Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02-03/2019 - Einzelkapitel - Good News in a »Fake News World«?! Konfessionelle Kirchen in unübersichtlichen Zeiten: Redaktion: Ruprecht, Edition 9783846997215, 3846997215

Mit seinem Hauptreferat bei der diesjährigen Kirchensynode der SELK stellt sich Christian Neddens dem Synodalthema »Good

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Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02–03/2019 – Einzelkapitel – Good News in a »Fake News World«?! Konfessionelle Kirchen in unübersichtlichen Zeiten
CHRISTIAN NEDDENS
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Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02-03/2019 - Einzelkapitel - Good News in a »Fake News World«?! Konfessionelle Kirchen in unübersichtlichen Zeiten: Redaktion: Ruprecht, Edition
 9783846997215, 3846997215

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Copyright © 2019 Edition Ruprecht ISBN: 9783846997215

Christian Neddens

Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02–03/2019 – Einzelkapitel – Good News in a »Fake News World«?! Konfessionelle Kirchen in unübersichtlichen Zeiten Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02–03/2019

Edition Ruprecht

CHRISTIAN NEDDENS

Good News in a „Fake News World“?! Konfessionelle Kirche in unübersichtlichen Zeiten1 I. Annäherung 1. Was sind „Fake News“? Der Begriff „Fake News“, wie er zur Zeit gebraucht wird, steht für gezielte Falschmeldungen mit manipulativer Absicht, vor allem im Internet und in den sozialen Medien. Fake News sollen dazu dienen, eigene Ziele durchzusetzen und anderen Personen, Organisationen oder Institutionen zu schaden.2 Der Begriff beinhaltet also den Moment der bewussten und böswilligen Täuschung. Nun könnte man einwenden, dass unsere Kommunikation immer perspektivisch verzerrt ist. Unser Gehirn wählt unter Millionen Reizen, die wir erhalten, die relevanten aus und setzt daraus ein Bild der Wirklichkeit zusammen. Und wenn wir Informationen weitergeben, sind diese noch einmal reduziert und gebündelt unter dem Aspekt, was uns bedeutsam erscheint. Wenn Sie später unter selk-news den Bericht über den heutigen Morgen lesen, dann werden Sie merken, dass Aspekte, die Ihnen wichtig sind, fehlen werden oder dass sie anders gewichtet sind. Eine Fake-News hingegen würde die Fakten bewusst verdrehen, um zu manipulieren.3 Dem Begriff kommt zunehmend noch eine zweite Bedeutung zu: er wird als Kampfbegriff verwendet, um unliebsame Berichterstattung zu diffamieren, ähnlich dem deutschen Begriff „Lügenpresse“. Damit soll das Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutio1 2 3

Der Vortrag war von der 14. Kirchensynode der SELK erbeten worden, die vom 21.–26. Mai 2019 tagte. Romy Jaster/David Lanius, Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen, Stuttgart 22019, 26–47. Zur Unterscheidung zwischen Faktum, Fake und Fiktion vgl. die literaturwissenschaftliche Studie Thomas Strässle, Fake und Fiktion. Über die Erfindung von Wahrheit, München 2019. LuThK 43 (2019), 99–122 DOI 10.2364/3846997215

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nen und öffentlichen Medien untergraben werden. Nachrichten, die einem nicht passen, werden zu Fake-News erklärt.4 Fake News gibt es schon, so lange es Nachrichten gibt. Sie sind momentan ein besonderes Problem, weil sich die digitalen Medien schneller entwickeln als die politischen Kontrollmechanismen und viele Nutzer zu unerfahren sind, um wirklichkeitsnahe und manipulierte Nachrichten zu unterscheiden.5 Die Diskussionen des letzten Jahres zeigen meines Erachtens aber, dass das Problem in der Öffentlichkeit, in der Politik und auch bei den Internet-Konzernen allmählich ankommt. Zwar besteht die reale Gefahr, dass sich gesellschaftliche Gruppen oder sogar Staaten mit ihren einseitigen Informationen vom gemeinsamen Diskurs abspalten. Die Chancen stehen aber nicht schlecht, dass die gegenwärtige Konfrontation mit Fake News die Medien sogar besser macht, die Informationskultur insgesamt stärkt und die Nutzer sensibilisiert, vergleichbar einer Impfung.6

2. Eine „Fake News World“? Ist unsere Welt eine „Fake News World“? Das wäre zu einfach. Im Gegenteil zeigt die Diskussion um Fake News, dass es nach wie vor ein Wissen gibt um die Unterscheidung von wahr und falsch, von Information und Desinformation, von Vertrauen und Lüge. Menschen können und wollen in der Regel die Wahrheit wissen. Auch aus der Perspektive der Theologie gesprochen wäre eine solche Herabsetzung der Welt unangemessen – trotz der Realität des Bösen und der Sünde: In Schöpfung und Erlösung erweist sich Gott 4

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Die Problematik verschärft sich dadurch, dass mit dem vermeintlich berechtigten Kampf gegen Fake News autoritäre Regime Maßnahmen der Pressezensur legitimieren. Zum Verhältnis von Fake-News und neuen Medien siehe Klaus SachsHombach/Bernd Zywietz (Hg.), Fake News, Hashtags & Social Bots: Neue Methoden populistischer Propaganda, Wiesbaden 2018. Eine Langzeitstudie zum Medienvertrauen an der Universität Mainz zeigt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor Vertrauen in die öffentlichrechtlichen Medien hat. Hingegen halten nur etwa zwei bis drei Prozent Nachrichten in den sozialen Netzwerken für vertrauenswürdig. Knapp drei Viertel der Deutschen glauben hingegen, dass Fake News und Hasskommentare eine Gefahr für die Gesellschaft sind. https://medienvertrauen.uni-mainz.de/forschungsergebnisse-der-welle-2018/.

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als der grundlos Liebende, Gebende, Schaffende. Gerade der Glaubende weiß um die Güte der Schöpfung: Martin Luther hat auf einmalige Weise in der Auslegung des Ersten Artikels formuliert, wie wir auch in unserem Geschaffensein die Vatergüte Gottes erfahren.7 Christen wie Nichtchristen spüren etwas davon, dass Menschsein auf Beziehung, auf Verständigung und auf Vertrauen angelegt ist – ob sie das mit Gott dem Vater in Verbindung zu bringen in der Lage sind oder nicht. Der Begriff „Fake News World“ würde diese Welt aus Gottes Gegenwart und Gottes Anrede entlassen. Gott aber spricht und wirkt in ihr. Er ist in ihr gegenwärtig. Luther kann das in einer Eindringlichkeit gegen Erasmus festhalten, die noch heute etwas Schockierendes hat: Gott ist „im Darm eines Mistkäfers oder gar in der Kloake […] nicht weniger als im Himmel.“8 Und selbst wenn der Unglaube diese Nähe Gottes nur als Bedrohung und Zorn fassen kann, so weiß es der Glaube, der auf Gottes Wort hört, eben besser, dass Gottes Welt, die aus seinem Wort geschaffen ist, niemals bloß „Fake News World“ sein kann. Diese Perspektive ist mir wichtig, damit wir nicht aus den Augen verlieren, wo Menschen, ohne dass sie Christen sind, vertrauensvolle 7

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Die Schöpfung ist nicht nur der Ort von „Tod und Finsternis“ (WA 39 I, 205,5) – auch nach dem Fall und trotz der Sünde. „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält […] – und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohn all mein Verdienst und Würdigkeit […]“ Nach BSELK 870. Das Wort „Verdienst“ stammt – worauf Oswald Bayer zurecht hinweist – aus dem Streit um die Rechtfertigungslehre, das Wort „Würdigkeit“ aus dem Streit um die Sakramentenlehre. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 42016, 87. Vgl. Luthers Bekenntnis von 1528: „Das sind die drei Personen und ein Gott, der sich uns allen selbst ganz und gar gegeben hat mit allem, was er ist und hat. Der Vater gibt sich uns mit Himmel und Erde samt allen Kreaturen, so dass sie uns dienen und nützen müssen. Aber diese Gabe ist durch Adams Fall verfinstert und unnütz geworden. Darum hat danach der Sohn sich selbst auch uns gegeben, alle seine Werke, Leiden, Weisheit und Gerechtigkeit geschenkt und uns mit dem Vater versöhnt, damit wir, wieder lebendig und gerecht, auch den Vater mit seinen Gaben erkennen und haben können. Weil aber diese Gnade niemandem nützte, wenn sie so heimlich verborgen bliebe und zu uns nicht kommen könnte, so kommt der heilige Geist und gibt sich auch uns ganz und gar […]“ (WA 26, 505,38ff). WA 18, 621,16–18.

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Beziehungen aufbauen, wo sie verantwortlichen Journalismus betreiben, an Universitäten und Instituten in wissenschaftlicher Redlichkeit forschen, sich in Menschenrechtsorganisationen für andere oder für die Schöpfung einsetzen und so weiter …

3. Was ist die Frage? „Good News in a Fake News World“ – das Thema, das sich die Synode gestellt hat, ist schillernd … Denn verschiedene Diskurse überlagern sich hier … Da ist einmal das aktuelle Problem jeder offenen Gesellschaft, dass neben faktenbasiertem Wissen und konstruktiven Argumenten Desinformationen gestreut werden, die sich nicht einfach abstellen und unterdrücken lassen: „alternative Fakten“ oder schlicht Lügen mit dem Ziel, politische, weltanschauliche, wirtschaftliche oder persönliche Gegner bloßzustellen und auszuschalten. Da ist auf der anderen Seite die Erfahrung vieler Christinnen und Christen in den westlichen Gesellschaften, dass sie nicht mehr die Mehrheitsmeinung repräsentieren und dass das, was früher selbstverständlich schien, plötzlich nicht mehr selbstverständlich ist, und das heißt: dass man gute Argumente braucht. Und dann ist da schließlich das Thema der letztgültigen Wahrheit, dass vor Gottes Angesicht, in der Begegnung mit Gottes aufdeckender Wahrheit alle Menschen als Lügner offenbar werden (Röm 3,4), wie der Beter in Psalm 51,6 sagt, „damit du Recht behältst in deinen Worten und siegst, wenn man mit dir rechtet.“ Das heißt aber: Das, was heute als „Fake News“ bezeichnet wird, ist nicht einfach identisch mit Widerständen und Kritik gegen kirchliche Positionen. Und beides ist etwas anderes als die Selbsterkenntnis des Glaubens, dass wir vor Gottes Angesicht Lügner sind. Auf der anderen Seite ist auch das faktenbasierte Wissen nicht dasselbe wie konfessionelle Kirche. Und beides ist auch nicht mit dem Evangelium identisch. Schlimm wäre es, wenn Christinnen und Christen jeden Widerspruch gegen ihre Überzeugungen zur Fake News erklären würden, weil sie sich ja mit dem Evangelium auf der richtigen Seite wissen, statt nach dem überzeugenden und gewinnenden Argument zu suchen. Für mich sind es zwei Fragen, die in dem Titel versteckt sind: 1) Was gibt dem christlichen Glauben Gewissheit? Worauf können wir vertrauen? 2) Kann man behaupten, dass christlicher Glaube, der in

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der „Good News“ des Evangeliums gründet, genau das Gegenteil von Fake News ist? Wie ließe sich das begründen?

II. Wie können wir vertrauen? 1. Im Zentrum: Vertrauen Was ist der Kern lutherischen Glaubens? Wenn wir Zeit hätten, würde ich gerne mit Ihnen das Augsburger Bekenntnis aufschlagen und anschauen, wie hier die Rede von Gott auf die Rechtfertigung des Sünders im Glauben konzentriert wird. Oder Luthers Erklärungen zu den drei Glaubensartikeln, die ganz und gar auf das Vertrauen in Gottes Werk an uns fokussieren. Oder würde mit Ihnen die radikale Gottesdefinition im Großen Katechismus diskutieren: „Was heißt denn Gott haben oder was ist Gott? Antwort: Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten, also dass ein Gott haben nichts anderes ist, als ihm von Herzen trauen und glauben“.9 Im Zentrum lutherischen Glaubens steht ganz schlicht: Vertrauen. Sich verlassen auf Gottes Barmherzigkeit, und nichts anderes. „Gegenstand der Theologie ist im eigentlichen Sinne der sündige und verlorene Mensch und der gerechtmachende und rettende Gott.“10 Genauso ist es, wenn Jesus Gleichnisse erzählt – von verlorenen Schafen, von Weinstöcken und Saatgut … Wenn Jesus predigt, dann öffnen sich Räume des Vertrauens.11 Wenn Jesus spricht, dann weht 9

Nach BSELK 930, 13–18. Vgl. Luthers Auslegung von Dtn 7,6–10, in: Predigten über das fünfte Buch Mose (1529), WA 28, 679–694. Sünde ist dem entsprechend, so Luther in der Weihnachtspostille von 1522: „das man got nit ehret, das ist, das man yhm nit glewbt, trawet, furcht sich, yhm nit ehr gibt, yhn nit lessit walden und eyn gott seyn‘‘ (WA 10 I/1, 24,5–6). 10 Luther in seiner Vorlesung zu Psalm 51; WA 40 II, 327,11–238,3: „Cognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica, Et ita cognitio Dei et hominis, ut refertur tandem ad deum iustificantem et hominem peccatorem, ut proprie sit subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator. Quicquid extra istud argumentum vel subiectum quaeritur, hoc plane est error et vanitas in Theologia.“ 11 Jesus predigt Vertrauen (Mk 4,26–29)! Er erzählt von Weinstöcken und Winzern, von Groschen und Hausfrauen, von Richtern und Samaritern, von Schafen und Kindern. Und in all dem, in diesen alltäglichen Begebenheiten auf Feldern und Gassen, in all dem erzählt er von der Gegenwart Gottes! Vom liebenden Vater,

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Gottes Hauch durch die Ritzen und erfüllt das Haus unserer Angst. Das „Fürchtet euch nicht!“ der Engel. Die Zusage des Auferstandenen: „Ich bin bei euch“. Das ist es, was die Jünger zu Pfingsten wiedererkennen! Gottes Geist erfüllt das ganze Haus! (Apg 2,2) Und das gilt auch im Angesicht der Lüge und des Todes: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“, sagt Jesus. „Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben. […] Wenn die Menschen euch aber verklagen und vor Gericht bringen werden, so sorgt euch nicht, wie oder was ihr reden sollt […] Denn nicht ihr seid es, die da reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der durch euch redet.“ (Mt 10,16–20)

2. Verheißung des Kreuzes! Und doch steht im Zentrum des Glaubens ein Kreuz. Der, der solch unerschütterliches Vertrauen predigt, wird zum Opfer der Verleumdung, wird angeklagt, gekreuzigt. Tenor der Anklage, er habe sich zum König der Juden gemacht. Das Kreuz scheint Herz und Sinn mit Gewalt zu überzeugen, dass die Macht am längeren Hebel sitzt, dass Verleumdung zum Ziel führt und die Lüge siegt. Und doch dreht sich am Kreuz – verborgen unter dem Gegenteil – alles auf eine stille Weise um. Eine „Inversion“, ein Umklappen ins Gegenteil findet statt. Sie kennen das von den alten Filmnegativen: was dort hell ist, wird auf dem Bildabzug dunkel und umgekehrt. Eine solche Inversion findet am Kreuz statt, weil es Gott ist, der hier – verborgen unter dem Gegenteil – handelt. Und das betrifft wirklich alles, was man meinte, von Gott und Mensch sagen zu können. Vielleicht kann ein Detail des Schneeberger Altars von Lucas Cranach das verdeutlichen. Cranach entwickelt ja in den 1520er und 30er Jahren bündige Bildformeln, um das entscheidend Christliche, Reformatorische ins Bild zu bringen.

vom guten Hirten, vom geduldigen Hausherrn. Gott ist schon hier! Schau dir die Spatzen unter dem Himmel an: Gott selbst ernährt sie! Schau dir die an, die nichts haben: ihnen wird das Reich gehören! Und die, die traurig sind: Sie werden getröstet werden!

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Lucas Cranach d.Ä./ d.J.?, Schneeberger Altar (1539), Mitteltafel (Ausschnitt), (Foto: Jürgen M. Pietsch)

Hier nun ist Mose, bei Cranach in der Regel im königlichen Hermelin, unter das Kreuz versetzt. Mit einem langen Finger zeigt er auf Jesus. Warum? Um dem Gesetz Ausdruck zu verleihen, wie es im 3. Buch Mose heißt: „Verflucht ist, wer am Kreuze hängt“ (Lev 21,23). Und es stimmt ja, hier gilt der Fluch des Gesetzes: Jesus trägt den Fluch der Sünde, der mir gilt und den Gott gerade hier in Segen wandelt. Damit behält das Gesetz eben nicht das letzte Wort, sondern weicht einer anderen letztgültigen Wahrheit: die Inversion des Gesetzes! Im Sinne der verborgenen Wahrheit unter der vermeintlich offensichtlichen Gegenwahrheit wandelt sich hier alles: der Klageschrei eines Gefolterten: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34) ist zugleich Zitat eines Vertrauenspsalms, der in die Aussage „des HERRN ist das Reich“ mündet (Ps 22,29).12 Der Spott 12 Jesu Gottesklage „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Sie ist zugleich Zitat der ersten Strophe von Psalm 22, der in der zweiten Hälfte fortfährt: „Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern“ (22,23) und „Denn des

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des Kreuzestitulus invertiert zur Ankündigung des anbrechenden Königtums Christi …13 Hier handelt Gott. Verborgen unter dem Gegenteil macht er alles neu. Doch eine Inversion steht im Zentrum: meine eigene! Wie Luther sagt, „damit wir aus unglücklichen und stolzen Göttern wahre Menschen werden, d.h. Elende und Sünder“.14 Hier, am Kreuz, geschieht etwas mit uns, wir werden zu den Sündern, auch vor uns und vor aller Welt, die wir vor Gott sind. Eine lebensgroße Darstellung des einsamen Christus am Kreuz bei Cranach dem Jüngeren konzentriert den Blick auf diese Inversion. Hier spricht Christus selbst den Betrachter an, wenn auch mithilfe einer großen Tafel: „Der du mich anschaust, Mensch, erschaue dich selbst und deine Sünde […] Wende vom Kreuz deine Augen nicht ab, denn ich hänge am Kreuz für dich […] Ich bin an deine Stelle getreten, habe für dich bezahlt […].“ In der Begegnung mit Christus werde ich zum Lügner, zur Fake News in Person, die Christus auf sich genommen hat.15 Ich bin die Fake News, die der Good News bedarf.

HERRN ist das Reich […] ihn allein werden anbeten alle Großen auf Erden.“ (22,29f.) Der Schrei, der mehr ist als Klage, sondern an Anklage und Vorwurf grenzt, zielt hin auf die Inversion in Vertrauen und Lobpreis. 13 Der Kreuztitel, der Jesus als gescheiterten Königsprätendenten zur Schau stellen sollte, ist aus Spott zur Wahrheit geworden: Jesus, König der Juden, König der Heiden, König der Welt. 14 Operationes in Psalmos; WA 5, 128, 37–39: „nos sibi conformes facit et crucifigit, faciens ex infoelicibus et superbis diis homines veros, idest miseros et peccatores“. Vgl. WA Br 5, 415, 45f: „Wir sollen menschen vnd nicht Gott sein. Das ist die summa; Es wird doch nicht anders“. Vgl. Hans Joachim Iwand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, in: ders., Glaubensgerechtigkeit. Lutherstudien, hg. v. Gerhard Sauter, München 21991, 48. 15 Man könnte fortfahren, wie dies zur Inversion all unserer Begriffe von Gott und Mensch führt, alle Begriffe des Glaubens neu verstehen lehrt: Der Geist wird „der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben, über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht; über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.“ (Joh 16,8–11)

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Lucas Cranach d. J., Christus am Kreuz (1571), 251x158 cm, Reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek Wittenberg – Ev. Predigerseminar; Gemäldesammlung

3. Glaube hat Gründe Was aber lässt mich glauben? Was lässt mich vertrauen? So verborgen, wie Gott am Kreuz handelt, so verborgen handelt er auch an mir. Er wirkt Glauben aus seinem schöpferischen Wort, wann und wie er es will. Nur Gottes Geist selbst kann dieses Geheimnis erfassen.

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St. David’s Cathedral, Wales (Foto: Christian Neddens)

Die Gründe zu nennen, warum ich glaube, ist darum für mich vergleichbar mit dieser Rosette am verfallenen Bischofspalast der St. David’s Cathedral. Um es gleich zu sagen: In der Mitte ist ein Loch. Und erst durch das, was drum herum ist, wird das Loch als Loch sichtbar. Das heißt übertragen: In der Mitte des Vertrauens ist etwas, was wir nicht innerweltlich erklären können. Glaube ist Gabe Gottes. Es gibt keinen zureichenden innerweltlichen Grund für Gottvertrauen jenseits von Gottes Geist. Um dieses letzte Geheimnis herum liegt aber ein ganzes Geflecht an überzeugenden Argumenten, die unser Vertrauen stärken und die zusammen einen faszinierenden Rahmen bilden, die aber keine Beweise sind, mit denen wir Gottes Wirken und Gottes Wort in unsere Verfügungsgewalt bekämen. Da sind etwa die Erkenntnisse der Bibelwissenschaft und der Archäologie. Als Mitglied der Sasse-Jury freue ich mich ganz besonders, dass im November der Hermann-Sasse-Preis an Udo Schnelle verliehen wird.16 Er steht für eine Reihe von Exegeten, die gründliche 16 Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 52016.

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Forschung an den Texten mit der Frage nach der Gesamtaussage der Bibel als Heiliger Schrift verbinden und die die grundsätzliche Verlässlichkeit der neutestamentlichen Schriften deutlich machen. Letztlich bleibt die Rekonstruktion historischer Zuverlässigkeit aber relativ, kann Glauben stützen, aber nicht begründen. Entscheidender sind die biblischen Texte selbst, die zur mir als Heiliger Schrift sprechen wollen: sie bezeugen sich selbst als Gottes Anrede, sie selbst schaffen ihre Hörer. Ihre Schönheit, ihre Tiefgründigkeit treffen mich immer wieder aufs Neue, wenn ich sie als Heilige Schrift lese. Ebenso entscheidend ist für mich, dass das biblische Wort Gottes mir Wirklichkeit erschließt. Dass ich hier das Geheimnis unseres Menschseins, unser Woher und Wohin, unsere merkwürdige Stellung in der Schöpfung, meine Angewiesenheit auf Erlösung begreifen lerne. Auf Gott zu vertrauen lerne ich aber immer durch andere Menschen (Röm 10,17), durch ihre Worte und ihr Vorbild. Es ist vielleicht die Großmutter oder der Pfarrer, die oder der eine Beziehung zu mir aufbaut und bei der oder dem meine Fragen gute Antworten finden. Und was für eine ausgesprochen starke Erfahrung für ein Kind ist das, wenn es erlebt, wie seine Eltern in der Kirche etwas beim Abendmahl auf die Knie sinken, weil es da etwas Größeres gibt, dem sie sich beugen! Es gibt darüber hinaus das Zeugnis der Kirche, also das Lebenszeugnis vieler Menschen, die bereit waren, ihr Leben durch Gott prägen zu lassen – in ihrem Denken und in ihrem Tun. Ihr Wagnis zeugt von ihrer Gewissheit. Und es gibt unsere eigene Erfahrung mit dem Vertrauen. Das tief sitzende und beglückende Gefühl der Angewiesenheit auf Gott. Die Zuversicht, dass Gott mich führt, und die Einsicht, dass Vertrauen die attraktivere und lebendigere Option ist. Vertrauen ist letztlich immer personal, fragt nicht nach Sachgründen, sondern kommt aus Begegnung. Und damit sind wir wieder in der Mitte des Bildes angekommen: in der Gottes- und Christusbegegnung, die sich unserem Zugriff entzieht (Joh 20,29; 1. Kor 2,9). Die innerweltlichen Argumente reichen letztlich nur bis an den Rand des Lochs. Wenn wir uns verlassen auf Gott, dann müssen wir uns wirklich verlassen, auch unsere vermeintlichen Argumente und Beweise.

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III. Die überwindende Kraft des Evangeliums Und damit komme ich zur zweiten Frage: Wenn christlicher Glaube nicht allein in nachprüfbaren Fakten gründet, sondern letztlich in der Gabe des Geistes und in der unverfügbaren Christusbegegnung, inwiefern kann man dann behaupten, dass der Glaube etwas anderes als Fake News, ja genau das Gegenteil von Fake News ist? Ich glaube, dass das Evangelium gerade das aufbricht, was so charakteristisch ist für Fake News, dass es den Fake News den Boden entzieht – und möchte versuchen, das an 5 Punkten zu zeigen. Zunächst aber: Was gehört zu den wesentlichen Kennzeichen von Fake News? Fake News polarisieren und schaffen ein einfaches Gegenüber von wir und ihr, Wahrheit und Lüge, Freund und Feind: Besonders eindrücklich Präsident Trumps erste Pressekonferenz am 11. Januar 2017, zum CNN-Reporter gewendet: „You are fake news“!17 Fake News untergraben gezielt das Vertrauen in die Strukturen öffentlicher, gemeinsamer Wahrheitsfindung Wissenschaft, Medien, Kultur. Als Beispiel nenne ich die viel geteilte Verschwörungstheorie, die deutschen Medien würden einer geheimen staatlichen Agenda folgen, was sie berichten dürfen. Die Medien seien also vertrauensunwürdig, weil staatlich gelenkt. Fake News verengen den Wirklichkeitsausschnitt, reduzieren die Kontexte, indem etwa Zitate aus dem Zusammenhang gerissen werden oder die Komplexität von Problemen auf einfache Formeln gebracht wird. Also im Folgenden: Fünf Kernaspekte des Evangeliums, die diesen drei Kernaspekten von Fake News die Stirn bieten:

1. „Solidarität der Sünder“ – wider die Einteilung der Welt In seiner Auseinandersetzung mit dem scholastischen und humanistischen Menschenbild macht der Mönch Martin eine radikale Entdeckung. In der Heidelberger Disputation 1518 führt er sie seinen erstaunten Hörern minutiös vor Augen: In unserem Erkennen, in unserem Tun und sogar in unserem Wollen gibt es nichts, womit wir Gott entsprechen könnten. Luther zertrümmert den Glauben an den Men-

17 Jaster/Lanius, Wahrheit (wie Anm. 2), 33–35.

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schen.18 Wir bleiben immer Sünder, immer ungerecht, sagt Luther.19 Oder mit Römer 3,4: „Es bleibe vielmehr dabei: Gott ist wahrhaftig, und alle Menschen sind Lügner.“ Also: nicht die Welt, die Nachrichten, die Anderen, wir sind die Fake News. Es gibt keine Trennung zwischen uns und denen. Zwischen Lügnern und Gerechten. Es gibt keine zwei Welten, der Heiligen und der Profanen … Die anderen sind genauso angewiesen auf Gottes Gnade wie ich selbst. Hier befinden wir uns tatsächlich in einer Gleichheit, die alle Standes-, Kultur- und Geschlechterunterschiede übersteigt. Das hatte damals enorme gesellschaftliche Folgen.20 Wie ist dann aber Rechtfertigung zu verstehen? Melanchthon beschreibt Rechtfertigung im Bild der Gerichtsbilanz: Um Christi willen rechnet Gott dem Sünder nicht seine Sünde, sondern die Gerechtigkeit Christi zu. Luther beschreibt es in der Heidelberger Disputation stärker personal: „Die Liebe des Menschen entsteht aus dem für sie Liebenswerten. Die Liebe Gottes findet das für sie Liebenswerte nicht vor, sondern erschafft es.“21 Gott liebt den Menschen nicht, weil er richtig denkt, handelt oder richtig glaubt. Sondern: „darum sind die Sünder schön, weil sie geliebt werden; nicht darum werden sie geliebt, weil sie schön sind. […] Und das ist die Liebe des Kreuzes, aus dem Kreuz geboren, die sich dorthin wendet, nicht, wo sie Gutes findet, das sie genießen könnte, sondern wo sie dem Schlechten und Bedürftigen Gutes bringen kann.“22 Die Sünder sind schön, weil Gott sie liebt. Rechtfertigungsglaube heißt, an diese schöpferische Liebe Gottes zu glauben und die Menschen mit Gottes Augen schön sehen zu lernen. Ein solches Bewusstsein verändert Gesellschaften. Der Sünder in seiner Menschlichkeit, Bedürftigkeit und seiner unhintergehbaren 18 Martin Luther, Disputatio Heidelbergae habita / Heidelberger Disputation (1518), in: Martin Luther Studienausgabe, Lateinisch-Deutsch 1: Der Mensch vor Gott, Wilfried Härle (Hg.), Leipzig 2016, 35–70. 19 WA 56, 252,32–253,1: „Nos autem semper in operibus legis, semper iniusti, semper peccatores.“ 20 Es ist bezeichnend, dass Luther und Cranach diese Wahrheit gerade in der Praxis des Fürstenspiegels, der darüber informiert, wie ein guter Regent zu sein hat, vor Augen führen. 21 Luther, Disputatio Heidelbergae habita (wie Anm. 18), 61. 22 Ebd.

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Selbstbezogenheit kommt realistisch in den Blick, als einer, der ist wie ich bin – und den Gott schön sehen will, wie er mich schön sieht. Eine Aufteilung in gut und böse, Freund und Feind, Christ und Nicht-Christ ist dann aber absurd.

Lucas Cranach, d.J. und Werkstatt, ca. 1545-50, ca. 16x22cm, Metropolitan Museum of Art, New York

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2. Vertrauen als Kernbegriff des Evangelischen Im Metropolitan Museum in New York existieren zwei kleine Arbeiten aus der Cranach-Werkstatt, die offensichtlich als Doppelbild gleicher Größe hergestellt wurden und auf denen Jesu Segnung der Kinder nach Mk 10 und die Rechtfertigung der Sünderin nach Joh 8 dargestellt ist. Beide Themen wurden von Cranach parallel zur Entstehung erster lutherischer Bekenntnisse Mitte der 1520er Jahre entwickelt und bringen das zentral Evangelische zum Ausdruck. Der dänische Lutherforscher Bo Holm hat vor einiger Zeit zeigen können, dass Luther sein Verständnis der Rechtfertigung des Sünders mit Metaphern familiärer Nahbeziehungen beschreibt: dem ElternKind-Verhältnis und dem Verhältnis zweier Eheleute.23 Genau diese Themen personaler Nahbeziehungen sind es auch, mit denen Cranach die Rechtfertigung aus Gnade ins Bild setzt. In der Kindersegnung wird Rechtfertigung als bedingungslose Zuwendung Christi sichtbar, Glaube als elementares Vertrauen des nackten, bedürftigen Säuglings, der da mit seinem nackten Hintern auf Christi Arm hockt. Und entsprechend rechts das Verhältnis von Christus und der Ehebrecherin so, dass Christus die Sünderin an der Hand ergreift und wie ein Bräutigam mit seiner Braut vor die Leute tritt. Ganz ähnlich beschreibt Luther das in seiner Freiheitsschrift als fröhlichen Ehestand, in dem jeder seine Mitgift in die gemeinsame Wirtschaft einbringt: Christus seine Gerechtigkeit, ich meine Sünde.24 Diese Recht23 Bo Kristian Holm, Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre. Berlin/New York 2006. 24 „Wenn die Seele also den Verheißungen Gottes fest vertraut, hält sie ihn für wahrhaftig und rechtschaffen. Nichts Hervorragenderes als das kann Gott zugeschrieben werden. Die allerhöchste Anbetung Gottes ist diese, in der wir ihm Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und alles andere zuschreiben, was einer Vertrauensperson zugeschrieben werden sollte.“ (De libertate Christiana, WA 7, 54,1–4: „Sic anima, dum firmiter credit promittenti deo, veracem et iustum eum habet, qua opinione nihil potest deo praestantius tribuere: hic summus cultus dei est, dedisse ei veritatem, iustitiam et quicquid tribui debet ei, cui creditur.“) In dieser personalen Vertrauensbeziehung kann Luther dem Glauben Großes zutrauen: Gott gewährt es, des Menschen Zutrauen als Gabe an ihn zu verstehen, obwohl der Glaube doch unverfügbares Geschenk Gottes bleibt: „Wenn Gott sieht, dass wir ihn für wahrhaftig halten und ihm durch den Glauben unseres Herzens die große Ehre erweisen, die ihm gebührt, dann erweist er uns diese große Ehre, uns um unseres Glaubens willen für wahrhaftig und gerecht zu halten.‘‘ (WA 7, 54,21–23: „Ubi autem deus videt, veritatem sibi tribui et fide cordis

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fertigungsbotschaft prägt nun ihrerseits wieder unsere Nahbeziehungen, stiftet Vertrauen auch unter Menschen. Bo Holm und sein Team arbeiten gegenwärtig an der Frage, wie die lutherische Konzentration auf Glaube als Vertrauen die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten geprägt hat, immerhin die erfolgreichsten Sozialstaaten mit einer hohen bürgerlichen Freiheit.25 Das Evangelium ist eine Botschaft des Vertrauens und stiftet eine Atmosphäre des Vertrauens, während Fake News Vertrauen gezielt untergraben!

3. Gesellschaftliche Angewiesenheit auf Vertrauen – Gemeinden als Lernorte des Vertrauens Vertrauen ist aber das, wovon Gesellschaften zehren.26 Gerhard Wegner, Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, spricht vom „transzendentalen Vertrauensvorschuss“, ohne den das Soziale unmöglich ist.27 Vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD wurde 2017 eine interessante Studie durchgeführt: 1.000 evangelische Kirchenmitglieder ab 18 Jahren sowie 1.000 Konfessionslose wurden nach ihren Lebens- und Wertorientierungen befragt unter der Leitperspektive: Was macht eigentlich den Unterschied? nostri se honorari tanto honore, quo ipse dignus est, Rursus et ipse nos honorat, tribuens et nobis veritatem et iustitiam propter hanc fidem.‘‘) 25 Die nordischen Gesellschaften geben zu erkennen, dass Luthers Verständnis der zwei Regimente Gottes nicht dazu führen muss, den Staat allein vom Gesetz und von der Sanktionierung von Ordnung her verstehen zu müssen (so noch Werner Elert, Politische Aufgaben und Schranken des Pfarrers, in: Korrespondenzblatt für die ev.-luth. Geistlichen in Bayern 1933, Nr. 7 und 8; Hermann Sasse, Die Soziallehren der Augsburgischen Confession und ihre Bedeutung für die Gegenwart, in: Werner Klän/Roland Ziegler, In statu confessionis III, OUH.E 10 Göttingen 2011, 19–29; anders dann Hans Joachim Iwand, Kirche und Gesellschaft. Nachgelassene Werke Neue Folge Bd. 1, bearbeitet, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Ekkehard Börsch, Gütersloh 1998). Vgl. Sasja Emilie Mathiasen Stopa, „Through Sin Nature Has Lost Its Confidence in God” – Sin and Trust as Formative Elements of Martin Luther’s Conception of Society, in: Journal of Early Modern Christianity 5 (2018), 151–171. 26 Vgl. Barbara Miztal, Trust in Modern Societies. The Search for the Bases of Social Order, Oxford 1998. 27 Gerhard Wegner, Transzendentaler Vertrauensvorschuss. Sozialethik im Entstehen, hg. vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD, Gütersloh 2019.

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Im Ergebnis zeigte sich, dass es in vielen Lebens- und Wertorientierungen nur geringe Abweichungen gibt. Christen und NichtChristen sind halt auch nur Menschen. Interessant war aber, dass es mindestens einen erheblichen Unterschied gab: nämlich im Bereich des Vertrauens! Evangelische geben zu einem viel größeren Prozentsatz an, ihren Mitmenschen zu vertrauen! (33%/17%). Und es gab noch einen weiteren markanten Differenzpunkt: auch in ihrem sozialen Engagement waren die Evangelischen deutlich aktiver als die Konfessionslosen (38%/17%).28 Vertrauen schafft Engagement! Politisch ist in Deutschland die Frage nach den Bindekräften der Gesellschaft neu erwacht. Im vergangenen Jahr hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Startschuss gegeben für ein gesamtdeutsches „Institut für gesellschaftlichen Zusammenhalt“.29 Daran sind elf akademische Forschungseinrichtungen beteiligt. Theologische Einrichtungen sind bisher nicht am Start. Dabei wäre eine entscheidende Frage, welche Rolle Glaube für die gesellschaftliche Vertrauensbildung spielt und wie sich das unter säkularen und multireligiösen Bedingungen verhält. Christliche Gemeinden sind als Orte des Glaubens Lernorte des Vertrauens.30 Vor kurzem kam eines meiner Kinder von Bezirksju28 Petra-Angela Ahrens, Was macht eigentlich den Unterschied? Evangelische und Konfessionslose im Osten Berlins. Lebensorientierungen, Engagement und Bezug zur Kirche, hg. vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD, 2018. Fragt man nach den Motiven für soziales Engagement, dann dominieren bei beiden Gruppen gemeinwohlorientierte Motive. Interessant ist hingegen eine deutliche Abweichung hinsichtlich der egoistischen Motive: Diese waren bei Evangelischen jeweils weniger stark ausgeprägt – um ein Viertel bis Fünftel geringer: Bei den Werthaltungen gab es nahezu identisch hohe Zustimmungsraten „Für andere da sein“, „Gemeinschaft erleben“, aber auch „Gesetz und Ordnung erleben“. Die größten Differenzen hingegen gab es erwartungsgemäß beim Glauben an Gott (59/4%) und bei den egoistischen Werten (Lebensstandard 34/53%; Bedürfnisse gegen andere behaupten 26/45%). Interessant ist auch die unterschiedliche Bewertung entscheidender Lebensereignisse, etwa einer Geburt. Während bei Konfessionslosen die Gefühle von Stolz, Zufriedenheit, Erfüllung und Stärke überrepräsentiert sind, ist es bei den Evangelischen die Dankbarkeit (77/59%) und Demut (34/14%). 29 https://www.bmbf.de/de/institut-fuer-gesellschaftlichen-zusammenhalt-startet7044.html. 30 Luther schreibt in den Schmalkaldischen Artikeln, was Kirche ist: „es weis Gott lob ein kind von sieben jare, was die Kirche sey, Nemlich die heiligen gleubigen

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gendtagen zurück und erzählte: „Papa, das ist so ganz anders als in der Schule. Wir gehen so anders miteinander um.“ Das hat mich bewegt, weil ich es selbst als Jugendlicher so erlebt habe. Kirche nicht als Sonderwelt, sondern als kraftvolle und reale Inspiration für unseren vermeintlich alternativlosen „Realismus“ und als Quelle der Veränderung unserer Sozialbeziehungen. Es ist aber nicht nur so, dass Vertrauen zwischen Menschen aus Gottvertrauen wächst. Es ist auch andersherum, dass der Missbrauch von Vertrauen das Gottvertrauen zerstört.31 Deshalb ist das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Kindern, Jugendlichen und Nonnen in der katholischen Kirche – aber bei weitem nicht nur in ihr – und die systematische Weise, wie dieser Missbrauch gedeckt, geleugnet und vertuscht wurde, so erschütternd und eine tiefe Anfechtung – nicht nur für das Vertrauen in die Institution Kirche und ihre Repräsentanten, sondern auch gegenüber Gott. Meines Erachtens stehen wir hier vor der größten selbstgemachten Krise von Kirche überhaupt: dass die Predigt des Vertrauens hohl wird. Unterhalb oder neben der Ebene des sexuellen Missbrauchs gibt es vermutlich noch andere Dimensionen von Missbrauch, subtile Formen der Machtausübung in Kirche. Und ich glaube, es wäre gut, und die Scheflin, die ihres Hirten stim hören.“ Und die Heiligkeit, so fährt Luther fort, liegt in nichts anderem als „im wort Gottes und rechtem glauben.“ (BSELK 776, 4–11). 31 Gottesbeziehung teilt sich in menschlichen Beziehungen mit. Menschen erzählen von Gott, Menschen leiten Gemeinde, reichen den Kelch, Menschen geben das, was ihnen am Herzen liegt, an ihre Kinder und Enkel weiter … Gen 1,26f. erzählt vom Menschen als ‚Bild‘ Gottes. Ein Bild macht aufmerksam, zeigt und erinnert. (Zu diesem Bildverständnis vgl. Lambert Wiesing, Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Frankfurt a. M. 22013.) Das heißt: Der Mensch, so wie er lebt und handelt, lässt andere Menschen nach Gott Ausschau halten und nach Gott fragen. Im Guten wie im Argen. (Dietrich Bonhoeffer hat einen ähnlichen Ansatz gewählt mit seinem Versuch, Gottesbildlichkeit im Verweis des Menschen auf Gott, in seiner Relationalität zu fassen. Vgl. ders., Werke 3: Schöpfung und Fall, Martin Rüter/Ilse Tödt (Hg.), Gütersloh 32007, 56–63.) Andere Menschen können mich die Liebe Gottes spüren lassen oder auch den Zorn, Barmherzigkeit und Hass … Auch als Bild der Kehrseite Gottes bleiben Menschen Gottes Bild. (Damit ist auch inkludiert, dass Menschen ihren Gottesbildern auf erschreckende bzw. beglückende Weise gleichen, was Feuerbach zu seinem Projektionsverdacht veranlasst hatte). Auch dann bleibt der Mensch der Ort, an dem die Frage nach Gott präsent ist.

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wenn wir uns das zum Thema machen. Gibt es sogar etwas wie geistlichen Missbrauch, Ausübung von Kontrolle unter dem Deckmantel des Evangeliums? Ich fange da bei mir selbst an: Gebrauche ich die Autorität der Bibel, um Gehorsam anderer zu erreichen, etwa meiner Kinder? Habe ich als Pfarrer Menschen in Ämter gedrängt, damit meine Gemeinde läuft, obwohl ich wusste, dass sie erschöpft sind und eine Pause benötigen? Wie authentisch sind wir in dem, was wir denken, verkündigen und leben? Christen wird von ihren Kritikern oft ein Hang zur Doppelmoral vorgeworfen. Was kann uns helfen, ehrlicher, offener, vertrauensvoller zu leben? Als Jugendpfarrer habe ich das stark gespürt, wie Jugendliche uns Erwachsene danach „abklopfen“, ob das authentisch ist, was wir sagen und glauben oder ob wir die Augen verschließen vor den Wirklichkeiten, die nicht ins Bild passen… Es wird eine entscheidende Frage für den Dialog mit der Jugend und für die Weitergabe des Glaubens sein, ob bei uns Kopf, Herz und Hand wirklich beieinander sind.

4. Freude an der Wahrheit Deswegen heißt mein vierter Punkt: Freude an der Wahrheit. „Die Liebe freut sich nicht an der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit.“ (1. Kor 13,6)32 Fake News verengen den Wirklichkeitsausschnitt, hatten wir gesagt. Zum Vertrauen, das vom Glauben ausgeht, gehört, dass Christinnen und Christen sich auf die wirklichen Fragen ihrer Zeit einlassen. Das ist manchmal ein schmerzlicher Prozess, der in große Verunsi32 Der Wahrheitsbegriff hat in der Bibel eine faszinierende Weite, aber auch eine klare Tendenz: ‚Wahrheit‘ kann in einem formalen Sinn durchaus die Angemessenheit und Übereinstimmung sein, etwa mit der Schrift, der Wirklichkeit, der Wahrheit eines Zeugnisses. ‚Wahrheit‘ hat darüber hinaus aber einen starken Beziehungsaspekt: Für die Wahrheit einer Aussage ist die verlässliche Beziehung des Gesprächspartners entscheidend. Wahrheit und Treue hängen insofern eng zusammen. In diesem Sinne ist Wahrheit für Christinnen und Christen sogar personhaft: Christus ist die Wahrheit (Joh 1,17; 14,6), Gott ist wahrhaftig (Joh 3,33). Der Geist soll die Gemeinde in die Wahrheit führen (Joh 16,13), ja er ist die Wahrheit (1. Joh 5,6). Wer an Christi Wort bleibt, ist in der Wahrheit und die Wahrheit wird ihn frei machen (Joh 8,34–36). Und auch bei Paulus umfasst die Wahrheit das Christusgeschehen. Von Christus zu predigen heißt die Wahrheit sagen (Gal 4,13+16).

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cherung führen kann. Aber nur so finden wir auch das lösende und befreiende Wort! Luther nennt das „tentatio“ – und es ist für ihn neben Gebet und Bibelstudium der eigentliche Ort der Glaubensreifung. Als Theologiestudierende haben wir diese „tentatio“ in besonderer Weise erlebt – und heutige Studierende erleben es ebenso. Die Theologie hat zwar andere Voraussetzungen als andere Wissenschaften. Trotzdem kann sie den Streit um die Wahrheit nicht aussitzen, sondern muss das Gespräch mit den anderen Wissenschaften suchen – und sie wird als Gesprächspartnerin gesucht. Für unser Forschen und Lehren an der Lutherischen Theologischen Hochschule ist es deshalb einfach selbstverständlich, dass die Theologie auf dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Niveau anschlussfähig und auskunftsfähig bleibt, so gut sie es eben vermag. Dass sie den Austausch mit anderen Wissenschaftsdisziplinen sucht und bei relevanten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen mitarbeitet, soweit es unsere Kräfte zulassen. Auf der anderen Seite liegt die Bedeutung gerade einer kirchlichen Hochschule darin, die akademische Theologie immer wieder an ihre biblische und kirchliche Bindung zu erinnern. Ich glaube, dass Oberursel sich hier profiliert und weiter profilieren kann über Deutschlands Grenzen hinaus als Forschungs- und Lehrstätte für auskunftsbereite konfessionelllutherische Theologie. Wir legen Wert auf ein sorgfältiges Studium der Hl. Schrift und unseres Bekenntnisses. Ebenso wichtig ist die gründliche Wahrnehmung unserer Lebenswirklichkeit auf der Höhe wissenschaftlicher Theoriebildung. Karl Barth hat zurecht festgestellt: „Wer das Leben, wie es ist, nicht versteht, kann auch seine Bedeutung nicht verstehen.“33 „Fake News“ sind nicht immer böswillige Manipulationen, sondern gründen manchmal ganz schlicht in einer unbewussten Verengung des Wirklichkeitsbezugs. Wir erleben mit Erscheinungen wie der „Fridays for Future“-Bewegung zur Zeit, wie eine sehr junge Generation diesen Wirklichkeitsbezug von uns einfordert und wir in Rechtfertigungsnot geraten, angesichts der Bedrohungen unserer Ökosysteme. Wie immer man die Bewegung im Einzelnen beurteilen mag, 33 Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, in Verbindung mit Friedrich-Wilhelm Marquardt hg. v. HansAnton Drewes, Zürich 2012, 583.

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sie löst eine offene Diskussion aus an Punkten, die wir gern verdrängen. Ich erlebe das ganz praktisch im Gespräch mit meinen Kindern. Ich erhoffe mir auch von der jungen Generation in unserer Kirche, dass sie sich nicht in unterschiedliche Wirklichkeitsblasen zurückzieht, sondern uns nötigt, miteinander und vor dem Forum der ganzen Breite gegenwärtiger Fragen nach den angemessenen Ausdrucksweisen des Glaubens in unserer Zeit zu suchen – und wir uns dabei nicht von Scheingefechten und Klischees in die Irre führen lassen.

5. Gottesdienst als Öffentlichkeit des Reiches Gottes Der Kern christlichen Lebens ist ohne Zweifel der Gottesdienst. Der Gottesdienst als Fest in unserer weithin säkularen multireligiösen Öffentlichkeit hat aber auch Bedeutung für die Gesellschaft. Denn er öffnet unsere Öffentlichkeiten hin auf die Öffentlichkeit des Reiches Gottes. „Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ ist die Ansage, wie sich unser hermetischer Raum im Zeichen des Kreuzes weitet und einen Riss bekommt für die Welt Gottes mitten unter uns. Für die Alte Kirche war es nie von Zweifel, dass die himmlischen Chöre mitfeiern, wenn wir Gottesdienst feiern, dass die himmlische Öffentlichkeit der Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig ist in diesem Moment. Die unbeschreiblich schöne Erzählung vom pfingstlichen Gottesdienst in Apg 2 macht das ja deutlich, wie hier die Grenze zwischen Drinnen und Draußen, Haus und Platz aufgehoben wird, weil die Öffentlichkeit des Reiches Gottes unsere weltliche Öffentlichkeit mitbetrifft. Wir merken etwas davon, wenn wir Feste feiern – Hochzeit oder Erntefest: Es macht einen Unterschied, wenn wir mit einem Gottesdienst beginnen oder zumindest einem Gebet. Plötzlich steht unser Handeln im Raum einer anderen, weiteren Öffentlichkeit. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Ps 31,9). Um diese Weite bitten wir im täglichen Vaterunser, wenn wir um das Reich Gottes bitten. Getragen ist diese Bitte wie alle anderen Bitten freilich von der VaterAnrede am Anfang: Die Bitte um das Reich steht und fällt mit dem Grund christlicher Hoffnung, dem Vertrauen auf Gottes Vatergüte. In unserer säkularen multireligiösen Öffentlichkeit fallen solche Erinnerungen an die größere Öffentlichkeit Gottes oft ersatzlos weg. Wie gehen wir damit um? Gehen wir den Weg der Säkularität weiter wie in Frankreich? Versuchen wir eine christliche Leitkultur durch-

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zusetzen? Oder gehen wir verstärkt den Weg interreligiöser Feiern, wo unsere Öffentlichkeit als solche betroffen ist? Auch das sind offene Fragen, die wir diskutieren müssten.

IV. Ausblick: Zuversicht (Parresia) Liebe Brüder und Schwestern, Ihr seid hier zusammen, um Wege zu bedenken für das Leben und das Zeugnis lutherischer Kirche in einer sich wandelnden Welt. Diese Welt ist Gottes Schöpfung – voller Wunder. Wir wissen um die Gefahren der Lüge. Wir wissen aber auch, dass wir nicht einfach unterscheiden können zwischen uns und denen da draußen. Nicht die anderen sind die Fake News World. Wir vertrauen darauf, dass Gott mitten in dieser Welt da ist, dass Gottes Wort „nicht leer zurückkommt“ (Jes 55,11) und dass es „lebendig und kräftig und scharf“ ist (Hebr 4,12), sein aufdeckendes, Öffentlichkeit herstellendes Werk zu tun. Im Vertrauen auf die Kraft des Wortes Gottes spricht Paulus immer wieder von der freimütigen Zuversicht (Parresia), die aus diesem Vertrauen erwächst: „Weil wir nun solche Hoffnung haben, sind wir voll freimütiger Zuversicht (Parresia)“ (2. Kor 3,6) und erzählen „das Geheimnis des Evangeliums“ voll „freimütiger Zuversicht“ (Eph 6,19). Wie befreiend ist es, im Vertrauen auf die Kraft der „Good News“ zu leben. Meine Ausführungen sollten deutlich machen, dass lutherischer Glaube Vertrauen stiftet, Trennungen abbaut, den wissenschaftlichen Diskurs sucht und Wirklichkeitswahrnehmung öffnet und schärft. Es ist aber keineswegs so, dass wir das schon immer und überall leben. Und es soll nicht darüber hinwegspielen, dass wir auch manche unerledigte Hausaufgabe im Gepäck haben. Einige Fragen habe ich bereits angerissen, andere wären zu ergänzen: Wie gelingt es uns, dem Thema Vertrauen mehr Raum zu geben – im kirchlichen wie gesellschaftlichen Leben? Was tun wir gegen das Misstrauen gegen die anderen in unseren eigenen Reihen? Was macht unser christliches Zeugnis vertrauenswürdig? Wie gelingt das Gespräch mit der Jugend – und ebenso: der Jugend untereinander mit ihren sehr unterschiedlichen Weltsichten, die immer stärker auseinanderzudriften scheinen34 – etwa im Blick auf 34 Zu den kommunikationstheoretischen Problemen von „Bestätigungsfehlern“, „Kognitiver Dissonanz“ und „Echokammern“ vgl. Jaster/Lanius, Wahrheit (wie Anm. 2), 54–58 und 69–71.

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Geschlechterrollen, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, nationale Identität?35 Wie gelingt es uns, die Einmütigkeit im Bekenntnis mit einer Wertschätzung der oft heterogenen individuellen Glaubenserfahrung und Lebenspraxis zu vermitteln? Bei meinem Besuch an unserem Schwesterseminar in St. Louis/Missouri letzte Woche hat mich fasziniert, wie man sich den damit verbundenen Fragen zu stellen versucht, etwa mit der Überlegung, was „geistliche Gastfreundschaft“ der Kirche sein könnte – oder in der Aufnahme postkolonialer Denkansätze, um der Lebenserfahrung von Menschen im globalen Süden gerecht zu werden.36 Immer geht es im Glauben um die Begegnung Gottes mit konkreten Menschen in ihrer konkreten Situation. Gefragt ist darum nach einer Art „Diversitäts-Hermeneutik“:37 wie vermitteln 35 An die Stelle des vermittlungsorientierten Disputs zwischen Meinungen, Interessen, Gründen und Werten droht das gesellschaftliche Paradigma eines bloßen Kommunikations-Kampfes zwischen nicht-vermittelbaren, hermetisch (füreinander und in sich selbst) geschlossenen Positionen zu treten. Vgl. Nina Ort/Patrick Thor/Anna-Maria Babin, „Nobody Knows Exactly What's Going On“. Drei Thesen und eine Schlussfolgerung zum Phänomen des ,Postfaktischen‘, in: Muenchner Semiotik. Zeitschrift des Forschungskolloquiums an der LMU (Ausgabe 2017). http://www.muenchner-semiotik.de/ausgabe/2017/ort_thor_babin_phae nomen-des-postfaktischen.pdf. 36 Die Neuzeit hat mit wachsendem Nachdruck die individuellen Rechte auf eigene Würde (Moderne), die eigene Perspektive (Postmoderne) und die eigene Stimme (Feminismus und Postkulturalismus) bestärkt. Vgl. Leopoldo A. Sánchez M., Individualism, Indulgence and the Mind of Christ: Making Room for the Neighbor and the Father, in: Robert Kolb (Hg.), The American Mind meets the Mind of Christ, St. Louis 2010, 54–67. Das führt aber auch zu Gegenreaktionen. ,Freiheit‘ und ,Ordnung‘ scheinen kaum noch miteinander vereinbar zu sein und fallen in kontroverse politische Konzeptionen auseinander. 37 Christologische und anthropologische Ansätze des Luthertums könnten hier weiterentwickelt werden: 1) Lässt sich die Einheit in Christus als auf Zukunft angelegtes dynamisches Modell denken, das die Einheit auch in den noch bestehenden Differenzen wahrnimmt und würdigt? 2) Bemerkenswert ist, dass lutherische Anthropologie gerade nicht von einem festen Wissen um den Menschen ausgeht, sondern Identität erst in der Bezogenheit auf Gott beschreiben kann. Aufgrund der Verborgenheit des Lebens mit Christus in Gott ist unsere (Selbst-) Wahrnehmung von Menschsein defektiv und fragmentarisch. Nur unter der paradoxen Gleichzeitigkeit sich widersprechender Zuschreibungen kommt der Glaubende in den Blick. Multiperspektivität ist ein Grundthema lutherischer Lehre vom Menschen …

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wir die wünschenswerte Einmütigkeit im Bekenntnis mit der vorhandenen Vielfalt menschlicher Erfahrung – im Blick auf das Miteinander in den Gemeinden, aber auch im Blick auf unser Selbstverständnis innerhalb der Ökumene?