Lutherische Theologie und Kirche, Heft 03-04/2018 - Einzelkapitel - Gespräche am Brunnen. Die Frau aus Sychar und die »systematische Theologie« nach Johannes 4: Redaktion: Ruprecht, Edition 9783846997925, 3846997925

Wir dokumentieren eine Predigt von Dr. Christian Neddens. Neddens ist seit dem Wintersemester 2018/19 der neue Lehrstuhl

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Gespräche am Brunnen
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Lutherische Theologie und Kirche, Heft 03-04/2018 - Einzelkapitel - Gespräche am Brunnen. Die Frau aus Sychar und die »systematische Theologie« nach Johannes 4: Redaktion: Ruprecht, Edition
 9783846997925, 3846997925

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Edition

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Ru precht

Copyright ©

2019

Edition Ruprecht

ISBN: 9783846997925

Christian Neddens

Lutherische Theologie und Kirche, Heft 03-04/2018 Einzelkapitel - Gespräche am Brunnen. Die Frau aus Sychar und die »systematische Theologie« nach Johan­ nes 4

Lutherische Theologie und Kirche, Heft

Edition Ruprecht

03-0412018

CHRISTIAN NEDDENS

Gespräche

am

Brunnen

Die Frau aus Sychar und die "systematische Theologie" nach Johannes 41 5 Jesus kam in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte.

6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich an den Brunnen; es war um die sechste Stunde.

7 Da kommt eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken!

8 Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Speise zu kaufen.

9 Da spricht die samaritische Frau zu ihm: Wie, du, ein Jude, erbit­ test etwas zu trinken von mir, einer samaritischen Frau? Denn die Ju­ den haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. -

10 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser.

11 Spricht zu ihm die Frau: Herr, du hast doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du denn le­ bendiges Wasser?

12 Bist du etwa mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Söhne und sein Vieh.

13 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten;

14 wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.

1

Predigt anlässlich der Eröffnung des Studienjahres 2018/19 an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel am 16. Oktober 2018. LuThK 42 (2018), 183-193 DOI 10.2364/3846997925

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Christian Nl'ddl'ns

15 Die samaritische Frau spricht zu Jesus: Herr, gib mir dieses Was­ ser, damit mich nicht dürstet und ich nicht herkommen muss, um zu schöpfen!

16 Spricht er zu ihr: Geh hin, ruf deinen Mann und komm wieder her!

17 Die Frau antwortete und sprach zu ihm: Ich habe keinen Mann. Jesus spricht zu ihr: Du hast richtig gesagt: "Ich habe keinen Mann."

18 Denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann; das hast du recht gesagt.

19 Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. 20 Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll.

21 Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten wer­ det.

22 Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir aber wissen, was wir anbe­ ten; denn das Heil kommt von den Juden.

23 Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben.

24 Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

25 Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen.

26 Jesus spricht zu ihr: Ich bin's, der mit dir redet. 27 Unterdessen kamen seine Jünger, und sie wunderten sich, dass er mit einer Frau redete; doch sagte niemand: Was willst du?, oder: Was redest du mit ihr?

28 Da ließ die Frau ihren Krug stehen und ging hin in die Stadt und spricht zu den Leuten:

29 Kommt, seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe, ob er nicht der Christus sei!

30 Da gingen sie aus der Stadt heraus und kamen zu ihm.

Gespräche am Brunnen

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A. Einführung in Text und Thema: Was ist Systematische Theologie? Liebe Schwestern und Brüder, liebe Kommilitoninnen und Kommilito­ nen, ein neues Studienjahr beginnt an der Lutherischen Theologischen Hochschule. Heute Nachmittag werden die Veranstaltungen für das kommende Semester vorgestellt. Der Blick geht nach vom: Was wird in diesem Semester auf meiner Agenda stehen? Was will ich lernen? Was wird mich herausfordern? Der Blick mag dabei über die einzelnen theologischen Disziplinen schweifen. Altes und Neues Testament, Kirchengeschichte, Praktische Theolo­ gie - wer sich ein bisschen im kirchlichen Leben auskennt, kann sich unter diesen Fächern so ungefähr etwas vorstellen: Bibel auslegen, die Geschichte verstehen, Gemeindepraxis, das leuchtet sofort ein. Aber "Systematische Theologie"? Wie betreibe ich Theologie "systema­ tisch"? Was erwartet Euch Studierende, wenn wir uns gemeinsam an diese Arbeit machen? Den Studierenden im Sprachsemester geht vielleicht das griechische Wort "systema" durch den Kopf. "Systema", das ist das strukturierte Ganze,

der

größere

Zusammenhang

der

Einzelphänomene.

Im

Grimm'schen Wörterbuch heißt es: Ein System, das sei "eine einheit­ liche, nach ... einer methodischen Einsicht durchgeführte Anordnung einer Vielfalt von Erkenntnissen zu einer logisch begründeten Ge­ samtanschauung, einem Lehrgebäude, in welchem jeder Teil seinen 2 vernunftmäßig bestimmten Platz einnimmt,, . Ehrlich gesagt: die De­ finition klingt ziemlich statisch - Systematik wäre dann ein kunstrei­ ches Bauwerk, durch dessen Hallen wir staunend oder vielleicht auch gelangweilt schreiten und das wir dann doch auch gerne wieder hinter uns lassen, um uns dem Leben zuzuwenden - so etwa mit dem Gefühl, wenn man 4 Stunden im Frankfurter Städel Bilder geschaut hat und dann aus dem Portal tritt und vor sich den Main glitzern sieht. Verhält sich die Systematik zum Leben wie das Städelsche Kunstinstitut zum Mainuferfest? Eine solcherart vermeintliche Unvereinbarkeit von Lehre und Leben kann es für den Evangelisten Johannes nicht geben. Er platziert gleich in Kapitel 3 und 4 - wie ein Eingangsportal zu seinem Evangelium -

2

Jacob GrimmjWilhelm Grimm, System, in: Deutsches Wörterbuch 20, Sp. 14331444, hier: Sp. 1434.

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zwei Gespräche Jesu: das eine mit dem ehrbaren Pharisäer Nikodemus, das andere mit der namenlosen Samariterin. Jesu Gespräche mit Nikodemus und der Samariterin sind Kontrast­ gespräche: Der eine Gesprächspartner schlüpft in der Dunkelheit der Nacht zu Jesus herein, weil er einen Ruf zu verlieren hat; die andere begegnet ihm unter gleißender Sonne am Brunnen, weil sie auch in der Mittagshitze arbeiten muss, vielleicht auch weil ihr Ruf ruiniert ist und sie die anderen Dorfbewohner meidet ... Der eine ist ein angese­ hener Mann, die andere eine namenlose Frau, die für ihre Lebenssitu­ ation verachtet wird. Der eine ein Jude, ein Schriftkundiger und zudem ein Pharisäer, die andere bloß eine Samaritanerin, ursprünglich zum Volk Israel gehörend, aber jetzt - ein Mischvolk, von den Juden verachtet ... Der eine ein Intellektueller, die andere lebt von ihrer Hände Arbeit ... Der eine steuert gezielt das theologische Gespräch an und kann sich doch nicht mit seinem Leben darauf einlassen, die andere macht ihre Lebensfrage zur Gottesfrage. Um diese zweite Begegnung - Jesus und die Frau am Jakobsbrun­ nen - soll es heute für uns gehen. Ich meine, dieses Gespräch wirft Schlaglichter auf das, was Systematische Theologie sein kann und wo­ rin ihre Faszination besteht. Dass dabei nicht nur Fachtheologen ge­ meint sind, sondern wir alle, wenn wir nach Gott in unserem Leben fragen, das versteht sich angesichts dieser Geschichte eigentlich von selbst. Ein Bild hilft uns dabei, die Geschichte in ihrer Bedeutung fur uns zu entschlüsseln: Lucas Cranach d. Ä., Jesus und die Frau am Brunnen, um 1508, also ein noch vorreformatorischer Holzschnitt.

B. Fünf Konturen der Theologie - im Blick auf das "struktu­ rierte Ganze" 1. Theologie im Gespräch Beginnen wir ganz von den äußeren Phänomenen her: Hier wird ge­ sprochen. Der von der Wanderung erschöpfte Jesus spricht eine fremde Frau an und die Frau lässt sich auf das Gespräch ein. Als die Frau später nach Hause geht, fuhrt sie dort das Gespräch mit ihren Freunden und Nachbarn weiter und bringt andere dazu, nun ihrerseits ins Gespräch mit Jesus einzutreten. Theologie ist Gespräch, ist Dialog. Theologie ereignet sich im Aus­ tausch mit anderen Menschen. Der "größere Zusammenhang", das ist der Zusammenhang, der über mich und mein Monologisieren hinaus

Gespräche

am

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führt, der mich in die Begegnung führt mit den anderen, die hier und heute neben mir leben, und mit jenen, die lange vor mir gelebt haben - mit Augustin, Luther oder Schleiermacher, aber auch mit Feuerbach, Nietzsche oder Freud, genauso wie mit frommen oder kritischen Zeit­ genossen aus anderen Denktraditionen, Kulturen oder Kontinenten ... Systematische Theologie sucht prinzipiell das Gespräch mit jeder­ mann, weil sie nach der Erkenntnis der Wahrheit fragt. Sie lässt sich herausfordern und ist bereit, Rechenschaft zu geben von dem Erkann­ ten, so wie es in 1. Petr 3,15 heißt: "Seid allezeit bereit zur Verant­ wortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist." Systematische Theologie bemüht sich um diese Rechenschaft im Ge­ spräch. Dazu greift sie zurück auf die Einsichten der Bibelforschung und Kirchengeschichte und befragt auch diejenigen, die um die prak­ tischen Herausforderungen der Kirche in unserer Zeit wissen. Vor al­ lem aber bespricht sie sich mit dem, was systematisch bereits erarbeitet wurde und in die Bekenntnisse der Kirche eingeflossen ist.

2. Achtung und Wahrheitsliebe Man kann sich dieses Rechenschaftgeben im Angesicht der Anderen recht unterschiedlich vorstellen: eher streitlustig oder eher irenisch. Beides klingt im Gespräch der Frau mit Jesus ja durchaus an. "Womit willst du denn schöpfen?", fragt sie Jesus schnippisch, "und der Brun­ nen ist tief' ... Und Jesus polemisiert: "Ihr wisst nicht, was ihr anbetet, wir wissen aber, was wir anbeten." Hier geht es durchaus zur Sache! Doch ist dieser Dialog unter Fremden zugleich von gegenseitiger Achtung geprägt: Jesus wertet seine Gesprächspartnerin nicht ab, ob­ wohl er ihre Lebenssituation aufdeckt. Und die Samaritanerin ist be­ reit, sehr genau zuzuhören und das verstehen zu wollen, was der Fremde ihr zu sagen hat. So asymmetrisch diese Begegnung ist - wie jede unserer Begegnungen mit Jesus -, dennoch findet hier ein Ge­ spräch auf Augenhöhe statt, auf das sich Jesus - sehr zur Verwunde­ rung seiner Jünger - einlässt. Der junge Lucas Cranach, frisch am sächsischen Hof tätig, hat das wunderbar ins Bild gesetzt, dieses Gespräch auf Augenhöhe. In glei­ cher Größe und körperlicher Präsenz scheinen Jesus und die Frau durch den Brunnenaufbau hindurch wie durch einen Rahmen mitei­ nander in Kontakt zu treten. Gerade spricht Jesus und die Frau scheint in ihrem aktiven Zuhören den Wassereimer in ihrer Hand schier zu vergessen ... Hier geht es um die Wahrheit, nicht um Dominanz, nicht

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ums Siegen, sondern um eine Erkenntnis, die weiter führt - und die Samaritanerin spürt das und lässt sich darauf ein.

3. Das theologische Feuer Damit sind wir schon beim dritten Punkt: das theologische Feuer. Wenn Systematische Theologie den "größeren Zusammenhang" meint, dann heißt das zuerst: den Zusammenhang zu mir selbst. Ich selbst gehöre mit hinein in die Systematische Theologie. Luther hat das sehr massiv im Blick auf seine Kreuzestheologie deutlich gemacht: Es gibt keine Kreuzestheologie ohne den Theologen des Kreuzes, also ohne Dich und mich. Ich bin nicht der unbeteiligte Beobachter, sondern ich bin schon mit gemeint, mitbetroffen, mit involviert in die Fragen, die

hier erörtert werden. Deshalb gehört die aufmerksame Selbstbeobach­

tung der eigenen Gedanken, der eigenen Gefiihle und Meinungen mit

hinein in die Systematische Theologie. Warum trifft mich dieses Ar­ gument und jenes nicht? Warum zieht mich dieser Gedanke magisch an und jener lässt mich kalt? Diese Selbstreflexion hilft mir, nicht blind in Fixierungen zu verfallen, aus denen ich nicht mehr heraus­ finde. Und es hilft mir, die eigene, authentische Sprache zu finden, um das Wahrgenommene und Erkannte auszudrücken. Die Samaritanerin ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie hier je­ mand die eigene Involviertheit und die Sachfrage im theologischen Gespräch zusammenbringt: Da wechselt das Gespräch hin und her zwischen der konkreten Lebenssituation und der Frage nach der rech­ ten Gottesverehrung! Beides gehört zusammen! Die Gotteserkenntnis und die Selbsterkenntnis - es gibt nicht das eine ohne das andere. Wenn die Reformation etwas zum Ausdruck gebracht hat, dann ist es dieser existentielle Zusammenhang von Theologie. Ich kann von Gott immer nur reden, indem ich auch von mir selbst rede. Und umgekehrt: von mir kann ich reden, wenn ich auch von Gott rede ... Genau das bringt die Frau am Ende auf den Punkt: Sie lässt ihren Krug stehen, kehrt in die Stadt zurück und sagt: "Kommt, seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe, ob er nicht der Christus sei!"

Wenn es hier um sie geht, dann eben doch nur soweit, als sie zum Hinweis auf Ihn wird! Was hat sie denn getan? Jesus sagt davon nichts. Und trotzdem weiß sie sich bis ins Innerste getroffen. Jesus benennt ja nur ihre Le­ benssituation: fiinf Männer hat sie gehabt und der, den sie jetzt hat, ist nicht ihr Mann. Was ist geschehen? Unwahrscheinlich ist, dass sie selbst ihre Männer verlassen hat. Wahrscheinlicher in der damaligen

Gespräche

am

Brunnen

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Zeit, dass ihre Ehegatten verstorben sind oder sie verstoßen haben und der jetzige Partner sich auf eine Heirat nicht einlässt - aus welchen Gründen auch immer - und ihr den Schutz der Ehe versagt. Welche Erfahrungen der Enttäuschung und Erniedrigung diese Frau erlebt ha­ ben mag, welche Treulosigkeit und Schuld vielleicht auch von ihr selbst ausgingen, das zu ergründen bleibt unserer Phantasie überlas­ sen. Sie aber weiß sich erkannt. Sie wehrt diese innere Betroffenheit nicht ab, sie bleibt aber auch nicht dabei stehen. Sondern sie bringt das eigene Erkanntsein mit der Frage nach Gottes Gegenwart zusam­ men! Systematische Theologie stellt uns selbst in Frage, betrifft uns, lässt uns vielleicht auch einmal ratlos zurück. Genau das gehört mit dazu - und wenn ich das mit einspeise, dann wird mein Theologietreiben fruchtbar. Gerade Martin Luthers Denken - möchte ich behaupten -, Luthers Theologie lässt sich so wenig in ein fertiges, abgeschlossenes Gebäude fassen. Versuche in dieser Richtung gehen in der Regel schief. Nicht weil seine Theologie schlecht wäre - im Gegenteil: Weil ich selbst Teil dieses Gebäudes bin und ich es nicht ohne mich, abgesehen von mir in den Blick bekomme ... Dieses theologische Haus gibt es nur mit mir als dessen Bewohner! Lucas, der Maler, ahnt das. Und so fugt er sich selbst an prominenter Stelle ins Bild ein: Er setzt seine Initialen auf den Brunnenrand - stell­ vertretend für den Betrachter. Leer ist der Krug, der darunter steht, als warte er, gefüllt zu werden. Auch ich, ich Betrachter, kann hier nicht in der sicheren Distanz bleiben, bin Teil der Szenerie: "Siehe Herr", so betet Martin Luther einmal, "ich bin ein leeres Gefäß, das bedarf sehr, dass man es fülle. Mein Herr, fülle es ... ,,3

4. "Ad fontes" - zu den, besser: zu der Quelle Der vorrefonnatorische Holzschnitt der Begegnung Jesu mit der Sa­ maritanerin trifft die Sehnsucht der Zeitgenossen Cranachs um 1510. Hier zeigt sich etwas von dem Interesse der Renaissance: "ad fontes", zurück zu den Quellen. Oder besser: hin zum Brunnen. Jesus selbst, wie er in der Bibel spricht, ihn wollen wir hören. Cranach wird noch eine ganze Reihe Bilder mit diesem Motiv des Gesprächs Jesu mit der

3

WA 10 1/2, 438, 17f.

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Samaritanerin am Brunnen schaffen, das vor ihm in der Kunst weit­ gehend unbekannt war. "Ad fontes", das ist das vierte Element: Der Brunnen als Sinnbild für das Zentrum und die Lebensquelle jeder Sys­ tematischen Theologie. Auch sie, die Systematische Theologie, lebt von der Begegnung mit dem Jesus, wie ihn die Hl. Schrift bezeugt. Das heißt: mit dem fremden Jesus, wie er sich zwischen Juden und Samaritanern, Pharisäern und Zeloten bewegte ... eine andere Welt, eine andere Zeit ... Und doch - kommt er uns nah ... Auch der Sama­ ritanerin begegnet Jesus zunächst als Fremder. Und indem sie sich einlässt auf diesen Fremden lernt sie ihn als "Prophet", ja als "Chris­ tus" und "Retter der Welt" zu begreifen. Systematische Theologie - so dürfen wir übertragen - bedeutet eine Konzentration: sie fuhrt auf Christus hin, sucht ihn zu hören, ihn zu erkennen: Nicht auf dem Garizim und nicht in Jerusalem findet sie die Gottesgegenwart, sondern in diesem Gespräch mit Jesus. Zu ihm führt sie die Leute, wie die Samaritanerin, damit sie selbst sehen und erfah­ ren können.

5. Der Wert des Unbegriffenen Von den Jüngern haben wir noch gar nicht gesprochen. Wie so oft beim Evangelisten Johannes scheinen die Jünger Jesu, seine engsten Vertrauten, am wenigsten zu begreifen. Wie eine Warnung scheint das zu sein an die kommende Kirche. Lucas Cranach hat das schön einge­ fangen: Als das Entscheidende passiert, als Wasser des Leben meta­ phorisch gesprochen aus dem Brunnen in den Krug schwappt, da sind sie

nicht

enger

da.

Pulk.

Sie

Intensiv

sind

irgendwo

diskutieren

sie.

dahinten, Aber

unter

sind

sich,

nicht

in

ein der

Kommunikation mit der Quelle. Und so kommt es, dass sie außen vor bleiben. Sie wundern sich, dass Jesus mit einer Frau spricht. Das war im Judentum nicht grundsätzlich verboten. Aber die Rabbinen mahnen doch, in der Öffentlichkeit das Gespräch mit der Frau zu meiden. Vor allem aber: Die Jünger fragen nicht. Sie bringen sich selbst nicht in das Gespräch ein. Und so entgeht ihnen, was hier am Brunnen in Wirklichkeit geschieht. Lucas Cranach hat diese ernste Warnung an die Kirche noch mit einem Hinweis versehen: Achte auf das Unscheinbare, Anstößige, auf das, was nicht ins Bild passt ... Im Theologiestudium lernen wir die Hl. Schrift von den klaren Stel­ len und von den Kerninhalten her zu lesen, damit die Schrift sich

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am

Brunnen

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selbst auslegt. Das ist richtig. Aber es ist doch nur eine Hilfsregel. Lu­ ther wäre nie zu seiner reformatorischen Entdeckung gekommen, wenn er die Bibel immer nur von dem her gelesen hätte, was damals als klar und gültig angesehen wurde. Manchmal braucht es den Mut, auf das zu schauen, was einem unklar ist, was verwirrend und unpas­ send erscheint ... Erkenntnis entsteht meist da, wo die Dinge nicht glatt sind, wo sie irritieren, wo Spannungen bestehen. Das Unbegriffene hat seinen Wert. Denn es ist nicht nur der Punkt, wo wir bescheiden wer­ den und merken, dass unser Erkennen Stückwerk ist. Sondern es ist auch der Punkt, wo sich neue Einsicht auftun kann. Lucas Cranach hat auf seinen Bildern immer wieder Irritierendes untergebracht, das vermeintlich Selbstverständliche in Frage gestellt. So einen Irritationspunkt bietet meines Erachtens auch dieser Holz­ schnitt. Genau über dem Kopf von Jesus hockt eine Gestalt. Sie scheint die Jünger auf ihrem Weg aufzuhalten. Schaut man genau hin, dann schauen große Tatzen anstelle von Füßen unter dem Gewand hervor. Auch das Gesicht sieht merkwürdig entstellt aus. Was ist das für eine Gestalt, die sich da zwischen Jesus und die Jünger geschoben hat ... 7

Wir wissen nicht, was Cranach hier gemalt hat. Ich habe jedenfalls in der Literatur keinen brauchbaren Hinweis gefunden. Aber es wirkt auf mich, als sei hier jemand im Spiel, der die Jünger abhält von der Erkenntnis der Samaritanerin. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Oder sitzt am Wegesrand, hält auf, lenkt ab vom Wesentlichen. Eine Warnung an die Kirche - am Vorabend der Reformation. Es gibt eine ganze Reihe ähnlich kritischer Werke bei Cranach, die gera­ dezu die Reformation vorzubereiten scheinen. Das hat dazu geführt, dass einige Autoren in Lucas Cranach den heimlichen Reformator in Wittenberg sehen möchten. Wie dem auch sei: Die Systematische The­ ologie lebt auch von der Bescheidenheit und Beharrlichkeit, das Un­ verstandene, vermeintlich Unpassende und Unintegrierbare in den Blick zu nehmen.

C. Schluss Was für eine Geschichte. Was für ein Bild. Sie locken und machen Vorfreude auf Theologie. Schön, diese Vorfreude mit Euch teilen zu dürfen. Für das nun anbrechende Studienjahr möge uns Gott etwas von dem Geist der Samaritanerin schenken: Offenheit für das Gespräch mit den Menschen unserer Zeit und über die Zeiten hinweg, im aufmerk-

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samen Hören auf das Christuszeugnis der Heiligen Schrift und im Ge­ spräch mit der Tradition und ihrem Bekennen. Gott schenke uns ge­ genseitige Achtung und Wahrheitsliebe im Dialog. Er schenke uns die Leidenschaft für die Theologie und die Bereitschaft uns herausfordern zu lassen und zu reifen. Er führe uns immer wieder zum Zentrum, zur Quelle, die Christus selbst ist. Und er schenke uns den Mut, das Un­ verstandene und Unbegriffene in den Blick zu nehmen - und so wirk­ lich zu wachsen. Amen.

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Lucas Cranach d.Ä., Christus und die Samariterin am Brunnen, 1508/09, Holzschnitt. Quelle: NGA Images