Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02-03/2019 - Einzelkapitel - Die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 für die selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen in Deutschland: Redaktion: Ruprecht, Edition 9783846997208, 3846997208

Volker Stolle nimmt uns mit in die Zeit vor 100 Jahren. Unter dem Titel »Die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung von

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Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02–03/2019 – Einzelkapitel – Die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 für die selbstständigen evangelischlutherischen Kirchen in Deutschland
Die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 für die selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen in Deutschland
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Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02-03/2019 - Einzelkapitel - Die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 für die selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen in Deutschland: Redaktion: Ruprecht, Edition
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Copyright © 2019 Edition Ruprecht ISBN: 9783846997208

Volker Stolle

Lutherische Theologie und Kirche, Heft 02–03/2019 – Einzelkapitel – Die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 für die selbstständigen evangelischlutherischen Kirchen in Deutschland Lutherische Theologie und Kirche

Edition Ruprecht

VOLKER STOLLE

Die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 für die selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen in Deutschland1 Es geschah vor hundert Jahren: Da trat am 6. Februar 1919 in Weimar die Nationalversammlung zusammen, um nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine neue staatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen. Friedrich Ebert wurde am 11. Februar zum vorläufigen Reichspräsidenten gewählt. Am 31. Juli wurde dann die Weimarer Verfassung beschlossen, die von Ebert am 11. August unterzeichnet wurde. Damit war das gesellschaftliche Leben in Deutschland auf eine neue Grundlage gestellt. Und dies hatte signifikante Auswirkungen auf die Kirchen. Betroffen von diesem gesellschaftlichen Wandel waren auch die kleinen selbstständigen evangelischlutherischen Kirchen, denen jetzt unsere Aufmerksamkeit gilt.

Die Weimarer Verfassung Die Weimarer Republik verstand sich als auf den Willen des deutschen Volkes gegründet. Sie beanspruchte keine göttliche Legitimation. Die Präambel der Weimarer Reichsverfassung lautet: „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben.“ Damit war das Staatsvolk zum Souverän geworden, von dem alle Macht ausging. Alle Organe staatlicher Gewalt waren auf Zeit mit einem Auftrag betraut. Allein die Bürgerinnen und Bürger entschieden in Wahlen darüber, von wem sie sich vertreten lassen wollten. An die Stelle des Dreiklassenwahlrechts, das nur für Männer gegol1

Vorlesung anlässlich der Buchvorstellung Volker Stolle, Lutherische Kirche im gesellschaftlichen Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts, OUH.E 23, Göttingen 2019. Komprimierte Fassung des 4. Kapitels dieses Buches. LuThK 43 (2019), 83–98 DOI 10.2364/3846997208

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ten hatte, war nun das allgemeine Wahlrecht getreten. Frauen waren erstmals bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 stimmberechtigt. Diese neue Ordnung blieb den selbstständigen Lutheranern weithin innerlich fremd, weil man die damalige Lage gerade nicht als Ausdruck eines freien Willens des deutschen Volkes ansah, sondern als eine aufgezwungene Demütigung. Wesentlich stärker mentalitätsprägend als die selbst beschlossene Verfassung war der Friedensvertrag von Versailles mit seinen einschneidenden Folgen. Den handelten zur selben Zeit die Siegermächte unter sich aus, Deutschland unterzeichnete ihn unter Protest am 28. Juni 1919. Gottfried Nagel, seit 1921 Direktor des Oberkirchenkollegiums der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen (ELKP), sah eine „namenlose Not“ als wirkliche Grundlage der neuen Wirklichkeit: „Sie wurzelt in dem Weltkrieg, den wahrhaftig nicht unser Volk und seine Führer wollten, sondern unsre Feinde. Sie wurzelt in dem Zusammenbruch Deutschlands, dessen traurigste Begleiterscheinung die schmachvolle Revolution unseres eigenen Volkes war. Sie wurzelt endlich in dem Schanddokument, das unsre Feinde den Versailler Frieden nennen. Aber dieser Friede ist kein Friede. Diktiert nach gemeinem Bruch der feierlichen Abmachungen des Waffenstillstandes, erzwungen unter dem Würgegriff der Hungerblockade, erpreßt zuletzt durch neue Kriegsdrohungen bedeutet dieser sogenannte Friedensschluß, bei dem uns obendrein noch das lügnerische Geständnis der Schuld am Weltkriege abgepreßt wurde, eine Drachensaat siegestollen Völkerhasses“.2

Die Weimarer Verfassung hielt Nagel nicht einmal der Erwähnung wert. Und Werner Elert (1885–1954), damals Seminardirektor in Breslau, hielt in dieser Situation nur eine Opposition für möglich. Denn er sah in der demokratischen Öffentlichkeit keinen Raum für eine Öffentlichkeit des Christentums, da dieser rein formalen äußeren Ordnung eine innerliche Prägung fehle.3 Zwei konkrete Beispiele können diese Haltung verdeutlichen. In den selbstständigen lutherischen Kirchen hielt man an einem Denken fest, das zwischen Obrigkeit und Untertanen unterschied, 2 3

Gottfried Nagel, Unser Volk und seine Rettung, Breslau 1925, 3. Christian Neddens, Politische Theologie und Theologie des Kreuzes. Werner Elert und Hans Joachim Iwand (FSÖTh 128), Göttingen 2010, 143–145.

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obwohl sich mit dieser Struktur die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse nur reichlich abstrakt beschreiben ließen. Im allgemeinen Kirchengebet der ELKP wurde jetzt ohne Fokussierung auf bestimmte Amtspersonen mit Nennung von Titel und Namen, wie es vorher geschehen war, für die „Obrigkeit“ als solche gebetet: „Wir bitten Dich auch für unsere Obrigkeit. Gib ihr Verstand und Kraft, Demut und Mut, auf daß sie tüchtig sei, unseres Vaterlandes Wohl zu fördern. Auch unsere Ortsobrigkeit befehlen wir Dir.“4 Mit der persönlichen Zuspitzung unterblieben nun auch konkrete biblische Anspielungen, die an das alttestamentliche Königtum anknüpften. Ohne die biblische Begründung zurückzunehmen, mit der man zuvor die gesellschaftliche Unterordnung der Frau unter den Mann – unbeschadet der geistlichen Gleichheit aller Menschen vor Gott – gerechtfertigt hatte, ging man pragmatisch mit den neuen Verhältnissen um. Dabei wurde auch in den eigenen Reihen Frauen die Gelegenheit gegeben, sich zu äußern und zu organisieren und für eine besondere Sicht der Frauenpersönlichkeit zu werben.5

Die Kirchen im demokratischen Kontext Für die Kirchen insgesamt ergab sich eine ganz neue gesellschaftliche Verortung. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zu Ende gegangen und damit waren auch die Regelungen hinfällig geworden, die im Westfälischen Frieden 1648 für die drei Religionsparteien getroffen worden waren. Die Kirchen hatten sich danach allein im Rahmen der einzelnen Teilstaaten organisiert. Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 hatte daran nichts geändert. Auf ein gesamtstaatliches Kirchenrecht hatte man damals bewusst verzichtet, weil die Aufgabe als zu schwierig galt, als dass man sie hätte lösen können. Ausdruck dafür war der Kulturkampf.

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Das allgemeine Kirchengebet, Einlegeblatt. Vgl. Hans Peter Mahlke, Die Frau in der Öffentlichkeit – ein Beitrag zur hermeneutischen Frage in der Geschichte selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland, LuThK 16 (1992), 1–28, dort 2–6; Volker Stolle, „Den christlichen Nichtariern nimmt man alles.“ Der evangelische Pädagoge Karl Mützelfeldt angesichts der NS-Rassenpolitik (MJSt 22), Berlin 2007, 17. – Bedeutend: Oberin Magdalene von Thiling (1877–1974), 1921–1930 Abgeordnete DNVP im Preußischen Landtag und 1930–1933 im Reichstag.

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So ist es als eine Glanzleistung der Nationalversammlung anzusehen, dass sie dies schwierige Thema bewältigte, und zwar so überzeugend, dass der entsprechende Artikel 137 später in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland einfach übernommen wurde. Die Regelungen erwiesen sich also als enorm nachhaltig, gelten sie doch bis heute. Die Weimarer Verfassung des Deutschen Reiches legte in Artikel 137 fest: „Es besteht keine Staatskirche.“

Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluß von Religionsgemeinschaften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen Beschränkungen. Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde. Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechtes. Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Schließen sich mehrere derartige öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften zu einem Verbande zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben. Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen. Soweit die Durchführung dieser Bestimmungen eine weitere Regelung erfordert, obliegt diese der Landesgesetzgebung. (Gilt weiter als Artikel 140 GG.) Damit hatten die Landeskirchen ihre Privilegien zwar verloren, waren aber nicht in den privatrechtlichen Sektor abgesunken, sondern blieben dem öffentlichen Recht zugeordnet. Das Staatswesen erhob für sich keinen Anspruch auf Christlichkeit mehr, gestand der religiösen Betätigung aber einen öffentlichen Charakter zu und er-

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kannte das Wirken der Kirchen als einen Dienst am Gemeinwesen an. Den Kirchen erwuchs daraus eine Unabhängigkeit von Einmischungen des Staates und zugleich gewannen sie eine besondere Wertschätzung und einen besonderen staatlichen Schutz. Allerdings war es jetzt auch anderen religiösen Gemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften möglich, gleichen Rechtsstatus zu beantragen.6 Die selbstständigen lutherischen Kirchen hatten damit öffentlichrechtlich grundsätzlich denselben Status wie die Landeskirchen. Die Bestimmungen des Art. 137 hatten zur Folge, dass die Generalkonzession der ELKP von 1845 und die Waldeckische Konzession für deren Gemeinden im dortigen ehemaligen Fürstentum von 1866 im Sinne einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes interpretiert und anerkannt wurden.7 1923 erlangte auch die Evangelisch-Lutherische Freikirche (ELFK) in Sachsen Korporationsrechte.8 Von besonderer Bedeutung war die Beibehaltung des Sonntags als Feiertag. Die Weimarer Reichsverfassung schützte die Sonntagsruhe im Abschnitt über Religion und Religionsgesellschaften, und zwar in Art. 139, der später ebenfalls in das Bonner Grundgesetz übernommen wurde (Art. 140 GG): „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Damit bot der säkulare Staat den Kirchen einen wichtigen zeitlichen Raum, um in gewohnter Wei6

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Grundsätzlich war verfassungsrechtlich eine Parität zwischen den Kirchen und den andern öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften gegeben; jedoch unterschieden sie sich stark in ihrer tatsächlichen gesellschaftlichen Bedeutung, so dass darüber diskutiert wurde, ob nicht tatsächlich weiter Unterschiede beständen. Vgl. Jürgen Lehmann, Die kleinen Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts im heutigen Staatskirchenrecht, Inaugural-Dissertation Frankfurt am Main 1959, 87–89. Erteilung der Körperschaftsrechte vom 19. Juni 1930 an die Evangelischlutherische (altluth.) Kirche als Gesamtkirche und für die einzelnen Gemeinden (Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland, Werner Klän/Gilberto da Silva, OUH.E 6, Göttingen 2010, 102); Anerkennung der Gemeinden Korbach, Sachsenberg und Bergheim als Körperschaften des öffentlichen Rechts durch Schreiben des Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 9. Januar 1933 (Bundesarchiv Abt. Potsdam, Bestand S 1.01 RKM, Nr. 23127, 00474). Gottfried Herrmann, Lutherische Freikirche in Sachsen (Berlin 1985), elektronische Fassung, (359–360) 431–433.

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se ihre Gottesdienste in einer herausgehobenen gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu halten und sich damit auch selbst öffentlich darzustellen.9

Neubestimmung des lutherischen Selbstverständnisses Die Regelung der kirchlichen Verhältnisse auf Reichsebene regte die selbstständigen lutherischen Kirchen an, ihre Zusammenarbeit über ihre traditionell regionale Verfasstheit hinaus zu verstärken. Schon im Juni 1919 bauten die selbstständigen lutherischen Kirchen in Preußen und in den hessischen Landen (SELKH), sowie die Hannoversche (HannELF) und die Hermannsburg-Hamburger (HHELF) Freikirche ihren seit 1907 bestehenden Dachverband des „Konvents“ aus. Der Kreis der bisher teilnehmenden Kirchen erweiterte sich um die Evangelisch-lutherische Synode in Baden und die Renitente Kirche Ungeänderter Augsburger Konfession (RKUAK); 1921 schloss sich zusätzlich die Gemeinde St. Anschar in Hamburg mit ihrem Pastor Max Glage (1866–1936) an. Diese sieben Kirchen bildeten nun die Vereinigung evangelisch-lutherischer Freikirchen in Deutschland (VELF), „um gemeinsame kirchliche Angelegenheiten gemeinsam in die Hand zu nehmen“.10 Dazu wurden ein Ausschuss und jährliche Vertretertage eingerichtet. Stolz propagierte man die in leidvollen Kämpfen erreichte eigene Unabhängigkeit vom Staat nun nach dem Ende des Staatskirchentums als ein längst praktiziertes zukunftsweisendes Modell: „Zu diesen gemeinsamen kirchlichen Angelegenheiten rechnen sie unter den jetzigen kirchlichen Wirren das Zeugnis von den kirchlichen Grundsätzen, die sie in jahrzehnterlanger Unabhängigkeit vom Staat immer wieder an Schrift und Bekenntnis geprüft und im kirchlichen Leben erprobt haben.“11 Die Programmatik dieser Vereinigung war: „Darum muß in dieser für Volk und Kirche gleich entscheidungsvollen Zeit allen, die mit Ernst Lutheraner sein wollen, dies als Ziel voranleuchten: Hindurch 9

Die Verfassung der DDR von 1968 garantierte demgegenüber in Art. 34 zwar das „Recht auf Freizeit und Erholung“, schützte dabei aber verfassungsrechtlich den Sonntag nicht. Der religiöse Aspekt fiel hier aus. 10 Kundgebung der „Vereinigung evangelisch-lutherischer Freikirchen in Deutschland“ (August 1919), Klän/daSilva, Quellen (wie Anm. 7), 574–576, Zitat dort 574. 11 Ebd.

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zur lutherischen Bekenntniskirche um jeden Preis!“12 Diese Zielsetzung wies deutlich über den eigenen engen Rahmen hinaus. Die kritische Distanz zur demokratischen Ordnung wurde zum Motivator, dem diagnostizierten Übel nach Kräften abzuhelfen. Die Bewältigung der nationalen Niederlage wurde auch als kirchliche Aufgabe betrachtet. Man wollte dem deutschen Volk zu innerer Stabilität helfen durch eine über den demokratischen Parteienstreit erhabene konfessionelle Einheit. Besonders weitgehende Visionen wurden in der ELKP entwickelt. Die Rettung des deutschen Volkes erwartete Kirchenrat Nagel von einer Besinnung auf die Bedeutung des christlichen Glaubens in der völkischen Geschichte: „Man kann fast sagen: der Fortschritt vom Germanentum zum Deutschtum besteht darin, daß sich mit dem Geist unsres Volkslebens der Christusgeist aufs innigste vermählt hat. Davon künden uns die alten Dome unsres Vaterlandes, die, auf den Grundriß des Kreuzes gebaut, mit den Schwurfingern ihrer Türme zum Himmel hinaufweisen. Davon singen und sagen die alten Volksepen, der Heliand und der Krist, der Parzival und wie sie alle heißen. Davon klingt es wieder in deutschen Volksliedern, in dem Choralgesang der Reformationszeit, in den Cantaten und Passionen eines Bach bis zu den Meistern unsrer Tage. Aus dem Evangelium haben die Besten unsres Volkes je und je die Kräfte geschöpft, die zur Entfaltung des ganzen Reichtums deutscher Innerlichkeit, deutscher Kunst und Kultur geführt haben, und von deren Überresten wir heute noch leben. Wer daher unser Volk zu der stärksten Kraft seiner besten Tage zurückführen will, der muß es zum Evangelium zurückführen“.13

Initiativen für eine lutherische Einigung Nagel unternahm ganz praktische Schritte, um seine Vision einer lutherischen Kirche für das deutsche Volk zu verwirklichen. Sein Bestreben ging einerseits dahin, die Gemeinschaft mit den lutherischen Landeskirchen zu vertiefen. Andererseits suchte er eine verstärkte Annäherung zu den anderen selbstständigen lutherischen Kirchen. Beide Anliegen standen freilich deutlich in Spannung zueinander. 12 A.a.O., 575. 13 Nagel, Volk (wie Anm. 2), 19–20.

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In Deutschland bestanden drei Gruppierungen von Lutheranern: Lutheraner in lutherischen Landeskirchen, Lutheraner in unierten Landeskirchen (sogenannte Vereinslutheraner) und selbstständige Lutheraner. Lutheraner aus den ersten beiden Gruppierungen arbeiteten seit 1868 in der Allgemeinen evangelisch-lutherischen Konferenz (AELK) zusammen und gaben die Allgemeine evangelisch-lutherische Kirchenzeitung (AELKZ) heraus; bewusstere Lutheraner aus den beiden letzten Gruppen hatten sich 1908 im wesentlich kleineren Lutherischen Bund zusammengeschlossen mit dem Presseorgan des Evangelisch-lutherischen Zeitblattes (ELZ). Nagel nahm nun 1927 zusammen mit Oberstudiendirektor Karl Mützelfeldt (1881–1953) an der Engeren Konferenz der AELK teil und ließ sich im folgenden Jahr als Mitglied dieses Gremiums kooptieren.14 Dieser Schritt löste erhebliche Unruhe in den eigenen Reihen aus: Karl Amelung (1858–1939), Studienrat in Dresden, sprach von „einer Schwenkung Breslaus“ und von „Männern des neuen Kurses“.15 Nagel riskierte das Zerbrechen des Lutherischen Bundes zugunsten einer Präsenz auf dem weiteren Forum des Luthertums. Die Mitgliederversammlung des Lutherischen Bundes beschloss am 2. Dezember 1930 in Leipzig die Auflösung des Bundes.16 Die neue 14 Vgl. Stolle, Nichtariern (wie Anm. 5), 41–42. – Dass Nagel diesen Schritt in seiner Funktion als Vorsitzender der Vereinigung Ev.-Luth. Freikirchen in Deutschland vollzog, wie in der Presse berichtet wurde (Kurt Schmidt-Clausen, Vom Lutherischen Weltkonvent zum Lutherischen Weltbund [LKGG 2], Gütersloh 1976, 97, auch die dort angegebene Amtsbezeichnung „Generalsuperintendent“ ist unzutreffend), entsprach nicht den Tatsachen. Er trat als Einzelperson bei (Gottfried Nagel, Antwort auf den Artikel von Prof. Dr. Amelung, ELZ 20 [1928], 206–216, dort 215). 15 Karl Amelung, Die Stellung der evangel.-luth. Kirche in Preußen (Breslau) zum Lutherischen Bund einst und jetzt, ELZ 20 (1928), 174–194, Zitat dort 188. – Dieser Beitrag liest sich bereits wie ein Nachruf auf den Lutherischen Bund: „Also mein Rat: man löse den Lutherischen Bund in seiner bisherigen Gestalt auf, weil ihm die Existenzmöglichkeit und die Voraussetzung für gedeihliche Arbeit fehlt“ (a.a.O., 193). 16 Kirchliche Nachrichten. Deutschland, AELKZ 63 (1930), 1245–1246. In der Presseerklärung der beiden letzten Vorsitzenden des Bundes, Pastor Martin Hübener (1881–1976), Pastor in Satow (Mecklenburg-Schwerin), und Friedrich Grube heißt es, „daß die lutherischen Freikirchen nicht mehr wie einst geschlossen hinter dem Lutherischen Bunde stehen, ja zum Teil die Proteststellung gegenüber der ‚Engeren Konferenz‘ aufgegeben haben“ (Zitat a.a.O., 1246).

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Offenheit, die traditionellen Territorialverhältnisse auf das große Ganze des deutschen Volkes hin zu transzendieren, belastete in dieser Hinsicht das Verhältnis der ELKP zu den anderen selbstständigen lutherischen Kirchen. Andererseits führte der Rückgang der kleinstaatlichen Prägungen auch zu größerer Annäherung unter den kleineren selbstständigen lutherischen Kirchen. Die selbstständigen Kirchen in Hannover und Hessen bauten eine sie verbindende organisatorische Struktur auf, die über ihre Kontakte in der VELF hinausgingen. Mit der Bildung eines gemeinsamen Superintendentur-Kollegiums 192417 und eines Bundes selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Hessen und Niedersachsen 1930 mit den Organen eines Kirchenausschusses und eines Allgemeinen Kirchentages18 gaben die HannELF, HHELF, die RKUAK und die SELKH zwar nicht ihre Selbstständigkeit auf, fanden sich aber auf föderativer Basis nicht nur zu gegenseitigem Austausch, sondern auch zu gemeinsamen kirchlichen Handeln zusammen, das insbesondere die Qualifizierung ihrer Pfarrer und das Disziplinarrecht betraf und in förmlichen Beschlüssen seinen Niederschlag fand. Die verfolgte Zielsetzung war bescheiden formuliert: „Durch diesen näheren Zusammenschluss soll die Arbeit der Vereinigung ev.-luth. Freikirchen in Deutschland gefördert und das Streben, einen Zusammenschluss aller lutherischen Freikirchen herbeizuführen, unterstützt werden.“19

Beziehungen zu dem sich organisierenden Weltluthertum Der Weltkrieg hatte einen Anstoß für internationale Hilfe der Kirchen gegeben, um die durch die Fronten von ihren Muttergesellschaften abgetrennten Missionen personell und wirtschaftlich am Leben zu erhalten. Dabei wurde ein entscheidender Schritt getan hin 17 Bildung eines gemeinsamen Superintendentur-Kollegiums der Hannoverschen evangelisch-lutherischen Freikirche, der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in Hessen, der Evangelisch-lutherischen Hermannsburg-Hamburger Freikirche und der Renitenten Kirche ungeänderter Augsburger Konfession (1924); Klän/daSilva, Quellen (wie Anm. 7), 593–594. 18 Bund selbständiger evangelisch-lutherischen Kirchen und Hessen und Niedersachsen vom 28. Mai 1930; a.a.O., 594–598. – Der erste dieser Allgemeinen Kirchentage fand bereits 1928 statt. 19 Bildung eines gemeinsamen Superintendentur-Kollegiums, 4.; Klän/daSilva, Quellen (wie Anm. 7), 594.

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zu einer internationalen Organisation des Luthertums. Nach Ende des Krieges erstreckten sich diese Hilfsmaßnahmen auch auf das unter den Kriegsfolgen leidende Europa. Dabei intensivierten sich die alten Beziehungen zum amerikanischen Luthertum. Es ergaben sich zwei getrennte Wege. Die ELFK hatte ihre angestammte Partnerin in der Missourisynode und anderen mit ihr verbundenen Kirchen. Die in der VELF zusammengeschlossenen Kirchen entwickelten ihre Kontakte zum National Lutheran Council (NLC, 1918) in den USA und zum Lutherischen Weltkonvent/Lutheran World Convention (LWC, 1923). Auf diesen beiden Wegen flossen allerdings sehr ungleiche Summen. Die ELFK erfuhr eine ungleich größere Förderung als die andern selbstständigen lutherischen Kirchen. Da die Gemeinden der ELFK in der Inflationszeit (1922–1923) als Spender amerikanischer Liebesgaben weit über ihre eigenen Kreise hinaus bekannt wurden und Anziehungskraft entfalteten, verzeichnete diese Kirche in den Jahren 1920 bis 1925 ein unverhältnismäßig großes Wachstum. Zählte sie 1916 noch 5.825 Mitglieder, so gehörten ihr 1926 bereits 10.199 Gemeindeglieder an, eine Zunahme also um 75%. Die Zahl der Pastoren war von 23 auf 39 gestiegen, d.h. um 70%.20 Wilhelm Wöhling (1860–1927) berichtete 1925 aus eigener Erfahrung: Als infolge des Krieges sich in Deutschland und auch in der Freikirche die allgemeine Not geltend machte, hat sie [sc. die Missourisynode] in besonders großherziger Weise durch Zusendung von Liebesgaben geholfen. […] Sie hat sich nicht darauf beschränkt, nur ihren Glaubensgenossen, unserer Freikirche, zu helfen, sondern sie hat unendlich viel Gutes an Tausenden und Abertausenden von Notleidenden in unserm Vaterland getan. […] Die Missourisynode ist bis jetzt nicht müde geworden in ihrer Liebestätigkeit. Sie beauftragte eine eigene Behörde in New York (American Lutheran Board for Relief in Europe) mit der Organisierung und Ausübung der Liebestätigkeit in Europa. […] Der Missourisynode haben wir es zu danken, daß unsere Freikirche nun in Berlin ihr eigenes Seminar zur Ausbildung von Predigern hat, 20 Herrmann, Lutherische Freikirche (wie Anm. 8), (350) 420.

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daß aussichtsreiche Plätze in Angriff genommen oder ausgebaut werden konnten, daß mit dem Bau nötiger Kirchen, Betsäle und Pfarrhäuser angefangen wurde. […]21

Für die VELF gestaltete sich die internationale Orientierung nicht so selbstverständlich. Die Bildung des internationalen Netzwerkes, das als Lutherischer Weltkonvent 1923 Gestalt annahm, brachte es mit sich, dass auf deutscher Seite das Gegenüber des Lutherischen Bundes zur AELK zu einigen Irritationen führte.22 Das Exekutivkomitee des LWC ließ sich jedoch in die Debatte über die Vereinslutheraner nicht hineinziehen, sondern sah sie als ein geschichtlich bedingtes lokales Problem an. Die Generalsynode der ELKP 1926 billigte denn auch „die Beteiligung unserer Kirche an dem Lutherischen Weltkonvent“ und beauftragte das Oberkirchenkollegium, „auf einen Zusammenschluß lutherischer Landes- und Freikirchen hinzuarbeiten (Corpus Lutheranorum)“.23 Kirchenrat Nagel hatte sich schon in einem Diskussionsbeitrag auf der Gründungsversammlung des Lutherischen Weltkonvents in Eisenach 1923 für eine finanzielle Unterstützung der eigenen Diaspo21 Wilhelm Wöhling, Geschichte der Evangelisch-Lutherischen Freikirche in Sachsen u. a. St., Zwickau 1925, 213–216. 22 Schreiben von Nagel an Professor John Alfred Morehead (1867–1936) vom 23. April 1927 und von Morehead an Nagel vom 21. Dezember 1927; mit Schreiben vom 4. Oktober 1927; Archives of the Evangelical Lutheran Church in America (AELCA): LWC 1/2 b5f18. – „Die Meinungsverschiedenheit besteht hauptsächlich darin, daß man in der Allgemeinen Luth. Konferenz, die doch seinerzeit ausdrücklich gegründet worden ist, um den der lutherischen Kirche durch das Vordringen der Union entstehenden Gefahren zu begegnen, nunmehr den Kampf gegen die Union fast völlig aufgegeben hat“ (Nagel in seinem Brief vom 23. April 1927). Die beiden Vorsitzenden des Lutherischen Bundes, Hübener und Grube, hatten am 28. November 1927 einen Brief an Morehaed geschrieben, in dem sie darauf hinwiesen, dass das so genannte Lutherische Einigungswerk (= AELK) nicht das gesamte Luthertum im Deutschland repräsentiere, und den Lutherischen Bund als bleibenden ersten Ansprechpartner in Deutschland bestätigen wollte; AELCA: LWC 1/2 b22f17. 23 Beschlüsse der General-Synode der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen. Amtliche Zusammenstellung (BGS) (1926), 1162.1163. – Dank für die Arbeit an der Umsetzung dieses Beschlusses an das Oberkirchenkollegium: BGS (1930), 1170.

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raarbeit in der Schweiz eingesetzt,24 die dann auch tatsächlich erfolgte25 und die Fortführung des Gemeindepfarramts in Zürich bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus ermöglichte.26 Die ELKP erhielt Zuwendungen auch zur Unterstützung von bedürftigen Theologiestudierenden.27 Unterstützung erbat sie auch für ihren westpolnischen Flügel, der durch den Versailler Friedensvertrag von ihr abgetrennt worden war.28 Die VELF unterstützte ihrerseits Hilfsprogramme des Weltkonvents. Die sieben Kirchen führten gemeinsam eine Sammlung für das theologische Seminar in Leningrad durch.29 In einer groß angelegten Maßnahme gelang es dem Weltkonvent, eine Gruppe lutherischer Flüchtlinge (80 Familien) aus Sibirien, die im Lager Charbin in der Mandschurei gestrandet war, aus China über Australien in ein neues

24 Schmidt-Clausen, Weltkonvent (wie Anm. 8), 74. 25 100 Jahre Evangelisch-Lutherische Kirche Zürich, Nordost- und Zentralschweiz. Chronik, Zürich 1991, 18–19. – Eine Bitte vom Februar 1922 an das NLC in den USA war abschlägig beschieden worden mit der Begründung, „daß in der neutral gebliebenen Schweiz keine Kriegsschäden auszuheilen seien“ (Christoph Wagner, Geschichte der Evangelisch-lutherischen Kirche in der Schweiz, Breslau 1929, 33), jetzt aber ergab sich nach einem Besuch des Sekretärs des NLC Melanchthon Gideon Groseclose Scherer (1861–1932), der als Delegierter des LWC an der ersten Weltkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung im August 1927 in Lausanne teilnahm, eine enge Zusammenarbeit (a.a.O., 41), nachdem dieser eine Denkschrift Wagners vom 27. August mit seinem Bericht empfehlend weitergeleitet hatte an Morehead mit Schreiben vom 4. Oktober 1927; AELCA: LWC 1/2 b5f1. 26 Mit Schreiben vom 30. November 1927 hatte Morehead von Nagel eine ausführliche Stellungnahme und Befürwortung des Projekts erbeten; AELCA: LWC 1/2 b6f9. – Darin bekennt Morehead: „I must confess to considerable personal interest in being assured that some Lutheran Church in Europe or elsewhere in the world is seeing to it that Switzerland is not left without a Lutheran witness. “ 27 Schreiben von Nagel an Morehead vom 30. November 1927; AELCA: LWC 1/2 b5f18. 28 Schreiben von Nagel an Morehead vom 12. Januar 1927; AELCA: LWC 1/2 b6f9. 29 Ebd. Bestätigung des Empfangs der Kollektengelder durch Schreiben von Morehead an Nagel vom 18. und 19. März 1927; ebd. Die Sammlung erbrachte fast 5.000 Mark; Schreiben von Nagel an Morehead vom 23, April 1927 (mit Aufschlüsselung nach Kirchen) und von Morehead an Nagel vom 10. Mai 1927; AELCA: LWC 1/2 b5f18.

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Siedlungsgebiet in Brasilien (Paraná) zu bringen.30 Die ELKP beteiligte sich an dieser Hilfsaktion.31

Auswirkungen in der kirchlichen Praxis vor Ort Wahlrecht in Gemeindeversammlungen Bezeichnend ist, wie das allgemeine Wahlrecht in der ELKP Eingang in die Ordnung für die Gemeindeversammlung fand. In den ersten Jahren ergab sich eine äußerst intensive und kontrovers geführte Debatte um eine biblische Orientierung. Es bildeten sich zwei fast gleich starke Lager, je nachdem die Schöpfungsordnung für Adam (Gen 2,18: Frau als Gehilfin und Gegenüber auf Augenhöhe zum Mann) oder die Fluchordnung für Eva (Gen 3,16: Mann als Herr der Frau) als richtungweisend angesehen wurde.32 Erst 1938 wurde dann das Stimmrecht der Frauen in der Gemeindeversammlung fast einstimmig beschlossen.33 In anderen selbstständigen lutherischen Kirchen dauerte dieser Prozess wesentlich länger. Volksmission Bisher hatte man es vermieden, sich mit der christlichen Verkündigung auch an Menschen außerhalb der eigenen Kirche zu wenden. Denn diese Menschen waren doch zumeist getauft und gehörten damit einer bestimmten Kirche an, welche die geistliche Verantwortung für sie trug. Am Anfang waren solche Aktivitäten den selbstständigen Lutheranern in Preußen sogar bei Strafe untersagt gewesen. Derartige institutionelle Vorbehalte fielen jetzt immer mehr dahin angesichts der entkirchlichten Massen.34 Auf Betreiben von Johannes Stier (1872–1961), Pastor in Berlin, kam es 1921 zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft für Volksmis30 Schmidt-Clausen, Weltkonvent (wie Anm. 8), 143–144 31 Schreiben von Morehead an Nagel vom 28. März 1932 und Antwort von Nagel an Morehead vom 6. April 1932, sowie Dank von Morehead an Nagel vom 27. April 1932; AELCA: LWC 1/2 b19f19. 32 Von der 21. Generalsynode unserer Kirche (Fortsetzung), KELG 81 (1926), 707– 709. 33 BGS (1938), 1178. 34 Volker Stolle, Auf dass Gott zu Wort komme. Evangelisation und missionarischer Gemeindeaufbau in der Geschichte der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche, mit 20 Dokumenten, OUH 39, Oberursel 2001, 13–14.

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sion innerhalb der ev.-luth. Kirche Preußens.35 Die „warme“ Empfehlung der Generalsynode 1926 liest sich allerdings eher wie ein unterkühlter Vortrag von Bedenken: In dem Bewußtsein, daß unsere Kirche eine starke Mitverantwortung für unser Volk hat, wird es unsern Pastoren warm empfohlen, gelegentlich auch Volksmission zu treiben, wenn Gott ihnen die Gabe dazu verliehen hat. Nur muß dabei ein Doppeltes sorgfältig beachtet werden: Volksmission darf nicht in Proselytenmacherei ausarten. Über der Volksmission darf die Arbeit an den eigenen Gemeindegliedern keinesfalls vernachlässigt werden.36

In einem Synodalreferat auf der Versammlung der ELFK in Hamburg hatte sich Heinrich Stallmann (1887–1969), Pastor in Berlin, ein Jahr zuvor (1925) wesentlich aufgeschlossener für die „Innere Mission“, unter der er nicht soziale Arbeit, sondern evangelistische Verkündigung verstand, ausgesprochen: „Jede Gemeinde soll mit großem Ernst prüfen, welche Missionsmethode sie unter den gegebenen Verhältnissen wählen und durchführen sollte: Einladung zu den Gottesdiensten der Gemeinde, Veranstaltung von öffentlichen Vorträgen, Festlichkeiten, Sonntagsschule, Straßen- und Hofmission, Hausbesuche, Mission in Krankenhäusern, Schriftenverbreitung, Kolportage u. dgl.“ 37

Neue Impulse im kirchlichen Leben Der gesellschaftliche Aufbruch setzte neue Akzente in der Jugendarbeit. „Das alte Prinzip der autoritären Jugendpflege wurde durchbrochen zugunsten einer selbstverantwortlichen und selbständigen Betätigung der Jugend.“38 Auf dem Bundestag des Jünglingsbundes der ELKP 1923 setzte man sich mit den Gedanken der Jugendbewegung auseinander. Für Freizeiten wurde ein eigenes Bundesheim in Mühlhausen/Thüringen erworben. 35 Der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Volksmission innerhalb der evang.luth. Kirche Preußens an seine Mitglieder, KELG 78 (1923), 133–134. 36 BGS (1926), 1162. 37 Heinrich Stallmann, Die Innnere Mission unserer Kirche; zitiert nach Stolle, Wort (wie Anm. 34), 17–18. 38 Werner Srocka, Fünfzig Jahre Bundesgeschichte, Fest zur Fahne. Mitteilungen aus dem evang.-luth. Jünglingsbunde 45 (1932), 129.

Die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 …

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Auch die Arbeit unter der weiblichen Jugend wurde intensiviert. Es kam zur Gründung neuer Jungfrauenvereine. Vor allem aber bildeten 1925 in der ELKP Vertreterinnen aus 22 Jungfrauenvereinen auf einer Freizeit in Guben einen eigenen Verband, dem von 63 Jungfrauenvereinen 43 beitraten (843 Mitglieder).39 Von Anfang an bestand der Vorstand aus Frauen, denen ein Pastor als Beirat zur Seite stand. Neben persönlichen Begegnungen diente den Vereinszielen die Veranstaltung von Tagungen, Freizeiten und Lehrgängen, sowie die Herausgabe des Bundesblattes Auf Adlersflügeln40. Im Raum der ELFK organisierten sich mehrere gemeindliche Jugendgruppen 1920 auf der Synode in Planitz in einem Lutherischen Jugendbund: „Der Bund sieht es als seinen Zweck an, durch gegenseitiges Zusammenarbeiten der Jugendgruppen die Gemeinden in der Erziehung ihrer Jugend zu tatkräftigen evangelisch-lutherischen Gemeindegliedern zu unterstützen.“41 Das Jugendblatt erhielt 1924 den Namen Junker Jörg. Jährlich wurden Jugendtage abgehalten. Auch die kirchenmusikalische Arbeit setzte sich fort. Wilhelm Brachmann (1893–1966), Pastor in Halle, gab des Bundesblatt der Posaunenchöre Jubilate heraus. In dieser Zeit erfolgten neue Zuordnungen im Bereich der selbstständigen lutherischen Kirchen. Nachdem das Theologische Seminar der ELKP mit Kriegsbeginn seinen Ausbildungsbetrieb hatte einstellen müssen, konnte es im Sommersemester 1919 seine Vorlesungsarbeit wieder aufnehmen; kurz darauf wurde Werner Elert zum Seminardirektor berufen, dem 1923 Friedrich Priegel (1872–1937) folgte.42 Am 15. November 1922 eröffnete dann die ELFK in Klein-Machnow bei Berlin eine Theologische Hochschule, die von Präses Martin Willkomm (1876–1946) geleitet wurde.43 Durch den Ersten Weltkrieg war die alte Übung in der ELFK unterbunden worden, junge Männer zum Theologiestudium 39 Amtliche Bekanntmachung, KELG 80 (1925), 417; Freizeit ev.-luth. Jungfrauen in Guben, ebd., 434–439. 40 Nr. 1/2 erschien als Juli/August-Nummer 1925 im Umfang von 12 Seiten; KELG 80 (1925), 587–588. 41 Wöhling, Geschichte (wie Anm. 21), 202. 42 Werner Klän, Theologische Ausbildungsstätten selbständiger evangelischlutherischer Kirchen in Deutschland, in: Lutherische Theologische Hochschule. 1948–1998, OUH.E 3, Oberursel 1998, 9–38, dort 14–15. – Priegels Nachfolger wurde 1937 Richard Laabs (1895– 1979). 43 Herrmann, Lutherische Freikirche (wie Anm. 8), 423–424 (353–354); A.a.O., 20– 22.

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nach Nordamerika zu schicken. Finanzielle Hilfen aus Nordamerika ermöglichten das Projekt. Im Zweiten Weltkrieg fanden beide Einrichtungen ihr Ende. Die Neuregelung der gesellschaftlichen Verortung der Kirche in der Weimarer Verfassung führte also zu einer deutlichen Aufbruchsstimmung und brachte Bewegung in der Gemeindeentwicklung. Dieser neue Schwung wurde dann aber in nationalsozialistischer Zeit durch vielfache staatliche Behinderungen ausgebremst.