Machiavellismus in Deutschland: Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit 9783110651133, 9783486592139

Machiavellismus seriös erforscht: Die deutsche Geschichtswissenschaft entdeckt gerade wieder die Politikgeschichte neu -

201 108 33MB

German Pages 347 [352] Year 2010

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Machiavellismus und italienisch-deutscher Kulturtransfer im 16./17. Jahrhundert
Calvinismus, „Machiavellismus" und die Política von Althusius
Conversiones rerumpublicarum. Zum Geschichtsbild der barocken Staatslehre
Zum Machiavelli Hermann Comings
Frühneuzeitlicher Republikanismus und Machiavellismus. Die Rezeption Machiavellis in der Eidgenossenschaft
Machiavelli in der historia literaria
Ahitophel und Jerobeam. Bemerkungen zur Denkfigur des „Machiavellismus vor Machiavelli"
Text - Übersetzung - bildliche Übertragung. Zur Ikonographie der Lehre Machiavellis
Machiavellilektüre um 1800. Zur marginalisierten Rezeption in der Popularphilosophie
Machiavellismus, Realpolitik und Machtpolitik. Der Streit um das Erbe Machiavellis in der deutschen politischen Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Machiavelli bei Nietzsche und den Faschismen. Zwei Erzählungen der Abfolge Machiavelli - Nietzsche - Faschismen
Machiavelli am Anfang des deutschen Sonderwegs. Beobachtungen zur Deutung im späten Historismus bei Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter
Die geistig-moralische Krise als Epochensignatur des Dritten Reiches. Die Machiavelli-Studien von Hans Freyer (1938) und René König (1940)
Machiavelli aus der Perspektive der Gouvernementalität
Machiavelli und die Empire-Theorie der Gegenwart
Die Autorinnen und Autoren
Register
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Machiavellismus in Deutschland: Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit
 9783110651133, 9783486592139

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Machiavellismus in Deutschland

HISTORISCHE ZEITSCHRIFT Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Lothar Gall Band 51

R. Oldenbourg Verlag München 2010

Cornel Zwierlein, Annette Meyer (Hrsg.)

Machiavellismus in Deutschland Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit

Unter redaktioneller Mitarbeit von Sven Martin Speek

R. Oldenbourg Verlag München 2010

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2 0 1 0 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH. München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und die Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Schmucker-digital, Feldkirchen b. München Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen ISBN 978-3-486-59213-9

Inhalt Vorwort. Von Comel Zwierlein und Annette Meyer Einleitung. Von Cornel Zwierlein und Annette Meyer

VII 1

Machiavellismus und italienisch-deutscher Kulturtransfer im 16./17. Jahrhundert. Von Comel Zwierlein

23

Calvinismus, „Machiavellismus" und die Política von Althusius. Von Francesco Ingravalle und Corrado Malandrino

61

Conversiones rerumpublicarum. Zum Geschichtsbild der barocken Staatslehre. Von Lucia Bianchin

79

Zum Machiavelli Hermann Comings. Von Rosanna Schito

95

Frühneuzeitlicher Republikanismus und Machiavellismus. Die Rezeption Machiavellis in der Eidgenossenschaft. Von Thomas Maissen

109

Machiavelli in der historia literaria. Von Meno Scattola

131

Ahitophel und Jerobeam. Bemerkungen zur Denkfigur des „Machiavellismus vor Machiavelli". Von Martin Mulsow

163

Text - Übersetzung - bildliche Übertragung. Zur Ikonographie der Lehre Machiavellis. Von Roberto De Pol

179

Machiavellilektüre um 1800. Zur marginalisierten Rezeption in der Popularphilosophie. Von Annette Meyer

191

Machiavellismus, Realpolitik und Machtpolitik. Der Streit um das Erbe Machiavellis in der deutschen politischen Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von Federico Trocini

215

Machiavelli bei Nietzsche und den Faschismen. Zwei Erzählungen der Abfolge Machiavelli - Nietzsche - Faschismen. Von Bernhard Taureck

233

Machiavelli am Anfang des deutschen Sonderwegs. Beobachtungen zur Deutung im späten Historismus bei Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter. Von Winfried Schulze

241

Die geistig-moralische Krise als Epochensignatur des Dritten Reiches. Die Machiavelli-Studien von Hans Freyer (1938) und René König (1940). Von Ralf Walkenhaus

257

Machiavelli aus der Perspektive der Gouvernementalität. Von Michel Senellart

281

VI Machiavelli und die Empire-Theorie Me'nissier

Inhalt der Gegenwart. Von Thierry 303

Die Autorinnen und Autoren

325

Register

329

Vorwort Der vorliegende Sammelband ist aus einer gleichnamigen Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing, 25.-28. September 2007, hervorgegangen, die als internationale Fachtagung von der DFG finanziert wurde. Ihr Ziel war es insbesondere, deutsche, italienische und französische Wissenschaftler verschiedener Disziplinen (Geschichte, Germanistik, Philosophie, Politikwissenschaften) als die derzeit in diesem Feld - d.h. zu Machiavelli/Machiavellismus in Deutschland - aktivsten Forschungsregionen zusammenzuführen und die Ergebnisse in einheitlich übersetzter Form der deutschsprachigen Fachwelt zu Verfügung zu stellen. Die beiden Münchner geistes- und sozialwissenschaftlichen Sonderforschungsbereiche 536 und 573 und das Historische Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München haben zur Durchfuhrung der Tagung wie auch zur Herstellung des Sammelbandes zusätzlich finanzielle bzw. organisatorische Unterstützung gewährleistet. Diesen Institutionen gilt daher zunächst unser großer Dank. Winfried Schulze hat unser Projekt beratend begleitet, gefördert und unterstützt, wofür wir ihm sehr zu Dank verpflichtet sind. Artemio Enzo Baldini hat mit wichtigem Rat und Vermittlung entscheidend zum Gelingen beigetragen. Eine kleine Heerschar von Helfern hat bei der Tagung und bei der Redaktion der Beiträge in München und Bochum zum Gelingen beigetragen: Thomas Claes, Mona Garloff, Julia Gebke, Anna Hofmeister, Fabian Klein, Benjamin Steiner, Marianne Timpe, Hannes Ziegler. Die entscheidende kontinuierliche Mithilfe bei der Schlußredaktion lag aber in den Händen von Sven Martin Speek. Die Übersetzungen aus dem Italienischen und Französischen erstellten Verena Schwägerl sowie teilweise unter Zusammenfuhrung zweier Schichten Cornel Zwierlein. Wie es üblich ist bei größeren Unternehmungen, haben aus unterschiedlichsten Gründen leider nicht alle Beiträge der Tagung den Weg in den Sammelband gefunden, und auch sonst sind etliche denkbare Facetten, weitere Autoren und Gegenstände unbehandelt geblieben, die wir ursprünglich als wünschenswert eingeplant hatten. Mögen diese Lücken späterhin einmal - vielleicht angeregt durch diesen Band - geschlossen werden. Dem Herausgeber der Beihefte der Historischen Zeitschrift danken wir für die Aufnahme des Bandes in diese Reihe, die, angesichts dessen, daß hier auch wieder ein Faden aufgenommen wird, den einst Friedrich Meinecke geknüpft hat, gleichsam sein natürlicher Publikationsort ist. Bochum/München, September 2009

Cornel Zwierlein und Annette Meyer

Einleitung Von

Cornel Zwierlein und Annette Meyer .Machiavellismus in Deutschland' - das Thema und die Eingrenzung auf den deutschen Sprachraum mögen befremden: Haben wir es hier mit politischer Ideengeschichte zu tun, die doch überholt ist? Fand im deutschen Sprachraum überhaupt eine so nennenswerte Rezeption Machiavellis statt, daß eine zusammenfassende Untersuchung lohnt? Wird so nicht, den Fixierungen einer verstaubten, geistesgeschichtlichen Renaissance- und Humanismus-Forschung folgend, die Bedeutung des Florentiner Sekretärs überhaupt und für den nordeuropäischen Kulturraum erst recht von Beginn an maßlos überschätzt? Geht es überhaupt um ,Rezeption', oder sollen unter .Machiavellismus' abstrakt Formen von .Realpolitik' oder aggressivem Expansionismus verstanden werden? Wäre das aber noch ein eingrenzbares Sujet? Diese Fragen deuten sofort die Probleme an, die sich mit .Machiavellismus in Deutschland' als Thema verbinden. In der Tat finden die Reflexionen zu Renaissance und Humanismus, die zu Hochzeiten des Historismus, mindestens von den 1920ern bis in die 1960er Jahre, ein Hauptfeld auch der historischen Forschung waren1 und in deren Rahmen auch Machiavelli stets einen zentralen Platz hatte, heute kaum eine 1 Der Vielzahl an allgemeinen Epochen-Reflexionen zu Renaissance/Humanismus zwischen etwa 1900 und 1970 von Autoren wie Walter Goetz, Werner Weisbach, Paul Joachimsen, Johan Huizinga, Giuseppe Saitta, Hans Baron, Erich Trunz, Georg Weise, Wallace K. Ferguson, Paul O. Kristeller, John H. Randall, Enrico Castelli, Jost Trier, Alfred von Martin, Rudolf Bultmann, die zu einem Gutteil auch in der Historischen Zeitschrift publiziert wurden, von denen ein Teil bei August Buck (Hrsg.), Zu Begriff und Problem der Renaissance. Darmstadt 1969, gesammelt ist, steht heute nur mehr wenig Programmatisches in Hinsicht auf die europäische Renaissance/Humanismus-Schwelle um 1500 gegenüber. Die Sonderforschungsbereiche 573 „Pluralisierung und Autorität" und 644 „Transformationen der Antike" in München und Berlin arbeiten an Erfassungen der Epoche. Für den Humanismus seit dem 18. Jh. unternimmt einen vielgestaltigen Versuch der Neubestimmung das Projekt „Humanismus in der Epoche der Globalisierung" (KWI Essen, Leiter Jörn Rüsen in Zusammenarbeit mit Hubert Cancik u.a.). Die wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen zum Renaissance-/Humanismus-Diskurs machen merkwürdigerweise meist einen Schnitt 1930/33, obwohl das Besondere an diesem gerade ist, daß er späthistoristisch Vor- und Nachkriegszeit miteinander zu verbinden und so den dazwischenliegenden nationalsozialistischen volks- und rassegeschichtlichen Bruch auszublenden vermochte; so auch Renzo Pecchioii, Umanesimo civile e interpretazione civile deH'Umanesimo, in: Studi Storici 13, 1972, 3-33, 16f., vgl. Perdita Ladwig, Das Renaissancebild deutscher Historiker 1898-1933. Frankfurt am Main/New York 2004; Peter Philipp Riedl, Epochenbilder und Künstlertypologien. Beiträge zu Traditionsentwürfen in Literatur und Wissenschaft 1860 bis 1930. Frankfurt am Main 2005.

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Cornel Zwierlein

und Annette

Meyer

Entsprechung. Zwischen der allgemeinen ,Spätmittelalter - und ,Frühneuzeit'-Forschung scheinen Renaissance und Humanismus in der Nachkriegszeit verlorengegangen zu sein. Dies war sicher eine Folge des Aufstiegs der Sozialgeschichte, interessanterweise scheint aber die geringe Profilierung von Renaissance/Humanismus auch noch nach deren langsamem Abstieg seit den 1990em weiter anzuhalten. Ähnlich wie die Reformation(en) eine gute Zeit lang von ,Konfessionalisierung' und .konfessionellem Zeitalter' überdeckt wurden 2 , scheint die Konzentration auf Umbruchsphasen, auf symbolische Umbruchgestalten und -diskurse, die vielleicht in der Diachronie nicht durchgängig große Breitenwirkung hatten, aber im Hinblick auf ihren Status als kognitiv-empirische Antworten auf Kontingenzerfahrungen in besonderem Umfang als sensible Sonden zur Ausleuchtung der Ränder der neuzeitlichen Konstellation verstanden werden könnten, längere Zeit geringe Konjunktur gehabt zu haben. Daß sich nun eine massive europäische Machiavellismus-Tagungswelle bis zum Principe-iübiYaam 2013 zusammenfand 3 , mag ein Indiz dafür sein, daß Bewegung in diese Situation gekommen ist, wie auch die zunehmende Erosion der Konfessionalisierungsforschung in der jüngsten Zeit bis zum Jubiläumsjahr 2017 vielleicht auch wieder den Blick auf die Reformation(en) freigeben wird. Im folgenden wird eine Einbettung der Problematik ,Machiavellismus in Deutschland' in die aktuellen Forschungstendenzen unter Aufweis entsprechender Forschungslücken und -Versäumnisse geboten (I.), um dann eine kurze Reflexion zum Machiavellismus-Begriff (II.) einer überblickshaften Skizze zu ,Machiavellismus in Deutschland' mit einer Einordnung der Beiträge des Bandes (III.) voranzuschicken.

2 Daß die Reformation vor lauter Konfessionalisierungsforschung „gleichsam abhanden gekommen" sei, hat hellsichtig Heinz Schilling, Reformation - Umbruch oder Gipfelpunk! eines Temps des Réformes?, in: Bernd Moeller (Hrsg.). Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Gütersloh 1998. 13-34, hier 13, bemerkt. ì Die Tagungsfolge wird von Enzo Baldini in Turin koordiniert. 2007/08 fanden neun Tagungen statt: in Neapel zum Machiavellismus in England, organisiert von Alessandro Arienzo und Gianfranco Borelli, in Paris zu Machiavellismus/Antimachiavellismus in Frankreich, organisiert von Jean Balsamo, in Tutzing/München die zum deutschen Sprachraum, deren Beiträge hier versammelt sind, in Madrid zum spanischen Machiavellismus. organisiert von Juan Manuel Forte Monge, in Rotterdam zum Machiavellismus in den Niederlanden, organisiert von Hans Blom, in Turin zum Machiavellismus in den Religionskriegen, organisiert von Enzo Baldini. in Genua zu den Machiavelli-Übersetzungen. organisiert von Roberto De Pol. in Neapel zur Rezeption der antiken Klassiker im Machiavellismus-Diskurs, organisiert von Gennaro Carillo, Francesca Russo und Enzo Baldini, und in Paris eine Fortsetzung der Turiner Tagung zum Machiavellismus in den Religionskriegen, organisiert von Philippe Desan und Jean Balsamo. Weitere 18 Tagungen sind derzeit bis 2 0 1 2 geplant, unter anderem zu Machiavelli/Machiavellismus in Rumänien, Polen, Ungarn, Portugal. Brasilien, in der jüdischen und islamisch-arabischen Welt. Vgl. http:// www.unito.it/machiavelli_english.htm.

Einleitung

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I. Machiavelli, Renaissance/Humanismus und die gegenwärtige Forschung Die deutsche Geschichtswissenschaft entdeckt gerade wieder die Politikgeschichte neu - als Kulturgeschichte des Politischen, als neue Politikgeschichte, als historische Politikforschung: die geisteswissenschaftlichen Großforschungszentren in Münster, Bielefeld, Frankfurt, Jena, aber auch manch gebündelte Einzelforschung scheinen wie elektrisiert von dieser Besinnung der Historiographie auf das Politische.4 So kontrovers und unterschiedlich die Ansätze hierbei sind, so gibt es verblüffenderweise eine Gemeinsamkeit: bis auf die Frankfurter .historische Politikforschung' will man überall sonst offenbar von politischer Ideen- oder Diskursgeschichte wenig wissen5: .Kulturgeschichte' des Politischen meint meist eine Untersuchung von Praktiken der Inszenierung, Repräsentation, des Zeremoniells, meint Analysen der Habitus, der Codes und politischen Kommunikationsformen. Immerhin wurde zuletzt im größeren Umfang der historischen Semantik des Wortes .Politik' nachgegangen, ein solcher begriffsgeschichtlicher Ansatz, so fruchtbar er ist, erschließt aber noch nicht die Vielfalt politischer Ideen, Analysegebäude und Theoriebildung.6 Das, was jeder Politiker als seine ureigene .Kultur' ansehen würde und seit der Entstehung von eigenständiger Politiktheorie stets angesehen hat, nämlich das Trainiertsein in einer gewissen Form theoretischer Metareflexion durch Aneignung wichtiger politischer Theorien, .Sprachen' und Denkansätze, bleibt in der deutschen Forschungsdebatte im wesentlichen den wenigen verbliebenen Arbeitsbereichen für politische Ideengeschichte an den sozial- und politikwissenschaftlichen Fakultäten überlassen.7 Hier wird aber eher mit dem Rüstzeug philosophisch-systematischer 4

Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005; Hans-Christof Kraus/Thomas Niklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege. München 2007; Luise Schom-Schätte, Historische Politikforschung. Eine Einfuhrung. München 2006; Willibald Steinmetz (Hrsg.), Politik. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit. Frankfurt am Main 2007; Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. Frankfurt am Main 2005; Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln 2005. 5 Nur jeweils ein Beitrag zu Ideengeschichte in Kraus/Niklas (Hrsg.), Geschichte der Politik (wie Anm. 4), und Asch/Freist (Hrsg.), Staatsbildung (wie Anm. 4), keiner bei Frevert/ Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte (wie Anm. 4); Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte (wie Anm. 4). Die Beiträge zu einer Begriffsgeschichte von .Politik' in Steinmetz (Hrsg.), Politik (wie Anm. 4), berühren zwar zweifelsohne den Bereich der Ideen- und Diskursgeschichte, verbleiben aber doch bei der Fixierung auf diesen einen Wortkörper. 6 Steinmetz (Hrsg.), Politik (wie Anm. 4). 7 Als im Werterahmen sehr unterschiedliche Beispiele seien nur Marcus Uanque, Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse. München/Wien 2008, auf der ei-

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Cornel Zwierlein und Annette

Meyer

Analyse als mit dem der quellenbezogenen historischen Rekonstruktion gearbeitet - zwei Ansätze, die sich freilich nicht ausschließen und fruchtbar ergänzen können. Die Aussparung von Ideengeschichte aus der neuen Politikgeschichte ist nicht recht verständlich, denn je stärker im Verlauf der Neuzeit die Professionalisierung von .Politik' und .Politikern' wurde, desto mehr war auch stets von Wechselwirkungen zwischen Theorie und Praxis auszugehen, desto mehr war jedes noch so,urpolitische', instinktive, scheinbar theorielose Manöver und jede Ad-hoc-Entscheidung doch in einen Rahmen potenzieller Theoretisierbarkeit eingelassen. Eine Neubegründung wie die der .Zeitschrift für Ideengeschichte' 2007 zeigt zwar, daß allgemein durchaus wieder eine Wiederbelebung des Interesses für ein Feld zu verzeichnen ist, das in der angloamerikanischen oder auch italienischen Forschung seit jeher gängig war und ist8, die politischen Ideen, politische historische Semantik und Konzeptgeschichte scheinen hier aber nicht im Vordergrund zu stehen.9 Diese gegenläufige Entwicklung einer starken Konjunktur im Feld der ,neuen Politikgeschichte' in den Geschichtswissenschaften auf der einen Seite und fehlender Integration ideen- und diskursgeschichtlicher Fragestellungen auf der anderen Seite trifft nun mit einer Konvergenz unterschiedlicher Entwicklungen in verschiedenen Disziplinen, den Brüchen historiographischer Traditionen im Zuge von politischer Radikalisierung, Vertreibung und Exil seit der Weimarer Zeit zusammen, die dazu geführt haben, daß die Aus-

nen und Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Bisher 3 in 6 Bden. Stuttgart 2001-2008, auf der anderen Seite sowie das Jahrbuch .Politisches Denken' angeführt. 8 Verwiesen sei nur auf das Journal of the History of Ideas und auf die Zeitschrift II pensiero politico. Während die politische Ideengeschichte in Deutschland der Historismuskritik zum Opfer fiel, wurde diese Traditionslinie insbesondere in den angelsächsischen Ländern fortgeführt. Versuche einer Theoretisierung der politischen Ideengeschichte verbinden sich in den letzten Jahrzehnten mit Namen wie Isaiah Berlin, Donald Kelley, Arnaldo Momigliano sowie der .Cambridge School' und dort insbesondere mit den Arbeiten von Quentin Skinner, Meaning and Understanding in the History of Ideas. in: History and Theory 8. 1969, 3-53. Die Wirkmächtigkeit von Skinners Ansatz und Arbeiten zeigt sich sowohl in der Kanonisierung grundlegender politischer Texte durch seine editorische Tätigkeit (Cambridge Texts in the History of Ideas) als auch im Reimport der politischen Ideengeschichte durch die Rezeption der .Cambridge School' in anderen europäischen Ländern. In der deutschsprachigen Forschung wird derzeit unter dem Eindruck der Cambridge School die machiavellische Grundlage im frühneuzeitlichen Diskurs (wieder-)entdeckt. Vgl. Robert von Friedeburg, Civic Humanism and Republican Citizenship in Early Modern History, in: Martin van Gelderen/Quentin Skinner (Eds.), Republicanism. A Shared European Heritage. Cambridge 2002, 127-145. Vgl. allgemein Eckhart Hellmuth/ Christoph von Ehrenstein, Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, 149-172; Olaf Asbach, Von der Geschichte politischer Ideen zur History of Political Discoursel Skinner, Pocock und die Cambridge School, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 12, 2002, 637-667; Harald Bluhm/Jiirgen Gebhardt (Hrsg.). Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik. Baden-Baden 2006. 9

Zeitschrift für Ideengeschichte, bisher 3 Jahrgänge. 11 Hefte.

Einleitung

5

einandersetzung im Speziellen mit Machiavelli/Machiavellismus im deutschsprachigen Raum in der Nachkriegszeit wenig prominent war: Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten politischen Lagern - Friedrich Meinecke, Gerhard Ritter, Max Weber, Hans Freyer, Carl Schmitt - hatten während der Weimarer Republik auf Machiavelli rekurriert, um der Natur des Politischen auf den Grund zu gehen. Während Machiavelli für Politiktheoretiker wie Schmitt und Freyer als Bezugspunkt für die Forderung nach der Durchsetzung einer realistischen bis totalitären Machtpolitik diente, entstand im amerikanischen Exil eine lebhafte Debatte unter Autoren wie Hans Baron, Ernst Cassirer, Felix Gilbert, Hannah Arendt und Eric Voegelin, die umgekehrt mit Machiavelli den Totalitarismus zu erforschen suchten.10 Es war begreiflicherweise diese Exilforschung, der man sich - gewahr um ihre Basis im 19. und frühen 20. Jahrhundert - in der Nachkriegzeit anschloß. Insofern erlangte die angloamerikanische Forschung mit ihrer Ausrichtung auf das Bürgertugendideal und den vorbildhaften Republikanismus in der Deutung des politischen Denkens von Humanismus und Renaissance, bis auf wenige Ausnahmen11, paradigmatischen Charakter.12 Die sehr aktive italieni10 Vgl. den zeitgenössischen Literaturiibeitolick: Paul Hyland Harris, Progress in Machiavelli Studies, in: Italica 18, 1941, 1-11. Einen groben Überblick der Exildebatte gibt Harald Bluhm, Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von Leo Strauss. Berlin 2002,190. 11 Zu nennen ist hier René Königs im Exil entstandene Studie: Niccolo Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende. Zürich 1941. 12 Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus noch der Politik- Wissenschaftler Machiavelli präsent war, dessen Politik- und Geschichtsanalysen man im technizistischen Atomzeitalter mit dem Studium chemischer Reaktionen eines Naturwissenschaftlers verglich (in diese Richtung gingen Leonardo Olschki, Machiavelli the Scientist. Berkeley 1945; Luigi Russo, Machiavelli. 3., erw. Aufl. Bari 1949; Emst Cassirer, Vom Mythus des Staates. Zürich 1949; Karl Schmid, Machiavelli, in: Rudolf Stadelmann [Hrsg.], Große Geschichtsdenker. Tübingen/Stuttgart 1949, 111-129), überdeckte zunehmend die eigentlich am 15. Jahrhundert entwickelte Bürgerhumanismus-These und ihre Verlängerung im Republikanismus-Paradigma durch Pocock/Skinner diese Sichtweise, vor allem in der angloamerikanischen Welt. Hans Barons .Bürgerhumanismus'-Begriff wurde erstmals faßbar in einem Rezensionsartikel zu Friedrich Engel-Jánosi, Soziale Probleme der Renaissance. Stuttgart 1924, in: HZ 132,1925, 136-141,139, ausgeführt dann in ders., The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. Princeton 1955. Angewendet auf Machiavelli, dessen Principe als „eilig hingeworfene[s) Pamphlet" abgewertet und die Discorsi einseitig als eigentliches reifes Spätwerk aufgewertet wurden, und von dem hervorgehoben wurde, daß er als „Bürger von Florenz sein Leben lang an die bürgerliche Freiheit" glaubte, zuerst in Hans Baron, Politische Einheit und Mannigfaltigkeit in der italienischen Renaissance und in der Geschichte der Neuzeit [zuerst 1942/44], in: August Buck (Hrsg.), Zu Begriff und Problem der Renaissance. Darmstadt 1969, 180-211, zit. 183, 202f. Es folgten Hans Baron, The Principe and the Puzzle of the Date of the Discorsi, in: Bibliothèque d'humanisme et renaissance 18, 1956,405-428; ders., Machiavelli on the Eve of the Discourses: The Date and Place of his Dialogo intomo alla nostra lingua, in: Bibliothèque d'humanisme et renaissance 23,1961, 449-476; ders., Machiavelli: the Republican Citizen and the Author of The Prince, in: English Historical Review 76, 1961, 217-253. Ein früher, seinerseits einflußreicher An-

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Cornel Zwierlein und Annelte

Meyer

sehe und französische Machiavelli-Forschung wurde sehr wenig zur Kenntnis genommen. 11 In der Spezialforschung zur politischen Theorie des 1 6 18. Jahrhunderts hat die Frage nach der Rezeption, Akkomodation und Auseinandersetzung mit Machiavelli - oder weiter gefaßt: mit der italienischen politischen Theorie des Cinque- und Seicento - aufgrund aktueller Forschungstendenzen nach einem gewissen Aufflackern in den 1980ern inzwischen wieder einen marginalen Status erreicht, weil 1 ) in der Erforschung der Ausdifferenziemng des frühneuzeitlichen Ius publicum nach dem Vorgang von Michael Stolleis die Frage der Auseinandersetzung mit den italienischen Texten kaum mehr gestellt wird, vielleicht auch, weil Stolleis Machiavelli nur als einen „Geheimtipp" im Deutschland des 16./17. Jahrhunderts einstufte 14 ; hänger der Bürgertiumanismus-Interpretation war Rudolf von Albertini, Das florentinische Staatsbewusstsein im Übergang von der Republik zum Prinzipat. Bern 1955. dessen Machiavellibild schon Willy Andreas, Zur Geschichte von Florenz im Cinquecento, in: HZ 182, 1956, 497-526, 507f. als „am meisten [...] durch Arbeiten angelsächsischer und schweizerischer Autoren" angeregt erkannt wurde. Zu Barons Renaissance- und Machiavelli-Bild kritisch schon Pecchioli, Umanesimo civile (wie Anm. 1); dann James Hankina, The Baron-Thesis after Forty Years, in: Journal of the History of Ideas 56, 1995, 310-338; Ronald Witt, Hans Baron's Renaissance Humanism, in: American Historical Review 101. 1996, 107-150; zur brillant-eigenständigen, aber doch Baron verpflichteten Interpretation von John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Republican Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975, vgl. Vickie B. Sullivan, Machiavelli's Momentary .Machiavellian moment'. A Reconsideration of Pocock's Treatment of the Discourses, in: Political Theory 20, 1992, 309-318; Thomas Berns, Violence de la loi à la Renaissance. L'originaire du politique chez Machiavel et Montaigne. Paris 2000, 17-21: Miguel E. Vatter, Between Form and Event. Machiavelli's Theory of Political Freedom. Dordrecht u.a. 2000, 1-23; Marie Gaille-Nikodimov, Machiavel au prisme du .moment machiavélien', in: Michel Sennellart/Gérald Sfez (Eds.), L'enjeu Machiavel. Paris 2001, 231-239; Vickie B. Sullivan. Machiavelli, Hobbes. and the Formation of a Liberal Republicanism in England. Cambridge 2004, 1-27. 13 Der, neben den Arbeiten von Dirk Hoeges, nach wie vor bestechendste deutsche Beitrag zur Machiavelli-Forschung - Herfried Münkler. Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz. 8. Aufl. Frankfurt am Main 2004 - stellt, wie schon ein Blick auf die verwendete Literatur zeigt, eher eine Auseinandersetzung mit und Reformulierung der spezifisch deutschen Machiavelli-Interpretation seit dem Historismus dar unter Einbeziehung der in den 1970ern neueren englischsprachigen Florenz-Forschung aus dem Kreis Baron/Gilbert. Vgl. ähnlich Georg C. Berger Waldenegg, Krieg und Expansion bei Machiavelli. Überlegungen zu einem vernachlässigtem Kapitel seiner „politischen Theorie", in: HZ 271, 1, 2000, 1-56; Herfried Münkler u.a. (Hrsg.). Demaskierung der Macht. Niccolò Machiavellis Staats- und Politikverständnis. Baden-Baden 2004. Auch die Literatur, mit der sich Wolfgang Kersting, Niccolò Machiavelli. 2. Aufl. München 1998, in seiner Einführung auseinandersetzt (vgl. die Anm. ebd. 168-171), ist, wenn nicht deutsch-, dann höchstens englischsprachig: gleiches gilt für Peter Schröder, Niccolò Machiavelli. Frankfurt am Main 2004, 153-156; Ottmann. Geschichte (wie Anm. 7), Bd. 3/1, 11-62. 14 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 3 Bde. München 1988-1999, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, 90-93; vgl. ders.. Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1983; ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990; ders.. Machiavelli in Deutschland. Zur For-

Einleitung

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weil 2) die breit angelegte Policey-Forschung an Machiavelli- respektive dem Italien-Kulturtransfer nicht interessiert ist a) aufgrund einer prima facie wenig zu dieser Fragestellung Anlaß gebenden Quellenlage15, b) aufgrund einer meist impliziten Beschränkung auf die deutsche, territorialstaatliche Binnenform von .Innenpolitik' und einer Vernachlässigung von .Außenpolitik'16, c) aufgrund einer richtungsweisenden Einschätzung schon des Nestors der Policey-Forschung, Hans Maier, wonach der deutsche ,Policey'-Diskurs sich eher aus deutschen mittelalterlichen Traditionen speiste und quasi per definitionem nicht im Austausch mit den .westlichen' (bzw. südlichen) Traditionen gestanden habe17; weil 3) die mit der Policey-Heuristik eng verwandte neuere gouvernementalité-Perspektive an einer ebenso folgenreichen wie einseitig begründeten und durchaus mißverständlichen Ausgrenzung von Machiavelli/ Machiavellismus aus dem Untersuchungsfeld des Diskurses der neuzeitlichen Gouveraementalität durch Foucault selbst leidet, der durch seine Fixierung auf den Principe strukturell selbst gleichsam als „Antimachiavellist" auf der Linie eines Voltaire/Friedrich ü. liegt18; weil 4) die sehr produktiven neueren schungslage der Machiavelli-Rezeption im 16. und 17. Jahrhundert in: Italienisch 7,1982, 24-35; ders. (Hrsg.), Hermann Coming (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk. Berlin 1983. 13 Natürlich sind in einem Werk wie Seckendorffs .Fürsten-Staat' oder bei einem Melchior Osse und dann in späteren kameralistischen Traktaten zunächst keine direkten Machiavelli-Spuren zu entdecken. Man müßte hier generalisieren und etwa von der spezifischen theoretischen Konzeption und der Praxis der Politikberatung über politische Gutachten, .disconierende' Zukunftsplanung und technisch-formende Weltbearbeitung als Aufgabe von Politik her denken, um dann zu fragen, wo deutsche .Politiker' solche Praxisformen gelernt haben. 16 Eine vorherrschende Tendenz insbesondere der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte fühlte zur Ausgrenzung außenpolitischer Themen und zu deren Pflege nur bei wenigen Forschergruppen, bei denen dann die Machiavelli-Frage wieder keine Rolle spielte (vgl. Heidrun Kugeler/Christian Sepp/Georg Wolf, Einführung, in: dies. [Hrsg.], Internationale Beziehungen in der Frühen Neuzeit, Ansätze und Perspektiven. Münster 2006, 9 36). Die deutsche Frühneuzeit-Geschichtsforschung zur italienischen Geschichte war über Jahrzehnte meist stark auf die Katholizismus- und Papsttumforschung ausgerichtet (mit Ausnahmen wie Volker Hunecke u. Christof Dipper). 17 Hans Maier, Ältere deutsche Staatslehre und westliche Tradition. Tübingen 1966, 8; ders.. Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft in Deutschland. Neuwied 1966, 200; ähnlich noch Thomas Simon, .Gute Policey '. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2004, 196. 18 Foucault geht von drei unterschiedlichen Diskursen aus: dem des christlichen Pastorats, dem der neuen „Kunst des Regierens", die in ihrem Beginn mit den Schriften .der' Antimachiavellisten identifiziert wird und eine .außenpolitische' Seite der Staatsräson und eine .innenpolitische' Seite der Policey hat. Die Ausgrenzung von Machiaveili/Machiavellismus als Ende eines alten mittelalterlichen Traditionsstrangs richtete sich implizit wohl gegen die historistische deutsche Schule, insbesondere gegen Meinecke, dessen Staatsräsonbuch 1973 in französischer Übersetzung erschienen war (Friedrich Meinecke, L'Idée de la raison d'État dans l'histoire des temps modernes. Trad. Maurice Chevallier, préface Federico Chabod. Paris 1973): Während Meinecke den Staatsräsondiskurs mit Machiavelli be-

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etwa von Luise Schorn-Schütte und Christoph Strohm vorangetriebenen Forschungsrichtungen zur politica christiana und zur Verbindung von Theologie und Jurisprudenz in den mitteleuropäischen Konfessionskulturen die Frage des Einflusses einer nicht primär rechts- oder theologieförmigen Weltwahrnehmung und Theoriekonzeption bisher nicht stellen 19 , und weil 5) auch in ginnen ließ und dann sowohl Botero wie Boccalini, Naudé etc. in eine Tradition stellte, macht Foucault einen machiavellistischen Diskurs aus, der nur auf einer „raison guerrière" basiere, während der antimachiavellistische gouvemementalité-Diskurs „produktiv/positiv" die empirische Regierungstechnik der Welt- und Populationsbearbeitung und -Ordnung zum Gegenstand habe. Auch hier impliziert das für die Frühzeit der Entwicklung eine Ausgrenzung des Außenpolitischen. Während Foucault für das spätere 17. Jahrhundert gerade auf die Interdependenz zwischen einer Außenpolitik der Konkurrenzsituation im Staatensystem und einer Innenpolitik hinweist, die daher auf eine Steigerang der „forces/forze" abzielen muß, was erst zu der Dynamik der inneren „Kunst des Regierens" führt, erkennt er nicht, daß bei Machiavelli gerade diese Konkurrenzsituation, das empirische WägekalkUl d e r f o r z e und damit die Dynamik der kognitiven Selbst- und Fremdbeobachtung und möglichst ständiger Machtsteigerung fundamental angelegt ist; vgl. Michel Foucault, Dits et écrits 1954-1988.4 Vols. Paris 1994, Vol. 3, 174, 635-657, 719-723; Vol. 4, 37^11, 125129, 134-161, 813-828: „la .raison d'État' marque cependant l'apparition d'un type de rationalité extrêmement - quoique en partie seulement - différent de celui de Machiavel" (ebd. Vol. 4, 152); „c'était en vérité rompre simultanément avec deux traditions opposées: la tradition chrétienne et la théorie de Machiavel" (ebd. 817). Dieselben Passagen bzw. inhaltlich genauso nun in der Komplettedition der Vorlesungen von 1977/78: Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität. Bd 1: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Hrsg. v. Michel Senellart. Frankfurt am Main 2004, 100f., 136-142, 145, 149, 151, 375, 391-394, 522. Nur ebd. 352-356 finden sich etwas abwägender-erhellendere Überlegungen zur Stellung von Machiavelli in der Vormoderne. Michel Senellart, Machiavel à l'épreuve de la gouvemementalité, in: Senellart/Sfez (Eds.), L'enjeu Machiavel (wie Anm. 12), 211-227, hat sehr genau die eindimensionale Machiavellophobie Foucaults analysiert; er selbst war zuvor aber genau dieser Linie in seinen Hauptschriften gefolgt: Michel Senellart, Machiavélisme et Raison d'État XII e -XVUI e siècle. Suivi d'un choix de textes. Paris 1989; ders., Les arts de gouverner. Du regimen médiéval au concept de gouvernement. Paris 1995; vgl. dazu demnächst Comel Zwierlein, La genèse de la méthodisation de l'empirie et de la réfléxivité dans la gouvemementalité machiavélienne du XVI ème siècle, in: Jakob Vogel/Pascale Laborier/Frédéric Audren/Paolo Napoli (Eds.), Les Sciences camérales: activités pratiques et histoire des dispositifs publics [Akten des Kolloquiums Amiens 2004], 19 Schom-Schiitte, Historische Politikforschung (wie Anm. 4), 21, erwähnt sehr wohl, daß die zentrale Debatte in den 1920er/30er Jahren über den Politikbegriff sich zuerst an Machiavelli entzündete. Andere Arbeiten sind meist auf die politica christiana konzentriert: Luise Schorn-Schütte, Politikberatung im 16. Jh. Zur Bedeutung theologischer und juristischer Bildung für politische Entscheidungsprozesse im europäischen Protestantismus, in: Armin Kohnle (Hrsg.), Zwischen Wissenschaft und Politik. Festschrift fur Eike Wolgast zum 65. Geburtstag. Stuttgart 2001, 49-66; dies., Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die .politica christiana' als Legitimitätsgrundlage, in: dies. (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. München 2004, 195-232. Bei Christoph Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitatsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus. Berlin/New York 1996; ders., Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2008, kommt Machiavelli einzig als von den Calvinisten abgelehnter Autor vor. Freilich stellen beide Forscher einfach andere Fra-

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den wichtigsten Forschungen zur frühen universitären po/ift'ca-Literatur der deutschen Universitäten (Horst Dreitzel, Wolfgang Weber, Merio Scattola) das Problem von Transfer, Beziehung und Akkomodation zwischen der parauniversitären italienischen Politiktheorie-Kultur und der nordeuropäischen, lateinischen universitären Politiktheorie ebenfalls kaum behandelt wird, obgleich ein Austausch und eine Auseinandersetzung mit der italienischen Theorie - zum Teil in Verschränkung mit der Bodin-Behandlung - bei Autoren wie Besold, Melchior Iunius, Obrecht und vielen anderen auf der Ebene der Quellen offensichtlich ist 2 0 gen, so daß sich die Vertiefung einer Untersuchung zu Machiavelli/Machiavellismus nicht anbietet 20 Horst Dreitzel, Protestantischer Aristoteiismus und absoluter Staat Die „Politica" des Henning Arnisaeus (ca. 1575-1636). Wiesbaden 1970; den., Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland. Ein Beitrag zu Kontinuität und Diskontinuität der politischen Theorie in der Frühen Neuzeit Mainz 1992; elers., Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft: Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz. 2 Bde. Köln u.a. 1991. Bei Dreitzel ist Machiavelli als Referenz etwa für Arnisaeus durchaus präsent, er hat die Frage aber nie thematisch weiter ausgeführt; Michael Behnen, Arcana - „Haec Sunt Ratio Status". Ragion di Stato und Staatsräson. Probleme und Perspektiven (1589-1651), in: Zeitschrift für historische Forschung 14,1987, 129-195; Wolfgang E. J. Weber, Prüdentia guberaatoria. Studiai zur Herrschaftslehre in der deutschen Politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992, kam es zunächst einmal auf die Vorstellung des Genres der politica-Lehrbücher des deutschen Sprachraums im 17. Jh. überhaupt an, die Frage der Genese dieses Genres im Diskurskontakt/Transfer blieb eher außen vor, praeter propter das gleiche gilt für Merio Scattola, Dalla virtù alla scienza: la fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell'età moderna. Mailand 2003, der stärker auf die Philosopheme der politica-Literatur selbst im Sinne einer hermeneutischen Innenschau und Exegese abhob; vgl. auch ders.. L'ordine del sapere. La bibliografia politica tedesca del Seicento. (Archivio della Ragion di Stato, 10-11 [2002-2003].) Neapel 2002, sowie die Biobibliographie der Dozenten der Politica durch Michael Philipp unter http://www.philso.uni-augsburg.de/web2/Politikl/geschpw3.htm; Roberto De Pol, Der Teufel in Paraasso: Boccalinis „Ragguagli" in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts, in: Alberto Martino (Hrsg.), Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Amsterdam 1990, 109-131; ders., Lebens- und Regierungs-Maximen eines Fürsten. Die erste gedruckte deutsche Übersetzung des Principe, in: Daphnis 32, 2003, 559-610. Zum deutschen „Antimachiavellismus" aus der Perspektive dieser älteren Machiavellismus/Antimachiavellismus-Dichotomisierung vgl. Michel Senellart, Y a-t-il une théorie allemande de la raison d'Etat au XVIIe siècle? Arcana imperii et ratio status de Clapmar à Chemnitz, in: Yves Charles Zarka (Ed.), Raison et déraison d'Etat. Théoriciens et théories de la raison d'Etat aux XVIe et XVIIe siècles. Paris 1994, 265-293; ders., La critique allemande de la raison d'Etat machiavélienne dans la première moitié du XVIIe siècle: Jacob Bornitz, in: Corpus 31, 1997, 175-188; zum Tacitismus im deutschsprachigen Raum sind als jüngere Übersichten zu nennen Wilhelm Kühlmann, Geschichte als Gegenwart: Formen der politischen Reflexion im deutschen ,'Tacitismus' des 17. Jahrhunderts, in: ders ./Wal ter E. Schäfer (Hrsg.), Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch. Gesammelte Studien. Tübingen 2001, 41-60 (vgl. schon einige Hinweise in: ders., Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982); Ulrich Muhlack, Der Tacitismus - ein späthumanistisches Phänomen?, in: Notker Hammerstein/Gerrit Walther (Hrsg.), Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Göttingen 2000, 160-182. Vgl. auch das sehr hilf-

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Nachdem insbesondere Horst Dreitzel, Wolfgang Weber und Merio Scattola die Literaturgattung der po//7ica-Traktate im deutschsprachigen Raum eingehend vorgestellt haben, käme es nun in einem zweiten Schritt darauf an, diese als ein Kulturtransferprodukt auf das Verhältnis zu Machiavelli/Machiavellismus zu befragen. Überwunden werden müßte die Vorannahme, daß für den mittel- und nordeuropäischen Bereich die südeuropäischen Entwicklungen nicht relevant seien, daß in den nördlichen Konfessionskulturen die Bedeutung von Konfession/Theologie und Jurisprudenz allgemein so vorherrschend sei, daß andere Umstände irrelevant oder marginal seien.21 Dem „Machiavellismus" der Moderne (19./20. Jahrhundert) ist für Deutschland/Mitteleuropa in der jüngeren Zeit, nach dem Ende der Vorherrschaft des Historismus 1960/7022, ebenfalls ein sehr beschränktes Interesse geschenkt worden sieht man von einigen erfreulichen Neuerscheinungen der letzten Jahre ab. 23 Das mögliche Forschungsfeld zeichnet sich hier insbesondere durch ganz unklare Problemeingrenzung und dadurch aus, daß das Verhältnis des spezifisch modernen Phänomens ,Machiavellismus' zur historischen Diffusion und Diskussion von Machiavelli bzw. von italienischen Politiktheorieautoren in der Vormoderne kaum reflektiert wird. Der vorliegende Sammelband wird die aufgewiesene Lücke nicht wirklich schließen können, es war bei bestehender und befruchtender disziplinarer und methodischer Pluralität weder gangbar noch wünschenswert, etwa eine Machiavellismus-Definition verbindlich zu machen. Der Untertitel des Bandes deutet aber an, daß wir durchaus eine Hypothese zum historischen Phänomen von Machiavelli-Konjunkturen und ,Machiavellismus' vertreten: Der Rekurs reiche Internet-Editionsprojekt „Historica-politica" der Universität Mannheim, http:// www.uni-mannheim.de/mateo/camenahist/starthist.html. 21 So etwa das Urteil bei Wolf gang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfangen bis zur Gegenwart. München 1999, 108. Dem folgend Michael Philipp, Das .Regentenbuch' des Mansfelder Kanzlers Georg Lauterbeck. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte im Konfessionellen Zeitalter. Augsburg 1996, 142-149. 22 Vgl. die programmatische Antrittsvorlesung von Wolfgang J. Mommsen am 3. Februar 1970 an der Universität Düsseldorf: Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus. Düsseldorf 1971, 21 ff. 23 Ales Polcar. Machiavelli-Rezeption in Deutschland von 1792 bis 1858: 16 Studien. Aachen 2002; Jean-Christophe Merle, Fichte, ein Machiavellist dem Kantischen Erlaubnisgesetz zufolge, in: Ursula Baumann (Hrsg.). Fichte in Berlin: Spekulative Ansätze einer Philosophie der Praxis. Hannover-Laatzen 2006, 163-175; Ives Radrizzani, Fichtes Eingreifen ins Rad der Zeit' - Gibt es eine ,MachiaveIlisierung' des Politischen beim späten Fichte?, in: Hans Georg von Manz/Günter Zöller (Hrsg.), Fichtes praktische Philosophie. Eine systematische Einführung. Hildesheim u.a. 2006; Gisela Bock, Meinecke, Machiavelli und der Nationalsozialismus, in: dies./Daniel Schönpflug (Hrsg.), Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Leben und Werk. Stuttgart 2006, 145-175; Luigi Marco Bassani/ Corrado Vivanti (Eds.), Machiavelli nella storiografia e nel pensiero politico del XX secolo. Mailand 2006; Paolo Carta/Xavier Tabet (Eds.), Machiavelli nel XIX e XX secolo Machiavel aux XIX e et XX e siècles. Mailand 2007.

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auf Machiavelli könnte als ein wiederkehrender Dreischritt in der Wahrnehmung der historischen Akteure beschrieben werden: 1) wird das Politische als kontingenter Raum durch die Infragestellung bestehender Normativitäten und Herrschaftsformen eröffnet; 2) geht damit eine Verunsicherung ebenso wie die Erkenntnis der Möglichkeit methodisiert reflexiver politischer Gestaltung einher, und 3) ist dem Machiavellismus die empirische Auslotung dieser politischen Gestaltungsspielräume mit Bezug auf die historische wie auf die Gegenwartserfahrung eigen. Jenseits der Amoralismus-Semantik von .Machiavellismus' würde auf einer neutraleren Beschreibungsebene die Bedeutsamkeit der Chiffre .Machiavelli' für die Theoretisierung von Politik im Zustand der UnverfaBtheit (vom Problem der .neuen Fürstentümer' in der Frühen Neuzeit bis hin zu Revolutionsphasen in der Moderne), von Politik als Strategie, Handlungs- und Entscheidungstheorie, von Funktions- statt Normprimat stehen. Solche verallgemeinernden Überlegungen sollen hier aber nicht vertieft werden, da sie sonst einen zu engen Rahmen suggerieren, der bei der Vielgestaltigkeit der Bezugnahmen auf Machiavelli, seiner Chiifrierungen und der Füllung des Begriffs .Machiavellismus' unangebracht wäre. Der Anspruch ist somit bescheidener, weniger programmatisch: Das Thema soll in den deutschsprachigen Geschichtswissenschaften, nach Meinecke und Stolleis, erneut eingebracht werden, und der Band soll so auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstands als Anregung für Anschlußforschungen dienen. Die Beschränkung auf den deutschen Sprachraum - die für die Nachkriegszeit (Foucault, Hardt/Negri) auch gar nicht strikt eingehalten wurde, da für diese zeitnahen Diskussionen eher die Wahrnehmung der Autoren als .global diskutierten' vorherrscht - ergab sich im wesentlichen aus pragmatischen Gründen: Die dem Sammelband zugrundeliegende Tagung ist Teil eines losen ForscherNetzwerkes und einer Tagungsfolge, die 2007-2013 bis zum 500. Jahrestag die unterschiedlichsten der Abfassung von Machiavellis De principatibus Aspekte von .Machiavellismus' in den diversen europäischen Ländern zum Gegenstand haben - hier galt es, Doppelungen zu vermeiden. Die Fülle dieser Tagungen wird in naher Zukunft sicherlich für eine gewisse Weile eine Sättigung des Forschungsstands zum Machiavellismus erzielen, andererseits erzeugen sie zunächst einmal durchaus international in hohem Maße Anregungen zu neuen Machiavelli-Forschungen auch jenseits der Konferenzen. Die deutschsprachige historische wie politik- und literaturwissenschaftliche Forschung ist in diesem Gesamtrahmen vergleichsweise gering engagiert, insofern stellt der vorliegende Tagungsband bislang den einzigen deutschen Beitrag zu dieser europäischen Initiative dar.24

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Vgl. Anm. 3.

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II. ,Machiavellismus' Man könnte überhaupt schon daran zweifeln, daß der Terminus ,Machiavellismus' hilfreich ist, den Gegenstand einer Sammelpublikation zu definieren. Die Bezeichung .machiavellistae/machiavelistes' taucht schon früh, im Kontext der französischen Religionskriege als Kampfbegriff auf, den katholische Ligisten und teilweise auch Hugenotten gegen diejenigen, die vermittelnde Positionen vertraten, die sogenannten ,politiques' 25 , einsetzten. 26 Als abstrakter Terminus in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen zur Bezeichnung eines Typus von Politik- und Regierungsstil wird er hingegen erst im 19. Jahrhundert verwendet. 27 Seither wird ,Machiavellismus' in unterschiedlichen Abwandlungen meist als Lehre oder Rechtfertigung von einer von ethischen Normen losgelösten Interessen- und Machtpolitik begriffen. 28 Karl Heyer extrahierte so unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg 1918 aus Machiavellis Schriften als ,Machiavellismus' ein „System", in dem nicht zwischen moralischen und unmoralischen Handlungen unterschieden werde, und das auf dem „prinzipiellen absoluten Egoismus" des politischen Akteurs basiere.29 Erwin Faul schrieb unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und aufgrund der Erfahrungen „mit dem übersteigerten ,Machiavellismus' totalitärer Bewegungen", daß das „zentrale Problem des Machiavellismus die (rein) machtmäßige Bewältigung des Gegenwärtigen und (wie er voraussetzt) im Grunde naturhaft ewig Gleichen" sei; er habe „in seiner zugespitztesten Prägung den Charakter eines technischen Wissens von den menschlichen Trieben, Leidenschaften und Gefühlen, das in einem Wechselspiel von Entschleierung (für sich selbst) und Verschleierung (für die anderen) politisch nutzbar wird." 30 James Burnham habe den Begriff beispielsweise auf die Elitetheorien von 25 Daß der Begriff der ,politiques' nicht wirklich eine kohärente ,Partei' bezeichnet, sondern selbst stets nur Fremdbezeichnung und Kampfbegriff, nie Selbstbeschreibung war, ist allgemein bekannt, vgl. zuletzt Martin Papenheim, ,En ce monde chacun a sa politique': Aspekte einer Begriffsgeschichte von .politique' in Frankreich vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: Steinmetz (Hrsg.), Politik (wie Anm. 4), 162-205, 168. 26 Vgl. z.B. Cornel Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006, 509 Anm. 638, 529 Anm. 703. 27 Dennoch ist zu konstatieren, daß auch in den neueren Arbeiten zur Rezeption der Renaissance im Historismus Machiavelli/Machiavellismus auf merkwürdige Weise ausgeklammert bleibt, vgl. Wolfgang Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit. Göttingen 1974; Johannes Heinßen, Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert. Göttingen 2003. 28 Vgl. die Zusammenstellung von Definitionen aus sieben Konversations- und Politikfachlexika bei Volker Krull, Die machiavellistischen Elemente in Ideologie und Politik des Nationalsozialismus. Diss. München 1993, 30-32. 29 Karl Heyer. Der Machiavellismus. Diss. phil. München, Berlin 1918, 9-12. 30 Erwin Faul. Der moderne Machiavellismus. Köln/Berlin 1961, 13, 17-19.

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George Sorel, Vilfredo Pareto, Gaetano Mosca und Robert Michels angewandt.31 Aktuell definiert das „New Dictionary of the History of Ideas": Machiavellism, a word that goes back to the late sixteenth century, is a name for the theory and practice of amoral politics. In its ideal, simply abstract sense, it is not meant to coincide exactly with the views or practices of any historical individual, even Niccolò Machiavelli (1469-1527) himself. When Machiavelli praises the citizens of the ancient republic of Rome as noble and public-spirited, he is no Machiavellian. Consistent Machiavellism is unconstrained by custom, ideal, or conscience and aims only at the expedient means, lawful or not, to gain desired political ends. War is thought not only often expedient but necessary to maintain a people's vigor. The absence of moral restraint is reinforced by the fixed opinion that human beings are by nature weak, inconstant, selfish, and inclined to evil. Expositions of Machiavellism often take the form of advice for a ruler, who is regarded as indispensable to the state, and the welfare of ruler and state ar considered to be identical. Aimed at practice rather than theory, the literature of Machiavellism is filled with amoral strategies to gain the ruler's ends."32

Diese Definitionen von , Machiavellismus ' zeichnen sich alle durch eine idealtypische Generalisierung aus. Der Name Machiavellis wird metonymisiert, um ein bestimmtes Set von politischen Praktiken und Ideologemen zusammenzufassen. Betont wird, wie in Scharfsteins Definition, daß selbst Machiavelli über weite Strecken seines Œuvres kein Machiavellist gewesen sei, und umgekehrt, daß er den Machiavellismus nicht wirklich erfunden habe, sondern daß dieser eine anthropologische Determinante extrapoliere.33 Abgesehen von der metonymen Anwendung des Begriffs in trivialen Gattungen der Beraterliteratur (Machiavelli für Manager, Machiavelli für Frauen .. 0 34 liegt es ganz auf dieser Linie, daß Humanbiologen und Soziobiologen abstrahierend unter .machiavellism' die natürlichen komplex-reflexiven Handlungs-, Antizipations- und Berechnungsfähigkeiten hochentwickelter Primaten, insbesondere der Gattung Homo sapiens, verstehen.35 31

Reinhart Beck, Sachwörterbuch der Politik. 2. Aufl. Stuttgart 1986, 570. Vgl. James Burnham, The Machiavellians. 2. Aufl. New York 1943 (dt.: Die Machiavellisten - Verteidiger der Freiheit. Zürich 1949). 32 Ben-Ami Scharfstein, Art. „Machiavellism", in: Mary C. Horowitz (Ed.), New Dictionary of the History of Ideas. 5 Vols. Detroit u.a. 2005, Vol. 4, 1325-1328, hier 1325. Der Artikel gibt im wesentlichen die Thesen von Ben-Ami Scharfstein, Amoral Politics. The Persistent Truth of Machiavellism. Albany 1995, wieder. 33 „Machiavelli hat aber den Machiavellismus nicht erfunden, als Praxis ist dieser uralt, so alt wie aller Egoismus in der Menschennatur"; Heyer, Der Machiavellismus (wie Anm. 29), 13. 34 Luigi Spagnol (Hrsg.), Machiavelli für Manager. Frankfurt am Main 1995; Harriet Rubin, Machiavelli für Frauen. Strategie und Taktik im Kampf der Geschlechter. Frankfurt am Main 2000. Diese Gattung von ,Machiavellismen' hat - will man sie nicht in die Frühe Neuzeit zurückverfolgen - jedenfalls in der Moderne eine lange Tradition, vgl. Henry Champernowne [i.e. David MacGregor Means,] The Boss, an Essay upon the Art of Governing Cities. New York 1894. 35 Vgl. nur Andrew Whiten/Richard W! Byrne (Eds.), Machiavellian Intelligence. Social Expertise and the Evolution of Intellect in Monkeys, Apes and Humans. Oxford 1988;

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Um 1900 hatte schon Charles Benoist solche Verallgemeinerungen und Metonymisierungen in der These vom „machiavélisme perpétuel" gebündelt, der sich in allen Epochen und bei allen Menschen unterschiedlich, aber letztlich doch mit den Kemaussagen Machiavellis übereinstimmend oder äquivalent finden lasse. 36 Bei Scharfstein ist diese Konzeption global vergleichend ausgeführt, indem er, Machiavellismen ' lange vor Machiavelli bzw. ohne jede Verbindung zum Renaissance-Italien im alten China und Indien, bei den Azteken und den Zulu, bei den Eskimos und den Ureinwohnern Australiens .nachweist'. Diese Nachweise bestehen natürlich genauso wie etwa bei dem größten Teil der Nachweise des , Machiavellismus' des Nationalsozialismus in der Operation, zunächst abstrakt einige Merkmale politischer Handlungen oder Konzepte aufzustellen, diese mit dem Terminus ,machiavellistisch' zu benennen und sie anschließend in den jeweiligen Gesellschaften, Politik- und Herrschaftsstilen wiederzufinden.37 Oft wird dabei, wenn die Praxis sich auf europäische Verhältnisse bezieht, die Frage von direkten Rezeptionen von Machiavellis Schriften im Ausschnitt oder im Ganzen mit solchen abstrahierenden Begrifflichkeiten von ,Machiavellismus' vermengt. 38 Der Beitrag von dies. (Eds), Machiavellian Intelligence II. Extensions and Evaluations. Cambridge 1997; David S. Wilson u.a., Machiavellianism. A Synthesis of the Evolutionär)' and Psychological Literatures, in: Psychological Bulletin 119, 1996, 285-299. 36 Charles Benoist, Le Machiavélisme. 2 Vols. Paris 1907-1934. Vol. 1 : Avant Machiavel, 1-6. Vgl. dazu noch die Diskussion anläßlich des 400. Todestages Machiavellis: Charles Benoist, Le machiavélisme perpétuel, in: Rivista d'Italia 30/6, 1927, 217-223: Filippo Meda, II machiavellissmo, in: ebd. 224-236. 37 Scharfslein, Amoral Politics (wie Anm. 32), insbes. 21-174, für Hitler und Stalin als .Machiavellis' ebd. 210-214; fiir die Interpretation von modernen Massenideologien/Totalitarismen als .Massen-Machiavellismen' (der Begriff von Meinecke) vgl. Faul, Der moderne Machiavellismus (wie Anm. 30), insbes. 296-337; Krull, Die machiavellistischen Elemente (wie Anm. 28). 38 Das wird deutlich, wenn etwa Faul, Der moderne Machiavellismus (wie Anm. 30). 302-337, Hitlers Politikkonzeption als machiavellistisch interpretiert und dabei meist ganz ohne Bezug auf Machiavellis Texte selbst auskommt; auf 321 f. wird dann aber gleichsam zum letztgültigen Beweis aus Rauschnings .Gespräche mit Hitler' zitiert, daß Hitler „sich selbst mitunter den .größten Schüler Machiavellis' nannte und den Principe .eine Zeitlang ständig auf seinem Nachttisch liegen hatte'". Auch wenn die aktuelle Forschung wieder einfordert, Rauschning als Persönlichkeit und Autor emstzunehmen, sind die .Gespräche' nach der Fundamentalkritik seit 1984 jedenfalls nicht ohne weiteres als Primärquelle für Hitlers Denken zu benutzen (vgl. Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler. Eingel. v. Marcus Pyka. Zürich 2005,1-XV): Zunächst liegt doch eher die Vermutung nahe, daß hier ein ehemaliger Nationalsozialist und Gegner Hitlers diesen ganz bewußt zum MachiavelliLeser/Machiavellisten im engeren Sinne stilisierte, so wie Hugenotten und Ligisten die späten Valois (Katharina von Medici, Heinrich III.) als Machiavelli-Leser denunzierten. Man müßte einbeziehen, daß in vielen Facetten seiner Selbstdarstellung der Nationalsozialismus sich geradezu als ,antimachiavellistisch' inszenierte - etwa, wenn die .Weltverschwörung der Juden' als Machiavelli-inspiriert denunziert werden (vgl. die Rezeption der Protokolle der Weisen von Zion als Nachschrieb von Maurice Jolys .Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu oder der Machiavellismus im XIX. Jahrhundert') oder wenn Machiavelli von Rosenberg als etruskischer (und damit semitischer)

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Martin Mulsow in diesem Band zeigt, daß diese Argumentationsfigur des ,Machiavellismus vor, ohne, neben Machiavelli' schon sehr alt ist und daß entsprechend das Reflexionsniveau eines Heyer oder Scharfstein nicht über das im 17. Jahrhundert Denkbare hinausgeht. In dieser Allgemeinheit ist der Machiavellismus-Begriff für historische Arbeiten wenig fruchtbar, weil sich auf dieser Grundlage keine spezifisch historische Heuristik entwickeln läßt; die typisierende Verallgemeinerung des Begriffs kann höchstens selbst als historisches Phänomen der Neuzeit in den Blick genommen werden. Auch eine etwas feinere Differenzierung Benoists führt hier nicht weiter, weil sie letztlich doch von einer scheinbar evidenten Einteilung in Vertreter-Gruppen von Machiavellisten/Antimachiavellisten ausgeht 39 Dagegen ist festzuhalten, daß es sich bei den ständig als Paar vorkommenden Begriffen Machiavellimus/Antimachiavellismus um asymmetrische Gegenbegriffe im Sinne Kosellecks handelt40: Niemand bezeichnete sich selbst als Machiavellisten, es gab also keine Partei von solchen Machiavellisten und also vorderhand auch keinen Diskurs des Machiavellismus - zumindest nicht, wenn man nicht eine neue metasprachliche Definition von .Machiavellismus' vornimmt. Machiavelli fungiert schon rasch im 16. Jahrhundert als Chiffre - als Chiffre für die Theoretisierung von Erlangung und Erhaltung von Herrschaft, als Chiffre für Kontingenz, insofern die Situationsbezogenheit der Gegenwartsanalyse und Zukunftsplanung seinem Werk und auch dem Derivat okkasionistischer Politiken eingeschrieben ist, als Chiffre für Empirismus aufgrund der anti-deduktiven Methode. Schließlich natürlich auch als Chiffre für politische Amoralität, Brutalität, Bestialität. Schon Benedetto Croce und nach ihm Michel Foucault und Reinhart Koselleck haben diese polarisierende Stellung Machiavellis dadurch charakterisiert, daß sie ihn Denker identifiziert wird, dessen Geist der .nordischen Seele' diametral entgegengesetzt sei: Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. 5. Aufl. München 1933, 67 f. Anm. *: „Vielleicht kann man auch die Gestalt Machiavellis hier eingliedern. Trotzdem er gegen die Kirche für einen italienischen Nationalstaat kämpfte, trotzdem das Geschäft der Politik zu allen Zeiten nicht gerade eine Schule grundsätzlicher Wahrhaftigkeit gewesen ist: ein derartiges, nur auf menschliche Niedertracht aufgebautes System und ein grundsätzliches Bekenntnis dazu ist keiner nordischen Seele entsprungen. Machiavelli stammte aus dem Dorf Montespertoli, das, wie sein Lebensdarsteller Giuseppe Prezzolini erklärt, (,Das Leben Niccolo Machiavellis', deutsch Dresden 1929) .vorwiegend etruskischen Charakter' hatte." 39 Er unterschied vier Machiavellismen: 1) der Machiavellismus Machiavellis, 2) der der Machiavellisten, 3) der der Antimachiavellisten, 4) ein Machiavellismus derer, die nie eine Zeile von Machiavelli gelesen haben, die sich aber bei Gelegenheit der Verben, der Substantive oder der Adjektive bedienen, die von seinem Namen abgeleitet sind (Benoist, Le Machiavélisme avant Machiavel [wie Anm. 36], 1-3). 40 Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, 211-259; ders., Feindbegriffe, in: ders., Begriffsgeschichten. Frankfurt am Main 2006, 274-284.

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mit Marx verglichen. Er sei quasi der Marx der Vormoderne41: An ihm arbeitete sich ein guter Teil der politischen Theorie ab, in der negativen Bindung an ihn blieb der Perhorreszierte immer präsent, selbst wenn nur sein Name benutzt wurde, ohne daß seine Schriften genau gelesen worden wären. Diese Stellung als Chiffre und Negativfolie gilt selbstverständlich im Groben auch für die Rezeption im deutschen Sprachraum.

III. Machiavellismus im deutschen Sprachraum Unser Wissensstand zur Machiavelli-Rezeption im deutschsprachigen Raum im 16.-18. Jahrhundert ist alles in allem sehr dünn und geht hier nach von Mohls und Gerbers bibliographischen Vorarbeiten über einige etwas eingehendere Arbeiten von Werner Kaegi für Basel sowie die Arbeiten von Michael Stolleis und einige neuere Beiträge, etwa von Roberto De Pol, kaum hinaus.42 Lediglich der ,Anti-Machiavel' Friedrichs II. und Voltaires erfreut sich einer gewissen kanonischen Bekanntheit.43 Neuere Studien sind vor al41

Bei Croce ist Marx der Machiavelli des Proletariats, vgl. Benedetto Fontana, Hegemony and Power. On the Relation between Gramsci and Machiavelli. Minneapolis/London 1993, 59; Marcello Montanari, Croce e Gentile interpreti di Machiavelli. Due concezioni della politica a confronto, in: Bassani/Vivanti (Eds.), Machiavelli (wie Anm. 23), 79-92, 82; Foucault, Geschichte der Gouvemementalität (wie Anm. 18), 353; Reinhart Koselleck, Zeitenschichten. Studien zur Historik. Frankfurt am Main 2000, 31. Vgl. auch Raymond Aron, Machiavel et Marx, in: Contrepoint 4, 1971, 9 - 2 1 ; Claude Lefort, Réflexions sociologiques sur Machiavel et Marx, in: Cahiers internationaux de sociologie 28, 1960, 113135. 42 Auch bei Sydney Anglo, Machiavelli - The First Century. Studies in Enthusiasm, Hostility, and Irrelevance. Oxford 2005, ist der deutsche Sprachraum kaum erfaßt. 43 Adolph Gerber, Niccolö Machiavelli; die Handschriften, Ausgaben und Übersetzungen seiner Werke im 16. und 17. Jahrhundert; mit 147 Faksimiles und zahlreichen Auszügen; eine kritisch-bibliographische Untersuchung. 4 Bde. Gotha 1911-1913; Werner Kaegi, Machiavelli in Basel [zuerst 1940], in: ders.. Historische Meditationen. Bd. 1. Zürich 1942, 119-182; vgl. zum Basler Machiavelli-Drucker Perna nun Leandro Perini, La vita e i tempi di Pietro Pema. Rom 2002; Theodor Schieder, Friedrich der Große und Machiavelli. Das Dilemma von Machtpolitik und Aufklärung, in: HZ 234, 1982, 265-294; jetzt Peter Nitschke, Selbstblendung der Staatsmacht. Der Antimachiavell als kontrafaktischer Paradigmenwechsel, in: Münkler u. a. (Hrsg.), Demaskierung der Macht (wie Anm. 13), 61 - 8 2 ; aus der Perspektive der Wirkungsgeschichte der Editionen Amelot de La Houssayes Jacob Soll, Publishing The Prince. History, Reading, & The Birth of Political Criticism. Ann Arbor 2005. Voltaire ¡/Friedrich II.], Anti-Machiavel. Ed. Werner Bahner/Helga Bergmann. (Les Œuvres complètes de Voltaire, Vol. 19.) Oxford 1996. Literaturwissenschaftliche Arbeiten berühren zuweilen das Thema: Andreas von der Heyde, Die wahre und die falsche Ratio Status: zur Machiavellirezeption im 16. und 17. Jahrhundert und bei Grimmelshausen, in: Erzählen bei Grimmelshausen und seinen Zeitgenossen. (Simpliciana, 12.) Berlin 1990, 503-516; Michael Szurawitzki, Contra den „rex iustus/rex iniquus"? Der Einfluss von Machiavellis „II Principe" auf Marlowes „Tamburlaine", Shakespeares „Heinrich V." und Gryphius' „Leo Armenius". Würzburg 2005, 93-106, 155-179. Für einen Linienschlag, nicht auf den deutschen Sprachraum begrenzt, vgl. Cornel Zwierlein, Machiavellis-

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lem zur Machiavelli-Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts - interessanterweise kaum von deutschen Autoren - entstanden.44 Dieser Sammelband kann hier keine umfassende Neuvermessung leisten, er erhebt auch nicht den Anspruch, systematisch alle wichtigen Autoren, Diskussionsstränge und Epochen abzudecken: Der Tendenz nach wurden Beiträge gerade zu noch weniger behandelten Themen und Autoren versammelt, so daß sich der Leser zuweilen die schon oft behandelten .Klassiker' (Friedrich II., Fichte) ,dazudenken* muß: Auf diese Weise soll ein neuer Blick auf Machiavelli/Machiavellismus als Teil der Renaissance in Deutschland eröffnet werden.45 Zum ersten Mal greifbar wird der Bezug auf Machiavelli im deutschen Sprachraum in einem Brief, den ein italienischer Emigrant und Bucer-Schüler in Straßburg 1S3S an Erasmus schreibt: Jener Angelo Odoni lobt die papstkritischen Tendenzen im Werk Machiavellis - es ist die Zeit, in der Machiavelli in protestantischen Milieus noch als Heterodoxer positiv rezipiert wird; so etwa auch noch bei Flacius Dlyricus, bei dem Machiavelli als ein präreformatorischer testis veritatis katalogisiert wird. 1548 kaufte ein so einflußreicher Kaiser-Berater wie Lazarus von Schwendi in Brüssel die französische Gohory-Übersetzung von Machiavellis Discorsi und annotierte sie kritisch. In seinen eigenen Schriften darf man hiernach durchaus mit Fug und Recht Remus/Antimachiavellismus, in: Heibert Janmann (Hrsg.), Distaine der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Berlin/New York [vorauss. 2010], der allerdings in der gebotenen Verdichtung auch über eine reflektierte Material- und Literaturordnung nicht hinauskommen kann; Annette Meyer/Comel Zwierlein, Art. „Machiavellismus", in: Enzyklopädie der Neuzeit. Hrsg. v. Friedrich Jaeger. Bd. 7. Stuttgart 2008, Sp. 1067-1072. 44 Neben den in Anm. 23 genannten Werken vgl. insbesondere Merio Scottola, Meinecke, Machiavelli e la ragion di Stato, in: Bassani/Vivanti (Eds.), Machiavelli (wie Anm. 23), 167-206; Corrado Malandrino, Michels Machiavellian o interprete di Machiavelli?, in: ebd. 207-226; Carlo Galli, Schmitt e Machiavelli, in: ebd. 227-248; Maria Antonietta Falchi Pellegrini, Horkheimer e Machiavelli, in: ebd. 249-266; Jean-Michel Buée, Les lectures de Machiavel en Allemagne dans la première moitié du XlXème siècle, in: Carta/Tabet (Eds.), Machiavelli (wie Anm. 23), 49-66; Ernesto De Cristofaro, Letture di Machiavelli nella cultura di area tedesca tra fine Ottocento e inizio Novecento: Burckhardt, Treitschke, Meinecke, in: ebd. 125-144; Maurizio Cau, Tra potere demoniaco e virtù democratica. Letture machiavelliane nella cultura tedesca tra le due guerre, in: ebd. 145-184. 45 Vgl. Giuliano Procacci, Machiavelli nella cultura Europea dell'età moderna. Rom/Bari 1995,131-133, 139,255-266. Bis auf wenige Ausnahmen sind die dortige Hinweise Oreste Tommasini, Del Machiavellismo, in: ders., La vita e gli scritti di Niccolò Machiavelli nella loro relazione col Machiavellismo. 2 in 3 Vols. (1883-1911). Ndr. Neapel 19942003, Vol. 1, 3-75 entnommen, der einige ,Machiavellismus'-Werke des deutschsprachigen Raums des 17. bis 19. Jahrhunderts erwähnt, davon aber wenige inhaltlich bearbeitet. Auf dieser Basis war dann schon die 1915 geschriebene, aber erst 70 Jahre später erschienene Studie Giani Stuparich, Machiavelli in Germania. Rom 1985, entstanden. Vgl. weiter Albert Elkan, Die Entdeckung Machiavellis in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: HZ 119, 1919, 427-458; Faul, Der moderne Machiavellismus (wie Anm. 30); Wilhelm Kölmel, Machiavelli und Machiavellismus. Mit einem Exkurs zu Piatinas Schrift ,De principe', in: Historisches Jahrbuch 89, 1969, 372-408 (mit der zu diesem Zeitpunkt diskutierten Literatur der 1930er bis 1960er).

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Comel Zwierlein und Annetie Meyer

zeptionselemente im Detail wie allgemein strukturell aufweisen. Seit etwa den 1570em kann man bei einer Vielzahl von deutschen Adligen, Bürgerlichen und Fürsten, die durch Reisen oder durch Studium mit der west- und südeuropäischen Kultur in Berührung gekommen waren, eine gewisse Kenntnis der italienischen Politik-Kultur nachweisen. Der neue Wahmehmungsmodus, der mit dieser Politik-Kultur einherging, stand allerdings quer zur mitteleuropäischen, von der Reichsnormativität geprägten politischen Sphäre. Entsprechend ist hier ein konfliktuöser, ja konfliktschaffender Kulturtransfer- und Kulturkreuzungsprozeß zu beobachten, der im Beitrag von Comel Zwierlein reflektiert wird. Hier knüpft auch der Beitrag von Rosanna Schito an, die den Kontext der Ausbildung des Territorialstaats, der komplexen Diskussion Uber .Souveränität' bzw. Territorial-Oberhoheit, die ratio status und die arcana rerumpublicarum einholt und anhand des seit der Wiederentdeckung durch Stolleis .klassischen' Beispiels Hermann Coming exemplifiziert. Hiernach setzen die Beiträge lose chronologisch ein: Wie sehr Machiavelli hier anstößig erscheinen mochte, zeigen die von Francesco Ingravalle und Corrado Malandrino untersuchten Basler lateinischen Übersetzungen von Principe und Discorsi: In der /Vmcfpe-Übersetzung milderte Silvestre Tegli oft die anrüchigsten Spitzen des Machiavelli-Textes. Trotz dieser Milderungen scheint vom Basler Zirkel aus in der politischen Theorie des 16./17. Jahrhunderts im Calvinismus des deutschsprachigen Raumes bis hin zu Althusius eher Platz für eine .neutralisierte' Machiavelli-Rezeption geherrscht zu haben als in Frankreich. Die Lehrbücher, Kompendien und Traktate der Po/m'ca-Literatur selbst des 17. Jahrhunderts sind für die Frage nach .Machiavellismus' oft weniger deutlich und aufschlußreich als die Gattung der Disputationen und der Kleintraktate zu Einzelfragen. Daraus folgte die Entscheidung, nicht allgemein die ratio-status-Literatur, ,den' Tacitismus oder die Diskussion zu den arcana rerumpublicarum in ihrem Verhältnis zu Machiavelli/Machiavellismus zu befragen, sondern einzelne Themenstränge und topische Setzungen, die auf Machiavelli zurückgehen, zu verfolgen, so etwa .Neutralität', .Expansionismus' und auch die Diskussion über die .conversiones rerumpublicarum', die Staatsumwälzungen, die Lucia Bianchin behandelt: die Frage, welche entscheidenden Veränderungen und Revolutionen in der Staatengeschichte vom Politiker im human-biographieähnlichen Schema von Aufstieg - Höhepunkt - Niedergang zu berücksichtigen sind, wie die Großveränderungen vorauszusehen sind und wie man ihren Verlauf gegebenenfalls befördern oder ihn hemmen kann, steht im Mittelpunkt dieser Disputations- und Traktatgattung. Diese Frage ist natürlich in der antiken Philosophie vorgeprägt, sie wurde aber durch Machiavellis Polybios-Rezeption der anakyklosis und vor allem durch Bodin, der diese Anregung aufnahm und systematisierte, erst wieder relevant und neu auf die Staaten im entstehenden europäischen Staatensystem appliziert. Bianchin zeigt die große Bedeutung dieses Themas in

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der Politikwissenschaft an den deutschen Universitäten, und sie demonstriert auch, wie unter der Oberfläche der komplexen Verschränkung antiker Geschichtsphilosophie, philippistischer Astrologie und Bodins neoplatonischer Lehre die Anregung Machiavellis weiter präsent bleibt. Der Beitrag von Thomas Maissen setzt noch einmal beim Basler Zirkel der Machiavelli-Übersetzer ein und schlägt dann für die deutsch-Schweizer Machiavelli-Präsenz den Bogen bis ins 18. Jahrhundert: Mit dichtem Belegmaterial zeigt er, wie Machiavelli im 17. Jahrhundert zunächst der üblichen Verdammung anheimfällt, wie ihn aber die Aufklärer (Iselin) zeitgleich mit der französischen Aufklärung46 so auch im deutschen Sprachraum als Republikaner wiederentdecken und wie auch die positiven Aussagen Machiavellis über die Schweizer Militärkraft fur den patriotischen Diskurs neue Verwendung finden. Bislang in der Literatur kaum gestreifte Gebiete behandeln Martin Mulsow und Merio Scaltóla: Der erstere untersucht die zwar seit dem 16. Jahrhundert bestehende, aber gerade im gelehrten Diskurs seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einer eigenen Traktatgattung geformte Argumentationsfigur des ,Machiavellismus vor oder neben Machiavelli'. Dies geschieht im Rahmen der Historia literaria, jener universalen Wissensformation des 18. Jahrhunderts, die versuchte, das Gesamt der wissenschaftlichen Welt bio-bibliographisch zu erfassen.47 Scattola analysiert, wie in der Historia literaria Machiavelli bibliographisch verortet wird, und er kann dabei nachweisen, daß Anfang des 18. Jahrhunderts eigentlich schon eine neutrale bis positive Neuklassifikation des Autors Machiavelli stattgefunden hatte, als dann der erneut rigoros-moralistische Anti-Machiavel Voltaires/Friedrichs II. wieder zu einer starken RePolarisierung führte. Autoren wie Hoffmann und Reimarus wollten Machiavelli dadurch angreifen, daß sie ihm seine Bedeutung und historische Singularität absprachen: Machiavellismus habe es schon bei den Spartanern, in der Bibel oder bei den Chinesen gegeben. Brisant wird dieses Verfahren, wenn nicht intendiert - durch die mühevolle Rekonstruktion von biblischem Machiavellismus die Bibel als Quelle erst gründlich entsakralisiert wird: dies gleichsam die Rache Machiavellis, wie Mulsow es vorführt. Roberto De Pol zeigt anhand der emblematischen, aber nicht leicht zu deutenden Kupferstiche der ersten gedruckten deutschsprachigen /Vmc/pe-Übersetzung von 1731, wie es auch Ansätze einer Ikonographie des Machiavellismus gab. Während in Frankreich teils mischverfassungstheoretisch-monarchische (Montesquieu, Mirabeau d.Ä., Linguet), teils republikanische Modelle mit Rückgriff auf Machiavelli (Rousseau, Marat, Robespierre, Desmoulins, Condorcet) als AntHierzu Bruce H. Mayer, The Strategy of Rehabilitation: Pierre Bayle on Machiavelli, in: Studi Francesi 33,1989, 203-217; NizarBen Saad, Machiavel en France des lumières à la révolution. Paris 2007. 47 Frank Grunert/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007. 46

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Cornel Zwierlein und Annette

Meyer

wort auf den moralischen Rigorismus des Anti-Machiavel entstehen, setzt in Deutschland zunächst vor allem die Tendenz zur Historisierung ein (Herder, später Ranke). Fichte gibt dann den neuen Ton an mit seiner machtstaatlichen Interpretation, deren Grundlage die Annahme ist, aus Machiavellis Schriften lasse sich insbesondere die negative Anthropologie und damit der Staat als Zwangsanstalt zur Bändigung des Krieges aller gegen aller im inneren und zur Expansion und Verteidigung nach außen ableiten. 48 Annette Meyer zeigt aber, daß neben dieser Interpretationslinie auch eine alternative Lesart Machiavellis, etwa bei Friedrich Buchholz, bestand, die nicht im Zusammenhang mit Idealismus, Nationalismus und Historismus als vielmehr im Kontext der französischen und britischen Frühsoziologie verortet werden muß. Federico Trocini spürt entsprechend vorsichtig dem Verhältnis von Rochau und Treitschke zu Machiavelli und dem , Machiavellismus' nach, der einer genaueren Definition bedarf, da die direkten Bezüge auf den Florentiner an sich rar sind. Die strukturell klar an Hegels und Fichtes historisierender und zugleich nationalpolitisch-aktualisierender Machiavelli-Interpretation anschließenden Politiktheorien verlangen gleichwohl nach einer Klärung dieses Verhältnisses. Ähnlich vorsichtig tastend geht aus stärker philosophisch-systematischer Perspektive Bernhard Taureck nicht schlicht ,dem Machiavellismus' Nietzsches und der Faschismen nach, sondern er fragt, warum eigentlich im italienischen und auch im deutschen Faschismus - trotz Mussolinis Preludio al Machiavelli eher eine Latenz Machiavellis zu verzeichnen ist: Er kann so plausibel machen, daß und warum eigentlich erst nach 1945 die Bezeichnung der nationalsozialistischen Politik als .machiavellistisch' gängig wird. Wie Friedrich Meinecke, der nach dem Krieg genau in diesem Sinne den Begriff des ,Massenmachiavellismus' geprägt hat, in seiner langjährigen Beschäftigung mit Machiavelli und der Staatsräson-Idee als Widerpart von Gerhard Ritter zu sehen ist, wie beide aber in der älteren konservativ-positiven These vom Sonderweg der deutschen Staatlichkeit im Gegensatz zur englischen Tradition vereint sind und paradoxerweise gerade hierfür den Südeuropäer Machiavelli als Ausgangsreferenz wählen, zeigt Winfried Schulze. Ralf Walkenhaus bringt seine Interpretation der Beschäftigung Hans Freyers und René Königs zur Zeit des nationalsozialistischen Régimes ein und zeigt, wie der eine Text auf den anderen reagiert.49 Michel Senellart und Thierry Ménissier erlauben 48

Johann Gottlieb Fichte, Ueber Machiavell, in: ders., Gesamtausgabe. Abt. I. Bd. 9: Werke 1806-1807. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Gliwitzky unter Mitw. v. Josef Beeler, Erich Fuchs, Marco Ivaldo u.a. München 1995, 213-275, vgl. die neuere Literatur in Anm. 23. 49 Der Beitrag ist in ähnlicher Form veröffentlicht bei Ralf Walkenhaus, Ästhetisierung als Krisenverschärfung. René Königs Machiavelli-Studie von 1940, in: Herfried Münkler/Ralf Walkenhaus/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Demaskierung der Macht. Niccolò Machiavellis Staats- und Politikverständnis. Baden-Baden 2004, 185-209, und findet hier Abdruck, um die zentrale Diskussion im 20. Jahrhundert zu repräsentieren.

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dann zum Schluß einen Ausblick auf den Umgang mit Machiavelli bei zwei sehr aktuellen, freilich keinen deutschsprachigen Autoren, die gleichwohl in der aktuellen politik- und sozialwissenschaftlichen wie auch historischen Methodendiskussion im Zentrum auch der deutschen Debatten zu .Gouvemementalität' und den , Empire '-Studien stehen: Michel Foucault und Antonio Negri/Michael Hardt. Bei ersterem zeigt sich eine wohl auf Althusser reagierende Isolierung Machiavellis, damit vielleicht auch eine Isolierung der Umbruch-Situationen von .Renaissance/Humanismus' gegenüber den ,eigentlich produktiven' Diskursen der Pastorale, der Staatsräson und der Policey in der Vormoderne. Senellart nimmt hier produktiv-kritisch zu den im Forschungsprogramm der Tagung aufgestellten Thesen zu Foucault Stellung und sucht sie zu widerlegen. Wir haben daher die Formulierungen, obwohl sie ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, weitgehend unverändert in dieser Einleitung belassen30, im Beitrag von Zwierlein findet sich eine kurze Replik auf Senellart.31 Bei Hardt/Negri zeigt M6nissier eine ,spinozistische' Vereinnahmung von Machiavelli für ihre neomarxistische Analyse der gegenwärtigen Globalisierungsstrukturen im interpretatorischen Prisma des Gegensatzes von ,Empire' und .Multitude'. M6nissier stellt deutlich heraus, daB er diese Vereinnahmung aus einer strikt ideengeschichtlichen Perspektive als Fehlinterpretation werten müßte - daß andererseits gerade in einem solchen Fall emeut besonders deutlich der Charakter von .Machiavelli' als vielfach neu- und umsemantisierter politischer Chiffre der Neuzeit zum Tragen kommt: Braucht es hier eigentlich Machiavelli? - man möchte meinen ,Nein'! - Hardt/Negris Antwort scheint aber offenbar, Ja' zu sein - zumindest der Machiavelli Gramscis und Althussers ist für sie unverzichtbar, und so schwingt in der heftigen Diskussion Uber das Buch, das vielleicht so etwas wie das Brevier der Antiglobalisierungsdemonstranten geworden ist, immer latent oder explizit auch eine vielfach gebrochene Verständigung über ,Machiavellismus' mit. Auf diese Weise ist jedoch der letzte Beitrag des Bandes repräsentativ für die andauernde Chiffrierung von Machiavellismus in der Moderne. Diesen fortdauernden Einsatz der Chiffre nicht zum Ausgangspunkt für eine doppelte Ideologiekritik im Schema von Machiavellismus/Antimachiavellismus, sondern als reflexives Instrument in der Ausmessung des politischen Diskurses der Neuzeit zu wählen, ist Anliegen dieses Bandes.

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Vgl. oben bei Anm. 18. Vgl. unten S. 37-39.

Machiavellismus und italienisch-deutscher Kulturtransfer im 16./17. Jahrhundert Von

Cornei Zwierlein Im anonym erschienenen satirischen Roman Alamodischer Politicus (1647) kommt ein 36jähriger Taugenichts auf die Idee, Politiker und Rat eines nicht näher spezifizierten Fürsten zu werden, was ihm auch gelingt, nachdem er die Tochter des Vizekanzlers geheiratet hat. Der Fürst befiehlt dem Vizekanzler, seinen Schwiegersohn zunächst in die arcana der Regierungsgeschäfte einzuführen. Der Vizekanzler holt also die Schlüssel zu den Staatskammern und zeigt dem angehenden Rat Schränke mit verschiedenen Mänteln, etwa mit der Aufschrift Salus Populi, Bonum Publicum, Conservatio Religionis, in die der Fürst sich hüllen müsse, wenn es gelte, diese oder jene Handlung mit einem schönen Grund zu bemänteln. Viele andere solche allegorische Mittel der Verdeckung und Verstellung werden als Inventar der Staatskammern beschrieben. In der letzten Kammer im letzten Schrank steht schließlich eine verschlossene eiserne Kiste. Der junge Rat fragt, ob er diese nicht auch noch sehen könne. „Zwar wol gesehen / aber nicht viel betastet / antwortet der Alte / schlösse darmit das Kästlein auf / da lag darinnen eine runde Kugel / von mehr als hundert eisernen Dratknötten also gekniipffet / und giengen zwischen denen Knötten subtile spitzige Nadeln hervor / daß man sie mit blosser hand / ohne dero raerckliche Verletzung / gar nicht könnte angreiffen / inwendig wurde diese Kugel mit einem subtilen / aber hefftigen Feur erhitzet / war darzu so schwer / daß sie den stärcksten Mann mit sich niederzog / und funckelte und gläntzete darneben also / daß diesem / der sie ein wenig betrachten wollte / das Gesicht gantz veigienge / unn das helle Wasser zu den Augen heraus dränge / er nam einen Hammer / und schlug darauff / so Sprüngen solche Funcken darvon / daß beede / der Vice-Cantzler und neue Rath / wie feurige Männer anzusehen waren: Sehet / sagte der Alte / diese Kugel wird Princeps Machiavelli genant / ist zwar unserm Fürsten auch pro Secreto politico an die Hand gegeben worden / aber weil er ein gebohrner Fürst / und ohnedas gehorsame willige Unterthanen hat / so hat er noch zur Zeit immer Bedenckens gehabt / mit solchen Welschen Unthaten seinen Fürstlichen Stand /Nahm unn Fam öffentlich zu bemaculn."1 1

[Johann Moscherosch,] Alamodischer Politicus, Samt der Rent=Cammer und peinlichen Process, in drey theile abgetheilet. Worinnen Heutiger Statisten Machiavellische Griff und arcana Status Sonnenklar abgemahlet zu finden. Sampt der zu End angehengter Oration des Bauren an der Donau / An den Magistrat zu Rom. Hamburg / Bey Johann Nauman / Buchhändler vor S. Johannis Kirch. 1671,42 f.; Michael Stolleis, Arcana Imperii und Ratio Status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, in: ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1989, 37-72, 56 mit Anm. 71 und 62-64, gibt als Autor den Drucker der Erstausgabe Andreas Bingen. Die Zuweisung des Werks an Moscherosch wird im VD17 (23:298986X) nach der Personalbibliographie Ger-

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Cornel

Zwierlein

An der launigen Satire, die am Ende der von mir hier zu behandelnden Zeit steht, ist mehrerlei bemerkenswert: Erstens sind alle denkbaren Techniken der Simulation, Dissimulation und Zwangsausübung ganz geläufige Mittel der Regierung, der „Staatsräson". Diese wird zwar über die italienische Terminologie („per ragion di stato", S. 23) als nicht-deutsch, sonst aber schon als ganz und gar gängig ausgewiesen. Staatsräsonables Regieren bedient sich also unmoralischer Praktiken, schon lange bevor die GeheimwafFe Machiavelli zum Zug kommt. Es bleibt letztlich sogar fraglich, wie denn die Amoralität von Politik nun unter dem Namen Machiavellis noch steigerbar wäre.2 Zweitens wird Machiavellis ,.Fürst" als Spezialinstrument nur für neue Fürsten, nicht für Erbfürsten, und nur für solche, die ungehorsame Untertanen haben, angesehen: Dies impliziert immerhin eine gewisse Kenntnis von Machiavellis Werk und eine Einordnung desselben in eine Spezialkategorie innerhalb eines inzwischen allgemeineren Rahmens italienischer politischer Regierungskunst; drittens ist diese gefährliche Eisen- und Feuerkugel des Principe deutlich in ihrer Fremdheit als „Welsches", also fremdes, italienisches Regierungsinstrument ausgewiesen, das aber doch jeder deutscher Durchschnittsfürst als letztes Notmittel im arcamj-Giftschrank stehen hat. Wenn ich im folgenden versuchen will, die Probleme „Machiavellismus" und „italienisch-deutscher Kulturtransfer" im 16./17. Jahrhundert etwas zu systematisieren und an einigen Exempeln zu illustrieren, so verdeutlicht der Alamodische Politicus emblematisch die einschlägigen Konstellationen und Zusammenhänge: Erstens wird der wichtigste Kontext von Kulturtransfer und Osmose zwischen politischer Theorie und Praxis, der Hof mit dem Fürst und seinen Beratern, zum Handlungsort gemacht. Zweitens zeigt der Roman in satirischer Brechung, daß arcana, Staatsräson und „Machiavelli" in der Wahrnehmung des 17. Jahrhunderts kaum zu trennen waren. Drittens stellt er den Gestus der Markierung des .eigenen Deutschen' in Abwehr des .fremden Italienischen' dar, obgleich die Praxis der fürstlichen Regierungsmittel gänzlich .italienisch' durchformt ist „per ragion di stato". Ich werde mich zunächst dem Problem zuwenden, was man unter „Machiavellismus" in objektsprachlicher wie in metasprachlicher Hinsicht verstehen kann (I.). Dabei wird sich ergeben, daß „Machiavellismus" zeitgenössisch als Irritationsmarkierung in Reaktion auf Effekte der italienisch-europäischen Kulturtransfers im Bereich der politischen Theorie auftritt, die ich dann genauer spezifiziere (II.). Schließlich werde ich von diesen Beobachtungen aushard Dünnhaupts vorgenommen. In der Moscherosch-Forschung scheint diese Zuordnung allerdings noch nicht allgemein akzeptiert. 2 Das geht immerhin soweit, daß selbst ein „Blut-Bad", ausgeführt unter dem Staats-Mantel der an sich guten Intention, die leider nur fehlgeschlagen sei, zu den üblichen Vorgehensweisen gezählt wird (S. 25) - es bleibt also eigentlich im Hinblick auf Amoralität kaum Raum für noch Grauslicheres.

Machiavellismus und italienisch-deutscher Kulturtransfer

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gehend Machiavellismus auch metasprachlich, als historisch spezifischen Begriff definieren und exemplarisch einige Felder ansprechen, an denen wir „Machiavellismus" im 16./17. Jahrhundert in Deutschland studieren können (HI.).

I. „Machiavellismus" objektsprachlich Es gibt meines Wissens keine detaillierte Begriffsgeschichte von „Machiavellismus". Während wir über die Wortgeschichte von „Ragion di stato"/„Staatsräson" bei Guicciardini, Giovanni della Casa, Botero und dann allen Staatsräson-Traktatautoren mindestens seit Rodolfo De Mattei gut informiert sind3, fehlen vergleichbare Untersuchungen für „Machiavellismus". Scharfstein gibt, um einen aktuellen Lexikoneintrag zu zitieren, 2005 an, das Wort „Machiavellismus" „gehe auf das späte 16. Jahrhundert zurück", ohne einen genauen Hinweis zu liefern.4 Genauso hatte schon Oreste Tommasini 1883 die Philosophiegeschichte Appiano Buonafedes von 1782/83 (!) zitiert, in der wiederum ohne Quellenangabe vom 16. Jahrhundert als dem Entstehungsjahrhundert des Begriffs die Rede war. Gleichzeitig führte Tommasini aus der Literatur des 19. Jahrhunderts (Maurice Block/B arthelemy Saint-Hilaire; Giuseppe Ferrari) die Auffassung an, erst Bayle habe das Wort geprägts, er führt dann aber in einer Fußnote das Kuriosum eines italienischsprachigen Frankfurter Drucks von 1648 an, wo er den Begriff des „finissimo Machiavellismo" nachweisen kann. Weiter treibt Tommasini seine Suche nicht.6 Früher als dieses Zitat von. 1648 findet sich meines Wissens in der Literatur nie der Nachweis einer expliziten Verwendung des Begriffs „machiavellismo/machiavilisme/machiavellismus". Im Huguet, dem großen Wörterbuch zum Französisch des 16. Jahrhunderts, kommt nur ein Lemma „machiav61izer"

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Rodolfo De Mattei, Il problema della .ragion di stato* (locuzione e concetto) nei suoi primi affioramenti, in: ders., Il problema della .ragion di stato' nell'età della controriforma. Mailand/Neapel 1979, 1-23; ders.. Varia fortuna della locuzione .ragion di stato', in: ebd. 24-39. 4 Ben-Ami Scharfstein, Art. „Machiavellism", in: Mary C. Horowitz (Ed.), New Dictionary of the History of Ideas. Vol. 4. Detroit 2005,1325-1328, hier 1325. 3 In FuBnote E des Bayleschen Artikels wird definiert: „Machiavélisme, & l'Art de regner tyranniquement sont des termes de même signification", Art. „Machiavel", in: Pierre Bayle, Dictionnaire historique et critique. 5 i m e éd. Amsterdam 1740, Vol. 3, 244-249, zugänglich unter http://colet.uchicago.edu/cgi-bin/BAYLE.sh?MILESTONE=machiavel& PAGEIDENT=. Vgl. dazu Bruce H. Mayer, The Strategy of Rehabilitation: Pierre Bayle on Machiavelli, in: Studi Francesi 33,1989, 203-217. 6 Oreste Tommasini, La vita e gli scritti di Niccolò Machiavelli nella loro relazione col machiavellismo. 2 in 3 Vols. Turin/Rom/Florenz 1883-1911. Ndr. Bologna 1994-2003, Vol. 1,4 mit Anm. 1 u. 2.

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Cornel

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vor7, in den französischen und italienischen Flugschriften der Religionskriegszeit liest man häufig von ,jnachiavélistes'7„machiavellistae", der Begriff „machiavélisme" aber kommt nicht vor. Jean Balsamo schrieb zwar 1998, daß Innocent Gentillet mit seinem „Contre-Machiavel" von 1576 den Begriff des Machiavellismus erfunden habe.8 Das ist in dem allgemeinen Sinne richtig, daß gerade dieses Werk Machiavelli erst zu einem auf der Ebene der gelehrten Diskurse zu bekämpfenden Autor machte, aber konkret findet sich das Wort „machiavélisme" auch bei Gentillet nicht.9 Eine ganze Reihe von Aufsätzen und Büchern verwendet den Begriff des „Machiavellismus" ganz selbstverständlich, ohne daß gefragt würde, wann das Wort erstmals gebraucht wurde. 10 Damit wird eine Tradition fortgesetzt, die insbesondere seit der Definition des „machiavélisme" im Machiavel-Artikel von Bayles Dictionnaire, dann mit der Lemmatisierung in der Encyclopédie in den frühneuzeitlichen Lexika Breitenwirkung fand, bei der es stets um systematische Fassungen des Begriffs ging. Tatsächlich läßt sich nachweisen, daß das Wort nach dem bisherigen Recherchestand wohl 1586 erstmals als Titelbegriff gerade im deutschsprachigen Raum, in Freiburg im Breisgau, auftaucht. Der Professor der lateinischen 7

Edmond Huguet, Dictionnaire de la langue française du seizième siècle. 7 Vols. Paris 1925-1967, CD-Rom-Ausgabe Paris 2004. ,,L' Anti-Machiavel inventa la notion de machiavélisme, comme une catégorie originale de la culture politique française, il fit de Machiavel un nom familier et maudit, au point de rendre impossible pour plusieurs générations toute lecture de l'œuvre autrement que selon les clefs qu'il avait données." Jean Balsamo, ,Un livre écrit du doigt de Satan'. La découverte de Machiavel et l'invention du machiavélisme en France au XVle siècle, in: Dominique de Courcelles (Ed.), Le pouvoir des livres à la Renaissance [...]. Paris 1998,77-92,83. 9 Innocent Gentillet, Anti-Machiavel. Edition de 1576 avec commentaires et notes par C. Edward Rathé. Genf 1968; und die kritische Ausgabe: Innocent Gentillet, Discours contre Machiavel. Ed. Antontio d'Andrea/Pamela D. Stewart. Florenz 1974. 10 Aus der Fülle von Literatur seien nur genannt: Andrea Sorrentino, Storia dell'antimachiavellismo europeo. Neapel 1936; Rodolfo De Mattei, Dal Premachiavellismo all'Antimachiavellismo. Florenz 1969; Machiavellismo e Antimachiavellici nel Cinquecento. Atti del convegno di Perugia 3 0 I X - 1 X 1969. Florenz 1970 (= Il Pensiero Politico 2/3 [1969].); Salvo Mastellone, Antimachiavellismo, machiavellismo, tachismo, in: Cultura e scuola 9, 1970, 132-136; Salvo Mastellone, Venalità e machiavellismo in Francia. All'origine della mentalità politica borghese. Florenz 1972; Wilhelm Kölmel, Machiavelli und Machiavellismus. Mit einem Exkurs zu Piatinas Schrift ,De principe', in: Historisches Jahrbuch 89, 1969, 372-408; Giuliano Procacci, Machiavellismo e antimachiavellismo, in: Cultura e scrittura di Machiavelli. Rom 1998, 393-412; A. Enzo Baldini/Anna M. Battista. Staatsräson, Tacitismus, Machiavellismus, Utopie, in: Jean-Paul Schobinger (Hrsg.), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Basel 1998, Bd. 1, 545-568; Alain Dierkens (Ed.), L'antimachiavélisme, de la Renaissance aux lumières. (Problèmes d'histoire des religions, Vol. 8.) Brüssel 1997; Themenheft ,L'Anti-machiavélisme de la Renaissance aux Lumières' der Zeitschrift: corpus 31, 1997, hrsg. v. Christiane Frémont u. Henry Méchoulan; Anna Maria Battista, Sull'antimachiavellismo francese del secolo XVI (1962), in: dies.. Politica e morale nella Francia dell'età moderna. Ed. Anna Maria Lazzarino del Grosso. Genua 1998. 75-107; Michel Senellart, Machiavélisme et Raison d'État XlIe-XVIIIe siècle. Suivi d'un choix de textes. Paris 1989. 8

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Literatur an der Freiburger Universität Johann Jakob Beurer gab nämlich 1586 eine griechisch-lateinische, kommentierte Edition der Platonischen Briefe auf der Basis der Übersetzung Marsilio Ficinos heraus, die er als solche schlechthin dem „Machiavellismus" entgegensetzte.11 Daß Piatons Briefe im 20. Jahrhundert teilweise für unecht gehalten wurden, ist hier ohne Belang. Die dreizehn Briefe, die unter seinem Namen seit dem IS. Jahrhundert wieder rezipiert worden waren, geben Einblick in Piatons Tätigkeit als Berater des Tyranns von Syrakus, Dionysios, und dessen Nachfolger Dion. Während Dionysios in den Briefen allgemein und in seinem Verhalten gegenüber Piaton im speziellen als ein Musterbeispiel eines grausamen Tyrannen gezeichnet wird, ist Dion das Beispiel eines vielversprechenden, der philosophischen gegenüber Ethik aufgeschlossenen Thronanwärters. Beurer kommentiert nun diese griechisch-lateinische synoptische Edition unter Rückgriff auf die lateinische Ausgabe von Gentillets Contre-Machiavel, indem er einzelne Handlungen und Aussagen des Dionysios mit den „Theoremata" Machiavellis parallelisiert. So zeigt er jenseits einer philologischen Edition zum einen - er formuliert das auf Griechisch - „wie Dionysios von Syrakus machiavellisiert und wie Machiavelli dionysiiert", und zum anderen gibt er mit Piatons Ausführungen autoritative Ratschläge für die gute Regierungs- und Beraterpraxis an die Hand.12 In diesem philosophischen Zusammenhang wird so die Begriffsbildung deutlich: der Machiavellismus-Begriff wird hier benutzt wie im philosophischen oder theologischen Zusammenhang der Zeit die Bezeichnung einer Schule.13 Im Konfessionskonflikt waren solche Bezeichnungen ja schon relativ gängig, Calvin selbst etwa benutzt 1538 die Begriffe „buceranismus" und „calvinismus".14 Wenn Beurer Machiavelli im Vorwort, bevor er ihn inhalt11 Johann Jakob Beurer, Epistolae Piatonis graece et latine: ervditissimis notis logicis, ethicis, et politicis distinctae, & illustratae: & Machiavellismo oppositae [...]. Basel 1586. 12 „Tale certe, ut, non immerito, dicere possis: T| A I O V U O I O ? N A X I A ß E X X I ^ E I T) H A X I A ß E X X O ^ ÒIOVUOUX^EL Quod posterius tarnen multo uerissimum esse puto: neque enim minimam partem suorum theorematum Machiauellus ex historia Dionysij tanquam tyrannica lerna obseruaie potuit: & uicissim Dionysium in Machiauelli schola tanquam jipcDTÓrujiov exactissime agnoscas" (Beurer, Epistolae Piatonis [wie Anm. 11], a4v Kursivierung C. Z.). Die Graezisierung von „machiavellisieren" findet sich etwa auch bei: Machiavellizatio, qua unitorum animos dissociare nitentibus respondetur; in gratiam Dn. Archiepiscopi castissimae vitae. Petti Pazman succincte excerpta. Oratio parresiastica, qva avxilia a rege et ordinibus vng. Petuntur habita Neo-Solii in Comitiis. Epistola Eucharii Martini Budissino-Lusatii ad celebrem theologum, Dn. Matthiam Hoe ab Hoheneg, &c. Comitem Lateranensem, &c. Addita est epistola Casp. Scioppii, in qva haereticos jure infelicibus lignis cremali concludit. Omnia horum temporum genio accomodata, lectu dignissima. Saragossa 1622, S. 13 Vgl. Anm. 17. 14 Cornelis Augustijn/Christoph Burger/Frans P. van Stam, Calvin in the Light of the Early Letters, in: Herman J. Selderhuis (Ed.), Calvinus Praeceptor Ecclesiae. Papers of the International Congress on Calvin Research, Princeton, August 20-24, 2002. Genf 2004, 139-158, 156 Anm. 84.

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lieh schmäht, als „acuti quidem ingenij vir" beschreibt15, gesteht er ihm durch seine Edition also implizit zu, als Haupt einer philosophischen Gegenschule fast auf Augenhöhe mit Piaton zu stehen. Eine solche Schule des Machiavellismus hat es freilich in dem Sinne nicht gegeben, ähnlich wie es auch eine „Partei" der „politiques" in den französischen Religionskriegen kaum gegeben hat. Auch in diesem Fall ist erst in jüngerer Zeit die Reflexion über die Begrifflichkeit und die Problematik der Einheit jener Gruppe neu angestoßen worden. 16 Beurers kleine Gelegenheitsedition zeigt aber schön, wie der Begriff des „Machiavellismus" in direkter Reaktion auf Gentillets Contre-Machiavel um 1580 entstand, dies aber im Milieu der lateinischen Gelehrtenkultur Deutschlands. Zwar läßt sich keine zwingende historische Notwendigkeit konstruieren, daß in einem entelechetisch-teleologischen Sinne die Begriffsprägung hier hätte stattfinden müssen; im Ganzen betrachtet wird im folgenden aber durchaus argumentiert, daß dieser ,Zufall' Methode hatte, d.h., daß das erstmalige Auftauchen des Abstraktums im Lateinischen in der universitären Gelehrtenkultur des deutschen Sprachraums wahrscheinlicher als andernorts war und symbolisch für eine bestimmte Transfer- und Umformungssituation steht. Machiavellismus/Antimachiavellismus ist damit jedenfalls ein Zwillingspaar von asymmetrischen Gegenbegriffen im Sinne Kosellecks. Man kann also, will man den Machiavellismus im 16./17. Jahrhundert in Deutschland untersuchen, unmöglich den zeitgenössischen, Beurerschen Machiavellismus-Begriff als Gruppenbezeichnung verwenden, denn eine solche Gruppe, die sich selbst als „Machiavellisten" bezeichnen würde, hat es genausowenig gegeben wie Barbaren, die sich als Barbaren bezeichnet haben. 17 Trotzdem kann die Konstellation GentilletBeurer um 1580 helfen, einen metasprachlichen Begriff von „Machiavellismus" abzuleiten: Wenn bei Beurer Machiavelli als Anti-Platon erscheint, setzt dies voraus, 1. daß ein neuzeitliches Geschichtsbewußtsein besteht, in dem potentiell zeitgenössische Autoritäten pari passu mit antiken konkurrieren können18; 15

Beurer, Epistolae Piatonis (wie Anm. 11), 3v. Christopher Bettinson, The Politiques and the Politique Party: A Reappraisal, in: Keith Cameron (Ed.), From Valois to Bourbon. Dynasty, State and Society in Early Modern France. Exeter 1989, 35-49; Edmond M. Beame, The Politiques and the Historians, in: Journal of the History of Ideas 54/3, 1993, 355-379; Mario Turchetti, Une question mal posée: l'origine et l'identité des Politiques au temps des guerres de Religion, in: Thierry Wanegffelen (Ed.), De Michel de L'Hospital à l'édit de Nantes. Politique et religion face aux Églises. Clermont-Ferrand 2002, 357-390. 17 Reinhart Koselleck, Zur historisch-poliüschen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders.. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, 211-259; ders., Feindbegriffe, in: ders., Begriffsgeschichten. Frankfurt am Main 2006, 274-284. 18 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1999, 543. 16

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2. daß Machiavelli als (freilich zu bekämpfende) Autorität im universitären Milieu und im philosophischen Diskurs wahlgenommen wird (Visibilität auf der Ebene gepflegter Semantik) -, 3. daß auf der Ebene des philosophischen Diskurses Uber die Regierungskunst etliches an seinen politischen Schriften als fundamental störend und verstörend wahrgenommen wird (Irritationspotential). Ich möchte diese drei Elemente und Bedingungen der Entstehung der zeitgenössischen Machiavellismus/Antimachiavellismus-Dichotomie zunächst mittels einiger struktureller Überlegungen zum italienisch-europäischen, insbesondere italienisch-deutschen Kulturtransfer erklärend vertiefen.

II. Italienisch-europäischer/italienisch-deutscher Kulturtransfer Das im Rahmen einer interdisziplinären Gruppe französisch-deutscher Germanisten und Philosophiehistoriker entstandene Kulturtransferkonzept hat sich inzwischen zu einem allgemeinen kulturgeschichtlichen Ansatz entwikkelt und konveigiert in der jüngsten Diskussion mit anderen Konzepten von Beziehungsgeschichte bzw. steht im kritischen Dialog mit denselben (Histoire croisée, entangled history, Hybridisierungstheorien).19 Das Konzept wandte sich gegen eine ältere Einflußgeschichte, wonach einfach die sonnengleiche Ausstrahlung eines Werks von einem Zentrum aus zu untersuchen wäre, und prämierte die Frage danach, wie ein Gegenstand, ein Werk, ein Konzept, eine Theorie in der jeweiligen Empfängelgesellschaft aufgenommen und verändernd adaptiert wurde. Im konkreten Fall ginge es also darum, nicht eine neue 19

Das ältere Ausgangsmodell votgestellt bei Michel Espagne!Michael Werner, La construction d'une référence culturelle allemande en France - Génèse et Histoire (17501914), in: Annales 42, 1987, 969-992; Michel EspagnelMichael Werner, Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze, in: dies. (Eds.), Transferts. Les Relations interculturelles dans l'Espace franco-allemand (XVUIe et XIXe siècle). Paris 1988,11-34; die aktuellen Tendenzen eingefangen bei Michel Espagne, Jenseits der Komparatistik. Zur Methode der Erforschung von Kulturtransfers, in: Ulrich Mölk (Hrsg.), Europäische Kulturzeitschriften um 1900 als Medien transnationaler und transdisziplinärer Wahrnehmung. Göttingen 2006, 13-32; Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Penser l'histoire croisée: entre empirie et réflexivité, in: dies. (Eds.), De la comparaison à l'Histoire croisée. Paris 2004, 15-49; Gregor Kokorz/Helga Mitterbauer, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Übergänge und Verflechtungen. Kulturelle Transfers in Europa. Bern 2004; Helga Mitterbauer/Andräs E Balogh (Hrsg.), Zentraleuropa. Ein hybrider Kommunikationsraum. Wien 2006; im Zusammenhang mit dem .spatial tum' erörtert bei Cornel Zwierlein, Die Auswirkung von spatial turn und Kulturtransferheuristiken auf das Epochenkonzept .Frühe Neuzeit' (exemplifiziert anhand der Transfers des Versicherungsprinzips), in: Michael North (Hrsg.), Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Wien u.a. 2009, 43-67.

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Geschichte der „fortuna" Machiavellis anzustreben20, sondern die Transformationen und Anverwandlungen seiner Texte im genau zu präzisierenden Kontext des empfangenden deutschsprachigen Raums genau in den Blick zu nehmen.21 Gerade im Hinblick auf Machiavelli stellt sich aber die Frage, ob es im Rahmen eines solchen Konzepts einfach um „die Texte Machiavellis" gehen kann, also doch um eine Rezeptionsgeschichte. Machiavellis Name wird sehr rasch zu einer Chiffre, das Auftauchen dieses Namens in frühneuzeitlichen Texten bedeutet oft nicht, daß der Verwender des Namens die Texte Machiavellis wirklich gelesen hat 22 ; umgekehrt setzen sich Themen- und Topoisetzungen Machiavellis vielfach ohne Nennung seines Namens durch. Viel wichtiger zur Erklärung und zum Verständnis der Machiavellismus/Antimachiavellismus-Dichotomie der Frühen Neuzeit ist also zunächst die Klärung der Grenzen, die im kulturellen Austausch zwischen Italien und Deutschland überschritten wurden. Dabei ist hervorzuheben, daß die territorialen Grenzen als solche nicht von Bedeutung waren. Ob es sich um einen direkten italienisch-deutschen oder einen triangulären italienisch-französisch-deutschen Transfer handelte, ist im Hinblick auf noch nicht existierende Nationalitätsgrenzen weniger entscheidend, sondern welche Kultur-, Diskurs- und Praxisbereichsgrenzen überschritten wurden: Die Grenzüberschreitungen können dann zur Erklärung des Irritationspotentials dienen. Ich möchte dabei folgende Grenzen benennen: 1.die Grenze des .Entwicklungsbiotops' oder .Laboratoriums' Florentiner politischer Kultur im Vergleich zur Außenwelt; 2. die Grenze der italienischen politischen Kultur von Zwischenstaatlichkeit und der diplomatischen Verschriftlichung der Selbst- und Fremdbeobachtung im Vergleich zu den mitteleuropäischen Gegebenheiten;

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Die in diesem Genre gleichwohl beste und unverzichtbare Darstellung bleibt Giuliano Procacci, Studi sulla fortuna del Machiavelli. Rom 1965 - völlig erneuert als Giuliano Procacci, Machiavelli nella cultura europea dell'età moderna. Bari/Rom 1995. 21 Der italienisch-deutsche Kulturtransfer ist - sieht man von der breiten kunsthistorischen Forschung etwa zur Barockdiffusion im engeren Sinne ab - für die einschlägige Epoche für den wirtschaftlichen und künstlerischen Bereich unter anderem von Bernd Roeck, Kulturtransfer im Zeitalter des Humanismus. Venedig und das Reich, in: Bodo Guthmüller (Hrsg.), Deutschland und Italien in ihren wechselseitigen Beziehungen während der Renaissance. Wiesbaden 2000, 9-29, und von Barbara Marx (Hrsg.), Elbflorenz. Italienische Präsenz in Dresden 16.-19. Jahrhundert. Dresden 2000; dies.. Wandering Objects, Migrating Artists. The Appropriation of Italian Renaissance Art by German Courts in the Sixteenth Century, in: Robert Muchembled u.a. (Eds.), Cultural Exchange in Early Modern Europe. 4 Vols. Cambridge 2007, Vol. 4: Forging European Identities (1400-1700), 178226, für den Bereich der höfischen Kultur zum Thema gemacht worden. 22 Eine entsprechende vierte Kategorie von ,Machiavellismen' hatte schon Charles Benoist. Le Machiavélisme. 2 Vols. Paris 1907-1934, Vol. 1: Avant Machiavel, 1 - 6 eingeführt.

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3. die Grenze zwischen veitraulich-arkanem Räsonnement über Politik und dem öffentlichen Diskurs, die auch mit der Grenze zwischen handschriftlicher und gedruckter Kommunikation korrespondiert; 4. die Grenze zwischen umanesimo volgare und dem gelehrten, lateinischsprachigen Diskurs; 5. ganz allgemein die Grenze zwischen Theorie und Praxis. In Florenz hatte sich zweifelsohne eine besondere Kultur der deliberativen Beratungs- und Entscheidungsfindung in den Gremien der spätmittelalterlichrinascimentalen Republik herausgebildet. Am deutlichsten wird das im Quellencorpus der „Pratica"-Protokolle, in denen die Diskussionen dieses Ratsgremiums verschriftlicht sind - eine Verschriftlichung, die in ihrem Ausarbeitungsgrad darauf schließen läßt, daß etliche Gutachten zu Entscheidungen in der aktuellen politischen Situation zuvor und daneben auch in ausgearbeiteter Form einzeln schriftlich zirkulierten.23 Was am absolutistischen Hof später gang und gäbe war, daß zu einzelnen Entscheidungsfragen verschiedene Gutachten eingeholt wurden, war hier gerade im vielstimmigen republikanischen Kontext schon präfiguriert. Der schrittweise Untergang der Republik und die Verknüpfung von Florenz und Rom über die beiden Medici-Pontifikate von Leo X. und Clemens VII. führten aber schon dazu, daß die Grenze des Florentiner Biotops überschritten wurde: Viele Florentinerfindensich nun im Mäzenat von Kardinalsfamilien oder des Papstes.24 In diesem Umfeld überschreiten auch Machiavellis Schriften 1531/32 erstmals die Grenze von der Hand23

Denis Fachard (Ed.), Consulte e pratiche della Repubblica Fiorentina 1495-1497. Genf 2002; ders. (Ed.), Consulte e pratiche della Repubblica Fiorentina 1505-1512. Genf 1988; ders. (Ed.), Consulte e pratiche della Repubblica Fiorentina 1498-1505.2 Vols. Genf 1993. Aufgrund dieser neuen Editionen wurden bislang vor allem linguistische Fragen beaibeitet: Stefano Telve, Testualità e sintassi del discorso trascrìtto nelle .Consulte e pratiche' fiorentine ( 1505). Rom 2000; ders., La grammatica e il lessico delle .Consulte e pratiche della Repubblica fiorentina 1495-1497', in: Studi di grammatica italiana 21, 2002, 19-35. Für die politische Sprache der Consulte e pratiche ist hingegen nach wie vor grundlegend Felix Gilbert, Machiavelli and Guicciardini. Politics and History in Sixteenth-Century Florence. Princeton 1965. 24 Das Medici-Patronage-System ist Allgemeingut, eine spezifische Untersuchung für die sich in den 1520em und 1530ern in Rom sammelnden Florentiner um die Kardinäle Ippolito de' Medici, Salviati, Ridolfi und Niccolò Gaddi sowie den Kämmerer Giovanni Gaddi und Filippo Strozzi fehlt aber. Die Medici-Verbindungen sind bei Peter Godman, From Poliziano to Machiavelli. Fiorentine Humanism in the High Renaissance. Princeton 1998, gut eingearbeitet. Für das Exil der fuorusciti im engeren Sinne vgl. das Themenheft „La République en exil (XVe-XVIe siècles)" der Zeitschrift Laboratoire italien 3, 2002, und Paolo Simoncelli, Fuoriuscitismo repubblicano fiorentino 1530-1554. Vol. 1: 1530-1537. Mailand 2006. Für den Kreis der Florentiner gibt punktuell immer wieder gute Einblicke Richard Cooper, Litterae in tempore belli. Études sur les relations littéraires italo-fran^aises pendant les guerres d'Italie. Genf 1997. Aus der Perspektive der Edition von Machiavellis Discorsi gibt über die philologischen Fragen hinaus guten Einblick in das Umfeld Carlo Pincin, Sul testo del Machiavelli. I .Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio', in: Atti dell'Accademia delle scienze di Torino. II. Classe di scienze morali, storiche e filologiche 95, 1960/61,71-178.

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schriftlichkeit in den Druck; sie erreichen eine andere mediale Ebene, und das hat Rückwirkungen auf ihre Wahrnehmung und ihr semantisches Potential. Wie auch immer Machiavellis Widmung an Lorenzo de' Medici gemeint war, der 1513 gerade kommissarisch die Regierung in Florenz übernahm, und ob dieser den Text überhaupt erhielt, ist hier ohne Belang; die vielen zirkulierenden handschriftlichen Abschriften von De principatibus in den zwanzig Jahren von 1513 bis 153225 zeigen zunächst eigentlich nur, daß der Text in diesem Stadium und auf dieser medialen Ebene kaum Anstoß erregte. Auch Agostino Nifos gedruckte, lateinische Kontrafaktur des Textes von 1521 (De regnandi peritia), die auf der Basis einer solchen Handschrift erstellt wurde, kann man meines Erachtens nicht als eine solche Gegenreaktion lesen, da Machiavelli gerade nicht erwähnt wird, also auch als Anti-Autor nicht von Bedeutung ist.26 Wären Machiavellis Schriften also ungedruckt geblieben, hätten sie sehr wohl eine beträchtliche Rezeption im sich gerade ausdifferenzierenden System des italienischen Kopier- und Handschriftenmarktes erfahren, hätten wohl aber nie die bekannte skandalöse Wirkung erzielt. Angesichts des Druckerfolgs der Schriften Machiavellis in Italien vor der Indizierung 1559 (18 Editionen der Discorsi, 16 des Principe) erscheinen auch die bekannten ersten antimachiavellischen Reaktionen von Pole, Osorio, Politi relativ marginal. Es sind durchgehend Reaktionen von Theologen, es sind auch durchgehend Schriften, die sich in einen gelehrten Diskurs einordnen, also auch auf Latein verfaßt sind: die Fremdheit und Irritation von Machiavellis Schriften wird gerade beim Überschreiten der Grenze zwischen umanesimo volgare und der universitären Ebene von Gelehrtheit virulent.27 Wenn sie aber zunächst in Italien so erfolgreich diffundierten, auf welchen Bedarf antworteten dann Machiavellis Schriften? Er selbst hat diesen Bedarf, für den er schrieb, an manchen Stellen zum Ausdruck gebracht, besonders deutlich im Prooem der Discorsi: hier prangert er die mangelnde Orientierung 25

Am besten zu überschauen im Handschriften-Rezensionsteil von Niccold Machiavelli, De Principatibus. Ed. Giorgio Inglese. Rom 1994. Dazu Denis Fachard, Biagio Buonaccorsi. Bologna 1976, für eine Studie zum Freund Machiavellis in der Florentiner Kanzlei, auf dessen Initiative und Aktivität ein maßgeblicher Teil der Handschriftenkopien zurückgeht. 26 In der Forschung wird Nifo zuweilen als erster Antimachiavellist verbucht, das unterschlägt aber die Komplexität der Rezeption, vgl. mit der Literatur Comel Zwierlein, Politik als Experimentalwissenschaft, 1521—26: Agostino Nifos politische Schriften als Synthese von Aristotelismus und Machiavellismus, in: Philosophisches Jahrbuch 113/1, 2006, 3 0 62. 27 Procacci, Machiavelli nella cultura europea (wie Anm. 20), 83-92; PeterS. Donaldson, Machiavelli and Mystery of State. Cambridge 1988, 1-35; Adriano Prosperi, II principe, il cardinale, il papa. Reginald Pole lettore di Machiavelli, in: Cultura e scrittura di Machiavelli. Rom 1998, 241-262; Sydney Anglo, Machiavelli - The First Century. Studies in Enthusiasm, Hostility, and Irrelevance. Oxford 2005, 115-163; Heinrich Lutz, Ragione di stato und christliche Staatsethik im 16. Jahrhundert. 2. Aufl. Münster 1976,48-62.

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des politischen Feldes (der Operationen der Republikenordnung, der Aufrechterhaltung der Staaten, der Regierung der Reiche, der Einrichtung der Miliz und der Kriegsordnung, der Beurteilung der Untertanen, der Vergrößerung der Herrschaft) an den antiken Autoritäten an, während die Juristen im corpus iuris civilis sich an den Sentenzen der römischen Rechtslehrer, die Mediziner sich an der Erfahrung der antiken Arzte orientierten (D prooem, 198). Dies ist Ausdruck der Wahrnehmung eines dritten Bereiches anwendungsbezogener Wissenschaft neben Recht und Medizin, der aber noch leer stehe, für den noch keine Theorie, keine Methode vorläge. Man kann diese Behauptung, die natürlich auch das Bewußtsein Machiavellis impliziert, daß er etwas ganz Neues liefere, abstrakt ideengeschichtlich zurechtrücken und dekonstruieren, indem die antiken Autoritäten benannt werden, bei denen Machiavelli sich selbst gleichsam plagiierend bedient; er sagt aber auch nur in zweiter Hinsicht, daß er etwas gänzlich Neues vorbringt, vielmehr will er gerade die Orientierung an der Antike als etwas Neues nur im Hinblick auf seine Gegenwart 28 Wie konnte er aber behaupten, daß die Politik sich nicht an den antiken Autoritäten orientierte? Wurde nicht z.B. seit langem die aristotelische Lehre vermittelt über den Thomismus in Italien gelehrt? Die Wahrnehmung eines Mangels ein« Wissensordnung bei Machiavelli ist erklärungsbedürftig. Sie muß viel stärker aus dem Kontext der politischen Kultur des 15716. Jahrhunderts verstanden werden29: Hier hatte sich ein großer Handlungsbereich ausdifferenziert, für den in der Tat so keine adäquate, eigenständige Ausbildungs- oder auch nur theoretische Orientierungsliteratur existierte, gleich aus welchen Quellen diese geschöpft wäre. Mangels einer die italienischen Staaten überwölbenden normativen Ebene - wie im Reich die der Reichsnormativität - war das Feld politischer Aktion zwischen den staatlichen Einheiten nicht normativ durchformt - sieht man von den lehensrechtlichen Elementen ab. In dem, was sich nun dezidierter als im Mittelalter als „Außenpolitik" von „Innenpolitik" schied, was sich im diplomatischen System mit seinen mindestens wöchentlichen Sendungen von Berichten und Weisungen zwischen allen stati als Feld hochfrequenter auf politische Belange spezialisierter, verschriftlichter Kommunikation niederschlug, war ein transterritoriales rechtliches Element kaum vertreten - sieht man von sich langsam herausschälenden, gewohnheitsvölkerrechtlichen Praktiken ab, etwa zur zunehmend repräsentational gedachten Stellung des ambasciatore, die das Konzept der .Immunität' vorbereiten.30 Das Studium des Rechts war entspre28

Henning Ottmann, Was ist neu im Denken Machiavellis?, in: Herfried Münkler/Rüdiger Voigt/Ralf Walkenhaus (Hrsg.), Demaskierung der Macht. Niccolò Machiavellis Staatsund Politikverständnis. Baden-Baden 2004, 145-156. 29 Unklar bleibt mir, wie Sandro Landi, Machiavel. Paris 2008, 133, mittels eines „approche biographique" dieser .Neuheit' von Machiavellis Denken auf die Spur kommen will. 30 Hier gehört die ganze Literatur zur Entstehung des italienischen Staatensystems (etwas

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chend sehr viel klarer auf Anwendungen im zivil- und strafrechtlichen, im kanonischen Recht und in den Feudalrechten ausgerichtet. Ein angehender Rat, Diplomat, Politiker, der Jura studierte, tat dies also notwendig weniger im Hinblick auf die Belange von Außenpolitik im neuzeitlichen Sinne31 oder im frühneuzeitlichen Sinne „öffentlichrechtlicher" Materien, denn solche gab es im interterritorial-italienischen Bereich nicht, bzw. sie waren nicht rechtsförmig gefaßt. 32 Aber auch im „innenpolitischen" Bereich in den Entscheidungsgremien der Stadtrepubliken wie an den Höfen war eine Sphäre des Nachdennormativ gefaßt bei Giovanni Pillinini, Il sistema degli stati italiani 1454-1494. Venedig 1970) und zur zwischenstaatlichen Diplomatie in Italien hin: Nach dem vieldiskutierten Garrett Mattingly, Renaissance Diplomacy. London 19SS, der den Akzent auf die Ständigkeit der Botschafter schon im 15. Jahrhundert legte (kritisiert von Riccardo Fubini, La figura politica dell'ambasciatore negli sviluppi dei regimi oligarchici quattrocenteschi, in: Sergio Bertelli [Ed.], Forme e techniche del potere nella città [secoli XIV-XVII], Perugia 1982, 33-59; ders., Diplomacy and Government in the Italian City-States of the Fifteenth Century [Florence and Venice], in: Daniela Frigo [Ed.], Politics and Diplomacy in Early Modem Italy. The Structure of Diplomatie Practice, 1450-1800. Cambridge 2000, 25-48, der den noch kaum gegebenen Bruch im Amtsverständnis hervorhob), vor allem etwa Francesco Senatore, Uno mundo de carta. Forme e strutture della diplomazia sforzesca. Neapel 1998, der die Thematik vom Quellenmaterial her neu anging. Vgl. Linda S. Frey/ Marsha L Frey, The History of Diplomatie Immunity. Columbus 1997, 119-157. Im breiten Feld der Diplomatieforschung, die die laufenden Unternehmen der dispacci-Editionen der Renaissance-Diplomaten Mailands (ed. Mario Del Treppo, seit 1994), Mantuas (ed. Franca Leverotti, seit 1999) und Venedigs begleiten, für einen Überblick vgl. Isabella Lazzarini. Introduzione, in: Carteggio degli oratori Mantovani alla corte sforzesca. Ed. Franca Leverotti. Vol 1: 1450-1459. Rom 1999, 1-36; als Sammelrezensionen zu diesen Unternehmungen sind nach Sergio Bertelli, Diplomazia italiana quattrocentesca, in: Archivio Storico Italiano 159, 2001, 797-827, sowie Michael Mallett, Italian Renaissance Diplomacy, in: Diplomacy and Statecraft 12, 2001, 61-70, keine aktuelleren mehr erschienen. Vgl. nun mit Blick vom Mittelalter her Claudia Zey/Claudia Märtl (Hrsg.), Aus der Frühzeit europäischer Diplomatie. Zum geistlichen und weltlichen Gesandtschaftswesen vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Zürich 2008; ein spezielles Problem erfaßt Paul M. Dover, The Economic Predicament of Italian Renaissance Ambassadors, in: Journal of Early Modern History 12, 2008, 137-167. 31

Freilich bildeten gerade verschiedene feudalrechtliche Ansprüche oft den Gegenstand interterritorialer Konflikte, die man als .außenpolitische' Konflikte bezeichnen kann. Sie verweisen aber letztlich nur auf die bis zum Ende des Ancien Régime weitergeltenden kaiserlichen, päpstlichen und einige territoriale Lehensordnungen; vgl. zu .Reichsitalien' insbes. Matthias Schnettger/Marcello Verga (Hrsg.), Das Reich und Italien in der Frühen Neuzeit/L'Impero e l'Italia nella prima età moderna. Bologna/Berlin 2006. Diese Lehensordnung hätte allenfalls zur Ausbildung auch eines italienischen ,Ius publicum' oder einer Beteiligung an der Reichspublizistik führen können - bis auf Ausnahmen nachweisbarer Rezeption reichspublizistischer Semantiken in den mit der Kommunikation mit dem Kaiserhof befaßten Territorialverwaltungen (etwas stärker im 18. Jahrhundert) ist dies aber kaum der Fall gewesen. 32 Natürlich kann man mit Diego Quaglioni/Gerhard Dilcher (Hrsg.), Die Anfange des öffentlichen Rechts: Gesetzgebung im Zeitalter Friedrich Barbarossas und das gelehrte Recht. Bologna/Berlin 2007, schon die Roncalische Gesetzgebung von 1158 als .öffentliches Recht' einstufen. Vom lus publicum des mitteleuropäischen Raums im 16./17. Jahrhundert, das als Bezugskontext das Reich oder das europäische Staatensystem hat, ist es aber doch noch weit entfernt.

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kens über Entscheidungen mit der Frage nach der Funktionalität, Opportunität und der in dieser Situation passenden Aktion, nach dem „Ob" einer Handlung, relativ stark getrennt von rechtlichen Erwägungen über die Erlaubtheit derselben.33 Die Mangel-Perzeption Machiavellis ist also aus der Konfiguration des politischen Feldes im Italien der Zeit zu verstehen, wo Diplomaten, Politiker, Entscheider nicht notwendig ein universitäres Studium absolviert hatten (wie auch Machiavelli nicht), sondern einer Schriftlichkeitskulturder Sekretäre angehörten34, wo eine rechtlich-normative Schulung auch wenig geholfen hätte, wo die eventuell an den Universitäten gelehrte thomistische Politiklehre mit der Praxis zwischenstaatlicher Kommunikation wenig zu tun hatte.35 Hier war ein großer Hiat entstanden. Man muß also die tagtägliche Arbeit und Praxis dieser Diplomaten, Sekretäre, Berater, Kanzlisten vor Augen haben. Der Abgetrenntheit der einzelnen Kleinstaaten voneinander, die mit hohem Energieaufwand mit politischer Kommunikation überbrückt werden mußte, entsprach ein neues Praxisfeld, das auf der Ebene metareflexiver Wissensordnungen noch keine Verarbeitung gefunden hatte. Der Bereich der Wissensordnungen reagierte so auf die Ausdifferenzierung des politischen Feldes. Die Basis, auf der man hier aufbaute, waren das Wissen und die Techniken, mit denen man als Schreiber von Diplomatenbriefen, Instruktionen, Situationsanalysen, deliberativen mündlichen wie schriftlichen Gutachten vertraut war Rhetorik, Dialektik, Grammatik - und dann kam die Geschichte als Bereich eingefrorener Kausalitäten, der der komparatistischen Situationsanalyse zugänglich war, hinzu. Livius' Geschichte und prinzipiell auch alle anderen historischen Autoren der Antike werden als Situationen- und Kausalitätenspeicher neben die eigene Erfahrung gestellt, um induktiv Regelmaterial abzuleiten, das in Entscheidungsfindungsprozessen theoretisch vertieft als Richtschnur dienen kann.36 Entsprechend ist auch die Entwicklung und Auffacherung der politik33

Dies zeigen etwa die oben zitierten Pratiche (wie Anm. 23). Franco Angiolini, Dai segretari alle „segretarie" - uomini ed apparati di governo nella Toscana medicea (metà XVI secolo/metà XVII secolo), in: Società e storia 15, 1992, Nr. 58,701-720; Maria L Doglio, D segretario e il Principe. Studi sulla letteratura italiana del Rinascimento. Alessandria 1993; Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hrsg.), Europa. Kultur der Sekretäre. Zürich/Berlin 2003. 35 Zum Verhältnis gelehrter aristotelischer/thomistischer Politiklehre zur Florentiner Politikkultur vgl. Cornei Zwierlein, Die Transformation der Lehren von Rat, Ratgeben und Ratgebern in Italien im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Jahrbuch fur Europäische Verwaltungsgeschichte 19, 2007, 1-25. 36 Vgl. Philippe Desan, Naissance de la Méthode (Machiavel, La Ramée, Bodin, Montaigne, Descartes). Paris 1987; Miguel E. Vatter, Between Form and Event. Machiavelli^ Theory of Politicai Freedom. Dordrecht 2000; Thierry Ménissier, Machiavel, la politique et l'histoire. Enjeux philosophiques. Paris 2001, und im historischen Linienschlag mit Victoria Kahn, Machiavellian Rhetoric. From Counter-Reformation to Milton. Princeton 1994; Cornei Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahr34

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praktischen und -theoretischen Textgattungen zu verstehen, die in Italien proliferieren: Einerseits entsteht ein Corpus von exemplarischen Instruktionen, Gutachten, Analysen, Berichten und Projekten, von politischen Diskursen zu Spezialfragen, das unabgeschlossen ist, handschriftlich kursiert und bei entsprechenden Kopisten erstanden werden kann.37 Andererseits beginnt sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, dann vor allem ab 1589 mit Boteros Ragion di stato eine Traktatliteratur zu entfalten, die wiederum unterschiedliche Genres kennt, aber doch meist nahe an der Erörterung spezifischer Problemlösungen steht. Die Ragion-di-s/afo-Literatur positionierte sich fast immer explizit gegen Machiavelli - so unter anderem Botero, Frachetta, Ribadeneyra, Zòccolo, Campanella, Albergati.38 Zwar setzt die Ragion-di-statoLiteratur in Italien die vorherige Diabolisierung Machiavellis in den französischen Religionskriegen sowie die in Italien fast gleichlaufende ablehnende Rezeption Bodins als eines ,Machiavellisten' voraus.39 Aber sie blieb doch aufgrund der strukturell gleich bleibenden Situation insofern auf seiner Linie, als sie genau für das von ihm skizzierte, als neu empfundene politische Feld der Zwischenstaatlichkeit und der innerstaatlichen Stimulation und Verbesserung von Regierung in einer parauniversitären Wissensordnung an Lösungen arbeitete. Ammiratos Discorsi etwa behandeln größtenteils, Diskurs für Diskurs, Fragen, die auch konkret in einer Entscheidungssituation im Fürstenrat anstehen könnten. Bezieht man bei solchen Werken den Entstehungsprozeß, soweit erschließbar, mit ein, so findet sich oft, daß einzelne Diskurse schon vorher als Beratungsangebot oder auf Geheiß an Fürsten zur Reflexions- und Entscheidungshilfe in konkreten Situationen (etwa dem Türkenkrieg 1594) verschickt wurden. Das Flottieren dieser Texte zwischen Handschriftlichkeit und Druck hundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006, 31-107. 37 Dies ist noch nicht systematisch erforscht, vgl. dazu Zwierlein, Discorso und Lex Dei (wieAnm. 36), 182-193. 38 Für die expliziten Machiavelli-Invektiven De Mattei, Varia fortuna (wie Anm. 3), 34, für den Typus dieser italienischen Traktatistik vgl. die Literatur in Anm. 10; A. Enzo Baldini, Botero e la .Ragion di stato'. Florenz 1992; ders., Aristotelismo politico e Ragion' di Stato. Florenz 1995; ders. (Ed.), Ragion di Stato, Tacitismo, Machiavellismo e Antimachiavellismo tra Italia ed Europa nell'età della Controriforma. Bibliografìa (1860-1999), in: ders. (Ed.), La Ragion di stato dopo Meinecke e Croce. Dibattito su recenti pubblicazioni. Genua 1999, 223-265, und das der ragion di stato gewidmete Heft der Studia borromaica 14, 2000. 39 Zu Bodin in Italien vgl. Michaela Valente, Bodin in Italia: la Démonomanie des sorciers e le vicende della sua traduzione. Florenz 1999, dort allerdings nur einige Bezüge auch zur Respublica. Vgl. weiter 71 II Wahnbaeck, Die Reaktion der Kurie auf die Begründung des Absolutismus: Fabio Albergati versus Jean Bodin, in: Zeitschrift für historische Forschung 26, 1999, 245-267, sowie A. Enzo Baldini, Primi attacchi romani alla ,République' di Bodin sul finire del 1588.1 testi di Minuccio Minucci e di Filippo Sega, in: Il Pensiero politico 34, 2001, 3-40.

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ist damit das unmittelbare Korrelat zur starken Osmose zwischen Theorie und Praxis in Italien: Die Theorietexte bildeten sich in induktiver Abstraktionsarbeit als Antwort auf die Praxissituation, sie blieben auch weiter an sie gebunden und stellten keine Lehrbücher für universitäre Lehre dar.40 An diesem Punkt ein paar klärende Worte: Es ist diese Verbindung zwischen Machiavelli, gelesen nicht primär als ein Autor von Inhalten (Bewahrung des Staates für den Fürsten), sondern einer Methode und Perspektive auf das so neu wahrgenommene Feld ,des Politischen', die mich in einem angeregten Austausch mit Michel Senellart dazu führt, daran festzuhalten, daß Foucaults Ausklammerung Machiavellis zwar in sich schlüssig darlegbar ist; daß die provokativ stark gemachte Dissoziation zwischen Machiavelli und den Antimachiavellisten/Staatsräsonautoren aber dazu neigt, zugunsten des Effekts der Provokation und der Paradoxalität eine Aporie zu produzieren, die den unbefangenen Leser der derzeit viel rezipierten Gouvemementalitätsvorlesungen auch in die Irre fuhren kann. Diese Aporie-Konstruktion mag blickt man auf Paris im Februar 1978, als Foucault erstmals das Gouvernementalitätskonzept formulierte und dabei Machiavelli erstmals ausgrenzte historisch als Reaktion auf Louis Althussers Interpretation zu erklären sein. Dieser hatte in einem Vortrag im Juli 1977 vor der Association Française de Science Politique in einem freilich positiv verklärten Sinne Machiavellis Einsamkeit und Isoliertheit schon postuliert: Machiavelli wird hier in einer Sprache, die Topoi des Genie-Diskurses aufnimmt, als Denker jenseits der Zeiten stilisiert „[Machiavelli] hält in der Geschichte des politischen Denkens den einzigartigen und instabilen Ort besetzt zwischen einer langen moralisierenden, religiösen und idealistischen Tradition des politischen Denkens, die er radikal verworfen hat, und der neuen Tradition der politischen Philosophie des Naturrechts, die alles andere Überfluten sollte und in der sich dann die aufsteigende Bourgeoisie wiedererkannte. Die Einsamkeit Machiavellis bestand darin, sich von der ersten Tradition befreit zu haben, bevor die zweite alles überfluten sollte."

Niemand habe also ,4m Rahmen seines Denkens gedacht" und Machiavelli habe sogar gewußt, „daß er selbst nicht mehr da sein würde, wenn sein Denken dazu beitragen sollte, ein wenig Geschichte zu machen", also im Zeitalter des Nationalismus, aber auch der Partei-Konzeption Gramscis und in Althus40

Vgl. für Ammirato die Studie von Rodolfo De Mattei, D pensiero politico di Scipione Ammirato. Con Discorsi inediti. Mailand 1963, insbes. 38-59, für die Paralleli militari des Francesco Patrizi kann man ähnlich ein kapitel weises Abfassen, Verschicken einzelner Kapitel an fürstliche Mäzene schon vor Drucklegung und damit eine Einbindung der Theoriebildung in ganz praktische Politikzusammenhänge nachweisen, die auf den ersten Blick nicht aus dem gedruckten Werk ablesbar ist; vgl. Francesco Patrizi Da Cherso, Lettere ed opuscoli inediti. Edizione critica a cura di Danilo Aguzzi Barbagli. Florenz 197S, 104-106, 109, 111-117, 121; Cesare Vasoli, Francesco Patrizi da Cherso. Rom 1989,229-259.

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sers eigener Theorie politischer Aktion.41 Ansätze, Machiavelli als Begründer der politischen Wissenschaft" zu lesen, als „eine der ersten Gestalten - neben der galileischen Physik und der kartesischen Analysis - der modernen Positivität" in der Wissenschaftsgeschichte, müßten angesichts seines „verwirrende^] Mangel [s] an Konsequenz, an dessen in der Schwebe gelassenen Thesen und an dem unabschließbaren Charakter eines rätselhaft bleibenden Denkens" scheitern.42 Nun haben aber historisch einige Leser Machiavelli gerade so verkürzt interpretiert, und die Summe ihrer Bemühungen hat ihre eigene Wirkmächtigkeit entfaltet. Sie haben in einem Denkrahmen methodisierter Empirie und Reflexivität gedacht und operiert. Diese Geschichte nachzuvollziehen hat ihre eigene Bedeutung, und es hat keinen Sinn, sie nur als Perpetuierung ständiger Machiavelli-Mißinterpretation, nur als einen multisäkularen Mangel zu erzählen. Foucault hat Machiavelli einige Monate später genauso konsequent aus der Rolle des Begründers eines Diskurses herausgenommen wie Althusser, allerdings nicht, indem er ihn als Visionär beschrieb, der seiner Zeit voraus sei, sondern als jemand, der noch einer alten Welt verhaftet war.43 Der FoucaultSchüler und -Editor Michel Senellart hat seine eigene autoritative und feinfühlige Erklärung der Position Foucaults in diesem Band wesentlich vertieft und zum Teil verändert - auf seine Rekonstruktion sei hier verwiesen. Wichtig ist dabei die Pointe, daß das Wort .Machiavelli' in Foucaults Text eigentlich größtenteils (aber wohl nicht durchgängig) gar nicht für den Autor Machiavelli und sein Werk als Ganzes steht, sondern daß er „purer Signifikant", also eigentlich nur der Fremdbeschreibungs-Wortkörper aus dem Diskurs der Antimachiavellisten ist.44 Fremd bleibt mir trotz allem die Vorstellung, Machiavelli stehe - selbst nur als Signifikant und nur aus der Perspektive seiner Gegner - für den „juristischen Diskurs der Souveränität".45 41

Louis Althusser, Die Einsamkeit Machiavellis (1977), in: ders., Machiavelli - Montesquieu - Rousseau. Zur politischen Philosophie der Neuzeit. Übers. Henning Ritter/Frieder Otto Wolf. Hamburg 1987, 11-29, 22f„ 29. 42 Ebd. 26. 43 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität. Bd. 1: Sicherheit. Territorium, Bevölkerung. Hrsg. v. Michel Senellart. Frankfurt am Main 2004, 101. 44 Michel Senellart, Machiavelli aus der Perspektive der Gouvernementalität, in diesem Band. Es sei darauf hingewiesen, daß Michel Senellart, Machiavel à l'épreuve de la gouvernementalité, in: Gérald Sfez/Michel Senellart (Eds.), L'enjeu Machiavel. Paris 2001, 211-227, 213 f., noch sehr stark nicht nur auf den stimulierenden, sondern auch auf den „enttäuschenden" Aspekt von Foucaults reduktionistischer Machiavelli-Nennung (eher nicht: Lektüre) hingewiesen hat und daß er das Foucaultsche Anliegen „de reconstituer, sans [Machiavel], la genèse de la pensée politique moderne" durchaus noch als „insoutenable" wertete. Auch sah Senellart zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Verbindung zu Althusser und lehnte noch nicht, wie jetzt in diesem Band, die negative Bindung an Meinecke als fur Foucault wichtig ab (ebd. 222: „Elle permet à Foucault de se démarquer sur deux fronts: celui de l'historicisme idéaliste de Meinecke [...]"). 45 Senellart, Machiavel à l'épreuve de la gouvernementalité (wie Anm. 44), 215.

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Daß nun aber der Autor der Discorsi eine Methode des politischen Abwägens, Berechnens, Kalkulierens, des Geschichtsgebrauchs, ein Genre und einen Denk- und Schreibstil des politischen Gutachtens in die Welt setzte, die sehr wohl in Italien Schule machte, und zwar gerade bei all den inhaltlich antimachiavellistischen Autoren der Staatsräsontraktate, meine ich, mindestens für das 16. Jahrhundert weniger abstrakt politik-philosophisch als anhand der Quellenbasis gezeigt zu haben.46 Eine solche Verbindung zwischen Machiavelli und den späteren Autoren besteht also, und diese Perspektive auf die Geschichte von politischer Theorie und Praxis steht weiter latent quer zur Foucaultschen Einteilung der Diskurse in Pastorat, Polizei und Staatsräson. Dieser Ausweis der Verbindung will so eigentlich nur zeigen, daß das, was Foucault so fruchtbar gezeigt hat, nämlich die (funktional, nicht ethisch) positive „Kunst des Regierens", die in der politischen Hieorie des 16717. Jahrhunderts präsent ist, vielleicht zwar inhaltlich bei Machiavelli noch nicht in ausgereifter Form zu finden ist (also etwa keine Wirtschafts- und Bevölkerungstheorie), daß aber der wägende, kalkulierende, Regelmäßigkeiten suchende Blick und die „discorrere le cose" genannte Analysehaltung ein für die spätere Regierungskunst fundamentales Verbindungselement bilden, ohne das sie nicht denkbar wäre. Kehren wir zum Problem von Machiavelli/Machiavellismus im 167 17. Jahrhundert zurück: Wenn nun Machiavellis Schriften teils originalsprachlich nach Deutschland kamen, größtenteils aber in den französischen und dann vor allem in den Basler lateinischen Übersetzungen47, schließlich vor allem schon im Gewand des Gentilletschen Antikanons, trafen sie auf ein gänzlich unterschiedliches politisches Feld, als es der Florentiner wahrgenommen und für das er seine aus seiner Sicht neue Theorie geschrieben hatte. Aufgrund der Überwölbung und Durchwirkung der territorialstaatlichen Ebene durch die Reichsebene war politisches Entscheiden und Agieren sehr viel stärker als in Italien normativ durchgeformt. Die alte, einst von Roman Schnur und anderen eingebrachte Beobachtung, daß der Professionalisierungsprozeß der deutschen Regierungen sich zunächst einmal im Eindringen studierter Juristen auf die entsprechenden Posten niederschlug48, ist aus dieser Perspektive nur der Effekt des stark normativ geformten politischen Feldes. Wenn in Italien Juristen im Modus der politischen Theoriebildung operierten, griffen sie seit dem 15. Jahrhundert zunehmend gerade nicht primär auf die 46

Vgl. Zwierlein, Discorso und Lex Dei (wie Anm. 36), 31-197; ebd. 26-28 die ebenso kurz angerissene Positionsformulierung gegenüber Foucault. 47 Vgl. dazu den Beitrag von Ingravalle/Malandrino in diesem Band. 48 Roman Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates. Berlin 1986; eine entsprechende prosopographische Fallstudie hatte Maximilian Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände. Die Entstehung der Zentralbehörden in Bayern 15111598. Göttingen 1980, vorgelegt.

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Wissensordnung des Rechts und dessen Quellen zurück, sondern folgten der parauniversitären, rhetorisch und empirisch-analytisch bestimmten Form des ,discorrere'. 49 „ Z w i s c h e n s t a a t l i c h k e i t " in dem Sinne, wie es sie in Italien gab, war in Deutschland nur auf den ersten Blick isomorph gegeben, war aber nicht homolog. Aus einer italienischen und gegebenenfalls auch noch französischen Perspektive werden eher die Differenz oder gar der Bruch zwischen Machiavelli und den Staatsräsonautoren deutlich. Wenn in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und im 17. Jahrhundert ein starker italienisch-deutscher Kulturtransfer einsetzte, in dem die italienische Politiktheorie rezipiert wurde, so ist dabei Machiavelli quantitativ gesehen zwar kein sehr bedeutender Autor, er ist aber auch gar nicht so stark unterschieden von denjenigen italienischen Autoren, die aus dieser ganz anderen deutschen Perspektive eben .Nachfolger Machiavellis' sind: Botero, Ammirato, Lottini, Guicciardini. Ohne diese Autoren damit inhaltlich in einen Topf weifen zu wollen, ist doch zunächst entscheidend, daß die volkssprachliche Politikkultur Italiens hier in einen Kreuzungsprozeß mit der lateinischsprachigen Kultur eintritt. Dies wird bei einem Autor wie Besold bereits an der Sprachenmischung seiner Texte deutlich: spanische, italienische, französische Zitate mischen sich mit dem Lateinischen und den anderen alten Sprachen. Den Anteil solcher Sprachenmischung an den Texten könnte man geradezu als einen Indikator für die Wahrscheinlichkeit nehmen, daß hier jeweils auch inhaltlich eine Untersuchung auf Machiavelli/Machiavellismus lohnt. Es entsteht hier aber zunächst gerade keine volkssprachliche Politikkultur, die den Vergleich mit der italienischen aushielte. Zwar gibt es Ausnahmen, wie die bekannten Übersetzungen ins Deutsche von Botero50, Boccalini51, von de la Noue52, im 18. Jahr49

Eine Ausnahme stellt - folgt man der These Paolo Cartas - die Inkorporation des Modells der ,regulae iuris' als Ordnungsmodell in die politische Theoriebildung mit ihren ,ricordi' und .concetti' in der Guicciardini-Nachfolge dar; auch hier aber nur eine Heuristikund Methoden-Inkorporation, keine inhaltliche Anleihe: Paolo Carta, L'origine dei Ricordi: Regulae, exempla, paiticulari e il giudizio su Machiavelli, in: ders., Francesco Guicciardini tra diritto e politica. Mailand 2008, 5 5 - 7 0 . Hier dürften für die politische Theorie aber auch andere Modelle vorbildhaft gewesen sein, nämlich die antike .strategema '-Literatur und auch die medizinische Heilmittel-Literatur in der Dioskurides-Nachfolge: Politische Listen und Strategie wurden in Analogie zum militärischen Bereich gesehen, und Regieren wurde oft als politisches .Heilen' am Körper des Staates medizinisch gefaßt; vgl. dazu statt vieler Rainer Guldin, Körpermetaphern. Zum Verhältnis von Politik und Medizin. Würzburg 1999; ein Beispiel analysiert Silvana d'Alessio, Contagi. La rivolta napoletana del 1647-'48: linguaggio e potere politico. Florenz 2003. 50 Michael Stolleis, Zur Rezeption von Giovanni Botero in Deutschland, in: Enzo Baldini (Ed.), Aristotelismo politico e Ragion di Stato (wie Anm. 38), 4 0 5 - 4 1 6 . 51 Roberto De Pol,,Der Teufel in Parnasso'. Boccalinis .Ragguagli' in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts, in: Alberto Martino (Hrsg.), Beiträge zur A u f n a h m e der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Amsterdam 1990, 109-131. 52 Norbert Conrad, Ritterakademien der frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert. Göttingen 1982. Conrad untersucht nur die Rezeption desjenigen

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hundert dann die von De Pol untersuchte deutsche Machiavelli-Übersetzung53; es gibt auch Originalwerke, die in diesen Bereich fallen, wie z. B. die später noch erwähnten Schriften Ramslas, Collis oder Reifenbergs; außer im südwestdeutschen Raum fallen solche Erscheinungen aber kaum ins Gewicht. Diese Beobachtungen allein auf sprachlicher Ebene spiegeln gut wider, wie das Produkt des italienisch-deutschen Kulturtransfers auch auf inhaltlicher Ebene eine Verschränkung von Normativität und Empirismus bleibt. Wenn Machiavellis Schriften in Italien in mancher Hinsicht erfolgreich eine theoretische Wissensordnung für einen Praxisbereich begründeten, wo vorher eine Lücke klaffte, so könnte man pointiert formulieren, daß seine Schriften in Deutschland von Anfang an zu den vorhandenen Strukturen und Wissensordnungen querstehen mußten, weil die entsprechende Lücke fehlte. Zwar entstand dieser Kontext nun langsam auch, nämlich zunächst insbesondere im Hinblick auf die Wahrnehmung internationaler Ordnungen und Beziehungen, innerhalb derer sich jeder Territorialstaat auch jenseits der normativen Reichsordnung positionieren mußte.54 Aber dieser Entstehungsvorgang konnte zunächst auch als Erosion der heilvollen Normativität der Reichsordnung wahrgenommen werden.55 Machiavelli wird dann automatisch nicht zur Chiffre für ein positives Mehr an Wissensordnung, sondern für ein negatives Löschen und Zerstören althergebrachter Ordnungen. Dort allerdings, wo man dabei ist, die neuen Verhältnisse von Zwischenstaatlichkeit, politischem KaiKapitels in de la Noues .Discours', in dem die Gittndung von Akademien für Adlige empfohlen wird. Immerhin werden damit Rezeptionswege aufgezeigt, die man dann grosso modo auch auf die Rezeption der übrigen, kriegswissenschaftlichen und politischen Teile beziehen kann, die stärker .machiavellistisch' geprägt sind, auch wenn de la Noue natürlich explizit wieder .Antimachiavellist' ist 33 Roberto De Pol, Lebens- und Regiemngs-Maximen eines Fürsten. Die erste gedruckte deutsche Übersetzung des Principe, in: Daphnis 32, 2003, 559-610; Roberto De Pol (Hrsg.), Lebens- und Regierangs-Maximen eines Fürsten (1714). Berlin 2006. 34 Die Reichsgeschichte hat dies für das 16717. Jahrhundert wenig zum Thema gemacht, da die Quelle der Reichstagsakten, auf die sich die Forschung aufgrund der großen Editionsunternehmen in der Nachkriegszeit lange konzentriert hat, nicht den Blick auf solche Fragen lenkte; geöffnet nun die Diskussion in: Maximilian Lanzinner/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Der Reichstag 1486-1613. Kommunikation - Wahrnehmung - Öffentlichkeiten. Göttingen 2006. Für das 18. Jahrhundert ist dann gerade .revisionistisch' eine Zeitlang der Akzent auf die Erforschung der Reichspublizistik gelenkt worden. Gerade die Reichsreformprojekte könnte man aber nicht als Zeichen der Vitalität des Reichs, sondern als verzweifelte Versuche des Reichspersonal-Netzwerks lesen, den institutionellen Rahmen ihrer Existenz zu bewahren: Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation: Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806. Mainz 1998. 55 Diese neue Selbst- und Fremdwahrnehmung hängt entscheidend auch mit den neuen Medien zusammen, die die Wahrnehmung der politischen Welt formen. Auf der Grundlage der Publizistik, weniger mit Blick auf die politische Theorie ist die Erosionsproblematik erfaßt bei Martin Wrede, Der Kaiser, das Reich, die deutsche Nation und ihre .Feinde': Natiogenese, Reichsidee und der .Durchbrach des Politischen' im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden, in: HZ 280, 2005, 83-116.

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kül und Entscheidungsoptionalität zu erfassen, kann man auch gut in seinen Fußstapfen wandern, ohne ihn zu nennen. D e m Skizzierten entsprechend fand Politikausbildung in Deutschland anders statt: „Politik" entstand um 1600 als universitäre Disziplin innerhalb der artes-Fakultät, meist aber als spezifisch philosophische Propädeutik für Juristen, nach 1700 wäre dieser Professionalisierungsversuch laut Wolfgang Weber gescheitert. 5 6 Daneben gab es aber auch den Grand Tour, oft nach Italien, und auch andere nicht institutionalisierte Formen von Politiklehre durch Hofmeister i m Haushalt, in der Sozialisation an den Höfen oder im U m f e l d von Ritterakademien, für die auch ein gewisser Teil der Literatur geschrieben worden war. 5 7 In dieser komplexen Lage ginge man demnach fehl, „Machiavellismus" als einen kohärenten, klar konturierbaren Diskurs im Anschluß an den objektsprachlichen Machiavellismus-Begriff zu verstehen, w i e er bei Beurer auftauchte. 5 8 Ich möchte „Machiavellismus" metasprachlich vielmehr als den Namen für ein Ensemble von teils produktiven, teils Irritation auslösenden Elementen epistemischer Art verstehen. In produktiver Hinsicht fungiert Machiavelli 1. auf einer oberflächlichen, aber daher am ehesten wahrnehmbaren Ebene, auch wenn sein N a m e nicht 56

Wolfgang Weber, Prudentia gubematoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen Politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992; Wolfgang Weber, Die Erfindung des Politikers: Bemerkungen zu einem gescheiterten Professionalisierungskonzept der deutschen Politikwissenschaft des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts, in: Luise Schorn-Schiitte (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie, Res-Publica-Verständnis, konsensgestützte Herrschaft. München 2004, 347-370; Merio Scottola, Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell'età moderna. Mailand 2003. Vgl. die hilfreichen Bibliographien von Merio Scottola, L'ordine del sapere. La bibliografìa politica tedesca del Seicento. (Archivio della Ragion di Stato 10/11, 2002/2003.) Neapel 2002, und von Michael Philip unter http://www.philso.uni-augsburg.de/web2/Politikl/geschpol.htm. 57 Bei Antje Stannek, Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts. (Geschichte und Geschlechter, Bd. 33.) Frankfurt am Main 2001; Mathis Leibetseder, Die Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert. Köln 2004; Rainer Babel/Werner Paravicini (Hrsg.), Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Stuttgart 2005, wird gezeigt, daß die Ausbildung der Adligen auf dem Grand Tour freilich nicht primär auf .politische Theorie' oder überhaupt auf Lektüre ausgerichtet war. Einzelbeispiele wie Listen mit Besitz italienischer Politiktheoriebücher (vgl. Barbara Marx, Die Italienreise Herzog Johann Georgs von Sachsen [1601-2] und der Besuch von Cosimo III. de' Medici in Dresden [1668]. Zur Kausalität von Grand Tour und Kulturtransfer, in: Babel/Paravicini [Hrsg.], Grand Tour, 373-427) oder Besitz von handschriftlichen Bänden exemplarischer Discorsi und Relationen bei deutschen Fürsten (Cornei Zwierlein, Normativität und Empirie: Denkrahmen der Präzedenz zwischen Königen auf dem Basier Konzil, am päpstlichen Hof [1564] und in der entstehenden Politikwissenschaft [bis 1648], in: Historisches Jahrbuch 125,2005,101-132,118) zeigen, daß eine systematische Untersuchung des Zusammenhangs von Grand Tour und italienischdeutschem Kulturtransfer hier wohl noch weiterführen könnte. 58 Vgl. hierzu auch die Einleitung, S. 12-16.

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auftaucht, indem er den verschiedenen Formen von Politiktheorie Themen und Topoi vorgibt, die in der mittelalterlichen und antiken Theorie so keine Spezialerörterungen erfahren hatten. Als Beispiele hierfür gehe ich kurz auf die Reflexionen Uber die Vergrößerung von Reichen und Staaten sowie auf die Problematik der Neutralität ein. Diese Spezialerörterungen rekurrieren immer auf Entscheidungsprobleme des fhihneuzeitlichen Politikers. 2. Was zunehmend aus Italien und Frankreich nach Deutschland eindringt, ist eben auch die Praxis des empirisch-situationsanalytischen Gutachtens vor einer Entscheidung im Fürstenrat. Machiavelli fungiert insofern auch als Chiffre für die langsame Umstellung auf eine Methodisierung von Prognose und Projekt im höfischen Umfeld. Seine Politiktheorie steht für eine Orientierung am Problem der Beratung, der Entscheidungsfindung und damit der Findung von empirisch .wahren', funktionierenden Antworten auf kritische Situationen. Dies äußert sich im gelehrten Diskurs nicht darin, daß alle seine Handlungslehre kopieren und affirmativ übernehmen, wohl aber darin, daß nun das Problem der Wahrheits- und Entscheidungsfindung auch auf der Metaebene im Hinblick auf die Frage der menschlichen Prognosefähigkeit anhand der fortuna-/ fatum-Chiffre diskutiert wird. 3. Damit korrespondiert, daß Machiavelli bei einer gewissen Anzahl von Autoren produktiv für eine Methode der Geschichtsverwendung zum Zweck der regelfÖrmigen Zukunftsbeherrschung steht. So wirkt Machiavelli dann irritierend im Hinblick auf die Diskussion Uber die Grenzen der Disziplinen zwischen Politik und anderen Wissenschaften oder Wissensformen sowie im Hinblick auf die Aspekte rein funktionalistischer Analyse. 1. Themen und Topoi Der Modus der Erörterungen von Einzelproblemen in Discorsi mittlerer Abstraktionsstufe ist ein Spezifikum Machiavellis, und er setzte hier viele Themen, die das ganze 16. und 17. Jahrhundert hindurch diskutiert wurden. Ob Festungsbau nützlich ist oder nicht59, ob man Söldner gebrauchen soll oder

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John R. Haie, To Fortify or not to Fortify? Machiavelli's Contribution to a Renaissance Debate, in: ders., Renaissance War Studies. London 1983, 189-210; für die Fortführung bei Patrìzi etwa Frédérique Verlier, Les armes de Minerve. L'humanisme militaire dans l'Italie du XVIe siècle. Paris 1997, 255 Anm. 7 - auf handschriftlicher Ebene als Anwendungsbeispiel etwa „Discorso sopra le fortezze di Castel Sant'Angelo in Roma", Archivio Segreto Vaticano (künftig: ASV), Mise. Arm. II, 4, fol. 69-80; DHI Rom, Fondo Minucciano 7, fol. 430R-441V; als Problem bei einem deutschen Grand-Tour-Reisenden internalisiert bei der Betrachtung der gerade im Bau befindlichen Festung von Livorno „Itinerarium continens profectionem a me Christophoro L.B. & Burggraffio a Dhona suseeptam Heidelberga Italiam versus A.o 1600 Mense Septemb. [bis 8. 7.1602]" (Bayerische Staatsbibliothek München, clm 27026, fol. 109r).

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nicht60, ob man besser eine gänzlich neue Ordnung einrichtet oder die überkommene reformiert 61 , ob man in korrumpierten Republiken Freiheit erhalten kann oder nicht; oft sind die Discorsi auch direkt in der Form der regelförmigen Beantwortung formuliert. (Eine Republik oder ein Fürst müssen den Anschein erwecken, das aus Freigebigkeit zu machen, was in Wirklichkeit aus Notwendigkeit geschieht.) 62 Die Themenstellung und das damit umrissene Ziel politischer Beratungstheorie sind aber jeweils strukturell gleich. Diese Einzelfragen und Themenstellungen erwachsen bei Machiavelli im Grunde aus dem Gestus des politischen Gutachtens und Beratens. Im deutschsprachigen Raum werden hieraus oft Dissertationen oder kleine Einzeltraktate: Diese sind oft sehr viel vielversprechender für eine Suche direkter Machiavelli-Bezüge und -Genealogien als die großen Traktate eines Arnisaeus, Althusius, Keckermann und anderer. Ich greife hier als Beispiel Reflexionen zur Expansion und zur Neutralität heraus: Daß in Machiavellis Theorien ein expansionistisches oder imperiales Moment enthalten sei, wird immer einmal wiederentdeckt, so zuletzt von Berger-Waldenegg in der deutschsprachigen Forschung und Hörnqvist in der angloamerikanischen.63 Gerade dort, wo Machiavelli auf die Figur des „principe nuovo" zurückkommt, muß er die Probleme der Herrschaftsstabilisierung im Moment und nach einem Herrschaftserwerb, sprich: nach einer Eroberung behandeln. Im dritten Kapitel des Principe sind entsprechende remedii wie die Tötung der vorherigen Herrscherfamilie, die Beibehaltung der bisherigen Gesetze, die Verlagerung des Herrschersitzes in die eroberten Gebiete bei kulturell sehr unterschiedlicher Prägung, die Gründung von Kolonien jeweils situationsgebunden angeführt. In D1,26 ist ausgeführt, daß ein neuer Herrscher im eroberten Land alle Ordnungen umstürzen muß, neue Städte gründen, die alten umsiedeln und so Strukturen schaffen muß, die ganz auf ihn abgestimmt sind. Gentillet hatte verschiedene solche Stellen in gewisser Hinsicht noch krasser umformuliert und als dem Naturrecht widerstrebend gebrandmarkt64; schon zwei Jahre später wurde von Urbain Chauveton in seinen Novae novi orbis Historiae libri tres die größte zeitgenössische Expansionserfahrung, die spanische Eroberung und Ausbeutung Südamerikas, unter Rückgriff auf diese Passagen von Gentillet als Befolgung dieser Lehren Machiavellis interpre-

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Vgl. P XI-XIV, D II, 20, 43. Weiter geführt etwa als „Discorso se la mutatione d'un costume antico in una Città è utile ò dannoso a quel governo", in: ASV, Fondo Pio 113, fol. 459-486; ASV, Mise. Arm. II, 4, fol. 81-102; in ASV, Mise. Arm. II, 63; ASV, Mise. Arm. III, 39, fol. 26-38. 62 D I, 57. 63 Georg Christoph Berger Waldenegg, Krieg und Expansion bei Machiavelli. Überlegungen zu einem vernachlässigten Kapitel seiner „politischen Theorie", in: HZ 271, 2000, 1 55; Mikael Hörnqvist, Machiavelli and Empire. Cambridge 2004. 64 Gentillet, Anti-Machiavel (wie Anm. 9), Vol. 3/3 u. 4, 309-320.

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tiert: leyenda negra und Antimachiavellismus verbanden sich.65 Auf politiktheoretischer Ebene findet sich die Thematik dann wieder in Disputationen oder Discursus „De incrementis imperiorum, eorumque amplitudine procuranda" oder „De incrementis et decrementis Rerumpublicarum": Christoph Besold66 erinnert in seinem entsprechenden Discursus politicus daran67, daß mit dem Begriff des Imperiums notwendig die Vermehrung und Vergrößerung verbunden sei und unterteilt dann in eine innere und äußere Vergrößerung, bei der äußeren Vergrößerung wiederum in eine friedliche und eine gewaltsame. Die Eroberung der Neuen Welt steht auch hier als zentrales Beispiel im Hintergrund68, und Machiavelli wird ganz problemlos, wie oft bei Besold, als zentraler Gewährsautor für die „arcana & flagitia dominationis" herangezogen: aus D I, 26 wird durchaus Machiavellis eigene Reserve zitiert, daß es sich bei den Städteneugründungen und -Umsiedlungen um sehr grausame Mittel handele, aber man könne eben nicht „alia ratione Imperium conservari". Obgleich Besold wie stets eine Fülle antiker, französischer, italienischer und 65

Urbain Chauveton, Christianis et piis lectoribvs S. [Praefatio], in: ders., Novae novi Orbis historiae, id est, Rerum ab Hispanis in India Occidentali hactenus gestarum, & acerbo illorura in eas gentes dominatu, libri très [...] Genf: Vignon 1578, viiR-viV, insbes. iRiiiV. Durch die Aufnahme dieser Vorrede in das De Brysche Corpus erfuhr sie weite Verbreitung auch in anderen Sprachen - vgl. „Den Christlichen vnd frommen Lesern Heyl vnd Wolfahrt", in: [Girolamo Benzoni,] Das vierdte Buch Von der neuwen Welt Oder Neuwe vnd griindtliche Historien / von dem Nidergängischen Indien / so von Christophoro Columbo im Jar 1492. Erstlich erfunden. [...] Hrsg. v. Theodore de Bry. Frankfurt am Main 1600, BijR-CijR, BiijR-BivR; für einen weiteren Rezeptionsstrang vgl. Frank Lestringant, Le huguenot et le sauvage. L'Amérique et la controverse coloniale, en France, au temps des guerres de religion. Genf 2004,176f. Anm. 128. 66 Zu ihm biographisch Matthias Pohlig, Gelehrter Frömmigkeitssti] und das Problem der Konfessionswahl: Christoph Besolds Konversion zum Katholizismus, in: ders AIte LotzHeumann/Jan-Frieder Mißfelder (Hrsg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit. Heidelbeig 2007, 323-352; Laetitia Boehm, Christoph Besold (1577-1638) und die universitäre Politikwissenschaft. Zum Bildungs- und Erfahrungshorizont seiner Staatslehre, in: dies. (Hrsg.), Christoph Besold. Synopse der Politik. Frankfurt am Main 2000, 291-332, inhaltlich viele Facetten bei Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat: Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus. Tübingen 1982, passim; Martin Schierbaum, Typen von Transformationen der Wissensspeicher in der Frühen Neuzeit - Zwischen Marktmacht, Praxisdruck und suisuffizienter Welterklärung. Am Beispiel der Reihen von Conrad Gesners Bibliotheca Universalis, von Theodor Zwingers Theatrum Vitae Humanae und Christoph Besolds Thesaurus Practicus, in: Martin Schierbaum (Hrsg.), Enzyklopädistik 1550-1650 - Typen, Transformationen und Medialisierungen des Wissens, Münster 2009, 249-346. 67 Christoph Besold, Discursus Politicus de incrementis imperiorum, eorumque amplitudine procuranda. Cui inserta est Dissertatio singularis, De Novo Orbe. Straßburg 1623. 68 Vgl. das eigene Exkurs-Kapitel Cap. IV „Continens Conjectanea de Novo Orbe". Interessanterweise enthält sich Besold jedes negativen Urteils über die Spanier und überläß es Gott, ihnen diesen Gebietszugewinn überlassen zu haben: ,3t ego iure amplio, nec in judicia Divina inquiro", p. 21; die Missionstätigkeit der Jesuiten wird gelobt, p. 18: an sich sollte es noch 13 Jahre dauern, bis Besold öffentlich konvertierte, gegenüber Kepler äußerte er schon in den 1620ern Sympathien für die ,alte' Kirche, vgl. Pohlig, Gelehrter Frömmigkeitsstil (wie Anm. 66), 337, 344.

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spanischer Autoren heranzieht, bleiben die Themenstellung und der Rahmen der durchzudeklinierenden politischen Mittel stark von Machiavellis ursprünglichen Setzungen geprägt. Eine Vermeidungsstrategie ist bei diesen Spezialerörterungen kaum vonnöten, Machiavelli ist problemlos zitierfähig.69 In der für die allgemeinere universitäre Propädeutik geschriebenen traktatförmigen Zusammenfassung seiner Lehre aber, in der Synopse der Politik, wird im dritten Buch „Über die Erweiterung von Herrschaften" nur eine Kurzform der Erörterungen aus dem Spezialdiskurs übernommen und gerade das im Spezialdiskurs erstaunlich kommentarlose Referat der machiavellischen flagitia dominationis wird in der Synopse ausgelassen: Hier wird eine Grenze zwischen unaufgeregter Diskussion Machiavellis im technischen, spezialisierten Politiktheoriediskurs und einer Tendenz zur Glättung im Bereich der zusammenfassenden Überblickswerke deutlich.70 In einem sich eher an gelehite Spezialisten richtenden Werk wie den politiktheoretischen Decades des Michael Piccart finden sich entsprechend immer wieder direkte Aufnahmen von Machiavellis Topoi und Texten, ohne daß hier Zeit auf eine Autorverdammung verschwendet würde.71 Ein anderes Beispiel ist die Diskussion über die Neutralität bzw. die laut Machiavelli notwendige Vermeidung der „Mittelparteien", wie sie in P XXI ausgeführt ist: ein Fürst solle sich im Streit zweier anderer Fürsten immer für die eine oder die andere Seite erklären, nicht meinen, die Neutralität wäre ihm am dienlichsten. Hier hatte sich in Italien eine ausführliche Diskussion zur zwischenstaatlichen Politikstrategie im 16. Jahrhundert angeschlossen und sich zunehmend auf das europäische Staatensystem, etwa im Hinblick auf den Türkenkrieg 1594 oder den spanisch-französischen Krieg 1595-1598 bezogen. 72 Diesen Diskussionsstrang führte in Deutschland Johann Wilhelm Neumayr von Ramsla fort in einem volkssprachlichen Politiktraktat „Von der 69

Etwas weiter entfernt von diesem Rahmen, durchaus aber für Bewaffnungs- und Eroberungsfragen etwa D I, 21; II, 1; II, 3; II, 4 zustimmend, und nur die nervus-belli-Ausführung aus II, 10 negierend zitierend Christophorus Hartknoch, Disputatio politica de incrementis et decrementis rerumpublicamm qvam adspirante Divino Numine et Amplissimo Philosophorum Ordine consentiente, resp. Georg Friedrich a Kainein. Königsberg 1673. 70 Boehm, Besold (wie Anm. 66), 267-273. 71 Vgl. nur als Beispiel Michael Piccart, Observationum Historico-Politicarum Decades. 3 Bde. Nürnberg 1621-1624, VI, 2 („stratagema quoddam politicum Machiavelli illustratum"), 271-276: „Elegans & eruditum est monitum Nicolai Machiavelli [...] Quae omnia ut verissime Machiavellus, ita prudentissime [...] vidit [...] ita subtile non minus commentum est illud Machiavelli [...]"). Das Werk Piccarts einmal systematisch auf offenen und verdeckten Machiavellismus durchzugehen, würde sich sehr lohnen. Die Decades erscheinen dem Typ nach wie lateinische Discorsi. 12 Dazu Cornel Zwierlein, Die Genese des neuzeitlichen Neutralitätskonzepts. Italienische .Discorsi' in Politikberatung und außenpolitischer Praxis, 1450-1600, in: Heidrun Kugeler/Christian Sepp/Georg Wolf (Hrsg.), Internationale Beziehungen in der Frühen Neuzeit - Ansätze und Perspektiven. Münster 2006, 36-68.

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Neutralitet vnd Assistentz Oder Vnpartheyligkeit vnd Partheyligkeit in KrigsZeiten" (1620), der Johann Georg von Sachsen gewidmet ist, just als dieser als einer der ganz wenigen Unionsmitglieder auf Seiten Friedrichs V. in den Böhmischen Krieg zog, während ein Großteil der protestantischen Fürsten „neutralisierte"73: Der konkrete Kontext der Entscheidung, in den Böhmischen Krieg einzugreifen oder nicht, machte das Thema virulent und schlug sich bei Ramsla und bei vielen anderen Autoren - etwa wieder Besold - in eigenen Abhandlungen nieder, in denen Machiavelli meist der früheste zitierte Autor war.74 Die Neutralitätstopik wurde auch jenseits des spezifischen Bereichs der Zwischenstaatlichkeit allgemeiner verhandelt, so wie sie bei Machiavelli am Ende von D I, 26 und in D I, 27 anklingt, wo er die „vie di mezzo", die Mittelwege, für schädlich hält: Diese explizit antiaristotelische Vorstellung findet durchaus auch ihren Weg in die deutsche Fürstenberatung, so in den Fürstlichen Tischreden des italienischen Emigranten Ippolito de* Colli am Heidelberger Hof, wo im Kapitel 64 formuliert wild „Daß in grossen wichtigen Sachen der mittelst Weg gemeiniglich der vnsicherst sey": Bei Entscheidungen, wie mit einem eingekesselten oder gefangenen Feind umzugehen sei, solle man entweder in die eine oder in die andere Richtung radikal handeln; entweder alle umbringen, oder alle freilassen und mit ihnen Freundschaft schwören. Karl V. hätte nach der Schlacht von Pavia François I entweder für immer gefangennehmen sollen und umkommen lassen, oder mit ihm Frieden schließen, nicht aber den Mittelweg einer zeitweisen, demütigenden Gefangenschaft wählen sollen.75 Neben der Setzung von Topoi und Themen findet also durchaus hier und da auch ein „machiavellischer" Inhalt seinen Weg in die deutsche Diskussion.

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Die Diskussion Uber eine mögliche .Neutralität' diverser Territorien zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs ist quellensprachlich am besten in der älteren, zitatreichen Studie Helmut Weigel, Franken, Kurpfalz und der Böhmische Aufstand 161 1620. Bd. 1 : Die Politik der Kurpfalz und die evangelischen Stände Frankens Mai 1618 bis März 1619. Erlangen 1932, zu fassen. 74 Johann Wilhelm Newmayr von Ramsla, Von der Neutralitet Vnd Assistentz oder Unpartheyligkeit und Partheyligkeit in Kriegszeiten, sonderbarer Tractat oder Handlung [...]. Erfurt 1620, HiV, HiiiR, HivR: zit. P XXI (weitere Auflagen dieses im Dreifiigjährigen Krieg immer wieder aktuellen Traktats 1622, 1625, 1628, 1631, 1644); bei Christoph Besold, Dissertano Politico-Juridica, de foedemm jure: ubi in simul de patrocinio & clientela; ac item de neutralitate, disputato succincte. Straßburg 1622, 91-95, wird Machiavelli nicht zitiert, wohl aber alle Nachfolge-Autoren wie Bodin, Lipsius, Botero etc., die von Machiavelli ausgingen. 75 Johann Werner Gebhart [i.e. Ippolito de' Colli], Fürstliche Tischreden / Das ist / Von Allerhand Politischen / nachdenckJichen Fragen / Händeln vnd Geschichten / Nützliche Bedencken / vnd anmütige Discursen [...] continuili [...] Durch M. Georgium Draudium [...]. Frankfurt am Main 1614, 196-198 - ohne explizite Machiavelli-Nennung; das gleiche Beispiel aber dann mit Machiavelli-Nennung bei Piccart, Decades (wie Anm. 71 ), V, 4 (.Media Consilia in rebus seriis periculosa'), Bd. 1, 236-240.

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2. Politisches Projektieren und fatum/fortuna-Diifcujsion Wie Politik als eine politische Klugheitslehre im 17. Jahrhundert verhandelt wird, haben Wolfgang Weber und Merio Scattola überaus genau nachgezeichnet. Ein Aspekt dieser Umstellung von einer eher klassifikatorisch-normativen zu einer, zumindest im Ansatz, eher kognitiv orientierten Politiklehre soll hier herausgegriffen werden, nämlich die Lehre vom consilium und vom Beraten. In den klassischen mittelalterlichen Fürstenspiegeln und Traktaten finden wir kaum spezifische Ausführungen zum Rat, zum Beraten, zur Wahrheitsfindung und Prognose bei der Entscheidungsfindung. Es mag andere Systemstellen im scholastischen Aristotelismus gegeben haben, an denen über die Freiheit des Willens und die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit hochdifferenzierte Ausfuhrungen getätigt wurden, im Hinblick auf die Berater und die Beratung von Fürsten erfolgt es in mittelalterlichen ,Fürstenspiegeln' lange Zeit nicht. 76 An diese Stelle treten Machiavellis Ausführungen zum Gegenüber des prognostisch planenden Menschen und der fortuna an etlichen Stellen im Werk. An sich erscheinen diese Ausfuhrungen wenig spektakulär, ja die ,50/50'-Lösung zwischen dem Wirkbereich des Menschen und von fortuna in P XXV wirkt sogar ein wenig vulgärphilosophisch, weshalb es verwundern könnte, warum sie trotzdem eine gewisse diskurs-zentrierende, irritierende Wirkung entfalten konnte. Ich denke, auch dies ist wieder mit der Verschiebung epistemischer Ebenen aufgrund einer anderen Wahrnehmung des politischen Feldes und neuer Praktiken im obigen Sinne zu erklären. Daß Berater - studierte „Bürgerliche" oder zu Staatsdienern habitualisierte Adlige - ihrem jeweiligen Fürsten gefragt und teilweise auch ungefragt zu wichtigen Entscheidungsfragen in der Frühen Neuzeit beratende Gutachten erstellten, ist ein allseits bekanntes Phänomen; ob sie nun im Italienischen discorsi, im Französischen mémoires oder avis, im Deutschen Promemoria, Project, Bedencken heißen, die Quellengattung ist bekannt - vielleicht aber so bekannt, daß dann eigentlich wieder kaum Reflexionen über ihr Aufkommen und ihre Entwicklung vorliegen. Tatsächlich aber scheint mir dieses Entscheiden auf Gutachtenbasis oder zumindest unter Einholung von Gutachten zunächst einmal ein typisch neuzeitliches Phänomen zu sein, zum anderen scheint sich auf der inhaltlichen Seite eine Entwicklung und Ausdifferenzierung zwischen der langen Tradition der Rechtsgutachten, auch „öffentlichrechtlichen", Staats- oder Reichsrecht anbelangenden Gutachten und dem Typus der nicht rechtsförmigen, empirischen Situationsanalyse und dem Kalku76

Weber, Prudentia gubernatoria (wie Anm. 56), 199-224, zur Beraterlehre in der politischen Theorie des 17. Jahrhunderts. Wichtiger als eine Bildungs- und Sozialgeschichte der Berater erscheint mir fast eine Historisierung des Beratungsvorgangs selbst; vgl. Zwierlein, Die Transformation der Lehren von Rat, Ratgeben und Ratgebern (wie Anm. 35).

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lieren der potentiellen Zukünfte abzuzeichnen. Ich habe versucht das für den italienischen Fall zu zeigen77, in anderen europäischen Ländern kann man durchaus ähnliches finden, in Deutschland im 16. Jahrhundert noch eher spärlich78, man müßte aber hier weiter die Gutachtenpraxis des 17. Jahrtiunderts im höfischen Umfeld untersuchen; für das 18. Jahrhundert ist die Planungsförmigkeit und die politische Gutachtenkultur in der Politik gut bekannt, sowohl für Projekte im innenpolitischen wie für die Situationsanalysen und Planungen im außenpolitischen Bereich.79 M e sich dies gerade um 1600 ausdifferenziert, wäre zu untersuchen. Einzelbeispiele solcher Gutachten sind bekannt, wenn sie einen berühmten Autor haben, etwa Christoph Besolds Gutachten von 1638 zur Frage, ob Protestanten im Reich eine Generalamnestie zu gewähren sei, das rein aus mächtepolitischer Situationsanalyse und -abwägung der Wirkungsweisen besteht, nicht aus reichsrechtiichen Erwägungen.80 Editionen solcher Gutachten sind rar, es hat in dieser Hinsicht für die wahrscheinlich für diese Ausdifferenzierang anzusetzenden Jahre von etwa 1S70 bis 1650 soweit ich weiß, nie ein spezifisches entsprechend thematisch orientiertes Editionsprojekt gegeben. Diesen Prozeß der Ausdifferenzierung einer bestimmten Tätigkeit der Prognose und eines bestimmten Gutachtentypus, des politischen Gutachtens, das die Ob- und Wie-Fragen funktional-abwägend behandelt und nicht in Rechtsfragen transformiert, sehe ich als den Kontext an, auf den die/orfu/w-Thematik Machiavellis als Metareflexion über die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Entscheidungsfindung paßte. Diese Form der Metareflexion wird aufgenommen etwa in einer Dissertation unter dem Vorsitz des Albert Curtius, gehalten an der Jesuitenuniversität Dillingen von 1628, in der der schwäbische Freiherr Georg Heinrich von Werdenstein „Antitheses politicae" gegen Machiavelli verteidigte: Diese geht nicht etwa am Text des Principe entlang; sie ist vielmehr systematisch als Lehre über das Ratgeben (Kap. 1), die Regierungsgegenstände (Kap. 2), das Verhältnis von Herrscher und Untertanen (Kap. 3) und der Untertanen untereinander (Kap. 4) aufgebaut. Schon diese Ordnung zeigt also, wie Politiktheo77

Zwierlein, Discorso und Lex Dei (wie Anm. 36), 25-197, für die Entwicklung in der ersten Hälfte und 295-548 für Prognose und Planung in der savoyischen Politik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 7 « Beispiele ebd. 694-709,742-745. 79 Vgl. etwa die Quellengrundlage von Lothar Schilling, Kaunitz und das renversement des alliances: Studien zur außenpolitischen Konzeption Wenzel Antons von Kaunitz. Berlin 1994, oder die Analyse- und Gutachtentechnik der napoleonischen Außenpolitik unter Talleyrand, vgl. Comel Zwierlein, Das Imperium im blinden Fleck des Empire: Die Zerstörung des Alten Reiches durch Napoleon 1806, in: Christine Roll/Matthias Schnettger (Hrsg.), Epochenjahr 1806? Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen. Mainz 2008, 61-98. 80 Klaus Neumaier, Ius publicum. Studien zur barocken Rechtsgelehrsamkeit an der Universität Ingolstadt. Berlin 1974, 210-215: Besold appliziert hier offenbar Gleichgewichtsund Neutralitätsdenken im Sinne der italienischen Analysetechnik, ebd. 212 Anm. 426.

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ríe auf dieser Ebene als eine Entscheidungsfindungswissenschaft auftritt und daß gerade hier der Bezug zu Machiavelli virulent ist. Im Hinblick auf das consilium, den Rat, geht es einerseits um die üblichen Fragen, wie ein Rat zusammengesetzt sein soll, ob es Hierarchie oder Pluralität geben müsse, wie das Verhältnis zum Herrscher sein müsse. Mehr als die Hälfte des Kapitels geht es aber auch um die Frage dessen, was ratbar ist, was ein ßovXeuTOv im aristotelischen Sinne ist, und was ein Urteil (jipoaipeatg) - und hier ñndet die Auseinandersetzung mit der fortuna-Problematik statt. Natürlich wird in der Dissertation die abhorrente Absolutsetzung der fortuna bei Machiavelli als der göttlichen Providenz entgegenstehend gewertet; auch wird eine Nähe zu astrologischen Prognosekonzeptionen vermutet, wozu Werdenstein Keplers Tabulae als den aktuellen, den antiken Autoren überlegenen Wissensstand heranzieht. Machiavellis Lösung aus P XXV, daß die 50% negativen Handlungsbeschränkungen der fortuna (dem fatum), die 50% des Machbaren aber der Tugend zuzuschreiben seien, interpretiert Werdenstein als abzulehnenden Piatonismus. 81 Bezeichnend scheint mir aber bei dieser ablehnenden Auseinandersetzung mit Machiavelli nicht die Ablehnung selbst, sondern das Faktum, daß eine solche Abhandlung überhaupt Politik von der Metareflexion über die Entscheidungsfindung her aufbaut, also von der kognitiv-erkenntnistheoretischen Seite her, nicht im Sinne einer Staats- oder Gesellschaftslehre. Diese Tendenz weg von einer normativen oder kiassifikatorischen Theorie hin zur Entscheidungsfindungswissenschaft, die auf die vielstimmigen Formen der Politiktheorie des 17. Jahrhunderts unterschiedlich stark wirkt, wurde durch den Machiavelli/Machiavellismus-Transfer stimuliert. 3. Methode und Disziplingrenzen Der fortuna-Topos führte schon in Richtung auf Machiavelli als MethodenAutor. Jenseits von Topoi- und Themensetzungen und jenseits der Durchsetzung der Methode des politischen .Dicorrierens' in der politischen Praxis ist zu fragen, wie stark sich auch eine Rezeption und Beschäftigung mit Machiavelli als einem solchen Politik-Methodiker nachweisen läßt. Bekannt ist hier die auch von Conring wieder zitierte Einlassung des nach England emigrierten Italieners Alberico Gentili im 9. Kapitel des dritten Buches von De legationibus, der Machiavellis Geschichtsauffassung und Geschichtsgebrauch 81

Beide Seiten müßten letztlich dem freien Willen zuzuschreiben sein. „Nam cum contniriorum ea natura sit, vt in cuius potestate sit vnum in eius etiam potestate sit alterum, & qui negare possit etiam affirmare posse debeat, & qui velie etiam nolle, planum est quibus artibus fortunam aliquis cudere potest: ijsdem etiam posse infortunium amoliri." Dies interessanter Weise nicht aus philosophischem Material abgeleitet, sondern aus Dig. 50, 17, 3 (Georg Heinrich von Werdenstein, Antitheses politicae [ . . . ] adversvs Nicolaum Machiavellvm [...], präs. Albertus Curtius. Dillingen 1628, 7 - 1 3 , Zit. auf S. 13).

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lobt und zur Ausbildung von Diplomaten empfiehlt: die grundsätzliche Gleichheit und Vergleichbarkeit der menschlichen Natur und der Zeiten erlaubt es, diese auf eine Analyse der Sitten und Staatsverhältnisse hin zu benutzen. Machiavelli „praestantissimus" habe dies nachahmenswert vorgeführt. Man müsse mit Machiavelli bei der Lektüre von Geschichte nicht „grammatisieren, sondern philosophieren" („ut in lectione historianim non grammatizet sed philosophetur"), man müsse seine „goldenen Beobachtungen" heranziehen.82 In der Machiavelli-Literatur wird nach diesem Diktum Gentiiis von 1589 meist direkt zu Schoppes Apologia und zu Coming gesprungen als zwei Vertretern einer offeneren Machiavelli-Lektüre. Es sei hier auf einen weiteren - freilich nicht so einflußreichen und bedeutsamen, aufgrund seiner im 16. und 17. Jahrhundert nahezu singulären Aussagen zu Machiavelli aber höchst bemerkenswerten - Autor eingegangen, Justus Reiffenberg, einen aus dem Nassauischen stammenden calvinistisehen Juristen, der seine Universitätslaufbahn in Herborn, Bremen, Heidelbeig, Rinteln und Franeker ganz im calvinistischen Milieu vollzog.83 Dieser Reiffenberg nun gab 1620 noch einmal die Stupanus-Übersetzung von Machiavellis Discorsi heraus, aber „mit feierlichen und ewiggültigen" Anmerkungen versehen und widmete sie dem Tomas Zamoyski, Sohn des bedeutenden polnischen Großkronkanzlers Jan (t 1605).84 .feierlich" und „ewiggültig" ist ein wenig hochtrabend formuliert, denn die gut 80 Anmerkungen sind sehr knapp gehalten und verweisen den Leser nur auf wenige weiterführende Autoren: Lipsius, Keckermann und den mit Reiffenberg befreundeten83 Michael Piccart. Aber die Einschätzung Machiavellis, die Reiffenberg in den Paratexten der Edition zum Ausdruck bringt, ist doch von Interesse und verdient hier ausfuhrlich wiedergegeben zu werden; denn sie zeigt den Möglichkeitsraum der Frühen Neuzeit auf, wie der Florentiner jenseits der üblichen Verdammung auch gelesen wurde. Reiffenberg führt Machiavelli als politischen Methodenautor, und dies natürlich im Hinblick auf seinen Geschichtsgebrauch, vor. Dabei bemüht er sich in komplizierter Weise, diese positive Einschätzung nicht als seine alleinige darzustellen, sondern die Einschätzung anderer flankierend 82

Alberico Gentiii, De legationibus libri tres [1594]. Ed. James Brown Scott. 2 Vols. Oxford/New York 1924, lib. III, cap. IX, Vol. 1,168f., vgl. Mario d'Addio, II pensiero politico di Gaspare Scioppio e il machiavellismo del Seicento. Mailand 1962, 343. 83 Kühlmann, Gelehrtenrepublik (wie Anm. 67), 366-371 zu Reiffenbergs deutschsprachigen Schriften zur Kritik der mangelnden Wertschätzung echter Bildung am Hofe. 84 Nicolai Machiavelli Florentini, xofi noXiTiKcbtaTOU, Discursus Ad Historiam Magni illius Livii, Libris III. expositi: Totius Reipublicae summam argute repraesentantes. Notis perpetuis & solennibus iLlustrati. Ed. Justus Reiffenberg. Marburg 1620. 85 'Vgl. den Hinweis in Justus Reiffenberg, Monita, Exempla, Consilia Politica, Pro Veteranis Ab Aula: Quae, Ad Uberrimum Maximumq[ue] Historicorum T. Livium, Recta, Vetera, Salutaria, paris eloquentia ac übertäte memorantem, copiosius, enucleatius edisseruntur. Frankfurt 1619, 110.

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vorauszuschicken. So zitiert er zunächst aus einem Brief eines anonymen Gelehrten an Philipp Camerarius, der offenbar über die Methode der historia magistra vitae nachdachte: „Als verdienstvoller und gewichtiger sehe ich an, daß man weiß, auf welche Weise [man...] aus dem kontinuierlichen Ablauf historischer Ereignisse zu lernen [hat], wie man aus der Betrachtung der Fehler anderer seine eigenen verbessern kann. Dies geschieht dann in der rechten Weise, wenn einer das, was die Griechen Jieptoraoig [.schwierige Umstände', .Notlage'] nennen, genau abwägt und im einzelnen darauf achtet, worin (im jeweiligen konkreten Fall) gut und vernünftig oder schlecht und unvernünftig gehandelt wurde: ferner darauf, welcher erfolgreiche Ausgang sich hätte einstellen können, wenn anders gehandelt worden wäre, und wenn er alle (damals angestellten) Planungen minutiös und sorgfältig durchmustert und durchforscht. Man könnte eine solche Betätigung .Beobachtungen', oder .Überlegungen' oder .Erwägungen' oder .Betrachtungen' oder .Erläuterungen' oder sonstwie in diesem Sinne nennen. Geleistet hat dies N. Machiavelli in italienischer Sprache anhand des Livius [.. I" 86

Machiavelli wird hier also im Hinblick auf seine spezifische Art der Geschichtsanalyse rezipiert und gelobt, ja ihm wird hier eine Einzel- und Ausnahmestellung zugeschrieben: eine solche Art der Analyse habe nur und erst Machiavelli eingeführt, sie sei zwar verbesserungswürdig, aber es sei die richtige Richtung. Interessant ist, wie der von Reiffenberg zitierte anonyme Briefautor zwischen verschiedenen Bezeichnungen für die Geschichtsanalyse-Betätigung schwankt: Man könne so etwas „animadversiones" oder „considerationes" oder „meditationes" oder „contemplationes" oder „commentationes" nennen87: die Gattungsfrage deutet an, daß es hierfür zum einen kein gängiges mittelalterlich-scholastisches Vorbild gab, daß sie zum anderen als etwas Neues empfunden wurde. Machiavellis .JDiscorsi" seien nun eben die Einlösung dieser Form. Die Genese des Begriff der .JDiscorsi" und wie der Begriff des „discorrere" bei Machiavelli selbst die kognitive Operation des Analysierens und der Regelableitung aus der Geschichte meint, wurden andernorts ausgeführt88: In einer Passage wie dieser finden wir hier auf der Ebene der lateinischen gelehrten Schriftlichkeit den Rezeptionsreflex auf diese Neuerung, die darin besteht, nicht einfach Tugendimitatio in den Vordergrund zu stellen, sondern Funktionsanalyse zu betreiben. Kritische Situationen, die „perista86

„Pulchrius majusque illud existimo, scire videlicet, quonam pacto id (ex viüo nempe alterius suum emendare) ex continua historiarum serie, fieri debeat. Quod quidem tum recte fit, quum quis eas, quas Graeci Jiepícrtaoug adpellant, accurate ponderat; singillatimque, in quo quid bene ac prudenter, quid male imprudenterque gestum sit, spectat: tum, si aliter factum fuisset, quodnam successisset eventum; consiliaque omnia minutatim diligenterque perscrutatur ac rimatur. Possetque haec lucubratio nuncupari animadversiones, vel considerationes, vel meditationes, sive contemplaüones, vel commentationes, vel aliud simile. Praestitit hoc Nicolaus Machiavellus Itálico sermone in primam Livii decadem tantum modo [...]"; Machiavelli, Discursus, ed. Reiffenberg (wie Anm. 85), 5 f. 87 „Discursus" ist dann auch in der neolateinischen Politik-Fachsprache eine Transferenz aus Machiavellis Italienisch: Zwierlein, Discorso und Lex Dei (wie Anm. 36), 39 f. 88 Ebd. 34-107.

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seis", sind herauszugreifen und die vergangenen Planungen, Ratschläge, Lösungen sind auf ihren Erfolg oder Mißerfolg hin zu befragen. Reiffenberg fügt dem sein eigenes Urteil an: „Meinen besonderen Beifall für diese Alt von Geschichtsbehandlung [haec historias tractandi ratio]! So wird vieles, was unter einem Mantel verhüllt überliefert ist, hell und klar erläutert. Auch dass Machiavelli nicht alles in dieser Weise geradlinig verfolgt hat, konzediere ich gerne und stimme zu. Aber die arkanen Heilmittel für die Staaten [|ivorripuiiÖT| tarnen Rerumpublicarum, ut alii existimant, unice habet. In illis occupatur, & decus reponit. In aliis quis sit Machiavellus, eruditissimi homines docuerunt, & ingemuerunt." Machiavelli, Discursus, ed. Reiffenberg (wie Anm. 85), 7. 90 Horaz, Ars poetica, 143 f.

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pien übe, werde bald zu einer großen Hoffnung für den Staat; er werde nicht mit Hand, Schwert und H e l m das Vaterland schützen, sondern als Diplomat oder Rat mit Hilfe seiner fein entwickelten Vorschläge und Gutachten d e m Fürsten helfen. 9 1 S o kommt Reiffenberg in seinen Monita politica unter B e z u g n a h m e auf Alberico Gentili zu e i n e m abschließenden Urteil über Machiavelli, indem er auch zugesteht, daß Machiavelli in etlichen seiner perfiden Ratschläge zu weit ging und s o auch Irrtümer verursacht hat. In seinen Anmerkungen zu den Discorsi vermerkt Reiffenberg dann auch durchaus kritisch-vorsichtig die „okkulten" Aspekte von Machiavellis „doctrina". 9 2 D i e s e M o m e n t e verdichten sich aber nie zu einer moralischen Entwertung, sondern stehen lediglich an d e m einen Ende der Skala, auf der sonst auch die Zurkenntnisnahme der „immanitas" als Mittel der Freiheitsverteidigung oder die Subtilität der K o m m e n 91

„Vniversalium theoria, quam tot Philosophorum commentis involutam elegantior literatura queritur, fumus est a luculentiorì igne. Ut enim fumus purum contrahitur in aerem, ignis scintillai alit excitatque: ita scientia universalium sola & puta, extra ingenii metani vaga solutaque in minuti as argutiarum resolvi tur, nec homini, quod hominis est, praestat. Singularium fabrica illa est, quam literanim exactiorum candidati commendatam, clarissimorum virorum suasu & applausu, unice sibi habeant. Quid multorum theoremata, axiomata, Canonas loquar, quid edisseram? In illis YXIJKUI summis labris degustantur; & huic quidemmorbo in praefatione Monitorum meorum Politicorum ad augustissimum Livium, imo in illis ipsis pharmacum quaesivi: Nunc uberius facio, illudque evinco, ex historiarum accurata & solida lectione Ideam quandam propriam observationum generalium conficiendam esse ita, ut historiae lectae particularia, occasionees [sie], circumstantiae, & quiequid hujus generis (exitus, & quae consecuta exitum intelligo) explicatissime subnotentur. O virum olim magnum, & oraculum suae Reipublicae, qui ad hoc monitum abit, & aetatem in Cyclicis, Systematibus & Politicis libellis, non exigit, non consumiti Jubeo te hoc non facere, mi aequissime Lector, & ad regias ac trabeatas arteis palam abire. Acutum hic videt solus (fere dixerim) Machiavellus, de quo quale judicium promendum est, in Monitis luculenter dixi. Its [sic] vos, ite (ingemino) & generalium cognitiuncula egregie vobis placete, ad Reipublicae spem quandam adolescite. Nos harum nostrarum literarum cupidissimis plausum damus, & in certam altamque spem assurgere eos jubemus. A consiliis, a legationibus magnis Principibus erunt, & non manu, non ense, non galea patriam assereni, sed explicatissimarum sententiarum & votorum adminiculo. Audi hoc mea juventus, & manum ad Livium, magnum illum historicorum, ad Tacitum, &c. vetustissimos istos, ad Cominaeum, aliosque e novitiorum classe admove. Historias evolve, sed vere, & cum industria judicii evolve. Legite gemmas, o mei, & purpureas violas, quae suaviter aliquando redolebunt in vestrum & patriae commodum, imo voluptatem. Rideo jucunde, cum de Politicis consiliis, viri nec usu, nec peritia aut studio harum rerum eminentes, judicant, imo ad comitia istorum consiliorum protrahuntur. Aliud certe est JCtum, aliud Criticum (ut novissimi hominem appellari gaudent) agere, aliud est politicum, historìcum, & antiquitatis candidato m esse. Quam frìgide Plautinum genus hominum consulat, experientia evidens, testis esse meruit. Non enim omnes Lipsii sunt, quem virum in historicis & politicis consiliis plurimum praestare valuisse, testor, & sine affectu praedico. Hinc allectus a magno Hispaniarum Rege in consilium, quod Status vocant." Machiavelli, Discursus, ed. Reiffenberg (wie Anm. 85), 8-10. Zu Machiavellis Differenz zwischen ,in universali' und ,in particolari' und der dahinterstehenden philosophischen Tradition vgl. Zwierlein, Discorso und Lex Dei (wie Anm. 36), 50-52. 92

Z.B. Machiavelli, Discursus, ed. Reiffenberg (wie Anm. 85), 180 zu D I, 41.

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tare angesiedelt ist. Jedenfalls aber müsse man ihn lesen und zu verstehen suchen, führt er in den Monito aus. Bei der Anspannung seines Geistes, den Pfad des Nutzens zu suchen, der für ihn so charakteristisch sei, sei Machiavelli zuweilen vom,.königlichen" Weg abgewichen: Reiffenberg führt also manchen Fehler Machiavellis auf die idée fixe der Konzentration auf die Nutzen-, Effekt- oder Funktionsseite von Politik zurück. Gleichwohl aber sei seine „durchdringende, feine Geistesschärfe und sein dem Fürsten treu ergebener Sinn" hervorzuheben. Reiffenberg kanzelt dann demgegenüber die politikwissenschaftliche Literatur seiner Zeit ab: Diese vermöchte weder zu begeistern, noch abzuschrecken. Mit Lipsius könne man sagen, daß diese Menschen eine große Menge von Worten und guten Ratschlägen bei großer Unwissenheit bereithalten. Jene aber, wie Machiavelli, die übermenschliche Orakelsprüche und scharfsinnige Sentenzen vorzutragen wissen, lobe und verehre er, sie seien zum Wohl des Menschengeschlechtes geboren. Wenn Machiavelli heutzutage erbärmlich von jedermann Schläge einstecken müsse, würde er, Reiffenberg, beherzigen, was ihm einst ein großer Freund geschrieben habe (wieder hüllt Reiffenberg die abschließende Würdigung in das Gewand eines Zitats eines befreundeten, anonym bleibenden Autors): „Den Nicolaus Machiavelli empfehle ich dir, greife zu diesem Unterpfand der Klugheit und Staatslehre und nutze es als Feile für deine Zwecke. Eine große Schar von .Politikern' wagt es, auf ihn, den Allerpolitischsten, den größten Lehrer der Politik, mit Worten einzudreschen. Nicht du, bei meinem Wort, der du zu den Heiligtümern der Klugheit dir die Bahn brechen willst! Abstruses, altes Zeug lehren sie, das zu verdauen nicht jedenbanns Sache ist. Soll ich es aussprechen oder schweigen? Sie zielen darauf ab, die Disziplin der .Politikwissenschaft' in nächtlichen Studierstunden auszuschmücken und hübsch zu machen und geben allgemeine Theorien - in Wirklichkeit aber banale Vorstellungen - in den Druck. Weniges ist für den von Nutzen, der nach außergewöhnlicher Klugheit trachtet Es sei erlaubt, unseren Italischen Stammesgenossen zu beglückwünschen, daß er durch deine oder meine Hand aus dem Dunkel der Sklaverei in das helle Licht der Freiheit geführt wurde oder noch zu führen ist. Denn wer sooft durch ungerechte Stimmen Schläge hat einstecken müssen, wird endlich einmal aufrichtiges Lob gewinnen." 93 93

„Occulta nempe vi, animi isti magnae stirpis [i. e. zu erziehende Adlige] aguntur, & fernette nobili ira aluntur; Igneo formandi ingenio, quale Liuiano Politico, Machiauello, cui dicam nostrates impingunt. Vindicem Albericum Gentilem Iurìsconsult. obtendo; qui ea de re libr. 3 de legat. capit. 9 ex Anglia conquestus esse cognoscitur. Neque tamen eius Consilia Punica, quae quidem multorum errorum semina esse solent, & ex vicinis Iberae potentiae regnis in Italiam dispersa haben testatur Scip. Amir. diss. polit. in Tacit. lib. 19. cap. 19. probo, lego, intelligo. Et scio eum nimis saepe deflexisse, & dum commodi illas semitas intente sequitur, aberrasse a regia hac via; Non tamen contemno ingenium eius acre, subtile, Principi suo fìdele & deuotum. Qui nuper aut here xà JIOXITIKÒ curiosius perscripserunt, non movent aut terrent. Lipsius ille noster in Paedagogos Politicos olim illud Cleobuli vetus dixit. 'A|xouaia TÒ JtXiov pégog èv ßgotolai Xóyojv t e jtXfjöog: àXk' ó KaiQÒ? ÒQKéoei [Diog. Laert. 1, 91]: Inscitia in plerisque & sermonum, praeceptiuncularum multitudo. Illos venerar, laudo, qui voces ex oraculo supra humanas edisserunt, & sententias acres & ita me salus amet, ad salutem natas generis humanici. Viuant Rerump. bono, & inter eos hetruriae Doctor qui miser a qua non hodie manu vapulat? Ego quid magnus

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Reiffenbergs Edition und die begleitenden Monito sind also ein Akt der Befreiung, des Ans-Licht-Führens des verkannten Machiavellis: Machiavelli „ho politikotatos", der „politischste aller Autoren". Diese in der einschlägigen Machiavelli-Literatur bislang nirgends erwähnte singuläre Hochschätzung des Florentiners geht bei Reiffenberg sehr weit, ja deutlich über die des späteren Coming hinaus, der Gestus der Ehrenrettung hat fast schon etwas Aufklärerisches, auch wenn wir uns hier in der Zeit des Ausbruchs des Dreißigjährigen Kriegs befinden, 1619/20. Vierzig Jahre später, 1668, als der große Conring Machiavelli teilsalviert hatte94, konnte man dann in einer universitären Disputation in Jena das Gute und Schlechte bei Machiavelli auseinanderhalten und methodisch mit Grotius95 an Machiavelli gerade seine Reinheit in der Politiklehre loben, während Bodin Recht und Politik in unzulänglicher Weise vermischt habe. So wie Aristoteles nach der empirischen Sammlung der historischen Verfassungen die „causas universales" herausdestilliert und in seinen Büchern zur Politik zusammengefaßt habe, so gehe auch Machiavelli vor, der die „universales agendi regulas" aus der Geschichte abziehe.96 In die gleiche Zeit wie Reiffenbergs Texte ist ja auch Schoppes handschriftliche Verteidigung Machiavellis zu datieren, zumindest wenn wir Schoppes Gegner Wagnereck folgen, der in seinen Vindiciae von 1636 sich unter Nennung des Titels der Schrift erinnert, daß Schoppe vor zwanzig Jahren, also schon um 1615, in Ingolstadt diese Verteidigung Machiavellis geführt habe.97 Ich will die Schoppe-Debatte, die sich an dessen Paedia politices von 1623 entzündete, hier nicht wiederholen, da sie schon hervorragend von Mario d'Addio unter Rückgriff auf die Handschriften der Apologia Schoppes rekonstruiert wurde.98 Für unseren Zusammenhang ist daran nur interessant, daß hier die Frage der Disziplingrenzen im Zentrum stand: Was bei Reiffenberg meus amicus olim ad me perscripserit, in hanc sententiam pianissime noui: Nicolaum Machiauellum commendo tibi, tolle illud prudentiae, illud ciuilis doctrinae pignus, & limam vsui tuo adhibe. Magna Politicorum manus audet illum politikètaton verbis incessere; Non tu, meo verbo, qui ad sacra prudentiae iter adfectas. Abstrusa, vetera, docent, quae digerere non est cuiusuis. Eloquar an sileam? disciplinam Politicarli vigiliis adornatam expolitamque volunt, & generales frecoQÌag, notiones vulgares imprimunt. Pauca vsui illius qui prudentiae singulari litat. Liceat Italo nostro gratulali, tua an nostra manu e seruitutis tenebris in libertatis lucem misso, aut mittendo. Iniquis enim suffragiis qui toties vapulauit, aliquando candidae famae calcem premet." Reiffenberg, Monita (wie Anm. 85), 45 f. 94 Dazu der Beitrag von Rosanna Schifo in diesem Band. 95 Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres. Ed. B. J. A. De Kanter-Van Hettinga Tromp/R. Feenstra/C. E. Persenaire/E. Arps. Aalen 1993, Prol. § 40,46. 96 Philipp Müller (präs.), Bene et maledicta in Principis Nicolai Machiavelli Fiorentini Cap. I, II, III observata, declarata [...] resp. Boethius Petrus Boyen. Jena 1668, A4r-v. 97 Heinrich Wagnereckh, Vindiciae politicae adversvs psevdopoliticos, qui Gaspare Sdoppio in Paedia politices Suppetias Pseudologicas ferente, finem et media verae politices corrumpunt [...]. Dillingen 1636, fol. (8 V ). 98 D'Addio, Il pensiero politico (wie Anm. 82), 133-144.

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noch implizit bleibt, indem Machiavelli als „einziger" der „politischste" ist, im Gegensatz zu den vermengt-politisch Schreibenden, wird in der SchoppeKontroverse ausbuchstabiert: Während die wahre Politik eigentlich die „wahre Kunst des Herrschens und Gehorchens nach den Regeln der legend ist", sei laut Wagnereck für Machiavelli und die „Pseudopolitici" die ,JPseudopolitica" die „falsche Kunst des Beherrschens und Gehorchens gemäß der Regel der Eitelkeit und der hochmütigen Gewaltherrschaft". Schoppe habe für eine klare Grenze der Disziplinen Ethik, Logik und Politik optiert. Wagnereck behauptet, daß er damit die Wahrheit als gemeinsames Ziel vernachlässige. Dasselbe, das man in der Logik höre, gelte im Hinblick auf diese Zielvorstellung auch in der Ethik. Daß also über „turpe und honestum" und über den Tyrannen als Tyrannen nur in der Ethik, nicht in der Politik zu handeln sei, sei falsch." Hundert Jahre nach Machiavelli wird hier also in seinem Namen eine explizite Diskussion über die Wissenschaftsgrenzen geführt Aber diese Disziplingrenzen sind andere als die, die Machiavelli im Auge hatte, als er im Prooem der Discorsi seine spezielle imitazione der Alten für das politische Feld neben die Wissenschaften der Jurisprudenz und der Medizin stellte: Machiavelli dachte nicht in den Disziplinkategorien der aristotelisch-scholastischen Philosophie, er dachte nicht im universitär-akademischen Rahmen. Daß er hier so quersteht, ist meines Erachtens auf die eingangs ausgeführte Unterschiedlichkeit der Ausgangskulturen und den nun folgenden, konfliktiven Prozeß von Kulturtransfer und Verschränkung zurückzuführen. Hinter dem Streit über die Disziplingrenzen, dahinter, daß er für die einen im 17. Jahrhundert „ho politikotatos", für die anderen der „pseudopoliticus" ist, stehen die kognitiven Dissonanzen, die durch die Verschränkung und Kreuzung der mitteleuropäischen, universitären Gelehrtenkultur mit der italienischen zustande kommen. Es scheinen aber gerade die Krisenzeiten zu Beginn und während des Dreißigjährigen Krieges zu sein, in denen Machiavelli als Chiffre virulent wird, wohl, weil in der Wahrnehmung der Zeitgenossen jenseits des vorher gegebenen normativen Gefüges der Reichs- und Gesellschaftsordnung nun gleichsam in deren Rissen aber auch auf den hinzukommenden Ebenen neuer politischer, diplomatischer, inter-territorialer Kommunikation und Kalkulierung das neue politische Feld sichtbar wurde, für das Machiavelli geschrieben hatte. Ich möchte daher zum Schluß auf den Machiavellismus-Begriff zurückkommen: Schon bei seinem ersten Auftreten bei Beurer wird der Machiavellismus der ethischen, echten Politik Piatons gegenübergestellt, .Machiavellisieren' und ,Dyonisiieren' ist explizit ein und dasselbe; ähnlich zeigt Grimmelshausen im Zweiköpfigen Ratio Status rein anhand biblischer Quellen, daß man die machiavellische Staatsräson auch bei den Hebräern bei Saul hätte fin99

Wagnereckh, Vindiciae politicae (wie Anm. 97), 111 f., 127-129, 211-214 und passim.

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den können 100 , lange vor Machiavelli. Schließlich macht Christian Hoffmann aus Breslau in Jenaer Disputationen in den 1660em dies zum Thema, indem er die Machiavellis vor Machiavelli, etwa Lysander bei den Spartanern, in der Geschichte aufspürt. 101 Mit dem Begriff des Machiavellismus scheint also stets verbunden zu sein, daß man die Überzeitlichkeit desselben decouvriert, schlicht die Amoralität, die Bösartigkeit, alles, was gegen eine gute Ordnung steht, zu seinem Inhalt erklärt. Würde man sich also einzig diesen seit dem 16. Jahrhundert gängigen, decouvrierenden überzeitlichen Machiavellismus-Begriff zu eigen machen, könnte man nicht erklären, warum ein solcher decouvrierender Gestus überhaupt einen Reiz hatte: Dies kann eigentlich nur daran liegen, daß gerade gegenläufig mit dem Namen Machiavellis neuzeitliche Spezifizität verbunden ist. Diese neuzeitliche Spezifizität muß man dann aber, und das ist der metasprachliche Machiavellismus-Begriff, bestimmen. Dies habe ich getan, indem ich versucht habe, die differenten politischen Kulturen Italiens und Mitteleuropas zu charakterisieren und zu zeigen, wie das, was als Entscheidungsfindungs-Methodisierung in Italien in gewisser Weise tatsächlich auf eine epistemische „Lücke", auf einen Bedarf antwortete, in Deutschland Irritation ausüben mußte: Drei eng verwandte Bereiche schienen mir als Füllung für einen solchen Machiavellismus-Begriff sinnvoll: die Herausforderung an Politik, sich als empirisch operierende Entscheidungsfindungswissenschaft zu bewähren, die hiermit verbundenen Topoi- und Themensetzungen sowie in allgemeiner Hinsicht die Herausforderung der spezifischen GeschichtsgebrauchMethode und die zum universitären Diziplinenbegriff querstehende Sphärentrennung zwischen Politik und anderen Bereichen. An einer für die Conringsche Teilsalvierung Machiavellis offenen Universität wie Jena konnte sich das dann in den 1660ern in einer Logik freier Wahl zwischen den Ordnungen niederschlagen: „Se noi vogliam parlar secondo'l fatto. Direm la verità con Macchiavello; Mà s'al dover lo sguardo fissiam ratto, Il senso d'Aristotile è più bello Wenn wir gemäß der Tatsachen reden wollen, sagen wir die Wahrheit mit Machiavelli.

100

Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen, Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status, Hrsg. v. Rolf Tarot. Tübingen 1968, dazu Horst Nieder, Grimmelshausens Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status. .Fingerübung eines im discurierenden Stil Befangenen' oder simplicianische Statire?, in: Simpliciana 13, 1991, 59-104. 101 Christian Hoffmann, Machiavellus ante Machiavellum, ex historia Lacedaemoniorum productus, resp. Karl Maximilian de Hopffstockh. Jena 1668; ders., Machiavellus sine Machiavellus, ex historia Sinensium productus, resp. Johann Heinrich Neumann. Jena 1668 zum Typus dieser Argumentation vgl. den Beitrag von Martin Mulsow in diesem Band.

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Wenn wir hingegen unseren Blick fest auf die Pflicht richten, Ist das Sinngebäude des Aristoteles schöner."102

So dichtete auf Italienisch der Holsteiner Friedrich Christian Brüggemann ein Gratulationsgedicht an Boethius Petrus Boyen, der Gutes und Schlechtes bei Machiavelli trennen wollte: Wenn im eingangs zitierten Alamodischen Politicus Machiavellis Principe noch in der letzten Kiste in der hintersten Kammer der Regierungsinstrumente satirisch versteckt war, so drückt sich hier fast eine beliebige Wahlfreiheit aus zwischen Machiavelli, dem Politischsten, und Machiavelli, dem pseudopoliticus.

102

Müller (präs.), Bene et maledicta (wie Anm. 96), fol. E3R.

Calvinismus, „Machiavellismus" und die Politica von Althusius* Von

Francesco Ingravalle und Corrado Malandrino Die Gegenüberstellung des deutschen politischen und insbesondere des althusianischen Calvinismus mit dem durch den französischen Calvinismus geprägten Bild von Machiavellis Lehre und mit der ursprünglichen Lehre des fiorentini sehen Sekretärs könnte als ein Thema von begrenztem Interesse erscheinen, würde man sich ausschließlich auf die expliziten Zitate aus dem Werk Machiavellis in der Politica methodice digesta des Johannes Althusius beziehen.1 Es geht nicht nur darum, die Analogie zwischen der realistischen Anthropologie von Althusius und der Anthropologie Machiavellis herauszustellen - wie dies Carl Joachim Friedrich getan hat.2 Vielmehr geht es darum, das Bild Machiavellis im Kontext des deutschen Calvinismus3, dem die Politica von Althusius angehört, zu rekonstruieren und dabei die historisch-politischen Unterschiede zu beachten, die zwischen diesem und dem französischen Calvinismus bestehen. In diesem französischen Calvinismus hat sich das Konzept des „Machiavellismus" verbreitet.4 Erst nach der Rekonstruktion der * Übersetzung aus dem Italienischen von Verena Schwägerl und Comel Zwierlein. 1 Johannes Althusius, Polìtica methodice digesta et exemplis sacris et profanis illustrata. 3. Aufl. Heiborn 1614, Faksimiledruck Meisenheim am Glan 1961. Vgl. auch die kritische und kommentierte, einige Passagen aber aussparende Edition: Johannes Althusius, Politica methodice digesta. Reprinted from the third edition of 1614; augmented by the preface of the first edition of 1603 and by 21 hitherto unpublished letters of the author. Ed. Carl J. Friedrich. Cambridge, Mass. 1932. 2 Carl J. Friedrich, Introduction, in: Althusius, Politica (wie Anm. 1), XIII-XCIX, bes. LVIII-LX, LXXI, LXXVI-LXXVÜ; vgl. auch Matthias Schmoeckel, Zwischen Idealstaat und Realpolitik: Machiavellismus in Ostfriesland um 1600. Des Ostfriesischen Cantzelars Thomae Frantzij Getreuwer Rath, in: Frederick S. Carney/Heinz Schilling/Dieter Wydukkel (Hrsg)., Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Berlin 2004,463525, der 503-512, 514 betont, daS Althusius und der .machiavellistische' Opponent Frantzius gar nicht so weit auseinander lagen. 3 Zuletzt im Überblick zu den Autoren der deutschen calvinistischen Jurisprudenz, die zumeist identisch mit den Politica-Autoreti sind Christoph Strohm, Calvinismus und Recht. Tübingen 2008. 4 Vgl. neben den Arbeiten von Anna Maria Battista, La penetrazione del Machiavelli in Francia (1960), Pasquier e Machiavelli (1961), Sull'antimachiavellismo francese del secolo XVI (1962), Direzioni di ricerca per una storia di Machiavelli in Francia (1966), erschienen im Sammelband: Anna M. Battista, Politica e morale nella Francia dell'età moderna. Ed. Anna Maria Lazzarino del Grosso. Genua 1998, 27-107, und dem Sonderband der Zeitschrift II Pensiero Politico 2/3, 1969, der die Atti del Convegno di Perugia (30.9.1.10. 1969) zu „Machiavellismo e antimachiavellici nel Cinquecento" umfaßt, insbeson-

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Differenz zwischen beiden kulturellen Kontexten können die expliziten Machiavelli-Zitate wie auch die Anspielungen von Althusius interpretiert werden. Von einem historisch-politischen Gesichtspunkt aus betrachtet läßt sich die Geburtsstunde des calvinistischen Antimachiavellismus in Frankreich auf kurz nach dem Blutbad der Bartholomäusnacht datieren. Von Beginn an ist er auf die Verteidigung der als traditionell angesehenen Regierungsformen Frankreichs ausgerichtet. Der Prozeß, der mit Ludwig XIV. zum Widerruf des droit de remontrance und zum grundlegenden Widerruf des Edikts von Nantes führt, konnte von dieser Widerstandsbewegung nicht aufgehalten werden. Ganz anders verhält es sich hingegen im Fall des deutschen Calvinismus, nicht nur bereits aufgrund der spezifischen theoretischen Inhalte, sondern vielmehr aus praktischen Gründen. Der Calvinismus in der Pfalz beispielsweise „hat [...] nicht nur die äußeren Schicksale, sondern ebenso auch die innere Struktur des pfälzischen Territorialstaats geprägt".5 Die Herrscher, die sich dem Calvinismus anschließen, verstehen ihre Zustimmung als „Fortführung und Vollendung der (ersten) lutherischen Reformation: von der „reformatio doctrinae" zur „reformatio vitae".6 Und die „reformatio vitae" bringt im Inneren des Reichs eine aktivere Religionspolitik gegenüber der Entwicklung der Gegenreformation des Katholizismus mit sich7: Daraus resultierte ein Erstarken des Glaubens und der Herrschaft in Form eines, wie Schaab festgestellt hat, entschiedenen Landespatriotismus überall dort, wo sich der Calvinismus auf der Ebene der politischen Machtsteuerung durchsetzt. Innerhalb bestimmter territorialer Grenzen wird der deutsche Calvinismus sozusagen zur „Regierungskonfession" und findet sich praktischen Problemen ausgesetzt, die denen der anderen beiden „Regierungskonfessionen", des Luthertums und des Katholizismus, entsprechen. Gerade aus der mit diesen Eigenheiten verbundenen praktischen Erfahrung scheint die Beschäftigung mit Machiavelli zu entspringen, teilweise in Analogie zu dem in Frankreich Geschehenen, teilweise auf merklich andere Art und dere den Beitrag von Salvo Maslellone, Aspetti deU'antimachiavellismo in Francia: Gentillet e Languet, in: ebd. 376-415, sowie Saffo Testoni Binetti, II pensiero politico ugonotto. Dallo studio della storia all'idea di contratto (1572-1579). Florenz 2002, insbes. 215-234. 5 Meinrad Schaab, Obrigkeitlicher Calvinismus, in: ders. (Hrsg.), Territorialstaat und Calvinismus. Stuttgart 1993, 34-86, hier 86. 6 Georg Schmidt, Die zweite Reformation, in: Schaab (Hrsg.), Territorialstaat (wie Anm. 5), 97-136, hier 118; Harm Klueting, Problems of the Term and Concept .Second Reformation1: Memories of a 1980s Debate, in: John M. Headley/Hans J. Hillerbrand/Anthony J. Papalas (Eds.), Confessionalization in Europe. 1555-1700. Essays in Honor and Memory of Bodo Nischan. Aldershot 2004, 37—49. 7 Hierzu u.a. Andreas Edel. Kaiser und Kurpfalz. Eine Studie zu den Grundelementen politischen Handelns bei Maximilian II. (1564-1576). Göttingen 1997.

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Weise. Während die politische Vision ,à la Machiavelli' für den französischen Calvinismus die Perversion der gerechten und heiligen Regierung repräsentiert, stellt sich die Problematik den deutschen Calvinisten nicht so klar und eindeutig dar. Die ersten Übersetzer des Principe und der Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio ins Lateinische sind Calvinisten, auch ihr DnickerVerleger ist Calvinist: italienische Exulanten in Basel. Ihre Arbeiten sind die geläufigen lateinischen Übersetzungen in den Gebieten des Reichs, die wahrscheinlich auch Althusius zur Verfügung standen. Die Beziehung zu erklären, die zwischen der Politica des Johannes Althusius und dem Werk Niccolò Machiavellis besteht, bringt drei Probleme mit sich: 1.ein historisch-philologisches Problem: Welches sind die Charakteristika dieser von Althusius vermutlich für die Politica verwendeten lateinischen Übersetzungen? 2. ein Problem historìsch-hermeneutìscher Natur: Welche Charakteristika sind der durch den deutschen Calvinismus des 16. Jahrhunderts erfolgten Rezeption der Werke Machiavellis zu eigen? 3. ein Problem den Text von Althusius betreffend: In welchen Kontexten erscheinen Zitate aus Werken Machiavellis, und aus welchen Werken stammen diese? Nur in verkürzter Form wird in diesem Beitrag die Problematik des Wesens des „Machiavellismus" aufgegriffen. Letzterer ist ein polemisches Konzept, ein Vorwurf, oder, wie Foucault sagen würde, ein „Terminus der Exklusion"8, dessen beschreibender Wert ziemlich gering ist, da er sich in der Kodifizierung der späteren Anfeindungen der Gedanken des florentinischen Sekretärs durch die Konfessionen, seitens des französischen Calvinismus der Bartholomäusnacht und in der katholischen Welt spätestens mit der Aufnahme der Werke Machiavellis in den Index Librorum Prohibitorum 1559 erschöpft.

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Michel Foucault, L'ordine del discorso. Übers, v. Alessandro Fontana. Turin 1971. Vgl. auch Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders.. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, 211-259. Vgl. für einige Definitionsversuche Karl Heyer, Der Machiavellismus. Berlin 1918 (zugleich Diss. phil. München 1917), 10-15; Erwin Faul, Der moderne Machiavellismus. Köln/Berlin 1961, Kap. II; von Interesse ist trotz ihres Alters die kurze Abhandlung von Carl B. Hundeshagen, Über den Einfluß des Calvinismus auf die Ideen vom Staat und staatsbürgerlicher Freiheit. Bern 1842,42: „Wie Leonardo Aretino und Pietro Bembo, so repräsentiert Machiavelli den Unglauben an die Sittlichkeit innerhalb des Staates" - der .Machiavellismus' wird nach Hundeshagen wirkungsvoll auf das Motto „gerecht ist, was zu meinem Zwecke fuhrt" verdichtet. Für eine Sammlung der Zeugnisse des Machiavellismus und Antimachiavellismus vgl. Oreste Tommasini, La vita e gli scritti di Niccolö Machiavelli nella loro relazione col Machiavellismo. 2 in 3 Vols. Turin/Rom/Florenz 1883-1911, Ndr. Bologna 1994-2003.

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I. Der lateinische Machiavelli Das einzige Werk Machiavellis, auf das in der Politica methodice digesta (dritte Ausgabe, 1614) Bezug genommen wird, sind die Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio, die nie ad lineam zitiert werden. Die einzige verfügbare lateinische Ausgabe dieses Werks war damals die Übersetzung von Johannes Nicolaus Stupanus/Giovanni Stupano.9 Es handelt sich um eine auch in den sowohl für die reformatorische als auch für die katholische religiöse Empfindlichkeit kritischsten Punkten elegante und getreue Übersetzung. Es ist jedoch angebracht, sich auch mit der lateinischen Übersetzung des Principe von 1580, herausgegeben von Silvestro Tegli, zu beschäftigen, die Althusius gekannt haben könnte, da diese Übersetzung von den Drucker-Verlegern stets in einem Band zusammen mit den monarchomachischen Schriften Vindiciae contra tyrannos des Pseudonyms Stephanus Junius Brutus (evtl. Philippe Duplessis-Mornay) und mit dem anonym erschienenen, von Théodore de Bèze stammenden Traktat De jure magistratuum in subditos, et officio subditorum erga magistratos herausgegeben worden war, welche er beide kannte und ausführlich zitierte. Es handelt sich um die in Basel von Pietro Pema herausgegebene Ausgabe 10 , deren Aufbau hier wiedergegeben sei, um zu zeigen, wie die Zusammenbindung der Princeps-Ausgabe mit den jeweiligen antimachiavellistischen .Gegengiften' die typische Diffusionsform von Machiavellis Werk im deutschen Sprachraum war: Seiten 1-148: Seiten 149f.: Seiten 151-165: Seiten 166-201:

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lateinische Übersetzung des Principe Agrippinae et Mecoenatis Orationum Argumentum, Caelio Secundo Curione Autore Agrippinae Caes. Augustum Oratio, contra Monarchiam. ex Dione lib. LII, Caelio Secundo Curione interprete Mecoenatis Oratio pro Monarchia, Ad Caes. Augustum, ex Dionis lib. LH Caelio Secundo Curione interprete

Nicolai Machiavelli [sic] Florentini Disputationum de Republica quas discursus nuncupavit libri III ex Ital. Latine facti, Mompelgartum, per Iacobum Foilletum, 1588, wiederaufgenommen von den folgenden Ausgaben: Mompelgartum, per Iacobum Foilletum, 1591; Mompelgartum, per Iacobum Foilletum, 1599; Urseliis, Cornelius Sutorius, 1599; Francofurtum, sumptibus Lazari Tzetzneri, 1608. Wir übergehen hier die Ausgaben von 1619 und 1643, da sie chronologisch nach der Abfassung der Politica von Althusius von 1614 liegen. 10 Nicolai Machiavelli, Princeps: Ex Sylvestri Telii Fvlginatis Tradvctione diligenter emendata. Adjecta sunt ejusdem argumenti, Aliorum quorundam contra Machiauellum scripta de potestate & officio Principum, & contra tyrannos. Basileae, apud Petnim Pemam 1580. Zu den monarchomachischen Texten vgl. abgesehen von Testoni Binetti, Il pensiero (wie Anm. 4), zuletzt Paul-Alexis Mellet (Ed.), ,Et de sa bouche sortait un glaive' - Les monarchomaques au XVIème siècle. Genf 2006, und ders., Les Traités Monarchomaques. Confusion des temps, résistance armée et monarchie parfaite. Genf 2007, mit der älteren Literatur.

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[Neue Paginierung] Seiten 15-229: Vindiciae contra "tyrannos Seiten 231-331 : De jure magistratuum in subditos, et officio subditorum erga magistratus.

Diese Ausgabe wurde 1589, 1595, 1600 und 1608 wiederaufgelegt. Machiavellis Text wird nicht nur durch die Präsenz der beiden Auszüge von Dion Cassius pro und contra die monarchia aufgewogen, sondern vor allem durch den Text von Stephanus Junius Brutus und De jure magistratuum. Dieser Ausgabe ging eine andere, ebenfalls von Tegli gestaltete, noch sehr viele Fehler und Ungenauigkeiten beinhaltende Ausgabe von 1560 voraus11, die nur die lateinische Übersetzung des Principe umfaßte und bis zur Übersetzung von Hermann Conring12 die einzige im deutschsprachigen Raum im Umlauf befindliche Ubersetzung war. 1564 war die lateinische Übersetzung des ersten Buches der Istorie Fiorentine erschienen, ohne daß der Name Machiavellis auf dem Titelblatt erschien.13 Erst 1610 sollte eine vollständige Übersetzung erscheinen.14 Welche Beobachtungen lassen sich anhand dieser knappen Darstellung der lateinischen Übersetzungen der wichtigsten Werke Machiavellis machen? Zunächst einmal die Beobachtung, daß sein Werk strikt in die Bereiche der politischen Theorie, deren Lektüre nach zeitgenössischer Wahrnehmung besondere Vorsicht erfordert, wie die Beigaben der Ausgabe der lateinischen Übersetzung des Principe von 1580 zeigen, und der Geschichtsschreibung getrennt wird, die, wenn hier auch ebenfalls Vorsicht vonnöten ist, weit unproblemati11 Nicolai Machiavelli, Reipublicae Florentinae a Secreös, ad Laurentium Medicem, De Principe libellus ex Italico in latinum sennonem conversus per Sylvestrum Telium Fulginatem. Basileae apud Petrum Pernam MDLX. 12 Nicolai Machiavelli, Princeps aliaque Nonnulla ex Italico Latine nunc demum partim versa [...], Helmestadii, Typis atque impensis Henningi Mulleri, Accademiae Iuliae Typographi, 1660, auch die Vita di Castruccio Castracani e II modo che tenne il Duca Valentino per ammazar Vitellozo, Oliverotto da Fermo, il Signor Pagolo et il Duca di Gravina Orsini in Senigaglia umfassend und begleitet von antimachiavellanischen excerpta aus De nobilitate Christiana von Hieronymus Osorius. Vgl. dazu Michael Stolleis, Machiavellismus und Staatsräson. Ein Beitrag zu Comings politischem Denken, in: ders. (Hrsg.), Hermann Coming (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk. (Historische Forschungen, Bd. 23.) Berlin 1983,173-199, und Rosanna Schito in diesem Band. 13 [Niccolò Machiavelli,] De migrationibus populorum septentrionalium, post devictos a Mario Cimbros; item De ruina Imperii Romani liber. Hrsg. v. Hieronymus Turler. Frankfurt: Egenolph 1564, Ndr. 1601 Hanoviae, apud Guilielmum Antonium. 14 Historiae Florentinae Nicolai Machiavelli, civis et Secretarli fiorentini libri octo [...], Argentorati, impensis Lazari Tzetzneri Bibliop., MDCX. - Für einen umfassenden Überblick über die nicht nur lateinischen Ausgaben der Werke Machiavellis vgl. Adolph Gerber, Niccolò Machiavelli, die Handschriften, Ausgaben und Übersetzungen seiner Werke im 16. und 17. Jahrhundert; mit 147 Faksimiles und zahlreichen Auszügen; eine kritischbibliographische Übersetzung. 4 Bde. Gotha/München 1911-1913; der dritte, 1913 erschienene Band ist den Übersetzungen gewidmet. Nützliche Beobachtungen finden sich in Luca D'Ascia, Machiavelli e i suoi interpreti. Bologna 2006, 75-80.

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scher nutzbar erschien. Eine zweite Beobachtung, die schon Gerber gemacht hat, ist, daß die lateinischen Übersetzungen der Werke Machiavellis im deutschen Sprachraum herausgegeben wurden; eine Beobachtung, die schon Prezzolini präzisierte, indem er anführte, daß die Verbreitung der lateinischen Übersetzungen Machiavellis in erster Linie von „Städten, die zwischen der deutsch-schweizerischen und der französischen Welt inmitten des protestantisch-katholischen Gebiets jener Zeit liegen" ausging 15 : Basel, Montbéliard, Ursel, Frankfürt, der deutschsprachige Südwesten also. Während die von Stupanus angefertigte Übersetzung der Discorsi den Text größtenteils getreu wiedergibt, hält die Übersetzung des Prìncipe von Tegli einige Überraschungen bereit: Tegli läßt die heikelsten Passagen in seiner Übersetzung aus. Zwei Beispiele: II Principe, Kap. XVIII 16 : „Wie löblich es für einen Fürsten ist, sein Wort zu halten und aufrichtig statt hinterlistig zu sein, versteht ein jeder; gleichwohl zeigt die Erfahrung unserer Tage, dass diejenigen Fürsten Großes vollbracht haben, die auf ihr gegebenes Wort wenig Wert gelegt und sich darauf verstanden haben, mit List die Menschen zu hintergehen; und schließlich haben sie sich gegen diejenigen durchgesetzt, welche auf die Redlichkeit gebaut hatten." Der kursiv gesetzte Teil wurde von Tegli nicht übersetzt. 17 Die Auslassung findet sich auch in der Neuausgabe von 1599 und in den weiteren Auflagen der Ausgabe von 1580. II Principe, Kap. XVIII: „Für einen Fürsten ist es also nicht erforderlich, alle obengenannten guten Eigenschaften wirklich zu besitzen, wohl aber den Anschein zu erwecken, sie zu besitzen. Ich wage gar zu behaupten, daß sie schädlich sind, wenn man sie besitzt und ihnen stets treu bleibt; daß sie aber nützlich sind, wenn man sie nur zu besitzen scheint; so mußt du milde, treu, menschlich, aufrichtig sowie fromm scheinen und es auch sein; aber du mußt geistig darauf vorbereitet sein, dies alles, sobald man es nicht mehr sein darf, in sein Gegenteil verkehren zu können." 18 Tegli übersetzt: „Proinde, non est quod princeps eas omnes superius descriptas virtutes ostentet: sunt enim adversus tales dissimulandae saepe numero, callideque tegendae. Quocirca ad omnem ventorum et fortunae conversionem versatile ingenium princeps habeat, est necesse et (ut iam dictum est) ab eo, quod bonum est, ne discedat: atsi necessitas surgeat, edoctum sit et malum." Die viereinhalb Zeilen, mit denen das Kap. XVIII schließt, wurden weggelassen. 19 15

Vgl. Giuseppe Prezzoline Machiavelli anticristo. Rom 1954, 309. 16 Niccolò Machiavelli, Il Principe e i Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio. Ed. Sergio Bertelli. (Biblioteca di classici italiani. Voi. 3.) Mailand 1960. Übersetzung nach Philipp Rippel, vgl. Niccolò Machiavelli, Il Principe. Hrsg. v. Philipp Rippel. Stuttgart 1986. 135. 17 Machiavelli, Princeps (1580) (wie Anm. 10), 122. 18 Machiavelli, Il Principe (wie Anm. 16), 139. 19 Für eine detaillierte Diskussion der Übersetzung Teglis (anhand der Principe Ausgabe

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Ein ähnlicher Umgang mit dem Text kann bezüglich der Discorsi nicht festgestellt werden, in denen Behauptungen wie diese durchaus nicht fehlen, aber durch die Einbettung in den Gang der Narration weniger schockierend wirken. Silvestro Tegli, Giovanni Stupano, Pietro Perna20: dies sind in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Förderer des „lateinischen Machiavelli". Wir könnten aufgrund der Einheitlichkeit ihrer herausgeberischen Absicht bezüglich des Werks Machiavellis vom „Basler Zirkel" sprechen. Welchen Charakter hat die herausgeberische Politik des „Basler Zirkels" bezüglich des Werks Machiavellis? Es geht ihnen offensichtlich im wesentlichen darum, die Figur Machiavellis vom schlechten Ruf, der ihm insbesondere in der reformierten calvinistischen deutschsprachigen Welt, der sie angehören, anhaftet, zu befreien. Mit Sicherheit aber verstehen sie sich nicht als Propagatoren der Politikkonzeption Machiavellis. Beim derzeitigen Wissensstand ist es durchaus nicht auszuschließen, daß Althusius, der 1386 gerade in Basel promovierte, nicht teilweise vom „Basler Zirkel" beeinflußt wurde.21 1. Zwischen Dämonisierung und Neutralisierung22 Machiavellis: Die französischen Calvinisten und die italienischen Reformierten in Basel Auf den deutschen Calvinismus haben drei Texte entscheidenden Einfluß: der Discours sur les moyens de bien gouverner et maintenir en paix un royaume, ou autre principauté (1576) von Innocent Gentillet, auf Latein übersetzt und 1577 in Genf veröffentlicht; dessen deutsche Version des Lutheraners Georgius Nigrinus von 158023, die anonymen Vindiciae contra Tyrannos, veröffentlicht 1579; und die Politices Christianae libri VII von Lambert Daneau, herausgegeben 1596.24 Einige der wichtigsten Figuren des deutschen Calvivon 1560) vgl. auch Leandro Perini, Gli erecti italiani del '500 e Machiavelli, in: Studi Storici 10/4, 1969, 877-918, besonders 902-918. Eine tabellarische Auflistung der wichtigsten Auslassungen findet sich ebd. 908-910. 20 Die einzige verfügbare Studie zur Biographie von Tegli und Stupano ist Werner Kaegi, Machiavelli in Basel, in: ders.: Historische Meditationen. 2 Bde. Zürich 1942-1946, Bd. 1, 121-181. Zu Pema vgl. nun auch Leandro Perini, La vita e i tempi di Pietro Pema. Rom 2002. 21 Vgl. CarlJ. Friedrich, Introduction (wie Anm. 2), XXIV-XXVI. 22 Das Konzept wird hier nur eingeschränkt analog zu dem von Carl Schmitt vorgeschlagenen verwendet. Vgl. Carl Schmitt, L'epoca delle neutralizzazioni e delle spoliticizzazioni, in: ders.. Le catégorie del .politico'. Ed. Gianfranco Miglio/Pierangelo Schiera. Bologna 2003 (1. Aufl. Bologna 1972), 167-183. 23 Vgl. Innocent Gentillet, Anti-Machiavel. Edition de 1576 avec commentaires et notes par C. Edward Rathé. Genf 1968; ders., Discours contre Machiavel. Ed. Antontio d'Andrea/Pamela D. Stewart. Florenz 1974. Dazu Pamela D. Stewart, Innocent Gentillet e la sua polemica antimachiavellica. Florenz 1969; Sydney Anglo, Machiavelli - The First Century. Studies in Enthusiasm, Hostility, and Irrelevance. Oxford 2005, 271-324. 24 Zu Daneau vgl. Christoph Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsge-

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nismus, wie Althusius, Bartholomäus Keckermann und Otto Casmann, erheben diese drei Werke zu ihren Leittexten in allen heiklen Fragen, in denen sich Jurisprudenz, Politik und Religion miteinander verschränken, aber sie schließen sich nicht in toto der Leitlinie gegenüber Machiavelli an. Ihre Haltung scheint der näherzustehen, die sich in den Vorworten der reformierten Basler Übersetzer findet (Tegli, Stupano). Um diesen Unterschied einschätzen zu können, ist es unerläßlich, ein knappes Bild von der Haltung der französischen Calvinisten zu Machiavelli zu skizzieren. Entscheidender Fixpunkt ist hier die Bartholomäusnacht von 1572.25 Im Widmungsbrief an den Herzog von Alençon schreibt Gentillet, daß eine Bande von Ausländern, die der „von Machiavelli empfohlenen Art des Regierens"26 folge, die Regierung Frankreichs in die Tyrannei gestürzt habe. Das Werk ist in drei Teile gegliedert, in denen die Lehren Machiavellis in kurzen Maximen zusammengefaßt werden (drei im ersten Teil, die dem Rat des Fürsten gewidmet sind, zehn im zweiten Teil, die der Religiosität des Fürsten gewidmet sind, und siebenunddreißig im dritten Teil, die der Policey des Fürsten gewidmet sind). Machiavelli vertrete die Auffassung, daß der Fürst allein entscheiden und seine Berater führen müsse; er müsse den Fremden trauen; er müsse gottesfurchtig erscheinen, es jedoch nicht sein; er brauche das gegebene Wort nicht halten; er müsse gegebenenfalls von der Grausamkeit Gebrauch machen. Dieser Methode stellt Gentillet die traditionelle, auf göttliches und natürliches Recht gegründete Monarchie und die Rolle der ordines gegenüber, die aus dem Souverän nur einen primus inter pares machen. Außerhalb der Bindung durch das göttliche und das natürliche Recht sowie durch das Gesetz des Königreichs - zu der die Lehre Machiavellis in Opposition schichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus. Berlin/New York 1996. 25 Zur aktuellen Diskussion vgl. Jean-Louis Bourgeon, Les légendes ont la vie dure: à propos de la Saint-Barthélemy et de quelques livres récents, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 34, 1987, 102-116; ders., L'assassinat de Coligny. Genf 1992; ders., Charles IX devant la Saint-Barthélemy. Genf 1995; Denis Crouzet, La nuit de la Saint-Barthélemy. Un rêve perdu de la Renaissance. Paris 1994; ders., Le haut cœur de Catherine de Médicis. Paris 2005; Marc Venard, Arrêtez le massacre!, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 39, 1992, 645-661; Mack P. Holt, Putting Religion Back into the Wars of Religion, in: French Historical Studies 18/2, 1993, 524-551; llja Mieck, Neue Forschungen zur Bartholomäusnacht, in: Francia 23/2, 1996, 203-214; Nancy Lyman Roelker, One King, One Faith: The Parlement of Paris and the Religious Reformations of the Sixteenth Century. Berkeley/Los Angeles 1996, 314-321 ; Barbara B. Diefendorf, Beneath the Cross. Catholics and Huguenots in Sixteenth-Century Paris. New York/Oxford 1991, 93-106; David Warren Sabean, Reading Sixteenth Century Religious Violence. The Historiography of St. Bartholomew's Day Massacre, in: Kim Siebenhüner/Kaspar von Greyerz (Hrsg.), Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500-1800). Göttingen 2006, 109123; Ariette Jouanna, La Saint-Barthélemy. Les mystères d'un crime d'Etat. Paris 2007. 26 Innocent Gentillet, Commentariorum de regno aut quovis principatu recte & tranquille administrando, libri très [...] Adversus Nicolaum Machiavellum Florentinum. Genf 1577. 3v.

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stehe -, gebe es nur das Verbrechen als Regierungsmethode, wie das Blutbad der Bartholomäusnacht gezeigt habe. Die Vindiciae contra Tyrannos stellen Machiavelli als Anstifter der „artes perturbandi Rempublicam"27 dar; die drei Quaestiones („An subditi teneantur, aut debeant Principibus obedire, si quid contra legem Dei imperent", „An liceat resistere Prìncipi, legem Dei violanti et Ecclesiam Dei vastanti: quibus, quomodo et quatenus" und „An et quatenus Principis rempublicam opprimenti aut perdenti, resistere liceat") beschreiben auf polemische Art und Weise die Regierungsweise Caterina de' Medicis und führen sie auf den heimtückischen Ratschlag Machiavellis zurück28, des ganzen Machiavelli, sowohl den des Principe, als auch den der Discorsi. Dieser wird wieder die Regierung der Stände gegenübergestellt29 Dieser Charakterisierung fügt Daneau weitere Elemente hinzu. Es sei nicht einmal die Mühe wert - schreibt er - , sich mit den Schriften von Machiavelli zu befassen, es sei ausreichend, den Text von Gentillet zu lesen, der eine nach der anderen die regulae widerlegt habe. Betrachtet werden solle vielmehr das Schicksal derjenigen Fürsten, die die regulae Machiavellis befolgt hätten: Cesare Borgia habe schließlich das Reich, das er durch Verbrechen aufgebaut hatte, verloren und wurde verbannt „in culina Regis Arragoniae miser exul, mendicus, latitas diu iure culinario offaque rancida, velut in foedissimo, spurcissimoque carcere, victitat"30; ähnlich das Schicksal von Ludovico Sforza. Die „Dogmen" Machiavellis sind der Ruin der Staaten, das Verderben der Fürsten und werden abgelehnt, ohne sich damit aufzuhalten, sie zu diskutieren. Dem kann man 27

Stephanus Junius Brutus, Vindiciae contra tyrannos: sive, de Principis in Populum, Populique in Principem, legitima potestate. S. 1. [Basel: Peraa] 1580, II (neue Paginierang, angehängt an Machiavelli, Princeps (1380) (wie Anm. 10) - vgl. auch die englische Ausgabe: Stephanus Junius Brutus, Vindiciae contra tyrannos: or, conceming the legitimate power of a prince over the people, and of the people over a prince. Ed. George Gamette. Cambridge 1994, lxxxiv. 28 Vgl. Kaegi, Machiavelli (wie Anm. 20), 146; als Einfuhrer am Hof von Frankreich wurde der Herausgeber Jacopo Corbinelli angesehen, Vgl. Prezzolini, Machiavelli (wie Anm. 15), 325. Zur Figur von Corbinelli (1535-1590?) vgl. Vincenzo Crescini, Jacopo Corbinelli nella storia degli studi romanzi, in: ders., Per gli studi romanzi. Padua 1892, 181 ff".; Pio Rajna, Jacopo Corbinelli e la strage di S. Bartolommeo, in: Archivio Storico Italiano 21, 1898, 54-103, hier 54ff. 29 Stephanus Junius Brutus, Vindiciae (wie Anm. 27), 275; vgl. ebd. 151: „Tyrannus congregationes publicas, quantum in se est, aut vitat, aut tollit, conventus Ordinum, Cornicia, diaetas reformidat, ac vespertilionis instar lucem hominum refugit; [...]"; neben diesen Worten gedruckt liest man: „Machiav. in Principe". Die diesbezüglichen Positionen der französischen Calvinisten sind eindrucksvoll dargestellt bei Ludwig Cardauns, Die Lehre vom Widerstandsrecht des Volks gegen die rechtmäßige Obrigkeit im Luthertum und im Calvinismus des 16. Jahrhunderts. Diss. Bonn 1903, Neudruck Darmstadt 1973, insbesondere 49-111. 30 Vgl. Lambert Daneau, Politices Christianae libri VII. S.l. 1596, Ad lectorem benevolum, V. Die gleiche Argumentation verfolgt Kardinal Reginald Pole in seiner Apologia (§ XXXII, 143): „Videtis ergo prudentiam huius doctrinae, quo ducat", zitiert von Prezzolini, Machiavelli (wie Anm. 15), 276.

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noch die Argumentation von François Hotman hinzufügen, für den die Positionen Machiavellis die Quintessenz des monarchischen Absolutismus sind, der die alte französische und germanische Freiheit bedroht. 31 Für die französischen Calvinisten gibt es diesbezüglich keinen Zweifel: „Machiavellico" ist synonym mit atheistisch, unmoralisch und tyrannisch. Hier ist auch zu bemerken, daß einer deijenigen, der Machiavelli in Frankreich eingeführt hat, Jacopo Corbinelli - er soll es gewesen sein, der den Söhnen von Caterina de' Medici die Schriften von Machiavelli zu lesen gegeben hat - , dort andererseits auch als Herausgeber des De Principatu von Mario Salamonio wirkte, welches Werk in dieser Zeit einen nicht unwichtigen Einfluß auf die Entwicklung der Lehre der calvinistischen Monarchomarchen in Frankreich und Deutschland und insbesondere auf die Theorien des Widerstandsrechts ausgeübt hat, wie Mario d'Addio gezeigt hat 32 , auch Althusius benutzte das Werk: De Principatu ist ein ,Antimachiavelli' ante litteram. Corbinelli zögerte aber in seiner Ausgabe von Salamonio von 1578 nicht, im Anhang und Kommentar zu De Principatu etliche kommentierende Bezugnahmen auf die Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio von Machiavelli zu veröffentlichen, also auf den historischen Machiavelli, so wie ihn auch Althusius benutzte. 33 Die ausgeführten starken Positionen der französischen Calvinisten kamen zu den aus der katholischen Welt stammenden unzweideutigen Zeichen der Zensur des Werkes Machiavellis 34 nach dem Ende des Konzils von Trient und der Veröffentlichung des Index librorum prohibitorum 1559 hinzu, die man. wenn auch nur in Kürze, in Betracht ziehen muß, um die Positionen des „Basler Zirkels" zu verstehen. Kaegi hat den unorthodoxen Charakter der reformierten Einstellung der Beteiligten des Zirkels ausgezeichnet beleuchtet. In Teglis Vorwort der lateinischen Übersetzung des Princeps von 1560 35 wird geltend gemacht, daß, so wie es die Heiligen Kirchenväter nicht versäumten, die Bücher der Heiden zu lesen, wir nicht versäumen dürfen, das Werk Ma31

Brief Hotmans an Gwalther in Zürich, 25. Dezember 1580, zitiert von Kaegi, Machiavelli (wie Anm. 20), 157 Anm. 91. 32 Mario D'Addio, L'idea del contratto sociale dai Sofisti alla Riforma. Mailand 1954,4ff. 33 Vgl. Marii Salomonii [...], De Principatu libri VI [...). Parisiis. Excudebat Dionysius du Val, sub Pegaso, in vico Bellovaco, 1578, Quaedam ad hos de Principatu libros addita, 129-135, wo nur Ausschnitte aus den Discorsi zitiert sind; Machiavelli wird als Historiker gebraucht. 34 1542 veröffentlichte der Portugiese Osorio De christiana nobilitate, welches im Buch III gegen den Vorwurf Machiavellis an das Christentum vorgeht, es habe die Macht des römischen Reichs zerstört; 1552 wird das Buch des Dominikaners Ambrogio Caterino Poliii, De libris a Christiano detestandi et a Christianismo penitus eliminandi, das ebenfalls eine Verurteilung Machiavellis enthält, veröffentlicht; zwischen 1593 und 1598 erscheinen die vier Bände „adversus Machiavellum" des Ordensvaters der Oratorianer Tommaso Bozio. Vgl. Anglo, Machiavelli (wie Anm. 23), 153-182. 35 Machiavelli, Princeps (1560) (wie Anm. 11). 1-6.

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chiavellis über den Fürsten zu lesen. In der Neuausgabe von 158036 wird insbesondere der Wert Machiavellis für die humanae litterae betont. Der Autor des Widmungsbriefes an den Bischof von Basel, Blaurer, Nicolaus Stupanus, kritisiert, daß die Ursachen für die aktuellen Übel der Christenheit irrigerweise Machiavelli zugeschrieben werden. Man müsse sein Augenmerk vor allem auf die Discorsi richten; es wird versichert, daß nicht die Absicht verfolgt wird, die im Principe vorhandenen Irrtümer zu verteidigen und daß die Herausgabe des Principe auf Latein der beste Weg sei, neben der Ziehung von Nutzen aus dem historischen Scharfsinn Machiavellis die Irrtümer desselben zu unterstreichen. Stupanus besteht auf der Bedeutung der Werke Machiavellis für die Geschichtsstudien. Der Grund hierfür wird bei der Lektüre des Widmungsbriefes der Ausgabe der lateinischen Übersetzung der Discorsi von 1S88 noch deutlicher37: Man solle Machiavelli nicht verurteilen, ohne ihn wirklich gelesen zu haben; wenn man ihn lese, könne man entdecken, daß er, und hierbei begehe er zweifelsohne auch Wertungsfehler, die Gründe illustriere, die die Fürsten dazu bewegten, zu operieren wie die Ärzte, die eher Ätzungen zu Heilzwecken (Kauterisationen) und Amputationen vornehmen, als auf zarte Art und Weise vorzugehen. In der Ausgabe von 159938 lesen wir: „cognoscere licebit non bonum tantum, sed etiam pravorum et calidorum consiliorum rationes [...] Non equidem ut iis utamur, sed ut iis resistamus, et adversus ea commode pugnemus [.. ,]".39 Stupanus schlägt eine Auffassung der Politikwissenschaft und der Geschichte als physiologisches Studium der Pathologien der Macht und der Methoden, diese vorteilhaft auszuüben, vor und legitimiert auf diese Weise die Lektüre Machiavellis. Perna, Tegli und Stupanus waren sowohl Reformierte als auch Kinder der Renaissance, die auf ein gutes Verhältnis zwischen der wahren Religion und den Wissensordnungen vertrauten. In Pernas Verlagsprogramm sind die weltlichen Autoren (unter ihnen durchaus auch der berüchtigte Epikur) in seinem mehr als einhundertsiebzig Titel umfassenden Katalog geradezu im Überfluß vorhanden. Das vom „Basler Zirkel" dargebotene Bild des Werks des Florentiner Sekretärs entbehrt des Hauptmotivs für jegliche scharfe Opposition gegen dessen Inhalte, sei diese calvinistisch, sei diese katholisch, da es die Ablehnung des mittelalterlichen göttlichen und natürlichen Rechts als Grundlage für das Handeln des Fürsten und im allgemeinen des Staates in den Hintergrund stellt und den wissenschaftlich-politischen Wert des Werks in den Vordergrund rückt. Vermittelt durch die Vorworte von Tegli und Stupanus erfah36

Ders., Princeps (1580) (wie Anm. 10), A 2-A 5r. Ders., Discorsi (1588) (wie Anm. 9), 2v-3r. 38 Machiavelli, Discorsi. Urseliis, Sutorius 1599 (wie Anm. 9), A2-A3. 39 Daß sich Machiavelli darauf beschränkt habe, die historisch-politische Realität zu sehen, wie sie sich darstellte, ist übrigens auch die Auffassung von Francis Bacon, De augmentis scientiarum, VIII, 2. 37

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ren die Werke Machiavellis in Deutschland also eine gemäßigtere Rezeption als in Frankreich, man kann von einer „Neutralisierung" Machiavellis sprechen. 2. Keckermann und Casmann: die Diskussion von Machiavelli Da es an dieser Stelle unmöglich ist, eine komplette Übersicht über die Präsenz von Machiavelli im deutschen Calvinismus zu geben 40 , beschränken wir uns hier auf zwei Autoren, die Althusius gut bekannt sind und die er in seiner Politica zitiert: Bartholomäus Keckermann und Otto Casmann.41 In den Opera omnia von Keckermann (Coloniae Allobrogorum, 1614) wird Machiavelli nur dreimal innerhalb des Systema Disciplinae Politicae (1606 verfaßt) und einmal in der Disputatio XXXV De Statu publico respondente Johanne Bergio Stetin. Pomerano (das Jahr der Disputation ist nicht überliefert) ausdrücklich zitiert. Im Systema zitiert er, nachdem er bemerkt hat, daß „simplicitas extremam contemptum principem reddit", die Sichtweise von Bodin 42 , nach welcher „ex homine callido bonum regem saepe fieri vidimus", während die simplicitas des Souveräns die Staaten weit mehr schädige als die calliditas (von ersten nämlich machten die schlechten Ratgeber und Schmeichler gewöhnlich mißlichen Gebrauch). Aber sofort präzisiert er, der Sichtweise Machiavellis nicht zuzustimmen, welcher „suadet, ut princeps verset instar molas trusatilis, quo fraudulentia et de dolis malis, sed tantum de eiusmodi circumspectione, quae etsi a prudentia discedat, tarnen magis ad calliditatem accedat quam ad simplicitatem."43 Es handelt sich um eine teilweise

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Wir verzichten beispielsweise darauf, die Politica von Lipsius zu behandeln, dem zwar Machiavelli schon geläufig ist, der aber aufgrund seiner wechselvollen konfessionellen Entwicklung nicht als typischer Vertreter des politischen Calvinismus angesehen werden kann; wir sparen außerdem eine Untersuchung der Schriften von Klemens Timpler aus, der die Doktrin von Keckermann und Casmann bezüglich der maiestas entwickelt; vgl. hierzu Merio Scattola, Dalla virtü alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica moderna. Mailand 2003, 254-258; zur Politik als ars universitaria im Werk von Timpler siehe ebd. 167-169. Zum auf der Linie des Althusius liegenden antimachiavellistischen Bezug bei Philipp Heinrich Hoenonius vgl. Strohm, Calvinismus und Recht (wie Anm. 3), 234. 41 Vgl. diesbezüglich Horst Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz. 2 Bde. Wien 1991, Bd. 2: Theorie der Monarchie, 529 ff., und Scattola, Dalla virtü alla scienza (wie Anm. 40), 249 ff. 42 Jean Bodin, De Republica, 1591, II, c. 4. Bartholomäus Keckermann, Systema Disciplinae Politicae [1606 verfaßt], in: ders., Opera omnia. 2 Bde. Genf 1614, Bd. 2, col. 415-626, hier col. 445 E - E Keckermann bezieht sich auf Machiavelli, Discorsi, ed. Francofurti 1608 (wie Anm. 9), III, c. 42, 5 2 7 529, und Nicolai Machiavelli, Princeps: Ex Sylvestri Telii Fvlginatis Tradvctione diligenter emendata. Adjecta sunt ejusdem argumenti, Aliorum quorundam contra Machiauellum scripta de potestate & officio Principum, & contra tyrannos. S. 1. 1589, Kapitel 18, 92-96.

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und indirekte Zustimmung zu den Ausführungen Machiavellis, der die Kritik am Stereotyp des Machiavellismus vorausgeht44 und die gekennzeichnet ist durch die Interpretation des Ratschlags Machiavellis als circumspectio (welche der calliditas näher steht als der simplicitas), im Sinne der eben in Erinnerung gerufenen Bodinschen Maxime. Beim zweiten direkten Machiavelli-Zitat ist die Abgrenzung klar: Die wahren Fürsten müssen nach Ansicht Gentillets „veritatem ac fidem constanter colere, nec respicere eventum, sed virtutis praescriptum" 45 Ohne die Wahrhaftigkeit und die Loyalität von seiten des Fürsten zerbricht die ,anter homines communio", merkt Keckermann an.46 Deutlich ist auch die Abgrenzung gegenüber der Theorie des gerechten Krieges, die bemerkenswerterweise aus Kap. 18 des Principe abgeleitet wird und sich auf die von Gentillet vorgebrachten Kritikpunkte stützt.47 Casmann48 warnt vor der Lehre Machiavellis, ohne Machiavelli zu nennen: „Proinde ut Gentillet monet, magistratus seipsum, ut serio Deum metuat, eique non simulatum obsequium et cultum praestet, Christianae religionis exercitia et munia obeundo, assuefacere debet"49; die Verehrung Gottes muß aufrichtig sein, kein rein politisches Instrument. Auch die Ablehnung der Positionen Machiavellis bezüglich des Verhältnisses zwischen dem Fürsten und seinen Ratgebern erfolgt auf Basis der Schrift von Gentillet30: Nur das plurale Gremium des Rats kann ein gerechtes und ausgeglichenes Verhältnis zwischen dem Fürsten und dem Volk befördern. Wenn man diese Positionen denen Gentillets und denen von Stephanus Junius Brutus gegenüberstellt, stellt sich mit hinreichender Klarheit heraus, daß die deutschen Calvinisten eine Diskussion Machiavellis nicht gänzlich ablehnen, sie neigen dazu, den wissenschaftlichen und technischen Wert in Betracht zu ziehen, den der fiorentinische Sekretär zur Entwicklung einer zwar durchaus gottgerecht konzipierten, aber realistischen Politik beisteuern kann. So fordert Keckermann etwa zur militärischen Nutzung von Kriegslisten 44

Von Gentillet geschaffen, siehe beispielsweise ders., Commentariorum (wie Anm. 26), Maximen 18, 19 und 21, S. 424ff„ 429ff. u. 437ff. Gentillet, Commentariorum (wie Anm. 26), Maxime 18,424ff.; Keckermann, Systema (wie Anm. 43), col. 499, F-H - Bezugnahme auf Discorsi, ed. Francofurti 1608 (wie Anm. 9), II, Kapitel 13, 269-271, und auf den Principe (1589) (wie Anm. 43), Kapitel 8, 41-48. 46 Welcher auf den Gegenstand in Systema (wie Anm. 43), col. 472 C-D zurückkommt, bezüglich Bodin, De República, 1591, III, Kapitel 1, verglichen mit II Principe, Kapitel 8: der wahre Fürst ist kein Lügner; seine Haltung ist zu verstehen als „pro toleratione earum rerum, quarum mutatio non est sita in ipsius viribus". 47 Gentillet, Commentariorum (wie Anm. 26), dritter Teil, Maxime 1,171 ff. 48 Doctrinae et vitae politicae methodicum ac breve systema [...]. excerptum & adomatum ab Othone Casmanno, Francofurti, E collegio Musarum Paltheniano, 1603. 49 Ebd. Kapitel IX, 51. 50 Ebd. Kapitel XX, 78; Gentillet, Commentariorum (wie Anm. 26), erster Teil, Maxime 1-3, 17 ff. 45

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auf, indem er deutlich Machiavellis Discorsi, III, 41 paraphrasiert, ohne den Autor zu nennen, und so zögert auch Casmann 51 nicht, einen Standpunkt einzunehmen, der eng mit der Perspektive desselben Kapitels der Discorsi Machiavellis verwandt ist. Auch Daneau 52 erlaubt den Einsatz von Spionen und Listen, kurz und gut den Gebrauch des dolus, wie Machiavelli, Discorsi, III, 40, jedoch ohne ihn zu zitieren; ganz ähnlich verfahrt Keckermann 53 . Aus den zitierten Passagen geht die Tendenz hervor, auch die umstrittenen Aspekte der Lehre Machiavellis durchaus zu Ubernehmen, zuweilen aber dergestalt, daß das. was über das Verhalten des Fürsten ausgesagt wurde, nun auf die Kriegsfiihrung übertragen wird. In jedem Fall werden damit aber Inkonsistenzen hinsichtlich der Kohärenz der christlich-moralischen Perspektive in Kauf genommen. Diese partielle und teils verdeckte Rezeption Machiavellis wurde durch die Milderung befördert, die Machiavellis Lehre durch die Vorworte der lateinischen Ausgaben des Principe und der Discorsi von Stupanus erfahren hatte, welche Keckermann und Casmann aller Wahrscheinlichkeit nach vor Augen hatten.

III. Althusius: die ,Neutralisierung' Machiavellis Althusius zitiert Machiavelli siebenmal in der Política als fachlichen Autor, immer aus den Discorsi.54 Diese Bezugnahmen wurden bisher nicht untersucht. 55 Selbst Friedrich, der die Quellen von Althusius in seiner Ausgabe der Política56 ausführlich analysiert hat, widmet der Präsenz von Machiavelli bei Althusius wenig Platz. Die geringe Anzahl der Zitate gewinnt jedoch erhebliche Bedeutung, wenn man sie im bis hierher aufgezeigten Kontext, im Vergleich mit der großen Zahl von Zitaten aus dem Antimachiavelli von Gentillet (circa 66 Zitate) und aus den Vindiciae contra Tyrannos (circa 65 Zitate) betrachtet. Althusius las die Vindiciae in der Ausgabe, die auch den Principe enthielt. Die Lektüre Gentillets wies ihn von Beginn an auf alle für das calvinistische Bewußtsein neuralgischen Punkte des Werks des Florentiner Sekretärs hin. Folglich, so könnte man e silentio argumentieren, spielt Althusius jedes Mal, wenn er von tyrannischer Macht spricht, auch auf die Theoretisie51

Casmann, Doctrinae et vitae politicae (wie Anm. 48). Kapitel LI. 239-240, De congressu obliquo per stratagemata. 52 Daneau, Politices Christianae libri VII (wie Anm. 30). VI. 522-530. 53 Keckermann, Systema (wie Anm. 43), col. 475B-476C. 54 Nach Friedrich, Althusius, Política (wie Anm. 1), Appendix I, CX. ist als verwendete Ausgabe der Übersetzung die Ausgabe von 1599 anzunehmen, Nachdruck der bereits zitierten Ausgabe von 1588. 55 Schmoeckel, Zwischen Idealstaat und Realpolitik (wie Anm. 2). 504 Anm. 231, weist nur auf ein Zitat hin und gibt keine weitere Interpretation. 56 Vgl. Friedrich. Introduction (wie Anm. 2), XLII-LXIII, insbesondere LVIII.

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rungen Machiavellis an. Aber die Dinge liegen anders, wenn er explizit die Discorsi zitiert. In Política VI, 20 zitiert er Discorsi II, 24 zusammen mit Pierre Grégoires De República, II, c. 7 als die die loca publica betreffenden Quellen, die in einer Liste aufgeführt werden, die in der Ausgabe von 1614 vierzehn Zeilen umfaßt; in VII, 41 zitiert er Discorsi I, 26 bezüglich der muñera, die den einheimischen Bürgern statt den fremden Bürgern zuzuweisen sind, aber er fügt umgehend die von Gentillet durchgeführte Widerlegung des Passus von Machiavelli hinzu57; in XXXTV, 47 zitiert er Discorsi, II, 24 bezüglich der technischen Aspekte, wie des Baus von Festungen (zusammen mit Bodin, De República, V, 5; Grégoire, De República II, 1 und Melchior Junius, Quaestiones Politicae, II, quaest. 64); in XXXV, 16 finden sich die Discorsi II, 12 bezüglich der seit Machiavelli topischen Frage zitiert, ob es, gesetzt den Fall, man befürchte angegriffen zu werden, besser sei, sofort loszuschlagen oder zu warten; in XXXVI, 38 werden Discorsi I, 20 zur Frage zitiert, ob es zweckmäßig sei, daß der Fürst sein Heer persönlich in die Schlacht führt; in XXXVni, 62 werden Discorsi, II, 20 zitiert bezüglich des Einsatzes von Söldnerheeren oder ausländischen Truppen (die Machiavelli, wie bekannt ist, als unzuverlässig beurteilt) durch den höchsten, zum Tyrannen gewordenen Magistraten, mit dem Ziel, die eigene Macht zu verteidigen. Ein einziges Zitat weist einen Wert auf, der über die rein technische Dimension hinausgeht: XXXV, 51. Im Krieg, behauptet Althusius, „explorado et proditio res media et adiaphora sunt". Es sind moralisch neutrale Mittel, die im Dienst der Verteidigung des consociatio stehen. In der Linie von Daneau58, Keckermann, Casmann, aber auch von Gentillet, heiligt die gute Sache auch „exploratio et proditio". Und wenn von Krieg gesprochen wird, ist auch der Krieg gegen den Magistrat, der sich zum Tyrannen macht, gemeint. Aber im Gegensatz zu den französischen Calvinisten zitiert Althusius, wie Keckermann und teilweise Casmann, Machiavelli, wenn auch nur wenige Male. Althusius ist, wie Keckermann und Casmann, vollkommen davon überzeugt, daß Machiavelli, als Feind des natürlichen Rechts und der Ständegesellschaft, für die Charakterisierung des Fürsten und den Sinn der politischen Ordnung unbrauchbar ist, wie die aus den Einwänden von Gentillet entnommenen Zitate zeigen. Diese gehorchen vollkommen der Logik des politischen Calvinismus: Das Consilium Ordinum ist, wie Althusius im § 67 des c. XVIII der Política sagt, „propugnaculum Reipublicae"; was die enge Bindung des höchsten Magistrats an die Gesetze nach sich zieht, wie es beispielsweise in Poli57

In Gentillet, Commentariorum (wie Anm. 26), erster Teil, Maxime 3, 121 ff. Daneau, Politices Christianae libri VII (wie Anm. 30), 1. VII, c. VI, 526, schreibt: „[...] in bello iusto licet ut non tantum armis, et vi aperta:sed etiam insidiis, stratagemate, exploraloribus, quibus hostes fallís, vel in periculum praecipitas, vel etaiam eorum consilia expiscaris. Nam et Deus ipse struere iubet insidias hostibus, ac utuntur, Deo praecipiente, los. 8 et 2 Sam. 5, ver. 23." 58

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tica XXI, 17 behauptet wird, und unter diesem Profil den vollen Anschluß an den Antimachiavellismus von Gentillet umfaßt. 59 Hier einige der signifikantesten 60 Beispiele. Die Stände dienen in Frankreich, aber nicht nur dort, dazu, den moderator regni zu erwählen, das regnum zu corrigere, vom Volk die Abgaben zu erhalten61; dies schließt ein, daß der König an das Gesetz gebunden sein muß 62 ; und wenn die sanctio legi dem höchsten Magistrat angehört, kann diese sich nicht ohne die Zustimmung der Optimaten, der ordines63 entfalten. Dies sind alles Thesen, zu deren Unterstützung Althusius Gentillet64 zitiert, der diese gegen Machiavelli, den wahren Feind der Macht der ordines, vertritt. Und die Macht der Letzteren ist das Fundament der gesunden respublica - für Gentillet, für Stephanus Junius Brutus und für Althusius. Wenn diese Einrahmung, die dazu in der Lage ist, den höchsten Magistrat auf sein Amt zu beschränken, nicht vorhanden ist, wird die Macht desselben unförmig: „fidei violatio, quae conjuncta est cum mendacio et perfidia, omnibus eum reddit invisum et detestabilem, et cujus communionem fugient". 65 Aber wenn dies geschieht, ist der Fürst nicht länger der Verteidiger des Volkes, sondern zu einer Bedrohung für dieses geworden. Gegen Machiavelli führen Gentillet und Althusius ins Feld, daß der Fürst in einer Weise handeln muß, daß er reiche Untertanen hat. 66 In aller Kürze gesprochen kann gezeigt werden, daß das, was Althusius gegen Machiavelli einzuwenden hat, mit dem übereinstimmt, was Gentillet gegen ihn einzuwenden hat. Beiden gemein ist das konzeptuelle Gesamtmodell, das die zweite Tafel der zehn Gebote auf politisches Gebiet „überträgt"; alles, was davon abweicht, kann also nicht anders als gottlos sein. Machiavelli ist für Althusius jedoch nicht nur der Theoretiker der Macht des Fürsten, wie Gentillet und Stephanus Junius Brutus meinen, sondern auch, 59

Die bedeutendsten der über sechzig Zitate aus dem Buch von Gentillet teilen sich in Abschnitte zur „ephoralen" Rolle der Schichten (XVII. 60; XVIII. 67: XXVII. 34; 45; 53: XXIX, 4; XXXII, 50; XXXVII, 48; XXXXIII, 20; XXXVIII, 53; XXXIX. 7) und zum Verhalten des Fürsten in bezug auf das göttliche und natürliche Gesetz (XXI, 17; XXIV, 20; 25-26; 31; 41; 53; XXVII, 4; 5; 36; XXIV, 31; 53; XXV, 9; 26; XXVII. 35: 37; 39; XXIX, 32; XXX, 18; XXXII, 59: XXXII, 79: 87; XXXVIII. 26: XXXVIII, 45; XXXVIII, 109) auf. In allen diesen Zitaten wird die Position Gentillets als Zeugnis für eine politische Sichtweise gebraucht, die im Einklang mit jeder heiligen Ordnung steht; die Ablehnung der Posiüonen Machiavellis ist indirekt, aber unmißverständlich. 60 Signifikant unter den über 60 Zitaten des Textes von Gentillet, die sich häufig wiederholen und die sich leicht in zwei Bereiche einteilen lassen, wie in der vorangehenden Fußnote gezeigt wurde. 61 Vgl. Althusius, Politica (wie Anm. 1). XVII, 60. « Vgl. Ebd. XXI, 17. 63 Vgl. Ebd. XXIX, 4. 64 Respektive in Gentillet, Commentariorum (wie Anm. 26), I, 1; III, 22. 65 Vgl. Althusius, Politica (wie Anm. 1), XXV, 29, Zitat aus Gentillet, Commentariorum (wie Anm. 26), III. 21. 66 Vgl. Gentillet, Commentariorum (wie Anm. 26). III. 32: Althusius. Politica (wie Anm. 1). XXX, 18.

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und dies in aller Deutlichkeit, der Fachmann der politischen Macht tout-court, und als solcher, im Gegensatz zur Auffassung Gentillets, in großem Umfang nutzbar. Für Althusius und für die deutschen Calvinisten, von denen wir zwei Beispiele betrachtet haben, zieht die Neutralisierung der Mittel des Kriegs (ein Krieg, der heilig oder teuflisch sein kann, wegen des Grunds, aus welchem dieser geführt wird und nicht wegen der Mittel, die in diesem angewendet werden) die Neutralisierung Machiavellis nach sich, eben weil man ihn als Fachautor versteht, also als Autor, der Mittel zur konkreten Steuerung der respublica bietet, und dies geschieht auf die gleiche Weise, in der man ihn als Autor von Hinweisen zu Zielsetzungen der respublica für unvertretbar hält Dies ist auch, zumindest teilweise, die Position der italienischen Reformierten in Basel. Der Unterschied zu den französischen Calvinisten liegt voll und ganz in der Neutralisierung Machiavellis.67 Was bedeutet es, Machiavelli zu neutralisieren? Es bedeutet, von seiner Ablehnung des natürlichen Gesetzes und des Gesellschaftsmodells per ordines, das auf diesem aufbaut, abzusehen und ihn als .Techniker' der gubematio aufzunehmen. Es verwundert also nicht, in Althusius, Politica, IX, 15 einen Passus von eindeutig machiavellischer Prägung zu lesen: „Es ist indessen notwendig, damit der Staat autarkes pros td eu zen katä ten politikén koinonlan ist, daß dieser nicht auf Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen ist und nicht von anderen abhängt, sondern daß er sich gegen jede Gewaltanwendung und jeden Mißbrauch wehren kann und sich unversehrt, unberührt und geschützt erhält, was das beste und sicherste Fundament des Reiches ist. Eine von außen kommende, von anderen entliehene Macht, ist nie treu, von Nutzen und von Dauer. Wer dir hilft, wird sterben oder wird von deinem Feind, Verräter, Abtrünnigen oder Spionen, behindert oder getäuscht." Dieser Passus ruft uns nicht nur Bodin, De Republica, Buch I, Kap. 1 und nicht nur Botero, Deila ragion di stato, Buch Di, Kap. 3 (welcher sich ausdrücklich zitiert findet), sondern auch Machiavelli, II Principe, Kap. XII und vor allem Kap. XIII (respektive: „Quot sint genera militiae et de mercenariis militibus" und „De militibus auxiliariis, mixtis et propriis")68 in Erinnerung, die dem Problem gewidmet sind, daß der Fürst Uber eigene Soldaten, nicht nur Hilfstruppen und Söldner verfügen muß. Dies ist eine objektive doppelte Anforderung, die alle Staatsformen betrifft, unabhängig davon, ob sie nun heilig, gerecht und barmherzig ist: Das Gute wie das Schlechte kann sich nicht den Fesseln der durch die Erbsünde gezeichneten tatsächlichen Wirklichkeit entziehen. Die pietas muß sich in der tatsächlichen Wirklichkeit und in den Kräfteverhältnissen finden, um die gerechte und heilige Ordnung zu verwirklichen. Für Althusius, wie auch für die anderen deut67

Diese wird analog zu der von Botero in seinem Traktat Deila Ragion di Stato vorgenommen, welcher nicht zufälligerweise von Althusius dort zitiert wird, wo sich Religion und Politik verschränken. 68 Und auch Machiavelli, Discorsi, II, 20.

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sehen calvinistischen Autoren, die wir erwähnt haben, sind nicht die moralisch indifferenten Mittel teuflisch, sondern nur die Absichten können es sein. Und die vom „Basler Zirkel" gegebene Lesart von Machiavelli lehrt die deutschen Calvinisten, Machiavelli als einen „Autor der Mittel", geradezu als einen „Techniker" zu lesen. Aus diesem Grund entsteht zwar keine gänzliche Opposition zur calvinistischen Tradition Frankreichs, welche das Werk Machiavellis nicht nur mit Gentillet in eine Art Rezeptbuch für die Handhabung der Macht umgewandelt hat, sondern auch mit Daneau und mit Stephanus Junius Brutus 69 die Möglichkeit einräumt, von der Moral losgelöste Verfahren anzuwenden, wenn die gerechte Sache der heiligen Politik auf dem Spiel steht. Bei ihnen wird hierbei aber nie der Florentiner Sekretär zitiert. Ein Theoretiker wie Keckermann kann so die Position Machiavellis, der Fürst müsse keineswegs stets Loyalität beweisen, in eine akzeptablere .Klugheit' übersetzen, die notwendig ist, um sich in der von der Erbsünde entstellten Welt zu bewegen. Und Althusius kann die Abschnitte aus den Discorsi, die am unmißverständlichsten die Perspektive auf die verità effettuale delle cose einnehmen, etwa auf die gleiche Weise zitieren, in der er häufig Tacitus zitiert. Den dann anbei gestellten Zitaten der Vindiciae contra Tyrannos von Stephanus Junius Brutus und des Antimachiavelli von Gentillet vertraut er jeweils stillschweigend die Aufgabe an, auf die allgemeine Kritik der Politikkonzeption von Machiavelli zu verweisen, ohne dies im einzelnen selbst durchzuexerzieren.

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Auch wenn wir auf S. A3 der Vindiciae contra Tyrannos, in: Machiavelli, Princeps (wie Anm. 10 resp. 27), im Vorwort („Cono Superantius Vasco Principibus Reipublicae, Piis, Fidelibus") lesen, daß die quaestiones von Stephanus Junius Brutus „pugnant enim ex diámetro cum Nicolai Machiavelli Florentini. quem in gubemanda República ducem illi [der Hof von Caterina de'Medici] habent, malis artibus, pravis consiliis et falsa pestiferaque doctrina"; wer die quaestiones aufmerksam lese „etiam quocumque tempore legent. cuiuscumque partis ii quoque sint, aut nationis, conditionisve, modo tarnen Christianam Religionem, vel quam Pontificiam, vel quam Reformatam appellant, profiteantur, facile certoque perspicient" (ebd. p. II). Das Vorwort trägt die Datierung „Kalend. Ian. MDLXXVI1". Es handelt sich also zunächst ausweislich dieser Paratexte überdeutlich um einen internationalen und interkonfessionellen Appell gegen die Verbreitung der auf die Lehre Machiavellis zurückzuführenden Praktiken.

Conversiones rerumpublicarum Zum Geschichtsbild der barocken Staatslehre* Von

Lucia Bianchin I. Das barocke Thema der ,conversiones rerumpublicarum', das heißt der Staatsumwälzungen oder politischen Hauptveränderungen, war eine Fortentwicklung des antiken Konzepts der ,metabolal politeiön'. Es hatte eine lange Tradition im griechischen und dann im römischen Denken gehabt und wird am Ende des 16. Jahrhunderts zu einem klassischen ,töpos* der Abhandlungen über den Staat. Die Thematik ist potentiell sehr weit: Sie umfaßt das Problem der Entstehung, des Wachstums, der Blüte und des Untergangs des Staates. In diese Analyse des Staatenlebens wird eine Vielfalt von spekulativen Überlegungen über die Herkunft der Verwandlungen, über ihre göttlichen, menschlichen und natürlichen Ursachen, ihre Symptome und Heilmittel, vor allem aber über die Voraussehbarkeit dieser politischen Hauptveränderungen eingeführt. Der klassische Ansatz des Problems gründete sich seit der Antike auf die Feststellung, daß alle Königreiche und auch die größten Reiche einen Anfang, eine mehr oder weniger glückliche und dauerhafte Existenz und ein Ende gehabt haben. Dieses Ende stimmte oft mit einem dramatischen Zusammenbruch überein, der schreckliches Leid und Unglück mit sich brachte. Deshalb besteht die Hauptaufgabe der Politik darin, die Mechanismen, die diese Veränderungen leiten, zu verstehen und eine Lehre zur Staatserhaltung auszuarbeiten. Schon Aristoteles hatte im V. Buch der Politik viele Hinweise darauf gegeben, wie man den Staat aufrechterhalten könne; ja er hatte sogar Ratschläge gegeben, um auch die Tyrannei vor dem Umsturz zu schützen. Dies führte dazu, daß, wie Margherita Isnardi Párente in ihrem Beitrag über die ,metabolai politeiön' in Jean Bodins Staatslehre bemerkte, der Philosoph Louis Le Roy, in der Kontroverse über die politischen Umwälzungen gegen Ende des

* Ich danke Comel Zwierlein ganz herzlich für seine wertvollen Hinweise zur Auffindung einiger Quellen.

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16. Jahrhunderts, Aristoteles den Vorwurf machte, daß er Machiavelli das Stichwort für dessen Theorien geliefert habe.1 Die erste systematisch geordnete Abhandlung über die .conversiones rerumpublicarum' der Frühneuzeit findet man bei Bodin, in seiner Staatsformenlehre, die schon in der Methodus im Umriß vorhanden ist2 und dann in der République erweitert wird. Insbesondere die lateinische Ausgabe der République (1586) bietet wichtige Ergänzungen sowie àie Apologie de René Herpin, in der Bodin seine Position in der Kontroverse über das astrologische Kapitel genau bestimmt. Es handelt sich um das Kapitel 2 im Buch IV („Ob man Veränderungen und Untergang der Staaten vorhersehen kann"), in dem dieses Problem ausfuhrlich behandelt wird. Die Abhandlung erscheint wie ein Labyrinth von verwickelten Betrachtungen, die aus den verschiedensten Wissenschaften abgeleitet werden, die alle (Politik, Theologie, Geschichte, Philosophie, Naturwissenschaft, Astrologie, Zahlensymbolik, Alchimie usw.) für dieses Problem zu Rate gezogen werden, wie es in jener Zeit üblich war. Eine erste Vertiefung des Problems gab Horst Denzer in einem Beitrag Uber Bodins Staatsformenlehre anläßlich der internationalen Bodin-Tagung in München (1970).3 Zur Kontroverse über Bodins astrologisches Kapitel verweise ich auf die Arbeiten von Diego Quaglioni, der das Thema der .conversiones rerumpublicarum' bei Bodin mit spezifischem Bezug zu dessen , Machia vellismus' behandelt. 4 Ich beschränke mich im folgenden auf die europäische Dimension dieser Diskussionen, in die eine große Anzahl von Politikern, Rechtsgelehrten, Theologen und Astrologen nicht nur aus Frankreich (Grégoire, Ferner, Le Roy, Génébrard), sondern auch aus Italien (Cardano, Gaurico, Joseph Scaliger, Pico della Mirandola, Albergati), und besonders aus Deutschland (Melanchthon, Peucer, Garcaeus der Jüngere, Forster, Kremer oder Mercator, Schedel, Funck, Dresser und noch viele andere) involviert waren.5 1

Margherita Isnardi Parente, Les „metabolai politeion" revisitées (Bodin, „République, IV), in: Georges Cesbron/Jean Foyer/Geneviève Rivoire (Eds.), Jean Bodin. Actes du Colloque Interdisciplinaire d'Angers, 24 au 27 Mai 1984. Vol. 1. Angers 1985, 49-61, ins Italienische übersetzt und erw. in: Il pensiero politico 18,1985,3-17, hier 13 und jetzt auch in: dies.. Rinascimento politico in Europa. Ed. Diego Quaglioni/Paolo Carta. Padua 2008, 151-167. 2 Jean Bodin, Methodus ad faciiem historiarum cognitionem. Aalen 1967 (Ndr. der Ausgabe Amsterdam 1650), Kapitel 6, 219-310. 3 Horst Denzer, Bodins Staatsformenlehre, in: ders. (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München. München 1973, 233-244. 4 Vgl. Diego Quaglioni, La prevedibilità dei mutamenti politici nella „République" di Jean Bodin e nei suoi critici, in: Silvia Rota Ghibaudi/Franco Barcia (Eds.), Studi politici in onore di Luigi Firpo. 4 Vols. Mailand 1990, Vol. 1, 647-666; und ders., I limiti della sovranità. Il pensiero di Jean Bodin nella cultura politica e giuridica dell'età moderna. Padua 1992, 107-139 (Bodin e il Machiavellismo: .conversiones rerumpublicarum' e diritto di guerra) und 169-197 (Scienza politica e predizione delle .conversiones rerumpublicarum': Bodin, Grégoire, Albergati). 5 Einen zusammenfassenden Überblick über die okkulte Philosophie der Renaissance bie-

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Das klassische Problem der Hauptveränderungen der Staaten liegt vor allem darin, mit welchen Tugenden und Mitteln der gute Fürst den Staat aufrechterhalten könne; dazu kommt jetzt ein neues, typisch barockes Interesse an der Geschichte, welche als eine Aufeinanderfolge dramatischer Ereignisse, Umwälzungen, plötzlicher Umstürze und zyklischer Veränderungen gesehen wird, wie es für eine spätere Zeit Wilhelm Kühlmann beschrieben hat. 6 Auch die .conversiones rerumpublicarum', Muster der Unbeständigkeit und Veränderlichkeit der menschlichen Dinge, werden im Jahrhundert Shakespeares dramatisch und theatralisch dargestellt und werden zu einem beliebten Studienobjekt. Deshalb vermehren sich seit dem Ende des 16. bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts die Dissertationen mit den Titeln ,de mutationibus', ,de conversionibus', ,de eversionibus', ,de revoluüonibus', ,de ruina' oder ,de interitu rerumpublicarum'. 7 Die ersten Werke gestehen der Geschichte der ,vier Weltreiche' (Assyrer, Perser, Griechen und Römer) viel Raum zu. 8 Von diesen hatten übrigens nicht nur die Heilige Schrift und die Theologen, sondern auch die mittelalterliche Rechtslehre gesprochen (das Thema wird im Corpus iuris civilis, und insbesondere im Glossen-Apparat zu den Gesetzen Kaiser Heinrichs VII. von Bartolus behandelt). 9 Besonders vorbildlich ist das Römische tet Giuseppe Faggin, Gli occultisti dell'età rinascimentale, in: Umberto A. Padovani (Ed.), Grande antologia filosofica. 33 Vols. Mailand 1954-1985, Vol. 11,339-512. Zu vielen von diesen Autoren vgl. Emst Zinner, Geschichte und Bibliographie der astronomischen Literatur in Deutschland zur Zeit der Renaissance. 2. Aufl. Stuttgart 1964. 6 Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, 43-66, mit besonderem Bezug auf Matthias Bernegger „als Vertreter der politisch-historischen Philologie der Frühbarock", und noch 113-135 (Verfall, Veränderlichkeit und Vergänglichkeit - Zu Fundamentalkategorien barocken Geschichtsdenkens). 7 Der Erfolg dieser Formulierungen beschränkt sich nicht auf das politische Gebiet, sondern erweitert sich auch auf andere Wissensgebiete, wie zahlreiche Behandlungen jener Zeit über die .conversiones' in der Religionsgeschichte, oder über die „mutationes rerum" (von der Zeugung bis zur Korruption aller Dinge) in der Philosophie und Metaphysik, und noch mehrere astronomische Werke über die .conversiones' der Himmelskörper beweisen - es ist ja die Epoche Galileis, der Durchsetzung des kopernikanischen Weltbilds und der Experimentalwissenschaft). Hierzu ist u.a. der Theologe Andreas Osiander zu erwähnen, der dafür sorgte, daß Nikolaus Kopemikus' bahnbrechendes Werk De Revolutionibus Orbium Coelestium im Jahre 1543 in Nürnberg, mit einer wichtigen eigenhändigen, aber anonymen Vorrede, zum ersten Mal erscheinen konnte. 8 Zur Lehre der Weltalter, die mit Daniels Prophezeiung der vier Weltreiche (2, 31-45 u. 7, 2-27) eng verbunden ist, seien hier nur genannt Roderich Schmidt, „Aetates mundi". Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 67, 1955/56, 288-317, und Arnaldo Momigliano, Daniele e la teoria greca della successione degli imperi, in: ders., Storia e storiografia antica. Bologna 1987, 39-46. 9 Zum Glossen-Apparat zu den Gesetzen Kaiser Heinrichs VII. s. Emanuele Conte, Tres Libri Codicis. La ricomparsa del testo e l'esegesi scolastica prima di Accursio. Frankfurt am Main 1990. Zu den Zweifeln Uber die Zuschreibung des Apparats an Bartolus s. Diego Quaglioni, Introduzione, in: Politica e Diritto nel Trecento italiano. Il „De tyranno" di Bar-

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Reich mit seinen großartigen Umwandlungen, die den Übergang zum karolingischen Reich und dann zum Römisch-Deutschen Reich kennzeichneten.10 Diese Lehre war gewiß umstritten (Bodin z.B. lehnte sie ab)", aber sie hatte noch eine starke Gefolgschaft und war vor kurzem von Melanchthon bekräftigt worden. 12

II. In diesem Zusammenhang sind zwei bemerkenswerte Werke von Bedeutung: eine Übersetzung des I. Buchs der Istorie fiorentine von Machiavelli ins Lateinische durch Hieronymus Turler (Frankfurt am Main 1564) 13 und die Historiarum medulla von Georg Nigrinus (Frankfurt am Main 1606). Die Übersetzung des I. Buchs der Istorie fiorentine - das eben mit der Erzählung des Verfalls des Römischen Reichs beginnt - wird von Turler mit einer .Epistola dedicatoria' eingeführt.14 Im Widmungsbrief, wie schon Cornei Zwierlein bemerkte15, vereinigt sich das geschichtliche Interesse mit Elementen der philtolo da Sassoferrato (1314-1357). Con l'edizione critica dei trattati „De Guelphis et Gebellinis", „De regimine civitatis" e „De tyranno". Florenz 1983, 51 Anm. 27. Zur bartolistischen Textstelle vgl. insbes. Danilo Segoloni, Bartolo da Sassoferrato e la „civitas" perusina, in: Bartolo da Sassoferrato. Studi e documenti per il VI centenario. 2 Vols. Mailand 1962, Vol. 2, 513-671, hier 518f. u. Anm. 10, zur Theorie der Übertragung des Reichs in der Glosse „totius orbis" im Tractatus super const. ,Ad reprimendum'. 10 Hierzu grundlegend ist noch immer Werner Goez, „Translatio Imperii". Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958. " Bodin, Methodus (wie Anm. 2), Kapitel 7, unter der Überschrift „Confutatio eorum qui quatuor monarchias aureaque secula statuunt", 310-323. Hierzu s. Andrea Suggi, Cronologia e storia universale nella „Methodus" di Jean Bodin, in: I castelli di Yale 3, 1998,75-92. 12 Vgl. u.a. Stefano Caroli, Comete, portenti, causalità naturale e escatologia in Filippo Melantone, in: Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento (Ed.), Scienze, credenze occulte, livelli di cultura. Convegno intemazionale di studi, Firenze, 2 6 - 3 0 giugno 1980. Florenz 1982, 393-426, und den Sammelband Günther Frank/Stefan Rhein (Hrsg.), Melanchthon und die Naturwissenschaften seinerzeit. Sigmaringen 1998. 13 [Niccolò Machiavelli,] De migrationibvs popvlorum septemtrionalivm, post devictos à C. Mario Cimbros. Item de rvina imperii Romani, factus ex Italico sermone Latinus; per Hieronymvm Tvrlervm I. V.D. Hanau 1601 (Ndr. der Ausgabe Frankfurt am Main 1564), später auch im Anhang zu: Beatus Rhenanus, Rerum Germanicarum Libri Tres. Straßburg 1610. 14 Hieronymus Turler, Epistola dedicatoria, in: [Machiavelli,] De migrationibvs (wie Anm. 13), fol. A2r-B8r. Zu ihm s. Klaus Ley, Castiglione und die Höflichkeit. Zur Rezeption des „Cortegiano" im deutschen Sprachraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Im Anhang: H. Turler, De perfecto aulico B. Castilionii, deque eius in latinam linguam versione narratio (1561), in: Alberto Martino (Hrsg.), Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Amsterdam 1990, 3-108. 15 Vgl. Cornei Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006, 717.

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ippistischen Astrologie. Im Kielwasser von Melanchthon und Peucer, der , Vier-Monarchien'-Theorie und der Lehre der Kontinuität des Deutschen zum Römischen Reich, geht Turler zu einer Analyse der „illustres mutationes" des größten Reiches aller Zeiten bis zur gegenwärtigen Zeit voran, wo zahlreiche außergewöhnliche Naturereignisse (Erdbeben, Finsternisse, Kometen) und die große religiöse Reformation eine bevorstehende Hauptumwälzung deutlich ankündigen.16 Turler erkennt die wahren Ursachen der politischen Hauptveränderungen in der Sünde und im moralischen Verfall, die den göttlichen Zorn hervorrufen, der seinerseits den Umsturz der Reiche verursacht Diese religiösen Ursachen blieben den heidnischen Autoren - wie Plato, Thukydides, Livius und den anderen lateinischen Autoren, die Machiavelli in seiner „eleganten und gedrängten" Geschichte von Florenz gebraucht habe - unbekannt; trotzdem, schließt Turler ab, bestehe kein Zweifel, daß die Kenntnis der Geschichte grundlegend ist, um den irdischen Abglanz von Gottes Universum wahrzunehmen, und das reiche aus, um diese Übersetzung zu rechtfertigen.17 Der Neudruck der Übersetzung Turlers (1601) bringt am Anfang ein Epigramm des lutherischen Kontroverstheologen Geoig Nigrinus, womit er dem Leser das Werk anvertraut: „Wenn du wünschest die Umstürze der Reiche, die Ursachen des Ruins und die auf dem lateinischen Boden gekämpften Schlachten kennen zu lernen, lese diese Seiten, und Du wirst die Gewalt und die Betrügereien der Päpste sehen, die das Unglück im ganzen Reich erzeugten. [...] Das Werk empfiehlt den Autor [d. h.: Machiavelli]. Grab in diese Schriften, Leser: sie haben mehr Nutzen als du vielleicht glaubst."18 Mit demselben papstkritischen Geist faßte Nigrinus seine Historiarum medulla ab. Es handelt sich um eine imposante Chronologie der Päpste, Bischöfe und Europas Herrscher, die nach Nigrinus Tode von Martin Richter vollendet wurde.19 Das Werk nimmt sich vor, durch das „Studium historicum", mit seinen an Tagenden und Lastern reichen Beispielen, „die großen mercklichen Verenderungen beydes der Weltlichen unnd Geistlichen Regimenten [...] von Christi Geburt

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Turler, Epístola dedicatoria (wie Anm. 14), fol. B2r-v. Ebd. fol. B4r-v, B7v-B8r. 18 Georg Nigrinus, Ad Lectorem, in: [Machiavelli,] De migrationibvs (wie Anm. 13), fol. Alv (sowie in anderen folgenden Fällen von mir aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt). Hierzu vgl. Zwierlein, Discorso und Lex Dei (wie Anm. 15), 717, 767. 19 Georg Nigrinus, Historiarum Medulla. Das ist: Beschreibung aller vomembsten Hauptverenderungen, so sich von Christi Geburt an biß auff diese gegenwertige Zeit in den dreyen Hauptständen der Welt nachdencklich zugetragen haben. Frankfurt am Main 1606. Nigrinus hat nur den 1. Teil geschrieben; das Werk, das von einer Vorrede von Johann Jakob Porss eingeführt ist, umfaßt noch einen 2. Teil, eine Chronik von Martin Richter (Historia mundi conversi. Continuatio oder Zusatz was sich fermer zu Bapstes Pauli IV Zeiten [...] zugetragen biß auff diese gegenwertige Zeit). 17

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an biß auf diese gegenwertige Zeit" anzuschauen.20 Auf diese Weise - wie die Vorrede beschließt - „ist also auß diesem Werck fümemlich zuvernehmen, wann und wie der Römische Bapst als der rechte Antichrist in die heylige Christliche Kirche und Gemeine Gottes eyngenisttet, sich an Gottes statt gesetzet, in derselbigen nach seinem Wolgefallen und Gutdüncken geherrschet und tyrannisiert habe. Wie er auch beneben dem Türckischen Tyrannen jederzeit biß auff den heutigen Tag der gröste unnd schädlichste Feind der Christlichen Kirchen, deß Reichs Christi und dessen angehörigen gewesen, unnd noch ist". 21 Machiavelli, dessen Name im Verzeichnis der zitierten Autoren auftaucht, wird auch hier hauptsächlich für seine Beschreibung des Verfalls des Römischen Reiches zu Rate gezogen, und zwar in einer Schilderung, die die .conversiones' der Kirche und der Reiche und Königreiche mit einer mittelalterlich-barocken Flut von Kometen, Eklipsen und außerordentlichen Unglücksfällen begleitet, die Gott als Anzeichen gesandt habe. In Nigrinus' eindrucksvollem Bild von der päpstlichen Korruption zu Rom, die schon Pico della Mirándola und der „heilige Prophet" Savonarola, „ein Zeug[e] Christi" zu Florenz, kraftvoll angezeigt haben, erinnere ich nur an das leuchtende göttliche Zeichen des Blitzes, der zur Zeit des Papsttums von Alexander VI. in das Kastell S. Angelo einschlägt und die Engelsstatue, die es beherrschte, in den Tiber hinabstürzt.22 Die erste Verwendung von Machiavellis Schriften beim Thema der .conversiones rerumpublicarum' verknüpft sich also mit jener wichtigen Strömung der astrologischen Untersuchungen, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in Deutschland, und insbesondere in Wittenberg (der Stadt von Melanchthon, Peucer und Garcaeus dem Jüngeren) eine große Konjunktur hat. Damit hat sich kürzlich Claudia Brosseder in ihrem Buch „Im Bann der Sterne" befaßt, wobei sie sich insbesondere auf das Chronicon Carionis konzentriert.23 Dieses Chronicon ist eine Art Weltgeschichte, die von Melanchthon und Peucer nacheinander verfaßt wurde und sich als das Ergebnis der Verbindung zwischen ,res gestae' (d.h. Geschichte) und Astrologie vorstellte. Zwar war die Astrologie ursprünglich eine heidnische Wissenschaft gewesen, die von den Kirchenvätern mit Argwohn betrachtet wurde; aber seit langer Zeit

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Johann Jakob Porss, Vorrede, in: Nigrinus, Historiarum Medulla (wie Anm. 19). fol. 2Ar-4Av. hier 2Ar-2Av. 2' Ebd. fol. 3Ar. 22 Nigrinus, Historiarum Medulla (wie Anm. 19), 321 f. 23 Claudia Brosseder, Im Bann der Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon und andere Wittenberger Astrologen. Berlin 2004. Die Autorin rekonstruiert die Blüte der Astrologie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Hochschulunterricht zu Wittenberg dank Melanchthon und dessen Schwiegersohn Peucer, obschon Luther ihr ein starkes Mißtrauen entgegenbrachte.

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war sie rehabilitiert worden und war zu einem Teil des christlichen Wissens geworden, als Erkundung der himmlischen Welt.24 In der Heiligen Schrift findet man verschiedene Episoden (die Magier mit dem Kometen, Daniels Prophetien), und noch verschiedene göttliche Versprechen und Drohungen, von denen eine lange Reihe von Theorien über die Abwechslung der Königreiche und Dynastien und die voraussagenden Zeichen ausgegangen sind. Die Abhandlungen zu den .conversiones rerumpublicarum* sind durchdrungen von dieser Verschmelzung von geschichtlichen Begebenheiten, biblischen Episoden und Prophetien, Theologie und Astrologie. Die warnenden Zeichen der Staatsumwälzungen werden einmal in den himmlischen Phänomenen (Kometen, Eklipsen, Stemkonjunktionen), einmal in gewissen Wundern und außergewöhnlichen Naturereignissen (Bränden, Überschwemmungen, Erdbeben, Hungersnot, Pest), einmal in den sogenannten .fatalen Zahlen' (wie 7, 9 und ihren Vielfachen; 63 für das Ende des Menschenlebens, 490 oder 500 für das Ende der Reiche) beobachtet Das alles werde auch in der Literatur und Geschichte bestätigt: von Plato, mit seiner unklaren Zahlensymbolik, bis zu vielen antiken und modernen Historikern.25 Zu diesen werden jetzt auch Tacitus und Machiavelli gezählt, die in ihren Werken gewisse außergewöhnliche Phänomene als Vorzeichen großer bevorstehender Geschichtsereignisse anerkannt haben. Was Machiavelli betrifft, bezieht sich der Verweis auf Discorsi 1,56 („Bevor in einer Stadt oder in einem Land große Ereignisse eintreten, kommen Zeichen, die darauf hindeuten, oder treten Menschen auf, die sie voraussagen"), wo Machiavelli das Beispiel Savonarolas heranzieht.26 Dasselbe hatte er übrigens in seinem Titus 24

Zum Klima, das durch die Zirkulation einer höchst vielfältigen, ebenso kultivierten wie populären Literatur allmählich entstanden war, s. Eugenio Garin, Lo zodiaco della vita. La polemica sull'astrologia dal Trecento al Cinquecento. 3. Aufl. Rom/Bari 1982, mit genauen Hinweisen auf Machiavelli (21, 99, 106); Paola Zambelli, Fine del mondo o inizio della propaganda?, in: Scienze, credenze occulte (wie Anm. 12), 291-368, mit Hinweisen auf Bodin (292 Anm. 3) und auf Machiavelli (293 Anm. 5; 312 Anm. 58). 23 In die Debatte über die prophezeiende Astrologie zwischen 14. und 16. Jahrhundert fließen die bedeutendsten Themen jener Zeit zusammen, von der Wiedergeburt der antiken Kultur bis zu den mittelalterlichen Denkstnikturen und Abeiglauben, zu den neuen Problemen der Wissenschaftsrevolution. Bislang nützlich Friedrich von Bezold, Astrologische Geschichtskonstruktion im Mittelalter, in: ders., Aus Mittelalter und Renaissance: kulturgeschichtliche Studien. München/Berlin 1918, 165-195, und das umfangreiche Werk von Lynn Thomdike, History of Magic and Experimental Science. 8 Vols. New York 19231958. 26 Niccolò Machiavelli, Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio, I, 56, in: ders., Opere. Ed. Corrado Vivanti. 3 Vols. Turin 1997-2005, Vol. 1, 313f. Außer den Wittenberger Astrologen, zu denen Nachweise schon in Brosseder, Im Bann der Sterne (wie Anm. 23), 87 Anm. 29 zu finden sind, verweisen nun viele barocke Autoren auf diese beinahe vergessenen Seiten. So z.B. Christoph Besold, De república curanda I. Diss. Tübingen 1614, in: ders., Operis politici editio nova. Straßburg 1626,147 f. Zu diesem Aspekt von Machiavellis Denken (Prophezeiungen, Wunderzeichen, Schicksal und Astrologie) s. Eugenio Garin,

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Livius und in den florentinischen Chroniken von Dino Compagni und Giovanni Villani gelesen.

III. Eine präzisere Begriffsbestimmung der großen politischen Veränderungen hat man nur mit Bodin in Frankreich und wenig später in Deutschland mit den Dissertationen, die das Thema spezifisch behandeln. Die ersten grundlegenden Werke im deutschen Gebiet sind die Dissertatio política de eversionibus rerumpublicarum von Friedrich Tilemann27, einem Rechtsgelehrten und Geschichtsprofessor zu Wittenberg, aus dem Jahr 1597, und die Dissertatio de conversionibus et eversionibus rerumpublicarum von seinem Schüler Bernhard Zieritz28, einem brandenburgischen Rechtsgelehrten, die in Leipzig im Jahre 1609 veröffentlicht wurde. Die Widmungsepistel von Zieritz bietet auch ein kritisches Urteil über die untersuchte Literatur. Drei Seiten am Anfang sind Machiavelli gewidmet, „einem Mann" - sagt er - „von sehr scharfem Verstand", der „bei Lipsius eine große Bewunderung erweckte", und den nur eine stumpfe und unredliche Auslegung so ungerecht verleumden und verurteilen konnte. Obwohl „seine Werke nicht selten vom rechten Weg der , pie tas' und der Tugend abweichen, fehlt es nicht an Autoren großer Kultur, die schon seine echte Absicht öffentlich erklärt haben". 29 Unter ihnen sind die Rechtsgelehrten Andreas Knichen und insbesondere Alberico Gentiii, den Zieritz zu diesem Punkt ausfuhrlich zitiert: Machiavelli, „Verteidiger und hartnäckiger Verfechter der Demokratie, in der Demokratie geboren und aufgewachsen, und der Tyrannei äußerst feindlich, [...] unter dem Schein einer fürstlichen Erziehung hatte nie die Absicht gehabt, den Tyrannen zu belehren, sondern, im Gegenteil, seine Staatsgeheimnisse zu enthüllen, ihn nackt in vollem Licht vor das elende Volk zu stellen, um somit, wie ein Pädagoge, die Völker zu belehren".30 Dieses Urteil von Gentiii und Zieritz - das viele Autoren der .Conversiones' wieder aufnehmen werden - ist dem wenig späteren Machiavelli-Bild im Boccalinis RagAspetti del pensiero di Machiavelli. in: Dal Rinascimento aH'Illuminismo. Pisa 1970. 4 3 77, hier 56-65. 27 Friedrich Tilemann, De eversionibvs rervmpvblicaram. Diss. Wittenberg 1597, in: Anonymi Christiani Philosophi Liber de virtvte et manvscripto Codice graeco. Augsburg 1603. 28 Bernhard Zieritz, De conversionibus et eversionibus rerumpublicarum. Diss. Leipzig 1609, mit einer langen Epístola dedicatoria (A2r-B I v). » Ebd. fol. A4r-v. 30 Ebd. fol. A4v-A5r. In bezug auf Andreas Knichen verweist er auf „Comm. de Saxonico non provocandi iure ad Verb. Electorum" (Frankfurt am Main 1596). 5. und in Bezug auf Alberico Gentiii auf „De Legationibus Libri Tres" (London 1585). III. 2.

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guagli di Parnaso äußerst ähnlich (berühmt ist Boccalinis Erzählung, in der ihm der Prozeß gemacht wird, weil er den Schafen Hundezähne eingesetzt habe).31 Auch Bodin, trotz des Vorwurfs des Nationalismus, wird mit Begeisterung gelobt, vor allem für die Methodus, „der Historiker Fackel und Lampe", die Possevino zu Unrecht verurteilt habe, weil sie die päpstliche Hierarchie tadele und Sleidans, Melanchthons und Peucers Lehre berücksichtigte.32 „Schönes Urteil, lieber Possevino" - ruft Zieritz aus - „ihr verbrennt jene Bücher, und wir werden Eure den Flammen übergeben".33 Auch Guicciardini erhält große Würdigungen, allerdings mehr für die Analyse der italienischen als der deutschen Geschichte.34 Und endlich kommt man zum Kern der Rage: der eigentlichen Behandlung der .conversiones', die sich auch in den nachfolgenden Werken ähnlich entwickelt. In der breiten Literatur Uber das Argument weiden in erster Linie die zahlreichen .dissertationes' und ,discursi historico-politici' erwähnt, die jeweils den ,mutationes' oder,conversiones' oder .eversiones rerumpublicarum', ihren ,causae' und ihren , signa et remedia' gewidmet sind. Unter ihnen, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, jene von Johannes Kirchmann, Christoph Besold, Matthias Bernegger, Georg Andreas Fabricius, Marcus Zuerius van Boxhorn, Valentin Crüger, gegen Mitte des Jahrhunderts, Hermann Coming, und dann noch Michael Wendeler, Peter Gelstrup, Johann Heinrich Boeckler, Gottfried Reiche, Johann Christoph Fugmann, Johann Ulrich Pregitzer, Johannes Meister, Conrad Samuel Schurzfleisch; und noch, bis in die dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts, Valentin Ernst Löscher, Gabriel Schweder, Franz Woken und andere. Daneben gibt es noch die Darstellungen des Arguments, die in den politischen Traktaten der Zeit - üblicherweise im Bereich der Aufrechterhaltung des Staats oder der inneren Eintracht - umgestaltet worden sind. Diese Behandlungen folgen dem gleichen aristotelisch-bodinschen Grund31

Vgl. Traiano Boccalini, De' ragguagli di Parnaso, 1,89, in: ders., Ragguagli di Parnaso e scritti minori. Ed. Luigi Firpo. 3 Vols. Bari 1948, Vol. 1,326-328. Das Werk wird in Venedig in den Jahren 1612/13 veröffentlicht, wird bald in mehrere Sprachen übersetzt und verbreitet sich schnell. Hierzu s. Luigi Firpo, Traduzioni dei „Ragguagli" di Traiano Boccalini. Florenz 1965, bes. 9-50 für die dt. Übersetzungen. Dazu auch Roberto De Pol, Der Teufel in Parnasso: Boccalinis „Ragguagli" in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts, in: Martino (Hrsg.), Beiträge (wie Anm. 14), 109-131. 32 Zieritz, De conversionibus (wie Anm. 28), fol. A4r, A5r-A6r und 20 f., 63. 33 Ebd. fol. A5r-A7r. Zieritz bezieht sich auf Antonio Possevino, Tractatus de Ioannis Bodini methodo historiae, Libris de repub. et Daemonomania (Rom 1592), fol. 106. Zu den Zensuren an Bodins Schriften s. zuletzt Artemio Enzo Baldini, Jean Bodin e l'Indice dei Libri proibiti, in: Cristina Stango (Ed.), Censura ecclesiastica e cultura politica in Italia tra Cinquecento e Seicento. Florenz 2001, 79-100, und Igor Metani, Il tribunale della storia. Leggere la „Methodus" di Jean Bodin. Florenz 2006, bes. 281-303. 34 Vgl. Tilemann, De eversionibvs (wie Anm. 27), fol. B6v-B7r, und Zieritz, De conversionibus (wie Anm. 28), fol. A5v-A8v, 10-11, 14, 23.

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Schema. Dem Begriffsfeld der .conversiones* gehören nicht nur Entstehung, Wachstum, Blüte und Untergang des Staates, sondern auch die Veränderungen seiner Verfassung oder Staatsform an. Da es nur drei Staatsformen gebe (Monarchie, Aristokratie, Demokratie), „sind auch nur sechs vollkommene Umwandlungen der Staatsform möglich, nämlich der Übergang von der Monarchie zur Demokratie, von der Aristokratie zur Monarchie, von der Monarchie zur Aristokratie, und umgekehrt".35 Hier wird dann jeweils die ganze Diskussion über die Staatsformen entfaltet.36 Änderungen von Gesetzen, Bräuchen, Religion und Aufenthaltsort" sind hingegen keine ,conversio reipublicae' oder Staatsveränderung, sondern „eine bloße Abänderung", wenn sie die Souveränität unberührt lassen. Die Staatsveränderungen sind weiter in freiwillige und notwendige, natürliche und gewaltsame, von inneren oder äußeren Feinden verursachte (Aufruhr, Bürgerkriege, bzw. Angriffe von anderen Staaten) zu unterscheiden.37 Hier setzt jeder Autor mit seiner eigenen Analyse der Geschichte ein. Die Beispiele, die die Argumentationen bekräftigen, sind in großer Zahl gerade aus der Geschichte jener kleinen italienischen Staaten gezogen, die, wegen ihres bescheidenen Ausmaßes, drastischere und häutigere Veränderungen erfuhren.38 Deshalb werden oft die Hinweise auf die Ereignisse von Florenz, Siena, Venedig, Genua, Ragusa, Lucca zum roten Faden ganzer Teile dieser Abhandlungen; und somit nehmen auch die Werke - nicht nur die streng geschichtlichen Werke - von Poggio Bracciolini, Giovanni Pontano, Paolo Giovio, Ma35

Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Übersetzt und mit Anm. versehen von Bernd Wimmer. Eingeleitet u. hrsg. v. Peter Cornelius Mayer-Tasch. 2 Bde. München 1981-1986, Bd. 2, 26 (Buch IV, Kapitel 1). 36 Den meisten Autoren, die mit Machiavelli (II Principe, 2) und Bodin behaupten, daß die Erbmonarchie die beständigste Staatsform sei, stellt Besold die Lehre der Mischverfassung entgegen, die einzige, die ihm zufolge imstande sei, das Problem des leichten Verfalls aller drei Staatsformen in ihre jeweiligen entarteten Versionen zu lösen, wie noch einmal Machiavelli bezeugte, wenn er schreibt: „die Alleinherrschaft wird leicht zur Tyrannis, die Herrschaft einer bevorrechtigten Schicht mit Leichtigkeit zur Oligarchie und die Demokratie artet unschwer zur Anarchie aus". Vgl. Besold, De república curanda (wie Anm. 26), 141 f., und ders., De arcanis rerumpublicarum dissertatio, in: Arnold Clapmar, De arcanis rerumpublicarum libri sex. Leiden 1644, 1-53, hier 30. Er bezieht sich hier auf Machiavelli, Discorsi I, 2 (wie Anm. 26), 203; zit. nach Niccold Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Übersetzt und eingeleitet v. Rudolf Zorn. 2. Aufl. Stuttgart 1977, 12 f. 37 Bodin, Sechs Bücher über den Staat, IV, 1 (wie Anm. 35), Bd. 2, 26-30, zitiert u. a. von Zieritz, De conversionibus (wie Anm. 28), 22, und dann Besold, De república curanda (wie Anm. 26), 140f. Die terminologische Analyse wird vom Philologen und Professor der Geschichte Johann Heinrich Boeckler, De conversionibus, eversionibus, et mutationibus Rerump. dissertatio, in: ders., Institutiones politicae. Strassburg 1674, 443-452, ausführlich entwickelt. 38 Wegen Mangels jenes mittleren Bestandteils (die Masse „der mittleren Lage", wie Bodin sich ausdrückt), welcher imstande ist, sich zwischen die extremen Gegensätze, die sonst unvermeidbar uneinig sind, einzuschalten. Vgl. Bodin, Sechs Bücher über den Staat, IV, 1 (wie Anm. 35), Bd. 2, 52.

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chiavelli, Guicciardini, Scipione Mazzella, Botero, Tommaso Campanella und anderen Italienern eine bedeutende Rolle ein.

IV. Nach dem Abschluß der Phänomenologie der politischen Veränderungen wird im allgemeinen zur Frage übergegangen, ob es möglich ist, sie vorauszusehen und zu vermeiden. Dazu muß man das Problem der Ursachen dies«' Änderungen in Angriff nehmen. Sie sind potentiell unendlich, aber alle können auf Gründe göttlicher, menschlicher oder natürlicher Beschaffenheit zurückgefühlt werden: „das heißt, sie ergeben sich entweder aus Gottes alleinigem Ratschluss [...], oder aus dem regelmäßigen, natürlichen Gang der Dinge [...], so wie Gott ihn geordnet hat, oder aber sie ergeben sich aus dem menschlichen Willen, von dem die Theologen erklären, er sei, zumindest was das weltliche Handeln angehe, frei" (hierzu wird stets Melanchthon zitiert).39 Hier fügt sich die Debatte ein, inwieweit Gott, die Natur, die Menschen und das Fatum die Staatsveränderungen bewirken. Wenn jeder Determinismus der Naturgesetze abgelehnt wird, öffnet sich nun „der Bereich des praktischen Handelns des Herrschers, der Anpassung an die natürlichen Gegebenheiten".40 Schon Tilemann schrieb mit einem typisch machiavellistischen Argument, der Politiker sei wie ein Arzt, der das Übel behandeln können muß - oder aber wie Proteus, der verschiedene Gestalten annehmen konnte um imstande zu sein, den Staat, der von immer neuen Wogen hin- und herbewegt wird, mit Klugheit zu schützen.41 Deshalb zählte er den Mangel an ,prudentia politica' beim Herrscher zu den wichtigsten inneren Ursachen der Staatsveränderungen.42 Diese und ähnliche Reflexionenfließenim klassischen, mit dem Tacitismus eng verbundenen Thema der .arcana imperii' zusammen. Arnold Clapmar und dann Christoph Besold, die sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts 39 Ebd. 57. So u.a. Tilemann, De eversionibvs (wie Anm. 27), fol. E7v: „Imo remanet etiam libera voluntas eius hominis, de quo Deus aliquid sancivit, eoque respicit verbum [...] apud Danielem, c. 5, v. 25." 40 Denzer, Bodins Staatsformenlehre (wie Anm. 3), 243. 41 Tilemann, De eversionibvs (wie Anm. 27), fol. C6r-v: „Quod veteres tradidemnt, Rempub. a vita hominis non esse absimilem [...] vita hominis in perpetuo motu est, nec unquam quiescit. [...] ut recte stoici pronunciarint apud Senecam, epist. 89. neminem eundem esse in senectute, qui juvenis fuit, neminem esse mane quid fuit pridie, corpora enim nostra rapi fluminum more. [...] Nec aliud in omni Repub. videmus accidere, quaelibet in continuo motu temporum magnaque rerum maximanim perturbatione versatur: ut politicum quemcunque Reip. moderatorem oporteat Proteum imitari, ac pervarias figuras sumere, siquidem velit varijs fluctibus agitatam Rempub. prudenter adserere." 42 Ebd. fol. C8r. Die Thematik der ,prudentia politica', mit Ausdrücken, die jenen von Machiavelli sehr ähnlich sind, kommt öfters vor, wie z.B. ebd. fol. D6r-D7v.

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ausführlich mit diesem Thema befassen, widmen unserem Problem einen weiten Raum, nämlich wie man die politischen Rückschläge vermeiden kann. In diesem Kontext benutzen sie auch mehrere im Principe dargelegte Betrachtungen über die Machterhaltung in den verschiedenen Staaten (erblichen, neuen, gemischten Staaten). Doch verbleibt auch bei ihnen die Unterscheidung zwischen , arcana imperii', das heißt erlaubten Regierungsinstrumenten, und ,flagitia dominationis' oder, „wie man mit einem Wort sagt, .consilia machiavellistica'", nämlich unmoralischen und unerlaubten Ratschlägen.43 Denn es ist ja für alle notwendig, der Staatskunst Grenzen (wie Loyalität, Religion und Anständigkeit) zu setzen, die zu überschreiten nicht erlaubt sei.44 Besold, der in der Dissertatio política de república curanda und anderen Werken das spezifische Problem der .conversiones' behandelt45, hält sich lange bei den Betrachtungen darüber auf, wie jedes Lebewesen schicksalhaft nach dem eigenen Lebenszyklus geboren wird, wächst und stirbt. Es sei nur eine eitle Illusion darauf zu vertrauen, man könne mit der „menschlichen Klugheit" gegen die Natur kämpfen und den Verfall vermeiden, ebenso wie die Vorstellung, man könne mit der „politischen Klugheit" (,sapientia política') den natürlichen Staatenveränderungen Abhilfe schaffen. 46 Der verderbte Gebrauch der Gewalt, die Laster und die Sünde, vor allem der Regierenden, beschleunigen zweifellos diesen natürlichen Prozeß und stürzen den Staat ins Verderben hinab; aber, auch wenn die Regierung vorsichtig ist, hat das Fatum tausend Wege, um sich zu erfüllen, und siegt immer.47 Hierzu führt Besold die Machiavelli-Stelle an: „Damit in den menschlichen Dingen nichts beständig sei, ist es so bestellt, dass in allen Republiken Familien auftreten, mit denen das Schicksal des Ganzen zusammenhängt" (Istorie fiorentine, III,

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Clapmar, De arcanis rerumpublicarum libri sex (wie Anm. 36), Lib. V, unter dem Titel: „Flagitia dominationis". Zum Gebrauch des Ausdrucks vgl. ebd. 233-238. Zu ihm s. Michel Senellart, Y a-t-il une théorie allemande de la raison d'Etat au XVIIe siècle? „Arcana imperii" et „ratio status" de Clapmar à Chemnitz, in: Yves Charles Zarka (Ed.), Raison et déraison d'Etat. Théoriciens et théories de la raison d'Etat aux XVIe et XVIIe siècles. Paris 1994,265-293, und zuletzt Vittor Ivo Comparato, I .simulacre imperii' in Arnold Clapmar, in: Saffo Testoni Binetti (Ed.), Il potere come problema nella letteratura politica della prima età moderna. Florenz 2005, 141-151. 44 Vgl. Besold, De arcanis (wie Anm. 36), 10: „Ideoque cum Clapmario, limites hujus artis sunt ponendae: Religio, fìdes, pudor. quos egredi non licet. In quo a nobis abit Machiavell i , qui pro salute Principis, nec eos quidem observandos docet", und 44: ..ita licite nonnunquam utimur arcanis, nunquam flagitiis". 45 Außer De republica curanda (wie Anm. 27) und De arcanis (wie Anm. 36) vgl. von ihm noch De conversione rerum publicarum. Diss. Tübingen 1621 ; De successionibus ac mutationibus imperiorum ac familiamm. Diss. Ingolstadt 1636, und Tractatus posthumus iuris publici de origine, et successione, variisque imperii romani mutationibus. Augsburg/Ingolstadt 1646. 46 Besold, De republica (wie Anm. 36), 169. 47 Ebd.

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S)48, und weiten „Das Schicksal macht die Menschen blind, wenn es nicht will, daß sie sich seinen Absichten widersetzen" (Discorsi, II, 29)49. Auch Hermann Coming, Machiavellis Übersetzer, Kommentator und ausgezeichneter Kenner, geht von diesen Stellen aus. In seiner organischen Darstellung der .conversiones' (,rerumpublicarum\ .monarchiarum', .oligarchiarum'), denen er unter anderem vier spezifische Dissertationen widmet30, stellt er eine interessante - wenn auch etwas forcierte - Lesart Machiavellis vor, die „an einem Schnittpunkt" in der Literatur Uber die Staatsumwandlungen steht (um einen Ausdruck zu verwenden, womit schon Michael Stolleis Comings Position in der Staatsräsonliteratur bezeichnete).51 Coming läßt Flatos Zahlen, die astrologischen .Albernheiten' und alle Reflexionen von Melanchthon, Peucer und Bodin über diese „falschen Naturursachen" beiseite und nimmt die Ausfuhrung über die Staatsveränderungen von den „wahren Ursachen" her wieder auf.52 Diese haben einen dreifachen Ursprung: den übernatürlichen, den natürlichen und den moralischen. Die erste und wichtigste Ursache ist aber ohne Zweifel die göttliche Vorsehung, wovon die Aufrechteiiialtung und die Veränderungen der Staaten am direktesten abhängen. Das ist derart augenfällig, daß auch ein Politiker wie Machiavelli, „ein böser und unfrommer Mann", der „nicht wollte, daß Gott auf der Bühne erscheine", in irgendeiner Weise gezwungen worden ist, davon Kenntnis zu nehmen.53 Das wird von den oben angeführten und noch anderen Stellen bestätigt, in denen er anerkannt hat, daß es, jenseits der Tragweite des menschlichen Verstandes, irgendeine geheimnisvolle, in sich selbst folgerichtige und fast zwingende 48

Niccolò Machiavelli, Istorie fiorentine, DI, 5, in: ders., Opere (wie Anm. 26), Voi. 3, 431; zit. nach Niccolò Machiavelli, Geschichte von Florenz. Ubersetzt v. Alired von Reumont, mit einem Nachwort v. Kurt Kluxen. Zürich 1986,166 - mit geringfügiger Abänderung der deutschen Übersetzung. 49 Machiavelli, Discorsi, II, 29 (wie Anm. 26), 404, Überschrift des Kapitels; zit. nach Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik (wie Anm. 36), 258-261. Auf diese machiavellistische Textstelle verweisen Tilemann, De eversionibvs (wie Anm. 27), fol. E7v, und auch danach Besold, De república curanda (wie Anm. 26), 92. 50 Henrumn Conring, De mutationibus rerumpublicarum (1635); ders.. De morbis ac mutationibus rerumpublicarum (1635); ders.. De morbis ac mutationibus oligarchiarum, earumque remediis (1641), und ders.. De ortv et mvtationibus regnorum (1658), alle in Helmstedt besprochen und in: ders., Opera omnia. 5 Bde. Braunschweig 1730, Bd. 4, bzw. 1034-1081, zusammengestellt. Zu ihm vgl. Michael Stolleis (Hrsg.), Hermann Conring (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk. Berlin 1983, bes. den Beitrag ders., Machiavellismus und Staatsräson. Ein Beitrag zu Comings politischem Denken, in: ebd. 173-199. Dazu auch Michael Stolleis, Hermann Conring (1606-1681). Ein Gelehrter der Universität Helmstedt. Göttingen 1981, und Dietmar Willoweit, Hermann Conring, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik - Politik - Naturrecht. Frankfurt am Main 1987, 129-147. 51 Vgl. Stolleis, Machiavellismus und Staatsräson (wie Anm. 50), 181. 52 Hierzu insbes. Hermann Conring, De Autoribus Politicis, in: ders., Opera omnia (wie Anm. 50), Bd. 3, 17-33, hier 23. 53 Ebd.

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.Fortuna' gibt. 54 In der Tat - bemerkt Conring - „daß es in den Untergängen der Städte manchmal etwas,Fatales' gibt, kann man nicht verkennen; vorausgesetzt aber, daß das Wort ,Fatum' nach dem christlichen Glauben erklärt werde". 55 Insbesondere „damit man versteht, inwieweit die Kraft der Wahrheit Machiavelli selbst, sonst kargen Gottheitsverehrer, inspiriert hat" - fahrt Conring fort - „werde ich eine Stelle des Kapitel 25 seines .Principe' wiedergeben".56 Es handelt sich um das,Incipit' jenes berühmten Kapitels, das unter der Überschrift „Was Fortuna in den Dingen dieser Welt vermag, und wie man ihr begegnen soll" lautet: „Es ist mir nicht unbekannt, daß viele der Meinung waren und noch sind, daß die Dinge dieser Welt so sehr vom Glück und von Gott gelenkt werden, daß die Menschen mit all ihrer Klugheit nichts gegen ihren Ablauf ausrichten können, ja, daß es überhaupt kein Mittel dagegen gibt. [...] Doch da wir einen freien Willen haben, halte ich es nichtsdestoweniger für möglich, daß Fortuna zur Hälfte Herrin über unsere Taten ist, daß sie aber die andere Hälfte oder beinahe so viel uns selber überläßt".57 Gegen die Fortuna, die, wie ein Fluß bei Hochwasser, alles erbarmungslos mit sich reißt, ist es jedoch möglich, mit der Klugheit die Deiche zu bauen, nicht um den Fluß aufzuhalten, sondern um ihn einzuschränken oder seinen Lauf so zu verändern, daß es hoffentlich genügt, um sich die Rettung zu verschaffen. 58 Machiavelli fügt dabei hinzu: „Gott will nicht alles tun, um uns nicht den freien Willen zu nehmen und den Teil des Ruhms, der uns selber angeht".59 Diese Stellen sind vielleicht diejenigen, die am besten Machiavellis Denken über die politischen Veränderungen zum Ausdruck bringen. Conring sucht sie heraus, zitiert sie ungekürzt und hebt sie deutlich hervor. In Comings Übersicht De Autoribus politicis ist Machiavelli gerade für seinen Begriff der .conversiones rerumpublicarum' positiv erwähnt.60 Das alles geschieht aber nach einer umgeformten und berichtigten Version - das Fatum als göttliche Vorsehung - , so daß Ma54

Conring, De mutationibus rerumpublicarum (wie Anm. 50), § 71. 1046. Ebd. Conring, De ortv et mvtationibus regnorum (wie Anm. 50). § 48, 1078. Es folgt ein wortgetreues Zitat nach Machiavelli. 57 Machiavelli, II Principe, 25, in: ders., Opere (wie Anm. 26), Bd. 1. 186f.; zit. nach Niccolò Machiavelli, Der Fürst. Übersetzt u. hrsg. v. Rudolf Zorn. 6. Aufl. Stuttgart 1978, 102 f. 58 Ebd. Interessant hierzu auch Niccolò Machiavelli. Capitoli. Di Fortuna, in: ders., Opere (wie Anm. 26), Voi. 3, 33-42. Aus der reichen Literatur über das Verhältnis zwischen Schicksal und menschlichem Tun bei Machiavelli s. Gennaro Sasso, In tema di naturalismo machiavelliano, in: ders., Studi su Machiavelli. Neapel 1967, 281-358, und Giorgio Slabile, La ruota della fortuna: tempo ciclico e ricorso storico, in: Scienze, credenze occulte (wie Anm. 12), 477-503, hier 501-503. 59 Machiavelli, Il Principe, 26 (wie Anm. 57), 190; zit. nach Machiavelli, Der Fürst (wie Anm. 57), 108. In diesem 26. Kapitel befindet sich u.a. der Ausdruck „revoluzioni di Italia", den Conring mit .conversiones' übersetzt. 60 Conring, De Autoribus Politicis (wie Anm. 50), 23. 55 56

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chiavellis Denken annehmbar, in kurzer Zeit sehr berühmt und in der folgenden deutschen Literatur über die .conversiones' vorwiegend nach dieser Deutung wieder aufgenommen werden wird. Deutliche Beispiele hierfür sind die Werke von Johann Ulrich Pregitzer und Gabriel Schweder, beides Professoren für Geschichte und Politik für einen langen Zeitraum um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert in Tübingen.61 Sie überprüfen nunmehr mit kritischem Geist die frühere Literatur zum Thema und rechnen Coming als Verdienst an, das Feld von einer falschen Vorstellung des Fatums befreit und die .Fortuna' im christlichen Sinn definiert zu haben, und zwar genau in der oben angeführten Textstelle, wo er nach seiner Art Machiavelli erklärte.62

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Vgl. Johann Ulrich Pregitzer, Specimen doctrinae civilis de mutationibus rerumpublicarum. Diss. pol. Tübingen 1676, und Gabriel Schweder, Ivris pvblici de insignioribvs imperiorvm et regnorvm Evropae revolvtionibvs et mvtationibvs, qvae per elapsvm secvlvm XVII. et pavlo post in plerisqve Evropae regnis contigere. Diss. Tübingen 1710. 62 Vgl. insbes. Schweder, Ivris pvblici (wie Anm. 61), 3f.: „[...] quod egregie confirmât Conringius Disp. de mutat. Rerumpubl. § 71. scribens: .Fatale quid in ruinis civitatum interdum reperiri, non credimus diffitendum, modo Fati vox aut castigetur, aut ex Christianeae fidei consuetudine explicentur'".

Zum Machiavelli Hermann Comings* Von

Rosanna Schito Die Untersuchung der Rezeption Machiavellis in Deutschland im Rahmen der universitären politischen Theorie muß von der Grundgegebenheit der konfessionellen Spaltung und der hohen territorialen Ausdifferenzierung und damit von der Tatsache ausgehen, daß sie in einem politisch-institutionellen Kontext vonstatten geht, der einer etablierten Souveränität entbehrt. Angesichts der in solchem Umfang hochdifferenzierten politischen Ordnung nimmt auf deutschem Boden eine Ordnungsform Gestalt an, die die administrativen Funktionen des Staates akzentuiert, und die im Terminus der politia/policey greifbar wird.1 Das deutsche Modell des Staatsbildungsprozesses, der im wesentlichen auf der Ebene der Territorien vonstatten geht, auch wenn die Überwölbung durch die Ebene des Reiches ihre gewisse Bedeutung behält, unterscheidet sich von den Modellen der staatlichen Entwicklung der* Übersetzung aus dem Italienischen von Verena Schwägerl und Cornel Zwierlein. 1 „Die Rekonstruktion der tiefgreifenden Veränderungen, die sich auf der Ebene des politischen Denkens und der Staatstheorie in Deutschland vollzogen haben, ist eng mit dem Erfolg eines Konzepts [...] verknüpft [...], welches, auch wenn es nicht deutschen Ursprungs ist [...] hier den höchsten Grad der theoretischen Ausarbeitung und der konkreten Umsetzung erreicht, um schließlich auf dem Gipfel seiner Entwicklung synthetisch das Wesen des modernen deutschen Staates selbst darzustellen: das Konzept der .Polizei'" (Pierangelo Schiera, II Cameralismo e l'Assolutismo tedesco: Dali'arte di governo alle scienze dello stato. Mailand 1968, 263). Innerhalb dieser Diskussion nimmt die Verbindung zwischen den vom Fürsten ausgehenden Polizeiverordnungen als Ausgangspunkt der Zentralisierung der politischen Gewalt auf dem Staatsgebiet und der hieraus folgenden Bezeichnung des absolutistischen deutschen Staates als Polizeystaat eine außergewöhnliche Bedeutung ein. In diesem Sinn stellt die Polizey das zentrale Element für den Erfolg eines deutschen Absolutismus dar. Genauer gesagt erfolgt jede mit der inneren Politik verbundene politische Aktivität durch die Polizeyordnungen, welche - vor allem im umgrenzten Gebiet der aktiven Verwaltung des Territoriums - als wahre Rationalisierungsinstrumente wirken. Die öffentliche Ordnung kann auf diese Weise von der rechtlichen Befehlsgewalt des Souveräns garantiert werden. Vgl. nur Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland. Neuwied am Rhein/Berlin 1966; Emilio Bussi, Evoluzione storica dei tipi di Stato. Mailand 2002; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. München 2005, 162-206; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 3 Bde. München 1988-1999, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft; ders. (Hrsg.), Policey im Europa der frühen Neuzeit. (lus commune, Sonderhefte: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 83.) Frankfurt am Main 1996; Gerhard Oestreich, Policey und Prudentia civilis in der barocken Gesellschaft von Stadt und Staat, in: ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. v. Brigitta Oestreich. Berlin 1980, 367-379.

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jenigen europäischen Länder, welche die Anlage der modernen Politik um die Figur des Souveräns herum geordnet hatten. Wenn in diesen süd- und westeuropäischen Ländern die Literatur der Staatsräson und der Souveränität zur politischen Haupttheorie wurde, kreiste in Deutschland die politische Debatte im 17. Jahrhundert zunächst einmal stark um die Frage der Reichsverfassung. Es ist eine - wie Merio Scattola beobachtet hat - „mit den analytischen Instrumenten, die von der Geschichte der politischen Philosophie oder der Dogmengeschichte angeboten werden" 2 , nur schwer faßbare Debatte. Es nimmt hier eine Denkrichtung Gestalt an, die sich bewußt von der praktischen Philosophie oder den Praktiken der Regierung entfernt, um eine als gegliederte Verwaltungswissenschaft verstandene politische Disziplin zu entwickeln. Die politische Wissenschaft hat das Ziel der rechten Verwaltung der Staats-Händel. Das Fehlen einer voll ausgebildeten Theorie der Souveränität wird durch eine Forderung administrativer Effizienz aufgewogen, die uns dazu berechtigt, von einer Regierung ohne Staat oder von einem Staat, welcher den vorgängigen Ordnungen des geregelten städtischen und territorialen Lebens nachfolgt, zu sprechen. Wenn auch im deutschen Raum eine Diskussion um den Souverän erwacht, so entsteht zwar eine Theorie der maiestas3, aber in einem der Bodinschen Theorie der summa potestas entgegengesetzten Sinn. Ebenso entsteht zwar auch eine Theorie der Staatsräson, die mit dem Namen Machiavelli eng in Verbindung steht.4 Jene wird aber in einem doppelten Sinn als fremd empfunden, einerseits im Sinne einer Doktrin „aus einer anderen Region", und somit fremd der Herkunft nach, als auch andererseits als fremd dem Inhalt und Anspruch nach.5 In der Tat stellt sich die Diskussion um die ratio status in Deutschland zumindest zu Beginn als antimachiavellische Diskussion dar, obgleich in der tagtäglichen praktischen Politik und auch in der politischen Sprache staatsräsonables Kalkül längst Eingang gefunden hatte, teilweise taciti-

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Merio Scattola, La nascita delle scienze dello Stato. August Ludwig Schlözer (17351809) el le discipline politiche del Settecento tedesco. Mailand 1994, 12. Vgl. Merio Scattola, Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell'età moderna. Mailand 2003, 245. 4 Vgl. Michael Stolleis, Stato e ragion di Stato nella prima età moderna. Bologna 1998, dt.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990. 5 Vgl. Peter Nitschke, Staatsräson kontra Utopie? Von Thomas Müntzer bis zu Friedrich II. von Preußen. Stuttgart/Weimar 1995, 48ff. Hierzu hat Meinecke (L'idea della ragion di Stato nella storia moderna. Florenz 1970, 185) festgestellt: „Wesentlich neues und wichtiges Gedankengut gegenüber dem, was wir in der italienischen Literatur bemerkten, finden wir in der deutschen Literatur nicht. Es wurde von vornherein als ein romanisches Fremdgewächs empfunden, als eine Lehre, deren Wucht man sich zwar nicht entziehen konnte, die man wohl den deutschen Bedürfnissen anzupassen versuchte, aber zugleich auch wieder mit Mißtrauen und Angst betrachten konnte." Zit. nach Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. Hrsg. und eingel. v. Walther Hofer. (Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 1.) 3. Aufl. München 1963, 156. 3

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stisch camoufliert.6 Andererseits bedingte die konfessionelle Spaltung auch, daß man Machiavelli als Opfer der römischen Zensur und als Papstkritiker durchaus zunächst eine positivere Haltung gegenüber einnehmen konnte als im katholischen Europa. In dieser Situation erfolgte die Rezeption der Schriften Machiavellis auf besondere Art und Weise: nach einer ersten gelehrten Rezeption, die durch die europäische Machiavelli-Debatte begünstigt wurde, tendieren die Lesarten in Deutschland zu einer Interpretation jenseits des vereinfachenden Moralismus. Hierfür steht insbesondere die Anverwandlung durch Hermann Conring.7 Bei ihm erfährt das Thema der Staatsräson nach der polemischen Rezeption sieht man von der Vorbereitung im Neostoizismus ab8 - eine Rehabilitierung, welche die wissenschaftliche Untersuchung des Problems der Regierungstechniken neu in Gang setzt 1660 publiziert er eine dem französischen Politiker Hugues de Lionne gewidmete Edition des Fürsten, welche nach dem Urteil der Zeitgenossen die beste lateinische „Princeps"-Ausgabe des 17. Jahrhunderts [wurde]"9. Im darauffolgenden Jahr schreibt Conring einen Kommentar zu selbigem Werk.10 Die Einführung der Anmerkungen weist einen Zwiespalt auf: Wenn einerseits Conring Machiavelli durch die lateinische 6

Nitschke, Staatsräson kontra Utopie (wie Anm. S), SO; Giuseppe Toffanin, Machiavelli e il tacitismo. La Política storica al tempo della Controrifonna. Padua 1921. Zu einer Gesamtübersicht zur Figur und zum Denken Comings siehe: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (wie Anm. 1), Bd. 1, 207-209 und 231-233; ders. (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert München 1995, 135 f.; ders. (Hrsg.), Hermann Conring (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk. Berlin 1983; Dietmar Willoweit, Hermann Conring, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert: Reichspublizistik, Politik, Naturrecht Frankfurt am Main 1977, 129-147; Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat: Die „Politica" des Henning Amisaeus (ca. 1575-1636). Wiesbaden 1970; Emst von Moeller, Hermann Conring, der Vorkämpfer des deutschen Rechts, 1606-1681. Hannover 1915; Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. 4. Aufl. Tübingen 1963; Otto Stobbe, Hermann Conring. Der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte. Berlin 1870; Karl Rothe, Hermann Conring als Politiker. Phil. Diss. Gießen 1928; Walter Lang, Staat und Souveränität bei Hermann Conring. Jur. Diss. München 1970; Arno Seifert, Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte: Studien zur Geschichte der Reichstheologie des friihneuzeitlichen deutschen Protestantismus. Köln 1990. Ich zitiere die Schriften Comings aus der Ausgabe: Hermann Coringii Operum Tomi I-VI. Hrsg. v. Johann Wilhelm von Goebel. Brunsvigae 1730 (Ndr. Aalen 1970-1973), und aus der Monographie Hermanni Conringii, Animadversiones politicae, in: Nicolai Machiavelli librum de principe, in der Ausgabe von Helmestadii 1661. 8 Zur Rezeption von Lipsius und Tacitus im 17. Jahrhundert in Deutschland insbesondere: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (wie Anm. 1), Bd. 1., 90-102; ders., Stato e ragion di Stato (wie Anm. 4), 69 ff., 201 ff.; ders. (Hrsg.), Staatsdenker (wie Anm. 7); Gerhard Oestreich, Antiker Geist und modemer Staat bei Justus Lipsius (1547-1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung. Göttingen 1989. 9 Stolleis, Stato e ragion di Stato (wie Anm. 4), 89, zitiert nach Stolleis, Staat und Staatsräson (wie Anm. 4), 92. 10 Hermanni Conringii, Animadversiones politicae (wie Anm. 7). 7

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Übersetzung des Fürsten rehabilitiert, und dieser daher sozusagen wieder zum Klassiker gemacht wird, zählt er andererseits in den Prolegomena der Animadversiones politicae erst einmal die fünf Haupteigenschaften eines Textes auf, die dieser aufweisen muß, um ein .gutes Buch' bzw. ein emstzunehmendes wissenschaftliches Werk zu sein - was zu Zweifeln hinsichtlich gerade von Machiavellis Büchlein führen könnte. Es wird auf diese Weise in wenigen Zeilen eine Art konzentrierter „Dekalog" der Kriterien für die Glaubhaftigkeit und Güte eines Wertes des Staatsdenkens umrissen. Dies dient wahrscheinlich dazu, einerseits den Weg für die Annäherung an Machiavelli zu bahnen, andererseits zugleich von vorneherein eine Distanznahme zu signalisieren. Es gab aus Comings Sicht Gründe dafür, die alten gegenreformatorischen Positionen, aufgrund derer der Florentiner als auetor malus galt, zu revidieren, es gab aber andererseits gute Gründe, die ein durchweg positives Urteil über Machiavelli oder gar eine Anwendung seiner Theorie des Fürsten tout court verhindern: Dies ist die Aufgabe, der sich Conring stellte. Es zeichnet sich eine Haltung ab, die jegliche starre und „doktrinäre" Übernahme Machiavellis ausschließt." Von Machiavelli konnte man weder eine Policeylehre noch eine Staatstheorie ableiten, und doch scheint gerade diese Fragilität und .Ortlosigkeit' Machiavellis einen enormen Reiz auf die höchst aufmerksamen intellektuellen Kreise Mitteleuropas ausgeübt zu haben. Weiter scheint Conrings Edition zunächst einmal überhaupt die Dichte und Bandbreite der Positionen dokumentieren zu wollen, die sich zu diesem Zeitpunkt in der gelehrten Kultur Europas zu Machiavelli schon angesammelt hatten. Die genauen Hinweise Comings auf Lipsius, Gentillet, Possevino und Gentiii dienen auch diesem Zweck. Es ist aber alles in allem schwierig, der hohen Aufmerksamkeit Conrings für Machiavelli eine eindeutige Bedeutung zuzuschreiben: Auf der einen Seite bietet Machiavelli keine ,Lehre', auf der anderen ist er nicht in einer einzigen Art und Weise lesbar, bis hin zur offengelassenen Alternative, ob er nun Philosoph oder Historiker gewesen sei. Diese Unklarheit von Conrings Position spiegelt sich auch in der Einschätzung der älteren Forschung wider: Meinecke widmete unserem lutherischen Autor nur wenige Zeilen: „Dann wand er sich freilich hin und her zwischen Realismus und Moralismus, beteuerte bald unter Berufung auf Gott, die Bibel und das Naturrecht, daß es recht wohl möglich sei, Staaten auch ohne Verbrechen zu regieren, bald wieder 11 „Eximii cujusque libri dotes quinque sunt. Prima: si nihil neglectum, eorum quae ad susceptum argumentum pertinent. Altera: si non in alienis atque ad rem non pertinentibus tractatio fuerit occupata. Tertia: si quae tradita sunt, cum ex prineipiis propriis, tim vere ac probe sint deduca. Quarta: si justo ordine omnia ad finem usque sese consequantur. Quinta denique: si dictio sit adibita argomento conveniens. Ad hasce proinde dotes, tamquam ad normam recate scriptionis, Machiavelli quoque de Principe libellus fuerit exigendus". Ebd. Prolegomena, auch in: Opera (wie Anm. 7), IV.

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mußte er einräumen, daß es auch für gerechte Fürsten in Notlagen zuweilen nicht unangemessen sei, die versprochene Treue zu brechen. Und die vielfach treffliche Kritik, die er an Machiavellis Ratschlägen übte, ging absichtlich vom utilitaristischen, nicht vom moralischen Standpunkt aus"12. Das Gesamtbild Conrings, das Erik Wolf13 uns liefert, ist das „des rastlosen Intellektuellen, der Wissen anhäufte und instrumental verwendete, ohne ethische Bindungen zu kennen, der dem Erfolg nachjagte und dabei die Moral vergaß"14. Sein Schaffen sei meist auf das Eningen persönlichen Erfolgs und politischer Unterstützung ausgerichtet. Mit anderen Worten ist Conring laut Wolf ein „karrierebewußter Füstendiener"15, der frei von ethischen und moralischen Bindungen ist und einer politischen Orientierung entbehrt Oder sehen wir uns doch einem „deutschen" Machiavelli gegenüber, wie dies Horst Dreitzel behauptet hat? Laut Dreitzel hat Conring versucht, verschiedene Denkströmungen zu vereinbaren, auch indem er diese kritisiert vom Theorem der Gewaltherrschaft Machiavellis hin zur Militärmonarchie des Lipsius und zu Grotius' „systematischer Darstellung", um schließlich die Ausbildung eines „positiven Landesrechts" zu leisten.16 Das größte Verdienst des Helmstedter Intellektuellen ist sicher vor allem, durch sein Denken und seine historische Ausrichtung der Autonomisiening der Politik von der Religion einen starken Impuls gegeben zu haben. Aber das reicht nicht aus, um aus Conring einen „deutschen" Machiavelli zu machen. Sowohl seine gelehrte Persönlichkeit als auch seine Ambitionen als Politiker erscheinen in der Tat komplexer und ambivalenter zu sein. Michael Stolleis und Dietmar Willoweit haben die zuletzt wichtigsten Vorarbeiten unternommen, um dem politischen Denken Conrings in seiner Komplexität gerecht zu werden, Constantin Fasolt streift diese Thematik in seinen stärker auf das historisch-juristische Œuvre ausgerichteten Untersuchungen nur.17 Im folgenden wird mit aller Vorsicht versucht, der Auseinandersetzung mit dem Machiavelli Conrings, der sich wahrscheinlich teilweise mit dem Florentiner viel stärker im Einklang fühlte, als es seine Klugheit zuließ, offen erkennen zu geben, einen gewissen Sinn zu geben. Es zeichnet sich dabei ein verschlungener Weg ab.

12 Meinecke, L'idea della Ragion di Stato (wie Anm. 5), 1%, zitiert nach Meinecke, Die Idee der Staatsräson (wie Anm. 5), 165 f. 13 Erik Wolf, Hermann Conring, in: ders. (Hrsg.), Große Rechtsdenker (wie Anm. 7), 220252, hier 243. 14 Stolleis, Stato e ragion di Stato (wie Anm. 4), 70, zitiert nach Stolleis, Staat und Staatsräson (wie Anm. 4), 74. 15 Willoweit, Hermann Conring (wie Anm. 7), 129. 16 Horst Dreitzel, Hermann Conring und die politische Wissenschaft seiner Zeit, in: Stolleis (Hrsg.), Hermann Conring (wie Anm. 7), 135-172. 17 Constantin Fasolt, The Limits of History. Chicago 2004.

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Comings Befassung mit Machiavelli ist zunächst in den allgemeinen Kontext des lutherischen politischen Aristotelismus der Universität von Helmstedt einzureihen, wo „Conringius" eine besonders bedeutsame Rolle innehatte.18 Diese Denkschule schien im ,politischen Realismus' Machiavellis eine ihrer eigenen Methodologie wahlverwandte Konzeption gefunden zu haben. Für die lutherischen Aristoteliker ist die Politik diejenige Disziplin, welche das genus civitatum zum Gegenstand hat und nicht einen einzelnen Staat. Es handelt sich also nicht um eine generische Staatenkunde, sondern vielmehr um eine „Fortschreibung" der „Individualethik" im Rahmen des „staatlichen Handelns". 19 Die Politik20 nimmt für Conring und seine Schule die Bedeutung einer Disziplin an, die vor allem dem Studium der verità effettuale der Staaten ihre Aufmerksamkeit widmet und so eine wissenschaftliche Analyse derselben entwickelt. Als Wissenschaft wohnen der Politik spezifische Erkenntnisgesetze inne, und demnach ist sie keiner bestimmten Ethik verpflichtet, da die Grundlagen eines jeden Staates unterschiedlich sind. Die Einführung dieser spekulativen Ausrichtung der Politikwissenschaft ist in der Tat fundamental, da sie der Politik eine wissenschaftliche Reichweite verleiht, die sie von der Moral entfernt und die es erlaubt, das machiavellische Paradigma innerhalb eines historisch-rationalen Interpretationsrahmens zu übersetzen. Ausgehend von dieser Position scheint es möglich, die Politik von der Religion loszulösen, ohne jedoch einen kompletten Bruch zwischen dem Universum der Moral und demjenigen der polis zu vollziehen.21 Im Rahmen der allgemeineuropäischen Diskussion über Staatsräson und arcana findet die Behandlung Machiavellis, um mit Meinecke zu sprechen22, eine ganz eigene deutsche Lesart. Es handelt sich um eine neue Herangehensweise, eine „historische Schule des mitteleuropäischen Machiavellismus", welche das andere Gesicht eines Europas ist, welches stolz auf die Reformationstradition ist, sich aristotelisch gibt und sich vom lateinisch-katholischen Europa unterscheidet. Conrings Konzeption fußt auf den aristotelischen Prinzipien des bonum commune und der „organischen" Verfassung des Menschen in seiner Eigenschaft als zoon politicon. Demnach erfolgt die Verwirklichung des Menschen 18

Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus (wie Anm. 7). Vgl. Willoweit, Hermann Conring (wie Anm. 7). 135. Zur Entwicklung der politischen Disziplin des 17. Jahrhunderts in Deutschland siehe: Merio Scottola, L'ordine del sapere. La bibliografìa politica tedesca del Seicento, in: Archivio della Ragion di Stato 10/11, 2002/03, 5-39; ders.. Dalla virtù alla scienza (wie Anm. 3), insbesondere 9 - 4 0 und 82-102; Stolleis. Geschichte des öffentlichen Rechts (wie Anm. 1), Bd. 1, 80-82 und 104-124. 21 Vgl. hierzu - ohne Rekurs auf seine Machiavelli-Behandlung - Constantin Fasolt, Politicai Unity and Religious Diversity: Hermann Conring's Confessional Writings and the Preface to Aristotle's Politics of 1637, in: John M. Headley (Ed.), Confessionalization in Europe, 1555-1700: Essays in Honor and Memory of Bodo Nischan. Aldershot 2 0 0 4 , 3 1 9 345. 22 Vgl. Meinecke. L'idea della ragion di Stato (wie Anm. 5), 184. 19

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innerhalb der Gemeinschaft, in der er lebt, d.h. die gesellschaftliche Organisation macht die Verwirklichung der Zielsetzungen der Politik möglich. Es handelt sich hierbei offensichtlich um einen anderen Ausgangspunkt als bei Machiavelli, welcher die Menschen in Kapitel XVII des Fürsten als undankbar, wankelmütig, doppelzüngig und heuchlerisch, die Gefahren fürchtend und den Gewinn begehrend beschrieben hatte. Auf Anhieb scheint zwischen dem Denken des Florentiners und demjenigen eines Aristotelikers wie Conring, welcher den anthropologischen Pessimismus des Büchleins vom Fürsten nicht übernehmen kann, offensichtlich ein unüberbrückbarer Abstand zu klaffen. Die Staatszweckbestimmung und Politikkonzeption Comings ist in seiner Dissertation De ratione status und in De civili prudentia genauer zu analysieren. In seiner Dissertation De ratione status23 nimmt Conring die Darlegung des Gegenstands zunächst von der etymologischen Begriffsklärung her auf. In den Paragraphen X und XI seiner dissertatio legt er die Frage der Definitio und die der Divisio in generalem et specialem der ratio status dar. Dabei beruft er sich zum einen auf die antiken Denker - Aristoteles, Cicero, Livius, Tacitus, Polybius etc. - , zum anderen auf die modernen Denker - Clapmar, Boeder, Hippolytus a Lapide (= Philipp Bogislaw von Chemnitz), Thomas More, Hugo Grotius. Auch die italienische Literatur zum Thema - Settata, Ammirato, Palazzo - wird aufgeführt, er schließt Hann aber abrupt: „breviter nos rationem status utilitatem reipublicae definimus."24 Auf diese Weise erscheint es möglich, zu behaupten, daß - wie Aristoteles in der Politica festgestellt hat - die Staatsräson „non ex rebus necessariis tantum, sed utilibus est".25 Das finis reipublicae besteht hiernach in der salus publica, auch wenn religio sive pietas, fides, pudor e justitia für Coming die Grenzen der ratio status darstellen.26 Conring bezieht sich auf das Konzept der utilitas publica „qui est avium salus" - , das sich von demjenigen der „Machiavellistae" unterscheide, welches meist an der ,,utilita[s] et comod[um] solius dominantis"27 ausgerichtet sei, also nur die Interessen des Fürsten im Blick hat und nicht diejenigen der civitas. Das Wiederaufgreifen des Begriffs des Gemeinwohls in dieser aritotelisch-lutherischen Tradition meint sowohl das bonum commune als auch die Wohlfahrt des Staats. In materieller Hinsicht und utilitaristischer Zweckdienlichkeit wird das „Gemeinwohl" zum zentralen Element und zur Zielsetzung des Staates selbst und präfiguriert damit das wohl23

Es ist dienlich, daran zu erinnern, daß das Traktat im Jahr vor seiner Veröffentlichung (1651), Gegenstand einer disputatio von Heinrich Voss (Mitglied der aristotelisch-lutherischen Schule) war, welcher Conring vorstand. Die Niederschrift erschien unter dem Namen Comings in: Hermann Coringii Operum Tomi I-VI (wie Anm. 7). 24 Hermann Conring, De raüone Status, in: Opera (wie Anm. 7), IV, 552. 25 Ebd. 557. 25 Ebd. 571-574. Darüber hinaus vgl. Willoweit, Hermann Conring (wie Anm. 7), 134. 27 Hermann Conring, De ratione Status, in: Opera (wie Anm. 7), IV, 551.

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fahrtsstaatliche Modell. Während die Analyse der Gegenwart durch die Politica prudentia durchaus im Sinne einer machiavellischen verità effettuale erfolgen muß, ist die Frage der Mittel zur Verfolgung der Ziele der civitas mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Wenn man danach geht, was Conring in den Prolegomena seines Kommentars zum Fürsten schreibt, umfaßt die Politica prudentia: „partim experientia, partim ratiocinatione comparetur, illiusque sit compendium quidem historiae peritia, exercitatio vero ipse rerum usus" 28 , und die Politik sei nichts anderes als die „peritia pro utilitate reipublicae" 29 . In De civili prudentia, einem Werk, dem er sich über viele Jahre widmet, stellt Conring fest, daß der umstrittene lateinische Begriff der ratio status ursprünglich die Bedeutung von ,Jieipublicae rationem" hatte. Ursprünglich sei er sowohl mit der Bedeutung von „commodum publicum civitatis" als auch mit der Bedeutung von „reipublice cumprimis qualis ea in presenti est" verwendet worden, und daher konnte nach Comings Meinung dem Begriff ratio status nichts falsches zugeschrieben werden, wenn dieser in der Bedeutung von „dirigere Consilia quam pro scopo actuum habere salutem illam publicam" verwendet wurde. Im Gegenteil sei dieselbe Wendung nur mit dem Vorwand beschworen worden, die „dominationis flagitia" auszuüben. 30 Auf diese Weise entfernt sich die Theorie Comings nicht von der moralischen Argumentation zur guten und schlechten Staatsräson. Hiervon zeugen die durchgehenden Bezugnahmen des Autors auf Chiaramonti, Ammirato und auf den Deutschen Chemnitz, um nur einige zu nennen. Es verbleibt dem hier behandelten Lutheraner daher die vorsichtige Präzisierung des Unterschieds zwischen dominationis flagitia und jus dominationis.31 Die Ausführungen zur Bedeutung von „ratio status" haben das Ziel, das lateinische Wort von der „bösartigen" Interpretation zu befreien, welche die ursprüngliche Bedeutung verzerre: „Altera acceptio est: qua Politicus audit sive solus sive quam maxime is, qui ad rationem Status quam vocant omnia exigens, fas omne e nefas, una illa metitur, adeoque id demum censet agendum quod ratio status expostulat." 32 Diese Bedeutung trete in der Tat - so legt der Autor dar - erst nach Machiavelli auf: „ille vocis usus forte post Machiavelli aetatem noviter exortus". 33 Dem Florentiner wird deswegen der Titel eines 28

Willoweit, Hermann Conring (wie Anm. 7), 134. Hermann Conring, De civili prudentia, in: Opera (wie Anm. 7), III, 280. 3° Ebd. 31 Von diesem leiten sich die arcana imperii publicarum ab - die Mittel zur Erreichung eines bestimmten Ziels, welches von Staat zu Staat unterschiedlich ist (Settala und Clapmar), von denen jeder über eine eigene ratio Status verfugt - , innerhalb der arcana imperii publicarum kann darüber hinaus zwischen arcana imperii (die Mittel zum Erhalt der Regierungsform) und arcana dominationis (die Mittel zum Erhalt der Herrschaft, die je nach Regierungsform variieren) unterschieden werden. 32 Hermann Conring, De civili prudentia (wie Anm. 29). Kap. II. 33 Ebd. 29

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Avantgarde-Kämpfers und eines Meisters der Politik zuerkannt: „quod hoc magistro eam doctrinam coepisse, ipse vero politicorum antesignanus existimetur"34; bis hin zu dem Punkt, an dem es beim Rückschritt in die Veigangenheit schwierig erscheint, die gleiche Lehre zu ñnden: „Neque vero qui perinde id aperte docuerit, quisquam plurimis seculis est inventus"35. Coming reserviert also jedenfalls für Machiavelli sehr deutlich die Position der Innovativität im Rahmen einer neuzeitlichen Entwicklungswahrnehmung. Hierhin gehören auch seine aufmerksame Untersuchung der Discorsi, wobei er auf Übersetzungsfehler in der VWgoto-Tradition des Florentiners hinweist, sowie sein Rekurs auf die Antike. Auf diese Weise emanzipiert der Lutheraner Machiavelli vom Machiavellismus. Und in der Tat vertritt Conring in den Animadversiones politicae, indem er die umstrittene Metapher vom Fuchs und vom Löwen, welche im berühmten Kapitel XVIII des Fürsten enthalten ist, neu interpretiert, die Auffassung, daß der General Lysander, „Lacedaemoniorum ducem", nach den Schriften Plutarchs zu sagen pflegte: „quo pertingere pellis leonina non poßi tibi affuendam vulpinam".36 Der Lutheraner stellt fest, daB Machiavelli die berühmte Metapher ja schlicht von Plutarch entlehnt und gezeigt habe („Ab illo videtur Machiavellus hanc leonis ac vulpis immaginem mutuatus"), wie der spartanische General in seinem Handeln sich nicht darum sorgte, „fraudum et iniustae violentiae" zu vollführen.37 Der Kommentar zu dieser Stelle erfordert allergrößte Behutsamkeit, da es „in vollendeter Form die Ideen enthält, welche [...] den zentralen Kern des Mythos des Machiavellismus bilde[te]n".38 So beschließt Conring dessen Behandlung, indem er sich auf ein erstaunlich ähnliches praeceptum Salvatoris beruft: „estote simplices sicut columbae et prudentes velut serpentes".39 In De civilis prudentia und in De ratione Status ordnet Conring die verschiedenen Regierungsformen so an, wie Aristoteles sie behandelt hatte, und nimmt die Behandlung der ratio status für jede gesondert in Angriff. Der unterschiedlichen Struktur der politischen Gebilde40 entspricht eine unterschiedliche ratio Status. Diese variiert folglich von Respublica zu Respublica, da die Natur einer jeden civitas anders ist: „Hinc vero consequens est, cum una sed multiplex admodum reipublicae sit natura, rationem quoque Status esse variam".41 Machiavelli hingegen, der sich auf die Eigenschaften der Herrschaft und insbesondere auf die der tyrannischen Herrschaft beschränkt habe, hätte 34

Ebd. Ebd. 36 Ders., Animadversiones politicae (wie Anm. 7), 166. 37 Ebd. 38 Josef Macek, Machiavelli e il machiavellismo. Florenz 1980, 159. 39 Hermann Conring, Animadversiones politicae (wie Anm. 7), 166. 40 Zur Definition des Reichs siehe insbesondere Kapitel I der Animadversiones politicae (wie Anm. 7). 41 Ebd. Prolegomena, 2. 35

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sein Pamphlet nach Conring mit einem anderen Titel versehen müssen42, eben da „in eo tarnen, quod reliquas omnes Regnorum species silentio praeterierit"43; und „premittit nonnulla de Principatuum variis differentiis" 44 . Im ersten Kapitel der Animadversiones argumentiert er, daß „nec enim una est Principatuum omnium conditio, sed multum diversa. Eoque multum diversa est ratio, illos probe componendi, tuendique". 45 Dies bildet nach Conring den Grund für die Inkonsistenz des Principe im Sinne der eingangs der Animadversiones von ihm aufgestellten Kriterien: die Schrift des Florentiners trägt zur Politikwissenschaft gerade aufgrund ihrer Unvollständigkeit nicht substanziell bei. Und wenn es auf der einen Seite stimmt, daß die Ratschläge des kurzen Traktats Machiavellis „pertineant ad plenum de Regno argumentum", so fehlen in der Behandlung andererseits die grundlegenden Bestandteile, wordurch die Unterschiede herausgestellt werden, nämlich „ortu, iteritu, mutationibus, et conservatione". Es fehlen außerdem die „idónea remedia" gegen die tyrannische Herrschaft, auf die Aristoteles explizit hingewiesen hatte.46 Andererseits unternimmt Conring bekanntlich einen Fundamentalangriff auf den Jesuiten Possevino und dessen gegen den Florentiner Sekretär gerichteten Beleidigungen und Kritiken, welcher bezichtigt wird, von geringem „ingenium et acumen" 47 zu sein. Und ebenso wird der französische Antimachiavellist Innocent Gentillet kritisiert, welcher „in praefatione Antimachiavelli" - so schreibt Conring, behauptet habe, daß - „Machiavellum historiarum nullam vel perexiguam notitiam habuisse". 48 Der lutherische Gelehrte antwortet den Antimachiavellisten mit den Beobachtungen des Italieners Alberico Gentiii49, welcher in Buch III, Kapitel 9 von De Legationibus richtig geschrieben hatte: „recte dixit lib. 3 de legationibus cap. 9. Machiavellum hoc habere, 42

„Primum igitur, est Machiavellus simpliciter de Principatu aut Regio Statu scripturum sese sit professus, non tarnen illa vel ea, quae de Regnorum omnium differentiis, ortu, iteritu, mutationibus, et conservationem jam olim ab Aristotele et alijs sunt prodiga, docuit tantum abest, ut aliis indicta omnia addiderit"; Hermann Conring, Animadversiones politicae (wie Anm. 7), Prolegomena, 1 f. 43 Ebd. Prolegomena, 2. 44 Ebd. 7. 45 Ebd. 7. 46 Ebd. 2. 47 Ebd. 3. 4 « Ebd. 49 Conring verweist den Leser auf ein sehr wichtiges Kapitel von De Legationibus, in welchem Gentiii Machiavelli offen lobt und ihn vor den Angriffen in Schutz nimmt, indem er feststellt, wie in Wirklichkeit „Machiavellus Democratie laudator, et affector acerrimus: natus, educatos, honoratus in e o reip. Statu: tyrannidis summe inimicus. Itaque tiranno non faudet: sui propositi non est tyrannum istituire, sed arcanis eius palam factis ipsum miseris populis nudum et conspicuum exhibere"; Alberico Gentiii, De legationibus libri tres ómnibus omnium studiosis, praecipue vero juris civilis lectu útiles, ac máxime necessarii. Buch 3, Kap. 9 (1594), ich zitiere den Text Gentiiis aus der Ausgabe von Hanoviae aus dem Jahr 1607. Vgl. auch oben S. 5 0 f „ 8 6 f .

Zum Machiavelli Hermann Comings

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quod in lectione historiarum non grammatizet50 sed philosophetur".51 Und den Gentilleti calunniae, derer sich Possevino bedient hatte, stellt Coming das Denken des Holländers Justus Lipsius gegenüber, der im Gegensatz zu den gerade erwähnten Autoren die Geistesschärfe und das Talent Machiavellis eher gelobt hatte: .Justus Lipsius vero etiam laudaverit ejus ingenium acre subtile igneum".52 Coming stellt sich einer Kritik entgegen, die ohne Grundlage und letztlich ignorant vorgeht Machiavelli untersuche in Wirklichkeit die Geschichte „non ad voluptatem, aut in usum Grammaticum [...] sed cum civilis prudentía fructu".53 So betont Coming stets die Ungenauigkeiten derjenigen, die sich mit Negativinteilen dem Principe gegenüber hervorgetan hätten, auch wenn diese Doktrin nicht in all ihren Teilen annehmbar sei. Ist es folglich die Absicht der Beobachtungen Comings zu Machiavelli, diesen zu „korrigieren", um den Principe „wieder in sein Amt einsetzen" zu können und um in der Folge einen neuen, von der Ballast der antimachiavellistischen Kritik befreiten Diskurs über die gleichen Fragen zu eröffnen? Wenn man sich hier noch einmal an die Einschätzung Meineckes in seiner Idee der Staatsräson hält, wo er behauptet, daß ab 1650 die ratio status in Deutschland ein „Gewicht" erreicht hatte, „dem man sich nicht entziehen konnte". Man versuchte sie - so der Autor - „den deutschen Bedürfnissen anzupassen", aber man betrachtete sie „mit Mißtrauen und Angst".54 So scheint in dieser Hinsicht der lutherische Aristotelismus von Conring und seiner Schule eines der wichtigsten Beispiele einer unpolemischen Adaptation des Werks des Florentiners an die Bedürfnisse im Reich. Auf der anderen Seite habe, wie bereits aufgezeigt wurde, die ratio status, die mittlerweile zu einem „normativen" Instrument in den Händen des Territorialherrschers geworden war, letzterem erlaubt, das jus commune zugunsten des Gemeinwohls aufzuheben, und die Erfahrung dieser Teilaufhebung, auf die Ammirato in seinen politischen Werken explizit hingewiesen hatte, scheint in der Tat ein fundamentales Element im Kontext des konfessionell wie territorial stark gespaltenen Reichs gewesen zu sein. Für Conring haben die ungerechten Mittel, die es erlauben, Macht zu erhalten, den Charakter von Techniken des Außergewöhnlichen, deren sich die Politik, ars regendi civitatem, bedienen kann, um das eigene Ziel zu erreichen. Conring kritisiert jedoch den Teil der machiavellischen Doktrin, welche einzig im brutalen Gemetzel die Möglichkeit der Erhaltung der Macht verortet 50

Ebd.; auch in Hermann Conring, Animadversiones politicae (wie Anm. 7), Prolegomena, 3. Ebd. 3 f. 52 Ebd. 5. 53 Ebd. 4. 54 Meinecke, L'idea della ragion di Stato (wie Anm. 5), 185, zitiert nach Meinecke, Die Idee der Staatsräson (wie Anm. 5), 156. 51

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(„quod in sola caede vim omnem collocet tyrannidis conservandae"55), auch wenn, hält man sich an die exempla von Machiavelli (Agathokles und Liverotto da Fermo), zu diesem Zweck auch andere Schachzüge nötig wären. Dennoch schließt Conring nicht aus, daß für den Erhalt der Macht jene „Artes sane tyrannicas" angewendet werden können, die sowohl von Aristoteteles in Buch V der Politica überliefert sind als auch von Settala in Buch V von dessen Deila ragion di stato.56 Hier muß die Kontinuitätsherstellung zwischen Aristoteles und Machiavelli offensichtlich als Vorsichtsmaßnahme gelesen werden. In einem weiteren Schritt (Kap. XVIII, Animadv.) bezüglich der Frage nach der Täuschung nimmt Conring wiederum eine vermittelnde Position ein: Auch bei diesem umstrittenen Thema beruft er sich auf das literarische Erbe der Vergangenheit, auf Cicero, dann auf Lipsius, um wieder zu Aristoteles zurückzukehren. Zunächst argumentiert Conring, indem er sich vorsichtig auf die juristische Disziplin konzentriert und auf den Fall, in welchem man im Hinblick auf einen Vertragsschluß in den dolus malus gerät, bezieht. Diesbezüglich räumt er ein, daß die Nichteinhaltung des Versprochenen auch in gerechten Herrschaften vorkommen kann. Conring nimmt diese Möglichkeit also auf, auch wenn er dann feststellt, daß die Überlegung zum Vertrag nicht der Entlastung Machiavellis dienen kann: „Sed hoc nihil pro Machiavello valet defendendo". 57 Allgemeiner argumentiert er weiter späterhin, daß die Täuschung erlaubt sei, vorausgesetzt, daß diese nur für kurze Zeit angewendet wird, da sie sich früher oder später den Augen der aufmerksamsten Männer verrät: „Ut sane ad breve tempus simulatione hominibus et quidem imperitioribus imponas, statim tarnen sese prodit larva inani recta improbitas, cumprimis iis qui paulo sunt oculatiores".58 Conring beschließt die Behandlung der simulatio mit den Worten des Aristoteles, die in zusammengefaßter Form die Theorie der Tyrannei Conrings enthalten: Der Fürst soll weder gut noch böse sein: „debere illum saltem semibonum esse: improbum nequaquam, sed forte semiimprobum".59 Conring akzeptiert den Schluß der „schlechten" Doktrin des Florentiners („pessimae doctrinae Machiavellicae") nicht, da nach letzterem alles nur nach dem Nutzen gemessen werden und „quicquid etiam ad tempus utile idem laudabile esse, imo laudari solere"60, aber Machiavelli verstehe unter utilitas 55

Hermann Conring, Animadversiones politicae (wie Anm. 7), 99. Ebd. 57 Ebd. 167. 58 Ebd. 169. s« Ebd. 170. 60 Ebd. 172. Conring beschließt die Abhandlung, indem er sich auf den Diskurs Ciceros über den Nutzen und die Ehrlichkeit bezieht und stellt fest, daß: „[...] vere utile et ad stabilem felicitatem gloriamque parandam nihil esse quod non et honestum est: quod ab onesto abit, nec vera laude dignum, nec solere etiam nisi brevi forte momento laudari" (ebd.). Machiavelli erlaubt Betrug und Täuschung und richtet diese nur auf Erfolg und Ruhm des

Zum Machiavelli Hermann Conrings

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eben diejenige des Herrschers und nicht diejenige der civitas: Hier wieder die fundamentale Differenz, die schon eingangs anklang. Für Coming ist seine Staatstheorie hauptsächlich auf das Prinzip des Gemeinwohls gegründet, der einzige Zweck der Politik ist nicht so sehr die status conservatio als die felicitas civilis societatis. Conrings Arbeit war der Hauptsache nach der öffentlich-rechtlichen und historischen Analyse des Reichs, der Beziehungen zwischen Reich und Territorien und der Beziehungen zwischen den Mächten im europäischen Staatensystem gewidmet Im Kern ist seine historisch-juristische und juristisch-politische Doktrin aber um das Thema der Staatsräson und allgemeiner um das Thema der Macht zentriert, liegt hier also jenseits der traditionellen deutschen rein rechtlich gerahmten Form des Räsonnements über Verfassung, Staat und Policey. Er steht so fiir die spezifisch deutsche Adaptation von Machiavelli, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vor dem Hinteigrund der konfessionellen und territorialen Differenzierung einerseits einen Anschluß an die westeuropäische Diskussion bedeutete, andererseits aber eine besondere Form der partiellen, zum Teil ambivalenten und in ihrer Argumentation durchaus mäanderaden Rehabilitierung, die in ihrer neoaristotelischen, zugleich aber staatsutilitaristischen Form so nur im deutschsprachigen Raum möglich war.

Fürsten aus, aber es handelt sich, wie Conring feststellt, um „futilibus ductus rationibus" (ebd.).

Frühneuzeitlicher Republikanismus und Machiavellismus Die Rezeption Machiavellis in der Eidgenossenschaft* Von

Thomas Maissen Christoph Blocher, der einzige auch im Ausland bekannte Schweizer Politiker, hat in seiner Zeit als Justizminister bei der Jubiläumsfeier „500 Jahre Schweizer Garde" im Jahr 2006 aus Niccolò Machiavellis Principe zitiert: „So wie Rom und Sparta viele Jahrhunderte bewaffnet und Crei gewesen seien, so seien die Schweizer die allerbewaffnetsten und die allermeisten!" Es folgte ein Räsonnement über den Lauf der Geschichte: „Rom und Sparta sind schon lange untergegangen. Die Schweiz hat überlebt. Was würde ein Machiavelli der Gegenwart über die heutige Schweiz sagen? Würde er sie noch rühmen als die ,allerbewaflfnetste'? Die allermeiste? Wissen wir Schweizerinnen und Schweizer eigentlich noch, was uns die Freiheit bedeuten könnte?"1 Der reformierte Pfarrerssohn Blocher fügt sich mit diesem Zitat in eine lange Reihe von patriotischer Erbauungsrhetorik, aber auch von Selbstkritik ein. Im 20. Jahrhundert ist Machiavellis Lob für die „Svizzeri armatissimi e liberissimi" zumindest in der Schweiz häufig zitiert, ja als zeitlose Qualität der Eidgenossen beansprucht worden. Bezeichnenderweise geschah dies häufig im Umfeld des Zweiten Weltkriegs und nicht immer sehr quellenkritisch im Umgang mit einem Autor, bei dem „eine soigfältige Beobachtung der Wirklichkeit" vorausgesetzt wurde, dank welcher der Florentiner „den inneren Zwang unserer Geschichte mit genialer Intuition erfasst" habe.2 Aber auch * Die Forschungen für diesen Aufsatz erfolgten im Rahmen eines Forschungsprojekts der German Israeli Foundation (GIF) über „Liberalism and Republicanism in Early Modem Europe". 1 Jubiläumsgrußwort von Bundesrat Christoph Blocher anläSlich der Feier „500 Jahre Päpstliche Schweizer Garde", 24. September 2005 in Luzern, http://www.ejpd.admin.ch/ ejpd/de/home/dokumentation/red/2005/2005-09-24.html. (5. September 2007); vgl. Niccolò Machiavelli, D Principe, in: ders., Opere. Ed. Corrado Vivanti. 3 Vols. Turin 19972005, Vol. 1, 117-194, hier 151 (Kapitel 12). 2 Emil Dürr, Machiavellis Urteil über die Schweizer, in: Basler Zeitschrift 17, 1918, 163194, hier 181; Leonhard von Muralt, Machiavellis Staatsgedanke. Basel 1945, 125-146, hier 133; Fernando Scorretti, Machiavelli e gli Svizzeri. Bellinzona/Lugano 1942; René Aeberhard, Machiavelli und die Schweizer, in: Neue Zürcher Zeitung v. 26. August 1942; Rudolf Feller, Machiavelli und die Schweizer, in: Der kleine Bund 50,13. Dezember 1942, 400. In dieser Tradition steht auch noch Bernard Wicht, L'idée de milice et le modèle suisse dans la pensée de Machiavel. Lausanne 1995.

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die sich wandelnde Funktion der - um Volker Reinhardt zu zitieren - „helvetischen Projektion", ja der Mythenbilder für das Werk und die Argumentation(snöte und -zwänge) des Florentiners ist herausgearbeitet worden.3 Dies braucht hier nicht wiederholt zu werden. Es genügt sich zu verdeutlichen, welches für Machiavelli die wichtigsten Eigenschaften seiner Eidgenossen sind, die er in verschiedenen Werken seinen - italienischen - Lesern als Kontrastfolie vor Augen hält, namentlich im Principe (1513), in den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1513-1517) und der A rte della guerra (1521) sowie im Briefwechsel mit Francesco Vettori, in seinen Gesandtschaftsberichten und den darauf aufbauenden Analysen „delle cose della Magna". 4 1. Die Eidgenossen sind wie erwähnt „armatissimi e liberissimi", verteidigen also ihre republikanische Freiheit als Bürgersoldaten in einem unbesiegbaren Milizheer und nicht, wie die Italiener, mit Söldnertruppen.5 2. Die Schweizer haben als,.maestri delle moderne guerre" das römische Erbe in der Militärtechnik am besten bewahrt, nämlich die vor allem bei ihrem Sieg über die Franzosen bei Novara (1513) vorgeführte Kampfweise in einer Infanteriephalanx mit Pikenieren.6 3. Nach der römischen expansiven Republik ist die schweizerische föderative Republik in der Tradition antiker Staatenbündnisse die zweitbeste Verfassung.7 4. Die Eidgenossen leben aufgrund ihrer Armut in einer relativ egalitären „libera libertà" ohne Fürsten und Adlige und vermeiden mit diesen Voraussetzungen des „vivere politico" die Klientelbildungen und Parteienkämpfe, welche die italienischen Kommunen zerstört haben.8 Als erster hat Emst Walder, M a c h i a v e l l i und die virtù der Schweizer, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 2, 1944, 69-128, die Bedeutung der Schweiz in Machiavellis Staatsdenken herausgearbeitet. Vgl. jetzt vor allem Volker Reinhardt, „Fast wie die alten Römer". Machiavellis Bild der Schweiz: ein Mythos und seine Funktion, in: Freiburger Geschichtsblätter 71, 1994, 23-41: ders., Machiavellis helvetische Projektion. Neue Überlegungen zu einem alten Thema, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 45, 1995, 301-329; im Anschluß daran umfassend Graziella Borrelli, Machiavelli, Vettori, Guicciardini und ihr Schweizbild. Oder was sagen Fremdbilder über die eigene Wirklichkeit aus? (unpublizierte Lizentiatsarbeit Fribourg). Ich danke Frau Borelli herzlich für die Möglichkeit, diese Arbeit zu konsultieren. 3

Die Werke werden, w o nicht anders angegeben, zitiert nach Machiavelli, Opere ( w i e Anm. 1). 5 Machiavelli, Principe (wie Anm. 1). 151 (Kap. 12); «ieri., Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, in: ders., Opere (wie Anm. 1), Vol. 1, 195-528. hier 356 f. (2, 12), 379 (2, 19); ders., Dell'arte della guerra, in: ders.. Opere (wie Anm. 1), Vol. 1, 529-708, hier 587f., 687. 6 Machiavelli, Discorsi ( w i e Anm. 5), 234 (1, 12), 366 (2, 16), 372 (2, 17), 374-376 (2, 18), 377 (2, 19); ders., A i t e della guerra (wie Anm. 5), 560, 572, 592 f. 7 Machiavelli, Discorsi (wie Anm. 5), 337-341 (2, 4), 378 (2, 19). 8 Brief an Francesco Vettori, 26. August 1513. in: Niccolò Machiavelli, Lettere. Ed. Franco Gaeta. Mailand 1961,296; Niccolò Machiavelli, Rapporto di cose della Magna, in: ders.. Opere (wie Anm. 1 ), Vol. 1, 69-77. hier 74f.; ders., Ritracto delle cose della Magna, 4

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5. Die Religion der Eidgenossen ist noch unverdorben von den Auswüchsen, die vor allem an der Kurie zu beobachten sind, und ihr ursprünglicher Glaube hält sie im Sinn einer Bürgerreligion zusammen.9 6. Armut und Frömmigkeit der „uomini montanari... senza civiltà" bringen genügsame, tugendhafte Bürger und naturhaft-rohe, unerschrockene, unbesiegbare („bestiali, vittoriosi et insolenti") Krieger hervor, die sogar ihre Steuern bezahlen.10 Eigentlich können die Eidgenossen schon früh mit diesen Einschätzungen Bekanntschaft machen, denn in Basel erscheint der Principe 1560 und 1580 zweimal in lateinischer Ubersetzung - die ersten Übersetzungen des Werks überhaupt11 Die zweite Auflage und insbesondere die Vorrede des Herausgebers Nicolaus Stupanus provoziert einen Skandal: einerseits wegen des vor allem im Gefolge der Bartholomäusnacht umstrittenen Inhalts und wegen Stupanus* Lobrede auf Machiavellis,Ingenium summum", was insbesondere der Hugenotte François Hotman und in seinem Gefolge die Zürcher um Autistes Rudolph Gwalther beanstanden12; andererseits und vor allem wegen der sehr unterwürfigen Widmung an den Bischof von Basel, Christoph Blarer von Wartenseee, dessen gegenreformatorisches Wirken Stupanus als „richtige Einrichtung des Gottesdienstes" („ad divinum cultum recte instìtuendum") bezeichnet.13 Obwohl diese Vorrede der Zensur zum Opfer gefallen ist, hält sich auch der Drucker Pietro Perna als Verfasser einer neuen Vorrede nicht zurück: Er verteidigt Machiavelli - dessen De Principe in dieser Ausgabe mit den Vindiciae contra tyrannos zusammengebunden ist - gegen die Monarchomachen, die das Volk unter Berufung auf die Gewissensfreiheit zum Aufstand hetzten und damit ganze Reiche ins Elend stürzten. Soll dafür der gelehrte und kluge Machiavelli verantwortlich sein, „als sei der Arzt die Ursache des Sterbens"? Ähnlich wird erneut Stupanus im Vorwort zu der lateinischen Übersetzung der Discorsi argumentieren, die 1588 im württembergischen Mömpelgard (Montbéliard) erscheint: Heilsam sei diese Lektüre, in der man die Denkweise der in: ders.. Opere (wie Anm. 1), Vol 1, 79-84, hier 79 f.; ders.. Discorsi (wie Anm. 5), 311 (1,55). 9 Machiavelli, Discorsi (wie Anm. 5), 234 (1,12), 310 (1,55). 10 Brief an Francesco Vettori, 26. August 1513, in: Machiavelli, Lettere (wie Anm. 8), 292; Machiavelli, Discorsi (wie Anm. 5), 230 (1, 11), 310f. (1, 55), 378f. (2, 19); ders.. Arte della guerra (wie Anm. 5), 561. 11 Vgl. hierzu außer dem Beitrag von Francesco Ingravalle und Corrado Malandrino in diesem Band auch Wemer Kaegi, Machiavelli in Basel, in: Basler Zeitschrift 39, 1940, 5-52; zitiert nach dem Nachdruck in: ders.. Historische Meditationen. Bd. 1. Zürich 1942, 119182.

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Kaegi, Machiavelli (wie Anm. 11), 161: „Nicolai Machiavelli ingenium summum fuit, usque adeo, ut post hominum memoriam nullum extitisse tantum existimem, cum quo hoc, suo quodam modo conferri nequiverit"; vgl. auch ebd. 179. 13 Ebd. 176.

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Bösen kennenlerne und sich so gegen ihre Schliche wappnen könne.14 Das ist ein Argument, das auch Rousseau später aufgreifen wird. Für die Basler (Zensur-)Behörden hingegen ist wohl eher die Polemik gegen die Monarchomachen ein Motiv, den Druck des problematischen Werks zuzulassen. Sie entspricht der staatskirchlichen Überzeugung der Obrigkeit, zumal die Beziehungen zu Calvins Genf im „lutheranisierenden" Basel unter Antistes Simon Sulzer äußerst gespannt sind. 15 Diese ersten lateinischen Übertragungen des Principe sind Leistungen italienischer Refiigianten. Das gilt sowohl für den Drucker (Pietro Perna aus Lucca) als auch für den Übersetzer (Silvestro Tegli aus Foligno); der streitbare Herausgeber Stupanus, gebürtig aus Pontresina in Graubünden, gehört ebenfalls zu diesem Milieu. Die Einheimischen dagegen lassen sich von diesem Interesse nicht anstecken. Selbst Theodor Zwinger, Pemas Berater für seine naturwissenschaftlichen Drucke, geht in seinem Theatrum Humartae Vital (1565, 3. Auflage 1586) in dem nach Machiavelli schreienden Unterkapitel „De veritatis practicae studio, de simulatione & dissimulatione" mit keinem Wort auf den Florentiner ein, sondern begnügt sich mit einer Liste historischer Exempla, die er dem Alten Testament, antiken und humanistischen Autoren verdankt. 16 Die frühneuzeitlichen Eidgenossen selbst sind also vorerst kaum an Machiavelli interessiert. Insbesondere sind sie weniger stolz auf seine lobenden Worte über die „Svizzeri armatissimi e liberissimi" als ihre Nachfahren im 20. Jahrhundert. Im Gegenteil: Die Schweizer Katholiken und Reformierten sind sich in wenigen Fragen so einig wie in ihrer Ablehnung von Machiavelli und Machiavellismus. Darin stimmen sie mit den auch im übrigen Europa vorherrschenden Urteilen über den atheistischen und amoralischen Lehrer der Staatsräson überein. Die zumindest für die Protestanten wegweisende Begründung des Antimachiavellismus erscheint denn auch in Genf: Innocent Gentillets Discours sur les moyens de bien governer ... contre Nicolas Machiavel Florentin von 1576, worin Katharina von Medici als florentinische Schülerin eines teuflischen Lehrers für die Bartholomäusnacht verantwortlich gemacht wird.17 Im selben Geist argumentieren die Autoren des folgenden Jahrhunderts. Als der Zürcher Johann Rudolf Lavater 1618 in einer akademischen Disputa14

Ebd. 164, 180. Hans Rudolf Guggisberg, Das lutheranisierende Basel. Ein Diskussionsbeitrag, in: Hans-Christoph Rublack (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 197.) Gütersloh 1992, 199-201. 16 Theodor Zwinger, De veritatis practicae studio, de simulatione & dissimulatione, in: Theatri Humanae Vitae vol. deeimumtertium. Basel 1586, 2847-2866. 17 Innocent Gentillet, Discours contre Machiavel. Ed. Antonio D'Andrea/Pamela D. Stewart. Florenz 1974. 15

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tion mit dem Respondens Bartolome*) Paravicini der Frage nachgeht, „an princeps sit solutus legibus", entwickelt er gleichsam eine Genealogie der Parömie, die bei Sulla einsetzt. Daraus habe sich die Devise „Stat pro ratione voluntas" ergeben, die Lavater gleich als „belluina illa Machiavelli vox", als tierische Meinung des Machiavelli diskreditiert, um ihn mit dem Herzog von Alba, dem Perserkönig Kambyses, der Imperatorin Antonina und den papistischen Jesuiten in eine fatale Reihe zu stellen. Ihnen gegenüber postuliert Lavater die uneingeschränkte Gültigkeit von göttlichem, natürlichem und Völkerrecht sowie der Fundamentalsatzungen. Auch an das gesetzte Recht soll sich der Herrscher im Sinn der Lex „Digna vox" wenn immer möglich halten, obwohl er ihm nicht unterworfen ist 18 Der Basler Antistes Lucas Ganler polemisiert 1660 gegen „allerhand Machiavellisten und Tyrannische Gemuether".19 Wenig später warnen Katholiken aus dem Kanton Schwyz vor „noviteten" beziehungsweise „Macchiavelli sehen nettwen Streichen", als 1668 das sogenannte Defensionale beschlossen wird, eine Wehrverfassung, die alle Kantone dazu verpflichtet, im Kriegsfall feste Kontingente zu stellen.20 Offenbar befurchtet diese oppositionelle Fraktion im Defensionale eine von den großen reformierten Kantonen betriebene zentralistische Gefahrdung der kantonalen Souveränität. Im barocken Schauspiel, in dem Johann Caspar Weissenbach aus dem katholischen Kanton Zug 1673 von Auff- unnd Abnemmender Jungfrawen Helvetiae erzählt, klagt die Personifikation Helvetia in einem Schwanengesang über die in der Täuschung geübten „Machiavellen" und Atheisten, die ihre Netze des veiliängnisvollen Eigennutzes spinnen und so die Schweizer spalten.21 Seinerseits klagt derreformierteBündner Pfarrer Johannes Leonhardi am Ende des 17. Jahrhunderts „als Liebhaber der Freyheit" Uber „verfluchte Machiavellische grifflein", die unter seinen Mitbürgern Uneinigkeit stifteten, was „nicht redlich noch Christlich, sonder verrucht, Machiavellisch, schandlich, verflucht, gottloß und teufTelisch" sei.22 Das Skandalon beim „Florentinisehen Politico" liegt, wie um 1700 ein anonymer Autor meint, letztlich in dessen „Glaubenslehr", „daß es gar indifferent seiye wel-

18 Johann Rudolf Lavater/Bartolomeo Paravicini, Disputatio politica ... an princeps sit solutus legibus. Zürich 1618, fol. AI, B2v. 19 Lucas Gemler, Von rechter Bestellung des Regiments. Basel 1660, 7. 20 Alfred Mantel, Der Abfall der katholischen Länder vom eidgenössischen Defensionale, in: Jahrbuch für Schweizer Geschichte 38, 1913, 141-200, hier 155, vgl. auch 175. 21 Johann Caspar Weissenbach, Eydgnossisches Contrafeth Auff- unnd Abnemmender Jungfrawen Helvetiae. Zug 1673, fol. L3. 22 Johannes Leonhardi, Dreyer Reisenden, als eines Feinds, eines Verrächters und eines Liebhabers der Freyheit des Pundenerlands, über dessen Freyheit und Regierung ernstliche und wolmeinende Discoursen. S. 1. 1698, 21, 25; vgl. auch die Warnung vor „deß heilosen Machiavelli gottlose Lehr-Sätz" „divide et impera", in: ders., Theologischer, treu- und wohlgemeinter, bündnerischer Aufwecker. S. 1. 1689, 23.

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eher Religion mann beypflichte, und daß also die Veränderung der Religion kein Schaden beybringe".23 In derselben Zeit verschiebt sich allerdings der Fokus der Empörung von den Rezepten zur Religion zu denen in Außen- und Innenpolitik. In einer Streitschrift während des Devolutionskriegs 1667/68 wird vor „machiavellischen Versprechen" Frankreichs gewarnt, ähnlich während des Pfalzischen und des Spanischen Erbfolgekriegs Ludwig XIV. als Vertreter „Machiavellischer Policey" gebrandmarkt. Dessen Religion sei nicht katholisch, sondern „nur des Machiavelli".24 Mit dem Sonnenkönig geraten der Absolutismus und die obrigkeitliche Herrschaftsintensiviemng auch in einem allgemeinen Sinn in das Visier der antimachiavellistischen Traktatliteratur, und dies mit Bezug auf Binnenkonflikte. Das „wolbekannte Machiavellische oder vielmehr Teufelische Stücklein Divide & Impera" ist für den Basler Jacob Henric-Petri die Voraussetzung dafür, daß die oligarchische städtische Obrigkeit mit der bürgerlichen Opposition, der er angehört, in den Unruhen des „1691er Wesens" fertig geworden ist.25 Im Umfeld des Zweiten Villmerger Kriegs kritisiert 1712 der „Zürcher" Dialogpartner in einem fiktiven Gespräch, daß der Abt von St. Gallen den (reformierten) Toggenburger Untertanen ihre alten Freiheiten mit der Begründung geraubt habe, er schulde nur Gott allein Rechenschaft. Das diene aber, ebenso wie die (bereits von Lavater) erwähnte Maxime „Sit pro ratione voluntas", bloß dazu, daß „Staats-Machiavellisten und eigennützige Hoff-Schwätzer" ihre absolutistische Herrschaftspolitik rechtfertigten und freie Eidgenossen wider das kaiserliche, kanonische, natürliche und Völkerrecht zu Sklaven degradierten.26 Ganz ähnlich sieht es 1749 Samuel Henzi in Bern, der Anführer der nach ihm benannten Verschwörung, dessen Hinrichtung im aufgeklärten Europa, etwa bei Lessing, Entsetzen auslöst. In seiner Denkschrift reklamiert Henzi für die städtische Bürgerschaft die mittelalterlichen kommunalen Partizipationsrechte, welche die Obrigkeit (Schultheiß zusammen mit Klein- und Großrat) usurpiert habe, um faktisch ein erbliches Geschlechterregiment zu errichten, in dem jeder Vater einen noch „wirksamem Sohn" hinterlasse, „der wie 23

Zentralbibliothek Zürich (künftig: ZBZ), Ms. G 454, Abgetrungene Klag, welche deß Armeny Procurator ... wider den Teutobachum gefiirhet, fol. 83v. 24 Renovirter Wecker. S. 1. 1667, 6; Ernst Warnmund von Freyenthai (Johannes Grob), Treugemeinter eydgnossischer Auff-Wecker. S. I. 1689, 18; Zwey und Zwantzig denckwürdige Articul: Welche ein Eydgnossischer Patriot auß denne Propositionen, so der holländische Envoye Herr Valkenier, einer löbl. Eydgnoßschafft zu Dero freundlichen Wahrnungam29. Decembris 1690 und 8. Martij 1691 und also mehr als vor 12 Jahren mündlich vorgetragen, umb deswillen extrahiert, weilen sie auff hiesige gefährliche Zeiten ganzt applicabel seynd, da in der Nachbarschafft eine frantzösische Armee biß in das Hertz von Teutschland hinein getrungen, 1703, Artikel 8. 25 Jacob Henric-Petri, Basel-Babel. S. 1. 1693, 52. 26 Ein Gesprech zwischen einem Züricher, Schweitzer, Glarner und Toggenburger, betreffend die dißmalige Ratione Toggenburgs enstandene Kriegs-Empörungen. S. 1. 1712, 28 f.

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machiavel denkt und handelt". Diese „Staatskünstler" beziehungsweise „Statisten" hätten durch ihren „frechen Staatseingriff' einige „machiavellische Grundsätze" oder eben einen „Staatsplan" aus acht Komponenten umgesetzt: 1. Ausschluß der Bürger von der Herrschaft, die auf rund dreißig regimentsfähige Familien beschränkt wird; 2. Austilgung der Spuren der früheren Herrschaftsrechte der einst souveränen Stadtgemeinde; 3. Umverteilung des Reichtums zugunsten der herrschenden Familien; 4. Unterwerfung der Geistlichkeit unter eine staatliche Religionskommission; 5. Schaßung nutzloser Ämter, um eigene Kreaturen als Spione zu nutzen und das Volk in Abhängigkeit zu halten; 6. das „machiavellische System" im engeren Sinn, nämlich die Maxime „Divide et impera" als Mittel, damit die Untertanen untereinander dauernd uneins bleiben; 7. Anwerbung fester Truppen, um das Territorium zu kontrollieren und die Bürger und Bauern zu entwaffnen, die durch eine „Staats-Inquisition" überwacht werden; 8. sowie die Verbreitung der eigenen „despotischen Regimentsform" bei den anderen Eidgenossen.27 Was Henzi hier mit den Worten seiner Zeit aufzählt, würden wir als Machtkonzentration und Gewaltmonopol, Kontrolle der (Staats-)Kirche, Professionalisierung der Amtsträger, Sozialdisziplinierung durch Geistlichkeit und „Polizey" beschreiben - kurz als Ausbildung des neuzeitlichen Staats. Die angeführten Zitate zeigen, daß die Deutung Machiavellis und die Ablehnung seiner Lehre in den Jahrzehnten um 1700 nicht mehr im ursprünglichen, religiösen Sinn moralphilosophisch motiviert sind, sondern politisch. Der Machiavellismus ist des Teufels, weil tyrannische Herrscher dank seinen Prinzipien ihren Willen durchsetzen und ihre Machtstellung ausbauen können. „Spaltung" ist das Stichwort für diese Strategie, eine Spaltung der Gemeinschaft, von der diejenigen profitieren, die sich über ihre bislang gleichrangigen Mitbürger oder Mitkantone erheben wollen. Die betroffenen, schwächeren Staatsglieder sind also einerseits, innerhalb der Kantone, die nicht regimentsfähigen, aber auch nicht unterständischen büigerlichen Gruppen, die in einem Oligarchisierungsprozeß von der Mitwirkung in der Regierung ausgeschlossen werden. Andererseits befürchten, im Gesamtverband der Eidgenossenschaft, die kleinen, tendenziell katholischen Kantone (etwa Schwyz) eine ähnliche Entwicklung, weshalb sie unerbittlich ihre kleinstaatliche Souverä-

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Samuel Henzi, Denkschrift über den politischen Zustand der Stadt und Republik Bern im Jahr 1749, in: Josef Anton Balthasar (Hrsg.), Helvetia. Denkwürdigkeiten fiir die XXII Freistaaten der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Zürich 1823,401-443, hier 415-440.

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nität gegen die großen reformierten Stände verteidigen, vor allem gegen Zürich und Bern. Es ist denn auch nicht völlig überraschend, wenn gerade in diesen Städten, die für Souveränitätsgedanken und Staatsraison ohnehin offener sind, allmählich eine nüchterne Lektüre des Florentiners Einzug hält. Ein Zürcher Discours von 1714 identifiziert zwar Papst und Jesuiten als Adepten von Staatsraison und „machiavellischer Staats-Regul", schließt sich dann aber fatalistisch dem Urteil des Heidelberger Gelehrten Janus Gruter über den Florentiner an: .jederman schiltet ihn, und jederman practicieret ihn". 28 Der Zürcher Seckelmeister Johann Heinrich Rahn kann 1698 nach den Discorsi wörtlich zitieren, „was jener Florentinische Politicuß von den Eydgnoss. schon vor mehr als ISO. Jahren geschriben. E facile vincergli fuori di casa, dove non possono mandare piuche un 30 a 40 mila huomini; ma vincergli in casa, dove ne possono raccozzare 100 mila e difficilissimo etc." 29 Vielleicht als erster Schweizer bezieht Rahn sich damit auf das - hier relative - Lob Machiavellis für die eidgenössische Militärkraft. Der Basler Natur- und Staatsrechtsprofessor Johann Rudolf von Waldkirch zitiert den Principe (Kap. 21) dann 1721 ohne Aufhebens in der Einleitung zu seiner Eydgenossischen Bunds- und Staatshistorie als Beleg für Kritik an der Neutralität, weil „ein Neutraler keinen Theil zum Freund hat, sondern ihm Geffahr von beyden obschwebet". 30 Eine differenzierende Haltung zeigt der Berner Jacob Lauffer, der 1735 in seinem Lektürekanon für den Nachwuchspolitiker Piaton, Cicero, Thomas Morus und, „ante omnes", Bodin empfiehlt, bevor er deutlich ausführlicher auf die „perversi Politici" eingeht, Machiavelli und Gabriel Naudé, die man nicht berücksichtigen möge: Naudé habe die Bartholomäusnacht gerechtfertigt, und der Florentiner messe alles am Vorteil des Herrschers und predige dafür ohne jede Gottesfurcht Blutvergießen und Giftmord. 31 Doch derselbe Lauffer bezieht sich auf das Vorbild des Florentiners als Historiker, wo er von den Schwierigkeiten handelt, in einer „freyen Republick" Geschichte zu schreiben, da man es den vielen untereinander verfeindeten Mächtigen nicht recht machen könne: „Machiavelli der Florentinische Geschicht-Beschreiber

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Discours über des gemeinen Wesens Wol-wesen oder eigentliche Undersuchung derjenigen Dingen, in welchen man einer Republique Wolstand entweder vergeblich sucht, anderseits aber allein findt und zu hoffen hat. Zürich 1714, 22. 29 Politisches Gespräch zwischen Franco, Arminio und Teutobacho: über das wahre Interesse der Eydgnoßschafft. S. 1. 1698, fol. A4: vgl. Machiavelli, Discorsi (wie Anm. 5), 357 f. (2, 12). 30 Johann Rudolf von Waldkirch, Gründliche Einleitung zu der Eydgnossischen Bundsund Staats-Historie. Basel 1721, fol. ***5v (Vorbericht). 31 Jacob Lauffer, Dissertatio literaria, an & quibus literis Juvenis Politicus, qui ad spem Reipublicae succrescit, sit imbuendus?, in: J. Georg Altmann (Hrsg.), Tempe helvetica, dissertationes atque observationes theologicas. philologicas. criticas, históricas exhibens. 1. Aufl. Zürich 1735, 161-178, hier 170 (§ 9).

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kriegte für seine Müh und Aitoeit einen finstem Kercker zu Lohn."32 Der Verfasser des Principe wird so von demjenigen der anderen Werke geschieden. Der differenzierende Rekurs auf Machiavelli ist besonders gut greifbar in den Debatten der ersten frühaufklärerischen Sozietäten in Zürich, dem 1679 gegründeten Collegium Insulanum und seinen zwei Nachfolgeoiganisationen, dem Collegium der Vertraulichen und dem Collegium der Wohlgesinnten.33 Dort kombinieren frische Absolventen der theologischen Hohen Schule eigene Studien im Zürcher Staatsarchiv und die Lektüre ausländischer Staatstheoretiker zu Vorträgen, in denen sie sich gegenseitig auf ihre zukünftigen Funktionen im Regiment vorbereiten. Bezeichnenderweise gehen aus diesen Söhnen von zumeist führenden Familien, die den drei Gesellschaften von 1679 bis ins frühe 18. Jahrhundert angehören, alle fünf Bürgermeister hervor, die zwischen 1711 und 1740 gewählt werden. Noch deutlicher wird die Rolle der Sozietäten in der Büigeibewegung von 1713, die - ähnlich wie später der erwähnte Samuel Henzi in Bern - versucht, den herkömmlichen Einfluß der Bürgelgemeinde gegenüber einer immer stärker aristokratischen Regierung wiederherzustellen. Von den 25 früheren Sozietätsmitgliedem wirken via* an ihrer Spitze der international berühmte Naturforscher Johann Jacob Scheuchzer - auf Seiten dieser Opposition, während zwanzig in den Räten sitzen, an ihrer Spitze Bürgermeister Johann Jacob Escher. Diese unterschiedlichen Positionsbezüge im weitaus schwersten innenpolitischen Konflikt des damaligen Zürich zeigen, daß die Mitglieder der Collegia nicht etwa sich gemeinsam Doktrinen aneignen. Vielmehr besteht das Gemeinsame in der statutarisch geregelten, unvoreingenommenen und abwägenden Diskussion aktueller und auch heikler Probleme: Fragen von Souveränität und Neutralität, über Widerstands-, Natur- und Völkerrecht, über Außenpolitik und das Verhältnis von Kirche und Staat. So werden auch die moralisch brisanten Fragen der Interessenlehre und der Staatsraison aufgegriffen. So wird im 1693 gegründeten Collegium der Wohlgesinnten nun auch der „bekäme erzpoliticus Machiavellus" nicht länger übergangen. Das bedeutet nicht, daß die Collegiaten mit ihm einverstanden sind, denn er „haltet wie überall, also auch in disem fahl die Stangen der großen dißer weit, welche ihren underthanen kaum so vil müssen laßen als zu armseliger fortsezung deß lebens nöthig ist". Daran schließt ein lateinisches Zitat aus den Discorsi an, wonach Städte in unfruchtbaren Gegenden ruhig und friedlich seien, weil ihre Einwohner mit dem Erwerb des Lebensnotwendigen so beschäftigt seien, daß sie nicht an Aufstände denken können. Dieses Zitat findet sich in einer Quaestio, 32

Jacob Lauffer, Beschreibung helvetischer Geschichte. Bd. 1. Zürich 1736, T. 1, 26. Hierzu und für das Folgende Michael Kempe/Thomas Maissen, Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich, 1679-1709. Die ersten deutschsprachigen Aufklärungsgesellschaften zwischen Naturwissenschaften, Bibelkritik, Geschichte und Politik. Zürich 2002. 33

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„ob es einem, fümehmlich unserem stand, nützlicher seye, dass Privatpersonen reich, oder arm seyen". Der Bezug zu den Discorsi erfolgt vermutlich über Gentillets ausfuhrliche Maxime, in der er diese Frage ähnlich formuliert hat.w Dagegen ist der direkte Rekurs auf Machiavelli naheliegend bei der berüchtigten Überlegung, „ob simulieren an einem fürsten ein tuget oder laster seye". Tatsächlich folgen bei diesem Thema lange lateinische Zitate aus dem achten Kapitel des Principe und den Discorsi (2, 13) des „Pseudo-Politicus", für den Betrug und Bündnisbruch die größten Tugenden und „nothwendige requisiten eines klugen Fürsten" seien. Die Grundregel der Machiavellisten heiße: „Simula, dissimula, quoties occasio poscit/Moribus et morem temporibusque gere." Von Machiavellis Beispielen wird neben Giovanni Galeazzo Papst Alexander VI. erwähnt:,.Fraudes tarnen illi et peijuria bene cesserunt." Ironisch kommentiert der Collegiat, dies sei ein „schönes lob eines so heiligen vaters". Die Prinzipien der „política Christiana", der „christlichen statenlehr" zeigten dagegen, daß die Fürsten mehr noch als andere Menschen der Wahrheit verpflichtet („veritatis tenaces") seien. Außerdem sei, bei rechtem Licht betrachtet, die „simulirkunst" für die Fürsten eher schädlich als nützlich, denn man entlarve sie ja gleichwohl und traue ihnen dann nicht mehr. Allerdings sei ein Unterschied zu machen „zwischen den Arcanis status und denen erlaubten Kriegslisten", die eher der „prudentia" als der „simulado" zuzurechnen seien. Legitim sei Verstellung auch dort, wenn göttliches oder menschliches Recht nicht verletzt werde - etwa wenn ein Reformierter unter Papisten leben oder verkehren müsse. 35 In der Tradition der Staatsraison wird hier das Problem kasuistisch erörtert, so daß die inakzeptablen Lehren Machiavellis abgelehnt, seine Anregungen aber doch für einzelne Fälle aufgenommen werden können. Das erlaubt es, ganz im Sinn der Gesprächskultur in den Sozietäten, kontroverse Fragen zu diskutieren und die Problematik selbst dann, wenn man zu konventionellen Lösungen gelangt, in ihrer Breite auszuloten. Das Problem, wie Souveränität legitimiert wird, liegt der Quaestio zugrunde, „ob ex Psalm 51,6 (den dir allein hab ich gesündiget und übel vor dir gethan) zu demonstriren, summum imperium oder independentia der keyseren, königen etc". Hierbei handelt es sich um eine zeitgenössische Debatte, in welcher John Milton mit seiner Defensio pro populo Anglicano 2, 16 mit Claudius Salmasisus in der Defensio regia und Grotius in De jure belli ac 34 ZBZ, G 401b, 25 (Vortrag vom 26. 2. 1695): „Urbes in solo sterili positae vere concordes et tranquillae sunt propterea quod incolae cultura laborum et labore occupatio facultatum atque otii ad seditiones ciendas copiam non habent etc. Itaque Romani colonias suas paupertate in fide continebant." Der Referent verweist auf die folgenden Kapitel: Machiavelli, Discorsi (wie Anm. 5), 200f. (1, 1), 345f. (2, 7), 466 (3, 16), 483f. (3, 25): Genlillet, Discours (wie Anm. 17), 4 6 9 ^ 9 5 (3, 32). " ZBZ, G 401b, 163-165 (22. 12. 1696).

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pacis (1,3, 20) konfrontiert wird. Für letztere belege der Psalm insofern die absolute Souveränität („summum imperium") der jüdischen Könige, als diese nur Gott allein Rechenschaft schuldeten, da sie gemäß dem Psalm ja auch „dir allein" gesündigt hätten. Mit demselben Beleg wollten die „pseudopolitici Hobbesiani, Machiavellistae" begründen, daß ein König niemandem Rechenschaft schulde fur seine Taten, ob sie nun recht oder unrecht seien. Doch die Bibelstelle sei anders zu verstehen, meinen die Collegiaten mit Milton: „David ist hier nit erschinen alß ein König, der seine Supereminentiam wollen demonstriren, sondern alß ein bußfertiger Sünden ... Zu wüßen ist auch, daß die Könige in Israel nit so Souverain gewesen, daß sie nit haben können von propheten, ja auch anderen reprehendirt und bestraft werden", sogar mit Peitschenstrafen.36 Von dieser republikanischen Position unterscheidet sich deutlich das Bekenntnis zur Staatsraison, das der spätere Bürgermeister Johannes Hofmeister im Collegium der Wohlgesinnten abgibt, indem er die Mittel präsentiert, mit denen ein Herrscher seinen Staat erhalte - nämlich die Liebe und die Furcht. Selbstverständlich empfiehlt Hofmeister die Liebe der Untertanen, die besser und sicherer sei als Haß und Willkür. Aber weil Liebe in Verachtung umschlagen könne, sei es gut, wenn die Untertanen dem Fürsten als Ahnder von Verbrechen und Lastern mit Respekt begegneten, denn sonst schlügen sie über die Stränge. Daher sei es doch eher angebracht, wenn der Herrscher seine Sicherheit in dieser Furcht vor ihm als der Seele des Gesetzes begründe und nicht in der Liebe der Untertanen allein, zumal die (Ehr-)Furcht ausreiche, selbst wenn man gar nicht geliebt werde: „car si l'on n'est pas aimé, il suffit d'estre estimé & d'estre craint." Wenn der Fürst nämlich eine gute Armee befehlige, dann brauche er sich überhaupt keine Sorgen zu machen, daß man ihn für grausam halte, denn seine Reputation mache alle Fehler vergessen, die seine Härte ihn begehen lasse. Hofmeister rekurriert hier nicht nur auf die Discorsi, sondern präsentiert einen Protagonisten aus dem Principe als Modell eines Fürsten. Ausgerechnet der spanische „rey cattolico" Ferdinand dient nämlich als „Maître en l'art de gouverner" - da er bei Amtsantritt geliebt, während seiner Herrschaft gefürchtet und im Tod erneut geliebt worden sei! Und auf den verschlagenen Helden von Philippe de Commynes, Ludwig XI., folgt noch Cesare Borgia, der Duca di Valentino, als Beleg dafür, daß die Maxime „oderint, dum metuant" unverzichtbar sei für diejenigen, die es von einem Privatmann - also ohne dynastische Legitimation - zum Fürsten gebracht haben. Bei seinem unverhohlenen Rekurs auf die Staatsraison beschränkt sich der künftige Bürgermeister aber nicht auf die ausländischen Herrscher, sondern kommt zum Schluß, daß der gnädige Gott Zürich gleichermaßen gnädige Fürsten - „Princes" - geschenkt habe, dank derer Fürsorge man in Ruhe schlafen 36 ZBZ, G 401b, 273 (20. 9. 1698).

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könne.37 Bei allen Vorbehalten, welche dem politischen Aristotelismus und der reformierten Konfession geschuldet bleiben, wirkt der nüchterne, von konfessionellen Prämissen abstrahierende Blick auf den politischen Nutzen für die Zürcher Collegiaten doch so verführerisch, daß die Vorbehalte gegen die Staatsraison sich manchmal nur wie Lippenbekenntnisse ausnehmen.38 Ohne explizite Bezugnahme auf Machiavelli wird 1699, gleichzeitig mit der englischen „standing army controversy", unter den Wohlgesinnten die Frage erörtert, ob eine „bezahlte soldatesca" die Bewachung der Stadt übernehmen könne. 39 Mit Argumenten, die durchaus vom Florentiner stammen könnten, kommt man zum Schluß, daß dies entgegen den Hoffnungen mancher Mitbürger nicht empfehlenswert sei: Rekrutiert würde diese Truppe nämlich entweder aus verarmten, untüchtigen Bürgern oder liederlichen, nichtsnutzigen Ortsfremden, womit Konflikte mit den lokalen Offizieren schon vorprogrammiert seien. Statt dessen soll die Bürgerschaft die „bewachung der Stadt als ihro zustehendes regale und schöne freyheit ansehen" und bedenken, „der magistrat könte sich der von ihren dependirenden soldatesca bedienen als eines mittels, die burgerschafft eng einzuschränken, nach gefallen der oberkeit zu leben, allerhand beschwerliche auflagen zu machen, ein und ander stuk der freyheit abzuzwacken oder gar sich in den stand der souveraineté zu sezen". 40 Diese Sorge ist nun wiederum deijenigen sehr nahe, die Samuel Henzi in Bern ein halbes Jahrhundert später vertreten wird: Wahrung der bürgerlichen Freiheit durch eigenen Militärdienst statt Soldtnippen in Diensten einer tendenziell absolutistischen Obrigkeit. Allerdings entspricht diese Position auch der genuinen Überzeugung des historischen Machiavelli, der - anders als Henzi unterstellt - eine stehende Armee durchaus nicht als Konsequenz „machiavellischer Grundsätze" angesehen hätte. Dieser historische Machiavelli gerät jetzt immer stärker in das Blickfeld der Schweizer, und zwar nun mit seinen republikanischen Implikationen. Ganz ähnlich wie Henzi versteht sich der Genfer Jacques Barthélemy Micheli du Crest als Verteidiger der althergebrachten Verfassung und damit der „Liberté du peuple", die im Conseil Général verankert sei, der Versammlung 37

ZBZ, B 58, 70v-73v (15. 8. 1693); vgl. Machiavelli, Principe (wie Anm. 1), 134f. (7), 162-164 (17); ders., Discorsi (wie Anm. 5), 384f. (2, 21). 38 Vgl. auch ZBZ, B 57, S. * 11 (2. 12. 1679), wo David Hess die Eroberung des hugenottischen La Rochelle durch Richelieu bewundert, weil sie ausländischen Fürsten den Zugang nach Frankreich verbaut und die - in den befestigten Plätzen seiner Glaubensgenossen gründende - Spaltung des Landes rückgängig gemacht habe: „Si j'estois de ceux qui n'adorent qu'un certain idole, qu'on appelle Raison d'Estat, je conterois pour la plus belle, je dis principale des actions de ce ministre, la prise de Ia ville de la Rochelle." 39 Für die „standing army controversy" John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975. 4 0 1 436. ZBZ, G 401b, 355-357 (30. 5. 1699).

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aller vollberechtigten Genfer Bürger (Citoyens und Bourgeois). Eine kleine Gruppe der Citoyens, die sogenannten Négatifs, haben die übrigen Alt- und Neubürger vom Regiment ausgeschlossen und dabei den sanften Rückhalt der verbündeten Kantone Bern und Zürich erhalten, wo ähnliche Oligarchisierangsprozesse ablaufen. Obwohl selbst Citoyen, muß Micheli du Crest wegen seiner Oppositionshaltung gegen die Obrigkeit 1731 emigrieren. In einer Supplik an die Bemer und Zürcher Räte, die in den Genfer Konflikten als Mediatoren wirken, klagt er 1744 über die despotische Herrschaft der Genfer Ratseliten, sieht aber für alle diese drei Republiken die Gefahr, daß sie zu „Oligarchies effrenées" degenerieren. Deshalb richtet sich sein Appell nicht nur an die Obrigkeiten von Born und Zürich, sondern ausdrücklich an alle Bürger. Wie der menschliche Körper gelegentlich gereinigt werden müsse, so gelte es auch jede Regierung regelmäßig zu reformieren, weil die Menschen sonst ihre Sitten vergessen und die Gesetze verletzen. Dies könne alle fünf Jahre geschehen wie im Fall des republikanischen Florenz, spätestens aber alle zehn, wie Machiavelli lehre: „Si l'on veut qu'une République [sic] subsiste longtems (comme l'observe très bien Machiavel Disc, polit L. 3 C. 1.) il faut souvent la remettre sur le pied de ses prémiers principes".41 In der Mitte des 18. Jahrhunderts wird Machiavelli also als Ratgeber fur Reformen in den korrupten, erstarrten Schweizer Republiken entdeckt Der Basler Aufklärer und Ratsschreiber Isaak Iselin erörtert 1760 im zweiten Kapitel seiner Philosophischen und politischen Versuche die „aus der Verderbniß des Staates fliessenden besondern Pflichten der Regenten und ihrer Beamten". Seinen Appell an die patriotischen legenden der Regenten beschließt er am Kapitelende mit einer längeren Passage aus den Discorsi 1, 10: Was gibt es Besseres für einen ruhmbegierigen Herrscher als die Gelegenheit einen korrumpierten Staat zu reformieren wie einst Romulus?42 Der über die politischen Verhältnisse in seiner engeren Basler und weiteren eidgenössischen Heimat frustrierte Iselin gewinnt aus Machiavelli die Zuversicht daß der Zerfall eines Staatswesens kein unabwendbares Schicksal ist sondern eine heilbare Krankheit. Dem D/'scorsi-Kapitel 2, 25 (zur „disunione delle repubbliche") verdankt er sogar die Idee, aus der Eidgenossenschaft einen „einigen Staat zu machen": „Ein gleichförmiger allgemeiner Bund" soll an die Stelle 41

Jacques Barthélémy Micheli, Seigneur du Crest, Supplication avec Supplément présentée aux Louables Cantons de Zurich et de Berne en Juillet & Décembre 1744... au sujet du Règlement fait en 1738 par l'Illustre Médiation de Genève. Basel 1745, 115f.; Machiavelli, Discorsi (wie Anm. 5), 416 (3, 1). Vgl. zu Micheli Barbara Roth-Lochner/Livio Fornara (Eds.), Jacques-Barthélemy Micheli du Crest, 1690-1766: homme des Lumières. (Actes du colloque de mars 1995.) Genf 1995. 42 Isaak Iselin, Philosophische und politische Versuche. Zürich 1760, 145; Machiavelli, Discorsi (wie Anm. 5), 228 (1,11); vgl. für das Folgende Ulrich Im Hof, Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens bis zur Abfassung der „Geschichte der Menschheit" von 1764. Basel 1947, insbes. 410f.

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der bisherigen Vielzahl von unterschiedlichen Bündnissen der Kantone und Zugewandten treten, die Tagsatzung eine einheitliche Außenpolitik fuhren können, katholische und reformierte Kantone sollen ausgesöhnt werden.43 Das hört sich beinahe wie das Grundprogramm der 1762 gegründeten Helvetischen Gesellschaft an, des konfessionsübergreifenden Zusammenschlusses aufgeklärter Reformpolitiker in der Schweiz, zu deren Initiatoren Iselin gehört. 44 Iselins Weg zum Machiavelli der Discorsi verläuft allerdings nicht ohne Hindernisse. In seiner ersten wirkungsmächtigen Schrift, den Philosophischen und patriotischen Träumen eines Menschenfreunds (1755), kennt der Basler bloß den Principe und macht deutlich, daß Plato und Moses für ihn die ausschlaggebenden Autoritäten sind, auch wenn Aristoteles und Machiavelli für seine Karriere in der Politik hilfreicher gewesen wären. Doch dort dominiere ein Politikertyp, den Iselin als Antipatrioten verabscheut: „Für ihn ist die Staatskunst nur die Geschiklichkeit seine eigene Größe, Macht, und Hoheit zu befördern, und alle übrigen Mitbürger zu Werkzeugen davon zu machen. Diese lernet er von Machiavell, und auf diese gründet er seine Begriffe von Recht und Unrecht, und das ganze System seiner ungerechten Rechtsgelehrtheit." 45 Die Einschätzung ändert sich jedoch, als Iselin im Sommer 1760 die Discorsi auf Französisch liest und darin den Apologeten der republikanischen Tugend entdeckt: „II prêche du reste comme un autre Caton contre la corruption, le luxe, l'impureté, la mollesse et touts les autres vices. Il répète à chaque page qu'il n'y a que la vertu qui puisse rendre un état heureux et florissant."46 Seinem Tagebuch vertraut Iselin an: „Äußert einigen abscheulichen Maximen ist dieses Buch voll vortrefflicher Sachen - ein republicanischer Staatsmann sollte den Tacitus, den Card v. Retz und den Machiavell alle Jahre einmal lesen - so schlimme Leute diese letzern auch seyn." 47 Allerdings relativiert Iselin bald auch dieses Urteil, und seine Wertschätzung verrät sich unter anderem darin, daß er den Florentiner auch für unpolitische Regeln der Lebensführung anführt. 48 Seine „abscheulichen Maximen" 43

Im Hof. Iselin (wie Anm. 42). 214. 266: Machiavelli. Discorsi (wie Anm. 5). 397 f. (2. 25). 44 Ulrich Im Hof/François de Capitani. Die helvetische Gesellschaft. Spätaufklärung und Vorrevolution in der Schweiz. 2 Bde. Frauenfeld 1983. 45 Isaak Iselin, Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes. 3. Aufl. Zürich 1762 (urspr. Freiburg 1755), 411. 46 Brief vom 24. Juni 1760, zitiert nach Im Hof. Iselin (wie Anm. 42). 410f. 47 Zitiert nach ebd. 410. 48 Isaak Iselin, Versuch über die Berathschlagung. Basel 1761, 103: „Eine bescheidene und anständige Weise, seine Entwürfe andern mitzutheilen. verschaffet denselben einen leichtern Eingang, und ziehet ihrem Urheber nicht so leicht Unwillen oder Verantwortung zu. ... Er machet sich im Gegentheile dadurch oft einen glücklichen Anlaß, sein Ansehen zu vermehren, und dem Vaterlande damit desto nützlicher zu seyn"; nach Machiavelli, Discorsi (wie Anm. 5). 505 (3. 35).

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schreibt Iselin nicht dem Charakter des Autors zu, sondern macht dafür „die Finsterniß und die Barbarey der Zeiten" verantwortlich. Deshalb entschuldigt er 1761 ausdrücklich „den so verschrienen Machiavell. Italien war zu seiner Zeit der Sitz aller Laster und aller Greuel. Es ist kein Wunder, daß er die Grausamkeit und die Betriegerey so sehr erhebet. In seinen Tagen waren sie bey nahe nöthig." Lebte Machiavelli in der Gegenwart, so würde er „ganz andre Lehren predigen". Doch auch so sei er „noch lange nicht so gefahrlich als Montesquieu, Hüme, Voltaire und andre neuem. Er redet fast auf allen Seiten von der Notwendigkeit der Religion, der Reinigkeit der Sitten, der Uneigennützigkeit, und der Müssigkeit. Er zeiget, wie wenig die Reichtühmer einen Stat wahrhaftig glücklich und mächtig machen können, daß nichts als die Tugend einen solchen erhebe, und daß nichts eher als die Verderbniß einen solchen erniedrige. Er findet, daß die gleichen Grundsätze von den Monarchien wie von den Freystaaten die gleichen Tugenden fordern, wen sie glücklich seyn wollen."49 Die Ablehnung Montesquieus und der anderen deistischen, ja materialistischen Zeitgenossen Iselins - die sich im zivilisatorischen Selbstverständnis der Aufklärung nicht mehr auf finstere Zeiten berufen können gründet darin, daß der Basler an der christlichen Offenbarungsreligion als Basis der Gemeinschaft festhält und sie nicht als historisch erklärbares und sozialwissenschaftlich analysierbares kulturelles Phänomen relativieren will. Hingegen fügen sich Machiavellis Prinzipien nun gut in die Reformdiskurse der Schweizer Aufklärer, deren zentrales Konzept die republikanische Freiheit und Pflichterfüllung sind, die ganz im Sinn des Florentiners in tugendhafter Armut und frugalem Hirtendasein gründen.50 In dieser Hinsicht ist Iselin allerdings skeptischer als Machiavelli, wenn er erwägt, ob auch die breite Bevölkerung mit ihren anarchischen und sinnlichen Neigungen solchen Anforderungen genüge. Der Basler ist zwar mit den Discorsi 1,4 einverstanden, daß das Volk insgemein besser urteile, „als man es von demselben vermuthen sollte". Der Titel ,JLa moltitudine è più savia e più constante che uno principe" (Discorsi, 1, 58) dagegen scheint ihm „sehr vielen Schwierigkeiten unterworfen" zu sein. Denn ein ganz demokratischer Staat sei „unstreitig die schlechteste und unglücklichste Art der Verfassung", vor der sich eine gemäßigte Republik sehr hüten müsse.51 Machiavelli ist

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Iselin, Beratschlagung, 1761 (wie Anm. 48), 85. Vgl. etwa Carl Victor von Bonstettens Briefe über ein schweizerisches Hirtenland nebst der Geschichte dieser Hirtenvölker von 1781 ; zur Vorgeschichte demnächst Thomas Maissen, Als die armen Bergbauern vorbildlich wurden. Ausländische und schweizerische Voraussetzungen des internationalen Tugenddiskurses um 1700, in: André Holenstein/Béla Kapossy/Simone Zurbuchen (Hrsg.), Armut und Reichtum in den Schweizer Republiken. Lausanne, erscheint 2009. 51 Iselin, Beratschlagung, 1761 (wie Anm. 48), 132; vgl. auch Im Hof, Iselin (wie Anm. 42), 501; Machiavelli, Discorsi (wie Anm. 5), 209f. (1,4), 315 (1, 58). 50

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nicht länger Lehrer der Tyrannen, sondern ein selbst fiir den Reformer Iselin allzu radikaler Republikaner! In dieser Konstellation wird Machiavelli in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts generell zitierfähig, selbst das Buch vom Fürsten. Johann Rudolph Iselin - ein Neffe von Isaak - verwendet 1763 den „Pseudopoliticus" ausgerechnet in einer Oratio de pietate politica, weil er im Principe zwar wenig auf die Religion gegeben, aber an vielen Exempla gezeigt habe, daß ein Herrscher dann am sichersten sei, wenn er seine Schliche und Listen hinter vorgetäuschtem Aberglauben verberge.52 Die positive Beurteilung Machiavellis durch Rousseau spielt sicher eine erhebliche Rolle fur manche aufklärerische Schweizer, die zusehends nüchterner und unvoreingenommener auch den Principe als J e livre des républicains" entdecken.53 In Zürich studieren Johann Jacob Bodmer und seine Schüler in der Historisch-politischen Gesellschaft zu Schumachem neben Rousseau den Florentiner.54 Auch im Falle des Bemer Patriziers Carl Victor von Bonstetten und des Schaffhauser Historikers Johannes von Müller ist Machiavelli regelmäßig Gegenstand des Austausches im Rahmen ihrer in der Helvetischen Gesellschaft geschlossenen Freundschaft, so 1773/74 auf der gemeinsamen Italienreise, nachdem Bonstetten den Florentiner schon in seiner Jugend in Genf gelesen hat, um die dortigen politischen Unruhen zu verstehen.55 1776 debattieren sie, wer höher stehe: Bacon oder Machiavelli.56 Müller neigt zu letzterem, den er in den Briefen seinen „Freund", „Liebling", „großen Geist", „großen Lehrer", ja seinen .Jupiter" nennt, den er mit Tacitus allen anderen Historikern vorziehe, weil er in seiner Weltverbundenheit wie wenige „die Menge der Menschen in allem Großen weit übertroffen" habe und „Entzücken über diesen großen Geist und über seine Majestät seines simplen Ausdrucks" hervorrufe. 57 Anfangs habe er Ma52

Johann Rudolph Iselin, Oratio de pietate politica. Zürich 1763, 6. So die berühmte Formulierung von Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social; ou, Principes du droit politique (3,6), in: ders.. Œuvres complètes. Vol. 3. Ed. Bernard Gagnebin/ Marcel Raymond. (Bibliothèque de la Pléiade, Vol. 169.) Paris 1964, 347-470, hier 409. 54 Bettina Volz-Tobler, Rebellion im Namen der Tugend: „Der Erinnerer" - eine Moralische Wochenschrift. Zürich 1765-1767. Zürich 1997, 35. 55 Bonstettiana. Historisch-kritische Ausgabe der Briefkorrespondenzen Karl Viktor von Bonstettens und seines Kreises. Hrsg. v. Doris u. Peter Walser-Wilhelm. 12 Bde. Bern 1996-2009, Bd. 1, 1, 77, 430 (30. Oktober 1765); vgl. auch 20, 54. 56 Ebd. Bd. 2, 639 (29. Februar 1776), 642 (1. März 1776). 57 Johannes von Müller, Briefe eines jungen Gelehrten an seinen Freund. Tübingen 1802, 14 (15. November 1774), 30f„ 101 (18. September 1776), 280 (28. November 1778); vgl. auch 19-21, 84, 246; Johannes von Müller, Briefe in Auswahl. Hrsg. v. Edgar Bonjour. 2. Aufl. Basel 1954, 190 (an Johann Georg Müller, 16. August 1791); vgl. auch 244; Bonstettiana (wie Anm. 55), Bd. 2, 430 f. (24. Januar 1775); ebd. Bd. 3, 154 (18. September 1776), 480 (31. März 1778); 676 f. (28. November 1778): „Weil aber gut ist mit einem von den wenigen anzufangen, welche die Menge der Menschen in allem Grossen weit übertroffen, und welche mit ihrem Blik am +aller+tiefste eingedrungen sind, bin ich nach der Regel A Jove principium vor allen Dingen zu Machiavelli zurük gekommen." 53

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chiavelli zwar als Feind der Menschheit angesehen, schreibt von Müller 1774 seinem Bruder, doch dessen republikanische Grundsätze in den Istorie und in den Discorsi seien „für alle freien Bürger ein Gemälde der Kunstgriffe gegen ihre Freiheit und der schrecklichen Würkungen eines despotischen Regimentes" und lehrten so ,Jes moyens de conserver un etat".58 Bonstetten sieht in den „admirable discours" ebenfalls eine Anweisung, die Tyrannen zu hassen und die Freiheit zu schätzen.39 Denselben Rousseauschen Gedanken über J e moins compris et le plus calomnié" der großen Männer einen Warner vor dem Bösen und nicht dessen Lehrer - trägt von Müller 1781 in Kassel vor, wo er De l'influence des anciens sur les modems [sic] spricht: In seiner Verbindung aus Lektüre der Alten und eigener Erfahrung der Gegenwart, „avec la simplicité d'un homme de génie, avec la gravité d'un Romain" schuf Machiavelli „pour le gouvernement civil et militaire, ce que Descartes depuis lui a fait pour la philosophie naturelle. Il en établit les principes, non point sur des chimères spéculatives, sur un contrat social qui n'exista jamais, mais sur la pratique de tous les tems."60 Mit dem Florentiner betrachtet von Müller deshalb die Geschichte „comme un magazin d'expériences, qui servent de base à la politique".61 Für den politischen Schriftsteller tritt so die erlesene Geschichte im Sinn der - so wiederholt zitierten - „continua lettione delli antichi" neben die (im Hofdienst) erfahrene Gegenwart 62 Machiavelli lehrt den Schaffhauser als Bestimmung der Geschichtsschreibung, alle alltäglichen Dinge hintanzustellen, wenn man sich mit den Taten der Vergangenheit beschäftigt - wie es von Müller nun mit der eidgenössischen Geschichte tun will.63 Gerne bemüht er dabei die Widmung des Principe, um die Distanz einzufordern, aus welcher der Historiker erst das Wirken der Vorsehung erkennt: Man könne den Berg von der Ebene aus am besten sehen und zeichnen (und nicht, wenn man selbst darauf stehe).64 Die machiavellischen Konzepte, etwa die virtù als „altrömische Tugend", übernimmt von 58

Johannes von Müller, Biographische Denkwürdigkeiten. Hrsg. v. Johann Georg Müller. Tübingen 1810, 178; Bonstettiana (wie Anm. 55), Bd. 3, 410 (16. Januar 1778). Müller liest auch die Arte della guerra, vgl. Bonstettiana (wie Anm. 55), Bd. 3, 283 (10. Juni 1777). 59 Bonstettiana (wie Anm. 55), Bd. 1, 1,430. 60 Johannes von Müller, Kleine historische Schriften. Hrsg. v. Johann Georg Müller. Stuttgart/Tübingen 1853,246; vgl. zur Rede auch Karl Schib, Johannes von Müller 1752-1809. Schaffhausen 1967,402-406. 61 Johannes von Müller, Sämtliche Werke. Hrsg. v. Johann Georg Müller. Stuttgart/Tübingen 1831-1835, 34, 82 (2. November 1775, an Bonstetten) = Bonstettiana (wie Anm. 55), Bd. 2, 563. 62 Müllers Zitat aus der Widmung des Principe in Bonstettiana (wie Anm. 55), Bd. 2, 347 (16. November 1774); ebd. Bd. 3,669 (18. November 1778); ebd. Bd. 5,71 (12. Dezember 1784), 848 (15. August 1787); wörtliche Machiavelli-Zitate auch ebd., Bd. 2, 357, 370; ebd. Bd. 3, 685. 63 Bonstettiana (wie Anm. 55), Bd. 3, 678f. (3. Dezember 1776). 64 Ebd. Bd. 4, 82 (13. November 1780), 839 (14. August 1784).

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Müller auch in seine Geschichtsschreibung, so bei der Beschreibung Colas di Rienzo. 65 Explizit bezieht er sich auf den Florentiner, wo er festhält, daß ein Staatsschatz wichtig sei, um eine Republik zu erhalten - und man sich dabei nicht bar jeder Menschenkenntnis auf die gute Gesinnung der Bürger verlassen dürfe. 66 Auch als sich der Schweizer in kaiserlichen Diensten im Zeitalter Napoleons, kurz vor Ausbruch des Zweiten Koalitionskriegs, durch die Geschehnisse überrumpelt fühlt, tröstet er sich in Wien mit dem Staatssekretär, den die Rückkehr der Medici zur Muße gezwungen hat: „Mit einem Wort, ich fühle wohl, daß ich, weit unter die Höhe des Zeitalters gesunken, wirklich nicht besser thun kann, als mich mit Thukydides, Xenophon, Polybius, Machiavelli und allen den anderen einfaltigen Leuten verbergen, die da glaubten, ruhiges Glük sey die Hauptsache, gegen Trutz und Ueberpracht, Anstrengung besser als Resignation, und Grösse in der Gerechtigkeit, Mässigung und Verachtung des Todes." 67 Müllers Zorn richtet sich 1799 gegen die „Pariser Tyrannen" und ihre „Handlanger", namentlich den früheren Basier Oberzunftmeister und jetzigen Senatspräsidenten Peter Ochs als Vordenker und Anführer der im Schutz französischer Bajonette errichteten Helvetischen Republik, des egalitären Einheitsstaats. Ironischerweise hat gerade Ochs den Sturz des schweizerischen Ancien Régime 1798 mit dem Kampf gegen den „machiavélisme de l'Oligarchie" gerechtfertigt, „qui nous divisait pour mieux nous maitriser". 68 So sehr Machiavelli und der Machiavellismus die Schweizer Aufklärer umtreiben, so ergebnislos bleibt selbst beim Erzhistoriker von Müller die Suche nach dessen Zitaten über die Eidgenossen. Sie fehlen auch in den Nachschlagwerken der Zeit. Die Basler Herausgeber des Neu-vermehrten Historisch- und geographischen allgemeinen Lexicons (erste Auflage 1726/27, überarbeitete Auflage 1742-1744) übernehmen das Lemma „Machiavelli" jeweils unverändert aus dem auch sonst dem Werk zugrunde liegenden Leipziger Allgemeinen Historischen Lexicon, das sachlich über das Leben des Florentiners berichtet und die Discorsi kurz erwähnt, „darinnen sich gar viele Staats-klugheit, sonderlich für die, so in freyen Republicken leben, antreffen läßt". Die Bearbeiter verzichten also auf eine Ergänzung mit Bezug zur Schweiz, wie sie solche in 65

Johannes von Müller, Vier und zwanzig Bücher allgemeiner Geschichten. Bd. 2. Stuttgart/Tübingen 1828, 346. mit dem Zitat aus den Istorie fiorentine, 1 , 3 1 : „invilito sotto tanto peso"; vgl. auch Edgar Bonjour/Richard Feller, Geschichtsschreibung in der Schweiz vom Spätmittelalter zur Neuzeit. 2 Bde. Basel/Stuttgart 1962. Bd. 1, 650. 66 Johannes von Müller, Sämmtliche Werke. Tübingen 1810-1819, 381; zitiert von Béla Kapossy, Neo-Roman Republicanism and Commercial Society. The Example of 18th Century Berne, in: Quentin Skinner/Martin van Gelderen (Eds.). Republicanism. A Shared European Heritage. Vol. 2. Cambridge 2002, 2 2 7 - 2 4 7 , hier 244. 67 Bonstettiana (wie Anm. 55), Bd. 8, 217 f. (6. Februar 1799). 68 Peter Ochs, Reden. Hrsg. v. Christian Bertin. Basel 1998. 163 (22. März 1798); vgl. auch 168.

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anderen Artikeln bewußt einfügen; auch im Supplementband findet man bloß einen Nachtrag zu Kardinal Francesco Maria Machiavelli, aber nichts Zusätzliches über seinen umstrittenen Namensvetter.69 So überrascht es auch nicht, daß es in Johann Jacob Leus Allgmeines helvetisches, eydgenössisches, oder schweizerisches Lexicon kein Lemma zu Machiavelli gibt.70 Ebenso kann 1737 eine Basler Dissertation De institutis militaribus Helvetiorum ohne Bezug zum Verfasser der Arte della guerra und Lobpreiser der Reisläufer verfaßt werden.71 Machiavellis Sätze werden in der Frühen Neuzeit nicht als schweizergeschichtlich bedeutungsvoll angesehen. Pionier ist auch hier - wenn man vom erwähnten knappen Zitat bei Rahn (1698) absieht - erst Isaak Iselin, der meint: „Die Schweizer besassen die kriegerischen Tilgenden in einem hohen Grade. Ihre Geschichte zeigen es zur Genüge; und das Zeugniß des Machiavellis, als eines der größten Kenner, wie auch die Uebereinstimmung aller Völker, bestätigen es mehr als genug."72 Dieses Zitat kann zu einem Fazit überleiten, das verschiedene Phasen schweizerischer Machiavellirezeption klassifiziert: 1. Basel ermöglicht italienischen Emigranten zuerst eine wohlwollende Beschäftigung mit Machiavelli und dessen lateinische Drucklegung2. Nach anfanglicher Ignoranz und Indifferenz schließen sich die Eidgenossen im konfessionellen Zeitalter der Verurteilung des unmoralischen und atheistischen Machiavelli an. 3. Im späten 17. Jahrhundert kommt eine andere Ebene der Kritik hinzu, in welcher die „machiavellischen Grundsätze" mit „ f r e c h e n Staatseingriffen" assoziiert werden, also mit einer absolutistischen Herrschaftsintensivierung. 4. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird der Verfasser der Discorsi als tugendrepublikanisches Antidot gegen denselben Despotismus entdeckt. Es gibt also durch die Frühe Neuzeit hindurch Bezugnahmen auf Machiavelli als Person und auf seine Werke, und diese Referenzen sind auf ein lokalkantonales oder gesamteidgenössisches Publikum ausgerichtet. Sie bleiben damit Teil von spezifisch schweizerischen Binnendiskursen, die den europäi69

Jakob Christof Iselin, Historisch- und geographisches allgemeines Lexicon. Bd. 3. Basel 1726, 304; ders., Historisch- und geographisches allgemeines Lexicon. Dritte Auflage mit Supplement von Jacob Christof Beck und August Johann Buxtorf. Bd. 4. Basel 1743, 930; Supplement 2. Teil. Basel 1744, 362; vgl. Allgemeines Historisches Lexicon. Bd. 3. Leipzig 1722, 268. 70 Johann Jacob Leu, Allgmeines helvetisches, eydgenössisches, oder schweizerisches Lexicon. Zürich 1747-1797. 71 Johann Rudolph lselin/Johann Peter Stückelberger, Specimen historico-juridicum de institutis militaribus Helvetiorum. Basel 1737. 72 Iselin, Träume (wie Anm. 45), 347; vgl. auch 361 für einen weiteren Rekurs auf Discorsi 1,12. Iselin kennt auch die Arte della Guerra dem Namen nach, hat sie aber nicht gelesen.

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sehen Auseinandersetzungen ebenso deutlich hinterherhinken wie die helvetische Staatsbildung. In Italien ist gerade Machiavellis Werk symptomatisch für das neuartige Bewußtsein des „stato"73; in Frankreich wird er in den Religionskriegen rezipiert, als Bodin den souveränen „état" konzipiert74; im Reich werden der Florentiner und die Staatsraison diskutiert, als im Dreißigjährigen Krieg ein letztes Mal kaiserlicher Absolutismus möglich erscheint75; in England kurz danach, als zwischen monarchischer und republikanischer Staatsbildung gewählt werden muß 76 . Um Machiavelli dreht sich die Debatte über eine Staatsraison jenseits der konfessionellen Obsessionen, über einen Absolutismus der signori, der Könige und, in Deutschland, der Reichsstände.77 Im Reich dient die Staatsraison - in Meineckes Metaphorik - als Hammer, mit dem die Fürsten das Gewohnheitsrecht und die kommunalen Privilegien zertrümmern und ihre Landesherrschaft errichten.78 „Machiavellista" wird dabei zum Synonym von „Politicus" und damit zur abschreckenden Feindbezeichnung für die Apologeten des Gewaltmonopols.79 Wenn dieser „absolutistische Machiavelli" in der Schweiz erst in den Jahrzehnten um 1700 auftaucht, so ist dies ein Indiz dafür, daß die Staatsbildung, das Souveränitätskonzept und deren Gefahren im heterogenen eidgenössischen Staatenbund für die herkömmlichen, stärker konsensualen Herrschaftsformen ebenfalls erst relativ spät wahrgenommen werden. Machiavellis „fortuna" in der Eidgenossenschaft erlaubt auch grundsätzliche Rückschlüsse auf den frühneuzeitlichen „Republikanismus". Außerhalb Italiens wäre es nirgends eher zu erwarten gewesen als in der Schweiz, daß Machiavellis Aussagen über tugendhafte Milizsoldaten mit dem Wissen um die reale Verfassung und Gesellschaftsstruktur der Eidgenossenschaft kombi73

Zu Machiavelllis Staatsbegriff Harvey C. Mansfield, Machiavelli's Virtue. Chicago 1996, 281-294; weiter grundlegend Paul Ludwig Weihnacht, Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfangen bis ins 19. Jahrhundert. (Beiträge zur politischen Wissenschaft, Bd. 2.) Berlin 1968; Wolfgang Mager, Zur Entstehung des modernen Staatsbegriffs. (Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen dergeistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1968, Nr. 9.) Wiesbaden 1968. 74 Corrado Vtvanti, Lotta politica e pace religiosa in Francia fra Cinque e Seicento. Turin 1963. 75 Michael Stolleis, Machiavelli in Deutschland, in: Italienisch 7, 1982, 24-35, hier 29. 76 Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 39). 77 Michel Senellart, Y-a-t-il une théorie allemande de la raison d'Etat au XVII e siècle?, in: Yves Charles Zarka (Ed.), Raison et déraison d'État. Paris 1994, 265-293, hier 285: „Le problème, après 1648, n'est plus de défendre les Etats (Stände) contre l'empereur, mais de leur donner les moyens de se constituer en véritable Etats (Staate). Passage de l'aspiration étatique à l'effort réel d'étatisation: telle est l'originalité de la raison d'Etat allemande, après 1648." 78 Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. München 1924, 161; vgl. Stolleis, Machiavelli (wie Anm. 75), 30; ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990, 44 f., 84. 79 Stolleis, Machiavelli (wie Anm. 75), 30.

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niert worden wären, um damit ein republikanisches Selbstverständnis oder gar einen „Republikanismus" als Lehre zu legitimieren. Das unterbleibt jedoch in der Schweiz bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, während die englischen Commonwealthmen im 17. Jahrhundert die Eidgenossenschaft durchaus mit machiavellischen Formulieningen preisen.80 Es ist deshalb sehr problematisch, einen friihneuzeitlichen Republikanismus zu postulieren und dessen Charakteristika aus Machiavellis Discorsi herzuleiten.81 Eine solche kontinuierliche, einigermaßen klar faßbare Lehre hat es nicht gegeben. Pococks „Machiavellian moment" ist nicht ein dauernder Impuls oder gar eine Ideologie, sondern eine Reihe von säkular argumentierenden Texten, auf die zurückgegriffen werden kann, wenn es um die Errichtung und den Erhalt republikanischer Herrschaft in Zeiten der Krise geht. Für Gemeinwesen wie die Eidgenossenschaft, die sich in einer transzendental verankerten Ordnung verstehen und ihre fürstenfreie Verfassung vergleichsweise ungestört leben, ist dies kein attraktives Angebot 82 In der Eidgenossenschaft gibt es statt dessen seit dem späten 15. Jahrhundert Formen der Selbstkritik, welche den typisch schweizerischen - also vor allem konfessionellen - Krisenlagen angemessen sind: so die Gegenüberstellung von altem, sittlichem und jungem, geldgierigem Eidgenossen oder die Klage Uber Uneinigkeit und Zwietracht der Schweizer.83 Dagegen fehlt ein auf die Eidgenossenschaft fokussiertes Ius publicum, das an der einzigen Universität des Landes - in Basel - erst im Laufe des 18. Jahrhunderts mühselig das Reichsrecht ablöst; und deshalb fehlt lange Zeit ebenso ein Schweizer Ort, wo das westliche Staatsrecht oder die Staatsraison diskutiert würde. Ein repu80

Vgl. die Zitate von Milton, Sidney und Fletcher bei Kapossy, Republicanism (wie Anm. 66), 230. 81 Während Pocock selbst immer wieder auf die Ambivalenz dessen hingewiesen hat, was er „politicai language" nennt, hat im Gefolge von Quentin Skinner, The Foundations of Modem Politicai Thought. Vol. 1-2. Cambridge 1978, bzw. ders., Liberty before Liberalism. Cambridge 1998, und des von ihm mit Gisela Bock und Maurizio Viroli herausgegebenen Sammelbands: Machiavelli and Republicanism. (Ideas in context.) Cambridge 1990, vor allem Viroli den Republikanismus als „Lehre" behandelt, die in Machiavelli wurzelt (Maurizio Viroli, Machiavelli. Oxford 1998; Das Lächeln des Niccolò Machiavelli und seine Zeit. Zürich/München 2000; Repubblicanesimo. Rom/Bari 1999, dt.: Die Idee der republikanischen Freiheit. Von Machiavelli bis heute. Zürich 2002); vgl. auch die entsprechende Rezeption bei Philipp Pettit, Republicanism: A Theory of Freedom in Government. Oxford 1997. 82 In dieser Hinsicht ist es auch bezeichnend (und unvermeidlich), wenn ein Schweizer Milizoffizier, der sich im Vorwort durchaus für die nationalen Aspekte seiner Studie interessiert, eine Abhandlung über die Idee der Milizarmee in der Frühen Neuzeit ohne jeden Rekurs auf Schweizer Autoren verfaßt, vgl. Jan Metzger, Die Milizarmee im klassischen Republikanismus. Die Odyssee eines militärpolitischen Konzeptes von Florenz über England und Schottland nach Nordamerika (15.-18. Jahrhundert). (St. Galler Studien zur Politikwissenschaft, Bd. 22.) Bern 1999. 83 Hierzu jetzt Guy P. Marchai, Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität. Basel 2006.

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blikanischer Tugenddiskurs als Reformprogramm entsteht erst im 18. Jahrhundert, und damit geht die schweizerische Entdeckung der - fast 200 Jahre zuvor in Basel übersetzten und gedruckten - Discorsi einher. Das ist ein Indiz dafür, daß die Selbstwahrnehmung der Eidgenossenschaft als Republik - mit ihren positiven wie auch ihren negativen, reformbedürftigen Seiten - ein relativ spätes Phänomen darstellt, das sich erst allmählich aus der Konfrontation mit den innen- und außenpolitischen Konsequenzen der Bodinschen Souveränitätslehre ergibt.84 Erst dadurch entsteht - wie im späten 16. Jahrhundert in Italien und Frankreich, wie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Reich - Handlungsbedarf, ja ein Leidensdruck bei der säkularen, staatsrechtlichen Definition der politischen Gemeinschaft, für den die Auseinandersetzung mit Machiavelli Orientierung verspricht.

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Dazu Thomas Maissen, Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Göttingen 2006.

Machiavelli in der historia literaria Von

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I. Definitionen .Machiavelli in der historia literaria ' ist ein Thema, das eine, wenn auch vorläufige, Definition der angewandten Begriffe erfordert. Dabei ist ,Machiavelli' eine Figur der europäischen Kulturgeschichte, die schnell erklärt werden kann und hauptsächlich dadurch beschrieben wird, daß man feststellt, welche Art von Politik im späten siebzehnten und im achtzehnten Jahrhundert mit diesem Namen verknüpft wurde. Einige Schwierigkeiten scheint dagegen der Begriff historia literaria zu bereiten. Was ist denn historia literaria, und was meinte man mit dieser Bezeichnung? Die historia literaria läßt sich auf zweierlei Weise definieren, sowohl in einem breiteren als auch in einem engeren Sinn. Im breiteren Sinn, wie wir ihn zum Beispiel in der Storia della bibliografia von Alfredo Serrai finden, umfaßt die historia literaria alle möglichen Bemühungen um die Wissensüberlieferung und -systematisierung in der Frühen Neuzeit. Mit diesem Namen wird also alles gemeint, was vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert zur Einrichtung, Verwaltung und Vermehrung der Gelehrsamkeit beitrug: Bibliographien, Biographien, Enzyklopädien, Sammlungen von Gemeinplätzen, Entwürfe zur Gliederung des gesamten Wissens und dessen Abteilungen. Sie schloß Werke wie die Bibliotheca universalis Konrad Gesners (1516— 1565)1 oder die Storia della letteratura italiana von Girolamo Tiraboschi (1731-1794) ein und erstreckte sich über eine Zeitspanne, die am treffendsten durch den Begriff der respublica literaria beschrieben wird.2 In diesem Sinn 1 Konrad Gesner, Bibliotheca universalis, seu catalogus omnium scriptorum locupletissimus in tribus Unguis, Latina, Graeca et Hebraica extantium et non extantium, veterum et recentiorum in hunc usque diem [...] publicatorum et in bibliothecis latentium [...]. Tiguri: Apud Christophorum Froschovemm 1545; ders., Pandectarum sive paititionum universal e m [...] libri XXI. Secundus hic Bibliothecae nostrae tomus est, totius philosophiae et omnium bonarum artium atque studiorum locos communes et ordines universales simul et particulares complectens. Tiguri: Excudebat Christopherus Froschoverus 1548. Vgl. Luigi Balsamo. Il canone bibliografico di Konrad Gesner e il concetto di biblioteca pubblica nel Cinquecento, in: Giorgio De Gregori/Maria Valenti (Eds.), Studi di biblioteconomia e storia del libro in onore di Francesco Barberi. Rom 1976,77-95; Alfredo Serrai, Conrad Gesner. Ed. Maria Cochetti. Rom 1990. 2 Girolamo Tiraboschi, Storia della letteratura italiana. 11 Vols. Modena 1772-1782. Vgl. Maria Serena Sapegno, Storia della letteratura italiana di Girolamo Tiraboschi, in: Alberto

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hat Alfredo Serrai dem dritten Band seiner Storia della bibliógrafo den Untertitel Vicende e ammaestramenti della Historia literaria gegeben und darin alle bibliographischen Schriften von Gesner bis zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts behandelt, gerade dort aufhörend, wo eine besondere Epoche dieses literarischen Unternehmens einsetzte.3 Tatsächlich ist die historia literaria in dieser breiteren Bedeutung nichts anderes als die materielle Seite der respublica literaria. Die historia literaria kann aber auch in einem zweiten engeren Sinn verstanden werden, und dann bezeichnet sie nur einen Teil jener langen Geschichte, nämlich gerade jene Epoche, deren Besonderheit dem weiteren Definitionsversuch entgeht. In diesem engeren Sinn umfaßt die historia literaria nur diejenigen Autoren, die sich ausdrücklich zu dieser Strömung bekannten. Sie erscheint dann als ein selbstbewußtes Unternehmen im kulturellen Leben, als ein Unternehmen, das einen klaren und bestimmten Begriff von sich selbst hegte und für sich eine besondere Bezeichnung wählte. In diesem engeren Sinn war die historia literaria erst da, als ihr Name bewußt ausgesprochen wurde. Chronologisch und geographisch ist diese enger gefaßte historia literaria klar eingrenzbar. Selbstbewußten Autoren, die die Gelehrtengeschichte als eine eigenständige Disziplin betrieben, begegnen wir erst in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, ungefähr beginnend mit dem Prodromus historiae literarie Peter Lambecks (1659) und dem Polyhistor literarius Daniel Georg Morhofs (1688).4 Das Ende dieser Erscheinung fallt in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, als die Kritik gegen den Polyhistorismus immer schärfer und lauter wurde, wie es zum Beispiel in Lessings Jugendwerk Der junge Gelehrte (1747) geschah.5 Die Gelehrtengeschichte wurde endlich zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von der wissenschaftlichen Bibliographie abgelöst.6 Die historia literaria im engeren Sinn ist aber nicht Asor Rosa (Ed.), Letteratura italiana. Le Opere. Vol. 2: Dal Cinquecento al Settecento. Turin 1993, 1161-1195; Rosa Necchi, Alcune considerazioni sui rapporti Tiraboschi-Lanzi, in: Giulia Cantarutti/Stefano Ferrari (Eds.), L'Accademia degli Agiati nel Settecento europeo. Irradiazioni culturali. Mailand 2007, 77-98. 3 Alfredo Serrai, Storia della bibliografía, 3: Vicende e ammaestramenti della Historia literaria. Ed. Maria Cochetti. Rom 1991, und Alfredo Serrai, Storia della bibliografía, 4: Cataloghi a stampa. Bibliografie teologiche - Bibliografie filosofiche. Antonio Possevino. Ed. Maria Grazia Ceccarelli. Rom 1993. 4 Peter Lambeck, Liber primus Prodromi historiae literariae. nec non libri secundi capita quatuor priora, cum appendice, quae sciagraphiam continet. sive primam delineationem praecipuarum personarum ac rerum. Hamburgi: Sumptibus autoris, 1659. Vgl. Gebhard König, Lambeck, Peter, Bibliothekar, 1628-1680, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 13. Berlin 1982, 426 f. 5 Gotthold Ephraim Lessing, Der junge Gelehrte (1747-1748). in: ders., Werke 17431750. Hrsg. v. Jürgen Stenzel. Frankfurt am Main 1989, 139-237. 6 Merio Scattola, Geschichte der politischen Bibliographie als Geschichte der politischen Theorie, in: Wolfenbiitteler Notizen zur Buchgeschichte 20, 1995, 1-37; ders.. Dalla virtù

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nur chronologisch (auf die hundert Jahre zwischen 1650 und 1750), sondern auch geographisch deutlich eingrenzbar, denn sie war hauptsächlich an den Universitäten des Heiligen Römischen Reiches angesiedelt. Sie war also in erster Linie ein deutsches Unternehmen und bildete den wichtigsten Kommunikationszusammenhang in der deutschen Gelehrsamkeit des späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhunderts. Sie muß daher notwendigerweise herangezogen werden, wenn nach der Verbreitung und Aufnahme der Schriften Niccolò Machiavellis in den deutschen Territorien während der frühen Neuzeit gefragt wird.

II. Die historia literaria und das politische Werk Niccolò Machiavellis Die erste Aufgabe der historia literaria war die Bestandsaufnahme, Einordnung und Überlieferung aller verfügbaren Kenntnisse aus allen Zweigen der Gelehrsamkeit Sie war ein Wissen zweiten Grades, denn sie beschrieb den Inhalt keiner besonderen Disziplin, sondern erklärte, wie jede Disziplin zustande gekommen war und wer ihre Vertreter waren. Weiter schilderte sie deren Literatur, Geschichte, innere Gliederung, besonderen Ertrag und Schwächen. Christoph August Heumann definierte die historia literaria in seinem Conspectus reipublicae literariae sive via ad historiam literariam mit folgenden Worten: „Historia literaria est historia literarum et literatorum, sive narratio de ortu et progressu studiorum literatorum ad nostram usque aetatem."7 In einer möglichst vollständigen Bestandsaufnahme aller Schriften und aller Schriftsteller konnte Machiavelli freilich nicht fehlen, denn „die Historie der Gelahrtheit berichtet uns", wie Gottlieb Stolle beteuerte, „was die Gelehrten in Ansehen der Gelahrheit überhaupt, und der dazu gehörigen Künste und

alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell'età moderna. Mailand 2003, 82-107. 7 Christoph August Heumann, Conspectus reipublicae literariae sive via ad historiam literariam iuventuti studiosae aperta. Hanoverae: Apud heredes Nicolai Foersteri 1735 ( 1. Aufl. 1718), 50; Burkhardt Gotthelf Struve/Johann Friedrich Jugler, Bibliotheca historiae litterariae selecta olim titulo Introductionis in notitiam rei litterariae et usum bibliothecarum insignita. Ienae: Sumtibus Christiani Henr. Cunonis 1754 (1. Aufl. 1704), 2: „Historia litteraria vera est perspicua eorum narratio, quae litterarum studiosis de fatis eruditionis atque eruditorum cognitu et necessaria sunt, et utilia"; Jakob Friedrich Reimmann, Versuch einer Einleitung In die Historiam Literariam Insgemein und derer Teutschen insonderheit. Halle im Magdeburgischen: Zu finden in der Rengerischen Buchhandlung 1708, Bd. 1,3: „Die Historia Literaria ist eine Historie, darinnen dasjenige in gebührender Klarheit und Wahrheit vorgetragen wird, was denen curieusen Gemüthern von dem Schicksal der Gelehrsamkeit und derer Gelehrten insonderheit zu wissen nöthig, nützlich und vergnüglich ist."

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Wissenschaften insonderheit merckwürdiges gethan haben"8, und kein Schriftsteller hat so viel Merkwürdiges in der Gelehrtengeschichte getan wie Niccolö Machiavelli. Wie wurde Machiavelli also in der historia literaria wahrgenommen? Wie seine Schriften aufgenommen werden sollten, welche von ihnen und in welcher Abteilung man diese verzeichnen sollte, waren die Hauptprobleme einer klassifizierenden Disziplin der Gelehrsamkeit. In diesem Sinn konnte man die Schriften Machiavellis entweder formal, nach ihrer Wirkungsgeschichte oder inhaltlich, nach ihrer philosophischen Zugehörigkeit, beurteilen. In ersterem Fall gab es keinen Zweifel, daß Machiavelli in der Geschichte der Gelehrsamkeit ein heftig umstrittener Autor war und daß seine Werke daher in die Kategorie der libri malae notae, der verworfenen und verdammten Bücher, aufgenommen werden sollten. Laut Christoph August Heumann umfaßte diese Kategorie drei Sorten von Büchern: die Schriften gegen die Religion im allgemeinen, die Werke gegen die christliche Religion im besonderen und die aufrührerischen Bücher. Offensichtlich gehörte der Fürst zu der ersten Art dieser verworfenen Schriften. „Venio ad libros malae notae, quorum plerique et ipsi perrari sunt. Ii trium sunt generum. Primum genus est atheorum. Huc refer Vanini scripta, Pomponatii, Spinozae, Curbachii, Wirmarsii, Machiavelli (u) Principem, Tolandi Origines Iudaicas, Collini librum De libertate cogitandi."9

Im Falle Machiavellis ging die Beschuldigung des Atheismus teils auf eine unüberprüfbare anekdotische Überlieferung, die ihn als den Helden aller ruchlosen Herrscher aus der frühneuzeitlichen Geschichte darstellte, teils auf die eigene Lektüre zurück. „(u) Bussierius Hist. Gall. [Jean de Bussieres, Historia Francica, Coloniae 1688] lib. XXI. cap. 26. p. 305. refert Henricum III. regem unum imprimis Machiavellum legisse amasseque, et lib. XXII. cap. 27, p. 402. addit eundem secutum fuisse Ducem Nemursium. Faventissimum vero iudicem nuper Politicus ille accepit lohannem Fridericum Christium, cuius acumini an succubitura sit Conringii sententia, qua nec pro viro eximiae prudentiae habetur Machiavellus, et Epicureorum, hoc est, divinam providentiam non agnoscentium, gregi adscribitur, dies docebit. Ego quidem, etsi, cum aliquando legi illum Principem, clarissima mihi visus sum deprehendisse impietatis vestigia, tarnen paratus sum a Conringio deficere, imo a memetipso, ubi lectio Christiani operis prorsus alium mihi repraesentaverit Florentinum illum." 10

Diese äußerst negative Bewertung setzte, wie auch aus dem Text Heumanns ersichtlich, voraus, daß Machiavelli hauptsächlich als ein politischer Schriftsteller, als ein politicus klassifiziert wurde und dabei vorwiegend als Autor 8

Gottlieb Stolle, Anleitung Zur Historie der Gelahrheit. Jena: In Verlegung Johann Meyers seel. Witwe 1724 (1. Aufl. 1718), 3. 9 Heumann, Conspectus reipublicae literariae (wie Anm. 7), 319f. 10 Ebd. 319.

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des Fürsten angesehen wurde. Diese Annahme blieb in der historia literaria nicht ganz unumstritten, denn derselbe Heumann verzeichnete ihn, zusammen mit Philipp de Commynes, Francesco Guicciardini und Paolo Giovio, auch unter den Historikern des sechzehnten Jahrhunderts.11 Daniel Georg Morhof erwähnte seine außerordentlichen Verdienste in der Wiederbelebung der alten Komödie12 und seine Jn Livium Dissertationes [...] profundissimi ingenii et iudicii".13 Trotzdem wurde die Einordnung als politicus allgemeingültig und bestimmte im Grundsatz die Rezeption von Machiavelli in der deutschen historia literaria. Im späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhundert war Machiavelli in Deutschland also nur der Verfasser des Fürsten, der politicus aus Florenz und der - wahre oder vermeintliche - Lehrer der Tyrannei. Von konkurrierenden Lektüren, von den republikanischen Idealen der Discorsi, von seinen historiographischen, statistischen und kriegstechnischen Interessen14 zeigte sich in dieser Literatur keine Spur.13 Obwohl diese ausschließliche Einschätzung Machiavellis als Verfasser des Fürsten das Hauptmerkmal, gleichsam das Prinzip seiner Rezeption in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches blieb, erfuhr sie nichtsdestoweniger eine innere Entwicklung, die eng mit den Absichten und den Mitteln der historia literaria verbunden war. Wenn man die Autoren und die Werke der historia literaria in einer chronologischen Reihe darstellt, kann man eine auffallende Veränderung beobachten: Das Urteil über den Verfasser des Fürsten verschob sich von einer äußerst negativen zu einer positiven Einschätzung. Diese Veränderung wurde dadurch ermöglicht, daß man allmählich den historischen Kontext geltend machte. Machiavelli wurde zunehmend historisiert, 11 Ebd. 141. Vgl. Johann Andreas Bose, De comparanda prudentia civili deque libris et scriptoribus ad eam rem máxime aptis dissertatio isagógica (1678), in: ders.. De prudentia et eloquentia civili comparanda diatribae isagogicae, quarum haec prodit auctior sub titulo de ratione legendi tractandique historíeos. Accedit notítia scriptomm historiae universalis primum edita cura Georgii Schubarti. Ienae: Apud Ioannem Bielkium 1699,17. 12 Daniel Georg Morhof, Polyhistor, in tres tomos, literarium, philosophicum et practicum [...] opus posthumum. Lubecae: Sumtíbus Petri Böckmanni 1708 (1. Aufl. 1688-1708), Bd. 2, 320. 13 Ebd. Bd. 3, 17. Vgl. Stolle, Anleitung Zur Historie der Gelahrheit (wie Anm. 8), 715; Nikolaus Hieronymus Gundling, Vollständige Historie der Gelahrheit, Oder Ausfuhrliche Discourse, So er ein in verschiedenen Collegiis Literariis, so wohl über seine eigenen Positiones, als auch vornehmlich über Tit. Herrn Inspectoris D. Christophori Augusti Heumanni Conspectum Reipublicae Literariae gehalten, hrsg. von Christoph Friedrich Hempel. Frankfurt und Leipzig: Wolfgang Ludwig Spring 1734, Bd. 2, 2889. 14 Ebd. Bd. 2,2889. Die ausführlichste Beschreibung aller Werke der Gesamtausgabe Machiavellis befindet sich in Karl Amd, Bibliotheca politico-heraldica selecta, hoc est recensus scriptorum ad politicam atque heraldicam peitinentium selectus ex praestantissimis scriptorum monumentis conquisitus, rarioribus ex historia literaria observationibus illustratus et accuratioribus eniditorum iudieiis constipatus, cum praefatione de selectissimis bibliothecarum theologicae, iuridicae, medicae et philosophicae collectoribus. Rostochii et Lipsiae: Sumptibus Iohannis Henrici Ruswormii 1705,41-45. 15 Stolle, Anleitung Zur Historie der Gelahrheit (wie Anm. 8), 715.

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und dadurch rückte sein Werk in ein anderes Licht: Vom Ratgeber der Tyrannen wurde er zum wahren Demokraten, sogar zum Monarchomachen. Die Verschiebung im Urteil über Machiavelli war zweifellos ein Verdienst der historia literaria. Man fühlte sich zunehmend dazu verpflichtet, die Umstände vom Leben, Wirken und Schreiben des Machiavelli zu berücksichtigen. Die rein inhaltliche Wiedergabe seiner Bücher erschien ungenügend, wollte man eine philologisch gerechte Auslegung erreichen. Wenn man die wahre Botschaft erfassen wollte, mußte man die Absichten des Autors und die biographischen Umstände mit einbeziehen. Gerade dies aber war die Aufgabe der historia literaria, die sich schon ihrer Definition nach als eine Kenntnis „von dem Schicksal der Gelehrsamkeit und derer Gelehrten" darstellte. 16 Die ersten Schriften der Gelehrtengeschichte, die aus dem späten siebzehnten Jahrhundert stammten, betrachteten Machiavelli unter einem axiologischen Gesichtspunkt und boten eine gleichsam werkimmanente Auslegung. Sie interpretierten den Fürsten als eine ausführliche Darstellung der politischen Klugheit, die nur nach ihren expliziten Aussagen bewertet werden sollte und eine zwar inhaltlich falsche, aber formal berechtigte Lehre darstellte. Unter diesem Gesichtspunkt erschien alles als Lehre, die wahr oder falsch sein konnte, aber gleichsam immer auf derselben Oberfläche lag und keine Tiefe zuließ. Im Laufe ihrer Geschichte aber gewann die historia literaria allmählich an historischer Tiefe hinzu. Ihre Objekte waren nicht mehr Lehren ein und derselben Qualität, sondern erlangten unterschiedliche Grade an Eindeutigkeit, die durch die historischen Umstände ihrer Produktion bedingt waren. So konnte man auch im Fall von Machiavelli eine differenzierte Einschätzung formulieren und zuerst auf den wissenschaftlichen Gehalt des Fürsten hinweisen, wie es schon Hermann Conring getan hatte. 17 Da Machiavelli eine wissenschaftlich wahre Beschreibung des Staates anstrebte, war sein Unternehmen weder böse noch gut, sondern einfach objektiv. Man schränkte diese Interpretation durch allerlei Bedenken ein; durch Heranziehung weiterer biographischer und historischer Umstände konnte aber bewiesen werden, daß Machiavelli die Tyrannei entlarven wollte bzw. - und dies war der letzte Schritt - sogar ein wahrer Demokrat und Republikaner war. In ihrer progressiv historisierenden Auslegung Machiavellis durchlief die Gelehrtengeschichte drei Schritte: 1. die negativ axiologische Bewertung (Mor16

Reimann, Versuch einer Einleitung In die Historian) Literariam (wie Anm. 7), 3. Hermann Conring, Animadversiones politicae in Nicolai Machiavelli librum De principe. Helmestadii: Typis et impensis Henningi Mulleri 1661; ders, Disputatio I. de natura ac optimis auctoribus civilis pmdentiae (1639). Resp. Fridericus Strubius, in: Hermann Conring, Operum tomus III. Hrsg. v. Iohannes Wilhelmus Goebelius. Brunsvigae: Sumtibus Friderici Wilhelmi Meyeri 1730, 12; ders, Dissertatio de autoribus politicis (1660), in: ebd. 23; ders. (Praes.)/Iustus loannes Rinkius (Auetor), Dissertatio III. de civili philosophia eiusque optimis et praeeipuis scriptoribus (1673), in: ebd. 41. Vgl. unten Anm. 31 u. 32. 17

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hof, Arnd, Heitmann, Reimmann), 2. das wissenschaftlich neutrale Urteil (Kemmerich und Stolle) und 3. die positiv historische Einschätzung (Stmve und zuletzt Christ). Die Schrift von Johann Friedrich Christ, die das entscheidende Moment in dieser Entwicklung darstellte18, wurde 1731 gerade in diesem Kontext der historia literaria verfaßt.19

III. Der Ausgangspunkt: Machiavelli als erster der pseudopolitici Die Ablehnung Machiavellis als Verfasser des ruchlosen Fürsten war in den Bibliographien des späten siebzehnten Jahrhunderts allgemein verbreitet, obwohl dieselben Schriften die Möglichkeit divergierender Meinungen anerkannten. Ein Beispiel ist die knappe Darstellung in der Bibliotheca politica contrada Johann Andreas Böses (1677). „Referri huc quoque Nicolai Machiavelli Princeps debet, quo libro dum vir acutissimi ingenti et plane ad civilem pnidentiam factus plerasque tyrannicas artes principi suo commendavit, multorum diversa iudicia expertus est, astutique potius et temerarii, immo atfaei, quam prüdentis famam, neque fortassis immerito, sibi conciliavi. Scripsere adversus eum multi, e quibus clarissimus omnium Iruiocentius Gentilettus, auctor Antimachiavelli, qui tarnen ferme solam impietatem eius aggressus est, omissis erroribus politicis, quorum non paucos in eo reperire est; saepe etiam Andabatarum more adversus eum pugnat, veibaque eius in alienissimum sensum torquet"20

Eine kanonische Formulierung fand das abwertende Urteil gegen Ende des siebzehnten und zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts im Polyhistor literarius von Daniel Georg Morhof, dem Altmeister der deutschen Gelehrtengeschichte. Morhof unterteilte die Autoren der Politik in 21 Gruppen und begann mit einer Darstellung der systematischen Schriftsteller, die einer „dogmatischen Methode" gefolgt waren. Die wahre Methode aber war seiner Einschätzung nach allein die aristotelische. Als orthodoxe Schriftsteller konnten daher nur die modernen Aristoteliker gelten. Zu diesen zählte er Iohannes Caselius, Henning Arnisaeus, Georg Schönborner, Hermann Conring und Balthasar Cellarius.21 Ihnen widersprachen die „heterodoxen Politiker": Jean Bodin, Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes. Diese lehnten die aristoteli18 Burkhard Gotthelf Struve, Bibliothecae philosophicae Struvianae emendatae continuatae atque ultra dimidiam partem auctae a Ludovico Martino Kahlio tomus I. [—II-]. Gottingae: Impensis Vandenhoeck et Cunonis 1740 (1. Aufl. 1704), Ndr. Düsseldorf 1970, Bd. 2, 187. 19 Vgl. unten Anm. 59. 20 Bose, De comparanda prudentia civili (wie Anm. 11 ), 42. Vgl. auch Georg Matthias König, Bibliotheca vetus et nova. Altdorfii: Impensis Wolffgangi Mauritii et haeredum Iohannis Andreae Endterorum 1678,492 a . 21 Morhof, Polyhistor, in tres tomos (wie Anm. 12), Bd. 3, 11 f.

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sehe Ordnung entweder in der Darstellung oder in den Grundsätzen der Politik ab, aber dabei begingen sie einen, wie Morhof meinte, in der Geschichte der Gelehrsamkeit häufigen Fehler22, denn sie beanspruchten für sich eine absolute Originalität, die novitas, obwohl sie den Großteil ihrer Lehren von Aristoteles entliehen hatten. Ihre Verdienste mußten deshalb für um so geringer gelten, was besonders auf Machiavelli zutraf, dessen Fürst dieselben Beobachtungen zu Tyrannei und Oligarchie enthielt, die schon Aristoteles seinerzeit formuliert hatte, nur ohne dessen Klarheit und sittliche Reinheit. Durch diesen Bezug auf die Antike erklärte sich nach Morhof auch, wie es geschehen konnte, daß selbst erfahrene Gelehrte wie Kaspar Schoppe und Hermann Conring Machiavelli rechtfertigten, denn anhand der Lehren Machiavellis verteidigten sie eigentlich die Philosophie des Aristoteles. „Qui heterodoxa et ab Aristotele diversa methodo politicarti doctrinam tractarunt, vel ratione ordinis tantum, vel ratione prineipiorum différant. Iohannes Bodinus, quem Naudaeus ubique magnum et acutum politicum crepai, totus diversus est ab Aristotele, de industria saepe in piano quaerens lapides, in quos impingat, et in scirpo nodos. Magnifice etiam ipse de se sentit, et prae se Aristotelem contemnit, in quo tarnen et illum et alios vehementer falli certum est. Plus saepe in una linea Aristotelis prudentiae politicae reconditur, quam in integris aliorum dissertationibus. Quin ipsi, qui nunc sceleratae politices architecti sunt, legere illa omnia apud Aristotelem possunt, qui artes, tarn tyrannicas, quam oligarchicas, non dissimulavit, quibus omnis ille nequitiae ludus superstruitur. Falluntur itaque, qui Nicolaum Machiavellum ex suo ingenio tarn bellam doctrinam deprompsisse autumant, quam de principe proponit, in quem tot extant declamationes doctorum, indoctomm. sed tarnen defendit peculiari Apologia, qua erat pietate et probitate scilicet insignis, Caspar Scioppius. Defendit et aliqua ex parte Hermannus Conringius in praefatione et notis ad Machiavelli Principem scriptis, quae editio optima est, prodiitque Helmstadii anno 1660. in 4." 23

Eine ausführliche Formulierung fand die Ablehnung Machiavellis in der Bibliotheca politico-heraldica selecta von Karl Arnd aus dem Jahre 1705. Was Arnd mit diesem Werk anbot, war eine vollständige und systematisch gegliederte Einführung in die Politik durch die bibliographische Darstellung ihrer wichtigsten Werke. Er unterteilte daher die politische Bibliographie in zehn verschiedene Klassen (dogmatici, historici, philologi, florilegici, discursorii, eristici, paedeutici, consultatorii, statistici und symbolici), die nur „echte" politische Schriftsteller (genuini politici) enthielten. Ihnen gingen zwei Klassen von „falschen" Politikern, von pseudo-politici, voraus. Die erste Klasse der Pseudopolitiker umfaßte Machiavelli und die Machiavellisten, die zweite die Monarchomachen.24 Diese Einteilung ging auf die Machiavellistarum et 22

Ebd. Bd. 1,250-256. Ebd. Bd. 3, 12. Vgl. Martin Mulsow, Morhof und die Politische Theologie. Kontexte historisch-philologischen Denkens im Deutschland des 17. Jahrhunderts, in: François Waquet (Ed.), Mapping the World of Learning. The Polyhistor of Daniel Georg Morhof. Wiesbaden 2000, 221-251. 24 Arnd, Bibliotheca politico-heraldica selecta (wie Anm. 14), 36. 23

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Monarchomacorum dogmata von Johann Friedrich Engelmann und Johann Neunhertz (1674) zurück.25 Das Kapitel über die machiavellistischen Pseudopolitiker ist wiederum in sieben Paragraphen eingeteilt: 1. Leben Machiavellis, 2. Seine Lehre, 3. Seine Werke, 4. Die Urteile der Gelehrten über seine Lehre, 5. Seine Vorfahren, 6. Seine Nachfolger, 7. Seine Plagiate. Diese umfassende Matrix könne aber, so Arnd, auf einige wesentliche Hauptpunkte zurückgeführt werden, und dann erweise er sich als eine für das Gemeinwesen höchst gefährliche Lehre, deren Grundsatz darin bestehe, daß die Herrscher ausschließlich ihr privates Interesse verfolgen und keine Rücksicht auf das Wohl der Untertanen nehmen sollten.26 Die Gelehrten - argumentierte Arnd weiter - seien zwar geteilter Meinung über die Schriften von Machiavelli, denn einige von ihnen, wie Alberico Gentiii, Kaspar Schoppe, Hermann Coming, Jakob Speidel, Johann Christoph Beckmann und Amelot de la Houssaie, hätten seine schädlichen Grundsätze mit allen Mitteln gerechtfertigt, während andere, wie Innocent Gentillet, Pedro de Ribadeneyra, Tommaso Bozio, ihn in allem verabscheuen würden; die richtige Meinung sei aber die mittlere, die ihm weder ein feines politisches Urteil noch eine tiefe historische Gelehrsamkeit abspreche, jedoch seine gottlosen Prinzipien und seine naturwidrige Moral entlarve. „Media [= opinio] eorum, qui Machiavellum a nobili doctrina, ab ingenio, iudicio exquisitissimaque historianun ac poliücae cognitione laudant, a religione tarnen vita et a consiliis plus quam Achitophelicis vituperant, quibus cum suos tarn alios informavit." 27

Machiavelli - schließt Arnd - habe nämlich nicht nur die Künste der Tyrannen beschrieben, sondern auch empfohlen, daß die Fürsten gegen die Moral und gegen die Religion handeln sollten. Auf diese Weise habe er ein „machiavellisches Bekenntnis" gegründet, in dem die christliche Religion vollkommen gleichgültig sei und durch den Willen des jeweiligen Herrschers ersetzt werde. „Nomen sortitur indifferentismus a praecipuis patronis, qui illum aliquando fuenint complexi. Dicitur enim religio Machiavellistica, quia constat, Machiavellum religionem omnem imperantium voluntati subiecisse, neque in se vinculum quoddam obligandi ad certarum doctrinarum fidem agnovisse." 28

Deswegen müßte er auch als Vorfahre und Vorbild aller darauffolgenden pseudo-politischen Schriftsteller gelten, die Moral und Religion öffentlich oder heimlich in Frage stellten: Iustus Lipsius, Gabriel Naude, Thomas Hob25

Johann Friedrich Engelmann/Johannes Neunherz, Machiavellistarum et Monarchomachorum dogmata. [Lipsiae]: lypis viduae Iohannis Wittigau 1674. 26 Arnd, Bibliotheca politico-heraldica selecta (wie Anm. 14), 40f. 27 Ebd. 48. 28 Ebd. 49.

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bes, Richelieu und Mazarin, der jesuitische Probabilismus, die Indifferentisten, die Atheisten und schließlich die Monarchomachen.29 So viele Anhänger verdanke er aber nicht seiner eigentlichen Lehre, sondern eher seiner Sittenlosigkeit, denn, genau genommen, seien alle seine Lehren Plagiate aus der Politik des Aristoteles, von der sie sich in Wahrheit nur durch die Irreligiosität unterscheiden würden.30

IV. Das wissenschaftlich neutrale Urteil Die Rettung Machiavellis in der historia literaria fing damit an, daß man an das Urteil von Kaspar Schoppe (1576-1649) und Hermann Conring (16061681) anknüpfte und das wissenschaftliche Verdienst Machiavellis gebührend hervorhob.31 Dies rückte Machiavelli wieder in die Nähe von Aristoteles, was in zweifacher Hinsicht Folgen hatte. Einerseits wirkte die geistige Verwandtschaft salvierend, weil die Ausstrahlung des alten Philosophen den modernen Politiker rechtfertigte; andererseits mußten aber die Errungenschaften Machiavellis in Frage gestellt werden, weil sie in diesem Licht nur als eine Wiederholung hergebrachter Lehren erschienen. Der Vorwurf des Plagiats ließ sich bedrohlich vernehmen. Dieser Gefahr hatten Kaspar Schoppe und Hermann Conring jedoch bereits vorgebeugt, indem sie bewiesen hatten, daß die Ausführungen Machiavellis denen des Aristoteles zwar ähnelten, sich aber auf einen vorher unbekannten Gegenstand bezogen: die italienischen Fürstentümer des sechzehnten Jahrhunderts. Wenn der Gegenstand neu sei, müsse auch die entsprechende Lehre original und echt sein.32 » Ebd. 5 5 - 5 7 . 30 Ebd. 58 f. Vgl. König, Bibliotheca vetus et nova (wie Anm. 20), 492 a . 31 Kaspar Schoppe, Paedia politices sive suppetiae logicae scriptoribus politicis latae adversus a j i o a ö e u o i a v et acerbitatem plebeiorum quorundam iudiciorum (1623), in: ders./ Gabriel Naud£, Gasparis Scioppii Paedia politices et Gabrielis Naudaei Bibliographia politica ut et eiusdem argumenti alia. Hrsg. v. Hermann Conring. Helmestadii: Typis et sumptibus Henningi Mulleri, 1663, S. 3 1 - 3 3 u. 3 9 - 4 3 ; Hermann Conring. Benevolo lectori, in: ebd. fol. 2 r - 3 v ; ders.. In Paediam politices Casparis Scioppii notae et animadversiones, ders., in: ebd. 1 5 7 - 1 6 0 u. 175-178. 32 Schoppe, Paedia politices (wie Anm. 31), 43: „Falsum similiter in politico accusari potent, si cum de principatu disputat, non qui aut absolute ac simpliciter, aut pro rebus circumstantibus, aut ex hypothesi optimus, sed qui maxime communis et plerisque principum accomodatus sit [...], tum igitur falsi arguetur, si talem principatum rigida iuris et aequi ac fidei servandae religione conservari affirmet. Hoc enim falsissimum esse, usus quotidianus sive experientia comprobat. Nam plerosque principatus, qui iam a ducentis circiter annis in orbe Christiano fuerunt, certissimum est, neque simpliciter, neque etiam pro locorum hominumque conditione optimos fuisse; quoniam potestas principum nimis soluta ac libera erat, nec satis legum vinculis adstricta, ita ut Aristotele iudice tolerabiliores quaedam tyrannides existimari possint [...]. Nihil igitur peccat politicus, si tractet de principatu maxime communi et usitato (nam in hoc subiecto eum occupari convenit) neque si eum non

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Eine erste Rettung in diesem Sinn erfuhr Niccolò Machiavelli in der historia literaria durch Dietrich Hermann Kemmerich, der der Bewertung von Hermann Coming zustimmte. Auch Kemmerich sah in Machiavelli nur den Verfasser des Fürsten, aber ließ für ihn dasselbe Urteil gelten, das man Aristoteles zukommen ließ. Beide hätten zwar die Tyrannei in allen ihren Erscheinungen ausfuhrlich beschrieben, dies besage aber nicht, daß sie sie auch empfahlen. Da sie eine wissenschaftliche und vollständige Darstellung der Politik beabsichtigten, mußten sie alle politischen Formen behandeln, auch die mangelhaften und moralisch verwerflichen. Der Verfasser des Fürsten konnte auf diese Weise und im Namen seiner Wissenschaftlichkeit gerettet werden. ,.Machiavelli Tractatus de Principe ist ein buch, welche viel ungleiche iudicia hat leiden müssen; weil er dem Fürsten tyrannische maximen recomanditet, und das interesse der fugend und Gottesfurcht vorziehet Allein dennoch muß man den autorem vor einen klugen politicum passimi lassen, und es haben schon andere gewiesen, daß er nur die maximen der tyrannen beschrieben, die sie insgemein zu gebrauchen pflegen, welches auch Aristoteles in seinen Libris politicis gethan, daraus aber nicht folget, daß er solche appratiret Unterdessen muß man ihn mit behutsamkeit lesen, wozu einem Conringii Notae zustatten kommen."33

Das Urteil von Kemmerich wurde auch dadurch differenzierter, daß er den Fürsten in eine besondere literarische Gattung rückte. Ihm war das Büchlein Machiavellis weder ein Fürstenspiegel noch eine systematische Lehre der Politik, wie Moihof gemeint hatte34, sondern erschien ihm hauptsächlich als ein Traktat, der politische Maximen anbot und in dieselbe Klasse wie die Abhandlungen über die arcana imperii von Arnold Clapmar, Christoph Besold und Cyriacus Lentulus gehörte. So wurde Machiavelli entschieden der Literatur über die Staatsräson und die Staatsgeheimnisse einverleibt.33 semper iuris et aequi, sive honesti cura, sed ubi occasio, violentia, astutia ac perfidia servari doceat"; Conring, In Paediam politices Casparis Scioppii notae et animadversiones (wie Anm. 31), 173-174, 180 u. 67 a_b : „Principatus in Italia intra ducentos annos nati, bonam partem malis artibus et invitis civibus caeperunt, et multum proinde participarunt xoö TUpawiKotf"; Hermann Conring, Dissertatio de regno, Resp. Andreas Curtius. Helmaestadii: Henningus Müllems 1650, Bl v : „Regnum Galliae verum et absolutum regnum est. Nam penes regem, nisi infans, ut nunc, aut mente captus sit, belli et pacis arbitrium est, leges sancit et tollit, tributa et vectigalia imperai, impartitur gratiam a poenis et multis legalibus, et c. [...]. In Hispania parili rex potestate praeditus est, nec minus commune bonum procurat [...]. Hisce duobus regnis adiungenda fuit Anglia, quam iam trucidato per summum scelus optimo rege Carolo, multum a prìstino deflexit." Vgl. Merio Scottola, Il concetto di tirannide nel pensiero politico tedesco della prima età moderna, in: Filosofia politica 10, 1996,416. 33 Dietrich Hermann Kemmerich, Neu-eröffnete Academie Der Wissenschafften. Leipzig: Bey Thomas Fritschen 1711, Bd. 1, 253. 34 Morhof, Polyhistor, in tres tomos (wie Anm. 12), Bd. 3, 11. Vgl. oben Anm. 23. 35 Kemmerich, Neu-eröffnete Academie Der Wissenschafften (wie Anm. 33), Bd. 1,253 f. Vgl. Bose, De comparanda prudentia civili (wie Anm. 11), 41 f.

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Dies war auch die Interpretation von Gottlieb Stolle ( 1 6 7 3 - 1 7 4 4 ) und Burkhard Gotthelf Struve ( 1 6 7 1 - 1 7 3 8 ) . 3 6 Stolle verzeichnete Machiavelli zusammen mit Giovanni Botero und Traiano Boccalini in einer Reihe von Autoren, die dadurch gekennzeichnet seien, daß sie Italiener waren, die die Lehren der Staatsstreiche, der Staatsräson und der Staatsgeheimnisse verteidigten und eine Vorliebe für Tacitus hegten. Sie wurden auch als Statisten bezeichnet, ein Begriff, unter den in den Bibliographien des frühen achtzehnten Jahrhunderts alle diejenigen Schriftsteller subsumiert wurden, „qui scripserunt de ratione status". 37 „Was die Staats-Lehre betrifft, so ist fast keine Nation, die sich mehr danimb verdient zumachen gesucht, als die Welschen, welche sonderlich in des Taciti Schrifften enthaltne Staats-Streiche zu erleutem sich Mühe gegeben; sie haben aber grossentheils mehr Phantasie und ingenium als ScharfTsinnigkeit dabey sehen lassen. Nicolaus Machiavellus, desgleichen Giovanni Botero, und Trajano Boccalini gehören nebst einigen andern in die Ausnahme." 38 Je artikulierter das Urteil wurde, desto unhaltbarer erwiesen sich die Beschuldigungen gegen Machiavelli. Als sehr unwahrscheinlich erachtete es Stolle, daß er, der den Medici so verdächtig und unzuverlässig erschienen war, zugleich ein Berater der Tyrannen gewesen sei. „Ich weiß nicht, wie man ihn mit Wahrscheinligkeit beschuldigen kann, daß er in seinem Principe zeigen wollen, wie sich ein Regent zum Despoten machen, und dabey mainteniren könne, da er doch in seinem Vaterlande in großem Verdacht gestanden, daß er als ein Feind davon sich wider das Haus de Medices verschworen, und daher von Cassiis und Brutis so groß Wesen gemacht."39 Ebensowenig konnte sich der Vorwurf des Atheismus halten, der sich auf keinen überprüfbaren Beweis stützen konnte und eigentlich aus lauter Erdichtungen bestand. 4 0 Die Gelehrtengeschichte zog damit den historischen Hinter36

Struve, Bibliotheca philosophica (wie Anm. 18), Bd. 2, 185. Martin Upen, Bibliotheca realis philosophica omnium materiarum, rerum, et titulorum, in universo totius philosophiae ambitu occurrentium, ordine alphabetico sie disposita, ut primo statim aspectu tituli, et sub titulis autores ordinata velut acie dispositi in oculos panier et animos legentium ineurrant. Francofurti ad Moenum: Cura et sumptibus Iohannis Friderici 1682, Status ratio, Statistica seu Status politicus, 1423a; Caspar Thurmann. Bibliotheca statistica, seu autores praeeipue qui de ratione status et quae eo pertinent in genere. et in specie de statistis, seu status aliisque ministris aulicis, et consiliaris, nec non de ambasciatoribus, residentibus, et mediatoribus pacis, ut et de casibus mimstrorum aulicorum tragicis, et denique de bonis demanialibus, ex professo et incidenter, fuse tarnen, scripserunt (1701). Hrsg. v. Wolfgang E. J. Weber. München 2000; Arnd, Bibliotheca politico-heraldica selecta (wie Anm. 14), 37; Stolle, Anleitung Zur Historie der Gelahrheit (wie Anm. 8), 714, angeführt unten Anm. 41; Reimmann, Versuch einer Einleitung (wie Anm. 7), Bd. 3/3, 286-292, angeführt unten Anm. 101. Vgl. unten Anm. 113. 38 Stolle, Anleitung Zur Historie der Gelahrheit (wie Anm. 8), 714. 39 Ebd. 714 Anm. q. 40 Ebd. 714f. Anm. q. Vgl. Arnd, Bibliotheca politico-heraldica selecta (wie Anm. 14). 48 f. 37

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grund, die Biographie Machiavellis und seine politischen Stellungnahmen gegen die Herrschaft der Medici in Florenz heran, überwand durch diese historische Kontextualisierung die traditionellen Vorurteile und brachte das historische Urteil über Machiavelli zum Umschwung. „Machiavellus lebte zu Ende des XV. und zu Anfange des XVI. Seculi. Sein Princeps, den er anno 1715 [= 1515] ediret, und nachmals offt wieder aufgelegt worden, hat ihn bey vielen zum Vater der falschen Statisterey gemacht, die doch lange vonn Machiavello in der Welt gewesen. Ich halte es mit denen, welche glauben, daß ihm zu viel geschehe. Die ihn wiederlegt, haben meist wenig Ehre erworben. Hermannus Conringius ist meines Wissens der beste Commentator darüber." 41

Es mit denen zu halten, „welche glauben, daß ihm zu viel geschehe", bedeutet hier, ein gemäßigtes und differenziertes Urteil Uber Machiavelli zu fällen, wobei sich Stolle ausdrücklich der Bewertung von Burkhard Gotthelf Struve und Johann Balthasar Schupp (1610-1661) anschloß und jene Eigenschaft Machiavellis betonte, die seit dem neunzehnten Jahrhundert als sein „Realismus" anerkannt wird. Machiavelli habe nicht den idealen Fürsten beschrieben, wie ihn Xenophon in der Cyropaedia schilderte, sondern habe das wirkliche Handeln von Fürsten und Höfen dargestellt- Nicht wie die Fürsten sein sollen, sondern wie sie sind. Dabei müsse man aber eingestehen, daß der Realismus selbst zum Teil unrealistisch sein muß, um ein wahrer Realismus zu sein. Eine lesbare Wiedergabe sowohl des Idealen als auch des Wirklichen erfordere nämlich, daß man bestimmte Züge seiner Darstellung betone oder übertreibe. Wie Xenophon der historischen Biographie von Cyrus untreu sein mußte, um das Muster des idealen Herrschers abzubilden, so konnte auch Machiavelli keine schlichte Beschreibung der italienischen Fürsten verfassen, sondern mußte ein stark konturiertes Bild entwerfen. Denn wenn man die Wirklichkeit so wiedergebe, wie sie tatsächlich ist, wirke sie meistens unbestimmt und fahl. Damit sie klar lesbar werde, müßten ihre Umrisse unterstrichen, der Kontrast gesteigert und der Gegensatz überhöht werden. Der Realismus müsse überrealistisch sein, so auch bei Machiavelli. „Multa videntur et non sunt, multa sunt et non videntur. Sagacissimus nequitiae humanae observator, apertissimus testis et nimis ingenuus recitator fuit Machiavellus Florentinus. Is candide elocutus est, quod multi alii politici non modo sentiunt et firmiter credunt, sed et in universa vita sua faciunt. Interim tarnen misenimus ille Machiavellus vituperatur ab Omnibus. Execrantur eum monarchae, quia vident artes suas detectas esse. Execrantur eum consiliarii, quia vident conscientias suas ab eo tangi. Execrantur eum subditi, et hac miseriarum luce excruciantur, stolide credentes, mala sua ex cerebro Machiavelli nata. Sed non nova sunt Florentini illius praecepta. Ite in antiqua retro secula, videbitis eandem saepe fabulam actam, sed ab aliis personis. Machiavellum legere soleo, eo modo, quo legitur Grobianus. Quemadmodum Cyropaedia Xenophontis non est conscripta ad fidem verae historiae, sed ad exemplar iusti imperii, quemadmodum Virgilius Aeneam, Plinius Traianum descripsisse videntur, non quales fuerunt, sed quales esse debuerant, ita Machiavellum 41

Stolle, Anleitung Zur Historie der Gelahrheit (wie Anm. 8), 714.

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contraria via principes quosdam in Italia, quorum Deus crumena fuit, voluntas lex. ambitio dux, temeritas ars, consuetudo régula, descripsisse credo, non quales esse debent. sed quales fuerunt." 42

V. Die philologische Rettung Der nächste Schritt in der Rezeption Machiavellis durch die historia literaria erfolgte in der Bibliotheca philosophica von Burkard Gotthelf Struve, der Machiavelli in einem eigenen Paragraphen behandelte. Da Machiavelli hier zwischen die Fürstenspiegelliteratur und Xenophons Cyropaedia eingefügt wurde, galt er eindeutig nur als der Verfasser des Fürsten, der also als eine Art Fürstenspiegel angesehen wurde, eine Schrift zur Ausbildung, Anweisung oder Verbesserung des Regenten. Unter diesem Gesichtspunkt bietet die Bibliotheca philosophica, die von 1704 bis 1740 fortwährend ergänzt wurde, auch eine ausfuhrliche Bibliographie zum Thema Machiavelli. Als seine Gegner verzeichnet sie François Hotman43, Innocent Gentillet44, Pedro de Ribadeneyra45, Tommaso Bozio46, Claude Clement47, Giovanni Lorenzo Lucchesini48, Johann Heinrich Feustking49, Sigismund Pichler50 und Michael Hoy42

Johann Balthasar Schupp, De opinione dissertano praeliminaris. Marpurgi Cattorum: Typis Nicolai Hampelii 1639, 8. Vgl. auch Gottlieb Stolle, Kurtzgefaßte Lehre der Allgemeinen Klugheit. Mit einer Vorrede Vom Reformiren der Wissenschaften und Anwenden der Philosophie auf andere Theile der Gelahrheit begleitet von Ihro Magnificenz Herrn Hofrat Daries. Jena: Bey Theodor Wilhelm Ernst Güth 1748, 30 f. 43 François Hotman wird eigentlich die lateinische Version des Discours von Innocent Gentillet zugeschrieben. Vgl. [Innocent Gentillet,] Commentariorum de regno aut quovis principatu recte et tranquille administrando, libri très, in quibus ordine agitur de Consilio, religione et politia, quas princeps quilibet in ditione sua tuen et observare debet. Adversus Nicolaum Machiavellum Florentinum. [Genevae:] [Stoerius] 1577. 44 [Innocent Gentillet,] Discours, sur les moyens de bien gouverner et maintenir en bonne paix un Royaume ou autre Principauté. Divisez en trois parties: asavoir, du Conseil, de la Religion et Police que doit tenir un Prince. Contre Nicolas Machiavel Florentin. [Genf:] [Stoer] 1576. 45 Pedro de Ribadeneyra, Tratado de la religion y virtudes que deve tener el prencipe Christiano, para governar y conservar sus estados. Madrid: P. Madrigal 1595. 46 Tommaso Bozio, Da imperio virtutis sive imperia pendere a veris virtutibus non a simulatis libri duo. Adversus Macchiavellum. Romae: Ex typographia Bartholomaei Bontadini 1593. Vgl. Gianfranco Borrelli, Il modello conservativo della monarchia cattolica. La costruzione dell'obbedienza in Bolero, Bozio e Charron, in: Chiara Continisio/Cesare Mozzarelli (Eds.), Repubblica e virtù. Pensiero politico e Monarchia Cattolica fra XVI e XVII secolo. Rom 1995, 497-509. 47 Claude Clement, Machiavellismus iugulatus a Christiana sapientia Hispanica et Austriaca. Dissertatio Christiano-politica. Compiuti: Vazquez 1637. 48 Giovanni Lorenzo Lucchesini, Saggio della sciocchezza di Nicolò Macchiavelli scoperta eziandio col solo discorso naturale, e con far vedere dannose anche a gl'interessi della terra le principali sue massime, in venti lezzioni sacre. Roma: Nella stamperia della reverenda Camera Apostolica 1697. 49 Johann Heinrich Feustking, De Achithophelismo Cum aliorum, tum maxime Nicolai

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novius 5 1 ; bezüglich seiner Anhänger weist sie auf Kaspar Schoppe, Hermann Conring, Christian Hoffmann 52 , Hermann Samuel Reimarus 53 , Michael Lilienthal 54 , Levin Nicolaus Moltke 55 und Johann Friedrich Christ 56 hin. Trotz des wiederholten und heftigen Widerspruchs seien sich aber alle Kritiker darin einig, daß Machiavelli Uber einen außerordentlich feinen Verstand verfugt habe. Ob er auch in seinem Leben immer klug handelte, müsse dahin gestellt bleiben, aber historisch gesehen wäre sein persönliches Verhältnis zur Staatsräson eindeutig, denn er war ein Bürger der freien Republik Florenz und daher hätte er die Fürsten seiner Zeit mit höchster Genauigkeit beschrieben, um die Untertanen vor den Gefahren der Tyrannei zu warnen. So konnte Struve das Urteil über Machiavelli um eine weitere Stufe näher bestimmen, denn der Florentiner Sekretär war jetzt nicht mehr nur der nüchterne Beobachter der menschlichen Natur, der kalte Wissenschaftler des politischen Theaters, wie es noch bei Stolle der Fall gewesen war, sondern konnte über eine Anspielung auf Alberico Gentili und Traiano Boccalini als ein wahrer Demokrat vorgestellt werden. 57 „Mirantur omnes in eo acumen ingenii singulare, astutum tarnen potius et temerarium censent politicum, quam prudentem; eo quod tyrannicas artes Principi suo commendare videaMachiavelli schedi asma, Resp. Iohannes Hövet. Wittebeigae: l^pis Martini Schultzii 1692. 30 Sigismund Pichler, Examen breve decadis dogmatum pseudo-politicorum Nicolai Machiavelli Fiorentini historici ac politici, scriptoris famosissimi, Resp. Fridericus a Derschau. Regiomonti: Typis Friderici Reusneri [1650?]; ders., Discursus politicus III. De ratione status monarchici falsa sive tyrannoium ac pravorum principimi idolo, Resp. Beniamin Krause. Regiomonti: Typis Iohannis Reusneri 1643. 51 Michael Hoynovius, Dissertano de erroribus politicis Machiavelli, Resp. Christianus Burchardus. Regiomonti: Typis Friderici Reusneri 1689,1-53; ders., Dissertatio posterior, de erroribus politicis Machiavelli, in: ebd. 55-94. 52 Christian Hoffmann (Praes. y Johann Heinrich Neumann (Auctor), Machiavellus sine Machiavello ex historia Sinensium productos. Ienae: "typis Bauhoferianis 1668; Christian Hoffmann, Machiavelli ante Machiavellum, Ex historia Lacedaemoniorum productus, Resp. Carolus Maximilianus de Hopffstockh. Ienae: Stanno Bauhoferiano 1668. 33 Hermann Samuel Reimarus, Dissertatio schediasmati de Machiavellismo ante Machiavellum praemissa, Resp. David Mente. Vitembergae: Literis Gerdesianis 1719. 54 Michael Lilienthal, De Machiavellismo literario, sive de perversis quorundam in república literaria inclarescendi artibus, dissertatio historico-moralis. Regiomonti et Lipsiae: Sumtibus Henrici Boye 1713. 55 Levin Nicolaus Moltke, Annotationes, in: Thomas Browne, Religio medici cum annotationibus. Lugduni Batavorum: Sumptibus Friderici Spoor 1650. 56 Struve, Bibliotheca philosophica (wie Anm. 18), Bd. 2, 185-189. 57 Alberico Gentili, De legationibus libri tres (1585). Ed. James Brown Scott. New York 1924, 109: „Machiavellus democratiae laudator et assertor acerrimus; natus, educatus, honoratus in eo reipublicae statu; tyrannidis summus inimicus. Itaque tyrannus non favet; sui propositi non est, tyrannum instruere, sed arcanis eius palam factis ipsum miseris populis nudum et conspicuum exhibere." Vgl. Diego Panizza, Il pensiero politico di Alberico Gentili. Religione, virtù e ragion di stato, in: ders. (Ed.), Alberico Gentili. Politica e religione nell'età delle guerre di religione. Mailand 2002, 126-131.

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tur. Verum liberae reipublicae civis erat Machiavellus, democratiae assertor, tyrannidi inimicus: hanc ut invisam redderet suis, potius tyrannicas artes, quibus haud raro principes utuntur, exponit, quam ut principem instruat." 58

Die letzten Produkte dieser Hinwendung der historia literaria zur Kontextualisierung und zur philologischen Erklärung der Werke Machiavellis sind die Dissertationen von Johann Friedrich Christ und Michael Lilienthal. Die historische Tiefe der Gelehrtengeschichte ist die wesentliche Voraussetzung der Darlegung von Johann Friedrich Christ (1700-1756), dessen De Nicoiao Machiavello libri tres (1731) einen Vergleich zwischen Antike und Moderne ansetzt, mit dem der bekannten Debatte eine nüchterne Antwort gegeben wird. 59 Im voraus könne man weder den Antiken noch den Modernen den Vorzug geben, sondern man müsse von Fall zu Fall urteilen und sich stets bewußt sein, daß Kenntnisse und Künste zerbrechliche Erscheinungen seien, die leicht verstellt würden und dadurch ebenso leicht verlorengingen. So sei es auch der politischen Klugheit ergangen, die in der Antike ein hohes Ansehen genoß, im Mittelalter aber immer mehr vernachlässigt wurde und schließlich in Vergessenheit geraten sei. So sei es auch Machiavelli ergangen, der eine ausfuhrliche Lehre der Klugheit ganz nach dem antiken Geschmack formuliert hatte und daher großen Anstoß erregen mußte.60 Durch die historische Distanz, die unvermeidlichen Mißverständnisse und die hinzugekommenen Vorurteile sei die Gestalt Machiavellis jedoch völlig verzerrt worden und den Modemen vollkommen unverständlich geworden. Man müsse daher den Weg der Geschichte bis zu den Quellen zurückgehen, die Texte in ihrer ursprünglichen Form wieder heranziehen und dadurch das Gebäude der historisch angewachsenen Vorurteile abbauen. Christ liest Machiavelli deshalb auf Italienisch. Vor diesem Hintergrund überprüft er sowohl die lateinische Übersetzung als auch die Auslegungen seiner Gegner und liest nicht nur den Fürsten, wie dies eine ganze Tradition seit lnnocent Gentillet getan hatte, sondern betrachtet diesen Traktat als Teil eines breiteren Werkzusammenhangs, in dessen Rahmen er seine wahre Bedeutung erhalte. Diese philologischen Bemühungen und Treue zum Text ermöglichen die Umkehrung der traditionellen Verdammung. 58

Struve, Bibliotheca philosophica (wie Anm. 18), Bd. 2, 184 f. Conrad Bursian, Christ, Johann Friedrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 4. Leipzig 1876, 140-142; Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen. Leipzig 1943 (1. Aufl. 1923), Ndr. Hildesheim 1983, Bd. 1, 418^125; Konrad Schauenburg, Christ, Johann Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 3. Berlin 1957, 216 b -217 a ; Hans-Peter Müller, Johann Friedrich Christ. Zum 250. Jahrestag am 2. September 2006, in: Jubiläen 2006 - Personen/Ereignisse. 31 Kalenderblätter zu Jubiläen von Personen und Ereignissen der Universität Leipzig im Jahr 2006. Leipzig 2006, 109-114. 60 Johann Friedrich Christ, De Nicoiao Machiavello libri tres in quibus de vita et scriptis item de secta eius viri atque in universum de politica nostrorum post instauratas litteras temporum ex instituto disseritur historiaeque civilis et rei litterariae passim ratio habetur. Lipsiae et Halae Magdeburgicae: Apud Iohannem Christophorum Krebsium 1731. 1-7. 59

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Zum ersten stelle sich heraus, daß sowohl die moralische Verurteilung Gentillets als auch die wissenschaftlich neutralisierende Auslegung Schoppes und Comings fehlerhaft seien, denn beide seien einseitig und daher zum Teil wahr und zum Teil falsch. Der Fürst beschreibe tatsächlich eine sittlich widrige politische Form und insofern sei den Gegnern Machiavellis zuzustimmen, aber gleichzeitig befasse er sich mit keiner allgemeinen Lehre des Königtums, sondern mit dem Problem einer neu gegründeten Herrschaft. Diese bedürfe aber immer außerordentlicher Mittel, und daher hätten seine Anhänger recht, wenn sie die politische Folgerichtigkeit der Ausnahmelehre verteidigten.61 Zum zweiten müsse man aber zur selben Zeit anerkennen, daß der Stoff des Fürsten nur einen besonderen Fall in einer allgemeinen politischen Theorie umfasse, die keineswegs durch einen kurzen Traktat dieser Art ausgeführt werden könne. Wenn man nach einer vollständigen Lehre der Politik mit allen ihren Einzelheiten suche, müßten neben dem Fürsten auch die Abhandlungen der Discorsi herangezogen werden, die ein viel umfassenderes Bild entwürfen und die eigentlichen Prinzipien Machiavellis darlegten. Der Fürst sei daher im Licht der Discorsi philologisch zu betrachten und erhalte erst von ihnen her seine Wahrheit. Wenn aber diese Hypothese richtig sei, dann müsse der Fürst nach den Discorsi verfaßt worden sein, von einem alten Machiavelli, der sein System schon entworfen hatte und seine Prinzipien endlich auch am besonderen Fall des principato nuovo abmessen wollte. „Serio quidem principem praeceptis format [...], sed novum, id est, non bonum, quippe qui vel vi vel technis imperium sibi paravit Idcirco valde moveor, ut credam, librum de principe esse post illos de republica, tanquam ad absolvendum argumentum, compositum; atque Ulis quidem probam et votis petendam reipublicae formam, hoc autem libello tum praesentem et necessariam magis quam bonam rerum conditionem Florentinae civitati ac toti Italiae a Machiavello caute repraesentatam."62

Nimmt man diese Hypothesen als wahrscheinlich an, dann müsse man zum dritten schließen, daß die echte politische Lehre Machiavellis nicht im Fürsten, sondern in den Discorsi enthalten sei, in denen er zweifellos seine republikanische Gesinnung äußerte. Das Fazit der philologischen Untersuchung klingt fast paradox: Machiavelli sei ein wahrer Widersacher der Tyrannei und kein Machiavellist gewesen.63 Je genauer die philologische Interpretation den Text auslegte, desto mehr rückte dieser aber in die Feme historischer Gewordenheit und Relativität. Die literaturhistorischen Bestrebungen von Christ hatten daher die Wirkung, daß der Fürst an unmittelbarer Aussagekraft verlor und als historisches Objekt für die politische Lehre neutralisiert wurde. Diese Entwicklung der historia lite61 62 63

Ebd. 19 u. 61. Ebd. 19 f. Ebd. 65.

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raria wurde in der Vollständigen Historie der Gelahrheit von Nikolaus Hieronymus Gundling zusammengefaßt, der postumen Mitschrift einer Vorlesung über die Gelehrtengeschichte, die eine äußerst detaillierte Darstellung anbot. Hier wurde die Gottlosigkeit Machiavellis gegen die katholische Kirche gewendet, indem die Frage aufgeworfen wurde, ob sie sich gegen die Religion überhaupt oder nur gegen ein bestimmtes Bekenntnis richtete. 64 Das positive Urteil über den Fürsten wurde in der respublica literaria als eine weitverbreitete Meinung vorausgesetzt, während die Discorsi als eine große historiographische Leistung gewürdigt wurden, „denn man siehet daraus, daß er einen rechten Concept de república Romana gehabt habe".65 Die Ironie der Geschichte aber wollte, daß die ganze Entwicklung der historia literaria gerade in diesem Werk ihren einschneidenden Widerspruch fand. Die Fortsetzung des großen Unternehmens von Gundling, die 1746 von einem anonymen Verfasser veröffentlicht wurde, nahm auch den Anti-Macfuavel Friedrichs n . von Preußen auf, und das brisante Werk des preußischen Kronprinzen ließ das Urteil über den Fürsten von Machiavelli kippen. 66 Gegenüber dem königlichen Anspruch, Staaten und Untertanen nur durch Gerechtigkeit und Vernunft, durch eine philosophische Moral, zu regieren, mußte der Realismus Machiavellis mit oder ohne Philologie als ein Greuel der Menschheit erscheinen. Die historia literaria kam damit wieder zum Ausgangspunkt zurück. „Des Machiavelli so genannter Fürst, oder sein Buch von der Regirungs-Kunst eines Fürstens, welches zuerst ISIS, ans Licht trat, ist bekannt genug. Er schrieb darinnen den Regenten die Kunst vor, wie sie gottlos seyn sollten; eine Kunst, welche die Welt ohne ihn mehr als zu wohl verstund, und täglich mehr und mehr verstehen lernet. Er gab sogar Lehren des Meuchelmords, und der Vergiftung. Gleichwohl verdachte es ihm Papst Leo X. nicht, daß er seinem Enckel, Laurentio de Medicis, ein Buch zueignete, worinnen er die Bosheit der Menschen in ein ordentliches Lehr-Gebäude gebracht hatte. [...] Aber zu unsem Tagen erschien der Anti-Machiave! auf der Schaubühne der Welt, welcher die Vertheidigung der Menschlichkeit wider einen Unmenschen übernahm, der dieselbe hatte vernichten wollen. Dieß Buch setzet die Vernunft, und Gerechtigkeit dem Betrug, und dem Laster, als eine förmliche Widerlegung, entgegen. Die meisten wollen behaupten, daß Ihro itzt glorwürdigst regirende Majestät, der König von Preußen, als damahliger Cron-Prinz, in seinen noch sehr jungen Jahren, der wahre Verfasser von diesem grosen Werke sey, worinnen er Wahrheiten entworfen, die ihm sein Herz eingegeben, und sich selbst Lehren vorgeschrieben, welche allerdings verdienen, die Lehre aller Könige, und die Quelle des Glücks der Menschen zu seyn." 67

Mit der Vorlesung von Gundling erreichte die Gelehrtengeschichte die äußerste Stufe in der Annäherung an das Thema .Machiavelli'. Im Bereich der wis64

Gundling, Vollständige Historie der Gelahrheit (wie Anm. 13), Bd. 2, 2888-2890. Ebd. Bd. 2, 2889. 66 [Anonymus,] Fortgesetzte Historie der Gelahrheit. Frankfurt und Leipzig: Verlegts Wolfgang Ludwig Spring 1746, 379-385. 67 Ebd. 379. 65

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senschaftlichen Form kam sie zu einem ähnlichen Endpunkt der Rezeption durch die Dissertation De Machiavellismo literario (1713) des lutherischen Theologen Michael Lilienthal (1686-1750). Diese Schrift kehrte das traditionelle Schema um, indem sie der historia literaria die politische Lehre Machiavellis als ein hermeneutisches Hilfsmittel an die Hand gab. Nicht die politische Lehre wurde hier im Lichte der Gelehrtengeschichte interpretiert, sondern die Gelehrtengeschichte wurde mit den Kategorien der politischen Lehre gelesen. Als eine Erscheinung der literarischen Welt zeige Machiavelli zwei unterschiedliche Seiten, die sorgfältig zu trennen seien.68 Einerseits soll man ihn als eine hervorragende Gestalt in der historischen Wirklichkeit betrachten, wobei nur die Gelehrtengeschichte den richtigen Maßstab zum historischen Urteil liefern könne. Wenn man aber das politische Leben in Florenz zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts berücksichtige, müsse man dem Urteil von Alberico Gentiii zustimmen, daß Machiavelli keinen Fürsten in der Ausübung der Tyrannei belehren wollte, da er vielmehr den Untertanen zeigte, welche Kunstgriffe ihre Unterdrücker benutzten und wie sie sich dagegen verteidigen könnten. „Ad defensionem Machiavelli hoc imprimís adducunt advocati eius, quod principes malas imperandi artes non tarn docuerit, easdemque probaverit, quam potius, quibus artís vulgo utantur, ostenderit, atque sie tyrannorum arcanis palam factis, eos populo nudos et conspicuos exhibuerit."69

Andererseits genieße Machiavelli aber, wie andere bedeutende Autoren auch, neben seiner historischen Existenz ein virtuelles Leben als Inbegriff einer besonderen Denkrichtung. Sehr oft verdichte sich eine außerordentliche Erscheinung in der Gelehrtengeschichte, vor allem wenn sie Anstoß errege, zu einem besonderen Ausdruck, der dann auch außerhalb des ursprünglichen Entstehungskontextes angewandt werde und ein allgemeines Phänomen in der gelehrten Kommunikation bezeichne.70 In diesem Sinn kenne man einen literarischen Pyrrhonismus, einen literarischen Achitophelismus und einen literarischen Spinozismus. In demselben Sinn habe sich auch die Formel „Machiavellismus" von Machiavelli verselbständigt und gelte für alle Formen der Ausnahmelehre und für alle politischen Fälle, die die Anwendung von unerlaubten Mitteln erforderten.71 Derselbe Name könne aber auch außerhalb der politischen Theorie benutzt werden, denn diese Neigung zu unmoralischen Kunstgriffen sei in allen Feldern der Gelehrtengeschichte anzutreffen. Als allgemeine Denkfigur sprenge der Machiavellismus die Grenzen der politischen 68

Wilhelm Heinrich Erbkam, Lilienthal, Michael, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 18. Leipzig 1883, 650. 69 Lilienthal, De Machiavellismo literario (wie Anm. 54), *6r. 70 Ebd. *4r-5v. 71 Ebd. *5v_r.

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Ideengeschichte und erstrecke sich auf alle Disziplinen des menschlichen Wissens: Er wirke interdisziplinär. Auch Theologen, Altphilologen oder Mathematiker könnten sich im wissenschaftlichen Wettbewerb machiavellistisch verhalten. Während der politische Machiavellismus als ein Verstoß gegen den wahren Zweck des Gemeinwesens gelte, definiere sich der literarische Machiavellismus als die Mißachtung des wahren Zweckes der literarischen Tätigkeit, der Suche nach Ruhm, die an sich gesund und notwendig sei, aber verwerflich werde, wenn man die literarische Ehre mit verbotenen Mitteln erstrebe.72 Zwischen der politischen und der literarischen Form dieser Erscheinung bestehe eine vollkommene Übereinstimmung, die auf vier Punkte zurückgeführt werden könne. 1. Wie der politische Machiavellismus nur den Nutzen des Herrschers anstrebe, so suche der literarische Machiavellist nur den eigenen Vorteil, ohne auf das Wohl der respublica literaria zu achten. 2. Wie der politische Machiavellismus verwerfliche Kunstgriffe benutze, so bediene sich der literarische Machiavellismus zur Erreichung des Nachruhmes nur unerlaubter und verächtlicher Mittel. 3. Wie der politische Machiavellismus die Religion nur vortäusche, so begnüge sich auch der literarische Machiavellismus mit der Heuchelei einer oberflächlichen Gelehrsamkeit. 4. Wie der politische Machiavellismus eigentlich schon lange vor Machiavelli existierte und mit dem Menschengeschlecht selbst begann, so sei auch der literarische Machiavellismus sehr alt und erscheine tatsächlich bereits mit dem Entstehen der respublica literaria,73 Nachdem die Gelehrtengeschichte alle Möglichkeiten der politischen Lehre Machiavellis untersucht hatte, konnte sie dieselbe in Anspruch nehmen, um auch die eigenen Charakteristika zu erforschen. So wurden dieselben Regeln der wahren Klugheit, die die Politik nach der langwierigen Auseinandersetzung mit Machiavelli und dem Machiavellismus letztendlich bestimmten, auch für die historia literaria als Ganze geltend gemacht.

VI. Die historia literaria und die Klugheitslehre Neben der unmittelbaren Rezeption durch die Schriften der historia literaria wirkte Machiavelli im frühen achtzehnten Jahrhundert auch auf eine andere und eher indirekte Weise, die den Begriff und die Lehre der politischen Klugheit betraf und vor allem bei Autoren aus dem Umfeld von Christian Thomasius deutlich wird. Die Moralphilosophie in Halle hatte in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Universität eine ausfuhrliche Lehre der Klug72

Ebd. 1-3. ™ Ebd. 6-9.

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heit entwickelt und konnte dadurch die Kategorien und die Einteilungen zur Verfügung stellen, die die historia literaria in ihrer Aufnahme von Machiavelli und dem Machiavellismus benutzte.74 Schon in seinen Elementa philosophiae practicae hatte Johann Franz Buddeus (1667-1729) die praktische Philosophie in drei Disziplinen eingeteilt. Die Ethik, „quae principem sibi vindicat locum, est pars philosophiae practicae, tradens rationem ad summam felicitatem perveniendi"75 und sorgt für die innere Ruhe des menschlichen Gemüts, die iurisprudentia universalis seu naturalis oder das Natuirecht kann nur die äußeren Handlungen regeln76, und die prudentia hat schließlich die Aufgabe, die äußerlichen Hindemisse zu beseitigen und den Menschen zu ihrem Nutzen zu verhelfen. Die Vorschriften der Klugheitslehre besitzen also keinen moralischen Wert, sondern sind ethisch gleichgültig und zielen ausschließlich auf das utile ab. Andererseits ist die Klugheit auch mit dem decorum eng verbunden, das in allen jenen Handlungen inbegriffen ist, die das Wohlwollen der Mitmenschen erwerben.77 Die Disziplin der Klugheit ist die Politik, die wiederum in zwei Bereiche eingeteilt wird. Auf der einen Seite bestimmt die politica architectonica die allgemeinen Prinzipien des gesellschaftlichen Lebens und begründet mit ihnen das Gemeinwesen; auf der anderen Seite erhält die Lehre des Regienens ihre Grundsätze von der architektonischen Politik und wendet sie auf die Einzelfälle an. Obwohl beide Teile im weiteren Sinn als Politik betrachtet werden können, gehört die architektonische Politik eigentlich dem Naturrecht und der Jurisprudenz an. Nur die Tätigkeit der Regierung kann im engeren und wahren Sinn Politik genannt werden.78 Den wichtigsten und größten Teil dieser 74

Christian Thomasius, Primae lineae de iureconsultonim prudentia consultatoria. Halae et Lipsiae: Typis et sumptibus viduae Christophori Salfeldii 1705; dt. Übers.: Kuitzer Entwurff der Politischen Klugheit. Franckfurt am Mayn: Im Verlag Johann GroBens Erben 1707, Ndr. Hildesheim 2002; Christian Thomasius, Cautelae circa praecognita iurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani. Halae Magdeburgicae: Prostat in officina libraria Rengeriana 1710, Ndr. Hildesheim 2006, 262-274. Vgl. Merio Scottola, „Prudentia se ipsum et statum suum conservandi". Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit, in: Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997, 333-363; ders.. Persone, status, saperi. Il moltiplicarsi delle prudenze alle soglie dell'età moderna, in: Gabriella Valera (Ed.), Le forme della libertà. Categorie della razionalizzazione e storiografìa. London 2000, 73-92; ders.. Dalla virtù alla scienza (wie Anm. 6), 427-493; Heinz Mohnhaupt, Prudentia-Lehren im 17. und 18. Jahrhundert, in: Mario Ascheri u.a. (Hrsg.), „Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert". Festschrift für Knut Wolfgang Nörr. Köln 2003, 617632. 75 Johann Franz Buddeus, Elementa philosophiae practicae. Halae Magdeburgicae: Apud Iohannem Fridericum Zeitlerum 1720 (1. Aufl. 1697), 6. 7 6 Ebd. 8 f. 77 Ebd. 472. 78 Ebd. 437 f. Vgl. Merio Scottola, Von der Politik zum Naturrecht. Die Entwicklung des allgemeinen Staatsrechts aus der politica architectonica, in: Jacques Krynen/Michael Stol-

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politica oder prudentia civilis bildet die ratio status79, so daß Politik und Staatsräson mit demselben Namen, prudentia status, bezeichnet werden können. 80 Christian Thomasius (1655-1728) verband mit den verschiedenen Bereichen der praktischen Philosophie klar umrissene und voneinander unabhängige Prinzipien und entwickelte schon in seinen frühen Schriften eine spezifische Lehre des decorum81, die er nach 1705 systematisch erweiterte82, als er die praktische Philosophie in vier Disziplinen einteilte: die Ethik im engeren Sinn, das Naturrecht, die Lehre des decorum und die Lehre der Klugheit. 83 Die Ethik verstand Thomasius als jene Disziplin, die zur Erlangung der inne-

leis (Hrsg.), Science politique et droit public dans les facultés de droit européennes (XIIIeXVIIIe siècle). Frankfurt am Main 2008,411^43. 79 Buddeus, Elementa philosophiae practicae (wie Anm. 75), 486. 80 Ebd. 448: „Quae si quis rite secum expendat, haud difficulter quid famosissima illa ratio Status sibi velit, intelliget. Nimirum revera nihil aliud est, quam prudentia status. Ratio enim modo significat, quo status ille conservari possit, id quod prudentia status docet." Vgl. auch 441. 81 Christian Thomasius, Eröffnet Der Studierenden Jugend Einen Vorschlag, Wie er einen jungen Menschen, der sich ernstlich fürgesetzt, Gott und der Welt dermahleins in vita civili rechtschaffen zu dienen, und als ein honnet und galant homme zu leben, binnen dreyer Jahre Frist in der Philosophie und singulis Iurisprudentiae partibus zu informiren gesonnen sey (1689), in: ders., Allerhand biBher publicirte Kleine Teutsche Schrifften. Halle: Gedreckt und verlegt von Christoph Salfeld 1701, Ndr. Hildesheim 1994,257-260; ders., Von der Kunst Vernünftig und Tugendhaft zu lieben [...] oder Einleitung Zur Sitten-Lehre. Halle: Druckts und verlegts Christoph Salfeld 1692, Ndr. Hildesheim 1995, 101-105: ders., Summarischer Entwurf Derer Grund-Lehren, Die einem Studioso Iuris zu wissen, und auff Univesitäten zu lernen nöthig. Halle: Zu Andern im Rengerischen Buchladen 1699, Ndr. Aalen 1979, 113-120; ders., Erinnerung Wegen deren über den dritten Theil seiner Grund-Lehren, Bißher gehaltenen Lectionum privatissimarum und deren Verwandelung in Lectiones privatas. Absonderlich aber wegen zweyer instehenden Collegiorum de fundamentis iuris publici und de Synopsi iurisprudentiae publicae, Ingleichen Wegen neuer Lectionum publicarum de iure decori oder Von Recht derer Sitten und Gewohnheiten (1700), in: ders.. Auserlesener Und dazu gehöriger Schrifften Zweyter Theil. Franckfurt und Leipzig: Zu finden in der Rengerischen Buchhandlung 1714, 214-220. Vgl. Manfred Beetz, Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik, in: Werner Schneiders (Hrsg.), Christian Thomasius, 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989, 199-222. 82 Christian Thomasius, Fundamenta iuris naturae et gentium. Halae et Lipsiae: Typis et sumtibus viduae Christophori Salfeldii 1713 (1. Aufl. 1705); ders., Cautelae circa praecognita iurisprudentiae (wie Anm. 74); ders., Primae lineae de iureconsultorum prudentia consultatoria (wie Anm. 74). 83 Zur Gliederung der praktischen Philosophie bei Thomasius vgl. Hinrich Rüping, Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule. Bonn 1968, 49-54; Werner Schneiders, Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim 1971, 270-289: Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1972. 5784.

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ren Ruhe nötig ist.84 Das Recht regelt den Bereich der äußeren Handlungen und wird durch den souveränen Willen in Kraft gesetzt.85 Da aber nicht jede sittliche oder gesetzmäßige Handlung gleichzeitig auch schicklich ist, benötigt man zusätzlich eine Lehre des Anstands oder des decorum86, die ihrerseits durch eine Lehre der Klugheit ergänzt wird.87 Das decorum soll das Wohlwollen anderer Menschen positiv erwerben, während die prudentia den komplementären und negativen Zweck des Nutzens erzielt, indem sie die Wirkungen der Feindschaften beseitigt.88 Nikolaus Hieronymus Gundling (1671-1729), ein Schüler und Kollege von Thomasius, machte die Systematik des Buddeus wieder geltend und «setzte die Vierteilung honestum, decorum, utile und iustum durch die Dreiteilung honestum, utile und iustum, wobei er das decorum als einen Teil der Klugheitslehre verstand, dessen eigentlicher Gegenstand das Nützliche, und der durch den Terminus prudentia bezeichnet werden sollte.89 So wurde ein Schema entwickelt, in dem drei selbständige Disziplinen auf drei verschiedenen Prinzipien beruhten und drei getrennte Bereiche der praktischen Philosophie bestimmten. „Man hat also actiones iustas, honestas et prudentes. Alle actiones, welche vorkommen, kan ich auf diese Art considermn."90 Damit wird die praktische Philosophie in drei streng getrennte Disziplinen eingeteilt, 84 Thomasius, Fundamente iuris natuiae et gentium (wie Anm. 82), 128-130; ders., Cautelae circa praecognita iurisprudentiae (wie Anm. 74), 229-235. 85 Thomasius, Fundamenta iuris naturae et gentium (wie Anm. 82), 93-95. 86 Thomasius, Cautelae circa praecognita iurisprudentiae (wie Anm. 74), 238; ders., Fundamenta iuris naturae et gentium (wie Anm. 82), 130. 87 Thomasius, Cautelae circa praecognita iurisprudentiae (wie Anm. 74), 238 Anm. h. Vgl. Werner Schneiders, Thomasius politicus. Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre, in: Norbert Hinske (Hrsg.), Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989,91-110. 88 Thomasius, Cautelae circa praecognita iurisprudentiae (wie Anm. 74), 262: „Post regulas decori sequuntur regulae utilitatis, seu doctrina eanim partium, ex quibus constat tranquillitas humani generis, scilicet carentiae doloris, paupertatis, ignominiae, aut potius verae indolentiae, sufficientiae, existimationis." Vgl. auch ders.. Eröffnet Der Studierenden Jugend Einen Vorschlag (wie Anm. 81), 252-254; ders., Summarischer Entwurf (wie Anm. 81), 127; ders., Primae lineae de iureconsultorum prudentia consultatoria (wie Anm. 74), 6, und ders., Kurtzer EntwurfF der Politischen Klugheit (wie Anm. 74), 8f. 89 Nikolaus Hieronymus Gundling, Ausführlicher [...] Discours über [...] Iohannis Francisci Buddei [...] Philosophiae practicae partem III. Die Politic. Frankfurt und Leipzig: [o. V.] 1733,14: „Einige brauchen hier das Wort decorum, welches ich aber nicht thue, weil solches diversas significationes hat, und muste man daher eine neue definition machen. Das Wort Prudens ist bekannter, und machet einem keine solche dubia [...]. Wenn ich nun aber auch iustus, honestus, hätte abundantiam amoris bey mir, welche sich diffundirte ad alios, ich wäre auch temperans, so bin ich doch noch nicht vollkommen; auch nur vemünfftiger Weise davon zu reden. Es wird noch etwas mehreres erfordert. Das nennet der Herr Thomasius, und andere, die seinen principiis folgen, decorum, weil aber das Wort decorum vielen aequivocationibus unterworffen, so nennen wir es prudentiam. Prudentia also erfordert was mehreres." 90 Ebd. 12.

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welche jeweils einen besonderen Bereich des sittlichen Lebens regeln. Die Ethik hat mit den tugendhaften Handlungen zu tun und ihr Wirken fällt mit den Grenzen des Gewissens zusammen91, das Recht leitet die äußeren Handlungen, die unter die Bestimmung der herrschaftlichen Gewalt fallen 92 , und als Klugheit sowohl des privaten status als auch des öffentlichen Staates betrifft die Politik jenen Teil des gesellschaftlichen Bereichs, der frei vom rechtlichen Zwang bleibt und durch eine freiwillige Vereinbarung geregelt wird. Die historia literaria des frühen achtzehnten Jahrhunderts im Umfeld von Christian Thomasius übernahm dieses Schema und gestaltete mit ihm die Darlegung der ethischen, juristischen und politischen Materien. Die Anwendung dieser Gliederung wird vor allem bei Gottlieb Stolle 93 , Burkhard Gotthelf Struve94, Dietrich Hermann Kemmerich95 und Christoph August Heumann96 deutlich. Dabei wurde aber eine Schwierigkeit offensichtlich, die unmittelbar aus der Erörterung Machiavellis und dessen Fürsten entsprang. Je unentbehrlicher die Klugheit im System des sittlichen Handelns war - und darüber war sich die gesamte Moralphilosophie zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts einig - , desto dringender mußte sie sich von den ausgearteten Formen von Klugheit unterscheiden, die, wenn sie falsch verstanden wurden, dem Wert und der Aufgabe der wahren Klugheit ernstlich schaden konnten. Aber Machiavelli war in der Gelehrtengeschichte das Muster dieser mißverstandenen Klugheitslehre, und so konnte er leicht zu einer Abgrenzungsfigur werden, an der sich die Gelehrtengeschichte der Thomasius-Schule negativ 91

Ebd. 13. « Ebd. 93 Stolle, Anleitung Zur Historie der Gelahrheit (wie Anm. 8), 569-742. 94 Struve, Bibliotheca philosophica (wie Anm. 18), Bd. 2, 161-183. 95 Kemmerich, Neu-eröffnete Academie Der Wissenschafften (wie Anm. 33). Bd. 3, b l r v . Vgl. auch Bd. 1, 179f.: „1. Die morale führet den menschen zur erkentniß sein selbst, seines elendes, und seiner glückseligkeit: und weiset, wie er sich solches zu seiner höchsten und innerlichen glückseeligkeit zu nutze machen soll, das ist, wie er seine affecten soll gouvemiren, daß sie innerlich seine gemüths-mhe nicht Stohren, noch ihn etwas wieder die gesetze vorzunehmen, anreitzen mögen. 2. Das lus naturae lehret, wie man sich verhalten müsse, daß man die glückseeligkeit der menschlichen gesellschaft und die äusserliche ruhe nicht turbiie, sondern vielmehr als ein nützliches mitglied dieselbe befördern helffe. 3. Das decorum regulirt vomemlich die eusserliche conduite in Sachen, die nicht eben auffs recht ankommen, und zeiget wie man sich in conversation und in allerhand fallen des menschlichen lebens manierlich aufführen soll, daß man sich jedermanns liebe und gewogenheit würdig mache. 4. Die Politique zeiget erstlich, wie sich ein jeder in seinen Stande klüglich conserviren, und denjenigen zweck, welcher seinem stände gemäß, glücklich erhalten soll. Ferner wie man eine familie, und endlich wie man einen Staat gouvemiren soll, damit die Wohlfahrt allerseits befördert werde." 96

Christoph August Heumann, Der Politische Philosophus, Das ist, Vernunfftmäßige Anweisung Zur Klugheit Im gemeinen Leben (1714). Franckfurt und Leipzig: Zu finden in der Rengerischen Buchhandlung 1724, Ndr. Frankfurt am Main 1972. Vgl. Günter Mühlpfordt. Ein kryptoradikaler Thomasianer. C. A. Heumann, der Thomasius von Göttingen, in: Schneiders (Hrsg.), Christian Thomasius (wie Anm. 81), 305-334.

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definierte. Und j e stärker der Einfluß der Moralphilosophie von Thomasius war, desto vehementer mußte die Ablehnung Machiavellis im Namen der echten Klugheitslehre beteuert werden. Wir können diesen Prozeß und dessen Entwicklung an den Werken von Jakob Friedrich Reimmann (1668-1743) und Christoph August Heumann (1681-1764) abmessen. 9 7 Beide warfen die Frage nach der richtigen Definition des politicus auf und bezogen sich auf ein Schema, das schon von Iohannes Caselius, dem Vater der politischen Lehre an den deutschen Universitäten 98 , entworfen und dann von Hermann Coming wiederaufgenommen worden war. Caselius fand, daß man über viele und unterschiedliche Definitionen des politicus verfuge: „Politicus non esse quisquis politus est [...]. Multo minus homwem curiosum et loquacem [...]. Nec versutum et callidum [...]. An orator et politicus unum et idem sit [...]. An politicus idem qui iurisconsultus [...]. Ante omnia politicum debere esse viium eximie bonum".99 In seinen Prvpolitica, die auch in ihrem Titel das Programm des IIpojtoXiTiKÖg von Caselius wiederaufnahmen, stellte Coming dieselben Fragen, indem er die Autonomie der Politik gegenüber der Jurisprudenz und der Rhetorik betonte. 100 Und dasselbe Schema nahm auch Reimmann in Anspruch, als er die Hauptpunkte seiner politischen Gelehrtengeschichte zusammenfaßte und deren Nutzen für den Leser hervorhob. „Wenn ich die erzehlten Geschichte von der deutschen Politique und denen Politicis nur obenhin und als im Vorbeygehen beschaue, so finde ich zu meiner a) Erbauung [...] 6) Daß es falsch sey, was einige vorzugeben pflegen: die Staats-Wissenschaft werde blosseidings und allein aus eigener Erfahrung gelernet. Und daB es eben so gefährlich sey denen empiricis das corpus reipublicae anzuvertrauen, als ihnen seinen Leib zur Cuhr und Heilung zu untergeben. 7) Daß die Pseudo-Statistica ein frembdes Gewächse sey, welches ausser denen teutschen Gräntzen gezeuget und gebohren worden. 8) Daß die Ausländer wegen ihrer neuerfundenen, oder vielmehr nur von neuen aufgewärmten Machiavellischtn Kunst zwar wohl vor arglistiger aber nicht vor klüger zu halten als die Teutschen. 9) DaB die Teutschen in der wahren und rechten politique anjetzo keiner nation in der Welt etwas nachzugeben haben. [...]b) Belustigung Daß der Machiavel und Achithophell [2 Sam. 15,12]im Namen und in der That einander sehr nahe kommen. 10) Daß das anagramma nicht allezeit ein-

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Martin Mulsow, Die Paradoxien der Vernunft Rekonstruktion einer verleugneten Phase in Reimmanns Denken, in: ders./Helmut Zedelmaier (Hrsg.), Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668-1743). Tübingen 1998, 15-59. 98 Reimmann, Versuch einer Einleitung (wie Anm. 7), Bd. 3/3, 77-78. 99 lohannes Caselius, npoiioXixiKÖg (1600), in: ders., Opera politica. Hrsg. v. Konrad Hornejus. Francofurti: In officina libraria Conradi Eifridi 1631,11-40. Im Zitat werden die Titel der ersten Kapitel dieses Werkes erwähnt. 100 Conring, Disputatio I. de natura ac optimis auctoribus civilis prudentiae (wie Anm. 17), 4f.; Hermann Conring, Propolitica. Sive brevis introductio in civilem philosophiam. Helmestadii: "typis et sumptibus Henningi Mulleri 1663,1-22; ders., De civili prudentia über unus (1662), in: ders., Operum tomus HI (wie Anm. 17), 282-302.

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treffe: politica, pia colir. Es müste denn zu weilen Km'ccvritpaaiv verstanden werden. Daß sich auch unter den politicis Wölffe finden in Schaffs-Kleidern." 101

Zwar erkennt Reimman an, daß Machiavelli zusammen mit Ciriaco Strozzi und Tommaso Campanella zum ersten Mal die Politik wissenschaftlich abgehandelt habe, bestreitet aber die Gültigkeit seiner Grundsätze, die der Staatswissenschaft keine feste Grundlage verschaffen könnten. Erst mit Giovanni Botero habe die Staatswissenschaft den richtigen und vernünftigen Weg finden können. 102 Der Zusammenhang von Wiederaufnahme des alten Schemas, Abgrenzung von Machiavelli und Verteidigung der neuen und echten Klugheitslehre tritt noch deutlicher im Politischen Philosophus (1714) von Christoph August Heumann hervor. Schon auf den Anfangsseiten der ersten Vorrede erklärt der Autor, was man unter dem Begriff politicus verstehen soll, denn es habe schon viele Mißverständnisse darüber gegeben. Als politicus könne keinesfalls 1. derjenige gelten, „der sich äuserlich wohl aufführet, und so wohl in der Kleidung galant ist, also auch in Complimenttn seine Person wohl zu spielen weiß"; ausgenommen werden müßten auch 2. diejenigen, „die von flattieren profession machen, und nicht nur allen Leuten aus grossester Falschheit nach dem Maule reden, sondern auch auf eine recht sclavische Art sich gegen andere submittirea", sowie auch 3. deijenige, „welcher, er mag nun ein Regent oder Staats-Minister oder eine /Vi'vaf-Person seyn, per fas et nefas, mit Lug und Trug sein zeitliches Interesse zu befördern bedacht ist", oder 4. „ein lurist", und 5. „ein Orator, absonderlich wenn er zugleich die Geographie, Genealogie, neue Historie und Heraldic, welche man Politische Studio nennet, versteht", und 6. auszuschließen seien auch „alle diejenigen [...], die in öffentlichen Bedienungen, die nicht geistlich sind, stehen".103 Wer oder was der richtige Politiker sei, erweise sich eigentlich aus der Definition seiner Wissenschaft oder Fertigkeit. „Nun wollen wir aufs kürzeste die rechte Natur der Politic untersuchen, und sehen, was denn ein rechter Politicus heiße. Kurz: die Politic hat die menschliche äuserliche Glückseligkeit zum Zweck, gleichwie die Ethic vor die innerliche besorget ist, daß nemlich ein Mensch seine Affecten in rechte Ordnung bringen und also vergnügt leben möge. Also hat die Ethic zu ihrem Zweck £i>0u|iiav, die Politic aber £i!Tir/iav." l(M

Aus dem engen Zusammenhang beider Fertigkeiten, ja aus der Abhängigkeit der Politik von der Ethik ergäben sich einerseits ihre richtigen Grenzen und andererseits die Falschheit der Lehre Machiavellis. Da die innere Glückseligkeit dem äußeren Wohlstand übergeordnet sei, müsse auch die Ethik der Poli101 102 103 104

Reimmann, Versuch einer Einleitung (wie Anm. 7), Bd. 3/3, 286-292. Ebd. Bd. 3/3,31-41. Heumann, Der Politische Philosophus (wie Anm. 96), a2 v -^ r . Ebd. a4v und 2.

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tik vorangehen, was zur Folge habe, daß ein politischer Zweck erst dann zulässig sei, wenn er mit dem ethischen übereinstimme. Die politische Klugheit könne sich daher der äußerlichen Klugheit nur insofern bedienen, als sie die innerliche Ruhe befördert oder ungestört lasse. „Es ist auch eine erschreckliche Thorheit, nach der äuserlichen Glückseeligkeit zu streben mit Hintansetzung der innerlichen und der ewigen: und ist billig ein solcher Pseudo-Politicus und MachiavellisX. mit des Aesopi Hunde zu vergleichen, welcher nach dem Schatten schnappete, und darüber das rechte Fleisch verlor."103

Durch dieses Prinzip könne man auch die wahre von der falschen Klugheit unterscheiden. Jene setze sich immer einen guten Zweck zum Ziel und verwerfe alle unechten Absichten; diese verfolge dagegen ein falsches Gut, obwohl sie ihre Mittel mit der gleichen Zweckmäßigkeit auswähle. „Wir müssen dahero den Unterscheid zwischen der wahren Klugheit (prudentia) und zwischen der Schein-Klugheit (caüiditas) wohl mercken. Das heisset die wahre Klugheit, wenn man das wahibafftig gute (verum bonum) vom Schein-Guten zu unterscheiden weiß, und jenes sich zum Zweck vorstellet, die Mittel darzu zu gelangen ausfindet und appliciKl. Die Schein-Klugheit aber ist, wenn man ein falsches Bonum zu seinem Zweck erwehlet, hierzu aber zu gelangen die Mittel eben so wohl zu erfinden und zu gebrauchen weiß, als ein recht kluger und weiser Mensch."106

Da die wahre und die falsche Klugheit voneinander nur nach ihrem Zweck, nicht aber nach den angewandten Mitteln unterschieden werden könnten, ließen sich der gute und der böse Politiker nicht anhand der Auswahl der Mittel erkennen, sondern handelten, äußerlich betrachtet, auf die gleiche Weise, weil beide nach dem äußerlichen Wohlstand trachteten. Diese Ähnlichkeit konnte bis zum Paradox gesteigert werden, denn selbst die Idee, daß der Zweck alle Mittel rechtfertige - der wahre Inbegriff des Machiavellismus - konnte hier zur Begründung der guten Klugheit geltend gemacht werden. „Hieraus siehet man, daß ein wahrer und ein Pseudo-Politicus in Erwehlung und Gebrauch der Mittel gleich Geschickligkeit haben. Daher befiehlet uns unser Heyland, die Klugheit von dem ungerechten Haußhalter zu lernen. So geschiehet es auch offt, daß ein wahrer Politicus eben den Staats-Streich machet, den sonst ein Machiavellisl zu machen pfleget, wie am David zu sehen 2. B. Sam. 15, 32 und f. und also heißet es auch hier: Quando duo

faciunt idem, non est idem."101

Obwohl der Zweck, nach dem die verschiedenen Sorten von Klugheit voneinander abweichen, immer in der Innerlichkeit verborgen bleibe, könne man die gute und die falsche prudentia auch anhand einiger äußerlicher Zeichen erkennen. Heumann, der auf den Spuren von Thomasius eine vollständige Lehre der Klugheit beabsichtigt108, unterscheidet daher zwei Sorten dieser 105 106 107 108

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

3. 3 f. 4 f. A5r~v.

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Tugend und identifiziert ihre schlechte Art mit Machiavelli und dem Machiavellismus, die nicht bei der Auswahl der Mittel, sondern bei der Bestimmung des letzten Zweckes ihr Ziel verfehlten. Es läge in der Natur der wahren Klugheit, daß sie die äußerlichen Güter nur in dem Maße erstrebe als sie der innerlichen Gemütsruhe förderlich seien. Sie erkenne daher an, „daß die politischen Güther zwar wahre, aber geringe Güther sind" 109 , und könne sich Grenzen in der Suche nach der externen Glückseligkeit setzen. Einerseits höre ihr Verlangen dann auf, wenn ein mittelmäßiger Zustand an Bequemlichkeit erreicht werde, und andererseits habe sie keine Angst vor dem Verlust des äußerlichen Reichtums, weil er die innerliche Ruhe nicht beeinträchtigen könne. Die falsche Klugheit verwechsle dagegen den inneren Zweck der Gemütsruhe mit den äußeren Mitteln des Wohlstands und trachte ausschließlich nach dem äußeren Glück, als ob es der eigentliche Zweck wäre. Daher kenne ihre Suche keine Grenzen, sei maßlos und steigere sich ins Unendliche. Der Teufelskreis der Begierde, die nie satt werde, gehöre aber nur zur machiavellistischen, falsch verstandenen Klugheit 110 , denn die wahre prudentia erkenne ihre Grenzen immer an und könne daher die Führung des menschlichen Lebens für sich beanspruchen. Beide Entwicklungslinien, die in der historia literaria des frühen achtzehnten Jahrhunderts wirkten und hier erwähnt worden sind - die allmähliche Befreiung Machiavellis vom Machiavellismus mit den Mitteln der Philologie und die progressive Abgrenzung der modernen Klugheitslehre von Machiavelli oder besser vom Machiavellismus vereinigten sich deutlich in den Artikeln des Großen vollständigen Universallexikons aller Wissenschaften und Künsten, das 1732 bis 1754 von Johann Heinrich Zedier verlegt wurde und als das vielleicht bedeutendste Produkt der historia literaria in ihrer letzten Phase gelten kann. Der anonyme Artikel über Machiavelli im Universallexikon zeigt zuerst mit treffenden Argumenten die philologische Nachlässigkeit vieler Kritiker, vor allem von Antonio Possevino, und verzeichnet dann die drei positiven Auslegungen, die der Fürst im Laufe der Zeit erfahren hat. Erstens habe man ihn entschuldigt, „als ob er seinen Landsleuten zu gut, den damahligen Zustand zu Florentz betrachtet, und die Künste, deren man ingeheim zur Tyranney bedient, aufgedecket". Zweitens hätten andere vermutet, er habe in seinen Schilderungen der Familie der Medici behilflich sein wollen. Eine dritte Interpretation nehme an, „daß er solche Grund-Sätze nicht zur Nachfolge, sondern auf Historische Art so fem, als sie in der That von den Printzen ausgeübt würden, beygebracht".111 Auch der gleichwohl anonyme Beitrag zum Stichwort 109

Ebd. 5. Ebd. 6 f. [Anonym,] Art. „Machiavellus", in: Johann Heinrich Zedier (Verl.). Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste. 6 4 Bde. und 4 Supplement-Bde. 110 111

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„Machiavellisten" stimmt darin überein, daß man die Schriften Machiavellis, besonders den Fürsten, oft mißverstanden hat und daß seine Feinde viele und schwerwiegende Fehler begangen hätten. So müsse man zuerst den Anhängern Machiavellis zustimmen und die wahre Intention dieser Schrift offenlegen. Sie biete nämlich keine umfassende Beschreibung der Monarchie, sondern ihre Unterweisung gelte nur demjenigen Fürsten, der sein Königreich erst erobert habe und daher auch außerordentliche Mittel sowohl zur Machtübernahme als auch zur Machtbewahrung anwenden müsse.112 Man tue daher Machiavelli Unrecht, wenn man ihn als Stifter der Sekte der Machiavellisten brandmarke. Auch der wohlwollende Ausleger müsse aber gleichzeitig anerkennen, daß Machiavelli nicht so unschuldig sei, wie seine Anhänger behaupten, denn sowohl der Fürst als auch die Diskurse seien auf der Verachtung des christlichen Glaubens gegründet und nützten die Religion als ein Mittel zur Machteigreifung und Machtausübung aus. Diese verwerflichen Lehren müßten die Machiavellisten in ihrer Grundidee bestärken, daß der eigentliche Staatszweck mit dem privaten Vorteil des Fürsten zusammenfalle, obwohl diese verderbliche Gesinnung schon lange vor Machiavellis Zeit unter den Herrschern verbreitet gewesen sei. „Machiavellisten werden diejenigen falschen Staatisten genennet, welche solche politische Principien haben, daß ein Fürst alles sein Thun dahin einzurichten, daß er nur für seine Person mächtig, reich und souverain werde. Gr habe sich an kein Recht und Gewissen zu binden, sondern was ihn nach seinen Alfecten beliebte, das sey Recht, daß also nach diesen Principien Untreu, List, Gewalt als Staats-Maximen angesehen werden."113

Von dieser verdammenswerten Auffassung soll sich die wahre Klugheit abgrenzen, wie das Universallexikon im entsprechenden Beitrag erklärt, was aber erst dann möglich werde, wenn man diese Fertigkeit durch eine vollständige und klar gegliederte Lehre beschreiben könne. Die gelehrte Diskussion, auch im Umkreis von Christian Thomasius114, hätte die Arten der prudentia vervielfältigt und für jeden Stand der menschlichen Gesellschaft eine besondere Form von Klugheit konstruiert.115 Damit würde aber die terminologische Halle/Leipzig 1731-1754: Verlegts Johann Heinrich Zedier, Bd. 19, 106. Digitalisiert und sachlich geordnet abrufbar unter http://www.zedler-lexikon.de. 112 Ebd. 103. "3 Ebd. 114 Buddeus, Elementa philosophiae practicae (wie Anm. 75), 441-449; Gundling, Ausführlicher Discours über Buddei Politic (wie Anm. 89), 29-56; Nikolaus Hieronymus Gundling, Collegium historico-literarium oder Ausführliche Discourse über die Vornehmsten Wissenschaften und besonders die Rechtsgelahrheit. Hrsg. v. Carl Ferdinand Phleme [= Christian Friedrich Hempel]. Bremen: Bey Nathanael Saurmann 1738, 772. Vgl. Scattola, „Prudentia se ipsum et statum suum conservandi" (wie Anm. 74), 346-348; ders., Persone, status, saperi (wie Anm. 74), 84-87. 115 [Anonym,] Art. „Klugheit", in: Zedier, Universal-Lexicon (wie Anm. 111), 981: „Man hat sich so wohl bemühet, denen Handlungen, welche alle Menschen mit einander gemein haben, die gehörigen Regeln zu setzen, als man besorget gewesen ist, von verschiedenen

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Verwirrung, die in diesem Bereich herrschte, keineswegs behoben, sondern vielmehr vermehrt. Eine wahre Lehre der Klugheit solle daher mit einer genauen Bestimmung ihres Begriffs beginnen, der tatsächlich zwei unterschiedliche Bedeutungen umfasse. Man könne die Klugheit entweder in einem besonderen oder im allgemeinen Sinn verstehen. In jenem Fall beziehe sie sich ausschließlich auf das Verhältnis zwischen Zweck und Mitteln und betrachte es in seiner leeren Form, ungeachtet aller möglichen Inhalte. Die Klugheit erscheine hier als eine reine Epistemologie der zweckmäßigen Auswahl: Sie frage sich daher, wie ein Zweck beschaffen sein müsse, um erreichbar zu sein, und welche Mittel man anwenden solle, und komme zu zwei allgemeinen Regeln: daß jeder untergeordnete Zweck dem letzten Endzweck angemessen sein müsse und daß man immer über alternative Strategien zur Erreichung des Zweckes verfügen müsse, falls die zuerst ausgewählten Mittel fehlschlügen.116 Die Klugheit im allgemeinen Sinn umfasse dagegen einen Zusammenhang von Fähigkeiten sowohl des Verstandes als auch des Willens, den man zusammenfassend als die Fertigkeit des angemessenen Handelns anerkennt und der eigentlich durch die Wörter ,j>raxis, practicus, Ausübung und Ausüber" bezeichnet werden solle.117 Dieses komplexe Gefüge solle aber von der Philosophie in seine Bestandteile zergliedert und durch seinen eigentlichen Begriff beschrieben werden. Die erste Voraussetzung der Klugheit in diesem allgemeinen Sinn sei der kreatürliche Zustand der Unordnung. Wenn nämlich der Mensch ein rein geistiges Wesen wäre, wie die Engel, würde er keiner Klugheit bedürfen, sondern die Regungen seiner Seele würden durch lauter Vorstellungen befriedigt. Da aber die Seele durch die Schöpfung mit dem Körper vereinigt worden sei, müsse sie jetzt ihre Ruhe auf einem indirekten Weg suchen, indem sie zuerst die unentbehrlichen materiellen Bedingungen erfüllt. Dies setze aber voraus, daß sich die Seele eine ausreichende Kenntnis der natürlichen Welt aneigne und mit ihr zweckmäßig umgehen könne. Der Sündenfall, das entscheidende Ereignis in der Schöpfungsgeschichte, habe aber neben der Trennung von Seele und Körper auch eine zweite Differenz eingeführt, die ihrerseits einen zusätzlichen Aufwand an Erkenntnis und Klugheit erfordere. Wegen der Sünde hätten Begierden und Leidenschaften das Innere des Menschen in ihren Besitz genommen, das Erkenntnisvermögen sei bis zur tierischen Unwissenheit verschleiert und getrübt worden und der Wille konnte dem Verstand nicht mehr unmittelbar folgen, wie es im Garten Eden geschehen sei. Demzufolge

Umständen, in welche wir zu geraten pflegen, verschiedene Arten der Klugheit zu erklären." 'I 6 Ebd. 988f. 117 Ebd. 981 f.

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könne die Seele den Frieden nur durch die Mittel des Körpers und in der teilweise undurchsichtigen Unordnung dieser Welt suchen." 8 Im Zustand der Unschuld hätte der Verstand sofort die eigenen Pflichten anerkannt, während der Wille ihnen ohne Widerspruch zugestimmt hätte; das Handeln der Mitmenschen wäre dann immer eindeutig gewesen, so daß die richtige Entscheidung für jeden besonderen Fall mühelos hätte getroffen werden können, und die gemeinsame Übereinstimmung aller Mitglieder der menschlichen Gesellschaft hätte in jedem einzelnen die höchste Seelenruhe bewirkt. Die gegenwärtige Lage aber sei viel schwieriger und erfordere komplexere Mittel. Die Klugheit, welche von den Menschen entwickelt weiden soll, um die Seelenruhe zu erlangen, bestehe daher zumindest aus vier Hauptelementen. „Dieser weitläufige Begrieff veranlast diejenigen, welche hiervon handeln wollen, ihren Vortrag so einzurichten, daß sie zu der wahren Beschaffenheit eines klugen Mannes [1.] eine besondere Fähigkeit des Witzes, um viele Mittel erfinden zu können, [2.] einen wohl eingerichteten Willen, die rechten Endzwecke zu erwählen, [3.] eine Erkänntniß vieler Sachen, um eine richtige Beurtheüung anstellen zu können, und [4.] einen unennüdeten Fleiß und Eifer, um in der würcklichen Anwendung derer Mittel nicht saumselig zu seyn, zu erfordern pflegen."119

Erkenntnis der Mittel, Erkenntnis des Zweckes, Erkenntnis der Umstände und deren Wirkungen und Wille zur Durchführung: Dies seien die Hauptpunkte eines angemessenen Handelns, und jeder von ihnen sei für eine vollständige Lehre der Klugheit unentbehrlich. Besonders aufschlußreich sei aber die Frage nach dem Endzweck. Zwecke und Mittel bildeten im menschlichen Handeln eine ununterbrochene Kette, in welcher jeder untergeordnete Zweck zu einem Mittel für die übergeordneten Stufen werde. Man könne daher vom Mittel zum Zweck hinaufsteigen, bis man zum letzten Zweck oder zum Endzweck komme, der keinen weiteren und übergeordneten Zweck anerkenne und daher selbst kein 118 Ebd. 984: „Unsere Seele ist femer verderbt, und da sie sich ein Mahl aus ihrer Ordnung hinausbegeben, so muß sie anjetzo durch lebhaffte und deutliche Vorstellung des zufhoffenden Guten ihre Kräiüte gleichsam zwingen, damit sie geschickt werden möge, das angenehme, welches in den Dingen liegt, zu empfinden. Im Stande der Unschuld wären unsere Gedancken ohne die Vemunfft-Lehre ordentlich gewesen, jetzto muß erst ein langer und wohl eingeschärfter Unterricht vorhergehen, ehe wir die Wahrheit zu finden vermögend sind. [...] Und die Menschen oder willkührlichen Ursachen, welche wir in der Welt nach der Vernunft erkennen, können gleich Falls durch ihre Würckung die Annehmlichkeit unsers Gemüthes befördern. Wären dieselben in der ihnen von den Schöpfer vorgeschriebenen Ordnung verblieben, so würden wir ieder Zeit in dem Umgange, mit andern eine wahre Lust antreffen. Leider! Aber ist diese sehr offte nicht mehr zu finden: und wir sehen uns daher genöthiget, andere erst durch viele Umwege, dahin zu bringen, damit uns die Gegenwürffe, bey welchen wir eine wahrhaffte Annehmlichkeit finden können, gegenwärtig gemacht werden." 119 Ebd. 981.

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Mittel sei. Durch diesen Weg gelange man aber bis zur Idee des Höchsten Wesens und der Pflichten diesem gegenüber, mit denen wiederum die Pflichten sowohl sich selbst als auch den anderen gegenüber verbunden seien. Jeder mittlere und untergeordnete Zweck so wie die Mittel zu dessen Realisierung müßten dem Endzweck angemessen sein, mit dem die Kette der klugen Handlungen beginne. Jene drei Prinzipien, die im höchsten Zweck enthalten sind, seien aber die drei Grundsätze der Gerechtigkeit, und dies impliziere, daß der kluge Mensch, in diesem weiteren und allgemeinen Sinn, gleichzeitig immer auch ein gerechter Mensch sei bzw. daß die Klugheit letzten Endes eine Ausübung der Gerechtigkeit sei. 120 Wenn es aber so ist, dann mag das Feld der Klugheit äußerst undurchsichtig sein, es mag auch die verwickeltsten Erkenntnisvorgänge erfordern und eine Form der Erfahrung voraussetzen, die auch geheimnisvoll erscheinen kann 121 , trotzdem wird es immer möglich sein, die richtige Klugheit, die den wahren Endzweck verfolgt, von der falschen zu unterscheiden. Letztere erstrebt nämlich nur eine illusorische Zufriedenheit und täuscht sich in der Auswahl ihrer Mittel. Eine vollständige Lehre der Klugheit kann jetzt aber auch beweisen, daß Machiavelli im Grunde falsch lag und gegen das eigene Interesse handelte. 122

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Ebd. 985. Ebd. 986. Ebd. 985: „So ist es eine gemeine Regel, daß ein kluger Mann zugleich ein gerechter Mann seyn müsse. Man könnte zwar denselben klug im besonderm Verstände nennen: denn da dieselbe in der Wahl der besten Mittel bestehet, so Hesse ein solcher dasjenige aus, wodurch er zu seinem Endzwecke am besten zu kommen vermag. Weil er aber durch die Erreichung seiner besondem Absicht nie Mahls zu dem GenuB des letzten Endzwecks kömmt, in der er ein falsches Zwischen-Mittel ergrieffen, so wird solches keine Klugheit sondern eine Arglist genennet; in dem die Klugheit den würcklichen Gebrauch nach dieser Wort-Beschreibung zum voraus setzt." 121

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Ahitophel und Jerobeam Bemerkungen zur Denkfigur des „Machiavellismus vor Machiavelli" Von

Martin Mulsow

I.

Mit der Historia Literaria geht es wie in Kierkegaards bekannten Beispiel mit dem Trödler, bei dem man auf einem Schild liest: Wäschemangel. „Würde man mit seiner Wäsche kommen, um sie mangeln zu lassen", sagt Kierkegaard, „so wäre man angeführt; denn das Schild steht dort nur zum Verkauf."1 Wenn in der Historia Literaria Machiavelli behandelt wird, dann ist das sicher kein unmittelbares Symptom von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus, denn das Schild „Machiavelli" wird in ihr nur ausgestellt. Die Behandlungen von Machiavelli im Historia-Literaria-Zeitalter, also im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, zeichnen sich durch eine, wie Michael Stolleis gesagt hat, „ruhigere Beschäftigung"2 mit ihrem Gegenstand aus, und sie lernen langsam, zwischen Machiavelli selbst und dem Machiavellismus zu unterscheiden. Das gilt vor allem von Hermann Samuel Reimarus' früher Arbeit von 1719, De Machiavellismo ante Machiavellum? Der junge Reimarus beruft sich ein ums andere Mal auf Hermann Comings Urteil, wenn er die damals bereits gewaltige Literatur zum Machiavellismus durchmustert und ein differenziertes Bild zu gewinnen versucht.4 Dennoch ist die Grundanlage des Buches - das ist nicht zu verkennen - dem Antimachiavellismus geschuldet, denn die Titelformulierung bemüht ein Schema, das auch schon andere mit Erfolg benutzt hat1

Sören Kierkegaard, Entweder-Oder. Hrsg. v. Hermann Diem u. Walter Rest München 1975,42. 2 Michael Stolleis, Machiavellismus und Staatsräson. Ein Beitrag zu Comings politischem Denken, in: ders., Staat und Staatsräson in den frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1990, 73-105, hier 104. 3 Hermann Samuel Reimarus, Q. D. B. V. Dissertatio schediasmati de Machiavellismo ante Machiavellum [...]. Wittenberg 1719; nachgedruckt in: ders., Kleine gelehrte Schriften. Hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Göttingen 1994, 1-48. 4 Niccolo Machiavelli, Princeps aliaque nonnulla ex Itálico Latine nunc deum partim versa, artim infinitis locis sensus melioris ergo castigata, cuante Hermanno Conringio. Helmstedt 1660; Hermann Conring, Animadversiones politicae in Nicolai Machiavelli librum de principe. Helmstedt 1661.

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ten: etwa Budde 1701 mit De Spinozismo ante Spinozam oder Johann Christoph Wolf 1707 mit Manichaeismus ante Manichaeos.5 Der Sinn der Denkfigur ist klar: Man möchte brisanten Lehren den Stachel ziehen, indem man sie als uralt und nur abgeleitet erweist. Machiavellismus gab es immer schon - das ist deeskalierend und läßt durchblicken, daß man schon früher mit der Sache fertig geworden sei. Dieses Schema läßt sich in der Anti-MachiavelliLiteratur schon vor Reimarus finden, etwa in einer Abhandlung von Christian Hoffmann, Machiavellus ante Machiavellum ex historia Lacedaemoniorum productus, Jena 1668, der in Sparta proto-machiavellistische Züge entdeckt, und bei Johann Heinrich Feustking, ebenso wie Reimarus ein Wittenberger Gewächs, der es in der Generation zwischen Hoffmann und Reimarus benutzt hat.6 Feustkings Büchlein von 1692 trägt den Titel De achithophelismo tum aliorum, cum maxime Nicolai Machiavelli schediasma? Ich werde auf den Titel später noch genauer eingehen, hier nur soviel: .Achithophelismo" leitet sich von Ahitophel her, einer Figur aus der Bibel, so daß der Titel - wie bei Reimarus - bereits besagt: Machiavellismus hat es schon früher, gar zu biblischen Urzeiten gegeben. Doch wir wollen weder Denkfiguren noch überholten Schemata aufsitzen. Diese Tagung macht einen Neuanfang, insofern sie sich quer zum Machiavellismus-Antimachiavellismus-Schema stellt und mit Cornel Zwierlein die spannenden Punkte in der Wahrnehmung der kontingenten historischen Realität durch die Akteure sieht, und in deren methodischer Auslotung von politischen Handlungsspielräumen. Diese Wahrnehmungen und Auslotungen fanden in der Frühen Neuzeit sozusagen unter Streßbedingungen statt - zumal im Konflikt des neuen Denkrahmens mit älteren, normativ geprägten Denk- und Handlungsrahmen - und haben wenig mit der „ruhigen Beschäftigung" von Litterärhistorikern zu tun. Oder doch? Von der Perspektive dieser Tagung her wären die Traktate des späten 17. Jahrhunderts darauf abzuklopfen, ob in ih5

Johann Franz Budde, Dissertatio philosophica de Spinozismo ante Spinozam. Halle 1701; Johann Christoph Wolf, Manichaeismus ante Manichaeos. Hamburg 1707. Reimarus kopiert zwar diese Titelidee, doch seine Schrift ist im wesentlichen eine allgemeine Auseinandersetzung mit Machiavelli und der Literatur über Machiavelli. - Eine andere Variante des Schemas, Machiavelli Originalität abzusprechen, ist natürlich der Plagiatsvorwurf, der auch immer wieder in der Machiavelli-Rezeption auftaucht. 6 Christian Hoffmann (przes.)/Karl Maximlian Hopffstock (resp.), Machiavellus ante Machiavellum, ex historia Lacedaemoniorum productus. Jena 1668. Vgl. auch Christian Hofmann (praes.)ZJohann Heinrich Neumann (resp.), Machiavellus sine Machiavello, ex historia Sinensium productus. Jena 1668. Hoffmann war Professor an der Universität Jena. 7 D e Achithophelismo cum aliorum, cum maxime Nicolai Machiavelli schediasma, praeside M. Joh. Henrico Feustking / Stellovia-Holsato, Florentissima Academia Levcorea Horis Antemeridianis, in Auditorio Veteri, ad diem VI. August. Anno M.DC.XCII. publico Philosophorum examini subjectum a Johanne Hövet, Stalsunda-Pomerano, Wittembergae, Typis Martini Schultzii. Zu Feustking ( 1 6 7 2 - 1 7 1 3 ) vgl. Allgemeine deutsche Biographie. Bd. 6. Leipzig 1877, 755.

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nen doch noch Reflexe zeitgenössischen Machiavellismus im Sinne von Reaktionen auf Politiker zu entdecken sind, die gemäß methodisch-empirisierenden Discorsi ohne Rücksicht auf überlieferte Normen handelten oder Theoretikern, die dies guthießen.8 Und es wären auch die Widersprüche und Paradoxien herauszuarbeiten, die in den litterärhistorischen Traktaten und ihren Denkiiguren impliziert sind, insbesondere bei der Projektion des Machiavellismus auf die Bibel. Denn bei dieser Projektion kommt es zu einer denkbar knappen Engfiihrung von Machiavellismus und konfessionalisiertem Denken: Ein biblischer Machiavellismus, so kann man erwarten, legt, wie immer er auch gedeutet ist, den Nerv der konfessionalisierten Fürstengesellschaft frei. Auch wenn diese Vorverlegung des Machiavellismus auf den ersten Blick deeskalierend wirken mag, so kann sie doch auf den zweiten zu neuer Beunruhigung Grund geben: Falls es in der Bibel machiavellistisches Verhalten gibt etwa bei Moses - , ist dieses Verhalten dann womöglich von dort her positiv sanktioniert? Indem es das Staatsräson-Verhalten auf den sakralen Text zurückprojiziert, nimmt dieses Denkschema den Topos der empirischen Kontingenz daher nur vordergründig aus der Machiavellismusfirage; in Wirklichkeit trägt es, wenn die Strategie fehlgeht, Empirie, Herrschaft und Kontingenz erst in die sakrale Sphäre hinein.

n. Doch wenn wir solche verwirrenden Schlußfolgerungen finden wollen, müssen wir zunächst einmal die Autoren aufspüren, die sie gezogen haben. Machen wir zu diesem Zweck einen vorläufigen Sichritt und untersuchen ein Werk wie Feustkings De achithophelismo auf Spuren nicht-distanzierter Machiavellismus-Reflexe. Auf den ersten Blick ist das Büchlein eine gewöhnliche Mischung aus Schimpftiraden und echten Argumenten. Doch es lohnt sich, im Sumpf der langen Fußnoten zu stöbern, denn sie zitieren alles herbei, was man vom Hörensagen über Machiavelli und Machiavellisten zu sagen hatte. Feustking ist 1692 zwanzig Jahre alt und gerade erst Magister geworden. Er ist nicht besonders originell, aber - wie viele Wittenberger Autoren gut darin, sich umzuhören und alle verfugbare Literatur auszuwerten. Sein unmittelbarer Erfahrungsraum ist die Schleswig-Holstein-dänische Region, denn Feustking stammt aus Holstein. So nimmt es kein Wunder, wenn ihm als Prototypen zeitgenössischer „machiavellistischer" Politiker Corfitz Ulfeldt 8

Vgl. zu solchen Discorsi Comel Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006. Zur politischen Kommunikation allgemein vgl. Luise Schorn-Schutte (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 39.) München 2004.

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und Peder Schumacher, der Graf von Griffenfeld, einfallen.9 Ulfeldt war in den 1640er Jahren ein einflußreicher Politiker am dänischen Hof und wußte sich mit Hilfe der Ritterschaft auch gegen seinen König durchzusetzen.10 1651 mußte er ins Exil gehen, als König Friedrich III. sich von ihm bedroht fühlte. Nun diente sich Ulfeldt Schweden, dem Erzfeind Dänemarks, an, folgte dessen König Karl X. 1657 bei der Invasion Dänemarks und zwang dieses zu erniedrigenden Friedensbedingungen. Allerdings bekam er 1659 auch in Schweden Schwierigkeiten und wurde zum Tode verurteilt. Er wurde amnestiert, ging zurück nach Dänemark, wurde dort aber verhaftet, später entlassen, nur um wieder auf Rache gegen die Dänen zu sinnen, so daß er dem Kurfürsten von Brandenburg schließlich die dänische Krone in Aussicht stellte. Daraufhin wurde Ulfeldt 1663 auch in Dänemark zum Tode, ja zur Vierteilung wegen Staatsverrats verurteilt, und auch wenn er entkommen konnte, so wurde das Urteil doch in effigie vollstreckt. Ähnlich, aber auch wieder anders liegt der Fall des Peder Griffenfeld.11 Er war hochbegabt und hochgebildet und ein Abenteurer. 1670, als der dänische König Friedrich III. starb, war er der einflußreichste Hofpolitiker. Von Friedrichs Nachfolger Christian V. wurde er zum Grafen und Reichskanzler ernannt. Griffenfeld half der Monarchie tatkräftig, sich gegen die immer noch starke Ritterschaft durchzusetzen, und bestimmte die Außenpolitik des Landes. Er wollte Dänemark wieder zum Großmachtstatus verhelfen, mußte aber zahllose Kompromisse eingehen und scheiterte dadurch letztlich. Obwohl er einen neuen Krieg mit Schweden ablehnte, war die ihm entgegenarbeitende Fraktion stärker. Sie trug 1675 dafür Sorge, daß er wegen angeblichen Hochverrats inhaftiert und so aus dem Weg geräumt wurde. Er wurde zum Tode verurteilt und erst auf dem Schafott zu lebenslanger Haft begnadigt. Die langfristigen Konflikte, die sich in diesen tragischen Biographien widerspiegeln, sind die Kämpfe des aufkommenden Absolutismus mit den landständischen Strukturen des Adels. In diesen Kämpfen wurden oftmals fähige bis rücksichtslose Politiker an den Hof geholt (oft auch aus dem nahen Ausland, wenn sie der Krone dienen und nicht im heimischen Adel verwurzelt

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Feustking, De achithophelismo (wie Anm. 7), fol. C2v. zu Ulfeldt. Zu Griffenfeld heißt es C2v sq.: „Periculosae autem plenum opus aleae tracto, incedens per ignes suppositos einen doloso. Ob dissentientium enim opiniones facile vitare charybdin, in scyllam incido. Servabo tarnen, quanta possum cura, bilancam, ne Acheronta movere videar." 10 Zu Ulfeldt (1606-1664) vgl. Steffen Heiberg, Enhj0rningen Corfitz Ulfeldt. Kopenhagen 1993; Margarete Boie, Elenora Christine und Corfitz Ulfeldt. Oldenburg 1936. 11 Zu Griffenfeld (1635-1699) vgl. Adolf Ditlev J0rgenson, Peder Schumacher Griffenfeld. Kopenhagen 1893/94; Otto Vaupell, Rigskansler Grev Griffenfeld. Kopenhagen 1880-1882; Sebastian Olden-J0rgenson, Kun navnet er tilbage - en biografi om Peter Griffenfeld. Kopenhagen 1999; ders., Griffenfeld - vidunderbam, statsmand, livstidsfange. Kopenhagen 2006; Ja Ragnor Hagland (Ed.). Griffenfeld - 300 är etter. Trondheim 1999.

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sein sollten), um für die eine oder die andere Seite zu streiten.12 Das mußte Beobachtern als „Machiavellismus von Politikern oder Hofbeamten" erscheinen, die scheinbar nur für ihre eigene Karriere arbeiteten und als Opportunisten an keinerlei normative Traditionen und Ethiken mehr gebunden waren.13 Feustking weist auf Manuskriptbestände zu diesen umstrittenen Fällen in Holstein hin.14 Wer waren die Theoretiker in den 1670er, 80er, 90er Jahren, die solches Verhalten positiv thematisierten? Eines der Machwerke, die dies wagten, war der Homo politicus, erschienen 1662, neu aufgelegt 1663 und 1664.15 In diesem Buch wird dem Hofmann, in deutlicher Überbietung von Hippolyt von Collis Princeps, Consiliarius, Palatinos, sive Aulicus, & Nobilis, machiavellistisches Verhalten nahegelegt, im Sinne von religiöser Dissimulation, Op12 Vgl. allgemein Peter Brandt, Von der Adelsmonarchie zur königlichen EingewalL Der Umbau der Standesgesellschaft in der Vorbereitungs- und Frühphase des dänischen Absolutismus, in: HZ 230,1990,33-72; Kerstan Krüger, Absolutismus in Dänemark - ein Modell für Begriffsbildung und Typologie. Mit zwei Beilagen: Elb- und AlleinbenschaftsAkte 1661 und Lex Regia 1665 in der Übersetzung von Theodor Olshausen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 104, 1979,171-206; Emst Hinrichs, Fürsten und Mächte. Zum Problem des europäischen Absolutismus. Göttingen 2000; Matthias Asche/Anton Schindling (Hrsg.), Dänemark, Norwegen und Schweden im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Münster 2002; Hans-Joachim Ballschmieter, Andreas Gottlieb von Bernstorff und der mecklenburgische Ständekampf (1680-1720). Köln 1962; Speziell zum holsteinischen, dänischen, schwedischen und mecklenburgischen Adel und ihren Verschränkungen vgl. Hubertus Neuschäffer, Henning Friedrich Graf von Bassewitz 1680-1749. Schwerin 1999. 13 Zur Wahrnehmung solcher Politiker vgl. auch Wolfgang Weber, Die Erfindung des Politikers. Bemerkungen zu einem gescheiterten Professionalisierungskonzept der deutschen Politikwissenschaft des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts, in: Schorn-Schütte (Hrsg.), Aspekte (wie Anm. 8), 347-370; Gotthardt Friihsorge, Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974; Georg Braungart, Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus. Tübingen 1988; Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982. 14 Feustking, De achithophelismo (wie Anm. 7), C3r, Fußnote 96: „Satyricas tarnen inscriptiones, ad nomen Petri (simile quid accidit Johanni Fabro, Regis Christianissimi legato, vid Michael notas ad Gaffarell. p. 434) alludentes, vix ac ne vix quidem effigere valuit Greiffenfeldius (numerum quoque adauget Richelieu, Mazarini & alii) quas, licet nulli, aut certe pauci viderint, eas tarnen ex peregrinatio conquisitas, possidet in Cimbria Chersoneso MSStas, doctissimus Aalbuigensium Episcopus D. Matthias Fossius, iisque adhuc delectatur Hafniae Amicus Academicum." Wer dieser Freund in Kopenhagen ist, verrät Feustking nicht. Mathias Foss war von 1672-1683 Bischof von Aalborg. 13 Homo politicus, hoc est: Consiliarius Novus, Officiarius et Aulicus, secundum hodiernam praxin. Auetore Pacifico a Lapide, Cosmopoli 1664 [andere Ausgaben 1665, 1668]. Zu dieser Schrift vgl. Martin Mulsow, Libertinismus in Deutschland? Stile der Subversion im 17. Jahrhundert zwischen Politik, Religion und Literatur, in: Zeitschrift für historische Forschung, 31, 2004, 37-71, bes. 56-63. Im Antiquariatshandel ist ein Band aus dem Besitz von Georg Melchior von Ludolf erhältlich, in dem der Homo Politicus zusammengebunden ist mit Collis ,.Princeps, Consiliarius", Machiavellis „Princeps" in der Ausgabe von Conring sowie Comings „Animadversiones".

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portunismus und trickreichem Karrierestreben.16 Feustking reagiert darauf, wie schon Christoph Peller, aber auch Spinoza, allergisch.17 So heißt es bei ihm: „In diesen verruchten Ratschlägen folgt [dem Machiavelli] mit mehr als weibischem Affekt der verruchte lichtscheue Autor des Büchleins Homo politicus", der zeigt, daß der am tüchtigsten ist, der „die Religion vortäuschen oder verbergen, die magischen Künste erlernen und jedem beliebigen alles vortäuschen kann."18 Die Autorfrage des Homo politicus gehört zu den noch zu lösenden Rätseln in der Erforschung des deutschen Machiavellismus. Möglicherweise ist es Philipp Andreas Oldenburger, ein Schüler von Conring, doch das einzige, das zu dieser Vermutung Anlaß gibt, ist eine Ähnlichkeit des gewählten Pseudonyms mit dem von Oldenburger.19 Wie dem auch sei, Feustking geht in einer Fußnote zur Homo politicus-Passage darauf ein, wer sonst noch als pro-machiavellistischer Theoretiker gelte. „Für einen auffälligen Verfechter des Machiavelli wird auch Barnabas Facius im Buch De doctrina principum, Franciscus Mer. und der Scholiast der Religio Medici, Levinus Nikolaus Moltke, Gottorfischer Rat, gehalten, denen ich zurecht mit Friedrich Hoffmann aus der fünften Zenturie seiner Epigramme [...] zurufe: Wem Machiavelli nur Honig (mel) zu verfassen scheint, dem wird Machiavelli eine Maschine von Galle (fei) werden."20 16

Hippolyt von Colli, Princeps, Consiliarius, Palatinus, sive Aulicus et Nobilis. Hanau 1599; zu Colli vgl. Comel Zwierlein, Heidelberg und „der Westen" um 1600, in: Christoph Strohm/Joseph S. Freedman/Herman J. Selderhuis (Hrgs.), Späthumanismus und reformierte Konfession. Theologie, Jurisprudenz und Philosophie an der Wende zum 17. Jahrhundert. Tübingen 2006, 27-92. Zur höheren Beamtenschaft vgl. Wolfgang E. J. Weber, Dienst und Partizipation. Bemerkungen zur Rolle der hohen Beamtenschaft in der frühneuzeitlichen Staatsbildung, in: Antoni Ma?zak/Wolfgang E. J. Weber (Hrsg.), Der frühmoderne Staat in Ostzentraleuropa. Bd. 1. Augsburg 1999, 103-115. 17 Christoph Peller, Politicus sceleratus, impugnatus, id est: compendium politices novum, sub titulo, hominis politici, [...] nunc notis ubique et additionibus illustratum. Nürnberg 1663; die Ausgabe des „Homo politicus", auf die Peller hier schon Bezug nimmt, war die sehr seltene Erstedition von 1662 (vorhanden in Weimar, Göttingen und Wolfenbüttel); ein Vergleich mit der Ausgabe von 1664 zeigt, daß das Büchlein für die zweite Auflage überarbeitet worden ist; Baruch de Spinoza an Jarig Jelles, Ep. 44, in: ders., Briefwechsel. Übers, u. Anm. v. Carl Gebhardt. Hrsg. v. Manfred Walther. 3. Aufl. Hamburg 1986. 18 Feustking, De achithophelismo (wie Anm. 7), fol. A3r: „In sceleratis istis consiliis affectu plusquam muliebri ipsum sequitur Autor lucifuga libelli Hominis politici in officiis machiavellisticis luculentissimus non adeo, quam lutulentissimus, qui in eo totus est, ut religionem simulandam et dissimulandam, magicis artibus studendum, unumquemque omnes fallere posse, demonstret." 19 Zu Oldenburger vgl. Allgemeine deutsche Biographie. Bd. 24. Leipzig 1886, 261-263; vgl. allg. auch Nathan Goldschlag, Beiträge zur politischen und publizistischen Tätigkeit Hermann Comings. Berlin 1884. 20 Feustking, De achithophelismo (wie Anm. 7), fol. A3v (Fußnote 14): „Insignis quoque Machiavelli propugnator habetur Barnabas facius in libr. de doctrina Princip. Franciscus Mer. & Scholiastes Religionis medici, Levinus Nie. Molkenius, Consiliar. Gottorpensis, queis merito tarnen cum Frid. Hoffmanno ex cent. V. lusuum Epigr. 96. occino, / Cui Ma-

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Es ist eine durchaus bemerkenswerte Liste, die Feustking da gibt, weil auf ihr Namen auftauchen, die man sonst nicht in dieser Weisefindet.Wie kommt Feustking dazu? Was Levinus Moltke angeht, so ist es wieder der Holsteiner Hintergrund, der ihn anleitet. Moltke war von 1656 bis zu seinem frühen Tode 1663 holsteinischer Politiker auf Schloß Gottorf, aber hatte in seinen Hofmeisteijahren 1SS2 anonym Thomas Brownes Religio medici mit Anmerkungen versehen und in diesen Anmerkungen - man vergleiche die indirekten Methoden eines Amelot de Hussaye - seinen Machiavellismus untergebracht.21 Barnabas Facius und Franciscus Mer. sind noch entlegenere Figuren - man wird sie in keiner Bibliographie oder Biographiefinden.Woher kennt Feustking sie dann? Er selbst verrät uns die Antwort nicht, aber es gibt eine: Er hat die Informationen ganz offenbar aus dem Buch von Daniel Clasen De religione politica, Magdeburg 16S5, denn dortfindensie sich genannt und zitiert22 Die Anti-Machiavelli-Literatur hat ihren Gegenstand ja oft als Umkehrung der christlichen Lehre konstruiert und insofern die „machiavellistischen" Devisen als Regelsystem, als „Katechismus des Teufels", um mit Drexel zu sprechen, präsentiert.23 In dieser Tradition ist auch Clasen vorgegangen, als er in chiavellus mera fingere mella videtur,/Huic Machiavellus machina fellis erit." Vgl. Friedrich Hoffmann, Poeticum cum musis colludium sive lusuum, epigrammaticonim centuriae. Amsterdam 166S. Hoffmann will mit seinen Zeilen offenbar sagen: ,Wer meint, bei Machiavelli stünde nur Gutes, dem wird Machiavelli eine Quelle des Leidens sein*. Oder will er sagen, daß ein solcher Machiavelli als Quelle benutzen wird, um Boshaftigkeit [auch dies kann fei bedeuten] zu versprühen? Ich danke Stefan Schorn für seinen Rat 21 Zu Moltke (gest. 1663) vgl. Deutsches Biographisches Archiv, Rehe 855, 374-376; Moltke hat seine reich annotierte lateinische Browne-Übersetzung anonym herausgegeben: Thomas Browne, Religio medici cum annotationibus. Straßburg 1652. Die Bemerkungen zu Machiavelli finden sich auf S. 127f.: „Omnes Theologi ac multi Politici Machiavellum impugnant. multi integros libros contra eum scripsere, ut Ribadanera de Principe Christiane contra Machiaveüum [...]. impia docere videretur, sed ratione methodi agit Principe novo, seu Tyranno, qui se velit in eiusmodo statu manere, obligatus est ad sui conservationem, maionemque stragem impediendam eiusmodi doctrina uti: illum vero feliciorem ac laude dignum putat, qui eiusmodi iniusto imperio omnino abdicai. Egregie scribit Tyranni infelicitatem in discurs. supr. Liv. l.l.clO. & c.26. Si id, quod Machiavellus sentit, recte intellegere cupis, aequo judicio ponderes ea, quae ibi tradit." Vgl. Machiavelli, Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, Buch 1, Kapitel 10 („So lobenswert die Gründer eines Königreiches oder einer Republik sind, so fluchwürdig sind die einer Tyrannenherrschaft") und Kapitel 26 („Ein neuer Fürst muß in einer Stadt oder in einem Lande, das er erobert hat, alles neu einrichten"). Moltke hat also den „republikanischen" Machiavelli gegen die Stereotype der Rezeption herausgestellt. Zu Browne vgl. Ingo Berensmeyer, Rhetoric, Religion, and Politics in Sir Thomas Browne's Religio Medici, in: Studies in English Literature 1500-1900 46,2006, 113-132; zu Amelot vgl. JacobSoll, Publishing the Prince. History, Reading, and the Birth of Politicai Criticism. Ann Arbor 2005. 22 Daniel Clasen, De religione politica. Magdeburg 1655; 2. erw. Aufl. Zerbst 1681. Dort (in der zweiten Auflage), 65: „Fr. Mer. 1. 2. Politic. c. 20 p. 310 ita de Religione disputat. [...]". Zu Barnabas Facius vgl. Ciasens Verzeichnis der bei ihm zitierten Autoren, ebd. 541. 23 Zur Anti-Machiavelli-Literatur vgl. Giuliano Procacci, Machiavelli nella cultura europea dell'età moderna. Rom 1995; Sydney Anglo, Machiavelli - The First Century: Studies in Enthusiasm, Hostility, and Irrelevance. Oxford 2005; Enzo Sciacca, Principati e repub-

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seinem Buch Maximen formuliert hat, wie Religion politisch funktionalisiert werden kann. Ciasen argumentiert zwar dagegen, gibt seinen Gegnern jedoch erstaunlich großen Raum. 24 Er zitiert Texte, die sonst keiner kennt und keiner zitieren kann, radikale Texte, von Atheisten, Machiavellisten, radikalen Politikern. Das kam dann schließlich auch in Wittenberg an. Versuchen wir eine kurze Zwischenbilanz dieser Fußnotenstöberei und Quellenrecherche. Im Gewebe der Anti-Machiavelli-Literatur wird ein soziales, historisches und bibliographisches Wissen über reale Fälle und Schriften mittransportiert - inklusive Mißverständnissen und Fehlaussagen - , das tiefer als die üblichen Doxographien reicht. Unter anderem verweist es in erstaunlichem Maße auf Helmstedt; genauer: auf die Conring-Umgebung und Conring-Schülerschaft.25 Dazu gehören sowohl Oldenburger als auch Ciasen. Was Ciasen angeht, so muß er aus einem Schatz an geheim gehaltenen Manuskripten heraus gearbeitet haben, aus dem er dann oft und ausführlich zitiert. „Fr. Mer.", Barnabas Facius, einen ungenannten Atheisten, einen „Politicus quidam" kennt nur er.26 Hat er solche radikalen Texte bewußt gesammelt? Waren sie ihm deshalb zugänglich, weil manche der Conring-Schüler und -Bekannten heimliche Machiavellisten waren oder Zugang zu solchen Personen hatten? Immerhin war Helmstedt als Ort, in dem auf differenzierte Weise auch Positives über Machiavelli gesagt wurde, im Reich um 1650 fast singular. Um eine Antwort zu finden, wird es nötig sein, auf Briefquellen zurückzugreifen, denn selbst der Verkaufskatalog von Ciasens Bücherbestand aus dem Jahr 1679 gibt keine Auskunft. 27 Das kann hier nicht geschehen. Wir wollen bliche: Machiavelli, le forme politiche e il pensiero francese del Cinquecento. Florenz 2005. 24 Zu Ciasens Buch vgl. Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720. Hamburg 2002, 215-223. 25 Zu Hermann Coming gibt es bisher weder eine umfassende Monographie, die sein ganzes Oeuvre im Zusammenhang darstellt, noch gibt es eine Untersuchung zum ConringKreis in Helmstedt. Vgl. aber Michael Stolleis (Hrsg.), Hermann Conring. Beiträge zu Leben und Werk. Berlin 1983; Constantin Fasolt, The Limits of History. Chicago 2004; Alberto Jori, Hermann Conring. Der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte. Tübingen 2006. 26 Vgl. Ciasen, De religione política (wie Anm. 22), 66 ff. Es ist ein Autor, „cujus nomen tarnen silentio defodere lubert", und der ein „verus atheus" genannt zu werden verdiene. Das Zitat ist vollständig wiedergegeben bei Mulsow, Moderne (wie Anm. 24), 217 f. 27 Bibliotheca Claseniana hoc est Catalogus insignium et selectiorum librorum eleganter unoque modo compactorum, nitidorum atque immaculatorum qui Illustra Academia Julia concessione Auctione constituta publice distrahentur [23. April 1679]. Helmstedt 1679. Der Katalog verzeichnet etwa 2000 Schriften, sortiert nach Formaten. Es handelt sich um eine eindruckvolle Sammlung vornehmlich juristisch-politischer Literatur, die auch zahlreiche historische, philologische, theologische und philosophische Werke enthält. Man findet die meisten Werke von Athanasius Kircher, Comings Schriften (quart. 144,236 ff., 242. 243,400,413, darunter quart. 237 die Ausgabe von Machiavellis Princeps), Calixts Schriften (quart. 152 ff., 471) und vieles von Oldenburger (etwa oct. 547-550). Allerdings

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aber zumindest darauf sehen, was diese Autoren zum Verhältnis von Religion und Politik gesagt und wie sie damit das gutgemeinte Denkschema „Machiavellismus vor Machiavelli" in eine beunruhigende Richtung gedreht haben. Bevor wir allerdings verstehen können, wie Act Homo politicus oder „Franciscus Mer." argumentieren, müssen wir allgemeiner erkennen, warum Religion ein so neuralgischer Punkt im deutschen Machiavellismus gewesen ist.

m. Von Landgraf Wilhelm von Hessen ist das Diktum überliefert, er habe am besten aus der Bibel die Politik erlernt Ahnliches hörte man im 17. Jahrhundert auch von manchen anderen Fürsten, etwa vom dänischen König.28 Aber was wollte das genau besagen? Sollen wir an Christus denken und sein „Liebet eure Feinde"? Oder vielmehr an David und andere israelitische Könige, wenn sie ihre Eroberungen machten und ihre Gegner ausschalteten? Dietrich Reinkingk reagiert, nachdem er am Usch des Königs von Dänemark vernommen hatte, der Monarch halte die Göttliche Schrift für die einzige Quelle auch der politischen Welt-Händel, mit dem Verfassen seiner Biblischen Policey, um sich diesen Problemen zu stellen und ein solides Fundament einer sakralen Politiklehre zu legen.29 Sein Schwiegersohn Johann Balthasar Schupp wird das später mit seinem Salome oder Regenten-Spiegel auf eigene Weise fortsetzen.30 scheint die verkaufende Familie einen Teil von Ciasens Besitz vom Verkauf ausgenommen zu haben. Von seinen eigenen Werken ist fast nichts enthalten (aufier quart 81 ), es sind keinerlei Manuskripte angeboten, und viele von den brisanteren Schriften, die in De religione politica zitiert sind, lassen sich nicht finden - so auch nicht Barnabas Facius oder „Fr. Mer." Finden lassen sich Campanellas Atheismus Triumphatus. Paris 1616 (quart. 268), La Peyrères Praeadamitae (quart. 136) und Herberts De veritate und De causis errorum (duodec. 93). - Forschungen über die Präsenz von Manuskripten im Umkreis von Conring wären erst noch anzustellen. Hinweise gibt Merio Scottola, Dalla virtù alla scienza. La fondazione e 1 trasformazione della disciplina politica nell'età moderna. Mailand 2003, 59 Anm. 134, wo er Comings Bezüge auf Manuskripte von Antonio Querenghi nennt. 28 Dietrich Reinkingk, Biblische Policey. Das ist: Gewisse, auß Heiliger Göttlicher Schlifft zusammengebrachte, auf die drey Hauptstände, als den geistlichen, weltlichen und häuBlichen gerichtete Axiomata, oder Schlußreden, sonderlich mit biblischen Sprüchen und Exempeln, auch andern bestärcket, in allen Ständen nützlich dienlich und anmuthig zu lesen. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1701, Vorrede an den Leser. 29 Reinkingk, Biblische Policey (wie Anm. 28). Zu ihm vgl. Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre. München 1986, 131-139; Hauke Jessen, .Biblische Policey': Zum Natunechtsdenken Dietrich Reinkings. Freiburg 1962. Zum allgemeinen Kontext vgl. auch Wolfgang Weber, Staatsräson und christliche Politik: Johann Elias Keßlers Reine und unverfälschte Staats-Regul christlicher Staats-Fürsten und Regenten (1678), in: Aristotelismo politico e ragion di stato. Atti del Convegno intemazionale di Torino (1113 febbraio 1993). Ed. A. Enzo Baldini. Florenz 1995, 157-180. 30 Zu Johann Balthasar Schupp vgl. u. a. Johann Luhmann, Johann Balthasar Schupp. Mar-

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Es ist wieder einmal und noch immer ein Konflikt der Denkrahmen zwischen Discorso und der Lex Dei (hier in lutherischer Variante), der sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts in der Politiklehre manifestiert31 und in dem Biblizisten wie Reinkingk auf die Herausforderung ihrer säkulareren Gegner wie Colli reagieren. Eine jede Epoche produziert ja nicht nur beständig ihre eigene unmittelbare Vergangenheit, sie bringt auch eine oder mehrere Modell vergangenheiten hervor, die orientierende und normative Funktion besitzen, nicht zuletzt in politischer Hinsicht.32 Und die biblische Vergangenheit der Patriarchen und Könige von Abraham über Moses bis David und Salomo hat im 17. Jahrhundert diesen Status einer Modellvergangenheit gehabt. Traktate über die „Respublica Hebraeorum" besaßen unmittelbare Relevanz für die Staatsführung der Gegenwart, zumindest in manchen Territorien.33 Daher ist es auch umgekehrt nicht verwunderlich, wenn Termini der zeitgenössischen politischen Theorie wie „arcana imperii" oder „ratio status"34 - und die hinter ihnen stehende Praxis - als Interpretamente für das Verständnis des Alten Testaments herangezogen wurden. Dabei gab es ganz unterschiedliche Spielarten. Die unmittelbar einleuchtendste ist die, wie sie in Reinkingks Biblischer Policey vertreten wurde, wo die Staatsräson für alles Schlechte verantwortlich gemacht wird, das sich seit Beginn der Welt ereignet hat: von Kains Mord an Abel über Sauls Vorgehen gegen David bis zur Übergabe von Christus an Pilatus. Dann gab es andere Theoretiker, die mit Augustinus' De civitate Dei die Weltgeschichte als Kampf zweier konkurrierender Staaten ansahen, des Gottesstaats und des bösen .ardischen" Staats. Für sie lag es nahe, auch zwei Formen von Staatsräson in diesen Konflikt zu projizieren: eine gute und akzeptable Form und eine schlechte, rücksichtslose Form. Das war die Kompromißformel. Am interessantesten - und bizarrsten - ist aber jene Position, die gänzlich positiv gegenüber Machiavelli eingestellt war und dennoch nicht von der biblischen Fundierung der Politik lassen wollte. Sie kam dann zur paradox wir-

burg 1907. Schupps Politikverständnis wird diskutiert in Joachim Whaley, Obedient Servants? Lutheran Attitudes to Authority and Society in the First Half of the Seventeenth Century: The Case of Johann Balthasar Schupp, in: Historical Journal 35, 1992, 27-42. 31 Vgl. Zwierlein, Discorso (wie Anm. 8); weiter ders., Heidelberg (wie Anm. 16). 32 Die folgenden Seiten sind teilweise identisch mit Passagen aus meinem Aufsatz: Der Krieg, die Stadt, die Götzen und die Flut. Rekonstruktionen alttestamentlicher Vergangenheit im Zeitalter der Staatsräson, erscheint in: Frank Bezner/Karl-Joachim Hölkeskamp (Hrsg.), Rekonstruktionen von Vergangenheit in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit (im Druck). 33 Vgl. etwa Carlo Sigonio, De república Hebraeorum. Rom 1582; Petrus Cunaeus, De república Hebraeorum. Leiden 1617; dazu Adam Sutcliffe, Judaism and Enlightenment. Cambridge 2003. 34 Vgl. etwa Herfried Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987; Stolleis, Staat und Staatsräson (wie Anm. 2).

Ahitophel und Jerobeam

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kenden Auffassung eines „biblischen Machiavellismus".35 Der Weg dahin führte über die Sicht auf die Staatsinteressen als „Mysterien des Staats"36, als sakral legitimierter Arkanbereich also, in dem die normalen moralischen Regeln außer Kraft gesetzt sind. Für die biblischen Patriarchen, ja selbst für Jesus war es dann richtig und legitim, zu täuschen, zu lügen, Götzen anzubeten, denn sie erfüllten damit die Zwecke Gottes. Nur sehr wenige Autoren haben es gewagt, diese - einen Geschmack von Antinomismus mit sich tragende - These zu vertreten. Einer ist der genannte „Fr. Mer", aus dessen Manuskript einer Politica Clasen zitiert.37 Ungedrucktes Manuskript geblieben ist auch - um einen Vergleich mit Frankreich zu bemühen - das bekannteste Weile eines biblischen Machiavellismus, die Apologie pour Machiavel des Richelieu-Vertrauten Louis Machon.38

IV. Die Konstruktionen von Vergangenheit, die uns in solchen Büchern begegnen, wirken wie auf den Kopf gestellte Heiligenbilder. Ich will hier die zeitgenössischen Deutungen von Moses als „politicus" übergehen39 und als Beispiel zunächst nur den König Jerobeam betrachten, der traditionell in der christlichen Literatur wegen seiner Idolatrie gescholten wird, denn er ließ zwei goldene Kälber in einen Tempel stellen und anbeten - goldene Kälber wie jenes, das Aaron am Fuße des Sinai gegossen hat und damit den Zorn von Mose beschwor.40 Feustking etwa sagt von ihm:,Jerobeam hat wie ein Fackelträger die Fackel [fax - im Sinne der Anstiftung zum Bösen] vorangetragen; daß die machivellischen Samen also schon damals vor Machiavelli verbreitet waren, ist niemandem verborgen."41 Und Reimarus beruft sich auf ihn und konsta35

Vgl. PeterS. Donaldson, Machiavelli and Mystery of State. Cambridge 1988. Vgl. Emst Kantorowicz, Mysteries of State: An Absolutist Concept and its Late Médiéval Origins, in: Harvard Theological Review 47, 1955,65-91. 37 Daniel Clasen, De religione politica (wie Anm. 22), 65 f., 226f., 249 ff. 38 Bibliothèque Nationale Paris Ms. 19046-7 (von 1643) und Bibliothèque Municipale de Bordeaux Ms. 535 (von 1668). Vgl. Donaldson, Machiavelli (wie Anm. 35), 186-222; Jean-Pierre Cavaillé, Dis/simulations. Jules-César Vanini, François La Mothe Le Vayer, Gabriel Naudé, Louis Machon et Torquato Accetto. Religion, morale et politique au XVIIe siècle. Paris 2002, 267-332. 39 Vgl. aber Martin Mulsow, Moses omniscius oder Moses politicus? Moses-Deutungen des 17. Jahrhunderts zwischen sakraler Enzyklopädik und libertinistischer Kritik, erscheint in: Andreas Kilcher (Hrsg.), Die Enzyklopädik der Esoterik. Allwissenheitsmythen und universalwissenschaftliche Modelle in der Esoterik der Neuzeit. Weiter Giorgio Spini, Ricerca dei libertini. La teoria dell'impostura delle religioni nel seicento italiano. 2. Aufl. Rom 1983 (1. Aufl. Rom 1950). 40 1 Könige 12, 25-32. Vgl. dazu Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Göttingen 1992. 41 Feustking, De achithophelismo (wie Anm. 7), fol. A4r: „Nec heri demum aut nudius 36

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Marlin

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tiert allgemein mit Lilienthal: „Die Politik Machiavellis hat, wenn man die Praxis betrachtet, nicht erst mit Machiavelli begonnen, sondern schon mit den Tyrannen selbst."42 Nicht nur im Sinne Reinkingks konnte man Jerobeams Verhalten als das Schlechte in der Bibel kennzeichnen, auch in der weitverzweigten Literatur über die Idolatrie war Jerobeam der prominenteste Buhmann. Er habe, heißt es in einer Schrift von 1630, „fremde Priester eingestellt, das Gesetz Gottes korrumpiert und einen Götzendienst und ein Verderbnis der Opferungen begonnen, die noch mehr als vierhundert Jahre nachwirken sollten".43 In der Deutung der biblischen Machiavellisten aber wirkt die Geschichte von Jerobeam ganz anders. Schon Grotius bemerkte 1644 süffisant, daß Fürsten ja gewohnt seien, sakrale Dinge so hinzudrehen, daß sie zu ihren Zielen paßten.44 Deutlicher dann der bei Ciasen zitierte Fr. Mer. zu Jerobeam: „Mit diesem Werk", schreibt er, „hatte er einzig im Sinn, die Loyalität (Studium) des Volkes zu erhalten, von der er klar voraussah, daß es sie verlieren würde, wenn es dreimal jährlich um der Religion willen und nach Vorschrift des göttlichen Gesetzes nach Jerusalem gehen würde." Der Autor, so kommentiert Ciasen, „macht also Jerobeam sozusagen zu einem klugen Politiker, der die Religion zu seinem Bedarf verändert; wenn er es nicht gemacht hätte, hätte er fürchten müssen, daß das jüdische Volk wieder dem König von Juda anhängen würde. Sein Beispiel werden jene nachahmen, denen es am Herzen liegt, ihren Staat zu bewahren."45 tertius hoc monstrum lucem vidit. Jeroboamus daduchus veluti, facem praetulit: semina ergo Machiavellica jam tum ante Machiavellum sparsa, neminem latent." 42 Reimarus, De Machiavelismo (wie Anm. 3), 46 (in Schmidt-Biggemanns Edition ebenfalls 46): „Testis quoque est Lilienthalius: [Fußnote: in Praef. ad. Princ. p. 28.] Machiavelli política, inquit, si praxin spectes, non cum Machiavello demum coepit, sed cum ipsis Tyrannis." Er führt außer Lilienthal und Feustking noch Schoppe und Saavedra als Zeugen an und geht dann (46f.) auch auf Hoffmanns (vgl. Anm. 6) These von den chinesischen Vorläufern Machiavellis ein: „Lizungzo et Chancienchungo". Michael Lilienlhal, De machiavellismo literario, sive de perversis quorundam in república literaria inclarescendi artibus dissertatio historico-moralis. Königsberg/Leipzig 1713. 43 [Anon.,] The Originall of Popish Idolatrie: or, The Birth of Heresies [...] Being a True and Exacte Description of Such Sacred Signs, sacrifices and Sacraments as Have Bene Instituted and Ordained of God since Adam. 2nd ed. [Amsterdam] 1630; zit. nach Jonathan Sheehan, Sacred and Profane: Idolatry, Antiquarianism, and the Polemics of Distinction in the Seventeenth Century, in: Past and Present 192, 2006, 35-66, hier 45. 44 Hugo Grotius, Opera omnia theologica. Vol. 1. London 1679, 150 f. 45 Daniel Ciasen, De religione política (wie Anm. 22; zitiert wird wieder die 2. Aufl.), 226f.: „Quo artificio id unice spectavit, ut populi Studium retineret quem se amissurum plane providebat, si ter quotannis religionis ergo e divinae Legis praescriptio Hierosolymam itatet." Ciasen fährt mit dem Zitat fort: „cum facile hoc pacto ad Regem Judaicum reduci, et sie ipsum deferere, atque adeo interficere potuisset. Quod ne fieret, eidem populo persuasit, nequaquam opus esse, divini cultus gratia tantam itineris molestiam sustinere, cum vitules illos colendo Jehovam ipsum colere possent. Hoc enim nisi Ulis persuasum fuisset, nunquam Hierosolymam frequentare debuissent. Fecit igitur Jeroboam tanquam prudens Politicus, qui religionem ad suum commodum convertit; quod nisi fecisset. in

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Man sieht an diesem Kommentar, welche Themen im Hintergrund auf dem Spiel standen: die Weisungsbefugnisse von Territorialfürsten in Sachen der Religion, die Anknüpfung an heidnische Vorläufer in der Sakralisierung von Politik, die Legitimität der Auslagerung von Kultstätten auf das eigene Staatsgebiet; alles Dinge, die dem Konfessionszeitalter nicht fremd waren. Bei Louis Machon wird dem Rechnung getragen, indem Religion klar in ihre innere und ihre äußere Komponente getrennt wird: Die äußere ist letztlich irrelevant, daher kann sie ganz dem Gutdünken des Fürsten überlassen werden, vor allem auch seiner politischen Funktionalisienmg der Religion.46 Das zeigt, daß diese Trennung eine zweite nach sich zieht: zwischen der esoterischen Seite einiger weniger, die die Rituale als politisch und bloße Äußerlichkeit erkennen, die sich Transgressionen ins Heidentum erlauben können, und der exoterischen Seite des Volkes, das den ihm vorgesetzten Bräuchen folgt. Peter Donaldson hat dies, vor allem was die Behandlung Jerobeams und Aarons angeht, das Mysterium lizenzierter Idolatrie genannt 47 Zwar ist Machon ein französischer Autor, doch mag hinter „Fr. Mer." durchaus ebenso ein Deutscher stehen wie hinter dem Homo politicus.

V. Wenn Jerobeam der lizenzierte Religionsverächter ante litteram war, dann war Ahitophel der „Discorso"-Schreiber ante litteram. Ahitophel war einer der wichtigsten Berater von König David, galt als extrem klug und vorausschauend, aber er schloß sich - wie in 2 Samuel 16ff. zu lesen ist - der Revolte Absalons gegen seinen Vater an.48 Ahitophel ist also eine Figur, die in hohem Maße Träger von Ambivalenz ist: begabt, weise, und doch korrupt, weil mit der falschen Seite im Bündnis. Am Ende nimmt sich Ahitophel denn auch, als Absalom nicht auf seinen Rat, sondern auf den des Huschai hört und die Revolte fehlschlägt, das Leben. metu fuisset, ne populus Hebraeus iterum Regi Judaeae adhaesisset." Fr. Mer. scheint in seiner Jerobeam-Deutung auf dem Buch von François Monceau, Aaron purgatus, sive de vitulo aureo libri duo. Arras 1606, zu fußen, der - in höchst umstrittener Weise - Aaron und Jerobeam rehabilitieren wollte, indem er zeigte, daß die goldenen Kälber nicht etwa am ägyptischen Apis-Stier orientiert waren, sondern die Cherubim darstellen sollten, wie sie in Hesekiels Vision in Tierform sichtbar waren, und damit nur als Sockel für Jahwe dienten. Zu Monceau vgl. Donaldson, Machiavelli (wie Anm. 35), 207f.; Sheehan, Sacred and Profane (wie Anm. 43), hier 40 f. 46 Vgl. Machon, Apologie pour Machiavel. Ms. BN 19046-7, 91 f. 47 Donaldson, Machiavelli (wie Anm. 35), 208. 48 2 Samuel 16, 23: „Wenn damals Ahithophel einen Rat gab, dann war das, als wenn man Gott um etwas befragt hätte; so viel galten alle Ratschläge Ahithophels bei David und bei Absalom."

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Mulsow

Es war Tommaso Campanella, der Ahitophel als biblischen Vergleichspunkt zu Machiavelli ausgegraben hat, als er im 1636 veröffentlichten Atheismus triumphatus davon sprach, Machiavelli „achitophelisiere".49 Natürlich waren schon zu anderen Zeiten Parallelen zwischen Ahitophel und zeitgenössischen Beratern gezogen worden, etwa zu Machiavellis Zeit in Francesco Maturanzios Chronik von Perugia für den Komplott zwischen Filippo de Bracchio und einem gewissen Grifonetto. 50 Schon ein Jahr nach Campanella findet sich der Vergleich dann auch bei Christoph Besold: „ D e m Machiavell ist Achitophel vergleichbar gewesen, dessen Ratschläge so waren, als wenn einer das göttliche Orakel befragt hätte, dessen Klugheit dennoch irgendein Gewitzterer vereitelt hat." 51 Der Vergleich hat seine Karriere im 17. Jahrhundert gehabt, bis hin in die Tage Feustkings, als auch in Wittenberg bekannt wurde, was in England geschehen war und wie die politische Satire darauf reagiert hatte. In England sorgte man sich in den 1680er Jahren bekanntlich um die Nachfolge von Karl II., der ohne legitimen Erben geblieben war, und fürchtete, dessen Bruder Jakob, dem man Katholizismus nachsagte, würde den Thron besteigen. In diesen Wirren hat der Herzog von Monmouth, ein illegitimer Sohn von Karl II. und überzeugter Protestant, 1681 eine Rebellion angezettelt, die niedergeschlagen wurde; bereits 1681 vorläufig und 1685 endgültig. 52 John Dryden hat als Reaktion auf die Ereignisse 1682 eine politische Satire veröffentlicht, die er „Absalom und Achitophel" nannte und die das Geschehen biblisch-historisch von der Warte des Königs aus verarbeitete.53 Man konnte im Verhältnis zwischen Karl und Monmouth tatsächlich die Konstellation von David und seinem rebellierenden Sohn Absalon wiedererkennen. Doch wer war dann Ahitophel, der böse Berater? Es war der Earl of Shaftesbury, Führer der Whigs und Vertrauter von Monmouth, der mit diesem Namen getroffen wurde. Bei der Karriere des Namens im 17. Jahrhundert war klar, daß das nichts Gutes für Shaftesbury bedeuten konnte: Er war als verrä-

49

Tommaso Campanella, Atheismus triumphatus. Paris 1636. Campanella scheint dabei anzuspielen auf das in der Auseinandersetzung um Machiavelli geläufige Diktum Jakob Beurers, Dionysus machiavellisiere, und Machiavelli dionysiere. Vgl. Cornel Zwierleins Beitrag in diesem Band. Zu Campanella vgl. Germana Ernst, Religione, ragione e natura. Mailand 1991. 50 Francesco Maturanzio, Chronicles of the City of Perugia, 1492-1503. N e w York 1969,

110. 51

Christoph Besold, Synopse der Politik. Übers, v. Cajetan Cosman. Hrsg. v. Laetitia Boehm. Frankfurt am Main 2000, 234. 52 Zur Revolte vgl. W MacDonald Wigfield, The Monmouth Rebellion. A Social History. Bradford-on-Avon 1980. 53 John Dryden, Absalom and Achitophel. A Poem. London 1681; auch in: ders., The Works of John Dryden. Ed. David Mariott. Ware/Hertfortshire 1995, 6 3 - 8 0 . Zu Dryden vgl. Walter K. Thomas, The Crafting of Absalom and Ahithophel. Dryden's ,Pen for a Party'. Waterloo, Ont. 1978. Vgl. demnächst auch Michael Suarez, The Mock Biblical. A Study in English Satire.

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terischer Machiavellist denunziert. Noch Ende 1681 mußte sich Shaftesbury nach Holland absetzen.54 „Achitophelismus" ist also eine wirkungsmächtige Denunziation, und doch eine, die ihre Tücken hat. Denn der Blick auf machiavellistisches Verhalten konnte sich schon bald vom Discorso-Schreiber auf den Fürsten selber richten, von Ahitophel auf seinen früheren Herrn David. Von heute aus gesehen, eingedenk neuerer Forschungen, nach denen David kaum mehr als ein Bandenführer war, viel kleiner, aber kaum weniger brutal als jener „machiavellistische" Cesare Borgia, mag man dem Zeitalter der Staatsräson bescheinigen, einen geschärften Blick für diese Aspekte der Bibel entwickelt zu haben.33 Für einen Reinkingk war König David noch sakrosankt, doch schon Pierre Bayle begann damit, ihm ungerührt seine moralischen Laster vorzurechnen.56 Und wenn wir mit Hermann Samuel Reimarus schließen wollen, mit dessen Buch De Machiavellismo ante Machiavellum wir begonnen haben, so ist es evident, daß er einige Jahrzehnte nach seiner frühen Wittenbeiger Pflichtübung selbst, im Anschluß an Bayle, zu denen gehört hat, die im Alten Testament nicht viel mehr gesehen haben als Intrigen, Ungerechtigkeiten und fehlende Moral.57

54

Vgl. die Biographie von Kenneth Haley, The First Earl of Shaftesbury. Oxford 1968. Vgl. Israel Finkelstein/Neil A. Silberman, Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel. München 2002; Baruch Halpem, David's Secret Demons. Messiah, Murderer, Traitor, King. Grand Rapids, Mich. 2001. 56 Pierre Bayle, Art. „David", in: Dictionnaire historique et critique. 2. Aufl. Rotterdam 1702 (1. Aufl. 1697). Vgl. Sebastian Neumeister, Bayles .Dictionnaire' und der Artikel ,David' in der deutschen Aufklärung, in: Erich Donnert (Hrsg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Frühmoderne. Köln 1997,43-60. 57 Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hrsg. v. Gerhard Alexander Frankfurt am Main 1972. Zu Reimarus vgl. Martin Mulsow (Hrsg.), Between Philology and Radical Enlightenment: Hermann Samuel Reimarus 1694-1768. Leiden 2009. 55

Text - Übersetzung - bildliche Übertragung Zur Ikonographie der Lehre Machiavellis Von

Roberto De Pol Der Gegenstand der,Politischen Ikonographie' wird häufig mit monumentaler staatlicher Baukunst, mit Herrscherstatuen und Herrscherporträts assoziiert. In Zeiten des Buchdrucks kommen neue, vornehmlich ,kleine' Formen, aber mit hoher Breitenwirkung auf. Mit dem Fortschritt der Illustrationsverfahren (vom Holzschnitt zum Farbdruck über Kupferstich, Xylographie und Lithographie) vermehrten sich nicht nur die Illustrationen, die in wissenschaftliche Lehrtexte von den mittelalterlichen Kräuterbüchern bis hin zu den modernen Enzyklopädien eingefügt wurden, sondern nahm auch der semantisch neutrale Buchschmuck (Vignetten, Versalien, Zierleisten) an Umfang zu, weil er zum Wert des Buches als Kauf- und Besitzobjekt wesentlich beitrug. Die Emblematik entwickelte sich seit dem 16. Jahrhundert als eine ganz eigene Form der medialen Bildsprache, in der auch politisch-ikonographische Elemente eine wichtige Rolle spielten.1 Im Prozeß der Verschriftlichung versuchten die staatlichen und religiösen Behörden, einerseits die Veröffentlichung und Zirkulation von politisch oder „moralisch" für gefahrlich gehaltenen Texten durch Zensurmaßnahmen zu verhindern, andererseits ihre Kontrolle über die Lehranstalten, die die Leserschaft bildeten, zu verschärfen.2 Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt vielleicht im 17. Jahrhundert, als die lesekundigen Untertanen (die „Gelehrten") zunehmend in den absolutistischen Staat ideologisch integriert wurden, während die leseunkundigen Schichten nunmehr durch polizeiliche Maßnahmen diszipliniert werden konnten. Entsprechend entwickelten sich Programme der Umgehung und Subversion von Zensur. In diesem allgemeinen Rahmen spielte das Frontispiz vom 16. bis ins 18. Jahrhundert eine außerordentliche Rolle.3 Im Unterschied zum übrigen 1 Vgl. nur Arthur Henkel!Albrecht Schöne, Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1978; Alison Adams/Anthony J. Harper (Eds.), The Emblem in Renaissance and Baroque Europe. Tradition and Variety. Selected Papers from the Glasgow Conference 1990. Leiden 1992; John Manning, The Emblem. London 2002. 2 Vgl. nur Michael Giesecke, Der Buchdruck in der fnihen Neuzeit. Frankfurt am Main 1991,441-470. 3 Eigentlich bleibt die Seite, die dem Titelblatt gegenübersteht, in den meisten heutigen Büchern unbedruckt, wurde aber in der frühen Neuzeit mit einem Kupferstich versehen.

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Buchschmuck und zu anderen im Buch verstreuten und mit besonderen Textstellen zusammenhängenden Illustrationen stand das Frontispiz in engem Verhältnis zum Leitgedanken des Textes, wohl auch deswegen, weil die Frontispizseite sich unmittelbar vor dem das Buch bezeichnenden und unterscheidenden Titelblatt befand, wo Autor und Titel angegeben wurden, und also als eine bildliche Einleitung zum ganzen Inhalt des Buches aufgefaßt werden konnte. Ein gutes, auch ausführlich erforschtes Beispiel für innere Korrespondenz von Text und Verbildlichung gibt das Frontispiz von Hobbes' Leviathan in der Ausgabe von 1651, das symbolisch der im Buch enthaltenen politischen Theorie wohl auch deswegen genau entspricht, weil Hobbes mit dem anonymen Künstler in Paris am Frontispizentwurf zusammenarbeitete.4 Ich möchte hier ein weiteres, anders geartetes, deutlich komplizierteres Beispiel für die Wort-Bild-Korrespondenz anführen. Als Germanist habe ich mich einige Jahre lang mit den deutschen Übersetzungen von Machiavellis Principe in der frühen Neuzeit beschäftigt und unter anderem auch die kritische Edition der ersten gedruckten deutschen Übersetzung besorgt. Diese erschien mit dem Titel Nicolai Machiavelli, Lebens- und Regierungs-Maximen eines Fürsten, allerdings anonym und mit falscher Ortsund Verlegerangabe, vermutlich aber 1714, wie im Titelblatt angegeben.5 Die Analyse des Frontispizes dieser Übersetzung war in der Einführung zu meiner kritischen Edition gleichsam ein Glied in einer Indizienkette, die mich zur Ermittlung des Druckortes und des wahrscheinlichen Übersetzers führte. Hier möchte ich aber diesen Gegenstand von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten, und zwar, wie im Titel meines Beitrags angedeutet, in der Optik der Kongruenz zwischen Text, Übersetzung und bildlicher Übertragung, wobei unter „Text" eine markante Stelle von Machiavellis Principe in ihrer ursprünglichen sprachlichen Gestalt gemeint sein soll. Die Lebens- und Regierungs-Maximen weisen dieses Frontispiz auf (Abb. 1, links). Die Bedeutung dieses Bildes scheint mir in seinen groben Umrissen klar: im Hintergrund steht ein leerer Thron, auf dem eine verlassene Krone liegt; im Ich verwende deshalb hier und im Laufe meines Beitrags das Wort „Frontispiz" kurz für Frontispizillustration oder -kupferstich. 4 Vgl. Keith Brown, The Artist of the Leviathan Title-Page, in: British Library Journal 4, 1978, 24-36; Reinhard Brandt, Das Titelblatt des Leviathan, in: Wolfgang Kersting (Hrsg.), Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. Berlin 1996, 29-54; Horst Bredekamp, Thomas Hobbes, Der Leviathan: Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651-2001.2., stark veränd. Aufl. Berlin 2003. 5 Nicolai Machiavelli, Lebens- und Regierungs-Maximen eines Fürsten (1714). Die erste gedruckte und mit den Anmerkungen des Amelot de la Houssaye versehene deutsche Ubersetzung des Principe. Kritisch hrsg. v. Roberto De Pol. (Translatio, Bd. 2.) Berlin 2006.

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Text - Übersetzung - bildliche Übertragung

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