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German Pages 96 [100] Year 2019
Copyright © 2019 Edition Ruprecht ISBN: 9783846997178
Christoph Barnbrock, Achim Behrens, Christian Neddens, Jorg Christian Salzmann, Gilberto da Silva, Andrea Grünhagen, Robert Kolb, Christian Neddens, Christian Stäblein, Volker Stolle, Hans-Jörg Voigt
Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02–03/2019 – ganzes Heft
Edition Ruprecht
ZU DIESEM HEFT Liebe Leserin, lieber Leser! Das vorliegende Doppelheft von Lutherische Theologie und Kirche ist geprägt von drei großen Veranstaltungen. Zunächst greifen wir zurück auf das Jahr 2017, wo im Zuge des Reformationsgedenkens auch der 200. Wiederkehr der Einführung der Preußischen Union gedacht wurde. Die Union Evangelischer Kirchen (UEK) und die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) haben aus diesem Anlass ein „Gemeinsames Wort“ verabschiedet, das auch in dieser Zeitschrift dokumentiert wurde.1 Solche Texte sind dann mehr als geduldiges Papier, wenn sie in den Kirchen, die sie verabschiedet haben, auch „spazieren geführt“ werden. So hat die Gemeinde zum Guten Hirten der SELK in Guben im Juni 2018 den Propst und Stell‐ vertreter des Bischofs der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz, Christian Stäblein, und den Bischof der SELK, Hans-Jörg Voigt, zu Vorträgen eingeladen, die wir hier gerne dokumentieren und als Anregung zum weiter Denken und Diskutieren verstehen wollen. Wie Stäblein zu Recht feststellt, folgt aus einem solchen „Gemeinsamen Wort“ noch nicht gleich volle Kirchengemeinschaft, ein Meilenstein innerevangelischer Ökumene ist es gleichwohl. Volker Stolle nimmt uns dann mit in die Zeit vor 100 Jahren. Unter dem Titel „Die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 für die selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen in Deutschland“ erschließt er ein spannendes Kapitel neuerer Kirchengeschichte. Das am Ende gescheiterte demokratische Experiment „Weimar“ stellte eben auch für traditionsbewusste Lutheraner eine mentalitätsgeschichtliche Herausforderung dar. Stolle nimmt hier zunächst eine deutliche „Aufbruchsstimmung“ auch in den konfessionell gebundenen lutherischen Kirchen wahr, die dann aber im Nationalsozialismus ausgebremst wurde.
1 Vgl. „Lasset uns wahrhaftig sein in der Liebe …“ Evangelische Unionskirchen und selbständige evangelisch-lutherische Kirchen 1817–2017. Gemeinsames Wort der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK), LuThK 42 (2018), 50–58.
64 Sodann kommen die Hauptreferate der diesjährigen Kirchensynode der SELK hier zum Druck. Christian Neddens stellt sich dem Synodalthema „Good News in a ‚Fake News World‘?“ und stellt zunächst klar, dass eine Verortung der Christen außerhalb einer „Fake News World“ (was immer das sein mag) nicht angeht. Die Kirche ist eben keine eigene „Blase“, die sich gegenüber dem Rest der Welt abschotten könnte. Vielmehr ist Kirche immer zur Kommunikation mit der Welt aufgerufen und wird dabei auch in den eigenen Reihen immer wieder „Fakes“ entdecken, die vor der Wahrheit Gottes von sich aus eben nicht bestehen können. Fünf Punkte stellt Neddens dann als Indizien einer gelingenden Kommunikation des Evangeliums in dieser Welt in der „Solidarität der Sünder“ auf. Glaube als Vertrauen scheint mir dabei eine zentrale Kategorie zu sein. Und eben diesen Begriff des Vertrauens stellt auch Robert Kolb in seinem Korreferat unter dem Titel „Das Evangelium in einer Fake News World“ in den Mittelpunkt. Auch Kolb geht es dabei um die Kommunikation der christlichen Kirche mit dieser Welt, was er auf die wunderbare Formel bringt: „Denn wir sind Gottes Plaudertaschen“. Der letzte Beitrag „Fromm und lutherisch – wie geht das?“ von Andrea Grünhagen geht auf ihr Referat auf dem 9. Lutherischen Kirchentag im Mai 2018 in Erfurt zurück. Zu diesem Text habe ich ein besonderes Verhältnis: Ungefähr eine halbe Stunde vor Beginn des Workshops, in dem Andrea Grünhagen ihr Referat halten sollte, rief sie mich an: „Mein Zug steckt fest! Du musst bitte in den Workshop gehen und schon mal anfangen. Ich komme dann noch ...“ Nun war ich auf das Thema nicht vorbereitet, aber der große Gesprächsbedarf aller Anwesenden wog das auf und machte zugleich deutlich, wie groß die Relevanz des Themas jedenfalls für die Kirchentagsbesucher war. Grünhagens Referat war dann ein guter Schlusspunkt für die Diskussion, die ausnahmsweise schon vorher stattfand. Ihr Potpourri von Möglichkeiten lutherischer Spiritualität sei hier einer breiteren Öffentlichkeit zur Lektüre angeboten. Prof. Dr. Achim Behrens
CHRISTIAN STÄBLEIN
200‐jähriges Gedenken der Kirchwerdung selbständiger ev.‐lutherischer Kirchen und evangelischer Kirchen der Union aus Sicht der Evangelischen Kirche der Union bzw. der Union evangelischer Kirchen (UEK)1 Über die Predigt gibt es keine zwei Meinungen zwischen unseren Kirchen, hat es auch nie gegeben, wenn ich es richtig sehe. In der Predigt hören wir – in, mit und unter den Worten eines Menschen – Gottes Wort, ausgelegt, auf heute bezogen. Worte, Predigtworte, sind etwas Kostbares, denn sie können in ihrer eigenen Weise lange wirken und sich, auch das gibt es, erst viel später entfalten. Niemand weiß, niemand kann machen, dass das Wort vom Ohr zum Herz kommt, das ist eine der Grundeinsichten Martin Luthers gewesen: „In die Ohren können wir wohl schreien“2, hat er gewohnt kräftig formuliert, am Ende ist es der Geist, der den Glauben wirkt, der das Wort im Herzen zu unserem werden lässt. Wann das ist? Wie das geht? Die Wege der Worte sind verschlungen, aber begeisternd, auch darüber keine zwei Meinungen, vermute ich, unter uns. Es hat etwas sehr Sprechendes, ja Symbolhaftes, dass es eine lange kaum beachtete Predigt ist, die im letzten Jahr das Grundgerüst des gemeinsamen Wortes der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und der Union der Evangelischen Kirchen in der EKD gebildet hat.3 Denn über diese eine Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt aus dem Jahr 1967 gibt es auch nicht wirklich zwei Meinungen unter uns: Es ist eine anrührende Predigt mit dem rechten Wort zur rechten Zeit – 1967, 150 Jahre Erinnerung an die preußi-
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Dieser Aufsatz ist ein nur leicht veränderter und um Anmerkungen ergänzter Vortrag zum im Titel genannten Gedenken in Guben am 4. Juni 2018. Der Stil der mündlichen Rede wurde beibehalten. Vgl. „Acht Sermon D. M. Luthers von jm geprediget zu Wittemberg in der Fasten“ (9.−16. März 1522), WA 10/3, 1,9: „In die oren künden wir woll schreyen.“ Vgl. Evangelische Unionskirchen (wie Anm. 1). LuThK 43 (2019), 65–72 DOI 10.2364/3846997185
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sche Union von 1817.4 Da also – wir werden das gleich noch hören, wenn wir hier den Brief an die Gemeinden5 aus dem letzten Jahr verlesen – erinnert der damalige Präsident der Kirchenkanzlei der EKU (Evangelische Kirche der Union) in der Marienkirche in Berlin in beeindruckend offener Weise an die Schatten, Schäden und Schuld, die eben auch zur Unionsgeschichte gehören. Es ist nicht nur eine preußische Erfolgsgeschichte, es ist auch die Geschichte von innerer Not und äußerer Bedrängnis, weil und wenn Union zu Uniformität, zu Zwang, zur Vorschrift entgleitet. Dass der König Friedrich Wilhelm III. das in seinem Aufruf 1817 ausdrücklich nicht gewollt hatte – ich zitiere: „Aber so sehr Ich wünschen muß, daß reformirte und lutherische Kirche in Meinen Staaten diese Meine wohlgeprüfte Ueberzeugung mit mir theilen möge, so weit bin Ich […] davon entfernt, sie aufdringen und in dieser Angelegenheit etwas verfügen und bestimmen zu wollen“6 –, ändert nichts daran, dass nur fünfzehn Jahre später genau das durch den König geschah: Verfügung, Zwang, und zwar ausgerechnet am zentralen Punkt evangelischen, lutherischen Selbstverstehens: der Feier des Gottesdienstes, die nun ganz und gar vereinheitlicht werden sollte. Die Union aus Sicht des Präsidenten der Kanzlei eben dieser Union zur festlichen Erinnerung 150 Jahre später eben nicht nur als Erfolg, sondern auch ihre Schatten und ihre Schuld zu erkennen und zu benennen, das ist 4
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Vgl. Friedrich Winter (Hg.), … daß Jesus Christus allein unser Heil ist. Brandenburgische Predigten aus drei Jahrhunderten, Berlin (DDR) 1989, 152–157. Wieder abgedruckt in: Franz-Reinhold Hildebrandt, Predigt zu Epheser 4, 15f., gehalten am 5.11.1967 [Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-JahrFeier der Union 1967], in: Jürgen Kampmann/Werner Klän (Hg.), Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen. Theologische Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller Bestimmtheit der Kirche, OUH.E 14, Göttingen 2014, 19−23. „Lasset uns aber wahrhaftig sein in der Liebe …“. Evangelische Unionskirchen und selbstständige evangelisch-lutherische Kirchen 1817–2017. Brief an die Gemeinden in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK), LuThK 42 (2018), 50 –58, sowie http://www.selk.de/download/SELK-UEK-2017_Brief-an-die-Gemeinden.pdf [Zugriff vom 30.01.2019]. Zitiert nach: Kabinettsordre Friedrich Wilhelm III. vom 27.9.1817, in: Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelischlutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen, OUH.E 6, Göttingen 22010, 33f., hier 33.
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das Berührende der Predigt von Hildebrandt 1967, das rechte Wort zur rechten Zeit. Nur hat es kaum einer bemerkt, jedenfalls waren die Adressaten, die damals noch vielfach so genannten „Altlutheraner“ gar nicht zum Gottesdienst geladen, hat es auch keine Reaktionen auf die Predigt gegeben, nicht mal veröffentlicht worden ist sie über zwei Jahrzehnte. Erst 1989 hat diese Predigt einer meiner Vorgänger im Propstamt, Friedrich Winter, „ausgegraben“ und ihr die angemessene Öffentlichkeit verschafft.7 2013 schließlich wurde sie zum Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Tagung – von da hat sie ihren Platz im Gemeinsamen Wort des letzten Jahres erhalten. Predigt – nein, keine zwei Meinungen über ihre Bedeutung und keine zwei über diese Predigt. Weil sie Schuld und Vergebungsbitte, Gemeinschaft und Offenheit anspricht. Weil sie nach Gott auf unseren verschiedenen Wegen sucht, weil sie Gott fragt, warum unsere Wege so sind, wie sie sind und wie sie auch sein könnten. Was eben jede Predigt auf ihre Weise tut. Und: Weil sie Wahrheit und Liebe anspricht und ins Verhältnis zu setzen sucht. Das, vielleicht das ist das ganz Besondere und für uns Wegweisende an dieser Predigt: Die Frage nach Wahrheit und Liebe und ihrem Verhältnis zueinander. Ich durfte als Mitglied im theologischen Ausschuss der UEK verfolgen, wie das Gemeinsame Wort zwischen SELK und UEK sich so entwickelt hat. In einer frühen Form hatten wir das, wie mir scheint nicht unberechtigte, Gefühl, dass man im Grunde die ganze Predigt Hildebrandts von 1967 in die Erklärung aufnehmen sollte. In der Form ist so was schwierig, hat man deshalb gelassen. So geht es mir jetzt auch: Im Grunde würde ich Ihnen am liebsten die ganze Predigt vorlesen – das hat ja etwas, wenn unser Denken und Reden immer als erstes eine Art Predigtnachgespräch, ein Predigtweitergespräch ist. Geht natürlich heute nicht. Auch wenn ich jetzt also nicht ausführlich zitiere, mögen Sie es so nehmen: als Predigtweitergespräch. Wir haben davon viel zu wenige. Wahrheit und Liebe. In Christus ist das eins. Nur in ihm. Für uns Menschen ist es oft eine Spannung. 1830, 1834, die Jahre danach: Das Bekenntnis zur Wahrheit nötigt die Lutheraner zu theologischem, liturgischem, grundsätzlichem Widerstand. Die Liebe zur Gemeinschaft und die Wahrheit, die nicht nur ja, sondern auch nein gebieten, treten in Spannung. Liebe ohne Wahrheit wird schnell Beliebigkeit, lasch. Wahrheit ohne Liebe wird kalter Dogmatismus, Rechthaberei. Es ist ziemlich genau das, was Franz-Reinhold Hilde7
Vgl. o. Anm. 4.
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brandt in seiner Predigt ausspricht. Und es ist ziemlich genau das, was uns Menschen in der Frage von Gemeinschaft und Trennung im Glauben bewegt. Liebe ohne Wahrheit wird unernstes Dauer-Ja ohne Kraft, ohne Grenzen. Wahrheit ohne Liebe wird kühler Solipsismus – das ist eine, ich sage jetzt mal groß: urprotestantische Anfechtung, die etwas mit dem zu tun hat, womit ich eingestiegen bin. Weil wir das Wort nur bis zum Ohr bringen, der Geist es aber zum Herz trägt, wo sein Wort unser Wort werden soll. Deswegen, weil das Subjekt, unvertretbar einzeln, Glauben erfährt und bewahrheitet, ist im Protestantismus so schnell jeder seine eigene Kirche, jede Ortsgemeinde, jede Pfarrerin, jeder Pfarrer seine Wahrheit, unmittelbar, unvertretbar. Wahrheit in Christus braucht aber auch Gemeinschaft, ist nicht ohne Liebe, das Wort deshalb nicht ohne das Zeichen, die Predigt nicht ohne das Sakrament des gemeinsamen Mahls. Christus ist Liebe und Wahrheit in eins, ganz und gar, und so feiern wir seine Gegenwart in Wort und Sakrament. Liebe und Wahrheit gehören zusammen – und bringen uns doch auch auseinander. Auf diese Zusammenhänge weist uns Hildebrandt in seiner Predigt 1967 hin. Und auch, wenn es Ihnen nicht so vorkommen mag, auch, wenn es Ihnen so scheint, als irrte ich noch ein wenig zwischen Unionsgedenken und unserer Geschichte hin und her – ich bin ganz nah bei heute und morgen. Damit das deutlich wird, erzähle ich jetzt zwei kleine Geschichten. Und dann wird auch schon summiert. Als ich 2015 Propst dieser unierten EKBO (Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz) wurde, wurde mir meine lutherische Herkunft bewusst. Als Kind der Landeskirche Hannovers bin ich in einem lutherisch geprägten Pfarrhaus in einer Kirche aufgewachsen, die sich ihres milden Luthertums rühmt. Als ich also hierher kam, führte ich so hübsche Worte im Munde wie: Die Union der EKBO ist ja „nur“ eine Verwaltungsunion, heiße – dachte ich: Hier werden also lutherische und reformierte Gemeinden gemeinsam verwaltet, aber jede habe ihr Bekenntnis. Diesen Unsinn habe ich genau einmal bei einem Grußwort gesagt, dann stand Wilhelm Hüffmeier, einer der Nachfolger von Franz-Reinhold Hildebrandt als Präsident der Kanzlei der EKU, auf und sagte: „Ach, lieber Propst, Sie kommen ja aus Hannover, Sie werden also noch lernen, dass Verwaltungsunion ein etwas törichter Begriff ist, wenn man zusammen Abendmahl feiert.“ Wer die Sakramente zusammen feiert und verwaltet, legt ja nicht Aktendeckel zueinander, sondern das Herz des Glaubens. Eine gute Mahnpredigt für den jungen Propst Stäblein.
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Sie führt ins Zentrum: 1817 ruft der König zur Union auf und ermutigt zur von nun an gültigen gemeinsamen Abendmahlspraxis zwischen Reformierten und Lutheranern – ohne, dass hierüber ein gemeinsames, theologisches einheitliches und verbindliches Verständnis gefunden ist. Ja, es bleibt – unter der Überschrift der Gemeinschaft in den theologisch entscheidenden Fragen, insbesondere und als allererstes in der Rechtfertigungslehre – ausdrücklich offen, ob hier nun alle annehmen, dass Jesus Christus im Mahl real präsent ist oder es sich um eine Zeichen-, eine Erinnerungsgemeinschaft handelt. Ritusunion oder rituelle Union – das ist der Ausgangspunkt, aber eben auch in einer gewissen Aussparung theologischer Wahrheitsklärung in dieser Frage. Mit gutem Grund? Weil diese Klärung sich in jedem gemeinsamen Vollzug neu einstellt? Weil die Sache selbst hier womöglich dadurch zustande kommt, dass man sie voraussetzt, um es mit einem Wort Schleiermachers zu sagen?8 Weil genau hier die Integrationskraft des Liebesmahls Jesu liegt? Weil die Wahrheit nur situativ, nur geschichtlich, nur individuell eingeholt werden kann – gerade am Punkt der Präsenz Christi in Brot und Wein? Deshalb mit gutem Grund Ritusunion vor Bekenntnisunion? Oder mit eben nicht gutem Grund, weil so – fast schon ritualisiert – verwischt wird, was auf keinen Fall verunklart werden darf: die reale Präsenz Christi in den Gaben? Gottesdienstpraxis bildet Bekenntnis ab, schafft immer neue Identität in diesem Bekenntnis und erneuert es so – aber wie soll das gehen, wenn das Bekenntnis und die Glaubensidentität in der Praxis selbst offengehalten werden? Sie sehen, suchend, fragend versuche ich die unterschiedlichen Herangehensweisen zu formulieren. Ich erlaube mir, es noch weiter zu elementarisieren und zugleich noch ein Stück mehr an heute heranzuholen: Wird meine Kirche und meine Glaubenspraxis mehr bestimmt von der Suche nach Integration und Offenheit – möglicherweise an der Grenzlinie zur Beliebigkeit und also auf Kosten von Klarheit und Profil? Oder bestimmen zunächst Klarheit und profilierte Identität – möglicherweise an der Grenzlinie zur Starrheit und also auf Kosten von Offenheit und Freiheit? Es ist ja nicht so, dass diese Linien nicht stets zunächst auch in unseren jeweiligen Kirchen und 8
Vgl. Schleiermacher in seiner Vorrede „An Herrn Prediger Stubenrauch zu Landsberg an der Warthe“, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung (1801−1820) mit den Varianten der Neuauflagen (1806−1826), hg. v. Günter Meckenstock, KGA Bd. 1/3, 5−9, 9: „Vielleicht kommt auch die Sache dadurch wieder zu Stande, daß man sie voraussezt.“
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Gemeinden zu finden wären, in der EKBO jedenfalls gibt es stets diesen Wechselschritt und diese Suche zwischen Identität, Vielfalt und Offenheit, zwischen Uniformität hier und Beliebigkeit dort – oft genug sind wir in schönen Auseinandersetzungen darüber, was der richtige Weg ist. Bei Euch ist ja alles möglich, ein schlimmerer Beliebigkeitsladen als Toyota, sagen dann die einen. Ihr seid zwar ganz entschieden, aber wehe es kommt einer, rufen die anderen zurück und schieben hinterher: Wahrscheinlich ist dann ja auch bald keiner mehr da. So klingt es elementar und gegenwärtig – aber so sind es natürlich auch Klischees und gerade zuletzt recht stark von der Frage der Resonanz und der Größe einer Gemeinschaft bestimmt. Kann das eigentlich ein Argument sein? Wahrheit wird ja nicht darüber entschieden, ob sich einer Sache möglichst viele anschließen. Nun, schon der König war allerdings der Versuchung erlegen im 19. Jahrhundert, die Frage der Wahrheit zu einer Frage der Mehrheit bzw. der Einheit zu machen – und schnell wurde aus Union erzwungene Uniformität. Dass über Wahrheit heute, im 21. Jahrhundert, noch viel mehr über die Parameter Resonanz, Wahrgenommen-Werden, Größe, Zahl entschieden wird, macht die Sache nicht leichter. Wie gehen wir damit um? In den Kirchen? Zwischen den Kirchen? Wahrheit und Liebe und ihre Spannungsverhältnisse. Ich komme gleich darauf zurück. Zunächst die zweite kurze Geschichte, genauer: eine zweite Person, die mir begegnet ist im Kommentieren der Predigt von FranzReinhold Hildebrandt. Der erste war Wilhelm Hüffmeier. Der zweite ist Volker Stolle, lange Jahre Professor für Neues Testament in Oberursel, also Professor im Dienst der SELK. Ich sehe ihn vor mir, viele Jahre habe ich mit ihm im Vorstand eines Vereins für Zeugnis und Dienst unter Christen und Juden gesessen, das christlich-jüdische Verhältnis lag und liegt ihm und mir am Herzen, diesem freundlichen, leisen, immer präzisen Bruder. Auch er kommentiert die Predigt von Hildebrandt und schließt dann ganz überraschend mit dem Satz: „Wenigstens anmerken möchte ich zum Thema Union noch die Frage des christlich-jüdischen Verhältnisses. Welche Formen des gemeinsamen Zeugnisses und Dienstes ergeben sich zwischen Kirche und Synagoge unter dem verbindenden Bekenntnis zu dem einen
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Gott Israels?“9 Als ich das gelesen habe, habe ich für einen Moment gedacht: Wie kommt er jetzt darauf? Aber dann wurde mir klar, wie klug sein Gedanke ist: Das Gespräch von Christen und Juden ringt um die Frage, wie weit man gemeinsames Zeugnis ablegen kann, wenn einen zentrale Aussagen weiter trennen. Wie viel stärker trotzdem das umfassend Verbindende – und wie sich das abbildet. Das Gespräch zwischen Christen und Juden ist zugleich eine Geschichte, die vorführt, wie schwer, wie entsetzlich Trennungen sind, die aus allernächster Nähe geschehen – nicht aus großer Distanz, sondern aus der Nähe, aus tiefster Verbundenheit. Trennung ist immer eine Geschichte, die aus Nähe geschieht. Und umso größer der Schmerz, die Schuld, das Beschämen. Wenn das Ringen um Wahrheit dafür sorgt, dass Liebe und Gemeinschaft nicht bleiben können. Das ist das Große, was Hildebrandt vor einundfünfzig Jahren ansprechen konnte. Und es ist die bleibende Frage an uns, an das Verhältnis von UEK und SELK: Wie können wir das umfassende Gemeinsame in unserem Zeugnis stark machen, ohne die Differenzen zu überspielen – vor allem: ohne das Gegenüber zu vereinnahmen? Und, das sage ich selbstkritisch: Die Gefahr von vereinnahmendem Erdrücken liegt natürlich vor allem bei den großen Unionskirchen. Dass wir die Wahrheit des anderen gar nicht richtig wahrnehmen. Dass wir meinen, darüber wegsehen zu können. Das geht ja schnell, dass man sagt: so, Schuld ist bekannt, nun aber mal ruckzuck: Kirchengemeinschaft. Nein, so soll nicht gesprochen werden. Gut, dass wir heute hier sind. In Guben, bei der traditionell starken SELK-Gemeinschaft. Danke dafür, danke ausdrücklich! Liebe und Wahrheit – ganz ist sie nur in Christus, wir müssen mit Spannungen leben, wir dürfen mit Vielfalt leben. Dass der andere ist, ist ein Reichtum – auch für mich, weil das Gespräch, der Dialog mich mündig macht – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich lerne, im Gespräch meine Position zu formulieren und den anderen besser zu verstehen. Und dann mit ihm und auch mit mir zu ringen – wenn Liebe nicht Belanglosigkeit und Wahrheit nicht beliebig sein soll, gehört zum Dialog auch das Ringen. Von der Liebe umfangen. Und im Dienst der Liebe Gottes. Dabei geht dann auch vieles zusammen – was, ist allerdings immer wieder die Frage. Ich bin neugierig zu hören, was in einem Ort wie Guben Gemeinden vor Ort miteinander an 9
Volker Stolle, Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967, in: Kampmann/Klän (Hg.), Preußische Union (wie Anm. 4), 32−42, 42.
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Gemeinsamem wie auch an Gespräch haben. (Es gibt ja manche, die sagen: von Union zu reden, war im Grunde ein kirchenpolitisch überambitioniertes Projekt des 19. Jahrhunderts. Wäre doch gleich von Kirchengemeinschaft gesprochen worden, in der jede Kirche noch selbst bleiben darf und in keine Union gezwungen wird, die mit Zwang sich selbst widerlegt. Ist richtig. Aber: auch der Begriff Kirchengemeinschaft ist kein Allheilmittel. Wichtiger ist das Gespräch, das Ringen um Wahrheit vor Ort und das genaue Schauen, welcher Dienst in Liebe gemeinsam möglich ist.) Ein gemeinsamer Dienst geht jedenfalls immer: das Predigtgespräch, das Predigtnach- und -weitergespräch. Es ist ja der Kern, dass wir im reformatorischen Gefolge auf das Wort setzen – auf diese schwächste aller Kommunikationsformen. Bilder sind – auf den ersten Blick – vermeintlich stärker, das lernen wir Jahr um Jahr mehr. Berühren, halten, festhalten – auch das ist natürlich stärker als das Wort, sogar das Riechen ist unmittelbar bezwingender, dafür muss man nicht das Parfüm gelesen haben; zu wissen, was Liebe ist, reicht schon. Das Wort – ganz schwach, nur bis ins Ohr, der Geist zum Herz –, weil die größtmögliche Freiheit, der geringstmögliche Zwang, die scheinbar größte Schwäche, die zur Stärke wird: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig, oder, wie wir neuerdings in revidierter Lutherbibel übersetzen: vollendet sich in der Schwachheit (II Kor 12,9). Braucht manchmal fünfzig Jahre, wie bei der Predigt von Hildebrandt. Aber dann, seht, welche Kraft dieses unser Gespräch hat. Seht, welche Perspektive das gemeinsame Wort hat. Darauf hoffe ich – mit Gottes Hilfe.
HANS-JÖRG VOIGT
200-jähriges Gedenken der Kirchwerdung selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen und evangelischer Kirchen der Union aus der Sicht der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche (SELK)1 1. Wie das alles begann – eine ökumenische Sehnsucht schlecht umgesetzt Liebe Schwestern und Brüder, herzlichen Dank für die Einladung heute Abend nach Guben zum 200-jährigen Gedenken der Kirchwerdung selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen und evangelischer Kirchen der Union. Im Wesentlichen sind es vier sehr lange Schachtelsätze, mit denen alles begann. Sie wurden vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. gesprochen und veröffentlicht: „Schon Meine, in Gott ruhende erleuchtete Vorfahren, der Kurfürst Johann Sigismund, der Kurfürst Georg Wilhelm, der große Kurfürst, König Friedrich I. und König Friedrich Wilhelm I. haben, wie die Geschichte ihrer Regierung und ihres Lebens beweiset, mit frommem Ernst es sich angelegen sein lassen, die beiden getrennten protestantischen Kirchen, die reformirte und lutherische, zu Einer evangelischen, christlichen in Ihrem Lande zu vereinigen. Ihr Andenken und Ihre heilsame Absicht ehrend, schließe Ich Mich gerne an Sie an, und wüsche ein Gott wohlgefälliges Werk, welches in dem damaligen unglücklichen Sektengeiste unüberwindliche Schwierigkeiten fand, unter dem Einfluße eines besseren Geistes, welcher das Außerwesentliche beseitiget und die Hauptsache im Christenthum, 1
Aus der öffentlichen Einladung: „Veranstaltung zum 200-jährigen Gedenken der Kirchwerdung selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen und evangelischer Kirchen der Union als Begegnung der gemeindeleitenden Organe (Gemeindekirchenrat und Kirchenvorstand) mit kirchenleitenden Vertretern beider Kirchen und Einladung an die Gemeinden der Region und der Stadt Guben am Montag, 4. Juni 19:00 Uhr Kirche Des Guten Hirten (SELK) – Straupitzstraße 1“. LuThK 43 (2019), 73–82 DOI 10.2364/3846997192
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worin beide Konfessionen Eins sind, festhält, zur Ehre Gottes und zum Heil der christlichen Kirche, in Meinen Staaten zu Stande gebracht, und bei der bevorstehenden Säkular-Feier der Reformation damit den Anfang gemacht zu sehen! … Auch hat diese Union nur dann einen wahren Werth, wenn weder Überredung noch Indifferentismus an ihr Theil haben, wenn sie aus der Freiheit eigener Überzeugung rein hervorgehet, und sie nicht nur eine Vereinigung der äußeren Form ist, sondern in der Einigkeit der Herzen, nach ächt biblischen Grundsätzen, ihre Wurzeln und Lebenskräfte hat. So wie Ich Selbst in diesem Geiste das bevorstehende Säkularfest der Reformation, in der Vereinigung der bisherigen reformirten und lutherischen Hof- und Garnison-Gemeine zu Potsdam, zu Einer evangelisch-christlichen Gemeine feiern, und mit derselben das heilige Abendmahl genießen werde: so hoff Ich, daß dies Mein Eigenes Beispiel wohlthuend auf alle protestantische Gemeinen in Meinem Lande wirken, und eine allgemeine Nachfolge im Geiste und in der Wahrheit finden Möge. … Potsdam, den 27sten September 1817, 2 Friedrich Wilhelm.“
Diese „Verordnungen und Bekanntmachungen des Königl. Konsistorii der Provinz Brandenburg“ auch „Kabinetts-Ordre“ genannt, wurde am 27. September 1817 erlassen also im Jahr 2017 vor 200 Jahren. Wenn wir uns für einen kurzen Moment diesen Text, der von Rulemann Friedrich Eylert, Berater und Seelsorger des Königs auf dessen Bitte hin verfasst worden war, etwas genauer anschauen, so schreibt König Friedrich Wilhelm III. hier von seinen „in Gott ruhende(n) erleuchtete(n) Vorfahren“, die es sich haben „angelegen sein lassen, die beiden getrennten protestantischen Kirchen, die reformirte
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Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam. Jahrgang 1817, 356f. Im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin | HA Rep. 89 Nr. 22722 Bl. 46f findet sich auch der handschriftliche Entwurf der Unionsurkunde verfasst von Rulemann Friedrich Eylert, seit 1806 Hof-, Garde- und Garnisonsprediger in Potsdam, sowie enger Vertrauter und Seelsorger des Königs. Vgl. Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelischlutherischer Kirchen in Deutschland, OUH.E 6, Göttingen 22010, 33f.
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und lutherische, zu Einer evangelische, christlichen in Ihrem Lande zu vereinigen.“ Damit erinnert der König an den brandenburgischen Kurfürst Johann Sigismund, der 1613 vom lutherischen zum reformiertcalvinistischen Bekenntnis übergetreten war und dieses zur Hof- und Beamtenreligion erhob. Einer der bereits vor 1817 unter diesen Entwicklungen hat leiden müssen, war der Liederdichter Paul Gerhard, der als Lutheraner die Unterschrift unter ein „Toleranzedikt“ nicht leisten wollte. Der Kurfürst Friedrich Wilhelm verfügte daraufhin am 4. Februar 1667 die endgültige Entlassung Paul Gerhardts. Ein Jahr später ging er nach Lübben, das damals zu lutherisch Sachsen gehörte. (Das verbinden wir als Altlutheraner mit den „in Gott ruhenden erleuchteten Vorfahren“). Um den König Friedrich Wilhelm III. im Jahr 1817 etwas besser zu verstehen, muss man wissen, dass er selbst, wie oben dargelegt, zur reformierten Kirche gehörte, während seine geliebte und verehrte Ehefrau, die schöne Luise3, aus dem lutherischen Mecklenburg stammte. Luise verstarb bereits 1810 in jungen Jahren. Sie wurde dann vom Volk und dem Ehemann als Idol verehrt. Dass er an der Vereinigung der lutherischen und reformierten Kirche ein persönliches Interesse hatte, dafür muss man Verständnis haben. Man kann mit einiger Wahrscheinlichkeit auch vermuten, dass er mit seinem Unionsvorhaben nach den blutigen Befreiungskriegen gegen Napoleon auch die Bedeutung der Vereinigung der verschiedenen Deutschen Kleinstaaten im Blick hatte. Das Selbstbewusstsein des Souveräns, des Königs erkennt man, wenn dieser mal eben Martin Luther, Ulrich Zwingli oder Johannes Calvin unter einem „damaligen unglücklichen Sektegeiste“ vereinigt und sich selbst hingegen „unter dem Einfluße eines besseren Geistes, welcher das Außerwesentliche beseitiget“4 sieht. Im Grunde genommen lässt sich das Unionsvorhaben König Friedrich Wilhelm III. auf Gespräche zwischen Martin Luther und Huldrych Zwinglis 1529 in Marburg zurückführen. Damals war es der hessische Landgraf Philipp der Großmütige, dem dringend an einer Einigung gelegen war. In 14 von 15 Artikeln konnte man Übereinstimmung in der Lehre tatsächlich feststellen. Lediglich im 3 4
Luise Herzogin zu Mecklenburg-Strelitz. Nach ihrer Heirat mit Friedrich Wilhelm III. war sie bekannt als Königin Luise Auguste Wilhelmine Amalie von Preußen A.a.O., 356.
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15. Artikel vom Heiligen Abendmahl war dies nicht möglich. Es heißt in diesem 15. Artikel: „Und wiewohl aber wir uns, ob der wahre Leib und das wahre Blut Christi leiblich in Brot und Wein sei, diesmal nicht verglichen haben, so soll doch ein Teil gegen den anderen christliche Liebe, sofern jedes Gewissen immer das leiden kann, erzeigen, und beide Teile Gott den Allmächtigen fleißig bitten, dass er uns durch seinen Geist den rechten Gebrauch bestätigen wolle.“5 Die entscheidende Frage für die Beurteilung der historischen Ereignisse um das Unionsedikt Friedrich Wilhelms III. lautet damit: Ist der im Jahr 1529 in Artikel 15 der Marburger Gespräche dargestellte Unterschied im Verständnis des Heiligen Abendmahls im Jahr 1817 zu einer Marginalie und vernachlässigbaren Kleinigkeit geworden? Der König war offenbar dieser Ansicht. Jedoch nicht alle seiner Untertanen folgten ihm hierin.
2. Die Zeit der Verfolgung Was geschah nun in der Folge der Unionsurkunde? Zunächst gar nicht viel. Erst vier Jahre später veröffentlicht der König eine Agende, ein Gottesdienstbuch, mit dem er die reformierte und die lutherische Tradition des Gottesdienstes zusammenführte. Die überwiegende Anzahl der Gemeinden und Pfarrer nahm diese Agende gern an. Man fragt sich: „Darf denn der König das?“ Die Antwort lautet einerseits „Ja“, denn er war der „Summus Episcopus“, der höchste Bischof seiner Kirche. Anderseits hätte er wohl besser daran getan, es nicht zu tun, denn zahlreiche der lutherischen Gemeinden besonders in Schlesien und Pommern lehnten die Einführung dieser Agende strikt ab. An diesen „einerseits – anderseits“ wird die gesamte Problematik der Einführung der Landesherren als nichtordinierte und auch nicht theologisch ausgebildete Notbischöfe der lutherischen Kirche erkennbar.
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„Und wiewol aber wir uns, ob der war leib und plut Christi leiblich im brot und wein sey, dißer zeit nit vergleicht haben, so sal doch ein teill jegen dem andern christliche liebe, sofer yedes gewiessen ymmer leyden kan, erzeigen und bedeteil, Got den almechtigen vleissig bidt[en], das er uns durch seinen gaist den rechten verstandt bestettig[en] wolle. Amen.“ Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 3 (Landgrafschaft Hessen, Politisches Archiv Landgraf Philipps des Großmütigen), StA MR, Best. 3, Nr. 245, 60r–64v, Blatt 63.
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Zentrum des Widerstandes gegen die neue Agende des Königs war die Hanse- und Universitätsstadt Breslau. Johann Gottfried Scheibel (1783–1843), seit 1811 Professor der Theologie in Breslau und Pfarrer (Diakonus) an St. Elisabeth in Breslau, Georg Philipp Eduard Huschke, (1801–1886), seit 1827 in Breslau Professor der Rechte und der Philosoph Henrich Steffen (1773–1845) bildeten den geistigen Kopf des Widerstandes. In den 1830iger Jahren verlor der König langsam die Geduld. Wenn er 1817 noch schrieb: „Auch hat diese Union nur dann einen wahren Werth, … wenn sie aus der Freiheit eigener Überzeugung rein hervorgehet, und sie nicht nur eine Vereinigung der äußeren Form ist, sondern in der Einigkeit der Herzen, nach ächt biblischen Grundsätzen sei,“6
so gab er diesen Grundsatz nun auf. Er begann ausgerechnet aus Anlass der 300. Jahrfeier des Augsburger Bekenntnisses damit, die Einführung seiner Agende mit Gewalt durchzusetzen. Auf der anderen Seite wussten insbesondere die schlesischen Lutheraner, wie Widerstand gegen den König funktioniert. Sie befanden sich bis zu den sogenannten „Schlesischen Erbfolgekriegen“7 unter österreichisch-habsburgischer Herrschaft, was für sie bedeutete, dass sie die Verfolgungen der Gegenreformation dort miterlebt hatten. Die Erinnerung an diese Zeit war noch nicht verblasst und das konfessionelle Bewusstsein der Lutheraner in Schlesien war vor diesem historischen Hintergrund stärker ausgeprägt als andernorts. Friedrich Wilhelm III. hatte den Widerstandswillen offenbar unterschätzt. Höhepunkt der Verfolgung war wohl das Jahr 1834, als am Heiligen Abend, der König ein Dragonerregiment in das schlesische Dorf Hönigern entsandte, um seine Agende zwangsweise einzuführen. Frauen und Kinder versammelten sich zusammen mit ihrem Pfarrer Eduard Gustav Kellner (1801–1878) um die Kirche und sangen Weihnachtschoräle. Die Soldaten, insgesamt 400 Mann Infanterie, 80 Reiter mit zwei Kanonen, vertrieben die Gemeinde mit Kolbenhieben und Verprügelungen von ihrer Kirche. Ein Schuss soll sich 6 7
A.a.O., 357. Im ersten Schlesischen Krieg von 1740–1742 besetzten preußische Truppen Schlesien, die von den evangelischen Bevölkerungsteilen als Befreier begrüßt wurden.
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dabei gelöst haben, was darauf schließen lässt, dass sie scharf geladen hatten. „Die Soldaten … legten die unierte Agende demonstrativ auf den Altar.“8 Das eigentliche Problem für die Gemeinde kam aber erst nach, denn die Dragoner wurden im Winter in die Häuser der Bauern einquartiert und aßen sich nach und nach durch Keller und Kammer und zwar so lange, bis sich der Gottesdienstbesuch normalisiert haben würde. In dieser Zeit saßen die Pfarrer aller lutherisch bleiben wollenden Gemeinden im Gefängnis. Die Gemeindeglieder begannen für deren Familien zu sorgen, während sie weiter genötigt waren, Kirchensteuer zu zahlen. Zahlreiche Familien kamen wirtschaftlich in Existenznöte und zogen die Auswanderung zunächst nach Australien und in die Vereinigten Staaten von Amerika vor. Erst nach dem Tod des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III., der am 7. Juni 1840 starb, nahmen die Repressionen nach und nach ein Ende. Mit einer sogenannten Generalkonzession erhielt Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen 1845 ihr Existenzrecht zugesprochen, wenn auch stark eingeschränkt. Es heißt da unter anderem: „Zur Entrichtung des Zehnten sollen die gedachten Lutheraner, wenn die zehntberechtigte Kirche oder Pfarrei eine evangelische ist, überall verpflichtet bleiben …“9
3. 150 Jahre später Man schreibt das Jahr 1967. Der Mauerbau zwischen Ost und West ist gerade einmal sechs Jahre her. Franz-Reinhold Hildebrandt10 8 Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 2), 29. 9 A.a.O., 89 10 Jürgen Kampmann/Werner Klän (Hg.), Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägung, OUH.E 14, Göttingen 2014, 19: „Franz-Reinhold Hildebrandt (1906-1991) gehörte als ostpreußischer Pfarrer aktiv zur Bekennenden Kirche und wurde darum von den Nazis verfolgt. Nach 1945 war er Propst in Quedlinburg und wirkte ab 1952 fast zwei Jahrzehnte lang als Präsident der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union. Regelmäßig predigte er in der Gruftkirche des Berliner Doms. Kurz nach dem 450. Reformationsgedenken hielt er am 5. November 1967 eine sehr textbezogene Predigt zur 150-Jahr-Feier der Union in der Marienkirche. Diese Feier wurde mit einer Tagung zum Thema ,Union und Ökumene‘ begangen. Besondere Beachtung fand, dass es in der Predigt zu einem Schuldbekenntnis gegenüber den Altlutheranern kam und zu einem Aufruf, in der Wahrheit und Bruderliebe zu wachsen.“
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steigt in Ost-Berlin auf die Kanzel der Marien-Kirche, um eine bewegende Predigt11 zu halten. Er hat ein Wort ausgewählt aus dem Epheserbrief, Kapitel 4,15–16 an: „Lasset uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist.“ In dem ausführlicheren Text den unsere beiden Kirchen, die UEK und die SELK, 2017 gemeinsam verabschiedet haben, kann man lesen: „Er (Hildebrandt, HJV) weist im Namen der Union auf die historische und ‚bis heute nachwirkende‘ Schuld hin, welche der preußische Staat und die mit ihm summepiskopal eng verwobene Landeskirche durch die Anwendung von Gewalt gegen Lutheraner in Preußen auf sich geladen haben. Hildebrandt sagt: ‚Wenn Schuld allein durch Vergebung bedeckt werden kann, so wollen wir diesen Tag nicht vorbeigehen lassen, ohne unsere altlutherischen Brüder um solche Vergebung zu bitten.‘ Obwohl Hildebrandts Predigt in den Publikationen der EKU zur Unionsfeier 1967 nicht veröffentlicht wurde, ist seine Bitte um Vergebung auf altlutherischer Seite wahrgenommen und in Berliner Gemeinden der selbstständigen Lutheraner zitiert worden. Sie eröffnet uns heute eine gemeinsame Sicht auf die Geschichte unserer Trennung und die Entdeckung unserer Verbundenheit in dieser Trennung und 12 über sie hinaus.“
Die 1967 in der Predigt ausgesprochene Vergebungsbitte hat die Adressaten seinerzeit nicht offiziell erreicht. Von wenigen Pfarrern und Gemeindegliedern besonders in einigen Berliner Gemeinden wurde er sehr wohl dankbar erinnert. Wie kam Hildebrandt dazu, nach einer Zeit gegenseitiger Frustration und Nichtwahrnehmung oder bitterer Polemik zwischen der Union und der Altlutherischen Kirche, eine solche Predigt zu halten? Hildebrand selbst sagt in seiner Predigt dazu folgendes:
11 Aus: Friedrich Winter (Hg.), … daß Jesus Christus allein unser Heil ist. Brandenburgische Predigten aus drei Jahrhunderten, Berlin (DDR) 1989, 152–157. 12 Evangelischer Pressedienst, epd, Dokumentation Frankfurt am Main, 23. Januar 2018, Nr. 4, 15.
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„Genau einhundert Jahre nach jenen beschämenden Vorgängen trat im Jahre 1934 die erste Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der Union zusammen. Es ist ein wunderbares Zeichen für die Führungen Gottes, dass damals Gemeinden unserer Unionskirche, die in ihren eigenen Kirchen keinen Einlass fanden, in den Kirchen der Altlutheraner ihre Gottesdienste halten durften. Die Kirche der Altpreußischen Union hat in jenen dunklen Zeiten des Einbruches der nationalsozialistischen Ideologie in die Kirche Christi in besonderem Maße von Gott die Kraft des Widerstandes und der Scheidung der 13 Geister erhalten.“
Die Verbundenheit, die in dieser Zeit zwischen unseren Kirchen entstanden ist, hat mit dem Bekenntniskampf zu tun, der von der „Bekennenden Kirche“ in dieser Zeit gegen die nationalsozialistische Ideologie und ihren Einfluss auf die Kirche aufgenommen wurde. Die Bekenntnisfrage bekam damals so zu sagen für alle überraschend eine verbindende Funktion. Wenn zum Beispiel die altlutherischen Handwerker und Bauern des kleinen Westerwalddorfes Gemünden14 mit Forke in der Hand den Gottesdienst der Bekennenden Kirche vor dem Zugriff der SA bewahrten, dann ist dies ein Zeichen dafür, wie in der Not Christen zusammenrücken und beieinander stehen. Etlichen Gemeinden der Bekennenden Kirche wurde in Kirchen der Altlutheraner Gastrecht gewährt, besonders in Berlin und Brandenburg.15
4. Ein Prozess der Aufarbeitung gemeinsamer Geschichte und Theologie zwischen UEK und SELK von 2008 und 201716 Gespräche zur Planung des 500. Reformationsjubiläum im Jahr 2017 in Wittenberg führten dazu, auch die 200. Wiederkehr der Einführung der Union in Preußen und die in Reaktion darauffolgende Bildung selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen gemeinsam zu bearbeiten und ihrer zu gedenken. Eine Tagung der Arbeitsgemein13 14 15 16
A.a.O., 21. A.a.O., 258. A.a.O., 243ff. Für die Zusammenfassung des Dialogprozesses zwischen UEK und SELK beziehe ich mich weithin auf meinen Gruß an die Vollkonferenz der UEK am 10. November 2017 in Bonn. Vgl. a.a.O., 4f.
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schaft Christlicher Kirchen (ACK) bot die Gelegenheit, dass der damalige Leiter des Amtes der Union Evangelischer Kirchen (UEK), Bischof Martin Schindehütte, und ich die Einsetzung einer Arbeitsgruppe verabredeten, die die gemeinsame Geschichte unserer Kirchen erhellen sollte. So bestimmten die Kirchenleitungen der SELK und das Präsidium der UEK eine bilaterale Arbeitsgruppe, in die von Seiten der UEK Oberkirchenrat Dr. Martin Heimbucher (bis 2013), Prof. Dr. Jürgen Kampmann, Privatdozent Dr. Henning Theißen und Oberkirchenrat Dr. Martin Evang (ab 2014) berufen wurden. Von Seiten der SELK wurden in die Arbeitsgruppe berufen: Prof. Dr. Werner Klän, Prof. Dr. Gilberto da Silva und meine Person. In insgesamt zwölf Arbeitstreffen der bilateralen Gruppe zwischen April 2010 und April 2015, die zumeist abwechselnd im Amt der UEK und im Kirchenbüro der SELK in Hannover stattfanden, wurde die Arbeit vorangebracht. Beide Seiten würdigten immer wieder dankbar die geistliche und geschwisterliche Gesprächsatmosphäre dieser Begegnungen. Mein Empfinden ist: Wir haben in diesem Prozess des gegenseitigen Verstehens Geschwister in Jesus Christus gewonnen – eine beglückende Erfahrung. Ein herausragendes Ereignis stellte innerhalb dieses Prozesses ein wissenschaftliches Kolloquium vom 26. bis 28. Februar 2013 in Wittenberg dar, auf dem unter kirchengeschichtlichen, systematischtheologischen und praktisch-theologischen Gesichtspunkten referiert wurde. Die Beiträge wurden von Prof. Kampmann und Prof. Klän als Herausgebern in einem Tagungsband17 zusammengefasst. (Kleine Randbemerkung: Nach Auskunft eines Kollegen in Münster hat sich der Band zum Geheimtipp für Examina in Kirchengeschichte entwickelt. Unsere gemeinsame Geschichte ist so schön überschaubar). Was bedeutet nun der Ertrag dieser Gespräche für die SELK? Für uns ist von großer Bedeutung, dass das Leid der Mütter und Väter unserer Kirche damals in Preußen heute gesehen erkannt wird. Wenn es in jenem Brief an die Gemeinden heißt: „Die UEK erkennt, dass Vorgängerkirchen und in ihr handelnde Personen an bekenntnisgebundenen Lutheranern schuldig geworden sind. Sie bittet die SELK um Vergebung: Die Schuld der Vergangenheit
17 Kampmann/Klän, Union (wie Anm. 10).
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möge das heutige geschwisterliche Verhältnis von SELK und UEK, 18 ihren Gemeinden und Mitgliedern, nicht mehr belasten“ ,
dann ist dies für die SELK eine bewegende und zugleich befreiende Erfahrung. Sie führt uns dazu, eigene historische Schuldanteile in den Blick zu nehmen und für „eine oft unangebrachte Härte abwertender Urteile gegenüber der Union und eine Neigung zur Selbstgenügsamkeit, die dem ökumenischen Ansatz und Anspruch lutherischer Theologie und 19 Kirche nicht gerecht komme“
um Vergebung zu bitten. Am 22. November 2017 wurde in einem ökumenischen Buß- und Dankgottesdienst das Gemeinsame Wort unterzeichnet und der Brief an die Gemeinden verlesen. Wir haben dies gemeinsam mit zwei Gemeinden, die auch in der Zeit des Nationalsozialismus enge Kontakte hatten, der lutherischen Gemeinde in der Annenstraße und der St. Thomas-Gemeinde in Berlin-Mitte, getan. Dies soll aber kein Endpunkt sein. Das uns verbindende Evangelium von Jesus Christus, von Kreuz und Auferstehung „ruft beide Kirchen zusammen mit der ganzen Christenheit zum Zeugnis in der Welt auf. Es mahnt sie zugleich, in den Bemühungen um Klärung der bestehenden Differenzen wie um befruchtende Zusammenarbeit nicht nachzulassen. Zu den hier sich stellenden Aufgaben gehören neben weiterer historischer Forschung gegenwärtig insbesondere: die Frage nach der Verbindlichkeit lehrhafter Bekenntnisse; die Frage der Abendmahlslehre und der Christologie in der Konsequenz der Leuenberger Konkordie; der Austausch über die jeweiligen agendarischen Entwicklungen; Fragen der Ekklesiologie und der Theologie des geistlichen Amtes.“ 20
18 A.a.O., 18. 19 Ebd. 20 A.a.O., 17.
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Die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 für die selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen in Deutschland1 Es geschah vor hundert Jahren: Da trat am 6. Februar 1919 in Weimar die Nationalversammlung zusammen, um nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine neue staatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen. Friedrich Ebert wurde am 11. Februar zum vorläufigen Reichspräsidenten gewählt. Am 31. Juli wurde dann die Weimarer Verfassung beschlossen, die von Ebert am 11. August unterzeichnet wurde. Damit war das gesellschaftliche Leben in Deutschland auf eine neue Grundlage gestellt. Und dies hatte signifikante Auswirkungen auf die Kirchen. Betroffen von diesem gesellschaftlichen Wandel waren auch die kleinen selbstständigen evangelischlutherischen Kirchen, denen jetzt unsere Aufmerksamkeit gilt.
Die Weimarer Verfassung Die Weimarer Republik verstand sich als auf den Willen des deutschen Volkes gegründet. Sie beanspruchte keine göttliche Legitimation. Die Präambel der Weimarer Reichsverfassung lautet: „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben.“ Damit war das Staatsvolk zum Souverän geworden, von dem alle Macht ausging. Alle Organe staatlicher Gewalt waren auf Zeit mit einem Auftrag betraut. Allein die Bürgerinnen und Bürger entschieden in Wahlen darüber, von wem sie sich vertreten lassen wollten. An die Stelle des Dreiklassenwahlrechts, das nur für Männer gegol1
Vorlesung anlässlich der Buchvorstellung Volker Stolle, Lutherische Kirche im gesellschaftlichen Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts, OUH.E 23, Göttingen 2019. Komprimierte Fassung des 4. Kapitels dieses Buches. LuThK 43 (2019), 83–98 DOI 10.2364/3846997208
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ten hatte, war nun das allgemeine Wahlrecht getreten. Frauen waren erstmals bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 stimmberechtigt. Diese neue Ordnung blieb den selbstständigen Lutheranern weithin innerlich fremd, weil man die damalige Lage gerade nicht als Ausdruck eines freien Willens des deutschen Volkes ansah, sondern als eine aufgezwungene Demütigung. Wesentlich stärker mentalitätsprägend als die selbst beschlossene Verfassung war der Friedensvertrag von Versailles mit seinen einschneidenden Folgen. Den handelten zur selben Zeit die Siegermächte unter sich aus, Deutschland unterzeichnete ihn unter Protest am 28. Juni 1919. Gottfried Nagel, seit 1921 Direktor des Oberkirchenkollegiums der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen (ELKP), sah eine „namenlose Not“ als wirkliche Grundlage der neuen Wirklichkeit: „Sie wurzelt in dem Weltkrieg, den wahrhaftig nicht unser Volk und seine Führer wollten, sondern unsre Feinde. Sie wurzelt in dem Zusammenbruch Deutschlands, dessen traurigste Begleiterscheinung die schmachvolle Revolution unseres eigenen Volkes war. Sie wurzelt endlich in dem Schanddokument, das unsre Feinde den Versailler Frieden nennen. Aber dieser Friede ist kein Friede. Diktiert nach gemeinem Bruch der feierlichen Abmachungen des Waffenstillstandes, erzwungen unter dem Würgegriff der Hungerblockade, erpreßt zuletzt durch neue Kriegsdrohungen bedeutet dieser sogenannte Friedensschluß, bei dem uns obendrein noch das lügnerische Geständnis der Schuld am Weltkriege abgepreßt wurde, eine Drachensaat siegestollen Völkerhasses“.2
Die Weimarer Verfassung hielt Nagel nicht einmal der Erwähnung wert. Und Werner Elert (1885–1954), damals Seminardirektor in Breslau, hielt in dieser Situation nur eine Opposition für möglich. Denn er sah in der demokratischen Öffentlichkeit keinen Raum für eine Öffentlichkeit des Christentums, da dieser rein formalen äußeren Ordnung eine innerliche Prägung fehle.3 Zwei konkrete Beispiele können diese Haltung verdeutlichen. In den selbstständigen lutherischen Kirchen hielt man an einem Denken fest, das zwischen Obrigkeit und Untertanen unterschied, 2 3
Gottfried Nagel, Unser Volk und seine Rettung, Breslau 1925, 3. Christian Neddens, Politische Theologie und Theologie des Kreuzes. Werner Elert und Hans Joachim Iwand (FSÖTh 128), Göttingen 2010, 143–145.
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obwohl sich mit dieser Struktur die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse nur reichlich abstrakt beschreiben ließen. Im allgemeinen Kirchengebet der ELKP wurde jetzt ohne Fokussierung auf bestimmte Amtspersonen mit Nennung von Titel und Namen, wie es vorher geschehen war, für die „Obrigkeit“ als solche gebetet: „Wir bitten Dich auch für unsere Obrigkeit. Gib ihr Verstand und Kraft, Demut und Mut, auf daß sie tüchtig sei, unseres Vaterlandes Wohl zu fördern. Auch unsere Ortsobrigkeit befehlen wir Dir.“4 Mit der persönlichen Zuspitzung unterblieben nun auch konkrete biblische Anspielungen, die an das alttestamentliche Königtum anknüpften. Ohne die biblische Begründung zurückzunehmen, mit der man zuvor die gesellschaftliche Unterordnung der Frau unter den Mann – unbeschadet der geistlichen Gleichheit aller Menschen vor Gott – gerechtfertigt hatte, ging man pragmatisch mit den neuen Verhältnissen um. Dabei wurde auch in den eigenen Reihen Frauen die Gelegenheit gegeben, sich zu äußern und zu organisieren und für eine besondere Sicht der Frauenpersönlichkeit zu werben.5
Die Kirchen im demokratischen Kontext Für die Kirchen insgesamt ergab sich eine ganz neue gesellschaftliche Verortung. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zu Ende gegangen und damit waren auch die Regelungen hinfällig geworden, die im Westfälischen Frieden 1648 für die drei Religionsparteien getroffen worden waren. Die Kirchen hatten sich danach allein im Rahmen der einzelnen Teilstaaten organisiert. Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 hatte daran nichts geändert. Auf ein gesamtstaatliches Kirchenrecht hatte man damals bewusst verzichtet, weil die Aufgabe als zu schwierig galt, als dass man sie hätte lösen können. Ausdruck dafür war der Kulturkampf.
4 5
Das allgemeine Kirchengebet, Einlegeblatt. Vgl. Hans Peter Mahlke, Die Frau in der Öffentlichkeit – ein Beitrag zur hermeneutischen Frage in der Geschichte selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland, LuThK 16 (1992), 1–28, dort 2–6; Volker Stolle, „Den christlichen Nichtariern nimmt man alles.“ Der evangelische Pädagoge Karl Mützelfeldt angesichts der NS-Rassenpolitik (MJSt 22), Berlin 2007, 17. – Bedeutend: Oberin Magdalene von Thiling (1877–1974), 1921–1930 Abgeordnete DNVP im Preußischen Landtag und 1930–1933 im Reichstag.
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So ist es als eine Glanzleistung der Nationalversammlung anzusehen, dass sie dies schwierige Thema bewältigte, und zwar so überzeugend, dass der entsprechende Artikel 137 später in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland einfach übernommen wurde. Die Regelungen erwiesen sich also als enorm nachhaltig, gelten sie doch bis heute. Die Weimarer Verfassung des Deutschen Reiches legte in Artikel 137 fest: „Es besteht keine Staatskirche.“
Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluß von Religionsgemeinschaften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen Beschränkungen. Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde. Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechtes. Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Schließen sich mehrere derartige öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften zu einem Verbande zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben. Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen. Soweit die Durchführung dieser Bestimmungen eine weitere Regelung erfordert, obliegt diese der Landesgesetzgebung. (Gilt weiter als Artikel 140 GG.) Damit hatten die Landeskirchen ihre Privilegien zwar verloren, waren aber nicht in den privatrechtlichen Sektor abgesunken, sondern blieben dem öffentlichen Recht zugeordnet. Das Staatswesen erhob für sich keinen Anspruch auf Christlichkeit mehr, gestand der religiösen Betätigung aber einen öffentlichen Charakter zu und er-
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kannte das Wirken der Kirchen als einen Dienst am Gemeinwesen an. Den Kirchen erwuchs daraus eine Unabhängigkeit von Einmischungen des Staates und zugleich gewannen sie eine besondere Wertschätzung und einen besonderen staatlichen Schutz. Allerdings war es jetzt auch anderen religiösen Gemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften möglich, gleichen Rechtsstatus zu beantragen.6 Die selbstständigen lutherischen Kirchen hatten damit öffentlichrechtlich grundsätzlich denselben Status wie die Landeskirchen. Die Bestimmungen des Art. 137 hatten zur Folge, dass die Generalkonzession der ELKP von 1845 und die Waldeckische Konzession für deren Gemeinden im dortigen ehemaligen Fürstentum von 1866 im Sinne einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes interpretiert und anerkannt wurden.7 1923 erlangte auch die Evangelisch-Lutherische Freikirche (ELFK) in Sachsen Korporationsrechte.8 Von besonderer Bedeutung war die Beibehaltung des Sonntags als Feiertag. Die Weimarer Reichsverfassung schützte die Sonntagsruhe im Abschnitt über Religion und Religionsgesellschaften, und zwar in Art. 139, der später ebenfalls in das Bonner Grundgesetz übernommen wurde (Art. 140 GG): „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Damit bot der säkulare Staat den Kirchen einen wichtigen zeitlichen Raum, um in gewohnter Wei6
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Grundsätzlich war verfassungsrechtlich eine Parität zwischen den Kirchen und den andern öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften gegeben; jedoch unterschieden sie sich stark in ihrer tatsächlichen gesellschaftlichen Bedeutung, so dass darüber diskutiert wurde, ob nicht tatsächlich weiter Unterschiede beständen. Vgl. Jürgen Lehmann, Die kleinen Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts im heutigen Staatskirchenrecht, Inaugural-Dissertation Frankfurt am Main 1959, 87–89. Erteilung der Körperschaftsrechte vom 19. Juni 1930 an die Evangelischlutherische (altluth.) Kirche als Gesamtkirche und für die einzelnen Gemeinden (Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland, Werner Klän/Gilberto da Silva, OUH.E 6, Göttingen 2010, 102); Anerkennung der Gemeinden Korbach, Sachsenberg und Bergheim als Körperschaften des öffentlichen Rechts durch Schreiben des Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 9. Januar 1933 (Bundesarchiv Abt. Potsdam, Bestand S 1.01 RKM, Nr. 23127, 00474). Gottfried Herrmann, Lutherische Freikirche in Sachsen (Berlin 1985), elektronische Fassung, (359–360) 431–433.
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se ihre Gottesdienste in einer herausgehobenen gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu halten und sich damit auch selbst öffentlich darzustellen.9
Neubestimmung des lutherischen Selbstverständnisses Die Regelung der kirchlichen Verhältnisse auf Reichsebene regte die selbstständigen lutherischen Kirchen an, ihre Zusammenarbeit über ihre traditionell regionale Verfasstheit hinaus zu verstärken. Schon im Juni 1919 bauten die selbstständigen lutherischen Kirchen in Preußen und in den hessischen Landen (SELKH), sowie die Hannoversche (HannELF) und die Hermannsburg-Hamburger (HHELF) Freikirche ihren seit 1907 bestehenden Dachverband des „Konvents“ aus. Der Kreis der bisher teilnehmenden Kirchen erweiterte sich um die Evangelisch-lutherische Synode in Baden und die Renitente Kirche Ungeänderter Augsburger Konfession (RKUAK); 1921 schloss sich zusätzlich die Gemeinde St. Anschar in Hamburg mit ihrem Pastor Max Glage (1866–1936) an. Diese sieben Kirchen bildeten nun die Vereinigung evangelisch-lutherischer Freikirchen in Deutschland (VELF), „um gemeinsame kirchliche Angelegenheiten gemeinsam in die Hand zu nehmen“.10 Dazu wurden ein Ausschuss und jährliche Vertretertage eingerichtet. Stolz propagierte man die in leidvollen Kämpfen erreichte eigene Unabhängigkeit vom Staat nun nach dem Ende des Staatskirchentums als ein längst praktiziertes zukunftsweisendes Modell: „Zu diesen gemeinsamen kirchlichen Angelegenheiten rechnen sie unter den jetzigen kirchlichen Wirren das Zeugnis von den kirchlichen Grundsätzen, die sie in jahrzehnterlanger Unabhängigkeit vom Staat immer wieder an Schrift und Bekenntnis geprüft und im kirchlichen Leben erprobt haben.“11 Die Programmatik dieser Vereinigung war: „Darum muß in dieser für Volk und Kirche gleich entscheidungsvollen Zeit allen, die mit Ernst Lutheraner sein wollen, dies als Ziel voranleuchten: Hindurch 9
Die Verfassung der DDR von 1968 garantierte demgegenüber in Art. 34 zwar das „Recht auf Freizeit und Erholung“, schützte dabei aber verfassungsrechtlich den Sonntag nicht. Der religiöse Aspekt fiel hier aus. 10 Kundgebung der „Vereinigung evangelisch-lutherischer Freikirchen in Deutschland“ (August 1919), Klän/daSilva, Quellen (wie Anm. 7), 574–576, Zitat dort 574. 11 Ebd.
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zur lutherischen Bekenntniskirche um jeden Preis!“12 Diese Zielsetzung wies deutlich über den eigenen engen Rahmen hinaus. Die kritische Distanz zur demokratischen Ordnung wurde zum Motivator, dem diagnostizierten Übel nach Kräften abzuhelfen. Die Bewältigung der nationalen Niederlage wurde auch als kirchliche Aufgabe betrachtet. Man wollte dem deutschen Volk zu innerer Stabilität helfen durch eine über den demokratischen Parteienstreit erhabene konfessionelle Einheit. Besonders weitgehende Visionen wurden in der ELKP entwickelt. Die Rettung des deutschen Volkes erwartete Kirchenrat Nagel von einer Besinnung auf die Bedeutung des christlichen Glaubens in der völkischen Geschichte: „Man kann fast sagen: der Fortschritt vom Germanentum zum Deutschtum besteht darin, daß sich mit dem Geist unsres Volkslebens der Christusgeist aufs innigste vermählt hat. Davon künden uns die alten Dome unsres Vaterlandes, die, auf den Grundriß des Kreuzes gebaut, mit den Schwurfingern ihrer Türme zum Himmel hinaufweisen. Davon singen und sagen die alten Volksepen, der Heliand und der Krist, der Parzival und wie sie alle heißen. Davon klingt es wieder in deutschen Volksliedern, in dem Choralgesang der Reformationszeit, in den Cantaten und Passionen eines Bach bis zu den Meistern unsrer Tage. Aus dem Evangelium haben die Besten unsres Volkes je und je die Kräfte geschöpft, die zur Entfaltung des ganzen Reichtums deutscher Innerlichkeit, deutscher Kunst und Kultur geführt haben, und von deren Überresten wir heute noch leben. Wer daher unser Volk zu der stärksten Kraft seiner besten Tage zurückführen will, der muß es zum Evangelium zurückführen“.13
Initiativen für eine lutherische Einigung Nagel unternahm ganz praktische Schritte, um seine Vision einer lutherischen Kirche für das deutsche Volk zu verwirklichen. Sein Bestreben ging einerseits dahin, die Gemeinschaft mit den lutherischen Landeskirchen zu vertiefen. Andererseits suchte er eine verstärkte Annäherung zu den anderen selbstständigen lutherischen Kirchen. Beide Anliegen standen freilich deutlich in Spannung zueinander. 12 A.a.O., 575. 13 Nagel, Volk (wie Anm. 2), 19–20.
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In Deutschland bestanden drei Gruppierungen von Lutheranern: Lutheraner in lutherischen Landeskirchen, Lutheraner in unierten Landeskirchen (sogenannte Vereinslutheraner) und selbstständige Lutheraner. Lutheraner aus den ersten beiden Gruppierungen arbeiteten seit 1868 in der Allgemeinen evangelisch-lutherischen Konferenz (AELK) zusammen und gaben die Allgemeine evangelisch-lutherische Kirchenzeitung (AELKZ) heraus; bewusstere Lutheraner aus den beiden letzten Gruppen hatten sich 1908 im wesentlich kleineren Lutherischen Bund zusammengeschlossen mit dem Presseorgan des Evangelisch-lutherischen Zeitblattes (ELZ). Nagel nahm nun 1927 zusammen mit Oberstudiendirektor Karl Mützelfeldt (1881–1953) an der Engeren Konferenz der AELK teil und ließ sich im folgenden Jahr als Mitglied dieses Gremiums kooptieren.14 Dieser Schritt löste erhebliche Unruhe in den eigenen Reihen aus: Karl Amelung (1858–1939), Studienrat in Dresden, sprach von „einer Schwenkung Breslaus“ und von „Männern des neuen Kurses“.15 Nagel riskierte das Zerbrechen des Lutherischen Bundes zugunsten einer Präsenz auf dem weiteren Forum des Luthertums. Die Mitgliederversammlung des Lutherischen Bundes beschloss am 2. Dezember 1930 in Leipzig die Auflösung des Bundes.16 Die neue 14 Vgl. Stolle, Nichtariern (wie Anm. 5), 41–42. – Dass Nagel diesen Schritt in seiner Funktion als Vorsitzender der Vereinigung Ev.-Luth. Freikirchen in Deutschland vollzog, wie in der Presse berichtet wurde (Kurt Schmidt-Clausen, Vom Lutherischen Weltkonvent zum Lutherischen Weltbund [LKGG 2], Gütersloh 1976, 97, auch die dort angegebene Amtsbezeichnung „Generalsuperintendent“ ist unzutreffend), entsprach nicht den Tatsachen. Er trat als Einzelperson bei (Gottfried Nagel, Antwort auf den Artikel von Prof. Dr. Amelung, ELZ 20 [1928], 206–216, dort 215). 15 Karl Amelung, Die Stellung der evangel.-luth. Kirche in Preußen (Breslau) zum Lutherischen Bund einst und jetzt, ELZ 20 (1928), 174–194, Zitat dort 188. – Dieser Beitrag liest sich bereits wie ein Nachruf auf den Lutherischen Bund: „Also mein Rat: man löse den Lutherischen Bund in seiner bisherigen Gestalt auf, weil ihm die Existenzmöglichkeit und die Voraussetzung für gedeihliche Arbeit fehlt“ (a.a.O., 193). 16 Kirchliche Nachrichten. Deutschland, AELKZ 63 (1930), 1245–1246. In der Presseerklärung der beiden letzten Vorsitzenden des Bundes, Pastor Martin Hübener (1881–1976), Pastor in Satow (Mecklenburg-Schwerin), und Friedrich Grube heißt es, „daß die lutherischen Freikirchen nicht mehr wie einst geschlossen hinter dem Lutherischen Bunde stehen, ja zum Teil die Proteststellung gegenüber der ‚Engeren Konferenz‘ aufgegeben haben“ (Zitat a.a.O., 1246).
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Offenheit, die traditionellen Territorialverhältnisse auf das große Ganze des deutschen Volkes hin zu transzendieren, belastete in dieser Hinsicht das Verhältnis der ELKP zu den anderen selbstständigen lutherischen Kirchen. Andererseits führte der Rückgang der kleinstaatlichen Prägungen auch zu größerer Annäherung unter den kleineren selbstständigen lutherischen Kirchen. Die selbstständigen Kirchen in Hannover und Hessen bauten eine sie verbindende organisatorische Struktur auf, die über ihre Kontakte in der VELF hinausgingen. Mit der Bildung eines gemeinsamen Superintendentur-Kollegiums 192417 und eines Bundes selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Hessen und Niedersachsen 1930 mit den Organen eines Kirchenausschusses und eines Allgemeinen Kirchentages18 gaben die HannELF, HHELF, die RKUAK und die SELKH zwar nicht ihre Selbstständigkeit auf, fanden sich aber auf föderativer Basis nicht nur zu gegenseitigem Austausch, sondern auch zu gemeinsamen kirchlichen Handeln zusammen, das insbesondere die Qualifizierung ihrer Pfarrer und das Disziplinarrecht betraf und in förmlichen Beschlüssen seinen Niederschlag fand. Die verfolgte Zielsetzung war bescheiden formuliert: „Durch diesen näheren Zusammenschluss soll die Arbeit der Vereinigung ev.-luth. Freikirchen in Deutschland gefördert und das Streben, einen Zusammenschluss aller lutherischen Freikirchen herbeizuführen, unterstützt werden.“19
Beziehungen zu dem sich organisierenden Weltluthertum Der Weltkrieg hatte einen Anstoß für internationale Hilfe der Kirchen gegeben, um die durch die Fronten von ihren Muttergesellschaften abgetrennten Missionen personell und wirtschaftlich am Leben zu erhalten. Dabei wurde ein entscheidender Schritt getan hin 17 Bildung eines gemeinsamen Superintendentur-Kollegiums der Hannoverschen evangelisch-lutherischen Freikirche, der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in Hessen, der Evangelisch-lutherischen Hermannsburg-Hamburger Freikirche und der Renitenten Kirche ungeänderter Augsburger Konfession (1924); Klän/daSilva, Quellen (wie Anm. 7), 593–594. 18 Bund selbständiger evangelisch-lutherischen Kirchen und Hessen und Niedersachsen vom 28. Mai 1930; a.a.O., 594–598. – Der erste dieser Allgemeinen Kirchentage fand bereits 1928 statt. 19 Bildung eines gemeinsamen Superintendentur-Kollegiums, 4.; Klän/daSilva, Quellen (wie Anm. 7), 594.
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zu einer internationalen Organisation des Luthertums. Nach Ende des Krieges erstreckten sich diese Hilfsmaßnahmen auch auf das unter den Kriegsfolgen leidende Europa. Dabei intensivierten sich die alten Beziehungen zum amerikanischen Luthertum. Es ergaben sich zwei getrennte Wege. Die ELFK hatte ihre angestammte Partnerin in der Missourisynode und anderen mit ihr verbundenen Kirchen. Die in der VELF zusammengeschlossenen Kirchen entwickelten ihre Kontakte zum National Lutheran Council (NLC, 1918) in den USA und zum Lutherischen Weltkonvent/Lutheran World Convention (LWC, 1923). Auf diesen beiden Wegen flossen allerdings sehr ungleiche Summen. Die ELFK erfuhr eine ungleich größere Förderung als die andern selbstständigen lutherischen Kirchen. Da die Gemeinden der ELFK in der Inflationszeit (1922–1923) als Spender amerikanischer Liebesgaben weit über ihre eigenen Kreise hinaus bekannt wurden und Anziehungskraft entfalteten, verzeichnete diese Kirche in den Jahren 1920 bis 1925 ein unverhältnismäßig großes Wachstum. Zählte sie 1916 noch 5.825 Mitglieder, so gehörten ihr 1926 bereits 10.199 Gemeindeglieder an, eine Zunahme also um 75%. Die Zahl der Pastoren war von 23 auf 39 gestiegen, d.h. um 70%.20 Wilhelm Wöhling (1860–1927) berichtete 1925 aus eigener Erfahrung: Als infolge des Krieges sich in Deutschland und auch in der Freikirche die allgemeine Not geltend machte, hat sie [sc. die Missourisynode] in besonders großherziger Weise durch Zusendung von Liebesgaben geholfen. […] Sie hat sich nicht darauf beschränkt, nur ihren Glaubensgenossen, unserer Freikirche, zu helfen, sondern sie hat unendlich viel Gutes an Tausenden und Abertausenden von Notleidenden in unserm Vaterland getan. […] Die Missourisynode ist bis jetzt nicht müde geworden in ihrer Liebestätigkeit. Sie beauftragte eine eigene Behörde in New York (American Lutheran Board for Relief in Europe) mit der Organisierung und Ausübung der Liebestätigkeit in Europa. […] Der Missourisynode haben wir es zu danken, daß unsere Freikirche nun in Berlin ihr eigenes Seminar zur Ausbildung von Predigern hat, 20 Herrmann, Lutherische Freikirche (wie Anm. 8), (350) 420.
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daß aussichtsreiche Plätze in Angriff genommen oder ausgebaut werden konnten, daß mit dem Bau nötiger Kirchen, Betsäle und Pfarrhäuser angefangen wurde. […]21
Für die VELF gestaltete sich die internationale Orientierung nicht so selbstverständlich. Die Bildung des internationalen Netzwerkes, das als Lutherischer Weltkonvent 1923 Gestalt annahm, brachte es mit sich, dass auf deutscher Seite das Gegenüber des Lutherischen Bundes zur AELK zu einigen Irritationen führte.22 Das Exekutivkomitee des LWC ließ sich jedoch in die Debatte über die Vereinslutheraner nicht hineinziehen, sondern sah sie als ein geschichtlich bedingtes lokales Problem an. Die Generalsynode der ELKP 1926 billigte denn auch „die Beteiligung unserer Kirche an dem Lutherischen Weltkonvent“ und beauftragte das Oberkirchenkollegium, „auf einen Zusammenschluß lutherischer Landes- und Freikirchen hinzuarbeiten (Corpus Lutheranorum)“.23 Kirchenrat Nagel hatte sich schon in einem Diskussionsbeitrag auf der Gründungsversammlung des Lutherischen Weltkonvents in Eisenach 1923 für eine finanzielle Unterstützung der eigenen Diaspo21 Wilhelm Wöhling, Geschichte der Evangelisch-Lutherischen Freikirche in Sachsen u. a. St., Zwickau 1925, 213–216. 22 Schreiben von Nagel an Professor John Alfred Morehead (1867–1936) vom 23. April 1927 und von Morehead an Nagel vom 21. Dezember 1927; mit Schreiben vom 4. Oktober 1927; Archives of the Evangelical Lutheran Church in America (AELCA): LWC 1/2 b5f18. – „Die Meinungsverschiedenheit besteht hauptsächlich darin, daß man in der Allgemeinen Luth. Konferenz, die doch seinerzeit ausdrücklich gegründet worden ist, um den der lutherischen Kirche durch das Vordringen der Union entstehenden Gefahren zu begegnen, nunmehr den Kampf gegen die Union fast völlig aufgegeben hat“ (Nagel in seinem Brief vom 23. April 1927). Die beiden Vorsitzenden des Lutherischen Bundes, Hübener und Grube, hatten am 28. November 1927 einen Brief an Morehaed geschrieben, in dem sie darauf hinwiesen, dass das so genannte Lutherische Einigungswerk (= AELK) nicht das gesamte Luthertum im Deutschland repräsentiere, und den Lutherischen Bund als bleibenden ersten Ansprechpartner in Deutschland bestätigen wollte; AELCA: LWC 1/2 b22f17. 23 Beschlüsse der General-Synode der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen. Amtliche Zusammenstellung (BGS) (1926), 1162.1163. – Dank für die Arbeit an der Umsetzung dieses Beschlusses an das Oberkirchenkollegium: BGS (1930), 1170.
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raarbeit in der Schweiz eingesetzt,24 die dann auch tatsächlich erfolgte25 und die Fortführung des Gemeindepfarramts in Zürich bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus ermöglichte.26 Die ELKP erhielt Zuwendungen auch zur Unterstützung von bedürftigen Theologiestudierenden.27 Unterstützung erbat sie auch für ihren westpolnischen Flügel, der durch den Versailler Friedensvertrag von ihr abgetrennt worden war.28 Die VELF unterstützte ihrerseits Hilfsprogramme des Weltkonvents. Die sieben Kirchen führten gemeinsam eine Sammlung für das theologische Seminar in Leningrad durch.29 In einer groß angelegten Maßnahme gelang es dem Weltkonvent, eine Gruppe lutherischer Flüchtlinge (80 Familien) aus Sibirien, die im Lager Charbin in der Mandschurei gestrandet war, aus China über Australien in ein neues
24 Schmidt-Clausen, Weltkonvent (wie Anm. 8), 74. 25 100 Jahre Evangelisch-Lutherische Kirche Zürich, Nordost- und Zentralschweiz. Chronik, Zürich 1991, 18–19. – Eine Bitte vom Februar 1922 an das NLC in den USA war abschlägig beschieden worden mit der Begründung, „daß in der neutral gebliebenen Schweiz keine Kriegsschäden auszuheilen seien“ (Christoph Wagner, Geschichte der Evangelisch-lutherischen Kirche in der Schweiz, Breslau 1929, 33), jetzt aber ergab sich nach einem Besuch des Sekretärs des NLC Melanchthon Gideon Groseclose Scherer (1861–1932), der als Delegierter des LWC an der ersten Weltkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung im August 1927 in Lausanne teilnahm, eine enge Zusammenarbeit (a.a.O., 41), nachdem dieser eine Denkschrift Wagners vom 27. August mit seinem Bericht empfehlend weitergeleitet hatte an Morehead mit Schreiben vom 4. Oktober 1927; AELCA: LWC 1/2 b5f1. 26 Mit Schreiben vom 30. November 1927 hatte Morehead von Nagel eine ausführliche Stellungnahme und Befürwortung des Projekts erbeten; AELCA: LWC 1/2 b6f9. – Darin bekennt Morehead: „I must confess to considerable personal interest in being assured that some Lutheran Church in Europe or elsewhere in the world is seeing to it that Switzerland is not left without a Lutheran witness. “ 27 Schreiben von Nagel an Morehead vom 30. November 1927; AELCA: LWC 1/2 b5f18. 28 Schreiben von Nagel an Morehead vom 12. Januar 1927; AELCA: LWC 1/2 b6f9. 29 Ebd. Bestätigung des Empfangs der Kollektengelder durch Schreiben von Morehead an Nagel vom 18. und 19. März 1927; ebd. Die Sammlung erbrachte fast 5.000 Mark; Schreiben von Nagel an Morehead vom 23, April 1927 (mit Aufschlüsselung nach Kirchen) und von Morehead an Nagel vom 10. Mai 1927; AELCA: LWC 1/2 b5f18.
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Siedlungsgebiet in Brasilien (Paraná) zu bringen.30 Die ELKP beteiligte sich an dieser Hilfsaktion.31
Auswirkungen in der kirchlichen Praxis vor Ort Wahlrecht in Gemeindeversammlungen Bezeichnend ist, wie das allgemeine Wahlrecht in der ELKP Eingang in die Ordnung für die Gemeindeversammlung fand. In den ersten Jahren ergab sich eine äußerst intensive und kontrovers geführte Debatte um eine biblische Orientierung. Es bildeten sich zwei fast gleich starke Lager, je nachdem die Schöpfungsordnung für Adam (Gen 2,18: Frau als Gehilfin und Gegenüber auf Augenhöhe zum Mann) oder die Fluchordnung für Eva (Gen 3,16: Mann als Herr der Frau) als richtungweisend angesehen wurde.32 Erst 1938 wurde dann das Stimmrecht der Frauen in der Gemeindeversammlung fast einstimmig beschlossen.33 In anderen selbstständigen lutherischen Kirchen dauerte dieser Prozess wesentlich länger. Volksmission Bisher hatte man es vermieden, sich mit der christlichen Verkündigung auch an Menschen außerhalb der eigenen Kirche zu wenden. Denn diese Menschen waren doch zumeist getauft und gehörten damit einer bestimmten Kirche an, welche die geistliche Verantwortung für sie trug. Am Anfang waren solche Aktivitäten den selbstständigen Lutheranern in Preußen sogar bei Strafe untersagt gewesen. Derartige institutionelle Vorbehalte fielen jetzt immer mehr dahin angesichts der entkirchlichten Massen.34 Auf Betreiben von Johannes Stier (1872–1961), Pastor in Berlin, kam es 1921 zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft für Volksmis30 Schmidt-Clausen, Weltkonvent (wie Anm. 8), 143–144 31 Schreiben von Morehead an Nagel vom 28. März 1932 und Antwort von Nagel an Morehead vom 6. April 1932, sowie Dank von Morehead an Nagel vom 27. April 1932; AELCA: LWC 1/2 b19f19. 32 Von der 21. Generalsynode unserer Kirche (Fortsetzung), KELG 81 (1926), 707– 709. 33 BGS (1938), 1178. 34 Volker Stolle, Auf dass Gott zu Wort komme. Evangelisation und missionarischer Gemeindeaufbau in der Geschichte der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche, mit 20 Dokumenten, OUH 39, Oberursel 2001, 13–14.
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sion innerhalb der ev.-luth. Kirche Preußens.35 Die „warme“ Empfehlung der Generalsynode 1926 liest sich allerdings eher wie ein unterkühlter Vortrag von Bedenken: In dem Bewußtsein, daß unsere Kirche eine starke Mitverantwortung für unser Volk hat, wird es unsern Pastoren warm empfohlen, gelegentlich auch Volksmission zu treiben, wenn Gott ihnen die Gabe dazu verliehen hat. Nur muß dabei ein Doppeltes sorgfältig beachtet werden: Volksmission darf nicht in Proselytenmacherei ausarten. Über der Volksmission darf die Arbeit an den eigenen Gemeindegliedern keinesfalls vernachlässigt werden.36
In einem Synodalreferat auf der Versammlung der ELFK in Hamburg hatte sich Heinrich Stallmann (1887–1969), Pastor in Berlin, ein Jahr zuvor (1925) wesentlich aufgeschlossener für die „Innere Mission“, unter der er nicht soziale Arbeit, sondern evangelistische Verkündigung verstand, ausgesprochen: „Jede Gemeinde soll mit großem Ernst prüfen, welche Missionsmethode sie unter den gegebenen Verhältnissen wählen und durchführen sollte: Einladung zu den Gottesdiensten der Gemeinde, Veranstaltung von öffentlichen Vorträgen, Festlichkeiten, Sonntagsschule, Straßen- und Hofmission, Hausbesuche, Mission in Krankenhäusern, Schriftenverbreitung, Kolportage u. dgl.“ 37
Neue Impulse im kirchlichen Leben Der gesellschaftliche Aufbruch setzte neue Akzente in der Jugendarbeit. „Das alte Prinzip der autoritären Jugendpflege wurde durchbrochen zugunsten einer selbstverantwortlichen und selbständigen Betätigung der Jugend.“38 Auf dem Bundestag des Jünglingsbundes der ELKP 1923 setzte man sich mit den Gedanken der Jugendbewegung auseinander. Für Freizeiten wurde ein eigenes Bundesheim in Mühlhausen/Thüringen erworben. 35 Der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Volksmission innerhalb der evang.luth. Kirche Preußens an seine Mitglieder, KELG 78 (1923), 133–134. 36 BGS (1926), 1162. 37 Heinrich Stallmann, Die Innnere Mission unserer Kirche; zitiert nach Stolle, Wort (wie Anm. 34), 17–18. 38 Werner Srocka, Fünfzig Jahre Bundesgeschichte, Fest zur Fahne. Mitteilungen aus dem evang.-luth. Jünglingsbunde 45 (1932), 129.
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Auch die Arbeit unter der weiblichen Jugend wurde intensiviert. Es kam zur Gründung neuer Jungfrauenvereine. Vor allem aber bildeten 1925 in der ELKP Vertreterinnen aus 22 Jungfrauenvereinen auf einer Freizeit in Guben einen eigenen Verband, dem von 63 Jungfrauenvereinen 43 beitraten (843 Mitglieder).39 Von Anfang an bestand der Vorstand aus Frauen, denen ein Pastor als Beirat zur Seite stand. Neben persönlichen Begegnungen diente den Vereinszielen die Veranstaltung von Tagungen, Freizeiten und Lehrgängen, sowie die Herausgabe des Bundesblattes Auf Adlersflügeln40. Im Raum der ELFK organisierten sich mehrere gemeindliche Jugendgruppen 1920 auf der Synode in Planitz in einem Lutherischen Jugendbund: „Der Bund sieht es als seinen Zweck an, durch gegenseitiges Zusammenarbeiten der Jugendgruppen die Gemeinden in der Erziehung ihrer Jugend zu tatkräftigen evangelisch-lutherischen Gemeindegliedern zu unterstützen.“41 Das Jugendblatt erhielt 1924 den Namen Junker Jörg. Jährlich wurden Jugendtage abgehalten. Auch die kirchenmusikalische Arbeit setzte sich fort. Wilhelm Brachmann (1893–1966), Pastor in Halle, gab des Bundesblatt der Posaunenchöre Jubilate heraus. In dieser Zeit erfolgten neue Zuordnungen im Bereich der selbstständigen lutherischen Kirchen. Nachdem das Theologische Seminar der ELKP mit Kriegsbeginn seinen Ausbildungsbetrieb hatte einstellen müssen, konnte es im Sommersemester 1919 seine Vorlesungsarbeit wieder aufnehmen; kurz darauf wurde Werner Elert zum Seminardirektor berufen, dem 1923 Friedrich Priegel (1872–1937) folgte.42 Am 15. November 1922 eröffnete dann die ELFK in Klein-Machnow bei Berlin eine Theologische Hochschule, die von Präses Martin Willkomm (1876–1946) geleitet wurde.43 Durch den Ersten Weltkrieg war die alte Übung in der ELFK unterbunden worden, junge Männer zum Theologiestudium 39 Amtliche Bekanntmachung, KELG 80 (1925), 417; Freizeit ev.-luth. Jungfrauen in Guben, ebd., 434–439. 40 Nr. 1/2 erschien als Juli/August-Nummer 1925 im Umfang von 12 Seiten; KELG 80 (1925), 587–588. 41 Wöhling, Geschichte (wie Anm. 21), 202. 42 Werner Klän, Theologische Ausbildungsstätten selbständiger evangelischlutherischer Kirchen in Deutschland, in: Lutherische Theologische Hochschule. 1948–1998, OUH.E 3, Oberursel 1998, 9–38, dort 14–15. – Priegels Nachfolger wurde 1937 Richard Laabs (1895– 1979). 43 Herrmann, Lutherische Freikirche (wie Anm. 8), 423–424 (353–354); A.a.O., 20– 22.
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nach Nordamerika zu schicken. Finanzielle Hilfen aus Nordamerika ermöglichten das Projekt. Im Zweiten Weltkrieg fanden beide Einrichtungen ihr Ende. Die Neuregelung der gesellschaftlichen Verortung der Kirche in der Weimarer Verfassung führte also zu einer deutlichen Aufbruchsstimmung und brachte Bewegung in der Gemeindeentwicklung. Dieser neue Schwung wurde dann aber in nationalsozialistischer Zeit durch vielfache staatliche Behinderungen ausgebremst.
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Good News in a „Fake News World“?! Konfessionelle Kirche in unübersichtlichen Zeiten1 I. Annäherung 1. Was sind „Fake News“? Der Begriff „Fake News“, wie er zur Zeit gebraucht wird, steht für gezielte Falschmeldungen mit manipulativer Absicht, vor allem im Internet und in den sozialen Medien. Fake News sollen dazu dienen, eigene Ziele durchzusetzen und anderen Personen, Organisationen oder Institutionen zu schaden.2 Der Begriff beinhaltet also den Moment der bewussten und böswilligen Täuschung. Nun könnte man einwenden, dass unsere Kommunikation immer perspektivisch verzerrt ist. Unser Gehirn wählt unter Millionen Reizen, die wir erhalten, die relevanten aus und setzt daraus ein Bild der Wirklichkeit zusammen. Und wenn wir Informationen weitergeben, sind diese noch einmal reduziert und gebündelt unter dem Aspekt, was uns bedeutsam erscheint. Wenn Sie später unter selk-news den Bericht über den heutigen Morgen lesen, dann werden Sie merken, dass Aspekte, die Ihnen wichtig sind, fehlen werden oder dass sie anders gewichtet sind. Eine Fake-News hingegen würde die Fakten bewusst verdrehen, um zu manipulieren.3 Dem Begriff kommt zunehmend noch eine zweite Bedeutung zu: er wird als Kampfbegriff verwendet, um unliebsame Berichterstattung zu diffamieren, ähnlich dem deutschen Begriff „Lügenpresse“. Damit soll das Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutio1 2 3
Der Vortrag war von der 14. Kirchensynode der SELK erbeten worden, die vom 21.–26. Mai 2019 tagte. Romy Jaster/David Lanius, Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen, Stuttgart 22019, 26–47. Zur Unterscheidung zwischen Faktum, Fake und Fiktion vgl. die literaturwissenschaftliche Studie Thomas Strässle, Fake und Fiktion. Über die Erfindung von Wahrheit, München 2019. LuThK 43 (2019), 99–122 DOI 10.2364/3846997215
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nen und öffentlichen Medien untergraben werden. Nachrichten, die einem nicht passen, werden zu Fake-News erklärt.4 Fake News gibt es schon, so lange es Nachrichten gibt. Sie sind momentan ein besonderes Problem, weil sich die digitalen Medien schneller entwickeln als die politischen Kontrollmechanismen und viele Nutzer zu unerfahren sind, um wirklichkeitsnahe und manipulierte Nachrichten zu unterscheiden.5 Die Diskussionen des letzten Jahres zeigen meines Erachtens aber, dass das Problem in der Öffentlichkeit, in der Politik und auch bei den Internet-Konzernen allmählich ankommt. Zwar besteht die reale Gefahr, dass sich gesellschaftliche Gruppen oder sogar Staaten mit ihren einseitigen Informationen vom gemeinsamen Diskurs abspalten. Die Chancen stehen aber nicht schlecht, dass die gegenwärtige Konfrontation mit Fake News die Medien sogar besser macht, die Informationskultur insgesamt stärkt und die Nutzer sensibilisiert, vergleichbar einer Impfung.6
2. Eine „Fake News World“? Ist unsere Welt eine „Fake News World“? Das wäre zu einfach. Im Gegenteil zeigt die Diskussion um Fake News, dass es nach wie vor ein Wissen gibt um die Unterscheidung von wahr und falsch, von Information und Desinformation, von Vertrauen und Lüge. Menschen können und wollen in der Regel die Wahrheit wissen. Auch aus der Perspektive der Theologie gesprochen wäre eine solche Herabsetzung der Welt unangemessen – trotz der Realität des Bösen und der Sünde: In Schöpfung und Erlösung erweist sich Gott 4
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Die Problematik verschärft sich dadurch, dass mit dem vermeintlich berechtigten Kampf gegen Fake News autoritäre Regime Maßnahmen der Pressezensur legitimieren. Zum Verhältnis von Fake-News und neuen Medien siehe Klaus SachsHombach/Bernd Zywietz (Hg.), Fake News, Hashtags & Social Bots: Neue Methoden populistischer Propaganda, Wiesbaden 2018. Eine Langzeitstudie zum Medienvertrauen an der Universität Mainz zeigt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor Vertrauen in die öffentlichrechtlichen Medien hat. Hingegen halten nur etwa zwei bis drei Prozent Nachrichten in den sozialen Netzwerken für vertrauenswürdig. Knapp drei Viertel der Deutschen glauben hingegen, dass Fake News und Hasskommentare eine Gefahr für die Gesellschaft sind. https://medienvertrauen.uni-mainz.de/forschungsergebnisse-der-welle-2018/.
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als der grundlos Liebende, Gebende, Schaffende. Gerade der Glaubende weiß um die Güte der Schöpfung: Martin Luther hat auf einmalige Weise in der Auslegung des Ersten Artikels formuliert, wie wir auch in unserem Geschaffensein die Vatergüte Gottes erfahren.7 Christen wie Nichtchristen spüren etwas davon, dass Menschsein auf Beziehung, auf Verständigung und auf Vertrauen angelegt ist – ob sie das mit Gott dem Vater in Verbindung zu bringen in der Lage sind oder nicht. Der Begriff „Fake News World“ würde diese Welt aus Gottes Gegenwart und Gottes Anrede entlassen. Gott aber spricht und wirkt in ihr. Er ist in ihr gegenwärtig. Luther kann das in einer Eindringlichkeit gegen Erasmus festhalten, die noch heute etwas Schockierendes hat: Gott ist „im Darm eines Mistkäfers oder gar in der Kloake […] nicht weniger als im Himmel.“8 Und selbst wenn der Unglaube diese Nähe Gottes nur als Bedrohung und Zorn fassen kann, so weiß es der Glaube, der auf Gottes Wort hört, eben besser, dass Gottes Welt, die aus seinem Wort geschaffen ist, niemals bloß „Fake News World“ sein kann. Diese Perspektive ist mir wichtig, damit wir nicht aus den Augen verlieren, wo Menschen, ohne dass sie Christen sind, vertrauensvolle 7
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Die Schöpfung ist nicht nur der Ort von „Tod und Finsternis“ (WA 39 I, 205,5) – auch nach dem Fall und trotz der Sünde. „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält […] – und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohn all mein Verdienst und Würdigkeit […]“ Nach BSELK 870. Das Wort „Verdienst“ stammt – worauf Oswald Bayer zurecht hinweist – aus dem Streit um die Rechtfertigungslehre, das Wort „Würdigkeit“ aus dem Streit um die Sakramentenlehre. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 42016, 87. Vgl. Luthers Bekenntnis von 1528: „Das sind die drei Personen und ein Gott, der sich uns allen selbst ganz und gar gegeben hat mit allem, was er ist und hat. Der Vater gibt sich uns mit Himmel und Erde samt allen Kreaturen, so dass sie uns dienen und nützen müssen. Aber diese Gabe ist durch Adams Fall verfinstert und unnütz geworden. Darum hat danach der Sohn sich selbst auch uns gegeben, alle seine Werke, Leiden, Weisheit und Gerechtigkeit geschenkt und uns mit dem Vater versöhnt, damit wir, wieder lebendig und gerecht, auch den Vater mit seinen Gaben erkennen und haben können. Weil aber diese Gnade niemandem nützte, wenn sie so heimlich verborgen bliebe und zu uns nicht kommen könnte, so kommt der heilige Geist und gibt sich auch uns ganz und gar […]“ (WA 26, 505,38ff). WA 18, 621,16–18.
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Beziehungen aufbauen, wo sie verantwortlichen Journalismus betreiben, an Universitäten und Instituten in wissenschaftlicher Redlichkeit forschen, sich in Menschenrechtsorganisationen für andere oder für die Schöpfung einsetzen und so weiter …
3. Was ist die Frage? „Good News in a Fake News World“ – das Thema, das sich die Synode gestellt hat, ist schillernd … Denn verschiedene Diskurse überlagern sich hier … Da ist einmal das aktuelle Problem jeder offenen Gesellschaft, dass neben faktenbasiertem Wissen und konstruktiven Argumenten Desinformationen gestreut werden, die sich nicht einfach abstellen und unterdrücken lassen: „alternative Fakten“ oder schlicht Lügen mit dem Ziel, politische, weltanschauliche, wirtschaftliche oder persönliche Gegner bloßzustellen und auszuschalten. Da ist auf der anderen Seite die Erfahrung vieler Christinnen und Christen in den westlichen Gesellschaften, dass sie nicht mehr die Mehrheitsmeinung repräsentieren und dass das, was früher selbstverständlich schien, plötzlich nicht mehr selbstverständlich ist, und das heißt: dass man gute Argumente braucht. Und dann ist da schließlich das Thema der letztgültigen Wahrheit, dass vor Gottes Angesicht, in der Begegnung mit Gottes aufdeckender Wahrheit alle Menschen als Lügner offenbar werden (Röm 3,4), wie der Beter in Psalm 51,6 sagt, „damit du Recht behältst in deinen Worten und siegst, wenn man mit dir rechtet.“ Das heißt aber: Das, was heute als „Fake News“ bezeichnet wird, ist nicht einfach identisch mit Widerständen und Kritik gegen kirchliche Positionen. Und beides ist etwas anderes als die Selbsterkenntnis des Glaubens, dass wir vor Gottes Angesicht Lügner sind. Auf der anderen Seite ist auch das faktenbasierte Wissen nicht dasselbe wie konfessionelle Kirche. Und beides ist auch nicht mit dem Evangelium identisch. Schlimm wäre es, wenn Christinnen und Christen jeden Widerspruch gegen ihre Überzeugungen zur Fake News erklären würden, weil sie sich ja mit dem Evangelium auf der richtigen Seite wissen, statt nach dem überzeugenden und gewinnenden Argument zu suchen. Für mich sind es zwei Fragen, die in dem Titel versteckt sind: 1) Was gibt dem christlichen Glauben Gewissheit? Worauf können wir vertrauen? 2) Kann man behaupten, dass christlicher Glaube, der in
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der „Good News“ des Evangeliums gründet, genau das Gegenteil von Fake News ist? Wie ließe sich das begründen?
II. Wie können wir vertrauen? 1. Im Zentrum: Vertrauen Was ist der Kern lutherischen Glaubens? Wenn wir Zeit hätten, würde ich gerne mit Ihnen das Augsburger Bekenntnis aufschlagen und anschauen, wie hier die Rede von Gott auf die Rechtfertigung des Sünders im Glauben konzentriert wird. Oder Luthers Erklärungen zu den drei Glaubensartikeln, die ganz und gar auf das Vertrauen in Gottes Werk an uns fokussieren. Oder würde mit Ihnen die radikale Gottesdefinition im Großen Katechismus diskutieren: „Was heißt denn Gott haben oder was ist Gott? Antwort: Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten, also dass ein Gott haben nichts anderes ist, als ihm von Herzen trauen und glauben“.9 Im Zentrum lutherischen Glaubens steht ganz schlicht: Vertrauen. Sich verlassen auf Gottes Barmherzigkeit, und nichts anderes. „Gegenstand der Theologie ist im eigentlichen Sinne der sündige und verlorene Mensch und der gerechtmachende und rettende Gott.“10 Genauso ist es, wenn Jesus Gleichnisse erzählt – von verlorenen Schafen, von Weinstöcken und Saatgut … Wenn Jesus predigt, dann öffnen sich Räume des Vertrauens.11 Wenn Jesus spricht, dann weht 9
Nach BSELK 930, 13–18. Vgl. Luthers Auslegung von Dtn 7,6–10, in: Predigten über das fünfte Buch Mose (1529), WA 28, 679–694. Sünde ist dem entsprechend, so Luther in der Weihnachtspostille von 1522: „das man got nit ehret, das ist, das man yhm nit glewbt, trawet, furcht sich, yhm nit ehr gibt, yhn nit lessit walden und eyn gott seyn‘‘ (WA 10 I/1, 24,5–6). 10 Luther in seiner Vorlesung zu Psalm 51; WA 40 II, 327,11–238,3: „Cognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica, Et ita cognitio Dei et hominis, ut refertur tandem ad deum iustificantem et hominem peccatorem, ut proprie sit subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator. Quicquid extra istud argumentum vel subiectum quaeritur, hoc plane est error et vanitas in Theologia.“ 11 Jesus predigt Vertrauen (Mk 4,26–29)! Er erzählt von Weinstöcken und Winzern, von Groschen und Hausfrauen, von Richtern und Samaritern, von Schafen und Kindern. Und in all dem, in diesen alltäglichen Begebenheiten auf Feldern und Gassen, in all dem erzählt er von der Gegenwart Gottes! Vom liebenden Vater,
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Gottes Hauch durch die Ritzen und erfüllt das Haus unserer Angst. Das „Fürchtet euch nicht!“ der Engel. Die Zusage des Auferstandenen: „Ich bin bei euch“. Das ist es, was die Jünger zu Pfingsten wiedererkennen! Gottes Geist erfüllt das ganze Haus! (Apg 2,2) Und das gilt auch im Angesicht der Lüge und des Todes: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“, sagt Jesus. „Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben. […] Wenn die Menschen euch aber verklagen und vor Gericht bringen werden, so sorgt euch nicht, wie oder was ihr reden sollt […] Denn nicht ihr seid es, die da reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der durch euch redet.“ (Mt 10,16–20)
2. Verheißung des Kreuzes! Und doch steht im Zentrum des Glaubens ein Kreuz. Der, der solch unerschütterliches Vertrauen predigt, wird zum Opfer der Verleumdung, wird angeklagt, gekreuzigt. Tenor der Anklage, er habe sich zum König der Juden gemacht. Das Kreuz scheint Herz und Sinn mit Gewalt zu überzeugen, dass die Macht am längeren Hebel sitzt, dass Verleumdung zum Ziel führt und die Lüge siegt. Und doch dreht sich am Kreuz – verborgen unter dem Gegenteil – alles auf eine stille Weise um. Eine „Inversion“, ein Umklappen ins Gegenteil findet statt. Sie kennen das von den alten Filmnegativen: was dort hell ist, wird auf dem Bildabzug dunkel und umgekehrt. Eine solche Inversion findet am Kreuz statt, weil es Gott ist, der hier – verborgen unter dem Gegenteil – handelt. Und das betrifft wirklich alles, was man meinte, von Gott und Mensch sagen zu können. Vielleicht kann ein Detail des Schneeberger Altars von Lucas Cranach das verdeutlichen. Cranach entwickelt ja in den 1520er und 30er Jahren bündige Bildformeln, um das entscheidend Christliche, Reformatorische ins Bild zu bringen.
vom guten Hirten, vom geduldigen Hausherrn. Gott ist schon hier! Schau dir die Spatzen unter dem Himmel an: Gott selbst ernährt sie! Schau dir die an, die nichts haben: ihnen wird das Reich gehören! Und die, die traurig sind: Sie werden getröstet werden!
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Lucas Cranach d.Ä./ d.J.?, Schneeberger Altar (1539), Mitteltafel (Ausschnitt), (Foto: Jürgen M. Pietsch)
Hier nun ist Mose, bei Cranach in der Regel im königlichen Hermelin, unter das Kreuz versetzt. Mit einem langen Finger zeigt er auf Jesus. Warum? Um dem Gesetz Ausdruck zu verleihen, wie es im 3. Buch Mose heißt: „Verflucht ist, wer am Kreuze hängt“ (Lev 21,23). Und es stimmt ja, hier gilt der Fluch des Gesetzes: Jesus trägt den Fluch der Sünde, der mir gilt und den Gott gerade hier in Segen wandelt. Damit behält das Gesetz eben nicht das letzte Wort, sondern weicht einer anderen letztgültigen Wahrheit: die Inversion des Gesetzes! Im Sinne der verborgenen Wahrheit unter der vermeintlich offensichtlichen Gegenwahrheit wandelt sich hier alles: der Klageschrei eines Gefolterten: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34) ist zugleich Zitat eines Vertrauenspsalms, der in die Aussage „des HERRN ist das Reich“ mündet (Ps 22,29).12 Der Spott 12 Jesu Gottesklage „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Sie ist zugleich Zitat der ersten Strophe von Psalm 22, der in der zweiten Hälfte fortfährt: „Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern“ (22,23) und „Denn des
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des Kreuzestitulus invertiert zur Ankündigung des anbrechenden Königtums Christi …13 Hier handelt Gott. Verborgen unter dem Gegenteil macht er alles neu. Doch eine Inversion steht im Zentrum: meine eigene! Wie Luther sagt, „damit wir aus unglücklichen und stolzen Göttern wahre Menschen werden, d.h. Elende und Sünder“.14 Hier, am Kreuz, geschieht etwas mit uns, wir werden zu den Sündern, auch vor uns und vor aller Welt, die wir vor Gott sind. Eine lebensgroße Darstellung des einsamen Christus am Kreuz bei Cranach dem Jüngeren konzentriert den Blick auf diese Inversion. Hier spricht Christus selbst den Betrachter an, wenn auch mithilfe einer großen Tafel: „Der du mich anschaust, Mensch, erschaue dich selbst und deine Sünde […] Wende vom Kreuz deine Augen nicht ab, denn ich hänge am Kreuz für dich […] Ich bin an deine Stelle getreten, habe für dich bezahlt […].“ In der Begegnung mit Christus werde ich zum Lügner, zur Fake News in Person, die Christus auf sich genommen hat.15 Ich bin die Fake News, die der Good News bedarf.
HERRN ist das Reich […] ihn allein werden anbeten alle Großen auf Erden.“ (22,29f.) Der Schrei, der mehr ist als Klage, sondern an Anklage und Vorwurf grenzt, zielt hin auf die Inversion in Vertrauen und Lobpreis. 13 Der Kreuztitel, der Jesus als gescheiterten Königsprätendenten zur Schau stellen sollte, ist aus Spott zur Wahrheit geworden: Jesus, König der Juden, König der Heiden, König der Welt. 14 Operationes in Psalmos; WA 5, 128, 37–39: „nos sibi conformes facit et crucifigit, faciens ex infoelicibus et superbis diis homines veros, idest miseros et peccatores“. Vgl. WA Br 5, 415, 45f: „Wir sollen menschen vnd nicht Gott sein. Das ist die summa; Es wird doch nicht anders“. Vgl. Hans Joachim Iwand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, in: ders., Glaubensgerechtigkeit. Lutherstudien, hg. v. Gerhard Sauter, München 21991, 48. 15 Man könnte fortfahren, wie dies zur Inversion all unserer Begriffe von Gott und Mensch führt, alle Begriffe des Glaubens neu verstehen lehrt: Der Geist wird „der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben, über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht; über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.“ (Joh 16,8–11)
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Lucas Cranach d. J., Christus am Kreuz (1571), 251x158 cm, Reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek Wittenberg – Ev. Predigerseminar; Gemäldesammlung
3. Glaube hat Gründe Was aber lässt mich glauben? Was lässt mich vertrauen? So verborgen, wie Gott am Kreuz handelt, so verborgen handelt er auch an mir. Er wirkt Glauben aus seinem schöpferischen Wort, wann und wie er es will. Nur Gottes Geist selbst kann dieses Geheimnis erfassen.
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St. David’s Cathedral, Wales (Foto: Christian Neddens)
Die Gründe zu nennen, warum ich glaube, ist darum für mich vergleichbar mit dieser Rosette am verfallenen Bischofspalast der St. David’s Cathedral. Um es gleich zu sagen: In der Mitte ist ein Loch. Und erst durch das, was drum herum ist, wird das Loch als Loch sichtbar. Das heißt übertragen: In der Mitte des Vertrauens ist etwas, was wir nicht innerweltlich erklären können. Glaube ist Gabe Gottes. Es gibt keinen zureichenden innerweltlichen Grund für Gottvertrauen jenseits von Gottes Geist. Um dieses letzte Geheimnis herum liegt aber ein ganzes Geflecht an überzeugenden Argumenten, die unser Vertrauen stärken und die zusammen einen faszinierenden Rahmen bilden, die aber keine Beweise sind, mit denen wir Gottes Wirken und Gottes Wort in unsere Verfügungsgewalt bekämen. Da sind etwa die Erkenntnisse der Bibelwissenschaft und der Archäologie. Als Mitglied der Sasse-Jury freue ich mich ganz besonders, dass im November der Hermann-Sasse-Preis an Udo Schnelle verliehen wird.16 Er steht für eine Reihe von Exegeten, die gründliche 16 Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 52016.
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Forschung an den Texten mit der Frage nach der Gesamtaussage der Bibel als Heiliger Schrift verbinden und die die grundsätzliche Verlässlichkeit der neutestamentlichen Schriften deutlich machen. Letztlich bleibt die Rekonstruktion historischer Zuverlässigkeit aber relativ, kann Glauben stützen, aber nicht begründen. Entscheidender sind die biblischen Texte selbst, die zur mir als Heiliger Schrift sprechen wollen: sie bezeugen sich selbst als Gottes Anrede, sie selbst schaffen ihre Hörer. Ihre Schönheit, ihre Tiefgründigkeit treffen mich immer wieder aufs Neue, wenn ich sie als Heilige Schrift lese. Ebenso entscheidend ist für mich, dass das biblische Wort Gottes mir Wirklichkeit erschließt. Dass ich hier das Geheimnis unseres Menschseins, unser Woher und Wohin, unsere merkwürdige Stellung in der Schöpfung, meine Angewiesenheit auf Erlösung begreifen lerne. Auf Gott zu vertrauen lerne ich aber immer durch andere Menschen (Röm 10,17), durch ihre Worte und ihr Vorbild. Es ist vielleicht die Großmutter oder der Pfarrer, die oder der eine Beziehung zu mir aufbaut und bei der oder dem meine Fragen gute Antworten finden. Und was für eine ausgesprochen starke Erfahrung für ein Kind ist das, wenn es erlebt, wie seine Eltern in der Kirche etwas beim Abendmahl auf die Knie sinken, weil es da etwas Größeres gibt, dem sie sich beugen! Es gibt darüber hinaus das Zeugnis der Kirche, also das Lebenszeugnis vieler Menschen, die bereit waren, ihr Leben durch Gott prägen zu lassen – in ihrem Denken und in ihrem Tun. Ihr Wagnis zeugt von ihrer Gewissheit. Und es gibt unsere eigene Erfahrung mit dem Vertrauen. Das tief sitzende und beglückende Gefühl der Angewiesenheit auf Gott. Die Zuversicht, dass Gott mich führt, und die Einsicht, dass Vertrauen die attraktivere und lebendigere Option ist. Vertrauen ist letztlich immer personal, fragt nicht nach Sachgründen, sondern kommt aus Begegnung. Und damit sind wir wieder in der Mitte des Bildes angekommen: in der Gottes- und Christusbegegnung, die sich unserem Zugriff entzieht (Joh 20,29; 1. Kor 2,9). Die innerweltlichen Argumente reichen letztlich nur bis an den Rand des Lochs. Wenn wir uns verlassen auf Gott, dann müssen wir uns wirklich verlassen, auch unsere vermeintlichen Argumente und Beweise.
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III. Die überwindende Kraft des Evangeliums Und damit komme ich zur zweiten Frage: Wenn christlicher Glaube nicht allein in nachprüfbaren Fakten gründet, sondern letztlich in der Gabe des Geistes und in der unverfügbaren Christusbegegnung, inwiefern kann man dann behaupten, dass der Glaube etwas anderes als Fake News, ja genau das Gegenteil von Fake News ist? Ich glaube, dass das Evangelium gerade das aufbricht, was so charakteristisch ist für Fake News, dass es den Fake News den Boden entzieht – und möchte versuchen, das an 5 Punkten zu zeigen. Zunächst aber: Was gehört zu den wesentlichen Kennzeichen von Fake News? Fake News polarisieren und schaffen ein einfaches Gegenüber von wir und ihr, Wahrheit und Lüge, Freund und Feind: Besonders eindrücklich Präsident Trumps erste Pressekonferenz am 11. Januar 2017, zum CNN-Reporter gewendet: „You are fake news“!17 Fake News untergraben gezielt das Vertrauen in die Strukturen öffentlicher, gemeinsamer Wahrheitsfindung Wissenschaft, Medien, Kultur. Als Beispiel nenne ich die viel geteilte Verschwörungstheorie, die deutschen Medien würden einer geheimen staatlichen Agenda folgen, was sie berichten dürfen. Die Medien seien also vertrauensunwürdig, weil staatlich gelenkt. Fake News verengen den Wirklichkeitsausschnitt, reduzieren die Kontexte, indem etwa Zitate aus dem Zusammenhang gerissen werden oder die Komplexität von Problemen auf einfache Formeln gebracht wird. Also im Folgenden: Fünf Kernaspekte des Evangeliums, die diesen drei Kernaspekten von Fake News die Stirn bieten:
1. „Solidarität der Sünder“ – wider die Einteilung der Welt In seiner Auseinandersetzung mit dem scholastischen und humanistischen Menschenbild macht der Mönch Martin eine radikale Entdeckung. In der Heidelberger Disputation 1518 führt er sie seinen erstaunten Hörern minutiös vor Augen: In unserem Erkennen, in unserem Tun und sogar in unserem Wollen gibt es nichts, womit wir Gott entsprechen könnten. Luther zertrümmert den Glauben an den Men-
17 Jaster/Lanius, Wahrheit (wie Anm. 2), 33–35.
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schen.18 Wir bleiben immer Sünder, immer ungerecht, sagt Luther.19 Oder mit Römer 3,4: „Es bleibe vielmehr dabei: Gott ist wahrhaftig, und alle Menschen sind Lügner.“ Also: nicht die Welt, die Nachrichten, die Anderen, wir sind die Fake News. Es gibt keine Trennung zwischen uns und denen. Zwischen Lügnern und Gerechten. Es gibt keine zwei Welten, der Heiligen und der Profanen … Die anderen sind genauso angewiesen auf Gottes Gnade wie ich selbst. Hier befinden wir uns tatsächlich in einer Gleichheit, die alle Standes-, Kultur- und Geschlechterunterschiede übersteigt. Das hatte damals enorme gesellschaftliche Folgen.20 Wie ist dann aber Rechtfertigung zu verstehen? Melanchthon beschreibt Rechtfertigung im Bild der Gerichtsbilanz: Um Christi willen rechnet Gott dem Sünder nicht seine Sünde, sondern die Gerechtigkeit Christi zu. Luther beschreibt es in der Heidelberger Disputation stärker personal: „Die Liebe des Menschen entsteht aus dem für sie Liebenswerten. Die Liebe Gottes findet das für sie Liebenswerte nicht vor, sondern erschafft es.“21 Gott liebt den Menschen nicht, weil er richtig denkt, handelt oder richtig glaubt. Sondern: „darum sind die Sünder schön, weil sie geliebt werden; nicht darum werden sie geliebt, weil sie schön sind. […] Und das ist die Liebe des Kreuzes, aus dem Kreuz geboren, die sich dorthin wendet, nicht, wo sie Gutes findet, das sie genießen könnte, sondern wo sie dem Schlechten und Bedürftigen Gutes bringen kann.“22 Die Sünder sind schön, weil Gott sie liebt. Rechtfertigungsglaube heißt, an diese schöpferische Liebe Gottes zu glauben und die Menschen mit Gottes Augen schön sehen zu lernen. Ein solches Bewusstsein verändert Gesellschaften. Der Sünder in seiner Menschlichkeit, Bedürftigkeit und seiner unhintergehbaren 18 Martin Luther, Disputatio Heidelbergae habita / Heidelberger Disputation (1518), in: Martin Luther Studienausgabe, Lateinisch-Deutsch 1: Der Mensch vor Gott, Wilfried Härle (Hg.), Leipzig 2016, 35–70. 19 WA 56, 252,32–253,1: „Nos autem semper in operibus legis, semper iniusti, semper peccatores.“ 20 Es ist bezeichnend, dass Luther und Cranach diese Wahrheit gerade in der Praxis des Fürstenspiegels, der darüber informiert, wie ein guter Regent zu sein hat, vor Augen führen. 21 Luther, Disputatio Heidelbergae habita (wie Anm. 18), 61. 22 Ebd.
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Selbstbezogenheit kommt realistisch in den Blick, als einer, der ist wie ich bin – und den Gott schön sehen will, wie er mich schön sieht. Eine Aufteilung in gut und böse, Freund und Feind, Christ und Nicht-Christ ist dann aber absurd.
Lucas Cranach, d.J. und Werkstatt, ca. 1545-50, ca. 16x22cm, Metropolitan Museum of Art, New York
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2. Vertrauen als Kernbegriff des Evangelischen Im Metropolitan Museum in New York existieren zwei kleine Arbeiten aus der Cranach-Werkstatt, die offensichtlich als Doppelbild gleicher Größe hergestellt wurden und auf denen Jesu Segnung der Kinder nach Mk 10 und die Rechtfertigung der Sünderin nach Joh 8 dargestellt ist. Beide Themen wurden von Cranach parallel zur Entstehung erster lutherischer Bekenntnisse Mitte der 1520er Jahre entwickelt und bringen das zentral Evangelische zum Ausdruck. Der dänische Lutherforscher Bo Holm hat vor einiger Zeit zeigen können, dass Luther sein Verständnis der Rechtfertigung des Sünders mit Metaphern familiärer Nahbeziehungen beschreibt: dem ElternKind-Verhältnis und dem Verhältnis zweier Eheleute.23 Genau diese Themen personaler Nahbeziehungen sind es auch, mit denen Cranach die Rechtfertigung aus Gnade ins Bild setzt. In der Kindersegnung wird Rechtfertigung als bedingungslose Zuwendung Christi sichtbar, Glaube als elementares Vertrauen des nackten, bedürftigen Säuglings, der da mit seinem nackten Hintern auf Christi Arm hockt. Und entsprechend rechts das Verhältnis von Christus und der Ehebrecherin so, dass Christus die Sünderin an der Hand ergreift und wie ein Bräutigam mit seiner Braut vor die Leute tritt. Ganz ähnlich beschreibt Luther das in seiner Freiheitsschrift als fröhlichen Ehestand, in dem jeder seine Mitgift in die gemeinsame Wirtschaft einbringt: Christus seine Gerechtigkeit, ich meine Sünde.24 Diese Recht23 Bo Kristian Holm, Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre. Berlin/New York 2006. 24 „Wenn die Seele also den Verheißungen Gottes fest vertraut, hält sie ihn für wahrhaftig und rechtschaffen. Nichts Hervorragenderes als das kann Gott zugeschrieben werden. Die allerhöchste Anbetung Gottes ist diese, in der wir ihm Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und alles andere zuschreiben, was einer Vertrauensperson zugeschrieben werden sollte.“ (De libertate Christiana, WA 7, 54,1–4: „Sic anima, dum firmiter credit promittenti deo, veracem et iustum eum habet, qua opinione nihil potest deo praestantius tribuere: hic summus cultus dei est, dedisse ei veritatem, iustitiam et quicquid tribui debet ei, cui creditur.“) In dieser personalen Vertrauensbeziehung kann Luther dem Glauben Großes zutrauen: Gott gewährt es, des Menschen Zutrauen als Gabe an ihn zu verstehen, obwohl der Glaube doch unverfügbares Geschenk Gottes bleibt: „Wenn Gott sieht, dass wir ihn für wahrhaftig halten und ihm durch den Glauben unseres Herzens die große Ehre erweisen, die ihm gebührt, dann erweist er uns diese große Ehre, uns um unseres Glaubens willen für wahrhaftig und gerecht zu halten.‘‘ (WA 7, 54,21–23: „Ubi autem deus videt, veritatem sibi tribui et fide cordis
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fertigungsbotschaft prägt nun ihrerseits wieder unsere Nahbeziehungen, stiftet Vertrauen auch unter Menschen. Bo Holm und sein Team arbeiten gegenwärtig an der Frage, wie die lutherische Konzentration auf Glaube als Vertrauen die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten geprägt hat, immerhin die erfolgreichsten Sozialstaaten mit einer hohen bürgerlichen Freiheit.25 Das Evangelium ist eine Botschaft des Vertrauens und stiftet eine Atmosphäre des Vertrauens, während Fake News Vertrauen gezielt untergraben!
3. Gesellschaftliche Angewiesenheit auf Vertrauen – Gemeinden als Lernorte des Vertrauens Vertrauen ist aber das, wovon Gesellschaften zehren.26 Gerhard Wegner, Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, spricht vom „transzendentalen Vertrauensvorschuss“, ohne den das Soziale unmöglich ist.27 Vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD wurde 2017 eine interessante Studie durchgeführt: 1.000 evangelische Kirchenmitglieder ab 18 Jahren sowie 1.000 Konfessionslose wurden nach ihren Lebens- und Wertorientierungen befragt unter der Leitperspektive: Was macht eigentlich den Unterschied? nostri se honorari tanto honore, quo ipse dignus est, Rursus et ipse nos honorat, tribuens et nobis veritatem et iustitiam propter hanc fidem.‘‘) 25 Die nordischen Gesellschaften geben zu erkennen, dass Luthers Verständnis der zwei Regimente Gottes nicht dazu führen muss, den Staat allein vom Gesetz und von der Sanktionierung von Ordnung her verstehen zu müssen (so noch Werner Elert, Politische Aufgaben und Schranken des Pfarrers, in: Korrespondenzblatt für die ev.-luth. Geistlichen in Bayern 1933, Nr. 7 und 8; Hermann Sasse, Die Soziallehren der Augsburgischen Confession und ihre Bedeutung für die Gegenwart, in: Werner Klän/Roland Ziegler, In statu confessionis III, OUH.E 10 Göttingen 2011, 19–29; anders dann Hans Joachim Iwand, Kirche und Gesellschaft. Nachgelassene Werke Neue Folge Bd. 1, bearbeitet, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Ekkehard Börsch, Gütersloh 1998). Vgl. Sasja Emilie Mathiasen Stopa, „Through Sin Nature Has Lost Its Confidence in God” – Sin and Trust as Formative Elements of Martin Luther’s Conception of Society, in: Journal of Early Modern Christianity 5 (2018), 151–171. 26 Vgl. Barbara Miztal, Trust in Modern Societies. The Search for the Bases of Social Order, Oxford 1998. 27 Gerhard Wegner, Transzendentaler Vertrauensvorschuss. Sozialethik im Entstehen, hg. vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD, Gütersloh 2019.
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Im Ergebnis zeigte sich, dass es in vielen Lebens- und Wertorientierungen nur geringe Abweichungen gibt. Christen und NichtChristen sind halt auch nur Menschen. Interessant war aber, dass es mindestens einen erheblichen Unterschied gab: nämlich im Bereich des Vertrauens! Evangelische geben zu einem viel größeren Prozentsatz an, ihren Mitmenschen zu vertrauen! (33%/17%). Und es gab noch einen weiteren markanten Differenzpunkt: auch in ihrem sozialen Engagement waren die Evangelischen deutlich aktiver als die Konfessionslosen (38%/17%).28 Vertrauen schafft Engagement! Politisch ist in Deutschland die Frage nach den Bindekräften der Gesellschaft neu erwacht. Im vergangenen Jahr hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Startschuss gegeben für ein gesamtdeutsches „Institut für gesellschaftlichen Zusammenhalt“.29 Daran sind elf akademische Forschungseinrichtungen beteiligt. Theologische Einrichtungen sind bisher nicht am Start. Dabei wäre eine entscheidende Frage, welche Rolle Glaube für die gesellschaftliche Vertrauensbildung spielt und wie sich das unter säkularen und multireligiösen Bedingungen verhält. Christliche Gemeinden sind als Orte des Glaubens Lernorte des Vertrauens.30 Vor kurzem kam eines meiner Kinder von Bezirksju28 Petra-Angela Ahrens, Was macht eigentlich den Unterschied? Evangelische und Konfessionslose im Osten Berlins. Lebensorientierungen, Engagement und Bezug zur Kirche, hg. vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD, 2018. Fragt man nach den Motiven für soziales Engagement, dann dominieren bei beiden Gruppen gemeinwohlorientierte Motive. Interessant ist hingegen eine deutliche Abweichung hinsichtlich der egoistischen Motive: Diese waren bei Evangelischen jeweils weniger stark ausgeprägt – um ein Viertel bis Fünftel geringer: Bei den Werthaltungen gab es nahezu identisch hohe Zustimmungsraten „Für andere da sein“, „Gemeinschaft erleben“, aber auch „Gesetz und Ordnung erleben“. Die größten Differenzen hingegen gab es erwartungsgemäß beim Glauben an Gott (59/4%) und bei den egoistischen Werten (Lebensstandard 34/53%; Bedürfnisse gegen andere behaupten 26/45%). Interessant ist auch die unterschiedliche Bewertung entscheidender Lebensereignisse, etwa einer Geburt. Während bei Konfessionslosen die Gefühle von Stolz, Zufriedenheit, Erfüllung und Stärke überrepräsentiert sind, ist es bei den Evangelischen die Dankbarkeit (77/59%) und Demut (34/14%). 29 https://www.bmbf.de/de/institut-fuer-gesellschaftlichen-zusammenhalt-startet7044.html. 30 Luther schreibt in den Schmalkaldischen Artikeln, was Kirche ist: „es weis Gott lob ein kind von sieben jare, was die Kirche sey, Nemlich die heiligen gleubigen
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gendtagen zurück und erzählte: „Papa, das ist so ganz anders als in der Schule. Wir gehen so anders miteinander um.“ Das hat mich bewegt, weil ich es selbst als Jugendlicher so erlebt habe. Kirche nicht als Sonderwelt, sondern als kraftvolle und reale Inspiration für unseren vermeintlich alternativlosen „Realismus“ und als Quelle der Veränderung unserer Sozialbeziehungen. Es ist aber nicht nur so, dass Vertrauen zwischen Menschen aus Gottvertrauen wächst. Es ist auch andersherum, dass der Missbrauch von Vertrauen das Gottvertrauen zerstört.31 Deshalb ist das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Kindern, Jugendlichen und Nonnen in der katholischen Kirche – aber bei weitem nicht nur in ihr – und die systematische Weise, wie dieser Missbrauch gedeckt, geleugnet und vertuscht wurde, so erschütternd und eine tiefe Anfechtung – nicht nur für das Vertrauen in die Institution Kirche und ihre Repräsentanten, sondern auch gegenüber Gott. Meines Erachtens stehen wir hier vor der größten selbstgemachten Krise von Kirche überhaupt: dass die Predigt des Vertrauens hohl wird. Unterhalb oder neben der Ebene des sexuellen Missbrauchs gibt es vermutlich noch andere Dimensionen von Missbrauch, subtile Formen der Machtausübung in Kirche. Und ich glaube, es wäre gut, und die Scheflin, die ihres Hirten stim hören.“ Und die Heiligkeit, so fährt Luther fort, liegt in nichts anderem als „im wort Gottes und rechtem glauben.“ (BSELK 776, 4–11). 31 Gottesbeziehung teilt sich in menschlichen Beziehungen mit. Menschen erzählen von Gott, Menschen leiten Gemeinde, reichen den Kelch, Menschen geben das, was ihnen am Herzen liegt, an ihre Kinder und Enkel weiter … Gen 1,26f. erzählt vom Menschen als ‚Bild‘ Gottes. Ein Bild macht aufmerksam, zeigt und erinnert. (Zu diesem Bildverständnis vgl. Lambert Wiesing, Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Frankfurt a. M. 22013.) Das heißt: Der Mensch, so wie er lebt und handelt, lässt andere Menschen nach Gott Ausschau halten und nach Gott fragen. Im Guten wie im Argen. (Dietrich Bonhoeffer hat einen ähnlichen Ansatz gewählt mit seinem Versuch, Gottesbildlichkeit im Verweis des Menschen auf Gott, in seiner Relationalität zu fassen. Vgl. ders., Werke 3: Schöpfung und Fall, Martin Rüter/Ilse Tödt (Hg.), Gütersloh 32007, 56–63.) Andere Menschen können mich die Liebe Gottes spüren lassen oder auch den Zorn, Barmherzigkeit und Hass … Auch als Bild der Kehrseite Gottes bleiben Menschen Gottes Bild. (Damit ist auch inkludiert, dass Menschen ihren Gottesbildern auf erschreckende bzw. beglückende Weise gleichen, was Feuerbach zu seinem Projektionsverdacht veranlasst hatte). Auch dann bleibt der Mensch der Ort, an dem die Frage nach Gott präsent ist.
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wenn wir uns das zum Thema machen. Gibt es sogar etwas wie geistlichen Missbrauch, Ausübung von Kontrolle unter dem Deckmantel des Evangeliums? Ich fange da bei mir selbst an: Gebrauche ich die Autorität der Bibel, um Gehorsam anderer zu erreichen, etwa meiner Kinder? Habe ich als Pfarrer Menschen in Ämter gedrängt, damit meine Gemeinde läuft, obwohl ich wusste, dass sie erschöpft sind und eine Pause benötigen? Wie authentisch sind wir in dem, was wir denken, verkündigen und leben? Christen wird von ihren Kritikern oft ein Hang zur Doppelmoral vorgeworfen. Was kann uns helfen, ehrlicher, offener, vertrauensvoller zu leben? Als Jugendpfarrer habe ich das stark gespürt, wie Jugendliche uns Erwachsene danach „abklopfen“, ob das authentisch ist, was wir sagen und glauben oder ob wir die Augen verschließen vor den Wirklichkeiten, die nicht ins Bild passen… Es wird eine entscheidende Frage für den Dialog mit der Jugend und für die Weitergabe des Glaubens sein, ob bei uns Kopf, Herz und Hand wirklich beieinander sind.
4. Freude an der Wahrheit Deswegen heißt mein vierter Punkt: Freude an der Wahrheit. „Die Liebe freut sich nicht an der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit.“ (1. Kor 13,6)32 Fake News verengen den Wirklichkeitsausschnitt, hatten wir gesagt. Zum Vertrauen, das vom Glauben ausgeht, gehört, dass Christinnen und Christen sich auf die wirklichen Fragen ihrer Zeit einlassen. Das ist manchmal ein schmerzlicher Prozess, der in große Verunsi32 Der Wahrheitsbegriff hat in der Bibel eine faszinierende Weite, aber auch eine klare Tendenz: ‚Wahrheit‘ kann in einem formalen Sinn durchaus die Angemessenheit und Übereinstimmung sein, etwa mit der Schrift, der Wirklichkeit, der Wahrheit eines Zeugnisses. ‚Wahrheit‘ hat darüber hinaus aber einen starken Beziehungsaspekt: Für die Wahrheit einer Aussage ist die verlässliche Beziehung des Gesprächspartners entscheidend. Wahrheit und Treue hängen insofern eng zusammen. In diesem Sinne ist Wahrheit für Christinnen und Christen sogar personhaft: Christus ist die Wahrheit (Joh 1,17; 14,6), Gott ist wahrhaftig (Joh 3,33). Der Geist soll die Gemeinde in die Wahrheit führen (Joh 16,13), ja er ist die Wahrheit (1. Joh 5,6). Wer an Christi Wort bleibt, ist in der Wahrheit und die Wahrheit wird ihn frei machen (Joh 8,34–36). Und auch bei Paulus umfasst die Wahrheit das Christusgeschehen. Von Christus zu predigen heißt die Wahrheit sagen (Gal 4,13+16).
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cherung führen kann. Aber nur so finden wir auch das lösende und befreiende Wort! Luther nennt das „tentatio“ – und es ist für ihn neben Gebet und Bibelstudium der eigentliche Ort der Glaubensreifung. Als Theologiestudierende haben wir diese „tentatio“ in besonderer Weise erlebt – und heutige Studierende erleben es ebenso. Die Theologie hat zwar andere Voraussetzungen als andere Wissenschaften. Trotzdem kann sie den Streit um die Wahrheit nicht aussitzen, sondern muss das Gespräch mit den anderen Wissenschaften suchen – und sie wird als Gesprächspartnerin gesucht. Für unser Forschen und Lehren an der Lutherischen Theologischen Hochschule ist es deshalb einfach selbstverständlich, dass die Theologie auf dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Niveau anschlussfähig und auskunftsfähig bleibt, so gut sie es eben vermag. Dass sie den Austausch mit anderen Wissenschaftsdisziplinen sucht und bei relevanten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen mitarbeitet, soweit es unsere Kräfte zulassen. Auf der anderen Seite liegt die Bedeutung gerade einer kirchlichen Hochschule darin, die akademische Theologie immer wieder an ihre biblische und kirchliche Bindung zu erinnern. Ich glaube, dass Oberursel sich hier profiliert und weiter profilieren kann über Deutschlands Grenzen hinaus als Forschungs- und Lehrstätte für auskunftsbereite konfessionelllutherische Theologie. Wir legen Wert auf ein sorgfältiges Studium der Hl. Schrift und unseres Bekenntnisses. Ebenso wichtig ist die gründliche Wahrnehmung unserer Lebenswirklichkeit auf der Höhe wissenschaftlicher Theoriebildung. Karl Barth hat zurecht festgestellt: „Wer das Leben, wie es ist, nicht versteht, kann auch seine Bedeutung nicht verstehen.“33 „Fake News“ sind nicht immer böswillige Manipulationen, sondern gründen manchmal ganz schlicht in einer unbewussten Verengung des Wirklichkeitsbezugs. Wir erleben mit Erscheinungen wie der „Fridays for Future“-Bewegung zur Zeit, wie eine sehr junge Generation diesen Wirklichkeitsbezug von uns einfordert und wir in Rechtfertigungsnot geraten, angesichts der Bedrohungen unserer Ökosysteme. Wie immer man die Bewegung im Einzelnen beurteilen mag, 33 Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, in Verbindung mit Friedrich-Wilhelm Marquardt hg. v. HansAnton Drewes, Zürich 2012, 583.
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sie löst eine offene Diskussion aus an Punkten, die wir gern verdrängen. Ich erlebe das ganz praktisch im Gespräch mit meinen Kindern. Ich erhoffe mir auch von der jungen Generation in unserer Kirche, dass sie sich nicht in unterschiedliche Wirklichkeitsblasen zurückzieht, sondern uns nötigt, miteinander und vor dem Forum der ganzen Breite gegenwärtiger Fragen nach den angemessenen Ausdrucksweisen des Glaubens in unserer Zeit zu suchen – und wir uns dabei nicht von Scheingefechten und Klischees in die Irre führen lassen.
5. Gottesdienst als Öffentlichkeit des Reiches Gottes Der Kern christlichen Lebens ist ohne Zweifel der Gottesdienst. Der Gottesdienst als Fest in unserer weithin säkularen multireligiösen Öffentlichkeit hat aber auch Bedeutung für die Gesellschaft. Denn er öffnet unsere Öffentlichkeiten hin auf die Öffentlichkeit des Reiches Gottes. „Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ ist die Ansage, wie sich unser hermetischer Raum im Zeichen des Kreuzes weitet und einen Riss bekommt für die Welt Gottes mitten unter uns. Für die Alte Kirche war es nie von Zweifel, dass die himmlischen Chöre mitfeiern, wenn wir Gottesdienst feiern, dass die himmlische Öffentlichkeit der Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig ist in diesem Moment. Die unbeschreiblich schöne Erzählung vom pfingstlichen Gottesdienst in Apg 2 macht das ja deutlich, wie hier die Grenze zwischen Drinnen und Draußen, Haus und Platz aufgehoben wird, weil die Öffentlichkeit des Reiches Gottes unsere weltliche Öffentlichkeit mitbetrifft. Wir merken etwas davon, wenn wir Feste feiern – Hochzeit oder Erntefest: Es macht einen Unterschied, wenn wir mit einem Gottesdienst beginnen oder zumindest einem Gebet. Plötzlich steht unser Handeln im Raum einer anderen, weiteren Öffentlichkeit. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Ps 31,9). Um diese Weite bitten wir im täglichen Vaterunser, wenn wir um das Reich Gottes bitten. Getragen ist diese Bitte wie alle anderen Bitten freilich von der VaterAnrede am Anfang: Die Bitte um das Reich steht und fällt mit dem Grund christlicher Hoffnung, dem Vertrauen auf Gottes Vatergüte. In unserer säkularen multireligiösen Öffentlichkeit fallen solche Erinnerungen an die größere Öffentlichkeit Gottes oft ersatzlos weg. Wie gehen wir damit um? Gehen wir den Weg der Säkularität weiter wie in Frankreich? Versuchen wir eine christliche Leitkultur durch-
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zusetzen? Oder gehen wir verstärkt den Weg interreligiöser Feiern, wo unsere Öffentlichkeit als solche betroffen ist? Auch das sind offene Fragen, die wir diskutieren müssten.
IV. Ausblick: Zuversicht (Parresia) Liebe Brüder und Schwestern, Ihr seid hier zusammen, um Wege zu bedenken für das Leben und das Zeugnis lutherischer Kirche in einer sich wandelnden Welt. Diese Welt ist Gottes Schöpfung – voller Wunder. Wir wissen um die Gefahren der Lüge. Wir wissen aber auch, dass wir nicht einfach unterscheiden können zwischen uns und denen da draußen. Nicht die anderen sind die Fake News World. Wir vertrauen darauf, dass Gott mitten in dieser Welt da ist, dass Gottes Wort „nicht leer zurückkommt“ (Jes 55,11) und dass es „lebendig und kräftig und scharf“ ist (Hebr 4,12), sein aufdeckendes, Öffentlichkeit herstellendes Werk zu tun. Im Vertrauen auf die Kraft des Wortes Gottes spricht Paulus immer wieder von der freimütigen Zuversicht (Parresia), die aus diesem Vertrauen erwächst: „Weil wir nun solche Hoffnung haben, sind wir voll freimütiger Zuversicht (Parresia)“ (2. Kor 3,6) und erzählen „das Geheimnis des Evangeliums“ voll „freimütiger Zuversicht“ (Eph 6,19). Wie befreiend ist es, im Vertrauen auf die Kraft der „Good News“ zu leben. Meine Ausführungen sollten deutlich machen, dass lutherischer Glaube Vertrauen stiftet, Trennungen abbaut, den wissenschaftlichen Diskurs sucht und Wirklichkeitswahrnehmung öffnet und schärft. Es ist aber keineswegs so, dass wir das schon immer und überall leben. Und es soll nicht darüber hinwegspielen, dass wir auch manche unerledigte Hausaufgabe im Gepäck haben. Einige Fragen habe ich bereits angerissen, andere wären zu ergänzen: Wie gelingt es uns, dem Thema Vertrauen mehr Raum zu geben – im kirchlichen wie gesellschaftlichen Leben? Was tun wir gegen das Misstrauen gegen die anderen in unseren eigenen Reihen? Was macht unser christliches Zeugnis vertrauenswürdig? Wie gelingt das Gespräch mit der Jugend – und ebenso: der Jugend untereinander mit ihren sehr unterschiedlichen Weltsichten, die immer stärker auseinanderzudriften scheinen34 – etwa im Blick auf 34 Zu den kommunikationstheoretischen Problemen von „Bestätigungsfehlern“, „Kognitiver Dissonanz“ und „Echokammern“ vgl. Jaster/Lanius, Wahrheit (wie Anm. 2), 54–58 und 69–71.
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Geschlechterrollen, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, nationale Identität?35 Wie gelingt es uns, die Einmütigkeit im Bekenntnis mit einer Wertschätzung der oft heterogenen individuellen Glaubenserfahrung und Lebenspraxis zu vermitteln? Bei meinem Besuch an unserem Schwesterseminar in St. Louis/Missouri letzte Woche hat mich fasziniert, wie man sich den damit verbundenen Fragen zu stellen versucht, etwa mit der Überlegung, was „geistliche Gastfreundschaft“ der Kirche sein könnte – oder in der Aufnahme postkolonialer Denkansätze, um der Lebenserfahrung von Menschen im globalen Süden gerecht zu werden.36 Immer geht es im Glauben um die Begegnung Gottes mit konkreten Menschen in ihrer konkreten Situation. Gefragt ist darum nach einer Art „Diversitäts-Hermeneutik“:37 wie vermitteln 35 An die Stelle des vermittlungsorientierten Disputs zwischen Meinungen, Interessen, Gründen und Werten droht das gesellschaftliche Paradigma eines bloßen Kommunikations-Kampfes zwischen nicht-vermittelbaren, hermetisch (füreinander und in sich selbst) geschlossenen Positionen zu treten. Vgl. Nina Ort/Patrick Thor/Anna-Maria Babin, „Nobody Knows Exactly What's Going On“. Drei Thesen und eine Schlussfolgerung zum Phänomen des ,Postfaktischen‘, in: Muenchner Semiotik. Zeitschrift des Forschungskolloquiums an der LMU (Ausgabe 2017). http://www.muenchner-semiotik.de/ausgabe/2017/ort_thor_babin_phae nomen-des-postfaktischen.pdf. 36 Die Neuzeit hat mit wachsendem Nachdruck die individuellen Rechte auf eigene Würde (Moderne), die eigene Perspektive (Postmoderne) und die eigene Stimme (Feminismus und Postkulturalismus) bestärkt. Vgl. Leopoldo A. Sánchez M., Individualism, Indulgence and the Mind of Christ: Making Room for the Neighbor and the Father, in: Robert Kolb (Hg.), The American Mind meets the Mind of Christ, St. Louis 2010, 54–67. Das führt aber auch zu Gegenreaktionen. ,Freiheit‘ und ,Ordnung‘ scheinen kaum noch miteinander vereinbar zu sein und fallen in kontroverse politische Konzeptionen auseinander. 37 Christologische und anthropologische Ansätze des Luthertums könnten hier weiterentwickelt werden: 1) Lässt sich die Einheit in Christus als auf Zukunft angelegtes dynamisches Modell denken, das die Einheit auch in den noch bestehenden Differenzen wahrnimmt und würdigt? 2) Bemerkenswert ist, dass lutherische Anthropologie gerade nicht von einem festen Wissen um den Menschen ausgeht, sondern Identität erst in der Bezogenheit auf Gott beschreiben kann. Aufgrund der Verborgenheit des Lebens mit Christus in Gott ist unsere (Selbst-) Wahrnehmung von Menschsein defektiv und fragmentarisch. Nur unter der paradoxen Gleichzeitigkeit sich widersprechender Zuschreibungen kommt der Glaubende in den Blick. Multiperspektivität ist ein Grundthema lutherischer Lehre vom Menschen …
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Christian Neddens
wir die wünschenswerte Einmütigkeit im Bekenntnis mit der vorhandenen Vielfalt menschlicher Erfahrung – im Blick auf das Miteinander in den Gemeinden, aber auch im Blick auf unser Selbstverständnis innerhalb der Ökumene?
ROBER KOLB
Das Evangelium in einer Fake News Welt Vertrauen steht an der zentralen Stelle in Luthers Bild vom Menschsein. Die mittelalterliche Definition des Menschseins stammte von Aristoteles: der Mensch sei ein animal rationalis, ein vernünftig denkendes Lebewesen, das darnach strebt, das Leben und die Welt an dem ewigen Gesetz festzuhalten. Stattdessen glaubte Luther, dass der Mensch vor allem ein Geschöpf Gottes sei, das ihn vor allen Kreaturen, fürchtet, liebt, und ihm über alles, was er erschaffen hat, vertraut.1 Vertrauen bindet aber den Menschen nicht nur an Gott sondern auch an andere Menschen. Vertrauen ist das Fundament aller menschlichen Verhältnisse. Es gibt vieles das uns diese wahre Botschaft über diesem wesentlichen Element des menschlichen Daseins verdunkelt und verdreht, nämlich die verschiedenen Versionen von Fake News in unserer Gesellschaft. Viele Sender senden täuschende Botschaften, einen gefälschten Ersatz nach dem anderen, anstelle von der Botschaft der neuen Schöpfung, die aus dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi hervorkommt. Der gefährlichste dieser Sender liegt in uns, das heißt, die Stimme unserer falschen Interpretation unserer eigenen Erfahrung mit uns selbst und mit Gott und seinem Wort. Wir bekennen, dass Jesus das Wort Gottes ist, das Fleisch und Blut geworden ist, damit wir ihn durch den Heiligen Geist annehmen und an seinen Namen glauben können. Wir bekennen, dass durch seinen Tod unsere Sünden in seinem Grab begraben liegen aus der Sicht des Vaters, und dass durch seine Auferstehung er uns die Gerechtigkeit schenkt, die vor Gott gilt (Röm 4, 25). Wir haben die Zuversicht, dass — wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt worden ist — auch wir deswegen in einem neuen Leben wandeln (Röm 6, 3–11). Aber glauben wir das? Haben wir Vertrauen zu den Worten der Absolution? Diese Worte stellen uns nicht auf einen neutralen Punkt zwischen Gott und Satan, wo wir uns entscheiden können, was wir 1
Notger Slenczka, Luther’s Anthropology, in: The Oxford Handbook of Martin Luther’s Theology, Robert Kolb/Irene Dingel/Lubomir Batka (Hg.), Oxford 2014, 212–220. LuThK 43 (2019), 123–128 DOI 10.2364/3846997222
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Robert Kolb
als nächstes tun sollen. Durch Gottes Wort, das heißt, durch sein Wort der Vergebung, sind wir aus der Dunkelheit des Lügners und seiner Fake News in das Licht der Wahrheit, in die klare Sicht der Wirklichkeit, die Gott erschafft, gebracht worden. Wenn wir Vertrauen zu seiner Verheißung haben, denn erkennen wir die Tatsache, dass die Wirklichkeit unserer Existenz ist, dass wir wahrhaftig Nachfolger Christi geworden sind, dass wir im innersten Wesen gerecht geworden sind. Das ist wahr trotz der täglichen Erfahrung, dass wir sündigen und Gott ignorieren und vergessen, auch wenn wir äußerlich nichts Schlimmes tun. Die Fortsetzung und die bleibende Anwesenheit von der Sünde und des Bösen im Leben der Gläubigen sind echte Erfahrungen aber auch ein großes Geheimnis. Dennoch lernen wir von Paulus, zum Beispiel in Römer 7 oder Galater 5,17, dass die überwältigende Wirklichkeit unseres Lebens in der Taufe bestimmt wurde, bzw. bei der ersten Begegnung mit einer anderen mündlichen oder geschriebenen Form des Wortes Gottes. Weil Gott uns gerecht erklärt und uns dadurch zu seinen Kindern umwandelt, sind wir wirklich gerecht, tatsächlich Gottes Kinder. Diese gute Nachricht, dieses Evangelium, bestimmt unsere neue Realität. Luther betonte das Wort Verheißung als Synonym für das Evangelium.2 Ein Versprechen, eine Verheißung, bedeutet, dass etwas in der Zukunft zustande kommen wird. Luther hat das Wort ausgesucht, weil es darauf hinweist, dass, obwohl wir noch nicht die Fülle unserer neuen Existenz begreifen und genießen können, wir trotzdem die absolute Gewissheit dieser zukünftigen Wirklichkeit haben. Aber dieses Wort ist eins unter denen, die Luther und Melanchthon aus der Tradition entnommen haben und dann deren Definition durch den biblischen Gebrauch des Wortes den Begriff vertieft und verschärft haben. Denn diese Verheißung hat einen RückströmungEffekt – ich meine, die zukünftige Wirklichkeit fließt zurück in unsere Gegenwart. Wie Oswald Bayer geschrieben hat, verstand Luther diese Verheißung als „keine Verheißung als Ankündigung, die erst in der Zukunft erfüllt und eingelöst wird, sondern primär rechtskräftige Zusage mit sofortiger Wirkung im Glauben … Die promissio tut, was sie sagt.“3 Die zukünftige Erfüllung bestimmt auch die Wirklichkeit 2 3
Oswald Bayer, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt, 21989. Oswald Bayer, Promissio, in: Das Luther-Lexikon, Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Regensburg, 2014, 571.
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heute. Was wir eines Tages erleben werden, sind wir schon in Gottes Augen. Wenn wir wahrhaftig gerecht sind – trotz unserer Erfahrung der Sünden im täglichen Leben – das heißt, wenn Gott wirklich Recht hat, dann merken wir, und merken andere Menschen, dass wir die Gerechtigkeit verkörpern. Unsere Leben und unsere Lebensweise zeigen, dass wir gerecht sind, dass wir als Gottes Kinder leben und ihn und seine Geschöpfe lieben, und Gott loben, vom neugeborenen Wesen her. Wenn das stimmt, was ist dann die Rolle des Evangeliums, und was ist unsere Aufgabe, in einer „Fake News“ Welt? Ersten, unsere Situation ist anders als vor einer Generation. Das kann wohl von jeder Generation gesagt werden, denn unser Gott ist ein Gott der Geschichte, und er baute in unsere Menschheit die Weiterentwicklung der menschlichen Geschichte ein, die auch die Geschichte seiner Tätigkeit unter uns ist. Seit dem Sündenfall hat der Teufel uns mitten in unserer Geschichte ins Ohr Fake News eingeflüstert. Sein Ziel ist immer die Zerstörung vom Vertrauen gewesen, vor allem von unserem Vertrauen zu Gott und seinem Wort. Er versucht immer, die Verhältnisse der Menschen untereinander und vor allem zu Gott zu unterbrechen und zu sprengen. Dennoch, in dem, was er heutzutage macht, begegnet uns eine andere Strategie als vor einem halben Jahrhundert. Aber der Feind ist derselbe, und unsere Waffe ist dieselbe, nämlich, das Schwert des Geistes, Gottes Wort (Eph 6,17), auch im Mund des einzelnen Gläubigen und als in seinem Leben gespiegelt. Denn wir sind Gottes Plaudertaschen. Wie scharf sind unsere Kenntnisse des Wortes? Es ist nicht nur eine Frage der Bibelkunde. Die Kirche Gottes ist immer als Dolmetscher situiert, zwischen Gottes Rede in der Heiligen Schrift und den Nachbarn; zwischen denen, die die Sprache von heute, mit den Voraussetzungen der heutigen Weltanschauungen, sprechen, und den Propheten und Aposteln und ihrem Begriff der Wirklichkeit. Wir müssen in unserer Zeit die Brücke zwischen Gottes Evangelium, das in der Heiligen Schrift geoffenbart steht, und der jetzigen Gesellschaft, wohin Gott uns berufen hat, sein Wort zu verkündigen, schlagen. Zweitens, die Botschaft, die wir haben, ist auch für unsere Welt ein törisches und schwaches Wort (1. Kor 1 und 2). Wir sind Zeugen Gottes, die die Nachbarn nicht überzeugen müssen – der Heilige Geist macht das. Aber wir müssen unser Zeugnis abgeben. Wir müssen Vertrauen aufbauen, und das passiert nicht nur durch unser mündliches Zeugnis, sondern auch, und wahrscheinlich kommt das
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Robert Kolb
zuerst, durch unsere Liebe. Denn die Liebe ist der Pfad, der zum Gespräch führt, und das Gespräch ist der Ort der Öffnung der Ohren des Anderen zum Evangelium. Nicht nur das Wort ist schwach, sondern auch wir, denen Gott seine Mission aufgetragen hat. Wir sind auch nur irdische Gefäße (2. Kor 4,7), aber wir sind Gottes ausgewählte Instrumente. Gott kannte seine Menschen gut. Er wusste, dass das Zeugnis, das wir für das Evangelium ablegen, bei den Menschen, die den Weg zu Gott verloren haben und die zerschlagen und zerstoßen sind, am effektivsten ist, wenn diese Zuhörer und Beobachter sehen können, dass wir, gleich wie sie, verletzlich sind, und dass wir den Frieden und die Freude des Herrn trotz allerlei Mangeln und Fehlern haben. Wenn wir trotz Sünde und Schwierigkeit immer noch die Liebe Gottes zeigen können, und erklären können, wie wir Vergebung und Zuversicht bekommen haben, dann werden wir in ihren Augen und Ohren glaubwürdig. Unsere Aufgabe ist dann, den Menschen um uns herum zu helfen, ihre eigenen Situationen zu diagnostizieren. Wenn wir Luthers Erklärung der Zehn Gebote ernst nehmen, dann erkennen wir, dass es in jedem Menschen am Ende um den Glauben an Gott geht. Das heißt, dass wir ein Teil des Evangeliums bringen können, nicht nur den Schuldigen, die an ihrem Schuldgefühl leiden, sondern auch denen, die sich als Opfer von den Sünden von anderen sehen. In den letzten paar Jahren hat es mich beim Lesen der Predigten Luthers immer wieder überrascht, wie selten Luther die Schuld der Zuhörer erwähnt. Er sprach vielmehr von der Furcht, der Angst der Menschen. Zum Teil lagen diese Ängste natürlich an der Tatsache, dass sie schuldig vor ihrem Gott waren. Aber andererseits erkannte er, dass der Mensch ohne Vertrauen zu Gott allerlei Bedrohungen ausgeliefert ist, und die Anwesenheit und Zeichen der Anwesenheit Gottes in Angesicht dieser Bedrohungen braucht. Unser Zeugnis von Christus führt am Ende zum Bekenntnis der Sünden, und zur Verkündigung und Schenkung der Vergebung der Sünden, aber es fängt oft mit dem Versprechen an, dass uns Gottes Gnade und Wohltat auch in anderen Weisen begegnet. Dazu lehrt uns Luther, wie zahllos die Ausdrücke der beneficia Christi sind. Seine erste und vielleicht wichtigste Behandlung von der Rechtfertigungslehre – außer dem großen Galaterbriefkommentar – hieß nicht, „Die Vergebung der Sünden“ sondern „Die Freiheit
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des Christenmenschen.“4 Er sprach von der Befreiung von allen Feinden, die durch den Tod des Herrn Jesu in seinem Grab begraben liegen – Sünden, Tod, Gottes Zorn, Anklage des Gesetzes, Bedrohungen aller Arten. Er sprach vom neuen Leben in der Freiheit, wieder wirklich menschlich zu sein, wie Adam und Eva. Diese Freiheit, schrieb Luther, bindet uns an den Nachbarn, bündelt uns zusammen mit den Menschen innerhalb unserer Reichweite, wo auch immer in der Welt sie sein mögen. Er hat aber auch das Evangelium verstanden als die Botschaft, die eine neue Schöpfung zu Stande bringt, nämlich aus dem Nichts der Sünde Gott durch die Absolution eine neue Kreatur zu erschaffen.5 In der Taufe sah Luther die neue Geburt des durch die Auferstehung Christi gerechtfertigten Gläubigen. Im Römerbrief 4,25 fand er eine Zusammenfassung des Evangeliums: unsere Sünden sind aus Gottes Sicht verschwunden durch die Dahingebung Christi in den Tod für unsere Sünden, und wir sind gerecht geworden, durch seine Auferstehung für uns. Luther verband diesen Vers mit uns durch die Taufe. Im Römerbrief Kapitel 6 fand er das Begräbnis unserer Identität als Sünder und unsere Auferstehung als die, die in diesem neuen Leben im Fußtapfen unseres auferstandenen Herrn wandeln. Luther betonte auch, dass die Rechtfertigung heißt, dass wir, die Christus durch sein Blut und seinen Tod erworben hat, ihm, das heißt, seiner Familie jetzt angehören, weil wir sein Eigen sind. Für die, die sich in unserer Welt als entfremdet, einsam, allein fühlen, kommt er als Freund und Familie, damit sie einen neuen Abendmahlstisch und neue Tischgenossen am Tisch des himmlischen Vaters haben können. Wir sollen auch in einer Krise des Selbstwertsgefühls, wo viele Menschen sich als minderwertig, ohne Wert oder Würde ansehen oder fühlen, oft die Gelegenheit finden, den Trost der Freundschaft Gottes zu zeigen. Denn wir kommen zu ihnen mit der Botschaft, dass Gott meint, sie sind des Bluts Christi wert. Dies sind einige der Ausdrücke der wahren Botschaft für die Fake News Welt, in die Gott uns berufen und geschickt hat. Vor 150 Jahren hat Louis Harms über Psalm 51 bemerkt, „Weiß ich, was für ein schrecklich verdammter Mensch ich war ohne Vergebung der Sün4 5
WA 7, 42–73. Johannes Haar, Initium creaturae Dei. Untersuchung über Luthers Begriff der „neuen Creatur“ im Zusammenhang mit seinem Verständnis von Jakobus I,18 und mit seinem „Zeit“-Denken, Gütersloh 1939.
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Robert Kolb
den, weiß ich, was für ein überschwänglich seliger Mensch ich bin durch die Vergebung der Sünden, so ist es mir nicht möglich, andere Menschen zur Hölle laufen zu sehen, ohne sie zu warnen.“ 6 Wir wollen nicht nur die Menschen um uns herum von der ewigen Hölle erretten, sondern sie auch von der jetzigen Qual und Drangsal des Alltages, von der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung über die Zukunft befreien. Was für ein Geschenk von unserem Gott! Dass wir seine Wahrheit und sein Wort der neuen Schöpfung, der Befreiung, der Vergebung aller Sünden hinbringen können. Wir sind das Evangelium (die -träger) in einer Fake News Welt.
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Louis Harms, Meditation zu Psalm 51,12ff., in: Der Psalter. Hermannsburg 1868. 431.
ANDREA GRÜNHAGEN
Fromm und lutherisch – wie geht das? Stellen Sie sich einmal vor, Sie sollten den Grad ihrer Frömmigkeit einschätzen. Es wäre ja durchaus möglich, dass jemand eine App fürs Handy entwickelt hat, die aus den Antworten auf bestimmte Fragen einen Frömmigkeitsstatus auf einer Skala von 1 bis 10 ermittelt. Vielleicht könnte man auch sowas wie einen geistlichen Fitnesstracker erfinden, den man am Handgelenk trägt und der nicht sportliche Betätigung und Kalorienaufnahme misst, sondern Länge der Gebetszeit und Häufigkeit des Gottesdienstbesuches.
Grad der Frömmigkeit „na so mittel“ Ich vermute, wenigstens das Ergebnis der Selbsteinschätzung würde in etwa lauten: Grad der Frömmigkeit „na so mittel“. Es geht übrigens den meisten Christen so, dass sie ihr Glaubensleben optimierungswürdig finden. Vermutlich dachte sogar Mutter Teresa, dass sie eigentlich noch mehr tun könnte. Martin Luther hat mal gesagt, wenn irgendwer durch „Möncherei“ in den Himmel gekommen wäre, dann er. Er hatte es mit der Frömmigkeit im Kloster so gründlich übertrieben, dass es seinen Vorgesetzten Angst und Bange wurde und trotzdem ließ ihm sein schlechtes Gewissen keine Ruhe. Wenn man das ansieht, was man tun sollte, also das, was man theologisch das Gesetz nennt, dann gilt: „Mehr geht immer.“ Das ist das Gefährliche daran. Das Gesetz macht nur zwei Dinge: entweder hochmütig oder verzweifelt. Hochmütig werden Christen, wenn sie ihr Christenleben wie eine Liste mit verschiedenen Aufgaben betrachten, die sie nacheinander abhaken und dann sagen: „Super, alles richtig gemacht.“ Verzweifelt werden diejenigen, für die die Messlatte einfach immer zu hoch hängt. Das Gesetz sagt: „Es reicht nicht.“ Erst das Evangelium, also die gute Nachricht von der Gnade Gottes sagt: „Es ist genug.“ Ich möchte darum heute mit Ihnen, wenn wir über lutherische Spiritualität nachdenken, vor allem über das „Es ist genug.“ reden.
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Andrea Grünhagen
Beim Mangel ansetzen oder beim Schatz Wir leben in einer Gesellschaft, die sich der Selbstoptimierung verschrieben hat. Haben Sie in letzter Zeit mal versucht, ein Kochbuch zu kaufen? Das ist hochkompliziert, falls es Ihnen darum geht, sich vom Essen zu ernähren. Eigentlich gibt es nur Kochbücher, die Ihnen sagen, wie Sie das vermeiden. Nicht, dass Sie etwa diese garstigen kleinen Kohlenhydrate zu sich nehmen oder das böse Fett oder noch schlimmer: Zucker! Und wenn Sie das doch tun, dann sind Sie eben selbst schuld, wenn Sie nicht so schön und schlank aussehen, wie Sie es könnten. Oder wenn Sie krank werden. Merken Sie: da geht es gleich um Schuld. Das ist eigentlich die völlig falsche Kategorie. Aber so läuft die Selbstoptimierung. Und was lässt sich nicht alles verbessern: Aussehen, Fitness, Schlaf, Ausstrahlung, Gedächtnisleistung, mehr geht immer. Wir Menschen glauben gerne der Lüge, dass wir alles selbst in der Hand haben und alles besser wird, wenn wir besser werden. Die gleiche krankmachende Logik gibt es übrigens auch in Bezug auf die Kirche und damit wäre ich wieder beim Thema. Mittlerweile gehe ich innerlich sofort auf Abstand, wenn mir jemand begegnet, der mit irgendwelchen Patentrezepten seine Gemeinde, unsere Kirche oder gleich die weltweite Christenheit retten will. Die Logik ist die gleiche wie bei der persönlichen Selbstoptimierung. Alles wird besser, wenn wir besser werden. „Wir müssten doch nur …“. Ach, was wir nicht alles müssten. Als würde es reichen, an einer einzigen Stellschraube zu drehen, damit die ganze Maschinerie wieder tadellos läuft. Leider ist die Realität immer komplexer und manche Faktoren haben wir auch gar nicht in der Hand. Das Traurige an all diesen einlinigen Lösungsansätzen ist, dass sie alle zur Erhöhung der Dringlichkeit ein Katastrophenszenario an die Wand malen. Oder um es anders zu sagen: sie sind mangelorientiert. Ich glaube aber, dass wir immer die Wahl haben, beim Mangel anzusetzen oder beim Schatz. Sowohl im kirchlichen wie im persönlichen Leben. Darum möchte ich beim Thema Frömmigkeit über die Schätze sprechen und nicht über die Defizite. Es soll ja um eine lutherische Spiritualität gehen. Und die ist vom Evangelium geprägt.
Was ist eigentlich fromm? Frömmigkeit ist eigentlich ein Wort, dass wir heutzutage eher selten, vielleicht höchstens scherzhaft gebrauchen. Die ursprüngliche Wort-
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bedeutung von „fromm“ war gut/nützlich. So wie in dem Lied „O Gott du frommer Gott“, da bedeutet fromm gut. Dann beschrieb der Begriff das, was wir heute vielleicht Glaubenspraxis nennen würden. Allerdings hat das Wort „fromm“, spätestens seit Wilhelm Busch die „fromme Helene“ zeichnete, auch immer einen leichten Unterton im Sinne von skurril oder heuchlerisch. Neutral könnte man sagen, ein frommer Mensch verleiht seinem Glauben Ausdruck durch ein bestimmtes Verhalten oder Tätigkeiten wie Bibellesen oder Beten. Es hat vielleicht etwas mit dem negativen Beigeschmack von Frömmigkeit zu tun, dass man mittlerweile lieber von Spiritualität spricht. Auch wenn jemand, der vom christlichen Glauben keine Ahnung hat, sich da auch nicht viel mehr drunter vorstellen kann. Der weiß dann weder, wie er seine Spiritualität entwickeln, noch wie er frömmer werden könnte. Und ehrlich gesagt, viele Christen wissen es auch nicht. Ich möchte es darum mal mit folgender Definition versuchen. Glaube ist die Beziehung zu Gott. Frömmigkeit oder Spiritualität ist das, was diese Beziehung unterstützt, pflegt, Gestalt gewinnen lässt. Es wird deshalb in diesem Vortrag öfter von menschlichen Beziehungen zum Vergleich die Rede sein. Deshalb ist hier schon zu sagen: genauso wie die Beziehung zwischen Menschen immer etwas Individuelles ist, ist es auch die Beziehung zu Gott. In beiden Fällen gibt es keine Patentrezepte, sondern nur Anregungen, die passend und hilfreich sein können oder auch nicht. Es gibt deshalb auch nicht „die eine lutherische Spiritualität“, die verpflichtend wäre, sondern man kann Formen beschreiben, die zum Glauben lutherischer Prägung passen und deshalb häufiger vorkommen.
Die Welt als Schatz Es überrascht Sie wahrscheinlich, dass ich mit der Welt als Schatz für lutherische Frömmigkeit beginne. Auch hier können wir an Martin Luther denken. Als er das Kloster verließ, hat der ein Denken aufgegeben, dass das Leben in geistlich und weltlich, sakral und profan, besser und schlechter aufgeteilt hat. Dabei hat er die Erfahrung gemacht, dass die wirkliche Herausforderung darin besteht, als freier Christenmensch in der Welt zu leben, statt vor ihr zu fliehen. Die Welt als Schatz zu entdecken bedeutet, den Ort zu bejahen, an den Gott mich gestellt hat. Mich in den Situationen als Christ zu bewähren, in die ich jetzt gestellt bin. Meinen Glauben so zu leben, wie es unter den gegebenen Umständen gerade möglich ist.
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Das Gefühl des Mangels entsteht oft da, wo die Realität immer weniger mit dem Idealbild im Kopf übereinstimmt. Ein Beispiel: ich selbst liebe liturgischen Reichtum, gehe gern in Gottesdienste und es stärkt meinen Glauben, das Kirchenjahr bewusst mitzuerleben. Können Sie sich vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich dann Mutter war und sich Ostern in Eier und Hasen auflöste und von allen Gottesdiensten an den Feiertagen nichts als der Besuch des Kindergottesdienstes an Karfreitag und an Ostersonntag übrig blieb? Oder: Ich bin mit der Tradition aufgewachsen, „Stille Zeit“ zu halten, sich also etwa eine Stunde am Tag Zeit für Bibellese und Gebet zu nehmen. Mittlerweile kämpfe ich seit zehn Jahren darum, Zeit dafür zu finden. Eine alleinerziehende Mutter hat nämlich weder viel Zeit noch viele Rückzugsmöglichkeiten. Ich habe lernen müssen, dass es nicht darum geht, alles „richtig“ zu machen, also wirklich eine Stunde lang, am besten morgens, mit Singen, Beten, Bibellesen und geistlichem Tagebuch schreiben und das bei größter äußerer Ruhe. Es geht auch wenn nebenan der Fernseher läuft; oft kann ich auch nur ein oder zwei der genannten Dinge tun und nicht das volle Programm, ich habe auch meistens keine ganze Stunde und morgens geht es so gut wie nie. Ich hatte also die Wahl, an meinen Vorstellungen, wie es sein sollte, hängen zu bleiben und nur den Mangel zu sehen. Aber ich kann auch einfach das tun, was möglich ist und auf den Schatz vertrauen. Das ist meine Herausforderung, was die Frömmigkeit angeht. Ihre sieht vielleicht ganz anders aus. Was ich damit sagen will: Man kann nicht darauf warten, bis endlich die ideale Situation eintritt, um fromm zu werden. Angenommen, die in ihrer Gemeinde vorherrschende Erwartung an einen „guten Christen“ ist, dass er jeden Sonntag zum Gottesdienst kommt, viel Geld spendet, bei allen Gemeindeveranstaltungen dabei ist, in allen Chören mitwirkt, zu allen Missionsfesten, Sängerfesten, Kirchenmusikfesten, Regionalkirchentagen usw. fährt und in jeder Hinsicht vorbildlich engagiert ist und Sie stellen fest, dass Sie das gar nicht sind. Oder vielleicht auch nicht sein wollen, das soll es ja auch geben. Ich habe bestimmt nichts gegen kirchliches Engagement, aber ich finde, eine Gemeinde mit diesem Ideal muss sich nicht wundern, wenn sie nur aus Rentnern besteht, weil leider alle anderen dieses Pensum gar nicht leisten können. Aber wer sorgt für die Seelen der Berufstätigen mit den vielen Dienstreisen und dem 14-Stunden-Tag? Wo kommen die introvertierten Gläubigen vor, denen das Nonstop-Gemeindeleben zu viel ist? Was ist mit den finanziell schlechter Gestellten, die kein Auto
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haben, um zu überregionalen Festen an entlegenen Orten zu fahren, nicht genug Geld, um dauernd Kuchen oder Salate mitzubringen und schon gar nicht, um ihren Kindern die teuren Freizeiten zu finanzieren? Sind die dann nicht fromm? Oder liegt der Mangel nur an dem eindimensionalen Blickwinkel ihrer Mitchristen? Dasselbe kann sich jetzt am Beispiel anderer meist unausgesprochenen Leitbilder zeigen lassen. Über eins dieser Idealbilder muss man im Kontext unserer Kirche aber doch noch besonders sprechen: über die Gleichsetzung von Frömmigkeit und Familienleben. Einerseits ist es gut, in einer Gesellschaft, die nicht unbedingt familienfreundlich ist, Familien Raum und Wertschätzung zu geben. Das ist sicher auch in Gottes Sinn. Man kann es allerdings auch tragisch übertreiben. Wenn der Satz: „Wir haben viele Familien mit Kindern.“ nicht eine Aussage, sondern eine Wertung ist zum Beispiel. Was ist mit den Gemeinden unserer Kirche, die darunter leiden, dass in ihrem Gottesdienst das Durchschnittsalter bei ungefähr 60 Jahren liegt? Ist ein Gottesdienst, bei dem nicht 20 Kinder zum Kindergottesdienst verabschiedet werden, wertloser? Damit wir uns nicht falsch verstehen: ich halte keineswegs alle denkbaren Lebens- und Familienformen für konform mit dem Willen Gottes. Aber es ist mir wichtig, dass die natürliche und legitime Bandbreite von Familienständen in der Gemeinde wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Es ist sehr sinnvoll, darüber zu sprechen, wie eine gelungenen religiöse Kindererziehung aussieht, wie man in der Familie miteinander beten kann, wie man mit Teenagern über Glauben spricht, was eine christliche Ehe ausmacht … Aber alle anderen Gemeindeglieder haben auch das Recht, Anregungen und Hilfestellungen für die Gestaltung ihres Christenlebens zu bekommen. Da sind zum Beispiel Ehepaare mit erwachsenen Kindern, die sich gerade erst mal neu als Paar sortieren müssen und dazu gehören auch neue Frömmigkeitsformen. Der dreißigjährige Single braucht auch geistliche Impulse. Wo gibt es für ihn in der Gemeinde Angebote, sich inhaltlich mit dem Glauben zu beschäftigen? Das ist nämlich wichtig. Das stärkt wiederum auch die persönliche Frömmigkeit in Familien. Man kann die Kommunikation mit Gott, die Beziehung zu ihm nämlich nicht delegieren. Reicht ja, wenn Papa Hausandacht hält und Mama dafür sorgt, dass vor dem Essen gebetet wird? Vielleicht wäre darüber hinaus auch gut, mal die Erfahrung gemacht zu haben, dass jeder das für sich auch alleine kann.
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Damit sind wir beim Stichwort: Kommunikation mit Gott. Eine Beziehung braucht Kommunikation, menschlich wie geistlich. Beten ist Kommunikation. Und genau wie im zwischenmenschlichen Bereich ist Kommunikation störanfällig. Es gibt Missverständnisse, Lustlosigkeit, verärgertes Schweigen, gedankenloses Daherreden, auf das Notwendige beschränkte Alltagskommunikation. Das kann man alles auch beim Gebet beobachten. Nicht jedem ist es gegeben, aus dem Stegreif lange wohlformulierte Reden an Gott zu richten, womöglich noch, wenn jemand zuhört. Gott erwartet das auch nicht. Wenn Jesus zu seinen Jüngern über das Beten gesprochen hat, nahm er das reden von Kindern zu den Eltern oder von Freund zu Freund als Beispiel. Mit Gott kann man so reden, wie man eben normalerweise redet. Nun denkt aber vielleicht jemand von Ihnen: ich kann aber überhaupt nicht „frei“ beten, also selbst meine Gedanken und Bitten formulieren. Und schon gar nicht, wenn andere dabei sind. Ich würde zwar jeden ermutigen, es einfach mal zu probieren, aber ich halte es auch nicht für einen Mangel. Als jemand mal Louis Harms, den Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts, nach dem freien Gebet gefragt hat, sagte er: Er hätte noch nie ein Kind erlebt, dass ein Buch hergeholt und seine Anliegen den Eltern vorgelesen hätte. Der Fragesteller solle es also ruhig mal versuchen. Und dann erzählte er von einem kleinen Jungen, der halb im Scherz gefragt wird: „Na, kannst du auch beten?“ Der Junge stellt eine Gegenfrage: „Kann ein Fisch auch schwimmen?“ Man darf also auch beim Gebet auf den Schatz schauen und nicht auf den Mangel. Gerade Menschen, die von sich behaupten, nicht mit eigenen Worten beten zu können, haben aber oft einen großen Schatz gelernter Gebete, die sie sich zu eigen machen. Gerade in schwierigen Situationen kann das ein Vorteil sein und so richtig seine Kraft entfalten. Wir hatten in Hannover ja mal eine Terrorwarnung, abgesagtes Länderspiel und so. Oder auch Evakuierung wegen Bombenräumung. Als ich bei solchen Gelegenheiten am Bett meines Sohnes „Breit aus die Flügel beide …“ gesungen habe, da war in den alten Worten auf einmal ganz viel Kraft. Wenn draußen womöglich bewaffnete Terroristen herum laufen, empfindet man auch als zutiefst pazifistischer Mensch die güldenen Waffen doch als ganz tröstlich. Oft fallen vorformulierte Gebete ja auch unter das Stichwort Alltagskommunikation. Da redet man mit seinen Liebsten ja auch nicht immer erschöpfend Neues. Man kann sich also durchaus eine Post-
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karte mit einem Gebet an den Kühlschrank hängen oder auf den Nachttisch legen und jeden Tag lesen. Das ist auch regelmäßig gebetet. Oder auch ein Anfang, wenn man das alles erst noch ausprobiert. Gerade die Regelmäßigkeit hat ja auch ihre Tücken. Das ständig verwendete Tischgebet kann durch Gewöhnung inhaltsleer werden. Umgekehrt ist es aber auch mehr als nichts. Jede feste Gebetsform lebt davon, dass der Beter sie innerlich mitvollzieht. Das gilt für die liturgischen Stundengebete genauso wie Luthers Morgen- und Abendsegen oder feste Andachtsformen. Das gelingt unterschiedlich gut und nie ganz vollkommen. Aber sie halten auch die Kommunikation mit Gott aufrecht, wenn man lustlos oder müde ist. Als Studenten in Erlangen hätten wir auf jeden Morgen um 7 Uhr Mette Beten auch mal verzichten können. Dann hieß es ehrfurchtgebietend vom Professor auf Latein: Serva ordinem et ordo servabit te. Diene der Ordnung und die Ordnung dient dir. Ein guter Grundsatz. Ich habe übrigens gehört, dass unsere Studierenden in Oberursel in Hinblick auf Gebetszeiten viel frömmer sind als wir damals. Das finde ich gut. sie werden nämlich nie wieder so viel Gelegenheit dazu haben wie jetzt. Wir haben viel von der Glaubenspraxis im Alltag geredet, dass also Frömmigkeit mitten in dieser Welt geübt wird und am besten auch im Zusammenhang mit der uns umgebenden Welt steht. Die Welt, die uns umgibt, ist ein Schatz. Sie bietet tausend Möglichkeiten jeden Tag als Christ zu handeln und unzählige Anregungen, Gott zu danken oder für Menschen zu beten. Der freie Christenmensch lutherischer Prägung steht mitten in der Welt und ist als solcher Salz und Licht. Nun war viel vom Alltag die Rede und das ist auch gut so. Nimmt man die Bibel ernst, ist das Verhältnis von Alltag zu Sonntag 6:1. Man braucht also deshalb kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man auch noch ein Leben abgesehen von der Gemeinde hat. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass es regelrecht beunruhigend ist, wenn man im christlichen Ghetto lebt. Es gibt Christen, bei denen muss das Etikett christlich möglichst auf allem kleben, was sie tun. Egal, ob es Bücher, Musik oder Fernsehen ist, Urlaub, Kleidung was auch immer, für alles und jedes gibt es eine Regel, was nun christlich ist und was nicht. Manche denken vielleicht, nun, das sei bei Lutheranern ja nicht sehr verbreitet, eher in pietistischen oder evangelikalen Gruppen. Stimmt, aber Ansätze dazu haben wir auch. Wie oft werden in Predigten oder Andachten als soziales Gegenüber Familie, Kollegen und Nachbarn benannt. Hallo? Haben wir keine
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Freunde? Bekannte? Dann ist es ja kein Wunder, dass uns niemand einfällt, den wir mal zu Veranstaltungen in der Gemeinde mitnehmen könnten. Auch in einer lutherischen Kirche kann man eine prima Salzstreuer-Existenz führen. Davon wird die Suppe um uns herum zwar nicht gewürzt, aber dem Salz geht es gut. Wenn ich also heute zu Ihnen über lutherische Frömmigkeit spreche, dann meine ich nicht, dass Sie noch mehr Gebete, mehr Gemeindeveranstaltungen, mehr Posaunenchorproben brauchen, sondern dass Sie alle die Augen aufmachen sollen. Da draußen ist eine ganze Welt: es ist genug da zum Liebhaben, Helfen, Freuen, Gestalten, Arbeiten. Nicht vergessen: das Verhältnis ist 6:1.
Sonntagsschätze Trotzdem ist nun auch vom Sonntag und seiner Gestaltung zu reden. Sonntagsheiligung hat man das früher genannt. In der Geschichte der Kirche wurden manchmal mehr die alttestamentlichen Bezüge zur Ruhe am Sabbat betont und manchmal mehr die Verkündigung des Wortes Gottes und die Feier des Abendmahles. Luther hat sich übrigens klar in Richtung Gottesdienst positioniert, wenn er im Katechismus erklärt, der Feiertag werde geheiligt, wenn wir Gottes Wort gerne hören und lernen. Der Sonntag ist geheiligt durch das Handeln Gottes an uns im Gottesdienst. Deshalb kennen Lutheraner eigentlich keine Regeln für die Gestaltung des Sonntags über die Zeit für Gott im Gottesdienst hinaus. Aber da es ja heute um Anregungen für die persönliche Spiritualität geht, doch noch ein paar Gedanken dazu. Ob und wie man den Sonntag gestaltet, hängt sehr von der individuellen Lebenssituation ab. Wer sonntags arbeiten muss, braucht andere als die klassischen Ideen im Sinne von Kirche-EssenSchlafen-Spaziergang. Wer allein lebt, hat mehr Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch mehr Gestaltungsbedarf. Eine Familie muss so mehr planen, hat aber auch mehr Möglichkeiten. Was ich Ihnen sagen möchte: Wenn der Sonntag ein besonderer Tag werden soll, dann müssen Sie ihn durch irgendetwas zu etwas Besonderem machen. Das ist übrigens im Alten Testament eine Bedeutung von „heilig“. Ausgesondert, dem Üblichen entnommen. Früher gab es da mal feste Regeln, manche von Ihnen erinnern sich daran vielleicht. Sonntagskleidung, Sonntagsbraten und so etwas. Dass wir das heute nicht mehr als so positiv empfinden, hat damit zu tun, dass es uns so gut geht. Wer einen ganzen Kleiderschrank voll
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der besten Kleidung hat, kann jeden Tag etwas anderes Schönes anziehen. Der braucht nichts für den Sonntag aufzusparen. Mit dem Essen ist es genauso. Wir können uns jeden Tag gute Nahrungsmittel leisten und wenn wir Zeit und Lust hätten, jeden Tag ein Stück Fleisch essen: Was braucht es da einen Sonntagsbraten? Sie merken, es ärgert mich ein bisschen, wenn Menschen diese alten Gestaltungsarten verachten, weil es mir arrogant vorkommt. Wer sich entschließt, den Sonntag durch besonders gute Kleidung zu etwas Besonderem machen zu wollen, der darf das auch heute noch. Manchmal erleben wir es ja z.B. bei Konfirmationen oder Hochzeiten, wie schön das ist, wenn alle festlich gekleidet sind. Wer allerdings die ganze Woche in formeller Kleidung herumlaufen muss, der zieht sich gerade am Sonntag vielleicht besonders gerne leger an. Damit hebt er den Tag ja auch heraus mit etwas, das ihm gut tut. Das gleiche gilt für das Essen. Spiritualität hat ganz viel mit Sinneseindrücken zu tun. Da gehört ein besonderes Essen dazu, ein schön gedeckter Tisch, Blumen und Kerzen, aber vielleicht auch das Ritual, immer mit Papa was Leckeres am Sonntagabend zu grillen und auf der Picknickdecke zu essen. An diesem Punkt können wir Christen von jüdischen Familien viel lernen. Da ist der Freitagabend, der Beginn des Sabbats, etwas ganz besonders und wird jede Woche feierlich begangen. Warum sollten wir unsere christliche Feierkultur nicht auch so pflegen und wertschätzen? Zum Sonntag sollte, wenn es möglich ist, auch ein Moment der Ruhe und der Beschäftigung mit geistlichen Dingen gehören. Wer allein lebt, kann sich mit einer Tasse Kaffee nach dem Gottesdienst an einen gemütlichen Ort setzten und noch einmal über den Gottesdienst nachdenken und versuchen, einen Gedanken mitzunehmen. Wer nicht in der Kirche war, möchte an diesem gemütlichen Ort vielleicht eine Kerze anzünden, ein Gebet sprechen und in der Bibel oder einem Andachtsbuch lesen. Oder irgendein anderes Buch, das ihm ein paar geistliche Impulse vermittelt. Er oder sie könnten vielleicht auch einen Spaziergang machen und sich in der Natur einen ruhigen Ort suchen, um über Gott nachzudenken und mit ihm zu reden. Wer in einer Familie, besonders mit kleinen Kindern, lebt, hat diese Möglichkeiten nicht so einfach. Vielleicht gibt es einen Augenblick der Ruhe am Abend? Oder man schafft es, mit den Kindern in der Kinderbibel zu lesen. Aus der evangelikalen Ratgeberliteratur gibt es den Tipp für Ehepaare, doch einen Eheabend zu machen und sich das in den Kalender einzutragen, damit man mal abseits vom Alltag Zeit füreinander hat.
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Super, der Sonntagabend ist Primetime dafür. Das macht den Tag auch zu etwas Besonderem. Wer gerade pubertierende Jugendliche im Haus hat, verlegt den Eheabend am Sonntag vielleicht ins Kino oder Restaurant, denn die Sprösslinge gehen ja später ins Bett als die Eltern. Ich habe noch keine unmittelbare Erfahrung, aber ich meine beobachtet zu haben, dass es hilfreich ist, Jugendlichen mehr den Angebotscharakter der Sonntagsgestaltung deutlich zu machen, als um jeden Preis etwas durchzusetzen. Gott gönnt auch 15‐Jährigen der Marke „Will nix“ seinen besonderen Tag der Ruhe und Freude. Auch hier prägen Sinneseindrücke und Rituale mehr als viele Worte.
Gottesdienst der größte Schatz Als Lutheraner haben wir es gut. Unsere Frömmigkeit hängt nicht an unserem guten Willen und unseren Möglichkeiten, sondern hat eine Kraftquelle und einen Ursprung, den wir nicht selber machen müssen. Ich meine den Gottesdienst. Ja, ich weiß, vielleicht erleben Sie ihren normalen Gottesdienst manchmal nicht als eine Kraftquelle, sondern als Herausforderung oder Zumutung. Ich weiß nicht, wer von Ihnen vielleicht zu einer Kleinstgemeinde gehört oder gerade Krach mit seinem Pfarrer hat. Aber ich meine, dass an dieser Stelle besonders gilt: man kann auf den Mangel schauen oder auf den Schatz. Und ich behaupte jetzt einfach mal: Jeder Gottesdienst ist ein Schatz. Ich kenne viele Leute, die genau andersherum davon ausgehen: Gottesdienst ist eine Leistung. So denken gerade oft Menschen, die mit Kirche nicht so viel zu tun haben. Die meinen dann, es gäbe eben besonders brave Leute, die sich den Gottesdienstbesuch auch noch antun, weil sie eben so außergewöhnlich anständig und tüchtig sind. Die Kehrseite dieser Logik ist, dass alle „normalen“ Leute oder diejenigen, die viel zu tun haben, eben nicht in die Kirche gehen. Für eine gute lutherische Spiritualität ist es ganz wichtig, zu bemerken, ob auch in unseren Köpfen solche Gedanken vorhanden sind. Es gibt nicht wenige lutherische Christen, für die der Gottesdienstbesuch auch nicht mehr ist als eine Leistung, die sie entweder widerwillig oder mit einer gewissen Selbstgerechtigkeit vollbringen. Kurz gesagt, in unseren Gottesdiensten sitzen mit ziemlicher Sicherheit jeden Sonntag Menschen, die eigentlich lieber ganz woanders wären.
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Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott das freut. Das wäre ja wie bei einem Paar, das eine Verabredung hat. Wenn er ihr signalisiert, dass er eigentlich nur gezwungenermaßen da ist und das ganze am liebsten schnell hinter sich bringen möchte, wird sie zu Recht gekränkt und enttäuscht sein. Es könnte ja sein, dass Gott sich richtig auf uns freut am Sonntagmorgen. Und wenn wir uns nicht freuen, dann hat das Gründe. Denen darf man mal nachspüren. Man könnte in einem solchen Fall auch fragen: Was bräuchte ich denn, damit ich wieder gerne zur Kirche gehe? Ich fürchte, oft bedingt die Erwartung das Ergebnis. Wir tragen ja als Lippenbekenntnis so oft vor uns her, der Gottesdienst sei das Zentrum unseres Gemeindelebens. Manchmal wird dieser Satz dadurch unrichtig, dass es außer dem Gottesdienst gar nichts anderes gibt. Oder aber er wird unwahr, weil eigentlich alles andere wichtiger ist als der Gottesdienst. Der Klostergründer Benedikt hat in seiner Ordensregel geschrieben: „Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden.“ Na ja, der war ja auch katholisch, denken Sie jetzt vielleicht. Im Augsburgischen Bekenntnis heißt es im 24. Artikel: „Denn es ist offenkundig, dass die Messe, ohne uns rühmen zu wollen, bei uns mit größerer Andacht und mit mehr Ernst gehalten wird als bei den Gegnern.“ Wohl der Gemeinde, die das unterschreiben kann. Hier hilft der Vergleich mit dem Licht. Licht leuchtet. Das tut es einfach. Eine Gemeinde, die Gottesdienst feiert, leuchtet auch. Mit unterschiedlich hoher Wattzahl, denn die Kräfte sind verschieden. In diesem Sinne ist Gottesdienst missionarisch, das kann man auch sagen, ohne den Gottesdienst zu verzwecken. Ich bin überzeugt, dass Menschen, die nicht viel Ahnung von Kirche haben durchaus spüren, ob uns das selbst peinlich ist, was wir da tun oder und es lustlos geschieht oder ob die Beteiligten mit dem Herzen dabei sind. Wie wir den Gottesdienst erleben, hat mit unserer Herzenshaltung zu tun. Ich weiß durchaus, was alles nicht funktioniert und worüber man sich ärgern könnte, man ist allerdings nicht dazu verpflichtet. Ich kann auch nicht die Probleme in Ihren Gemeinden lösen. aber ich kann Ihnen hoffentlich die Gewissheit mitgeben, dass das, was da ist, genügt. Es ist genug Gottes Wort, Gottes Gegenwart und Gottes Segen da. Sie können auf den Mangel schauen, oder auf den Schatz. Vielleicht nehmen Sie einfach mal den frommen Gedanken mit, dass Gott nächsten Sonntag auf Sie wartet und dass Ihnen etwas schenken will. Das könnte ein Gedanke aus der Predigt sein. Ein Bibelwort, dass Sie in der nächsten Woche begleitet. Sein Segen. Die Begegnung mit ihm im Abendmahl. Ein Detail eines Bildes oder
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sonstigen Kunstgegenstandes, der sie anrührt. eine Liedzeile, die Ihnen nicht mehr aus dem Kopf geht. Der Händedruck eines Mitchristen. Ein freundliches Gesicht. Es ist genug da.
Ein besonderer Schatz: Gott ganz nah Ich möchte nun auf einen besonderen Schatz zu sprechen kommen, nämlich das Abendmahl. Die einen haben schon darauf gewartet, die anderen haben es befürchtet, das kommt ein bisschen darauf an, wie Sie geprägt sind. Für einen nicht geringen Teil unserer Gemeindeglieder ist das sonntägliche Abendmahl der Kern ihrer Gottesbeziehung, das Zentrum ihrer Frömmigkeit. Für einen anderen Teil, der durchaus auch an die Gegenwart von Leib und Blut Christi in Brot und Wein glaubt, ist das Altarsakrament mehr eingeordnet in einen Kontext verschiedener Erfahrungen der Gegenwart Gottes. Ich wäre froh, wenn wir das einfach mal gegenseitig anerkennen könnten. Vielleicht kann ich Ihnen an dieser Stelle demonstrieren, dass die Bindung an das lutherische Bekenntnis ganz unmittelbar Einfluss auf unsere Glaubenspraxis hat. Bei der unterschiedlichen Intensität und Emotion, mit der das Abendmahl gefeiert wird, geht es eigentlich um die Frage, ob Gott eigentlich mehr oder weniger gegenwärtig sein kann. Unser Verstand sagt: Etwas ist da oder es ist nicht da. Ein Gegenstand oder eine Person kann aber nicht mehr oder weniger da sein. Auf Gott bezogen: Gott ist allgegenwärtig, also kann ich nicht sagen, dass er an einem bestimmten Ort mehr da ist als an einem anderen. Also im Wald nicht weniger als in der Kirche, beim Bibellesen nicht mehr als im Abendmahl, in der Musik nicht weniger als in der Predigt. Das klingt logisch, stimmt aber nicht ganz. Es gibt nämlich unterschiedliche Weisen der Gegenwart Gottes. Nämlich erstens die allgemeine. Da Gott allgegenwärtig ist, gibt es keinen Ort, von dem wir sagen könnten, dass er dort nicht sei. Dann gibt es die geistliche Weise der Gegenwart Gottes. Jesus hat eben gesagt, er sei mitten unter seinen Jüngern, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. Das Wort Gottes macht Gott gegenwärtig. Und drittens gibt es die sakramentale Gegenwart Gottes. Im Abendmahl ist Gott wirklich leiblich da. Ich verstehe, dass Sie das verwirrend finden und nicht genau wissen, was das nun ihrer Abendmahlsfrömmigkeit helfen soll. Die lutherische Theologie hat auch ungefähr 50 Jahre lang scharf nachdenken müssen, von der Confessio Augustana bis zur Konkordienformel, um das sortiert zu bekommen. Aber wenn man das mal ver-
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standen hat, gibt es in der Kirche weniger Missverständnisse. Wenn also jemand sagt: „Aber in einem Predigtgottesdienst ist Gott doch auch da“, dann hat er nicht unrecht. Gott ist auf geistliche Weise da. Wenn ein anderer sagt: „Aber im Abendmahl ist Gott mir unüberbietbar nah.“, dann hat der auch recht. Ich habe mal erlebt, wie ein Pastor aus Amerika das Abendmahl hier bei uns austeilte. Vor Aufregung fielen ihm die deutschen Worte dazu nicht ein. Er sagte also nicht „Das ist der wahre Leib …“ sondern er übersetzte, was er auf Englisch gewohnt war: „Das ist wirklich der Körper von Jesus …“ Oh, so nah waren diese Spendeworte den Kommunikanten noch nie gekommen. Wirklich, also so echt wirklich? Der größte Feind einer inneren Beteiligung beim Abendmahlsempfang ist nicht der Unglaube, sondern die Gewohnheit. Wenn wirklich halt nicht mehr wirklich bedeutet, sondern: „Na ja, das sagen wir halt so.“ Man kann das schöne theologische Wort Realpräsenz im Kopf haben, was ein anständiger Lutheraner schließlich wissen sollte, aber weit davon entfernt sein, zu glauben, dass man es wirklich mit Leib und Blut Jesu zu tun hat, er also tatsächlich näher ist als an jedem anderen Ort oder Moment. Glauben ist aber mehr als ein Für-wahr-halten von dogmatischen Aussagen und Frömmigkeit ist mehr als das Befolgen kirchlicher Regeln. Glaube ist Beziehung, und Frömmigkeit ist Beziehungspflege. Kurz gesagt: behandeln Sie Gott doch mal so, als würde es ihn wirklich geben. Das gilt besonders fürs Abendmahl. Ich stelle mir das mit der verschiedenen Weise der Gegenwart Gottes so vor: Es ist so ähnlich wie bei einer Beziehung zwischen zwei Menschen. Wenn jemand morgens am Frühstückstisch zwei Bibelverse aus den Herrnhuter Losungen liest, dann ist das wie eine SMS oder WhatsApp-Nachricht. Auch die kann jemanden sehr glücklich machen, wenn der Partner oder Freund sie schickt und einem das durchaus reale Gefühl vermitteln, nicht allein in den Tag zu starten. Wenn er oder sie dann ihren Computer anmacht und eine Email vom anderen findet, dann ist die Freude natürlich noch größer. Da kann ein Gedankenaustausch stattfinden, ein guter Rat gegeben werden, Bestätigung ausgedrückt werden, Fragen gestellt werden – das ist vergleichbar mit dem Bibellesen. Gebet wäre dann so, als ob jemand eine Mail zurückschreibt oder noch besser, zum Telefon greift und ein Gespräch stattfindet. Aber so ein Paar möchte sich natürlich auch mal persönlich treffen, man wünscht sich, dass der andere wirklich da ist. Wirklich da – das heißt beim Abendmahl Realpräsenz. Und nun verstehen Sie sicher auch, warum gerade der lutheri-
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sche Abendmahlsglaube so wunderbar ist. Was würde es mir denn helfen, wenn mir mein Freund sagt: „Du, heute Abend bin ich zwar nicht da, aber wir stellen uns vor, dass ich da wäre und dann tun wir so als ob wir uns sehen, weil ich an dich denke.“ Wahrscheinlich würde ich da sagen: „Also hör mal, es ist sehr schön, dass du an mich denkst und ich kann mir auch eine Menge vorstellen – aber ich möchte, dass du in echt bei mir bist.“ Man kann diese Geschichte noch ein bisschen weiter ausspinnen, um über das Abendmahl nachzudenken. Wie stünde es wohl um die Beziehung des gedachten Paares, wenn er ihr sagt: „Also du bist mir so wichtig, da soll es doch etwas Besonderes bleiben, wenn wir uns sehen. Schick mir eine SMS, das reicht auch.“ Wenn es aber beim Sakrament des Altars nicht mehr um eine Begegnung geht, sondern um eine widerwillig zu erbringende Leistung, dann funktioniert diese Logik natürlich nicht. Früher hat man sich ausführlich auf das Abendmahl vorbereitet. Sicher könnten die Älteren unter Ihnen da manches nennen. Besonders festliche Kleidung zog man an, verzichtete vielleicht auf das Frühstück, bereitete sich auch innerlich vor durch Gebet und Beichte, bereinigte Unstimmigkeiten mit Mitchristen und verstand den Sonntag, an dem man beim Abendmahl war, als einen besonderen Tag, an dem man auch nichts anderes unternahm. Wenn ich das unter dem Stichwort Pflicht und Leistung sehe, dann komme ich auch zu dem Schluss, dass ich mir diesen Aufwand höchsten vier Mal im Jahr antun würde. Denke ich aber wieder an eine Beziehung, dann ist das nichts anderes als, das, was Menschen, die sich lieben vor einem Treffen auch tun. Da ist größerer Aufwand durchaus auch ein Gradmesser für die Größe der Liebe oder der Bedeutung der Beziehung. Wer sich also aus diesem Schatzkästchen überlieferter Bräuche bedienen will, bitte, das geht auch heute noch. Wer aber ganz andere Formen finden will, der kann das auch tun. Es hat ja auch nicht jedes Paar die gleiche Weise, seine Liebe auszudrücken. Ich würde mir wünschen, dass wir in unserer Kirche viel mehr über solche Fragen der Gestaltung von Frömmigkeit reden würden. Man kann ja durchaus dabei viele Anregungen von anderen bekommen. Man würde auch lernen, nicht vorschnell über Mitchristen zu urteilen. Es gibt ein legitimes Spektrum der Abendmahlsfrömmigkeit. Auch hier ist genug da, damit alle ihre Weise finden können.
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Der Schatz besonderer Orte und Zeiten Der Glaube, also die Beziehung zu Gott, ist nicht abhängig von bestimmten Orten oder Zeiten. Das war ein wichtiges Anliegen der Reformation. Die an sich richtige Beobachtung, dass es Orte gibt, die es leichter machen dort zur Ruhe zu kommen und zu beten oder die Erfahrung, dass es wohltuend, weil schöpfungsgemäß ist, die Gleichförmigkeit der Zeit zu unterbrechen, hatte sich im Mittelalter verselbstständigt. Daraus waren unzählige kirchliche Vorschriften gemacht worden. Es hatte jemandem geholfen, zu einem bestimmten Ort zu pilgern, also machte man eine verpflichtende Wallfahrt daraus. Gott freut sich über Gebete, also freut er sich über viele Gebete noch viel mehr also schrieb man vor, wie oft zu beten war. Es macht Sinn, zwischen Fasten- und Festzeiten zu unterscheiden? Gut, dann machen wir das doch für alle verpflichtend und sagen genau, was man wann essen darf und was nicht. Das Fatale war, dass auf diese Weise die innere Beteiligung bei vielen verloren ging. Dann kamen Luther und die anderen Reformatoren und forderten aber genau diese innere Beteiligung. Das war zunächst einmal unbequem. Auch in einem Christenmenschen steckt noch so viel alter Adam, dass es ihm ganz recht ist, wenn er einfach nur einen Forderungskatalog formell abarbeiten muss, ohne es wirklich mit Gott zu tun zu bekommen. Es war für Luther und Melanchthon eine sehr erschreckende Erfahrung, als sie zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Menschen in den Gebieten, wo die Reformation eingeführt wurde, nun nicht aus lauter christlicher Liebe freiwillig Gutes taten und vor lauter Freude über das Evangelium zur Kirche kamen. Das Gegenteil war der Fall. Sie ließen die Pfarrer hungern und die Kirchen verfallen, gaben keine Almosen mehr und entschieden sich in christlicher Freiheit, eben nicht in die Kirche zu gehen. Es hat gedauert, bis die Dinge wieder ins Lot kamen und ganz hat sich die evangelische Spiritualität nie von diesen Ereignissen erholt. Der alte Adam in uns mag das Gesetz nicht hören, wo es ihn trifft, aber Gesetzlichkeit hat er gern. Man kann es kaum verhindern, dass gute Anregungen für die Frömmigkeit zum Gesetz gemacht werden. Und auf einmal hat jeder Hauskreis seinen eigenen Regelkatalog, was nun eigentlich fromm ist. Bis heute leidet evangelische Frömmigkeit darunter, dass man nur behaupten muss, etwas sei „katholisch“, wenn es einem zu unbequem oder fremd ist. Ein Beispiel: es ist nicht „katholisch“ zur Einzelbeichte zu gehen. Ein römisch-katholischer Missbrauch wäre es, wenn jemand dazu gezwungen würde. Ich möchte also durchaus Mut
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machen, aus dem Schatz an Formen und Ritualen zu schöpfen, die sich im Laufe der Kirchengeschichte entwickelt haben. So, wie Luther es gemacht hat. Was nicht gegen Gottes Wort ist, ist in Ordnung. Das kann man zum Beispiel beim Thema Kirchenmusik zeigen. Die Lutheraner sagten: was nicht gegen Gottes Wort ist, ist möglich. Die Reformierten sagten: nur was in Gottes Wort steht, ist möglich. Daraufhin sangen sie nur noch Psalmen. Das war eine gewisse Verarmung. Der zweite Grundsatz: es dient nicht dazu, Gott gnädig zu stimmen. Darum geht es im lutherischen Bekenntnis immer wieder. Man darf durchaus Fasten oder Spenden, aber niemand darf dazu gezwungen werden. Übrigens auch nicht aus Dankbarkeit. Predigten, die mit dem Satz aufhören: „Und darum lasst und nun …“ oder „Weil wir Gott dankbar sind, wollen wir nun …“ sind falsch. Luther hat gesagt, der Mensch ist ein Bettler und Gott ist ein König. Der König kann auf das bisschen, was der Bettler ihm geben könnte, gut verzichten. Es wäre sogar eine Beleidigung. Was wir Gutes tun, soll aus Glauben, also aus der vertrauensvollen Beziehung zu Gott geschehen. Und was wir an frommen Dingen tun, soll dem Glauben dienen, ist also quasi die Pflege der Beziehung zu Gott. Warum wir immer wieder in die Gesetzlicheitsfallen tappen, ist schnell erklärt. Das liegt daran, dass wir uns oft unbemerkt immer noch wie Kinder verhalten, die glauben, sich durch Wohlverhalten Liebe und Anerkennung verdienen zu können. Da wir uns aber gar nichts verdienen müssen, kommen hier jetzt einfach noch mal ein paar Anregungen, die Sie in aller Freiheit umsetzen oder es lassen können. Man kann das Kirchenjahr als Schatz entdecken. Jeder Sonntag hat ein bestimmtes Thema. Es lohnt sich, das mal für sich selbst nachzuvollziehen. Versuchen Sie es doch mal, am Samstagabend oder Sonntagmorgen, herauszufinden, welches Thema der nächste Sonntag haben wird. So man ein Gesangbuch besitzt, kann man die Angaben zum betreffenden Sonntag ansehen und nach dem roten Faden suchen, der die Lieder und Lesungen verbindet. In manchen Andachtsbüchern oder Gemeindebriefen und natürlich auch im Internet kann man den Predigttext finden, der dran sein wird. Wenn Sie den vorher schon mal lesen und sich eigene Gedanken dazu machen, werden Sie die Predigt garantiert anders und intensiver hören. Verstärken lässt sich dieser Effekt, wenn man mit anderen darüber ins Gespräch kommt.
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Das Mitleben im Kirchenjahr lebt auch davon, dass es äußere Gestaltungsmerkmale gibt. Wie ich bereits am Anfang sagte, je mehr Sinne beteiligt sind, desto besser. In der Adventszeit und an Weihnachten geht das schon ganz gut meistens. Da kann man Lichter sehen, Räucherkerzchen riechen, Christstollen schmecken. Aber was gibt’s sonst noch? Ich bin für Sternsinger an Epiphanias und Palmen am Palmsonntag, für Fisch an Karfreitag und eine Osterkerze am Ostersonntag. Und dass Ostern erst Ostern beginnt. Trauen Sie sich doch mal, die Plastikostereier im Vorgarten erst am Abend des Karsamstags aufzuhängen und sie dann auch die Osterzeit hängen zu lassen. Und für Pfingsten kann man sich auch was überlegen. Warum nicht den Esstisch mit roten Blumen schmücken und sieben Kerzen für die sieben Gaben des heiligen Geistes anzünden. Warum nicht auch in der Wohnung ein kleines Erntekörbchen am Erntedankfest aufstellen oder an Michaelis ein Bild mit Engeln auf den Schreibtisch. Warum nicht mit den Kindern am Reformationsfest „Ein feste Burg“ singen und ihnen Reformationbrötchen oder Lutherbonbons schenken, was halt gerade da ist. Warum nicht an St. Martin bewusst einem Obdachlosen einen Kaffee kaufen oder für ihn ein warmes Essen bezahlen oder die Kinder ermutigen, jemandem eine Freude zu machen. Dann sehen andere ganz von allein: Christen teilen und helfen, sie tun anderen Gutes und haben mit der Einübung von Mafia-Methoden zu Halloween nichts zu tun. Oder Sie können die Urlaubszeit besonders gestalten. Vielleicht versuchen Sie es mal mit den Psalmen, die über Gottes Schöpfung reden. Psalm 104, in den Bergen oder am Meer gelesen, kann ganz neu erfahren werden. Zu den besonderen Zeiten gehören auch besondere Orte. Ein kleiner Trick im Alltag, um die Fürbitte nicht zu vergessen, ist zum Beispiel, immer für einen Menschen oder ein Anliegen zu beten, wenn sie an einem bestimmten Platz vorbeigehen. Also bei dieser und jener Straßenlaterne oder wo auch immer sie regelmäßig entlangkommen. Man kann sich auch einen besonderen Ort in seiner Wohnung gestalten. Da müssen Sie nicht gleich über die Einrichtung einer Hauskapelle nachdenken, aber ein Rückzugsort, den sie mit einer Kerze, einem Kreuz, einem Bild schmücken und wo sie sich sozusagen mit Gott treffen, das ist überall möglich. Ich hatte am Anfang gesagt: heilig heißt ausgesondert. Nur für diesen Zweck da. Deshalb sind Kirchen ja auch nur zur Not Mehrzweckhallen. Aber auch so ein Platz in der Wohnung kann ein besonderer Ort sein.
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Ich wette, jeder von uns hat Lieblingsorte. Vielleicht haben Sie ja auch Orte, die ihrem Glauben guttun. Wo sich für Sie Himmel und Erde berühren. Wie schön, wenn Sie da ab und zu mal hinkommen. Man kann sich auch öfter mal in eine Kirche setzen, wenn man eine offene findet. Oder man schaut sich im Urlaub und bei Ausflügen ganz bewusst alte Kirchen oder Klöster oder religiöse Kunst an. Ich bin sicher, überall wird man etwas finden an geistlicher Anregung, oder zum Nachdenken. Glauben hat auch etwas mit konkreten Orten zu tun. Orte speichern sozusagen Geschichte, auch Glaubensgeschichte. Christsein hat immer eine Geschichte und Verbindung zu anderen Christen weltweit. Es ist genug da. „Fromm und lutherisch, wie geht das?“, war unsere Ausgangsfrage. Vielleicht haben Sie gemerkt, dass es mehr um Haltungen geht als um Anweisungen. Es gibt eine lutherische Spiritualität, da braucht man keine Minderwertigkeitskomplexe gegenüber anderen Kirchen zu haben. Manches ist verschüttet, manches passt auch nicht mehr. Aber es ist genug da und will ausprobiert werden.
BUCHSCHAU Stefan Heid, Altar und Kirche. Prinzipien christlicher Liturgie, Regensburg 2019, Verlag Schnell & Steiner, 496 S. - ISBN 978–3– 7954–3425–0, 50,00€. In dieser umfangreichen Monographie thematisiert der Autor Stefan Heid (= Vf.) zentrale Fragen des christlichen Gottesdienstes. Der programmatische Untertitel deutet an, dass es im doppelten Sinn um „Prinzipien“ geht: Einerseits sind liturgische Prinzipien wie der Ort und Raum der gottesdienstlichen Handlungen, die Funktionen des Altars und derer, die an ihm Dienst tun, sowie die Frage nach der Gebetshaltung und -richtung im Blick. Andererseits wird liturgiegeschichtlich anhand eines breiten Spektrums von Text- und Bildmaterial nach den frühchristlichen und spätantiken Anfängen der christlichen Liturgie gefragt. Diese beiden Aspekte setzt Vf. in ein produktives Verhältnis zueinander, so dass die ausgewählten historischen Fragen zugleich als Reflexionsfläche für theologische Fragen des Gottesdienstes in der Gegenwart fungieren können. Die sechs Einheiten des Buches bieten einen sinnvollen Zugang zum Thema. Sie sind praxisnah und leserfreundlich jeweils in einem Schlusskapitel zusammengefasst. Nach dem Prolog (9–26), der Analyse frühchristlicher Texte wie u.a. Erstem Korintherbrief, Hebräerbrief und Erstem Clemensbrief (27–68), der historischen Rückfrage nach frühchristlichen Gottesdiensträumen (69–160) und dem Zentralkapitel zum kultischen Charakter des christlichen Gottesdienstes (161–351) widmet Vf. das fünfte Kapitel dem Bild und seinem Körperbezug im liturgischen Raum (353–406). Der auffällig weiträumige Epilog bindet den historischen Durchgang zusammen, um anhand von weiterem patristischen Text- und Bildmaterial für eine liturgische Gebetsostung, gegen die Frontalzelebration mit Blick des Zelebranten zur Gemeinde sowie für die Wiederherstellung der ursprünglichen liturgischen Gehalte zu plädieren (407–464). Dieses Material wird in der Monographie zusammengetragen und plausibel in den antiken religionsgeschichtlichen Horizont mit Altären, Kulten und Sakralitätsvorstellungen eingeordnet. In Kapitel I startet Vf. mit dem Thema Altäre als „einem christlichen Markenzeichen“ (9), das er auch als Anfrage an die liturgische und theologische Tradition des Protestantismus formuliert. Die historische Rückfrage dient zur Klärung der Bedeutung von Altar und heiligem Raum allgemein; zugleich fokussiert sie den Beginn und die LuThK 43 (2019), 147–158
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Einflussfaktoren der Altarnutzung und Opferhandlungen innerhalb des frühen Christentums (vgl. 10–11). Radikal in Frage gestellt wird die Vorstellung eines kultlosen Christentums sowie die verbreitete „Verfalls- und Hellenisierungstheorie“ (12), laut welcher es im ersten und zweiten Jh. n. Chr. keine christlichen Altäre gegeben habe. Neben den beiden lebensweltlich bekannten Optionen des paganen Schlachtopferaltars und dem profanen Esstisch arbeitet Vf. eine dritte Option als das für christliche Liturgie ideale Kultmöbel heraus: Den Sakraltisch. Dieser kann im antiken Sprachgebrauch synonym entweder als „Altar“ oder auch als „Tisch“ bezeichnet werden (vgl. 19). Die lebensweltliche Kontextualisierung setzt Vf. in Kapitel II als Verortung vom „Ursprung des christlichen Altars“ in der „antiken Realität von Sakraltischen“ (68) fort. Diese Verortung basiert auf der Feststellung: „Eine unkonkrete, undingliche Sakralität ist der Antike gar nicht denkbar“ (65). In chronologischer Reihenfolge wird der Altar als Sakraltisch durch frühchristliche Texte wie 1Kor (vgl. 26– 32), Hebr (vgl. 32–42), 1Clem (vgl. 42–46) sowie die Ignatiusbriefe (vgl. 46–53) und andere Autoren bis zur Spätantike (vgl. 54–67) plausibel gemacht. Im Zentrum steht die Herausarbeitung der Exklusivität und Sakralität des Herrentisches (vgl. z.B. 59 zu 1Kor, 34 zu Hebr; warum man laut 38 Hebr 13,12 „sakramental verstehen [muss]“, hat sich mir jedoch nicht erschlossen). Mit Kapitel III thematisiert Vf. das schon in einem früheren Aufsatz attackierte „Phantom der Hauskirchen“ (69–85), indem er die wenigen archäologischen und die vielen Textzeugen auswertet, die Hinweise auf den liturgischen Raum im frühen Christentum erlauben. Er konstatiert: „Insofern fehlt jeder Beleg für die These, aus Privathäusern hätten sich Kirchen- und Kultzentren in den verschiedenen Stadtteilen entwickelt und die Hauskirche sei die Matrix urchristlicher Mission, Identität und Liturgie.“ (78) Archäologisch am Beispiel Dura Europos (vgl. 72–74) und textuell etwa anhand von Justin argumentiert Vf. plausibel für die Einheit des eucharistischen Kultorts: „Justin sagt um 150 an die Adresse der Heiden, dass in jeder Stadt nur ein Kultort bestehe und dort immer dieselbe Liturgie gefeiert werde, die er dann in Hinsicht auf Eucharistie und Taufe beschreibt. Wie konnte er das wissen, wenn unzählige Hauskirchen mit entsprechend vielen Spielarten von Gottesdienst existierten?“ (90–91). Dass es sich hierbei nicht um Ausnahmen handelt, wird dann im Durchgang von Textquellen des ersten bis vierten Jh.s zu christlichen Kultstätten in einzelnen Städten oder diversen Regionen
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erläutert (vgl. 93–124). Am Ende der Analyse steht für Vf. das Ergebnis: „Die populäre These eines in kleine Kultgruppen fragmentierten, pluralen Stadtchristentums muss radikal in Frage gestellt werden“. (158). Dieses Kapitel verdient besondere Aufmerksamkeit angesichts der signifikanten Dominanz der Hauskirchen-Theorie im Bereich des Protestantismus, welcher Vf. mit seinen Ausführungen starke Alternativerklärungen sowie Gegenargumente gegenüber stellt. Nach Ursprung, Exklusivität und Einzigkeit des christlichen Altars widmet Vf. anhand von Texten des zweiten und dritten Jh.s nun Kapitel IV dem Thema der Funktion des Altars als Opfertisch: Zur Veranschaulichung des Opferdienstes der Christusgläubigen wird u.a. auf 1 Clem (vgl. 165 zu einem mehrdimensionalen Opferverständnis im Brief) oder auf die christlichen Apologeten des zweiten und dritten Jh.s verwiesen (vgl. 177 die konzise Zusammenfassung). Vor diesem Hintergrund ist die These am Kapitelbeginn zu verstehen: „Ein unbefangener Blick auf die Quellen führt zu der unabweisbaren Feststellung: Das frühe Christentum versteht sich als Opferreligion und somit als Kult […]“ (162). Dazu gehört für Vf. besonders die Sakralität des Kirchenraums: Besonders die Ausführungen zu heiligen Orten und Räumen (vgl. 182–184) sowie das Plädoyer gegen eine oberflächliche Betrachtungsweise der abwechslungsreichen Terminologie und gegen eine profane Raumkonzeption der christlichen Versammlungsorte (vgl. 198–199) stützen prägnant die These: Es sei „falsch zu behaupten, die Leitidee der frühchristlichen Religion sei die innerliche, kultlose, anikonische und immaterielle Richtung der späthellenistischen Philosophenkonventikel gewesen.“ (181). Der Rest des Kapitels umfasst den Gabentisch für das Opfer (vgl. 199–217), die Gebetshaltung am Altar u.a. zum aufrechten Stehen, den erhobenen Händen und dem Augenaufblick sowie über einhundert Seiten zur Ostrichtung des Gebets (vgl. 244–349). Im Fazit schließt der Vf. dann: „Worin das Opfertun theologisch besteht, ist für die liturgiehistorische Beurteilung zweitrangig; entscheidend sind allein die zeitgenössische Opferterminologie und eine entsprechende performative Ritussprache.“ (350). Dieser liturgiehistorische Zugang erinnert gleichzeitig an Gesprächsprozesse, wie sie vom Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen in K. Lehmann/E. Schlink (Hg.), Das Opfer Jesu Christi und seine Gegenwart in der Kirche. Klärungen zum Opfercharakter des Herrenmahles (DiKi 3), Freiburg i.B./Göttingen 1983 dokumentiert sind.
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Kapitel V ist in sechs Unterkapitel gegliedert, welche der Illustration des engen Bezugs zwischen der Bildausstattung des Kirchenraums einerseits sowie der Liturgie und dem Gebet andererseits dienen (vgl. 403; Vf. spricht auch von der „Topographie der Heiligkeit“ [389.406]). Zum Raum-Liturgie-Verhältnis akzentuiert Vf. etwa die nonverbale Herstellung des Bild-Körper-Bezugs (vgl. 354). Bilder im Kirchenraum animieren zur Feier des Gehörten als sichtbare Gegenwart (vgl. 366) und ermöglichen den der Bebilderung entsprechenden Eintritt in die Geschichte Gottes mit seinem Volk (vgl. 362). Dies hilft die Liturgie nicht allein als Gemeindeversammlung zu sehen, sondern sie zugleich als Teilnahme am kosmischen Gottesdienst wahrzunehmen (vgl. 369). Gegen Ende liegt der Fokus auf Apsisbildern aus verschiedenen Jh.en (vgl. 376–391), die als Beispiele verdeutlichen, wie über die reine Dekorationsfunktion hinaus durch Bilder mit ihrem pragmatischen Bezug eine interaktive Liturgie realisiert wird (vgl. 377). Im Unterkapitel zur Autorität der Apostel (vgl. 372– 376) bleibt ekklesiologisch – etwa mit Blick auf 1Kor 12 – gegenüber Eusebius fraglich, wie „dem [Bischof] der ganze Christus innewohne“ (372). Ähnlich verhält es sich im letzten Unterkapitel, wo gefragt werden müsste, warum „Geschenke in der Messfeier […] von Klerus und Volk“ zur „Hoffnung auf eine Gegenleistung“ (392) theologisch plausibel sein sollen. Auch die Rede vom Gnädigstimmen Gottes durch Märtyrer, die durch die Fürbitte ihre ‚Verdienste‘ als Gaben vor Gott geltend machen (vgl. 394–396), wird im Rahmen protestantischer Theologie schwer zu hören sein. Den Epilog in Kapitel VI nutzt Vf., um nach der Schilderung des liturgischen Reichtums in den vorangegangenen Kapiteln einen „Bildersturz und Kulturverlust historischen Ausmaßes“ (408) zu beklagen, den er auf die Neuverordnungen der Ritenkongregation im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils zurückführt. Zwei abschließende Beispiele bilden einerseits die Eucharistie samt ihren zwei Facetten des Mahl- und Opfercharakters (vgl. 409–434): Mit der Aussage „Sättigungsessen und Sakrament sind eben zwei völlig verschiedene Dinge.“ (420) wird jedoch eine unnötige Diastase konstruiert, die sowohl den beiden Eucharistiefacetten im Band als auch der Zuordnung in spätantiken Texten nicht gerecht wird (vgl. zu letzteren 432–434 u.a. anhand von Cyprian und Chrysostomus). Andererseits wird für den Volksaltar mit Frontalzelebration herausgearbeitet (vgl. 435–463), dass dieses Konstrukt auf dem Missverständnis basiere, Volksaltar und Frontalzelebration (celebratio versus populum) entsprächen der Wiederherstellung der ursprünglichen Liturgie (vgl.
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442–443). Vf. widerlegt diese These anhand der Evaluation von patristischem Text- und Bildmaterial und plädiert stattdessen für die Gebetsostung und den entsprechenden Standort des Liturgen vor dem Altar (vgl. 464). Insgesamt werden auf den ca. 450 Seiten des Bandes also wichtige historische und theologische Fragen adressiert. Zur Beantwortung dieser bietet Vf. einen umfassenden Überblick über frühchristliches sowie spätantikes Text- und Bildmaterial, dem er zugleich eine gut informierte Sammlung von Forschungsliteratur – vorrangig in deutscher, englischer und italienischer Sprache – an die Seite stellt. Als vorteilhaft stellt sich in der Dekonstruktion einiger geläufiger Positionen heraus, dass Vf. zu deren Widerlegung nicht nur die Gegenargumente aufführt, sondern sich auch mit der Stichhaltigkeit der Argumente für diese Positionen befasst. Praxisnähe gewinnt die Monographie durch die Kapitelzusammenfassungen, die über 150 – fast zur Hälfte farbigen – Abbildungen, die Übersetzung der Quellentexte im Haupttext ins Deutsche sowie die weiterführenden Indices mit Quellen und Sekundärliteratur. In Zeiten, wo „Glaubensräume“ in verschiedenen Disziplinen auf neues Interesse stoßen (z.B. H.-J. Sander, Topologische Dogmatik, Ostfildern 2019; vgl. T. Cress, Sakrotope, Bielefeld 2019), bietet dieses Buch aus historischer Perspektive wichtige Impulse, um angesichts eines breiten christlichen Traditionsguts zentrale Fragen der gegenwärtigen liturgischen Praktiken zu analysieren. Andreas Pflock, Frankfurt und Oberursel Thomas Schaufelberger/Juliane Hartmann (Hg.), Perspektiven für das Pfarramt. Theologische Reflexionen und praktische Impulse zu Veränderungen in Berufsbild und Ausbildung, Theologischer Verlag, Zürich 2016, 239 S., – ISBN 978–3–290–17837–6, 26,90 €. „Wie müssen Pfarrerinnen und Pfarrer ausgebildet sein angesichts der Komplexität dieses Wandels und der Steigerung der Anforderungen an sie? Welche Pfarrerinnen und Pfarrer brauchen wir für eine Zukunft, in der sie vielfältig werden muss und in der es gleichzeitig an Pfarrerinnen und Pfarrern mangeln wird. Welche Eckpunkte kristallisieren sich in der Kompetenzdiskussion heraus, wenn es um das lebenslange Lernen der Pfarrerinnen und Pfarrer geht? Welche konzeptionellen Grundlagen könnten für die Personalentwicklung der Pfarrerinnen und Pfarrer handlungsleitend sein?“ (15)
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Mit diesem Fragekanon umreißen die Herausgeber den Hintergrund der vorgelegten Veröffentlichung. Ziel ist es, kommunizierbare Anforderungen an den (in diesem Fall reformiert geprägten) Pfarrberuf zu beschreiben, die dann als Zielmarken für Aus-, Fort- und Weiterbildung dienen sollen, die für die Selbstreflexion helfen sollen und für die Gesprächen zwischen Kirchenleitung, Pfarrerinnen und Pfarrern und Gemeinden. Dies geschieht mit dem „Kompetenzstrukturmodell“, das letztlich den Kern des Buches darstellt (33–59). Hier werden fünf Grundkompetenzen für die pfarramtlich tätigen Personen beschrieben (das Folgende nach 35): Als alles andere umgreifende Kompetenz „Glaubwürdig leben“ („Leben aus dem Evangelium“, „Berufsidentität“, „Selbstmanagement“), daneben „Lösungen entwickeln“ („Hermeneutische Reflexion“, „Kreativität“), weiterhin „Beziehungen gestalten“ („Beziehung und Empathie“, „Team- und Konfliktfähigkeit“), darüber hinaus „Ergebnisse einbringen“ („Ziel- und Ergebnisorientierung“, „Planung und Organisation“) und schließlich „Einfluss nehmen“ („Leitung“, „Auftritt und Repräsentation“, „Kommunikation“). Diese Bereiche werden dann noch spezifiziert und jeweils unter den Kategorien „Fachwissen“, „Lern- und Umsetzungsbereitschaft“ sowie „Können als wissensbasiertes Handeln“ breiter ausgeführt. An das Modell schließen sich zunächst zwei weitere Beiträge an, die das Modell noch einmal grundsätzlich einordnen. Ein zweiter Hauptteil bietet vier Beiträge mit einer konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit dem Modell aus theologischer Sicht. Es schließt sich ein dritter Hauptteil an, in dem in elf Beiträgen neuere pastoraltheologische Ansätze beschrieben werden. Dieser Teil bietet auf engem Raum einen wunderbaren Überblick über die neuere pastoraltheologische Diskussion im deutschen Raum. Relativ kurz gehalten ist ein vierter Teil, in dem unter der Überschrift „Außenperspektiven“ Vertreter unterschiedlicher Institutionen zu Wort kommen. Ein letzter Teil rückt „Anwendungsperspektiven“ zum „Kompetenzstrukturmodell“ in den Blick. Kritik an diesem Modell wird im Buch selbst schon diskutiert: Thomas Schaufelberger, einer der Herausgeber, setzt sich bereits in der Einführung mit drei Missverständnissen auseinander, dass nämlich hier der Bildungsgedanke über Bord geworfen werde, Pfarrerinnen und Pfarrer letztlich überfordert würden und schließlich ökonomische Leitgedanken auf den Pfarrberuf übertragen würden, ohne die Eigenart von Kirche und Theologie im Blick zu behalten. Auch andere Kritiker, etwa Bernhard Rothen, kommen – zumindest in
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Auseinandersetzung mit ihnen – zu Wort, wenn etwa seine Sorge aufgenommen wird, „dass die Frage nach der Wahrhaftigkeit der Person die Frage nach der Wahrheit verdrängt“ (von Kunz aufgenommen, 108). Wie so häufig haben diese kritischen Anfragen vor allem gegenüber einer einseitigen und unangemessenen Handhabung des Instrumentariums ihren berechtigten Platz. Immer wieder wird in diesem Band allerdings deutlich, dass in einer ausgewogenen Anwendung große Chancen liegen: Dass Anforderungen klar benannt sind und kommunizierbar sind, dass Aus- und Weiterbildung präzise auf diese Erwartungshaltungen und Kompetenzen ausgerichtet werden können, ist eine kaum zu übersehende Stärke. Das gilt auch, wenn in anderen Kontexten die anzustrebenden Kompetenzen anders gefasst und beschrieben würden. Als besonders hilfreich habe ich es empfunden, dass das Buch weniger den einzelnen Pfarrer bzw. die einzelne Pfarrerin in den Blick nimmt, sondern immer auch die Gesamtheit der Amtsträger berücksichtigt: „Dabei geht dieses Kompetenzstrukturmodell aber nicht von einer einzigen Person aus, sondern strukturiert die Aus- und Weiterbildung von letztlich Hunderten von Pfarrern/-innen im Laufe der Jahre. Das ist die zweite Massnahme: Das Pfarrbild wird nicht auf eine einzelne Pfarrbiografie, sondern auf eine Vielheit von Pfarrleben bezogen. Mit diesem Gesamtcurriculum wird somit etwas von einer notwendigen Einheit in der Vielfalt angestrebt.“ (13) Und darin verbirgt sich dann letztlich auch schon das Gegenmittel gegen die Überforderung des Einzelnen: „Weil die zwölf Standards im Sinne von Entwicklungs- und Orientierungslinien zu verstehen sind, öffnet das Modell den Raum für individuell sehr unterschiedliche Pfarrprofile. Niemand kann in allen zwölf Standards die höchste Ausprägung erreichen.“ (18) Nach der Lektüre dieses Buches kann ich den Schweizer Kirchen für dieses „Handbuch für Pfarrerinnen und Pfarrer“ (16) nur gratulieren. Es wird spannend sein zu beobachten, inwieweit die Strukturierung von Aus- und Weiterbildung anhand des Kompetenzstrukturmodells sich auch längerfristig in der Praxis bewährt. Doch ein erster wichtiger Schritt ist gemacht. Christoph Barnbrock, Oberursel
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Silke-Petra Bergjan/Susanna Elm (edd.), Antioch II. The Many Faces of Antioch: Intellectual Exchange and Religious Diversity, CE 350–450 (Civitatum Orbis Mediterranei Studia 3), Tübingen, Mohr Siebeck 2018, 506 S., – ISBN 978–3–16–155126–0, 139,– € Nach Alexandria (2013) und Ephesos (2017) handelt es sich hierbei um das dritte Werk in der COMES-Reihe, die wichtige Orte um das Mittelmeer herum aus interdisziplinärer Sicht mit einem Schwerpunkt auf der Religionsgeschichte der Antike behandelt. Die Aufsätze, von denen drei auf Deutsch, die restlichen auf Englisch vorliegen, gehen auf eine Konferenz am 9.–12. Juli 2014 im Kloster Kappel am Albis in der Nähe von Zürich zurück. Die siebzehn Verfasser sind in Australien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, in der Schweiz und in den USA tätig. Die Aufsätze sind in vier Themengebiete eingeordnet: 1. The Many Layers of Antioch: Topography, 2. The Many Layers of Antioch: The Imperial City, 3. Visions of Antioch Painted with Words und 4. The Antiochenes – Creating Communities. Leserfreundlich bietet der Anhang eine Bibliographie, eine Autorenliste, ein Quellenverzeichnis, das zu einem Drittel Werke von Johannes Chrysostomus und Libanius enthält, sowie ein Stichwortverzeichnis. Nachdem Susanne Elm mit ihrer knappen Einführung einen guten Überblick gegeben hat, wertet Gunnar Brands in „Preservation, Historicization, Change: Antioch A.D. 350–450“ die eher mageren archäologischen Funde in Antiochia und dem angrenzenden Daphne aus. Es folgt „Libanius´s Antiochicus, Mirror of a City? Antioch in 356, Praise and Reality“ von Catherine Saliou. Sie interpretiert die Lobesrede, die der im 4. Jh. höchst einflussreiche heidnische Sophist und Rhetor 356 anlässlich der Olympischen Spiele auf seine Heimatstadt hielt, vor dem Hintergrund des „urban space“ Antiochias und stellt dabei eine große Übereinstimmung zwischen der Beschreibung des Libanius und den archäologischen Funden fest. In den beiden erwähnten Aufsätzen sowie im dritten „Metropolis, Emperors, and Games: The Secularization of the Antiochene Olympics in Late Antiquity“ von Johannes Hahn kommt immer wieder der kulturelle und religiöse Wandel von einer pagan dominierten zu einer christlich dominierten Stadt in den Blick. Brands beschreibt die Beibehaltung von Tempeln als historischen Denkmälern als „Christianization through historicization“ (22). Die seit ihrer offiziellen Begründung durch Commodus (180 n.Chr.) stark von heidnischen Kultpraktiken geprägten Olympischen Spiele Antiochias verloren diesen Charakter nach und nach. Hahn erklärt diese Säkularisierung der
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Spiele u.a. mit Relokalisierungen der Austragungsstätten und spricht vom Einhergehen von Christianisierung und einem Klima der Toleranz. Erst 520 wurden die Spiele von Kaiser Justin verboten mit der Begründung, dass Unruhen aufgrund von Konflikten zwischen Fangruppen ausgebrochen waren. Vor allem die letzteren beiden Aufsätze entsprechen der Zielsetzung der Herausgeber, ein Desiderat zu füllen, nämlich archäologische Erkenntnisse und die im Überfluss vorliegenden schriftlichen Quellen stärker miteinander ins Gespräch zu bringen (vgl. 4). In den folgenden vier Aufsätzen stehen eine Institution und zentrale Persönlichkeiten, die in der kaiserlichen Stadt wirkten, im Mittelpunkt. Jorit Wintjes stellt in „Die unbekannte Metropole – Antiochien und die römische Armee“ fest, dass Antiochien, das auf die Aushebung von Bogenschützeneinheiten spezialisiert und militärische Operationsbasis bei den Kriegen gegen die persischen Sassaniden war, „eine in erheblichem Maße von der römischen Armee geprägte Metropole gewesen sein“ muss (78). Claudia Tiersch erklärt in „A Dispute – About Hellenism? Julian and the Citizens of Antioch“, warum das heidnische Reformprogramm des Kaisers Julian (361–363) in Antiochia scheiterte. „The Hellenism that Julian dreamed of was a literary construction, not the everyday Hellenism of citizen-based communities.“ (128) Julians Einsatz für eine enge von Vertrauen und Gehorsam geprägte Beziehung zu den Göttern, seine Besessenheit mit blutigen Opfern, seine Unnachgiebigkeit und verfehlte Kommunikation machten ihn unter der Bevölkerung Antiochias verhasst, obwohl er gehofft hatte, mit seinen Reformen besonders sie ansprechen zu können. „His normative interpretation of Hellenism, if realized, would have destroyed the city´s Hellenic traditions more radically than any Christian emperor could have done.“ (135) Während Gavin Kelly auf Basis des Werks des antiken Historikers Ammianus Details des kaiserlichen Wirkens des Valens zu klären sucht und daran erinnert, dass Antiochien im 4. Jh. die wichtigste kaiserliche Residenz (vor Trier, Rom und Konstantinopel) war, behandelt Susanna Elm in „Death and the Tigris“ die Frage, „Does Later Roman Historiography Present an Antiochene Agenda?“ Sie vergleicht die zwischen 363 und 370 verfassten Berichte vom Tod des Kaisers Julian bei Libanius, Gregor von Nazianz und den beiden antiochenischen Historiographen Eutropius und Festus. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung bescheinigt sie den beiden letzteren keinen Einsatz für eine aggressive Außenpolitik Roms, sondern für eine
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Realpolitik, die bei Eroberungen nicht zu weit geht und sich des Mittels der Diplomatie bedient. „These historians read Roman history from the perspective of Persia – a point worth remembering.“ (189) Der dritte Themenbereich „Visions of Antioch Painted with Words“ beginnt mit „Healing Place or Abode of the Demons? Libanius´s and Chrysostom’s Rewriting of the Apollo Sanctuary at Daphne“ von Jan R. Stenger. Der Brand des Apollo-Tempels (362 n. Chr.) kurz nach der Entfernung der Reliquien des Babylas (Bischof im 3. Jh.) durch den Kaiser Julian war ein einschneidendes Ereignis in der Stadtgeschichte. Stenger vergleicht hier die beiden Berichte von diesen Ereignissen und kommt zu dem Schluss, dass die Darstellung des Chrysostomus vor dem Hintergrund der heidnisch-christlichen Debatten über die Vernünftigkeit, bzw. der Irrsinnigkeit des jeweiligen Glaubens, überzeugender gewesen sein musste, da er in der Lage war die Ortsgeschichte in die christliche Heilsgeschichte zu integrieren. Edward Watts setzt sich im Folgenden mit der Rolle des Alters in der Gesellschaft Antiochias Ende des 4. Jh. am konkreten Beispiel des Libanius auseinander, der in einer Briefsammlung zu zeigen versucht, trotz seiner fortgeschrittenen Jahre noch einflussreich und in der politischen und kulturellen Elite bestens verknüpft gewesen zu sein. Christine Shepardson arbeitet in „Bodies on Display: Deploying the Saints in the Religious Competitions of Late Antique Antioch“ heraus, dass die heidnische Verehrung von Götterbilder und die christliche Verehrung von (toten) Märtyrern und (lebenden) Asketen sowohl in Kontinuität als auch in kontrastivem Wettstreit standen. Im Kontrast stehen ebenfalls einerseits die megalographia des Libanius, die im typischen Stile des antiken Encomiums (Lobrede) die Stadt Antiochia mit ihrem Straßensystem rund um die beeindruckende Säulenkollonade im Zentrum rühmt, und andererseits die Topographia des Chrysostomus, der eine möglichst realistische Darstellung des täglichen Lebens und insbesondere der Armut und des Mangels bietet. Das stellt Blake Leyerle unter dem Titel „Imagining Antioch, or The Fictional Space of Alleys and Markets“ mit Hilfe von diversen in schwarz-weiß abgedruckten antiken Mosaiken dar. Bei Libanius ist Antiochien eine Stadt für die Ewigkeit, bei Chrysostomus der Kontrast zur Zukunft. Doch beide eint, dass sie nach den Regeln antiker Rhetorik Stätten mit Worten vor Augen malen (so merkt auch schon Stenger an, 210). Im letzten Themenbereich „The Antiochenes – Creating Communities“ untersucht Jaclyn Maxwell die Stimmen des einfachen Volkes, wie sie in den Reden des Libanius und den Homilien des Chrysosto-
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mus erscheinen. Adam M. Schor bespricht die unter dem Namen Apostolische Konstitutionen überlieferte Kompilation aus dem Antiochia der 370–380er im Hinblick auf das soziologische Konstrukt der Expertise als sozialem Konstrukt. Yannis Papadogiannakis zeigt, dass Chrysostomus in seinen Predigten immer wieder Gefühle wie Ehrfurcht, Dankbarkeit, Gemeinschaftsgefühl (z.B. bei der Eucharistie), Hoffnung (nach Katastrophen) oder Mitgefühl für die Armen und Geplagten zu erregen sucht, um eine von Emotionen geprägte kollektive Identität zu schaffen. Dabei sei ihm die besondere Stärke des Christentums zu Gute gekommen, Ritual und dessen Erklärung (via Homilien) zu verbinden. Wendy Mayer weist auf, dass der von Chrysostomus demonstrativ suggerierte Anti-Intellektualismus nicht der Wirklichkeit entsprach, da er sich durchaus in einem bestimmten Strang der Tradition der hellenistischen paideia befand, der sein Ziel darin hatte, die Hörer durch Psychagogie (Seelenführung) und medizinisch-philosophische Psychotherapie zu tugendhaften Bürgern zu machen. Rudolf Brändle ordnet die später weit verbreiteten, berüchtigten und nicht zu verharmlosenden Reden Adversus Judaeos (386/387) von Johannes Chrysostomus in „ihre[n] Kontext der multikulturellen Metropole Antiochien“ (297) ein. Die Reden sind demnach vor dem Hintergrund von Interaktion, gegenseitigem Interesse und friedlicher Koexistenz von Christen, Juden und Heiden, von großer Attraktivität des Judentums für Christen und von dem mit allen rhetorischen Mitteln geführten Dreifrontenkrieg gegen Juden, Heiden und Häretiker, in den sich Chrysostomus gestellt sah, zu sehen. Chrysostomus zielte auf die Verunsicherung der judaisierenden Christen und die Konsolidierung christlicher Identität durch Konfrontation mit der Wahrheitsfrage. Die Reden zeitigten „keine unmittelbaren Folgen“. (315) „Johannes [war] offensichtlich kein Judenhasser.“ (315) Von besonderem Interesse sind Brändles Ausführungen zur spätantiken Auslegung des Alten Testaments: „In Reaktion auf christliche Interpretationen veränderte sich die jüdische Interpretation verschiedenen Stellen der hebräischen Bibel.“ (306) „Das Buch Daniel wurde in der jüdischen Tradition ursprünglich zu den Propheten gezählt und ist wohl erst in Reaktion auf seine Verwendung durch die Christen aus der Reihe der Propheten gestrichen und in die Ketubim eingeordnet worden.“ (306) Silke-Petra Bergjan führt abschließend durch das Dickicht der verschiedenen Berichte vom antiochenischen Schisma unter den Nizänern in der zweiten Hälfte des 4. Jh., bei dem es u.a. um den
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Umgang mit von den Homöern konvertierten Gläubigen ging. Sie verortet den dogmengeschichtlich höchst bedeutsamen Tomus ad Antiochenos, in dem es u.a. um die Unterscheidung zwischen Usie und Hypostase und um die Suffizienz des Bekenntnisses von Nizäa geht, nicht wie allgemein üblich in das Jahr 362 nach Alexandrien, sondern in das Antiochia der 70er des 4. Jh.s (vgl. 383 und 419f.). Im Aufsatzband als Ganzem sind kleinere Uneinheitlichkeiten erwart- und verkraftbar (z.B. Häufigkeit der olympischen Spiele: nach Hahn, 53 alle vier Jahre, nach Tiersch, 120 alle fünf Jahre). Besonders bestechend ist, wenn das gleiche literarische Werk oder Ereignis aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet wird, z.B. die Oration 11 des Libanius bei Saliou im Abgleich mit archäologischen Funden (35–52), bei Leyerle im Vergleich mit anderen literarischen Quellen (257–267) oder der Brand des Apollo-Tempels bei Tiersch (134–136), Stenger (195–220) und Shepardson (244–246) im Hinblick auf verschiedene Aspekte der religiösen Konkurrenz zwischen Heiden und Christen. Der zeitliche Schwerpunkt der Aufsätze liegt anders als der Titel ahnen lässt fast ausschließlich in der zweiten Hälfte des 4. Jh.s. Insgesamt erhält der Leser für diesen Zeitraum aber einen äußerst vielseitigen Überblick derzeitiger Forschungspanoramen vor allem dank der interdisziplinären Ausrichtung. So sind Archäologen, Historiker, Literaturwissenschaftler, bzw. Altphilologen, Religionswissenschaftler sowie Theologen beteiligt. In der Praxis wird das Werk vor allem zu den einzelnen behandelten Themenbereichen zu konsultieren sein. Michael Wenz, Oberursel