiatischen Lloyd“, beschränkten. Die englische Seite charakterisierte die Produkte des Vulkan als zu plump und langsam, während die deutsche Seite darauf hinwies, dass das genau den Vorgaben entsprach: Armstrongs Auftrag belief sich auf zwei Kreuzer, der Vulcan hatte dagegen Küstenpanzer mit völlig anderen technischen Vorgaben zu bauen. Die Kontroverse endete vorläufig ohne Ergebnis. Zwar gelang es der englischen Seite nicht, Deutschland wieder vom chinesischen Markt zu verdrängen – wie vor allem die Bestellungen von Torpedobooten bei Schichau bis zur chinesischen Revolution 1911 belegen. Robert Hart sah beide Wettbewerber 1888 dermaßen gleichauf, dass er an die Adresse der britischen Produzenten warnte: „Wenn Lang geht, bekommen vermutlich Frankreich oder Deutschland die [chinesische] Marine.“39 Allerdings war die Frage kurz darauf ohnehin vorläufig auf Eis gelegt: 1889 wurde das Budget für die Marine eingefroren – Kaiserinwitwe Cixi benötigte Gelder für den Ausbau des Sommerpalastes -, und für weitere Anschaffungen fehlten bis zum chinesisch-japanischen Krieg 1894/95 schlicht die Mittel.
Schlussbemerkungen: Der chinesisch-japanische Krieg und die deutsch-chinesische Marinekooperation Die Bestellungen aus China bedeuteten für den Kriegsschiffbau der deutschen Werften die Ankunft im internationalen Wettbewerb, in dem sie sich dann ab Mitte der 1880er Jahre gleich zu bewähren hatten. Auf deutscher Seite wurden die Schiffe für die Beiyang Flotte als nationale Aufgabe aufgefasst; die chinesischen Auftraggeber profitierten von ihrer Pionierrrolle, von der sich die deutschen Beteiligten einen erheblichen Effekt auf weiteres internationales Interesse erhofften. Die deutsch-chinesische Marinekooperation ist zusätzlich vor ihrem weiteren internationalen Hintergrund zu sehen. Aus deutscher Sicht waren Aufträge für chinesische Kriegsschiffe nur ein Anfang, das weitere Interesse galt Ostasien, Lateinamerika und weiteren europäischen Interessenten. Kriegsschiffe, die an eine Nation verkauft wurden, konnten ein attraktives Werbemittel für weitere Interessenten bilden. So reagierte der deutsche Gesandte in Tokio sehr erfreut auf Berichte, die äußerst positiv über die Chinesischen Panzerschiffe sprachen und aus japanischen Marinekreisen stammten – was umso bemerkenswerter ist, da es sich doch um Schiffe handelte, die die japanische Flotte in der Seeschlacht am Yalu besiegt hatte. Tatsächlich wurde danach ein Kreuzer, die „Yakumo“, beim Vulcan bestellt, Deutschland wurde aber vor allem im Torpedogeschäft erfolgreich, von 21 Torpedobooten erster Klasse, die Japan 1902 im Bau hatte, kamen allein elf von Schichau.
39 The I.G. in Peking, Bd. 1, S. 718.
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Von chinesischer Seite spielte die Abwendung von England noch eine andere Rolle. Eine Internationalisierung der Rüstungsgeschäfte bedeutete auch ein Stück Unabhängigkeit, denn so bekam neben England auch Deutschland ein größeres Interesse an China als Partner, während England sich umgekehrt mehr bemühen musste, um im Rennen zu bleiben – während Frankreich und die USA als weitere Alternativen im Hintergrund blieben. Li Hongzhangs Strategie kann nicht nur auf diesem Gebiet als eine Anwendung des weitaus älteren chinesischen Prinzips des „Yiyi zhiyi“, des „Benutzens von Barbaren gegen Barbaren“ interpretiert werden. An dem Beispiel des deutschen und englischen Engagements läßt sich demonstrieren, wie sämtliche verfügbaren Mittel mobilisiert wurden, um auf einem neuen Geschäftsfeld – China – Marktanteile zu sichern. Hier wetteifern nicht nur zwei Wirtschaftsbetriebe, sondern ein ganzes Netz von Firmenvertretern, Diplomaten und Konsuln, Journalisten und Schlüsselfiguren vor Ort. Gerade die direkte Präsenz erschien als unverzichtbar, deutsche Konsuln forderten den Vulcan mehrfach zur Entsendung von Firmenvertretern auf, nachdem die englische Konkurrenz vor Ort war. Die Beispiele Robert Hart und Gustav Detring zeigen, dass trotz der komplexen Gemengelage ihrer Loyalitäten als Führungskräfte des chinesischen Seezolls eine gewisse Hinwendung zu nationalen Interessen immer eine Rolle spielte – selbst wenn Max von Brandt grundsätzlich ein positives Bild von Harts Unparteilichkeit hatte.
Ernst Kretzschmar im Kreise seiner Schüler und Mitarbeiter an der Torpedoschule in Whampoa 1890. Bild: Bundesarchiv-Militärarchiv
Ebenso erhoffte man sich natürlich von den Militär- und Marineinstrukteuren eine entsprechende Förderung der jeweiligen heimischen Industrie. In vielen Fällen funktionierte das System sicherlich, so begann der deutsche Torpedospezialist Ernst Kretzschmar nach der Übernahme der Leitung der Torpedoschule in
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Whampoa 1884 praktisch sofort mit der Umstellung von Whitehead auf Schwartzkopff und den Bestellungen bei Schichau. Der Wettlauf der Werften endete schließlich ohne Ergebnis. Da der chinesischen Marine das Geld fehlte, blieben weitere Großaufträge aus und bis 1894 wurden nur wenige, kleinere Einheiten angeschafft. Die Beiyang Flotte ging in die Seeschlacht am Yalu mit Kriegsschiffen aus den 1880er Jahren, aber die chinesische Niederlage hatte letztendlich nichts mit Qualität oder Herkunft der Schiffe zu tun – zugespitzt könnte eher gesagt werden, dass die chinesische Seite die Schlacht trotz eigentlich überlegener Schiffe verlor. Die Ursachen sind eher in den Kommandostrukturen und organisatorischen Mängeln zu suchen. Ein Faktor der Schlacht war der Mangel an Munition für die großen Kruppschen Turmgeschütze – ironischerweise ein Problem, dass die Inspekteure der Kaiserlichen Marine bereits in ihren Abschlussberichten 1884 herausgestellt hatten.
DEUTSCHLAND ALS NACHZÜGLER? BLOHM&VOSS 1877-1914: EIN UNTERNEHMEN DES INDUSTRIALISIERTEN GROßSCHIFFBAUS JOHANNA MEYER-LENZ
1. Eine neue Sichtweise auf die Unternehmensgeschichte des Großschiffbaus in der Hochindustrialisierung um 1900 Mit Gerschenkron und Pollard liegt seit den 1970er Jahren ein Betrachtungsschema der Industrialisierung vor, das die europäische Entwicklung am britischen Modell beschreibt und die Industrialisierung der europäischen Länder zeitversetzt an dem britischen Paradigma misst. Damit wird auch die Geschichte des europäischen Schiffbaus als Variante des britischen Weges aufgefasst, wobei die Führungsrolle Großbritanniens unbestritten bleibt. Der expandierende Schiffbau Deutschlands wird dann „als zunehmend wichtigste[r] wirtschaftliche[r] und politische[r] Konkurrent [..] auf dem Kontinent“1 eingeordnet, entsprechend der von Gerschenkron und Landes geprägten Denkfigur von „Pionier“ und „Nachzügler“.2 Diese betrachtet die industrielle Entwicklung beider Länder im nationalen Rahmen und sieht sie in einer hierarchischen Konkurrenzbeziehung: der Pionier ist zeitlich immer eher da, hat die Märkte erobert und diese durch „formelle und informelle Herrschaftsstrukturen“ gesichert. Der Nachzügler als zeitlicher Nachfolger ist danach bestrebt, den Abstand zu verkleinern und selbst die Position des Pioniers zu erreichen. Sein Vorteil besteht darin, dass er die Fehler des Pioniers vermeiden und kostspielige „Experimente“ minimieren kann. „Darüber hinaus mussten die Nachzügler institutionelle Innovationen entwickeln, um eine höhere Wachstumsrate zu erreichen als das Pionierland. Gerade diese institutionelle Modernisierung konnte langfristig Vorteile schaffen, die den Nachzüglern ein rasches Aufholen und in Teilbereichen sogar Überholen des Pioniers ermöglichten.“3 Mit Berghoff und Ziegler ist in der Tat die Frage zu stellen, ob die Denkfigur von „Pionier und Nachzügler“ noch geeignet ist, um die Entwicklung der beiden Schiffbauindustrien und ihres Verhältnisses zueinander in jeder Hinsicht adäquat zu beschreiben. Zu fragen ist, ob das Modell der Konkurrenz wirklich noch angemessen ist oder „ob nicht dem von Wolfgang J. Mommsen vorgeschlagenen Konzept der „two development paths“ der Vorzug zu geben ist.“4 Ein dritter Weg 1
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BERGHOFF Hartmut/ZIEGLER Dieter (Hg.) Pionier und Nachzügler? Vergleichende Studien zur Geschichte Großbritanniens und Deutschlands im Zeitalter der Industrialisierung. Festschrift für Sidney Pollard zum 70. Geburtstag (Arbeitskreis Deutsche Englandforschung, Veröffentlichung 28), Bochum 1995, S. 16. Ebd. Ebd. Ebd., S. 17.
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weist in eine transnationale Perspektive, in der die Entwicklung der Schiffbauindustrie verschiedener Nationen in eine übergreifende globale Sichtweise integriert wird und die Akteure in einem umspannenderen Markt- und Entwicklungsverhältnis gesehen werden, wobei das zeitlich spätere Agieren eines Akteurs in einen globalen Markt nicht mehr gesetzmäßig eine nachteilige Position kennzeichnen muss. Was spricht aber dagegen? Denn die Denkfigur von Pionier und Nachzügler scheint in der Tat erhellend und einleuchtend, wenn man die Ergebnisse der Studie von Sidney Pollard und Paul Robertson über die „British Shipbuilding Industry 1870-1914“ von 1979 betrachtet.5 Die Ausgangslage der Werftindustrie des Vereinigten Königreiches (UK: England, Wales, Schottland und Irland) konnte nicht besser sein: konzentriert um günstigste Standorte an den Ufern von Clyde, Tyne, der Mersey, der Themse, nicht zu vergessen des Lagan an der nordirischen Küste bei Belfast,6 zeichneten sich die britischen Werften durch eine hohe Nähe zu den Kohle-, Eisen- und Stahlrevieren und durch billige Arbeitskraft aus. Eine hohe Nachfrage aus dem nicht britischen Ausland sicherte ihnen ein Marktmonopol. Britische Werften produzierten quasi konkurrenzlos auf dem globalen Schiffbaumarkt seit den 1850er/1860er Jahren mit einem stets hohen Ausstoß.7 „The world merchant navies were thus dependent to a striking extent on the British shipyards.“8 Allein zwischen 1892 und 1913 stieg die Tonnage für auf ausländische Rechnung gebaute Schiffe ständig an und sie lag stetig über dem Ausstoß an BRT-Tonnage des gesamten deutschen Schiffbaus und – von Ausnahmen abgesehen – auch über dem Ausstoß der US-Werften.9 Prozentual lag die Rate im Weltschiffbau 1892 immer noch bei 81,7%, um bis 1914 auf 59% zu sinken – bei den seegehenden Dampfschiffen über 3000 tn.l. lag der Ausstoß zwischen 1906 und 1914 noch höher, nämlich zwischen 87% und 65%.10 Ein wesentlicher Einwand gegenüber einem solchen Vergleich besagt, dass das Resultat sehr summarisch ist, insofern als der Schwerpunkt der Betrachtung auf der Summe des nationalen Gesamtausstoßes liegt, der keine Differenzierungen etwa nach der Größe und Produktivität der Unternehmen und der dort gebauten Schiffstypen, noch nach den Auftragsvolumina der Reedereien zulässt. Doch der europäische Schiffbaumarkt und – mit ihm verflochten – die europäische industrielle Schiffbauproduktion unterlagen im Zuge der Expansion des überseeischen Transportverkehrs für Waren und Menschen im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur einer starken Diversifikation sondern auch einer Konzentration auf große Unternehmen. Der wesentliche Grund für diese Entwicklung lag in der Ausbildung großer Linienreedereien in Europa, in den USA und in Kanada. Das stetig große Volumen des Auswandererverkehrs von Europa in die USA wirkte hier als 5
POLLARD Sidney/ROBERTSON Paul: The British Shipbuilding Industry 1870-1914, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts and London, England 1979. 6 Ebd., S. 50. 7 Ebd., S. 46-48. 8 Ebd., S. 38. 9 In sieben von 20 Jahresvergleichen trifft dies nicht zu. Ebd., S. 44. 10 Ebd., S. 45.
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besonderer Beschleuniger der Entwicklung, in deren Folge – seit Ende der 1880er Jahre – die Nachfrage nach den großen Schnelldampfern und Fracht- und Passagierdampfern für den Auswandererverkehr beträchtlich anwuchs. Der Überseedampfer für die Transatlantikroute wurde dazu zu einem prestigeträchtigen Aushängeschild für die Reedereien. Auf der Ebene des europäischen Großschiffbaus, der die entsprechende Nachfrage bediente, bildeten sich daher Werftbetriebe einer neuen Größenordnung aus. Nicht zuletzt aufgrund des Auftragsverhaltens der größten Seeschiffsreedereien,11 die die Konkurrenz der Angebote z.B. britischer und deutscher Werften nutzten, befanden sich die großen Seeschiffbauwerften über die nationalen Grenzen hinweg in einem Wettbewerb und das Werben um die Aufträge der Überseereedereien für Transatlantikdampfer trug nicht zuletzt auch entscheidend zur Vergrößerung der Baukapazitäten der Werften bei.12 Zu ihnen gehörte auch die Werft von Blohm&Voss. Unterstützt wird der Blickwechsel auch durch neue Ansätze der Wirtschaftsund Unternehmensgeschichte, die maßgeblich von dem US-amerikanischen Wirtschaftshistoriker Alfred D. Chandler angestoßen wurden und die Entwicklungsbedingungen von Großunternehmen thematisieren.13 Wenn auch in Chandlers Studien das Moment des überlegenen nationalen Modells der großen US-Unternehmen eine Rolle spielt,14 so trugen die Diskussionen über seine Ergebnisse entscheidend dazu bei, die Aufmerksamkeit der Wirtschaftsgeschichte stärker auf die Interdependenz der großen Unternehmensentwicklung im transnationalen Maßstab zu legen. Wechselt man also die Perspektive und betrachtet die Baukapazität der Werften, ihren Ausstoß und ihren Marktanteil, so gewinnen nun die Werftbetriebe für den Großschiffbau in Kontinentaleuropa Ende des 19. und Anfang des 20. Jahr11 So die großen europäischen und US-Linienreedereien (HAL, Norddeutscher Lloyd, Cunard Line, White Star Line, Red Line, Königlich Niederländische Gesellschaft u.a. Vgl. KLUDAS Arnold: Die Geschichte der deutschen Passagierschiffahrt. Band 1: Die Pionierjahre von 1850-1890, Hamburg 1986, S. 230. Dort findet sich die Liste der weltgrößten Reedereien im Jahre 1900. 12 Die Kapazitätsausweitungen der Werft von Blohm&Voss dienten nicht zuletzt auch den Großaufträgen des Marineschiffbaus für das Flottenerweiterungsprogramm der deutschen Marine. Zu diesem Aspekt vgl. WALDEN Hans: Hamburgs Schiffbaugeschichte – ein Überblick. In: LACHAISE Bernard/SCHMIDT Burghard (Hg.) Hamburg – Bordeaux. Zwei Städte und ihre Geschichte. Hamburg 2007 (Beiträge zur Hamburgischen Geschichte Bd.2) , S. 457ff.; WITTHÖFT Jürgen: Tradition und Fortschritt. 125 Jahre Blohm&Voss, Hamburg 2002, S. 82 f, besonders S. 110 ff. 13 In seinen ersten beiden Studien (‚Strategy and Structure‘ 1962; ‚The Visible Hand‘ 1977) entwickelt Chandler seine Erklärungsmodelle am Beispiel großer US-Unternehmen und ihres „managerial capitalism“. Vgl. BERGHOFF, Anm. 1, S. 63 ff. 14 Chandler unterscheidet auch nationale Typologien der Entwicklung von Großunternehmen, wobei der „managerial capitalism“ die USA zwischen 1880-1928 an die Weltspitze der Industrieproduktion (von knapp 15% auf 39%) bringt, Deutschland mit seinem „kooperativen Managerkapitalismus“ ein hohes Wachstum (von 8,5% auf 12%) aufweist und das UK überholt, das seinen Anteil von 23% auf 10% aufgrund seines ineffektiven „personal capitalism“ reduziert hatte. BERGHOFF, Anm.1: S. 92-98, besonders S. 93.
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hunderts an Gewicht. Somit sahen sich der deutsche – wie der britische15 und im weiteren Sinne der europäische und der nordamerikanische Großschiffbau – bei aller Differenz der nationalen Lagen ähnlichen und miteinander verbundenen Problemen von Wachstum und Konkurrenz im transnationalen Maßstab gegenüber. Vor diesem Hintergrund muss die Geschichte der Werft von Blohm&Voss betrachtet werden.
2. Blohm&Voss in der Akteurskonstellation des Kaiserreichs 1877-1914 Die Geschichte der Werft von Blohm&Voss ist zum einen die beeindruckende Geschichte eines großen unternehmerischen Erfolges – betrachtet man die Entwicklung von den Anfängen 1877 bis 1914. Es ist die Geschichte eines Unternehmens in der Phase der Hochindustrialisierung im Kaiserreich, das mit seinen ständig modernisierten Produktionsanlagen im Eisen-, dann im Stahlschiffbau das Ziel verfolgte, die ambitionierten Wünsche der Nachfrage, sei es der Reedereiwirtschaft, sei es der Marine, zu erfüllen und so – vor dem Ersten Weltkrieg die seinerzeit größten Passagierdampfer der Welt und eine Reihe der großen Schlachtkreuzer entstanden. Zum anderen – so die Ambivalenz der Dinge – handelt es sich um eine komplexe und widersprüchliche Geschichte: positionierte sich doch das Unternehmen im Kaiserreich auf der Seite der politischen Kräfte, die den Aufschwung des Schiffbaus mit ihren politischen nationalen Visionen, Deutschland auf der Bühne des europäischen Mächtespieles einen Platz an der Sonne zu verschaffen, verknüpften und damit gleichzeitig den wirtschaftlichen Erfolg einem hohen Risiko aussetzten.16 Leistungsbereitschaft und Disziplin prägten den unternehmerischen Führungsstil nach innen. Nach außen – in der Verbandspolitik im Kaiserreich – vertrat Blohm&Voss im Verband der Eisenindustrie 1888, im Unternehmerverband der Metallindustriellen Hamburg-Altona 1890, im Zentralverband der deutschen Metallindustrie, im Verband der Werftindustrie, um nur einige zu nennen, par excellence die Interessen der industriellen Unternehmerschaft gegenüber der Politik des Deutschen Reiches.17 Im Gegenzug verfolgte es eine strikte Opposition gegenüber der Arbeiterbewegung, der es die Partizipation und Gestaltung der gesellschaftlich-wirtschaft15 Vgl. BOYCE Gordon: Information, Mediation and Institutional Development. The Rise of Large Scale Enterprise in British Shipping, 1870-1919, Manchester University Press, Manchester and New York, 1995. 16 Vgl. MOLLIN Gerhard Th.: „Schlachtflottenbau“ vor 1914.Überlegungen zum Wesen des deutsch-britischen Antagonismus, in: Berghoff, Anm. 1; EPKENHANS Michael: Die wilhelminische Flottenrüstung 1908-1914. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration (Beiträge zur Militärgeschichte Bd. 23), München 1991, S. 409-417; BERGHAHN Volker R.: Der Tirpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971, S. 603. 17 Vgl. SAUL Klaus: „Verteidigung der bürgerlichen Ordnung“ oder Ausgleich der Interessen? Arbeitgeberpolitik in Hamburg-Altona 1896 bis 1914. In: HERZIG Arno u.a. (Hg.) Arbeiter in Hamburg, Hamburg 1983, S.261-282.
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lichen Ordnung im Kaiserreich streitig machte. Erfolg und gefeierte Leistungen, Indienstnahme für den Patriotismus wilhelminischer Prägung, Spitzentechnologie im Schiffbau im europäischen Maßstab, geschickter Lobbyist der Schiffbauindustrie, Vertreter einer patriarchalischen Führungskultur, Bauwerft von Spitzenprodukten, all dies verkörperte Blohm&Voss im Wilhelminismus – all dies macht seine Geschichte so interessant wie herausfordernd. 2. 1. Im „Take off“ – der Zwang zum Größenwachstum: Die Stationen der Werftentwicklung Der leitende Gesichtspunkt hier besagt, dass das enorme Größenwachstum der Werft einer konsequenten unternehmerischen Strategie entsprach in die Spitze der europäischen Schiffbauwerften einzutreten. Dies sicherte ihre Existenz und ihre Konkurrenzfähigkeit. Der wesentliche Partner für den zivilen Schiffbau war die HAL/HAPAG und ihre aggressive Expansionspolitik im internationalen, in erster Linie im transatlantischen Reedereigeschäft.18 Gleichzeitig konnte die Werft die Bedingungen des Standortes Hamburg als einer der größten europäischen Seehäfen und als zentraler Sitz der deutschen Reedereiwirtschaft nutzen. Das Gründungsdatum der Schiffswerft von Blohm&Voss in Hamburg ist offiziell der 5. April 1877. Gemessen am Auftragsvolumen, an der Betriebsgröße und den Beschäftigtenzahlen erlebte das Unternehmen nach einem zögerlichen Beginn einen bemerkenswerten Aufschwung. Die Werft wurde in Hamburg 1889 zum Branchenführer im Hamburger Stahlschiffbau, um dann deutschland- und europaweit 1913 zu den Spitzenwerften aufzuschließen19. Die wachsenden Ansprüche der Seeschiffsreedereien an die Größe und Transportfähigkeit einerseits – die technologische Entwicklung des Schiffbaus andererseits – führten dazu, dass Blohm&Voss in kurzen Abständen seit Ende der 1890er Jahre mehrmals die Betriebsanlagen, Helgen, Docks und Werkstätten vergrößerte und die Produktion rationalisierte und modernisierte. Die erste Erweiterung des Werftareals mit der neuen Maschinenbauhalle war 1891 abgeschlossen, die zweite 1898. Die umfangreichste Erweiterung erlebte die Werft zwischen 1905 und 1912. Im Südosten des bisherigen Areals entstand eine großzügige und weitgestreckte Anlage mit modernster Ausrüstung und weithin sichtbaren Helgen, umfassenden Dock- und Krananlagen. Hier wurden die großen Passagierschiffe der IMPERATOR-Klasse, die VATERLAND und die BISMARCK für die HAL, sowie die schweren Schlachtkreuzer für die deutsche Marine aufgelegt. 20
18 Vgl. KLUDAS, Anm. 11, S. 230. Vgl. w. o. Anm. 11. 19 Die Entwicklung wird umfassend und detailliert dargestellt bei WITTHÖFT, Anm. 12, S.118125. Einen Höhepunkt bildeten der Bau und die Ablieferung des Fahrgastschiffes VATERLAND im Jahre 1913. Ebd., S. 522. Die BISMARCK wurde 1922 im Zuge der Vereinbarungen von Versailles nach Großbritannien ausgeliefert. Ihre Daten ebd. 20 Ausführlich dazu MEYER-LENZ Johanna: Schiffbaukunst und Werftarbeit in Hamburg 1838 -1896. Arbeit und Gewerkschaftsorganisation im industrialisierten Schiffbau des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main u.a. 1995, S. 158-174; Vgl. auch WALDEN, wie Anm. 12, S.457-463; 1914 wurde mit dem „DERFFLINGER“ mit einer Verdrängung von 31.200 t, 210,4 m Länge
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Die Werft Blohm&Voss nach der dritten Modernisierung um 1912. Foto: Thyssen Krupp AG
2.2. Die HAL, wesentlicher Motor des Größenwachstums Es ist die Politik des Einsatzes von spektakulären leistungsfähigen Fracht- und Passagierschiffen und Schnelldampfern der HAPAG, die Ende der 1880er Jahre den aggressiven Eintritt der HAPAG in das Konkurrenzgeschäft – Stichwort Auswanderung – auf dem Atlantik signalisierten. Die Konkurrenten waren der Norddeutsche Lloyd, die britische White Star Line, die Cunard Line, die belgische Red Star Line, die Société Génerale Transatlantique, um nur einige zu nennen. Ballin führte 1887 die Entscheidung herbei, eine Serie von vier Schnelldampfern als Doppelschraubendampfer nach dem neuesten technologischen Standard des Stahlschiff- und des Schiffsmaschinenbaus in Dienst zu stellen.21 Mit diesen Schiffen erreichte Ballin (1857–1918) den Anschluss der HAPAG an das Weltniveau. Zwei Aufträge aus dieser Reihe, die prestigeträchtige AUGUSTA VICTORIA, das Typschiff, und die FÜRST BISMARCK gingen an den Stettiner Vulcan, zwei an britische Werften, die COLUMBIA an Laird in Birkenhead an der Mersey (Liverpool) und die NORMANNIA an Fairfield in Glasgow am Clyde. Von den weiteren sechs Doppelschraubendampfern dieser Serie, die die HAPAG im Passagierverkehr auf der transatlantischen Route einsetzte, erhielten Blohm&Voss 1891 den Auftrag für den Bau der VIRGINIA, die 1891 abgeliefert wurde und mit ihren Maßen von 97,80 m Länge zu 11,51 m Breite und 2891 BRT zu den kleine-
und 29,0 m Breite der fünfte Schlachtkreuzer an die deutsche Marine abgeliefert. WITTHÖFT, wie Anm.12, S. 520-522. 21 KLUDAS, Anm. 11, S. 185-188.
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ren Ausführungen zählte.22 Dies war der Einstieg der Werft in eine kontinuierliche Geschäftsbeziehung zur HAPAG, die in der Folgezeit ständig Schiffe der neuen Dampferserien bei Blohm&Voss in Auftrag gab. Die erste Betriebserweiterung war gerade abgeschlossen. Im Zuge der weiteren „Verjüngung und Modernisierung des Schiffparks der HAL“23 erhielt Blohm&Voss mit drei Aufträgen einen größeren Anteil am Bauvolumen der neuen „vergrößerten P-Klasse“.24 Die drei Schnelldampfer dieser PReihe, die PHOENICIA (Stapellauf und Indienststellung 1894), die PRETORIA (1897-1898) und die GRAF WALDERSEE (1898-1899) mit jeweils 140,56 bzw. je 178,60 m Länge und 15,47 bzw. 18,96 m Breite wurden zwischen 1893 und 1899 fertig gestellt, d.h. ihre Entstehung fällt in die zweite Umbauphase der Werft.25 Aufschlussreich ist hier folgender Aspekt. Die HAL zählt nach intensivem Werben seitens des Magnaten der britischen Schiffbauindustrie Lord James William Pirrie (1847-1927) zu den bevorzugten Kundenwerften von Harland&Wolff. Das Typschiff der neuen P-Klasse wurde bei Harland&Wolff in Belfast bestellt. So erhielt die HAPAG die beiden ersten Schiffe „zu einem Vorzugspreis, der Harland&Wolff nur ein Prozent Gewinn ließ.“26 Das bedeutete, dass die drei Aufträge der folgenden Seriennummern, die an Blohm&Voss gingen, nach den Plänen von Harland&Wolff gebaut wurden. So wurde Zeit gespart, aber auch Gelegenheit gegeben, sich mit den Ergebnissen und Vorlagen des britischen Großschiffbaus auseinanderzusetzen. Es erfolgten 1898/1899 weitere Bauaufträge der HAL für Blohm&Voss, drei Fracht- und Fahrgastschiffe, die sogenannten BDampfer,27 mit denen die HAL sich erneut einen Wettbewerbsvorteil im Frachtund Fahrgastgeschäft auf dem Nordatlantik sicherte. Auch hier kam es zu dem Austausch der Plan- und Konstruktionsvorlagen mit Harland&Wolff nach dem Muster der P-Reihe. Der Bau der CLEVELAND 1908 für die HAL, ein Nordatlantik-Dampfer mit 16 960 BRT, einer Länge von 185,0 m und einer Breite von 19,90 m fiel bereits in die Phase, in der Blohm&Voss28 die letzte Expansion der Werft vor dem Ersten Weltkrieg vornahm. Erich Murken stellt in seinem Werk über „Die großen transatlantischen Linienreederei-Verbände, Pools und Interessengemeinschaften bis zum Ausbruch des Weltkrieges“29 im Jahre 1922 einen Überblick über die Absprachen der (nordwest)europäischen, amerikanischen und kanadischen Reedereien hinsichtlich der Fracht- und Transportraten auf dem Atlantik seit 1892 dar. Er zeigt dabei deutlich, dass die Konkurrenz im Bau der Transatlantikdampfer von 10 000 BRT 22 Ebd. S. 188. 23 KLUDAS Arnold: Die Geschichte der deutschen Passagierschiffahrt, Band 2: Expansion auf allen Meeren 1890-1900, Hamburg 1987, S. 73. 24 Ebd., S. 82. 25 Ebd., S. 77. 26 Beide Zitate ebd., S. 73. 27 Ebd., S. 89. 28 KLUDAS Arnold: Die Geschichte der deutschen Passagierschiffahrt, Band 3: Sprunghaftes Wachstum 1900-1914, Hamburg 1988, S. 56. 29 MURKEN Erich: Die großen transatlantischen Linienreedereien. Verbände, Pools und Interessengemeinschaften bis zum Ausbruch des Weltkrieges, o.O. 1922.
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aufwärts die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Schiffbaus soweit gefördert hat, dass im Jahre 1901/02 Deutschland „mit 24 Dampfern […] Großbritannien mit 26 Dampfern sehr nahe gekommen sei.“30 Das Karussell der Konkurrenz drehte sich weiter. Der britische Handelsschiffbau rüstete nach der Entstehung des Morgan-Trust 1902, der International Mercantile Marine Company (IMMC),31 und nach dem Abschluss der Interessengemeinschaft zwischen dem Morgan-Trust, der HAPAG und dem Norddeutschen Lloyd von 190232 nach. Die Folge war der Bau der beiden von der britischen Krone subventionierten Schnelldampfer der Cunard Line, der LUSITANIA und der MAURETANIA, die mit einer Höchstgeschwindigkeit von 26 Knoten den Weltrekord hielten und damit das Blaue Band gewannen.33 Es folgte die White Star Line mit den drei „46 000 BRT Titanen-Schnelldampfer[n] der Olympic-Klasse, der OLYMPIC (Jungfernreise 1911), der TITANIC (gesunken in der Nacht vom 14./15. April 1912), und der BRITANNIC“.34
Die VATERLAND auf ihrer Probefahrt. Foto: Thyssen Krupp AG 30 Ebd., S. 228. 31 Ebd., S. 178. 32 Ebd., S. 190 ff. Eine Interessengemeinschaft zwischen dem Morgan-Trust, der HAL und dem Norddeutschen Lloyd wurde im Februar 1902 beschlossen. Der Morgan Trust von 1902 stellt die Zusammenballung des Potentials der leistungsfähigsten Transatlantikreedereien Europas, der USA und Kanadas dar, darunter auch der britischen Leyland Linie und der White Star Linie. Ebd. 33 Ebd., S. 527 und S. 531. 34 KLUDAS Arnold:Die Geschichte der deutschen Passagierschiffahrt, Band 4. Vernichtung und Wiedergeburt 1914-1930, Hamburg 1989, S.12 ff.; MURKEN, Anm. 29, S. 531.
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Die Antwort Ballins darauf waren die Aufträge der drei Schnelldampfer der Imperator-Klasse, die IMPERATOR (Bauwerft: Vulcan 1911/1235), die VATERLAND (Bauwerft: Blohm&Voss 1913/1914) und die BISMARCK (Bauwerft: Blohm&Voss 1914/1922). Mit ihren 54 282 BRT bzw. 56 551 BRT, ihrer Länge von 289,55 m bzw. 291,4 m und ihrer Breite von jeweils 30,48 m und der Ausrüstung mit einem Turbinenantrieb stießen sie in eine neue Größen- und Leistungsdimension vor.
Die IMPERATOR mit dem vielbeachteten Adler am Bug. Abbildung: Hapag Lloyd AG
35 1909 nahm mit dem Stettiner „Vulcan“, ein weiterer Großbetrieb des industrialisierten Schiffbaus in Hamburg seinen Betrieb auf. Vier ihrer Schiffe erzielten zwischen 1897 und 1907 das „Blaue Band“, darunter die DEUTSCHLAND (HAL). Vgl. dazu QUAAS Achim: Der „Vulcan“ in Stettin und Hamburg und der „Bremer Vulkan“ in: PLAGEMANN Volker (Hg): Übersee. Seefahrt und Seemacht im deutschen Kaiserreich, München 1988, S. 131-134.
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Es ging Ballin, so Murken, dabei nicht so sehr um die Schnelligkeit (24 Knoten) als um die größere Nutzungsfähigkeit, wobei Größe und Komfort hervorstachen.36 Der Stellenwert der HAL für Blohm&Voss lässt sich anhand der Statistik, die die Bauvolumina der Werft für HAL bis 1909 ausweist, erkennen: Tabelle 1: NEUBAUAUFTRÄGE DER HAPAG/HAL AN SEESCHIFFEN ÜBER 1000 BRT 1870-1909. (1=B&V, 2=Reiherstieg, 3=andere deutsche Werften, 4=britische Werften) GESAMT
1870-79 1880-89 1890-99 1900-09 SUMME 1870-79 1880-89 1890-99 1900-09 GESAMT
BRT 35.622 77.587 246.431 452.483 812.123 % 100 100 100 100 100
DAVON AN: 1 BRT 2.052 73.457 77.029 152.538 % 2,6 29,8 17,0 18,8
2 BRT 2.936 13.656 5.751 23.126 45.469 % 8,2 17,6 2,3 5,1 5,6
3 BRT 2.947 19.882 53.619 223.901 300.349 % 8,3 25,6 21,8 49,5 37,0
4 BRT 29.739 41.997 113.604 128.427 313.604 % 83,5 54,2 46,1 28,4 38,6
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3. Voraussetzungen des Eintritts in den Großschiffbau für Blohm&Voss 3.1. Das Netzwerk der väterlichen Herkunftsfamilie als Startchance Dennoch folgte die Entwicklung der Werft von Blohm&Voss keinem linearen Wachstumsmuster. Wenn die Entwicklung seit 1891 auch den qualitativen Sprung der Werft zum Großbetrieb erkennen lässt, so bleiben doch einige Fragen offen: Welche Strategien haben die Integration in den Schiffbaumarkt ermöglicht? Gibt es ein Übergangsphänomen von der Anfangsphase (1877-1889) zur Phase der Größenexpansion (1891-1914), das eine gewisse Kontinuität gewährleistet? Die folgenden Ausführungen stützen sich auf den zentralen Begriff des Vertrauenskapitals, eine zentrale Kategorie der Unternehmenskulturgeschichte.37 Annette Christine Vogt zeigt in ihrer 2004 erschienenen Studie über die Kaufmannsreederei Wappäus mit Hilfe der Netzwerkanalyse die Bedingungen des Erfolges von Überseekaufleuten wie Georg Blohm auf. Es beruhte in erster Linie auf einem System der Vertrauensbildung unter den zahlreichen Geschäftspartnern. 36 MURKEN, Anm. 29, S. 531. 37 Vgl. ELWERT Georg: Sanktionen, Ehre und Gabenökonomie. Kulturelle Mechanismen zur Einbettung von Märkten. In: BERGHOFF Hartmut/VOGEL Jochen (Hg.) Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen des Perspektivenwechsels, Frankfurt/Main 2004, S.119-142.
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Sie zeigt, dass das Überseehandelshaus Blohm – in wechselnden Firmen und Partnerschaften – in den 1830er Jahren in Venezuela das Zentrum eines sorgfältig gepflegten Netzwerkes von deutschen, darunter vielen hamburgischen und bremischen Reedern, Kaufleuten und Bankiers bildete. Wesentliche Grundtugenden der Kaufleute, die den Zusammenhalt und Erfolg garantierten, waren „Gerechtigkeit“, die pünktliche „Einhaltung von Verpflichtungen, wohlüberlegtes Handeln, Selbstverantwortung und Diskretion“,38 wie es der Hamburger Kaufmannsreeder A. H. Wappäus formuliert hat.39 Grafik 1 Genealogie der Familie Blohm 19.-20. Jh. (in Auszügen) Georg Blohm 1801-1878 Kaufmann
G.H. Blohm L.F. Blohm Merchant-Bankers
Herrmann Blohm 1848-1930 Ehefrau: Emmi A. Westphal
Rudolf Blohm 1885-1979
Walther Blohm 1887-1963 Ehefrau: Annemarie Brandis
Angaben nach WIBORG 1993
Die Überseereedereien, wie wir sie zahlreich in Hamburg nach 1870 finden, führten diese Gepflogenheiten fort. Eine untereinander vielfach vernetzte Hamburger Elite aus Handels- und Bankkapital, Makler- und Transportunternehmern blieb traditionellen geschäftlichen Netzwerkverpflichtungen verbunden. Dabei machten sie von der Möglichkeit mit dem Instrument der Aktiengesellschaften neue Unternehmen zu gründen und zu expandieren, lebhaft Gebrauch. Die 1871 einsetzenden Gründungswellen der Überseereedereien in Hamburg – seien es Aktiengesellschaften, seien es Privatunternehmen – erzeugten somit ein günstiges Investitionsklima für den Eisenschiffbau.
38 Vgl. VOGT Annette Christine: Ein Hamburger Beitrag zur Entwicklung des Welthandels im 19. Jahrhundert. Die Kaufmannsreederei Wappäus im internationalen Handel Venezuelas und der dänischen und niederländischen Antillen (Beiträge zur Unternehmensgeschichte Bd. 17), Wiesbaden 2003, S. 143. 39 So wurde A.H. Wappäus durch das Handelshaus von Georg Blohm in Ciudad Bolìvar in das Geflecht der großen Handelshäuser in Venezuela etabliert. Die hervorragende Rolle im Überseehandel der Familie Blohm und ihre Position und kaufmännischen Aktivitäten ebd., S. 132, S. 144 ff und S.174 ff, besonders ausführlich S. 178-192.
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Tabelle 2: Gründungsphasen der großen Überseereedereien in Hamburg 1870 1875 1880 1885 1890 1895 1900 HAPAG seit 1847 Kingsin /HH-Süd Kosmos /R.Sl/Mittelmeerlinie Carr 79 bis 86 Hansa 81 bis 92/93 A.C. de Freitas 79 / Woermann-L. 82 Aus.-Sl -L. 82 bis 86 Union 86 bis 87 Austral-L 88 Kirsten-L AG/Calcutta-L / Ost-A. -L./Levante
1905
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Bei der Gründung der Werft finanzierte der Vater Georg Blohm mit umgerechnet ca. 10 Mio Mark die Anfangsinvestitionen; außerdem trugen weitere väterliche Kredite zur Überwindung der schwierigen Anfangsphase bei. Dass die familiären und die geschäftlichen Bande eng miteinander verknüpft wurden, unterstreicht die Eheschließung Herrmann Blohms mit Emmi Westphal, Tochter einer weitverzweigten, sehr angesehenen Hamburger Familie. Die Ehe öffnete über den Bruder der Braut die Tür zu den Amsincks, einer weiteren Dynastie der Hamburger Kaufmanns- und Reedereifamilien, die nun über die schwache Auftragslage der Anfangsjahre hinweghalf. Der Gründer der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrtsgesellschaft, „Herr Martin Garlieb [Amsinck] kaufte das Schiff Nr. 1 (National), das in ‚Flora’ umgetauft wurde; und das Schiff Nr. 9 hat lange als ‚Rosario’ für die Hamburg-Südamerikanische Gesellschaft gefahren. Es war das erste von den 33 Schiffen, die wir für die Hamburg-Süd gebaut haben.“40 „Bei Georg H.&L. Federico Blohm stand Hermann Blohm ein laufender Kredit in unbegrenzter Höhe zur Verfügung. Sie erledigten als Merchant Bankers alle Bankgeschäfte einschließlich jeder Geldüberweisung bis 1891 für Blohm&Voss, die bis dahin kein Giro-Konto führten.“41 Darüber hinaus pflegte Herrmann Blohm regelmäßige intensive Kontakte durch seinen täglichen Besuch der Börse und in der Commerzdeputation, der späteren Handelskammer, zum Kreis seiner
40 Eduard BLOHM, Werfterinnerungen 1890-1939, maschinenschriftliches Manuskript (MS), 1939, S. 15. Zur Gründungsphase der Werft, für die zunächst Lübeck als Standort vorgesehen war, vgl. ausführlich OSTERSEHLTE Christian: Der Werftunternehmer Blohm und die Lübecker Maschinenbau-Gesellschaft (L.M.G.). In: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 89 (2009), S. 177-230. 41 Die Zitate bei Rudolf BLOHM: Aufzeichnungen von 1950, MS, 1950, S. 17 u. S. 18. Ab 1880 galt das Unternehmen als anerkannt kreditwürdig. Die Merchant Bankers bestimmten das private Hamburger Bankwesen bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vgl. KRAUSE Detlef: Die Commerz- und Disconto Bank 1870-1920/23. Bankgeschichte als Systemschichte, Stuttgart 2004 (Beiträge zur Unternehmensgeschichte Bd. 14), S. 49; Rudolf BLOHM, Anm. 41, S. 13-15.
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Geschäftspartner und Kunden, die einen schnellen informellen Austausch und Information über manche Geschäftsgänge erlaubten.
4. Kontinuität und Veränderung im Netzwerk: Insiderwissen, funktionale Verflechtungen und Verbandspolitik Die Umwandlung des Unternehmens von Blohm&Voss in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien im Jahre 1891 signalisierte einen strukturellen Wandel.42 Es war nun der Aufsichtsrat der neuen KGaA, der die wichtige Funktion der Bündelung und des Austausches der wesentlichen Informationen übernahm. Seine Mitglieder bildeten den Dreh- und Angelpunkt für die Beratungen, den Austausch und die Koordination von Planungen und Problemlösungen. Der Vorteil lag in der frühzeitigen Vermittlung von Nachrichten, der rechtzeitigen Anpassung an Markt- und Börsenlagen und Finanzbewegungen bevor sie in der Öffentlichkeit gehandelt wurden. Die Mitglieder des Aufsichtsrates repräsentierten Vertreter der Shareholder und Kreditgeber – Reedereien, die Vereinsbank, die Warburg-Bank, Handelsunternehmen, die entweder zu den Auftraggebern der Werft gehörten oder aber den Aktionsradius erweiterten, indem sie als Mitglieder von Aufsichtsräten weiterer Reedereiunternehmen durch zahlreiche informelle Überkreuzbeziehungen und Verflechtungen mit wesentlichen Kunden und Kreditgebern des Unternehmens im kommunikativen Austausch waren.43 So eröffnete die Form der Mehrfachbesetzung von Aufsichtsratsmandaten den Hamburger Kaufleuten und Reedern die Perspektive einer vielfachen Beteiligung und Interessensvertretung. Der Reeder und Kaufmann Carl Laeisz (1821-1901) zählte neben Adolph Woermann (1847-1911) zu den wesentlichen „Networkern“ des Unternehmens. Die ökonomische Bedeutung der Hamburger Reedereien als Auftraggeber für den Schiffbau bei Blohm&Voss erschließt sich aus der Übersicht über ihr Auftragsvolumen (siehe Tabelle 3). Die Reederdynastien Laeisz und Woermann trugen maßgeblich dazu bei, die umfassenden Kapitalerweiterungen, die das Größenwachstum und die Modernisierung der Werftanlagen 1891 und 1911 erforderten, zu ermöglichen.44 Die neue Qualität der Vernetzung von Blohm&Voss in die Akteurskonstellationen der Hamburger Kaufmanns- und Reedereiwirtschaft führt bereits bestehende Formen der Geschäftspartnerschaft fort; sie setzt nach wie vor auf den Insiderkreis von vertrauensbildenden, das Risiko abwägenden Akteuren, nutzt jedoch nun primär
42 Die Rechtsform der Kommanditgesellschaft auf Aktien wurde aufgrund der Ausweitung der Kapital- und Kreditbasis notwendig. Außerdem blieben die wesentlichen Entscheidungen bei der Unternehmensführung. Vgl. MEYER-LENZ, Anm. 20, S. 47- 49 u. S. 132ff; 125 JAHRE VERBAND FÜR SCHIFFBAU UND MEERESTECHNIK 2009, S. 26-45. 43 Vgl. MEYER-LENZ, Anm. 20, Tabelle 4.4., S.130. 44 So zeichnete Laeisz bei der Umwandlung der Werft in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien 1891 einen Anteil der Aktien und machte darüber hinaus auch seinen Einfluss bei der Vereinsbank und bei der Norddeutschen Bank zur Emission der Aktien und damit zur Kreditbewilligung geltend. Vgl. WITTHÖFT, Anm.12, S. 112f.
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den formellen vorwiegend durch die Struktur der Aktiengesellschaften und ihrer Gremien geprägten Weg.45 Tabelle 3: Die wichtigsten Kunden der Werften Blohm&Voss und Reihersteig-Werft in der Reihenfolge ihres Auftragsvolumens 1870-1909 (in % am Gesamtvolumen der Werften) Reedereien HAL HH-SÜD KOSMOS DOAL WOERMANN-L. C.WOERMANN KINGSIN DSR HANSA ROB.M.SLOMAN LAEISZ NORD.LLOYD ROTTERDAM. LLOYD KAIS. MARINE GESAMT
BLOHM&VOSS BRT % 152 525 23,4 99 914 15,4 70 703 10,9 41 470 6,4 51 269 7,9 28 910 4,4 4 603 0,7 21 214 3,3 44 058 6,8 11 199 1,7 35116 5,4 86,3
REIHERSTIEG-WERFT BRT % 49 236 18,0 88 343 32,3 37 361 13,7 22 853 8,4 15 211 5,6 6 064 2,2 11 835 4,3 4 414 1,6 3 802 1,4 1 014 0,4 87,5 MEYER-LENZ 1995, S. 138
Außerdem – quasi flankierend – entwickelte der Unternehmer Herrmann Blohm im Kaiserreich eine rege Verbands- und Interessenspolitik und kann insofern als typischer Repräsentant des deutschen „kooperativen Managerkapitalismus“ betrachtet werden.46 Neben den formellen und informellen Formen der Wahrnehmung und Durchsetzung ökonomischer Interessen in den Kreisen der Hamburger Wirtschaft entfaltete Herrmann Blohm seit 1888 eine umfassendere rege wirtschaftspolitische Aktivität, die sich im politischen Raum des Kaiserreichs auf der Seite der konservativen Sammlungsbewegung positionierte, die – wie Lothar Berghahn formulierte – auf der Seite einer polarisierenden Machtpolitik die „Idee der friedlichen Schlichtung“47 und des Ausgleichs von Interessen durch den Respekt der Verhandlungspartner auf der Seite der sozialdemokratischen Gewerkschaften ablehnte.
45 Ähnlich die These von FIEDLER Martin: Eigentümer und Netzwerke: Eine Annäherung an das Verhältnis von Personal- und Kapitalverflechtungen in deutschen Großunternehmen (1927 und 1938) In: BERGHOFF Hartmut/SYDOW Jörg (Hg.), Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft? Stuttgart 2007, S. 99. Es ist die These von der Identität von Aktienerwerb und Kontrolle des Unternehmens im Aufsichtsrat als Ausgleich der im Aktienrecht vordergründig angelegten Interessengegensätze von Großaktionären und Aufsichtsrat/Vorstand. Allem Anschein nach überwog hier das „Insider-System“, eine nicht hierarchische Organisationsform. Vgl. ebd., S. 111 f. 46 BERGHOFF Hartmut: Moderne Unternehmensgeschichte, Paderborn 2004, S. 96. 47 BERGHAHN, Anm.16, S.603.
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104 Grafik 2: Netzwerk (Auszug) Carl Ferdinand Laeisz
Vereinsbank Um 1899 MdA Reederei Hansa MdA
HAPAG/ HAL MdA
Carl Ferdinand Laeisz 1891-1901 VdA B&V
Levante-Linie MdA 1889
Deutsch-Aust DamppfSG MdA 1888
Hamburg-Süd VdA MdVerw.rat
WoermannLinie MdA 1886
Abkürzungen: MdA=Mitglied des Aufsichtsrates; VdA=Vorstand des Aufsichtsrates; Verw.rat=Verwaltungsrat; Deutsch-austr. Dampf SG=Deutsch-Australische Dampfschiffahrtsgesellschaft
Entsprechend förderte die Unternehmensleitung eine patriarchalische Stabilitätskultur,48 die dem Stabmodell des Militärs folgte, ohne auf Elemente bürokratischer Ablaufstrukturen zu verzichten. Unterhalb der Führungsebene bildeten sich auf den darunter liegenden Ebenen zunehmend seit 1891 – vermehrt seit ca. 1903 – eine stärkere funktionale Gliederung und eine wachsende Ausdifferenzierung der Teilbetriebe Schiffbau und Maschinenbau, sowie Dockbetrieb für den zivilen und militärischen Bedarf heraus. Diese Ebenen wurden mit qualifiziertem Leitungspersonal besetzt. An ihrer Spitze standen spätestens seit 1903 ausgesuchte Ingenieure mit einer Ausbildung an einer technischen Universität oder an einer Hochschule mit gleichrangiger Ausbildung. Als Oberingenieure erfüllten sie langfristige Konstruktions- und technische Leitungsaufgaben und erhielten die Prokura. Auf der operativen Ebene der Fertigung übernahmen Meister und Ingenieure Aufsichts- und Kontrollfunktionen für die diversen Bauabschnitte.49 48 BERGHOFF, Anm. 46,S. 151. 49 WITTHÖFT, Anm. 12, S. 76 f. u. S. 116f.
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Grafik 3: Unternehmensführung H. Blohm E. Voss
MB
SB
Bis 1890/95
Bis 1890/95
Zivil 1895/1907
Marine 1895/1907
Zivil 1895/1907
Marine 1895/1907
W/H/S
W/H/S
W/H/S
W/H/S
D 1886 / 1892 1902/ 1912
Verwaltung -Büro Kaufm. Abt. Beschaffung
Reparatur Ausrüstung Zivil Marine
Verwaltung -Büro Kaufm. Abt. Beschaffung
Abkürzungen: MB=Maschinenbau; SB=Schiffbau; K.A.=Kaufmännische Abteilung;W=Werkstatt; D=Dock; H=Helgen; S=Schiff
6. Zusammenfassung „Strategy and Structure“ bestimmen die Unternehmenspolitik der Werft von Blohm&Voss, besonders für den Zeitraum 1891 bis 1914 und erklären die Expansion und den Anschluss an den Kreis der großen industrialisierten Schiffbaubetriebe Nordwesteuropas und Nordamerikas. Die Erweiterungen der Werft und die zunehmende Aufteilung der funktionalen Aufgaben der technischen und administrativen Ebene sind eine Antwort auf die wachsenden Ansprüche des Hauptkunden im zivilen Schiffbau, der HAL, und seiner Strategie des Behauptens auf dem transatlantischen Transportmarkt. Das Größenwachstum war auch der Notwendigkeit geschuldet, die größeren und technologisch anspruchsvollen Dampfer als Unikate oder in kleinerer Serie zu bauen, nicht als serielles Massenprodukt. Ein wesentlicher Produktionsfaktor lag in der Pflege der Netzwerkbeziehungen, die seit 1891 einen qualitativ veränderten Charakter angenommen hatten. Auf die Fragilität der Position am transnationalen nordwesteuropäischen und USamerikanischen Markt wurde bereits hingewiesen.
WERFTINDUSTRIE UND TECHNOLOGISCHER „SPIN-OFF“ AM BEISPIEL NS OTTO HAHN HAJO NEUMANN
Zu Beginn des Jahres 2010 meldeten mehrere Zeitungen und Fachzeitschriften kurz, dass das ehemalige deutsche Nuklearschiff OTTO HAHN seine letzte Reise angetreten habe. Seit 1982 war es als Frachtschiff mit Dieselmotor in asiatischen Gewässern unterwegs gewesen. Schließlich war es an einen Abwrackbetrieb in Indien verkauft worden.1 Es dürfte inzwischen dasselbe Schicksal erlitten haben wie andere maritime Berühmtheiten, so auch das langjährige Schulschiff der Deutschen Marine, die DEUTSCHLAND. Nun ist das schiffbauliche Kapitel Nuklearantrieb bereits vor gut 30 Jahren beendet worden, als die Stillegung der OTTO HAHN nach zehn unfallfreien Betriebsjahren beschlossen wurde. Seitdem hat lediglich der Autor Lothar Günther Buchheim an die Geschichte dieses einzigartigen Forschungsschiffes erinnert.2 Doch bietet diese Geschichte einige Aspekte, die auch heute noch als aktuell gelten dürfen, jenseits der reinen Erinnerung. Daher soll es in diesem Beitrag um die Rolle der deutschen Werftindustrie bei dem Versuch gehen, den Kernenergieantrieb in der Handelsschiffahrt zu etablieren. Bei den Recherchen stößt man schnell auf die Schwierigkeit, dass gerade die Werften nur wenige Quellen über ihr Engagement auf diesem Gebiet hinterlassen haben. Viele Firmen gibt es heute gar nicht mehr, ganze Firmenarchive sind vernichtet oder aufgelöst worden. Auch Firmenfestschriften und Unternehmensgeschichten wie die Arbeiten von Arnold Kludas oder Christian Ostersehlte erwähnen Kernenergieantriebe allenfalls am Rande. So blieben Werften und Reedereiwirtschaft bisher blass bei der Erforschung. Durch einen Glücksfall stieß der Autor im Jahre 2009 auf einen Überlieferungssplitter der Bremer Werft A.G. „Weser“ im Krupp-Archiv in Essen. Dieser erlaubt einige Einblicke, die zuvor mit zugänglichen Akten nicht möglich waren. Zunächst soll aber knapp die Vorgeschichte erläutert werden. In der Bundesrepublik Deutschland war Kernforschung als Folge des Zweiten Weltkrieges seit 1945 verboten gewesen. Erst mit den Pariser Verträgen wurde 1955 die Grundlage geschaffen, an der internationalen Atomeuphorie teilzunehmen, welche nicht zuletzt die „Atoms-for-peace“-Rede von US Präsident Eisenhower in Wissenschaft und Politik ausgelöst hatte.3 Allerdings sah sich die Bundesrepublik durch die Folgen des Forschungsverbotes und außenpolitische Zugeständnisse im Nachteil. Durch die Pariser Verträge war nämlich eine militärische Nutzung der Kernenergie in Deutschland ausgeschlossen, was interessierten Fir1 2 3
Bergedorfer Zeitung vom 13.01.2010. Dazu ausführlich: Buchheim, Lothar Günther: Der Abschied, München 2000. Müller, Wolfgang D.: Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Anfänge und Weichenstellungen, Stuttgart 1990, S. 141.
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men und staatlichen Forschungseinrichtungen die Möglichkeit nahm, die kostenintensive Forschung von den wirtschaftlichen Aussichten zu entkoppeln. In den USA war mit dem Atom-U-Boot NAUTILUS bereits der erste Antriebsreaktor in Betrieb gegangen. Pläne zum Bau eines Passagierschiffes waren ebenfalls schon konkret. Zeitungen und Zeitschriften des Auslandes waren voll von Studien atomgetriebener Autos, Flugzeuge und Weltraumfahrzeuge.4 Die Lage war aus Sicht der deutschen Kernforscher prekär. Sie mussten fürchten, noch lange von den vermeintlichen Segnungen des Atomzeitalters ausgeschlossen zu bleiben.5 Es handelte sich hier im Wesentlichen um Männer, die bereits im sog. „Dritten Reich“ unter der Bezeichnung „Uranverein“ lose zusammengearbeitet hatten. Namen wie Werner Heisenberg, Otto Hahn oder Erich Bagge sind bis heute bekannt geblieben.6 Einige Forscher, wie zum Beispiel Paul Harteck, waren bereits in die USA ausgewandert, wo sie bessere Arbeitsbedingungen vorfanden. 1955 fehlte eine kerntechnische Infrastruktur in Deutschland, wozu Forschungsreaktoren ebenso wie das zu ihrem Betrieb nötige Uran gehörten. Beides musste, begleitet und erschwert von vertraglichen Auflagen, aus dem Ausland, überwiegend den USA beschafft werden. Dabei war der erste Atomminister Franz Josef Strauß besonders engagiert. Er konnte die Voraussetzungen für den Bau gleich mehrerer Forschungsreaktoren schaffen, die in den Folgejahren in München, Karlsruhe, Jülich und Geesthacht errichtet wurden. Doch eine energiepolitische Vision darf man der Bundesregierung in dieser Phase nicht unterstellen. Für Bundeskanzler Konrad Adenauer diente das Engagement auf diesem Gebiet vor allem dazu, mit den Alliierten fortan mehr auf Augenhöhe verhandeln zu können.7 In Hamburg hatte sich eine Gruppe um die Physiker Erich Bagge und Kurt Diebner, sowie den Professor für Schiffsmaschinenbau Kurt Illies zusammengefunden, um Kernforschung für maritime Anwendungsgebiete zu betreiben. Es waren bezeichnenderweise diese drei Männer und nicht die maritime Wirtschaft, die dafür sorgten, dass ein Forschungsreaktor in Geesthacht bei Hamburg errichtet und bei der Entwicklung nuklearer Schiffsantriebe eingesetzt wurde. Am Anfang war noch keineswegs entschieden, ob man sich für Schiffsantriebe oder die Stromerzeugung im Hafenbetrieb durch Atomkraft oder beides konzentrieren sollte. Die Betreibergesellschaft hieß dann auch „Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffahrt und Schiffbau“, kurz GKSS. Werften und Reeder reagierten verhalten auf die Gründung dieses Forschungszentrums. Sie hatten mit der Zeichnung von Gesellschaftsanteilen den Forschungsreaktor FRG1 in Geesthacht immerhin zu 25% mitfinanziert und Sitze in den Aufsichtsgremien der Gesellschaft 4 5 6
7
http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/5312/abgefahren_auf_s_atom.html. Vgl.: Bagge, Erich/Diebner, Kurt/Jay, Kenneth: Von der Uranspaltung bis Calder Hall, Hamburg 1957, S. 9. Bereits 1963 unternahm Robert Jungk einen ersten Versuch, die deutschen Physiker zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu ausführlich: Jungk, Robert: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher, Bern/Stuttgart 1963. Dies berichtet Franz Josef Strauß in seinen Memoiren über die Motive des damaligen Bundeskanzlers Adenauer. Strauß, Franz Josef: Die Erinnerungen, Berlin 1989. Siehe auch: Bieber, Hans-Joachim: Zur politischen Geschichte der friedlichen Kernenergienutzung in der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1977, S. 4f.
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erhalten. Die treibende Kraft waren nach dem Tode Kurt Diebners jedoch Bagge und Illies, gestützt auf Fördergelder von Bund und Küstenländern. Und es war allein Illies, der konkret die Entwicklung eines Antriebsreaktors anstrebte und die ersten Konstruktionszeichnungen und Machbarkeitsstudien lieferte.8 Für die Industrie lag eine kommerzielle Nutzbarkeit der Kernenergie noch in weiter Ferne, was gleichermaßen für die maritime Wirtschaft, wie auch andere deutsche Großunternehmen galt. Dr. Hans Kallen, Mitglied des Direktoriums des Krupp-Konzerns etwa hielt im Dezember 1956 in einer Aktennotiz fest: „Die englischen und amerikanischen Bemühungen zeigen, dass doch nicht unerhebliche Mittel, einmal in Form von Arbeitskräften, zum anderen in Form von Versuchseinrichtungen usw., aufgebracht werden müssen, bis sich diese zu irgendeinem Zeitpunkt geschäftlich wieder mit Nutzen auswirken.“ Er schlug vor, die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen zu suchen, um die zu erwartenden finanziellen Lasten aufzuteilen.9 Kallen gehörte dem Technisch-wissenschaftlichen Beirat der Physikalischen Studiengesellschaft an, welche Politik und Industrie als Forum in Kernenergiefragen diente.10 Dieses Zögern suchte die Bundesregierung mit finanzieller Förderung zu überwinden. So wurden im Bereich des Schiffbaus Arbeitsgemeinschaften aus Werften und Reaktorbauern angeregt und mit Bundesmitteln finanziert. Ihr Ziel war die Erstellung baureifer Unterlagen für ein erstes deutsches Kernenergieschiff. Die GKSS geriet dadurch zunächst in Bedrängnis, da sie diese Arbeitsgemeinschaften als Konkurrenz wahrnahm.11 Doch die Motivation der Werften zur Teilnahme an diesen Arbeitsgemeinschaften war offenbar eine andere, was an einem Beispiel aus dem Jahr 1960 besonders deutlich wird: Am 8. November 1960 beantragte die Rheinstahl Nordseewerke GmbH aus Emden beim Bundesministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft einen Bundeszuschuss in Höhe von 1,5 Millionen DM für Projektarbeiten an einem nuklear angetriebenen Handelsschiff. Die Werft stellte sich einen Erzfrachter von 35.000 bis 40.000 Tonnen Tragfähigkeit vor und strebte eine Zusammenarbeit mit deutschen Reaktorbauern an. Der Antrag enthielt bereits einen Zeitplan und das Unternehmen ging davon aus, schon zu Beginn des Jahres 1964 ein fertiges Schiff an eine Reederei übergeben zu können. Ein Genehmigungsverfahren oder Probleme bei der Versicherung und dem kommerziellen Einsatz des Schiffes wurden nicht erwartet. Die Werft ging ganz selbstverständlich davon aus, dass einem Schiffsreaktorprojekt dieselbe Förderung zuteil würde wie der Bund sie beim Bau von Kraftwerksreaktoren gewährte. Sie rechnete offenbar auch nicht mit formalen Hürden, sondern ging davon aus, dass der geforderte Betrag rasch ausgezahlt würde. Das Ministerium wies die Werft nun darauf hin, dass der Antrag zunächst von einer Expertengruppe geprüft werden müsse und Regelungen aus dem Kernkraftwerksbau sich keineswegs ohne weiteres auf Schiffsre8
Dazu ausführlich: Neumann, Hajo: Vom Forschungsreaktor zum Atomschiff Otto Hahn. Die Entwicklung von Kernenergieantrieben für die Handelsmarine in Deutschland, Bremen 2009, S. 21ff. 9 HA-Krupp WA 42/948: Aktenvermerk vom 11.12.1956. 10 Müller: Anfänge und Weichenstellungen, S. 121. 11 Dazu ausführlich: Neumann, S. 46ff.
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aktorprojekte übertragen ließen. Die von der Werft geforderte Risikobeteiligung des Bundes in Höhe von 100 Millionen DM lehnte es ab. Der Antrag wurde im April 1961 bereits wieder zurückgezogen.12 Durch Bundesmittel in Höhe von 1,5 Millionen DM wurde jedoch ab 1960 unter anderem das Projekt eines Druckwasserreaktors der Howaldtswerke Hamburg AG und der Siemens-Schuckertwerke AG gefördert. Die gleiche Summe erhielt eine Arbeitsgemeinschaft aus Deutscher Werft und AEG für Arbeiten an einem Siedewasserreaktor.13 Diese Beispiele erläutern treffend, welche Rolle die verschiedenen Bundeszuschüsse spielten, welche für Schiffsreaktorprojekte gewährt wurden. Alle Arbeiten, die von den beteiligten Firmen geleistet wurden, sind theoretische Berechnungen und Annahmen von unterschiedlicher Genauigkeit gewesen. Wie gezeigt reichten diese manchmal nicht einmal aus, die Förderwürdigkeit zu untermauern. Die Daten, welche von den Firmen herangezogen wurden, stammten z.T. von Landanlagen aus dem Ausland und gelangten über Lizenzvereinbarungen nach Deutschland. Die Werften leiteten wiederum ihre Daten aus Plänen bereits realisierter konventioneller Handelsschiffe ab. Die Baupläne der OLYMPIC-Klasse der A.G. „Weser“ standen z.B. bei den ersten Entwürfen für Reaktorschiffe Pate. Nur selten wurden Versuche an Forschungsreaktoren der Forschungszentren im Inund Ausland durchgeführt. Prototypreaktoren oder gar Versuchsschiffe sind zu dieser Zeit nie gebaut worden. Im Jahre 1964 liefen die Fördergelder für Projektstudien der Werften und Reaktorbaufirmen aus und das Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung dachte nicht daran, solche Arbeiten weiter zu fördern.14 Der Bund hatte nach eigener Schätzung insgesamt etwa 8,5 Millionen DM dafür ausgegeben.15 Als diese Fördergelder aufgebraucht waren, war nirgendwo ein baureifer Schiffsentwurf vorgelegt worden. Die GKSS war damit wieder alleine auf ihrem Betätigungsfeld. Die Entscheidung, mit dem Bau eines deutschen Atomschiffes Tatsachen zu schaffen, fiel in Bonn im Ministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft und wurde an die GKSS zur Ausführung übergegeben.16 Das erste zivile Atom12 Bundesarchiv Koblenz B 138/5141: 10.04.1961 Rheinstahl Nordseewerke GmbH an BMAW. Radkau begründet die Zurückweisung des Antrags damit, dass der Antrag der Rheinstahl Nordseewerke nicht dem Eltviller Programm entstammte und daher zurückgewiesen wurde. Die Werft hatte jedoch bereits Kontakt zu Babcock & Wilcox und BBC aufgenommen. Die Zurückweisung dürfte eher das Resultat der vagen und naiven Planung gewesen sein, welche dem Antrag zugrundelagen. Vgl.: Radkau, Joachim: Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek 1983, S. 156. 13 Bundesarchiv Koblenz B 138/5139: 30.11.1959 Howaldtswerke Hamburg A.G. an BMAW. Siehe auch: Ebenda: Vertrag über die Erstellung einer Projekt-Studie für die Projektierung und Entwicklung eines Handelsschiffes mit Kernreaktorantrieb vom 16.12.1959. Die Studie selbst ist nur noch fragmentarisch erhalten geblieben. Vgl.: Privatarchiv Lehmann: Howaldtswerke Hamburg AG / Siemens-Schuckertwerke AG (Hrsg.): Tanker mit KernenergieAntrieb, 20.000 WPS. Studien-Schlußbericht, Teil I: Überblick, undatiert. 14 Dazu ausführlich: Neumann, S. 56ff. 15 GKSS-Archiv Ordner BMWF vom 1. Februar 1965 bis 30. Juni 1966: Übersicht über die deutsche Reaktorentwicklung, Stand: Sommer 1964. 16 Dazu ausführlich: Neumann, S. 93ff.
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schiff, die amerikanische SAVANNAH, war bereits 1959 vom Stapel gelaufen.17 Die GKSS hatte mit ihrem Partner, dem Reaktorbauer Interatom aus Bensberg, einen scheinbar zukunftsträchtigen Reaktortyp ausgewählt und entwickelt, den man nun unter Bordbedingungen erproben wollte. Der organisch-moderierte Reaktor, genannt OMR, benutzte eine wachsartige Substanz als Moderator und Kühlmittel und war noch nie zuvor im Schiffsbetrieb erprobt worden. Er versprach eine kompakte Bauart, einen niedrigen Betriebsdruck und dadurch Platzersparnis im Schiff. Am 11. Oktober 1960 wurde der Schiffskörper offiziell von der GKSS ausgeschrieben, wobei man um Entwürfe für ein Tankschiff oder einen Alternativvorschlag bat, der bei einer Antriebsleistung von 10.000 WPS eine Tragfähigkeit von 20.000 t besitzen sollte. Die Größe war nicht zufällig gewählt, sondern hatte sich aus den seit 1958 erstellten Vorstudien von GKSS und Interatom herauskristallisiert. Sie war jedoch technisch bedingt und nicht aus Forderungen des damaligen Frachtmarktes hervorgegangen. Mehrere Werften lieferten nun Angebote ab, aus denen der Entwurf eines Bulk-Carriers der Kieler Howaldswerke ausgewählt wurde.18 Auch die A.G. „Weser“ hatte einen Vorschlag eingereicht. Reinhold Thiel schreibt jedoch in seiner Geschichte der Werft über diesen Entwurf, dass die Arbeiten „nicht von Euphorie getragen“ wurden.19 Das Kieler Angebot war mit knapp 18 Millionen DM das preiswerteste gewesen.
Die „Otto Hahn“ am Kai (GKSS Archiv)
17 Die SAVANNAH besuchte im Sommer 1964 Hamburg und Bremerhaven. Dazu ausführlich: Die Atomwirtschaft, Oktober 1964. Siehe auch: Hansa, 101. Jahrgang 1964, Nr. 15. 18 Dazu ausführlich: Neumann, S. 82ff. 19 Thiel, Reinhold: Die Geschichte der Actien-Gesellschaft „Weser“ 1843-1983 in drei Bänden, Band III 1945-1983, Bremen 2007, S. 112.
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Noch nach Auftragserteilung im Jahr 1962 wurde der Reaktortyp geändert, da das von GKSS und Interatom geplante Reaktorkonzept OMR in Versuchsanlagen in Übersee technische Probleme aufgeworfen hatte.20 Während der Schiffskörper in Kiel also Gestalt annahm, war noch nicht abzusehen, welche Anlage das Forschungsschiff künftig antreiben würde. Aus Sicherheitsgründen und Zeitmangel entschied man sich für den bereits in den USA mehrfach erprobten und gebauten Typ Druckwasserreaktor, der jedoch weiterentwickelt wurde. Damit war der Bau des ersten europäischen Atomschiffs zwar sichergestellt. Der technische Vorsprung vor Großbritannien und den USA reduzierte sich jedoch nun auf die kompakte Bauweise. Der Fortschrittliche Druckwasserreaktor FDR hatte alle Komponenten im Innern des Sicherheitsbehälters untergebracht.21 Die Idee, ein völlig neuartiges, künftig besonders preisgünstiges Reaktorkonzept zu verwirklichen, hatte sich damit zerschlagen.
Längsschnitt sowie Querschnitt der NS „Otto Hahn“ (GKSS Archiv)
Über den Bau des Schiffes wissen wir nur wenig, denn das Archiv von HDW hält kaum etwas dazu bereit. Der Schiffskörper wurde wie geplant abgeliefert und zwischen 1964 und 1968 erfolgte dann in Kiel am Ausrüstungskai der Einbau des Nuklearantriebes und der Nebenanlagen. Diese waren europaweit ausgeschrieben worden. So stammten Teile der Brennelemente aus Frankreich. Der Sicherheitsbehälter wurde von Krupp geliefert. Der Reaktor selbst wurde von einer Arbeitsgemeinschaft aus Babcock/Interatom gebaut, mit Beteiligung der amerikanischen Mutterfirma Babcock&Wilcox, USA. Am 8. Mai 1966 wurde der 120 Tonnen schwere Druckbehälter mit Hilfe eines 400-t-Schwimmkrans auf der Werft in den bereits montierten Sicherheitsbehälter eingeführt. Die Koordinierung der verschiedenen Zulieferer übernahmen die GKSS und Babcock/Interatom. Die Beschaffung des notwendigen Kernbrennstoffs nahm mehr Zeit in Anspruch als geplant. Zudem gab es Schwierigkeiten mit Materialspezifikationen, Zertifizierungen, Zollbestimmungen und sprachliche Hürden. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Firmen funktionierte nicht reibungslos, zudem wurden beim Bau noch 20 Neumann, S. 86ff. 21 Ebenda, S. 104ff.
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zahlreiche Änderungen, etwa an den Aufbauten am Heck verlangt.22 So entstand der legendäre Laderaum 5, der in der Betriebsphase nie benutzt werden konnte, weil kein Ladegeschirr ihn erreichte. Im Laderaum wurden Tennis und Volleyball gespielt.
Der Sicherheitsbehälter der „Otto Hahn“ (Historisches Archiv Krupp)
1968, die OTTO HAHN stand vor ihrer nuklearen Probefahrt, schien die maritime Wirtschaft nun endlich vom Kernenergieantrieb überzeugt. Der Bund hatte zugesagt, ein zweites deutsches Atomschiff finanziell zu fördern und auch Fördergelder der Europäischen Atomgemeinschaft Euratom standen in Aussicht. Die Krupp-Reederei mit Sitz in Hamburg gab nun bekannt, dass sie den Bau eines Bulk-Carriers mit nuklearem Antrieb in Erwägung ziehe. Der Ursprung dieser Pläne konnte nicht rekonstruiert werden, da Akten aus der Reederei dazu fehlen. Die GKSS nahm jedenfalls für sich in Anspruch, die Firma überzeugt zu haben.23 Die A.G. „Weser“ war als mögliche Bauwerft für den Schiffskörper im Gespräch und ging im Juni 1968 von folgenden Leistungsdaten aus: Das Frachtschiff sollte eine Tragfähigkeit von 205.000 Tonnen haben und von einem Reaktor angetrie22 Ebenda, S. 101ff. 23 GKSS-Archiv Ordner BMWF ab 1. Januar 1969 bis 14. Januar 1970: 18.02.1969 GKSS an Stoltenberg.
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ben werden, der bei einer Antriebsleistung von 30.000 WPS eine Geschwindigkeit von 16 kn ermöglichen sollte. Für den Bau dieses Reaktors hatte sich die AEG angeboten.24 Alfred Schuller, Vorstandsmitglied bei AEG fragte bei Willi Hans Gres aus dem Krupp-Vorstand an, wie ernst die Bauabsichten seien, die man über die GKSS in Erfahrung gebracht hatte. Schuller erhielt wenige Tage später die Antwort: „Auf keinen Fall handelt es sich bei unserem Vorhaben um einen Wirtschaftlichkeitsvergleich zu konventionell angetriebenen Schiffen.“ Das Interesse an einer Zusammenarbeit mit der AEG wurde betont und man verwies auf die finanzielle Unterstützung des Bundes.25 Bereits seit 1966 arbeiteten die GKSS und der Reaktorbauer Interatom an Plänen für ein Demonstrationsschiff als Nachfolger der OTTO HAHN. Im Unterschied zu dieser sollte der geplante Neubau ausschließlich im Frachtverkehr eingesetzt werden und nicht mehr als Erprobungsplattform und Forschungsschiff dienen. Euratom hatte am 24. November 1966 vor Vertretern des Bundes und der Küstenländer erklärt, auch ein solches Schiff mit Zuschüssen unterstützen zu wollen. Aus den Vorarbeiten entwickelte sich das Projekt NCS 80, welches die Entwicklung eines schnellen nuklearen Containerschiffs mit einer Antriebsleistung von 80.000 WPS zum Ziel hatte.26 Aus diesem sollte nun der neue Schiffsentwurf für die Krupp-Reederei abgeleitet werden. Bei Krupp beurteilte man die Aussichten auf diesem Gebiet intern jedoch anders: Der zuständige Abteilungsleiter Heinrich-Günter Schafstall schrieb am 23. Juli 1968 an einen Kollegen über die Hintergründe des geplanten Erzschiffs: „Zweck dieser Untersuchung, die mit allen einschlägigen Stellen und fachkundigen Personen durchgeführt werden soll, ist eine kritische Betrachtung des Standes der Nukleartechnik und eine detaillierte Untersuchung aller Voraussetzungen, die in die Wirtschaftlichkeitsbetrachtung des geplanten Schiffes bestimmend für die Kosten eingehen.“ Krupp würde ab dem Januar 1969 lediglich vier Herren für Schiffsreaktorprojekte abstellen.27 Schafstall war skeptisch. Kurz darauf wurde auch die zuvor getätigte Mitteilung an AEG widerrufen. In der Niederschrift der 30. Vorstandssitzung bei Krupp vom 12. August 1968 wurde festgehalten: „Es besteht Übereinstimmung darüber, dass der Bau eines solchen Schiffes weder von der Geschäftsleitung beantragt noch vom Vorstand bewilligt ist. Die zurzeit laufenden Vorarbeiten sollen dazu dienen, zunächst die Zurverfügungstellung von öffentlichen Mitteln zu erreichen.“28 Diese Entscheidung wurde auch an die Reederei weitergeleitet. Wenn es sich bei dem ausgewerteten Schriftverkehr auch allenfalls um Überlieferungssplitter handelt, so tritt das Motiv, sich mit nuklearen Schiffsantrieben zu befassen doch wieder deutlich hervor: Das Projekt eines Bulk-Carriers diente erneut dazu, sich staatliche Fördergelder zu sichern und sich über den Stand der Entwicklung informiert zu halten. Ob es sich bei dem Schriftverkehr im Juni und Juli 1968 um den Vorstoß eines einzelnen Vorstands24 25 26 27 28
HA Krupp WA 145/1213: Aktennotiz der A.G. “Weser“ vom 18.06.1968. Ebenda, 26.07.1968 Vorstand Fried. Krupp GmbH an Alfred Schuller. Neumann, S. 143ff. HA Krupp WA 145/1213, 23.07.1968 Schafstall an Münker. Ebenda, Auszug aus der Niederschrift der 30. Vorstandssitzung vom 12.08.1968.
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mitgliedes gehandelt hat, oder ob man die Bauabsicht bewusst falsch kommunizierte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Ähnlich verhielt sich auch die A.G. „Weser“, die seit der Gründung der Arbeitsgemeinschaften in den späten 50er Jahren immer wieder mit der GKSS und Interatom zusammengearbeitet hatte. Glücklicherweise sind die Protokolle der Vorstandssitzungen in Bremen im Untersuchungszeitraum erhalten geblieben. Die Werft blieb auch weiterhin passiv, beteiligte sich jedoch an Studien. Im Frühjahr 1973 wurde im Vorstand der Werft etwa über Kernenergieprojekte gesprochen: Am 17. April wurde eine Vorstudie vorgestellt, welche zuvor von der GKSS unter Beteiligung der Werften HDW, Blohm + Voss und A.G. „Weser“ erstellt worden war. Gemeint sein dürfte damit die Arbeit am NCS 240, eines großen Containerschiffs mit einer Antriebsleistung von 240.000 WPS. Dieses sollte, neben dem geplanten NCS 80 auch für größere Bauvorhaben bei Bedarf ein Konzept ermöglichen.29 Die Beteiligung an dieser Vorstudie habe die A.G. „Weser“ 15.000 DM gekostet. Es sei nun beabsichtigt, eine neue Studie mit einem Gesamtvolumen von 1,9 Millionen DM zu erarbeiten. Die Kosten würden zu 80% aus öffentlichen Geldern bestritten. Man habe die A.G. „Weser“ um die Lieferung des Schiffsentwurfs gebeten, wofür mit Kosten von 750.000 DM zu rechnen sei. Der Vorstand beschloss, sich an der Studie zu beteiligen, obwohl von dem genannten Betrag 20% durch die Werft selbst zu erbringen sein würde. Der Erwerb wertvollen Know-hows wurde als Begründung angeführt, diese Eigenleistung aufzubringen.30 Parallel wurde in Bremen an einer anderen Studie gearbeitet, welche sich mit der Möglichkeit befasste, ein schnelles Containerschiff als Katamaran zu entwickeln.31 Skeptiker des Atomantriebes hatten bereits verschiedentlich kritisiert, dass sich die Arbeiten nicht darauf beschränken dürften, konventionelle Antriebsanlagen gegen nukleare zu tauschen. Die OTTO HAHN bestätigte diese Skepsis während ihres Betriebes: Die Erlangung von Hafenanlaufrechten war ein existentielles Problem und stand einem auch nur annähernd wirtschaftlichen Betrieb des Schiffes stets im Wege. Verlässliche, vertraglich festgeschriebene Anlaufgenehmigungen existierten nur mit den Niederlanden. Norwegen jedoch, von welchem die OTTO HAHN Erz hatte übernehmen sollen, durfte das Schiff während seiner gesamten Betriebszeit nicht anfahren.32 Das Projekt mit dem Namen Katamaran Atom Projekt für Unitized Cargo Entwicklung (KAPUCE) war 1969 durch das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW) in Auftrag gegeben worden. Es sollte dem Schiff eine Tragfähigkeit von bis zu 5000 Containern ermöglichen. Im Juni 1974 wurde in einem Bericht an den Vorstand der A.G. „Weser“ nun die Unabhängigkeit vom Öl der OPEC-Staaten als Begründung für die Beteiligung an diesem Projekt genannt. Auch die GKSS war darin eingebunden, wenn auch der Umfang sich nicht mehr genau rekonstruieren lässt. Der Auftrag wurde jedoch zuerst der Werft angetra29 Neumann, S. 140. 30 HA Krupp WA 143/83: Protokoll 7/73 über die Vorstandssitzung am 17.04.1973. 31 Ebenda, Bericht „Forschung und Entwicklung der A.G. „Weser“-Werft Bremen (Analyse und Planung), Juni 1974“. 32 Dazu ausführlich: Neumann, S. 116ff; siehe auch S. 165ff.
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gen. Aus dem Bericht geht noch einmal besonders deutlich hervor, was die A.G. „Weser“ zur Mitarbeit an dieser Studie veranlasste, mit deren Verwirklichung man kaum jemals rechnen konnte: Das Projekt diene dem Sammeln von Erfahrung bei der Anwendung des computergestützten Schiffsentwurfs und der Erstellung von Rechenmethoden. Man versprach sich eine günstige Stellung beim zuständigen Ministerium, da dieses über die Haltung anderer Werften zu Forschungsprojekten enttäuscht sei. Es sei der richtige Moment, um sich Zuschüsse zu sichern.33 Diese Motivation wird auch in den Protokollen der folgenden Vorstandssitzungen deutlich: Die Beteiligung an einer aus Bundesmitteln finanzierten Studie sollte der Werft eine günstige Stellung bei der Vergabe weiterer Fördermittel verschaffen. Die Werft wollte sich bei den zuständigen Ministerien als fortschrittlich und neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen präsentieren. Dass die aktuelle Studie sich mit einem Kernenergieschiff befasste, dürfte Zufall gewesen sein. Es kann nicht als Bekenntnis der Werft zu dieser Antriebsart gewertet werden. Die Förderung schiffbaulicher Forschung ließ bis zum Jahre 1976 jedoch deutlich nach, weshalb sich in der Folge auch das Interesse der Werft an solchen Arbeiten reduzierte. Als im März 1976 verlangt wurde, für künftige Forschungs- und Entwicklungsarbeit einen Eigenanteil von 50% zu entrichten, wurde im Protokoll der Vorstandssitzung festgehalten: „Die Angelegenheit wird dilatorisch behandelt.“34 Eine letzte Studie ließ die Studiengesellschaft KEST, ein Förderverein der GKSS, 1980 bei der A.G. „Weser“ anfertigen. Die Studiengesellschaft hatte dafür 80.000 DM aus ihrem Vereinsvermögen bereitgestellt und es wurde mit Daten gearbeitet, die man von den Plänen des NCS 80 besaß.35 Es ist das letzte überlieferte Engagement auf diesem Gebiet, welches sich anhand der Quellen aus dem Krupp-Konzern, des Bundesarchivs und der GKSS nachweisen lässt. Die OTTO HAHN war zu diesem Zeitpunkt bereits stillgelegt und wurde schließlich an die Rickmers-Werft in Bremerhaven verkauft. Ihre nuklearen Anlagenteile waren inzwischen entfernt worden.36 Generell scheint auch bei der Bremer Werft nur ein kleiner Personenkreis mit der Möglichkeit zum Bau von Kernenergieschiffen beschäftigt gewesen zu sein. In einem Arbeitsprogramm zur Entwicklung von Massengut-Großschiffen für den Transport von Rohöl nach der Erschließung in arktischen Gebieten wurde die Möglichkeit des Kernenergieantriebes für diese Schiffe nicht einmal erwähnt, obwohl die Werft auf Erfahrungen mit Schiffen von bis 33 HA Krupp WA 143/83: Bericht „Forschung und Entwicklung der A.G. „Weser“-Werft Bremen (Analyse und Planung), Juni 73. Siehe auch: GKSS-Archiv Ordner WTR 33-40 Okt. 73Okt. 74: Sitzung des Wissenschaftlichen Rates am 24.12.1973. Die GKSS und Interatom sollten später an diesem Projekt beteiligt werden. Das Schiff wurde als neuartiges Seetransportsystem geplant und sollte über eine Antriebsleistung von mehr als 200.000 WPS verfügen. Siehe dazu: Ordner Projektstudien: Projekt KAPUCE, erster Teilbericht vom 15.03.1975. Siehe auch: Ebenda, Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt mbH (Hrsg.): Projekt KAPUCE Teilprojekt-Nr. 94 28 16, 1. Teilbericht, Geesthacht 1975. 34 HA Krupp WA 143/81: Protokoll 4/1976 über die Vorstandssitzung am 02.03.1976 in Bremerhaven. 35 Neumann, S. 185ff. 36 Ebenda.
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250.000t Tragfähigkeit verwies.37 Derartige Schiffsgrößen wurden in der Fachpresse stets als besonders geeignet für Kernenergieantriebe dargestellt.38 Die Überlieferungssplitter aus dem Krupp-Hauptarchiv in Essen bestätigen damit, was bereits aus den Quellen des GKSS-Archivs und des Bundesarchivs hervorgeht: Die maritime Wirtschaft in Deutschland hat keinerlei Anstalten unternommen, von sich aus ein Kernenergieschiff zu verwirklichen. Alle theoretischen Arbeiten, die auf diesem Gebiet außerhalb der GKSS und Interatoms geleistet wurden, geschahen aufgrund der gewährten staatlichen Förderung und können nicht als Bekenntnis zur Kernenergie gewertet werden. Im Falle der A.G. „Weser“ darf man annehmen, dass die Beteiligung an dem Projekt eines Katamarans nur zufällig mit der Kerntechnik zusammenfiel und vor allem dazu diente, die Stellung der Werft bei der Politik zu verbessern. Von den hier beschriebenen Vorprojekten und Projektstudien konnte im gesamten Untersuchungszeitraum nur ein einziges seine grundsätzliche Genehmigungsreife nachweisen. Es war die Baubeschreibung des NCS-80 und dieser Zustand konnte erst nach mehrjährigen zähen Verhandlungen mit der Reaktorsicherheits-Kommission erreicht werden. Die wirtschaftlichen Aussichten hatten sich zu diesem Zeitpunkt trotz der Ölkrise derartig verschlechtert, dass ein Bau nicht einmal bei der GKSS mehr erwogen wurde. Das Forschungszentrum hatte sich bereits selbst umorientiert und neue Forschungsfelder erschlossen. Im Jahr 1979 hatte es sich in „GKSS-Forschungszentrum Geesthacht GmbH“ umbenannt und führte das Wort „Kernenergie“ nun nicht mehr im Namen. Den Gesellschaftszweck sah der Aufsichtsrat im Sommer 1982 als erfüllt an.39 Seit dem Herbst 2010 ist auch das Kürzel GKSS verschwunden und das Gelände heißt heute „Helmholtz-Zentrum Geesthacht“.40 Die Stilllegung der OTTO HAHN im Jahre 1979 war die logische Konsequenz der jahrelangen vergeblichen Bemühungen um Hafenanlaufrechte, ein international gültiges Haftungsrecht und die mangelnde Bereitschaft eines Reeders, ein Kernenergieschiff zu bestellen. Auch scheint es zwischen den Firmen, die in Schiffsreaktorprojekte eingebunden waren, kaum Absprachen gegeben zu haben, geschweige denn eine gemeinsame Strategie. Vielmehr nutzte jedes Unternehmen auf seine Weise die Möglichkeit, Gelder aus den Fördertöpfen der jeweils zuständigen Bundesministerien zu erhalten. Die Möglichkeit, das Problem der Hafenanlaufrechte mit neuartigen Schiffen und Transporteinheiten zu umgehen, erwog man innerhalb der GKSS kaum ernsthaft. So ist es nicht allein der Industrie zuzuschreiben, dass ein zweites deutsches Atomschiff nicht gebaut wurde. Zu diesem Umstand hat auch das Festhalten der 37 HA Krupp WA 145/66: Arbeitsprogramm Technologische Entwicklung von MassengutGroßschiffen für die Fahrt im Eis, undatiert (um 1969). Siehe auch: Ebenda, Report on A.G. “Weser“ Activities concerning Icebreaking Oil-Carriers, undatiert (um 1969). 38 Siehe etwa: Mau, G.: Vergleichende Betriebskostenuntersuchung von Schiffen mit konventionellem und Kernenergieantrieb in: Bagge, E./Scholvin, J. (Hrsg.): Kernenergieantriebe für Handelsschiffe. 3. Jahrbuch der Studiengesellschaft zur Förderung der Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt e.V., München 1964. Vgl.: Hansa, 101. Jahrgang, 1964, Nr. 2. Siehe auch: Atomwirtschaft August/September 1966. 39 Neumann, S. 160ff. 40 http://www.hzg.de/public_relations/press_releases/010552/index_0010552.html.de?chunk=1.
WERFTINDUSTRIE UND TECHNOLOGISCHER „SPIN-OFF“
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GKSS an ihrer bisherigen Vorgehensweise beigetragen: Detaillierte Studien mit ernsthafter Bauabsicht wurden im gesamten Untersuchungszeitraum an gängige Schiffstypen angepasst. Im Falle der OTTO HAHN führte dies dazu, dass ihre lange Bauzeit sie zu einem Zeitpunkt in den Frachtmarkt eintreten ließ, als dieser schon nach wesentlich größeren Schiffen verlangte. Als man für diesen Bedarfsfall Konzepte erarbeitet hatte, sorgte die Ölkrise dafür, dass auch jene Leistungsgrößen nicht mehr zeitgemäß waren und die Ende der 60er Jahre geplanten schnellen Containerschiffe nicht realisiert wurden. In den Aufsichtsgremien der GKSS hatten zudem Behördenvertreter die Rolle der Privatwirtschaft übernommen, da auch die Finanzierung vollständig vom Bund und den Küstenländern getragen wurde. Die langwierigen Versuche, den Kernenergieantrieb wirtschaftlich konkurrenzfähig zu machen, wirken vor diesem Hintergrund umso kurioser. Man sieht anhand der skizzierten Entwicklung, dass die deutsche Werftindustrie bei der Erschließung der Kernenergie für Antriebszwecke in Wahrheit nur eine Nebenrolle gespielt hat. Keine Werft unterhielt etwa eine eigene Abteilung für Reaktortechnik. Allenfalls Einzelpersonen in den Unternehmen glaubten an ihr Potential. Das Know-How stammte stets von Reaktorbauern, die sich in Deutschland wiederum auf amerikanische Forschungsergebnisse und Konstruktionszeichnungen stützen konnten und mussten. Die Werften beschränkten sich meist darauf, Baupläne von bereits gebauten Schiffen zur Verfügung zu stellen, um eine Anpassung an einen möglichen Atomantrieb theoretisch zu erreichen. Die Initiative, sich überhaupt auf diese Technik einzulassen, ging auf deutsche Forscher zurück, welche die Politik von der Förderwürdigkeit überzeugen konnten. Hier wirkte die Atombegeisterung der 50er Jahre und der Eindruck, in einer Schlüsseltechnologie Fuß fassen zu müssen. Erst über den Umweg der bereitgestellten Bundesmittel wurde auch die Industrie an diesen Geschäftsbereich herangeführt. Ganz ähnlich wurde dies auch im Kraftwerksbau gehandhabt, allerdings vollzog sich der Übergang zum wirtschaftlichen Betrieb hier früher. Man erkennt im Kernenergieantrieb also ein klassisches Beispiel dafür, dass politischer Wille die Gesetze des Marktes nicht außer Kraft setzen kann. Die Werft- und Reedereiwirtschaft tat aus der Rückschau durchaus Recht mit ihrer Zurückhaltung und konnte sich dabei an den USA und Großbritannien orientieren: Auch dort hatte der Kernenergieantrieb keine wirtschaftlichen Erfolge feiern können, obwohl seine Anwendung bei der Marine bereits Gang und Gebe gewesen war und ist. Dennoch bleibt der Bau und Betrieb der OTTO HAHN eine bemerkenswerte Pionierleistung, die öffentlichkeitswirksam die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie demonstrieren konnte. Die Zeitschrift Newsweek hatte sie 1969 in einem Artikel als Beleg angeführt, dass die Bundesrepublik in der Kerntechnik in Europa eine Führungsrolle beanspruchen dürfe.41 Das Schiff hatte der deutschen Kernindustrie viele Aufträge, beispielsweise aus Brasilien verschafft. Die Anti-Kernkraft-Bewegung ließ es ebenfalls unbehelligt.
41 Newsweek, January 15, 1968.
HANDEL – EINFÜHRUNG SIGURD HESS
Seehandel nennt man den gewerblichen Handel von Gütern mit Schiffen über das Meer. Schiffe stellten schon immer – das gilt vom Altertum bis heute – das leistungsfähigste und billigste Transportmittel dar. Beginnend mit dem 15. Jahrhundert segelten die Entdecker aus Portugal, Spanien, den Niederlanden, England und Frankreich über die „Sieben Meere“. Es ist eine faszinierende Fußnote der Geschichte, dass der chinesische Admiral Zheng He während sieben Reisen (14051433) mit der damals größten Kriegs- und Handelsflotte der Welt den Pazifik und den Indischen Ozean bis zur Straße von Hormuz und der ostafrikanischen Küste bereiste, während wenig später die Portugiesen mühsam den östlichen Seeweg nach Indien erkundeten und der Genuese Christopher Columbus in spanischen Diensten den westlichen Seeweg nach Indien suchte. Danach kamen die Schiffe der Handelskompanien aus England und den Niederlanden und darüber berichtet Jürgen Nagel. In der Geschichte der europäischen Expansion bilden das 17. und 18. Jahrhundert das Zeitalter der privilegierten Handelskompanien. Mehr noch als die atlantische Welt wurde der europäische Asienhandel von ihnen dominiert. Die großen Ostindienkompanien – die britische East India Company (EIC) und die niederländische Verenigde Oostindische Compagnie (VOC) – wurden geradezu zu Synonymen für unermesslichen Reichtum. Allerdings ist die Frage nicht von der Hand zu weisen, um wessen Reichtum es sich eigentlich genau handelt. Die begehrten "Reichtümer Ostasiens" waren in jeglicher Hinsicht Luxusgüter, ob Gewürze aus Indien und Südostasien, ob Seide und Porzellan aus China oder ob später Tee und andere Plantagenprodukte. Dies galt für Europa, aber auch für Asien selbst. Innerhalb Asiens waren solche Güter ebenso luxuriöse wie gewinnträchtige Waren wie auf der Ebene des interkontinentalen Handels. Der fragliche Reichtum ist also diesseits und jenseits des Ozeans zu suchen – und auch das stets auf sehr unterschiedenen Ebenen. Schließlich darf nicht vernachlässigt werden, dass durch die Ostindienkompanien Strukturen geschaffen wurden, die dem Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts Vorschub leisteten. Spätestens dann herrschten ganz andere Verhältnisse in der Verteilung von Reichtümern. Dennoch sind wenige Kolonien zu bedeutenden Handelsstützpunkten geworden. Für den Gesamthandel des Mutterlandes war der koloniale Handel relativ unbedeutend. Während der Kolonialzeit betrug der Warenaustausch zwischen diesen Mächten ein Vielfaches des Handels mit den eigenen Kolonien. Mit der industriellen Revolution, zuerst in England, später in den westeuropäischen Staaten und den USA verändern sich die Strukturen des Seehandels, sowohl was die Handelsschiffe, als auch was die Art der zu verschiffenden Güter betrifft. Man könnte es die Frühform der Globalisierung nennen, deren europäi-
HANDEL – EINFÜHRUNG
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sche Dominanz durch den 30-jährigen Krieg der Neuzeit 1914-1945 katastrophal zertrümmert wurde. Über den Handel und die Industrialisierung im Zeitalter des Imperialismus berichtet Robert Riemer. Sein Vortrag kann aufgrund der Breite des Themas nur einen Überblick über einen Zeitraum von etwa 35 Jahren spannender Geschichte zwischen 1870 und 1914 liefern – und beschränkt sich dabei weitgehend auf Handel und Industrialisierung. Bedeutsame Schlagworte sowohl bezüglich der deutschen als auch der internationalen ökonomischen Entwicklung bestimmen diesen Zeitraum: Das Streben nach den letzten „freien“ Flecken Erde (oder besser gesagt den Territorien, in denen die Europäer oder Amerikaner bisher noch nicht massiv präsent waren, wie Afrika), die unaufhaltsame Erweiterung des Eisenbahnnetzes, die Durchsetzung der Dampfschiffahrt und wegweisende Revolutionen und Evolutionen in Landwirtschaft und Industrie, die als Einzelindikatoren der Industrialisierung der westlichen Welt gelten. Die Länder und Kontinente rückten aufgrund technischer Entwicklungen (Telegraf, Telefon, Dampfschiff) enger zusammen und sorgten so z. B. für die Etablierung eines von Europa und Nordamerika kontrollierten Weltmarktes, der u. a. für Anleger neue Optionen bot. Angesichts dieser umfangreichen wirtschaftlichen Veränderungen, man könnte sie auch “kreative Zerstörungen” im Sinne Schumpeters nennen, ist es außerdem notwendig, einen Blick auf die konstitutionellen und institutionellen Rahmenbedingungen zu werfen, wobei Bereiche wie Urbanisierung, Migration oder auch notwendige politische Voraussetzungen für die ökonomische Entwicklung angesprochen werden. Aus deutscher Sicht ist der Rückblick auf den Anfang des 20. Jahrhunderts wichtig, denn Deutschland ist nach Großbritannien zum ersten Mal zum „Exportvizeweltmeister“ aufgestiegen. Aus dem 18. Jahrhundert wird zitiert: „Seit einiger Zeit ist nur noch von Handel, Seefahrt und Marine die Rede“. Das betrifft aber auch die Verwundbarkeit des durch den Seehandel erarbeiteten Reichtums. Hierüber berichtet Franz Böni in einem umfassenden Überblick über den Handel im Zeichen der Globalisierung. Sein Vortrag behandelt die Grundlagen der Interaktion zwischen Piraterie und Handel vom Altertum bis heute. Bei der Darstellung der aktuellen Piraterie konzentriert sich der Vortrag auf die Piraterie vor den Küstengewässern Somalias. Im Mittelpunkt steht die Verwundbarkeit des Reichtums gestern und heute, sowie die hieraus entstehenden Nachteile, wie Umverteilung des Reichtums oder steigende Warenpreise auf Grund der Kosten, die durch die Absicherung der Risiken entstehen. Der Vortrag widmet sich weiteren potenziellen Nach- und ungewollten Vorteilen der Piraterie wie - als latente Nachteile - Naturkatastrophen und der Brückenschlag von der Piraterie zum Terrorismus und - als ungewollter Vorteil - die Stabilisierung der somalischen Fischgründe auf Grund des Rückgangs ausländischer Fischfangflotten. Der abschließende Teil widmet sich der Frage, wie die Piraterie erfolgreich bekämpft werden kann, bzw. wie Somalia nachhaltig befriedet werden kann. Eine zentrale Schlussfolgerung lässt sich aus den drei Abhandlungen ziehen (Thesenpapier des Deutschen Maritimen Instituts DMI): „Die Weltmeere bilden ... die hochempfindliche wirtschaftliche und soziale Infrastruktur unserer modernen Industriegesellschaft“. Erneut ist Deutschland „Vizeexportweltmeister“ und bere-
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SIGURD HESS
edert die drittgrößte Handelsflotte und die größte Containerschiffsflotte der Welt. Die Sicherheit der Seewege zu gewährleisten, und damit unseren wirtschaftlichen Erfolg, den daraus resultierenden Wohlstand und Reichtum zu stabilisieren, ist eine wesentliche sicherheitspolitische Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland.
REICHTUM ÜBER SEE OSTASIENFAHRER IM 17. UND 18. JAHRHUNDERT JÜRGEN NAGEL
In der Geschichte der europäischen Expansion bilden das 17. und 18. Jahrhundert das Zeitalter der privilegierten Handelskompanien. Mehr noch als die atlantische Welt wurde der europäische Asienhandel von ihnen dominiert. Die großen Ostindienkompanien – die britische East India Company (EIC) und die niederländische Verenigde Oostindische Compagnie (VOC) – wurden geradezu zu Synonymen für unermesslichen Reichtum. Allerdings ist die Frage nicht von der Hand zu weisen, um wessen Reichtum es sich eigentlich genau handelt. Die begehrten "Reichtümer Ostasiens" waren in jeglicher Hinsicht Luxusgüter, ob Gewürze aus Indien und Südostasien, ob Seide und Porzellan aus China oder ob später Tee und andere Plantagenprodukte. Dies galt für Europa, aber auch für Asien selbst. Innerhalb Asiens waren solche Güter ebenso luxuriöse wie gewinnträchtige Waren wie auf der Ebene des interkontinentalen Handels. Der fragliche Reichtum ist also diesseits und jenseits des Ozeans zu suchen – und auch das stets auf sehr unterschiedenen Ebenen. In Europa sind zunächst die legendären Gewinne der Kompanien selbst augenfällig. Der reale Hintergrund war allerdings vornehmlich ein Phänomen der Frühzeit ihrer Geschichte. Auf Dauer profitierten eher potente Kapitalanleger der börsennotierten Kompanien und der Staat als Chartergeber und Kreditnehmer. Die Handelsgesellschaften EIC und VOC selbst waren zu ihrer Refinanzierung zunehmend auf den Kapitalmarkt angewiesen. Explodierende Kosten, sich verändernde Märkte, der gewandelte ökonomische Zeitgeist sowie Korruption und externe Faktoren wie Kriege ließen sie nach zwei bis zweieinhalb Jahrhunderten untergehen. Der Markt in Europa erwies sich überdies als nicht groß genug für eine unbegrenzte Teilnehmerzahl; nicht einmal eine Handvoll Kompanien konnte sich auf Dauer im Geschäft der Ostasienfahrer halten. Die verschiedenen Auflagen der französischen Compagnie des Indes waren zwar partiell beachtenswerte Konkurrenten von EIC und VOC in Fernost, krankten aber stets an mangelndem Rückhalt in der Heimat. Die kleineren Kompanien aus Dänemark, Schweden oder den habsburger Niederlanden stellten Anlagemöglichkeiten für Kapital dar, das in England und den Niederlanden nicht unterkommen konnte, waren aber letztendlich zu klein, um den in Asien nötigen Aufwand dauerhaft betreiben zu können. Auf der Ebene der Einzelpersonen stellt sich die Frage, ob Indien tatsächlich "eine Karriere" war, wie man in Großbritannien im 18. Jahrhundert munkelte. Zweifelsohne handelte es sich dabei vor allem um einen Mythos. Viele reisten als arme Schlucker aus und kamen – wenn überhaupt – auch als arme Schlucker wieder zurück. Anderen aber gelang es durchaus, in Asien ein kleines Vermögen zu machen, wie das Beispiel des (anfangs mittellosen) Nürnberger Patriziersohns
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JÜRGEN NAGEL
Johann Siegmund Wurffbain (1613-1661) verdeutlicht. Mit zunehmender Etablierung der Kompanien in Asien wurden ihre internen Hierarchien weniger durchlässig. Im 18. Jahrhundert wurden Spitzenpositionen zunehmend aus den Eliten heraus besetzt, die darin durchaus zu Recht einen Karrierekatalysator oder eine eigenständige lukrative Karriere in Asien, insbesondere im britisch dominierten Indien, erhofften. Für privilegierte Gesellschaftsschichten wurde die Ausreise nach Asien zu einer programmierbaren Option, persönlichen Einfluss und eben auch Reichtum zu generieren. Viele Kompaniebedienstete blieben auf Dauer in Asien. Verschiede Gründe konnten dafür ausschlaggebend sein, worunter wirtschaftlicher Erfolg einer, wenn auch vielleicht nicht der häufigste war. Dennoch: "Tai Pan" oder "Noble House" waren durchaus Realität. Im Britischen Einflussbereich etablierten sich sogenannten Agency Houses, nicht selten als Joint Ventures, dank der EIC-Politik, den innerasiatischen Handel zu privatisieren. Nicht zuletzt der Opiumhandel gehörte zu solchen lukrativen Zwischenhandelssektoren. Von geringerer Bedeutung war der Privatsektor bei der VOC, da diese eine restriktivere Politik gegenüber privatem Handel verfolgte und mehrheitlich nur Nischenexistenzen erlaubte. Auf der anderen Seite profitierte auch Asien von solchen Handelsverbindungen. Ganz grundsätzlich wurde der Kommerz in bestimmten Sektoren angekurbelt. Und kein Sektor war ohne asiatische Zulieferer, Zwischenhändler und andere Spezialisten denkbar. Speziell ist dabei auf zwei Gruppen hinzuweisen: auf regionale Machthaber und auf die zahlreichen Kaufmannsdiasporen. Die Konzentration des europäischen Asienhandels galt im 17. und 18. Jahrhundert vorrangig den als Emporien fungierenden Hafenstädten. Diese standen bei weitem nicht immer unter europäischer Kontrolle. Die wichtigste Rolle in diesen Hafenstädten spielte häufig dauerhaft der lokale Herrscher, der in pekuniärer wie machtpolitischer Hinsicht Profit aus dem Handel mit Europäern zog. Eine herausgehobene Rolle für die europäischen Ostasienfahrer spielten zudem die verschiedenen Gruppen von Kaufmannsdiasporen. Chinesische Händler waren in beinahe allen südostasiatischen Häfen in einflussreicher Stellung anzutreffen und übernahmen für die VOC die Funktionen der Türöffner und Zwischenhändler. Die vor allem auf dem indischen Subkontinent tätigen Armenier wurden zum wichtigsten Handelspartner für die EIC in Südasien. Die Europäer profitierten von den etablierten Handelskontakten ihrer Partner, diese wiederum konnten auf dieser Grundlage einen langfristigen Wohlstand generieren, der bis heute spürbar geblieben ist. Bevor ein allzu idyllisches Bild entsteht, das auf allen Seiten nur Profiteure kennt, müssen abschließend ein paar Einschränkungen betont werden. Zum einen ist stets nur von einigen ausgewählten, weil vermeintlich besonders lukrativen Sektoren des asiatischen Handels die Rede. Für Asien zentrale Bereiche (z.B. Reis) blieben vom europäischen Asienhandel völlig unberührt, andere (z.B. Textilien) wurden nur in ausgewählte Warengruppen eingebunden. Zum anderen waren auch nur bestimmte Gruppen involviert – und auch dies nicht immer im positiven Sinn. Es gab durchaus auch Verlierer des frühneuzeitlichen Welthandels, seien es verdrängte Händlergruppen oder seien es die Opfer blutiger Handelskriege. Und schließlich darf nicht vernachlässigt werden, dass durch die Ostindienkompanien Strukturen geschaffen wurden, die dem Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhun-
REICHTUM ÜBER SEE
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derts Vorschub leisteten. Spätestens dann herrschten ganz andere Verhältnisse in der Verteilung von Reichtümern. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Amsterdam ist ein Museumsnachbau eines Ostindienfahrers. In der Flagge ist das Symbol VOC zu erkennen Abb. rechtefrei unter Wikipedia Commons, Abruf 20.06.2011
HANDEL UND INDUSTRIALISIERUNG IM ZEITALTER DES IMPERIALISMUS ROBERT RIEMER
Schienenlänge: 0 Kilometer1, Einwohnerzahl: 24 Millionen – Deutschland um 1800 war bezüglich der Bevölkerungszahl das zweitgrößte Land Europas2, die Schienenlänge entsprach exakt dem europäischen Durchschnitt. Ein Jahrhundert später hatte sich einiges verändert. Die Schienenlänge war auf deutlich über 50.000 Kilometer gewachsen3, die Einwohnerzahl hatte sich auf 56 Millionen mehr als verdoppelt. Diese Zahlen demonstrieren beispielhaft den Fortschritt, den Deutschland wie auch andere Staaten in Europa und Nordamerika im 19. Jahrhundert hinter sich gebracht hatte. Angesichts der Fülle an Forschungen zum 19. und 20. Jahrhundert im Allgemeinen sowie zur Industriellen Revolution und Wirtschaftsgeschichte im Besonderen kann auf den wenigen zur Verfügung stehenden Seiten lediglich ein kurzer Überblick über Handel und Industrialisierung im Zeitalter des Imperialismus geboten werden; Teilbereiche dieser Entwicklung, wie etwa das Aufkommen der sozialen Frage, die Auswirkungen stark steigender Umweltbelastungen oder Veränderungen im tertiären Sektor müssen weitgehend unbeachtet bleiben. Der Betrachtungszeitraum wird von der Hochphase des Imperialismus zwischen 1870 und 1914 definiert, doch ist ein Blick sowohl auf die Frühphase der Industrialisierung als auch auf wirtschaftliche Trends des 20. Jahrhunderts notwendig, um die Entwicklungen der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts einordnen zu können. Der Zeitraum ist bereits eingegrenzt – die Jahre zwischen der Reichsgründung und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gelten als Hochzeit des Imperialismus. In dieser Phase dehnten die europäischen Mächte sowie die USA und ebenso das aufstrebende Japan ihre Herrschaftsgebiete aus. Im Falle Europas bedeutete dies vor allem den Zugriff auf Afrika sowie Teile Ostasiens (z. B. China). Der Erwerb von Kolonien schien nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht interessant, sondern bedeutete zugleich auch nationales Prestige. Das Deutsche Reich war in dieser Hinsicht spät dran – Frankreich, die Niederlande, Spanien und vor allem Großbritan-
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Nicht eingerechnet sind an dieser Stelle Grubenbahnen, die von Pferden oder Menschen gezogen wurden. Vgl. André Armengaud, Die Bevölkerung Europas von 1700-1914, in: EUROPÄISCHE WIRTSCHAFTSGESCHICHTE, Bd. 3, hg. von Carlo M. Cipolla, Stuttgart-New York: 1976, S. 11-46, hier S. 16. Vgl. Lothar Gall, Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, in: DIE EISENBAHN IN DEUTSCHLAND. VON DEN ANFÄNGEN BIS ZUR GEGENWART, hg. von Lothar Gall und Manfred Pohl, München 1999, S.13-70.
HANDEL UND INDUSTRIALISIERUNG IM ZEITALTER DES IMPERIALISMUS
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nien waren die bedeutenden europäischen Kolonialmächte und Deutschland versuchte, aufzuholen. Zwar konnten Kolonien in Afrika und Asien erworben werden, doch der wirtschaftliche Erfolg dieser Erwerbungen war zumindest aus staatlicher Sicht unbedeutend.4 Ursächlich für diese machtpolitische Expansion waren die Industrielle Revolution und die folgende Industrialisierung. Das frühe Einsetzen dieser Revolution in Großbritannien in der Mitte des 18. Jahrhunderts begünstigte die englische Führung unter den imperialistischen Staaten Europas. Kohle und Stahl (Montanwesen und Schwerindustrie) veränderten z. B. durch Fortschritte im Schiffbau vor allem ab der Mitte des 19. Jahrhunderts das wirtschaftliche Gefüge der Staaten. Die Zahl der Beschäftigten im sekundären Sektor sowie dessen Anteil am Bruttonationaleinkommen wuchs, während Modernisierungen im primären Sektor für Produktivitätssteigerungen bei gleichzeitiger Reduzierung der Beschäftigtenzahlen sorgten.5 Auf der Suche nach neuen Absatzmärkten für die zunehmend in Massenproduktion hergestellten Konsumgüter schienen sich die Kolonien anzubieten. Außerdem versprach die teilweise in die Kolonien verlagerte Agrarproduktion wegen der niedrigeren Kosten größere Gewinne. Das Deutsche Reich versuchte vor allem ab 1890, nachdem Bismarck abgelöst worden war, diesem Beispiel zu folgen. Zwar hatte die Kolonialpolitik noch unter Bismarck in den 1880er Jahren eingesetzt, als vor allem Gebiete in Afrika zu sogenannten „Schutzgebieten“ erklärt wurden (Deutsch-Südwestafrika,
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Vgl. Dieter Groh, Imperialismus, in: GESCHICHTLICHE GRUNDBEGRIFFE, Bd. 3, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhardt Koselleck, Stuttgart 2004, S. 175-221. Joachim Zeller, Das Deutsche Reich: der Nachzügler, in: EIN PLATZ AN DER SONNE. DIE GESCHICHTE DER KOLONIALREICHE, hg. von Robert Aldrich, Stuttgart, 2008, S. 238-53. Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn 2004. Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008. Reinhard Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500, Paderborn 2007, S.221-313. Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus, München 1976, Kap. 5.3, S 407 ff. – Verschiedene Arten des Imperialismus können unterschieden werden: Herrschaftsausübung mit eigener Industrie (Indien), Herrschaftsausübung unter scheinbarer Souveränität (Japan, Korea, China zur Zeit der ungleichen Verträge) und ökonomische Herrschaft über souveräne Staaten ohne nennenswerte eigene Industrie (Osmanisches Reich). Japan konnte sich vom Zugriff der Europäer und Amerikaner vergleichsweise schnell befreien und stieg selbst zu einer imperialistische Interessen verfolgenden asiatischen Macht auf. Christoph Buchheim, Einführung in die Wirtschaftsgeschichte, München 1997, S. 28, nennt für Großbritannien um 1800 folgende Beschäftigungszahlen: 40% in der Landwirtschaft (Lw), je 30% in der Industrie (I) und im Dienstleistungsbereich (Dl). Für Deutschland sehen die Zahlen anders aus und weisen deutlich auf die zu dieser Zeit noch stärker dominierende Landwirtschaft hin: 62% Lw, 21% I und 17% Dl. Der Aufschwung des zweiten und dritten Sektors wird in den Zahlen für 1900 sichtbar. Großbritannien: 9% Lw, 51% I und 40% Dl. Deutschland: 40% Lw, 39% I und 21% Dl. Ein weiteres Jahrhundert später ist der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten auf weniger als 5% gesunken, während der Dienstleistungssektor weit über 50% aller Beschäftigten bindet. An dem jeweils im Vergleich zu Deutschland geringeren Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft ist indirekt die Abhängigkeit Großbritanniens für Nahrungsmittelimporte zu erkennen (siehe Anm. 16).
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Deutsch-Ostafrika, Kamerun, Togo und Neuguinea), doch erst nach dem Abgang des „Eisernen Kanzlers“ erfolgte die Erhebung in den Status einer Kolonie, obwohl diese Territorien wirtschaftlich und selbst strategisch unbedeutend waren (es fehlten Bodenschätze, landwirtschaftlich geeignete Flächen, Absatzmärkte und letztlich auch eine Flotte, um die Besitzungen wirkungsvoll zu schützen). Dabei gerieten die deutschen Bestrebungen immer wieder mit denen Großbritanniens und Frankreichs in Konflikt – erwähnt seien hier nur die beiden Marokkokrisen.6 Nicht allein die bisher benannten westeuropäischen Mächte engagierten sich im Rahmen imperialistischer Politik, sondern ebenso Staaten in Osteuropa, Asien und Nordamerika. Russland hatte es im 19. Jahrhundert vergleichsweise einfach, da vor allem die Ausdehnung nach Osten nicht die Interessen anderer Mächte tangierte. Die Suche nach einem dauerhaft eisfreien Hafen kollidierte allerdings mit japanischen und britischen Interessen in Ostasien sowie am Bosporus und in der nordindischen Peripherie. Japan war ein vergleichsweise neuer und unbekannter Mitspieler im Konzert der imperialen Mächte, nachdem die USA erst Mitte der 1850er Jahre die Abschließung Japans beendet hatten. Nach der mehrere Jahrhunderte währenden Isolation folgte mit der Meiji-Restauration eine Phase umfangreicher, am westlichen Vorbild orientierter Reformen, die alle Bereiche der Nation berührten. Der Erfolg der militärischen Reform zeigte sich in Kriegen gegen China und vor allem gegen Russland und gipfelte in den Dekaden nach dem Ersten Weltkrieg im Versuch der Errichtung der sogenannten Ostasiatischen Wohlstandssphäre.7 Auf der anderen Seite des Pazifiks agierten auch die USA aus imperialistischen Interessen heraus und führten mehrere vergleichsweise kleine Kriege um die Vorherrschaft in Mittelamerika und im Pazifikraum (Kuba, Philippinen, Puerto Rico, Bau des Panamakanals). Entgegen den vor allem auch wirtschaftlich motivierten Expansionen der europäischen Mächte lag der Schwerpunkt der amerikanischen Interessen eher im militärstrategischen Bereich. Die Gewinnung von Stützpunkten hatte Priorität, wobei mit deren Errichtung die ökonomische Kontrolle in der betroffenen Region gesichert wurde. Diese expansive Phase setzte in den 1890er Jahren ein, nachdem die inneramerikanische frontier geschlossen war und die Manifest Destiny als erfüllt galt.8 Die Phase der Industriellen Revolution war zur Zeit des Hochimperialismus in den hier betrachteten Regionen – mit Einschränkungen bezüglich Russlands – bereits vorüber, aber die Industrialisierung, der unaufhaltsame Aufschwung des sekundären und tertiären Sektors verbunden mit weitreichenden Veränderungen in Politik und Gesellschaft, dauerte an.
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Vgl. Gründer, Deutsche Kolonien, Kap. III-VI, ab S. 51. Ein Resultat dieser Bestrebungen war der japanisch-russische Krieg von 1904/05, der mit einer russischen Niederlage endete und verdeutlichte, dass Japan militärisch unter den Großmächten der Zeit etabliert war. Vgl. Reinhard Zöllner, Geschichte Japans. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2006, S. 181-353. Vgl. Volker Depkat, Geschichte Nordamerikas. Eine Einführung, Köln 2008, S. 245-69.
HANDEL UND INDUSTRIALISIERUNG IM ZEITALTER DES IMPERIALISMUS
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Nicht nur Europa, sondern die ganze Welt wies im Zeitalter der Industrialisierung vielfältige politische Systeme auf. So wandelten sich die traditionellen europäischen Erbmonarchien in konstitutionelle Monarchien oder gar in Demokratien. Der größte Demokratisierungsschub erfolgte um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Revolutionen für eine Erneuerung der Staatsgefüge sorgten, deren Modernität von West- nach Osteuropa hin abnahm und außerhalb des alten Kontinents lediglich in den USA – und abgeschwächt teilweise in den Kolonien – zu finden war. Unterhalb der staatlichen Ebene wirkte sich die Industrialisierung gleichfalls auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse aus, in denen sich etwa die Familien- und Sozialstrukturen den neuen Gegebenheiten anpassten. Das ökonomische Wachstum entkoppelte sich von demographischen Entwicklungen und wurde – unabhängig von kurzfristigem Bevölkerungswachstum oder -rückgang – selbsttragend.9 Neuerungen in der Landwirtschaft sorgten für eine vergleichsweise stabile Ernährungslage, die ein Bevölkerungswachstum zuließ, so dass der trotz beginnender Mechanisierung von einer hohen Zahl an Arbeitskräften abhängigen Industrie genügend Personal zur Verfügung stand. Die Städte wuchsen unaufhaltsam, boten aber letztlich doch nur in begrenztem Umfang Arbeit, weshalb hunderttausende Menschen ihr Glück in der Fremde, vor allem in Nordamerika suchten.10 Die Industrielle Revolution begann Mitte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien mit wegweisenden technischen Neuerungen (Dampf- und Spinnmaschinen), die die Grundlagen für die mechanische Massenproduktion schufen, womit Baumwollspinnerei und Textilproduktion zum Leitsektor der ersten Phase der Revolution avancierten. Der stark steigende Bedarf an Kohle für die Dampfmaschinen generierte wiederum Rückkoppelungseffekte bei der Gewinnung und Verarbeitung von Eisen. Die neue Technik und ihre Anwendung setzte in Großbritannien in den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts eine ökonomische Entwicklung in Gang, doch sollte der Umfang des Wirtschaftswachstums nicht überschätzt werden, denn dieses nahm weiterhin nur langsam zu, da zunächst nur wenige Führungsregionen vom Industrialisierungsprozess erfasst wurden. Erst mit der Verbesserung der Infrastruktur (Eisenbahn- und Kanalbau) konnte mehr Wachstum in größerer regionaler Ausdehnung erreicht werden. Sichtbares Merkmal der Industriellen Revolution war neben der Mechanisierung die „Industrialisierung der Beschäftigungsstruktur“11, also die Erhöhung des Anteils der im sekundären Sektor Beschäftigten zwischen 1760 und 1840 von 24 auf 47% (in
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Michael North, Robert Riemer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte (online – Oldenburg: Institut für ökonomische Bildung, 2004), Kapitel 3. Zeitalter der Industrialisierung, Abschnitt 3.1 Rahmenbedingungen. 10 Vgl. Dirk Hoerder, Geschichte der deutschen Migration. Vom Mittelalter bis heute, München 2010, S. 56-69. 11 Buchheim, Wirtschaftsgeschichte, S. 32.
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Großbritannien). Diesen Wert erreichten die kontinentalen Länder Westeuropas erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.12 Den Grundstein für eine erfolgreiche Industrialisierung Deutschlands bildeten die um 1800 vollzogenen institutionell-strukturellen Veränderungen. Unter dem Druck der – ab 1800 von Napoleon gelenkten – Expansion Frankreichs brach das Alte Reich schrittweise zusammen. Der Reichsdeputationshauptschluss (1803), die Gründung des Rheinbundes (1806) und der Wiener Kongress (1815) schufen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Entwicklung vielversprechende Regionen (Preußen, Bayern, Württemberg, Baden), die innere Reformen nach französischem Vorbild freiwillig oder unter dem Druck Napoleons durchführten (z. B. die Einführung der Gewerbefreiheit, die Abschaffung der Leibeigenschaft). Neben der Beseitigung innerer Handelshemmnisse trugen auch die Gründung des Deutschen Zollvereins (1834) und die Reichsgründung (1871) zur Marktintegration bei.13 Sogenannte Gewerbelandschaften, also Regionen mit Konzentration auf das produzierende Gewerbe, gab es jedoch schon vor der in Deutschland erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts massiv einsetzenden Industrialisierung (z. B. spezialisierte Textilproduktion in Schlesien, Westfalen und Sachsen).14 Dauerhafter Erfolg war diesen Regionen nicht beschieden, da die ausländische Konkurrenz ab den 1820er Jahren mit billigeren Produkten auf den Markt drängte. Neben diesen protoindustriellen Regionen stellte sich im 19. Jahrhundert auch das Handwerk als in der bisherigen Form nicht überlebensfähig heraus. Zwar wuchsen die Beschäftigtenzahlen, aber die Nachfrage nach den handwerklichen Erzeugnissen hielt damit nicht Schritt, so dass es zur Verarmung und teilweise auch Auswanderung der betroffenen Arbeiter(familien) kam („Pauperismus“). Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts sorgte die mit dem „Take-off“ der deutschen Industrialisierung einhergehende steigende Nachfrage nach Arbeitskräften für eine Entspannung. Hierbei fiel dem Eisenbahnbau und den mit ihm verbundenen Zulieferindustrien
12 North und Riemer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Abschnitt 3.2.2 Industrie. Phyllis Deane, The First Industrial Revolution, Cambridge: University Press, 1995. Pat Hudson, The Industrial Revolution, London, 2005. David S. Landes, Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, München 1983. 13 Dieter Ziegler, Das Zeitalter der Industrialisierung 1815-1914, in: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, hg. von Michael North, München 2000, S. 192-281, hier S. 193-4. Hans Werner Hahn, Die Industrielle Revolution in Deutschland (EDG 49), München 2011. Wolfram Fischer u.a., hg., Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 5: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg, Stuttgart 1985. Zum Ende des Alten Reiches vgl. u.a. Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der frühen Neuzeit 14951806, München 1999, S. 319-46. 14 North und Riemer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Abschnitt 3.2.2 Industrie.
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die Führungsrolle zu, die sich in der sprunghaften Erweiterung des Streckennetzes ausdrückte.15 Neben den direkten Abhängigkeiten zwischen der Eisenbahn und der Hüttenund Eisenindustrie beeinflusste erstere auch die Entwicklung des Handels und das Wachstum anderer Industriesektoren positiv. Die Absatzmärkte für Halbfertigprodukte und Fertigwaren erweiterten sich wegen der sinkenden Transportkosten, so dass der Handel über längere Distanzen selbst für Massengüter wie Getreide oder Steinkohle attraktiv wurde (z. B. Getreidelieferungen von Nordamerika nach Europa16). Innerhalb Deutschlands sorgte diese Entwicklung beispielsweise für das Verdrängen englischer Kohle durch schlesische oder Ruhrkohle, die nun billiger angeboten werden konnte, womit zugleich wieder eine Anregung für weitere Investitionen im Montangewerbe und in Infrastrukturmaßnahmen erfolgte. So lohnte es sich nun, die bisher aus Großbritannien importierten Lokomotiven ab Mitte der 1840er Jahre durch in Deutschland produzierte Wagen und Maschinen zu ersetzen (Borsig, Henschel, Maffei); das galt auch für die Schienenproduktion.17 Die Schwerindustrie prägte einerseits die erste Industrialisierungsphase in Deutschland deutlich stärker als in Großbritannien und sorgte andererseits für ein größeres ökonomisches Wachstum. Der Anschluss an den Weltmarkt gelang Deutschland dann mit der zweiten „Take-off“-Phase ab den 1870er Jahren. Elektrotechnik, Chemie und Optik bildeten die Schlüsselindustrien, die Deutschland in diesen Bereichen die Marktführerschaft einbrachten. So sicherten deutsche und amerikanische Erfindungen, die teilweise in Lizenz vertrieben wurden, den Vorsprung der Elektroindustrie, die in den kommenden Jahrzehnten zur Modernisierung deutscher Städte wesentlich beitrug (z. B. Elektrifizierung Berlins durch die AEG) und dabei half, langfristig die Dampfmaschine durch den Elektromotor zu ersetzen.18 Eine vergleichbare weltweite Bedeutung erlangte die chemische Industrie, da deutsche Firmen (BASF, AGFA u. a.) in großer Menge synthetische Farbstoffe herstellten, die billiger als die bisher üblichen Naturfarbstoffe (Färbepflanzen, Cochenillen) angeboten werden konnten. Wenige Jahre nach dem Einsetzen der zweiten „Take-off“-Phase lag der Anteil der deutschen Chemieproduzenten – be-
15 Siehe Anm. 3: 1840 gab es immer noch weniger als 500 Kilometer Eisenbahn in Deutschland, aber 1850 waren es bereits 6.000 und 1870 fast 20.000 Kilometer. Vgl. dazu u.a. die Karten zum Schienennetz in Deutschland bei Ziegler, Industrialisierung, S. 266-7. 16 Bei Rolf Walter, Wirtschaftsgeschichte. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart, Köln 1998, S. 103, findet sich ein Diagramm, welches den Weizenpreis in Berlin und London zwischen 1871 und 1913 zeigt. Auffällig ist dabei einerseits die für den Zeitraum zu beobachtende Verbilligung des Preises, wobei dieser andererseits in London in einem viel stärkeren Maße als in Berlin sinkt. Hier zeigt sich sowohl das Sinken der Transportkosten als auch eine Anpassung des Getreidepreises in Europa, denn anders als 1871 ist dieser 1913 in beiden Städten nahezu gleich. 17 North and Riemer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Abschnitt 3.2.2 Industrie. 18 Vgl. Ziegler, Industrialisierung, S. 234-42. North and Riemer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Abschnitt 3.2.2 Industrie.
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dingt durch einen signifikanten wissenschaftlichen Vorsprung – am Weltmarkt bei mehr als 50% und stieg bis 1900 auf 90%.19 Auf technisch hohem Niveau präsentierte sich auch die optische Industrie (Zeiss, Leitz u. a.), die den Weltmarkt mit Mikroskopen, Feldstechern und Kameras „Made in Germany“ belieferte. Die Industrialisierung beeinflusste natürlich nicht nur die Industrie selbst, sondern sorgte über die zunehmende internationale Verteilung der Produktionsprozesse und den damit einhergehenden Warenaustausch für eine ökonomische Verflechtung der Volkswirtschaften und einen Aufschwung des Handels. Über Landesgrenzen und die Weltmeere hinweg wurden nicht mehr nur seltene Rohstoffe und Luxuswaren gehandelt, sondern auch Nahrungsmittel und andere Konsumgüter, was sich aus geschäftlicher Sicht wegen der zur Verfügung stehenden Konserviertechnik und der sinkenden Frachtkosten lohnte und zu einer massiven Steigerung des Welthandels zwischen 1800 und 1913 beitrug. Die weltweiten Imund Exporte summierten sich im Jahr 1800 auf ca. 1,44 Milliarden US-Dollar, im Jahr 1913 auf ca. 38,15 Milliarden US-Dollar. Das Handelsvolumen wuchs jährlich um mehrere Prozentpunkte, besonders stark in den 1850er Jahren (pro Jahr im Schnitt knapp 8%) und um 1910 (ca. 6%). Einen Einbruch gab es am Ende des Jahrhunderts in den 1880er bzw. 1890er Jahren (ca. 1,1 bzw. 1,6%), als Schutzzölle, eine stagnierende Wirtschaft und daraus resultierende Überkapazitäten in der Industrieproduktion das Wachstum des Welthandels bremsten.20 Europa nahm die führende Rolle im Welthandel ein, wobei Großbritannien vor Frankreich und Deutschland rangierte. Nordwesteuropa – und hier besonders Großbritannien – war einer der Hauptabnehmer von Getreide vor allem aus Russland, den Donauländern und den USA. Neben diesem wichtigsten gehandelten Nahrungsmittel importierte Großbritannien auch Fleisch und Milchprodukte, die dank der in zunehmendem Maße genutzten Gefriertechnik aus Südamerika, Australien und Neuseeland geliefert wurden. Textilfasern, Holz und Gummi sowie Kaffee als bedeutendstes Genussmittel waren weitere vom Agrarsektor produzierte und weltweit gehandelte Produkte. Die fortschreitende Industrialisierung förderte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zudem den Handel mit Industrierohstoffen (z. B. Erze) und Fertigprodukten. Grundsätzlich aber blieb die Ausfuhr – zumindest in größeren, für das Gesamtvolumen des Handels relevanten Mengen – auf wenige europäische Industrieländer sowie die USA beschränkt.21
19 Vgl. Ziegler, Industrialisierung, 239. North und Riemer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Abschnitt 3.2.2 Industrie. 20 Hans Pohl, Aufbruch der Weltwirtschaft. Geschichte der Weltwirtschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1989, S. 186. 21 North und Riemer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Abschnitt 3.2.2 Industrie. Vergleiche die Warenzusammensetzung im weltweiten Export bei Joel Mokyr, ed., The Oxford Encyclopaedia of Economic History, Vol. 3, Oxford: University Press, 2003, S. 371. Industrieprodukte hatten demnach 1913 einen Anteil von 36% am Welthandel, agrarische Rohstoffe und Nahrungsmittel (ohne Getreide) lagen bei jeweils ca. 20%, während Getreide allein einen Anteil von 9% aufwies.
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Staat United Kingdom
Leitsektor
Textil- und Schwerindustrie, Dienstleistung Frankreich Textilindustrie Belgien Schwerindustrie Deutschland/Preußen Eisenbahn, Schwerindustrie Schweiz Textilindustrie Schweden Maschinenbau, Holzindustrie Niederlande Dienstleistung, Agrarwirtschaft Tschechoslowakei Maschinenbau Österreich Nicht eindeutig Norwegen Dienstleistung, Holzindustrie Finnland Holz-, Papierindustrie Russland Eisenbahn Ungarn Agrarwirtschaft Polen Textilindustrie Ukraine Schwerindustrie Dänemark Agrarwirtschaft Italien Textilindustrie (USA Eisenbahn, Agrarwirtschaft (Japan Textilindustrie
131 Jahrzehnt „Take-off“** 1790 1830 1830 1850 1840 1870 1880 1880 1880 1890 1890 1890 1890 1890 1900 1910 1910 1850) 1880)
Die anderen europäischen Länder hatten den „Take-off“ bis zum Ersten Weltkrieg noch nicht erreicht. *Sektoren besonders dynamischen Wachstums, die auf die gesamte Wirtschaft ausstrahlten. **Das „Take-off“ ist das Stadium, in dem ein selbstinduziertes Wachstum erreicht wird. Angaben z. T. nach Walt W. Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Industrialisierung europäischer Staaten
Deutsche Handelsbeziehungen mit dem Ausland existierten natürlich auch vor dem ersten „Take-off“. Bereits in den 1820er und 1830er Jahren nahm der deutsche Warenexport in einem solchen Maß zu, dass häufig eine aktive Handelsbilanz erreicht wurde. Dennoch blieb die deutsche Wirtschaft in dieser Zeit im Vergleich mit ihren wichtigsten Handelspartnern Großbritannien, Belgien und Frankreich – bedingt durch verschiedene Zeitabläufe und Schlüsselindustrien der „Take-off“-Phase – relativ rückständig, was am deutschen Handelssortiment sichtbar wird, in dem Agrarrohstoffe und -produkte dominierten.22 Erst um 1860 machten Fertigwaren mehr als 50% des deutschen Exports aus und sorgten für eine ausgeglichene oder aktive Handelsbilanz, obwohl Deutschland weiterhin in
22 Vgl. Ziegler, Industrialisierung, S. 198-203. Angaben zu den Leitsektoren der „Take-off“Phasen finden sich u.a. bei Walt W. Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 1967.
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großem Umfang Rohstoffe zur Sicherung seiner wachsenden Produktion einführen musste.23 Mit dem Aufschwung der zweiten „Take-off“-Phase nach 1870 erhöhte sich Deutschlands Anteil an der Weltwirtschaft und damit am Welthandel24 und erreichte vor dem Ersten Weltkrieg annähernd das britische Niveau. Großbritannien kam auf einen Anteil am Weltexport mit Fertigwaren von 27%, Deutschland schaffte – trotz der immer noch vergleichsweise traditionellen Beschäftigungsstruktur25 – 22% Anteil, wobei hier vor allem Produkte der deutschen Hochtechnologieindustrien aber auch Zucker und Textilien gehandelt wurden.26 Dafür benennt Ziegler in Anlehnung an Chandler, Kocka und Siegrist drei Gründe – im Vergleich zu Großbritannien niedrigere Lohnkosten, ein besseres Ausbildungssystem für Facharbeiter und Ingenieure inklusive einer wissenschaftlich basierten Produktentwicklung sowie organisatorische Vorteile in Form einer effektiven Absatzorganisation oder eines eigenen Auslandsmarketings.27 Die finanzielle Absicherung des Wirtschaftsaufschwungs im Zuge der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts übernahm das sich ausdifferenzierende Bankwesen, welches exemplarisch für die auch im tertiären Sektor stattfindenden umfangreichen Veränderungen kurz betrachtet wird. Zwei Maßnahmen dienten der Geldversorgung von Handel und Industrie – die Ausweitung sowohl des bargeldlosen Zahlungsverkehrs als auch der Kreditvergabe. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erfolgte die Gründung von Banken in Form von Kapitalgesellschaften, in die Privatanleger oder der Staat investieren konnten. Die so in Großbritannien entstandenen mehreren Dutzend Bankgesellschaften und mehreren hundert Kleinbanken fusionierten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in großer Zahl und bildeten kapitalstarke Großgesellschaften, die wiederum in der Lage waren, auch größere Investitionen zu finanzieren. Parallel zur später einsetzenden Industrialisierung wandelte sich auch das Bankwesen in Deutschland erst
23 Vgl. Ziegler, Industrialisierung, S.199. 24 Vgl. Ziegler, Industrialisierung, S.199. Die große Nachfrage nach deutschen Produkten lässt sich an zwei Zahlen verdeutlichen: In den 1880er Jahren produzierte Deutschland 14% aller Fertigwaren weltweit, hatte aber sogar einen Anteil von 18% an dem Gesamtexport. 25 Siehe in Anm. 5 die Beschäftigtenzahlen in den drei Sektoren für das Jahr 1900. 26 Vgl. zum deutschen Außenhandel im Deutschen Reich Christoph Buchheim, Deutsche Gewerbeexporte nach England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zur Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in seiner Industrialisierungsphase, Ostfildern 1983 und Richard H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834 bis 1914, München 1990, S.77-152. 27 Ziegler, Industrialisierung, S. 200. Vgl. Alfred D. Chandler, Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge, Mass. 1990, S. 456ff. Jürgen Kocka and Hannes Siegrist, Die hundert größten deutschen Industrieunternehmen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Expansion, Diversifikation und Integration im internationalen Vergleich, in: Recht und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wirtschafts-, sozial- und rechtshistorische Untersuchungen zur Industrialisierung in Deutschland, Frankreich, England und den USA, hg.von Norbert Horn und Jürgen Kocka, Göttingen 1979, S. 55-122.
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in der zweiten Jahrhunderthälfte, vor allem mit Beginn der zweiten „Take-off“Phase. Die bisher die deutsche Finanzwelt dominierenden Privatbanken waren nicht mehr in der Lage, genügend Geld für die Finanzierung der industriellen Großprojekte (Eisenbahnbau, Hochtechnologieproduktion) bereitzustellen, so dass auch hier vermehrt Aktienbanken entstanden, die die Nachfrage nach Krediten befriedigen konnten. Der wachsende Umfang der Einlagen bei Großbanken und Sparkassen verweist auf den durchschnittlich zunehmenden Wohlstand, dem eine Steigerung der Menge des umlaufenden Münz- und Notengeldes folgte, auch wenn dessen Anteil an der gesamten Geldmenge aufgrund der stark wachsenden Bankeinlagen zurückging.28 Mit den Weltkriegen und der Umstellung auf eine Kriegswirtschaft zerbrachen schließlich wichtige Handelsbeziehungen sowohl innerhalb Europas als auch mit dem Rest der Welt. Die Europäer verloren Absatzmärkte und mussten sich der zunehmenden Konkurrenz seitens der Nordamerikaner, zeitweise der Südamerikaner sowie später im 20. Jahrhundert vor allem der Asiaten stellen. Daneben setzte sich die seit dem Aufkommen der Industrialisierung permanente Wandlung des Handelssortiments fort, welches nun von Industrieerzeugnissen, Nahrungsmitteln und Erdöl dominiert wurde.29 Verbesserungen bei der Ausbildung der Arbeiter, weitere Innovationen und Massenproduktion förderten die Expansion des Handels in der Zeit nach den Weltkriegen. Die Fertigung neuer (Hochqualitäts-) Produkte, die mit besserer Ausbildung der Arbeitnehmer, weiteren Innovationen und der Einführung der Massenproduktion möglich wurden, erfolgte zunächst noch nah beim Konsumenten. Mit zunehmender Marktakzeptanz der Produkte und der damit einhergehenden Standardisierung der Produktion lagerten die Hersteller die Massenproduktion in Regionen mit niedrigerem Lohnniveau aus (z. B.
28 Vgl. North und Riemer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Abschnitt 3.2.4 Kredit und Banken. Michael North, Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute. S. 174-175. Bernd Sprenger, Geldmengenänderungen in Deutschland im Zeitalter der Industrialisierung 1835-1913. Köln 1982. – Eine weitere wichtige Maßnahme war die Einführung des Goldstandards in den Industriestaaten, der die Wechselkurse stabil hielt. Auch dabei war Großbritannien den übrigen Staaten um einige Jahrzehnte voraus, wo es bereits Ende des 18. Jahrhunderts eine goldbasierte Währung gab, während die anderen Industriestaaten diese erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten (North, Geschichte des Geldes, S. 14555). 29 Vgl. North und Riemer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Kapitel 4. 20. Jahrhundert, Abschnitt 4.2.3 Handel. Zur deutschen Wirtschaft nach Beginn des Ersten Weltkrieges siehe ausführlich Gerold Ambrosius, Von Kriegswirtschaft zu Kriegswirtschaft 1914-1945, in: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, hg. von Michael North, München 2000, S. 282-350, sowie Harm G. Schröter, Von der Teilung zur Wiedervereinigung 19452000, in: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, hg.von Michael North, München 2000, S. 351-420. Auf den Anteil verschiedener Waren bzw. Warengruppen am Welthandel für das Jahr 1913 ist bereits verwiesen worden (siehe Anm. 21). Heute liegt der Anteil der Industrieerzeugnisse bei fast 80%; Nahrungsmittel und agrarische Rohstoffe machen zusammen 10%, Brennstoffe (Erdöl, Erdgas) 8% aus (Mokyr, Oxford Encyclopaedia, S. 371).
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die Produktion von Unterhaltungselektronik in Asien und nicht mehr in den USA und Europa).30 Zu den strukturellen Veränderungen in Handel und Produktion traten im frühen 20. Jahrhundert auch institutionelle Neuerungen. Zum Schutz der heimischen Märkte vor der agrarwirtschaftlichen Konkurrenz initiierten eine Reihe von Staaten Handelsverträge, die Meistbegünstigungsklauseln enthielten, so dass alle einem Handelspartner (Land) gewährten handelspolitischen Vergünstigungen auch den anderen Handelspartnern einräumt werden mussten. Doch diese Praxis, die einen liberalisierenden Effekt hatte, brach mit dem Ersten Weltkrieg ab, als Verträge auf Gegenseitigkeit geschlossen wurden, während die USA die Meistbegünstigung ohne eigene Gegenleistung beibehielten. Das 1927 von der World Economic Conference geschlossene internationale Handelsabkommen31 blieb wegen der einsetzenden Weltwirtschaftskrise ohne Bedeutung. Da die USA nach dem Zweiten Weltkrieg ihre isolationistische Haltung endgültig aufgaben, übernahmen sie die ökonomische Führungsrolle der westlichen Welt, so dass der noch 1927 gescheiterte internationale Handelsvertrag in Form des GATT-Abkommens (1947, General Agreement on Tariffs and Trade) verwirklicht wurde. Dieses regelte u. a. eine deutliche Senkung der Zölle auf Industrieprodukte. Dem GATTAbkommen folgte 1995 die WTO (World Trade Organization), deren Hauptaufgaben in der Liberalisierung des Welthandels, der Abschaffung von Zöllen und dem Abbau nichttariflicher Handelshemmnisse bestehen.32 Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs endeten sowohl die Hochphase imperialistischer Politik als auch eine Zeit „relativer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stabilität“33, in der sich die Industrialisierung Europas und der USA sowie in Japan und in Ansätzen in Russland durchsetzen konnte. Vergleichsweise geringe militärische Aktivitäten können als Mitgaranten für den wirtschaftlichen Aufschwung in Industrie und Handel gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelten. Dabei spielte Deutschland nach einem eher verhaltenen Start eine bedeutende, in Teilbereichen sogar globale Führungsrolle. Gleichwohl sorgte möglicherweise gerade die Industrialisierung für die Ausmaße, die der Erste Weltkrieg annahm. Die Klagen etwa auf deutscher Seite, dass die eigenen Truppen mit Kanonen von Krupp beschossen würden, verdeutlichen den Umfang der Handelsbeziehungen in der Vorkriegszeit. Nach dem Krieg nahmen die Beteiligten – zunächst unter Führung der USA – ihre Handelsbeziehungen wieder auf. Zu
30 Vgl. North und Riemer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Abschnitt 4.2.3 Handel. 31 Vorläufer des GATT-Abkommens, welches 29 Staaten, inklusive der wichtigsten Industriestaaten, unterzeichneten (http:// www.britannica.com/facts/5/127236/World-Economic-Conference-as-discussed-in-international-trade, 30th October 2010). 32 Vgl. North und Riemer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Abschnitt 4.2.3 Handel. 33 Ziegler, Industrialisierung, S. 193. Natürlich ist auch im 19. und frühen 20. Jahrhundert mehrfach Krieg geführt worden (z.B. Krimkrieg, deutsche Einigungskriege), aber im Vergleich zu den Napoleonischen Kriegen oder den später folgenden zwei Weltkriegen handelt es sich eher um kleinere Auseinandersetzungen, die die Wirtschaft und Gesellschaft Europas vergleichsweise wenig beeinflussten.
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diesem Zeitpunkt waren die deutschen imperialistischen Bestrebungen zumindest vorläufig beendet, während sich die europäischen Sieger an ihre langsam bröckelnden Weltreiche klammerten.
HANDEL IM ZEICHEN DER GLOBALISIERUNG VON DER VERWUNDBARKEIT DES REICHTUMS GESTERN UND HEUTE FRANZ BÖNI
Reichtum bedeutet die Verfügbarkeit über materielle und immaterielle Güter. Im 21. Jahrhundert steht Wirtschaft im Zeichen der Globalisierung – der weltweiten Arbeitsteilung und des interkontinentalen Handels. Unabhängig davon, ob das Wirtschaftsobjekt Dienstleistung oder Ware ist, wird zu seiner Erlangung weltweiter Austausch getrieben. Die Verfügbarkeit von Gütern ist somit an sichere Transportwege und freien Zugang zu Ressourcen gebunden. Transportwege und Zugang zu Ressourcen bietet heute mehr denn je die See. Die Beeinflussung des Seehandels und der sicheren Seewege durch die Piraterie birgt daher die Angriffsfläche – die Verwundbarkeit – des Reichtums.
I. Piraterie und Handel – gestern1 1. Piraterie „(...) Nur mit zwei Schiffen ging es fort Mit zwanzig sind wir nun im Port Was große Dinge wir getan, Das sieht man unserer Ladung an. Das freie Meer befreit den Geist, Wer weiß, was da besinnen heißt! Da fördert nur ein rascher Griff, Man fängt den Fisch, man fängt ein Schiff, Und ist man erst der Herr zu drei, Dann hakelt man das vierte bei; Da geht es dann dem fünften schlecht, Man hat Gewalt, so hat man Recht. Man fragt ums Was und nicht ums Wie. Ich müsste keine Schiffahrt kennen: Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.“2
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Die Grundlage zu „Handel im Zeichen der Globalisierung“ basiert auf dem Vortrag, den der Verfasser zum Anlass seiner Antrittsvorlesung als Honorarprofessor an der Universität Konstanz am 30. Mai 2008 gehalten hat, in Franz Böni, Piraterie und Marktwirtschaft (Konstanz: Konstanzer Universitätsreden 234, 2008). Mephistopheles in Goethes Faust, zweiter Teil, fünfter Akt.
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Das „Phänomen Piraterie“ geht fast bis auf die Ursprünge des Handels selbst zurück. Die Geschichte der Piraterie umfasst einen nachgewiesenen Zeitraum von mehr als 3.000 Jahren3, in denen sie das Geschehen und das Bild der Welt maßgeblich mitbestimmt hat. Wie Goethes Mephistopheles spricht, müssen Krieg, Handel und Piraterie stets im Zusammenhang gesehen werden, da sie untrennbar verbunden sind4. Darin wurzelt der Gedanke, dass Handel, Krieg und Piraterie durch wechselseitige Einwirkung miteinander in Beziehung stehen – sie sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Im Folgenden soll ein grober Überblick über die Geschichte der Piraterie gegeben werden. Dabei kann es angesichts des Umfangs weniger um Vollständigkeit gehen, denn darum, einige historische Eckpunkte heraus zu stellen, deren Einfluss auf den Handel für die Frage nach der Verwundbarkeit unseres Reichtums von Interesse ist. a) Piraterie im Altertum und zur Zeit des römischen Reiches Schon im Altertum kam Piraterie entlang der Routen auf, die von der Handelsschiffahrt genutzt wurden. Insbesondere dort, wo die Routen durch enge Meeresstraßen führten, wie die Straße von Gibraltar und die Straße von Bonifacio, blühte die Seeräuberei. Inseln waren ein beliebtes Schlupfloch der Piraten, weil sie sich auf ihnen verstecken und sie als Ausgangspunkt für ihre Angriffe nutzen konnten5. In der Weite des Ozeans waren Handelsschiffe hingegen nur schwer aufzuspüren. Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. entstand insbesondere im südlichen Kleinasien (Kilikien) eine Zone, die weitestgehend staatlicher Kontrolle entzogen war. Auch die Beschaffenheit der Küsten wies eine hervorragende Eignung für den Seeraub auf6. Hier bildeten und behaupteten sich mit Flottenmacht ausgestattete und bewaffnete Seeräuber-Unternehmen7. Ihren Raubzügen, begünstigt durch den Untergang der karthagischen Macht 146 v. Chr., wurden äußerst negative Folgen für den Mittelmeerhandel zugeschrieben. Die Angriffe galten neben küstennahen Gebieten auch Hafenstädten, wobei insbesondere deren Plünderungen beeinträchtigende Wirkung auf den Handel verursachte. Neben Ostia, der Hafenstadt Roms, waren davon vor allem Orte auf Sizilien, aber auch im östlichen Mittelmeergebiet betroffen.
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So stammt die erste urkundliche Erwähnung über einen Piratenangriff in Südafrika aus den Jahren um 1350 v. Chr. Hartmut Roder, ed., Piraten – Die Herren der Sieben Meere (Bremen: Ed. Temmen, 2000), S. 6. David Cordingly, ed., Piraten – Furcht und Schrecken auf den Weltmeeren (Köln: vgs Verlagsgesellschaft, 1999), S. 11. Hartmut Roder, ed., Piraten – Die Herren der Sieben Meere, S. 23. Matthias Gelzer, Pompeius (München: Bruckmann Verlag, 1949), S. 74.
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Bedeutsamer als die zeitweilige Schädigung des Handels war jedoch eine Reduzierung der staatlichen Warenzirkulation. So gelang es Seeräubern, zeitweilig die Getreidezufuhr der Stadt Rom abzuschneiden. Mit der Gefahr einer hereinbrechenden Hungersnot wurde diese Destabilisierung des Mittelmeerraums zu einem drängenden Problem. Nach vorherigen langjährigen erfolglosen Bemühungen zur Bekämpfung insbesondere der kilikischen Seeräuberei im östlichen Mittelmeer8, suchte der römische Senat der jetzt bedrohlichen Lage schließlich mit Erlass der Lex Gabinia de bello piratico aus dem Jahre 67 v. Chr. Herr zu werden. Diese sah die Einsetzung eines Feldherrn gegen die Seeräuber vor und stattete diesen mit umfassenden Machtbefugnissen9 aus. Den Oberbefehl erhielt der römische Prokonsul Pompeius10. Es gelang ihm, den kilikischen Piraten binnen kürzester Zeit einen vernichtenden Schlag zuzufügen. In einer etwa drei Monate währenden Kampagne wurden zehntausend Piraten getötet, vierhundert Piratenschiffe beschlagnahmt und der übrige Rest vernichtet11. Um die so wiedergewonnene pax maritima zu sichern, wurden ein stehender Flottenverband, der zu Patrouillenfahrten eingesetzt wurde, sowie militärische Außenposten eingerichtet12. Ungeachtet dieser Bemühungen gelang es freilich nie ganz, die Piraterie aus dem Mittelmeerraum zu verbannen. b) Piraterie und Kaperwesen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Piraterie war und ist Raub auf hoher See – brutal und willkürlich13. Während des Mittelalters und der frühen Neuzeit umfasste sie zum einen die Piraterie ohne staatlichen Auftrag – als Piraterie im engeren Sinne – zum anderen die Kaperei. Während folgender Phasen der modernen Zeit wirkte sich die Piraterie aufgrund ihres beträchtlichen Aufkommens derart auf Handel und Schiffahrt aus, dass sie zu einem Problem für Kaufmannseliten und Regierungen wurde: ca. 1603-1640 Jakobinische/Nordafrikanische Piraterie ca. 1690-1700 Piraterie im Roten Meer ca. 1714-1726 die „Hohe Zeit der Piraterie“ ca. 1807-1830 „La Course Independante“ Von der Piraterie im engeren Sinne ist das Phänomen des Kaperwesens zu trennen. Unter letzterem versteht man das Aufbringen feindlicher Schiffe in staatlichem Auftrag. Finanzierung und Risiko einer solchen Unternehmung waren priva-
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Beginnend mit dem Feldzug des Marcus Antonius gegen Piraten 102 v. Chr., vgl. Jochen Bleicken, Geschichte der römischen Republik (München: Oldenbourg, 1999), S. 78. Im Sinne eines außerordentlichen Kommandos für das gesamten Mittelmeergebiet mit 20 Legionen und 500 Schiffen. Hartmut Roder, ed., Piraten – Die Herren der Sieben Meere, S. 25. Ibid., S. 108. David Cordingly, ed., Piraten – Furcht und Schrecken auf den Weltmeeren (Köln: vgs Verlagsgesellschaft, 1999), S. 11. Hartmut Roder, ed., Piraten – Abenteuer oder Bedrohung (Bremen: Ed. Temmen, 2000), S. 22.
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tisiert. Kaperer waren also Privatmänner, die durch von souveränen Staaten ausgestellte Kaperbriefe14 ermächtigt waren, Schiffe einer anderen Nation auszurauben oder zu versenken. Kaperbriefe entstanden etwa zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert. Anfangs bestand die Hauptzielrichtung der Ausstellung von Kaperbriefen darin, in Ermangelung einer eigenen Kriegsflotte, private Unternehmer für die Bereitstellung und Ausrüstung von Schiffen zu gewinnen15. Daneben spielten aber auch wirtschaftliche Erwägungen eine nicht ganz unwesentliche Rolle. So schwächten die eroberten Schiffe und Ladungen nicht nur den Gegner. Eine Kaperbriefe ausstellende Nation profitierte auch insofern, als sie sich diese mit 1020% der Beute, gleichsam im Sinne von Lizenzgebühren, vergüten ließen16. Ein weiterer Vorteil, den die Etablierung des Kaperwesens für einzelne Nationen mit sich brachte, bestand in der Schädigung von Kriegsgegnern und anderer Staaten, die in wirtschaftlicher Konkurrenz zur eigenen Nation standen. So gelang es etwa zahlreichen überwiegend französischen Kaperern um 1535 herum, nahezu den gesamten Überseeverkehr der Spanier zum Erliegen zu bringen17. Es nimmt daher nicht wunder, dass das Kaperwesen zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor erwuchs. Bezeichnenderweise wurde etwa die Niederländische WestindienKompanie, eine Handelsgesellschaft, der ein staatliches Monopol für den Handel in Westafrika und Amerika eingeräumt war, mit dem Geschäftszweck gegründet, einem Frieden zwischen den Niederlanden und Spanien entgegenzuwirken, damit Überfälle im Rahmen der Kaperei durchgeführt werden konnten. Immer häufiger wurde das Kaperwesen von Aktiengesellschaften, deren Anteilsscheine dem Käufer einen entsprechenden Anteil an der Beute sicherten, finanziert. Somit wurde es alsbald auch zu einer Geldanlage für Private. Um diese Entwicklung zu verstärken, wurde beispielsweise mit dem „Cruisers and Convoys Act“ von 1708 auch das bürokratische Verfahren erleichtert, das als Hemmschuh für Investitionen in das Kapergeschäft erachtet wurde18. Insoweit vermag auch die Tatsache, dass die Ausstellung von Kaperbriefen in Art. 1 Section 8 der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika ausdrücklich festgeschrieben und der Kompetenz des Kongresses unterstellt ist, die wesentliche Bedeutung des Kaperwesens zu illustrieren. Offiziell fand das Kaperwesen sein Ende in der Deklaration über das Seerecht von 1856, in dem die Abschaffung der Kaperei beschlossen wurde. Auch die Piraterie im engeren Sinne sah sich, gleichsam in ihrer Blütezeit, ihrem Ende gegenüber, denn für die stabilisierten Nationalstaaten ergab sich mehr und
14 Hervorgetan haben sich hier insbesondere Frankreich (Ludwig XIV.) und England (Elisabeth I.). 15 Hartmut Roder, ed., Piraten – Abenteuer oder Bedrohung, S. 25. 16 David Cordingly, ed., Piraten – Furcht und Schrecken auf den Weltmeeren, S. 167; Zur Vergütung der Kaperer andererseits s. Andreas Kammler, Piraten! Das Handbuch der unbekannten Fakten und schönsten Anekdoten (Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008), S. 41 ff. 17 Hartmut Roder, ed., Piraten – Die Herren der Sieben Meere, S. 65. 18 Ibid., S. 29.
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mehr die Notwendigkeit, das sie behindernde und den anwachsenden internationalen Handel störende Seeräuberwesen konsequent zu verfolgen und zu beseitigen. Hilfreich waren dabei vor allem Gesetze, die die Strafverfolgung, Verurteilung und Hinrichtung von Piraten vereinfachten19. 2. Handel und wirtschaftliche Entwicklung a) Entwicklungslinien des maritimen Handels im Allgemeinen Von alters her gab es im Mittelmeerraum einen regen Handelsverkehr. Er verband über weite Distanzen die nordwestlichen Provinzen mit dem Vorderen Orient und hatte einen erheblichen Umfang, was allein die Ladekapazitäten der Schiffe zu belegen vermögen. Schiffe stellten im Altertum das leistungsfähigste und billigste Transportmittel dar, weshalb der Seehandel an den Küsten des Arabischen Meeres, des Indischen Ozeans und des Nordatlantiks sehr bedeutend war. In der Zeit des Ersten und Zweiten Punischen Krieges war Rom zur Seemacht aufgestiegen und spätestens seit der Lex Claudia de nave senatorum (218 v. Chr.) wurde mit erheblichen finanziellen Mitteln Handel getrieben. Ein ebenso einfacher wie plausibler Grund für das große Ausmaß des Außenhandels liegt in dem Umstand begründet, dass ein Bedürfnis – insbesondere der herrschenden Klassen – nach Luxusartikeln bestand, zu dessen Befriedigung, mangels der Möglichkeit, sie selber herzustellen, Handel getrieben werden musste20. Die Befriedigung dieser Nachfrage bedeutete für die involvierten Kaufleute dabei stets ein nicht zu unterschätzendes Risiko, denn sowohl die Transportwege zu Lande als auch zu Wasser waren nur selten sicher. Insbesondere die Piraterie stellte ein großes Problem dar. Auch während des größten Teils des Mittelalters sowie der frühen Neuzeit war in den meisten Ländern die Wirtschaftspolitik in erster Linie Handelspolitik, da diese den steuerlichen Interessen des Herrschers und den Konsumbedürfnissen der Gesellschaft am besten diente. Häufig wird daher in diesem Zusammenhang metaphorisch vom Handel als dem großen Rad gesprochen, welches die ganze soziale Maschine antrieb21. Insoweit nur folgerichtig wurden alsbald ein internationales Handelsrecht (Lex Mercatoria) und Vorschriften über den Seeverkehr geschaffen, welche den besonderen Erfordernissen im Handel Rechnung tragen soll-
19 So bspw. das Gesetz zur wirksamen Unterdrückung der Piraterie von 1700. 20 Hartmut Elsenhans und Matthias Middell, eds., Geschichte und Ökonomie der europäischen Welteroberung – Vom Zeitalter der Entdeckungen zum 1. Weltkrieg (Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2007), S.4. 21 Carlo M. Cipolla und Knut Borchardt, Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 2 (Stuttgart: Fischer Verlag, 1983), S. 271.
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ten22. Gleichzeitig entwickelte sich eine eigene Rechtsprechung für Handel und Seefahrt23. Eine entscheidende Rolle für die beträchtliche Bedeutung des Handels im Allgemeinen spielte im Besonderen der im merkantilen Zeitalter24 zu seiner Blüte erwachsende Seehandel, der erstmals in der Geschichte einen dauerhaften interkontinentalen Handel entstehen liess.25 Obgleich Zölle und andere Faktoren geeignet waren, den Seetransport wirtschaftlich weniger attraktiv zu machen, wogen doch vor allem die Kapazitätsvorteile gegenüber allen anderen Transportmitteln diese Nachteile mehr als auf. Die Kapazitäten konnten mit wachsendem Fortschritt der Seefahrt noch gesteigert werden26, womit gleichzeitig auch dem Wirtschaftswachstum geschuldeten Bedürfnis nach grösseren Ladungen Rechnung getragen werden konnte. Diesen Kapazitäts- und Kostenvorteile standen jedoch die mit dem Seeverkehr verbundenen Risiken27 gegenüber. Die Bedeutung des Handels kulminierte schließlich im achtzehnten Jahrhundert, was einen Zeitgenossen zu folgenden Äußerungen bewegte: „Le commerce fait la marotte du siècle“ (Der Handel ist das Steckenpferd des Jahrhunderts), und: „Depuis quelque temps il n'est plus question que de commerce, de navigation et de marine.“ (Seit einiger Zeit ist nur noch von Handel, Seefahrt und Marine die Rede)28. b) Handelsmonopole und Kartelle Es wird angenommen, dass für einzelne Wirtschaftszweige bereits im Altertum Kartelle bestanden haben29. Doch auch und gerade im Mittelalter sowie der frühen Neuzeit, auf die insoweit das Augenmerk gerichtet werden soll, war der Handel beachtlichen Beschränkungen unterworfen. Diese rührten namentlich von Maßnahmen wie Schutzzöllen, staatlichen Handelsmonopolen und Kartellen her. Mit Aufblühen des maritimen Handels intensivierte sich zunächst der Wettbewerb zwischen den europäischen Seemächten. So bestand Anfang des 17. Jahrhunderts beispielsweise zwischen den englischen und den holländischen Kompanien eine äußerst scharfe Konkurrenz sowohl bezüglich europäischer als auch
22 Vgl. hierzu ausführlich Alfred Doren, Italienische Wirtschaftsgeschichte Bd. 1 (Jena: Fischer Verlag, 1934), S. 428 ff. 23 Carlo M. Cipolla und Knut Borchardt, Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 1 (Stuttgart: Fischer Verlag, 1978), S. 202. 24 Zwischen 1500 und 1750. 25 Carlo M. Cipolla und Knut Borchardt, Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 2, S. 272. 26 Ibid., S. 203. 27 Risicus et fortuna dei, maris et gentium – Risiken seitens des Meeres und der Menschen. 28 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, ed. Vladimir V. Adoratskij (Wien: Verlag für Literatur und Politik, 1932), S. 59. 29 Vgl. mit Belegen aus dem Gesetz des Kaisers Zenos, Jakob Strieder, Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen (München: Duncker & Humblot, 1925), S. 157.
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derjenigen Produkte, die aus der neuen Welt nach Europa importiert wurden30. Um diesen Wettbewerb zugunsten der eigenen Händler einzuschränken, erliess das englische Parlament 1651 mit der Navigationsakte ein Gesetz zur Regulierung von Schiffahrt und Seehandel. Hiernach war namentlich die Einfuhr europäischer Güter nach England sowie der gesamte Küstenhandel und die Fischerei in den englischen Gewässern britischen Schiffen vorbehalten. Auch die Einfuhr europäischer Waren war ausschließlich auf englischen Schiffen und solchen der Ursprungsländer zugelassen. Die Zielrichtung der Navigationsakte war unzweideutig: Der Zwischenhandel der Niederlande mit England sowie den englischen Kolonien sollte beseitigt und durch englischen Handel ersetzt werden. Ebenso wie England suchten auch andere europäische Seemächte die nationalen Interessen durch die Verhängung von Monopolen31 und Schutzzöllen32 zu wahren. Dabei konnten die verschiedenen33 Zölle und ähnliche Abgaben, die insoweit eine wachsende Bedeutung erlangten, sowohl nationaler als auch lokaler Herkunft sein. Sie waren – wenngleich im Einzelnen gering, so doch in ihrer Gesamtheit geeignet, die Warenpreise nicht nur unerheblich zu belasten. In Europa waren die Handelsunternehmungen allgemein durch die Schaffung von Kompanien34 geprägt, die von ihrer Krone oder Regierung bestimmte, zeitlich begrenzte Handelsmonopole35 erhielten und diese Handelsrechte als ständige Kooperationen ausübten. Es handelte sich dabei um Zusammenschlüsse von Kaufleuten mit beträchtlichem Kapital, die den Betrieb und die Leitung – vorwiegend überseeischen Handels – auf monopolistischer Grundlage führten36. Das Interesse der Handelskompanien an der Erlangung einer Monopolstellung korrespondierte insoweit auch mit staatlichen Interessen. Gerade im Zeitalter des Merkantilismus waren die europäischen Seemächte bestrebt, sich einen möglichst großen Anteil an den Vorteilen des Welthandels zu sichern und eine aktive Handelsbilanz zu erreichen. Die Zulassung von Handelskompanien erschien geeignet, diese Ziele zu erreichen. Die europäischen Staaten profitierten darüber hinaus insofern, als sie sich die Ausstattung mit Handelsmonopolen und Privilegien sowie deren Verlängerungen vergüten liessen und unter dieser Form den Handel besteuerten37. Diese Wechselwirkung der Interessen erklärt den lang anhaltenden und überaus beachtlichen wirtschaftlichen und politischen Einfluss der Handelskompanien.
30 Carlo M. Cipolla und Knut Borchardt, Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 2, S. 305 f. 31 So bspw. das Handelsmonopol der portugiesischen Krone mit Indien 1505, vgl. Carlo M. Cipolla und Knut Borchardt, Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 2, S. 308. 32 Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, ed. Vladimir V. Adoratskij, S. 58. 33 Nachweise bei Carlo M. Cipolla und Knut Borchardt, Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 1, S. 201. 34 Statt aller seien etwa die britische Ostindien-Kompanie oder die niederländische WestindienKompanie genannt. 35 Vorwiegend für den Handel zwischen dem europäischen Heimatland und deren Kolonien. 36 Meyers grosses Universal Lexikon, Bd. 6, S. 298. 37 Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 9, S. 441.
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Eine ähnliche Wechselwirkung öffentlicher und privater Interessen zeichnet auch die frühen mittelalterlichen Kartelle aus. So verwundert es kaum, dass diese Kartelle fiskalischer Natur waren, mithin zwischen den Pächtern staatlicher Wirtschaftsobjekte unter Beteiligung der öffentlichen Gewalt zustande kamen38. Der Illustration soll das Salzvertriebssyndikat aus dem Jahre 1301 dienen. Dieses bestand zwischen dem Pächter der im Eigentum des Königs von Neapel stehenden Salinen in der Provence, also Salzgewinnungswerken, und dem Pächter der königlichen französischen Salzwerke von Aigues-Mortes. Das Kartell wurde dabei auch zwischen den beiderseitigen Höfen geschlossen.39 Ausgangspunkt war daher – neben den Vorteilen, die sich den Pächtern aus dieser Kartellvereinbarung boten – die Erwägung, die Ausschaltung des gegenseitigen Wettbewerbs werde auch zum Nutzen der beteiligten Staaten gereichen40. Auch soweit es die ersten Kartelle zwischen Privatleuten anbelangt, die zwischen Florentiner Kaufleuten bestanden, waren diese aufgrund ihrer beträchtlichen Bedeutung für den staatlichen Finanzhaushalt verschiedener europäischer Mächte vor staatlicher Intervention gefeit. Sie stellten nämlich nicht weniger als die Hauptgläubiger mehrerer Königshäuser dar und hatten sich durch ihre Kreditgewährung für diese schlechterdings unentbehrlich gemacht. Insoweit zeigt sich die Interaktion von privaten und öffentlichen Interessen, sowohl was die Vergabe von Handelsmonopolen als auch was den Abschluss von Kartellvereinbarungen anbelangt, ganz deutlich. Es erscheint beinahe überflüssig zu betonen, dass die so vorgenommene und weit verbreitete Ausschaltung des Wettbewerbs und damit auch des Preiswettbewerbs ihren Niederschlag in überhöhten Monopolpreisen zum Nachteil der Abnehmer fand.
II. Piraterie und Handel – heute 1. Renaissance der Piraterie im 21. Jahrhundert – Somalia Bis vor einigen Jahren mag der Pirat der breiten Öffentlichkeit eher bekannt gewesen sein als charismatischer Abenteurer Jack Sparrow aus dem Kinofilm „Der Fluch der Karibik“. Viele Fußballfans jubeln oder leiden jedes Wochenende am Millerntor mit den Ligapiraten des FC St. Pauli. Im „StudiVZ“, kurz für Studierendenverzeichnis – einem Teilunternehmen der VZ Netzwerke, deren gesamtes Netzwerk mit über 16 Millionen Nutzern noch vor Facebook die größte Onlinecommunity Deutschlands41 bildet – gibt es unter dem Stichwort Pirat etliche
38 Jakob Strieder, Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen, S. 162. 39 So steht es in einem Briefe des Königs Karl II. von Neapel an den höchsten Hofbeamten der Provence, siehe das Original ibid., S. 405. 40 So schreibt König Karl II. von Neapel von „magna utilitas utriusque Curie“ also „bedeutendem Nutzen für jedes der beiden Herrschaftshäuser“, vgl. ibid. 41 Onlinekosten News [Online]. 22. Januar 2010. URL: http://www.onlinekosten.de/news/artikel/37732/0/VZ-Netzwerke-nun-mit-16-Millionen-Mitgliedern [5. Oktober 2010]; Wi-
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Gruppen mit mehreren tausend Mitgliedern. Diese stehen unter dem Motto: „Ich brech‘ mein Studium ab und werde Pirat“ oder „Von wegen Prinz, ich will einen Piraten“. 2009 wollten Piraten sogar in den deutschen Bundestag einziehen. Das Vorhaben scheiterte – doch immerhin erreichte die Piratenpartei mit 2% das beste Ergebnis unter den kleinen Parteien42. Wo der Pirat auftaucht, erntet er meist auch Sympathie – als ideologischer Rebell, als herzhafter Kämpfer, als Robin Hood der Meere. Doch das Bild trügt. Die Piraterie hat im 21. Jahrhundert erneut ihr hässliches Haupt erhoben. Eine aktuelle Definition der Piraterie findet sich in Art. 101 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (SRÜ)43. Darin wird die Piraterie unter anderem bezeichnet als „jede rechtswidrige Gewalttat oder Freiheitsberaubung oder jede Plünderung, […] zu privaten Zwecken, die auf hoher See gegen ein anderes Schiff […] oder gegen Vermögenswerte an Bord dieses Schiffes […] gerichtet ist“. Diese Definition beinhaltet die wesentlichen Merkmale der Piraterie in ihrer Urform, in der sie schon vor Jahrhunderten stattgefunden hat; namentlich die meist gewaltsame Attacke eines Schiffes und seiner Besatzung durch Private, gegebenenfalls die Kaperung und Übernahme des Schiffes und der Raub der Fracht. Auch heute lässt sich die Piraterie unter die Definition des SRÜ subsumieren. Doch die uralte Plage der Seeräuberei hat sich weiterentwickelt und verändert. Hier soll die Betrachtung der modernen Piraterie beschränkt sein auf das Beispiel, das in jüngerer Vergangenheit die deutsche Öffentlichkeit wieder auf eine längst in Vergessenheit geratene Gefahr aufmerksam gemacht hat. Die Rede ist von dem sich seit Mitte der 1990er Jahren stetig mehrenden Vorkommen der Piraterie in den Küstengewässern Somalias. Piraterie hat es dort immer gegeben. Das plötzliche Wachstum und die grosse Häufigkeit der seeräuberischen Aktivität in diesen Gewässern ist jedoch ein Phänomen der jüngsten Vergangenheit. a) Verhältnisse in Somalia Bis 1989 profitierte Somalia vom Spannungsverhältnis zwischen dem kommunistischen Osten und dem marktwirtschaftlich ausgerichteten Westen. Aus beiden Systemen flossen Entwicklungsgelder nach Somalia. Bis dahin war Piraterie am Horn von Afrika noch unbedeutend. Nach ca. anderthalb Jahre währenden Aufständen und Bürgerkrieg kam es im Januar 1991 durch die Volksbewegung „Vereinter Somalischer Kongress“ (USC) zum Sturz des seit 1969 autoritär regieren-
kipedia VZnet Netzwerke [Online]. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/VZnet_Netzwerke [5. Oktober 2010]. 42 Wikipedia Piratenpartei Deutschland [online]. URL: http://de.wikipediea.org/wiki/Piratenpartei_Deutschland#Wahlen [5. Oktober 2010]; Bundeszentrale für politische Bildung Themen [online]. URL: http://bpb.de/themen/D7M9HH,0,0,Piratenpartei_Deutschland.html [5. Oktober 2010]. 43 ABl. EG, 1998, Nr. L 179, S. 3.
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den Staatspräsidenten Mohammed Siad Barre44. Seither fehlt eine Zentralgewalt in Somalia45. Die politische Situation ist geprägt von schwachen Übergangsregierungen46. 2006 gelang es der Union Islamischer Gerichte (UIC), die Gewalt in Teilen Somalias an sich zu reißen. Diese Entwicklung wurde noch im selben Jahr durch den Einmarsch von seitens der USA unterstützter äthiopischer Truppen zunichte gemacht47. Auch die jetzige international anerkannte Übergangsregierung vermag nur Teile des Landes zu kontrollieren. Die Politik des Landes bleibt geprägt von Clanherrschaften und dem Streben der einzelnen Gebiete nach Unabhängigkeit. Insbesondere Somaliland, der am Golf von Aden liegende Norden des Landes, sowie die Region Puntland haben bereits – wiewohl international nicht anerkannt -, so doch faktisch Autonomie erreicht. Neben fehlender Industrie sind auch die Ressourcen in Somalia knapp. Die Nahrungsmittel- und Wasserversorgung ist so katastrophal wie in kaum einem anderen Land. Bürger- und Stammeskriege sowie ständig herrschende Territorialkämpfe haben die politische, wirtschaftliche und soziale Situation im Land noch verschlimmert. So werden die wenigen Ressourcen des Landes wie Kohle, Khat und Nutztiere von Kriegsherren, Clans, ausländischen Truppen und religiösen Bewegungen bitter umkämpft48. Die Bevölkerung leidet Hunger und Elend. 40% der Bevölkerung Somalias sind auf die Verteilung von Lebensmittelhilfstransporten angewiesen – Tendenz steigend49. Auch der Tsunami von 2004 zerstörte viele Fischerboote und trieb deren Eigner in die Arbeitslosigkeit. Der zunehmende Massenverarmungsprozess und die elenden Lebensbedingungen in Somalia, gepaart mit Perspektivlosigkeit für die Zukunft, steigert zunehmend die Bereitschaft zum Einstieg in die Berufspiraterie. Somalia ist ein so bezeichneter „Failed State“, ein Staat ohne funktionierende Zentralgewalt, ohne Verwaltung, ohne Behörden. Insbesondere nach dem Sturz der Zentralgewalt gewann die Piraterie an Konstanz. Sie beschränkte sich räumlich zunächst auf das Gebiet um den Hafen von Mogadischu als Anlaufstelle für Handelsschiffe und Hilfsgütertransporte, vermehrte sich aber ab 1994 immer weiter vor der Ost- und Südküste Somalias.
44 Axel Harneit-Sievers et al., Somalia, Alte Konflikte und neue Chancen zur Staatsbildung, ed., Heinrich-Böll-Stiftung (Berlin: Eigenverlag, 2008); Jutta Bakonyi und Ahmed Abdullahi, Somalia – Land ohne Zentralstaat, aber dennoch funktionsfähig (Frankfurt: Entwicklung & ländlicher Raum, 6/2005), S. 14. 45 Axel Harneit-Sievers et al., Somalia, Alte Konflikte und neue Chancen zur Staatsbildung, S. 7. 46 Edward A. Ceska und Michael Ashkenazi, „Piraterie vor den afrikanischen Küsten und ihre Ursachen“, aus Politik und Zeitgeschichte 34-35 (2009), S. 2. 47 Michael A. Lange et al., Maritime Sicherheit – Das Horn von Afrika zwischen Piraterie und Entwicklung, ed. Konrad Adenauer Stiftung e.V. (Berlin: Eigenverlag, 2010), S. 10. 48 Edward A. Ceska und Michael Ashkenazi, Piraterie vor den afrikanischen Küsten und ihre Ursachen, S. 7. 49 Birgit Mahnkopf, „Piratenhatz am Horn von Afrika“, Internationale Politik und Gesellschaft (Januar 2010), S. 60.
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Die Piraten witterten im Golf von Aden fettere Beute in Form größerer Schiffe und wertvollerer Fracht, so dass die Verbreitungswelle der somalischen Piraterie 2007 schließlich auch den Golf von Aden erreichte50. Heute ist Somalia ein Brennpunkt der modernen Piraterie. Die geographische Lage Somalias trägt zum vermehrten Aufkommen der Piraterie bei. Somalia verfügt über eine lange Küste, deren Mangrovensümpfe und vorgelagerten Inseln viele Verstecke bieten51. Die herrschende Gesetzlosigkeit aufgrund der Ohnmacht des Staates sowie die politische Entspannung nach dem Ost-West Konflikt und der einhergehende Abbau der militärischen Kontrolle des Gewässers begünstigten die Entwicklung der Piraterie. Auch die jahrelange Nichtbeachtung durch die entwickelten Nationen bot der Piraterie vor Somalias Küste den Nährboden, den sie für ihr rasches und ungestörtes Wachstum benötigte. Mehr als die Hälfte der im Jahr 2009 registrierten Überfälle weltweit ereigneten sich durch somalische Piraten. Die Reichweite erstreckt sich über den Golf von Aden hinaus bis in das südliche Rote Meer, im Osten bis zu den Seychellen und darüber hinaus weit in den indischen Ozean. In Zahlen ausgedrückt, bedeutet das, Statistiken des International Maritime Bureau zufolge, 217 Überfälle somalischer Piraten. Dies stellt eine imposante Steigerung der gemeldeten Piratenattacken gegenüber dem Vorjahr mit rund 111 gemeldeten Vorfällen dar52. Die Dunkelziffer liegt freilich weitaus höher. Im Golf von Aden selbst hat sich die Piraterie im Vergleich der Zeiträume von Januar bis Juli gegenüber dem Vorjahr von 100 auf 33 Vorfälle dagegen stark verringert. Zu einem geringen Teil mag dies auf den starken Monsunregen im Golf von Aden zurückzuführen sein. Vornehmlich sind die Verschiebung und der starke Rückgang der Piraterie im Golf von Aden allerdings der nunmehr bestehenden, massiven militärischen Präsenz im Golf von Aden zuzuschreiben. Die Abnahme der Piraterie im Golf von Aden spiegelt jedoch nicht die Gesamtsituation wider. Zum Teil hat sich die Piraterie vom Golf von Aden schlicht ins südliche Rote Meer, wo es im ersten Halbjahr diesen Jahres zu 14 Piratenüberfällen gekommen ist, sowie gen Osten in das Arabische Meer verlagert. Um die Ost- und Südküste Somalias ist die Piraterie zwischen 2009 und 2010 konstant geblieben bzw. leicht angestiegen. Insgesamt wurden im ersten Halbjahr 2010 100 registrierte Vorfälle somalischen Piraten zugeschrieben, was in Relation zu demselben Zeitraum im Jahr 2009 lediglich einen leichten Rückgang der somalischen Piraterie bedeutet53. Somit stellt die Piraterie am Horn von Afrika weiterhin eine reelle Bedrohung dar.
50 Vgl. ICC International Maritime Bureau, Annual Report: Piracy and armed robbery against ships (London: ICC International Maritime Bureau, 2010), S. 5. 51 Birgit Mahnkopf, Piratenhatz am Horn von Afrika, S. 61. 52 ICC International Maritime Bureau, Annual Report: Piracy and armed robbery against ships, S. 5f. 53 Vgl. ibid., S. 5ff.
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b) Strafverfolgung Das Problem der Piraterie am Horn von Afrika wirft naturgemäß auch die Frage der Strafverfolgung der Piraten auf. Um die somalischen Piraten im Zuge der Strafverfolgung nicht aus der Region ausführen zu müssen, ist es wichtig, Abkommen über die Strafverfolgung mit den Anrainerstaaten zu schließen. Seit März 2009 existiert ein solches Abkommen zwischen der EU und Kenia54. Auch wenn mit der Verurteilung von sieben somalischen Piraten zu jeweils fünf Jahren Haft im September 2010 durch ein Gericht in Mombasa55 erste Erfolge zu verzeichnen sind, existiert immer noch eine Vielzahl von Schwierigkeiten in Verbindung mit der Strafverfolgung. So herrschen in Kenia aus europäischer Perspektive vielerorts widrige Strafverfolgungsbedingungen sowie überstiegene Gefängniskapazitäten. Deshalb begleitet die finanzielle Unterstützung der dortigen Strafverfolgung auch Kritik. Dessen ungeachtet, wäre eine strafrechtliche Abhandlung durch die Region Somalias selbst mittel- bzw. langfristig wünschenswert56. Zu denken wäre insoweit an die international noch nicht als Staaten anerkannten, aber faktisch autonomen Gebiete Puntland und Somaliland, die erste staatliche Strukturen aufweisen. c) Ablauf und Form der somalischen Piraterie Der Ablauf und die Form der Piraterie vor Somalia sind so modern wie nie zu vor. Einige Experten57 unterscheiden verschiedene Formen der Piraterie und unterteilen diese in Klassen. Die modernste und dadurch gleichzeitig gefährlichste Form findet sich vermehrt vor der Küste Somalias. Die folgenden Darstellungen orientieren sich an dem sog. „Worst-Case-Szenario“ einer hochmodernen und organisierten Form der Kriminalität zu See. Selbstverständlich bildet diese Form der Piraterie nicht die Norm. Dennoch ist eine Entwicklung zu erkennen, hin vom Gelegenheitspiraten zum Mitglied einer Piratenbande mit hochmodernen Mitteln und organisierter Struktur58.
54 Tagesschau Ausland [Online]. 10 März 2003. URL: http://www.tagesschau.de/ausland/piraten262.html [14. September 2010]. 55 Süddeutsche Zeitung, Piraten Urteil in Somalia (München: Süddeutsche Zeitung, 8.9.2010), S. 7. 56 NZZ am Sonntag, Somalische Piraten kommen nach Europa (Zürich: NZZ am Sonntag, 2.5.2010). 57 Vgl die Aufteilung in 3 Grundtypen durch das International Chamber of Shipping (ICS); ferner David Anderson et al., „Somalia and the Pirates“, ESF Working Paper No. 33 (2009), S. 11f. 58 Siehe dazu Dirk Sedlacek et al., Maritimer Terror und Piraterie auf hoher See (Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW Verlag für neue Wissenschaft GmbH, 2006), passim; Michael Stehr, Piraterie und Terror auf See (Berlin: Verlag Dr. Köster, 2004), passim; Martin N. Murphy, Contemporary Piracy and Maritime Terrorism (London: Adelphi Paper 388, 2007), passim.
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Führt man sich den schlimmsten Fall vor Augen, zeigt sich die Piraterie in Form organisierter Banden mit Personalstruktur, die von den Kenntnissen ehemaliger Fischer über das heimische Meeresterritorial profitieren, wie beispielsweise Klima, Wetter und geographische Gegebenheiten. Im Bürgerkrieg von Warlords ausgebildete Kämpfer bringen gelernten Umgang mit Waffen und Gewalt in die Banden. Heute ist sogar technisches „Know-How“ unter den Piraten vorhanden59. Dazu trug ungewollt die Regierung Abdullaahi Yuusufs des selbsternannten neuen Staates Puntland in den späten 1990er Jahren einen Teil bei, als sie eine Sicherheitsfirma mit der Übernahme einer Küstenwache betraute, um die Häfen zu sichern, fremde Fischer zu vertreiben oder zumindest Lizenzabgaben einzuholen. Bevor diese Sicherheitsfirma mit ihrer Mission nach kurzer Zeit scheiterte, bildete diese noch lokale Kräfte im Umgang mit modernen Kommunikationsgeräten und Techniken zur Überwachung der heimischen Gewässer aus60. Es ist naheliegend, wo einige dieser so ausgebildeten Techniker nach der Pleite der Sicherheitsfirma eine neue Tätigkeit gefunden haben61. Die organisierte Piraterie besteht teilweise aus kriminellen Netzwerken, die nach Zahlen des International Maritime Bureaus (IMB) aus dem Jahr 2009 eine Stärke von bis zu 1.500 Personen aufweisen62 und mittlerweile alle Schichten der Bevölkerung umfassen63. Versicherungen gehen davon aus, dass unter anderem Verbindungen zu korrupten Hafenbehörden, betrügerischen Schiffsagenten und Hehlern bestehen. Im Wesentlichen operieren die Piraten aus den somalischen Küstenorten wie Haradhere, Hoboyo, Eyl und Boosaaso und anderen kleinen Häfen entlang der Ostküste Somalias64. Säbel und Kanonen wurden gegen moderne Waffen getauscht. Die Waffenversorgung der Piraten ist üppig, verschuldet durch die unbewachten Grenzen des seit dem Sturz des Barre-Regimes ohnmächtigen somalischen Staates. Die Bewaffnung der Piraten umfasst Sturmgewehre, leichte Maschinengewehre und Panzerfäuste im Überfluss. Darüber hinaus besitzen Piraten nicht selten Raketenwerfer und Granaten65. Die Angriffe selbst werden von Schnellbooten ausgeführt, sogenannten Skiffs. Diese sind klein und können extrem hohe Geschwindigkeiten erreichen, wodurch überraschende Angriffe möglich sind. Die Angriffe werden von den Piraten zunächst aber sorgfältig geplant; Routenkenntnisse, die Nutzung moderner Kommunikationsgeräte sowie Informa-
59 Wikipedia Piraterie vor der Küste Somalias [Online]. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Piraterie_vor_der_K%C3%BCste_Somalias [14. September 2010]. 60 David Anderson et al., Somalia and the Pirates, S. 7. 61 Roger Middleton, Piracy in Somalia: Threatening global trade, feeding local wars, ed. Royal Institute of International Affairs (London: Chatham House, 2008), S. 5. 62 Hanns Seidel Stiftung Mediathek [Online]. 4 März 2010. URL: http://www.hss.de/fileadmin/media/downloads/Berichte/100211-12_TB_Piraterie.pdf [10. Oktober 2010], S. 3. 63 Ibid. 64 Ibid. 65 Michael A Lange et al., Maritime Sicherheit – Das Horn von Afrika zwischen Piraterie und Entwicklung, S. 1.
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tionsnetzwerke machen eine professionelle Seeverkehrsüberwachung möglich. Die Strategie ist es, sich zunächst eines größeren Schiffes zu bemächtigen, um durch dieses sogenannte Mutterschiff die Reichweite der kleinen Schnellboote zu erweitern66. Auf diese Weise haben sich die geographischen Grenzen der Piraterie weit ausgedehnt – von der Küste Somalias bis über 1.000 sm hinaus auf die hohe See67. Das Beuteschema der Piraten ist längst nicht mehr begrenzt auf die Fracht der Schiffe. Vielmehr werden Schiffe heute gekapert mit dem Ziel, sich ihrer Ladung und Besatzung zu bemächtigen, um damit Lösegeld zu erpressen. Die Zahl der Schiffsentführungen ist zwischen den Jahren 2007 und 2009 unheilvoll gestiegen. Während im Jahr 2007 weltweit 292 Besatzungsmitglieder von Piraten als Geiseln genommenen worden waren, waren es im Jahr 2009 mit 889 entführten Schiffsleuten mehr als das Dreifache68. Schätzungen über die Summe des weltweit gezahlten Lösegeldes reichen von etwa 20 Mio. bis über 150 Mio US$69 im Jahr 2008. Der geschätzte Gewinn einer erfolgreichen Schiffsentführung liegt für den einzelnen Pirat bei 10.000-15.000 US$70. Unabhängig von der tatsächlichen Summe ist dies im Vergleich zum jährlichen Durchschnittseinkommen in Somalia von unter 300 US$ eine sehr attraktive Einkommensquelle. Angriffsziele der Piraten sind nicht länger nur Containerschiffe und andere Massengutfrachter, sondern seit 2010 auch vermehrt Öl- und Gastanker71. Diese leicht brennbare, explosive und giftige Fracht hat für Piraten mehrere Reize. Zum einen bestehen, sobald ein Schiff erst erfolgreich gekapert ist, nur sehr beschränkte militärische Eingriffsmöglichkeiten. Die von der Ladung ausgehenden Gefahren bergen ein meist nicht tragbares Risiko militärischer Aktionen für die Gesundheit der Besatzung, für den Erhalt des Schiffes und für die Umwelt. Zum zweiten drohen die eben genannten Gefahren nicht nur durch militärische Befreiungsversuche, sondern hauptsächlich durch den Umgang der Piraten selbst mit der Fracht und dem Schiff. Das darauf basierende Schadensrisiko ist für die Reeder sehr hoch, sodass diese eher gewillt sind, Lösegeldforderungen nachzugeben.
66 Ibid, S. 7. 67 Witherby Seamanship International Ltd., Best Management Practice, Piracy off the Coast of Somalia and Arabian Sea Area (Glasgow, Bell & Bain Ltd., 2010), 3; ICC Commercial Crime Services, MB Piracy Reporting Centre [Online]. URL: http://www.iccccs.org/index.php?option=com_fabrik&view=visualization&controller=visualization.googlemap&Itemid=219 [12. Oktober 2010]. 68 Vgl. ICC International Maritime Bureau, Annual Report: Piracy and armed robbery against ships. 69 Die Tageszeitung Politik [Online]. 22. April 2009. URL: http://www.taz.de/1/politik/afrika/artikel/1/die-schatulle-der-piraten/ [12. Oktober 2010]. 70 Anja Shortland, Piraterie in Somalia: Ein gutes Geschäft für Viele, ed. Klaus F. Zimmermann et al. (Berlin: DIW Wochenbericht, 29/2010), S. 3. 71 Michael A Lange et al., Maritime Sicherheit – Das Horn von Afrika zwischen Piraterie und Entwicklung, S. 3.
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Zum dritten liegt der Reiz schlicht im großen Wert dieser Fracht, aufgrund dessen Piraten auch höhere Lösegelder fordern können. Neben der Summe der Lösegelder scheinen sich auch die Zeiträume, in denen sich die entführten Schiffe in den Händen der Piraten befinden, zu verlängern. Sie betragen nicht mehr nur Wochen, sondern erstrecken sich nicht selten auf viele Monate72. Der im November 2008 Piraten zum Opfer gefallene Chemikalientanker MV Stolt Strength beispielsweise kam erst sechs Monate nach seiner Entführung aus der Geiselhaft der Piraten frei. Ähnlich lange dauerte Ende des Jahres 2008 die Geiselnahme des ukrainischen Schiffs „Faina“ mit seiner brisanten Ladung von 30 russischen Panzern des Typs T-7273. Ca. 20.000 Schiffe passieren die Küstengewässer Somalias und den Golf von Aden jährlich. Dem gegenüber steht die Anzahl von 200 Schiffen, die in diesen Gewässern jährlich einem Piratenangriff zum Opfer fallen. Es fällt somit jedes einhundertste Schiff einer Piratenattacke zum Opfer. Der volkswirtschaftliche Schaden, der direkt oder indirekt der Piraterie zuzuschreiben ist, lässt sich nur schwerlich ausmachen. Nach dennoch getroffenen Schätzungen der internationalen Handelskammer beträgt dieser Schaden weltweit über 13 Mrd. Euro74. Dies macht de facto zwar gerade einmal zwischen 0,01 und 0,2% des Umsatzes aus, den der Weltseehandel jährlich erwirtschaftet75, so dass die Beeinflussung des Handels durch Piraterie im Anblick dieses Verhältnisses gering erscheint76. Es gilt dabei jedoch zweierlei zu bedenken. Zum einen werden nach Schätzungen der Versicherungen nur etwa 50 % der Schäden überhaupt gemeldet77. Diese hohe Dunkelziffer ist dem Umstand geschuldet, dass die Anzeige eines Piratenangriffs für den Reeder mit einem hohen Kostenrisiko verbunden ist78. Gefürchtet werden namentlich steigende Versicherungsprämien. Dazu können Kosten für längere Liegezeiten im Hafen während behördlicher Untersuchungen, eventuelle Vertragsstrafen für Verzögerung der Lieferzeit sowie zusätzliche Tageskosten für Schiff und Besatzung kommen79. Zum anderen sind im Hinblick auf die Bedrohung durch Piraterie die steigende Entwicklung sowie das zunehmende Organisations- und Gewaltpotenzial zu beachten. In Anbetracht der oben gemachten Darstellungen zur Piraterie im 21. Jahrhundert könnte nicht deutlicher zu konstatieren
72 Münchner Rückversicherungs-Gesellschaft, Piraterie – Die Bedrohung auf See erreicht eine neue Dimension (München: Münchner Rück, 2009), S. 9. 73 Ibid., S. 8. 74 Michael Stehr, „Piraterie 2007: globale Entwicklungen und Reaktionen“, Zeitschrift für maritime Fragen (März 2008), S. 3 ff. 75 David Anderson et al., Somalia and the Pirates, S. 10. 76 Hanns Seidel Stiftung Mediathek [Online]. 4. März 2010. URL: http://www.hss.de/fileadmin/media/downloads/Berichte/100211-12_TB_Piraterie.pdf [10. Oktober 2010], S. 1. 77 Siehe Münchner Rückversicherungs-Gesellschaft, Piraterie – Die Bedrohung auf See erreicht eine neue Dimension, S. 37. 78 Hanns Seidel Stiftung Mediathek [Online]. 4. März 2010. URL: http://www.hss.de/fileadmin/media/downloads/Berichte/100211-12_TB_Piraterie.pdf [10 Oktober 2010], S. 1. 79 Ibid.
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sein, dass Piraterie auch heute wieder eine ernste Bedrohung darstellt. Die moderne Lösegeldpiraterie, wie sie in Somalia heute vorkommt, verdient nicht länger die ideologische Verherrlichung und Verharmlosung, die ihr in unserer Gesellschaft oft noch zukommt. Es gilt das Bewusstsein der Öffentlichkeit in dieser Sache zu schärfen. 2. Wirtschaftlicher Stellenwert des Seehandels heute Auch der Welthandel hat sich gewandelt. Wirtschaft besteht zunehmend aus internationaler Arbeitsteilung80. Viele Komponenten werden in verschiedenen Ländern gefertigt. Das hat den Bedarf an globalem Austausch in den letzten Jahren überproportional gesteigert. Internationale Produktions- und Lieferketten sind entstanden. Handel steht heute somit im Zeichen der Globalisierung. Während früher nur wenig, dafür sehr kostspielige Ladung auf dem Schiffsweg gehandelt wurde, hat sich der Handelsaustausch auf dem Seeweg im Zuge der Globalisierung erheblich ausgeweitet. Heute wird der Großteil des Welthandels zumindest streckenweise auf dem Wasserwege absolviert, wobei die Palette der gehandelten Güter nahezu allumfassend ist. Die deutsche Wirtschaft wickelt beinah 95% des Transportmittel bedürftigen interkontinentalen Handelsaustausches über den Seeweg ab81. Jenes Wachstum ist vor allem dem Umstand zuzuschreiben, dass der Seehandel schneller und kostengünstiger geworden ist. Der Trend hält an. Der globale Seehandel wuchs in den letzten Jahren doppelt so stark wie das weltweite Bruttoinlandsprodukt82. Seehandel ist damit Zukunftsbranche. Wie bereits angedeutet, hat der Seehandel insbesondere auch für Deutschland einen immens hohen wirtschaftlichen Stellenwert. Über 500 Handelsschiffe fahren im internationalen Verkehr wieder unter deutscher Flagge. Deutsche Reeder verfügen über die drittgrößte Seehandelsflotte weltweit – nur übertroffen von Japan und Griechenland. Das ist ein historischer Höchststand! Die deutsche Containerflotte hält mit über 35% der weltweiten Kapazitäten unangefochten die Spitzenposition in der Welt. Deutschland ist 2010 zum Logistikstandort Nr. 1 in der Welt gewählt worden. Etwa 150.000 Schiffe laufen jährlich deutsche Häfen an. Die deutsche maritime Wirtschaft beschäftigt fast 400.000 Menschen und erzielt 83 einen Umsatz von knapp 50 Mrd. € im Jahr . Das alles sind beträchtliche Zahlen! Das besondere Ausmaß der Wichtigkeit des Seehandels für Deutschland steht im Zusammenhang mit seiner Wirtschaftsstruktur. Deutschland ist ein hoch ent-
80 Georg Koopmann und Fritz Franzmeyer, „Weltwirtschaft und internationale Arbeitsteilung“, Informationen zur politischen Bildung, Heft 280, S. 5. 81 Michael A. Lange et al., Maritime Sicherheit – Das Horn von Afrika zwischen Piraterie und Entwicklung, S. 1. 82 Flottenkommando Marine, Jahresbericht 2009 (Glücksburg: Flottenkommando, 2009), S. 10. 83 Deutsches Marine Institut Downloads [Online]. 4. Oktober 2010. URL: http://www.deutsches-marine-institut.de/downloads/vortrag_die-maritime-zukunft-in-deutschland.pdf [12. Oktober 2010].
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wickelter Industriestaat. Es ist jedoch rohstoffarm. Zur Produktion von Waren ist es daher vom gesicherten Zugang zu Rohstoffen und wichtigen Energiequellen, wie Rohöl und Erdgas, abhängig. Auch aufgrund der hohen Exportorientierung der deutschen Volkswirtschaft ist Deutschland in besonderem Maße auf einen funktionierenden Außenhandel angewiesen, der den Weg zu anderen Märkten öffnet. Das Potenzial der Globalisierung ist noch lange nicht erschöpft. Der Imund Export, der fast ausschließlich über den Seeweg abgewickelt wird, wird auch in Zukunft einen wesentlichen Wachstumsfaktor der deutschen Wirtschaft bilden. Eine der wichtigsten Verbindungen des weltweiten Seehandels ist die Verbindung zwischen den Produktionsstätten und den Rohstofflieferanten Asiens und dem europäischen Markt. Der günstigste Seeweg, der diese Märkte verknüpft, verläuft durch den Suezkanal, der das Mittelmeer und das Rote Meer verbindet und somit den Umweg von ca. 9.000 sm um die Westküste Afrikas erspart84, danach durch das Rote Meer und den Golf von Aden, von wo er sich am Horn von Afrika zielabhängig aufspaltet Richtung Golf von Oman und Persischer Golf, nach Ostasien, Richtung Australien oder nach Südafrika. Einer der ökonomisch bedeutsamsten maritimen Handelsrouten verläuft somit durch Somalische Gewässer.
III. Von der Verwundbarkeit des Reichtums – gestern und heute Im Weiteren soll nun näher beleuchtet werden, in welcher Weise sich die Störung des Handels durch Piraterie in der Vergangenheit gestaltet hat und welche Form die Bedrohung der Piraterie in der Gegenwart annimmt. 1. Auswirkung der Störung des Handels durch Piraterie a) Gestern Im Altertum bestand im Hinblick auf eine Kooperation der Handel treibenden Staaten mit den Piraten ein weit reichender kommerzieller Konsens. Die eine Seite war an der Versorgung mit bestimmten Gütern interessiert, welche die andere Seite liefern konnte, um so mittels Verkaufs oder Tausches eines Teils ihrer Beute in Handelsbeziehungen mit diesen Staaten zu treten85. Ihren Ursprung findet diese Interaktion vermutlich im Sklavenhandel. Für Sklaven bestand in den meisten Hochkulturen, nicht nur der Antike, stets eine Nachfrage, die kaum je abgedeckt werden konnte. Neben der Versklavung unterlegener Kriegsgegner war es hauptsächlich der Menschenraub durch Piraten, mit dem versucht wurde, dieser Nach-
84 Wissen-Geschichte-[Online].URL: http://www.wissen.de/wde/generator/wissen/ressorts/geschichte/epochen/Neuzeit/index,page =2457536.html [5. Oktober 2010]. 85 Hartel Pohl, Die römische Politik und die Piraterie im östlichen Mittelmeer vom 3. bis zum 1. Jh.v.Chr. (Berlin: Walter de Gruyter, 1993), S. 35.
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frage Rechnung zu tragen, und der den Piraten dazu verhalf, insbesondere in der Antike, aber auch darüber hinaus86, eine signifikante Rolle in der Wirtschaft einzunehmen87. Die so beschriebene partielle Interessenkongruenz eröffnete eine „win-win“Situation dergestalt, dass die eine Seite aus Gründen der Warenversorgung vom Seeraub profitierte und die andere ihren Nutzen aus der ihr eröffneten Möglichkeit ziehen konnte, sich im Handel zu betätigen88. Eben in einem solchen Sachverhalt wurzelt der Gedanke, den Goethe zum Ausdrucke bringen will, wenn er Mephistopheles sagen lässt: „Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen“89. Der Gewinn aus dem Handel mit Piraten oder aus den Investitionen in Piratenunternehmungen erlaubte es den Investoren wiederum, das so erwirtschaftete Kapital in legale Unternehmungen zu reinvestieren. Letztendlich haben wir es hier also mit einer Urform der Geldwäscherei zu tun. Der so gewonnene Reichtum ermöglichte zudem den Zugang zu anderem, nämlich gesellschaftlichem Kapital, namentlich zu Adelstiteln und Ämtern90. Ein solcher sozialer Statuts war von veritabler Bedeutung, da er den Profiteuren des Piratenwesens garantierte, im Gegensatz zu den mit ihnen in Handelsbeziehungen stehenden Piraten selbst, unbehelligt von staatlichen Sanktionen zu bleiben. Da Warenhandel bzw. Warenpreise und das Bestehen von Handelsmonopolen und Kartellen in einer sich beeinflussenden Beziehung zueinander stehen, kann die Einwirkung der Piraterie auf den einen Faktor nicht ohne ihre Einwirkung auf den anderen gesehen werden. Es ist der spezifischen Marktsituation zur damaligen Zeit, geprägt von Staatsmonopolen, Kartellen und Schutzzöllen, geschuldet, dass die Piraterie über den ihr ureigenen Unrechtsgehalt hinaus noch unter einem weiteren Aspekt zu betrachten ist. Für die Lieferung geraubter Güter bestand insofern ein Bedürfnis, als es sich zumeist um Waren handelte, die entweder sonst nur schwer erhältlich waren oder aber hohen Zöllen bzw. überhöhten Monopolpreisen unterlagen91. Die Betätigung der Piraten am Handel ist daher – wenngleich es sich auch um das Angebot von Diebesgut handelte – als Beeinflussung des Handels im Sinne der Schaffung von mehr Wettbewerb zu sehen. Die Marktstruktur und Preisbildung wurden mehr oder weniger wesentlich durch das Piratenwesen mitbestimmt. Die Einwirkung der Piraterie auf den Handel stellt sich in der Vergangenheit so-
86 So erwies sich im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts insbesondere der Handel mit afrikanischen Sklaven, welche die europäischen Seemächte in den Kolonien verkauften, als lukrativ, vgl. die Nachw. bei Hartmut Elsenhans und Matthias Middell, eds., Geschichte und Ökonomie der europäischen Welteroberung – Vom Zeitalter der Entdeckungen zum 1. Weltkrieg, S. 74 f. 87 Hartel Pohl, Die römische Politik und die Piraterie im östlichen Mittelmeer vom 3. bis zum 1. Jh.v.Chr., S. 57. 88 Ibid., S. 35. 89 Mephistopheles in Goethes Faust, zweiter Teil, fünfter Akt. 90 Robert Bohn, Die Piraten (München: C.H. Beck, 2003), S. 93. 91 Ibid., S. 92.
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mit als ambivalent dar. Einerseits hat Piraterie durch das Angebot der Piratenbeute auf den Märkten Kartelle und Monopole unterlaufen. Damit hat sie unfreiwillig und vollkommen unbeabsichtigt zur Überwindung von Maßnahmen handelsbeschränkender Art und zur Öffnung verkrusteter Märkte beigetragen. Sie hat durch brutale Gewalt und Kriminalität das Entstehen einer Wirtschaftsordnung begünstigt, wie sie später auf der Basis des klassischen Liberalismus92 mittels rechtlicher Instrumente als marktwirtschaftliche Ordnung Wirklichkeit wurde93. Auf der anderen Seite stellte sie jedoch stets einen erheblichen Störfaktor für den Seehandel dar und war nicht zuletzt gar geeignet, den freien Handel beinahe völlig zum Erliegen zu bringen94. b) Heute Die ökonomische Wirkweise der Schädigung durch Piraterie hat sich im Gegensatz zu gestern entscheidend verändert. Die direkten Schäden, die dem Handel durch Piraterie entstehen, sind nicht länger nur die gestohlene Fracht, bzw. bei der Lösegeldpiraterie die erpresste Beute, sowie die Schäden, die durch die Piratenangriffe am Schiff entstehen. Indirekt werden weitere Schäden verursacht. Bei einer Schiffsentführung zum Zwecke der Lösegelderpressung bleibt ein Schiff während der andauernden Lösegeldverhandlungen im Durchschnitt 3-6 Monate in der Gewalt der Piraten. Für den Schiffseigner bedeutet dies wirtschaftlichen Schaden wegen der Ausfallszeit des Schiffes. Hinzu kommen zusätzliche Kosten für Heuer und allgemeine Tageskosten des Schiffes. Allein diese können zwischen 25.000 und 30.000 US$ pro Tag ausmachen. Weiter können auch Vertragsstrafen wegen Lieferverzugs der Fracht anfallen. Nicht zuletzt bedeutet auch die Verletzung und Tötung von Seeleuten – nebst dem nicht tragbaren menschlichen Schaden – auch einen wirtschaftlichen Verlust. Zu denken ist an sich anschließende Ersatzansprüche der Seeleute, die nach Piratenentführung oft traumatisiert und berufsunfähig sind. Hier kommen Ansprüche in Betracht für den Ersatz von Behandlungskosten und psychologische Versorgung oder Ansprüche der Verbliebenen95. Auch wer nicht selbst von einem Piratenangriff Betroffener ist, wird mittelbar von den Schäden durch Piraterie getroffen. So fallen Kosten an für die Ausrüstung
92 Vgl. dazu Franz Böni, Kartellrecht in der (Finanz- und Wirtschafts-) Krise – Plädoyer für die Lösung selbst auferlegter Fesseln (Zürich: sic!, 4/2010), S. 242. 93 Nunmehr fortgeführt durch die moderne Kartellrechtsordnungen, die durch Erhalt und Förderung des Wettbewerbs einen Beitrag zur freiheitlichen Ordnung des Gemeinwesens insgesamt leisten, vgl. Martin Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung – Zum Verhältnis von Jurisprudenz und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik, ed. Forschungsgemeinschaft für Nationalökonomie (St. Gallen, 2007), S. 33. 94 So etwa die Getreidelieferungen aus Nordafrika nach Rom, s. dazu bereits oben 1. a), vgl. Pat Southern, Pompeius (Bremen: Magnus Verlag, 2006), S. 80. 95 Vgl. dazu Münchner Rückversicherungs-Gesellschaft, Piraterie – Die Bedrohung auf See erreicht eine neue Dimension, S. 8.
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der Schiffe zum Schutz der Besatzung vor Piratenangriffen, wie beispielsweise die Einrichtung eines Schutzraumes. Auch höhere Seemannslöhne in Risikogebieten sowie die steigenden Versicherungsprämien gehören zu mittelbaren Schäden der Lösegeldpiraterie. Es lässt sich zusammenfassen: Im Gegensatz zu früher erbeuten somalische Piraten oft keine Fracht, sondern erpressen Lösegeld. Im Gegensatz zu früher treten sie somit nicht als direkte Wettbewerber auf dem Markt auf. Piraterie heute schafft keine Parallelmärkte. Dennoch ruft auch die heutige Form der Schädigung durch die Erpressung von Lösegeld wirtschaftliche Bewegungen hervor. (1) Umverteilung Das erbeutete Lösegeld findet vielseitige Verwendung. Die Beute geht ganz offensichtlich nicht etwa über Verteilungsstellen, so dass davon der Haushalt eines Dorfes organisiert werden könnte, sondern an die Piraten selbst. Ein Teil des Lösegeldes könnte in sehr seltenen Fällen tatsächlich dazu gebraucht werden, den Lebensunterhalt einer Region oder eines Dorfes zu stellen. Der eher denkbare Verwendungszweck ist der Kauf von Luxusgütern, wie Autos oder Häuser. Der Großteil des erbeuteten Lösegeldes wird jedoch reinvestiert in die Aufrüstung der Ausstattung des Piratenunternehmens96. Somit gibt es durchaus profitierende Industriezweige. Es werden neue Boote, Waffen, Treibstoff und technische Geräte angeschafft, die wiederum neue Herausforderung an Sicherheitspolitik und Pirateriebekämpfung stellt. Die Zahlung des Lösegeldes krönt das Piratenunternehmen mit Erfolg und schafft so wiederum neuen Anreiz für die Piraterie. Lösegeldzahlungen bieten somit die nötige finanzielle Grundlage, die Piraterie zu einem noch erheblich bedrohlicherem Sicherheitsproblem anwachsen zu lassen. Es entsteht ein Teufelskreis der Lösegeldpiraterie. Neben dem Markt des Lösegeldes ist auch ein Markt privater Sicherheitsleistungen aus der Piraterie hervorgegangen97. Internationale Anwaltskanzleien, Versicherungen und private Sicherheitsfirmen betätigen sich als Anbieter für professionelle Verhandlungen mit Piraten, Krisenberatung, Übergabe von Lösegeld oder einfach als Hilfssheriffs auf den Schiffen, um das Bedürfnis der Reedereien nach Sicherheit zu befriedigen. Für den Wirtschaftszweig der Schiffsversicherer mag das Geschäft mit der Piraterie prima facie lukrativ erscheinen, es handelt sich dabei jedoch um eine riskante Angelegenheit. Zwar ist das Prämienaufkommen in den letzten Jahren erheblich gestiegen und die Versicherungen verlangen hohe Risikozuschläge. Aber
96 GoMoPa-Pressemitteilungen-[Online]. 30. April 2009. URL: http://www.gomopa.net/Pressemitteilungen.html?id=211 [5. Oktober 2010]. 97 Michael A. Lange et al., Maritime Sicherheit – Das Horn von Afrika zwischen Piraterie und Entwicklung, S. 4; Süddeutsche Zeitung, Private Krieger (München: Süddeutsche Zeitung, 25.5.2010), S. 1.
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die Versicherungen sind es auch, die viele Schäden der Piraterie ausgleichen müssen. Das geschätzte weltweite Prämienaufkommen im Bereich der „Protection and Indemnity“-Versicherungen, die für die Deckung der Arbeiterunfallversicherungen, also für Behandlungskosten oder Hinterbliebenenansprüche bei Verletzung oder Tötung von Besatzungsmitgliedern durch Piratenangriffe, sowie für die Deckung der Haftpflichtversicherung des Reeders bei von seinem Schiff verursachten Schäden aufkommen, liegt bei ca. 2,2 Mrd. US$ im Jahr. Der Schaden, den ein einzelner entführter Öltanker im schlimmsten Fall mit seiner Fracht anrichten kann, liegt jedoch in eben diesem Größenverhältnis. Der Schaden wäre zwar wegen der Limitierung des Ausgleichs nicht in seiner Gesamtheit von der Versicherung zu tragen, aber dennoch fügt bereits ein einziger dieser Fälle dem Versicherungszweig einen erheblichen Schaden zu. Es handelt sich insoweit also nicht etwa um einen neuen, lukrativen Geschäftszweig für Versicherungen, sondern es liegt auch in ihrem Interesse, die Piraterie einzudämmen. Bei der Auswirkung der Störung des Handels durch die moderne Lösegeldpiraterie lässt sich folglich bedingt von einem wirtschaftlichen Prozess der Umverteilung sprechen. Das Lösegeld wird in die Piraterie selbst reinvestiert oder findet auf anderem Wege auf bestimmte Märkte zurück. (2) Steigende Warenpreise Ein weiterer wirtschaftlicher Effekt, der durch die Beeinträchtigung des Handels seitens der Piraterie hervorgerufen wird, ist die Verteuerung der über diese Wege gehandelten Güter. Zum einen, weil bestimmte Güter nicht mehr in diesen Risikogebieten gewonnen werden können, zum anderen sinkt die Bereitschaft der Schiffseigner, ihre Schiffe die risikobehafteten Strecken zu den Häfen Somalias fahren zu lassen. Hauptsächlich liegt der Grund für die Preissteigerung in der Weitergabe des Schadens vom Transportunternehmer bis zum Endverbraucher. So schlagen sich die steigenden Transportkosten, verursacht durch die oben genannten mittelbar durch die Piraterie verursachten Schäden oder durch ein erzwungenes deutlich teureres und längeres Ausweichen um das Kap der Guten Hoffnung auf die Warenpreise durch. Der Transportunternehmer wälzt die höheren Transportkosten weiter auf den Eigner der transportierten Ware. Dieser gibt diese Verteuerung schließlich mit der Preissteigerung der Ware an den Endverbraucher weiter98. So befürchtet beispielsweise die Reederei Frontline eine erhebliche Steigerung der Warenpreise. Ein erzwungenes Ausweichen ihrer öltransportierenden Tanker über das Kap der Guten Hoffnung führt zu einer Steigerung der Transportkosten für Erdöl um bis zu 40%. Auch andere Reedereien sehen zumindest für
98 Michael A. Lange et al., Maritime Sicherheit – Das Horn von Afrika zwischen Piraterie und Entwicklung, S. 6.
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Tankerrouten kaum Alternativen, als den Golf von Aden zukünftig zu meiden und dafür kostspielige Umwege in Kauf zu nehmen99. In Somalia selbst sind die Preise für über den Seeweg importierte Lebensmittel, die nicht durch Hilfsprogramme finanziert werden, für die Endverbraucher bereits um 20 bis 30% gestiegen100. (3) Abschreckende Wirkung auf Berufseinsteiger Nicht zuletzt birgt die Piraterie eine wirtschaftliche Gefahr in sich, die sich zwar erst langfristig auswirkt, gleichwohl aber erwähnenswert ist. Piraterie entfaltet eine abschreckende Wirkung auf Berufseinsteiger ins Seemannsgewerbe. Befürchtungen gehen neuerdings in die Richtung, dass in den entwickelten Ländern, in denen es viele andere Berufsperspektiven gibt, sich die Menschen aufgrund der abschreckenden Wirkung der Piraterie gegen einen Berufseinstieg entscheiden. Dem Arbeitsmarkt, den der Beschäftigungszweig der Seefahrt in den entwickelten Ländern bietet, würde dadurch geschadet. Hinzu kommt, dass die Ausbildung qualifizierter Seeleute, und damit die Sicherung des seemännischen Know-hows von großer Wichtigkeit für die maritime Wirtschaft sind. Die Piraterie könnte somit auch dazu beitragen, den zunehmenden Mangel an qualifizierten Seeleuten in Zukunft noch zu vergrößern101. 2. Naturkatastrophen und Terrorismus Neben der Verwundbarkeit des volkswirtschaftlichen Reichtums unseres globalen Handels besteht heute das Potenzial für eine ganz andere Dimension der Gefährdung durch Piraterie. Namentlich ist dies die Verwundbarkeit der empfindsamen Meeresökologie durch Naturkatastrophen. Piraten griffen 2010 vermehrt Öl- und Gastanker an102. Solche leicht brennbare, explosive und giftige Fracht wird in den Händen der Piraten zu einem Gefahrengut, das in noch stärkerem Maße, als dies ohnehin der Fall ist, Katastrophenpotenzial birgt. Real wurde diese Gefahr, als es Piraten im November 2008 gelang, den saudi-arabischen Öltanker „Sirius Star“ zu entführen. Dieser Tanker besitzt die Tragfähigkeit von 318.000 Tonnen, das entspricht der Ladekapazität von zwei Millionen Barrel Rohöl. Von dem Ausmaß, das eine Katastrophe angenommen hätte, wenn diese Fracht durch irgendwie geartete Umstände ins Meer geraten wäre, legt die Ölpest am Golf vom Mexiko Anfang dieses Jahres gleichermaßen beredtes wie mahnendes Zeugnis ab.
99 Wikipedia Piraterie vor der Küste Somalias [Online]. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Piraterie_vor_der_K%C3%BCste_Somalias [14. September 2010]. 100 Ibid. 101 Vgl Münchner Rückversicherungs-Gesellschaft, Piraterie – Die Bedrohung auf See erreicht eine neue Dimension, S. 9. 102 Michael A. Lange et al., Maritime Sicherheit – Das Horn von Afrika zwischen Piraterie und Entwicklung, S. 3.
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Nur am Rande sei hier das Thema Terrorismus erwähnt. Piraterie ist streng von Terrorismus zu trennen. Piraterie ist Geiselnahme, Raub, Erpressung – kurzum Kriminalität auf dem Meer. Terrorismus dagegen zeichnet sich dadurch aus, dass der Zweck der Handlungen nicht in der Bereicherung liegt, sondern vielmehr in der Schädigung anderer Staaten und der Verbreitung einer bestimmten Ideologie103. Die Seewege bieten ein Angriffsziel und die Piraterie ein Potential für eine terroristische Bedrohung. Nicht auszumalen ist die Entwicklung einer Brücke von der eigentlichen Piraterie zum organisierten Terrorismus. Ein gleichsam maritimer 11. September in Form eines Angriffs durch einen Gastanker, der als schwimmende Bombe in einem Hafen zur Explosion gebracht wird, stellt ein veritables Horrorszenario dar. Festzuhalten ist jedoch, dass bislang keinerlei Hinweise auf eine Kooperation zwischen somalischen Piraten und Terroristen bestehen. 3. Rückgang ausländischer Fischfangflotten und Beitrag zur Globalisierung Die Piraterie in den Küstengewässern Somalias leistet neben der bedeutenden negativen Beeinträchtigung unbeabsichtigt allerdings auch etwas Positives. Zum einen ist die Aktivität ausländischer Fischfangflotten im Zuge der Piratenbedrohung zurückgegangen. Die Fischbestände im somalischen Küstengewässer sind in den letzten Jahren erstmals wieder angestiegen. Zum anderen hat die Piraterie der Weltgemeinschaft eine sicherheitspolitische Herausforderung gestellt, deren Lösung Zusammenarbeit erfordert. Darüber haben sich gemeinsame militärische Operationen und internationale Sicherheitsnetzwerke104 gebildet. Dies könnte eine positive Wirkung im Hinblick auf die Bildung einer weltweiten Staatengemeinschaft und das weitere Voranschreiten der Globalisierung haben.
IV. Begünstigendes Umfeld für Piraterie – Symmetrie der Verwundbarkeit Es lässt sich erkennen, dass die Entwicklung oder Begründung von Seeräuberei oft im Zusammenhang mit Massenarbeitslosigkeit, all umgreifendem Hunger, Perspektivenlosigkeit und nicht zuletzt auch mit fehlender rechtsstaatlicher Souveränität steht.
103 Münchner Rückversicherungs-Gesellschaft, Piraterie – Die Bedrohung auf See erreicht eine neue Dimension, S. 2. 104 So wurde für das Gewässer vor der Somalischen Küste eine Kontaktgruppe (Contact Group on Piracy off the Coast of Somalia 2009) gegründet zur Koordinierung der Aktivitäten in Ausführung der Beschlüsse des UN Sicherheitsrates. Diese ermöglicht auch eine engere Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Region, den USA, der EU und den internationalen Organisationen. Hanns Seidel Stiftung Mediathek [Online]. 4. März 2010. URL: http://www.hss.de/fileadmin/media/downloads/Berichte/100211-12_TB_Piraterie.pdf [10. Oktober 2010], S. 3.
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So entstand im Altertum ein vermehrtes Aufkommen von Piraterie im südlichen Kleinasien. Dies war begünstigt durch die mangelnde staatliche Kontrolle in jenem Gebiet. Speziell der Untergang der katharischen Macht 146 v. Chr. förderte die Ausbreitung der Piraterie im Mittelmeer. Im Mittelalter dann entfalteten insbesondere Wellen von Massenarbeitslosigkeit, vornehmlich im maritimen Handel, ein verstärktes Aufkommen seeräuberischer Aktivitäten. So findet beispielsweise die "Hohe Zeit der Piraterie zu Beginn des 18. Jahrhunderts" ihren maßgeblichen Grund in dem 1713 seinem Ende zugehenden Spanischen Erbfolgekrieg und der damit verbundenen massenhaften Entlassung von Seeleuten aus dem Kriegsdienst. Diese Abundanz an Arbeit suchenden Seeleuten führte dazu, dass viele keine Alternative hatten, als ihren Lebensunterhalt mit der Piraterie zu bestreiten105. Dies lässt sich auch auf das Beispiel der Entwicklung der modernen Piraterie Somalias übertragen. Piraterie entstand dort vermehrt nach dem Zusammenbruch der Zentralgewalt und nimmt mit der ansteigenden Armut und dem Elend der Bevölkerung weiter zu. Allerdings dürfen bei der Frage nach der Entstehung der Piraterie nicht die Gründe vernachlässigt werden, denen diese Umstände unter anderem auch geschuldet sind. Die Wurzel für die Verwundbarkeit des Reichtums durch die Piraterie sitzt nämlich in der Tat tiefer, namentlich auch im Reichtum selbst. Da die Schädigung des Handels durch die Piraterie ihrerseits erst durch den Handel selbst gefördert wird, mag man insoweit von einer inneren Symmetrie der Verwundbarkeit des Reichtums sprechen. Zu denken ist in der Vergangenheit an das Kaperwesen, welches ursprünglich selbst durch den Staat geschaffen wurde. Die eigenen Handelsinteressen sollten mittels der Beauftragung privater „Kriegsschiffe“ geschützt und gestärkt werden, indem andere Nationen geschwächt werden sollten. Das Kaperwesen nahm aber eine unheilvolle Eigendynamik an. Freibeuter waren in praxi nur äußerst schwer zu kontrollieren. Sie unterlagen nicht selten der Versuchung, den hoheitlich autorisierten Bereich des Kaperwesens zeitweilig zu verlassen und neutralen oder verbündeten Schiffen aufzulauern, mithin Piraterie im engeren Sinne nachzugehen106. Das exzessive Handeln der Kaperer – über den staatlichen Auftrag hinaus – beeinträchtigte bedeutend die Friedenssituation sowie die zwischenstaatlichen Handelsbeziehungen. Die einst im Interesse des eigenen Handels selbst beauftragten Freibeuter suchte man nun im Interesse des Handels zu beseitigen. Es kann insofern auch in diesem Fall eine Symmetrie in der Verwundbarkeit des Handels selbst erkannt werden. Auch am Beispiel der heutigen Piraterie in Somalia zeigt sich die innere Symmetrie der Verwundbarkeit des Reichtums. Lebensgrundlage und Perspektive für viele Somalier bot ehemals die somalische Fischereiindustrie. Der Einbruch dieser Lebensgrundlagen ist mitunter durch die entwickelten Länder selbst verur-
105 Hartmut Roder, ed., Piraten – Abenteuer oder Bedrohung, S. 24. 106 David Cordingly, ed., Piraten – Furcht und Schrecken auf den Weltmeeren, S. 167.
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sacht. Denn die Abwesenheit staatlicher Kontrolle der Hoheitsgewässer Somalias wurde von ausländischen Nationen genutzt, um sich an den reichen Meeresressourcen ungehindert zu bedienen. Fischereiflotten beispielsweise aus Spanien, Indien, Russland, und Korea erkannten schnell, dass ihr Handeln dank der fehlenden Staatsmacht und der einhergehenden Gesetzlosigkeit ohne rechtliche oder tatsächliche Konsequenzen blieb. Die Food and Agricultural Organisation (FAO) veröffentlichte Zahlen, nach denen im Jahr 2005 um die 700 Schleppnetzfischer ausländischer Nationen in den somalischen Gewässern unterwegs waren107. Die somalischen Fischer konnten wegen ihrer veralteten Technik und unzureichender Infrastruktur im Land nicht mit den ausländischen Fangflotten konkurrieren. Sie wurden so von ihren eigenen Fischgründen verdrängt. Die Fischbestände Somalias sanken nachweislich. In der Region Puntland beispielsweise hat sich die durchschnittliche Fangmenge pro Bootsgang in der Zeit zwischen 1995 und 2005 mehr als halbiert108. Dass die Befischung somalischer Gewässer durch ausländische Nationen ohne Genehmigung Somalias freilich illegal ist, ergibt sich z.B. aus dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ). Nach Art. 19 Abs. 2 lit i) fällt das Fischen in fremden Hoheitsgewässern unter den Tatbestand der "Verletzung des Rechts der friedlichen Durchfahrt durch das Küstenmeer". Vor diesem Hintergrund mutet es ironisch an, dass die gleiche Rechtsgrundlage, das SRÜ, unter anderem nun die völkerrechtliche Grundlage für den Kampf gegen die Piraterie bildet. Gegen die illegale Befischung schritt jedoch trotz Anfrage weder die UN, die EU, noch die Afrikanische Union, die Arabische Liga oder eine sonstige Organisation ein. Die Plünderung der somalischen Fischbestände hat zwar deutlich abgenommen, dauert aber heute noch an. Die Einnahmen, die diese Fischerei vor Somalia pro Jahr hervorbringt, werden von der FAO in einer Größenordnung von > 30.000 Mio. € vermutet. Weiter wird vermutet, dass in den Küstengewässern Somalias Giftstoffe der ausländischen Industrie entsorgt wurden109. Auch solchen Umständen ist es geschuldet, dass aus den Fischern ihrerseits Seeräuber werden, die auf kriminelle Weise ein Stück des Reichtums zurückzuholen suchen. Aus somalischer Sicht ist die vermehrte Piraterie als Reflex auf die Plünderung der Fischbestände durch illegale ausländische Fangflotten und die Versenkung von Giftmüll in somalischen Gewässern entstanden. Danach versteht sich die Piraterie als eine Art private Küstenwache in Ermanglung einer staatlichen, die die Aufgabe der Verteidigung eigener Ressourcen beziehungsweise die gerechte Lizenzeintreibung für ausländischen Fischfang verfolgt.
107 Food and Agricultural Organisation of the United Nations, Fisheries Tsunami Emergency Programme (Rom: Food and Agricultural Organisation of the United Nations, 2005). 108 Ibid. 109 Vgl. Süddeutsche Zeitung, Korsarenträume (München: Süddeutsche Zeitung, 9.5.2010).
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Billigendswerter wird die Piraterie dadurch freilich nicht. Auch dieser Aspekt in der Entwicklung der Piraterie verdient jedoch Erwähnung. Nach dieser Annahme ist der Verlust der Lebensgrundlage, die den Nährboden für die Kriminalität auf den Meeren bildet, durch die entwickelten Länder selbst mitverursacht worden. Insoweit kann auch hier von einer inneren Symmetrie der Verwundbarkeit des Reichtums gesprochen werden.
V. Bekämpfung der Piraterie 1. Auf dem Meer a) Abwehrmethoden der Schiffe selbst Schon in der frühen Neuzeit versuchte man, sich gegen das mit dem Seeverkehr verbundene Risiko eines Piratenangriffs durch praktische Methoden zu erwehren. Diese gründeten direkt oder indirekt in dem Gedanken der Vereinigung: Zum einen segelten Handelsschiffe fast ausschließlich in Konvois, häufig begleitet von Kriegsschiffen, die gegen entsprechende Vergütung Schutz insbesondere vor seeräuberischen Übergriffen bieten sollten110. Zum anderen ging mit dem Zusammenschluss der Schiffseigner die Trennung von Frachten einher. Diese wurden nunmehr auf mehrere Schiffe in verschiedenen Flotten aufgeteilt111. Nicht zuletzt sollte eine Risikominderung, dem Gewohnheitsrecht der Seefahrt entsprechend, auch dadurch herbeigeführt werden, dass jeder der betroffenen Parteien, also sowohl Frachteigentümer als auch Schiffseigner, einen Anteil an großen Verlusten trug112. Eine Methode, sich auf dem Meer gegen die Piraterie heute zu verteidigen, kann das Ergreifen von praktischen Methoden durch die Schiffe selbst sein. Die Schiffe könnten sich mit technischen Mittel, wie Feuerlöschkanonen oder Schallkanonen, ausrüsten. Das Installieren von Infrarot- und Radaraufklärmaschinen könnte helfen, Gefahren selber zu erkennen. Auch der Ausbau eines internen Informationsnetzwerkes zwischen den Handelsschiffen, um sich gegenseitig schneller vor Gefahren warnen zu können, ist eine denkbare Schutzmaßnahme, der sich die Handelsschiffahrt selbst bedienen könnte. Weiter würde das Einhalten bestimmter Verhaltensregeln bei der Durchquerung von Risikogebieten, wie dem Golf
110 Hartmut Roder, ed., Piraten – Die Herren der Sieben Meere, S. 16 111 Diesem Gedanken entsprechend lässt Shakespeare Antonio, den Kaufmann von Venedig, sagen: „Mein Kaufgut ist nicht einem Schiff vertraut“, Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, 1. Akt, 1. Szene; vgl. außerdem Alfred Doren, Italienische Wirtschaftsgeschichte Bd.1, S. 407 112 Carlo M. Cipolla und Knut Borchardt, Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 1, S. 204
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von Aden, der Verbesserung der Hilfsmöglichkeiten durch das Militär dienen.113 Bezüglich dieser Maßnahmen der Handelsschiffe selbst gilt festzustellen: Zum einen tragen viele dieser Maßnahmen eigene Gefahren. Die Durchquerung im Konvoi birgt z.B. das Risiko einer Kollision der Schiffe. Die Aufrüstung der Handelsschiffe mit technischen Abwehrmittel bringt die Eskalationsgefahr für die Besatzung mit sich. Zum anderen gilt der juristische Grundsatz: „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen.“ Die Piraterie bedroht unsere Handelswege. Es gilt diese Bedrohung nicht nur abzuwehren, sondern sie zu bekämpfen. b) Militärischer Einsatz Eine der bemerkenswertesten militärischen Operationen in der Geschichte ereignete sich als Reaktion darauf, dass es Piraten gelungen war, die Getreidezufuhr der Stadt Rom erheblich zu gefährden. Der römische Senat erließ daraufhin 67 v. Chr. die Lex Gabina de bello piratico, die die Bekämpfung der Piraten unter Einsetzung eines mit umfassenden Machtbefugnissen ausgestatteten Feldherren zum Inhalt hatte. Dieser erhielt das Kommando über das gesamte Mittelmeergebiet mit 20 Legionen und hunderten Schiffen. Der römische Prokonsul Pompeius erhielt die Befehlsgewalt des Feldherrn114. In einer sehr kostspieligen dreimonatigen Kampagne mit anschließenden Sicherungsmaßnahmen durch die Einrichtung eines patrouillierenden Flottenverbandes gelang es ihm, die Piraterie zu beseitigen. Mit der militärischen Operation einher gingen auch Maßnahmen an Land. Pompeius schaffte Anreize für die Piraten fern des seeräuberischen Gewerbes. So gab er ihnen Land, um sich als Bauern an der Wirtschaft des Reiches zu beteiligen. Schon im Altertum hatte man also die Erkenntnis gewonnen, dass das Problem der Piraterie langfristig allein durch militärische Maßnahmen und Gewalt nicht zu lösen ist. Die Piraterie am Horn von Afrika wird gegenwärtig mit mehreren militärischen Operationen und insgesamt über 40 Kriegsschiffen aus mehr als 20 verschiedenen Nationen bekämpft115. Vor Ort sind unter anderem Kriegsschiffe der deutschen Bundeswehr. Die Beteiligung findet ihre rechtliche Grundlage im Beschluss des Bundestags auf der Grundlage von Art. 24 GG in Verbindung mit den UN und EU-Mandaten. Ist die Marine nicht gerade zur Erfüllung einer mandatsgedeckten Operation zugegen, darf sie hingegen nur zur Nothilfe eines bereits überfallenen Schiffes im Rahmen
113 Hardthöhenkurier Marine [Online]. URL: http://www.hardthoehenkurier.de/index.php?option=com_content&view=article&id=231:piraterie-am-horn-von-afrika--strategien-zumschutz-der-seeschiffahrt&catid=95:beitraege&Itemid=111(05.10.10) [5. Oktober 2010]; Stern -Wissen [Online]. 19. November 2008. URL: http://www.stern.de/wissen/technik/seeraeuberschutz-mit-hoellenlaerm-gegen-piraten-646261.html [5. Oktober 2010]. 114 Hartmut Roder, ed., Piraten – Die Herren der Sieben Meere, S. 108. 115 Siehe oben supra II. S. 1.
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des Völkerrechts einschreiten. Die Kompetenz zur Bekämpfung der Piraterie, die nichts anderes ist als Kriminalität auf See, liegt grundsätzlich bei der Bundespolizei, die allerdings mangels erforderlicher Kapazitäten kaum fähig ist, diese Aufgabe zu bewältigen.
Deutsches Seeraumüberwachungsflugzeug „Orion“ klärt Piratenboot auf, 18. Juni 2010 (PIZ Marine)
Seit Dezember 2008 verfügt die Marine im Rahmen der EU Operation NAVFOR „Atalanta“ erstmals über ein umfassendes Mandat des deutschen Bundestags zur Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika. Der Hauptauftrag der Operation ist es, die Schiffe des WORLD FOOD PROGRAM, die Hilfsgütertransporte zu den Menschen nach Somalia bringen sollen, zu schützen. Fast gleichrangig ist auch der Schutz der Hilfsgütertransporte der African Union Mission in Somalia, kurz AMISOM. Über dieses primäre Ziel hinaus soll auch der allgemeine Seeverkehr geschützt und die Piraterie eingedämmt werden. Das deutsche Mandat basiert auf Resolutionen des UN Sicherheitsrates116 sowie einem EU Mandat. Es
116 Die Resolution 1846 (2008) des UN-Sicherheitsrates gestattet die Bekämpfung der Seeräuberei vor der Küste Somalias auch innerhalb der Hoheitsgewässer Somalias mit allen erforderlichen Mitteln, die im Rahmen des Völkerrechts liegen. Das Völkerrecht, in diesem Fall das SRÜ, enthält in seinen Art. 105 und 111 weitreichende Befugnisse. Die Resolution 1851 (2008) ermächtigt darüber hinaus sogar zu Maßnahmen auf somalischem Festland.
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mandatiert die Streitkräfte für Geleit, Prävention, Abwehr von Angriffen und die Strafverfolgung von Piraten auf hoher See und in somalischen Hoheitsgewässern. Das europäische Militär ist demnach, gestützt durch ein robustes Mandat, handlungsfähig im Kampf gegen die Piraten. Seit Beginn der Geleite durch das europäische Militär haben alle WORLD FOOD PROGRAM-Transporte mit insgesamt 340.000 Tonnen Hilfsgütern den Hafen sicher erreicht. Damit hat die Operation EU NAVFOR „Atalanta“ bisher ihren Primärauftrag erfolgreich erfüllt. Neben dem Rückgang der schieren Anzahl der Piratenangriffe im Golf von Aden spricht auch die Verminderung der erfolgreichen Entführungen im Verhältnis zu den versuchten Entführungen für einen Erfolg der militärischen Operationen. Neben dieser eigenständigen Operation der EU beteiligen sich noch viele andere Akteure am militärischen Kampf gegen die Piraterie vor Somalia. 2009 begann die Operation OCEAN SHIELD der NATO, an der Deutschland nicht teilnimmt. Die USA führen eigenständige „Task Forces 150 und 151“, an der sich Länder wie die Türkei beteiligen. Auch sogenannte „Freelancer“ patrouillieren im Golf von Aden. Das sind Seestreitkräfte aus Ländern wie z.B. China, Indien, Russland, Südkorea und Pakistan, die nicht im Rahmen eines Bündnisses handeln. 2. Strukturmaßnahmen in Somalia Die Marinepatrouillen dämmen die Piraterie zwar ein. Es zeichnet sich jedoch mit der Zeit immer deutlicher der Trend ab, dass das Aufkommen der Seeräuberei durch militärische Kraft allein nicht beseitigt werden kann, sondern geographisch verlagert wird auf Gewässer, die aufgrund ihrer Größe einfach nicht kontrollierbar sind. Fehlende regionale Entwicklung in Somalia fördert die Bereitschaft unter jungen Somaliern, das Geschäft der Piraterie zu wagen. Damit ist der stetige Zulauf neuer Rekruten gesichert. Die Europäische Gemeinschaft trägt Verantwortung gegenüber ihrer Handelsschiffahrt. Allein für die deutsche Handelsschiffahrt gilt, dass jedes vierte Schiff, welches einem Piratenangriff zum Opfer fällt, unter deutscher Flagge fährt, im Besitz eines deutschen Reeders steht oder deutsche Transportfracht zum Im- und Export trägt117. Wir müssen begreifen, dass die Sicherheitsinteressen der Handelsschiffahrt mit den dafür geeigneten Mitteln zu schützen und durchzusetzen sind. Mit der Globalisierung des Handels geht das Zusammenwachsen einer Staatengemeinschaft einher – einst geformt zur und beschränkt auf die Verfolgung gemeinsamer Handelsinteressen. Mit der voranschreitenden Globalisierung wächst allerdings auch die Verantwortung dieser Gemeinschaft über die dem Handel gegenüber geschuldete hinaus. Neben der militärischen Bekämpfung und der strafrechtlichen Verfolgung müssen daher Maßnahmen ergriffen werden, die auch die Wurzel des Problems bekämpfen. Letzten Endes ist Piraterie auch ein Armutsproblem. Ihre Bekämpfung kommt schließlich dem Handel selbst zu Gute.
117 Michael A. Lange et al., Maritime Sicherheit – Das Horn von Afrika zwischen Piraterie und Entwicklung, S. 11.
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Es ist daher Aufgabe der Weltgemeinschaft, neben der militärischen Bekämpfung zu helfen, in Somalia Perspektive zu schaffen. Es müssen vermehrt Maßnahmen auf somalischem Festland ergriffen werden. Es gilt die notwendigen Ressourcen bereit zu stellen, so dass die Bevölkerung einer Arbeit nachgehen kann, von der sie sich ernähren kann, die schließlich Ausblick auf ein besseres, sprich menschenwürdigeres Leben gibt. Die unzureichend durch eigenstaatliche Maßnahmen geschützten Gewässer und ihre Ressourcen müssen mittels des Völkerrechts durch die Gemeinschaft vor Plünderung und Ausnutzung seitens ausländischer Schiffe geschützt, mithin Verstöße verfolgt und sanktioniert werden. Dass der Ausbildung der Bevölkerung eine essentielle Bedeutung zukommt, ist selbstverständlich. Grundlage für eine länger währende Lösung am Horn von Afrika muss nicht zuletzt die Schaffung neuer staatlicher Stabilität in Somalia sein. Die Bereiterklärung der Staatengemeinschaft, dies mit entgeltlichen Beiträgen im dreistelligen Millionenbereich zu unterstützen, gibt es bereits118. Ein erster Schritt zur Unterstützung könnte die internationale Anerkennung der Regierung der faktisch unabhängigen Teilregion Somaliland sein, mit der der Tatsache Rechnung getragen würde, dass insoweit ein selbst motivierter Prozess zur Staatenbildung in Gang gesetzt worden ist. Die Bedrohung der Piraterie ist immer noch real. Damit die Bereitschaft zur Piraterie und auch die Wut, Aggression und Gewalt in diesem Konflikt nicht zunehmen119, sollten bei ihrer Bekämpfung Militär- und Strukturmaßnahmen Hand in Hand gehen. Nur so kann der Ausbreitung der Piraterie langfristig Einhalt geboten werden.
V. Schlusswort Die See ist, auf den Punkt gebracht, Träger der Globalisierung und der Weltwirtschaft. Sie ist Hüterin wichtiger Ressourcen und wirtschaftlicher Schätze und zugleich wichtigster Transportweg. „Die Weltmeere bilden damit die hochempfindliche wirtschaftliche und soziale Infrastruktur unserer modernen Industriegesellschaft."120. Und auch in Zukunft wird sich das nicht ändern. Im Gegenteil, bis 2025 wird sich das Güterverkehrsaufkommen nach aktuellen, durch das BMVBS in Auftrag gegebenen Seeverkehrsprognosen weit mehr als verdoppeln. Der Containerumschlag soll sich bis dahin sogar vervierfachen121. Konventionelle Ressourcen werden knapper und sind, langfristig gesehen, nur zu hohen Preisen ver-
118 Ibid., 12. 119 So steigt die Feindseligkeit und das Gewaltpotential der Piraten bereits in der Straße von Malakka; vgl dazu John S. Burnett, Dangerous Waters: Modern Piracy and Terror on High Seas, (London: Plume, 2003) passim. 120 Deutsches Marine Institut Downloads [Online]. URL: http://deutsches-marine-institut.de/downloads/thesenpapier.pdf [12. Oktober 2010]. 121 Bundesministerium für Wirtschaft, Sechste Nationale Maritime Konferenz (Berlin: Bundesministerium für Wirtschaft, 2009), S. 23.
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fügbar. Auch die Entwicklung der Energie- und Rohstoffgewinnung im Meer wird daher weiter zunehmen122. Es kann nicht oft genug betont werden, dass die Prosperität der Wirtschaft in dieser Zeit von Handelsverbindungen und damit von einem leistungsfähigen und kostengünstigen Seeverkehr abhängt. Es gilt daher jegliche Konflikte im Zusammenhang mit dem Zugang zu den Ressourcen und dem Seehandelsraum zu vermeiden bzw. zu beseitigen. In Zeiten, in denen Wirtschaft durch globalen Handel geprägt ist, dessen Transportwege überwiegend über die Meere führen, ist Piraterie jedoch ein Wachstumsmarkt. Eine erste Schutzmaßnahme dagegen muss sein, das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Verwundbarkeit unseres Reichtums zu schärfen. Die Verwundbarkeit unseres Reichtums liegt in der Anfälligkeit des globalen Handels durch Störungen der freien Transportwege zur See. Unsere Volkswirtschaft, unser Wohlstand, unser Reichtum sind untrennbar verbunden mit der Sicherheit der Seewege. Insbesondere für die EU- und die EWR-Staaten, wegen ihrer geostrategischen Lage und der exportwirtschaftlichen Orientierung als Technologie-, Produktionsund Logistikstandorte, die vom weltweiten Rohstoffverkehr und Warenaustausch abhängig sind, erwächst ein elementares Interesse an einem offenen Welthandel, und damit zwangsläufig an sicherem und freiem Seeverkehr. Aus der Abhängigkeit unserer Wirtschaft folgt auch eine Verantwortung, für die Gewährleistung freier Zugänge zu den Ressourcen zu sorgen. Schließlich stellt sich die Frage, ob die Kriegsschiffe aller Herren Länder, die Seite an Seite am Horn von Afrika liegen, nicht, abgesehen von der Verfolgung wirtschaftlicher Interessen an der Sicherung der Transportwege und am Zugang zu den Ressourcen, noch eine Nebenfunktion erfüllen. In Zeiten der Emanzipation neuer Wirtschaftsmächte, wie China und Indien, werden Machtverhältnisse neu definiert. Am Horn von Afrika bietet sich die Möglichkeit, diese Ansprüche auf Mitsprache und Einfluss im Weltwirtschaftsgeschehen zu demonstrieren. Frei nach dem Motto: „Hier bin ich. Ich schicke ein Kriegsschiff, weil ich eigene Wirtschaftsinteressen habe, die ich schützen möchte – weil auch ich ein Recht auf Zugang zu den Ressourcen habe – weil ich mitmische am Wirtschaftsgeschehen.“ Auch die EU beispielsweise kann sich durch den Militäreinsatz als eigenständige einheitliche Macht präsentieren und ihre weltpolitische Handlungsfähigkeit beweisen123. Die anfangs aufgeworfene Frage ist daher dahingehend zu beantworten, dass neben den wirtschaftlichen Interessen im geographischen Bereich der Küstengewässer Somalias hier auch geopolitische Interessen verfolgt werden, und zwar die Verteidigung des eigenen Anspruchs zur Verfolgung von Wirtschaftsinteressen. Dieser Anspruch kann legitim sein, sofern die oben genannten Staaten die Interessen von Somalia im Sinne einer Staatengemeinschaft respektieren und mithelfen,
122 Ibid., S. 26. 123 Michael A. Lange et al., Maritime Sicherheit – Das Horn von Afrika zwischen Piraterie und Entwicklung, S. 11.
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Somalia politisch und wirtschaftlich langfristig eine Perspektive zu geben. Schließlich lehrt uns die Vergangenheit, dass Piraterie nicht auszurotten ist, solange Menschengruppen dauerhaft benachteiligt und lediglich ein Symptom, nicht aber die Krankheit behandelt wird. Die Worte von Mephistopheles "Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen" dürfen im 21. Jahrhundert nicht länger Geltung beanspruchen.
Marinesicherungskräfte bringen ein Piraten-Skiff auf (PIZ Marine)
SEEMACHT – EINFÜHRUNG ULRICH OTTO
Im bisherigen Verlauf dieser Tagung haben wir uns wissensreich, anschaulich und zum Teil auch detailliert mit ökonomischen, technologischen und gesellschaftlichen Aspekten maritimer Kompetenz befasst. Hieraus wurde schon deutlich, welche Bedeutung die See als Brücke und Transportweg, für Handel und Wohlstand, für Aufbruch zu neuen Horizonten und Verbreitung von Ideen und Ausdehnung von Herrschaft hat. Reichtum auf und unter den Meeren, Exploration des Meeresgrundes, Fischerei, Handel und Tourismus machen die See zu einem entscheidenden Faktor nationalen Wohlstandes – ein Volk, eine Regierung muss die Vielfalt der Möglichkeiten nur erkennen und nutzen. Die Nutzung der See ist also in nationalem Interesse, die Sicherung der See für eigene Nutzung ist eine notwendige Aufgabe und somit konstituierend für maritime Fähigkeiten. Die Qualität der maritimen Fähigkeiten nach Vielfalt, Umfang, Reichweite und Durchhaltevermögen sind kennzeichnend für eine maritime Nation oder eine Seemacht. Von Mahan und Corbett wissen wir von den einzelnen Elementen, die erforderlich sind, um „Command of the Sea“, demnach „Seapower“ auszuüben und eigene nationale Interessen auf und über See durchzusetzen. Mahan nennt sechs Voraussetzungen und betont dabei vor allem die personellen Aspekte Volk, Gesellschaft und Regierung neben geographischen und physikalischen Gegebenheiten. Dabei sind militärische Fähigkeiten von Seestreitkräften einerseits und handelspolitische Energie und Kompetenz andererseits zwei Seiten einer Medaille, die eine maritime Macht kennzeichnen. Welche Seite dominierte war in der Geschichte unterschiedlich, sie gehörten jedenfalls zusammen: „Flag follows Trade“ oder „Trade follows Flag“. Wegener verknüpft die wesentlichen Faktoren für eine Seemacht nämlich Flotte und seestrategisch-geographische Position zu einer mathematischen Gleichung: „Die Flotte wird also erst in Konjunktion mit einer seestrategischen Position zur Seemacht. Dabei bilden Flotte und Position ein Produkt.“ Ist ein Faktor Null, so ist das Produkt auch Null. Geoffrey Tell vom britischen Joint Services Command and Staff College führt weitere Faktoren aus moderner Sicht an, die eine Seemacht bestimmen, und kommt damit unserem umfassenderen Ansatz näher: Bevölkerung, Gesellschaft und Regierungshandeln, technologische Expertise, seestrategische geographische Lage, maritim orientierte Wirtschaft, Ressourcen, vor allem aber ein maritimes Denken der Menschen, die motiviert sind zur Seefahrt und dazu die Möglichkeiten der See ausloten.
SEEMACHT – EINFÜHRUNG
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Damit kehren wir zu unserer Tagung zurück, bei der wir schon eine Reihe von nicht-militärischen Aspekten abgedeckt haben, die eine maritime Macht kennzeichnen. Im Folgenden beschäftigen wir uns nun mit strategischen und militärischen Aspekten, die eine maritim orientierte Nation zur Seemacht erheben oder nicht. Wir werden uns dem Verständnis von Seemacht im Verlauf der Geschichte zuwenden und der Bedeutung, die der Drang nach Seemacht auf die Außenpolitik und Rüstung von Staaten ausgemacht hat. Diesen Aspekt werden wir von einer grundsätzlichen mehr konzeptionellen Sicht wie auch aus der Sicht einer Wirkgeschichte von Seemacht im Verlauf der internationalen Beziehungen betrachten. Als Anmerkung sei hier auf die gewollte Analogie zu dem Mahanschen Standardwerk hingewiesen „The Influence of Seapower upon History“, wenn Andrew Lambert sich mit „The Importance of Naval Power in History“ befasst. Diese Analyse erfolgt aus Sicht der heutigen Entwicklungen, die auch das Phänomen Seemacht nicht mehr so relevant erscheinen lassen. Wir werden dann auch Ausführungen darüber hören, wie sich strategisch überambitioniertes Seemachtstreben angesichts rasanter technologischer Entwicklung u.a. auf den Gebieten Artillerie, Schiffsgeschwindigkeit, Panzerung mit den ökonomischen und finanziellen Kapazitäten eines Staates im Rüstungswettlauf mit einem machtpolitischen Konkurrenten vereinbaren. Ob das Kriterium Seemacht angesichts globaler Vernetzung von sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen und angesichts der stets zunehmenden Operationen im Koalitions- oder Bündnisverbund noch relevant ist und dann als Objekt sicherheitspolitischen Strebens realistisch sein kann, wird zu hinterfragen sein.
ZUR SEEMACHTSIDEOLOGIE ROLF HOBSON
Im Zeitalter des Imperialismus wurde das politische Denken in vielfältiger Weise von expansionistischen Zielsetzungen geprägt und umgeformt. Eine Biologisierung des Gesellschaftsverständnisses fand in einer sozialdarwinistischen Verklärung des ungehemmten Kapitalismus und des Krieges, in rassistischen Deutungen von Herrschaftsverhältnissen und eugenischen Reformvorschlägen ihren Ausdruck. Das außenpolitische Denken löste sich vom Modell eines selbstregulierenden Staatensystems und postulierte eine Zukunft, in der drei bis vier Weltreiche die Welt unter sich aufteilen, bevor sie gegeneinander antreten würden, um den Endkampf um „Weltmacht oder Untergang“ durchzufechten. In der Abkehr vom Freihandelsliberalismus der 1860-er und 1870-er Jahre entwarf man die Vision von geschlossenen Wirtschaftsräumen, in denen hinter hohen Zollmauern die Integration der nationalen Volkswirtschaft und tropischen Kolonien vollzogen werden sollte. Als Antwort auf die Absatzkrisen und Arbeitslosigkeit der 1880-er Jahre gedacht, sollte laut neu-merkantilistischer Theorie die Eroberung eines überseeischen Imperiums vorangetrieben werden, um Siedlungsgebiete für überflüssige Arbeitskraft zu erschließen (damit sie dem Vaterland nicht verlorenging), um Absatzmärkte und Rohstoffquellen zu sichern. Um diese Metamorphosen auf einen Nenner zu bringen, kann man von der nationalistischen Übersteigerung eines Machtstaatsdenkens sprechen, die auch wichtige Folgen für das Verständnis von nationaler Sicherheit hatte. Wegen der Abhängigkeit von überseeischen Märkten und Rohstoffen, behaupteten die Ideologen des Imperialismus, sei der wirtschaftliche Lebensraum des modernen Staates nur dadurch auf sichere Grundlage zu stellen, dass er seinen Teil der Weltwirtschaft mit Macht herausschneide und mit militärischen Mitteln gegen andere globale Wirtschaftsblöcke schütze. Diese Mittel müsste vor allem die Seemacht stellen. Darüber hinaus sah die nationale Sicherheit ganz anders aus in der Optik eines behaupteten Expansionszwangs als in der herkömmlichen Perspektive einer Verteidigung von bereits existierenden Interessen. Im ersten Fall ließen sich allerlei globale „Seeinteressen“ als schutzbedürftig identifizieren. Angeblich könnten sie nur durch eigene Machtmittel verteidigt werden, und die Betonung des Ausgeliefertseins und der Isolation des wirtschaftlichen Lebensraums ließ das Bedürfnis steigern bis zur Vorstellung einer illusionären absoluten Sicherheit. Im tradierten Verständnis von nationaler Sicherheit innerhalb eines europäischen Staatensystems, das vom Gleichgewichtsstreben reguliert wurde, gab es aber keine absolute Sicherheit, nur eine relative, die eine Verteidigung im Wechselspiel mit anderen Mächten gewährleistete. Die Seemachtsideologie der 1890-er Jahre ist ein Beispiel für das neue Denken innerhalb eines imperialistischen Paradigmas. Sie ist maßgeblich dafür ver-
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antwortlich gewesen, dass die Rüstungsanstrengungen zahlreicher Staaten für zwei Jahrzehnte in den Bau von Schlachtflotten kanalisiert wurden. Die Rüstungswettläufe, die durch diesen „Navalismus“ oder „Marinismus“ ausgelöst wurden, lassen sich nur unzureichend erfassen mit den Kategorien der Politikwissenschaft und Friedensforschung als Aktions-Reaktionsspirale oder als eine Konkurrenz um das immer knapper werdende Gut Sicherheit. Vielmehr scheinen die Flottenprogramme endogen vorangetrieben worden zu sein, sie waren zugleich Ausdruck einer nationalistischen Machtprojektion und spiegelten Abstiegsängste wieder, die ihre eigenen Bedrohungsszenarien schufen. Zunächst ist die Seemachtsideologie gegenüber dem seestrategischen Denken abzugrenzen, das vor, während und nach dem Marinismus betrieben wurde. Nicht jede Überlegung zu „imperial defence“ ist gleich Seemachtsideologie.1 Die Royal Navy und die französische Marine haben strategische Theorien entworfen, sowohl für die Verteidigung ihres überseeischen Besitzes und ihrer Handelswege als auch für die offensive Schädigung der exponierten Interessen des Gegners. Ihren militärischen Realitätsgehalt kann man daran messen, ob sie sich der Grenzen ihrer Handlungsräume bewusst waren, die durch die Interessen der anderen Handelsund Seemächte gezogen waren. Diese Grenzen fanden im Seekriegsrecht ihren Ausdruck, das als ein Abbild der relativen Sicherheit, die das Staatensystem gewährleistete, gedeutet werden kann.2 Die Rechte der neutralen Seemächte setzten den strategischen Optionen sowohl des stärksten Kriegführenden als auch seines schwächeren Gegners Grenzen. Die Marine, die diese Grenzen verletzte, stand in Gefahr, einen noch größeren Widerstand zu provozieren, und damit den Krieg zu verlieren. Die Seemachtsideologie beschäftigte sich nicht mit der Verteidigung vorhandener Interessen innerhalb eines überkommenen Staatensystems, sondern nahm ihren Ausgangspunkt im Postulat, dass die Zukunft von Staat und Wirtschaft nur innerhalb eines expandierenden Weltreiches gewährleistet werden könnte. Sie ist insofern keine militärische Theorie, sondern eine neue politische Sicht auf die Seemacht. Seemacht wird als Unterpfand der Expansion verstanden. Alfred Thayer Mahan war der Meinung, dass die Kriegsflotte, der Seehandel und die Kolonien in einer Dreieckbeziehung standen und einander gegenseitig bedingten.3 Von daher stammt die zentrale Vorstellung der Seemachtsideologie, dass eine Schlachtflotte mit den Seeinteressen wachsen – dass sie eine Größe „gemäß“ diesen Interessen – erreichen müsse. Wie man jedoch exakt die angemessene Stärke einer Schlachtflotte an der Größe der eigenen Seeinteressen bestimmen sollte, lässt sich aber nicht ermitteln. An diesem Punkt scheidet sich die Seemachtsideologie vom herkömmlichen seestrategischen Denken, wonach die Kriegsflotte sich an der Größe der Kriegsflotte des vermeintlichen Gegners zu messen hat. Im Marinismus hat sich die neue 1 2 3
Rolf Hobson, Maritimer Imperialismus: Seemachtideologie, Seestrategisches Denken und der Tirpitzplan, 1875-1914, Beiträge zur Militärgeschichte Bd. 61, München 2004, S. 85-164. Vgl. die Beiträge in Rolf Hobson and Tom Kristiansen, Navies in Northern Waters, 17212000, Naval Policy and History, London 2004. Hobson, Maritimer Imperialismus, S. 165-90.
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Vorstellung durchgesetzt, weil sie für die Agitation besonders gut geeignet war: Je größer die weltwirtschaftliche Verflechtung, je größer der Bedarf nach Seemacht; das erscheint logisch, bedeutet in der Praxis nur mehr Schlachtschiffe bauen zu müssen, gibt aber nicht an, wie viele man braucht, um sicher zu sein. Auch das seestrategische Denken wurde von der Seemachtsideologie beeinflusst, was veranschaulicht, dass Seestrategie keine unpolitische Handwerksanleitung war, sondern auch im Licht eines weltpolitischen Strebens neu gedeutet werden konnte. Besonders anschaulich ist die Umformung im Denken von Tirpitz zu finden, bei dem die Begriffe „die politische“ und „die militärische“ Bedeutung von Seemacht nebeneinander stehen. Was heißt politische Bedeutung von Seemacht? Genau formuliert das Tirpitz nicht, eine mächtige Schlachtflotte scheint aber eine abschreckende Kraft auszustrahlen, die Angriffe auf die wachsenden Seeinteressen verhindern und den eigenen Forderungen auf ein größeres Stück vom Weltkuchen Nachdruck verleihen soll. Ohne Seemacht bliebe die deutsche Wirtschaft wie ein „Weichtier ohne Schale“, schrieb er. „Auf eine gesunde Grundlage können die „… [See-]Interessen indessen nur gestellt werden durch Macht, und zwar Seemacht.“ Die Flotte sei nur eine Funktion derselben.4 Die Seemachtsideologie wird erst in den 1890-er Jahren wirksam. Sie fängt mit Mahan an und nicht mit den Theoretikern der „imperial defence“ in Großbritannien oder mit dem kolonialen Ehrgeiz der französischen „Jeune école“. Obwohl der Einfluss von Mahan auf alle Marinen groß gewesen ist, muss man ihn eher allgemein-politisch deuten als eine neue Variante der nationalistischen Machtbesessenheit, die sich der bürgerlichen Öffentlichkeit vieler Länder seit den 1880-er Jahren bemächtigte. Die Forderungen nach überseeischen Kolonien wurden ergänzt, und teilweise verdrängt, durch die Forderung nach Schlachtflotten. Der militärische Nutzen war zweitrangig. Das norwegische Beispiel ist hier besonders aufschlussreich: Warum setzte eine Agitation für vier Großkampfschiffe in den frühen 1890-er Jahren ein; warum wurden sie vom Storting bewilligt, wenn der einzige wahrscheinliche Gegner um diese Zeit der schwedische Unionspartner war, eine große Landmacht, mit der man eine tausend Kilometer lange Grenze teilte? Die Antwort schien damals einleuchtend: Weil ein moderner Staat eine Schlachtflotte braucht.5 Insofern ist die Seemachtsideologie zugleich Antriebskraft und Produkt des Rüstungsnationalismus gewesen. Es liegt nahe, einige der bekannten Rüstungswettläufe zur See eher als Ausdruck breiterer nationaler Antagonismen zu deuten, als einer immer intensiveren Suche nach einer schwindenden Sicherheit. Das amerikanisch-japanische Wettrüsten vor 1914 führte die beiden Länder an den Rand eines Krieges. Hier standen keine existentiellen Interessen auf dem Spiel, eher stießen unvereinbare Zielvorstellungen über die künftige Gestaltung des pazifischen Raums aufeinander. Die britische Empörung über die wachsende deutsche Flotte entstammte zweifellos der Wahrnehmung einer empfindlichen Bedrohung 4 5
Volker R. Berghahn und Wilhelm Deist (Hrsg.), Rüstung im Zeichen der Wilhelminischen Weltpolitik: Grundlegende Dokumente 1890-1914, Düsseldorf 1988, S. 103f. Rolf Hobson und Tom Kristiansen, Total krig, nøytralitet og politisk splittelse 1905-1940, Norsk Forsvarshistorie, Vol. 3, Bergen 2001.
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in der Nordsee, aber bestimmt auch einer Empörung über den Nebenbuhler, der England schon in der Exportwirtschaft und der Koloniepolitik in die Quere gekommen war. In der englischen Flottenagitation und ihrer Beschwörung der deutschen Gefahr klangen, wie Jan Rüger gezeigt hat, sozialdarwinistische und neumerkantilistische Argumente mit. Abstiegsängste und Abneigung gegen die Erfolge der deutschen Exportindustrie wurden genährt von der Furcht, dass die englische Rasse den Willen zur Behauptung ihres kulturellen und ökonomischen Lebensraums – der See – verloren hatte.6 Die Vorstellung vom deutsch-britischen Flottenwettlauf als dem paradigmatischen Rüstungswettlauf der Moderne kann modifiziert werden. Die AktionsReaktionsspirale und die Sorge um eine schwindende nationale Sicherheit kamen bestimmt in der Rüstungsagitation der beiden Öffentlichkeiten zum Vorschein, während die Marineleitungen etwas anders dachten, als den Wettlauf nur durch forcierte Rüstungen zu gewinnen. Laut Tirpitz würde eine Zweidrittelflotte, also eine unterlegene Schlachtflotte, die Abschreckungsgrundlage bilden, auf der Deutschland als Weltmacht gesichert wäre.7 Die britische Admiralität spürte aber die von Tirpitz behauptete politische Bedeutung der deutschen Seemacht nicht und schwächte ihre militärische Bedeutung durch die Einführung von neuen Technologien und Strategien ab. Die Forschungen von John Sumida und Nicholas Lambert zeigen, dass die Admiralität die deutsche Schlachtflotte durch die Strategien der Fernblockade und „sea denial“ gestützt auf die neuen Plattformen der Torpedowaffe zu neutralisieren plante.8
Von Mahan zur Geopolitik Kaum ein anderer militärpolitischer Publizist hat seine Zeit so beeinflusst wie Alfred Thayer Mahan. Historische Deutungen, seestrategische Einsichten und politische Programmatik lassen sich in seinen Schriften nicht entflechten; sie dienten aber einem offensichtlichen Ziel, nämlich die USA auf ihre kommende weltpolitische Rolle vorzubereiten. In einer Zeit, die sehr offen war für die Zukunftsprojektionen historischer Gesetzmäßigkeiten, hat er gezeigt, dass Seemacht das britische Weltreich geschaffen hatte. Dadurch wollte er seine Landsleute anspornen, aus ihrer kontinentalen Selbstgenügsamkeit herauszutreten und an der kommenden Aufteilung Asiens teilzunehmen. Vor allem wollte er den Zusammenschluss der weißen Mächte vorantreiben, um der gelben Gefahr entgegenzu6
7
8
Jan Rüger, The Great Naval Game: Britain and Germany in the Age of Empire, Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare, Vol. 26, Cambridge: Cambridge University Press 2007. Grundsätzlich zum Tirpitz-Plan, Volker R. Berghahn, Der Tirpitz-Plan; Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Geschichtliche Studien zu Politik und Gesellschaft, Düsseldorf 1971; Michael Epkenhans, Die Wilhelminische Flottenrüstung, 1908-1914: Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration, Beiträge zur Militärgeschichte, München 1991. Nicholas A. Lambert, Sir John Fisher's Naval Revolution, Studies in Maritime History, Columbia, South Carolina 1999; Jon Tetsuro Sumida, In Defence of Naval Supremacy: Finance, Technology and British Naval Policy, 1889-1914, Boston, London 1989.
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treten; vielleicht ließe sich dadurch das Ausströmen der asiatischen Barbarei in die Welt für ein Jahrhundert eindämmen. Leider haben zu viele weiße Mächte seine Botschaft vernommen und gegeneinander gerüstet. Mahan hatte an sich nichts gegen internationale Spannungen oder Kriege; als überzeugter christlicher Sozialdarwinist fand er sie gut für die Ertüchtigung der Rasse, außerdem hatten sie den Vorteil, dass sie die inneren Barbaren, die Sozialisten, von der Macht fernhielten. Gegen Ende seines Lebens empfand er aber die deutsche Herausforderung Englands als Problem und redete einem angloamerikanischen Zusammenschluss zur Regulierung der Weltpolitik das Wort. Einige wichtige seestrategische Einsichten gibt es auch im umfangreichen Werk Mahans, sie sind aber gut verborgen, wenig systematisch ausgearbeitet und hatten einen viel kleineren Einfluss auf Marinen und Öffentlichkeiten als seine weltweiten Bestseller über die historische Bedeutung der Seemacht und seine expansionistische Programmatik, die in unzähligen Zeitschriftartikeln verbreitet wurde.9 Mahans unmittelbare politische Wirkung entfaltete sich im weltweiten Marinismus vor und nach der Jahrhundertwende. Sein politikwissenschaftlicher Einfluss hat aber länger gedauert, wenn man ihn zu den Gründungsvätern der Geopolitik zählt. Auch in dieser Disziplin lässt sich schwer sagen, wo die wissenschaftliche Erkenntnis gelehrter Geographen aufhört, und wo die Legitimation expansionistischer Politik anfängt. Die Politiknähe vieler Disziplinen wird in der Wissenschaftsgeschichte der letzten Jahrzehnte thematisiert – nicht zuletzt in Bezug auf die NS-Zeit – und es scheint zu einfach, die Geopolitik nur als pseudowissenschaftliche Verbrämung einer Expansionsideologie abzutun. Sie war, wie z.B. die Geschichte es auch war, eine Wissenschaft im Dienst der Politik. Die vorzügliche Studie der Schweizer Historiker Raffestin, Lopreno und Pasteur, „Géopolitique et histoire“, weist nach, wie unterschiedliche nationale Schulen der Geopolitik entstanden sind.10 Darin wird auch deutlich, wie Mahan die Aufmerksamkeit der Geographen auf den Faktor der Ozeane gelenkt hat. Mahans Machtgeschichte der Meere hat offenbar Friedrich Ratzel veranlasst, „Das Meer als Quelle der Völkergröße“ zu untersuchen. Diese Arbeit stammte aus seiner „Politische[n] Geographie“ aus dem Jahr 1897, worin Ratzel die wirtschaftliche Bedeutung der machtgestützten Seeräume herausgearbeitet hatte. Fortan zählte auch das Meer zum Lebensraum eines Volkes: Der Handel gehe mit der Flagge; Seemacht schütze die Kaufleute und erweitere ihren Handlungsspielraum. Der schwedische Geograf Rudolf Kjellén hat diese Abhängigkeit in der biologischen Analogie zwischen einem Staat und der Ernährungsgrundlage einer Tierpopulation begründet. Der führende deutsche Marine-Historiker und -Theoretiker vor dem Ersten Weltkrieg, Freiherr Kurt von Maltzahn, hat in seinen Vorlesungen an der Marineakademie und auch vor einem breiteren Gelehrtenkreis seine strate9
Jon Tetsuro Sumida, Inventing Grand Strategy and Teaching Command: The Classic Works of Alfred Thayer Mahan Reconsidered ,Washington, D.C. 1997. 10 Claude Raffestin, Dario Lopreno, and Yvan Pasteur, Géopolitique et Histoire, Lausanne 1995.
ZUR SEEMACHTSIDEOLOGIE
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gischen Überlegungen an Ratzels Verständnis der seegestützten Wirtschaft angelehnt. Mit diesem Ausgangspunkt nimmt es kein Wunder, dass sich im deutschen Seeoffizierkorps bis 1945 eine besonders starke ideologische Kontinuität nachweisen lässt.11 Sowohl die Kritiker von Tirpitz, wie etwa Wolfgang Wegener, als auch Tirpitz Erben, allen voran Erich Raeder, haben an einigen Grundannahmen der Seemachtideologie der Jahrhundertwende festgehalten: Die bloße Existenz des britischen Weltreichs bedrohe die Lebensgrundlage Deutschlands; nur durch Niederkämpfung der britischen Seemacht könne der Weg freigemacht werden zu einem deutschen Kolonialreich. Eine Zeit lang liefen diese Zielsetzungen parallel zur Außenpolitik Hitlers, und der Marine wurde in den Jahren 1938-1940, als England als das Haupthindernis auf dem Weg zur Weltmacht auftrat, viel versprochen. Bekanntlich liefen aber des Führers Lebensraumvorstellungen in eine andere Richtung, und der Ostkrieg des Dritten Reiches hatte wenig gemeinsam mit den Zielsetzungen der Seemachtsideologie. Auch das wissenschaftliche Nachleben der Ideologie der Seemacht ist vor allem mit der deutschen Geopolitik und dem Kreis um Karl Haushofer verbunden. Allerdings entstanden in der Zwischenkriegszeit, wie schon erwähnt, eigenständige, nationale Varianten der Geopolitik in Spanien und Italien. In allen diesen Schulen wurde die Seemacht als Instrument der jeweiligen nationalen Expansionspolitik verstanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Konjunkturen schlecht für die alte Seemachtideologie. Vor allem wurde die Bedeutung überseeischer Kolonien für das wirtschaftliche Gedeihen der Industrieländer heruntergespielt; mit der Dekolonisierung der 60-er Jahre wurde sie sogar geleugnet. Unter dem Schutzschirm der US Navy und der Flotten ihrer NATO-Alliierten konnten alle kapitalistischen Länder ihre Exportwirtschaft entfalten. Mit dem Aufkommen neuliberalistischer Theorien seit den 1970-er Jahren schien die Vorstellung von geschlossenen Wirtschaftsräumen endgültig diskreditiert. Eine Wiederbelebung der Seemachtideologie ist allerdings nicht ganz auszuschließen. Seit den 1990-er Jahren hat die Geopolitik, besonders in Frankreich im Umkreis der Zeitschrift „Hérodote“, eine Renaissance erfahren. Neue, aufsteigende Seemächte wie China und Indien zeigen ein großes Interesse an den Klassikern der Seekriegslehre, und die Idee einer Regionalisierung der Weltmeere wird scheinbar erwogen. 11 Gerhard Schreiber, Thesen zur ideologischen Kontinuität in den machtpolitischen Zielsetzungen der deutschen Marineführung 1897 bis 1945 – Rückblick und Bilanz, in: Deutsche Marinen im Wandel: Vom Symbol nationaler Einheit zum Instrument internationaler Sicherheit, hg. von Werner Rahn, Beiträge zur Militärgeschichte, München 2005, S. 427-50.
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Die Angriffe von Terroristen und Piraten auf die Schiffahrt in jüngster Zeit haben einmal mehr schlaglichtartig die Verwundbarkeit westlicher Gesellschaften und Regierungen aufgezeigt. Angetrieben von nationalistischen, rassischen oder wirtschaftlichen Motiven haben Regierungen und Fanatiker wie auch kriminelle Banden begonnen, die westliche Welt mithilfe asymmetrischer und nicht offen erklärter Kriege zu bedrohen. Wie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts reagiert der Westen darauf, indem er zum Schutz seiner Interessen auf seine Seestreitkräfte zurückgreift. Nur Kriegsschiffe sind in der Lage, strategisch wichtige Lebensadern zu schützen und zugleich abzuschrecken sowie, falls notwendig, Piraten und Terroristen auf den Ozeanen und entlang der Küsten instabiler Länder wie Somalia zu bekämpfen. Viele Staaten haben daher inzwischen begonnen, ihre Marine zu reorganisieren und neue Kriegsschiffe in Auftrag zu geben. Damit knüpfen sie an eine alte maritime Tradition der Verteidigung politischer und wirtschaftlicher Interessen an.
Von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges In dem Jahrhundert vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden Marinen weithin sowohl als das wichtigste Mittel wie auch als das bedeutendste Symbol staatlicher Macht betrachtet. Das große Vorbild, das viele Staaten nachzuahmen versuchten, war Großbritannien mit seiner Royal Navy. Diese hatten die Welt und die Meere beherrscht, ohne von Rivalen ernsthaft herausgefordert zu werden. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatten technischer Fortschritt und gesellschaftlicher Wandel einen zunehmend größeren Einfluss auf die Innen- wie auch die Außenund Wirtschaftspolitik vieler europäischer Staaten, der USA sowie Japans. In gleicher Weise änderte sich die Haltung gegenüber Seemacht und Marinepolitik. So schien Seemacht aus globaler Perspektive betrachtet nunmehr bedeutsamer zu sein als jemals zuvor. Verantwortlich dafür war die Abhängigkeit hochindustrialisierter Länder vom freien und unablässigen Verkehr von Waren, Rohstoffen und Menschen. Nur so waren sie in der Lage, die Macht und den Wohlstand ihrer jeweiligen Staaten zu sichern. Vor diesem Hintergrund erwiesen sich die Schriften des amerikanischen Marineoffiziers Alfred T. Mahan als besonders einflussreich. Zutiefst davon überzeugt, dass internationale Politik sich im Grunde um nichts anderes drehte als den Kampf darum, wer was wann bekommt, hatte Mahan behauptet, dass Seestreitkräfte in der Geschichte stets ein entscheidendes Machtinstrument gewesen seien. Darüber hinaus hatte der Übergang vom Segel- zum Dampfschiff ebenfalls einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung von Marinen. Stählerne Kriegs-
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schiffe ersetzten nun die Segelschiffe, und die Erfindung des Schiffspropellers, des Torpedos und von Sprenggranaten revolutionierten nicht nur die Seekriegführung, sondern konfrontierten diese zugleich auch mit neuen Herausforderungen. In den 1880er Jahren behaupteten einige Seekriegstheoretiker, dass moderne Technologien auch schwächeren Seemächten erlauben würden, stärkere Gegner erfolgreich zu bekämpfen. Seemanöver stellten den Nutzen einer Kreuzerkriegsstrategie jedoch bald in Frage, und Mahan und seine Anhänger waren überzeugt, dass eine klassische Seeschlacht das einzige Mittel war, die Seeherrschaft zu erlangen oder zu verteidigen. Der Erfolg dabei war abhängig von dem Vorhandensein einer starken Schlachtflotte. Aus Mahans Sicht war der Handelskrieg keine Alternative, da weder Kreuzer noch Torpedoboote jemals in der Lage sein würden, die Seeherrschaft zu erringen oder die ozeanischen Verbindungen des Gegners entscheidend zu bedrohen. Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass die Ausbildung in Marinen immer professioneller wurde. Marineschulen und Marineakademien wurden in Dartmouth (Großbritannien), Annapolis (USA) und in Kiel errichtet. Ihre Aufgabe war die Ausbildung von Offizieren in Seemannschaft, Seestrategie und Schießkunst. Gleichzeitig begannen Admiralstäbe oder Marineministerien langfristige Flottenbaupläne und detaillierte Kriegspläne gegen mögliche Gegner zu entwickeln. Moderne und leistungsfähige Werften und Rüstungsbetriebe waren dabei von entscheidender Bedeutung. Ohne Rüstungsunternehmen wie Armstrong und Vickers in Großbritannien, Krupp und Blohm + Voss in Deutschland, SchneiderCreusot in Frankreich, Carnegie und Midvale in den USA sowie Wittkowitz und Skoda in Österreich-Ungarn hätte es keine Schlachtschiffe und keine Schlachtkreuzer, keine U-Boote und keine Panzerplatten zum Schutz der Schiffe, keine Funkentelegrafie zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Kriegsschiffen und keine Turbinen oder Dieselmotoren zur Erhöhung der Geschwindigkeit gegeben. Innerhalb eines Jahrzehnts bauten viele Staaten systematisch Schlachtflotten auf. Das Rückgrat dieser Flotten waren Schlachtschiffe. Trotz vieler Zweifel über deren Verwendung im Zeitalter des modernen Seekrieges, hatte sie der technologische Wandel erneut zu einer schlagkräftigen Waffe gemacht. Neue, von Krupp in Deutschland entwickelte Panzerplatten gaben Schlachtschiffen besseren Schutz über und unter Wasser; Schnellfeuergeschütze mit mittlerem Kaliber verteidigten sie gegen angreifende Torpedoboote, und neue Kessel und Dampfturbinen erhöhten ihre Geschwindigkeit. Obwohl der Russisch-Japanische Krieg von 1904-05 mit seiner klassischen Seeschlacht zwischen zwei Flotten, die auf weit größere Distanzen ausgetragen wurde als jemals zuvor, diese sehr vereinfachte Sicht von der Bedeutung von Seemacht wie auch von einer Entscheidungsschlacht unterstützte, teilten nicht alle Marinetheoretiker Mahans Auffassung. In Großbritannien beispielsweise betonte Julian Corbett, der zu den wichtigsten Beratern der Admiralität gehörte, dass eine Strategie, die dem Gegner die Nutzung der Seewege verwehrte, ebenfalls ein Mittel sein könnte, die britische Seeherrschaft zu verteidigen. In Deutschland schließlich hatten die Admirale Curt von Maltzahn und Karl Galster ebenfalls Zweifel an
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der Anwendbarkeit von Mahans Gedanken für die Kaiserliche Marine. In Großbritannien scheiterte schließlich sogar selbst der äußerst durchsetzungsfähige Admiral Sir John Fisher bei dem Versuch, die Royal Navy durch Einführung einer völlig neuen Form von Seestrategie mit all ihren Konsequenzen für den Kriegsschiffbau zu revolutionieren. In Berlin wies das Reichsmarineamt aus Sorge vor den unabsehbaren Auswirkungen für das eigene Flottenbauprogramm jede Kritik brüsk zurück. Eines der Ergebnisse dieser vielfältigen Versuche, Seemacht zu werden oder die eigene Macht zur See zu vergrößern, war ein allgemeines Wettrüsten zwischen den Seemächten. Obwohl das deutsch-englische Flottenwettrüsten vor dem Ersten Weltkrieg wahrscheinlich das bekannteste Beispiel ist, da es den Verlauf der Weltgeschichte verändern sollte, rüsteten auch Österreich-Ungarn und Italien, die Türkei und Griechenland sowie selbst Brasilien und Argentinien zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeneinander. Während die deutsche politische Führung hoffte, dass der Aufbau einer Flotte, die aus 61 Großkampfschiffen, 40 Kleinen Kreuzern, 144 Torpedobooten und 72 U-Booten bestand, nicht nur Großbritannien dazu zwingen würde, jedwede politische oder ökonomische Neigung aufzugeben, Deutschland anzugreifen, sondern seinem Rivalen auch jenes Maß an Seegeltung zuzugestehen, das für eine erfolgreiche, weitreichende Ziele verfolgende Politik in Übersee notwendig erschien, ging es den anderen Mächten darum, ihre Interessen in der Adria, im östlichen Mittelmeer oder im Südatlantik durch Aufbau eigener Flotten zu verteidigen. Auf der globalen Ebene fanden sich Großbritannien und Deutschland schließlich in zwei miteinander konkurrierenden Bündnissystemen wieder, bis an die Zähne bewaffnet und nur auf den Funken wartend, der das Pulverfass zur Explosion bringen würde. In der Adria beobachteten sich ÖsterreichUngarn und Italien, die ihre Rivalität nur mühsam verbergen konnten, mit wachsendem Misstrauen, und im östlichen Mittelmeer war der Ausbruch eines Krieges zwischen Griechenland und der Türkei über die Zukunft einiger kleiner Inseln 1913/14 nur eine Frage der Zeit. In all diesen Fällen spielte Seemacht eine bedeutende Rolle bei der Verteidigung eigener Ansprüche oder der Verwirklichung weitreichender Ziele.
Der Seekrieg während des Ersten Weltkrieges Als der Krieg ausbrach, gingen alle davon aus, dass es, ähnlich wie bei den großen Schlachten zwischen den miteinander kämpfenden Armeen, auch zu einer entscheidenden Auseinandersetzung auf See zwischen Großbritannien und in Deutschland kommen würde. Umso erstaunlicher war es daher, dass diese Seeschlacht erst im Mai 1916 stattfand, und diese sich dabei als keineswegs entscheidend erweisen sollte. Der Bau von „HMS Dreadnought“ in Großbritannien hatte schließlich einen Wandel der Seestrategie zur Folge gehabt. Anstatt eine bis dahin übliche enge Blockade zu errichten und damit eine Schlacht unter ungünstigen Bedingungen in Reichweite der Kanonen der Festung Helgoland zu riskieren, hatte die Admiralität entschieden, eine Fernblockade zwischen der schottischen und der norwegischen
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Küste zu verhängen. Letztendlich erreichte diese Strategie, dem Gegner die Benutzung der Seewege zu verweigern, das gleiche Ziel: die Aufrechterhaltung der britischen Seeherrschaft und das Abschneiden Deutschlands von den wichtigsten überseeischen Handelsverbindungen. Die Kaiserliche Marine, die im Winter 1913/14 allmählich erkannt hatte, dass Großbritannien diese Strategie verfolgen würde und die sich über das Risiko, die ganze Schlachtflotte in einem einzigen Gefecht zu verlieren, voll im Klaren war, verfügte über keinen brauchbaren Plan, die Grand Fleet zur Annahme eines Gefechts in der Deutschen Bucht zu zwingen. Anfängliche Hoffnungen, die britische Überlegenheit durch eine Kleinkriegstrategie zu verringern, erwiesen sich alsbald als vergeblich. Im Gegenteil, am 28. August 1914 überraschten überlegene britische Seestreitkräfte deutsche Einheiten, die die Deutsche Bucht bewachten und schickten drei Kleine Kreuzer und ein Torpedoboot auf den Meeresgrund. Versuche der Hochseeflotte, dafür Vergeltung durch Angriffe auf die britische Ostküste im November und Dezember 1914 zu üben und dabei, falls möglich, unterlegene britische Streitkräfte zu überraschen und zu versenken, schlugen ebenfalls fehl. Am 24. Januar 1915 überraschten britische Einheiten Schlachtkreuzer der Hochseeflotte auf der Doggerbank. Im Verlauf des sich daran anschließenden Gefechts sank der Panzerkreuzer „SMS Blücher“. Das Ergebnis dieses neuen Misserfolgs war nicht nur, dass der Chef der Hochseeflotte von seinem Posten abgelöst wurde, sondern auch der Übergang zu einer noch vorsichtigeren Strategie im Kampf gegen die Grand Fleet. Mehr als ein Jahr lang blieb die Hochseeflotte in der Defensive. Erst ein weiterer Wechsel im Kommando der Hochseeflotte im Januar 1916 und der Versuch zu beweisen, dass die Kaiserliche Marine gewillt war, zu Deutschlands Sieg im Weltkrieg auch etwas beizutragen, hatte schließlich die Seeschlacht im Skagerrak zur Folge. Am 31. Mai 1916 hatte die Hochseeflotte ihre Stützpunkte zu einem Vorstoß gegen die britische Küste verlassen. Daraus entwickelte sich mehr oder weniger zufällig eine geradezu klassische Seeschlacht. Obwohl die britischen Verluste hinsichtlich Menschen und Material höher waren als die des Gegners, war die Schlacht im Skagerrak, die Kaiser Wilhelm II. in Anlehnung an den englischen Seesieg bei Cap Finisterre am 1. Juni 1794 zunächst die „Glorreiche Schlacht vom 1. Juni“ nennen wollte, kein deutscher Sieg. In strategischer Hinsicht hatte sich durch die Schlacht nichts geändert. Die Hochseeflotte verhielt sich daher weiterhin defensiv und vermied sorgfältig jede Schlacht, an deren Ende ihre totale Vernichtung stehen konnte. Der Anfang Oktober 1918 entwickelte Plan für einen Vorstoß an die britische Küste hatte keinerlei strategische Ziele. Bei diesem Vorstoß handelte es sich um nichts anderes als eine Fahrt in den Tod, die die Ehre der deutschen Marineoffiziere retten sollte. Kriegsmüde Matrosen meuterten nun jedoch und stürzten die bestehende Ordnung innerhalb einer Woche. Obwohl die Nordsee und schließlich auch der Atlantische Ozean die Hauptoperationsgebiete der U-Boote waren, waren andere Seegebiete nicht weniger bedeutsam. In der Ostsee kämpfte die Kaiserliche Marine gegen die russische Baltische Flotte. Durch die geschickte Verseuchung der östlichen Teile der Ostsee und unterstützt von englischen U-Booten gelang es dieser trotz zahlenmäßiger
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Unterlegenheit, der Kaiserlichen Marine wie auch der deutschen Handelsschiffahrt zwischen Schweden und den Ostseehäfen von Kriegsbeginn an schwere Verluste zuzufügen. Die deutsche Eroberung Polens und von Teilen der russischen Ostseeküste verbesserte die Lage nur unwesentlich. Erst im September 1917, nach Ausbruch der Revolution in Russland, eroberte die Kaiserliche Marine schließlich den Rigaischen Meerbusen und die russischen Ostseeinseln im Verlauf ihrer ersten amphibischen Operation. Pläne für eine ähnliche Operation gegen den russischen Kriegshafen in Kronstadt im Herbst 1918, die die Bekämpfung der Bolschewiki zum Ziel hatten, mussten schließlich angesichts fehlender Unterstützung durch die Armee aufgegeben werden. In der Adria bekämpften sich die k.u.k.-Marine und die italienische Marine seit Mai 1915. Bis zum Ende des Krieges gab es jedoch keinen wirklichen Sieger. Von einigen kleineren Gefechten abgesehen, erreichten beide Seiten irgendwie ihre Ziele – den Schutz der eigenen Küsten vor einer Invasion. Italien und seine Alliierten waren jedoch letztlich erfolgreicher; indem sie die österreichischungarische Marine daran hinderten, die Blockade der Straße von Otranto zu durchbrechen, verteidigten sie ihre Seeherrschaft im Mittelmeer genauso erfolgreich wie sie es in der Nordsee getan hatten. Im östlichen Mittelmeer und im Schwarzen Meer war die Lage ähnlich. Obwohl zwei deutsche Kriegsschiffe, der Schlachtkreuzer „SMS Goeben“ und der Kleine Kreuzer „SMS Breslau“, ihren britischen Verfolgern durch eine abenteuerliche Flucht in türkische Gewässer entkommen und unter türkisches Oberkommando gestellt worden waren, waren sie nicht stark genug, die britische und die russische Überlegenheit im Mittelmeer bzw. im Schwarzen Meer ernsthaft zu gefährden. Diesen wiederum gelang es dadurch, die türkischen Verbindungslinien wirksam zu unterbrechen. Im Jahre 1915 halfen beide deutsche Einheiten jedoch dabei, die türkischen Verteidigungslinien zu verstärken gegen alliierte Versuche, an den Dardanellen durchzubrechen. Auf eine vergebliche Beschießung durch alliierte Schiffe folgte eine amphibische Operation, die sich schließlich jedoch als ein Desaster für Großbritannien und seine Verbündeten erwies. Die einzige ernsthafte Bedrohung englischer Überlegenheit auf See stellte das U-Boot dar. Nachdem sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass eine Hochseestrategie nach Mahanschem Vorbild – d.h. der Versuch, die Seeherrschaft zu erlangen und diese auszuüben – nicht den erhofften Erfolg bringen würde, ging die deutsche Marineführung seit dem Herbst 1914 allmählich dazu über, eine völlig andere Strategie zu verfolgen: Seekrieg mithilfe von U-Booten. U-Boote waren bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden worden und seit Anfang des Jahrhunderts hatten alle Marine im Verlauf eines langsamen, von Versuch-undIrrtum geprägten Prozesses, in dessen Verlauf es zahlreiche Unfälle und Rückschläge gegeben hatte, ihre eigenen U-Boottypen entwickelt. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges verfügte Großbritannien über die größte U-Bootflotte (72 UBoote), gefolgt vom Deutschen Reich mit nur 28 U-Booten. Der Erfolg des deutschen U-Boots U 9, das im September 1914 innerhalb einer Stunde drei ältere englische Panzerkreuzer versenkt hatte, war in dieser Hinsicht eine Art Wendepunkt. Alle Versuche, nun in größerem Umfang U-Bootkrieg
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zu führen, stießen jedoch auf den heftigen Widerstand der Reichsleitung, die sich über die damit verbundene Gefahr, die Vereinigten Staaten zum Eintritt in den Krieg auf der Seite der Alliierten zu provozieren, durchaus im Klaren war. Erst im Februar 1917, als ein Sieg zu Lande weiterhin nicht in Sicht war und als Hunger und Mangel an Rohstoffen die innenpolitische Lage zunehmend verschärften, entschloss sich die Reichsleitung, alles auf eine Karte zu setzen, um Großbritannien auf die Knie zu zwingen. Obwohl deutsche U-Boote der alliierten Handelsschiffahrt in den ersten Monaten schwere Verluste zufügten, half die Einführung des Konvoisystems auf Seiten der Alliierten bald, die Lage zu verbessern. Darüber hinaus erwiesen sich alsbald auch neue Formen der U-Bootbekämpfung und eine weiträumige Minenoffensive, die die Wege der U-Boote wirksam blockierte, als sehr erfolgreich im Kampf gegen deutsche U-Boote. Deren Verluste nahmen ständig zu; von 335 U-Booten gingen 178 mit ihren Besatzungen von 4474 Mann verloren. Kreuzer spielten im Krieg zur See kaum eine Rolle. Der Mangel an Stützpunkten und Kohlestationen war einer der Gründe dafür gewesen, dass Admiral von Tirpitz immer wieder betont hatte, warum es notwendig sei, eine Schlachtflotte, nicht aber eine Kreuzerflotte zu bauen, die auf den Weltmeeren Handelskrieg führte. Daher waren die deutschen Auslandskreuzer auch dazu verdammt, früher oder später unterzugehen. Auf seinem Weg in die Heimat besiegte das deutsche Ostasiengeschwader zwar ein britisches Geschwader vor der Chilenischen Küste im November 1914, wurde selbst aber nur wenig später bei den Falkland-Inseln von überlegenen britischen Einheiten versenkt. Die übrigen deutschen Kleinen Kreuzer, zu denen u.a. die berühmte, im November 1914 schließlich versenkte „SMS Emden“ gehörte oder „SMS Dresden“, die im Atlantik und im Pazifik Handelskrieg führte, wurden bis zum Frühjahr 1915 alle zur Strecke gebracht. Das gleiche Schicksal erlitten die deutschen Hilfskreuzer, die Minen legten oder alliierte Schiffe in fernen Seegebieten angriffen.
Die Zwischenkriegszeit, 1919-1939 Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges hatten einen weitreichenden Einfluss auf die Rolle von Marinen wie auch auf die Grundlagen der Seekriegführung. Aus der Sicht der Alliierten hatte sich die Lage entscheidend verbessert. Nach der Niederlage des Deutschen Reiches und der Selbstversenkung der Hochseeflotte in Scapa Flow im Juni 1919 ging von Deutschland keine Gefahr mehr aus. Britannia, so schien es jedenfalls, beherrschte erneut unangefochten die Meere mit seiner Flotte, die aus 58 Großkampfschiffen, 103 Kreuzern, 12 Flugzeugträgern, 456 Zerstörern und 122 U-Booten bestand. Im Vertrag von Versailles, der im Juni 1919 unterzeichnet wurde, beschränkten die Alliierten darüber hinaus nicht nur die Zahl der Schiffe, sondern legten auch fest, welche Schiffstypen Deutschland in Zukunft überhaupt nur würde besitzen dürfen. Die österreichische Marine war mit dem Untergang der Doppelmonarchie darüber hinaus vollständig von den Meeren verschwunden, und das gleiche Schicksal hatte die russische Marine, ausgelöst von den Wirren der Revolution, ereilt.
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Vor dem Hintergrund knapper Haushaltsmittel, einer kriselnden Wirtschaft und der Notwendigkeit, Geld für umfangreichere soziale Leistungen bereitzustellen, anstatt neue Schlachtschiffe zu bauen, waren Kürzungen des Verteidigungshaushalts in Großbritannien unvermeidlich. Da die britische Regierung zudem ein Flottenwettrüsten mit den USA vermeiden wollten, die 1916 erklärt hatten, dass sie eine Flotte zu bauen beabsichtigen, die keiner Macht unterlegen war, begann sie 1922 trotz heftiger Proteste der Admiralität Verhandlungen mit ihrem einstigen Verbündeten. Diese Verhandlungen hatten schließlich ein Abkommen zur Folge – das Washingtoner Flottenabkommen -, das die gesamte Tonnage von Großkampfschiffe wirksam begrenzte. In den darauf folgenden zehn Jahren sollte die Gesamttonnage der englischen und der amerikanischen Marine in Bezug auf Großkampfschiffe 525.000 t, die der japanischen Marine 315.000 t sowie die der Marinen Frankreichs und Italiens jeweils 175.000 t betragen. Die Tonnage anderer Schiffstypen wurde auf 10.000 t, das der Geschützkaliber auf 20 cm begrenzt. In der Geschichte von Seemacht war dies in der Tat ein bemerkenswertes Ereignis. Obwohl dieses Abkommen trotz der entsprechenden Forderungen Großbritanniens U-Boote nicht umfasste, da Frankreich und Italien dagegen Einspruch erhoben hatten, handelte es sich für die damalige Zeit um einen Schritt nach vorn im Hinblick auf die Begrenzung von Seerüstungen. Auf der Londoner Konferenz im Jahre 1930 wurde das Abkommen mit geringfügigen Änderungen, die die Kreuzer betrafen, erneuert. Die Ablehnung der Forderung Japans, dessen Tonnage hinsichtlich des Baus von Großkampfschiffen auf der Zweiten Londoner Konferenz im Jahre 1935 zu erhöhen, führte zu deren Scheitern. Das deutsch-englische Flottenabkommen, das im gleichen Jahr unterzeichnet wurde und das die Stärke der Kriegsmarine bei Großkampfschiffen auf 35 Prozent des Umfangs der Royal Navy begrenzte, das aber Parität hinsichtlich des Baus von U-Booten gewährte, war auf den ersten Blick ein Erfolg; auf lange Sicht hatte die Kriegsmarine allerdings nicht die Absicht, sich daran länger als notwendig zu halten. Obwohl viele Schlachtschiffe aufgrund der Bestimmungen des Washingtoner Flottenabkommens hatten verschrottet werden müssen, blieb das Schlachtschiff das Rückgrat aller Seemächte in der Zwischenkriegszeit. Viele Politiker und Admirale hatten inzwischen allerdings auch begonnen zu erkennen, dass Flugzeuge die Seekriegführung in tiefgreifender Weise beeinflussen würden. Bereits 1917 hatte ein Unterausschuss des britischen Kriegskabinetts die Zunahme von Operationen aus der Luft zu Lasten derer zu Lande oder auf See vorhergesagt. Trotz mancher Kontroversen und vieler Versuche – die US-Luftwaffe versenkte das deutsche Großkampfschiff „Ostfriesland“ im Jahre 1921 im Rahmen eines Versuchs, der die Auswirkungen von Luftangriffen auf Schlachtschiffe zum Ziel hatte -, waren vorläufig die meisten Admirale davon überzeugt, dass Schlachtschiffe, insbesondere wenn sie in ausreichender Zahl mit Luftabwehrgeschützen ausgerüstet und ihre Schiffskörper mit dickeren Panzerplatten ausgerüstet waren, sich selbst erfolgreich gegen angreifende Flugzeuge verteidigen konnten. In den 1930er Jahren war darüber hinaus sogar eine Wiederaufnahme des Baus von Schlachtschiffen auf der ganzen Welt zu verzeichnen, keineswegs aber ein allmählicher Übergang zum Bau neuer Schiffstypen. In gleicher Weise wie
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ihre Vorgänger zu Beginn des Jahrhunderts, betrachteten die Verantwortlichen des NS-Regimes wie auch die der kommunistischen Sowjetunion und des faschistischen Italien Schlachtschiffe als das bedeutendste Symbol von Macht wie auch als wirksame Waffe im Seekrieg. Unter geheimer Verletzung aller internationalen Verträge bezüglich der Begrenzung der Tonnage von Schlachtschiffen begannen sie dementsprechend eine neue Generation dieses Typs zu bauen. Diese Schlachtschiffe waren erheblich größer und schlagkräftiger als ihre Vorgänger. Die „Bismarck“ und die „Tirpitz“ hatte ein Deplacement von 45.000 t, die von der Sowjetunion geplante „Sovetkskii Soyuz“ eines von vermutlich 46.000 t, vielleicht aber auch mehr, und die italienische „Vittorio Veneto“ von 37.000 t. Die japanische „Yamato“ und „Musashi“, die 1941 vom Stapel liefen, erreichten sogar ein geradezu unglaubliches Deplacement von 72.000 t. Ihre Hauptbewaffnung mit Geschützen, deren Kaliber sich zwischen 38 cm und sogar 46 cm bewegte, war gleichermaßen mächtig. Weitaus größere Schiffe mit noch stärkeren Geschützen befanden sich in Planung oder wurden in Deutschland und Japan sogar auf Kiel gelegt, bis der Verlauf des Krieges allen Neubauten ein Ende bereitete. Im Vergleich zu diesen Schlachtschiffen hatte die „King George“–Klasse, die seit 1936 im Rahmen des neuen Flottenbauprogramms auf Kiel gelegt wurde, nur ein Deplacement von 35.000 t sowie eine Bewaffnung mit Geschützen mit einem Kaliber von nur 35 cm. Zudem waren sie langsamer, kleiner und weniger gut bewaffnet als ihre Rivalen. Die fortwährende Betonung der gegenwärtigen und zukünftigen Notwendigkeit von Schlachtschiffen schloss freilich die Entwicklung neuer Flugzeugträger in Großbritannien, in den USA und in Japan nicht aus. Diese waren schneller, größer und besser geschützt als ihre Vorgänger. Neue Flugzeuge wie der Sturzkampf- und der Torpedobomber, die Entwicklung besonderer Einsatzpläne wie auch neuer Doktrinen für den Kampf aus der Luft gegen Seeziele erhöhten deren Leistungsfähigkeit in Kriegszeiten.
Der Zweite Weltkrieg 1939-1945 In einem weitaus größeren Ausmaß als der vorangegangene globale Konflikt war der Zweite Weltkrieg ein Seekrieg. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet ein altes deutsches Linienschiff, die „Schleswig-Holstein“, am 1. September 1939 den ersten Schuss beim Überfall deutscher Truppen auf Polen abgab. Soweit die Kriegsmarine betroffen war, hatte diese ihre Lektion aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges gelernt. Da sie der Royal Navy unterlegen war, forderte sie die Besetzung Norwegens und Dänemarks. Damit wollte sie eine erneute Blockade mit all ihren Konsequenzen für die deutsche Kriegführung und die Bevölkerung verhindern sowie sich zugleich freien Zugang in den Atlantik sichern. Von Kriegsbeginn an griff die Kriegsmarine darüber hinaus die alliierte Handelsschiffahrt auf allen Meeren mit U-Booten und einer kleinen Zahl von Panzerkreuzern und Schlachtschiffen wie die „Graf Spee“, die „Scharnhorst“ und die „Gneisenau“ an. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg vermied die Seekriegsleitung angesichts der ungeheuren Überlegenheit der Royal Navy jedoch eine
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Schlacht zwischen Überwassereinheiten. Schließlich versenkte das mächtigste deutsche Kriegsschiff, das Schlachtschiff „Bismarck“, auf ihrem Weg in den Atlantik, wo sie Handelskrieg führen sollte, dann doch überraschender Weise das stärkste britische Schlachtschiff, „HMS Hood“. Innerhalb weniger Tage wurde die „Bismarck“ jedoch von ihren britischen Verfolgern gestellt und versenkt. Die „Tirpitz“, das Schwesterschiff der „Bismarck“, verließ daher kaum ihre versteckten Liegeplätze in Norwegischen Fjords; im November 1944 wurde aber auch sie von britischen Bombern versenkt. Bereits im Juli 1941 hatte die Seekriegsleitung das Dilemma, in dem sie sich hinsichtlich des Einsatzes von Überwassereinheiten befand, auch selber offen eingestanden. Die übrigen Überwassereinheiten, zu denen die „Scharnhorst“ und die „Gneisenau“ gehörten, wurden entweder in die Heimatgewässer zurückgezogen oder ebenfalls 1942/43 versenkt. Seit 1940/41 war daher erneut das U-Boot die wichtigste deutsche Waffe im Kampf gegen die Alliierten. Technische Entwicklungen und eine neue Taktik hatte die U-Boote, die nunmehr in Gruppen – auch Wolfsrudel genannt – operierten, erneut zu einer tödlichen Waffe gemacht. Diese bedrohten nun die alliierten Nachschublinien über den Atlantik einschließlich der amerikanischen und kanadischen Ostküste, aber auch im Indischen Ozean und im Mittelmeer. Obwohl deutsche U-Boote der alliierten Handelsschiffahrt schwere Verluste zufügten – 2610 Schiffe mit insgesamt 13 Millionen BRT wurden versenkt – verloren sie dennoch schließlich die wichtige Schlacht im Atlantik. Neue Technologien spielten in diesem Kampf gegen die U-Boote eine wichtige Rolle. Hochfrequenzpeilgeräte ermöglichten es Kriegsschiffen, weit entfernte U-Bootsignale auch außerhalb der Reichweite des eigenen Radars ziemlich genau einzupeilen und anschließend mit hoher Fahrt auf die U-Boote zuzulaufen. Viel bedeutsamer war jedoch die Tatsache, dass es den Briten gelang, durch den Einsatz moderner elektronischer Rechner den deutschen Marinecode zu brechen. In Bletchley Park arbeitende Kryptologen lieferten der Admiralität entschlüsselte und ausgewertete Funksprüche, die es dieser ermöglichten, Konvois rechtzeitig umzuleiten und so vor U-Bootangriffen zu schützen. Churchill behauptete später gegenüber König Georg VI., dass der Krieg nur aufgrund dieser geheimen Erkenntnisse gewonnen worden sei. Neue taktische Verfahren bei der Bekämpfung von U-Booten, die wachsende Bedeutung der Überwachung wichtiger Seerouten aus der Luft und, vor allem, das enorme industrielle Potential der USA, das es möglich machte, mehr Schiffe zu bauen, als die Deutschen versenken konnten, trugen ebenfalls dazu bei, die Schlacht im Atlantik zu gewinnen. Die deutsche U-Bootwaffe erlitt dabei furchtbare Verluste. Von 859 U-Booten gingen 757 mit nahezu 30.000 Mann verloren. In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, dass, auch wenn die Alliierten bei der Verteidigung ihrer Seeherrschaft im Atlantik und im Mittelmeer ebenfalls schwere Verluste erlitten, diese Erfolge zugleich entscheidend zu den erfolgreichen amphibischen Landeoperationen in Afrika, Italien und in der Normandie in den Jahren 1942, 1943 und 1944 sowie zur Stärkung der russischen Kriegführung beitrugen.
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Im Vergleich zum europäischen Kriegsschauplatz war der Krieg im Pazifik in einem weitaus größeren Umfang ein Seekrieg. In seinem Kampf gegen Großbritannien, die USA und die Niederlande war Japan auf seine Marine angewiesen. Mit ihren Flugzeugträgern, Schlachtschiffen und Kreuzern fügte die japanische Marine, die das Ergebnis eines bemerkenswerten Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesses war, den westlichen Alliierten zu Beginn des Krieges durch die Anwendung neuer taktischer Verfahren und skrupelloser Methoden beim Angriff schwere Verluste zu. Zugleich ebneten die japanischen Erfolge auf See den Weg für die Eroberung großer Teile Ozeaniens durch die Armee in den folgenden Monaten. Sobald sich die Alliierten jedoch von ihrem anfänglichen Schock erholt und ihre Stärke wiedergewonnen hatten, führten ihre Erfolge im Seekrieg wiederum – beginnend mit der Schlacht bei Midway im Juni 1942 und die amerikanische Strategie des „Insel-Springens“ – zur Kapitulation Japans im September 1945. Obwohl Flugzeugträger, die Konvois mit Nachschub an Soldaten und Material eskortierten, im Krieg gegen Deutschland ebenfalls eine wichtige Rolle spielten, waren diese in den weiten Räumen des Pazifik auf beiden Seiten das Rückgrat der Seestreitkräfte. Der Seekrieg im Pazifik war allerdings auch Schauplatz der letzten großen Schlachten zwischen Großkampfschiffen, die mehrmals bei den Philippinnen und in japanischen Heimatgewässern aufeinander stießen. Die Versenkung der „Musashi“ und der „Yamato“, der größten Schlachtschiffe, die jemals gebaut worden waren, durch amerikanische Flugzeuge machten deutlich, dass das Ende der Schlachtschiffära gekommen war. Während Flugzeugträger und Großkampfschiffe die japanische Marine und Armee zurückdrängten, unterbrachen amerikanische U-Boote mit ihrem Handelskrieg gegen die japanische Handelsschiffahrt erfolgreich deren Nachschublinien.
Der Kalte Krieg 1949-1989 Die ersten Atombomben, die in den letzten Tagen des Krieges gegen Japan im August 1945 abgeworfen wurden, trugen dazu bei, den Krieg im Pazifik zu beenden. Sie deuteten allerdings auch an, dass zukünftige Kriege völlig anders aussehen – sei es zu Lande oder zur See. Die Erfahrungen des Krieges und der Einfluss von Luftmacht auf die Kriegführung beendeten darüber hinaus endgültig das Zeitalter Mahanscher Schlachtflotten. Obwohl die Sowjetunion in der Stalin-Ära mit dem Gedanken spielte, eine Schlachtflotte aufzubauen, verschrotteten westliche Marine den größten Teil ihrer Schlachtschiffe bis zum Ende der 1940er Jahre. „HMS Vanguard“, die 1946 vom Stapel gelaufen war und 1960 verschrottet wurde, war nicht nur das letzte britische Schlachtschiff, sondern auch der einzige Neubau in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die französische „Jean Bart“ war das letzte französische Schlachtschiff, das eingesetzt wurde – während der Suez-Krise von 1956. Die US-Marine hatte mehrere Schlachtschiffe im aktiven Dienst – einige von ihnen, wie die „USS Wisconsin“ und die „USS Missouri“ nahmen sogar noch 1991 am Golfkrieg teil. Zu dieser Zeit feuerten sie jedoch Cruise Missiles ab, anstatt feindliche Landziele mit ihrer schweren Artillerie zu beschießen.
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Landungsschiffe der US Navy entladen in Inchon, Koreakrieg, 15.09.1950 (US Navy)
Flugzeugträger, Kreuzer, Zerstörer und U-Boote schienen besser geeignet jene Aufgaben zu erfüllen, für die sie während des Kalten Krieges vorgesehen waren: die Sowjetunion abzuschrecken, den amerikanischen Nachschub nach Europa im Falle eines Krieges zu schützen, in größeren oder kleineren Konflikten Macht zu projizieren oder wie während des Korea- und Vietnam-, des Falkland- und des Golf-Krieges amphibische Landeoperationen zu unterstützen. Obwohl nuklearangetriebene Flugzeugträger und Raketenkreuzer bald die strategischen Einsatzmöglichkeiten westlicher Marinen erweiterten, waren nuklearangetriebene U-Boote seit den frühen 1960er Jahren bald die bedeutendste Waffe im nuklearen Rüstungswettlauf zwischen Ost und West. Da sie sich, mit ballistischen Raketen bewaffnet und nur schwer zu entdecken, in den Ozeanen oder unter dem Nordpol verstecken konnten, wurden sie bald zur modernsten und gefährlichsten Waffe auf beiden Seiten. U-Boote erlaubten ihnen, den Feind abzuschrecken oder im Verlauf eines Nuklearkrieges erfolgreich einen Gegenschlag auszuführen.
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Trotz der strategischen Bedeutung von Atom-U-Booten unterhielten, ja vergrößerten beide Seiten während des Kalten Krieges auch ihre Überwasserflotten. Unter Führung von Admiral Gorschkow, dem „roten Tirpitz“, baute die Sowjetunion ihre Seestreitkräfte in den 1960er Jahren aus. Die amerikanische Überlegenheit zur See während der Kuba-Krise hatte diese zutiefst geschockt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nur eine Marine besessen, die in Küstengewässern operierte, um die Armee zu unterstützen, amphibische Landungen zu unternehmen oder die Seewege in die Ostsee, das Mittelmeer oder den Atlantik offen zu halten. Nunmehr aber forderte sie die Seeherrschaft des Westens auf allen Ozeanen offen heraus, indem sie wo immer möglich Stützpunkte erwarb, um ihre Einflusszonen im Frieden und in Krisenzeiten wie den Kriegen im Nahen Osten zu erweitern. Darüber hinaus investierte sie enorme Summen in den Aufbau von Stützpunkten wie Murmansk oder Baltiisk (Pillau).
US Navy Flugzeugträger-Kampfgruppe (US Navy)
Von diesen aus konnte sie die Nachschublinien der NATO im Atlantik oder in der Ostsee mit ihrer gewaltigen Zahl von U-Booten verschiedenster Typen und mit modernen Waffen wie Flugkörpern, die von Kreuzern oder Schnellbooten abgefeuert wurden, bedrohen. Die Sowjetunion versuchte auch, das Beispiel der USA hinsichtlich des Baus von Flugzeugträger nachzuahmen. Als Antwort darauf vergrößerten und modernisierten die USA und ihre Verbündeten ihre Marinen in den 1970er und 1980er Jahren weiter. Die neuen Flugzeugträger der „Nimitz“-Klasse und eine Reihe neuer und weit kampfkräftiger Atom-U-Boote von der „Ohio“bzw. der „Los Angeles“-Klasse – ihrerseits Teil eines neuen Flottenbauprogramms, an dessen Ende eine US-Flotte aus 600 Einheiten stehen sollte – trugen schließlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion bei. Trotz ihrer zahlenmäßigen
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Überlegenheit in vielen Schiffsklassen konnte sich die Sowjetunion ein quantitatives und qualitatives Wettrüsten mit der NATO nicht länger leisten.
Neue Herausforderungen: Der Krieg gegen den Terror Als der Kalte Krieg mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem unterwarteten Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 endete, war die Hoffnung groß, dass dies das Ende eines Jahrhunderts voller Konflikte und Wettrüsten zu Lande, in der Luft oder zur See sein würde. Das Auseinanderfallen Jugoslawiens und die steigende Zahl von Bürgerkriegen in Afrika und, nicht zu vergessen, in strategisch wichtigen Regionen wie dem Mittleren Osten machten deutlich, dass diese Hoffnung vergeblich war. Im Gegenteil, während die Angst vor einem Nuklearkrieg dazu beigetragen hatte, vor der Anwendung von Gewalt abzuschrecken, waren insbesondere die Staaten des Westens nunmehr gezwungen, über Interventionen nachzudenken, um Völkermord zwischen verfeindeten ethnischen Gruppen zu verhindern und eigene Interessen gegen Diktatoren wie Saddam Hussein oder terroristische Gruppen wie al-Qaeda zu verteidigen. Wie in allen Kriegen seit dem Zweiten Weltkrieg waren dabei Stärke in der Luft und zu Lande gleichermaßen von Bedeutung bei der schnellen Verlegung von Truppen, massiven Bombardements strategischer Ziele und der Landkriegführung selbst. Ohne Seemacht jedoch wäre es viel schwieriger und kostspieliger gewesen, erfolgreich zu sein. Seestreitkräfte sicherten Nachschublinien, projizierten Macht in Regionen, in denen Flugzeuge oder Armeen aus politischen, militärischen oder finanziellen Gründen oder auch einfach mangels fehlender Stützpunkte nicht operieren konnten. Darüber hinaus stellten Seestreitkräfte ein enormes Maß an Feuerkraft bereit – mithilfe der Flugzeuge auf ihren Flugzeugträgern und der Cruise Missiles, die alte Schlachtschiffe, moderne Raketenkreuzer und sogar U-Boote abfeuerten. Flugkörper, die von Positionen im Roten Meer, im Arabischen Meer, im Indischen Ozeanen und in der Adria abgefeuert wurden, trafen Ziele im Sudan, in Afghanistan, Irak und Serbien. In all diesen Konflikten zeigten Marinen ihre Fähigkeiten bei der Errichtung von Blockaden feindlicher Staaten, wie gegen Serbien von der Adria aus, in den 1990er Jahren oder bei Versuchen, Frieden wiederherzustellen sowie westliche Werte und Interessen in strategisch wichtigen, aber unsicheren Regionen auf der ganzen Welt zu verteidigen. Diese Fähigkeiten erscheinen noch wichtiger in einer Zeit der Globalisierung, in der 90 Prozent aller Güter über die Meere transportiert werden und in der politische und soziale Stabilität zu einem großen Teil von wirtschaftlichem Wohlstand abhängt. Das ist auch die Ursache dafür, dass zwei aufsteigende Supermächte des 21. Jahrhunderts, Indien und China, sich entschlossen haben, ihre Marine zu modernisieren und zu vergrößern. Während die indische Marine im Jahre 2020 voraussichtlich drei Flugzeugträger – derzeit der wichtigste Ausdruck von Seemacht – im Einsatz haben wird, hat China bisher noch keine Atom-U-Boote in Auftrag gegeben; es spielt aber mit dem Gedanken, Flugzeugträger zu bauen oder zu kaufen.
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Jüngste Ereignisse haben erneut unübersehbar deutlich gemacht, dass Marinestäbe und Politiker überall auf der Welt dringend neue Leitlinien für die Bekämpfung von Gegnern entwickeln müssen, deren Wesen sich fundamental verändert hat, Schiffe zu bauen, die in der Lage sind, in Küstengewässern zu operieren, anstatt wie während des Kalten Krieges Truppen und Nachschub aller Art sicher von den USA nach Europa zu geleiten sowie öffentliche Unterstützung für den Kauf neuer Ausrüstung und Operationen auf See, von denen viele geglaubt hatten, dass sie diese nie wieder erleben würden.
Fregatte „Hamburg“ versenkt ein Piraten-Mutterschiff (PIZ Marine)
SEEMACHT UND GESCHICHTE: DER AUFBAU DER SEEMACHT IM KAISERLICHEN DEUTSCHLAND ANDREW LAMBERT
Zu Beginn des Jahres 1896 ging der deutsche Kaiser ein folgenschweres Wagnis ein. Weil er unbedingt seine geliebte Marine erweitern und nach dem Dreizack der Seemacht greifen wollte, nutzte er einen verpatzten britischen Versuch, die burischen Republiken von Südafrika niederzuwerfen, zur Forderung und Durchsetzung einer massiven Erhöhung des Marinebudgets. Vorher lag der Schwerpunkt seines Interesses zur Demonstration von globaler Präsenz auf einer hauptsächlich aus Kreuzern bestehenden Marine, jetzt jedoch folgte er der Hysteriewelle anti-britischer Zeitungen und verlegte den Schwerpunkt seiner maritimen Interessen auf den Bau einer Schlachtflotte.
Thukydides, 460-395 B.C. Abb. rechtefrei unter Wikipedia Commons, Abruf 20.06.2011)
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Diese katastrophale Entscheidung hatte eine lange und tiefgreifende Vorgeschichte. Während die Debatte über das Wesen der Seemacht und ihre Verknüpfung mit dem Staat bis zu Thukydides und Plato zurück reicht, Montesquieu und Mahan nur die bekannteren modernen Denker dieser Thematik sind, beruhte die Besessenheit Wilhelms mehr auf persönlichen Problemen als auf politischem Kalkül. Ungewöhnlich für einen Hohenzollern, hatte er während seiner Ausbildung Thukydides studiert und sich an dem klassischen Seemannsroman von Frederick Marryatt „Masterman Ready“ erfreut, der in Deutschland als „Sigismund Rüstig“ ein weit verbreitetes Jugendbuch war. Außerdem war er stark von dem monumentalen Werk „Naval History of Great Britain“ von William James beeindruckt, das ihm ein britischer Marineoffizier geschenkt hatte1. Außerdem diente sein jüngerer Bruder Prinz Heinrich als Marineoffizier. Es können auch keine Zweifel dahingehend gehegt werden, daß seine Mutter und Großmutter ihm unermüdlich die zentrale Rolle des Meeres im Leben und in der Macht Englands eingeimpft hatten2. Die Marinebegeisterung des jungen Kaisers machten ihn zu einem glühenden Bewunderer des damals am höchsten geschätzten Admirals seiner Großmutter, Sir Geoffrey Thomas Phipps Hornby. 1889 hatte man Hornby geschickt, den jungen Kaiser bei seiner Ankunft in Cowes zu begrüßen, was zu einer bemerkenswerten Freundschaft führte, die immer wieder neu belebt wurde, wenn der Kaiser England besuchte. 1890 erbat der Kaiser Hornbys Anwesenheit bei den Manövern des deutschen Heeres und der deutschen Marine und überreichte ihm eine mit Juwelen besetzte und mit dem kaiserlichen Portrait verzierte Schnupftabakdose. Hornby verstarb im März 1895 und erlebte somit nicht den Verfall des guten anglodeutschen Verhältnisses, bei dem niemals die Vermutung aufgekommen wäre, daß sein charmanter junger Gast Pläne hegte, die Royal Navy herauszufordern. Der Kaiser schätzte in hohem Maße seine Beziehung zum Leit- und Vorbild der britischen Seemacht: er war stolz, die Uniform eines britischen Großadmirals tragen zu können – weil es die Uniform Hornby’s war. Als dessen Asche am 9. März 1895 in einer kleinen Dorfkirche beigesetzt wurde, nahmen die Vertreter des Kaisers einen besonderen Platz ein3. Aber trotz all seiner Bewunderung für die Royal Navy trug Wilhelm einen tiefen Haß gegen das Heimatland seiner Mutter in sich, der „größtenteils vom katastrophalen Verhältnis zu seinen Eltern geprägt war“4. Wilhelm verschlang aber auch das seinerzeit äußerst populäre Buch über die Geschichte der preußischen Flotte von Reinhold von Werner und kam durch all diese
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Lamar Cecil, Wilhelm II, 1859-1900. University of North Carolina Press, Chapel Hill 1989, S. 291-292. John Röhl, Young Wilhelm, Cambridge University Press 1998, S. 163. William James (ed.) and introduced by Andrew D. Lambert, The Naval History of Great Britain during the French Revolutionary and Napoleonic Wars, 2nd edition, London 1826 in six volumes, modern edition, Conway Press, London 2002. Andrew Lambert, Admirals, Faber, London 2008, S. 284-285. John Röhl, Wilhelm II: The Kaiser’s personal Monarchy 1888-1900, Cambridge University Press 2004, S. 452.
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Prägungen zu der Überzeugung, daß die Zukunft Deutschlands auf dem Meer liegt. Eines aber ist sicher: der Kaiser verstand, daß Britannien anders war. Zu Beginn des Jahres 1895 entstand in der Öffentlichkeit die Auffassung, wonach die Vergrößerung der Marine logischerweise auf dem Prinzip beruhe, ein Verständnis von der entscheidenden Bedeutung und Wichtigkeit von Seemacht zu implizieren. Kaiser Wilhelm nahm Britannien ausdrücklich von seinen Einschätzungen als potentiellen Feind aus. Britannien „kann für uns nicht als Vergleichsbasis dienen, denn als Seenation hat es völlig anormale Kriterien und ist ganz und gar auf die Flotte ausgerichtet“5. Britannien, die Herrin der Meere, war der offensichtliche Allianzpartner gegen Frankreich und Rußland. In den folgenden zwölf Monaten sollten sich diese Ansichten allerdings mit verhängnisvollen Konsequenzen ändern. Stark von Mahan beeindruckt, aber offenbar in Unkenntnis von dessen Doktrin einer Schlachtflotte als Mittel zur Seeherrschaft, verfolgte er mit Interesse den Krieg zwischen China und Japan. Die Verknüpfung von Seemacht-Theorie und einer neuen, durch Siege in Seeschlachten entstehenden Seemacht veränderte jedoch Wilhelms ursprüngliche, eher vage und unklare Begeisterung für Kreuzer, die den deutschen Einfluß ausdehnen und gegenüber Rußland, Frankreich und Dänemark die lokale Seeherrschaft erzwingen würden. Vieles von diesem kann auf das Entstehen sozialdarwinistischer und imperialistischer Ideologien zurückgeführt werden, die in der Seemacht das ideale militärisch-diplomatische Instrument sahen, um die Macht in der Welt sicherzustellen und die Marinen in dem Streben nach dem Erwerb von Kolonien und Marktbeherrschung verband. In Wirklichkeit war ein solches Denken die genaue Antithese von Seemacht, wenn durch Zollschranken die heimische Industrie auf Kosten des internationalen Seehandels geschützt werden sollte. Trotz der Schaffung von Seekriegspotentialen und der Inbesitznahme von Territorien in Übersee waren die Kolonialreiche des späten neunzehnten Jahrhunderts zuvörderst kontinentalmilitärisch in Ideologie und Kultur. Sie waren Ergebnisse heimatlicher Zielsetzungen und engstirniger europäischer Überzeugungen. Obwohl manche im kaiserlichen Deutschland erkannten, daß sich das Land erst dann eine große Marine leisten könne, wenn man zuvor das Heer zahlenmäßig verringern würde und daß das neue kaiserliche Projekt dazu führen könnte, England zu entfremden, setzte Wilhelm auf den neuen Kurs. Prinz Heinrich und Admiral von Senden unterbreiteten einen soliden Mahanschen Vorschlag für eine Schlachtflotte und Alfred Tirpitz präsentierte eine solche Flotte in Form eines überzeugenden diplomatischen Gegenzugs. Der Kaiser bekam seine Flotte – eine, die das Versprechen der globalen Größe hielt, ohne allerdings zuzugeben, daß die Straße zur Weltmacht über den Ruin der Royal Navy und des britischen Weltreiches führt. Es war, wie John Röhl es beschrieb, „eine verlockende, glorreiche und völlig illusorische Zukunft“6. Wilhelms leidenschaftlicher Wunsch nach einer 5 6
John Röhl, S. 1009. John Röhl, S. 1033.
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großen Marine und die Fähigkeit von Tirpitz, eine solche zu liefern, stellten sicher, daß die gefährlichen Träume des Kaisers nur allzu wirklich wurden; aber es würde Deutschland und nicht Großbritannien sein, das im Krieg 1918 entmachtet im Staub lag. Dem Weltmachtstreben und der als Folge davon aufgebauten teuren Flotte standen die meisten deutschen Entscheidungsträger und auch nicht wenige Marineoffiziere völlig ablehnend gegenüber. Es stand generell und überhaupt nicht im Einklang mit den Interessen einer Macht, die sich zwei großen militärischen Rivalen gegenüber sah, und zwar an beiden Seiten des Landes. Kein Wunder also, daß damals und seitdem viele die Zurechnungsfähigkeit des Kaisers anzweifelten. Der Kaiser stellte 1895 fest, daß Großbritannien eine Weltmacht war, die einzig und allein von der Seemacht abhing, in der das Meer alle Überlegungen für die nationale Existenz beherrschte. Die britische Seemacht war nicht nur ein strategisches Instrument; sie war eine existentielle Antwort auf die absolute Abhängigkeit. Britannien, das außerstande war, sich selbst ohne den Handel auf dem Seeweg zu ernähren, mußte auf den Meeren dominant sein, um als Großmacht überleben zu können. Darüber hinaus hat es in den letzten dreihundert Jahren eine Reihe von Kriegen geführt, um jedwede militärische Macht daran zu hindern, die Herrschaft über das europäische Festland zu gewinnen. Deutsche Historiker, besonders Theodor Mommsen, haben die definitive Unvereinbarkeit von Land- und Seemacht, die Kriege zwischen Rom und Karthago untersucht. Der kulturelle Konflikt, der Polybius, Raleigh, Montesquieu und Mahan so faszinierte, hatte eine bleibende Resonanz. Die Punischen Kriege lieferten die Grundlagen für die ultimative Fallstudie über Seemacht im Vergleich zu Landmacht, Handel gegenüber Territorium, Demokratie gegenüber militärischer Hegemonie. Deutschland war 1896 aber noch nicht bereit, das neue Rom zu sein, und die Briten verspürten nicht den Wunsch, den Fall von Athen, Karthago oder Venedig wieder zu erleben – maritime Weltreiche, deren Schicksal sie lange und genau studiert hatten. Die Briten hatten schon lange verstanden, daß eine ungezügelte kontinentale Vorherrschaft, eine neue universale Monarchie nach römischem Vorbild, die Macht besitzen würde, Britannien zu vernichten, so wie Rom einst Karthago vernichtete. Nur wenn Deutschland eine universale Monarchie erreicht hätte, würde es frei sein, den Dreizack herauszufordern. Bis dahin wäre es für seine Historiker weitaus vernünftiger gewesen, das Schicksal Spaniens, Hollands und Frankreichs zu studieren. Großbritannien fehlte es schon immer an der militärischen Stärke, eine andere Großmacht zu besiegen; es verließ sich statt dessen auf geschickte Diplomatie und den Aufbau von Allianzen, um hegemonistische Ambitionen wie die von Philip II., Ludwig XIV. und Napoleon abzublocken. In jüngster Zeit hatte das Zweite Französische Kaiserreich von Napoleon III. eine Flotte von Schlachtschiffen aufgebaut, um Druck auf die Briten auszuüben, den kontinentalen Ambitionen des Kaisers zuzustimmen. Die Briten nutzten statt dessen ihre Finanzkraft und industriellen Ressourcen und mit öffentlicher Unterstützung gelang es ihnen, ein „High Tech“-Wettrüsten zu gewinnen. 1860 war es die Technologie der „HMS Warrior“, welche neue Maßstäbe im Kriegschiffbau setzte; 1906 war es
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Jacky Fishers „HMS Dreadnought“. Diese Leistungen auf dem Gebiet der Technik repräsentierten die Entschlossenheit Großbritanniens, auch weiterhin auf See dominant zu bleiben. Die britische Seemacht war das Produkt eines Zusammenwirkens von Nation, Marine und See. Es war kein Zufall, daß die Briten, deren nationale Identität hauptsächlich auf ihrem Widerstand gegen Napoleons Streben nach einer universalen Monarchie basierte, sich selbst als die neuen Karthager sahen. Staatsmänner und Künstler übernahmen das punische Modell und argumentierten, daß ihr Erfolg die Analogie grundlegend revidierte7. Dieses Mal hatten die neuen Karthager, die seefahrende, handeltreibende, demokratische Nation den militärischen Tyrannen besiegt. Wenn Tirpitz und der Kaiser die Schlüsselfiguren bei der Entscheidung waren, Großbritannien herauszufordern, dann lagen die Wurzeln der deutschen Bestrebungen, eine Seemacht zu werden, in der Laufbahn von Heinrich von Treitschke (1836-1896). Der in Sachsen geborene Historiker, der den Aufstieg Preußens zum Deutschen Reich beschrieb, legte den Grundstein für die anglo-deutsche Rivalität. Als Deutschland vereinigt worden war – mit dem Schwert wohlgemerkt – ging er zu der nächsten Stufe des Prozesses über. Er haßte England mit großer Leidenschaft und glaubte, daß es die letzte Barriere in der Schaffung einer deutschen universalen Monarchie sei. Wie schon Montesquieu begann Treitschke mit der alten Geschichte von Rom und Karthago, von der militärischen Gewalt gegen die Seemacht und das Geld; aber im Gegensatz zu dem weisen, nachdenklichen Franzosen, prophezeite Treitschke den Untergang Englands, des neuen Karthagos8. Ein zeitgenössischer Kritiker bemerkte hierzu, „liest man Treitschke, so vermutet man, daß das Lernen erst nach der Meinungsbildung eingesetzt hat“9. Die Parallelen zu Mahan waren offensichtlich und die Zusammenhänge recht eng. Treitschkes seltsame Rhetorik und der dröhnende monotone Vortrag dieses schwerhörigen Dozenten lockte eine große Zuhörerschaft an. Englische Besucher Berlins hörten diese Vorlesungen, um etwas von der Kultur der aufstrebenden industriellen und militärischen Macht im Herzen Europas zu lernen; entsprechend vorgewarnt war es kaum ein Wunder, daß sie sehr schnell die sich entwickelnde Gefahr für die britische Seemacht erkannten. Unter den Zuhörern befanden sich viele, die seine Argumente akzeptierten, nicht zuletzt auch Alfred Tirpitz10. Bis zum Jahr 1900 hatte das imperiale Deutschland die Herausforderung angenommen, die militärische Dominanz mit der Seemacht zu verbinden. Zu einer 7
George Canning, statesman and Prime Minister, and J. M. W. Turner, who produced a series of ‘Carthaginian’ pictures in the second decade of the nineteenth century that took the connection even deeper into the national psyche. 8 James Headlam, ‘Heinrich von Treitschke’, English Historical Review, vol. 12 no. 48, 1897, S. 727-47. Andreas Dorpalen, Heinrich von Treitschke, Yale University Press, New Haven 1957. 9 James Headlam, S. 746. George Peabody Gooch, History and Historians of the Nineteenth Century, Longman, London 1913, S. 147-155. 10 Michael Epkenhans, Tirpitz: Architect of the German High Seas Fleet, United States Naval Institute Press, Annapolis 2009, S. 3, S. 17-21. See also the highly revealing passage in the post 1918 apologia: Alfred Tirpitz, My Memoirs, Vol. I, Hurst & Blackett, London 1919, S. 110-113.
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Zeit als das europäische diplomatische und militärische Gleichgewicht relativ stabil war, war dies keine kluge Entscheidung. Wichtige und führende Persönlichkeiten des kulturellen Bereichs und auch strategische Planer lieferten eine Reihe von Argumenten zugunsten einer entscheidenden Verlagerung der deutschen Verteidigungsausgaben weg vom Land und hin zur See zwecks Schaffung einer neuen Flotte von Schlachtschiffen, die die Royal Navy herausfordern können. Die Architekten der Weltmachtpolitik haben hierbei einen wichtigen Fakt außer Betracht gelassen: sie hatten die Nutzung der Seemacht als eine Strategie gewählt, um eine Seemacht-Nation herauszufordern, deren pure Existenz von der Fähigkeit abhing, den Ozean nutzen zu können.
Seemacht als Strategie und Kultur Seemacht liefert ein typisches Fallbeispiel in der Beschreibung von Ideen und Vorstellungen. Der überwiegende Teil der Literatur über die Seemacht befaßt sich mit den strategischen Folgeerscheinungen und kann hier getrost übersprungen werden. Die Strategie hat die Diskussion über die Seemacht deshalb beherrscht, weil sie die kritische Schnittstelle zwischen Politik und Krieg ansprach, ein Bereich, bei dem das Verständnis entscheidend ist. Diese spezielle Literatur über die Seemacht enthält Wissen, Kenntnisse und Informationen, die für die Marinen von großer Wichtigkeit sind – in erster Linie sind es die politischen Restriktionen über die Anwendung von Gewalt auf See11. Diese Literatur ist zwar recht umfassend, aber die Hauptthemen wurden schon vor einem Jahrhundert festgelegt; eine spätere Aus- und Überarbeitung hat wenig mehr erbracht als eine Aktualisierung der Beispiele, wobei noch mehr langweilige Terminologie eingeführt wurde. Der größte Teil von dem, was als eine Analyse von Seemacht durchgehen kann, ist die didaktische Beschreibung der maritimen Strategie12. Diese Texte sind von militärischen Lehrern für die militärische Ausbildung entwickelt worden; die meisten haben einen typischen gegenwartsbezogenen, polemischen Charakter, obwohl diese Tatsache in dem 1911 erschienenen Buch „Some Principles of Maritime Strategy“ von Julian Corbett elegant verschleiert wurde. Daß jeder Text das Produkt einmaliger, unvorhergesehener Umstände ist, wird durch die Grenzen der Seemachtstheorie aufgezeigt – wie selbst bei solchen Schriftstellern wie Alfred T. Mahan und Julian Corbett zu lesen ist. Solche Texte auf einem Niveau jenseits der Gemeinplätze oder in anderer Hinsicht zu vergleichen, als ihre methodologischen Differenzen zu betrachten, ist unsicher und gefährlich. Es handelt sich bei diesen um kulturelle Kunstprodukte, wobei jedes so einmalig, zufallsbedingt und spezifisch ist wie ein Gemälde, die Architektur oder die Poesie. Die vorliegende Abhandlung konzentriert sich auf die fundamentale Divergenz zwischen den verschiedenen Bedeutungen von Seemacht, wie sie in strategi11 Julian Corbett, ‘The Teaching of Naval and Military History’, History, April 1916. 12 In selecting the title The Strategy of Sea Power for his 1962 Lees-Knowles Lectures, Stephen Roskill skillfully emphasised the fact that the two concepts operate on different levels, London 1962.
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schen oder kulturellen Zusammenhängen angewandt werden. Es wird darin argumentiert, daß, wenn die Seemacht einen konzeptionellen Nutzen behalten soll, es notwendig ist, gemeinsam vereinbarte Definitionen festzulegen. Es ist wichtig, zu erkennen, daß der Begriff Seemacht dazu benutzt wird, zwei bestimmte Bedeutungen zu vermitteln. Die erste definiert die strategische Option und wird bei der militärischen und politischen Ausbildung verwendet. Bei der zweiten handelt es sich um eine Bewertung der nationalen Kultur. Beide sind jedoch fließend und untersuchen nicht die Dichotomie, die dem Kern der Sache zugrunde liegt. Während Historiker, angefangen von Herodot bis in die Neuzeit, den Begriff Seemacht benutzt haben, um eine politische Entscheidungsmöglichkeit oder eine strategische Option zu beschreiben, wird die Bedeutung ständig neu gebildet, um neue Epochen und neue Interessen zu berücksichtigen. Im wesentlichen ist „moderne Seemacht“, die Alfred T. Mahan als eine politische Entscheidungsmöglichkeit definiert, von Strategen und politischen Wissenschaftlern als ein konzeptionelles Instrument benutzt worden, um eine Strategie zu beschreiben, die auf die Erringung oder Sicherung von Seeherrschaft oder auf das Produkt dieser Politik – oftmals als eine Alternative zur Landmacht – abzielt.
Alfred T. Mahan, 1840-1914 Abb. rechtefrei unter Wikipedia Commons, Abruf 20.06.2011
Diese Auslegung betrifft eher den Nutzen der Seemacht als deren Bedeutung und bezieht sich auf eine Option, die von einem Staat ausgeübt werden könnte, der Zugang zum Meer hat und über angemessene Ressourcen verfügt. Sie wird häufig von Historikern übernommen; sie muß aber unterschieden werden von dem alter-
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nativen Konzept der Seemacht als eine grundsätzliche Frage von nationalem Interesse und nationaler Kultur, das von den Historikern weiterhin benutzt wird. Bei der kulturell-historischen Seemacht wird die Gesamtheit der Reaktionen einer Nation auf den Ozean untersucht und die Zustände beschrieben, bei denen die See eine dominante Stellung in allen Aspekten der nationalen Existenz einnimmt, angefangen vom Handel und der Strategie bis hin zur Kunst und Sprache, die sich im kulturellen Leben klar definiert widerspiegelt. Seemächte haben maritime Helden, halten maritime Zeremonien und Feierlichkeiten ab, benutzen maritime Wörter in der Umgangssprache und sehen das Meer in allen Aspekten des nationalen Lebens. Für sie ist strategische Seemacht keine Option, sie ist eine Notwendigkeit; sie können einfach nicht ohne das Meer existieren. Die Beschreibung der Macht auf See spiegelt die methodologische und konzeptionelle Teilung zwischen Geschichte und Strategie wider. Die Historiker haben die Seemacht als ein analytisches Instrument benutzt, um einige zufällige historische Schlußfolgerungen über Staaten, Politik und Identität zu ziehen. Diese sind nicht gedacht, von aktuellem Wert zu sein. Die bedeutendsten Beiträge zu dieser Debatte sind das Produkt umfassender Forschung und gründlicher Untersuchung, hier besonders in den Schriften von Fernand Braudel „The Mediterranean in the Age of Philip II“ und von Frederic Lane „Venice: A Maritime Republic“ – hochwissenschaftliche Werke, die ausführlich Themen über Seemacht beschreiben, diese aber nicht als „Lektionen“ anbieten. Die jüngste Ausgabe von Horden und Purcell „The Corrupting Sea“ folgen diesem Ansatz, indem sie Definitionen qualifizieren und das Spezifische unterstreichen13.
Historische Betrachtung Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß die alten Griechen die ersten waren, die über die Seemacht geschrieben haben, und ihre Ansichten und Meinungen übten seit der Renaissance einen starken Einfluß auf die historische und politische Wissenschaftsliteratur aus. Herodot, Thukydides und andere formulierten mit Blick auf die Athener Erfahrung mit dem maritimen Reich das Konzept, um die fundamentalen Unterschiede zwischen den Modellen der Athener und Spartaner, zwischen Meer und Land, Demokratie und Autokratie, Fortschritt oder Stillstand zu erklären. Man muß jedoch erkennen, daß die Griechen nicht unbedingt diese Unterschiede in der Weise sahen, wie wir sie vermuten mögen. Herodot, der in dem goldenen Zeitalter zwischen Salamis und dem Peloponnesischen Krieg seine Schriften verfaßte, war ein begeisterter Befürworter der 13 Fernand Braudel, The Mediterranean and the Mediterranean World in the Age of Philip II Collins, London 1975, 2 vol., translation of a pioneering book of 1949. Detailed study of an age and a region dominated by sea power from the French Annales school – stresses the importance of la longue durée above specific events. A useful counter to the history gobbets served up in most strategic writing on seapower. Frederick Lane, Venice: A Maritime Republic, Johns Hopkins, Baltimore 1973. Lane, a historian with considerable experience of modern sea power in war, was not afraid of analogies. Peregrine Horden, Nicholas Purcell, The Corrupting Sea: A Study of Mediterranean History, Basil Blackwell, Oxford 2000.
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Seemacht. Als aber Arnaldo Momigliano die erste „eingehende Analyse“ über die Art und das Wesen der nach dem Peleponnesischen Krieg entstandenen Seemacht durchführte, als eine Untersuchung des Desasters, das Athen widerfahren ist, flammte hier und da wieder eine Debatte auf, während die Stadt langsam in Vergessenheit geriet. Die Strategen richteten ihren Fokus auf den nachteiligen Umstand, daß die Stadt auf dem Festland lag14, wobei sich die Debatte jedoch schnell weg von dem strategischen Nutzen und hin zum kulturellen Bereich verlagerte. In seiner Rekonstruktion von Perikles’ Grabrede erinnerte Thukydides die Athener daran, daß sie Herren über die See waren und nicht über das Land „und die Herrschaft haben oder haben können in einem Maße, wie sie möchten“15. Die bewußte zeilenweise Ablehnung der Grabrede durch Platon in den „Gesetzen“ spiegelt eine entscheidende kulturelle Wende wider. Athen wandte sich ab von der See, dem Reich und der Demokratie, was auf eine fatale kommerzielle „Seuche“ zurückzuführen war. Das neue kulturelle Modell vereinigte die Athener Philosophie mit dem „siegreichen“ sozialen und politischen System Spartas. Ordnung und Stillstand ersetzten den Fortschritt. Platon stellte den schändlichen, feigen und illoyalen Charakter von Seefahrern der soliden, dauerhaften Loyalität von Soldaten gegenüber. Die Wirkung von Platons Argument wurde erheblich gesteigert, als Polybius dieses benutzte, um den Sieg des militärischen Roms über das maritime Karthago zu erklären. Die moderne Wissenschaft ermöglicht uns, die Analogie von Polybius zu erweitern und die kritische Verbindung zwischen der Abhängigkeit von dem Meer, dem Überseehandel und der Seemacht im Herzen des karthagischen Reiches aufzuzeigen. Anfangs eine phönizische Kolonie, beherrschte Karthago die Handelsrouten im Mittelmeer, welche die Handelskolonien zum Westen hin bis nach Cadiz verbanden, mit einer Stadt, die von dem Import von Nahrungsmitteln, Holz und Metallen abhing. Durch diese Abhängigkeit wurde der Staat mehr und mehr in einen Krieg mit der aufsteigenden Militärmacht von Rom gedrängt. Karthago zog, wie die meisten Handelsstaaten, den Frieden dem Krieg und begrenzte Kriege einem totalen Konflikt vor. Das Heer setzte sich größtenteils aus Söldnern zusammen; die Marine hingegen rekrutierte ihr Personal von der Handelsflotte. Im zweiten Punischen Krieg, unterminierte die militärische Barca-Familie die karthagische Politik und führte einen Offensivkrieg gegen Rom ohne die einheimische politische Unterstützung oder die militärischen Mittel zu haben, um gewinnen zu können. Nachdem Hannibal die Römer besiegt hatte, verlangte er, wohl wissend, daß die wirkliche Stärke Karthagos im maritimen Bereich lag, daß die karthagische Thalassokratie abgelöst wird. Der dritte und letzte Krieg war zum großen Teil eine römische Reaktion auf den karthagischen Aufbau eines großen Marinearsenals.
14 Arnaldo Momigliano, ‘Sea Power in Greek Thought’, THE CLASSICAL REVIEW, vol. 58, no. 1, 1944, S. 1-7. 15 Arnaldo Momigliano, S. 2. The link between this passage and the famous sea power concept of Francis Bacon could not be more obvious. Thucydides, II, S. 62.
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Der dritte Punische Krieg wurde durch den Sieg der Römer über den letzten potentiellen Verbündeten Karthagos, König Perseus von Mazedonien, im Jahr 168 v.Chr. möglich. Seemächte sind dort weitaus wirksamer, wo keine Landmacht eine effektive Hegemonie besitzt. Ohne die Möglichkeit eines mazedonischen Angriffs von Osten her hätte Karthago isoliert und ohne Risiko vernichtet werden können. 146 v.Chr. wurde Karthago nach langer Belagerung völlig zerstört, genauso wie Korinth, die größte Hafenstadt in Griechenland. Durch das Einnehmen der zwei reichsten nicht-römischen Mittelmeerstädte machten die Eroberer eine riesige Beute an Schätzen, beseitigten mit einem Streich jede verbliebene wirtschaftliche Konkurrenz und demonstrierten damit die alles besiegende „Universale Monarchie der Römischen Republik“16. Die kulturelle Seemacht wurde für Jahrhunderte abgeschafft, während die Militärmacht Roms die Kontrolle der gesamten Küstengebiete des Mittelmeers sicherstellte. Obwohl Hannibals Krieg offensichtlich unsinnig war, lag hinter seinem Handeln eine tiefere Weisheit: Er verstand, daß Rom nicht ruhen würde, so lange eine andere große Macht drei Tagesreisen entfernt existierte, die durch Handel reich geworden war und ständig dabei war, in neue ressourcenreiche Gebiete zu expandieren. Seine Lösung bestand darin, eine kontinentale Koalition von kleinen italienischen Staaten als Gegengewicht zu Rom zu bilden, indem er den militärischen Erfolg nutzte, um seine Politik voranzutreiben. Das alternative wirtschaftlichkulturelle Modell forderte die Allgegenwart der römischen Version heraus, während die erfolgreiche Wiederherstellung der Stadt nach dem Ersten und Zweiten Krieg die römische Elite gründlich aufschreckte. Die karthagische Bedrohung ging viel tiefer als rein strategische Überlegungen und mußte deshalb beseitigt werden. Korinth erlitt aus demselben Grund wie Karthago Schaden; kosmopolitische, kommerzielle und kulturelle Staaten forderten das römische bürgerliche Modell heraus. Durch die Veröffentlichung der wichtigsten Texte durch italienische Geisteswissenschaftler im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts begannen die Ideen und Vorstellungen der Menschen des Altertums auch Einfluß auf die englische Denkweise zu nehmen17. Entsprechend inspiriert wurde von dem Geographen, Mathematiker, Rechtsgelehrten und Historiker John Dee eine Elisabethanische Vision von einem ozeanischen Reich und einer Seemacht entwickelt. Dee entwarf den ersten Plan für ein „Britisches Weltreich“ als eine Thalassokratie. Dies war kein visionäres Projekt, denn es wurden Rechtswissen, territoriale und geographische Kenntnisse angewandt, um die wirtschaftlichen Interessen des Staates zu entwickeln. Seine Karten und Ratschläge waren für die Transformation Englands von einem kleinen europäischen Anhängsel zu einer globalen maritimen Macht von
16 Richard Miles, Carthage must be Destroyed: The Rise and Fall of an Ancient Civilisation, Allen Lane, London 2010, S. 345-346 for the 3rd Punic War. 17 The Venetian scholar and publisher Aldus Manutius produced the first Greek texts of Herodutus, Thucydides and Xenophon between 1500 and 1510. Michael Lowry, The World of Aldus Manutius, Blackwell, Oxford 1979, S. 144. Lowry notes that Dee possessed Aldus editions, S. 300.
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zentraler Bedeutung18. In diesem Zusammenhang ist es vor allem wichtig, zu erkennen, daß England durch bewußtes Handeln und Entscheiden zu einer Seemacht wurde. Dees Idee von Seemacht wurde bald auch von anderen politisch orientierten Intellektuellen aufgenommen. Walter Raleigh fügte eine weitere Standard-Analogie hinzu: „Die Wichtigkeit von Seemacht in den Kriegen der Römer und Karthager zeigt sich im Kampf zwischen England und Spanien“19. Raleighs strategische Ideen wurden von Francis Bacon weiterentwickelt20. Seine unvergessliche Aussage, „derjenige, der das Meer besitzt, der habe eine sehr freie Hand und kann sich, wie es ihm beliebt und so viel es ihm beliebt, am Kriege beteiligen; während diejenigen, die über eine bedeutende Landmacht verfügen, dennoch zuweilen in arger Klemme stecken“, kann durch Dee und Raleigh bis Thukydides zurückverfolgt werden21.
Sir Walter Raleigh, 1552-1618 Abb. rechtefrei unter Wikipedia Commons Abruf 20.06.2011 18 William H. Sherman, John Dee: the Politics of Reading and Writing in the English Renaissance, University of Massachusetts Press, Amherst 1995, S. 126, S. 152-153 stresses the importance of Dee’s use of literary sources to develop the legal and geographical framework of discovery and claim. Baldwin, R. ‘John Dee’s Interest in the Application of Nautical Science, Mathematics and Law to English Naval Affairs’ in Steven Clucas, ed, John Dee: Interdisciplinary Studies in English Renaissance Thought, Dordrecht 2006, S. 104, S. 106-107. 19 Charles Firth, ‘Sir Walter Raleigh’s “History of the World”’, Proceedings of the British Academy 8 (1918), S. 427-446, referring to the History, book II. 20 Charles Napier Robinson, John Leyland, Seafaring and Travel: The Growth of Professional Text Books and Geographical Literature, in: A. W. Ward, A. R. Waller, eds: The Cambridge History of English Literature, Vol. IV, Cambridge University Press, 1909, S. 87. 21 Francis Bacon, 1597, ‘Of the true Greatness of Kingdoms and Estates’, printed in P. & E. Mattheson, eds., Francis Bacon, Oxford University Press 1929, S. 85-86. Compare this line with the Pericles funeral oration. It is important to note the close connection between Dee’s work and that of Bacon.
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In den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts ist die Seemacht zu einem akzeptierten Element der englischen kulturellen Identität geworden, zum großen Teil allerdings noch aufstrebend, aber zunehmend an Stärke gewinnend. Erst nachdem das Königreich seine politischen Wirren und ökonomische Schwäche überwunden hatte, konnte diese Vision voll entwickelt werden. Dies alles geschah bis zum Jahr 1714 und England wurde dadurch zur beherrschenden Seemacht. Erschreckt durch die Niederlage der von Ludwig XIV. vorgesehenen „römischen“ universalen Monarchie in der zweiten Schlacht bei Höchstädt (Battle of Blenheim) untersuchte der französische Philosoph Charles de Montesquieu die kontrastierenden klassischen Modelle britischer und französischer Politik. Er kam zu dem Schluß, daß England – ein modernes christliches Karthago, eine kommerzielle Republik, die eine große und effektive Marine schaffte, ein politisches System, das die Klasse der Kaufleute privilegierte, indem der Staat ihr Zugang zu den großen ökonomischen Ressourcen gewährte – in der Lage gewesen ist, die langen Kriege und den Sieg über Frankreich, das neue römische Reich von Land und Macht, zu finanzieren22. Diese Ideen und Vorstellungen übten zweihundert Jahre lang großen Einfluß im französischen Denken über die große Strategie und Seemacht aus; Napoleon hatte zwei StandardBeleidigungen, die er den Briten ins Gesicht schleuderte, nämlich, daß sie die neuen „Karthager“ und „eine Nation von Krämern“ seien, wie all die klassischen kulturellen Seemächte.
John Dee, 1527-1608 Abb. rechtefrei unter Wikipedia Commons, Abruf 20.06.2011 22 Paul Rahe, Montesquieu and the Logic of Liberty: War, Religion, Commerce, Climate, Terrain, Technology, Uneasiness of Mind, the Spirit of Political Vigilance, and the Foundations of the Modern Republic, Yale University Press, New Haven 2009, S. 3-61, see. S. 59.
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Der Begriff Seemacht wurde in der Viktorianischen Ära in das britische Lexikon aufgenommen. Der Bankier, Politiker und Historiker George Grote (1794-1871) widmete sein kreatives Leben einem monumentalen Werk mit dem Titel „History of Greece“ (1846-1856). Dieses Buch, in dem Athen deutlich als Musterstaat und als Born der Freiheit und Demokratie herausgestellt wird, ist jahrzehntelang das Standardwerk gewesen23. Die Verbindung zwischen britischer und Athener Seemacht war ganz offensichtlich gegeben. Athen brauchte eine Marine zur Verteidigung und für den Handel. Schon Herodot schrieb von den Athenern, daß sie sich bewußt zu „einer maritimen Macht“ aufbauten. Man richtete auf kleinen, isolierten Inseln mit guten Häfen Überseestützpunkte ein und baute starke Forts, um die betreffenden Städte mit der See zu verbinden. Seine Leser können leicht das Analogon zwischen dem alten Skyros und dem modernen Malta erkennen. Außerdem unterdrückten die Athener die Piraterie, die klassische Aufgabe einer Thalassokratie. Bis zum Beginn des Peloponnesischen Krieges „war das Ägäische Meer ein Athener See“. Das Athener Seereich ist durch Steuern finanziert worden, die von der Seemacht verschärft bei den Operationen gegen Persien erhoben wurden, eine Zeit, die von den Historikern häufig ignoriert wird. Grote verband den Untergang Athens mit der Entscheidung, einen „neuen Charakter ...“ anzunehmen, „als Konkurrent gegenüber Land-Allianzen zumindest was die maritime Überlegenheit betraf“. Dies wiederum bedrohte andere griechische Staaten, wie z.B. Sparta, das sich mit dem maritimen Korinth verbündet hatte – obwohl der tödliche Schlag letztlich von innerhalb des Athener Reiches kam24.
George Grote, 1794-1871 Abb. rechtefrei unter Wikipedia Commons, Abruf 20.06.2011 23 http://www.oxforddnb.com/view/printable/11677, 10.02.2008. 24 George Grote, History of Greece, V, London 1849, S. 67-70, S. 333, S. 393, S. 399, S. 408409, S. 431-433, S. 464-465.
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Ein anderer englischer Historiker, der die Seemacht untersuchte, stellte die Verbindung noch ausführlicher dar. Es war John Robert Seeley, Lehrstuhlinhaber und Professor für Geschichte an der Universität Cambridge (1869-1895). Seine Generation blickte auf den glorreichen Beginn des britischen Weltreichs in der Epoche von Drake und Raleigh zurück25. Für Seeley, wie auch für Grote, war die Seemacht ein naheliegendes Thema; er war der Ansicht, daß die moderne Geschichte die beste Grundlage für die politische Bildung war26. Wie man von einem Imperialisten, der Geschichte als eine soziale Wissenschaft verstand, erwarten konnte, leistete Seeley einen signifikanten Beitrag zur Seemacht-Theorie. Die Entstehung des Seehandels und Seeherrschaftsgebiets, argumentierte er, hatte sich auf Holland und Britannien genauso ausgewirkt, wie das Mittelmeer die großen Geister von Griechenland und Rom angeregt hatte. Der Vorteil Britanniens gegenüber Frankreich als kaiserliche Macht lag in seiner zielstrebigen Verfolgung der Seemacht und in seinem geographisch gegebenen Glück, teure europäische Verpflichtungen vermeiden zu können27. Britannien war eine reine Seemacht, keine Landmacht oder gemischte Land-Seemacht. Seeley führte seine Analyse in einem modernen Kontext durch. Es gab zwei große Landmächte, Rußland und Amerika, und „zwischen ihnen, ebenso groß, aber nicht so durchgehend, es mit dem Ozean in jeder Richtung durchfließend, liegt, wie ein Welt-Venedig, mit dem Meer als Straßen, das größere Britannien“28. Die Seemacht hatte wichtige politische und kulturelle Auswirkungen, die aber meist vergänglich waren. Trotz all ihres Glanzes wurden Athen und Venedig durch hegemonistische kontinentale Militärstaaten vernichtet. Seeley argumentierte daher, daß der britische Staat den entstehenden Supermächten entsprechen müsse, indem er nachdrücklich ein auf Seemacht gestütztes größeres Britannien empfahl; und er warnte davor, daß ein größeres militärisches Engagement für Europa eine kritische Gefahr für das Weltreich darstellen würde29. Seeleys ausführliche Untersuchung des Aufstiegs und Falls von Weltreichen diente dem expliziten Zweck, den Niedergang Großbritanniens zu vermeiden30. Darum wundert es nicht wenig, daß in zwei Jahren mehr als 80.000 Exemplare seines Buches „Expansion of England“ verkauft wurden, was eine große Zahl an Bewunderern unter den Politikern, Journalisten und „Weltreich-Baumeistern“, angefangen von Lord Roseberry, Joseph Chamberlain und W.T. Stead bis hin zu Alfred Milner und Cecil Rhodes31, garantierte. Grote und Seeley benutzten den Begriff „Seemacht“ spar25 Michael Bentley, Modernizing England’s Past: English Historiography in the age of Modernism 1870-1970, Cambridge University Press 2005, S. 70-75 for the late Victorian Imperial context of Seeley’s work. John Burrow, A Liberal Descent, Cambridge University Press 1981, S. 231-250. 26 Deborah Wormell, Sir John Seeley and the Uses of History, Cambridge University Press 1980, S. 41-43. John Robert Seeley, The Expansion of England, Macmillan, London 1883, S. 1. 27 Seeley, S. 89-97. 28 Seeley, S. 288. 29 Seeley, S. 291-292, S. 300-301. 30 Wormell, S. 129. 31 Wormell, S. 154-156.
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sam, subtil und mit starker Wirkung. Viele der Briten, die so beeindruckt von Mahans Buch waren, waren dem Thema von Seeley und Grote, Thukydides und Herodot schon im Voraus zugeneigt.
Mahan – Seemacht, Seeausbildung und strategisches Denken Obwohl selbst Fachleute häufig annehmen, daß der Begriff Seemacht von Captain Alfred T. Mahan, USN, (1840-1914) in dem Werk von 1890 „The Influence of Sea Power upon History, 1600-1783“ ersonnen, geprägt oder demonstriert wurde, könnte nichts ferner von der Wahrheit liegen. Der intellektuelle Aufbau des Begriffes Seemacht hat eine sehr lange Geschichte, und Mahan entdeckte schon bald, daß die Engländer auf demselben Gebiet schon vor dreihundert Jahren gearbeitet hatten. Sowohl Walter Raleigh und Francis Bacon hatten den Begriff Seemacht benutzt, um Krieg, Politik und den Staat selbst zu analysieren. Darüber hinaus vermittelten sie ihre Meinung in ein paar geschickten Sätzen, während Mahan dafür ein dickes Buch brauchte. Tatsächlich war Grote die wahrscheinlichste Quelle für Mahans umfangreiche Beschreibung. Als begeisterter Leser der Geschichte ist es unwahrscheinlich, daß Mahan, der Theodor Mommsens Römische Geschichte mit durchschlagender Wirkung zitierte, Grotes gleichsam berühmtes Buch „History of Greece“ ignorierte32. Falls Mahan Grotes Buch nicht gelesen haben sollte, war aber Seeleys „Expansion of England“ von 1883 ein nicht zu übersehender Bestseller33. Mahan hat sich die Definition des Begriffes „Seemacht“ nicht als sein Verdienst angerechnet, nur daß er das eine Wort in zwei Worte aufgeteilt hatte, „um Aufmerksamkeit zu erzwingen und, ich hoffte Verbreitung zu erlangen“34, eine Hoffnung, die das OED ihm nachgesehen hat. Ob er den Begriff von Grote oder von Seeley übernahm, Mahan jedenfalls übernahm den Begriff Seemacht als Kernaussage in einer eigenen, sehr unterschiedlichen Weise während seiner Lehrtätigkeit bei der Marine zum Thema „Strategie und Nationen“ über den politischen Nutzen von „See Macht“. Er sah sich selbst nicht als Historiker. Mahans Buch popularisierte das Konzept, das eine Reihe von vereinbarten Definitionen lieferte, und verband die Theorie von Seemacht mit der größeren, intellektuelleren rigorosen Sammlung von Schriften über die von Soldaten entwickelte Strategie35. Hier folgte er dem Schweizer Theoretiker Jomini, schuldete aber den französischen Schriftstellern Xavier Raymond und Richild Grivel, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts über Seemacht und nationale Strategie schrieben, aufrichtigen intellektuellen Dank. Indem sie Montesquieu folgten, ar32 Mahan to William H. Henderson 26.12.1910: Robert Seager, Doris Macguire, eds, Letters and Papers of Alfred Thayer Mahan, 3 vol., United States Naval Institute Press, Annapolis 1975, vol. III, S. 371. 33 Oxford English Dictionary, definitions. 34 Mahan to Roy Marston (his English publisher) 19.2.1897: in Seager & Macguire, Mahan, vol. II, S. 493-494. 35 Antoine Jomini, The Art of War (1862), trans. G.H. Mendell, W.P. Craighill, J.B. Lippincott, Philadelphia 1862.
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gumentierten sie, daß Frankreich, das eher von Land als von der See dominiert ist, ein grundsätzlich anderer Machttyp sei als Britannien, und daß diese Realität eine strategische Folgerung in Gang setzen müsse36. Mahan modifizierte deren Argument der „strategischen Kultur“ zu einem proskriptiveren Modell, eines, in dem Raymonds Antwort auf die strategische Realität durch das Element der Wahl ersetzt wurde.
Julian Corbett: Herrschaft über das Meer In Großbritannien wurde die Aufgabe der Integration der Seemacht in die nationale Strategie von Julian Corbett (1854-1922) übernommen. Inspiriert durch seine Vorlesungen im Rahmen des „Royal Navy War Course“ zwischen 1902 und 1920 entwickelte Corbett ein intellektuell anspruchsvolles Verständnis von Seemacht als Grundlage der britischen Strategie. Er entwickelte sowohl ein historisches Modell für den Unterricht über die Vorstellung eines künftigen Krieges als auch eine überzeugende Analyse von der maritimen Natur der britischen Strategie.
Julian Corbett, 1854-1922 Abb. rechtefrei unter Wikipedia Commons, Abruf 20.06.2011
36 Xavier Raymond, Les Marines de la France et de l’Angleterre, 1815-1863 (Paris 1863) argues that France is not a maritime state like Britain. Richild Grivel, De la Guerre maritime avant et depuis les novellas inventions. Attaque et défense des côtes et des ports. Guerre du large, Etude Historique et stratégique (Paris 1869) advocates an anti-sea power strategy for France. See Charles Ian Hamilton, Anglo-French naval rivalry 1840-1870. Oxford University Press 1993, for context, see. S. 316.
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In der Suche nach dem Einzigartigen und Bedingten in der britischen Erfahrung, nutzte er die immer umfangreicher werdende Literatur über strategisches Denken, besonders die von Clausewitz, um seine Ideen und Vorstellungen zu strukturieren und zu verfeinern. Seine Arbeit erfolgte in einem engen, stetigen Zusammenhang mit dem Bedarf an Ausbildung von hohen und höheren Marineoffizieren. Wie man von einem Juristen erwarten konnte, zögerte Corbett, den umstrittenen Begriff „Seemacht“ anzuwenden. Er zog „Seeherrschaft“ vor, um die strategische Dimension von Seemacht zu beschreiben, die er wie folgt definierte: „nichts als die Beherrschung maritimer Verbindungswege, ob für Handels- oder militärische Zwecke“37. Allerdings fügte Corbett eine wichtige Eigenschaft hinzu: „Da die Menschen auf dem Land und nicht auf dem Meer leben, sind große Probleme zwischen den sich im Kriege befindenden Nationen stets – außer in sehr seltenen Fällen – entweder dadurch entschieden worden, was das Heer gegen das Territorium und das nationale Leben des Feindes ausrichten kann oder aber aus Furcht vor dem, was die Flotte für das Heer ermöglicht zu tun“38. Diese besagte Seemacht war das Instrument, das Britannien, „ein kleines Land mit einem schwachen Heer ... in die Lage versetzte, die begehrenswertesten Regionen der Erde für sich in Besitz zu nehmen und das auch auf Kosten der größten Militärmächte39. Die britische Seemacht trennte Kolonialkriege von dem europäischen Kriegsschauplatz und erreichte dabei eine lokale Kräfteüberlegenheit, und dies trotz des kleinen britischen Heeres. Wie Admiral Sir Herbert Richmond bemerkte: „Seemacht ermöglicht seinem Besitzer, seine Truppen über solche Seegebiete zu entsenden und quer über diese Handel zu betreiben, die zwischen den Nationen liegen und Objekte von deren Begierde sind, und seine Gegner daran zu hindern, dies zu tun“40.
Definitionen Sowohl Historiker als auch Politikwissenschaftler sind interessiert gewesen, die Seemacht in einen größeren Kontext einzuordnen. Corbetts Analyse zeigte den Gegensatz zwischen Mahans strategischem Politikkonzept und der breiteren historisch-kulturellen Auslegung auf, die für eine Untersuchung der britische Thalassokratie erforderlich ist. Die Historiker haben ein neues Licht auf Mahans Interesse für den „Charakter der Regierung“ geworfen, indem sie erneut die klassische Beobachtung unterstrichen, daß die kulturellen Seemächte dazu tendieren, demokratisch zu sein und den Kaufleuten weitaus größere politische Macht zubilligen. Athen, Karthago, Venedig, Holland und Großbritannien sind eindeutige Beispiele von Staaten, deren politische und ökonomische Entwicklung durch das Verlangen 37 Julian Stafford Corbett, Some Principles of Maritime Strategy, Longman, London 1911, S. 90. 38 Corbett, S. 14. 39 Corbett, S. 49. 40 Herbert Richmond: The Objects and Elements of Sea Power in History. NAVAL REVIEW 1943, S. 8.
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der Seemacht nach Ressourcen und der Ermächtigung der kommerziellen und maritimen Bevölkerungen angetrieben wurde41. Es war kein Zufall, daß Holland und Großbritannien die ersten nordeuropäischen Staaten waren, die moderne steuererhebende bürokratische Regierungssysteme mit Zentralbanken, Staatsschulden und parlamentarischen Institutionen entwickelten. Diese miteinander verflochtenen Mittel der Nutzbarmachung des nationalen Reichtums, die wichtig waren, um die enormen Kosten der Seemacht des siebzehnten Jahrhunderts zu bestreiten, zwangen die Herrscher beider Staaten, die politische Macht mit der Handelselite zu teilen. Im Gegensatz dazu haben Frankreich und Spanien den Kaufleuten eine wichtige Mitwirkung in der Regierung verweigert; ihre Marinen prosperierten nicht, die politische Verpflichtung gegenüber der Seemacht war inkonsistent und wichtige Entscheidungen wurden eher aus dynastischen und territorialen als aus kommerziellen Gründen getroffen. Jan Glete hob besonders den Zusammenhang zwischen Marinen und dem Staatsaufbau hervor42. Untersuchungen der holländischen Kultur des siebzehnten Jahrhunderts zeigen eine Nation, die in Bilder vom Meer und in importierte asiatische Luxusartikel, wie Tulpen, vernarrt ist43. Die Pracht und Qualität der holländischen Gemälde von der See waren kein Zufall; sie spiegelten einen wachsenden Markt und eine zunehmende Identität mit der See wieder. Die kulturelle Macht des „Staatsschiffs“ in der zeitgenössischen holländischen Kunst war offensichtlich, während Bilder des Flaggschiffs der Flotte einer maritimen Republik „De Zeven Provincien“ doppelt wichtig waren44. Zu Zeiten der Stuarts strebte England nach maritimer wirtschaftlicher und strategischer Macht und man holte holländische Künstler ins Land, um die See zu malen45. Um die Marine für eine Seemacht aufbauen und unterhalten zu können „beherrschte der holländische Staat einen größeren Teil des Volkseinkommens als es die meisten anderen modernen Staaten dieser frühen Epoche jemals taten. Dies beruhte nicht auf der Absicht, die Menschen zu unterdrücken, sondern auf der Tatsache, daß breite Interessengruppen beträchtliche Teile ihres Einkommens und Kapitals in der Hoffnung in den Staat investierten, daß er ihre Interessen schützen und fördern würde“46. Kaufleute und Schiffseigner zahlten Abgaben für ihre Schiffe und Seereisen, um als Gegenleistung Schutz auf 41 Clark Reynolds adds Minoan Crete and the modern United States of America. But the former is largely a matter of legend, the latter simply incredible. 42 Jan Glete: Navies and Nations: Warships, Navies and State Building in Europe and America, 1500-1860, Almquist & Wiksell, Stockholm 1993, Vol. 2. Jan Glete: War and the State in Early Modern Europe: Spain, the Dutch Republic and Sweden as Fiscal-Military States, Routledge, London 2002, S. 165. 43 Simon Schama: The Embarrassment of Riches: An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, Collins, London 1987. Michael Russell: Visions of the Sea: Hendrick C. Vroom and the origin of Dutch Marine Painting. Brill, Leiden 1983. 44 Irene de Groot, R. Vorstman: Maritime Prints by the Dutch Master. Fraser, London 1980, S. 14-15. 45 Willem van de Velde: Father and son, captured the connection between state power and the sea in a lifetime of art. See, for example, the picture of HMS Royal Sovereign on the cover of: Andrew Lambert, War at Sea in the Age of Sail, Cassell, London 2000. 46 Glete, S. 172.
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See zu erhalten. Die Übernahme der holländischen fiskalischen Instrumente würde für das Entstehen Britanniens als letzte Thalassokratie von entscheidender Bedeutung sein: „Mit Ausnahme der Holländer ... hat kein anderer großer und wichtiger Staat einen derart hohen Anteil seiner Ausgaben einer schwimmenden Macht gewidmet“47. Außerdem war dies eine ganz bewußte Entscheidung. Von Beginn des frühen 16. Jahrhunderts an brauchte England eine schlagkräftige Marine zur nationalen Verteidigung. Nach 1688 hat die stetige Anwendung einer auf regelmäßiger Basis erfolgten umfangreichen Finanzierung eine schlagkräftige defensive Marine in ein Instrument globaler Macht umgewandelt, das ein auf Handel und Investitionen basierendes Weltreich sicherte. Die Leute, die ihr Geld verliehen, um die Flotte zu finanzieren, profitierten auch von dem Handel und waren stark am politischen Prozeß beteiligt. Die holländischen und britischen Weltreiche wurden, wie alle kulturellen Seemachtimperien, von dem Interesse an Märkten und Handel dominiert und nicht von den Landständen und der Bauernschaft, die von den Landmächten bevorzugt wurden. Die Seemacht hat zwei Formen. Die historische-kulturelle Seemacht, die das Produkt einer totalen nationalen Bindung zum Meer ist, behält die liberalen politischen Konnotationen bei, mit denen die Griechen das Wohl oder das Übel betonten. Die kulturellen Seemächte machen sich die nationalen Anstrengungen durch den Konsens nutzbar, daß gemeinsame Ziele verfolgt werden. Totalitäre Regime haben durchweg das Konzept nicht verstanden, hatten mehr Angst vor der Freiheit im Inland als vor den Feinden im Ausland. Ihr Antrieb, die Position einer strategischen Seemacht zu erreichen, scheitert gewöhnlich auf der menschlichen Ebene. Die Marinen absolutistischer und totalitärer Regime neigen dazu, aus Mangel an nachhaltiger wirtschaftlicher Unterstützung und hochqualifiziertem Fachpersonal, insbesondere bei den höheren Rängen, zusammenzubrechen. Die Unteroffiziere bilden das Rückgrat einer jeden ernstzunehmenden Marine. Die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, erfolgreich als eine strategische Seemacht zu funktionieren, spiegelt die wichtige kulturelle Tatsache wider, daß sie die politischen und ökonomischen Ideen der kulturellen Seemächte, d.h. die von Athen, Venedig, Holland und Britannien, übernommen hatten. Die amerikanische Seemacht triumphierte über ein wirtschaftlich schwächeres imperiales Japan, obwohl keines der Länder eine kulturelle Seemacht war. Die amerikanische Seemacht bleibt aber trotz allem ein Ergebnis der politischen Entscheidung und ist kein nationales Engagement. Es ist ein Instrument, das der Staat einsetzt, um das Meer für politische und militärische Zwecke zu beherrschen und zu überwachen. Es erforderte eine lange Zeit stetiger fiskalischer Unterstützung, um diese Flotte aufzubauen, und Gegner im eigenen Land drohten mehr als einmal mit ihrer Zerstörung. Das Scheitern strategischer Seemächte, ihre Flotten langfristig aufrechtzuerhalten, spiegelt die offensichtliche Tatsache wider, daß die Bereitschaft, teure Marinen auf lange Dauer zu finanzieren, normalerweise nur in maritimen Staaten – bei kulturellen Seemächten – vorhanden ist. Strategische Seemacht ist das Gegenteil von Landmacht – als 47 John Brewer: The Sinews of Power: War, Money and the English State, 1688-1783. Unwin Hyman, London 1989, S. 31.
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eine strategische Option und ein politisches Konzept. Was eine strategische Seemacht ausmacht ist spezifisch, kontingent und einmalig. Sie ist kein theoretisches Absolutgebilde. Die Verbindung zwischen Seemacht und kommerzieller Nutzung der Meere ist entscheidend. Nur solche Nationen, die von Seeverbindungswegen abhängen, sind kulturelle Seemächte; sie schaffen militärische Marinen und stellen den lebenswichtigen Zugang sicher, aber nicht um Territorium zu erobern. Diejenigen, die nicht auf das Meer angewiesen sind, operieren als strategische Seemächte. Tiefgreifende Veränderungen im nationalen Charakter können sich jedoch auf diese Sache auswirken. Die Vereinigten Staaten begannen ihre Existenz als eine kulturelle Seemacht, hörten aber nach weniger als einem Jahrhundert auf, eine zu sein. Die territoriale Ausbreitung transformierte sie in eine Kontinentalmacht mit großen militärischen Ressourcen. Als Amerika sich in den 1890ern wieder der See zuwendete, tat es dies als eine strategische Seemacht. Japan, eine kontinentale Militärmacht zwischen 1890 und 1945, ist durch seine Niederlage, durch rechtliche Beschränkungen und einer absoluten wirtschaftlichen Abhängigkeit zu einer Seemacht umgewandelt worden. Großbritannien wurde durch die Entscheidung, im Ersten Weltkrieg eine große Anzahl von Heerestruppen aufstellen zu müssen, völlig ruiniert. Dieser traumatische Konflikt wirkte sich auf die gesamte Nation aus; er kostete eine Million Menschen das Leben, schwächte die ökonomischen Grundlagen, die die Seemacht aufrechterhielten und hinterließ bei der Bevölkerung den gefährlichen und ungerechtfertigten Eindruck, daß ein Heer der Schlüssel zur nationalen Sicherheit sei.
Schlußfolgerungen Seemacht ist ein nützliches Konzept, aber keine Theorie oder gar Modell, das eingesetzt werden kann, um Ideen und Analysen neuen Anstoß zu geben, allerdings nur, wenn die vereinbarten Bedeutungen akzeptiert werden. Das Konzept wurde mehr als zweitausend Jahre benutzt, um sowohl über die Strategie als auch über die kulturelle Identität zu diskutieren. Die reine Vielfalt der Bedeutungen, mit der der Begriff belegt wurde, hat ihn derart flexibel gemacht, daß er nur mit Einschränkungen sicher benutzt werden kann. Die Zusammenfassung der Schlußfolgerungen über die Art, Entwicklung und den Zweck der Seemacht über die Zeiten hinweg, angefangen von Herodot bis hin zum einundzwanzigsten Jahrhundert, bildet den bleibenden Wert der historisch-kulturellen Auslegung und unterscheidet sie von Mahans strategischem Konzept. Die kulturelle Seemacht ist das Produkt einer grundsätzlichen nationalen politischen Entscheidung, sich wegen des Handels und der Verteidigung voll auf das Meer auszurichten, und zwar als Grundlage der nationalen ökonomischen und strategischen Politik. Nur wenn sie entsprechend als „kulturell“ oder „strategisch“ qualifiziert ist, kann die Seemacht ihre Nützlichkeit beibehalten, die Mahan im Sinn hatte, als er zu einer breiten, aus Offizieren, Staatsmännern und Historikern zusammengesetzten Zuhörerschaft sprach.
DEUTSCHLAND UND DIE SEE IM 21. JAHRHUNDERT THOMAS KOSSENDEY
Es ist mir eine Ehre, heute in der altehrwürdigen Hafenstadt Hamburg zu Ihnen sprechen zu dürfen. Insbesondere, weil es um ein Thema geht, das mir sehr am Herzen liegt: Deutschland und die See im 21. Jahrhundert. Die maritime Dimension der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird naturgemäß den Schwerpunkt meiner Ausführungen bilden, ich will aber auch andere Aspekte des Themas nicht außer Acht lassen – schließlich lautet das Thema der Tagung „Maritime Wirtschaft“.
Geschichtlicher Rückblick Deutschland ist im Vergleich zu Frankreich oder England eine junge Nation. Die maritime Geschichte Deutschlands ist dadurch erstens recht kurz. Zweitens ist sie kein Kontinuum, allein seit 1848 zählen wir nicht weniger als neun deutsche Marinen. Vor allen Dingen aber war man sich der Wichtigkeit der See nur phasenweise bewusst. Auch die Handelsschiffahrt in Deutschland war eher durch herausragende Einzelpersonen und Reeder wie Albert Ballin, John T. Essberger oder Adolph Woermann geprägt als durch ein durchgehendes landesweites Verständnis von der Bedeutung der See. Bis heute blicken wir in Deutschland eher auf die kontinentale Landmasse denn auf das Meer. Trotz gewichtiger maritimer Interessen scheint in Deutschland – vielleicht mit Ausnahme des späten Kaiserreiches – ein bestenfalls rationalunterkühltes Verhältnis zur See und ihren Chancen fest zementiert zu sein. Eine tiefe emotionale Bindung an oder gar intuitives Verständnis für die See sucht man abseits der Küste meist vergebens.
Die maritime Dimension von Deutschlands Sicherheit und Prosperität Diese Beziehungslosigkeit weiter Kreise der Bevölkerung und der Politik zu maritimen Belangen besteht heute unverändert fort. Dass 95 Prozent des weltweiten Fernhandels über See läuft, dass 90 Prozent des EU-Außenhandels und sogar 40 Prozent des EU-Binnenhandels über die See abgewickelt werden, dass also das Funktionieren unseres Staates direkt von der See abhängig ist – diese Tatsache ist südlich von Hamburg dem größten Teil der Bevölkerung schlicht nicht klar. Deutschland ist rohstoffarm und exportorientiert. Wir haben daher ein elementares Interesse an einem offenen Welthandelssystem und freien Transportwegen.
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Deutschland ist einer der größten und erfolgreichsten Schiffahrtsstandorte. Deutsche Eigner unterhalten mit fast 3500 Schiffen die drittgrößte Handelsflotte der Welt und bei den Containerschiffen sind wir mit weit über 30 Prozent der Welttonnage weltweit die Nummer Eins! Wenngleich derzeit in schwerem Wetter unterwegs, nimmt auch unsere Werftindustrie aus technologischer Sicht unverändert eine Spitzenstellung ein. Beim Spezialschiffbau sind deutsche Werften weltweit Marktführer! Ich will an dieser Stelle nicht verschweigen, dass der Marineschiffbau in Deutschland schwere Zeiten durchmacht. Im- und Export sowie Schiffbau brauchen eine intakte maritime Infrastruktur. Die deutsche Hafenwirtschaft ist daher ein unverzichtbarer Garant für unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit. Unsere Häfen sind leistungsfähige logistische Dienstleistungszentren und Industriestandorte zugleich. Aber auch das Meer selbst bietet vielfältige Ressourcen. Fischgründe ebenso wie Energieträger aus dem Meeresgrund müssen offene Quellen für unsere Volkswirtschaft bleiben. Auch bei der Energiegewinnung durch Windkraft bietet die freie See einen attraktiven Standort mit einer geradezu unerschöpflichen Quelle und leistet so einen Beitrag zur Energiesicherheit unseres Landes und zur Verringerung von Emissionen. Erwähnen möchte ich auch Meeresforschung und Meerestechnik. Dies sind High-Tech-Branchen mit enormem Wachstumspotenzial. Dieses Potenzial gilt es weiter zu erschließen und in Aufträge für die deutsche Wirtschaft umzusetzen. Deutschland profitiert also enorm von der Globalisierung. Allerdings sind Deutschlands politische und wirtschaftliche Strukturen sowie seine kritische Infrastruktur auch verwundbarer geworden. Einen Aspekt möchte ich an dieser Stelle noch herausgreifen: den Klimawandel. Gerade Deutschland unternimmt erhebliche Anstrengungen, um Treibhausgasemissionen zu begrenzen. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass einige Folgen des Klimawandels nicht mehr aufzuhalten sind. Dies birgt durchaus Chancen, zum Beispiel die Nutzung der Nordostpassage. Es gibt aber auch Konfliktpotenziale, zum Beispiel um gute Ausgangspositionen für die Nutzung eines möglicherweise bald eisfreien Nordpols, auf die ich später noch zu sprechen kommen werde. Die See und somit auch die Sicherheit auf den Weltmeeren hat also für Deutschland strategische Bedeutung.
Entwicklungslinien „vom Land zum Meer“ Ausgehend von diesem Grundverständnis möchte ich mich nun den Entwicklungslinien und damit der Frage, wohin wir uns im maritimen Umfeld bewegen, zuwenden. Im Zuge der Globalisierung wuchs der Weltseehandel bis zur Wirtschaftskrise ca. doppelt so schnell wie das weltweite BIP. Träger des Wachstums waren China und das übrige Asien. Die weitere Entwicklung beim Seehandel ist nur schwer zu prognostizieren. Fest steht allerdings, dass die Schiffahrt beim Energieaufwand
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gegenüber Straßen-, Schienen- und Lufttransport den weitaus geringsten Energieaufwand pro Ladungstonne benötigt. Folgerichtig nimmt bei der zu beobachtenden Erholung der Märkte auch der Seehandel wieder Fahrt auf. China, Indien und das übrige Asien präsentieren sich wieder als Motoren des Wachstums. Neben die heute bestimmende Seemacht USA und Nationen mit einem traditionell maritim geprägten Selbstverständnis wie Großbritannien, Frankreich oder Japan treten deshalb zunehmend neue Akteure, die ihr maritimes Engagement verstärken – zivil und militärisch! So strebt heute Russland wieder verstärkt zur See. Ob in der Arktis, wo im August 2007 bei einer Tauchexpedition unter dem Nordpol eine russische Flagge aufgestellt wurde, im Mittleren Osten oder im Schwarzen Meer – der Kreml demonstriert offenkundig maritime Präsenz. Aber nicht nur in Russland beobachten wir eine ambitionierte Hinwendung zur See. China und Indien hegen umfassende maritime Ambitionen und Flottenpläne, die einen erheblichen Anteil sogenannter Projektionsfähigkeit beinhalten. Diese Flotten – das muss uns allen klar sein – dienen der Durchsetzung von Interessen und Ansprüchen, sei es im südchinesischen Meer, im ehemals ewigen Eis oder im Indischen Ozean, wo nach Mahan entschieden wird, wer die Erde erbt. Dort liege – so der amerikanische Seekriegstheoretiker – der Schlüssel zur Herrschaft über die Sieben Meere. Dort verlaufen die Seewege von und zu den großen Öl- und FlüssiggasTerminals, dort verbinden die Handelsrouten für Rohstoffe und Maschinen unsere europäischen Volkswirtschaften mit den Zukunftsmärkten Asiens und dort lauern neben erfreulichen Chancen auch erhebliche Risiken. Einige Anrainer und Gegenküstenstaaten Indiens und Chinas sehen sich infolge der spürbar gestiegenen maritimen Präsenz dieser Länder zu eigener Verstärkung maritimer Fähigkeiten genötigt. Ein weiteres Anwachsen der schon heute vorhandenen Seekriegspotenziale in der politisch sensitiven Region ist wahrscheinlich. Aber neben diesen – weitgehend – kalkulierbaren staatlichen Aktivitäten erwächst aus den zunehmend zahlreichen nichtstaatlichen Akteuren eine neue Herausforderung, die ungleich schwerer auszumachen und einzuschätzen ist. Derzeit das prominenteste Problem ist sicherlich die Piraterie – nicht nur, aber ganz besonders am Horn von Afrika. Die Deutsche Marine hat sich in der laufenden Operation ATALANTA außerordentlich bewährt und ich freue mich, dass in zahlreichen Gesprächen national wie international viel Anerkennung für die Leistungen unserer Soldaten zum Ausdruck gebracht wird. Gleichwohl muss mittelfristig das politische Problem derjenigen Küstenstaaten angegangen werden, die keine effektive Hoheitsgewalt ausüben wollen oder können. Bereits heute lebt der überwiegende Anteil der Weltbevölkerung an oder in der Nähe der Küste, Tendenz steigend. Wenn es uns nicht gelingt, diesen Menschen in den unterentwickelten Ballungszentren entlang der Küsten eine Perspektive für ein sicheres und friedliches Zusammenleben zu eröffnen, wird die Piraterie nach der Antike und dem 16. Jahrhundert eine dritte Blütezeit erleben. Auf See werden wir das Problem zwar eindämmen, aber nicht beseitigen können – das geht nur durch Bekämpfung der Ursachen an Land.
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Ein weiteres Risiko ist der Terrorismus. Auf See und an den Küsten ist bislang wenig terroristische Aktivität zu beobachten. Das muss aber nicht so bleiben; „Choke Points“ entlang der Seehandelsrouten und eine naturgemäß verwundbare maritime Infrastruktur bieten leichte Ziele mit enormer Wirkung im Falle eines erfolgreichen Anschlages. Die vorübergehende Blockade etwa des Suez-Kanals oder der Malakka-Straße oder die Sperrung größerer Häfen infolge von Anschlägen würde die Weltwirtschaft und damit gerade auch Deutschland empfindlich und nachhaltig treffen. Auch im maritimen Umfeld sind die weiter wachsende Weltbevölkerung, ungleich verteilte und knapper werdende Ressourcen gepaart mit den Möglichkeiten moderner Informationstechnologie und der Anfälligkeit unserer offenen Gesellschaften der gefährliche Nährboden für Piraterie, Terror und Kriminalität. Aber es gibt noch Hoffnung: Gerade den nichtstaatlichen Akteuren können wir das Wasser abgraben, indem wir die scheinbare Attraktivität ihrer Ideologien durch die realistische Aussicht auf Sicherheit und Wohlstand widerlegen. Weitaus weniger aktive Gestaltungsräume lässt uns der heute weitgehend als Tatsache akzeptierte Klimawandel. So werden für künftige arktische Sommer regional begrenzte, eisfreie Wochen und Monate erwartet. Lineare Modelle sagen dies beginnend ab 2025 voraus, dynamischere Modelle sehen bereits ab Mitte des nächsten Jahrzehnts zunehmende Möglichkeiten für eine Passage von Schiffen durch den Arktischen Ozean. In der Arktis wird also künftig eine signifikante Zunahme des Schiffsverkehrs und anderer menschlicher Aktivitäten zu beobachten sein. Eine Seehandelsroute nördlich der russischen Landmasse wird die Transferzeiten zwischen (Nord-) Europa und Hinterindien drastisch reduzieren und so den Handel mit Fernost zusätzlich beleben können. Zugleich könnten nach dem Wegschmelzen der Polkappe die im arktischen Meeresboden vermuteten großen Vorkommen an Mangan, Nickel, Kupfer und Kobalt wirtschaftlich erschlossen werden. Hier bieten sich enorme Wachstumschancen für moderne Meeres- und Tiefseetechnik sowie die dazu notwendige Logistik. Allerdings gewinnen im Hinblick auf die vermuteten Bodenschätze auch die noch immer zahlreichen widersprüchlichen territorialen Forderungen der Arktikanrainer an politischer Sprengkraft. Wenngleich trotz der noch widerstreitenden Interessen und der damit möglichen Verteilungskämpfe nicht gleich kriegerische Auseinandersetzungen zu erwarten sind, wird mit der verstärkten menschlichen Anwesenheit und Nutzung des Arktischen Ozeans das Risiko von Krisen, Unfällen und ökologischen Katastrophen absehbar steigen. Umso erstaunlicher ist, wie die Seemacht USA in der allgemeinen „End of History“-Euphorie die strategisch bedeutsamen militärischen Anlagen auf Island aufgeben konnte – ohne den Widerstand der Mitgliedstaaten des doch eigentlich zutiefst maritimen transatlantischen Bündnisses. Heute bedauern viele die – zumindest vorübergehende – Aufgabe dieser unsinkbaren strategischen Seebasis und damit der Kontrolle über die Seegebiete zwischen Norwegensee und Grönland. Die Nordostpassage öffnet sich, ebenso die Nordwestpassage, und beides wirft Fragen und Konflikte auf, die sich
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nicht von selbst lösen werden, sondern der strategischen Aufmerksamkeit und politischer Weisheit bedürfen – nicht nur der Anrainerstaaten! Deutschland scheint aufgrund seiner Lage zunächst nicht unmittelbar betroffen. Hier trügt jedoch der Schein, denn aufgrund der bereits geschilderten Abhängigkeiten unseres Landes müssen wir uns heute mit den im vormaligen ewigen Eis ruhenden Chancen und Risiken von morgen beschäftigen und unseren „level of ambition“ in der Arktis bestimmen. Handel und Wandel, neue Akteure und geographische Veränderungen – die aufgezeigten maritimen Entwicklungslinien lassen sich zu einer strategischen These für das angebrochenen 21. Jahrhundert verdichten: Wir stehen am Anfang eines maritimen Jahrhunderts. Chancen, aber auch Risiken kulminieren im maritimen Umfeld. Nicht mehr das Land, sondern das Meer bestimmt die Koordinaten der zukünftigen Weltordnung. Weltmacht basiert mehr als je zuvor auf Seehandel – einschließlich der Fähigkeit und Bereitschaft diesen zu verteidigen.
Folgen für Deutschland Was bedeutet all das für uns in Deutschland – zentral auf der Halbinsel Europa gelegen? Nun, zum Einen sind wir gut beraten, der maritimen Ökonomie die gebotene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen – allein die Handelsbeziehungen zwischen Europa und Asien auch über die beiden großen deutschen Seehäfen stellen eine der größten Handelsachsen überhaupt dar. Das bedeutet zum anderen auch – und damit sind wir bei der Kernkompetenz meines Hauses angekommen –, dass Maritime Sicherheit in Zukunft weltweit gedacht und nötigenfalls durchgesetzt werden muss. Dabei geht es um weit mehr als nur die derzeit hochaktuelle Frage der Piraterie. Es geht um Rohstoffe und um Handelswege zwischen den großen Industrieregionen der Welt. Es geht um die Freiheit der Meere und die Frage, wer sie gegebenenfalls durchsetzt – am Horn von Afrika, in der Straße von Hormuz, in der Arktis oder entlang den großen Seerouten. Wie also umgehen mit möglichen zukünftigen Seemächten wie Russland, Indien und China? Natürlich sind wir gut beraten, die Entwicklungen gewissenhaft zu beobachten und die daraus resultierenden Risiken unvoreingenommen zu bewerten. Dabei sollten wir uns jedoch in Acht nehmen, nicht in jeder Seerüstung den Ansatz eines neuen Kalten Krieges zu sehen. Diese Nationen haben das maritime Jahrhundert entdeckt und ihre Hausaufgaben gemacht! Sie haben wie auch einige hier in Deutschland erkannt, dass sich die maritime Bedrohung seit dem Ende der Stabilität gebenden Bipolarität drastisch gewandelt hat: Nicht mehr nur große Kampfverbände und Geleitzugschlachten, sondern zuvorderst asymmetrische Konflikte bedrohen die Sicherheit auf dem Meer und an den Küsten. Terrorismus, Menschenhandel, Piraterie, Drogenschmuggel, die Verminung von Häfen, „Waterborne Improvised Explosive Devices (WBIED)“ und die Proliferation von Waffen stellen alle Staaten und damit vor erhebliche Probleme. Nicht zuletzt deswegen hat sich Moskau mehrmals mit Schiffen an der Operation „Active Endeavour“ beteiligt, immerhin eine Artikel-5-Operation der
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NATO, die der Seeraumüberwachung im Mittelmeer gilt und den zivilen Seeverkehr kontrolliert. Die gemeinsam gesammelten Daten dienen der Abwehr terroristischer Angriffe. Und am Horn von Afrika leisten neben NATO- und EU-Verbänden auch die russische, die indische und die chinesische Marine ihren Beitrag zum Schutz der Handelsschiffahrt vor Piraten. Hier ist es gelungen, die im Einsatzgebiet stehenden Kräfte wirksam zu koordinieren und wechselseitiges Vertrauen zu erzielen. Ich sehe darin einen Beleg für die grundsätzliche Möglichkeit, den heutigen Risiken und Bedrohungen auf See gemeinsam mit den aufstrebenden maritimen Mächten zu begegnen. Diese außenpolitische Option gilt es aktiv zu gestalten! Den dazu bisweilen erforderlichen Mut bringen wir mit einer maritim geprägten Haltung leichter auf als mit dem angststarren Blick auf die große Kontinentalmasse! Lassen Sie mich nun den Blick nach innen richten, wo es ebenfalls gilt, ressortübergreifend zusammen zu arbeiten. Für die ressortgemeinsame Arbeit auf dem Feld der Sicherheitspolitik existieren klare, nationale Rahmenbedingungen. Die föderale Struktur unseres Landes erfordert gemeinsame Anstrengungen der nach dem Grundgesetz zuständigen Bundes- und Landesbehörden, um auch die Sicherheit im maritimen Umfeld zu gewährleisten. Mit der heutigen Verfassungsrealität bleiben die rechtlichen Kompetenzen der Deutschen Marine beim Schutz der Seehandelswege allerdings hinter ihren Fähigkeiten zurück. Dabei lehrt uns die Realität, dass Situationen entstehen können, wo die Fähigkeiten der originär zuständigen Bundespolizei See nicht mehr ausreichen, um die Bevölkerung, Infrastruktur oder Schiffe wirksam zu schützen. Dann ist es geboten, die Bundeswehr mit ihrem gesamten militärischen Fähigkeitsspektrum einsetzen zu können. Wenngleich wir in dieser Hinsicht noch ein weites Stück zu gehen haben, so ist doch der eingeschlagene Kurs ebenso richtig wie alternativlos. Ein Beispiel für die erfolgreich angelaufene ressortgemeinsame Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Maritimen Sicherheit ist das „Gemeinsame Lagezentrum See“ (GLZ) in Cuxhaven. Die Organisation der Deutschen Küstenwache als Netzwerk wird europaweit mit hohem Interesse beobachtet. Die Europäische Kommission bewertet dies als ein gelungenes Beispiel integrativer Meerespolitik und verwirklichter Subsidiarität. Deutschland wirkt deshalb aktiv an der Entwicklung, Intensivierung und Ausdehnung derartiger europäischer und globaler maritimer Überwachungsnetzwerke mit. Der Marine kommt hier auf multinationaler Ebene, innerhalb und außerhalb der NATO und der EU, die besondere Rolle des Vertreters deutscher Interessen hinsichtlich Maritimer Sicherheit zu. Dies führt mich zu einem weiteren Feld, das wir im eigenen Interesse aktiv mitgestalten sollten: Wohin steuern unsere Bündnisse, allen voran die Nordatlantische Allianz? Dort hatte man bereits 1991 – seinerzeit freilich weitgehend unbemerkt – zutreffend festgestellt, dass der Zugang zu strategischen Ressourcen und freie Seewege vitale Interessen des Bündnisses sind. Da kündigte sich ein neues Denken als Antwort auf eine neue Lage an – leider nicht lange genug.
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Schon bald begann man seinen Blick wieder an Land zu richten. Das beginnt sich allerdings zu ändern. Deutschland sollte deshalb mit seinem politischen Gewicht darauf hinwirken, dass die NATO als genuin atlantisches Bündnis ihr maritimes Wesen neu begreift und die EU ihre Bemühungen im maritimen Umfeld konsequent vorantreibt! Bei einer fortgesetzten Fokussierung auf das Land drohen beide Organisationen global auf eine sicherheitspolitisch vernachlässigbare Größe zu schrumpfen. Dies wäre gerade für unser Land, das seine Sicherheits- und Verteidigungspolitik bewusst international einbettet, ein schwerwiegender Verlust. Den übergeordneten Zielen der Sicherheitspolitik muss die Verteidigungspolitik Folge leisten. Das maritime Jahrhundert kann nicht ohne Folgen für die weitere Entwicklung der Bundeswehr bleiben. Bundesminister zu Guttenberg hat eine umfassende Reform der Bundeswehr angestoßen. Diese wird auch die zukünftigen maritimen Fähigkeiten der Bundeswehr umfassen. Ich möchte mich hier nicht an den Spekulationen zur zukünftigen Stärke der Marine beteiligen. Ich bin mir aber sicher, dass die Deutsche Marine den eingeschlagenen Weg, die vorhandenen Kapazitäten der sicherheitspolitischen Lage anzupassen, fortsetzen wird. Eine Rollenspezialisierung oder Aufgabenteilung im europäischen Kontext ist nur sehr begrenzt möglich. Erstens würden wir uns mit einem solchen Schritt in eine irreversible Abhängigkeit begeben. Zweitens würden unsere Beratungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten in sicherpolitischen Fragen beeinträchtigt. Drittens erwarten auch unsere Partner, dass wir als wirtschaftlich stärkstes Land Europas einen signifikanten Beitrag zur Sicherung der Seewege leisten können. Eine Deutsche Marine mit einem ausgewogenen Fähigkeitsprofil ist für die Verteidigung Deutschlands und seiner Interessen daher unverzichtbar! Dass es hierzu auch eines leistungsfähigen Marineschiffbaus bedarf, ist unstrittig. Es erscheint mir ein Gebot der Stunde zu sein, möglichst viele der zwischen dem BMVg und der Industrie einvernehmlich vereinbarten wehrtechnischen Kernfähigkeiten erhalten zu wollen. Anderenfalls laufen wir in eine Abhängigkeitsfalle, die uns langfristig vermutlich teuer zu stehen kommen würde. Seien Sie also versichert, dass wir im Verteidigungsministerium diesen Prozess eng mitverfolgen. Aber glauben Sie mir bitte auch, dass ohne Geld selbst Schiffe kaufen keinen Spaß macht. Gestatten Sie mir noch ein Wort zum Thema Finanzen. Es ist keine Frage, dass der Staat für die strategischen Ziele, die ich in diesem Vortrag skizziert habe, Geld investieren muss. Wir sind aber auch dem Steuerzahler gegenüber dafür verantwortlich, was genau mit dem Geld passiert. Und wenn zum Beispiel Herr Witthöft im Marineforum fragt, warum die Bundesregierung mit deutschem Steuergeld Reedereien unterstützen soll, die ihre Schiffe im Ausland bauen lassen und mit ausländischen Besatzungen unter ausländischer Flagge zur See fahren lassen, dann muss ich gestehen, dass ich diese Frage als berechtigt empfinde.
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Ausblick Das angebrochene Jahrhundert bietet mit dem Wachstumspotential der internationalen Seewirtschaft, mit neuen und kürzeren Handelswegen und dem Innovationsträger Meerestechnik bislang ungeahnte Chancen für unsere Prosperität. Zugleich aber beeinträchtigen eine Vielzahl von Risiken unsere Möglichkeiten zur See. Deutschland ist deshalb gut beraten, sein traditionell kontinental geprägtes Denken und Handeln abzustreifen, seine maritimen Interessen zu definieren und mit gesundem Selbstbewusstsein zu verfolgen. Wirtschaftlich ist Deutschland mit einer leistungsfähigen Handelsflotte, florierenden Häfen, modernen Werften und fortschrittlicher Meeresforschung für das maritime Jahrhundert gut aufgestellt. Diese Position zu festigen und – wo möglich – auszubauen, ist eine strategische Aufgabe aller verantwortlich Handelnden in Deutschland. Das Erreichte und Angestrebte müssen wir aber nötigenfalls auch durchsetzen und verteidigen können. Denn Prosperität und Sicherheit sind zwei Seiten derselben Medaille! Um den angemessenen Schutz für unsere seeseitigen Interessen sicherstellen zu können, müssen wir die maritimen Fähigkeitslücken der Bundeswehr konsequenter als bisher schließen und verfassungsrechtliche Regelungen beim Einsatz der Streitkräfte überprüfen und gegebenenfalls anpassen. Im Verhältnis zwischen Deutschland und der See wird es wahrscheinlich auch im 21. Jahrhundert bestenfalls für eine Vernunftehe reichen. Dann aber würde die Bundesrepublik Deutschland ihre Sicherheit und Prosperität immerhin mehr als bislang von See her denken.
AUTOREN UND HERAUSGEBER
Prof. Dr. jur. Franz Böni, Universität Konstanz. Studium der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, Wirtschaftsberater, Weiterbildungsbeauftragter des Fachbereiches Rechtswissenschaft der Universität Konstanz, wissenschaftliche Leitung und Betreuung der Kontaktstudien, die zum Master of Advanced Studies (MAS) in Business Law and Compliance führen, Handelsrichter Kanton St. Gallen, CEO der Firma CB Consulta AG. Birgit Braasch, Referendarin im Hamburger Schuldienst, Studium der Anglistik und Geschichtswissenschaften an der Universität Hamburg und der Leeds Metropolitan University, Doktorandin am CTCC (Centre for Tourism and Cultural Change). Dr. phil. Cord Eberspächer, Direktor des Konfuzius-Instituts der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Studium der Geschichtswissenschaften und Sinologie an den Universitäten Oldenburg, Hamburg, Leiden und Peking. Von 2005 bis 2008 Arbeit am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, in Kooperation mit dem Ersten Historischen Archiv in Peking über die deutschchinesischen Beziehungen von 1842 bis 1911 und anschließend an der University of Bristol zur Geschichte der deutschen Niederlassung in Tianjin. Prof. Dr. phil. Jürgen Elvert, ord. Univ.-Prof., Lehrstuhl für Geschichte der Europäischen Integration, Historisches Institut der Universität zu Köln, Studium der Geschichtswissenschaften und Anglistik in Kiel und Belfast,1988 Promotion zum Dr. phil. an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 1996 Habilitation ebendort, Senior Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Prof. Dr. phil. Michael Epkenhans, Leiter Abteilung Forschung am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam, Studium der Anglistik und Geschichtswissenschaften, 1989 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Münster, 2004 Habilitation an der Universität Hamburg, 1996 bis 2009 Geschäftsführer der Ottovon-Bismarck-Stiftung Hamburg. Konteradmiral a.D. Sigurd Hess, BSEE, Ph.D., Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Schiffahrts- und Marinegeschichte, Rheinbach, Vorstand IIHA (Int. Intelligence History Association), Präsidium DMI (Deutsches Maritimes Institut), Studium der Elektrotechnik, Mathematik und Physik USNPGS in Monterey/Californien mit Promotion, Kommandant S-„Tiger“, Z-„Mölders“ und Verbandsführer, Abt.Ltr. in int. und nationalen höheren Stäben, zuletzt als Chef des Stabes/Stellv. Kommandeur des NATO Hauptquartiers „Ostseezugänge“ in Ka-
AUTOREN UND HERAUSGEBER
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rup/Dänemark, Forschungsarbeiten über Sicherheitspolitik, Piraterie, Marinegeschichte, Nachrichtendienste während des Kalten Krieges. Prof. Dr. phil. Rolf Hobson, Institut für Verteidigungsstudien Oslo, Studium an den Universitäten Oslo und Düsseldorf. Seine Dissertation erschien zuerst in den USA, danach als Maritimer Imperialismus bei Oldenbourg (2004), letzte Veröffentlichung Krig og strategisk tenkning i Europa 1500-1945 in norwegischer Sprache. Thomas Kossendey, MdB, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Berlin, Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten zu Köln und Münster. Seit 1987 Mitglied des Deutschen Bundestages, u.a. Mitglied und Stv. Vorsitzender Verteidigungsausschuß bis 2006, Vorsitzender des Vereins „Bundeswehr hilft Kindern in der 3. Welt.“ Professor Andrew David Lambert, BA (Law), MA, Ph.D., Laughton Professor of Naval History, Dept. of War Studies, King's College, London. Nach Abschluß seiner Forschungstätigkeit am Department, Lehrtätigkeit an der University of the West of England, Bristol, am Royal Naval Staff College, Greenwich und an der Royal Military Academy, Sandhurst. Von 1996 bis 2005 Honorary Secretary of the Navy Records Society, Fellow of the Royal Historical Society and Honorary Research Consultant: New Dictionary of National Biography Project, z. Zt. Direktor der Laughton Naval History Unit am Dept. of War Studies. Dr. phil. Melanie Leonhard, Hamburg, Studium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Politikwissenschaft und Geographie an der Universität Hamburg, dort 2009 Promotion. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin einer Hamburger Reederei. Dr. phil. Johanna Meyer-Lenz, Studiendirektorin, Lehrbeauftragte am Historischen Seminar der Universität Hamburg. Studium der Geschichtswissenschaften und Romanistik an den Universitäten zu Tübingen, Poitiers und Köln. 1995 Promotion zum Dr. phil. in Geschichte an der Universität zu Hamburg. Forschungsschwerpunkte und zahlreiche Veröffentlichungen zur Sozial-, GeschlechterTechnik-, Unternehmens- und Medizingeschichte. Mitarbeit an der Publikation des Forschungsverbundes zur „Kulturgeschichte Hamburgs 1848-1933 (Hg.: Dirk Hempel, Ingrid Schröder), geplante Erscheinung: Hamburg 2011. Dr. phil. Jürgen G. Nagel, Fern-Universität Hagen. Studium der Geschichts- und Politikwissenschaft und Ethnologie an der Universität Trier, dort 2003 Promotion. 1997-2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Teilprojektes zur regionalen Frühindustrialisierung im Rheinland im Rahmen des Sonderforschungsbereichs Zwischen Maas und Rhein. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrgebiet Neuere Europäische und Außereuropäische Geschichte der Fern-Universität Hagen. Arbeit an der Habilitationsschrift Die Kolonie als wissenschaftliches Projekt. Forschungsorganisation und Forschungspraxis im deutschen Kolonialreich.
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Prof. Dr. phil. Sönke Neitzel, seit 01. Oktober 2011 Lehrstuhl für Modern History/Global Security an der University of Glasgow, zuvor Lehrstuhlvertretung und Lehraufträge an den Universitäten Saarbrücken, Essen, Bern, Mainz, und Karlsruhe. Die Dissertation: "Der Einsatz der Luftwaffe über dem Atlantik und der Nordsee 1939-1945" wurde mit dem Werner-Hahlweg-Preis für Wehrwissenschaften und Militärgeschichte ausgezeichnet. Dr. phil. Hajo Neumann, stellvertretender Geschäftsführer im Deutschen Marinemuseum Wilhelmshaven. Studium der Geschichtswissenschaften und Amerikanistik an der Universität Hamburg. Promotion mit einer Untersuchung zur Schiffahrt mit Atomantrieb in der Bundesrepublik an der Universität Bremen. Mehrere Beiträge zur Schiffahrts- und Marinegeschichte. Konteradmiral a.D. Ulrich Otto, Neuberend, Stv. Präsident des DMI (Deutsches Maritimes Institut). 1965 Eintritt in die Marine, Offiziersausbildung mit der Crew IV/65, fliegerische Ausbildung und Einsatz, Admiralstabsausbildung an der FüAkBw, Hamburg und am „Royal College for Defence Studies“, London. Stabsverwendungen im Flottenkommando, Führungsstab Marine, Planungsstab BMVg, NATO HQ Brüssel. 2003 bis 2008 Amtschef Marineamt, Rostock. Dr. phil. Dirk J. Peters, Leiter der Abteilung „Schiffahrt im Industriezeitalter“ im Deutschen Schiffahrtsmuseum (DSM), Bremerhaven. Technikhistoriker am DSM, Lehrbeauftragter für Technik- und Schiffahrtsgeschichte an der Universität Hannover, seit 2008 Lehrbeauftragter für Technik- und Schiffahrtsgeschichte am Historischen Seminar der Universität Osnabrück. Veröffentlichungen zur deutschen Schiffahrts- und Technikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Dr. phil. Robert Riemer, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (EMAU). Studium der Geschichts-, Politik-, Rechts- und Kommunikationswissenschaften an der Universität zu Greifswald, dort 2006 Promotion. Seit 2010 Truppenfachlehrer für Militärgeschichte an der Offiziersschule des Heeres in Dresden. Arbeit an der Habilitationsschrift „Kaspar Stockalper vom Thurm – ein Schweizer Soldunternehmer im 17. Jahrhundert“. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Militärgeschichte. Fregattenkapitän a.D. Dr. phil. Heinrich Walle, Bonn. Lehrbeauftragter für Geschichte am Historischen Seminar II der Universität zu Köln, 1963 Eintritt in die Marine, Studium der Geschichtswissenschaften an der Universität zu Bonn, dort 1979 Promotion. Bis 1995 Historiker-Stabsoffizier am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr, Potsdam.1995 bis 2001 Studium der Katholischen Theologie an der Universität zu Bonn. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Militär-, Marine-, Technik-, Schiffahrts-, und Kirchengeschichte.
NAMENSREGISTER (PERSONEN, INDUSTRIEFIRMEN, SCHIFFSNAMEN)
Aaron Manby, Dampfschiff 61 Abdullahi, Ahmed 145 Active Endeavour, NATOOperation 214 Addison, Paul 50 Adenauer, Konrad & Stiftung 107, 145 Adoratskij, Vladimir V. 141, 142 AEG, Konzern 109, 113, 129 AGFA, Industriefirma 129 Aldrich, Robert 125 Ambrosius, Gerold 133 Amsinck, Reederei 101 Amsterdam, Ostindienfahrer 123 Anderson, David 147, 148, 150 Armengaud, André 124 Armstrong, Werft 77, 86, 177 Ashkenazi, Michael 145 Atalanta, EU Operation 163, 164, 212 Aubin, Hermann 31 Augusta Victoria, Passagierschiff 95 Bacon, Francis 198, 200, 204 Bagge, Erich 107, 108, 116 Bakonyi, Jutta 145 Baldwin, R. 200 Ballin, Albert 95, 98, 99, 210 Barre, Mohammed Siad 145, 148 BASF, Konzern 129 Beckerson, John 46, 54 Beer, Karl-Theo 47 Bentley, Michael 203 Benz, Karl 57 Berghahn, Lothar 103 Berghahn, Volker R. 93, 103, 172, 173 Berghoff, Hartmut 37, 46, 90, 92, 93, 99, 103, 104 Bessel, Georg 38, 40 Bessell, Georg 31 Bessemer, Henry 56 Beuth, Peter Christian Wilhelm 70
Beutin, Ludwig 14, 31 Bieber, Hans-Joachim 107 Bilstein, Roger 50 Bismarck, Herbert von 86 Bismarck, Otto von & Schiffsname 31, 32, 85, 94, 95, 98, 125, 183 Bleicken, Jochen 138 Blohm & Voss, Werft 18, 58, 64, 67, 90, 92-96, 98, 99, 101-103, 105 Blohm, Georg 99 101 Blohm, Herrmann 100, 101, 103, 105 Blohm, L.F. 100 Blohm, Rudolf 100, 101 Blohm, Walther 100 Blücher, Panzerkreuzer 179 Bohn, Robert 153 Böni, Franz 6, 119, 136, 154, 218 Borchardt, Knut 140 142, 161 Borsig, Konzern 129 Boyce, Gordon 93 Braasch, Birgit 5, 16, 45, 218 Brandis, Annemarie 100 Brandt, Max von 86, 88 Braudel, Fernand 197 Breslau, Kleiner Kreuzer 180 Brewer, John 208 Britannic, Passagierschiff 97 Brooks, Clive 50 Brunner, Otto 125 Buchheim, Christoph 125, 127, 132 Buchheim, Lothar Günther 106 Burnett, John S. 165 Burrow, John 203 Caird & Co., Werft 61 Canning, George 194 Carnegie, Konzern 177 Carnival Corp. 45 Cecil, Lamar 191 Ceska, Edward A. 145
222 Chamberlain, Joseph 203 Chandler, Alfred D. 37, 92, 128, 132 Chapman, Fredric Henrik af 70 Chen Yuan, Panzerschiff 80, 84 Chen Yue 80 Churchill, Winston 184 Cipolla, Carlo M. 124, 140-142, 161 Clausewitz, Carl von 206 Cleveland, Passagierschiff 96 Clucas, Steven 200 Coleman, Terry 46 Columbia, Passagierschiff 95 Columbus, Christopher 118 Compagnie des Indes 121 Conrad, Sebastian 125 Conze, Werner 125 Corbett, Julian 168, 177, 195, 205, 206 Cordingly, David 137 139, 159 Craighill, W.P. 204 Crüsemann, Eduard 16 Cunard Linie 16, 45-52, 54, 55, 92, 95, 97 Davies, R.E.G. 46 De Zeven Provincien, Linienschiff 207 Deane, Phyllis 128 Dee, John 199, 200, 201 DeGuio, Lydia 51 Deist, Wilhelm 172 Depkat, Volker 126 Derfflinger, Schlachtkreuzer 94 Detring, Gustav 88 Diebner, Kurt 107, 108 Diesel, Rudolf 57 Dietrich 82, 84 Ding Yuan, Panzerschiff 80, 84 Doren, Alfred 141 Dorpalen, Andreas 194 Drake, Francis 203 Dreadnought, Schlachtschiff 57, 178, 194 Dresden, Kleiner Kreuzer 181 East India Company (EIC) 118, 121, 122 Eberspächer, Cord 5, 77, 218 Eglin, George 46, 52 Ehrenreich, Barbara 46
NAMENSREGISTER
Eisenhower, Dwight D. 106 Elbertzhagen, Carl Alexander 70 Elder, John 61 Elisabeth I. 139 Elsenhans, Hartmut 140, 153 Elvert, Jürgen 7, 8, 218 Elwert, Georg 99 Emden, Kleiner Kreuzer 181 Endy, Christopher 46 Engels, Friedrich 141, 142 Engelsing, Rolf 13, 14, 17 Epkenhans, Michael 6, 93, 173, 176, 194, 218 Essberger, John T. 210 Faina, Handelsschiff 150 Fairbank, John King 78, 81 Fairfield, Werft 95 Fan Baichuan 78 Fiedler, Martin 103 Firth, Charles 200 Fischer, Wolfram 128 Fisher, Sir John 173, 178, 194 Fitger, Emil 24, 31 Flamm, Oswald 31 Flora, Handelsschiff 101 Focke, Harald 47 Franzmeyer, Fritz 151 Freeden, Wilhelm von 26 Friedrich der Große, Schlachtschiff 83 Frontline, Reederei 156 Früchtenicht & Brock, s. Vulcan Werft 61 Fussell, Paul 53, 54 Gall, Lothar 124 Galster, Karl 177 Garlieb, Martin, s. auch Amsinck 101 Gebauer, Jürgen 82 Gelzer, Matthias 137 Georg VI. 184 Germania, Werft 64, 67, 68, 72 Gerschenkron 90 GKSS Forschungszentrum Geesthacht 116
NAMENSREGISTER
GKSS, Gesellschaft für Kernenergie-Verwertung in Schiffahrt und Schiffbau 107 117 Glete, Jan 207 Gneisenau, Schlachtschiff 183, 184 Godeffroy, J. C. 31 Goeben, Schlachtkreuzer 180 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 136, 137, 153 Gooch, George Peabody 194 Gorschkow, Sergeij 187 Graf Spee, Panzerkreuzer 183 Graf Waldersee, Schnelldampfer 96 Grant, Jonathan A. 77 Gres, Willi Hans 113 Grivel, Richild 204, 205 Groh, Dieter 125 Groot, Irene de 207 Grote, George 201 204 Gründer, Horst 125, 126 Gutenberg, Dampfschiff 61 Guttenberg, Karl Theodor zu 216 Haack, Rudolph 60, 71 Hahn, Hans Werner 128 Hahn, Otto & NS Otto Hahn 59, 106-108, 110, 112 117 HAL, Reederei 92, 94-99, 103, 104, 105 Halle, Ernst von 32, 66 Hamburg-Südamerikanische Gesellschaft 101, 104 Hamel du Monceau, Henry-Louis 70 Hamilton, Charles Ian 205 Hanneken, Constantin von 85 Hannibal 198, 199 HAPAG, Reederei 15, 16, 18, 41, 58, 61, 62, 64, 74, 76, 94 99, 101, 104 Harkort, Friedrich 14 Harland&Wolff, Werft 96 Harneit-Sievers, Axel 145 Hart, Robert 80, 81, 85, 86. 87, 88 Harteck, Paul 107 Hasenclever, Felix 85 Haushofer, Karl 175 Hävernick, Walte 31
223 Headlam, James 194 Heideking, Jürge 46 Heidenreich, Bernd 56 Heinrich, Prinz von Hohenzollern 191 Heisenberg, Werner 107 Hellwig, Martin 154 Helmholtz-Zentrum Geesthacht 116 Henderson, William H. 204 Henschel, Industriefirma 129 Herald, Lucy 52 Herodot, Hérodote 175, 196, 197, 199, 202, 204, 209 Hertha, Korvette 80 Hertz, Richard 31 Herzig, Arno 93 Hess, Sigurd 5, 7-9, 118, 218 Hitler, Adolf 44, 175 Hobson, Rolf 6, 170 172, 219 Hoerder, Dirk 127 Hood, Robin 144 Hood, Schlachtschiff 184 Horden, Peregrine 197 Horn, Norbert 132 Hornby, Sir Geoffrey Thomas Phipps 191 Howaldtswerke & HDW, Werft 61, 67, 109, 111, 114 Huber, Ernst Rudolf 31 Hudson, Pat 128 Hughes, Robert 56 Hussein, Saddam 188 Hutchins, David F. 47 Hyde, Francis E. 46 Illies, Kurt 107, 108 Imperator, Passagierschiff 94, 98 Interatom, Reaktorbaufirma 110, 111, 113, 116 Israel, Ulrich 83 Jackson, Frank 46 James, William 191, 192 Jay, Kenneth 107 Jean Bart, Schlachtschiff 185 Ji Yuan, Kreuzer 80
224 Jiang Ming 77, 81 Jing Chunxiao 81 Jomini, Antoine 204 Jones, Harriet 50 Jungk, Robert 107 Jungraith-Mayr, Wilhelmine 31 Kaiser Friedrich, Schnelldampfer 73 Kaiser Wilhelm der Grosse, Schnelldampfer 73, 74 Kallen, Hans 108 Kameke, von 82 Kammler, Andreas 139 Karl II., König von Neapel 143 Kaske, Elisabeth 85 Katamaran Atom Projekt für Unitized Cargo Entwicklung (KAPUCE) 114, 115 Kiaer 21 Kjellén, Rudolf 174 Klawitter, Gustav David 61 Klawitter, Werft 61, 64, 70 Klemke, Gero 64 Kludas, Arnold 38, 47, 92, 94-97, 106 Kocka, Jürgen 132 Köhler, Horst 10 Koopmann, Georg 151 Kopper, Christopher 44 Koselleck, Reinhardt 125 Kossendey, Thomas 6, 210, 219 Krause, Detlef 101 Kresse, Walter 18, 19 Kretzschmar, Ernst 89 Kristiansen, Tom 171, 172 Kronenfels, J.F. von 80 Krupp, Konzern 68, 81, 85, 86, 89, 95, 97, 106, 108, 111-116, 134, 177 Laas, Walter 72 Lachaise, Bernard 92 Laeisz, Carl Ferdinand & Reederei 18, 102-104 Laird, Werft 95 Lambert, Andrew 6, 169, 190, 191, 207, 219 Lambert, Nicholas A. 173
NAMENSREGISTER
Landes, David S. 90, 128 Lane, Frederic 197 Lang 85 87 Lange, Johann 61 Lange, Michael A. 145, 148, 149, 151, 155-157, 164, 166 Lay, Horatio Nelson 79 Leckebusch, Günther 31 Lee Kuochi 77 Lehmann 109 Lehmann-Felskowski 31 Leitz, Industriefirma 130 Leonard, Jane Kate 78 Leonhard, Melanie 5, 16, 18, 33, 35, 43, 44, 219 Leyland Linie, Reederei 97 Leyland, John 200 Li Fengbao 80, 85 Li Hongzhang 77, 79, 80, 81, 85-88 Lippincott, J.B. 204 List, Friedrich 14 Lopreno, Dario 174 Lord, Walter 48 Lorenz, C. 20 Lowe, Vincent 51-54 Lowry, Michael 199 Ludwig XIV. 139, 193, 201 Lusitania, Passagierschiff 97 MacDonald Gill 45 Macguire, Doris 204 Maffei, Industriefirma 129 Mahan, Alfred Thayer 168, 169, 171 178, 180, 185, 191 196, 202, 204, 205, 209, 212 Mahnkopf, Birgit 145, 146 Maier, Fritz Franz 73 Maltzahn, Curt von 174, 177 Manutius, Aldus 199 Marcus Antonius 138 Marryatt, Frederick 191 Marston, Roy 204 Marx, Karl 141 Mathies, Otto 31 Mattheson, P. & E 200
NAMENSREGISTER
Mau, G. 116 Mauch, Christof 46 Mauretania, Passagierschiff 97 Medusa, Korvette 80 Meier, H. H. 15, 16 Mendell, G.H. 204 Mennell, Stephen 51 Mephistopheles 136, 137, 153, 167 Meyer, Joseph Lambert 71 Meyer-Lenz, Johanna 5, 18, 58, 90, 94, 99, 101-103, 219 Middell, Matthias 140, 153 Middleton, Roger 148 Midvale, Konzern 177 Miles, Richard 199 Miller, William H. 51, 52 Milner, Alfred 203 Missouri, Schlachtschiff 185 Mokyr, Joel 130, 133 Mollin, Gerhard Th. 93 Momigliano, Arnaldo 198 Mommsen, Theodor 193, 204 Mommsen, Wolfgang J. 90 Montesquieu, Charles de 191, 193, 194, 201, 204 Monts, Alexander von 86 Moorsom, Robert 20 Müller, Christian Gottlob Daniel 70 Müller, Wolfgang D. 106, 108 Münker 113 Murken, Erich 96, 97, 99 Murphy, Martin N. 147 Musashi, Schlachtschiff 183, 185 Nagel, Jürgen 6, 118, 121, 219 Napoleon I. 32, 128, 193, 194, 201 Napoleon III. 193 Nautilus, Atom-U-Boot 107 Neitzel, Sönke 5, 56, 220 Neumann, Gerhard 51 Neumann, Hajo 5, 59, 106, 108-111, 113-116, 220 Niederländische WestindienKompanie 139, 142 Nöldeke, Hartmut 8
225 Norddeutscher Lloyd/NDL, Reederei 16, 18, 40, 41, 43, 44, 47, 61-63, 73, 74, 76, 95 Normannia, Passagierschiff 95 North, Michael 126, 128-130, 133, 134 Ocean Shield, NATO Operation 164 Oellerich, Otto 69 Olympic, Passagierschiff 97 Ostersehlte, Christian 101, 106 Ostfriesland, Schlachtschiff 182 Otto, Ulrich 6, 168, 220 Pasteur, Yvan 174 Péguy, Charles 56 Perikles 198, 200 Perseus, König von Mazedonien 199 Peters, Dirk J. 5, 35, 47, 51, 60, 220 Peters, Max 15, 21, 22, 31 Philip II. 193, 197 Phoenicia, Schnelldampfer 96 Pirrie, James William 96 Plagemann, Volker 98 Plato 191, 198 Plumpe, Werner 56 Pohl, Hans 130 Pohl, Hartel 152, 153 Pohl, Manfred 124, 130 Pollard, Sidney 90, 91 Polybius 193, 198 Pompeius 137, 138, 154, 162 Pretoria, Schnelldampfer 96 Preussen, Panzerschiff 63 Preussen, Reichspostdampfer 63 Prömmel, Julius 70 Purcell, Nicholas 197 Qing Dynastie 77, 78, 79 Quaas, Achim 98 Queen Elizabeth, Passagierschiff 45-47, 50, 51 Queen Mary, Passagierschiff 45-47, 50, 54 Radkau, Joachim 109 Radunz, Karl 31
226 Raeder, Erich 175 Raffestin, Claude 174 Rahe, Paul 200 Rahn, Werner 175 Raleigh, Sir Walter 193, 200, 203, 204 Ratzel, Friedrich 174, 175 Rawlinson, John L. 77, 80, 81 Raymond, Xavier 204, 205 Red Star Line, Reederei 95 Rehfues, Guido von 81 Reiherstieg, Werft 61, 99, 102 Reynolds, Clark 207 Rheinstahl Nordseewerke, Werft 108, 109 Rhodes, Cecil 203 Richmond, Sir Herbert 206 Rickmers, Andreas Clasen 40, 41, 43 Rickmers, Clasen Rickmer 33-39 Rickmers, Deike 40 Rickmers, Elisabeth 40 Rickmers, Ellen 40 Rickmers, Maria 40 Rickmers, Paul 41, 43, 44 Rickmers, Peter Andreas 40, 41 Rickmers, Robert 43 Rickmers, Werft, Reeederei, Reisfabriken 16, 18, 33-44, 64, 115 Rickmers, Wilhelm 37, 40 Riehn, Wilhelm 72 Riemer, Robert 6, 119, 124, 127-130, 133, 134, 220 Robertson, Paul 91 Robinson, Charles Napier 200 Roder, Hartmut 137 139, 159, 161, 162 Röhl, John 191, 192 Rohwer, Jürgen 8 Roland, Radschleppdampfer 61 Rosario, Handelsschiff 101 Roseberry, Lord 203 Roskill, Stephen 195 Rostow, Walt W. 131 Royal Sovereign, Linienschiff 207 Rübner, Hartmut 40 Rüger, Jan 173 Ruhwedel, Edgar 32-34 Russell, Michael 207
NAMENSREGISTER
Sachsen, Panzerschiff 82 84 Salewski, Michael 7 Sartorius von Waltershausen, A. 32 Saul, Klaus 93 Savannah, Nuklearschiff 110 Schacht, Hjalmar 44 Schadewaldt, Hans 8 Schafstall, Heinrich-Günter 113 Schama, Simon 207 Scharnhorst, Schlachtschiff 183, 184 Schemensky, Pascale 8 Schichau, Werft 61, 64, 67, 77, 87, 89 Schinkel, Eckard 60 Schleswig-Holstein, Linienschiff 183 Schmidt, Burghard 92 Schmidt, Georg 128 Schnappauf, Wilhelm Karl Christian 72 Schneider-Creusot, Konzern 177 Scholl, Lars U. 60 Scholvin, J. 116 Schramm, Percy Ernst 12, 32 Schreiber, Gerhard 175 Schröter, Harm G. 133 Schuller, Alfred 113 Schumpeter 119 Schütte, Johann Heinrich 72, 73 Schwarz, Tjard 32 Schweffel, Werft 61 Scull, Ted 48, 51, 52, 54 Seager, Robert 204 Sedlacek, Dirk 147 Seebeck, Werft 64 Seeley, John Robert 203, 204 Senden, von 192 Shakespeare, William 161 Sherman, William H. 200 Shortland, Anja 149 Siegrist, Hannes 132 Siemens, Werner von & AG 57, 109 Sirius Star, Öltanker 157 Skoda, Konzern 177 Sloman jr., Robert Miles 17 Sloman Reederei 16, 19, 103
NAMENSREGISTER
Smidt, Johann 14 Société Génerale Transatlantique, Reederei 95 Sombart, Werner 18 Southern, Pat 154 Sovetkskii Soyuz, Schlachtschiff 183 Sparrow, Jack 143 Spence, Jonathan 78 Ssu-yu Teng 78 Stead, W.T. 203 Stehr, Michael 147, 150 Steinhaus, Carl Ferdinand 70 Stockalper vom Thurm, Kaspar 220 Stolt Strength, Tanker 150 Stoltenberg, Gerhard 112 Stosch, Albrecht von 82 84 Strauß, Franz Josef 107 Strieder, Jakob 141, 143 Stülcken, Werft 64 Sumida, Jon Tetsuro 173, 174 Swanson, Bruce 77, 84 Sydow, Jörg 103 Tamm, Peter 10 Tecklenborg, Werft 64, 72 Tell, Geoffrey 168 Teuteberg, Hans Jürgen 51 Thiel, Reinhold 110 Thomas, Sidney Gilcrist 56 Thukydides 190, 191, 197, 198, 199, 200, 204 Tilly, Richard H. 132 Tirpitz, Alfred v. & Schlachtschiff 93, 171-173, 175, 181, 183, 187, 192 194 Titanic, Passagierschiff 48, 97 Torp, Cornelius 57 Treitschke, Heinrich von 194 Turner, J. M. W. 194 U 9, U-Boot 180 Ulrich, Kurt 46 Vanguard, Schlachtschiff 185 Vaterland, Passagierschiff 94, 97, 98
227 Velde, Willem van de 207 Verenigde Oostindische Compagnie (VOC) 118, 121, 122, 123 Vickers, Konzern 177 Virginia, Passagierschiff 95 Vittorio Veneto, Schlachtschiff 183 Vogel, Jochen 99 Vogel, Walter 32 Vogt, Annette Christine 99, 100 Voigt, Fritz 32 Vorstman, R. 207 Voss, E. 105 Vroom, Hendrick C. 207 Vulcan, Werft 61, 62, 64, 67, 71, 77, 80-83, 86-88, 95, 98 Walden, Hans 92, 94 Walle, Heinrich 5, 7, 11, 31, 220 Waller, A. R. 200 Walter, Rolf 129 Waltjen, Carsten 61 Walton, John K. 54 Wang Jiajian 77 Wappäus, A. H. & KaufmannsReederei 99, 100 Warburg, Bankhaus 102 Ward, A. W. 200 Warrior, Linienschiff 193 Wegener, Wolfgang 168, 175 Wehler, Hans-Ulrich 125 Wei Yuan 78 Wendt, Reinhard 125 Wentzel, Paul 81 Werner, Reinhold von 191 Weser AG, Werft 67, 106, 109, 110, 112-116 Westphal, Emmi A. 100, 101 White Star Line, Reederei 92, 95, 97 Wierlacher, Alois 51 Wilda, Hermann 60 Wilhelm II. 72, 73, 93, 173, 179, 191, 192 Wisconsin, Schlachtschiff 185 Witthöft, Jürgen 92, 94, 95, 102, 104, 216 Wittkowitz, Konzern 177
228 Woermann, Adolph & Reederei 18, 101-104, 210 Wormell, Deborah 203 Wright, Richard N. J. 77, 82 Wurffbain, Johann Siegmund 122 Xenophon 199 Xia Dongyuan 78 Yakumo, Kreuzer 87 Yamato, Schlachtschiff 183, 185
NAMENSREGISTER
Yuusuf, Abdullaahi 148 Zeiss, Industriefirma 130 Zeller, Joachim 125 Zeltz & Tischbein, Werft 61 Zheng He 118 Ziegler, Dieter 90, 128-132, 134 Ziegler, Ida 35 Zimmermann, Klaus F. 149 Zöllner, Reinhard 126 Zorn, Wolfgang 31 Zweiniger-Bargielowska, Ina 50
H I S T O R I S C H E M I T T E I LU NG E N
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BEIHEFTE
Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V. herausgegeben von Jürgen Elvert. Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Eckart Conze, Heinz Duchhardt, Beatrice Heuser, Jan Kusber, Bea Lundt, Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0939–5385
16. Jürgen Elvert (Hg.) Der Balkan Eine Europäische Krisenregion in Geschichte und Gegenwart 1997. 367 S., kt. ISBN 978-3-515-07016-4 17. Jens Hohensee Der erste Ölpreisschock 1973/74 Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa 1996. 324 S., 13 Tab., kt. ISBN 978-3-515-06859-8 18. Jürgen von Ungern-Sternberg / Wolfgang von Ungern-Sternberg Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg 1996. 247 S. mit 13 Abb., kt. ISBN 978-3-515-06890-1 19. Armin Heinen Saarjahre Politik und Wirtschaft im Saarland 1945–1955 1996. 603 S. mit zahlr. Abb., geb. ISBN 978-3-515-06843-7 20. Arnd Bauerkämper (Hg.) „Junkerland in Bauernhand“? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone 1996. 230 S., kt. ISBN 978-3-515-06994-6 21. Stephan Lippert Felix Fürst Schwarzenberg Eine politische Biographie 1998. 446 S., geb. ISBN 978-3-515-06923-6 22. Martin Kerkhoff Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die Saarfrage 1945 bis 1954 1996. 251 S., kt.
ISBN 978-3-515-07017-1 23. Hans-Heinrich Nolte (Hg.) Europäische Innere Peripherien im 20. Jahrhundert 1997. 316 S., kt. ISBN 978-3-515-07098-0 24. Gabriele Clemens Britische Kulturpolitik in Deutschland (1945–1949) Literatur, Film, Musik und Theater 1997. 308 S., kt. ISBN 978-3-515-06830-7 25. Michael Salewski Die Deutschen und die See Studien zur deutschen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Jürgen Elvert und Stefan Lippert 1998. 361 S., geb. ISBN 978-3-515-07319-6 26. Robert Bohn (Hg.) Die deutsche Herrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940–1945 1997. 304 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07099-7 27. Heinrich Küppers Joseph Wirth Parlamentarier, Minister und Kanzler der Weimarer Republik 1997. 356 S., kt. ISBN 978-3-515-07012-6 28. Michael Salewski (Hg.) Das nukleare Jahrhundert 1998. 266 S., kt. ISBN 978-3-515-07321-9 29. Guido Müller (Hg.) Deutschland und der Westen Internationale Beziehungen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Klaus Schwabe zum 65. Geburtstag 1998. 381 S., kt. ISBN 978-3-515-07251-9 30. Imanuel Geiss Zukunft als Geschichte Historisch-politische Analyse und
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Prognosen zum Untergang des Sowjetkommunismus, 1980–1991 1998. II, 309 S., kt. ISBN 978-3-515-07223-6 Robert Bohn / Jürgen Elvert / Karl Christian Lammers (Hg.) Deutsch-skandinavische Beziehungen nach 1945 2000. 234 S., kt. ISBN 978-3-515-07320-2 Daniel Gossel Briten, Deutsche und Europa Die Deutsche Frage in der britischen Außenpolitik 1945–1962 1999. 259 S., geb. ISBN 978-3-515-07159-8 Karl J. Mayer Zwischen Krise und Krieg Frankreich in der Außenwirtschaftspolitik der USA zwischen Weltwirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg 1999. XVI, 274 S., kt. ISBN 978-3-515-07373-8 Brigit Aschmann „Treue Freunde“? Westdeutschland und Spanien 1945–1963 1999. 502 S. mit 3 Tab., geb. ISBN 978-3-515-07579-4 Jürgen Elvert Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945) 1999. 448 S., geb. ISBN 978-3-515-07641-8 Michael Salewski (Hg.) Was wäre wenn Alternativ- und Parallelgeschichte: Brücken zwischen Phantasie und Wirklichkeit 1999. 171 S. mit 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-07588-6 Michael F. Scholz Skandinavische Erfahrungen erwünscht? Nachexil und Remigration 2000. 416 S., geb. ISBN 978-3-515-07651-7 Gunda Stöber Pressepolitik als Notwendigkeit Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914 2000. 304 S., kt. ISBN 978-3-515-07521-3 Andreas Kloevekorn Die irische Verfassung von 1937
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2000. 199 S., kt. ISBN 978-3-515-07708-8 Birgit Aschmann / Michael Salewski (Hg.) Das Bild „des Anderen“ Politische Wahrnehmung im 19. und 20. Jahrhundert 2000. 234 S., kt. ISBN 978-3-515-07715-6 Winfried Mönch Entscheidungsschlacht „Invasion“ 1944? Prognosen und Diagnosen 2001. 276 S., kt. ISBN 978-3-515-07884-9 Hans-Heinrich Nolte (Hg.) Innere Peripherien in Ost und West 2001. 188 S., kt. ISBN 978-3-515-07972-3 Peter Winzen Das Kaiserreich am Abgrund Die Daily-Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908. Darstellung und Dokumentation 2002. 369 S., geb. ISBN 978-3-515-08024-8 Fritz Kieffer Judenverfolgung in Deutschland – eine innere Angelegenheit? Internationale Reaktionen auf die Flüchtlingsproblematik 1933–1939 2002. 520 S., geb. ISBN 978-3-515-08025-5 Michael Salewski Die Deutschen und die See II Studien zur deutschen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 2002. 252 S. mit 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08087-3 Jürgen Elvert / Susanne Krauß (Hg.) Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert Jubiläumstagung der Ranke-Gesellschaft in Essen 2001 2003. 287 S., geb. ISBN 978-3-515-08253-2 Thomas Stamm-Kuhlmann / Jürgen Elvert / Birgit Aschmann / Jens Hohensee (Hg.) Geschichtsbilder Festschrift für Michael Salewski 2003. 664 S., geb. ISBN 978-3-515-08252-5 Dietmar Herz / Christian Jetzlsperger / Kai Ahlborn (Hg.) Der israelisch-palästinensische
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Das 21. Jahrhundert ist ein maritimes Jahrhundert. Gerade für Deutschland als dienstleistungsorientierte und führende Handels- und Schifffahrtsnation hat die See seit dem 19. Jahrhundert eine elementare Bedeutung. Zur Wahrung deutscher und europäischer Sicherheitsinteressen gehört es daher auch, den freien und ungehinderten Welthandel zu fördern und zu schützen. Dafür bieten die Weltmeere der modernen Industriegesellschaft eine hochempfindliche Infrastruktur. Zugleich bilden sie die Grundlage für den Ausbau eines globalen sozialen Netzwerks. Während einer schifffahrtshistorischen Tagung haben sich namhafte deutsche und internationale Historiker mit der maritimen Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, mit Schifffahrt, Werften, Handel und Seemacht auseinandergesetzt. Dieser Band präsentiert die Ergebnisse, deren historische Themen in die Zukunft weisen.
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ISBN 978-3-515-10137-0