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German Pages 18 [22] Year 2020
Copyright © 2019 Edition Ruprecht ISBN: 9783846997239
Andrea Grünhagen
Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02–03/2019 – Einzelkapitel – Fromm und lutherisch – wie geht das? Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02–03/2019
Edition Ruprecht
ANDREA GRÜNHAGEN
Fromm und lutherisch – wie geht das? Stellen Sie sich einmal vor, Sie sollten den Grad ihrer Frömmigkeit einschätzen. Es wäre ja durchaus möglich, dass jemand eine App fürs Handy entwickelt hat, die aus den Antworten auf bestimmte Fragen einen Frömmigkeitsstatus auf einer Skala von 1 bis 10 ermittelt. Vielleicht könnte man auch sowas wie einen geistlichen Fitnesstracker erfinden, den man am Handgelenk trägt und der nicht sportliche Betätigung und Kalorienaufnahme misst, sondern Länge der Gebetszeit und Häufigkeit des Gottesdienstbesuches.
Grad der Frömmigkeit „na so mittel“ Ich vermute, wenigstens das Ergebnis der Selbsteinschätzung würde in etwa lauten: Grad der Frömmigkeit „na so mittel“. Es geht übrigens den meisten Christen so, dass sie ihr Glaubensleben optimierungswürdig finden. Vermutlich dachte sogar Mutter Teresa, dass sie eigentlich noch mehr tun könnte. Martin Luther hat mal gesagt, wenn irgendwer durch „Möncherei“ in den Himmel gekommen wäre, dann er. Er hatte es mit der Frömmigkeit im Kloster so gründlich übertrieben, dass es seinen Vorgesetzten Angst und Bange wurde und trotzdem ließ ihm sein schlechtes Gewissen keine Ruhe. Wenn man das ansieht, was man tun sollte, also das, was man theologisch das Gesetz nennt, dann gilt: „Mehr geht immer.“ Das ist das Gefährliche daran. Das Gesetz macht nur zwei Dinge: entweder hochmütig oder verzweifelt. Hochmütig werden Christen, wenn sie ihr Christenleben wie eine Liste mit verschiedenen Aufgaben betrachten, die sie nacheinander abhaken und dann sagen: „Super, alles richtig gemacht.“ Verzweifelt werden diejenigen, für die die Messlatte einfach immer zu hoch hängt. Das Gesetz sagt: „Es reicht nicht.“ Erst das Evangelium, also die gute Nachricht von der Gnade Gottes sagt: „Es ist genug.“ Ich möchte darum heute mit Ihnen, wenn wir über lutherische Spiritualität nachdenken, vor allem über das „Es ist genug.“ reden.
LuThK 43 (2019), 129–146 DOI 10.2364/3846997239
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Beim Mangel ansetzen oder beim Schatz Wir leben in einer Gesellschaft, die sich der Selbstoptimierung verschrieben hat. Haben Sie in letzter Zeit mal versucht, ein Kochbuch zu kaufen? Das ist hochkompliziert, falls es Ihnen darum geht, sich vom Essen zu ernähren. Eigentlich gibt es nur Kochbücher, die Ihnen sagen, wie Sie das vermeiden. Nicht, dass Sie etwa diese garstigen kleinen Kohlenhydrate zu sich nehmen oder das böse Fett oder noch schlimmer: Zucker! Und wenn Sie das doch tun, dann sind Sie eben selbst schuld, wenn Sie nicht so schön und schlank aussehen, wie Sie es könnten. Oder wenn Sie krank werden. Merken Sie: da geht es gleich um Schuld. Das ist eigentlich die völlig falsche Kategorie. Aber so läuft die Selbstoptimierung. Und was lässt sich nicht alles verbessern: Aussehen, Fitness, Schlaf, Ausstrahlung, Gedächtnisleistung, mehr geht immer. Wir Menschen glauben gerne der Lüge, dass wir alles selbst in der Hand haben und alles besser wird, wenn wir besser werden. Die gleiche krankmachende Logik gibt es übrigens auch in Bezug auf die Kirche und damit wäre ich wieder beim Thema. Mittlerweile gehe ich innerlich sofort auf Abstand, wenn mir jemand begegnet, der mit irgendwelchen Patentrezepten seine Gemeinde, unsere Kirche oder gleich die weltweite Christenheit retten will. Die Logik ist die gleiche wie bei der persönlichen Selbstoptimierung. Alles wird besser, wenn wir besser werden. „Wir müssten doch nur …“. Ach, was wir nicht alles müssten. Als würde es reichen, an einer einzigen Stellschraube zu drehen, damit die ganze Maschinerie wieder tadellos läuft. Leider ist die Realität immer komplexer und manche Faktoren haben wir auch gar nicht in der Hand. Das Traurige an all diesen einlinigen Lösungsansätzen ist, dass sie alle zur Erhöhung der Dringlichkeit ein Katastrophenszenario an die Wand malen. Oder um es anders zu sagen: sie sind mangelorientiert. Ich glaube aber, dass wir immer die Wahl haben, beim Mangel anzusetzen oder beim Schatz. Sowohl im kirchlichen wie im persönlichen Leben. Darum möchte ich beim Thema Frömmigkeit über die Schätze sprechen und nicht über die Defizite. Es soll ja um eine lutherische Spiritualität gehen. Und die ist vom Evangelium geprägt.
Was ist eigentlich fromm? Frömmigkeit ist eigentlich ein Wort, dass wir heutzutage eher selten, vielleicht höchstens scherzhaft gebrauchen. Die ursprüngliche Wort-
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bedeutung von „fromm“ war gut/nützlich. So wie in dem Lied „O Gott du frommer Gott“, da bedeutet fromm gut. Dann beschrieb der Begriff das, was wir heute vielleicht Glaubenspraxis nennen würden. Allerdings hat das Wort „fromm“, spätestens seit Wilhelm Busch die „fromme Helene“ zeichnete, auch immer einen leichten Unterton im Sinne von skurril oder heuchlerisch. Neutral könnte man sagen, ein frommer Mensch verleiht seinem Glauben Ausdruck durch ein bestimmtes Verhalten oder Tätigkeiten wie Bibellesen oder Beten. Es hat vielleicht etwas mit dem negativen Beigeschmack von Frömmigkeit zu tun, dass man mittlerweile lieber von Spiritualität spricht. Auch wenn jemand, der vom christlichen Glauben keine Ahnung hat, sich da auch nicht viel mehr drunter vorstellen kann. Der weiß dann weder, wie er seine Spiritualität entwickeln, noch wie er frömmer werden könnte. Und ehrlich gesagt, viele Christen wissen es auch nicht. Ich möchte es darum mal mit folgender Definition versuchen. Glaube ist die Beziehung zu Gott. Frömmigkeit oder Spiritualität ist das, was diese Beziehung unterstützt, pflegt, Gestalt gewinnen lässt. Es wird deshalb in diesem Vortrag öfter von menschlichen Beziehungen zum Vergleich die Rede sein. Deshalb ist hier schon zu sagen: genauso wie die Beziehung zwischen Menschen immer etwas Individuelles ist, ist es auch die Beziehung zu Gott. In beiden Fällen gibt es keine Patentrezepte, sondern nur Anregungen, die passend und hilfreich sein können oder auch nicht. Es gibt deshalb auch nicht „die eine lutherische Spiritualität“, die verpflichtend wäre, sondern man kann Formen beschreiben, die zum Glauben lutherischer Prägung passen und deshalb häufiger vorkommen.
Die Welt als Schatz Es überrascht Sie wahrscheinlich, dass ich mit der Welt als Schatz für lutherische Frömmigkeit beginne. Auch hier können wir an Martin Luther denken. Als er das Kloster verließ, hat der ein Denken aufgegeben, dass das Leben in geistlich und weltlich, sakral und profan, besser und schlechter aufgeteilt hat. Dabei hat er die Erfahrung gemacht, dass die wirkliche Herausforderung darin besteht, als freier Christenmensch in der Welt zu leben, statt vor ihr zu fliehen. Die Welt als Schatz zu entdecken bedeutet, den Ort zu bejahen, an den Gott mich gestellt hat. Mich in den Situationen als Christ zu bewähren, in die ich jetzt gestellt bin. Meinen Glauben so zu leben, wie es unter den gegebenen Umständen gerade möglich ist.
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Das Gefühl des Mangels entsteht oft da, wo die Realität immer weniger mit dem Idealbild im Kopf übereinstimmt. Ein Beispiel: ich selbst liebe liturgischen Reichtum, gehe gern in Gottesdienste und es stärkt meinen Glauben, das Kirchenjahr bewusst mitzuerleben. Können Sie sich vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich dann Mutter war und sich Ostern in Eier und Hasen auflöste und von allen Gottesdiensten an den Feiertagen nichts als der Besuch des Kindergottesdienstes an Karfreitag und an Ostersonntag übrig blieb? Oder: Ich bin mit der Tradition aufgewachsen, „Stille Zeit“ zu halten, sich also etwa eine Stunde am Tag Zeit für Bibellese und Gebet zu nehmen. Mittlerweile kämpfe ich seit zehn Jahren darum, Zeit dafür zu finden. Eine alleinerziehende Mutter hat nämlich weder viel Zeit noch viele Rückzugsmöglichkeiten. Ich habe lernen müssen, dass es nicht darum geht, alles „richtig“ zu machen, also wirklich eine Stunde lang, am besten morgens, mit Singen, Beten, Bibellesen und geistlichem Tagebuch schreiben und das bei größter äußerer Ruhe. Es geht auch wenn nebenan der Fernseher läuft; oft kann ich auch nur ein oder zwei der genannten Dinge tun und nicht das volle Programm, ich habe auch meistens keine ganze Stunde und morgens geht es so gut wie nie. Ich hatte also die Wahl, an meinen Vorstellungen, wie es sein sollte, hängen zu bleiben und nur den Mangel zu sehen. Aber ich kann auch einfach das tun, was möglich ist und auf den Schatz vertrauen. Das ist meine Herausforderung, was die Frömmigkeit angeht. Ihre sieht vielleicht ganz anders aus. Was ich damit sagen will: Man kann nicht darauf warten, bis endlich die ideale Situation eintritt, um fromm zu werden. Angenommen, die in ihrer Gemeinde vorherrschende Erwartung an einen „guten Christen“ ist, dass er jeden Sonntag zum Gottesdienst kommt, viel Geld spendet, bei allen Gemeindeveranstaltungen dabei ist, in allen Chören mitwirkt, zu allen Missionsfesten, Sängerfesten, Kirchenmusikfesten, Regionalkirchentagen usw. fährt und in jeder Hinsicht vorbildlich engagiert ist und Sie stellen fest, dass Sie das gar nicht sind. Oder vielleicht auch nicht sein wollen, das soll es ja auch geben. Ich habe bestimmt nichts gegen kirchliches Engagement, aber ich finde, eine Gemeinde mit diesem Ideal muss sich nicht wundern, wenn sie nur aus Rentnern besteht, weil leider alle anderen dieses Pensum gar nicht leisten können. Aber wer sorgt für die Seelen der Berufstätigen mit den vielen Dienstreisen und dem 14-Stunden-Tag? Wo kommen die introvertierten Gläubigen vor, denen das Nonstop-Gemeindeleben zu viel ist? Was ist mit den finanziell schlechter Gestellten, die kein Auto
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haben, um zu überregionalen Festen an entlegenen Orten zu fahren, nicht genug Geld, um dauernd Kuchen oder Salate mitzubringen und schon gar nicht, um ihren Kindern die teuren Freizeiten zu finanzieren? Sind die dann nicht fromm? Oder liegt der Mangel nur an dem eindimensionalen Blickwinkel ihrer Mitchristen? Dasselbe kann sich jetzt am Beispiel anderer meist unausgesprochenen Leitbilder zeigen lassen. Über eins dieser Idealbilder muss man im Kontext unserer Kirche aber doch noch besonders sprechen: über die Gleichsetzung von Frömmigkeit und Familienleben. Einerseits ist es gut, in einer Gesellschaft, die nicht unbedingt familienfreundlich ist, Familien Raum und Wertschätzung zu geben. Das ist sicher auch in Gottes Sinn. Man kann es allerdings auch tragisch übertreiben. Wenn der Satz: „Wir haben viele Familien mit Kindern.“ nicht eine Aussage, sondern eine Wertung ist zum Beispiel. Was ist mit den Gemeinden unserer Kirche, die darunter leiden, dass in ihrem Gottesdienst das Durchschnittsalter bei ungefähr 60 Jahren liegt? Ist ein Gottesdienst, bei dem nicht 20 Kinder zum Kindergottesdienst verabschiedet werden, wertloser? Damit wir uns nicht falsch verstehen: ich halte keineswegs alle denkbaren Lebens- und Familienformen für konform mit dem Willen Gottes. Aber es ist mir wichtig, dass die natürliche und legitime Bandbreite von Familienständen in der Gemeinde wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Es ist sehr sinnvoll, darüber zu sprechen, wie eine gelungenen religiöse Kindererziehung aussieht, wie man in der Familie miteinander beten kann, wie man mit Teenagern über Glauben spricht, was eine christliche Ehe ausmacht … Aber alle anderen Gemeindeglieder haben auch das Recht, Anregungen und Hilfestellungen für die Gestaltung ihres Christenlebens zu bekommen. Da sind zum Beispiel Ehepaare mit erwachsenen Kindern, die sich gerade erst mal neu als Paar sortieren müssen und dazu gehören auch neue Frömmigkeitsformen. Der dreißigjährige Single braucht auch geistliche Impulse. Wo gibt es für ihn in der Gemeinde Angebote, sich inhaltlich mit dem Glauben zu beschäftigen? Das ist nämlich wichtig. Das stärkt wiederum auch die persönliche Frömmigkeit in Familien. Man kann die Kommunikation mit Gott, die Beziehung zu ihm nämlich nicht delegieren. Reicht ja, wenn Papa Hausandacht hält und Mama dafür sorgt, dass vor dem Essen gebetet wird? Vielleicht wäre darüber hinaus auch gut, mal die Erfahrung gemacht zu haben, dass jeder das für sich auch alleine kann.
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Damit sind wir beim Stichwort: Kommunikation mit Gott. Eine Beziehung braucht Kommunikation, menschlich wie geistlich. Beten ist Kommunikation. Und genau wie im zwischenmenschlichen Bereich ist Kommunikation störanfällig. Es gibt Missverständnisse, Lustlosigkeit, verärgertes Schweigen, gedankenloses Daherreden, auf das Notwendige beschränkte Alltagskommunikation. Das kann man alles auch beim Gebet beobachten. Nicht jedem ist es gegeben, aus dem Stegreif lange wohlformulierte Reden an Gott zu richten, womöglich noch, wenn jemand zuhört. Gott erwartet das auch nicht. Wenn Jesus zu seinen Jüngern über das Beten gesprochen hat, nahm er das reden von Kindern zu den Eltern oder von Freund zu Freund als Beispiel. Mit Gott kann man so reden, wie man eben normalerweise redet. Nun denkt aber vielleicht jemand von Ihnen: ich kann aber überhaupt nicht „frei“ beten, also selbst meine Gedanken und Bitten formulieren. Und schon gar nicht, wenn andere dabei sind. Ich würde zwar jeden ermutigen, es einfach mal zu probieren, aber ich halte es auch nicht für einen Mangel. Als jemand mal Louis Harms, den Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts, nach dem freien Gebet gefragt hat, sagte er: Er hätte noch nie ein Kind erlebt, dass ein Buch hergeholt und seine Anliegen den Eltern vorgelesen hätte. Der Fragesteller solle es also ruhig mal versuchen. Und dann erzählte er von einem kleinen Jungen, der halb im Scherz gefragt wird: „Na, kannst du auch beten?“ Der Junge stellt eine Gegenfrage: „Kann ein Fisch auch schwimmen?“ Man darf also auch beim Gebet auf den Schatz schauen und nicht auf den Mangel. Gerade Menschen, die von sich behaupten, nicht mit eigenen Worten beten zu können, haben aber oft einen großen Schatz gelernter Gebete, die sie sich zu eigen machen. Gerade in schwierigen Situationen kann das ein Vorteil sein und so richtig seine Kraft entfalten. Wir hatten in Hannover ja mal eine Terrorwarnung, abgesagtes Länderspiel und so. Oder auch Evakuierung wegen Bombenräumung. Als ich bei solchen Gelegenheiten am Bett meines Sohnes „Breit aus die Flügel beide …“ gesungen habe, da war in den alten Worten auf einmal ganz viel Kraft. Wenn draußen womöglich bewaffnete Terroristen herum laufen, empfindet man auch als zutiefst pazifistischer Mensch die güldenen Waffen doch als ganz tröstlich. Oft fallen vorformulierte Gebete ja auch unter das Stichwort Alltagskommunikation. Da redet man mit seinen Liebsten ja auch nicht immer erschöpfend Neues. Man kann sich also durchaus eine Post-
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karte mit einem Gebet an den Kühlschrank hängen oder auf den Nachttisch legen und jeden Tag lesen. Das ist auch regelmäßig gebetet. Oder auch ein Anfang, wenn man das alles erst noch ausprobiert. Gerade die Regelmäßigkeit hat ja auch ihre Tücken. Das ständig verwendete Tischgebet kann durch Gewöhnung inhaltsleer werden. Umgekehrt ist es aber auch mehr als nichts. Jede feste Gebetsform lebt davon, dass der Beter sie innerlich mitvollzieht. Das gilt für die liturgischen Stundengebete genauso wie Luthers Morgen- und Abendsegen oder feste Andachtsformen. Das gelingt unterschiedlich gut und nie ganz vollkommen. Aber sie halten auch die Kommunikation mit Gott aufrecht, wenn man lustlos oder müde ist. Als Studenten in Erlangen hätten wir auf jeden Morgen um 7 Uhr Mette Beten auch mal verzichten können. Dann hieß es ehrfurchtgebietend vom Professor auf Latein: Serva ordinem et ordo servabit te. Diene der Ordnung und die Ordnung dient dir. Ein guter Grundsatz. Ich habe übrigens gehört, dass unsere Studierenden in Oberursel in Hinblick auf Gebetszeiten viel frömmer sind als wir damals. Das finde ich gut. sie werden nämlich nie wieder so viel Gelegenheit dazu haben wie jetzt. Wir haben viel von der Glaubenspraxis im Alltag geredet, dass also Frömmigkeit mitten in dieser Welt geübt wird und am besten auch im Zusammenhang mit der uns umgebenden Welt steht. Die Welt, die uns umgibt, ist ein Schatz. Sie bietet tausend Möglichkeiten jeden Tag als Christ zu handeln und unzählige Anregungen, Gott zu danken oder für Menschen zu beten. Der freie Christenmensch lutherischer Prägung steht mitten in der Welt und ist als solcher Salz und Licht. Nun war viel vom Alltag die Rede und das ist auch gut so. Nimmt man die Bibel ernst, ist das Verhältnis von Alltag zu Sonntag 6:1. Man braucht also deshalb kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man auch noch ein Leben abgesehen von der Gemeinde hat. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass es regelrecht beunruhigend ist, wenn man im christlichen Ghetto lebt. Es gibt Christen, bei denen muss das Etikett christlich möglichst auf allem kleben, was sie tun. Egal, ob es Bücher, Musik oder Fernsehen ist, Urlaub, Kleidung was auch immer, für alles und jedes gibt es eine Regel, was nun christlich ist und was nicht. Manche denken vielleicht, nun, das sei bei Lutheranern ja nicht sehr verbreitet, eher in pietistischen oder evangelikalen Gruppen. Stimmt, aber Ansätze dazu haben wir auch. Wie oft werden in Predigten oder Andachten als soziales Gegenüber Familie, Kollegen und Nachbarn benannt. Hallo? Haben wir keine
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Freunde? Bekannte? Dann ist es ja kein Wunder, dass uns niemand einfällt, den wir mal zu Veranstaltungen in der Gemeinde mitnehmen könnten. Auch in einer lutherischen Kirche kann man eine prima Salzstreuer-Existenz führen. Davon wird die Suppe um uns herum zwar nicht gewürzt, aber dem Salz geht es gut. Wenn ich also heute zu Ihnen über lutherische Frömmigkeit spreche, dann meine ich nicht, dass Sie noch mehr Gebete, mehr Gemeindeveranstaltungen, mehr Posaunenchorproben brauchen, sondern dass Sie alle die Augen aufmachen sollen. Da draußen ist eine ganze Welt: es ist genug da zum Liebhaben, Helfen, Freuen, Gestalten, Arbeiten. Nicht vergessen: das Verhältnis ist 6:1.
Sonntagsschätze Trotzdem ist nun auch vom Sonntag und seiner Gestaltung zu reden. Sonntagsheiligung hat man das früher genannt. In der Geschichte der Kirche wurden manchmal mehr die alttestamentlichen Bezüge zur Ruhe am Sabbat betont und manchmal mehr die Verkündigung des Wortes Gottes und die Feier des Abendmahles. Luther hat sich übrigens klar in Richtung Gottesdienst positioniert, wenn er im Katechismus erklärt, der Feiertag werde geheiligt, wenn wir Gottes Wort gerne hören und lernen. Der Sonntag ist geheiligt durch das Handeln Gottes an uns im Gottesdienst. Deshalb kennen Lutheraner eigentlich keine Regeln für die Gestaltung des Sonntags über die Zeit für Gott im Gottesdienst hinaus. Aber da es ja heute um Anregungen für die persönliche Spiritualität geht, doch noch ein paar Gedanken dazu. Ob und wie man den Sonntag gestaltet, hängt sehr von der individuellen Lebenssituation ab. Wer sonntags arbeiten muss, braucht andere als die klassischen Ideen im Sinne von Kirche-EssenSchlafen-Spaziergang. Wer allein lebt, hat mehr Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch mehr Gestaltungsbedarf. Eine Familie muss so mehr planen, hat aber auch mehr Möglichkeiten. Was ich Ihnen sagen möchte: Wenn der Sonntag ein besonderer Tag werden soll, dann müssen Sie ihn durch irgendetwas zu etwas Besonderem machen. Das ist übrigens im Alten Testament eine Bedeutung von „heilig“. Ausgesondert, dem Üblichen entnommen. Früher gab es da mal feste Regeln, manche von Ihnen erinnern sich daran vielleicht. Sonntagskleidung, Sonntagsbraten und so etwas. Dass wir das heute nicht mehr als so positiv empfinden, hat damit zu tun, dass es uns so gut geht. Wer einen ganzen Kleiderschrank voll
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der besten Kleidung hat, kann jeden Tag etwas anderes Schönes anziehen. Der braucht nichts für den Sonntag aufzusparen. Mit dem Essen ist es genauso. Wir können uns jeden Tag gute Nahrungsmittel leisten und wenn wir Zeit und Lust hätten, jeden Tag ein Stück Fleisch essen: Was braucht es da einen Sonntagsbraten? Sie merken, es ärgert mich ein bisschen, wenn Menschen diese alten Gestaltungsarten verachten, weil es mir arrogant vorkommt. Wer sich entschließt, den Sonntag durch besonders gute Kleidung zu etwas Besonderem machen zu wollen, der darf das auch heute noch. Manchmal erleben wir es ja z.B. bei Konfirmationen oder Hochzeiten, wie schön das ist, wenn alle festlich gekleidet sind. Wer allerdings die ganze Woche in formeller Kleidung herumlaufen muss, der zieht sich gerade am Sonntag vielleicht besonders gerne leger an. Damit hebt er den Tag ja auch heraus mit etwas, das ihm gut tut. Das gleiche gilt für das Essen. Spiritualität hat ganz viel mit Sinneseindrücken zu tun. Da gehört ein besonderes Essen dazu, ein schön gedeckter Tisch, Blumen und Kerzen, aber vielleicht auch das Ritual, immer mit Papa was Leckeres am Sonntagabend zu grillen und auf der Picknickdecke zu essen. An diesem Punkt können wir Christen von jüdischen Familien viel lernen. Da ist der Freitagabend, der Beginn des Sabbats, etwas ganz besonders und wird jede Woche feierlich begangen. Warum sollten wir unsere christliche Feierkultur nicht auch so pflegen und wertschätzen? Zum Sonntag sollte, wenn es möglich ist, auch ein Moment der Ruhe und der Beschäftigung mit geistlichen Dingen gehören. Wer allein lebt, kann sich mit einer Tasse Kaffee nach dem Gottesdienst an einen gemütlichen Ort setzten und noch einmal über den Gottesdienst nachdenken und versuchen, einen Gedanken mitzunehmen. Wer nicht in der Kirche war, möchte an diesem gemütlichen Ort vielleicht eine Kerze anzünden, ein Gebet sprechen und in der Bibel oder einem Andachtsbuch lesen. Oder irgendein anderes Buch, das ihm ein paar geistliche Impulse vermittelt. Er oder sie könnten vielleicht auch einen Spaziergang machen und sich in der Natur einen ruhigen Ort suchen, um über Gott nachzudenken und mit ihm zu reden. Wer in einer Familie, besonders mit kleinen Kindern, lebt, hat diese Möglichkeiten nicht so einfach. Vielleicht gibt es einen Augenblick der Ruhe am Abend? Oder man schafft es, mit den Kindern in der Kinderbibel zu lesen. Aus der evangelikalen Ratgeberliteratur gibt es den Tipp für Ehepaare, doch einen Eheabend zu machen und sich das in den Kalender einzutragen, damit man mal abseits vom Alltag Zeit füreinander hat.
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Super, der Sonntagabend ist Primetime dafür. Das macht den Tag auch zu etwas Besonderem. Wer gerade pubertierende Jugendliche im Haus hat, verlegt den Eheabend am Sonntag vielleicht ins Kino oder Restaurant, denn die Sprösslinge gehen ja später ins Bett als die Eltern. Ich habe noch keine unmittelbare Erfahrung, aber ich meine beobachtet zu haben, dass es hilfreich ist, Jugendlichen mehr den Angebotscharakter der Sonntagsgestaltung deutlich zu machen, als um jeden Preis etwas durchzusetzen. Gott gönnt auch 15‐Jährigen der Marke „Will nix“ seinen besonderen Tag der Ruhe und Freude. Auch hier prägen Sinneseindrücke und Rituale mehr als viele Worte.
Gottesdienst der größte Schatz Als Lutheraner haben wir es gut. Unsere Frömmigkeit hängt nicht an unserem guten Willen und unseren Möglichkeiten, sondern hat eine Kraftquelle und einen Ursprung, den wir nicht selber machen müssen. Ich meine den Gottesdienst. Ja, ich weiß, vielleicht erleben Sie ihren normalen Gottesdienst manchmal nicht als eine Kraftquelle, sondern als Herausforderung oder Zumutung. Ich weiß nicht, wer von Ihnen vielleicht zu einer Kleinstgemeinde gehört oder gerade Krach mit seinem Pfarrer hat. Aber ich meine, dass an dieser Stelle besonders gilt: man kann auf den Mangel schauen oder auf den Schatz. Und ich behaupte jetzt einfach mal: Jeder Gottesdienst ist ein Schatz. Ich kenne viele Leute, die genau andersherum davon ausgehen: Gottesdienst ist eine Leistung. So denken gerade oft Menschen, die mit Kirche nicht so viel zu tun haben. Die meinen dann, es gäbe eben besonders brave Leute, die sich den Gottesdienstbesuch auch noch antun, weil sie eben so außergewöhnlich anständig und tüchtig sind. Die Kehrseite dieser Logik ist, dass alle „normalen“ Leute oder diejenigen, die viel zu tun haben, eben nicht in die Kirche gehen. Für eine gute lutherische Spiritualität ist es ganz wichtig, zu bemerken, ob auch in unseren Köpfen solche Gedanken vorhanden sind. Es gibt nicht wenige lutherische Christen, für die der Gottesdienstbesuch auch nicht mehr ist als eine Leistung, die sie entweder widerwillig oder mit einer gewissen Selbstgerechtigkeit vollbringen. Kurz gesagt, in unseren Gottesdiensten sitzen mit ziemlicher Sicherheit jeden Sonntag Menschen, die eigentlich lieber ganz woanders wären.
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Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott das freut. Das wäre ja wie bei einem Paar, das eine Verabredung hat. Wenn er ihr signalisiert, dass er eigentlich nur gezwungenermaßen da ist und das ganze am liebsten schnell hinter sich bringen möchte, wird sie zu Recht gekränkt und enttäuscht sein. Es könnte ja sein, dass Gott sich richtig auf uns freut am Sonntagmorgen. Und wenn wir uns nicht freuen, dann hat das Gründe. Denen darf man mal nachspüren. Man könnte in einem solchen Fall auch fragen: Was bräuchte ich denn, damit ich wieder gerne zur Kirche gehe? Ich fürchte, oft bedingt die Erwartung das Ergebnis. Wir tragen ja als Lippenbekenntnis so oft vor uns her, der Gottesdienst sei das Zentrum unseres Gemeindelebens. Manchmal wird dieser Satz dadurch unrichtig, dass es außer dem Gottesdienst gar nichts anderes gibt. Oder aber er wird unwahr, weil eigentlich alles andere wichtiger ist als der Gottesdienst. Der Klostergründer Benedikt hat in seiner Ordensregel geschrieben: „Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden.“ Na ja, der war ja auch katholisch, denken Sie jetzt vielleicht. Im Augsburgischen Bekenntnis heißt es im 24. Artikel: „Denn es ist offenkundig, dass die Messe, ohne uns rühmen zu wollen, bei uns mit größerer Andacht und mit mehr Ernst gehalten wird als bei den Gegnern.“ Wohl der Gemeinde, die das unterschreiben kann. Hier hilft der Vergleich mit dem Licht. Licht leuchtet. Das tut es einfach. Eine Gemeinde, die Gottesdienst feiert, leuchtet auch. Mit unterschiedlich hoher Wattzahl, denn die Kräfte sind verschieden. In diesem Sinne ist Gottesdienst missionarisch, das kann man auch sagen, ohne den Gottesdienst zu verzwecken. Ich bin überzeugt, dass Menschen, die nicht viel Ahnung von Kirche haben durchaus spüren, ob uns das selbst peinlich ist, was wir da tun oder und es lustlos geschieht oder ob die Beteiligten mit dem Herzen dabei sind. Wie wir den Gottesdienst erleben, hat mit unserer Herzenshaltung zu tun. Ich weiß durchaus, was alles nicht funktioniert und worüber man sich ärgern könnte, man ist allerdings nicht dazu verpflichtet. Ich kann auch nicht die Probleme in Ihren Gemeinden lösen. aber ich kann Ihnen hoffentlich die Gewissheit mitgeben, dass das, was da ist, genügt. Es ist genug Gottes Wort, Gottes Gegenwart und Gottes Segen da. Sie können auf den Mangel schauen, oder auf den Schatz. Vielleicht nehmen Sie einfach mal den frommen Gedanken mit, dass Gott nächsten Sonntag auf Sie wartet und dass Ihnen etwas schenken will. Das könnte ein Gedanke aus der Predigt sein. Ein Bibelwort, dass Sie in der nächsten Woche begleitet. Sein Segen. Die Begegnung mit ihm im Abendmahl. Ein Detail eines Bildes oder
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sonstigen Kunstgegenstandes, der sie anrührt. eine Liedzeile, die Ihnen nicht mehr aus dem Kopf geht. Der Händedruck eines Mitchristen. Ein freundliches Gesicht. Es ist genug da.
Ein besonderer Schatz: Gott ganz nah Ich möchte nun auf einen besonderen Schatz zu sprechen kommen, nämlich das Abendmahl. Die einen haben schon darauf gewartet, die anderen haben es befürchtet, das kommt ein bisschen darauf an, wie Sie geprägt sind. Für einen nicht geringen Teil unserer Gemeindeglieder ist das sonntägliche Abendmahl der Kern ihrer Gottesbeziehung, das Zentrum ihrer Frömmigkeit. Für einen anderen Teil, der durchaus auch an die Gegenwart von Leib und Blut Christi in Brot und Wein glaubt, ist das Altarsakrament mehr eingeordnet in einen Kontext verschiedener Erfahrungen der Gegenwart Gottes. Ich wäre froh, wenn wir das einfach mal gegenseitig anerkennen könnten. Vielleicht kann ich Ihnen an dieser Stelle demonstrieren, dass die Bindung an das lutherische Bekenntnis ganz unmittelbar Einfluss auf unsere Glaubenspraxis hat. Bei der unterschiedlichen Intensität und Emotion, mit der das Abendmahl gefeiert wird, geht es eigentlich um die Frage, ob Gott eigentlich mehr oder weniger gegenwärtig sein kann. Unser Verstand sagt: Etwas ist da oder es ist nicht da. Ein Gegenstand oder eine Person kann aber nicht mehr oder weniger da sein. Auf Gott bezogen: Gott ist allgegenwärtig, also kann ich nicht sagen, dass er an einem bestimmten Ort mehr da ist als an einem anderen. Also im Wald nicht weniger als in der Kirche, beim Bibellesen nicht mehr als im Abendmahl, in der Musik nicht weniger als in der Predigt. Das klingt logisch, stimmt aber nicht ganz. Es gibt nämlich unterschiedliche Weisen der Gegenwart Gottes. Nämlich erstens die allgemeine. Da Gott allgegenwärtig ist, gibt es keinen Ort, von dem wir sagen könnten, dass er dort nicht sei. Dann gibt es die geistliche Weise der Gegenwart Gottes. Jesus hat eben gesagt, er sei mitten unter seinen Jüngern, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. Das Wort Gottes macht Gott gegenwärtig. Und drittens gibt es die sakramentale Gegenwart Gottes. Im Abendmahl ist Gott wirklich leiblich da. Ich verstehe, dass Sie das verwirrend finden und nicht genau wissen, was das nun ihrer Abendmahlsfrömmigkeit helfen soll. Die lutherische Theologie hat auch ungefähr 50 Jahre lang scharf nachdenken müssen, von der Confessio Augustana bis zur Konkordienformel, um das sortiert zu bekommen. Aber wenn man das mal ver-
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standen hat, gibt es in der Kirche weniger Missverständnisse. Wenn also jemand sagt: „Aber in einem Predigtgottesdienst ist Gott doch auch da“, dann hat er nicht unrecht. Gott ist auf geistliche Weise da. Wenn ein anderer sagt: „Aber im Abendmahl ist Gott mir unüberbietbar nah.“, dann hat der auch recht. Ich habe mal erlebt, wie ein Pastor aus Amerika das Abendmahl hier bei uns austeilte. Vor Aufregung fielen ihm die deutschen Worte dazu nicht ein. Er sagte also nicht „Das ist der wahre Leib …“ sondern er übersetzte, was er auf Englisch gewohnt war: „Das ist wirklich der Körper von Jesus …“ Oh, so nah waren diese Spendeworte den Kommunikanten noch nie gekommen. Wirklich, also so echt wirklich? Der größte Feind einer inneren Beteiligung beim Abendmahlsempfang ist nicht der Unglaube, sondern die Gewohnheit. Wenn wirklich halt nicht mehr wirklich bedeutet, sondern: „Na ja, das sagen wir halt so.“ Man kann das schöne theologische Wort Realpräsenz im Kopf haben, was ein anständiger Lutheraner schließlich wissen sollte, aber weit davon entfernt sein, zu glauben, dass man es wirklich mit Leib und Blut Jesu zu tun hat, er also tatsächlich näher ist als an jedem anderen Ort oder Moment. Glauben ist aber mehr als ein Für-wahr-halten von dogmatischen Aussagen und Frömmigkeit ist mehr als das Befolgen kirchlicher Regeln. Glaube ist Beziehung, und Frömmigkeit ist Beziehungspflege. Kurz gesagt: behandeln Sie Gott doch mal so, als würde es ihn wirklich geben. Das gilt besonders fürs Abendmahl. Ich stelle mir das mit der verschiedenen Weise der Gegenwart Gottes so vor: Es ist so ähnlich wie bei einer Beziehung zwischen zwei Menschen. Wenn jemand morgens am Frühstückstisch zwei Bibelverse aus den Herrnhuter Losungen liest, dann ist das wie eine SMS oder WhatsApp-Nachricht. Auch die kann jemanden sehr glücklich machen, wenn der Partner oder Freund sie schickt und einem das durchaus reale Gefühl vermitteln, nicht allein in den Tag zu starten. Wenn er oder sie dann ihren Computer anmacht und eine Email vom anderen findet, dann ist die Freude natürlich noch größer. Da kann ein Gedankenaustausch stattfinden, ein guter Rat gegeben werden, Bestätigung ausgedrückt werden, Fragen gestellt werden – das ist vergleichbar mit dem Bibellesen. Gebet wäre dann so, als ob jemand eine Mail zurückschreibt oder noch besser, zum Telefon greift und ein Gespräch stattfindet. Aber so ein Paar möchte sich natürlich auch mal persönlich treffen, man wünscht sich, dass der andere wirklich da ist. Wirklich da – das heißt beim Abendmahl Realpräsenz. Und nun verstehen Sie sicher auch, warum gerade der lutheri-
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sche Abendmahlsglaube so wunderbar ist. Was würde es mir denn helfen, wenn mir mein Freund sagt: „Du, heute Abend bin ich zwar nicht da, aber wir stellen uns vor, dass ich da wäre und dann tun wir so als ob wir uns sehen, weil ich an dich denke.“ Wahrscheinlich würde ich da sagen: „Also hör mal, es ist sehr schön, dass du an mich denkst und ich kann mir auch eine Menge vorstellen – aber ich möchte, dass du in echt bei mir bist.“ Man kann diese Geschichte noch ein bisschen weiter ausspinnen, um über das Abendmahl nachzudenken. Wie stünde es wohl um die Beziehung des gedachten Paares, wenn er ihr sagt: „Also du bist mir so wichtig, da soll es doch etwas Besonderes bleiben, wenn wir uns sehen. Schick mir eine SMS, das reicht auch.“ Wenn es aber beim Sakrament des Altars nicht mehr um eine Begegnung geht, sondern um eine widerwillig zu erbringende Leistung, dann funktioniert diese Logik natürlich nicht. Früher hat man sich ausführlich auf das Abendmahl vorbereitet. Sicher könnten die Älteren unter Ihnen da manches nennen. Besonders festliche Kleidung zog man an, verzichtete vielleicht auf das Frühstück, bereitete sich auch innerlich vor durch Gebet und Beichte, bereinigte Unstimmigkeiten mit Mitchristen und verstand den Sonntag, an dem man beim Abendmahl war, als einen besonderen Tag, an dem man auch nichts anderes unternahm. Wenn ich das unter dem Stichwort Pflicht und Leistung sehe, dann komme ich auch zu dem Schluss, dass ich mir diesen Aufwand höchsten vier Mal im Jahr antun würde. Denke ich aber wieder an eine Beziehung, dann ist das nichts anderes als, das, was Menschen, die sich lieben vor einem Treffen auch tun. Da ist größerer Aufwand durchaus auch ein Gradmesser für die Größe der Liebe oder der Bedeutung der Beziehung. Wer sich also aus diesem Schatzkästchen überlieferter Bräuche bedienen will, bitte, das geht auch heute noch. Wer aber ganz andere Formen finden will, der kann das auch tun. Es hat ja auch nicht jedes Paar die gleiche Weise, seine Liebe auszudrücken. Ich würde mir wünschen, dass wir in unserer Kirche viel mehr über solche Fragen der Gestaltung von Frömmigkeit reden würden. Man kann ja durchaus dabei viele Anregungen von anderen bekommen. Man würde auch lernen, nicht vorschnell über Mitchristen zu urteilen. Es gibt ein legitimes Spektrum der Abendmahlsfrömmigkeit. Auch hier ist genug da, damit alle ihre Weise finden können.
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Der Schatz besonderer Orte und Zeiten Der Glaube, also die Beziehung zu Gott, ist nicht abhängig von bestimmten Orten oder Zeiten. Das war ein wichtiges Anliegen der Reformation. Die an sich richtige Beobachtung, dass es Orte gibt, die es leichter machen dort zur Ruhe zu kommen und zu beten oder die Erfahrung, dass es wohltuend, weil schöpfungsgemäß ist, die Gleichförmigkeit der Zeit zu unterbrechen, hatte sich im Mittelalter verselbstständigt. Daraus waren unzählige kirchliche Vorschriften gemacht worden. Es hatte jemandem geholfen, zu einem bestimmten Ort zu pilgern, also machte man eine verpflichtende Wallfahrt daraus. Gott freut sich über Gebete, also freut er sich über viele Gebete noch viel mehr also schrieb man vor, wie oft zu beten war. Es macht Sinn, zwischen Fasten- und Festzeiten zu unterscheiden? Gut, dann machen wir das doch für alle verpflichtend und sagen genau, was man wann essen darf und was nicht. Das Fatale war, dass auf diese Weise die innere Beteiligung bei vielen verloren ging. Dann kamen Luther und die anderen Reformatoren und forderten aber genau diese innere Beteiligung. Das war zunächst einmal unbequem. Auch in einem Christenmenschen steckt noch so viel alter Adam, dass es ihm ganz recht ist, wenn er einfach nur einen Forderungskatalog formell abarbeiten muss, ohne es wirklich mit Gott zu tun zu bekommen. Es war für Luther und Melanchthon eine sehr erschreckende Erfahrung, als sie zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Menschen in den Gebieten, wo die Reformation eingeführt wurde, nun nicht aus lauter christlicher Liebe freiwillig Gutes taten und vor lauter Freude über das Evangelium zur Kirche kamen. Das Gegenteil war der Fall. Sie ließen die Pfarrer hungern und die Kirchen verfallen, gaben keine Almosen mehr und entschieden sich in christlicher Freiheit, eben nicht in die Kirche zu gehen. Es hat gedauert, bis die Dinge wieder ins Lot kamen und ganz hat sich die evangelische Spiritualität nie von diesen Ereignissen erholt. Der alte Adam in uns mag das Gesetz nicht hören, wo es ihn trifft, aber Gesetzlichkeit hat er gern. Man kann es kaum verhindern, dass gute Anregungen für die Frömmigkeit zum Gesetz gemacht werden. Und auf einmal hat jeder Hauskreis seinen eigenen Regelkatalog, was nun eigentlich fromm ist. Bis heute leidet evangelische Frömmigkeit darunter, dass man nur behaupten muss, etwas sei „katholisch“, wenn es einem zu unbequem oder fremd ist. Ein Beispiel: es ist nicht „katholisch“ zur Einzelbeichte zu gehen. Ein römisch-katholischer Missbrauch wäre es, wenn jemand dazu gezwungen würde. Ich möchte also durchaus Mut
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Andrea Grünhagen
machen, aus dem Schatz an Formen und Ritualen zu schöpfen, die sich im Laufe der Kirchengeschichte entwickelt haben. So, wie Luther es gemacht hat. Was nicht gegen Gottes Wort ist, ist in Ordnung. Das kann man zum Beispiel beim Thema Kirchenmusik zeigen. Die Lutheraner sagten: was nicht gegen Gottes Wort ist, ist möglich. Die Reformierten sagten: nur was in Gottes Wort steht, ist möglich. Daraufhin sangen sie nur noch Psalmen. Das war eine gewisse Verarmung. Der zweite Grundsatz: es dient nicht dazu, Gott gnädig zu stimmen. Darum geht es im lutherischen Bekenntnis immer wieder. Man darf durchaus Fasten oder Spenden, aber niemand darf dazu gezwungen werden. Übrigens auch nicht aus Dankbarkeit. Predigten, die mit dem Satz aufhören: „Und darum lasst und nun …“ oder „Weil wir Gott dankbar sind, wollen wir nun …“ sind falsch. Luther hat gesagt, der Mensch ist ein Bettler und Gott ist ein König. Der König kann auf das bisschen, was der Bettler ihm geben könnte, gut verzichten. Es wäre sogar eine Beleidigung. Was wir Gutes tun, soll aus Glauben, also aus der vertrauensvollen Beziehung zu Gott geschehen. Und was wir an frommen Dingen tun, soll dem Glauben dienen, ist also quasi die Pflege der Beziehung zu Gott. Warum wir immer wieder in die Gesetzlicheitsfallen tappen, ist schnell erklärt. Das liegt daran, dass wir uns oft unbemerkt immer noch wie Kinder verhalten, die glauben, sich durch Wohlverhalten Liebe und Anerkennung verdienen zu können. Da wir uns aber gar nichts verdienen müssen, kommen hier jetzt einfach noch mal ein paar Anregungen, die Sie in aller Freiheit umsetzen oder es lassen können. Man kann das Kirchenjahr als Schatz entdecken. Jeder Sonntag hat ein bestimmtes Thema. Es lohnt sich, das mal für sich selbst nachzuvollziehen. Versuchen Sie es doch mal, am Samstagabend oder Sonntagmorgen, herauszufinden, welches Thema der nächste Sonntag haben wird. So man ein Gesangbuch besitzt, kann man die Angaben zum betreffenden Sonntag ansehen und nach dem roten Faden suchen, der die Lieder und Lesungen verbindet. In manchen Andachtsbüchern oder Gemeindebriefen und natürlich auch im Internet kann man den Predigttext finden, der dran sein wird. Wenn Sie den vorher schon mal lesen und sich eigene Gedanken dazu machen, werden Sie die Predigt garantiert anders und intensiver hören. Verstärken lässt sich dieser Effekt, wenn man mit anderen darüber ins Gespräch kommt.
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Das Mitleben im Kirchenjahr lebt auch davon, dass es äußere Gestaltungsmerkmale gibt. Wie ich bereits am Anfang sagte, je mehr Sinne beteiligt sind, desto besser. In der Adventszeit und an Weihnachten geht das schon ganz gut meistens. Da kann man Lichter sehen, Räucherkerzchen riechen, Christstollen schmecken. Aber was gibt’s sonst noch? Ich bin für Sternsinger an Epiphanias und Palmen am Palmsonntag, für Fisch an Karfreitag und eine Osterkerze am Ostersonntag. Und dass Ostern erst Ostern beginnt. Trauen Sie sich doch mal, die Plastikostereier im Vorgarten erst am Abend des Karsamstags aufzuhängen und sie dann auch die Osterzeit hängen zu lassen. Und für Pfingsten kann man sich auch was überlegen. Warum nicht den Esstisch mit roten Blumen schmücken und sieben Kerzen für die sieben Gaben des heiligen Geistes anzünden. Warum nicht auch in der Wohnung ein kleines Erntekörbchen am Erntedankfest aufstellen oder an Michaelis ein Bild mit Engeln auf den Schreibtisch. Warum nicht mit den Kindern am Reformationsfest „Ein feste Burg“ singen und ihnen Reformationbrötchen oder Lutherbonbons schenken, was halt gerade da ist. Warum nicht an St. Martin bewusst einem Obdachlosen einen Kaffee kaufen oder für ihn ein warmes Essen bezahlen oder die Kinder ermutigen, jemandem eine Freude zu machen. Dann sehen andere ganz von allein: Christen teilen und helfen, sie tun anderen Gutes und haben mit der Einübung von Mafia-Methoden zu Halloween nichts zu tun. Oder Sie können die Urlaubszeit besonders gestalten. Vielleicht versuchen Sie es mal mit den Psalmen, die über Gottes Schöpfung reden. Psalm 104, in den Bergen oder am Meer gelesen, kann ganz neu erfahren werden. Zu den besonderen Zeiten gehören auch besondere Orte. Ein kleiner Trick im Alltag, um die Fürbitte nicht zu vergessen, ist zum Beispiel, immer für einen Menschen oder ein Anliegen zu beten, wenn sie an einem bestimmten Platz vorbeigehen. Also bei dieser und jener Straßenlaterne oder wo auch immer sie regelmäßig entlangkommen. Man kann sich auch einen besonderen Ort in seiner Wohnung gestalten. Da müssen Sie nicht gleich über die Einrichtung einer Hauskapelle nachdenken, aber ein Rückzugsort, den sie mit einer Kerze, einem Kreuz, einem Bild schmücken und wo sie sich sozusagen mit Gott treffen, das ist überall möglich. Ich hatte am Anfang gesagt: heilig heißt ausgesondert. Nur für diesen Zweck da. Deshalb sind Kirchen ja auch nur zur Not Mehrzweckhallen. Aber auch so ein Platz in der Wohnung kann ein besonderer Ort sein.
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Ich wette, jeder von uns hat Lieblingsorte. Vielleicht haben Sie ja auch Orte, die ihrem Glauben guttun. Wo sich für Sie Himmel und Erde berühren. Wie schön, wenn Sie da ab und zu mal hinkommen. Man kann sich auch öfter mal in eine Kirche setzen, wenn man eine offene findet. Oder man schaut sich im Urlaub und bei Ausflügen ganz bewusst alte Kirchen oder Klöster oder religiöse Kunst an. Ich bin sicher, überall wird man etwas finden an geistlicher Anregung, oder zum Nachdenken. Glauben hat auch etwas mit konkreten Orten zu tun. Orte speichern sozusagen Geschichte, auch Glaubensgeschichte. Christsein hat immer eine Geschichte und Verbindung zu anderen Christen weltweit. Es ist genug da. „Fromm und lutherisch, wie geht das?“, war unsere Ausgangsfrage. Vielleicht haben Sie gemerkt, dass es mehr um Haltungen geht als um Anweisungen. Es gibt eine lutherische Spiritualität, da braucht man keine Minderwertigkeitskomplexe gegenüber anderen Kirchen zu haben. Manches ist verschüttet, manches passt auch nicht mehr. Aber es ist genug da und will ausprobiert werden.