Lutherische Theologie und Kirche, Heft 03-04/2018 - Einzelkapitel - »145 Jahre Hessische Renitenz« - gestern und heute!: Redaktion: Ruprecht, Edition 9783846997932, 3846997932, 1848184911

»145 Jahre Hessische Renitenz - gestern und heute!« stammt von Gilberto da Silva. Wer immer schon mal grundlegend (und k

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145 Jahre Hessische Renitenz - gestern undheute!1
1. Einführung
2. Die Renitenz verstehen: ihr Entstehungskontext
3. Die Renitenz und die "Zwei-Reiche-Lehre"
4. Die Renitenz und die Ökumene
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Lutherische Theologie und Kirche, Heft 03-04/2018 - Einzelkapitel - »145 Jahre Hessische Renitenz« - gestern und heute!: Redaktion: Ruprecht, Edition
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Copyright © 2019 Edition Ruprecht ISBN: 9783846997932

Gilberto da Silva

Lutherische Theologie und Kirche, Heft 03-04/2018 Einzelkapitel- )}145 Jahre Hessische Renitenz« - gestern und heute!

Lutherische Theologie und Kirche, Heft 03-0412018

Edition Ruprecht

G1LBERTO DA S1LVA

Jahre Hessische Renitenz - gestern und 1 heute! 145

1.

Einführung

Das Fürstentum der Landgrafschaft Hessen-Kassel entstand 1567 nach dem Tod des Landgrafen Philipp L von Hessen (1504-1567), des Groß­ mütigen, als die von ihm regierte Landgrafschaft Hessen nach den al­ tertümlichen Erbregeln des Hauses Hessen auf seine vier Söhne in Hes­ sen-Kassel, -Rheinfels, -Marburg und -Dannstadt aufgeteilt wurde. Mit dem Tod des kinderlosen Landgrafen Philipp d.J. von Hessen­ Rheinfeis 1583 fiel dessen Territorium fast vollständig an Hessen -Kas­ sel, die anderen beiden Landgrafen erhielten einige kleinere Ämter. Ludwig IIL/IV. von Hessen-Marburg starb 1604 ebenfalls kinderlos, verfügte aber vorher in seinem Testament, dass sein Land zwar in glei­ chen Teilen den beiden übrig gebliebenen Linien Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt zufallen sollte, dabei aber der lutherische Bekennt­ nisstand von Oberhessen bei Verlust des Erbes nicht geändert werden

1

Grundlage dieses Aufsatzes ist ein am 14. April 2018 für die Kirchenbezirkssy­ node Hessen-Nord der Selbständigen Ev.-Luth. Kirche (SELK) in Marburg gehal­ tener Vortrag. Für den Druck wurde der Text leicht überarbeitet und ergänzt. Der Vortragsstil ist weitestgehend beibehalten worden. LuThK 42 (2018), 194-216 DOI 10.2364/3846997932

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dürfte.2 Diese Entscheidung bildet eine wichtige Voraussetzung fiir die weitere kirchengeschichtliche Entwicklung3 in den hessischen Landen.

2

3

"Was nun ermeldten unseren Erben an Land und Leuten in der Teilung und Ver­ gleichung zukommen wird, bitten wir sie nicht allein zum Höchsten und Flei­ ßigsten, sondern wollen ihnen auch hiermit bei Verlust desjenigen, so ihnen hie­ rinnen verordnet und sie von uns zu erben haben, auferlegt und befohlen haben, daß sie unsere gehorsame Unterthanen bei unserer wahren Religion, der in Gottes Wort, den prophetischen und apostolischen Schriften gegründeten, in anno 30 weiland Kaiser Karln durch uns ern gottseligen Herrn Ahnherrn und andere Reichsstände zu Augsburg übergebene Confession und Apologie, so biß anhero bei uns gehalten worden, und noch, und dann unsere Superintendenten, Pfarr­ herrn und Prediger, so zu Zeit unseres Absterbens sein werden, in ihrem Berufe und Lehre bleiben, und davon nicht abweichen oder verunruhigen laßen, sondern sie und ermeldte unsere Unterthanen in gnädigem Schutz und Schirm haben. Und wenn ihrer der Superintendenten und Pfarrer einer mit Tode abgehn wird, als­ dann mit allem Fleiße dahin sehn wollen, damit dieselbige erledigte Statt wiede­ rum mit einer qualifizirten und tauglichen Person, so berührter Confession und Bekenntnis zugethan, ersetzt, und keine solcher Confession und Apologie widrige oder irrige Meinung, die wäre auch gleich genannt, wie sie wolle, im Lande ein­ geführt und fortgeschleppt werde" (Auszug aus dem Testament des Landgrafen Ludwig zu Marburg, zit. nach Heinrich Heppe, Die Einführung der Verbesse­ rungspunkte in Hessen von 1604-1610 und die Entstehung der hessischen Kir­ chenordnung von 1657 als Beitrag zur Geschichte der deutsch-reformierten Kir­ che urkundlich dargestellt, Kassel 1849, 176f). Oberhessen blieb ein Zankapfel zwischen Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt mit schweren Implikationen im 30-jährigen Krieg, in dem die beiden hessischen Hauptlinien feindlich gegeneinander standen, bis im sogenannten "Einigkeits­ und Friedensschluss" von 1648 Hessen-Kassel ein Viertel des von Hessen-Darm­ stadt bis dahin besetzten Marburger Landes und die Stadt Marburg zurückbekam. In Bezug auf den Bekenntnisstand einigte man sich im sogenannten "Rezess" vom 14. April 1648 (Friedens- und Einigkeits-Recess, so zwischen beeden Fürst!. Heßischen Häusern / Caßel und Darmstadt / durch Interposition Herzogs Ernesti zu Sachsen-Gotha Anno 1648. auffgerichtet worden, in: Johann Christian Lünig [Hg.], Das Teutsche Reichs-Archiv 9, Leipzig 1710, 899-905, 901; vg!. August F. C. Vilmar, Das lutherische Bekenntnis in Oberhessen und das Gutachten der The­ ologischen Facultät zu Marburg vom 10. September 1855 über die hessische Be­ kenntnis- und Katechismusfrage. Zur einstweiligen Verständigung, Marburg 1858, 4f) darin, dass Oberhessen lutherisch bleibe, aber dem Landgrafen von Hes­ sen-Kassel gestattet sei, überall reformierte Gemeinden zu gründen (vg!. Karl Ernst Demandt, Geschichte des Landes Hessen, Kassel 21980, 249ft).

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Mit den oben beschriebenen territorialen Aufteilungen blieben mit Hessen-Kassel und Hessen-Darrnstadt die beiden hessischen Hauptli­ nien übrig, die nach dem Tod der Landgrafen Wilhelm IV. ( 1592) und Georg 1. ( 1596) sich stärker verselbstständigten. Die Polarität - auch in konfessioneller Hinsicht - zeigte sich sehr deutlich unter den jewei­ ligen Nachfolgern, Moritz (* 1572, 1592- 1627, + 1632) in Hessen-Kas­ sel und Ludwig V. (* 1577, 1596- 1626) in Hessen-Darrnstadt.4

Im Zuge des sogenannten Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 wurde Hessen-Kassel zum Kurfürstentum mit der Bezeichnung Kurfürstentum Hessen oder kurz Kurhessen. Der letzte hessische Kur­ fürst war Friedrich Wilhelm (* 183 1, 1847- 1866), weil Kurhessen 1866 von Preußen annektiert und dann zusammen mit Nassau, der freien Stadt Frankfurt und weiteren Gebieten die preußische Provinz Hessen­ Nassau bildete. Dies brachte auch eine Umstrukturierung im kirchli­ chen Bereich: die preußische Verwaltung verfügte 1873 die Zusam­ menlegung der drei Konsistorien Marburg (lutherisch), Kassel (refor­ miert) und Hanau (uniert) zu einem Gesamtkonsistorium. Gegen diese "Zwangsunion" protestierten 43 bzw. 45 Pfarrer im so­ genannten "Juliprotest",5 auf den die preußische Regierung mit Sus­ pensionen und Amtsenthebungen antwortete, sodass sich gegen Ende 1873 in Melsungen und anderen Teilen Niederhessens sogenannte "re­ nitente" Gemeinden bildeten. Sie gründeten später die Renitente Kir­ che ungeänderter Augsburgischer Konfession. Diese Bewegung spal­ tete sich bereits 1874 in "Melsunger" und "Hornberger Konvent" we­ gen der Frage, ob die Renitenz die so genannten "Mauritianischen Verbesserungspunkte"6 beibehalten sollte oder nicht. Durch die Spal-

4 5

6

Vgl. a.a.O., 243f. Text in Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbststän­ diger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Be­ reich konkordienlutherischer Kirchen (OUH.E 6), Göttingen 22010, 326-329. Durch seine zweite Ehe mit Juliane von Nassau-Dillenburg (1587-1643) 1603 nahm Moritz das reformierte Bekenntnis seiner Frau, dem er bereits seit seiner Jugend zugeneigt war, an (vgl. Heppe, Verbesserungspunkte [wie Anm. 2]). Da­ nach ließ er in seinem Land die berühmten "Mauritianischen Verbesserungs­ punkte" einführen (vgl. Demandt, Geschichte [wie Anm. 4], 247). Die "Verbesse­ rungspunkte" lauteten: ,,1) Daß die gefährlichen und unerbaulichen Disputationes und Streit von der Person Christi eingezogen, und von der Allenthalbenheit Christi und was derselben anhängig in concreto, als: ,Christus ist allenthalben'; und nicht in abstracto ,die Menschheit Christi ist allenthalben', gelehrt, 2) Das

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tung konstituierten sich die "Hornberger" 1877 offiziell als Sonder­ gruppe. Diese vereinigte sich 1893 mit der ursprünglichen7 Selbstän­ digen eV.-luth. Kirche, die aus der konfessionell-lutherischen Bewe­ gung im Großherzogturn Hessen-Darmstadt entstanden war, zur Selb­ ständigen ev.-luth. Kirche in den hessischen Landen. Zuvor spalteten sich die Renitenten 1880 in "Melsunger" und "Sander" Konvent auf­ grund von Organisations- und Kirchenregimentsfragen, hauptsächlich weil einige Pfarrer mit der Leitung Wilhelm Vilmars ( 1804- 1884) un­ zufrieden waren. Doch "Melsunger" und "Sander" Konvent vereinig­ ten sich 1907 wieder. Im Jahr 19 10 beschlossen die Renitente Kirche ungeänderter Augsburger Konfession und die Selbständige Ev.-Luth.

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[sie] die zehn Gebote Gottes, wie sie der Herr selbst geredet, mit seinen eignen Fingern auf die steinernen Tafeln und von Mose in der Bibel geschrieben, gelehrt und gelernt, und die noch vom Papsttum an etlichen Orten überbliebenen Bilder abgethan, 3) Daß in der Administration und Gebrauch des heiligen Abendmals das gesegnete Brot nach der Einsetzung des Herrn soll gebrochen werden" (zit. nach Heppe, Verbesserungspunkte, [wie Am. 2], 15). In mancher Quelle und Se­ kundärliteratur wird Punkt 2 in a) richtige Aufzählung der Gebote und b) Ab­ schaffung der Bilder aufgeteilt, sodass von vier Verbesserungspunkten die Rede ist (vgl. Heppe, Verbesserungspunkte [wie Anm. 2], 15f; Karl Wicke, Die hessische Renitenz: ihre Geschichte und ihr Sinn, Kassel 1930, 23). "Der dritte ,Verbesse­ rungspunkt' zielte mit der Verwendung von Brot statt Hostien und der Praxis des Brotbrechens sowohl auf die endgültige Überwindung der römischen Transsub­ stantiationslehre als auch der lutherischen Auffassung von der leiblichen Gegen­ wart Christi unter Brot und Wein. Die Verwendung von richtigem Brot im Abend­ mahl und die Praxis des Brotbrechens sollten nicht nur dem biblischen Wortlaut entsprechen, sondern auch die Lehre von der leiblichen Gegenwart Christi im Brot überwinden helfen" (Martin Arnold, Die mauritianische Reform in Eschwege. Landesherrliche Konfessionspolitik und bürgerschaftlicher Widerstand, ZHG 111 [2006], 63-84, 69). Die deutliche konfessionelle Richtungsänderung brachte auch Konflikte um den Bekenntnisstand Oberhessens mit sich, die unter anderem zur Gründung der Universität Gießen 1607 durch Ludwig V. führten (vgl. Demandt, Geschichte [wie Anm. 4], 247). Im Unterschied zur "alten" SeIK, die 1947 aus dem Zusammenschluss der Han­ noverschen evang.-Iuth. Freikirche, der Selbständigen evang.-Iuth. Kirche in Hes­ sen und der Evang.-Iuth. Hermannsburg-Hamburger Freikirche entstand, und der heutigen Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), die 1972 durch den Zusammenschluss der "alten" SelK mit der Evang.-Luth. Freikirche und der Evang.-Iuth. (altlutherischen) Kirche entstand.

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Kirche in den hessischen Landen ein Konföderationsstatut.8 1924 trat die Hannoversche evang.-luth. Freikirche der Konföderation bei.9 Das ist in aller Kürze die Frühgeschichte der Renitenz. Es ist mir bewusst, dass von der Renitenz oder von den Renitenten zu sprechen eine Verallgemeinerung ist. Es gab Unterschiede innerhalb der Reni­ tenz und zwischen den Renitenten, die nicht zuletzt sogar zu Spaltun­ gen innerhalb der Bewegung geführt haben. Doch trotz der Unter­ schiede gibt es m.E. gewisse Denklinien und Mentalitäten, die es uns erlauben, von der Renitenz und den Renitenten zu sprechen. Es ist also im Sinne dieser gemeinsamen Denklinien und Mentalitäten gedacht, wenn ich die Begriffe verwende. Bezüglich dieser Denklinien und Mentalitäten möchte ich hier zwei Sachverhalte ansprechen, die m.E. die hessische Renitenz von den anderen selbstständigen Lutheranern vor der Gründung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) 1972 hervorheben und einen wichtigen Beitrag zur Entstehung und zum Sosein dieser Kirche leisten. Zunächst aber muss die Renitenz in ihrem historischen Kontext verstanden werden. 2.

Die Renitenz verstehen: ihr Entstehungskontext

Die Französische Revolution und Napoleon Bonaparte ( 1769- 182 1) spielen eine wichtige Rolle im Entstehungskontext der hessischen Re­ nitenz, denn die französische Aufklärung brachte neue Mentalitäten nach Europa. Dazu gehörten unter anderem: die Infragestellung des göttlichen Ursprungs des Königtums; die Gleichheit aller "Bürger" vor dem Gesetz; die Trennung von Staat und Kirche; dies allerdings unter der Voraussetzung einer deutlichen Herrschaft des Staates über die Kirche. Unter Napoleon eroberten die Franzosen viele Gebiete, tausch­ ten deren Regenten aus, beendeten die geistlichen Fürstentümer im Deutschen Reich, fiihrten in den unter ihrem Einfluss stehenden Ge­ bieten administrative Reformen ein. Hierzu gehört der so genannte Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Viele Herrscher wurden in diesem Zusammenhang dazu gezwungen, politisch-liberale Maßnah­ men durchzuführen. Das Ideal der Revolution breitete sich also durch ganz Europa aus. Doch nicht Napoleon, sondern seine Gegner gewannen letztendlich den Krieg. Versammelt im berühmten "Wiener Kongress" 18 14- 18 15, beschlossen die siegreichen Herrscher die Uhr zurückzudrehen und die 8 9

Text in Klän/da Si/va, Quellen (wie Anm. 5), 59l. A.a.O., 592.

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napoleonischen Reformen rückgängig zu machen. Denn die Ideale der Revolution "Liberte, Egalite, Fraternite" seien gegen Gottes Willen. Zum Willen Gottes gehörten die nach Ständen geordnete Gesellschaft; der absolutistisch herrschende König; die Union von Staat und Kirche. Diese Bewegung nennen die Historiker "Restauration".10 Der Widerstand gegen die Restauration zeigte sich in Form ver­ schiedener revolutionärer Bewegungen, die historisch als "Vormärz" (ab etwa 1830) bekannt sind. Einen größeren Wirkungsgrad erreichte die Gegenbewegung jedoch in Form der sogenannten "Liberalen Re­ volution" von 1848- 1849.11 Auch diese Revolution war von den Ide­ alen "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" gekennzeichnet, und auch sie war letztendlich nicht erfolgreich gegen die restaurativen Kräfte. Die Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung (Mai 1848 bis Mai 1849) ist bekannt. Doch eine wichtige Errungenschaft der "libe­ ralen Revolution", die Parlamentarisierung der Reichsmonarchien, blieb weitestgehend bestehen. Es war nach den Revolutionen nicht mehr möglich, von Gottes Gnaden absolutistisch zu herrschen. Es ist dieser dialektische Kontext von Revolution und Restauration, in dem wir die Entstehung der hessischen Renitenz zu verorten haben. Denn die Ideale der Revolution im Sinne von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" sollten auch in den Landeskirchen umgesetzt werden. Um das zu verstehen, müssen wir in der Geschichte ein Stück zurück­ gehen. Da die Evangelischen in der Reformationszeit ständig bedroht wa­ ren, waren sie auf die Unterstützung ihrer Landesherren angewiesen. Diese wiederum sahen in der Durchführung der Reformation eine gute Gelegenheit dafiir, politische und wirtschaftliche Reformen durchzu­ setzen, die nicht selten durch eigene Interessen motiviert waren. Aus dieser Interessenkonvergenz und gegenseitigem Aufeinanderangewie­ sensein entstand das Konstrukt des sogenannten "landesherrlichen Kirchenregiments".12 Das bedeutet, dass der Landesherr (Kurfiirst, Landgraf usw., später auch König) de facto der Bischof seiner Landes­ kirche ist. Er trifft alle Entscheidungen fiir seine Landeskirche, auch über ihre Glaubensrichtung, denn nach dem Augsburger Religionsfrie­ den von 1555 hatte der Landesfürst das Recht, die Konfession seines 10 Vgl. zum Ganzen Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürger­ welt und starker Staat, München 1998, 272ff. 11 Vgl. a.a.O., 595ff. 12 Vgl. zum Ganzen WolJ-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmenge­ schichte 2: Reformation und Neuzeit, Gütersloh 22001, 565ff.

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Landes bzw. seiner Untertanen zu bestimmen: wenn der Fürst luthe­ risch ist bzw. wird, darf er darüber verfügen, dass seine Landeskirche lutherisch wird. Später mit der stärkeren Ausbreitung des Reformier­ tenturns wurde die Sache etwas komplizierter, denn Fürsten, die vom lutherischen zu reformierten Glauben konvertiert waren, konnten nicht ohne Weiteres ihre Landeskirche von lutherisch zu reformiert umkonfessionalisieren. Ein Beispiel dafür ist Brandenburg, später Preußen, wo Johann Sigismund ( 1572- 1620) 16 13 zum reformierten Glauben konvertiert war. Die Landstände leisteten Widerstand gegen eine Konfessionsänderung im Sinne des Landesfürsten, sodass der Re­ gent reformiert und die Landeskirche überwiegend lutherisch blieben. Übrigens ist das eine der Voraussetzungen für die preußische Union im 19. Jahrhundert,lJ aber das ist eine andere Geschichte. Im 19. Jahrhundert war also der hessische Kurfürst der Bischof sei­ ner Landeskirche im Kurfürstentum Hessen-Kassel. Dieses Amt führte er - wie es damals hieß - "mittelbar" durch Staatsbeamte, die in der Verwaltung der Konsistorien tätig waren. Ihren Idealen treu, brachte hier die sog. Liberale Revolution zwei wichtige Änderungen: Die eine war das sogenannte "Religionsgesetz" vom 29. Oktober 1848, die die Religionsfreiheit in Hessen-Kassel einführte. Das bedeutete unter an­ derem, dass Staatsbeamte nicht mehr der evangelischen Landeskirche zwingend angehören mussten. Konservative kirchliche Kräfte, unter ihnen August Vilmar ( 1800- 1868), flirchteten damit, dass "Außer­ kirchliche" als Landstände und Staatsbeamte die kirchliche Gesetzge­ bung in Händen haben könnten. Sie fürchteten z.B., dass römische Katholiken oder sogar Juden ein die Kirche regierendes Ministerium verwalten könnten.14 Die andere Änderung stand im Zeichen der Par-

13 Vgl. J. F. Gerhard Goeters/Eckhard Lessing, Vorgeschichte: Die Voraussetzungen einer einheitlichen Evangelischen Landeskirche (bis 1817), in: J. F. Gerhard Goe­ ters/RudolJ Mau (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union 1: Die Anfänge der Union unter landeskirchlichem Regiment (1817-1850), Leipzig 192, 41-92. 14 Vgl. August F. C. Vilmar/Elvers/Lohr/HoJJmann/Ruckert/Rauch/Roßteuscher, Au­ ßerordentliche Beilage zum hessischen Volks freund Nr. 24. Die zweite allgemeine Conferenz von Mitgliedern und Freunden der hessischen Kirche gehalten zu Jes­ berg am 14. Februar 1849, Der Hessische Volksfreund 24 (1849), 1-8, 2. A Vilmar schreibt: "ist der magistratus nicht pius, nicht fidelis, nicht verae religionis cura affectus, so kann er keine rechtgläubigen Lehrer ansetzen und den rechten Got-

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lamentarisierung der Kirche. Demnach sollten die bischöflichen Auf­ gaben von Synoden bewältigt werden. Die Synodalen sollten von den Gemeinden gewählt und sowohl Geistliche als auch sogenannte Laien sein. Besonders die Tatsache, dass nichtordinierte Synodale über Lehre und Ordnung in der Kirche Entscheidungen treffen würden, war fiir die konservativen Kräfte um August Vilmar äußerst problematisch. Die Beteiligung von Laien in Synoden stünde gegen die Prinzipien der Kirchenordnung und mit dem Bekenntnis in unversöhnlichem Wider­ spruch, "da dem Laienelement durch dessen Hinzuziehung zu den Sy­ noden eine Gewalt miteingeräumt würde, welche nach den klaren Worten in Artikel 28 der Augustana Absatz 2, 3 und 4 verglichen mit Artikel 5 und 7 dem geistlichen Amt allein zusteht, nämlich die Beur­ theilung und Feststellung der Lehre (Katechismus, Gesangbuch, litur­ gie), wozu nur die Synode berechtigt ist, und die Ausschließung der Gottlosen, welche derselben in letzter Instanz zufallen muß".15 Es ist in diesem Kontext einer Verschmelzung von Staat und Kirche, die fiir die evangelischen Kirchen bereits mit der Reformation beginnt, in dem wir m.E. eine der größten Leistungen der Renitenz finden kön­ nen. Doch um das zu verstehen, müssen wir zuerst über die soge­ nannte "Zwei-Reiche-Lehre" sprechen.

tesdienst weder einrichten, noch fortpflanzen, noch erhalten. Nehme man die Sa­ che aber immerhin weniger streng, nehme man sie nur von Seiten des äußerlichen Bekenntnisses, so folgt aus den Aufstellungen der Dogmatiker [sc. der lutheri­ schen Orthodoxie] unleugbar der Satz, daß, wenn das äußerliche Bekenntnis zur evangelischen Lehre bei dem magistratus politicus nicht vorhanden ist, er irgend welche Functionen innerhalb der Kirche evangelischen Bekenntnisses auszuüben völlig unfähig sei" (August F. C. Vilmar, Kirche und Welt oder die Aufgaben des geistlichen Amts in unserer Zeit. Zur Signatur der Gegenwart und Zukunft. Ge­ sammelte pastoral-theologische Aufsätze, 2 Bde., hrsg. von J. C. Müller, Güters­ loh 1872, I, 218; Hervorhebungen im Original). 15 Friedrich Pfeiffer, Bekenntniß und Abwehr in brennenden Fragen der hessischen Kirche und der evangelischen Kirche überhaupt. Zugleich eine Beleuchtung der neuerdings bezüglich der hessischen Kirchenfrage veröffentlichten Anschauun­ gen auf Grund der heil. Schrift, der Bekenntnisse und kirchengeschichtlich-kir­ chenrechtlicher Thatsachen, Casse11871, 74 (Anlage B; Hervorhebungen im Ori­ ginal).

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Die Renitenz und die "Zwei-Reiche-Lehre"

Traditionell wird im Bereich der Lutherischen Kirche das Verhältnis zwischen Staat bzw. Welt und Kirche im Rahmen der Denkfigur der "Zwei-Reiche-" oder "Zwei-Regimente-Lehre", die auf Luther zurück­ geführt wird, gedacht. Doch eins vorweg: das Thema ist äußerst kom­ plex; deswegen ist es nicht möglich, es in wenigen Zeilen mit der ge­ botenen Tiefe zu behandeln. Und ein zweites: Bei der sog. "Zwei-Rei­ ehe-Lehre" handelt es sich genau genommen nicht um eine Lehre in dem Sinne, dass sie ein Glaubensgegenstand wäre,noch in dem Sinne, dass sie als oberste Norm einsetzbar wäre, aus der einzelne Forderun­ gen unmittelbar deduktiv abgeleitet werden könnten.16 Mit anderen Worten: es ist keine Häresie, die Zwei-Reiche-Lehre zu kritisieren oder zu modifizieren. Der Begriff "Zwei-Reiche-Lehre" stammt nicht von Luther selbst, sondern wurde ihm Anfang des 20. Jahrhunderts aufgrund seiner Äu­ ßerungen zum Verhältnis zwischen Staat bzw. Welt und Kirche im 16. Jahrhundert zugeschrieben. Den äußeren Anlass zu Luthers Ausfor­ mung seiner Position lieferte das durch den Herzog Georg von Sach­ sen ( 147 1- 1539) verhängte Verbreitungsverbot für seine Übersetzung des Neuen Testaments 1523. Das Verbot und die Konfiszierung des Neuen Testaments stellten Luther in besonderer Weise vor die Frage, wie weit fiir einen Christen die Befugnisse der "Obrigkeit" reichen, und ob auch Eingriffe der Obrigkeit in Gewissen und Glauben gehorsam hingenommen werden müssen.17 Auf diese Herausforderung antwor­ tete Luther mit der Schrift "Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei,,18. Darin sieht Luther - basiert auf Röm 13 die Obrigkeit als von Gott eingesetzt, aber er beschränkt ihre Zustän­ digkeit allein auf den rein leiblichen Gehorsam. Dadurch ist der Christ im konkreten Fall des Verbotes des Neuen Testaments vom Gehorsam gegenüber der Obrigkeit entbunden,19 denn es geht hier um die Seele und nicht um den Leib. In anderen späteren Schriften vollzieht Luther immer wieder jene Fundamentalunterscheidung zwischen Glauben

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So Martin Honecker, vgl. bei Andreas Pawlas, Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Christi in der neueren theologiegeschichtlichen Diskussion, Luther 59 (1988), 89-105, 90f. 17 Vgl. a.a.O., 93. 18 WA 11, 245-28l. 19 Vgl. Pawlas, Zwei-Reiche-Lehre (wie Anm. 16), 94.

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und weltlichem Handeln des Christen, zwischen Evangeliumsverkün­ digung und der Wahrung weltlicher Ordnung.2o Doch Luthers Intention war es nicht, Glaube und Welt bzw. Kirche und Staat gegeneinander auszuspielen bzw. voneinander zu trennen, sondern zwei Perspektiven göttlicher Wirksamkeit darzustellen. Wir können das folgendermaßen zusammenfassen: "Mit der linken Hand führt Gott das weltliche ,Regiment' oder Reich und hilft damit zur Er­ haltung des leiblichen, irdischen, zeitlichen Lebens und überhaupt zur Erhaltung der Welt. Mit der rechten Hand führt Gott das geistliche ,Regiment' oder Reich, in dem es um das Eigentliche geht, nämlich um ewiges Leben, um Erlösung der Welt.,, 21 Der Christ lebt und agiert in beiden Reichen. Diese perspektivistische Betrachtung kann jedoch sehr leicht als eine Trennung verstanden werden, die zu zwei sehr unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen Problemen führen kann. Auf der einen Seite besteht das Problem in der Annahme, dass jedes "Reich" seine eigene Gesetzlichkeit hat. Überspitzt gesagt heißt das, dass die Welt "sich vom Schöpfer befreit", selbstständig und nur von der Vernunft regiert wird. Für die Kirche heißt das, dass sie zum Kloster oder zur Sekte wird, zu einer Anstalt, die versucht, aus der Welt zu fliehen und eine Parallelwelt zu konstruieren. Auf der anderen Seite besteht das Trennungsproblem darin, dass man die unterschiedlichen Reiche als unnötige Doppelung versteht. Der deutsche evangelische Theologe Richard Rothe ( 1799- 1867) z.B. vertrat im 19. Jahrhundert die These eines "Aufgehens der Kirche im Staate",22 d.h. der Staat würde alle erzieherischen - auch die geistlichen - Aufgaben übernehmen und somit die Kirche als eigene Institution überflüssig machen. Im Grunde genommen ist das eine Vorstellung, die totalitäre Regimen wie der Nationalsozialismus oder der Kommunismus im 20. Jahrhundert um­ zusetzen versucht haben. Im Sinne einer Doppelung heißt es wiederum für die Kirche, dass sie durch die eine mögliche Übernahme der welt­ lichen Herrschaft die Welt zum Reich Gottes zu machen versucht, wie es z.B. im sogenannten "Täuferreich" zu Münster in den 1530er Jah­ ren 23 geschah oder bestimmte christliche Gruppierungen heute noch implementieren wollen. 20 Ebd. 21 A.a.O., 95. 22 Vgl. Richard Rothe, Die Anfänge der Christlichen Kirche und ihrer Verfassung. Ein geschichtlicher Versuch 1, Wittenberg 1837. 23 Vgl. Richard van Dülmen (Hg.), Das Täuferreich zu Münster, 1534-1535. Berichte

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Das heißt unter anderem, dass die sogenannte "Zwei-Reiche-Lehre" weder im Sinne einer Trennung noch im Sinne einer Verschmelzung missverstanden oder gar missbraucht werden darf. Im 19. Jahrhundert befand sich diese "Lehre" jedoch in einem heillosen "Durcheinander", sowohl in Zeichen von Trennung als auch von Verschmelzung. 24 In diesem Kontext leistete die hessische Renitenz einen differenzier­ ten Zugang zur "Zwei-Reiche-Lehre": Bei Wilhelm Vilmar ( 18041884) und Karl Wicke ( 1905- 1943) finden wir Aussagen, die zunächst befremdlich klingen,aber wenn man etwas tiefer blickt,durchaus Sinn haben. W. Vilmar schrieb z.B., "daß wir eine Trennung der Geschichte des Reiches Gottes oder speciell der Kirchengeschichte von der Welt­ geschichte nur in der Betrachtung, nicht aber in der Wirklichkeit gel­ ten lassen. Alles, was wir Weltgeschichte nennen, ist nur die Kehrseite von der Geschichte des Reiches Gottes; wenn aber das, was Weltge­ schichte genannt wird, aufhört selbst diese Eigenschaft zu besitzen, so hört es überhaupt auf Geschichte zu sein".25 K. Wicke drückte das so aus: ,,[D]ie Geschichtsauffassung - im einzelnen wie im allgemeinen - ist eine transzendente und zwar nicht eine unpersönlich, ideell, son­ dern eine persönlich, göttlich transzendente. Der persönliche Gott bezw. der persönliche Christus [...] lenkt und gestaltet durch das Ein­ greifen in die ,Zeit' die Geschichte.,, 26 Zunächst sieht es so aus, als ob die Renitenten genau das tun, was sie lutherisch gesehen nicht tun sollten: sie lassen die beiden Reiche miteinander verschmelzen. Doch der Schein trügt, weil das, was die Renitenten ausschließen wollen, ist die Eigengesetzlichkeit, die "Schöpfer-Freiheit" der Welt bzw. des Staates. Es ist in den Augen der Renitenten diese Eigengesetzlichkeit, die nach der Reformation zum landesherrlichen Kirchenregiment geführt hat. Bereits für August Vilmar war das landesherrliche Kirchenregi­ ment eine Fehlentwicklung, eine "Jerobeamitische Berufung" 27 (lKön

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25

26 27

und Dokumente (dtv wissenschaftliche Reihe), 1974. Einen kurzen Überblick bietet Ulrich Duchrow (Hg.), Umdeutungen der Zweirei­ chelehre Luthers im 19. Jahrhundert (Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte 21), 1975. Vgl. Klaus Enge/brecht, Um Kirchenturn und Kirche. Metropolitan Wilhelm Vilmar (1804-1884) als Verfechter einer eigentümlichen Kirchengeschichtsdeu­ tung und betont hessischen Theologie, Frankfurt a. M. u.a. 1984, 82. Wicke, Renitenz (wie Anm. 6), 39; vgl. a.a.O., 83. August F. C. Vilmar, Die Lehre vom geistlichen Amt, hrsg. von Karl W. Piderit, Marburg u.a. 1870, 75.

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1 1,26ff1 bzw. eine Usurpation. Diese Eigengesetzlichkeit des Staates zeigte sich für ihn wieder in der Revolution, im Rahmen derer der Kirche wieder eine Leitung und Struktur oktroyiert werde, die ihr fremd sei. Später sind die Preußen gekommen,die nun nicht nur struk­ turell, sondern auch bezüglich der Lehre die hessische Landeskirche zu verändern versuchten. Die aus einer falsch verstandenen Trennung von Welt bzw. Staat und Kirche resultierende Eigengesetzlichkeit des Staates stellten die Renitenten anhand der Denkfigur des "Königtums Jesu Christi,, 28 in Frage. Was die Renitenten damit meinten, kann sehr gut anhand des Liedes des schwäbischen Pietisten Philipp Friedrich Hiller ( 1699- 1769) von 1755 "Jesus Christus herrscht als König" ver­ deutlicht werden: Jesus Christus herrscht als König, alles wird ihm untertänig, alles legt ihm Gott zu Fuß. Aller Zunge soll bekennen, Jesus sei der Herr zu nennen, dem man Ehre geben muß. Fürstentümer und Gewalten, Mächte, die die Thronwacht halten, geben ihm die Herrlichkeit; alle Herrschaft dort im Himmel, hier im irdischen Getümmel ist zu seinem Dienst bereit.29 Biblischer Hintergrund ist bekanntlich Mt 28,18, wo Jesus sagt: "Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden." Die Denkfigur des "Königtums Jesu Christi" will also verdeutlichen, dass Welt bzw.

28 Vgl. Wicke, Renitenz (wie Anm. 6 ), 41. Die Denkfigur hat durchaus Parallelen zu der bereits von Jean Calvin (1509- 1564) vertretenen Vorstellung einer "Königs­ herrschaft Jesu Christi" (vgl. Joachim Staedtke, Die Lehre von der Königsherr­ schaft Christi und den zwei reichen bei Calvin, KuD 18 [1972], 202-214), die im 20. Jahrhundert insbesondere von Karl Barth (1886-1968) prominent wiederauf­ genommen worden ist (vgl. Herbert Lindenlauf, Karl Barth und die Lehre von der "Königsherrschaft Christi". Eine Untersuchung zum christozentrischen Ansatz der Ethik des Politischen im deutschsprachigen Protestantismus nach 1934, Spardorf 1988). 29 Evangelisch-Lutherisches Kirchengesangbuch (ELKG), Göttingen 41992, Lied 96, Strophen 1 und 2.

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Staat und Kirche, obwohl voneinander in ihrer jeweiligen Zuständig­ keit zu differenzieren, nicht voneinander zu trennen sind, denn alles, Welt, Staat, Kirche und sogar der Himmel stehen unter der Herrschaft des Sohnes Gottes. Demnach dürfen weder Welt bzw. Staat noch Kir­ che je eine Eigengesetzlichkeit haben, sondern beide müssen Jesus Christus gehorchen. Deswegen sind die Aufgaben des Staates für die Renitenten keines­ wegs irdischen oder menschlichen Ursprungs, denn ,,[w]eder die Si­ cherheit des Lebens, noch die Reinheit des Familienlebens, noch auch der ungestörte Genuß des Eigentums beruht auf einer gegenseitigen Übereinkunft der Menschen, sondern auf dem Gesetz Gottes" .30 Das geschieht selbst, wenn die Obrigkeit sich dessen nicht bewusst ist oder aus einer anderen Überzeugung handelt, z.B. wenn sie "heidnisch,jü­ disch oder mohammedanisch" ist. Einen "christlichen Staat" gibt es nicht, aber der Staat, der nach dem von Gott vorgesehenen Recht agiert, der agiert nach dem Gesetz Gottes und nicht nach einer Eigen­ gesetzlichkeit. Ämter und Aufgaben von Staat und Kirche sind ver­ schieden, aber sie sind nicht gegeneinander - oder sie dürfen es nicht sein -, weil sie denselben Ursprung in Gott haben. Der Staat darf aber nicht in den "Heiligungskreis der Kirche" hineinreden, sowie die Kir­ che keinesfalls als "politische Partei" auftreten darf.31 Allerdings: Wer den Willen Jesu Christi bewusst kennt, ist nicht die Welt bzw. der Staat, sondern die Kirche. Daraus ergibt sich die Tatsa­ che, dass die zwei "Reiche" nicht paritätisch nebeneinander stehen, sondern dass die Kirche eine Verantwortung gegenüber der Welt bzw. dem Staat hat, die in umgekehrter Richtung nicht vorgesehen ist. Eine sehr deutliche Verantwortung der Kirche gegenüber der Welt ist ohne Zweifel die Mission. Die Kirche hat von Jesus Christus den Auftrag bekommen, die Welt zu missionieren. Eine "Missionierung" der Kirche durch die Welt gibt es als Befehl Christi nicht. Eine weitere Verant­ wortung der Kirche gegenüber der Welt sahen die Renitenten im "Wächter- und Zeugendienst der Kirche". 32 Das bedeutet konkret, dass 30 Melsunger Missionsblatt, Melsungen, 1929, 12, 47f (Hervorhebung im Original). Man beachte hier die deutliche Ablehnung einer Theorie des "Gesellschaftsver­ trags", wie sie insbesondere im Rahmen der französischen Aufklärung vertreten war (vgl. Karlfriedrich Herb, Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. Vorausset­ zungen und Begründungen [Epistemata. Reihe Philosophie 55], Würzburg 1989). 31 Mels. Missionsblatt, 1929, 12, 47f. 32 Mels. Missionsblatt, 1937, 1, 2f, vgl. Werner Klän, Selbständige evangelisch-lu­ therische Kirchen im "Dritten Reich". Versuch einer Zwinschenbilanz, LuThK 11

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die Kirche - Pfarrer und Gemeindeglieder - "mit nimmer müden, scharfen Augen Umschau halten und alle Anzeichen des feindlichen und zerstörerischen Abfalls alsbald deutlich und laut mit Namen nen­ nen, insonderheit deutlich machen und laut mit Namen nennen dieje­ nigen Zeichen des Abfalls, die im frommen, kirchlichen Gewand auf­ treten, in denen die Dämonen sich verkleiden in Engel des Lichts. ,, 33 Diese Sätze wurden von Karl Wicke 1937 mitten im Kirchenkampf geschrieben und sind ein wichtiges Beispiel fiir die renitente Vorstel­ lung des "Wächter- und Zeugendienstes der Kirche". Die selbstständi­ gen Lutheraner in ganz Deutschland waren in der Zeit der nationalso­ zialistischen Diktatur anders als die Landeskirchen von der Auseinan­ dersetzung zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche zwar institutionell nicht betroffen, zeigten aber in ihren Reihen die gleichen Mentalitäten jener Zeit, besonders was Anpassung oder Un­ terstützung der nationalsozialistischen Ideologie angeht. Ich nenne hier zwei Beispiele: ( 1) Die Veröffentlichungen der Evangelisch-Lutherischen Freikir­ che, wie die Artikelserie "Der Christ als Bürger des irdischen Staates" ( 193 1), zeigen eine eindeutige vorbehaltlose Zustimmung zu den Maß­ nahmen der nationalsozialistischen Regierung. Deren "Judenpolitik" stellte für die Evangelisch-Lutherische Freikirche kein ethisches Prob­ lem dar. Unter dem Schein einer recht verstandenen Zwei-Reiche­ Lehre erfolgte die Politisierung der Theologie nach rechts, die Bedin­ gung der Möglichkeit war, zu allen Diskriminierungen, Übergriffen, Boykottaufrufen zu schweigen, sie mehr oder weniger billigend hin­ zunehmen oder, wie den Arierparagraphen, sogar zu verteidigen. So konnte z.B. die "Reichskristallnacht" als gerechtes Gericht Gottes ge­ deutet werden. Man distanzierte sich von den Deutschen Christen im rein theologischen Rahmen.3 4 Die Dreieinigkeitsgemeinde Hamburg z.B. übernahm am 8. Januar 1939 den Ariarparagraphen in ihre Ge­ meindeordnung: "Es wird beschlossen, in § 5 unserer Satzung die Be­ dingung fiir die Aufnahme in die Gemeinde dahin zu erweitern, daß der Aufzunehmende Arier ist. Es wird beschlossen, § 5 Absatz a wie folgt zu ändern: Bedingung fiir die Aufnahme in die Gemeinde ist, daß

(1987), 73-87, 83. 33 Mels. Missionsblatt, 1937, 1, 2. 34 Vgl. Klän, Versuch (wie Anm. 32), 79ff.

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der Aufzunehmende Arier ist und nicht Mitglied einer geheimen Ge­ sellschaft, wie Freimaurerorden und dergleichen."J5 Erst am 1. Juli 1945 hat die Gemeinde den "Arierparagraphen" abgeschafft. Wir sehen hier eine deutliche kirchlich-theologische Schizophrenie: Man beruft sich auf die "Zwei-Reiche-Lehre", um zu behaupten, dass das, was der Staat tut, die Kirche nichts angeht, selbst wenn es sich um Verbrechen handelt. Gleichzeitig übernimmt man in fragwürdigem Gehorsam staatliche Entscheidungen für die Kirche, die dem Evange­ lium fremd sind bzw. ihm widersprechen. (2) Das Oberkirchenkollegium der Evangelisch-lutherischen Kirche Altpreußens beschloss 1938, dass all seine im Deutschen Reich ange­ stellten Pfarrer als Träger eines öffentlichen Amtes folgenden Treueid zu leisten hätten: "Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und All­ wissenden: ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Ritler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe durch Je­ sum Christum."J6 Freilich gab es von Seiten der sog. Altlutherischen Kirche auch mancherorts Solidaritätsbekundungen mit der Bekennen­ den Kirche und einige altlutherische Gemeinden gewährten der Be­ kennenden Kirche Gastfreundschaft für ihre Gottesdienste.J7 Doch auch hier zeigt sich eine äußerst fragwürdige Interpretation der luthe­ rischen "Zwei-Reiche-Lehre". Eine positive oder "neutrale" Einstellung zum Nationalsozialismus ist mir aus den Reihen der hessischen Renitenz nicht bekannt. Ganz im Gegenteil: im Rahmen ihrer Vorstellung eines "Wächter- und Zeu­ gendienstes der Kirche" übten die Renitenten schon früh Kritik am Nationalsozialismus und lehnten dessen Ideologie strikt ab.J8 In indi­ rekter, aber deutlicher Form (wie bereits erwähnt) wird von einer "Ab­ fallszeit", von "Dämonen", die "sich verkleiden in Engel des Lichts",

Gunnar Beier/Markus Holmer, Blickwinkel. Ein gemein(d)schaftliches Lesebuch der Dreieinigkeitsgemeinde Hamburg, Selbständige Evangelisch-Lutherische Kir­ che - 1896-1996, Hamburg 1996, 74. 36 Kirchenblatt für die EV.-Iuth. Gemeinden in Preußen 93 (1938) 299. 37 Vgl. Christian Neddens, Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft, in: ]ürgen Kampmann/Werner Klän (Hg.), Preußische Union, lutherisches Be­ kenntnis und kirchliche Prägungen. Theologische Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller Bestimmtheit der Kirche (OUH.E 14), Göttingen 2014, 232-269. 38 Vgl. Klän, Versuch (wie Anm. 32), 83f. 35

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von "allerlei Mächte[n] aus den Pforten der Hölle", die "einen schar­ fen, gierigen Kampf gerade um die Gewinnung des heranwachsenden Geschlechts" fuhren, gesprochen.39 In diesen Kontext gehört auch die positive Darstellung und Kommentierung des den sog. "Arierparagra­ phen" ablehnenden Gutachtens der Marburger Fakultät im Melsunger Missionsblatt 1933.40 Ein weiteres "renitentes Beispiel" aus einem ganz anderen Kontext: Der Missionsdirektor Friedrich Wilhelm Hopf ( 19 10- 1982), der aus der hessischen Renitenz stammte, nahm im Zuge des renitenten "Wächter­ und Zeugendienstes der Kirche" eine deutliche öffentliche Positionie­ rung gegen die südafrikanische Apartheid: "Man kann nicht auf die Dauer an der Missionsarbeit und am kirchlichen Aufbau in einem Lande verantwortlich beteiligt sein, ohne irgendwie Stellung zu neh­ men zu Fragen und Entscheidungen, durch die ein Zeugnis der Kirche in klarer Anwendung des Wortes Gottes gefordert wird. [...] Wir sind davon überzeugt, dass die Kirche Jesu Christi in dieser Welt zwar keine Politik zu treiben hat, dass sie aber durch ihr Dasein mit Wort und Tat, mit Zeugnis und ,Zeichen' beweisen muss: Für uns gelten andere Maß­ stäbe als in der Welt, von uns werden im Leben der Kirche die an­ derswo geltenden Grenzen überschritten, Schranken durchbrochen, Unterschiede überbrückt und Gegensätze außer Kraft gesetzt. [...] Die Kirche muss den Staat an seine eigentlichen Aufgaben erinnern. Sie hat Recht und Pflicht zu Protest und Gehorsamsverweigerung, wenn der Staat in seinem eigenen Tätigkeitsbereich den Willen Gottes ver­ 41 letzt.,, Das klingt fast wie eine Aussage lateinamerikanischer Befrei­ ungstheologen,42 ist aber eine Stimme aus der hessischen Renitenz! Die politisch-theologische Leistung der hessischen Renitenz kann mit folgenden Worten W. Kläns bestens beschrieben werden: "An Klarheit und Weitsicht gegenüber dem ideologischen, politischen kir-

39 Gemeinde-Blatt für die renitente Kirche ungeänderter Augsburg. Konfession in Hessen - Melsunger Missionsblatt, 1937, 2.6. 40 Vgl. Mels. Missionsblatt, 1933, 9, 35. 41 Friedrich Wilhelm Hopf, Kritische Standpunkte für die Gegenwart. Ein lutheri­ scher Theologe im Kirchenkampf des Dritten Reichs, über seinen Bekenntnis­ kampf nach 1945 und zum Streit um seine Haltung zur Apartheid, hrsg. von Markus Büttner/Werner Klän (OUH.E 11), Göttingen 2012, 263.266.349f (Hervor­ hebungen: GdS). 42 Vgl. Leonardo Boff, Kirche: Charisma und Macht. Studien zu einer streitbaren Ekklesiologie, Ostfildern 41985.

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chen- und menschenfeindlichen Impuls des Nationalsozialismus las­ sen die Stellungnahmen aus dem Raum der lutherischen Freikirchen in Hessen nichts zu wünschen übrig."43 In diesem Zusammenhang möchte ich behaupten - und das ist meine erste These -, dass die hes­ sischen Renitenten Luthers sog. Zwei-Reiche-Lehre besser verstanden und umgesetzt haben als viele andere Lutheraner im 19. Jahrhundert und auch heute noch. 4.

Die Renitenz und die Ökumene

Das ist das zweite Thema, das die hessische Renitenz fiir mich interes­ sant macht. Um dies zu erläutern, muss ich geschichtlich etwas zu­ rückgehen, und zwar in die Zeit von Spätreformation und Konfessio­ nalisierung. Um die Zersplitterung innerhalb der Lutherischen Kirche zu vermeiden und eine gemeinsame Lehrgrundlage zu schaffen, erar­ beiteten einige Theologen mit Unterstützung ihrer Landesherren in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts ein Konkordienwerk, das in der Veröffentlichung der Konkordienfonnel 1577 und des Konkordienbu­ ches 1580 kulminierte. Das Konkordienbuch war die Sammlung ver­ schiedener Schriften (das Apostolikum, das Nizänum, das Athanasi­ anum, das Augsburger Bekenntnis, deren Apologie, die Schmalkaldi­ sehen Artikel, der Tractatus, der Kleine Katechismus, der Große Kate­ chismus, die Konkordienfonnel),44 die ab dann als die verbindlichen Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirche galten. Doch einige Landesherren bzw. Landeskirchen übernahmen die Konkordienformel und demzufolge auch das Konkordienbuch nicht. Für sie betreibe das Konkordienwerk eine Engführung, die der evan­ gelischen Kirche nicht hilfreich sei. Das war der Fall in den damals noch vier hessischen Landgrafschaften. Die Ablehnung des Konkordi­ enwerks bzw. der Konkordienformel geschah gleich 1577 durch einen gemeinsamen Konvent in Treysa unter Umgehung der Generalsy­ node.45 Man wollte bis zu einem künftigen Synodalbeschluss warten

43 Klän, Versuch (wie Anm. 32), 85. 44 Vgl. Irene Dingel (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche - Vollständige Neuedition (BSELK), Göttingen 2014. 45 "Demnach Aber Auch von dem vornehmenn Artickel vnserer Christlichen Reli­ gion Vnnd dem hohen geheimniß wie in Der einigen Persohn Vnsers herren vnnd heilandts Jesu Christi, Die Zwo Naturen gottliche vnnd menschliche dermassen mit einander vntzertrenlich vereyniget seyen , das eine der Andern Ire propriete-

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und zunächst keine weiteren Entscheidungen treffen. Die vier Landes­ herren nahmen aber die gemeinsame Entscheidung der Theologen an und ließen im Dezember 1577 die "Sammterklärung der vier hessi­ sehen Landgrafen in Betreff der Bergischen Concordienformel,, 46 ver­ fassen. In der sehr höflich gehaltenen Schrift weisen die Fürsten auf viele Inhalte der Konkordienformel hin, die ihrer Meinung nach un­ ausgereift, einseitig oder mit "Affecten" sowie "exaggeration"47 ver­ fasst worden seien. Diese Haltung fand eine synodale Bestätigung durch die Generalsynode 158 1.48 Damit wurde die Konkordienformel ten vnnd eigenschafften warhafftig communicire Vnnd mittheile, Doch der ge­ stalt Das Keinne In die Andere verwandelt, noch einne der Andern gleich gemacht Werde Zwischen der Augspurgischen Confession Verwanthen Theologis ein Streit erwachsen Vnnd in diesem Fürstenthumb Auch einer massenn erreget, Welcher Aber Doch im Newen Concordienbuch nicht eigentlich Vnnd klar genug distin­ guirt, decidiret vnnd Also erklaret Ist, Das hiermit vnns Allen Zugleich genung geschehen, Alle fernere Frage vnnd disputation es Verhutet vnnd genzlich Abge­ schnitten sein kontten" (Urkunde XII: Auszug aus dem Abschiede des Conventes zu Treisa, in: Heinrich Heppe, Geschichte der hessischen Generalsynoden von 1568-1582. Nach den Synodalakten zum ersten Male bearbeitet und mit einer Urkundensammlung, 2 Bde., Kassel 1847, I, 113); vgl. Wicke, Renitenz (wie Anm. 32), 20. 46 Urkunde XIII: Sammterklärung der vier hessischen Landgrafen in Betreff der Ber­ gischen Concordienformel, in: a.a.O., 115-130. Gleich zu Anfang des Schreibens drücken die Fürsten ihr Empfinden aus: "Nun haben wir bemeldt Bergisch buch inmitte1st etzlichenn vnsernn vornehmenn Theologen mitt nottwendigenn erin­ nerungen vorgehaldtenn, auch selbst zu etzlichenn mahlenn mitt vleiß durch­ leßenn gegen dem vorigenn Torgaischen exemplar conferirt vndt erwogen vnnbt befinden das solches in denn meisten Punkten Cristlich vnndt wol gesteldt, also das der Authorum vleiß billich zu lobenn, in etzlichen Punktenn aber, befinden wir nochmals das vnsere vorige guthertzige vnndt notwendige erinnerungenn wenig in acht genohmenn Sondern das die Authores einestheils, wie sie aller menschenn seindt, mehr vff jhr privat affectiones vnndt darmitt ihre scripta vnndt ausgebreitte opiniones approbiert, als die Religion selbst vndt unserer lob­ lichen vorfahern Ehr vnndt Authoritett erhaldten wurde, gesehenn habenn, Wel­ ches, wo es nicht emedirt, wir nicht sehenn wie dies vorhabendt Christlich wergk zu gewunschtem ende gebracht vnndt bestendiglich erhaldten werdenn mochte" (a.a.O., 115t); vgl. Wicke, Renitenz (wie Anm. 32), 2 l . 47 Vgl. a.a.O., 124. 48 Die Generalsynode entschied, dass bezüglich des "Articulo de persona Christi [ ... ] nach inhaldt Prophetischer vnd Apostolischer schrifft, der dreyen heupt Symbo­ len, bewerter alter Oecumenicorum Conciliorum, Epistolae Leonis ad Flavianum,

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außen vor gelassen bzw. indirekt kritisiert und in Hessen endgültig nicht angenommen. Man muss allerdings beachten, dass in konfessioneller Hinsicht die Lage der hessischen Landeskirche von Anfang an nicht deutlich war. Als Anknüpfungspunkte fiir diese Behauptung seien hier unter ande­ rem der Einfluss Martin Bucers ( 149 1- 155 1) auf die Reformation in der Landgrafschaft Hessen,49 die Einführung der bereits genannten "Mauritianischen Verbesserungspunkte" und der "Rezess" vom 14. April 164850 genannt. Diese Voraussetzungen führten dazu, dass wäh­ rend sich die Oberhessen eher als Lutheraner verstanden, die Nieder­ hessen um die konfessionelle Identität kämpften. Im 19. Jahrhundert zeigte sich das anhand des sogenannten "Streits um den Konfessions­ stand der niederhessischen Kirche". Während einige Theologen mit dem Hinweis auf die Mauritianischen Reformen von 1607, auf die Verwendung des Heidelberger Katechismus und auf die fehlende Kon­ kordienformel den reformierten Charakter der niederhessischen Kirche auszumachen versuchten, behaupteten andere - unter ihnen sehr ve­ hement August Vilmar -, dass die niederhessische Kirche lutherisch sei.51

Augspurgischer Confession, Apologia vnd Schmalkaldischer Artiml zu glauben vnd zu lehren vnd jren Consens bey diesem Articul auff itzt bemeldte schriffte zu gründen, auch in erklerung dieses hohen geheimnüs, wan es die notturfft er­ fordert, allein die in denselben schrifften verfaste phrases einfeltig vnd ohn alle spitzfündigkeit zugebrauchen, sonsten aber alle ungewöhnliche vnnötige vndienstliche fürwitzige disputirliche und vff zanck auslauffende fragen vnd newe art zureden, nach der trewen warnung des Apostels Pauli, hindan zu setzen, vnd sich der dabevor bey lebzeiten vnsers alten G. F. vnd Herrn Hochlöblicher vnd seeliger gedechtnüß wolhergebrachter kündlicher eintracht vnd friedfertikeit trewlich vnd ohne alle geferde, zugehalten" ("Abschied der Generalsynode von 1581", abgedruckt in: August F. C. Vilmar, Geschichte des Confessionsstandes der evangelischen Kirche in Hessen, besonders im Kurfürstentum, Marburg 1860, 302f; vgl. Wicke, Renitenz [wie Anm. 32], 21). 49 Vgl. Matthieu Arnold/Berndt Hamm (Hg.), Martin Bucer zwischen Luther und Zwingli (Spätmittelalter und Reformation 23), 2003. 50 Recess, 901; vgl. Vilmar, Bekenntnis (wie Anm. 3), 4f. 51 Vgl. Wilhelm Hopf, August Vilmar. Ein Lebens- und Zeitbild, 2 Bde., Erlangen 1912f, H, 242ff.

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Doch was heißt lutherisch nach Au �ust Vilmar? In der "Evangeli­ schen Kirchenzeitung" vom Juni 1855 2 schreibt er, dass die Bezeich­ nung "lutherisch" nicht "gehörig zu der durch die Concordienformel abgeschlossenen Lutherischen Kirche [heißt], sondern lutherisch heißt hier: alles, was eben nicht durch directe und förmliche Anschließung an die ,refonnirte' Kirche sich von dem ursprünglichen Zusammenhange mit der durch Luther angeregten und bestimmten Refonnation losgerissen, sondern

diesen

Zusammenhang

namentlich

auch

in

der

alten

,lutherischen' Liturgie bewahrt hat. Lutherisch in diesem Sinne wollte man in Kurhessen sein".53

Die hessische Kirche "ist - man darf sich diese rechtsgeschichtliche Wahrheit nicht durch dogmatische Forderungen aus den Augen rü­ cken lassen - unionistisch lutherisch, so lutherisch, daß unter diesen Begriff beide Hessischen Kirchen, die Hessisch-Lutherische und die Hessisch-Reformirte, beide ohne Concordienformel, als eine Landes­ kirche, die man, eben in diesem Sinne, lutherisch nennen kann, zu­ sammengehören".54 Allerdings habe sich die hessische Kirche nirgends namentlich gegen die Konkordienformel ausgesprochen.55 August Vilmar unterscheidet also zwischen lutherisch im weiteren, d.h. ohne die Konkordienformel und das "Reformierte" umfassend, und im en­ geren Sinne, d.h. mit der Konkordienformel.56 Ob August Vilmar Recht hat oder ob das überhaupt möglich ist, sei zunächst dahingestellt. Das ist nicht das Thema hier. Worauf ich da­ rauf hinweisen möchte, ist die Tatsache, dass die Renitenz ab 1873 sich zwar als eine lutherische Kirche verstand, dies aber in der Tradi­ tion der hessischen Kirche tat, d.h. ohne die Konkordienformel als Be­ kenntnisschrift. Noch einmal: mir geht es nicht darum, diesen Um­ stand zu verteidigen oder gar zu behaupten, dass das möglich oder richtig sei.

52 Vgl. a.a.O., 244ff. 53 August F. C. Vilmar, Die kirchlichen Fragen in Kurhessen, EKZ 47 -50 (1855), 489-524, 498. 54 A.a.O., 510 (Hervorhebungen im Original). 55 A.a.O., 499. Das stimmt allerdings historisch nicht, wenn man die Konventsent­ scheidung und die "Sammterklärung" der Landgrafen von 1577 sowie die Syno­ dalentscheidung von 1581 berücksichtigt. 56 Vgl. a.a.O., 521f.

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Gi/berto da Silva

Ich möchte hier lediglich auf das ökumenische Verhalten der Reni­ tenten und ihrer Partnerkirchen trotz (oder gar wegen?) dieser Proble­ matik mit der Konkordienformel hinweisen. Hierzu sind ein paar ge­ schichtlichen Details vonnöten: Der aus der Spaltung von 1874 ent­ standene "Hornberger Konvent" nahm anlässlich der Vereinigung mit der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in Hessen-Darm­ stadt zur Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessi­ schen Landen 1893 die Konkordienformel in seinen Bekenntnisschrif­ tenkanon formal auf.57 Somit blieb nur der "harte Kern" der hessischen Renitenz,der frühe Melsunger Konvent,ohne Konkordienformel. Doch trotz dieses Umstands - und das ist hier eben der Punkt - beschlossen die Renitente Kirche ungeänderter Augsburger Konfession und die Selbständige Ev.-Luth. Kirche in den hessischen Landen 19 10 ein Kon­ föderationsstatut58 und pflegten Kirchengemeinschaft miteinander. Im Jahr 1947, als sich die Hannoversche eV.-luth. Freikirche, die EV.-luth. Hermannsburg-Hamburger Freikirche und die Selbständige ev.-luth. Kirche in Hessen sich zur "Selbständigen eV.-luth. Kirche in Hessen und Niedersachsen" zusammenschlossen, schrieben sie in der Verfassung des neuen Kirchenkörpers: "Die , Selbständige eV.-luth. Kirche' bekennt sich zu der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments, welche die einzige Richtschnur ist, nach der alle Lehren und Lehrer beurteilt und gerichtet werden sollen, und deshalb

zu

den

Bekenntnisschriften

der

evangelisch-lutherischen

Kirche, in welchen die schriftgemäße Lehre klar bezeugt ist, nämlich: den drei ökumenischen Symbolen, dem apostolischen, dem nicänischen und

dem

Konfession Artikeln,

athanasianischen, von

1 53 0

der

ungeänderten

und deren Apologie,

den

Augsburgischen Schmalkaldischen

dem Großen und Kleinen Katechismus Luthers und der

sofern die letztere auch schon zu dem bisherigen Bekenntnisstand gehört hat. Sie ist demgemäß Kirche im Sinn von Konkordienformel,

Augustana VII."59

57 Vgl. Richard Lucius, Die Entstehung und Entwicklung der selbständigen evange­ lisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen, in: Karl Müller (Hg.), Die selbständige evangelisch-lutherische Kirche in den hessischen Landen, Elberfe1d 1906, 9-42, 34ff. 58 Text in Klän/da Si/va, Quellen (wie Anm. 5), 591. 59 A.a.O., 603 (Hervorhebungen: GdS).

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Der mit "sofern" beginnende Satz (sog. "Quatenus- Satz") erklärt sich aus dem Versuch, die Melsunger Renitenz in die (alte) SelK mit hineinzunehmen. Ein Brief des Superintendenten der Selbständigen evangelisch-lu­ therischen Kirche, Heinrich Martin ( 1884- 1972), an den renitenten Superintendenten Heinrich Wicke vom 28. Oktober 1946 ist hierzu aufschlussreich: "Wir werden um den 1. Advent, wahrscheinlich in der Woche vorher, einen ausserordentlichen Kirchenkonvent halten, dem die Verfassung zur Beschlussfassung vorgelegt werden wird. Ich bitte Sie zu bewirken, dass bis dahin die ren. Kirche sich entscheidet, ob sie sich mit unsern drei Kirchen zu der ,selbständigen ev. luth. Kirche in Hessen und Niedersachsen' zusammenschliessen will oder nicht. Denn wenn es nicht der Fall sein sollte, kann die Bestimmung über die Kon­ kordienformel, die nur um der ren. Kirche willen hineingekommen ist, in Wegfall kommen. I [ ] Die Verfassung ist so freiheitlich gestaltet, wie es möglich ist, wenn ein grösseres Ganzes werden soll. Es wird für Ihre Kirche förderlich und für uns wertvoll, sein, wenn Sie sich mit uns zusammenschliessen werden. Im andern Fall werden wir die Ge­ meinschaft mit Ihnen halten wie bisher, und Sie werden das ja auch tun". 60 Bekanntlich gab es auch Druck auf die Renitenz, die Konkordien­ formel endlich formal anzunehmen, denn sie behaupteten ja dies be­ reits inhaltlich zu tun. Innerhalb der Renitenz selbst war dies jedoch nicht unumstritten. Doch 1950 erklärten die Renitenten: "Die unter­ zeichneten Vertreter der Renitenten Kirche erkennen die Bekenntnis­ schriften der Selbständ. eV.-luth. Kirche, einschließlich der Konkordi­ enformel und demgemäß die gemeinsame Lehrverpflichtung aller ihrer Geistlichen an.,, 61 Damit wurde der Anschluss der Melsunger Renitenz an die alte SelK 1950 vollzogen.62 Was ich in diesem ganzen geschichtlichen Prozess bemerkenswert finde, ist die Geduld, die Flexibilität, das Entgegenkommen, das Rin­ gen um die Verständigung, bis man endlich zu einem magnus consen­ sus (CA 1), zu einem großen Konsens kommt, der zur Gründung der heutigen SELK 1972 geführt hat. Darin steckt m.E. auch eine große Leistung der hessischen Renitenz. Ich möchte behaupten - und das ist meine zweite These -, dass es ohne diese "Flexibilität" der Renitenz . . .

Heinrich Martin, Brief an Sup. H. Wicke, 1946- 10-28 (Kirchen archiv der SELK: RKN 026), Hervorhebungen: GdS. 6 1 Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 5), 607f. 62 Vgl. a.a.O., 6 11f.

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Gilberto da Si/va

die heutige Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche nicht geben würde. Das Verhalten der Renitenz - und ihr gegenüber von Seiten der anderen selbstständigen Lutheraner - innerhalb der Ökumene un­ ter den selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen hat unter anderem die notwendige Geduld und den gegenseitigen Respekt ge­ bracht, die den Zusammenschluss zur SELK ermöglich hat. Wo die Renitenz nicht präsent war, wie in der ehemaligen DDR, ist die Ge­ schichte ganz anders verlaufen. Aber das ist eben eine ganz andere Geschichte.