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German Pages 326 [324] Year 2007
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Berndt Hamm (Erlangen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin) Volker Leppin (Jena), Jürgen Miethke (Heidelberg) Heinz Schilling (Berlin)
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Luther und das monastische Erbe herausgegeben von
Christoph Bultmann Volker Leppin Andreas Lindner
Mohr Siebeck
Christoph Bultmann, Professor für Bibelwissenschaften am Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt. Volker Leppin, Professor für Kirchengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaft. Andreas Lindner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt.
ISBN 978-3-16-149370-6 / eISBN 978-3-16-158576-0 unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver-lags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzun-gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Was immer sonst der Eintritt Martin Luthers in das Erfurter Kloster der Augustiner-Eremiten im Jahr 1505 bedeutet haben mag, soviel ist doch gewiss, dass dieser Erfurter Magister artium hiermit sein Studium an der juristischen Fakultät abbrach und sich der Theologie im Erfahrungsraum der monastischen wie der scholastischen Tradition zuwandte. Wenige Jahre später, im Jahr 1512, sollte sich Luther nach einer Promotion zum Doktor der Theologie als Professor in Wittenberg wiederfinden, wo er sich in den folgenden Jahren, um nur Weniges zu nennen, zu einer starken Stimme der Kritik am kirchlichen Verkauf von Ablassbriefen und an der kirchlichen Gestalt der Messfeier entwickelte. Den geforderten Widerruf seiner Lehrmeinungen verweigerte er mit allen Konsequenzen. Der Eintritt Luthers in das Erfurter Kloster der Augustiner-Eremiten kann als Ausgangspunkt einer theologiegeschichtlichen Entwicklung betrachtet werden, die zur Ausbildung einer wichtigen Rezeptionslinie der biblischen Tradition im frühneuzeitlichen Europa geführt hat. Als eine Entscheidung, die zu gründlicher Auseinandersetzung mit christlichem Glaubensleben und Glaubensverstehen einlud, ja nötigte, bezeichnet er einen Anfang, an den zu erinnern lohnt, weil er in besonderer Weise das Problem von Kontinuität und Diskontinuität aufwirft. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf eine Tagung in Erfurt aus Anlass des 500. Jubiläums von Luthers Klostereintritt (am 17. Juli 1505) zurück. Die Herausgeber danken dem Kurator des heutigen Evangelischen Augustinerklosters, Herrn Lothar Schmelz, für die Ermöglichung der Tagung an diesem ebenso modernen wie erinnerungsreichen Ort, sie danken dem Präses der Vereinigten Kirchen- und Klosterkammer in Thüringen, Herrn Ottmar Föllmer, für die finanzielle Förderung der öffentlichen Abendvorträge im Rahmen der Tagung, und sie danken der Fritz Thyssen-Stiftung für die finanzielle Förderung der Tagung selbst. Wir freuen uns, dass dieser Band in der neu konturierten Reihe „Spätmittelalter, Humanismus, Reformation“ erscheinen kann, und danken den beteiligten Herausgebern für Unterstützung und Beratung. Erfurt und Jena, im Juni 2007
Christoph Bultmann Volker Leppin Andreas Lindner
Inhaltsverzeichnis Vorwort.............................................................................................................V VOLKER LEPPIN Einleitung: Die Erforschung von Luthers reformatorischer Entwicklung auf dem Weg vom „Wende-Konstrukt“ zur Kontextualisierung................. 1 MARKUS WRIEDT Via Augustini. Ausprägungen des spätmittelalterlichen Augustinismus in der observanten Kongregation der Augustinereremiten ......................... 9 JOSEF PILVOUSEK Askese, Brüderlichkeit und Wissenschaft: Die Ideale der Erfurter Augustiner-Eremiten und ihre Bemühungen um eine innovative Umsetzung ............................ 39 MICHAEL WEICHENHAN Luther und die Zeichen des Himmels ...................................................... 57 ANDREAS LINDNER Was geschah in Stotternheim? Eine problematische Geschichte und ihre problematische Rezeption ....... 93 BERNDT HAMM Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung............................................... 111 VOLKER LEPPIN Mystisches Erbe auf getrennten Wegen: Überlegungen zu Karlstadt und Luther.................................................. 153
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Inhaltsverzeichnis
CHRISTOPH BURGER Luther im Spannungsfeld zwischen Heiligungsstreben und dem Alltag eines Ordensmannes..................................................... 171 THOMAS KAUFMANN Der „alte“ und der „junge“ Luther als theologisches Problem ............... 187 ROBERT KOLB Die Zweidimensionalität des Mensch-Seins: Die zweierlei Gerechtigkeit in Luthers De votis monasticis Iudicium .... 207 ELSE MARIE WIBERG PEDERSEN “Ein furtrefflicher Munch”: Luther and the Living out of Faith......................................................... 221 TIMOTHY WENGERT „Per mutuum colloquium et consolationem fratrum“: Monastische Züge in Luthers ökumenischer Theologie ......................... 243 RISTO SAARINEN Klostertheologie auf dem Weg der Ökumene: Wille und Konkupiszenz ....................................................................... 269 NOTGER SLENCZKA „Allein durch den Glauben“: Antwort auf die Frage eines mittelalterlichen Mönchs oder Angebot zum Umgang mit einem Problem jedes Menschen?......... 291
Autorenverzeichnis ............................................................................... 317 Personenregister.................................................................................... 319 Sachregister .......................................................................................... 323
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Einleitung: Die Erforschung von Luthers reformatorischer Entwicklung auf dem Weg vom „Wende-Konstrukt“ zur Kontextualisierung Die Jubiläen im Vorfeld der Fünfhundertjahrfeier der Reformation 2017 vollziehen Stück für Stück den Weg nach, den der Mansfelder Bergmannssohn Martin Luther genommen hat, bis er durch die Thesen gegen den Ablass und ihr Bekanntwerden zu einer öffentlichen Person wurde. Dadurch wird ganz selbstverständlich das Interesse auf ein Feld zurückgelenkt, das zwischenzeitlich der Aufmerksamkeit der Forschung zu entgleiten drohte: Das Interesse daran, die Übergänge von der Reformation zur Konstitution der Konfessionen nachzuvollziehen, hat den reformationsgeschichtlichen Forschungstrend in den achtziger und neunziger Jahren so stark von der Gärungsphase der Reformation fort- und auf die Zeit der Konfessionen zugelenkt1, dass Heinz Schilling sogar befürchtete, die Reformation komme den Reformationshistorikern abhanden2. Die intensiv geführte Diskussion um das Paradigma der „Konfessionalisierung“ hat Energien freigesetzt, die sich in einer Fülle von Qualifikationsschriften und Tagungen geäußert haben. Die Aufgabe, die sich nun aber seit einiger Zeit abzeichnet, ist, diese neu entdeckten Forschungsperspektiven, ohne sie aus dem Blick zu verlieren, rückwärtig zu verlängern3, also wieder neu nach den spezifischen Bedingungen zu fragen, unter denen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Situation entstehen konnte, aus der heraus die schon 1
Vgl. nur Heinz Schilling (Hg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1985, Gütersloh 1986 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte [SVRG] 195); Hans-Christoph Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, Gütersloh 1992 (SVRG 197); Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposium der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993, Gütersloh 1995 (SVRG 198). 2 HEINZ SCHILLING: Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes, in: Bernd Moeller (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, Gütersloh 1998 (SVRG 199), S. 13–34: hier S. 13. 3 Vgl. hierzu programmatisch SCHILLING: Reformation.
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lange gegebenen Polaritäten und Spannungen innerhalb des Corpus christianum ein solches Gewicht gewinnen konnten, dass dieses selbst als einheitliches Ganzes nicht mehr erhalten bleiben konnte. Diese neue Frage nach dem Übergang aus dem späten Mittelalter in die Reformationszeit hängt aufs engste mit Theologie und Biographie Martin Luthers zusammen und wird nur dann einer Antwort zugeführt werden können, wenn diese in die frömmigkeitsgeschichtlichen Bedingungen ihrer Zeit eingeordnet werden. „Ihre“ Zeit ist dabei angesichts der durch diese Person mit ausgelösten Wandlungen durchaus ambivalent: Es geht um die Zeit, aus der Luther herkommt, und um die Zeit, die er selbst mit bestimmt hat, um seine Voraussetzungen und seine Wirkungen – und um ein rechtes Verhältnis von beidem: Aspekte von Kontinuität und Diskontinuität sind zu bestimmen und zu gewichten, um den sich zunächst auf der Ebene von Theologie und Frömmigkeit vollziehenden Prozess nachzuzeichnen, der dann Auswirkungen auf Gesellschaft, Kirche und Politik hatte. Solchen am frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext Luthers orientierten Fragen gebündelt nachzugehen4, war Aufgabe einer Tagung, die 2005 zum fünfhundertjährigen Gedenken an Luthers Eintritt in das Erfurter Augustinerkloster stattfand. Sie wurde angestoßen und organisiert durch das Martin-LutherInstitut der Universität Erfurt und den Lehrstuhl für Kirchengeschichte in Jena. Es ist keineswegs selbstverständlich, Luthers Klostereintritt, wie es im Juni 2005 auch durch Gottesdienste der evangelischen Gemeinde im Augustinerkloster geschah, in die protestantische Erinnerungskultur aufzunehmen: Ist Erfurt, ist Stotternheim ein protestantischer „Erinnerungsort“5 wie Wittenberg oder die Wartburg6? Gedenken wir eines Reformators, eines „Vorreformators“ oder eines mittelalterlichen Mönches, wenn wir uns an dieses Geschehen erinnern? Solche Fragen sind, wie die folgenden Seiten zeigen werden, alles andere als rhetorisch: Sie zielen unmittelbar darauf, wie der Weg zur Reformation und wie letztlich die Reformation insge4
Zu wichtigen Forschungsansätzen, die den Weg für diese Fragestellung gebahnt haben, s. B ERNHARD LOHSE: Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttingen 1963 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 12); ULRICH KÖPF: Martin Luther als Mönch, in: Luther 55 (1984), S. 66– 84; DERS.: Monastische Traditionen bei Martin Luther, in: Christoph Markschies und Michael Trowitzsch (Hg.): Luther – zwischen den Zeiten. Eine Jenaer Ringvorlesung, Tübingen 1999, S. 17–35; B ERNDT HAMM: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (Beiträge zur historischen Theologie 65). 5 Vgl. ETIENNE FRANCOIS und HAGEN SCHULZE: Einleitung, in: dies. (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 9–24. 6 Der „Lutherstein“ bei Stotternheim benennt den 2. Juli 1505 als „Wendepunkt der Reformation“.
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samt im historischen Gedächtnis zu verankern ist, wie weit ihre Wurzeln – und das heißt wiederum zunächst: die Wurzeln der reformatorischen Theologie und Frömmigkeit, die später den gesamtgesellschaftlichen Vorgang der Reformation bewirkten, – zurückreichen. Dass es sich bei der Reformation um eine der wichtigen geschichtsprägenden Phasen der europäischen Geschichte handelt, dürfte außer Frage stehen. Wie stark aber scharfkantige Bilder wie „Wende“ oder „Bruch“ leitend für das Verständnis sein sollten oder weichere Bilder wie Wandlung, Transformation, Korrektur, kann sich nicht nur an den Wirkungen entscheiden, die mit der „Neuzeit“ einen bis heute Lehrstühle prägenden neuen Zeitabschnitt bewirkt haben7, sondern muss zunächst einmal anhand der Anfänge und der sich in ihnen abzeichnenden Entwicklungen überprüft werden. Wichtig sind hierbei die für Frömmigkeit und Bildung prägend gewordenen Kräfte, und dies ist für Luther nach dem Schulbesuch und dem Studium der artes vor allem der Kontext des Augustinerklosters geworden. Markus Wriedt geht im vorliegenden Band den langfristigen Entwicklungen innerhalb dieses Ordens und seines Augustinismus nach. In Auseinandersetzung mit der These einer verfestigten „Via Augustini“ im späten Mittelalter sucht er rezeptionsgeschichtlich nach den Horizonten, in die Augustinereremiten den Kirchenlehrer und Patron ihres Ordens einzeichneten, und legt dar, dass sich aufgrund dieser je unterschiedlichen Erfordernisse Inhalt und Art der Rezeption wandeln konnten. Damit verweist Wriedt auf die für die heutige Rekonstruktion der Entwicklung Luthers zentrale Einsicht, dass diese nicht aus dieser oder jener isolierten Denklinie des späten Mittelalters heraus zu erklären ist, sondern gerade auch die eklektizistische Tendenz spätmittelalterlicher Theologie Teil der Erklärung eines Phänomens ist, in dem mehrere Entwicklungen zusammenschießen. Zu den Einflüssen, die dabei wirksam wurden, gehört auch Luthers Studium an der artes-Fakultät bei Bartholomäus von Usingen und Jodokus Trutfetter. Josef Pilvousek exponiert die These, dass es möglicherweise die Hoffnung auf eine Geistesverwandtschaft des Augustinerklosters mit deren Lehren innerhalb der Via moderna war, die Luther zum Eintritt in gerade dieses Kloster bewegte. Hierfür lassen sich jedenfalls über den Klostereintritt hinausreichende Indizien wie der Klostereintritt Usingens 1512 und der bleibende wohlwollende Briefverkehr mit Trutfetter anführen. Dies passte in einen Konvent, der sich in besonderer Weise bemühte, die Ideale von Askese und Brüderlichkeit mit Wissenschaft zu verbinden, und der so nicht nur auf Luther große Attraktivität ausübte.
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S. T HOMAS KAUFMANN: Die Reformation als Epoche?, in: Verkündigung und Forschung 47 (2002), S. 49–63.
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Auf einen ganz anderen Kontext zum Verständnis von Luthers spätmittelalterlicher Frömmigkeit weist Michael Weichenhan hin: Der spätmittelalterliche Glaube, dass natürliche Erscheinungen als Zeichen zu verstehen sind, die einen Appell an das Handeln des Menschen enthalten, bildet den unmittelbaren Verstehenshintergrund für Luthers Gelübde bei Stotternheim. Und Weichenhan macht deutlich, dass auch die Kritik, die Luther später an der Astrologie übte, nicht einfach modern war. Sie steht in einer philosophischen Tradition der Auseinandersetzung mit Determinismus, wie sie sich in der Pariser Lehrverurteilung von 1277 schon ausgesprochen hatte, und liest Natur durchaus zeichenhaft, indem die besonderen, von Regeln abweichenden Phänomene innerhalb des Naturlaufs als Schickungen Gottes und damit als Zeichen in einem apokalyptischen Horizont verstanden werden. Dieser aktualisiert die biblischen Aus- und Ansagen. Auf deren Bedeutung für die Annahme der Möglichkeit einer Transzendenzerfahrung verweist auch Andreas Lindner in seinem Beitrag, der der Frage gewidmet ist, was tatsächlich in Stotternheim geschah. Auffällig ist der Befund einer schon bei Luther einsetzenden „Verdrängung“ dieses Ereignisses: Es wird wenig berichtet, vor allem kaum ausführlicher geschildert. Lindner macht so an der sperrigen Quellenlage deutlich, dass sich die Frage, ob Stotternheim ein genuin reformatorischer Erinnerungsort sei, im Grunde nicht nur aus einem rekonstruierbaren Ereignis ergibt, sondern schon selbst die Überlieferungslage geprägt hat: Dass später noch Brüche folgen sollten, verschleiert dieses erste von Luther als Bruch gedeutete Geschehen. Damit ist die zentrale Frage gestellt, ob überhaupt von einem Bruch zu reden ist bzw. pointierter gefragt: ob nur von einem Bruch zu reden ist oder nicht die Vielzahl von autobiographisch erzählten Brüchen in der geistlichen Entwicklung Luthers ganz andere Denkmodelle erfordert. Berndt Hamm stellt die bald ein Jahrhundert alte Diskussion um eine „Früh-“ oder „Spätdatierung“ von Luthers „reformatorischer Wende“ auf eine neue Grundlage, indem er an die Stelle eines „Wende-Konstrukts“ (s. S. 113) die Beschreibung einer lang anhaltenden reformatorischen Entwicklung setzt, die tatsächlich schon 1505 einsetzte und damit Stotternheim und den Klostereintritt in Erfurt zu einem lutherischen Erinnerungsort machen würde. Angelpunkt seiner Deutung ist die Anfechtungserfahrung Luthers, in der sich eine Strukturkrise der Frömmigkeit um 1500 und Luthers Persönlichkeitskrise so miteinander verschlingen, dass in einer allmählichen Entwicklung eine Neustrukturierung von Theologie möglich wurde. Hamm plädiert historisch wie theologisch dafür, die Tiefe der Gotteserfahrung in der Anfechtung und die Befreiungserfahrung durch die Heilszusage nicht auseinanderzureißen, sondern als in einem Prozess aufeinander bezogen zu sehen. In diesem Prozess spielten nach seinen
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Deutungen auch mystische Elemente eine wichtige Rolle. Diese greift der Beitrag von Volker Leppin auf, der zudem die Ergebnisoffenheit dieser langen reformatorischen Entwicklung zeigt: Von einer allmählichen reformatorischen Entwicklung statt einem schlagartigen Durchbruch zu sprechen, heißt, „Vorher“ und „Nachher“, „reformatorisch“ und „vorreformatorisch“ beim jungen Luther weit weniger scharf unterscheiden zu können, als dies das übliche Bild suggeriert. Exemplarisch kann dies an der Weggabelung deutlich gemacht werden, die nach langer Gemeinsamkeit in der Rezeption von Mystik Luther und Karlstadt auseinanderführte. Mit diesen spirituellen Entwicklungen ist allerdings der Klosteralltag Luthers nur zum Teil erfasst: Die Betonung der geistlichen Vorgänge auch in der eigenen Rückschau Luthers mit ihren zahlreichen Hinweisen auf Anfechtungen und Hilfe in der Not ist durch einen Blick auf seine Tätigkeit im Orden zu ergänzen: Christoph Burger geht von einem Schreiben Luthers an Johannes Lang aus, in dem der Wittenberger seinem Vertrauten 1516 die Fülle seiner Arbeitsleistungen plastisch schildert, und macht so deutlich, vor welchem sozialhistorischen Hintergrund sich die spirituelle und theologische Entwicklung Luthers vollzog. Dies illustriert auf seine Weise auch die ständige Überforderung des Reformators, von der Thomas Kaufmann spricht. Sein Blick auf die Entwicklungen Luthers in der Abendmahlsfrage und hinsichtlich seiner Stellung zu den Juden verlängert die verschiedenen Beiträge zu Entwicklungen Luthers in dessen Lebenszeit hinein bis zum „alten Luther“, dessen „junges“ Pendant, wie sich an den Beispielen ebenfalls zeigen lässt, immer auch davon abhängt, auf welche Entwicklungsstränge man abheben will. So wie die Beiträge von Hamm, Leppin und anderen sich gegen eine Deutung Luthers wenden, die aus systematischen Gründen eindimensional eine Wende in Abgrenzung vom Mittelalter fordern, wendet Kaufmann sich gegen alle Konstruktionen eines „ganzen“ Luther, die nicht dem Phänomen einer bzw. mehrerer „Selbstkorrekturen“ Luthers Rechnung tragen. Zu solchen Selbstkorrekturen gehört dann natürlich auch die Abwendung vom Klosterleben und die mit ihm verbundene Aufwertung des Alltagslebens. Ihren theologischen Hintergrund macht Robert Kolb deutlich, indem er Luthers De votis monasticis iudicium von der theologischen Grundunterscheidung passiver und aktiver Gerechtigkeit aus interpretiert. Derselbe Traktat steht auch im Mittelpunkt der Untersuchung von Else Marie Wiberg Pedersen, die vor allem einen Beitrag zu der in den vergangenen Jahren intensiv geführten Diskussion über Luthers Verhältnis zu Bernhard von Clairvaux darstellt. Wiberg Pedersen warnt vor einfachen Gegenüberstellungen, die die Banalität unterstreichen, dass es zwischen den um Jahrhunderte getrennten Theologen Differenzen gibt, und hebt hervor, dass Luthers Impuls gegen das klösterliche Leben sich einer argumen-
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tativen Grundlage bediente, die er in Bernhards Christologie fand. Auch Timothy Wengerts Untersuchung der consolatio fratrum macht deutlich, dass für diesen Vorgang das Bild von einem Bruch unzureichend wäre. Eher lässt sich beobachten, dass Luther einen gewichtigen Impuls aus dem monastischen Leben in die Welt außerhalb des Klosters trägt. Die christliche Gemeinde erscheint in dieser Deutung geradezu als ideale Verwirklichung ursprünglich monastischer Ideale in neuer christlicher Freiheit. Dieses Konzept lässt sich gerade an Schriften zeigen, die bekenntnis- und liturgieprägend geworden sind: den Schmalkaldischen Artikeln, den Katechismen und der Deutschen Messe, und bildet so nicht nur die Grundlage von Luthers individueller Existenz, sondern auch der lutherischen Konfession in der Neuzeit, wobei Wengert zugleich betont, dass auf der Linie dieser Ansätze Luthers nicht ein konfessioneller Selbstabschluss liegt, sondern eine große ökumenische Weite. Dieser Gedanke bestimmt auch die Untersuchung von Risto Saarinen, der der im katholisch-lutherischen Gespräch noch zu klärenden Frage nach dem Status des „Simul iustus et peccator“ auf historischem Wege nachgeht: Luthers Augustin-Rezeption im Sinne einer Betonung der bleibenden Sündhaftigkeit des Gerechtfertigten wird hier erkennbar als Auseinandersetzung mit der buridanischen Prägung seines Lehrers Usingen. Aufgrund dieser Kontextualisierung kann Saarinen das Luthersche „Simul iustus et peccator“ auch von Schärfen befreien: Er weist auf Luthers Rede von einem „non consentire peccato“ und die damit implizierte Kategorie einer Zustimmung und Nicht-Zustimmung des Menschen zur Sünde hin. Dies ermöglicht es nach seiner Deutung, im Anschluss an Luther „unser ganzes Tun als differenzierte Einheit von inneren Affekten und äußeren Handlungsprozessen zu begreifen“ (S. 289). Auch Notger Slenczka rekonstruiert ein wichtiges Element von Luthers Theologie als Beitrag zu einer schon im Mittelalter geführten Diskussion: Sein Protest gegen den Ablass wurzelte hiernach in einer Auseinandersetzung mit dem Bußsakrament, die ihren Anstoß in dessen spätmittelalterlicher Subjektivierung gewonnen hatte und dabei selbst an eben dieser Subjektivierung teilnahm. Deutungen, die einen Bruch Luthers mit dem Mittelalter in einem religiösen Subjektivierungsschub sehen wollen, greifen damit zu kurz. Gleichwohl ist nach Slenczka aufgrund der Subjektorientierung des theologischen Ansatzes eine Reformulierung der Rechtfertigungslehre möglich, die die hierfür gebrauchten eschatologischen Konzepte nicht im Sinne äußerer Ereignisse, sondern existential interpretiert. In dieser Perspektive lässt sich dann als die eigentlich charakteristische Lehre Luthers der Gedanke der fremden, dem Menschen zugeeigneten Gerechtigkeit, also die Imputation, beschreiben. Damit blickt der vorliegende Band abschließend auf das Zentrum Lutherscher und lutherischer Theologie: die Rechtfertigungslehre. Sie steht
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im Duktus der vorgelegten Ausführungen nicht in einem radikalen Gegensatz zur mittelalterlichen Theologie und muss auch nicht im Sinne des von Berndt Hamm kritisierten „Wende-Konstrukts“ biographisiert werden: Die innere Biographie Luthers lässt sich nach den hier vorgelegten Untersuchungen im Sinne einer allmählichen Entwicklung interpretieren, deren Ende in einer reformatorischen Theologie zwar klar erkennbar ist, deren Anfänge aber nicht punktuell benannt werden können: Die reformatorische Theologie, wie Luther sie entwickelte, bricht nicht mit dem Mittelalter, sondern sie wächst aus ihm heraus.
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Via Augustini – Ausprägungen des spätmittelalterlichen Augustinismus in der observanten Kongregation der Augustinereremiten 1. Der spätmittelalterliche Augustinismus Kaum ein Theologe des Mittelalters, der sich in seinem Traditionsbezug nicht auf Augustin berief. Nicht nur wegen der Vielfalt einer knapp 1000 Jahre umfassenden Theologiegeschichte, auch die Größe des Werkes Augustins tat das ihrige dazu, eine Fülle an Bezugnahmen zu ermöglichen. So wenig eine Einheit des Werkes des afrikanischen Kirchenvaters der Spätantike behauptet werden kann, so wenig lässt sich eine einheitliche Augustinrezeption für das Mittelalter nachweisen1. Weniger die Überlieferung des wie auch immer gewonnenen, vermeintlich oder tatsächlich originalen Augustin und seiner Theologie als vielmehr die vermittelte Bezugnahme auf den Kirchenvater des Abendlandes spielt im Mittelalter eine Rolle. In Ermangelung authentischer Quellenüberlieferung sind zahlreiche Leser auf Augustinparaphrasen, -sequenzen und -zitate in den verschiedensten Literaturgattungen angewiesen. Ein spezifisches literarisches Genre, das in besonderer Weise geeignet gewesen wäre oder in signifikanter Häufigkeit verwendet wurde, Augustins Werke sprechen zu lassen, lässt sich nicht nachweisen. Wohl aber gibt es eine auffällige Häufung von Augustinreferenzen in bestimmten Werken, die gleichsam als Textsammlungen und Florilegien herangezogen wurden, um eines Zitates oder einer längeren Passage des Kirchenvaters habhaft zu werden. Dabei steht freilich weniger die Suche nach Augustin, als nach einer thematisch passenden Verwendung seiner Ausführungen im Zentrum. Eine systematische Augustinrezeption ist wiederum schwer nachzuweisen. Es gibt zweifellos thematische Konzentrationen, aber der Nachweis einer bestimmten Lebensphase oder einer besonderen Werkauswahl ist nicht in der sich systematischer Rekonstruktion der jüngeren Zeit verdankenden Zu1
Vgl. für einen ersten Überblick GORDON LEFF: Art. Augustin/Augustinismus II, in: TRE 4 (1979), S. 699–717, sowie weit umfänglicher IRENA B ACKUS (Hg.): The Reception of the Church Fathers in the West, Leiden 1997 (2 Bde.).
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sammenstellung nachzuweisen. Immer noch erweist sich die Frage nach dem spätmittelalterlichen Augustinismus als ein Feld höchst unterschiedlicher, wenn nicht divergierender Fragestellungen, Antwortmöglichkeiten, Methoden und rezeptionsästhetischer Ansätze. Neben der Frage, wodurch sich unter formalen Gesichtspunkten eine Augustinreferenz auszuzeichnen habe, steht auch das Problem ihrer Begrenzung, systematischern Erfassung und statistischen Auswertung im Raum. Wir werden uns diesen Fragen kurz widmen, bevor wir das Problem der spätmittelalterlichen Augustinrezeption in theologiegeschichtlicher Engführung als Frage nach der Ordenstheologie der Augustinereremiten erörtern.
1.1. Personen und Institutionen 1.1.1. Petrus Lombardus Auch wenn nahezu in jedem Werk des Mittelalters Augustin erwähnt oder auf sein Leben und seine Theologie Bezug genommen wird, lassen sich einige Zentren der Augustinrezeption ausmachen. Hier ist zunächst Petrus Lombardus und sein für das scholastische Ausbildungswesen des Mittelalters schlechterdings essentielle Werk der Sentenzen zu nennen. Eine große Zahl der in den Sentenzen aufgeführten Referenzen beziehen sich auf echte oder pseudepigraphe Werke Augustins2. Die Auswahl ist dabei erkennbar limitiert. Petrus Lombardus bezieht sich vornehmlich auf De doctriaa christiana, das Enchiridion, De diversis quaestionibus 83 und die Retractationes. Diese Werke kennt er freilich nicht aus originaler Lektüre sondern vermittelt durch die Glossa ordinaria3 oder die Expositio des Florus von Lyon 4. Durch die im mittelalterlichen Ausbildungswesen verbindliche Sentenzenvorlesung wurde das von Petrus Lombardus erschlossene Material kommentiert, erweitert und ergänzt und so der Grundstock einer umfangreichen universitär-akademischen Augustinrezeption gelegt5.
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Vgl. J ACQUES–GUY B OUGEROL: The Fathers and the Sentences of Peter Lombard, in: Backus (Hg.): Reception (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 113–164. 3 Vgl. E. ANN MATTER. The Church Fathers in the Glossa ordinaria, in: Backus (Hg.): Reception (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 83–112. 4 IGNATIUS B RADY (Hg.): Petri Lombardi Sententiae in IV Libros dispositae, 3a editio, Quaracchi-Grottaferrata 1971–1981; IGNATIUS B RADY: Art. Pierre Lombard, in: Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique 12 (1986), Sp. 1604–1612. 5 MARTIN GRABMANN: Die Geschichte der scholastischen Methode, Bd. 2, Freiburg 1911 (Nachdruck Berlin [Ost] 1988), S. 359–406; MARTIN ANTON SCHMIDT: Dogma und Lehre im Abendland. Kap. 2: Das Sentenzenwerk des Petrus Lombardus und sein Aufstieg zum Muster- und Textbuch der theologischen Ausbildung, in: Carl Andresen (Hg.): Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 1, Göttingen 1982, S. 587–612.
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1.1.2. Decretum Gratiani Parallel dazu dürfte sich die mit Autoritätenzitaten reich geschmückte Sammlung rechtlicher Quellen im Decretum Gratiani als Zentralort einer umfassenden Augustinrezeption ergeben haben6. Die von Gratian von Bologna angelegte Sammlung päpstlicher, kanonischer und anderer Rechtsquellen enthält eine Fülle von Augustinbezügen, die als Quellenzitat der Rechtssammlung oder auch über die als Allgemeinwissen in die verschiedenen Ausdrucksformen des Mittelalters eindrang. 1.1.3. Tischlesungen Eine dritte Textsammlung, die für den Augustinereremitenorden allerdings noch näher bestimmt werden müsste, stellen die täglichen Tischlesungen dar. In ihnen wurde aus relevanten Quellen zur Spiritualität, zum monastischen Leben, zur Nachfolge Christi und der Verähnlichung mit ihm, und anderen Themen monastischer Lebensführung und meditativer Frömmigkeit während der Mahlzeiten im Kloster vorgelesen7. Jenseits dieser drei „Hauptzeugen“ für die Aufnahme der Werke Augustins im Mittelalter kommen eine Vielzahl von Textgattungen und möglichen Autoren in den Blick. Die Forschung zur Aufnahme der Auctoritas Patrum in den Schriften mittelalterlicher Autoren hat zwar in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Fülle an Einzelforschungen mit teilweise
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JEAN WERCKMEISTER: The Reception of the Church Fathers in Canon Law, in: Backus (Hg.): Reception (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 51–82; PETER LANDAU: Art. Gratian von Bologna, in: TRE 14, S. 124–130; zur Wirkungsgeschichte siehe die Studien von DAVID RUTHERFORD: Timoteo Maffei’s Attack on Holy Simplicity: Educational Thought in Gratian’s Decretum and Jeromes Letters, in: Leif Grane, Alfred Schindler, Markus Wriedt (Hg.): Auctoritas Patrum. Zur Rezeption der Kirchenväter im 15. und 16. Jahrhundert, Mainz 1993, S. 159–173, DERS.: Gratian’s Decretum as a Source of Patristic Knowledge in the Italian Renaissance. The Example of Timoteo Maffei’s in Sanctam Rusticitatem (1454), in: Backus (Hg.): Reception (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 511–535. 7 Wiewohl zur Geschichte der Augustinereremiten reichlich Material gesammelt wurde und in teilweise ausgezeichneten Editionen vorliegt (vgl. Analecta Augustiniana und Acta Augustiniana, Rom 1956ff.), sind die verbindlichen Tischlesungen bisher keinen eigenen Untersuchung unterzogen worden. So müssen sich die voranstehenden Anmerkungen zunächst in sehr allgemeiner Weise auf die Angaben der Sekundärliteratur stützen. Hierbei sind in erster Linie zu nennen: ADOLAR ZUMKELLER: Art. AugustinerEremiten, in: TRE 4 (1979), S. 728–739 mit einem guten Literaturverzeichnis und weiterführenden Hinweisen, sowie die von einem Autorenkollektiv unter Leitung von David Gutierrez zusammengestellte Geschichte der Augustineremiten: D AVID GUTIERREZ (Hg.): Geschichte des Augustinerordens, Rom 1975–1988 (4 Bde.). Für die Geschichte der deutschen Augustinereremiten sei verwiesen auf die Übersicht von ADALBERO KUNZELMANN: Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten, Würzburg 1969–1976 (7 Bde.).
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hochinteressanten und weiterführenden Ergebnissen hervorgebracht, doch fehlt bis heute eine systematische Übersicht.
1.2. Welcher Augustin? 1.2.1. Theologiegeschichtliche Rezeptionsästhetik Theologiegeschichtlich ist neben der Tatsache eines umfassenden Rekurses auf Augustin in den letzten Jahren verstärkt die Frage diskutiert worden, welche Schriften Augustins im Fokus des Interesses standen. Dabei zeigte es sich, dass weniger ganze Schriften und die in ihnen zusammenhängend entwickelte Argumentation, als vielmehr einzelne Passagen und Teilargumente aufgenommen wurden. Gleichwohl ist die Frage nicht unerheblich, aus welcher Schaffensperiode Augustins die jeweiligen Übernahmen stammen. Freilich liegt in diesem methodischen Zugang auch eine Gefahr verborgen: die theologiegeschichtliche Rekonstruktion bestimmter Lehr- und Lebenszusammenhänge im Werk Augustins verdankt sich einer nachträglichen Betrachtungsweise. Insofern kann sie nicht völlig frei von der Gefahr einer unter gegenwärtigen Bedingungen erfolgten Fragestellung und ihren Auswirkungen auf die theologiegeschichtliche Rekonstruktion sein. M.a.W. – die Vorstellung eines objektiven, irreversiblen und für alle Zeit gültigen Augustinverständnisses muss als Fiktion entlarvt und hermeneutisch ernst genommen werden. Zahlreiche neuere rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte Augustins sind denn auch immer wieder von konfessionellen oder auch anderen theologischen Vorentscheidungen geprägt: so wird der mittelalterliche Augustinismus aus protestantischer Sicht häufig auf die Rezeption der antipelagianischen Gnadenlehre konzentriert8, während die katholische Augustinforschung mehrheitlich Augustins kirchenleitendes Handeln im Blick auf die Wahrung kirchlicher
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MARTIN SCHULER: Prädestination, Sünde und Freiheit bei Gregor von Rimini, Stuttgart 1934; GORDON LEFF: Bradwardine and the Pelagians, Cambridge 1957; DERS.: Gregory of Rimini: Tradition and innovation in fourteenth century thought, Manchester 1961; DERS.: Heresy in the later middle ages, Manchester 1967; DERS.: John Wycliff:. The path to dissent, Proceedings of the British Academy 52 (1966), S. 143–180; HEIKO A. OBERMAN: Archbishop Thomas Bradwardine, Utrecht 1958; DERS.: The harvest of Medieval theology, Cambridge Mass. 1963 [dt. Übers.: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie (Spätscholastik und Reformation, Bd. 1), Zürich 1965]; GUSTAV ADOLF B ENRATH: Wyclifs Bibelkommentar, Berlin 1966 – wie überhaupt diese Form der spätmittelalterlichen Augustinrezeption stark in ihrer Rolle als Vorläufer reformatorischer Theologie interpretiert wurde.
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Einheit und der Entwicklung institutioneller Amtsstrukturen hin befragt9. Exegesegeschichtliche Untersuchungen konnten sich in letzter Zeit von derartigen konfessionellen Engführungen lösen10. Dafür aber repristinierten zahlreiche Arbeiten zur Spiritualität und Frömmigkeit Augustins sowie deren Wirkungsgeschichte die kontroverstheologischen Gegensätze vergangener Jahrhunderte11. Schließlich sind die philosophiegeschichtlichen, sich einer ideologiekritischen Zugangsweise bedienenden Untersuchungen von Kurt Flasch auf eine breite, freilich nicht immer zustimmende Resonanz gestoßen12. Wohl auch vor diesem Hintergrund konnte seine Augustindarstellung für eine wirkungsgeschichtliche Untersuchung mittelalterlicher Theologie bisher wenig fruchtbar gemacht werden13. 1.2.2. Augustin als Garant katholischer Orthodoxie Der historische Befund scheint diese Bedenken zu bestätigen. Zunächst und auf den ersten Blick wurde Augustin als Vertreter einer als Einheit und in ihrer Orthodoxie zweifelsfreien Theologie gesehen14. Seine Äußerungen entstammen allesamt einem als Einheit begriffenen theologischen Entwurf, der als enzyklopädische Zusammenfassung die legitime Auslegung des biblisch begründeten und durch den Heiligen Geist jedem Zeitalter je individuell übermittelten Glaubenszeugnisses umreißt. Diese Einheit wird anachronistisch und ahistorisch wahrgenommen und tradiert. Dieses einheitliche Verständnis der Theologie Augustins wird freilich unter verschiedenen Gesichtspunkten akzentuiert: Für etliche Schriftsteller des Mittelalters ist Augustin Ausdruck der Fülle abendländischer Theologie und damit Garant des theologischen Wissens15, zugleich aber auch Grenze und Rahmen theologischen Erkenntnisstrebens. Orthodoxie ist 9
Vgl. exemplarisch ohne Anspruch auf Vollständigkeit: FELIX GENN: Trinität und Amt nach Augustin, Einsiedeln 1986; DANIEL J. JONES: „Christus Sacerdos“ in the preaching of Augustine: Christ and Christian Identity, Frankfurt/Main 2004. 10 FREDERICK VAN F LETEREN (Hg.): Augustine – biblical exegete, New York 2001 (Collectanea Augustiniana 5). 11 CORNELIUS P ETRUS MAYER (Hg.): Homo spiritualis. Festgabe für Luc Verheijen OSA, Würzburg 1987; MICHAEL ROSENBERGER : Der Weg des Lebens. Zum Zusammenhang von Christologie und Spiritualität in der Verkündigung des hl. Augustinus, Regensburg 1996. 12 KURT FLASCH: Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart ²1994; DERS.: Aurelius Augustin, München 1997; DERS.: Logik des Schreckens, Mainz ²1995; DERS.: Was ist Zeit?, Frankfurt ²2004. 13 Eine Ausnahme bildet – natürlich – seine eigene Darstellung der mittelalterlichen Geistesgeschichte: KURT FLASCH: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 2000. 14 Etwa im Werk von Petrus Lombardus und auch bei Thomas von Aquin. 15 Etwa bei Alexander von Hales oder auch im Werk Bonaventuras.
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m.a.W. über Augustin hinaus nicht zu wahren. Damit verbindet sich die Wahrnahme Augustins als Verteidiger des katholischen Glaubens16. Seine kontroverstheologischen Stellungnahmen zu Donatismus, Manichäismus, Pelagianismus etc. sind nicht nur Produkte einer aktuellen Auseinandersetzung sondern dienen als Modell jedweder Verteidigung katholischer Orthodoxie im Mittelalter. Zugleich wird Augustin damit zum Inbegriff des Glaubensstreiters und Vertreter der christlichen Theologie schlechthin. Dazu trägt zugleich die legendarische Ausgestaltung seines Lebens aufgrund der autobiographischen Angaben bei, welche vor allem die Verbindung von Lehre und Ethos sinnfällig akzentuiert. Im Zuge der sich immer weiter ausdifferenzierenden Augustininterpretation kommt es seit dem 13. Jahrhundert verstärkt zum Disput über die legitime, sich aus der orthodoxen katholischen Theologie ergebende Augustinrezeption: Augustin wird von verschiedenen Parteiungen für die je eigene Position in Anspruch genommen17. Offenkundig sprechen seine tradierten Werke und Sentenzen sowie die ausgestaltete Biographie des Kirchenvaters nicht mehr für sich selbst, sondern bedürfen ihrerseits eines Interpretationsmaßstabes, der außerhalb der von Augustin begründeten und verteidigten Doktrin liegt. In diesem Zusammenhang verstärken sich Inanspruchnahmen im Sinne eines „Augustinus totus noster est“. Zugleich intensiviert sich die Suche nach einer übergeordneten Autorität der Augustinauslegung. Sie konvergiert mit der zentralistischen Ausformung des römischen Papsttums und seines im 13. Jahrhundert entwickelten Lehrund Jurisdiktionsprimats18. Es sind in besonderer Weise die Bettelorden, die zu diesen Fragen Stellung nehmen und dabei auf je eigene Weise Augustin als entscheidende Autorität der Tradition, als auctoritas patrum, verwenden19. Früh waren unterschiedliche Phasen der geistigen und theologischen Parteinahme auf dem intellektuellen Weg Augustins zum Bischofsamt in Hippo bekannt: Der afrikanische Gelehrte wandelte sich vom Anhänger Ciceros zum Manichäer, wendete sich nach einer kurzen aber intensiven Phase akademischer Skepsis dem Neuplatonismus zu und fand durch ihn schlussendlich zum Christentum zurück. Aufgrund dieser in den Confessiones eindrücklich beschriebenen Suche sowie der ihr folgenden kontroverstheologischen Diskurszusammenhänge sollten sich verschiedene Kon16
So in der Summa Contra Gentiles von Thomas von Aquin und in anderen apologetischen Werken insbesondere der Mendikantentheologen. 17 So etwa bei Thomas Bradwardine, Gregor von Rimini, John Wycliff, William von Ockham und anderen, zumindest heterodoxer Ansichten verdächtiger Augustinisten. 18 BRIAN T IERNEY: The Origins of Papal Infallibitlity, Leiden 1972; ULRICH HORST: Evangelische Armut und Päpstliches Lehramt, Kohlhammer 1996. 19 Vgl. etwa ULRICH HORST: Evangelische Armut und Kirche, Paderborn 1991; DERS.: Die Lehrautorität des Papstes und die Dominikanertheologen, Berlin 2003.
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texte unterscheiden lassen, in denen Augustin seine theologischen Stellungnahmen und Entwürfe entwickelt hat. Dazu zählt die Auseinandersetzung mit den Donatisten, der heterodox akzentuierten Gnaden- und Rechtfertigungslehre von Pelagius und seinen Anhängern, dazu zählt Augustins bewusste Wahrnehmung seines Amtes als Bischof und schließlich auch eine im überkonfessionellen Sinne verstandene Einschätzung als „katholischer“ Theologe. Der Einfluss der jeweiligen kontroverstheologischen Situation auf das höchst vielfältige literarische Schaffen Augustins kann schlechterdings nicht überschätzt werden. Dennoch wird dieses differenziertere Augustin-Bild in der mittelalterlichen Augustinrezeption kaum aufgenommen. In für die historisch-kritische Theologiegeschichte anachronistischer Weise werden die Schriften Augustins gemeinsam als Einheit begriffen und nicht nach Entstehungssituation und Intention unterschieden. Gleichwohl gibt es Häufungen inhaltlich zusammenhängender Aussagen des Kirchenvaters, die den Eindruck einer thematisch akzentuierten Rezeption etwa der antidonatistischen, antipelagianischen, sakramentstheologischen etc. Schriften entstehen lassen. Wir werden darauf zurückzukommen haben.
1.3. Zitation, Paraphrase, Motive Neben der Frage, welcher Augustin aufgenommen wurde, stellt sich in der Forschung zunehmend das Problem, den Rezeptionsvorgang selbst stärker zu betrachten. Zunächst ist die Überlieferung in den Blick zu nehmen. Wir haben darauf eingangs verwiesen. Aber auch unbeschadet der Tatsache, dass es keine kritische Edition der Werke Augustins gab, hat der die Geschichte der Augustinrezeption erforschende Theologiehistoriker Auskunft darüber zu geben, ab wann von einem tatsächlichen Zitat im Unterschied zur Paraphrase, inwiefern von einem Motiv oder einer bloßen gedanklichen Nähe zu Ausführungen des Kirchenvaters geredet werden kann. Was macht ein Zitat aus? Setzt die Verifikation eines Zitates einen quantitativen Mindestbestand voraus? Bedarf ein Zitat einer formalen Abgrenzung; in Ermangelung von An- und Abführungszeichen entsprechende Formulierungen unter Verweis auf Autorschaft und Quelle? Im Blick auf die höchst disparate Überlieferung ist die Unterscheidung von Zitat und Paraphrase alles andere als selbstevident. Zahlreiche Übernahmen der Begrifflichkeit oder gar Argumentation Augustins verdanken sich nicht automatisch der Lektüre seiner Originalschriften. Zuweilen genügt auch die Vermittlung durch die eingangs erwähnten Autoritäten oder schlicht die Erinnerung an gedankliche oder formale Zusammenhänge, in denen Augustin einen wie auch immer näher zu bestimmenden Sitz im Leben hat.
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In besonderer Weise erweist sich die Isolierung und Vermittlung von theologischen „Motiven“ oder auch „Motivzusammenhängen“ als Problem. Fällt häufig schon die präzise Bestimmung eines theologischen Motivs außerordentlich schwer, erweist sich der Nachvollzug seiner theologischkirchlichen Vermittlung als aberwitziges Unterfangen. Nimmt das jeweils isolierte – wenn nicht gar nachträglich re-konstruierte – Motiv doch kontextabhängig je und je neue Gestalt an und verliert damit in entscheidender Weise den Aussagegehalt seiner originären Herkunft. Das gilt natürlich auch für die Motivzusammenhänge oder Argumentationsstrukturen der vielgestaltigen Werke Augustins. Hierbei wird häufig die „originale“ Aussageintention bzw. Motivation Augustins bei der Abfassung einer speziellen Formulierung oder Argumentationssequenz ins Feld geführt. Sowenig eine authentische Rekonstruktion der Intentionen des Kirchenvaters aus dem Rückblick heraus möglich ist, sowenig wird die Bestimmung der die Werke des Afrikaners zitierenden Autoritäten des Mittelalters möglich sein. Eine sich postmoderner Wissenschaftstheorie gegenüber verantwortende geistesgeschichtliche Hermeneutik wird jegliche Nähe zu positivistischer Quelleninterpretation und damit zu einer authentischen Wiedergabe der Aussagen und ihrer Intention über den gewaltigen Abstand von 1500 Jahren hinweg zu vermeiden haben.
1.4. Methode und Hermeneutik Eine sich von den positivistischen Voraussetzungen des Historismus und seiner Nachwirkungen befreiende Rezeptionsgeschichtsforschung wird im Nachvollzug spezifischer Übernahmeprozesse zunächst die quellentechnisch verifizierbaren Evidenzen zu sammeln haben. Dazu zählen die literarisch eindeutigen Zitate, d.h. Sequenzen, die als Zitat ein- und ausgeführt werden, sowie offenkundige Parallelen zu hinlänglich als authentische Quelle bekannten Texten der Vorläufer. Sodann sind in einem weiteren Durchgang erneut eindeutig eingeführte und zugeordnete Motive, Gedanken und Elemente einer für die Berufungsinstanz eindeutigen Argumentation zu sammeln. Weitere Evidenzen lassen sich durch Phrasen wie „Wie Augustin sagt ...“ nachzeichnen. Nicht übersehen werden sollten in diesem Zusammenhang auch Textbestandteile, die Augustin in seiner Gesamtheit – historisch berechtigt oder nicht sei einmal dahingestellt – in Anspruch nehmen: Augustin als Vater der ..., Augustin als Lehrer, Priester, Bischof etc. In einem weiteren Schritt sind die Verwendungszusammenhänge zu prüfen und der Versuch einer Hypothese zu wagen, mit welcher die Frage nach der Funktion des Arguments im Gesamtzusammenhang näher beleuchtet und möglicherweise sogar schon beantwortet werden kann.
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In einem dritten Schritt ist sodann nach Rezeptionsstrukturen zu fahnden, die sich aus parallelen Ergebnissen in zeitlich, thematisch oder auch gattungsgeschichtlich zusammenhängenden Zeugnissen finden lassen. Diese Parallelen können sich sowohl auf bestimmte, immer wiederkehrende Zitate, Motive, Strukturen beziehen, bzw. inhaltliche Schwerpunkte setzen, sich dem literarischen Genre etwa der Predigt, des Kommentars oder anderer Literaturgattungen verdanken, oder auch sogar die wiederholte Aufnahme einer oder mehrer bestimmter Schriften Augustins in den Blick nehmen. Erst dann wird es möglich sein, Rezeptionsstrukturen zu benennen, die einem explizite vereinbarten oder auch nur implizite wahrgenommenen Regelwerk folgen. Davon ist die Forschung gegenwärtig allerdings noch sehr weit entfernt. Die gegenwärtige Rezeptionsgeschichtsforschung ist zunächst mit der Dekonstruktion vorgefasster und im Verlaufe der Geschichte verhärteter Positionen beschäftigt. Dazu gehört die Aufgabe statistisch gestützter Quellenanalysen und die Suche nach historisch-kritisch verifizierter „korrekter“ Zitation. Insgesamt ist einer statischen Verifikation des mittelalterlichen Augustinismus mit größter Vorsicht zu begegnen. Ebensowenig ist die systematische Rekonstruktion des theologischen Systems oder auch nur seiner kontextbedingten Teilsysteme mit abschließender, gleichsam objektiver Gültigkeit möglich. Die patristisch akzentuierte Theologiegeschichtsschreibung ist vielmehr aufgefordert, die Kontexte der Werke Augustins in einer Weise aufzubereiten, dass sie mit den dann ebenso sorgfältig analysierten historischen Bedingungssituation seiner mittelalterlichen Rezipienten verglichen werden können. Auch wenn diesem Programm ein antihistoristischer Akzent eignet, ist das nicht seine eigentliche Abzweckung. Vielmehr geht es darum, die theologiegeschichtlich hoch virulente Wahrheitsfrage aus dem historischen Diskurs zunächst zu verbannen und erst in einem dann systematisch-theologisch reflektierten weiteren Diskussionsgang zu erörtern. Ihre Beantwortung wird damit nicht negiert, wohl aber ihrer Beantwortung ein anderer „Sitz im Leben“ zugeordnet. Die theologisch intendierte Suche nach Wahrheit kann nicht den Ausgangspunkt, sondern vielmehr nur den Endpunkt der historischen, insbesondere die geisteswissenschaftlichen Arbeitswesen zur Synthese führenden Theologiegeschichtsschreibung darstellen. Theologiegeschichte darf, und das zeigt die Beschäftigung mit der Rezeptionsgeschichte altkirchlicher Autoritäten im Verlauf der Kirchengeschichte, nicht mit der Dogmengeschichte, insbesondere nicht in ihrer nachaufklärerischen Funktion als Substitut der Dogmatik verwechselt werden. Augustin war im gesamten Mittelalter bis in die Zeit Luthers das Siegel katholischer Orthodoxie. Aufgrund der Inkompatibilität der Entstehungs-
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kontexte seiner Äußerungen zu denen seiner Rezipienten ergeben sich gravierende Unterschiede zu seiner ursprünglichen Intention und mithin zu der inhaltlichen Aussage selbst. Die hermeneutische Frage lautet also weniger, was von Augustin in der mittelalterlichen Theologie aufgenommen wird, als vielmehr wie er übernommen und mit welcher Aussageintention der Bezug auf seine Schriften hergestellt wird. Vor diesem Hintergrund werden theologiegeschichtliche Engführungen, wie etwa die Frage, ob die akzentuierte Wahrnehmung seiner antipelagianischen Auslegung der paulinischen Rechtfertigungslehre die Reformation wenn denn nicht provoziert, so doch zumindest ihre Initiation maßgeblich unterstützt hat, letztlich obsolet.
2. Gibt es eine Theologie der Augustiner im Spätmittelalter? Die Vielfalt mittelalterlicher Augustinrezeption findet sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auch im Augustinereremitenorden, einem der drei Mendikantenorden des Spätmittelalters, wieder20. Gleichwohl ist die Frage berechtigt, inwieweit die sich auf legendarische Überlieferungen stützende explizite Bezugnahme auf den Bischof von Hippo eine spezifische Ausprägung des mittelalterlichen Augustinismus darstellt. Da im folgenden keine vollständige Übersicht zur Ausprägung der in den Generalstudia der Augustiner gelehrten Theologie geleistet werden kann, will ich mich auf drei – zugegebenermaßen recht willkürlich ausgewählte – Beispiele der Augustinrezeption innerhalb des Ordens beschränken. Dabei kommen unterschiedliche Konzeptionen zum Tragen, die auf ihre innere Kohärenz zu untersuchen sein werden. Ein erstes Beispiel nimmt zunächst die sich mit dem Namen und der Gefolgschaft Gregors von Rimini verbindende akzentuierte Wahrnehmung des antipelagianisch argumentierenden Augustin auf. Ein zweites Beispiel wendet sich der Berufung auf Augustin als Vorbild und Modell der Einheit von Leben und Lehre im Werk Jordans von Quedlinburg zu. Als drittes Beispiel sei die weitgehend unspezifische Ausprägung der Augustinrezeption im Werk des für Luther prägend wirkenden Generalvikars der observanten Augustinereremiten, Johannes von Staupitz, erwähnt. Abschließend soll kurz angemerkt werden, inwieweit diese Augustinrezeption für den Entwicklungsgang Luthers von Bedeutung sein könnte.
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Zur Geschichte der Augustinereremiten und der Ausprägungen ihrer „Ordenstheologie“ vgl. die Angaben in Anmerkung 7.
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2.1. Gregor von Rimini Gregor von Rimini hielt zwischen 1342 und 1344 in Paris seine Sentenzenvorlesung, deren ersten zwei Bücher erhalten blieben. 1345 wurde er zum Magister promoviert und lehrte ab 1351 am Generalstudium von Rimini. 1357 folgte er Thomas von Straßburg im Amt des Ordensgenerals. Gregors Schriften traten schon bald in Konkurrenz zur offiziellen Lehrmeinung des Aegidius Romanus21. Das ging soweit, dass sich das Generalkapitel von Pamiers 1465 gezwungen sah, zur Wahrung der Einheit der Lehre die Lektüre Gregors zu verbieten. Diese Bestimmung wurde 1470 auf dem Generalkapitel in Bologna erneut erlassen und besonders von Jakobus von Aquila energisch durchgesetzt22. Die Theologie Gregors von Rimini23 zeichnet sich gegenüber der thomistischen Ausrichtung des Aegidius von Rom durch eine stärkere Hinwendung zu nominalistischen Fragestellungen und Problemlösungen aus. Diese, teilweise an Duns Scotus orientierte Konzeption erhält ihre besondere Prägung durch die Aufnahme der antipelagianischen Gnadenlehre Augustins und einen konsequenten Biblizismus. Kennzeichnend für Gregor ist der Versuch, in der Denkweise der „via moderna“ gewissen, von ihm als Pelagianismus bekämpften Strömungen seiner Zeit eine augustinische Lehre vor allem in den Fragen über Urstand, Erbsünde, Prädestination, Gnade, Rechtfertigung und Verdienst entgegenzustellen. Als Charakteristika dieser Gnadenlehre treten hervor: Ihr betonter Antipelagianismus, die Vorrangstellung, welche der gratia sanans vor der gratia elevans eingeräumt wird, die Lehren von der Prädestination der Guten unter der Voraussetzung der Erbsünde, der moralischen Wirksamkeit der Gnade und der Notwendigkeit einer besonderen Gnadenhilfe zu einem sittlich guten Werk. Es sind, stark vereinfacht gesprochen, neun Motive, durch welche die Theologie Gregors charakterisiert werden kann24: 1. Aus einem konsequenten Biblizismus ergibt sich die Absage an jegliches theologisches Erkenntnismodell, welches die Einsichten des Glaubens nurmehr als Ergänzung der natürlichen Vernunft definiert. Gregor wendet 21
Vgl. J OHN R. EASTMAN: Das Leben des Augustiner-Eremiten Aegidius Romanus (c. 1243–1316), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 100 (1989), S. 318–339. 22 ADOLAR ZUMKELLER: Erbsünde, Gnade, Rechtfertigung und Verdienst nach der Lehre der Erfurter Augustinertheologen des Spätmittelalters, Würzburg 1984 (Cassiciacum 35), S. 432f. 23 Siehe dazu LEFF: Gregory of Rimini (wie Anm. 8); HEIKO A. OBERMAN (Hg.): Gregor von Rimini. Werk und Wirkung bis zur Reformation, Berlin 1981 (Spätmittelalter und Reformation 20); MANUEL SANTOS NOYA: Die Sünden- und Gnadenlehre Gregors von Rimini, Frankfurt/Main 1990. 24 Vgl. dazu ZUMKELLER: Erbsünde (wie Anm. 22), S. 5–8.
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sich gegen die thomistische Synthese von Theologie und Philosophie, sowie gegen die Verwendung platonischer oder aristotelischer Prinzipien im theologischen Erkenntnisprozess: „Die Richtung des theologischen Denkens und der systematischen Darstellung geht immer von oben nach unten, sie nimmt bei Gott ihren Anfang und zieht aus der göttlichen Gegebenheit Schlüsse auf die empirischen Verhältnisse.“25 2. Das Wesen der Erbsünde besteht nach Gregor in der schuldhaften Konkupiszenz. Sie ist die „böse Anlage der Seele, die aus der Konkupiszenz bei der Zeugung entsteht ... durch die der Mensch zur aktuellen bösen Tat hingelenkt wird“26. Es ist dem Menschen unter der Herrschaft der Erbsünde darum unmöglich, einen moralisch guten Akt hervorzubringen. 3. Daraus folgt, dass auch die Kleinkinder, die ohne Taufe sterben, die poena ignis – freilich nur in einem ganz geringen Maße – zu erleiden haben. 4. Gregor hebt zwar den freien Willen des Menschen hervor, schätzt dessen Kraft aber gering ein: Ohne Gottes auxilium speciale kann der Mensch keinen moralisch guten Akt vollbringen. 5. Darum kann der Mensch Gott auch nicht aus natürlichem Vermögen über alles lieben, wie es von ihm verlangt wird. 6. Ausgangspunkt für die Gnadenlehre Gregors ist der scotistische Voluntarismus. Der freie, unbedingte Wille ist Gottes potentia ordinata, ist Gott selbst. „Der Gott Gregors ist in diesem Sinne ewig aktueller Wille, der in der Tendenz auf die konkrete Wirklichkeit deren Existenz und Agibilität setzt.“27 Dieser, dem Intellekt vorgeordnete Wille entscheidet über die Annahme oder Verweigerung der erbrachten Leistungen des Menschen durch die Verleihung der gratia gratum faciens. Diese Lehre verbindet er nun mit der augustinischen Gnadenlehre: Für jegliches gute Werk ist Gottes übernatürliche Hilfe unbedingt notwendig. Im Urstand hat diese Hilfe zur menschlichen Naturausstattung gehört. Für den gefallenen Menschen aber wird sie zur eigentlichen gratia sanans. „Gregor wendet sich damit gegen die ockhamistische Tendenz, die Fähigkeit auch des gefallenen menschlichen Willens zu guten Werken zu übersteigern …. Gregors Forderung des auxilium speciale zu jedem sittlich guten Akt wurzelt in der Lehre, dass ein Akt nur dann moralisch gut ist, wenn er aus dem Motiv der Gottesliebe hervorgeht. Die Werke der Heiden, auch die des Todsünders, 25
MARTIN SCHÜLER: Prädestination, Sünde und Freiheit bei Gregor von Rimini, Stuttgart 1934, S. 4. 26 EDUARD STAKEMEIER: Der Kampf um Augustin auf dem Tridentinum, Paderborn 1937, S. 23. 27 Vgl. SCHÜLER: Prädestination (wie Anm. 25), S. 33; ERNST B ORCHERT: Der Einfluß des Nominalismus auf die Christologie der Spätscholastik (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 35.4/5), Münster 1940, S. 67f.
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bezeichnet er deshalb, (...) wegen des Mangels an Hinordnung auf das letzte Ziel im Anschluss an Augustin als sündhaft.“28 Jeder gute Akt des Menschen entsteht aufgrund eines zweifachen göttlichen Einwirkens: (a) Gott schafft den Willen zum Guten. (b) Er wirkt mit dem auxilium speciale, dass der Mensch das Gute auch erreicht. Verdienstlich wird dieser Akt jedoch erst, wenn Gott (c) die gratia gratum faciens wirkt und damit das Werk auch annehmen kann29. 7. Gregor lehrt die unbedingte Prädestination und Reprobation und erläutert 1 Tim 2,4 im partikularen Sinne Augustins: Derartige Verheißungssätze gelten nur für die Erwählten. 8. Sünde ist die von Gott zugelassene Tat (privatio boni), welche böse Folgen zeitigt. In gewisser Weise wird Gott so der indirekte Grund auch des Bösen. Die Tendenz zum Determinismus lässt sich bei dieser Form der Sündenlehre nur schwer vermeiden. Grundsätzlich sind weder die besondere Hilfe Gottes noch die Rechtfertigung zu verdienen. Trotz einer Verdienstlehre im Sinne der pactumTheorie des Mittelalters bleibt der Lohn der ewigen Glorie außerhalb des Anrechts des Menschen. Die freiwillige Selbstbindung führt zu keiner Zeit zu einer Verfügbarkeit Gottes gegenüber dem Menschen. Soweit eine kurze, in Einzelheiten sicherlich weiterer Erklärungen bedürftige Skizze der Grundlinien der Theologie Gregors von Rimini. Von einer „Schule“ Gregors könnte gesprochen werden, wenn sich Vertreter seines theologischen Konzepts nachweisen ließen, die – abgesehen von Parallelen im Einzelnen – alle neun Charakteristika, oder zumindest doch den größten Teil dieser Aufzählung, in ihre Ausführungen aufnehmen. Einige mögliche Vertreter seiner Theologie, wie sie in der Sekundärliteratur diskutiert werden, seien im folgenden kurz erwähnt.
2.2. Theologen nach Gregor von Rimini 2.2.1. Alfonso Vargas von Toledo hielt als direkter Nachfolger Gregors 1344/45 in Paris seine Sentenzenlesung. Er wurde 1347 zum Magister promoviert und starb 1366 als Erzbischof von Sevilla. Adolar Zumkeller und Joseph Kürzinger30 stellen Alfonso als treuen Schüler der „Via Aegidiana“ dar. Prägend für seine Theologie ist ein historisch-kritisches Interesse – das im übrigen für die gesamte Theologie des 14. Jahrhunderts ty28
ADOLAR ZUMKELLER: Die Augustinerschule des Mittelalters. Vertreter und philosophisch-theologische Lehre, Analecta Augustiniana 27 (1964), S. 167–262: hier S. 222. 29 Vgl. zum gesamten Abschnitt LEFF: Gregory of Rimini (wie Anm. 8), S. 185–196. 30 Vgl. ZUMKELLER: Augustinerschule (wie Anm. 28), S. 224f.; J OSEPH KÜRZINGER: Alfonsus Vargas Toletanus und seine theologische Einleitungslehre. Ein Beitrag zur Geschichte der Scholastik im 14. Jahrhundert. (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 22.5/6), Münster 1930.
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pisch ist – und die enzyklopädische Akribie, mit der er auch andere Lehrmeinungen in seinem Sentenzenkommentar zitiert. Die erste Autorität kommt nach der Heiligen Schrift Augustin zu. Zugleich öffnet er sich auch den Anschauungen des Thomas-Gegners Heinrich von Gent (1217–1293). Manfred Schulze behauptet nun, „daß Gregors Einfluß bereits im Kommentar des Toletaners greifbar wird und ohne Namensnennung im Bereich der Prädestinationslehre sogar an theologisch entscheidender Stelle mit Stringenz zum Tragen kommt“31. Er beantwortet Einwände, nach denen die Häufigkeit der Gregorzitation und der Kontext Alfonso Vargas als alles andere denn einen Gregor-Schüler ausweisen, mit dem Hinweis auf die Zweipoligkeit mittelalterlicher Zitation. 2.2.2. Hugolin von Orvieto las 1348/49 in Paris und wurde dort 1352 zum Magister promoviert. Von 1357 bis 1359 leitete er das Generalstudium in Perugia und von 1364 bis 1368 in Bologna. Von 1368 bis 1371 wirkte er als General der Augustinereremiten und starb 1373 als Titularbischof von Konstantinopel. Weit stärker als Gregor entwickelte Hugolin ein harmonisches System als Ganzes aufbauend auf der augustinischen Theologie. Dabei führten ihn die augustinischen Prinzipien, insbesondere die Illuminationstheorie, gerade von Gregor weg. Andererseits konnten Zumkeller und Willigis Eckermann32 Parallelen im Bereich der Wissenschaftstheorie und z.T. in der Erkenntnistheorie des Physikkommentars nachweisen. Besonders prägnant sind freilich die Übereinstimmungen im Bereich der Gnadenlehre. Beide Theologen betonen das auxilium Dei speciale, die Unfähigkeit des Sünders zu moralisch guten Werken und zur Gottesliebe. Konsequent lehrt Hugolin die unbedingte Prädestination und Reprobation, sowie mit dem Tortor infantium, dass ungetauft sterbende Kinder die Höllenstrafen, wenn auch in geminderter Form, zu erleiden haben. Gegen Gregor übernimmt er allerdings die augustinische Fassung des Erbsündenbegriffes und die partikulare Deutung „allversöhnender“ Schriftzitate nicht. Trotz der frappierenden Ähnlichkeit, die im Einzelnen noch eingehender untersucht werden müsste, stellt sich die Frage, ob jene Parallelen bei Hugolin tatsächlich auf Gregor oder nicht vielmehr direkt auf Augustin zurückgehen, m.a.W. ob nicht an der Ausprägung der je individuellen Theo31
MANFRED G. SCHULZE: Von der Via Gregorii zur Via Reformationis. Der Streit um Augustin im späten Mittelalter, Diss. Tübingen 1980, S. 25. 32 Vgl. ADOLAR ZUMKELLER: Hugolino von Orvieto und seine theologische Erkenntnislehre, Würzburg 1941; DERS.: Augustinerschule (wie Anm. 28), S. 225–227; W ILLIGIS ECKERMANN: Der Physikkommentar Hugolins von Orvieto OESA. Ein Beitrag zur philosophischen Erkenntnislehre, Berlin 1972 (Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen 5); DERS.: Wort und Wirklichkeit. Das Sprachverständnis in der Theologie Gregors von Rimini und sein Weiterwirken in der Augustinerschule, Würzburg 1978 (Cassiciacum 33).
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logie die Augustinrezeption erheblichen Anteil hatte. Andererseits lässt sich freilich sagen, dass durch Hugolin eine verstärkte Augustinrezeption an die Generalstudien von Perugia und Bologna getragen wurde und dort weitere Scholaren in ihren Bann zog. Speziell in Bologna war dafür der Boden bestens bereitet. 2.2.3. Möglicherweise lehrte hier seit 1321 Bartholomäus von Urbino (gest. 1350). Er hatte ein „Milleloquium Sancti Augustini“ mit über 15.000 Augustinzitaten verfasst, das, häufig ausgelegt, die Augustinkenntnis des Mittelalters nachhaltig bestimmte33. 2.2.4. Johannes Klenkok studierte in Bologna von 1342–1346 und wurde besonders durch seine mit Hilfe der politischen Ethik von Aegidius Romanus gewonnene Kritik des Sachsenspiegels bekannt. Schulze vermutet allerdings, dass er mit augustinischer Theologie näher erst in Prag (1346– 1351) und Oxford (1354/5), wo er seine Sentenzenlesung hielt und 1359 zum Magister promoviert wurde, in Berührung kam. Er war später an den Generalstudien in Magdeburg und Erfurt tätig. Dort starb er 1374. Zumkeller kommt in seiner Untersuchung der Gnadenlehre Klenkoks zu dem Ergebnis, dass Klenkok in seinem Interesse an Augustins Gnadenlehre von Gregor von Rimini entscheidend beeinflusst worden ist. „Auch wenn er den italienischen Ordensmagister in den hier untersuchten Fragen (sc. von Erbsünde, Gnade, Rechtfertigung und Verdienst) nur ein einziges Mal namentlich erwähnt, so hat er seine diesbezüglichen Ausführungen doch offensichtlich gründlich studiert. Mit Gregor verbindet ihn die starke Verankerung seiner Gnadenlehre in den antipelagianischen Schriften Augustins. Wie Gregor ist es auch ihm ein Hauptanliegen, den Pelagianismus seiner Zeit bzw. das, was er für den Pelagianismus hielt, zu bekämpfen. Mit Gregor vertritt er die Lehre vom speciale Dei auxilium und fordert demgemäß zu jedem wahrhaft guten Werk des Menschen eine besondere Gnade des Beistandes. Von Gregor ist er auch beeinflusst bei seiner scharfen Kritik an der skotistischen Lehre, der Sünder könne sich den Sündennachlass aus natürlicher Kraft mit der bloßen Hilfe der communis Dei influencia verdienen.“34 Zumkeller gibt jedoch zu bedenken, dass der ausgeprägt augustinische Strom der Gedanken auch in Thomas Bradwardine’s „De causa Dei“ seine Parallelen hat. Freilich zeigt sich Klenkok beiden Denkern gegenüber relativ selbständig: An Bradwardine kritisiert er die deterministische Komponente der Prädestinationslehre. Gregors Axiom von der allge-
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ZUMKELLER: Augustinerschule (wie Anm. 28), S. 206f. Ebd. S. 133f. Eine etwas andere Sicht der Dinge trägt W OLFGANG URBAN: Theologische Literaturzeitung 112 (1987), Sp. 37–40, aufgrund derselben Quellenbasis vor. 34
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meinen Sündhaftigkeit der Werke der Nichtgerechtfertigten weist er, teilweise missverstanden, zurück. Auch hier bleiben einige Fragen offen: War Gregor die Bestätigung Augustins oder der Impetus zu seiner Lektüre, speziell seiner antipelagianischen Schriften? Welche Bedeutung hatte das „Milleloquium“ des Bartholomäus von Urbino resp. generell die „augustingeschwängerte“ Luft in Bologna und Oxford? Ebenso ist die Rolle der Pariser Sentenzenlesung Hugolins noch nicht genügend gewürdigt. Auch wenn in der Gnadenlehre Klenkoks unbestritten augustinisches Erbe wirksam ist, wie steht es mit anderen Traktaten der Dogmatik? Hier erweist sich Klenkok nämlich als getreuer Gefolgsmann der thomistischen Lehrrichtung, die er in der Gnadenlehre nicht berücksichtigt35. 2.2.5. Am 16. Mai 1354 widerrief ein Frater Guido vom Orden der Augustinereremiten vor dem Kanzler der Pariser Universität seine Behauptung, Gott könne den Sünder mit seiner gratia praeveniens zum guten Werk nötigen, da andernfalls der Sünder mit seiner Tat Gottes Vorsätze ändern oder ihn sogar zum Lügner stempeln könnte. Die Pariser Universität sah hierin die schon bei Hugolin und Bradwardine verurteilte deterministische Lehre eines konsequent durchgeführten Augustinismus erneut auftauchen. Schulze schließt daraus, dass mit jenem Guido, der von Denifle-Chatelain als Aegidius von Mendonta identifiziert worden ist, ein weiteres Mitglied einer von Gregor geprägten Augustinschule namhaft gemacht werden konnte. Als Argument führt er die nahezu nahtlose Übereinstimmung mit Hugolin ins Feld36. 2.2.6. Das Erbe Hugolins wurde durch den Zisterzienser Konrad von Ebrach weiter nach Prag und Wien getragen. So bezeichnet der Wiener Augustiner Johannes Retz die Sentenzenlesung als eine „in klarer und verständlicher Form dargebotene Überarbeitung der dunklen und hohen Lehre des Magisters Hugolin“37. Konrads Vorlesung, die er wohl 1368/69 oder 35
Ebd. S. 135. ADOLAR ZUMKELLER: Johannes Klenkok OESA (gest. 1374) im Kampf gegen den Pelagianismus seiner Zeit. Seine Lehre über Gnade, Rechtfertigung und Verdienst, in: Recherches Augustiniennes 13 (1978), S. 231–333: hier S. 270 Anm. 161; SCHULZE: Via Gregorii (wie Anm. 31), S. 37f. 37 KASSIAN LAUTERER: Konrad von Ebrach SOCist (gest. 1399). Lebenslauf und Schrifttum, Analecta Sacri Ordinis Cisterciensis 17 (1961), S. 151–214; 18 (1962), S. 60–120; 19 (1963), S. 3–50; ADOLAR ZUMKELLER: Dionysius von Montina – ein neuentdeckter Augustinertheologe des Spätmittelalters, Würzburg 1948; DERS.: Der Wiener Theologieprofessor Johannes von Retz OESA (gest. nach 1404) und seine Lehre von Urstand, Erbsünde, Gnade und Verdienst, in: Augustiniana 21 (1971), S. 505–540; 22 (1972), S. 118–184, 540–582. 36
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ein Jahr später in Bologna absolviert hatte, ist dem Augustinereremitenorden durch Dionysius von Montina erhalten geblieben. Er las 1371/2 die Sentenzen in Paris und wurde dort auch zum Magister promoviert. Schulze schreibt dazu: „Kassian Lauterer hat zwar die theologische Abhängigkeit zwischen Hugolin und Konrad im einzelnen nicht aufgeschlüsselt, doch vermittelt bereits die von ihm angefertigte Konkordanz der übereinstimmenden oder ähnlichen Textpartien ein beeindruckendes Bild der Abhängigkeit, auch wenn man in Rechnung stellen muss, dass Konrad bestimmte Spitzenaussagen seines Lehrers, wie sie etwa im zweiten Buch zur Gnadenlehre auftreten, entschärft oder sich ihnen sogar entgegengestellt. ... So lehnt Konrad die Auffassung Hugolins ab, die ungetauft verstorbenen Kinder erlitten um ihrer Erbsünde wegen der poena damni auch die poena sensus.“38 2.2.7. Augustinus Favaroni von Rom war 1388/89 in Bologna als sententiarius tätig und wurde 1392 dort zum Magister promoviert. 1419 wählte ihn das Generalkapitel der Augustinereremiten zum General. Dieses Amt behielt er bis 1431 und machte sich in dieser Zeit besonders um die Ordensreform verdient. Als Erzbischof von Nazareth in Apulien starb er 1443. Mit seiner Augustininterpretation, insbesondere deren ekklesiologischen Implikationen, geriet er bald in Schwierigkeiten. Einzelne Sätze, die ihn in gefährliche Nähe zu John Wycliff und später Johannes Hus brachten, wurden auf dem Konzil in Basel verurteilt39. In seiner Prinzipienlehre baut er ganz auf die Kraft der ratio und steht damit explizite im Gegensatz zu Hugolin und Gregor. Weder teilt er die Lehre von der alleinigen Autorität der Schrift noch die Erkenntnistheorie Hugolins. Schulze kommt zu dem Urteil: „Von diesen Grundlagen der theologischen Prinzipienlehre her wird man Augustinus Favaroni von Rom nicht in die Augustinschule Gregors einreihen können, obwohl auch dem Bologneser Magister Augustin letzte Autorität ist, die niemals in Zweifel gezogen wird.“40
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SCHULZE: Via Gregorii (wie Anm. 31), S. 42. SALESIUS FRIEMEL: Die theologische Prinzipienlehre des Augustinus Favaroni von Rom OESA (gest. 1443), Würzburg 1950 (Cassiciacum 12); ZUMKELLER: Augustinerschule (wie Anm. 28), S. 237ff.; W ILLIGIS ECKERMANN: Augustinus Favaroni von Rom und Johannes Wycliff. Der Ansatz ihrer Lehre über die Kirche, in: Cornelius P. Mayer und Willigis Eckermann (Hg.): Scientia Augustiniana. Studien über Augustinus, den Augustinismus und den Augustinerorden. Festschrift Adolar Zumkeller, Würzburg 1975 (Cassiciacum 30), S. 323–348. 40 SCHULZE: Via Gregorii (wie Anm. 31), S. 46. 39
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Andererseits benennt Schulze, auf den Ergebnissen Alphons Victor Müllers und Eduard Stakemeiers aufbauend,41 in der Gnaden- und Rechtfertigungslehre einige Parallelen zu Gregor: So beispielsweise in der Lehre von der poena sensus für die ungetauften Kleinkinder, von der Unfähigkeit des gefallenen Menschen, Gutes zu tun, und mit der sog. „duplex iustitia“Lehre, die später von Girolamo Seripando in Trient vertreten werden wird. Allerdings bleiben auch hier unübersehbare Unterschiede, so dass vorerst das Urteil von Salesius Friemel aufrechterhalten werden muss, dass Favaroni innerhalb der Augustinerschule ein intellektueller Einzelgänger ist42. 2.2.8. Jakobus Perez von Valencia studierte in Spanien und versorgte von 1459–79 das Generalstudium in Valencia. Stimmen auch seine Theologie und Erbsündendefinition mit der Gregors nicht überein, finden sich doch Motive wie das auxilium Dei speciale und die Einschätzung des Sünders im Sinne Gregors in seinem Psalmenkommentar wieder. Wilfried Werbeck kommt zusammenfassend zu dem Schluss: „Vergleicht man diese Äußerungen (sc. zu Urstand, Erbsünde, Konkupiszenz) mit der systematischen Tradition, so zeigt sich, daß er in dieser Hinsicht der hochscholastischen Richtung folgt, die die Positionen Anselms und des Lombarden miteinander zu vereinigen sucht.“43 Weiterhin hebt er für die Christologie Verbindungen zu Hugolin von Orvieto, Simon Fidatio von Cascia und Girolamo Seripando hervor, ist aber mit dem Rückschluss auf eine Ordenstradition vorsichtig. Damit schließt vorerst die Reihe möglicher Vertreter einer „Via Gregorii“ bis in die Zeit Martin Luthers. Für Aegidius von Viterbo prägte Hubert Jedin den Begriff einer „platonischen Schule im Augustinerorden“44, und Adolar Zumkeller verweist auf die hohe Achtung, die Aegidius für seinen Ordenslehrer und Namenspatron hegte. 2.2.9. Ohne einer zusammenfassenden Würdigung vorgreifen zu wollen, seien zum Abschluss dieses Abschnittes einige Fragen gestattet: Unbestreitbar sind einige Parallelen des theologischen Entwurfs von Gregor und Hugolin. Ihre Werke waren sowohl in Erfurt wie in Wittenberg vorhanden. Von daher ist nicht auszuschließen, dass Luther ihre Werke in der Studienund späteren Lehrzeit gelesen hat. Insofern ist die These durchaus haltbar, 41
ALPHONS VICTOR MÜLLER: Agostino Favaroni (gest. 1443). Generale OESA Archivescovo di Nazarethe e la teologia di Lutero, in: Bilychnis 3 (1914), S. 373–387; STAKEMEIER : Kampf um Augustin (wie Anm. 26), S. 33–48. 42 FRIEMEL: Prinzipienlehre (wie Anm. 39), S. 197. 43 W ILFRIED W ERBECK: Jakobus Perez von Valencia. Untersuchungen zu seinem Psalmenkommentar, Tübingen 1959 (Beiträge zur historischen Theologie 28). 44 HUBERT JEDIN: Girolamo Seripando I, Würzburg 1937, S. 82; zitiert nach Zumkeller, Augustinerschule (wie Anm. 28), S. 255.
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dass Gregor und Hugolin zum geistigen Umfeld („Traditionshorizont“) der späteren reformatorischen Theologen gehörten. Zu fragen ist, inwieweit der spätmittelalterliche Schulbetrieb die für das 13. und den Beginn des 14. Jahrhunderts charakteristische Einteilung in bestimmte Richtungen durchgehalten hat? Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang der Unterschied zwischen der artes Fakultät und der theologischen Fakultät? Insofern die Schule Gregors eine eigenständige nominalistische Tradition begründet, ist der Frage nachzugehen, wo die charakteristischen Unterschiede zu der Wissenschaftstheorie Wilhelms von Ockham liegen45. Was das Problem einer durch Gregor initiierten Augustinrezeption angeht, so ist methodisch und inhaltlich das Proprium seiner Augustininterpretation nachzuweisen, d.h. die Unterscheidung seiner Augustinrezeption von anderen, insbesondere im Gefolge des Lombarden. In diesem Zusammenhang ist auf die wiederholt von David Curtis Steinmetz betonte Unterscheidung von Einfluss und Parallele, sowie das Problem einer kontextbezogenen Zitation hinzuweisen46.
2.3. Augustinus praeceptor noster – Jordan von Sachsen „…beatus Augustinus est praeceptor noster in disciplina regulari Unde et in hoc opere frequenter ipsum praeceptorem nostrum appellavi“ schreibt Jordan von Quedlinburg (oder auch von Sachsen) in seiner berühmten Lebensbeschreibung des klösterlichen Lebens „Liber vitasfratrum“47. Es ist nicht allein die allfällige Verbeugung eines sich dem afrikanischen Kirchenvater des Abendlandes verbunden wissenden Ordensmannes. Jordan zielt vielmehr ausdrücklich darauf, Augustin als Vorbild und Modell des klösterlichen Lehrers zu beschreiben. Augustin ist gerade nicht nur der spirituelle Lehrmeister oder Ausbilder von monastischen Lehrlingen. „Unde doctores et magistri scholastici dicuntur praeceptores ... Sic etiam beatus Augustinus est praeceptor noster…“48 Schon früher hatte Jordan in sei45
Vgl. dazu LEIF GRANE: Rezension in Theologische Literaturzeitung 108 (1983), Sp. 276–279; VOLKER WENDLAND: Die Wissenschaftslehre Gregors von Rimini in der Diskussion, in: Heiko A. Oberman (Hg.): Gregor von Rimini (wie Anm. 23), S. 241–300. 46 DAVID CURTIS STEINMETZ: Another Look. Luther and late medieval Augustinianism, Concordia Theological Monthly 44 (1973), S. 243–260: hier S. 248.; DERS.: Luther and Staupitz. An Essay in the Intellectual Origins of the Protestant Reformation, Durham NC 1980 (Duke monographs in Medieval and Renaissance studies 4), S. 7f. 47 Ausführlich hat dessen Bedeutung für die Theologie der Augustinereremiten gewürdigt ERIC L. SAAK: High Way to Heaven. The Augustinian Platform between Reform and Reformation, 1292–1524, Leiden 2002 (Studies in Medieval and Reformation Thought 89). Das Zitat VF 2,14 (178,369–371) wurde übernommen aus Anm. 28 auf S. 356 (orth. var.). 48 VF 2,14 (178,364–369), ebenfalls zitiert nach Saak, ebd. Anm. 29.
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nem Opus Postillam darauf hingewiesen, dass das Lehren zu den geistlichen Gaben gehört49. Im Blick auf die Religiosen betont Jordan die Lehre, insofern sie die in frommer Abgeschiedenheit lebenden Mönche vor Irrlehre und Heterodoxie bewahren kann50. Insbesondere für die Augustiner zählt die Lehre zu den elementaren Bestandteilen ihres contemplativen Lebens51. In diesem Sinne verweist Jordan auf den legendären Gründer seines Ordens als praeceptor noster. Jordan steht hier wohl in einer längeren Tradition seines Ordens. Bereits im frühen 14. Jahrhundert finden sich Belege für das Vorbild Augustins mit der Akzentuierung seiner Tätigkeit als Lehrer52. So bezeichnet Nikolas von Alexandria in einer Predigt in Paris aus dem Jahre 1332 Augustin als „dux, magister, caput et pater eremitarum“53 Eine gleichlautende Liste von Prädikationen findet sich in der Bulle „Veneranda sanctorum“ Papst Johannes XXII. Schließlich wird das Bild Augustins als Lehrer durch die literarische Tradition des Mittelalters, allerdings auch in Miniaturen und Skizzen bis hin zu Fresken in Kirchen und anderen ikonographischen Darstellungen als durchgängiges Motiv tradiert. In einer jüngeren Studie behauptet Dorothee Hansen gar, dass „das Bild des Ordenslehrers und die Allegorie des Wissens .... in den 40er Jahren des 14. Jahrhunderts (entstand). Ihr Thema ist nicht der fromme Mönch und Regelstifter, sondern der Intellektuelle Augustinus, der praeceptor der Gelehrsamkeit des Ordens.“54 Das Verständnis Augustins als Lehrer gehört zu den integralen Bestandteilen der Identität des sich nach ihm benennenden und inhaltlich 49
Sermo 439E, ed. Strassburg 1483: „Et diffinitur six: elemosina est opus quo datur aliquid indigneti ex compassione protuer deum. Et habet multas species scilicet septem corporales et septem spirituales. Elemosynae corporales, quae vocantur communiter opera misericordiae, continentur in hoc versu : visito, potu, cibo, redimo, tego, colligo, condo. Quae quia sunt satis communia, ideo eorum declarationi non insisto. Elemosynae vero spirituales sunt hae: docere ignorantem, consumere dubitanti, consolari tristem, corriere peccantem, remittere offendenti, portare onerosos et graves, et pro omnibus orare.“ Zitiert nach Saak, ebd. S. 366f. Anm. 71. 50 VF 1,5 (18,6-10). 51 Vgl. ERIC SAAK: Quilibet Christianus: Saints in Society in the Sermons of Jordan of Quedlinburg OESA, in: Beverly Mayne Kienzle u.a. (Hg.), Models of Holiness in Medieval Sermons, Louvain-la-Neuve 1996, S. 317–338. 52 Vgl. B ALBINO R ANO: San Agustín y su Orden en algunos Sermones de Agustinos del primer siglo (1244–1344), in: Analecta Augustiniana 53 (1900), S. 7–93: „Los sermones sobre S. Agustín de los citados Agustinos des primer siglo de la existencia de la Orden nos presentan bien a S.Agustín como Maestro de los miembros de la Orden.“ (92). 53 Zitiert nach SAAK: High Way (wie Anm. 47), S. 357 Anm. 35. 54 DOROTHEE HANSEN: Das Bild des Ordenslehrers und die Allegorie des Wissens. Ein gemaltes Programm der Augustiner, Berlin 1995, S. 39. Hansen geht so weit, die Entstehung weiterer Frescos mit der Abbildung von Lehrern anderer Orden auf das Vorbild der Augustiner zurückzuführen.
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auf ihn berufenden Ordens. Die Mendikantentheologie wird in der Gestalt des lehrenden Augustin eng verbunden mit der Ausgestaltung des sozialcaritativen Engagements. Der Novize sollte im Idealfall vom ersten Tag an mit dem Denken und der Spiritualität des lateinischen Kirchenvaters vertraut gemacht werden. Die curricula der Ordensstudia gestalten den in der legendarischen Gründung des Ordens durch Augustin als pater et praeceptor noster erhobenen Anspruch inhaltlich weiter aus. Zwei Säulen sollten es nach Aegidius von Rom sein, die das Gebäude der Augustinereremiten stützen: die Gründung theologischer Schulen und die strenge Observanz gegenüber der Regel. Diese in den Turbulenzen der 90er Jahre des 13. Jahrhunderts formulierte Behauptung behält ihre Gültigkeit, als etwa dreißig Jahre später Jordan von Quedlinburg Paris verlässt um als Lehrer an das Ordensstudium seiner Heimatprovinz zurückzukehren. Immer noch waren die Ordensoberen in ihrer Politik von der Sorge belastet, in den Streit zwischen imperium und sacerdotium, Papst und Kaiser, hineingezogen zu werden. Das General-Kapitel von Florenz formulierte im Jahre 1326 eine eindringliche Warnung davor, mit theologischen Stellungnahmen den Eindruck der Parteinahme zugunsten der kirchenkritischen Partei Ludwigs „des Bayern“ entstehen zu lassen. In einem Circularschreiben unterstreicht der Generalobere Wilhelm von Cremona die Bestimmungen des Kapitels und betont nach einer scharfen Kritik des laxen Ordenslebens die eigentliche Bestimmung der Augustinereremiten: den cultus divinus zu zelebrieren55. Diese Fassung der essentiellen Aufgaben eines Augustiners nimmt Jordan von Sachsen auf, konzentriert sie allerdings auf das Verständnis des Gottesdiensts als Gebet. In der Verbindung von Gottesdienst und Studium liegt für Jordan unter Berufung auf Hugo von St. Victor das Proprium geistlichen Lebens: sie wehrt dem Teufel und wirkt ewiges Leben56. Augustin ist dafür das Vorbild. Er hat in seiner Regel das Studium, insbesondere der Heiligen Schrift, als verbindlich angesehen57. Augustinus war der erste Professor des Ordens. Alle weiteren folgen seinen Spuren58. Ergänzt wird die bibelorientierte Wissenschaft durch Spiritualität, die sich freilich nicht menschlicher Disposition und Tätigkeit, sondern allein der göttlichen Erleuchtung verdankt: „Sed praeter has scientias, quae docentium verbis et studio lectionis acquiruntur, est alia scientia, scilicet spiritualis, quae non nisi per illuminationem divinam attingitur.“59 Nicht ganz zufällig wählt Jordan hier die Terminologie seines Ordensvorbildes Augus55
Analecta Augustiniana 4 (1911/12), 29f. VF 2,22 (243,23-33). 57 VF 2,22 (233,3-5; 235,64-66). 58 VF 2,22 (235, 69–236,72). 59 VF 2,22 (242,2-4). 56
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tins aus der berühmten Beschreibung der Vision von Ostia60. Die spirituelle Erleuchtung verdankt sich der Begegnung mit der ewigen Gottheit und hat durchaus mystischen Charakter61. Darauf zielt auch Jordans Bemerkung, die eine spirituelle Weisheit von dem durch intensives Studium eigenständig und -verantwortlich erworbenen Wissen unterscheidet. Dabei reproduziert Jordan nicht einfach den klassischen Antagonismus von vita activa und vita contemplativa in Analogie zu der Entgegensetzung von eruditio und scientia. Vielmehr gibt es für ihn eine stufenweise Ergänzung. Voraussetzung menschlichen Wissens ist zunächst die durch asketisches Leben erworbene Disposition. Sie besteht im Wesentlichen aus der Reinheit des Herzens, der Demut des Verstandes, der Frömmigkeit des Gebets und den aus dieser contemplativ-demütigen Grundhaltung folgenden Werken des Glaubens62. Das diese Disposition voraussetzende Geschenk der Erkenntnis des Heiligen Geistes verbindet Jordan in charakteristischer Weise mit der fünften Bitte des Vater-Unser. Die Erkenntnis des Glaubens ist die Voraussetzung für Rechtfertigung und Erlösung. Die geistliche Einsicht geht aber über diesen bloßen Nexus hinaus. Denn eine wirkliche Einsicht in das Herz der Schrift ist nur möglich mit der geistlichen Erkenntnis. Damit akzentuiert Jordan in vorsichtig antipelagianischer Weise den Erwerb geistlichen Wissens als gnadenhaft geschenkte Weisheit durch den Geist Gottes. So verbindet sich das Streben nach höherer Gotteserkenntnis mit der Akzentuierung des akademischen Studiums der Schrift, aber auch anderer Wissensgebiete in charakteristischer Weise mit dem Profil der Augustinereremiten. Thomas von Straßburg lehnt in seiner Sentenzenvorlesung 1335 in Paris die Unterscheidung von spekulativer und praktischer Wissenschaft (scientia speculativa seu practica) als für die Theologie unbrauchbar ab63. Das Ziel der Theologie, ihr ausgezeichneter Gegenstand und ihr Ende ist gerade nicht die cognitive Spekulation über die Göttlichen Wesenheiten, sondern die Liebe zum Schöpfer und Erlöser64. Während die Dominikaner unter 60
Vgl. Confessiones IX, 24 (CSEL 33, S. 217). Zur Mystik Augustins vgl. die Studien von P AUL HENRY und EPHRAEM HENDRIKX in: Carl Andresen (Hg.): Zum Augustin-Gespräch der Gegenwart I, Darmstadt 1975, 201–346. 62 VF 2,23 (242,4–245,80) unter ausdrücklicher Berufung auf Cassian coll.pat. 14,1 (954B–955A), SChr 54, S. 183f. Siehe dazu auch B ERNARD MCGINN: The Foundations of Mysticism. Origins to the Fifth Century, New York 1994, S. 218–227. 63 Vgl. zu dieser auf das dritte Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles zurückgehenden Unterscheidung im mittelalterlichen Schulbetrieb ULRICH KÖPF: Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie im 13. Jahrhundert, Tübingen 1974 (Beiträge zur historischen Theologie 49), bes. S. 198–205. 64 „divisio illa est insufficiens: quia sacra theologia non attingit suum objectum per solam cognitionem; nec per practicam directionem: sed principaliter, et nobilissime at61
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dem Einfluss der thomistischen Aristotelesrezeption vor allem die spekulative Gotteserkenntnis akzentuierten, betonten die Franziskaner Bonaventura folgend die praktische Dimension der Theologie. Ihr Verständnis als affektive Einsicht wird hingegen zum charakteristischen Merkmal des Theologie- und Selbstverständnisses der Augustinereremiten: „theologia nec speculativa nec practica proprie dici debet: sed affectiva“ lehrt der sonst Thomas durchaus nahestehende Vertreter der Via Antiqua Aegidius von Rom, der über weite Strecken der Geschichte der Augustiner als ihr Ordenslehrer verehrt und zitiert wurde. Wenn der fromme Augustinermönch seine Zelle verlässt und das Katheder besteigt, bringt er seine affectiones mit sich, denn die Theologie der Universität ist ebenso wie die des contemplativen Lebens von ihrem Ziel her bestimmt: „quod finis principaliter intentur in theologia viatoris non est credere, sed diligere, quia fides ad dilectionem dei finaliter ordinatur ... dilectio igitur erit finis principalis theologie non fides.“65 Gregor von Rimini diskutiert in seinem Sentenzenkommentar die Frage nach dem Unterschied der theologischen Erkenntnis des studierten Theologen und des frommen Laien. In Aufnahme der grundsätzlichen Unterscheidung von Klerikern und Laien betont er eine unterschiedliche Weite und Tiefe der religiösen Erkenntnis beider, betont aber die Gleichheit ihres Glaubens66. Die zusätzliche Erkenntnis des Theologen dient dazu, den Glauben des einfachen Glaubenden, mithin der Glauben der Kirche, zu verteidigen und gleichermaßen vor Angriffen von Außen (Teufel, Welt und Häresie) wie von Innen (Heterodoxe Abweichung, Irrtümer und Fehlschlüsse) zu bewahren. Eric Leland Saak kritisiert aufgrund seiner solennen Analyse der spätmittelalterlichen Augustinertheologie deren bisherige Interpretation im Rahmen vorgefasster Schultheologie: „These two strata (sc. theologia practica versus theologia speculativa) have most often formed the basis for historical analysis and when it comes to investigations of late medieval Augustinianism, the first has taken priority. The academic theology of Augustinians has been described, characterized, and ‚schooled‘, by attempts to squeeze it into predetermined holes within the late medieval theological grid. This has obscured a third level of theological knowledge, the middle tingit ipsum per supernam dilectionem .... illa divisio similiter ist insufficiens: quia finis theologiee, nec et cognitio veritatis,etc. sed est ipsa caritas“: Thomas Arg.: Sent Prol 4 (ed. Venedig 1564) fol 17ra. 65 Alphonsus Vargas: Prol 4 ed. Venedig 1490, p. 126,61-67. 66 „… quod magnus theologus non habet maiorem notitiam quam simplex fidelis, nec forte etiam maiorem fidem, saltem non est necessarium quod ita sit de his, scilicet quae simplex fidelis explicite credit, nihilominus tamen habet aliam notitiam, quam non habet fidelis, scilicet probandi et defendendi.“: Gregor von Rimini: Prol 1,4, in: Gregorii Ariminensis OESA Lectura Super Primum et Secundum Sententiarum, ed. A. Damasus Trapp OSA, Bd. 1, ed. Willigis Eckermann, Berlin 1981, S. 40–57.
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level existing between the simple faith of the simple believer and the formulations of the theological champions. This middle level, which can loosely be called the pastoral theology of the Augustinians, has not played a decisive role in interpretations of Augustine’s theological heritage.“67 Von Aegidius von Rom über Thomas von Straßburg, Gregor von Rimini, Hugolin von Orvieto, Jordan von Sachsen, bis hin zu Johann von Staupitz und Johann von Paltz scheint es eine charakteristisch ausgeformte, akzentuierte Theologie der Liebe Gottes gegeben zu haben, welche die Augustinertheologie des Spätmittelalters auszeichnet. Die Liebe Gottes manifestiert sich in Akten der Liebe, Güte und Barmherzigkeit. In der möglichen Dreiheit theologischen Arbeitens – Verteidigung des Glaubens, Lehren und Predigen, sowie einer schlichten Unterweisung des frommen Laien – konzentriert sich das wissenschaftliche Selbstverständnis der Augustiner auf den mittleren Bereich: Lehren und Predigen. So wurden die Mönche zunächst in den Ordensstudia auf diesen Bereich konzentriert hin vorbereitet, bevor sie zu ihren externen Weiterbildungen nach Paris und Oxford weiterziehen. Innerhalb des Ordens werden also die akademische Theologie in ihrem Orthodoxie wahrenden und den Glauben verteidigenden Akzent und die Ordenstheologie mit ihrer Vorbereitung von Predigt und Seelsorge zu einer charakteristischen Melange verbunden. Die Augustinertheologie der Liebe verbindet ethische Handlungsorientierung und -anweisung mit wissenschaftlicher Theologie (vita et scientia). Neben der bereits oben erwähnten Theologie sieht Jordan das Ideal der Augustinertheologie insbesondere in den Werken von Jakobus von Viterbo, Heinrich von Friemar, Augustinus von Ancona, Bartholomäus von Urbino, Albert von Padua und Herman Schildesche verwirklicht. Ihre faktische Ausgestaltung im Rahmen der Studienordnungen wird besonders ausführlich im Werk Jordans von Sachsen widergegeben. Darauf kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden. Wohl aber soll die von Eric Saak vorgenommene Zusammenfassung diesen Abschnitt abschließen: „Jordan’s theology was intimately entwined with the ideals of his Order. It was a theology, however, designed not simply for the brother in his cell, but for the Christian making his or her way back to God, the heavenly judge and the loving Father. It was a moral theology, that exhorted the believer to fight fiercely the forces of Satan.“68 Am Beispiel Jordans von Sachsen lässt sich die prinzipiell praktische Mendikantentheologie der Augustiner nachweisen. Sie zielte auf eine affektive Kenntnis Gottes die auf eine handlungsorientierende und sinnstiftende Einsicht in die Liebe zu Gott und zum Nächsten zielte. Seine Vorlesungen über das Matthäus-Evangelium können als hervorragende Verbindung zwischen der Kanzel und dem Katheder 67 68
SAAK: High Way (wie Anm. 47), S. 366. SAAK: High Way (wie Anm. 47), S. 465.
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interpretiert werden. Sie dienen nicht allein dazu, zukünftige Theologen für ihre Weiterbildung an der Universität und deren Gefährdungen vorzubereiten. Sie sind auch nicht nur ein Schritt oder eine Stufe auf dem größeren Weg oder der längeren Treppe sich Augustin verpflichtender Lehre. Sie repräsentieren vielmehr die Augustinertheologie par excellence. Bevor ein junger Kommentator der Sentenzen sich den Herausforderungen einer Disputation über hochspekulative Fragen stellt, hat er schon gelernt, was es bedeutet, ein heiligmäßiges Leben angefochten von Teufel, Welt und Hölle zu führen.
2.4. Tuus sum salvum me fac – Johann von Staupitz Der um 1465 in Motterwitz geborene sächsische Adlige69 gehörte zu den kurfürstlichen Beratern bei der Gründung der Landesuniverstität in Wittenberg und prägte als Dekan der theologischen Fakultät über lange Zeit deren Profil. Nach Studien in Leipzig und Köln war er 1490 in München dem Augustinereremitenorden beigetreten und las seit 1498 in Tübingen. Seit 1503 Dekan der theologischen Fakultät holte er zahlreiche Gelehrte nach Wittenberg, die der dortigen Universität ein unverwechselbares Gepräge als moderne Reformuniversität gab70. Zugleich wurde er am 7. Mai 1503 zum Nachfolger des verstorbenen Andreas Proles im Amt des Generalvikars der observanten Augustinereremiten gewählt. Staupitz setzte das Werk der Ordensreform im Sinne einer konsequenten Observanz fort, scheiterte aber schließlich mit seinem Plan einer Union der observanten Provinzen unter seiner Leitung. Wohl um sich ganz auf diese Aufgaben zu konzentrieren übergab Staupitz 1512 seinen Lehrstuhl an den frisch promovierten Ordensbruder Martin Luther. Nach dem denkwürdigen Kapitel in Heidelberg, anlässlich dessen Staupitz seinen nunmehr durch seine Thesen bekannt gewordenen Nachfolger im Amt des Professors für Bibelwissenschaften aus der Gehorsamspflicht entlässt, bleibt seine weitere Vita 69
Vgl. zu Leben und Werk von Staupitz WOLFGANG GÜNTHER: Johann von Staupitz, in: Erwin Iserloh (Hg.): Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 5, Münster 1988, S. 11–31; MARKUS WRIEDT: Gnade und Erwählung, Mainz 1991 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 141); ADOLAR ZUMKELLER: Johann von Staupitz und seine christliche Heilslehre, Würzburg 1994 (Cassiciacum 45); FRANZ P OSSET: The Front-Runner of the Catholic Reformation. The Life and Works of Johann von Staupitz, Ashgate 2003. 70 Vgl. MARKUS WRIEDT: Staupitz als Gründungsmitglied der Wittenberger Universität, in: Stefan Oehmig (Hg.): 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation, Weimar 1995, S. 173–186; DERS.: Die Anfänge der theologischen Fakultät Wittenberg 1502–1518, in: Irene Dingel und Günther Wartenberg (Hg.): Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Beiträge zur 500. Wiederkehr des Gründungsjahres der Leucorea, Leipzig 2002, S. 11–38.
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vom Schatten der „causa Lutheri“ nicht verschont. 1520 übergibt er sein Amt an Wenzeslaus Linck. Staupitz geht auf Einladung des Erzbischofs Matthäus Lang von Wellenburg nach Salzburg und tritt nach päpstlicher Dispens zum Ordenswechsel 1521 in den Benediktinerkonvent St. Peter ein. Als dessen Abt stirbt er 1524. Staupitz zählt zu den wohl integersten Gestalten der Reformationszeit, jedoch lässt sich ein geschlossenes theologisches Profil in seinen Schriften nicht erkennen. Sie zeichnen sich vielmehr durch einen für die spätmittelalterliche Theologie nicht untypischen Eklektizismus aus. Gleichwohl lassen sich Schwerpunkte des Interesses wahrnehmen, die eine Entwicklung vom scholastischen Thomismus etwa im Gefolge des Ordenstheologen Aegidius von Rom hin zu einer intensiveren Augustinrezeption, vor allem aber einer pointierten Mittelstellung der biblischen Autorität und ihrer Sprache erkennen. Die Durchsicht der Werke von Staupitz ergibt, dass seine Augustinrezeption nicht unter systematischen oder positionellen Gesichtspunkten erfolgt71. Weder zitiert er Schriften des Kirchenvaters aus einer bestimmten Schaffensperiode, noch zeichnet sich die Zitation durch charakteristische Merkmale aus. Aus der Verwendung einzelner Exemplare, die durch ihre Randbemerkungen eindeutig zu bestimmen sind, lässt sich jedoch erkennen, dass Staupitz seine Augustinkenntnis zu einem Teil durch die Lektüre von Originalschriften erworben hat. Gleichwohl wird die Vermittlung durch die scholastische Tradition und zeitgenössische Autoren nicht unterschätzt werden dürfen. Hier bieten die neueren Editionen eine wichtige Hilfe, insofern sie neben dem möglichen Augustinzitat parallele Überlieferungen nennen. Dabei zeigt sich, dass ein Großteil augustinischen Gedankengutes auch durch Quellen vermittelt wird, die durch spätere Systematisierungen mit der augustinischen Theologie nicht mehr in Verbindung gebracht werden: Thomas von Aquin, Aegidius Romanus, Johannes Gerson, Gabriel Biel und viele andere mehr. Eine erhebliche Bedeutung hat für die Augustinkenntnis von Staupitz schließlich seine Ordenszugehörigkeit. Neben der Lektüre Augustins wurde sein Werk auch in den Schriften anderer Ordentheologen bewahrt. In diesem Zusammenhang taucht das Problem einer oder mehrerer augustinischer Schulen des Spätmittelalters erneut auf. Insbesondere für die Zeit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und späterer Jahre wird es immer schwieriger, einen nach theologischen Lehrmeinungen ausdifferenzierten Lehrbetrieb an Universitäten und Generalstudia nachzuweisen72. 71
Vgl. MARKUS WRIEDT: Staupitz und Augustin, in: Auctoritas Patrum (wie Anm. 6), S. 227–258. 72 Vgl. dazu ISNARD W. FRANK: Die Bettelordensstudia im Gefüge des spätmittelalterlichen Universitätswesens, Stuttgart 1988 (Vorträge des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 83).
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Vor diesem Hintergrund wird es kaum möglich sein, Staupitz einer derartigen Strömung zuzuordnen oder ihn gar zum Exponenten einer bestimmten Richtung zu erklären. Schließlich lassen sich kaum thematische Schwerpunkte seiner Augustinlektüre, wie sie sich in seinen Schriften widerspiegelt, feststellen. Gleichwohl ist die antipelagianische Ausrichtung der Gnadenlehre von Staupitz und die exponierte Nennung Augustins – er zählt neben der Bibel zu den ganz wenigen namentlich erwähnten Autoritäten der Tradition – als Zeuge der evangelischen Wahrheit charakteristisch. In dieser dienenden Funktion tritt er allerdings deutlich hinter ausdrücklich erwähnte Schriftbelege zurück. Augustin bezeugt mithin – allerdings außerordentlich profiliert – jene Tradition, die Staupitz bei seiner Schriftauslegung stützend hinter sich weiß. In dieser Funktion muss sich allerdings sogar der Kirchenvater des Abendlandes manche Uminterpretation gefallen lassen. Seine Aussagen werden mit anderen, zumeist biblischen Zitatsplittern durchsetzt oder im Sinne der Intention von Staupitz paraphrasiert. Die mangelnde Kontexttreue von Staupitz ist freilich nicht ihm allein anzulasten, sondern zum Teil Folge der bereits im Mittelalter verfremdeten Rezeption. So ist die theologische Originalität von Staupitz durch seine Rezeption Augustins nicht hinreichend erklärt. Der sächsische Generalvikar zitiert nicht mehr und nicht außergewöhnlicher als ein großer Teil der spätmittelalterlichen, insbesondere auch der scholastischen Theologen. Sein theologisches Profil muss – wenn überhaupt – im Kontext seines seelsorgerlichen Wirkens gesucht werden, von dem die Predigten und Traktate nur einen, freilich nicht unerheblichen Teil darstellen. Charakteristisch ist, dass bei allen, die ihre theologische Umorientierung Staupitz verdanken, nur Karlstadt den konkreten Hinweis auf Augustin erwähnt. Luther hingegen betont, dass er das Ganze der Theologie, die doctrina, Staupitz verdanke73. Und damit meint Luther eben nicht eine bestimmte augustinische Position, sondern das „Licht des Evangelium“74. Diese Einschätzung konnte Staupitz, wie sein Antwortschreiben vermuten lässt, voll und ganz akzep-
73
„Ich hab all mein ding von Doctor Staupiz; der hatt mir occasionem geben.“ (WA.TR 1, S. 86,6-7, Nr. 173 aus dem Februar oder März 1532); vgl. weiter WA.TR 1, S. 245,10, Nr. 526 aus dem Frühjahr 1523, den Brief an Kurfürst Johann Friedrich vom 27. März 1545: WA.B 11, S. 67,5-8, Nr. 4088. 74 So schreibt er an Staupitz: „Sed nos certe etiamsi desivimus tibi grati ac placidi esse, tamen tui non decet esse immemores et ingratos, per quem primum coepit euangelii lux de tenebris splendescere in cordibus nostris.“ Brief vom 17. Sept. 1523: WA.B 3, S. 155,5–156,1, Nr. 659; vgl. dazu auch WA.TR 3, S. 598,7–599,7, Nr. 3767 vom 22. Februar 1538; WA.TR 5, S. 75,20–76,9, Nr. 5346 (Sommer 1540); WA.TR 5, S. 99,1218, Nr. 5374 (Sommer 1540).
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tieren75. Mithin ist es die schriftbezogene Auslegung und Seelsorge, die Staupitz auszeichnet, und die er unter anderem durch die Autorität Augustins gestützt bzw. besonders pointiert formuliert sieht. Die Rezeption des Kirchenvaters steht ganz im Dienste einer angemessenen Formulierung des die Liebe Gottes in tätiger Nächstenliebe bezeugenden Glaubens. Das verbindet Staupitz, auch wegen seiner integeren und glaubwürdigen Lebensweise, mit dem oben auch für Jordan von Sachsen und andere skizzierten Profil der Ordenstheologie der Augustiner als einer akzentuierten Theologie der barmherzigen Liebe Gottes. Zugleich machte der sächsische Adlige damit (Theologie-) Geschichte. Stellvertretend für viele Hörer seines Ordensvorgesetzten konnte Luther im Rückblick sagen: „haesit hoc verbum tuum in me sicut sagitta potentis acuta.“76
3. Ausblick: Martin Luther und der Augustinismus des Spätmittelalters Luther hat den Augustinismus des Spätmittelalters wenn auch nicht ausschließlich, so doch ganz wesentlich durch seinen Orden, die observanten Augustinereremiten kennen gelernt und übernommen. Eine schwerlich zu überschätzende Rolle spielte dabei der Generalvikar und Luther eng verbundene sächsische Adlige, Johann von Staupitz. Seine charakteristische Umprägung des spätmittelalterlichen Erbes einer Augustin verbundenen Theologie war für Luthers weiteren Lebensweg von schlechterdings zentraler Bedeutung. Dass Staupitz überdies eine wichtige Rolle bei der Vermittlung des antipelagianischen Augustin nach Wittenberg spielte, steht außer Zweifel. In seinem Vorwort zu der Kommentierung des für die Reformation wichtigen Werkes „de spiritu et littera“ lobt Karlstadt seinen Vorgänger im Amt des Dekans der theologischen Fakultät, Johann von Staupitz, ausdrücklich für dessen Hinweise auf diese Schrift, deren Interpretation weitreichende Folgen nicht nur für die Reformation, sondern vor allem für ihre spätere Ausdifferenzierung haben sollte77. Ob und wieweit Staupitz dabei ein charakteristischer Repräsentant einer spezifischen Augustininterpretation seines Ordens war, lässt sich angesichts der Vielfalt 75
In seinem Antwortschreiben vom 1. April 1524 schreibt Staupitz: „... qui olim praecursor extiti sanctae evangelicae doctrinae ...“ (WA.B 3, S. 264,34f.). 76 WA 1, S. 525,15. 77 ERNST KÄHLER: Karlstadt und Augustin. Der Kommentar des Andreas Bodenstein von Karlstadt zu Augustins Schrift De Spiritu et Litera. Einführung und Text von Ernst Kähler, Halle 1952; zu Karlstadt vgl. zusammenfassend: SIGRID LOOSS und MARKUS MATTHIAS (Hg.): Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486–1541). Ein Theologe der frühen Reformation, Wittenberg 1998.
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und teilweisen Divergenz der Augustinrezeption innerhalb der Augustinereremiten nicht in der wünschenswerten Eindeutigkeit feststellen. Sicherlich aber fühlte sich Staupitz in der Tradition seines Ordens wie sich mit Verweisen auf Gregor von Rimini und Jordan von Sachsen zeigen lässt. Lässt sich vor diesem Hintergrund von einer Via Augustini sprechen? Im Sinne einer präzis inhaltlich bestimmten Lehrweise in Analogie zum Verständnis der im scholastischen Lehrbetrieb des Spätmittelalters üblich gewordenen Methoden- und Lehrbestimmung sicherlich nicht. Wie bereits gesagt, spiegelt die Theologie der Augustiner die gesamte Bandbreite und Vielfalt der Augustinrezeption des Spätmittelalters wider. Wohl nur in der charakteristischen Verbindung von Lehre und Seelsorge lässt sich eine Profilierung erkennen, die innerhalb der Entwicklung der Augustinereremiten stärker akzentuiert worden ist, als in anderen Zusammenhängen. Das mag mit der Gründungsgeschichte, womöglich aber auch der späteren Ausdifferenzierung der Mendikantenbewegung zusammenhängen, in deren Verlauf die Augustiner mit der Wahrnehmung der Lehre an den entstehenden und neu gegründeten Universitäten zunächst in exklusiver Weise betraut worden sind. Das bleibt nicht ohne Folgen für die dann in den Universitätsstätten geübte Seelsorge und Ausgestaltung der tätigen Werke der Nächstenliebe. Gleichwohl – das ist einschränkend hinzuzufügen – bleiben auch die anderen Bettelorden der Universität nicht fern und entwickeln parallel eigenständige Profile der Verbindung von praktischer Seelsorge und akademischer Theologie. Für jeden Vertreter einer systematischtheologische Präzisierung des eklektischen Augustinismus innerhalb des Augustinerordens lässt sich leicht ein Gegenbeispiel mit anderen dogmatischen Fokussierungen anführen. Insofern greift eine Entwicklung innerhalb der Augustinereremiten möglicherweise eher und breiter Raum, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts das scholastische Ausbildungswesen insgesamt erfasst: die Aufgabe der klassischen Schul- und Wege-Theologie zugunsten einer sehr viel stärker kontextbezogenen Artikulation theologischer Grundüberzeugungen im Rückgriff auf die theologisch-kirchliche Tradition. War es diese Form der Augustinrezeption, die Luther auf seinen weiteren Weg zur Reformation leitete? Erneut ist mit einem entschiedenen „Ja“ und „Nein“ zu antworten. Ohne Zweifel hat die Augustinrezeption von Staupitz Luther für die Wahrnehmung von dessen antipelagianischer Gnaden- und Rechtfertigungslehre sensibilisiert. Ebenso zweifelsfrei kann heute aber auch darauf verwiesen werden, dass zahlreiche andere theologische Zeitströmungen für die Entwicklung des theologischen Profils des jungen Luther von gleichberechtigter Bedeutung waren: die Entdeckung der mystischen Theologie etwa eines Johannes Tauler oder der Theologia
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Deutsch78, die in Erfurt in signifikanter Konzentration vorhandenen humanistischen Bildungs- und Erkenntnisansätze sowie deren das klassische Erbe betonende Aussagen79, eine radikale Aristoteles- und damit verbunden auch Scholastikkritik80, sowie in nicht unerheblichem Maß das gesellschaftliche wie kirchliche Sentiment zu Beginn des 16. Jahrhunderts, das üblicherweise mit dem Reformbedürfnis von Kirche und Gesellschaft an Haupt und Gliedern umschrieben wird. So ist die Augustinrezeption der Augustiner im Orden im Allgemeinen und in Erfurt im Besonderen sicherlich nicht im Sinne eines monokausalen Nexus für Luthers weitere Entwicklung verantwortlich zu machen. Wohl aber war Staupitz für Luther ein, wenn nicht phasenweise derjenige Wegbegleiter, der ihm das Licht des Evangeliums leuchten ließ und damit entscheidende reformatorische Einsichten ermöglichte. Ob das intentional so geplant war, mag füglich bezweifelt werden. Wohl aber lässt die Position von Staupitz das Denken Luthers systematisch-inhaltlich, aber eben auch überzeugend seelsorgerlich-pastoral zu. Diese prinzipielle Offenheit mag keine Kategorie der theologiegeschichtlichen Analyse sein. Ihr ist es freilich zu verdanken, dass Luther unbeirrt seinen Weg fortsetzte, auf dem ihm der spätmittelalterliche Augustiner dann schließlich nicht mehr zu folgen vermochte.
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MARKUS WRIEDT: Luther und die Mystik, in: Änne Bäumer-Schleinkofer (Hg.): Hildegard von Bingen in ihrem Umfeld – Mystik und Visionsformen in Mittelalter und früher Neuzeit. Katholizismus und Protestantismus im Dialog, Würzburg 2001, S. 249– 274. 79 HELMAR J UNGHANS: Der junge Luther und die Humanisten, Weimar 1984. 80 Vgl. ZUMKELLER: Augustinerschule (wie Anm. 28); DERS.: Die Lehre des Erfurter Augustinertheologen Johannes von Dorsten (gest. 1481) über Urstand und Erbsünde, in: Aus Reformation und Gegenreformation. Festschrift für Theobald Freudenberger, Würzburg 1974, S. 43–74; DERS.: Die Lehre des Erfurter Augustinertheologen Johannes von Dorsten (gest. 1481) über Gnade, Rechtfertigung und Verdienst, in: Theologie und Philosophie 53 (1978), S. 27–64, 179–219; GRAHAM W HITE: Luther as Nominalist: A study of the logical methods used in Martin Luther’s diputations in the light of their medieval background, Helsinki 1994; THEO DIETER: Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin 2001.
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Askese, Brüderlichkeit und Wissenschaft Die Ideale der Erfurter Augustiner-Eremiten und ihre Bemühungen um eine innovative Umsetzung Nicht nur der bedeutende Erfurter Augustinerkonvent1 suchte die monastischen Ideale von Askese, Brüderlichkeit und Wissenschaft zu verwirklichen. Diese Ideale waren auch Zielvorstellungen aller Männer-Klöster Erfurts um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Aber am Ende des 15. Jahrhunderts zeigten sich deutlich Krisen im Erfurter Ordensleben. Zunächst sind die Benediktiner zu nennen, deren Abt Johannes Hottenbach nur mühsam den alten Ordensgeist aufrechterhalten konnte. Bei den Karthäusern wurde die strenge Ordensregel nicht mehr eingehalten. Die traditionelle Funktion der Äbte des Schottenklosters als Konservatoren der Universität war von der Hochschule wegen etlicher Versäumnisse nicht mehr erwünscht. Bei den Dominikanern setzte der Ordensgeneral in Rom den eigenen Professor an der Universität wegen schlechter Amtsführung ab. Die franziskanische Ordensprofessur an der Alma mater war vielleicht sogar zwischen 1484 und 1519 zeitweise unbesetzt. Der Prior der Serviten hatte sich in der Klosterbibliothek mit Büchern bedient, um seine Über1
Zum Erfurter Konvent vgl. zuletzt J OSEF P ILVOUSEK und KLAUS-B ERNWARD SPRINDie Erfurter Augustiner-Eremiten – eine evangelische „Brüdergemeinde“ vor und mit Luther (1266–1560), in: Lothar Schmelz und Michael Ludscheidt (Hg.): Luthers Erfurter Kloster. Das Augustinerkloster im Spannungsfeld von monastischer Tradition und protestantischem Geist, Erfurt 2005, S. 37–57; ADOLAR ZUMKELLER: Geschichte des Erfurter Augustinerklosters vom Ausgang des Mittelalters bis zur Säkularisation im Jahre 1828, in: Augustiniana 55 (2005), S. 321–355 [dieser erste Teil reicht bis zum Pfaffensturm 1521]. – Zum Orden vgl. u.a. Egon Gindele u.a. (Hg.): Bibliographie zur Geschichte und Theologie des Augustiner-Eremitenordens bis zum Beginn der Reformation (Spätmittelalter und Reformation 1), Berlin 1976; ADALBERO KUNZELMANN: Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten I–V, Würzburg 1969–1974; DAVID GUTIÉRREZ: Geschichte des Augustinerordens I/2: Die Augustiner im Spätmittelalter 1357–1517, Würzburg 1981; ADOLAR ZUMKELLER: Art. Augustiner-Eremiten, in: TRE 4 (1979), S. 728– 739; KASPAR ELM: Art. Augustiner-Eremiten, in: LMA 1 (1980), Sp. 1220f.; W ILLIGIS ECKERMANN: Art. Augustiner-Eremiten, in: LThK3 1 (1993), Sp. 1233–1237; ISNARD W. FRANK: Lexikon des Mönchtums und der Orden, Stuttgart 2005, S. 62f. GER :
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fahrt ins Hl. Land finanzieren zu können2. Diese wenigen Beispiele sind kennzeichnend für den Zustand der meisten Erfurter Klöster. Martin Luthers spätere Kritik vor allem an den Franziskanern und Dominikanern könnte durchaus auch diesen historischen Hintergrund haben3. Eine Ausnahme in diesem Zerfall des Ordensgedankens machte in Erfurt der Augustinereremitenorden4. Dieses klassische Bild einer von den Observanten und den Reformatoren gepflegten These eines vorreformatorischen Niedergangs ist für Erfurt zu bestätigen. In einigen Fällen sind jedoch kleinere Korrekturen anzubringen. Denn für die im nichtobservanten Sinne nach den martinianischen Konstitutionen reformierten Franziskaner gilt aus dieser Zeit: „So sind die Barfüßerschulen Rostock, Greifswald, Wittenberg, Frankfurt sämtlich von der Erfurter Schule her grundgelegt worden, wie auch Leipzig mehrfach von dort her gestützt wurde. Freilich fehlten die Kräfte, welche so zersplittert wurden, schließlich in Erfurt selber.“5 Der 1473 in Erfurt promovierte Nicolaus Bucholt von Lübeck lehrte ab 1476 als Professor der Universität Greifswald und Regens des dortigen franziskanischen Studiums6. Der Erfurter Studienregens Christian Borxleben wirkte 1471, 1474 und 1480 an der Universität Leipzig bei akademischen Akten wie Promotionen mit und ebenso der 1482 in Erfurt von Borxleben zum Doktor der Theologie promovierte Johannes Heymstete (gest. 1504)7. Der seit 1498 amtierende Provinzialminister Heymstete, der 1504 starb und in der Erfurter Barfüßerkirche beerdigt wurde, war 1502 bei der Eröffnung der Wittenberger Universität anwesend8. Der 1491 zusammen mit Provinzial Ludwig von Siegen in Erfurt promovierte Paulus Carnificis von Leipzig wurde 1503 Theologieprofessor in Wittenberg; 1504 amtierte er als Dekan der theolo2
Vgl. ERICH K LEINEIDAM: Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt II: Spätscholastik, Humanismus und Reformation 1461– 1521, Leipzig 21992 (Erfurter Theologische Studien 22), S. 109–111. Zu J. Heymstete als Inhaber des franziskanischen Lehrstuhl in den Jahren 1485–1490 vgl. J OHANNES BREDENHALS: Johannes Heymstede. Provinzialminister 1498–1504, in: Dieter Berg (Hg.): Management und Minoritas. Lebensbilder Sächsischer Franziskanerprovinziale vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, Kevelaer 2003, S. 63–87: hier S. 66; zu Johannes Schambach als Magister regens am franziskanischen Generalstudium vgl. BERND SCHMIES: Ludwig Henning. Provinzialminister 1507 bis 1515, in: ebd. S. 89–143: hier S. 99. 3 Tischreden oder Colloquia Doct. Mart. Luthers, Eisleben 1566 (Nachdruck der Originalausgabe der Universitätsbibliothek Leipzig 1981), S. 369v–370r, 371v–372r. 4 KLEINEIDAM: Universitas II (wie Anm. 2), S. 111. 5 LUDGER MEIER: Die Barfüßerschule zu Erfurt, Münster 1958 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 38/2), S. 38. 6 Vgl. KLEINEIDAM: Universitas II, S. 277. 7 Vgl. KLEINEIDAM: Universitas II, S. 13; zur Person vgl. ebd. S. 281f. Zu Borxleben in Leipzig vgl. MEIER: Barfüßerschule (wie Anm. 5), S. 32. 8 Vgl. KLEINEIDAM: Universitas II, S. 281f.
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gischen Fakultät.9 Der Erfurter Bakkalar Johannes Schambach OFM wurde 1507 zusammen mit Georg Volprecht als erster Franziskaner an der jungen Universität Frankfurt an der Oder immatrikuliert und dort 1508 zum Doktor der Theologie promoviert. Er war der erste franziskanische „Magister regens“ an der 1506 begründeten Universität, wo zwei Lehrstühle von Franziskanern besetzt werden sollten10. Folglich wären für den moralischen Niedergang noch andere Kräfte und Motive in den Kommunitäten in den Blick zu nehmen. Dennoch gilt: das Erfurter Augustiner-Kloster hat wohl am stärksten die Observanz gepflegt und darf als das „strengste Kloster“ Erfurts am Vorabend der Reformation gelten. Die daraus resultierende Anziehungskraft der Augustiner motivierte offenbar auch zahlreiche Wohltäter. So war der Pleban Hermann in Hochdorf schon längere Zeit ein großer Wohltäter des Ordens gewesen. 1340 hatte er den Augustinern einen Hof geschenkt, den er von den Johannitern gekauft hatte. In der Folgezeit übte er das Amt eines „Vormunds“ des Augustinerklosters aus. Er war also über das Leben im Kloster bestens informiert. Am 9. Mai 1349 schenkte er ihnen zwei Gulden und begründete dies mit ihrem reinen Leben und dem vorbildlichen Lebenswandel11. Die Augustiner selbst bezeichneten ihre Niederlassung als Zusammenschluss (Konvent) von Brüdern. Ihnen ging es um lebendige Brüderlichkeit. Diese „Brüdergemeinde“ war Bestandteil des geistlichen Lebens in Erfurt und prägte dieses mit im Sinne der von Bernd Moeller konstatierten „sakralen Gemeinschaft“12 in der Stadt. Auch in der Tradition und geistlichen Literatur des Ordens wurde das brüderliche Gemeinschaftsideal betont13. Zu be9
Vgl. KLEINEIDAM: Universitas II, S. 288; MEIER: Barfüßerschule, S. 36. Vgl. MICHAEL HÖHLE: Universität und Reformation. Die Universität Frankfurt (Oder) von 1506 bis 1550, Köln 2002 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 25), S. 44f., 138f.; MEIER: Barfüßerschule, S. 37f. 11 Vgl. ADALBERO KUNZELMANN: Die Bedeutung des alten Erfurter Augustinerklosters, in: Cornelius P. Mayer und Willigis Eckermann (Hg.): Scientia Augustiniana. Studien über Augustinus, den Augustinismus und den Augustinerorden (Festschrift Adolar Zumkeller OSA), Würzburg 1975 (Cassiciacum 30), S. 609–629: hier S. 625. 12 „Wir erfassen einen Wesenszug der spätmittelalterlichen Stadtgemeinde, wenn wir sie als eine sakrale Gemeinschaft bezeichnen.“ BERND MOELLER: Reichsstadt und Reformation. Bearb. Neuausgabe, Berlin 1987, S. 12. 13 Für die in der Augustinusregel thematisierte innere und äußere Einheit vgl. MARKUS E NDERS: Die Regel des heiligen Augustinus: Ihr gedanklicher Aufbau und ihre Lehre vom Prinzip monastischen Lebens, in: Wissenschaft und Weisheit 65 (2002), S. 24–61: hier S. 25–27, 30f. zur gegenseitigen Bruderliebe als vermittelter Gottesliebe; S. 39–42 zur „correctio fraterna“; S. 47f. zum Verhalten der Brüder untereinander; S. 49–52 zum Umgang mit Zwist und Bruderhass. Aus der Tradition sei das die Augustinusregel kommentierende wichtige Werk „Liber Vitasfratrum“ des auch Erfurt verbundenen Jordan von Sachsen herausgegriffen. Vgl. Pars I, Caput 20 „Quam grave sit fratribus ab hac sancta communione retrocedere“ in J ORDANUS DE SAXONIA: Liber Vitasfratrum, ed. Ru10
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denken ist allerdings, dass die Mendikantenklöster nicht nur Seelsorgeeinrichtungen in der Stadt und für die Stadt waren, sondern gleichzeitig auch Bereiche für sich waren, also eine „individuelle“ Kommunität und Entität, die durchaus eigene Interessen verfolgte14. Der junge Magister artium Martin Luther trat am 17. Juli 1505 in das Kloster der Augustinereremiten ein15. Warum sich Luther gerade für diesen Konvent entschied, vermerkte er in keiner seiner Schriften. Die Antwort, dass er in diesem Kloster am ehesten das Ziel zu erhoffen trachte, nach dem er strebte – die evangelische Vollkommenheit – ist Konsens: „Ich habe das Mönchsgelübde nicht um des Bauches, sondern um meiner Seligkeit willen abgelegt. Unsere Regeln habe ich immer streng gehalten.“16 Gerade mit der monastischen Binnensicht, dem Drang nach Erfüllung bzw. gar Übererfüllung der Observanzen und Bußübungen, und nicht mit dem seelsorglichen Engagement sollte sich das bekannteste Mitglied des Klosters, Martin Luther, intensiv auseinandersetzen17. Allerdings ist damit wenig über eine mögliche geistliche und geistige Anziehungskraft dieses Konvents ausgesagt. In zwei Abschnitten soll der Versuch unternommen werden, sich einer möglichen Antwort anzunähern.
1. Die Attraktivität des Erfurter Augustinerkonvents In der Geschichte des Ordenswesens ist es ein übliches Phänomen, dass nach einer Anfangs- und Ausbreitungsgeschichte der Elan eines neugegründeten Ordens erschlafft und einer normalen Alltäglichkeit weicht. Mit dolphus Arbesmann et Winfridus Hümpfner, New York 1943 (Cassiciacum 1), S. 70–72. Ebenso Pars II, caput 1: „Quomodo debeat esse fratribus cor unum et anima una in Deo“ Ebd. S. 75–78. Zum Werk Jordans vgl. ERIC L. S AAK: High Way to Heaven: The Augustinian Platform between Reform and Reformation, 1292–1524, Leiden 2002 (Studies in medieval and reformation thought 89), S. 267–315. – Zur Augustinusregel in den verschiedensten Orden vgl. GERT MELVILLE und ANNE MÜLLER (Hg.): Regula Sancti Augustini. Normative Grundlage differenter Verbände im Mittelalter, Pasing 2002 (Publikationen der Akademie der Augustiner-Chorherren von Windesheim 3); zum Aufbau der Regel vgl. die genannte Arbeit von Enders. 14 MARTIN B RECHT: Martin Luther, Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 21983, S. 36. 15 Zu Luthers „Lebenswende 1505“ vgl. REINHARD SCHWARZ: Martin Luther (1483– 1546), in: Dietmar von der Pfordten (Hg.): Große Denker Erfurts und der Erfurter Universität, Göttingen 2002, S. 164–183: hier S. 172–175; ANDREAS LINDNER: Martin Luther im Augustinerkloster, in: Schmelz/Ludscheidt, Luthers Erfurter Kloster (wie Anm. 1), S. 59–74. 16 WA.TR 4, S. 303 (Nr. 4414): „Quamvis ego enim non ventris, sed salutis meae causa vovebam et rigidissime servabam nostra statuta.“ 17 Vgl. z.B. BRECHT: Martin Luther (wie Anm. 14), S. 70–77.
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neuen Ordensgründungen suchte man die ursprünglichen Intentionen fortzusetzen oder zu verbessern; doch häufiger gibt es auch Erneuerungsbewegungen innerhalb der bestehenden Orden. Das 15. wie das 16. Jahrhundert waren durch das Ringen verschiedener Orden um die Observanz gekennzeichnet18. Der Begriff Observanz (von lat. observare: bewahren) bezeichnet den Rückgriff auf die Ursprünge des Ordensideals und die Abschaffung der mittlerweile eingetretenen Missstände. Die Augustinus-Regel schärfte das brüderliche Zusammenleben in Liebe in besonderer Weise ein19. Dazu gehörte auch die in der Regel Augustins festgeschriebene Brüderlichkeit20. Ähnlich wie die Benedikt-Regel war auch die Augustinus-Regel als spiritueller Grundtext offen formuliert; trotz der Einschärfung des neutestamentlichen Ideals von Gemeinschaftsbesitz ist von arm und reich auch im Kloster die Rede sowie von Vermögen, von dem (nur) ein Teil der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt wird21. Bei den Augustiner-Eremiten war die Frage des Privatbesitzes nie geklärt worden. Dies lud zu laxer Auslegung ein. Auch bei Klausur und dem Umgang mit Frauen sowie bei den gemeinsamen Gottesdiensten und Mahlzeiten lockerten sich die Normen der Brüdergemeinde in späteren Zeiten. Die von der Observanzbewegung beabsichtigte Rückkehr zum ursprünglichen Ideal traf sich mit dem Reformanliegen der Gesamtkirche. Während die Bemühungen um Kirchenreform weitgehend scheiterten, suchten die Orden den Prozess der Selbsterneuerung zu verwirklichen. Ein Aufschwung erfolgte besonders durch die die vorgegebenen Provinzverbände sprengenden Reformkongregationen22. Innerhalb der vier deutschen Provinzen nahm die Observantenkongregation der AugustinerEremiten in der thüringisch-sächsischen Provinz (Saxonia) ihren Anfang, die zwischen 1432 und 1524 viele ausgezeichnete Ordensleute besaß. Auch
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Vgl. allgemein z.B. KASPAR ELM (Hg.): Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, Berlin 1989 (Berliner Historische Studien 14, Ordensstudien 6), sowie für die Augustinereremiten den Beitrag von FRANCIS X. MARTIN: The Augustinian Observant Movement, ebd. S. 325–345. 19 Zu Beginn heißt es: „Das erste Ziel eures gemeinschaftlichen Lebens ist, in Eintracht zusammenzuwohnen und ein Herz und eine Seele in Gott zu haben.“ Die Regel des Heiligen Augustinus, Erstes Kapitel, übertragen von Winfried Hümpfner, mit Einführungen von Winfried Hümpfner und Adolar Zumkeller, in: Hans Urs von Balthasar (Hg.): Die Großen Ordensregeln, Leipzig 1976, S. 173–219: hier S. 206. 20 Mehrfach erwähnt Augustinus ausdrücklich (Mit-) Brüder; vgl. ebd. Siebentes Kapitel, 212: „Wenn Dein Bruder an seinem Körper eine Wunde hätte…“. 21 Vgl. ebd. Erstes Kapitel, 206f. Zum Armutsgebot und dem Verzicht auf Privateigentum vgl. auch ENDERS: Regel (wie Anm. 13), S. 27–30. 22 Vgl. FRANK: Lexikon (wie Anm. 1), S. 62.
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Erfurt schloss sich der Reformbewegung an23. Es war einer der ersten Konvente, die die Observanz annehmen sollten. 1446 billigten die Väter der Convocatio (Zusammenkunft, kleines Provinzkapitel) in Gotha diese Lebensweise für den Erfurter Brüderkonvent. Sie wurde auch vom Provinzkapitel in Einbeck 1447 bestätigt24; der Erfurter Konvent sollte „für alle Zeiten“ an der Observanz festhalten. Doch scheint dies auf Schwierigkeiten gestoßen zu sein, da die Reform bis 1452 wiederholt eingeführt wurde und es auch hieß, der Studienregens und der Prior sollten darauf achten, dass die Reform nicht nur scheinbar erfolge25. Somit hatte die verordnete Reform für Erfurt vermutlich keinen Erfolg. Ab April 1461–1467 und von 1473–1503 war Andreas Proles Vikar der Kongregation und der eigentliche Motor der Observanzbewegung. Proles nun gelang 1473 die Eingliederung von Erfurt in die Observantenkongregation, und der Erfurter Konvent nahm seitdem in ihr eine bedeutende Position ein26. Das strengere Ordensleben der Observanz hatte eine große Ausstrahlung und führte zu zahlreichen Klostereintritten. Im Augustinerkloster lebten im Jahre 1488 67 Fratres27; 1508 waren 52 Brüder nachweisbar28. Als Zeichen der Attraktivität darf auch gelten, dass fortlaufend Eintritte von Studenten und Magistern zu verzeichnen waren. Ende des 15. Jahrhunderts verfügte die Kommunität über drei Doktoren der Theologie in ihrem Erfurter Konvent, die alle drei als Weltstudenten zum magister artium promoviert worden waren: Johannes von Paltz, Johannes Nathin29 und Johannes Drolmeier30 und schließlich kam 1512 Professor Bartholomäus von Usingen hinzu31. Die Observanz führte außerdem zu neuem seelsorglichem Impetus, so zur Gründung von drei Bruderschaften 150232. Hinzu kam eine rege Bautätig23
Vgl. zur Observantenkongregation GUTIÉRREZ: Geschichte I/2 (wie Anm. 1), S. 58, 94–98. 24 Vgl. KUNZELMANN: Bedeutung (wie Anm. 11), S. 625. 25 Vgl. ALFRED OVERMANN (Bearb.): Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster, III: Die Urkunden des Augustiner-Eremitenklosters (1331–1565), Magdeburg 1934 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, N.R. 16), S. 145ff. Nr. 208 (1450), S. 150 Nr. 213 (1451), S. 153 Nr. 218 (1452) mit dem Hinweis „… conventu reformacioni, ut sepius iam factum est …“ 26 Vgl. KLEINEIDAM: Universitas II (wie Anm. 2), S. 111. 27 Vgl. OVERMANN: Urkundenbuch III (wie Anm. 25), S. 214f. Nr. 311. Vgl. auch KUNZELMANN: Bedeutung (wie Anm. 11), S. 624, 618. 28 Vgl. KUNZELMANN: Bedeutung, S. 624f. 29 Vgl. ebd. S. 619f. 30 Vgl. KLEINEIDAM: Universitas II (wie Anm. 2), S. 111. 31 Vgl. KUNZELMANN: Geschichte V (wie Anm. 1), S. 518; Ders.: Bedeutung (wie Anm. 11), S. 622; REMIGIUS B ÄUMER: Bartholomäus von Usingen OESA (ca. 1464– 1532), in: Erwin Iserloh (Hg.): Katholische Theologen der Reformationszeit II, Münster 1985 (Katholisches Leben und Kirchenreform 45), S. 27–37: hier S. 28f. 32 Vgl. OVERMANN: Urkundenbuch III (wie Anm. 25), S. 239f. Nr. 351.
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keit, 1474 das „Alte“ und 1482 das „Neue Priorat“ (1821 abgerissen). Das neu erweckte wissenschaftliche Interesse dokumentierte sich in dem nach 1500 errichteten, 1516 vollendeten und 1518 ausgestatteten zweigeschossigen Bibliotheksgebäude, das durch einen Gang von den Kreuzganggebäuden aus erreichbar war33. Festzuhalten ist, dass der gesamte Augustinerorden durch die Observanz gespalten war. Das der strengen Observanz angehörende Erfurter Kloster – weil es auch Wohnort des Generalvikars Andreas Proles war – wurde so Ausgangspunkt mancher Unbrüderlichkeit und Hartherzigkeit. Mit Härte wollte man den Widerstand nachlässiger Mönche brechen. Dieses rücksichtslose Vorgehen gegen die eigenen Ordensbrüder, die für den Orden nicht gut genug schienen, schuf zunehmend ein Klima der Angst vor dieser Observanz. Wichtiges und namensgebendes Element eines jeden Bettelordens und damit auch der Augustiner-Eremiten war die gemeinsam gelebte Armut, die sich in der Notwendigkeit der Existenzsicherung durch Seelsorge und (organisierten) Bettel äußerte34. Da einige Eremitengemeinschaften vor dem Zusammenschluss Besitz hatten, wurde 1256 vom Papst die Bitte um ewigen Besitzverzicht in großzügiger Weise gelöst, dass er „nicht zwinge, Besitz zu empfangen oder zu haben“35. Dies ließ einigen Raum für Interpretationen offen. So war bei den Erfurter Augustiner-Eremiten nie geregelt worden, ob eigener Besitz erlaubt sei. Sie wollten zwar die strenge Armut einhalten, doch hatten sie sich von Anfang an gegen das Erbetteln von Almosen ausgesprochen. Der Erfurter Professor Heinrich von Friemar der Jüngere hatte völlig unproblematisch Privateigentum, denn er überließ zu Bauzwecken seinem Kloster am 24. Juli 1350 ein Kapital von 20 Pfund gegen einen lebenslänglichen Zins von zwei Pfund36. Am 27. Januar 1350 hatte der Frater Konrad Burckardi in Nottleben einen Erbzins von drei Maltern guten Getreides als lebenslange Rente für seine Nichte, die Schwester des Erfurter Priors und Magisters Heinrich von Friemar des Älteren, gekauft; nach ihrem Tod sollte der Zins ans Gothaer Augustinerkloster übergehen37. Die genannten Transaktionen wären bei Franziskanern oder Dominikanern zu dieser Zeit verfassungsrechtlich nicht möglich gewesen, denn diese verzichteten gänzlich auf Privateigentum. Hinzuweisen ist auch auf die Zahlung von „Schutzgeld“ durch das Augustinerkloster: 33
Vgl. ERNST HAETGE: Die Stadt Erfurt. Allerheiligenkirche, Andreaskirche, Augustinerkirche, Barfüßerkirche, Burg 1931 (Die Kunstdenkmale der Provinz Sachsen 2/1), S. 73, 78. – Bereits 1346 erließ Provinzial Jordan von Sachsen eine Ordnung für die Klosterbibliothek; vgl. Overmann, Urkundenbuch III (wie Anm. 25), S. 49f. Nr. 63. 34 Vgl. FRANK: Lexikon (wie Anm. 1), S. 82. 35 Zit. nach P ILVOUSEK/SPRINGER: Augustiner-Eremiten (wie Anm. 1), S. 39. 36 Vgl. OVERMANN: Urkundenbuch III (wie Anm. 25), S. 60f. Nr. 79. 37 Vgl. ebd. S. 59 Nr. 76.
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1357 versprach Ritter Ian Strantz zu Gräfentonna, das neue Klostergut zu schützen, wofür er einen Schilling Erbzins erhielt38. Jedoch kann man daraus nicht auf einen unproblematischen oder gar vernachlässigenden Umgang mit der Armut schließen. Vielmehr veränderte die Observanz den Umgang mit Geld und Besitz. Allerdings gab es innerhalb der allen Orden gemeinsamen Observanzbewegung spezifische Akzentuierungen: so war die Betonung des Armutsideals für die Franziskaner zentral, während die Augustiner-Eremiten das brüderliche Gemeinschaftsleben in den Mittelpunkt stellten39. Ähnlich wie die Pfarreien hatte jeder Bettelkonvent ein genau abgegrenztes Territorium (= Termin, Terminbezirk), in welchem er predigen ließ, Beichte hörte und danach kollektierte. Selbstverständlich durfte nicht jeder Augustiner das Evangelium verkündigen oder Beichte hören; die dafür geeigneten Kandidaten wurden dem zuständigen Bischof präsentiert. So ließ z. B. Erzbischof Heinrich von Mainz am 5. Juli 1339 die Augustinerbrüder der genannten Klöster in seiner Erzdiözese zur Predigt und zum Beichtehören zu40. Im Laufe des Mittelalters war ein Konvent in wichtigeren Städten seines Terminbezirks durch sogenannte Termineien präsent. Die apostolische Wanderpredigt wurde sesshaft in Terminstationen, die mit einem Frater über einen längeren Zeitraum hinweg besetzt waren. Wie das Kloster für die Stadt Erfurt, so gewährleisteten in geringerem Umfang die Terminstationen für die zehn Orte Apolda, Buttelstedt, Jena, Ilmenau, Kölleda, Naumburg, Tannroda, Weimar, Weißensee und Wiehe die Präsenz augustinischer Seelsorge41. Streitigkeiten waren in der Regel bald beigelegt. So verglich sich am 3. Dezember 1360 das Augustinerkloster St. Philippus und Jakobus zu Erfurt mit dem Frauenkloster St. Michaelis in Jena über die Befugnisse seiner Terminierer in Jena42. Zu jeder Terminei gehörte eine bestimmte Anzahl von Orten mit Kollektierverpflichtung. Ein Verzeichnis aus der Mitte des 15. Jahrhunderts nennt etwa 600 Orte, die von den zehn Terminorten bzw. durch wandernde Terminarier regelmäßig aufgesucht wurden. Zwischen Erfurt, Weißensee, Wiehe, Naumburg, Jena, Saalfeld (lag bereits außerhalb des Termins) und Ilmenau erstreckte sich
38
Vgl. ebd. S. 78f. Nr. 102. Vgl. MARTIN: Movement (wie Anm. 18), S. 338. 40 Vgl. OVERMANN: Urkundenbuch III (wie Anm. 25), S. 20f. Nr. 26. 41 Vgl. J. E. AUGUST MARTIN: Verzeichnis der Termineien der Erfurter Einsiedler Augustiner Ordens in Thüringen, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 13 (1887), S. 132–137; T HOMAS NITZ: Dominikaner auf dem Lande. Das Termineiverzeichnis des Erfurter Predigerklosters, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 57 (2003), S. 251–276: hier S. 254, 256 Abb. 2 (Karte des Terminbezirks). 42 Vgl. OVERMANN: Urkundenbuch III (wie Anm. 25), S. 84–86 Nr. 110. 39
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die Seelsorge- und Kollektiertätigkeit der Erfurter Augustiner43. Dies zeigt den weiten Radius der „evangelischen“ Tätigkeit des Konvents. Auch Luther erwähnte in seinen Tischreden seinen Terminierbesuch in einem Dorf44. In diesem Zusammenhang die Frage zu beantworten, wie die evangelische Armut den Erfurter Konvent bestimmte, erübrigt sich. Er war – im Vergleich mit den anderen Bettelklöstern (aber nicht etwa mit dem Marienstift45) – wohlhabend, und das Betteln war keine Frage des Auskommens, sondern wurde zur asketischen Übung. Von allen Bettelorden besaßen vermutlich nur die Augustiner-Eremiten vor der Gründung der Universität Erfurt ein Generalstudium46. Es war ein wichtiger Faktor für die Gründung der Erfurter Universität. Denn die Studia der Bettelorden wie die von den beiden Stiften St. Marien und St. Severi gestifteten Professorenpräbenden waren die Grundlage der theologischen Fakultät Erfurt. Nach der Gründung der Universität Erfurt 1392 lehrte zunächst als erster und einziger Professor der Theologie und Dekan der Fakultät der Augustiner-Eremit Angelus von Döbeln, der den ersten Sentenzenkommentar verfasste47. Auch nach der Inkorporation ihres Generalstudiums in die Universität blieb das Augustinerkloster Lehrstätte. Wie die Universität Erfurt insgesamt, so war auch der Lehrstuhl der Augustiner-Eremiten durch keine überragenden Professoren im Range eines Thomas von Aquin oder eines Wilhelm Ockham ausgezeichnet. Doch boten sie eine gute Lehre, weshalb Erfurt Höchstzahlen an Studenten aufwies. Der Chronist des Erfurter Petersklosters Nikolaus von Siegen notierte das Urteil eines Theologieprofessors, dass der Augustiner Johannes Dorsten seit den letzten und für die nächsten 100 Jahre der bedeutendste Theologe Deutschlands sei48. Weitere Rektoren des der Universität inkorporierten Generalstudiums waren Johannes Zachariae (gest. 1428) sowie 43
Vgl. NITZ: Dominikaner (wie Anm. 41), S. 256, Abb. 2 (Karte des Terminbezirks). Vgl. WA.TR 4 Nr. 3928. Vgl. BRECHT: Luther (wie Anm. 14), S. 63f. 45 Zum Marienstift vgl. JOSEF P ILVOUSEK: Die Prälaten des Kollegiatstiftes St. Marien in Erfurt von 1400 – 1555, Leipzig 1988 (Erfurter Theologische Studien 55). 46 Vgl. ERICH KLEINEIDAM: Die Bedeutung der Augustinereremiten für die Universität Erfurt im Mittelalter und in der Reformationszeit, in: Mayer/Eckermann (Hg.): Scientia Augustiniana (wie Anm. 11), S. 395–422: hier S. 395. 47 Vgl. KLEINEIDAM: ebd. S. 398. Immatrikulationseintrag des „M. Angelus de Debelin, sacre theologie professor“ von 1392 bei J. C. HERMANN WEISSENBORN (Bearb.): Acten der Erfurter Universität. Tl. 1, Halle 1881 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 8/1), S. 36 Z. 6f. 48 Vgl. NIKOLAUS DE S IEGEN: Chronicon Ecclesiasticum, hg. von Franz X. Wegele, Jena 1855 (Thüringische Geschichtsquellen 2), S. 177f.: „Item idem doctor michi tunc dixit de doctore Iohanne Dorsten et id testimonio de eo dedit: quod Alamannia sive Germania in centum annis nunquam habuit nec habebit talem doctorem sicut fuit sepedictus Iohannes Dorsten …“; vgl. KLEINEIDAM: Universitas II (wie Anm. 2), S. 14; DERS., Bedeutung (wie Anm. 46), S. 400. 44
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Johannes Nathin. Nach dem Tod Dorstens 1481 war die Professur der Augustiner-Eremiten acht Jahre lang vakant, bis sie mit Johannes Nathin49 (gest. 1529), dem Lehrer und späteren Gegner Luthers50, 1489 wieder besetzt wurde. Ein weiterer bedeutender Professor war der 1512 mit etwa 50 Jahren ins Augustinerkloster eingetretene Bartholomäus von Usingen51. Er wurde nicht Regent des Generalstudiums, das blieb Nathin. 1504 war er Dekan der philosophischen Fakultät, 1514 zum Doktor der Theologie promoviert, übernahm er 1521 das Dekanat der theologischen Fakultät. Usingen war das „Aushängeschild“ der Erfurter Theologischen Fakultät52. Die wissenschaftlichen Leistungen des Erfurter Konvents sind, vergleicht man sie mit anderen Orden und Konventen, erstaunlich. Dennoch gilt es auch hier, wenn man an den Dissens des bedeutenden Erfurter Theologen Johannes von Paltz (gest. 1511) mit seinem Erfurter Konvent denkt, Einschränkungen zu machen. Denn offenbar waren es Gegensätze in der theologischen Lehre zwischen ihm und Johannes Nathin, die diesen Konflikt verursachten53. Und Luther selbst beschreibt, dass ihm Mitbrüder im
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A. Zumkeller hat in Nathins Schriften keine „unmittelbaren Beziehungen zu Biel und seiner Lehre“ nachweisen können, und auch ein Hinweis auf Ockham und den Nominalismus fehlt; vgl. ADOLAR ZUMKELLER: Neuentdeckte Schriften des Erfurter Theologieprofessors Johannes Nathin OSA, in: Augustiniana 54 (2004), S. 653–658. 50 Vgl. z.B. die Feststellung des um 1530 schreibenden „Monachus Pirnensis“: „Nate, Doctor czu Erfort in Duringen, hat (MVCXXIII) wider Marten Luter seines ordens abtronnigem höchsten vermugens geprediget vnd geschriben.“ JOHANNES LINDNER: Excerpta Saxonica, Misnica et Thuringiaca ex Monachi Pirnensis seu vero nomine, Johannis Lindneri sive Tillani onomastico autographo quod exstat in Bibliotheca Senatoria Lipsiensi, in: Johann Burkhard Mencke (Hg.): Scriptores rerum germanicarum praecipue Saxonicarum II, Leipzig 1728, S. 1447–1632: hier S. 1495. 51 Vgl. KUNZELMANN: Geschichte V (wie Anm. 1), S. 518; DERS.: Bedeutung (wie Anm. 11), S. 622f. Usingen und Trutfetter haben der via moderna in Erfurt zum Durchbruch verholfen und läuteten „eine ‚kämpferisch-programmatische‘ Erneuerung der Via moderna ein“; GÖTZ-RÜDIGER TEWES: Die Erfurter Nominalisten und ihre thomistischen Widersacher in Köln, Leipzig und Wittenberg. Ein Beitrag zum deutschen Humanismus am Vorabend der Reformation, in: A. Speer (Hg.): Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus, Berlin 1995 (Miscellanea Mediaevalia 23), S. 447–488: hier S. 469. Zu Trutfetter und dem Erfurter Nominalismus vgl. auch JOSEF P ILVOUSEK: Jodocus Trutfetter (1460–1519) und der Erfurter Nominalismus, in: von der Pfordten (Hg.): Denker (wie Anm. 15), S. 96– 117: hier S. 106–115. 52 Laut KUNZELMANN: Bedeutung (wie Anm. 11), S. 622f. 53 BERNDT HAMM: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (Beiträge zur historischen Theologie 65), S. 82.
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Kloster gram waren, weil er studieren durfte und sie nicht. Deshalb hätten sie ihn lieber als bettelnden Mönch gesehen54. Zusammenfassend kann man von einem „attraktiven Kloster“ sprechen, das alles daran setzte, die Ideale der Askese, Brüderlichkeit und der Wissenschaft nicht nur zu verwirklichen, sondern mit neuem Geist zu erfüllen. Auch wenn das nicht immer gänzlich gelang und Ausstände auszumachen sind, darf diesbezüglich eine Ausnahmestellung des Erfurter Augustinerklosters behauptet werden. War dies aber das entscheidende Motiv Martin Luthers dieses Kloster zu wählen?
2. Eine Motivsuche Stimmt man der begründeten These von Bernhard Lohse55 zu, so war es nicht die besonders strenge Askese und der besonders intakte Zustand dieses Klosters, der Luthers Eintritt bestimmte. Vielmehr herrschte dort die gleiche philosophisch-theologische Richtung wie an der Artistenfakultät, und Luther konnte hoffen, seine Studien im gleichen Geist fortsetzen zu können. Dass die Erfurter Augustiner am Ende des 15. und 16. Jahrhunderts hervorragende Gelehrte in Theologie und Philosophie besaßen, steht außer Frage. Diskutiert wird allerdings, ob man in der Theologie von einer Augustinerschule sprechen kann oder ob die Theologie des Augustinerordens in diesem Zeitraum keine einheitliche Ordensdoktrin besaß56. Neben dem Ordensvater Augustinus wurde vor allem auf die Theologen des Ordens Aegidius von Rom und Gregor von Rimini verwiesen. Ohne auf die Frage näher einzugehen möchte ich auf ein bekanntes Phänomen hinweisen, das m. E. Beachtung verdient. Martin Luther wurde im Sommersemester 1501 als „Martinus Ludher ex Mansfeldt“57 in die Matrikel der Artistenfakultät eingetragen. Am 6. Januar 1505 bestand er als zweiter seine Magisterprüfung. Wo Martin Luther in 54
Tischreden oder Colloquia (Nachdruck), fol. 373r: „Wie meine Brüder im Kloster/die waren mir gram/darumb das ich studirete/Sagten/Sic tibi, sic mihi, Sackum per Nackum, Es gehe dir wir mir/Hielten keinen vnterscheid/Ein Vngelerter galt bey inen gleich so viel/als ein Gelerter.“ 55 BERNHARD LOHSE: Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, Leipzig 1983, S. 37. 56 Vgl. HAMM: Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 53), S. 330–333; FRANZ-B ERNHARD STAMMKÖTTER: L’ école des Augustins au Moyen Âge: cinquante ans de recherches, in: Revue d’études augustiniennes et patristiques 50 (2004), S. 371–383. Ältere Literatur zum „spätscholastischen Augustinismus“ bei CARL ANDRESEN (Bearb. und Hg.): Bibliographia Augustiniana, Darmstadt 21973, S. 229–233. 57 WEISSENBORN: Acten (wie Anm. 47), S. 219 Z. 12.
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seiner Zeit als Student der artes wohnte, ist bis heute nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. War man bis vor einigen Jahrzehnten noch der Auffassung, dass er in der Georgenburse gewohnt habe – eine Nachricht des Verwandten Dietrich Lindemann aus dem Jahre 1526 schien dies zu bestätigen58 – so treten heute wieder eine Reihe von Indizien stärker in den Vordergrund, die auf das Kollegium zur Himmelpforte hinweisen. Auch wenn er nicht im Collegium Porta Coeli gewohnt haben sollte, so durfte er und wird er doch die Handschriften der Amploniana benutzt haben. Im Statut XIX. weist Amplonius die Kollegiaten an, wie die „Modernen“ den Text zu „zerteilen“ und Schlussfolgerungen anzustellen, darauf bewährte Kommentatoren wie Albert, Thomas, Ägidius, Alexander von Hales, Heinrich von Gent oder Themestius zu Rate zu ziehen und anschließend die sich ergebenden Fragen und Schwierigkeiten kurz und summarisch zu behandeln59. Das waren Anweisungen für die Studenten der Artes! Nachdem sie also beispielsweise Aristoteles allein aus dem Text interpretiert hatten, sollten sie vor allem Theologen zur Kommentierung hinzuziehen60. Neben Albertus Magnus und Thomas von Aquin findet man auch immer wieder den in Erfurt hochgeschätzten Aegidius von Rom61, dessen Werke einen großen Raum einnehmen62. Amplonius kopierte persönlich
58
Vgl. J OHANNES B IEREYE: Die Erfurter Lutherstätten nach ihrer geschichtlichen Beglaubigung, Erfurt 1917 (zugleich in: Jahrbücher der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt N.F. 34), S. 5–29: hier S. 7. 59 J. C. HERMANN W EISSENBORN: Die Urkunden für die Geschichte des Amplonius Ratingk de Fago auch genannt Amplonius de Berka, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde zu Erfurt 8 (1877), S. 87–128; 9 (1880), S. 129–178: hier S. 151. Vgl. auch JOSEF P ILVOUSEK: Die theologischen Handschriften in der Bibliotheca Amploniana, in: Kathrin Paasch in Zusammenarbeit mit Eckehart Döbler (Hg.): Der Schatz des Amplonius. Die große Bibliothek des Mittelalters in Erfurt, Erfurt 2001, S. 176–190: hier S. 178. 60 ERICH KLEINEIDAM: Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt I: Spätmittelalter 1392–1460, Leipzig 21985 (Erfurter Theologische Studien 14), S. 185. 61 Geb. um 1243 in Rom; 1258 Eintritt in den Orden der Augustiner-Eremiten, dessen Generalprior er von 1292–95 war; von 1269–72 Studium in Paris; 1285–91 Magister der Theologie in Paris; wegen Gründlichkeit, Klarheit und Originalität seines Denkens auch als „doctor fundatissimus“ bezeichnet; von 1295 bis zu seinem Tod am 22.12.1316 in Avignon Erzbischof von Bourges; vgl. ADOLAR ZUMKELLER: Art. Aegidius Romanus (fälschl. Colonna), in: LMA 1 (1980), Sp. 177; RUDOLF W EIGAND: Art. Aegidius v. Rom, in: LThK3 1 (1993), Sp. 180f. 62 Ein Verzeichnis der Handschriften der echten Werke des Aegidius Romanus in der Amploniana gibt CONCETTA LUNA: Bemerkungen über die Handschriften der Werke des Aegidus Romanus in der Amplonianischen Bibliothek zu Erfurt, in: Speer (Hg.): Bibliotheca Amploniana (wie Anm. 53), S. 257–300.
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seine „Summa moralium“63. Als einer der bedeutendsten Schüler des Thomas von Aquin hatte Aegidius dennoch viele Themen seines Lehrers mit einem nicht geringen augustinischen Einschlag neu durchdacht. Seine Beliebtheit in Erfurt könnte auch damit zusammenhängen, dass er als Hauptvertreter einer Gruppe von Theologen galt, die nach Art der Modernen lehrten, aber die Konzeptionen Ockhams ablehnten. Aegidius von Rom, den maßgebenden Ordenstheologe der Augustiner dürfte also Martin Luther als Student der Artes kennen gelernt haben. Gregor von Rimini gehörte ausdrücklich nicht zu den empfohlenen Autoren. Von zwei Lehrern an der artistischen Fakultät ist Luther in seinen wissenschaftlichen Auffassungen am nachhaltigsten geprägt worden von Jodokus Trutfetter und von Bartholomäus von Usingen, der 1512 sein Ordensgenosse wurde. 1501, also in dem Jahr, in dem Martin Luther sein Studium in Erfurt begann, wählte die Universität Trutfetter zum Rektor. Zu diesem Zeitpunkt war er schon ein berühmter Mann, dessen erste Schrift bereits 1500 gedruckt vorlag. Mit der Quodlibetdisputation von 1497 hatten er und Bartholomäus von Usingen es sogar erreicht, an der Universität der ockhamistischen Richtung zum Sieg zu verhelfen64. In besonderer Weise war und blieb Martin Luther seinem früheren Lehrer in der artistischen Fakultät Jodokus Trutfetter (1460–1519) auch nach seinem Ordenseintritt verbunden. Im Wintersemester 1506 ließ Trutfetter sich in Wittenberg intitulieren, im Mai 1507 wurde er in den Fakultätsrat der theologischen Fakultät aufgenommen und gleichzeitig mit dem Archidiakonat an der Allerheiligenkirche zu Wittenberg bepfründet. Im Wintersemester 1507 wählte man ihn sogar zum Rektor der Universität Wittenberg. Zweimal, 1508 und 1509/10, wurde er Dekan der theologischen Fakultät65. Zu vermuten ist, dass er 1508 seinen früheren Erfurter Schüler Martin Luther als Lektor für Philosophie in Wittenberg vorschlug. Trutfetter und Luther kannten sich sehr gut. Ja, vielen Zeitgenossen ist Trutfetter nur deshalb bekannt, weil Martin Luther ihn erwähnte. Was lässt sich einigermaßen sicher über das Verhältnis dieser beiden zueinander sagen? Luther selbst hat wohl, entgegen der vorherrschenden Meinung, seinen Lehrer Trutfetter bis zu dessen Tod hoch geschätzt. Er will sogar von seinem Lehrer gelernt haben, dass man Glauben allein der Hl. Schrift schulde, allem anderen aber nur eine Meinung zuschreiben solle. Luther konnte bei 63
JOHANNES KADENBACH: Die Bibliothek des Amplonius Rating de Bercka. Entstehung, Wachstum, Profil, in: Speer (Hg.): Bibliotheca Amploniana (wie Anm. 53), S. 16– 31: hier S. 20. 64 Vgl. dazu P ILVOUSEK: Trutfetter (wie Anm. 51), S. 96–117: hier S. 100f. 65 Vgl. ebd. S. 101.
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seiner späteren Betonung der Hl. Schrift auf Anregungen zurückgreifen, die er von seinen nominalistischen Lehrern erhalten hatte, die aber in keiner Weise das Schriftprinzip vertreten haben. Im März 1518 schrieb Trutfetter Martin Luther einen Brief, in dem er zu dessen Thesen gegen die scholastische Theologie, den Ablassthesen und den Vorgängen darum Stellung nahm. Der Brief ist, wie alle Briefe Trutfetters, verloren. Aber aus Luthers Antwort und seinen Brief an Spalatin können wir ungefähr seinen Inhalt rekonstruieren. Am 26. April 1518 fand in Heidelberg eine große Disputation statt. Luther hatte auf seiner Rückreise von Heidelberg in Erfurt bei Trutfetter am 9. Mai 1518 vorgesprochen, war aber nicht vorgelassen worden, weil Trutfetter sich nicht wohl fühlte. Daraufhin schrieb Luther ihm in Erfurt einen ausführlichen Brief, um darzulegen, was er ihm mündlich hatte eingehender sagen wollen. Trutfetter kannte das heftige Temperament Luthers. Er hatte daher seine Befürchtungen ausgesprochen, Luther würde ihn einmal mit bissigen und schmähenden Briefen angreifen. Luther verwahrte sich dagegen, das würde er nicht einmal gegen die Leute tun, die ihn vor aller Öffentlichkeit als Häretiker und Verführer beschimpften, „um so viel weniger würde ich Dir Böses wiedergeben, wo ich Dir alles Gute verdanke“. Er bedauert, dass bei Trutfetter überhaupt ein solcher Verdacht entstehen konnte66. Luther weiß genau, was Trutfetter ihm vorwirft; er sei unwissend in der Dialektik, also in jener philosophischen Arbeitsmethode, die durch Infragestellung gegensätzlicher Ausgangspositionen und deren Synthese eine höhere Erkenntnis gewinnt; die Dialektik aber ist für Trutfetter der Schlüssel zur rechten begrifflichen Erfassung sowohl der Philosophie als auch der Theologie. Denn nur sie lehre eine klare Unterscheidung der Begriffe und führe durch ihre Sprachkritik zur Eigentlichkeit des Redens von Gott und den Heilsgeheimnissen. Für einen Mann wie Trutfetter ist nach Meinung Luthers seine neue Theologie ein Greuel. Trutfetter war mit der Dialektik aufgewachsen und hatte durch sie Ansehen und Ruhm erworben; ohne sie musste er den Untergang der wissenschaftlichen Theologie befürchten. Luther hat Trutfetter offensichtlich am 9. Mai 1518 doch noch persönlich sprechen können. Er versuchte ihm wenigstens klarzulegen, dass er, Trutfetter, seine Position nicht beweisen noch die von Luther widerlegen könne. Aber Luther hatte den Eindruck, dass er wie zu einem Tauben rede. Zwischen beiden gab es keine Verständigung mehr. Offensichtlich war sowohl für Luther als auch für Trutfetter die grundsätzliche Einstellung, was Theologie sei, das Wichtigste. Die Frage der Ablässe wird im Brief Luthers an Trutfetter erst an zweiter Stelle erwähnt. Luther argumentiert 66
WA.B 1, S. 169–172 (Nr. 74); Zitat ebd. S. 169,17f.: „... quanto minus tibi redderem malum, cui debeo bonum“. Vgl. KLEINEIDAM: Universitas II (wie Anm. 2), S. 222– 224; P ILVOUSEK: Trutvetter (wie Anm. 51), S. 104f.
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hier nicht, sondern fragt Trutfetter, ob er nicht selbst, aus seelsorglichen Motiven, Anstoß am jetzigen Ablasswesen nehme. Ohne Zweifel wird Trutfetter dies getan haben67. Luther kommt noch einmal auf seine grundsätzliche theologische Einstellung zu sprechen; eigentlich sei er darin nur der gehorsamste Schüler Trutfetters, denn von diesem habe er zuerst gelernt, dass allein den kanonischen Schriften Glaube gebühre, alles andere aber einem kritischen Urteil zu unterwerfen sei. Von dieser Überzeugung wolle er sich weder durch Trutfetters Autorität – die bei ihm, wie er ausdrücklich hinzufügt sehr schwerwiegend sei –, noch viel weniger irgendwelcher anderer abschrecken lassen; das sei sein fester Vorsatz. Für Luther wird die klare Ablehnung durch seinen verehrten Lehrer Trutfetter – er ist wohl der erste, der in aller Entschiedenheit ein klares Nein sagt, und auch der erste, auf den Luther mit Aufmerksamkeit gehört haben wird – ein schmerzlicher Abschied von einem Manne gewesen sein, den er trotz aller gegensätzlichen Meinung verehrte und schätzte. Er wusste auch, dass Trutfetter trotz allen Grolls für seinen Schüler große Sympathie empfand. Der Brief, den Trutfetter im März an ihn geschrieben hatte, ging Luther lange Zeit durch den Kopf. Einst war Luther Trutfetters begeisterter Schüler, als er von 1501– 1505 in der philosophischen Fakultät zu Erfurt unter ihm studierte; dann war vielleicht Trutfetter der Anlass, dass er als junger Lektor nach Wittenberg an die Universität versetzt wurde. Als Luther die Nachricht vom Tode Trutfetters bekam, schrieb er am 24. Mai 1519 an Spalatin: „Ich fürchte, dass auch ich Ursache seines vorschnellen Todes gewesen bin; soviel Kummer war in ihm wegen meiner sogenannten Entweihungen und Verwegenheiten, durch die die scholastische Theologie zu seinem Schmerz in eine unglaubliche Verachtung geraten sei. Der Herr erbarme sich seiner Seele, Amen!“68 In seinem Brief an Spalatin vom 18. Mai 1518 schildert uns Luther auch seine Bemühungen um seinen zweiten Lehrer, um Bartholomäus von Usingen, der nun sein Ordensbruder war und mit ihm an der Heidelberger Disputation teilgenommen hatte. Sie hatten den Rückweg zusammen in einem Wagen verbracht und daher viel Zeit gehabt, die Fragen durchzusprechen. Hier war es offensichtlich zu keiner schroffen Ablehnung gekommen. Luther wusste nicht, ob er etwas erreicht hatte. Nachdenklich und verwundert – so verließ er Usingen. Luther war von seiner neuen Idee so eingenommen, dass er Usingens zögernde Haltung nicht verstehen konnte; er konnte nur feststellen, wie folgenschwer es sei, in schlechten Meinungen alt geworden zu sein. Er war entschlossen, in seiner radikalen, kompromisslosen 67
Vgl. KLEINEIDAM: ebd. S. 224f.; P ILVOUSEK: ebd. S. 105. WA.B 1, S. 407,15-18 (Nr. 181). Vgl. KLEINEIDAM: ebd. S. 226; P ILVOUSEK: ebd. S. 105f. 68
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Grundeinstellung unbeirrt seinen Weg weiterzugehen69. In seinen Tischreden hat er von diesem einmal geschätzten Lehrer dann endgültig Abschied genommen: Doktor Usingen, ein Augustinermönch, der einst mein Lehrer war im Augustinerkloster zu Erfurt, sprach einmal zu mir, da er sah, dass ich die Bibel so lieb hatte und gern in der Heiligen Schrift las: Ei, Bruder Martin, was ist die Bibel? Man soll die alten Lehrer lesen, die haben den Saft der Wahrheit aus der Bibel gesogen, die Bibel richtet allen Aufruhr an. Das ist der Welt Urteil, sprach Doktor Martin Luther, von Gottes Wort, wie man solches auch im zweiten Psalm, Vers 10 sieht. Denn sagt man zu den großen Hansen: Und nun, ihr Könige, lasset euch weisen etc., so sagen sie nein dazu und wollen die Lehre nicht leiden; so müssen wir sie auch hinfahren lassen wie die guten Gesellen.70
Resümee Was hat den Erfurter Augustinerorden für Martin Luther anziehend gemacht? Sicher kannte Luther den guten Ruf des Konventes als „strengstes Kloster“ Erfurts. Ob ihn das bei der Wahl des Klosters beeinflusst hat, darf bezweifelt werden. Kehren wird zur These von der gleichen philosophisch-theologischen Ausrichtung des Erfurter Konvents wie der Artistenfakultät zurück. Vieles spricht dafür, dass Martin Luther meinte, im Augustinerkloster eine Denkrichtung vorzufinden, die er aus der artistischen Fakultät kannte. Die Beschäftigung mit Aegidius von Rom könnte ihn beispielsweise mit augustinischem Gedankengut vertraut gemacht haben, ohne aber Augustinus zu diesem Zeitpunkt schon tiefer kennen gelernt zu haben. Die Erfurter Spielart der via moderna, die nicht die Lehrmeinung eines Schulhauptes einte, sondern gewisse Grundsätze, von denen sie sich leiten ließ, um so eine Engführung zu vermeiden, hat ihn allem Anschein nach beeinflusst. Vor allem auch die Beziehung zu Jodokus Trutfetter bestätigt das Interesse des Augustiners und Professors Martin Luther an dieser philosophischtheologischen Ausrichtung. Die aufgeschlossenen Haltungen der Augustiner gegenüber modernen Strömungen und ihre guten Beziehungen zu den Humanisten sind weitere Besonderheiten des Erfurter Konvents. Ein angesehener Humanist und Gelehrter wie der Arzt Georg Eberbach wünschte ausdrücklich, bei den Augustinereremiten begraben zu werden. Die Verbindung von religiösem Streben, guter theologischer Tradition und Offensein für neue Gedanken machte diesen Orden vor allen anderen anziehend. Diese Offenheit hatte 69 70
Vgl. KLEINEIDAM: ebd. S. 225. WA.TR 2, S. 6 (Nr. 1240).
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Martin Luther zuerst in der artistischen Fakultät kennen gelernt. Mehr noch als die Ideale von Askese, Brüderlichkeit und Wissenschaft, die natürlich auch im Erfurter Konvent häufig Desiderate blieben, hat ihn Anderes geleitet. Im Horizont einer bekannten philosophisch-theologischen Denkrichtung weiter leben zu können, scheint ein ausschlaggebender Faktor gewesen zu sein, gerade dieses Kloster zu wählen.
Michael Weichenhan
Luther und die Zeichen des Himmels 1. Einleitung Als Luther am 2. Juli des Jahres 1505 nahe Stotternheim in ein heftiges Gewitter gerät und ein Blitz in unmittelbarer Nähe niedergeht, reagiert der Student der Jurisprudenz so, wie sich zu außerordentlichen und damit bedrohlichen atmosphärischen Erscheinungen zu verhalten vermutlich üblich war: Auf die Lippen des zutiefst Erschrockenen drängt sich eine Art Stoßgebet, gefolgt von einem Gelübde1. Im Anruf der Heiligen Anna erbittet er den Beistand der Heiligen, falls er das Unwetter nicht überleben sollte, und er gelobt zugleich, sein Leben, wenn es denn verschont wird, ganz der Nachfolge Christi zu weihen und Mönch zu werden2. Mag auch der Ent1
Vgl. die Artikel Blitz und Gewitter von VICTOR STEGEMANN im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens: Bd. 1 (1927 u.ö.), bes. Sp. 1415–1418; Bd. 3 (1931 u.ö.), Sp. 815–833. – Sehr summarisch behandelt astrale und meteorische Phänomene P ETER D INZELBACHER: Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. 2: Hoch- und Spätmittelalter, Paderborn 2000, S. 160–162, 224–226; bei ARNOLD ANGE2 NENDT: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 2000, fehlt die Darstellung der theologie- und religionsgeschichtlich bedeutsamen Wetterdeutung und der Astrologie völlig. 2 Die in den einschlägigen Lutherbiographien (bspw. OTTO SCHEEL, 1916/17, HEINRICH B OEHMER, 1925, bis hin zu M ARTIN B RECHT, 1981–1987) gebotene Schilderung basiert auf der offenbar breit ausgeführten Erzählung, die Luther 1539 gegeben hat und die von Anton Lauterbach summarisch aufgezeichnet wurde: WA.TR 4, Nr. 4707. Knappere Fassungen in WA 8, S. 573f.; WA.TR 4, Nr. 4414; WA.TR 5, Nr. 5373. Der Anruf konkret der Heiligen Anna kann sich auch aus deren Zuständigkeit für die Lebensrettung in unmittelbarer Gefahr beziehen, vgl. OTTO CLEMEN: Zum St. Annenkultus im ausgehenden Mittelalter, in: Archiv für Reformationsgeschichte 21 (1924), S. 251–253. Eine lebensbedrohliche Verletzung hatte Luther einige Zeit zuvor zu einem Anruf Mariens motiviert (WA.TR 1, Nr. 199), ohne dass ein Gelübde getan worden wäre. Vgl. auch die Darstellung bei HEINZ K ITTSTEINER: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/Main 21992, bes. S. 31–49. Die dort erwähnte Parallelisierung des Erlebnisses von Stotternheim mit der Bekehrung des Paulus in PETER AHLWARDT: Bronto-Theologie, oder: Vernünftige und Theologische Betrachtungen über den Blitz und Donner [...], Greifswald und Leipzig 1745, findet sich bereits in dem Brief des Crotus Rubianus an Luther vom Oktober 1519 (WA.B 1, S. 543).
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schluss, eine andere als die ursprünglich in Aussicht genommene Lebensform in dieser Welt zu wählen, der individuellen Disposition geschuldet und damit singulär sein: im Erlebnis von Stotternheim erweist sich der junge Luther doch als geprägt von Anschauungen, die er mit seinen Zeitgenossen teilte. Gewitter, Hagel, Sturm und Wolkenbruch geschehen nicht von ungefähr. Sie erinnern an des Menschen Schwäche, seine Verfehlungen, sie rufen ihm die Begrenztheit seiner Existenz auf dieser Erde ins Gedächtnis, sie stellen ihm vor Augen, dass damit auch die Möglichkeit ein jähes Ende finden kann, mit den Nächsten und dem göttlichen Gebieter ins Reine zu kommen. Die Appellation an die Fürsprache einer der Heiligen in äußerster Gefahr sichert wenigstens dies, vor den göttlichen Richter nicht schutzlos treten zu müssen, auch wenn keine Zeit mehr blieb, Sünden zu bereuen und zu büßen. Im Moment der Gefahr hingegen sich zu entscheiden, fortan ein weniger gefährdetes Leben führen zu wollen, bedeutet als Mahnung zu begreifen, was sich ereignet: Wetter, das den Menschen in Schrecken versetzt, seltene und damit aufsehenerregende Erscheinungen am Himmel, die Angst erzeugen. Aber es geht nicht nur um die Furcht, mit dem Leben nicht davonzukommen. Aus einem Ereignis der Natur eine Mahnung zu beziehen heißt, das augenblickliche Geschehen in einen Zusammenhang zu stellen, der von demjenigen der natürlichen Abfolge von Ursachen und Wirkungen verschieden ist. Eine Botschaft können Wetter, Phänomene am Himmel und Tiere nur übermitteln, wenn sie über das „normale“ Gleichmaß des natürlichen Prozesses als erschreckendes Wetter, singuläre Erscheinung oder aufsehenerregende „monströse“ Missbildung hinausgehoben sind. Konstitutiv ist die Diskontinuität zu dem, was das Ereignis hervorgebracht hat. Was an sich und auf natürlichem Wege geschehen mag, wird auf diese Weise profiliert; über dem gewöhnlichen Gang der Natur erhebt sich das, was das erlebende Subjekt als Einzelnes und Bedeutsames aus ihm ausgesondert hat. Dazu gehört, dass es nicht als Glied einer Kette von Ursachen aufgefasst wird. Das mit Bedeutung versehene Gewitter tritt nicht als Folge von Prozessen ein, sondern es trifft – wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Was als bedeutend erfahren wird, ist stets das Einzelne: das zum Ereignis gewordene Wetter nicht anders als eine aufschlussreiche Geste oder ein Kunstwerk. Was als bedeutungsträchtige Geste im Unterschied zur bloßen Bewegung, was als Kunstwerk, anders als eine „bedeutungslose“ Konfiguration von Farben und Linien, angesehen wird, ist Ergebnis von Interpretationen. Bestimmte Regeln geben an, was über der Ebene dessen, was nur geringe Aufmerksamkeit verdient, besonderer Beachtung wert ist. Die Aufmerksamkeit, die sich auf einen aus seiner „natürlichen“ Umgebung isolierten Teil der Wirklichkeit richtet, erhebt ihn dann zum Zeichen. Was zu den Zeichen gezählt wird und was nicht, bemisst sich unter anderem daran,
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inwieweit sich etwas in den gewöhnlichen Zusammenhang einfügt (und somit kaum registriert wird) oder aber aus ihm herausfällt. Ein Blitzschlag, der in unmittelbarer Nähe niedergeht, kann wie die monströse Missgeburt, ein Komet oder auch ein Nordlicht zum Gegenstand werden, der nicht als er selbst betrachtet wird, sondern als etwas, das auf etwas anderes verweist: nicht so sehr auf die Gefährdung des leiblichen Lebens, sondern auf die Gefahr für die Seele. Der junge Luther hat, sofern darüber überhaupt etwas gewusst werden kann, das lebensbedrohliche Unwetter vor Stotternheim nicht als Gewitter, sondern als Zeichen verstanden, als eine Geste, mit der ihm bedeutet wurde, sein Leben zu ändern. Den religiösen Interpretationsregeln entsprechend war es schließlich Gott, der durch das als bedeutungsvoll aus dem gewöhnlichen Lauf der Natur unterschiedene Unwetter am Werk gewesen war. Er hatte somit nicht allein durch die Bücher des alten und neuen Testaments gesprochen, sondern „sprach“ dann und wann auch durch Zeichen in der Natur, durch schreckliche Wetter und seltsame Erscheinungen am Himmel wie auf Erden. Keiner verfolgte diese Spuren, die Gott der Natur einprägte, mit größerer Hingabe und auf höherem wissenschaftlichen Niveau als die Astrologen, die es verstanden, aus den Bewegungen der supralunaren Sphären Schlüsse auf die Witterung, auf Krankheiten und Kriege zu ziehen. Sie vermochten, freilich mit gewissen Unsicherheiten, die man in Kauf zu nehmen hatte, auf künftiges Unbill vorzubereiten, ja mitunter stellten sie sogar zu errechnen in Aussicht, wann der Antichrist kommen werde. Sie gaben Auskunft über den günstigen Zeitpunkt einer Geburt und gestatteten andererseits Einblicke in das Schicksal von Personen, deren Genituren sie studierten und aus denen sie gewagte Schlüsse auf Charakter und Lebensumstände zogen. Astrologen stellten Überlegungen an über den Zusammenhang zwischen grundlegenden Merkmalen und Konstellationen, die die Entstehung von Religionen begleitet hatten, sie wagten sich zuweilen an die Aufstellung eines Horoskopes Christi3 und interpretierten die Grundsteinlegung des neuen Petersdomes in einem kosmotheologischen Zusammenhang4, ihr Rat begleitete die Gründung der Universität Wittenberg5. 3
Vgl. W AYNE SHUMAKER: Girolamo Cardano’s Horoscope of Christ, in: ders., Renaissance Curiosa, Binghampton 1982, S. 53–90. 4 Vgl. MARY QUINLAN-MCGRATH: The Foundation Horoscope(s) for St. Peter’s Basilica, Rome, 1506. Choosing a Time, Changing the Storia, in: Isis 92 (2001), S. 716– 741. 5 Das Gründungshoroskop der Wittenberger Universität, datiert auf den 18. Oktober 1502, von Martin Polich von Mellerstadt; vgl. dazu HANS HAHNE: Die Wittenberger Horoskope, in: Leopoldina 5, Leipzig 1929, S. 102–109; Abbildung bei JÜRGEN G. H. HOPPMANN: Astrologie der Reformationszeit. Faust, Luther, Melanchthon und die Sterndeuterei, Berlin 1998, S. 12. Die im übrigen scharf astrologiekritische Haltung Polichs
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Geringeren wissenschaftlichen Ansehens, dafür weiter Verbreitung, erfreute sich die Beobachtung und Registrierung exzeptioneller Vorgänge in der näheren und ferneren Umwelt. Während der Astrologe die Ordnung in der Welt zu entdecken trachtet, die sich als ein unübersichtliches Gewimmel von verschiedenem Einzelnen darbietet, das von Entstehen und Vergehen brodelt, so ist die Aufmerksamkeit hier auf das Außergewöhnliche gerichtet, das den regelmäßigen Gang der Natur unterbricht. Leiten Astrologen das Singuläre aus der Überlagerung verschiedener astraler Konstanten ab und deuten es auf diese Weise als Resultat geregelter, prinzipiell rekonstruierbarer kosmischer Prozesse, so hält auf der anderen Seite der Blick das Erstaunliche und Einmalige fest, ohne es aus höheren Ursachen zu deduzieren. Unter welchen natürlichen Bedingungen ein Gewitter entsteht, interessiert denjenigen nicht, der darauf fixiert ist, es als Äußerung eines übermächtigen Wesens, Gottes oder des Teufels, aufzufassen. Es ist Ausweis der selbst unsichtbaren Macht, die dem Betrachter etwas zu verstehen gibt. Beide Weisen der Interpretation natürlicher Phänomene gelten in bestimmten Kontexten als abergläubisch und der wahren Religion zuwider, aus anderem Blickwinkel betrachtet sind sie mit theologischen Auffassungen durchaus vereinbar. Den Blick auf die in höchstem Maße geordneten Umläufe der Gestirne zu richten kann bedeuten, Gottes Weisheit zu erahnen; die immer genügend interpretatorischen Spielraum lassende „Synchronizität“ zwischen auffälligen Konstellationen und herausgehobenen Ereignissen der Geschichte ist in der Lage, den Gedanken zu tragen, Gott lasse kein Ereignis ohne einen entsprechenden Eintrag in dem Buch des Himmels, das zu entziffern jedem offenstünde. Allerdings wird die Astrologie auch als subtile Form des religiösen Paganismus gebrandmarkt und nur auf Grund ihrer Subtilität von dem dumpfen Aberglauben der Beobachtung von diversen Auffälligkeiten unterschieden. Auf der anderen Seite aber können die zu Zeichen erhobenen Ereignisse der Natur dazu dienen, auf den Willen Gottes aufmerksam zu machen. Mahnend und strafend brechen Unwetter über den Menschen herein6 und können Kometen wie Missgeburten zu Kündern seines Zornes werden. Es ist insbesondere die Apokalyptik, die eine buchstäblich aus den Fugen geratene Natur vorsieht und die Aufmerksamkeit nicht nur auf das Erstaunliche richtet, sondern dieses als Vorzeichen des nahen Weltendes deutet. Unmittelbar vor dem Ende versagen die Deutungsmuster, mit denen sich die Welt üblicherweise erdokumentiert und interpretiert P AOLA ZAMBELLI: Astrologi consiglieri del principe a Wittenberg, in: Annali dell’ istituto storico italo-germanico in Trento 28 (1992), S. 497– 543, bes. S. 501–505. 6 Dieser Gedanke lässt sich explizit aus der Bibel begründen: Dtn 28 verbindet Ungehorsam gegen die göttlichen Gebote u.a. mit abträglichem Wetter und Missernten.
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fassen lässt, auch die Sterndeutung. Die Welt füllt sich mit Zeichen, und zwar mit solchen, die nicht auf anderes Ähnliches verweisen, sondern den göttlichen Willen kundtun, einer gealterten und in Sünde und Sorglosigkeit versunkenen Welt ein Ende zu bereiten7. Luthers Haltung zu Deutungen von Naturerscheinungen, zur Astrologie wie zu ostenta und prodigia, zu thematisieren heißt, einen Randbereich seines Denkens zu untersuchen8. Der Reformator hatte ein auffällig geringes Interesse an den tradierten Interpretationsmustern der Natur, ja der Sterndeutung gegenüber äußerte er sich energisch ablehnend. Man hat Luther deshalb oft so verstanden, als habe er damit Haltungen antizipiert, die für die Naturwissenschaften seit dem 18. Jahrhundert gegenüber der Annahme okkulter Kräfte charakteristisch sind. Eine solche Auffassung aber verkennt, wie gezeigt werden wird, die durchweg theologische Motivation seiner Ablehnung der Astrologie.
2. Luthers Kritik an der Astrologie Von der Sterndeuterei hielt Luther wenig. Ihre Unsicherheit, ja eklatanten Fehlprognosen reizten ihn zum Spott9. Ihren mindestens tendenziellen De7
Die Verbindung zwischen eschatologischer Auffassung der Geschichtszeit und der Astrologie ist ausführlicher dargestellt in MICHAEL W EICHENHAN: „Ergo perit coelum...“ Die Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie, Stuttgart 2004, bes. S. 61–107, und in DERS.: Spannungsvolle Endzeit. Überlegungen zur „Coniectura de ultimis diebus“ des Nicolaus Cusanus, in: Ingolf Hübner, Karsten Laudien, Johannes Zachhuber (Hg.): Lebenstechnologie und Selbstverständnis. Hintergründe einer aktuellen Debatte, Münster 2004, S. 75–98. Von der prinzipiellen Unvereinbarkeit beider Zeitkonzeptionen hingegen geht bspw. aus KRZYSTOF P OMIAN: Astrology as a Naturalistic Theology of History, in: Paola Zambelli (Hg.): Astrologi hallucinati. Stars and the End of the World in Luther’s Time, Berlin 1986, S. 29–43; religionsphilosophisch insbes. MIRCEA ELIADE: Kosmos und Geschichte, Frankfurt/ Main 1994 [zuerst 1953/1966]. 8 Einen hermeneutisch ansprechenden Versuch, eine lutherische „Theologie der Natur“ mit der communicatio idiomatum so in Verbindung zu bringen, dass diese jene geradezu begründet, hat jüngst JOHANN ANSELM STEIGER: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla, Leiden 2002 (Studies in the History of Christian Thought 104), S. 23-51, vorgelegt. Freilich bleibt wohl die Frage offen, ob es tatsächlich überhaupt eine solche Natur-Theologie Luthers gibt, nicht etwa nur gelegentliche Äußerungen von poetischer Qualität. Darüber hinaus verbleiben die angeführten Beispiele im Bereich des Bildlichen, deren Zuordnung zu den theologischen Sachverhalten einem modernen Leser mindestens willkürlich erscheint. 9 „[...] omnia ex eventu et casibus iudicant et a semel argumentantur ad semper contingere. Was zutrifft, wissen sie; das feylen mag, do schweigen sie wol stil zu.“ (WA.TR 2, Nr. 2120) „Calendarii numquam consentiunt. Einer setzt warm, der ander kalt; hoc sic
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terminismus empfand er als ärgerlich, war doch der Mensch keineswegs dem Wirken natürlicher Gegenstände wie den Gestirnen, sondern allein dem Walten Gottes ausgeliefert10. Die Astrologie, die die Gründe für das Wohl und Wehe von Menschen, Städten und Reichen in den Sternen suchte, nicht aber bei Gott, erscheint so als Inbegriff idololatrischen Verhaltens. Zum Misserfolg aufgrund einer unzuverlässigen Methode zur Prognose gesellt sich die Strafe, da ein solcher wissenschaftlicher Fehlgriff schlechterdings unstatthaft gewesen war11. Die Himmel erzählen die Ehre Gottes – aber das bezog Luther nicht auf die Botschaften, die Astrologen hätten dechiffrieren können, sondern auf die Predigt des Evangeliums12. Anders als der Florentiner Dominikaner Savonarola aber hat Luther zu den Fehlern und Irrtümern der Astrologen, ja dem heidnischen Charakter der divinatorischen Kunst nie systematisch Stellung bezogen, sondern sie prinzipiell abgelehnt. Seine gelegentlichen Äußerungen zum Thema dokumentieren eben diese grundsätzliche Ablehnung, aber keine über oberflächliche Kenntnisse hinausgehende Vertrautheit, aus der fundierte Kritik erwachsen könnte13. Savonarola argumentierte, u.a. gestützt auf die brilliputo esse intelligendum: Draussen ist es kalt, hinderm ofen ist es warm.“ (WA.TR 5, 5573) „Mathematicorum fiebat mentio, qui nimium auderent vnd understunden sich zuuiel in illorum practica: Wir wollen ihnen astronomiam gerne nachlassen, aber astrologia kan nicht bestehen, quia nullas habet demonstrationes. Nam prophetiae incertae sunt tales; wan sie nicht geratten, so mus man sie deuten.“ (WA.TR 4, Nr. 4705). Ähnlich zur Unterscheidung medizinischer Symptome von astrologischen Zeichen: „Medici, inquit, habent certa signa ex elementis et experientia et saepe tangunt rem, etiamsi aliquando fallunt; sed astrologi saepissime fallunt, raro veri sunt.“ (WA.TR 4, Nr. 5113). 10 „Summa, quae fiunt a Domino, non sunt astris ascribenda. Ach, der himel fraget nach dem nit! Unser Herr Got fraget auch den himel nit. Christiana religio has naenias omnes confutat.“ (WA.TR 4, Nr. 4846). Im Geleitwort zur Prognosticatio Lichtenbergers von 1527 heißt es entsprechend: „Christen sollen nichts nach solcher weissagunge fragen, denn sie haben sich Gott ergeben, durffen solchs drewens und warnens nicht.“ (WA 23, S. 11). 11 „Credere astris est idolatria, quia contra primum praeceptum.“ (WA.TR 1, 1026; fast gleichlautend WA.TR 2, Nr. 1788; 2690). Unter die Übertretungen des ersten Gebots zählt Luther in: Ein kurze Form der zehn Gebote [...] von 1520 u.a., „wer seyn werck und leben nach erwelten tagen, hymels zeychen unnd der weysagern duncken richtet“ (WA 7, S. 207); ausführlichere Fassung in den Predigten von 1518 über die 10 Gebote: WA 1, S. 403-405. In einer Bemerkung von 1533 wird die Fähigkeit der Zukunftsweissagung als Werk des Teufels charakterisiert: „Possunt vates praedicere impiis genus mortis, quia Diabolus novit cogitationes et consilia impiorum et habet eos in sua potestate. Est enim princeps huius mundi“ (WA.TR 3, Nr. 2929b). 12 WA 31/1, S. 581. 13 Luthers Unvertrautheit mit der Astrologie wurde bereits 1520 bemerkt und getadelt von LORENZ FRIES: Ein kurtze Schirmred der kunst astrologie [...], Straßburg 1520. Vgl. LYNN THORNDIKE: A History of Magic and Experimental Science, Bd. 5, New York 1941, S. 433f.
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anten Analysen Picos14, gegen die Astrologie als Bestandteil einer Kultur, der er selbst angehörte15. Dieser Zugehörigkeit verdanken sich Anzahl und Schärfe der Argumente. Von den disparaten theoretischen Ansätzen innerhalb der astrologischen Überlieferung (also hellenistischem planetarischem und arabischem konjunktionistischem), den subtilen und verführerischen interpretatorischen Strategien, irdische Ereignisse und die Stellung der Gestirne miteinander zu verknüpfen, Geschehnisse also, da am Himmel ja ausschließlich kontinuierliche Bewegung par excellence stattfand, auf die Kombination von stetig wirkenden Komponenten zurückzuführen, das Einzelne aus der singulären Überkreuzung unterschiedlicher konstanter Einflüsse zu erklären und letztlich als Funktion der Zeit aufzufassen, wusste Luther vermutlich recht wenig. Ebenso wenig von den nicht minder ausgeklügelten Argumentationen, die die Astrologie gerade nicht in Konkurrenz zur Theologie geraten zu lassen versuchten. Luthers Fremdheit gegenüber dem astrologischen Diskurs einleitend hervorzuheben hat zwei Gründe. (1) Sie erklärt, jedenfalls zum Teil, weshalb gerade im lutherischen Protestantismus, und nicht zuletzt bei seinen Geistlichen, die Astrologie im 16. Jahrhundert ein hohes Ansehen genoss und zur Interpretation meteorologischer Ereignisse, aber auch in religionspolitischen Kontexten gern verwendet wurde16. Freilich hatte Melanchthon sie mit Hingabe und wissenschaftlichem Ernst gepflegt und durch zahlreiche Vorworte zu klassischen Texten innerhalb des Bildungskanons fest verankert. Die faktische 14
Auf P ICOs fundamentale Kritik in den Disputationes adversus astrologiam divinatricem. (zweisprachige und kommentierte Edition durch Eugenio Garin, Firenze 1946) wird hier nicht eingegangen; einige Bemerkungen sowie Literatur in M ICHAEL W EICHENHAN: Vom influxus coelestis zur anxiety of influence. Überlegungen zu Giovanni Picos Astrologiekritik und ihrer Fortsetzung bei Johannes Kepler, in: Jürgen Kiefer und Karin Reich (Hg.): Gemeinnützige Mathematik – Adam Ries und seine Folgen, Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt: Acta Academiae Scientiarum 8 (2003), S. 165–199, bes. S. 170–184. 15 G IROLAMO SAVONAROLA: Trattato contra li astrologi, in: Scritti filosofici, Bd. 1, hg. von Giancarlo Garfagnini und Eugenio Garin, Roma 1982, S. 275–370. 16 Stellvertretend für die Literatur über dies längere Zeit eher vernachlässigte Thema sei an dieser Stelle nur hingewiesen auf ROBERT B. B ARNES: Prophecy and Gnosis: Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation, Stanford 1988; VOLKER L EPPIN: Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618, Gütersloh 1999 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 69). Einen Interpretationsansatz von W ILL-E RICH PEUCKERT: Die große Wende. Das apokalyptische Saeculum und Luther, Hamburg 1948, fortführend, die Reformation in einen Zusammenhang apokalyptisch gedeuteter Erfahrungen (wozu neben sozialen Umwälzungen auch meteorologische Phänomene gehören) und Erwartungen zu stellen, bieten bspw. ANDREW CUNNINGHAM und O LE P ETER GRELL: The Four Horsemen of the Apocalypse. Religion, War, Famine and Death in Reformation Europe, Cambridge 2000.
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Durchsetzung von Melanchthons Position zeigt, dass Luthers Ablehnung, die sich in vereinzelten Äußerungen niederschlug, weitgehend als seine persönliche Ansicht betrachtet wurde und damit auch folgenlos blieb. Darüber hinaus lässt sich vermuten, dass Luther selbst in der Astrologie gar kein ernsthaftes Problem oder eine intellektuelle Herausforderung sah, gegen die polemisch zu Felde zu ziehen sich lohnen würde. Er nahm, reserviert, zuweilen verärgert, meist aber offenbar eher amüsiert zur Kenntnis, dass seine Einstellung nicht einmal den engsten Mitarbeiter davon abhielt, sich in die Interpretation von Horoskopen zu vertiefen und der Bedeutung aufsehenerregender Erscheinungen am Himmel nachzusinnen17. Nicht zuletzt das „Fehlen“ einer genuinen Schrift contra astrologiam divinatricem18 ermöglichte eine weitgehend bruchlose Adaption astrologischer Deutungsmuster innerhalb des lutherischen Protestantismus, wie sie auch von Melanchthon praktiziert worden war19. (2) Die prinzipielle Ablehnung eines im Grunde unbekannten Gebietes der Naturphilosophie ähnelt der Haltung, mit der Gelehrte des 19. und 20. Jahrhunderts sich dem (mittlerweile gänzlich fremd und geradezu monströs gewordenen) historischen Phänomen der Sterndeutung näherten. Luthers Gelegenheitsäußerungen konnten deshalb als besonders „modern“ angesehen werden, sofern sie überhaupt beachtet wurden. Aber selbst mit diesem Übergehen des Gelegentlichen ließ sich noch signalisieren, dass der Reformator ähnlich ab- und aufgeklärt über ein Phänomen pseudowissenschaftlichen Aberglaubens hinweggegangen war wie die Angehörigen der intellektuellen Mandarine des 19. Jahrhunderts. In seinem 1920 publizierten und zweifellos bahnbrechenden Aufsatz hatte Aby Warburg20 das Umfeld der Rezeption von Johannes Stöfflers beängstigenden Bemerkungen über das Jahr 1524, die Haltung Melanchthons und seiner Freunde untersucht und damit auch den Blick auf Luthers Verhältnis zur Astrologie gelenkt21. In dessen barschen Abfertigungen ge17
Vgl. die eher humorvolle Abgrenzung in WA.TR 1, Nr. 17, und die kategorische Ablehnung aus dem Jahr 1540 in WA.TR 4, Nr. 5113. 18 Das kurze scriptum in WA.TR 1, Nr. 678 (S. 321f.), umfasst in der überlieferten Form nur wenige Zeilen. 19 Melanchthons Haltung zur Astrologie ist wiederholt dargestellt worden, hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf S TEFANO C AROTI: Melanchthons Astrology, in: Astrologi hallucinati (wie Anm. 7), S. 109–121, und jüngst (allerdings recht wenig informativ) C LAUDIA B ROSSEDER: The Writing in the Wittenberg Sky: Astrology in the SixteenthCentury Germany, in: Journal of the History of Ideas 66 (2005), S. 557–576. 20 ABY W ARBURG: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, in: ders., Gesammelte Schriften, Abt. 1: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, neu hg. von Horst Bredekamp und Michael Diers, Berlin 1998 [zuerst 1932], Bd. 2, S. 487–558. 21 Unter den Arbeiten, die sich dem Thema widmen, seien ohne Vollständigkeitsanspruch genannt: LYNN T HORNDIKE: History of Magic (wie Anm. 13), S. 159–233; D IET-
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lehrter Diskussionen um seine Nativität22, dem Spott über die Furcht vor einer sintflutartigen Überschwemmung im Jahre 1524, seiner generellen Reserviertheit gegenüber dem Einfluss der Gestirne auf das politische und religiöse Geschehen diagnostizierte der Hamburger Kunsthistoriker eine geradezu aufgeklärt freie Sichtweise, der er die astrologischen Obsessionen Gauricos, Cardanos und Melanchthons kontrastierte. Luther, nicht aber der Humanist Melanchthon, stand für Warburg in dem einen Brennpunkt der Ellipse des Geistes, dem der gleichsam apollinischen Geistigkeit, die sich der dämonischen Überwältigung, also einer dionysischen Versuchung, als die er die Astrologie stets empfand, vollständig zu widersetzen vermocht hatte23. Die Parallele, die besteht zwischen der pauschalen Ablehnung der Astrologie durch Luther und derjenigen von Seiten der Gelehrten des 19. und 20. Jahrhunderts, für die die Sterndeutung kaum etwas anderes als ein überwundener Aberglaube, ein Relikt archaischen Denkens oder K URZE: Johannes Lichtenberger (gest. 1503). Eine Studie zur Geschichte der Prophetie und Astrologie, Lübeck/Hamburg 1960 (Historische Studien 379), bes. S. 53–62; K LAUS L ÄMMEL: Luthers Verhältnis zu Astronomie und Astrologie (nach Äußerungen in Tischreden und Briefen), in: Gerhard Hammer und Karl-Heinz zur Mühlen (Hg.): Lutheriana. Zum 500. Geburtstag Martin Luthers, Köln 1984, S. 299–312; I NGETRAUT LUDOLPHY: Luther und die Astrologie, in: Astrologi hallucinati (wie Anm. 7), S. 101–107; H EIKE T ALKENBERGER: Sintflut. Prophetie und Heilsgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488–1528, Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 26), S. 285–307, 368–378. 22 Vgl. die interessante Studie von REINHARD STAATS: Luthers Geburtstag 1484 und das Geburtsjahr der evangelischen Kirche 1519, in: Bibliothek und Wissenschaft 18 (1984), S. 61–84, der schwerwiegende Argumente dafür anführt, dass nicht die in den Horoskopen Gauricos und Melanchthons vorausgesetzte Datierung des Geburtsjahres unhistorisch ist, sondern vielmehr die Verlagerung auf 1583 aus quasi astrologischen Bedenken erfolgte – um der Lichtenbergerschen Weissagung und den astrologischen Diagnosen zu entgehen. 23 W ARBURG: Heidnisch-antike Weissagung (wie Anm. 20), S. 531: „Luther [ist] in seiner Ablehnung dieses mythologischen Fatalismus ebenso ein Befreier wie er gegen die feindliche Nativitätsstellerei vorgeht, und die Anerkennung des Anspruchs auf die dämonische Übermenschlichkeit der Gestirne wird von ihm als sündhafter heidnischer Götzendienst zurückgewiesen.“ Zur für Warburg charakteristischen Konzeption einer Polarität zwischen Affektion und Konstruktion, Nähe und Distanz, Dionysischem und Apollinischem vgl. die Bemerkung von 1892: „Indem wir die Dinge entfernen, den Raum produzieren, denken wir – ich! Indem wir zusammen sind, aufgesogen sind, sind wir Materie – nichts.“ So zitiert bei ROLAND K ANY: Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987 (Studien zur deutschen Literatur 93), S. 147. Ähnlich auch die Unterscheidung zwischen „Magie“ und „Logik“, die dem reformationsgeschichtlichen Aufsatz zugrunde liegt (S. 491). E UGENIO G ARIN hat in seiner gelehrten Studie über die mittelalterliche und frühneuzeitliche Astrologiegeschichte positiv auf Warburg hingewiesen: Lo zodiaco della vita. La polemica sull’ astrologia dal trecento al cinquecento, Roma 2 1982, S. 6f. RICH
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eine kapriziöse Haltung sein konnte, droht allerdings übersehen zu lassen, dass die Motive, aus denen heraus jeweils die Astrologie aus dem Bereich des Denkens vollständig ausgeschlossen wurde, deutlich verschieden waren. Im einen Fall ist die Suche nach den Kräften, die Planeten in bestimmten Positionen auf die Erde ausüben, auf Grund wissenschaftlicher Theorien und ihrer Hintergrundannahmen als „unwissenschaftlich“ und nicht konform mit einem bestimmten „Weltbild“ ausgeschlossen. Die Eliminierung der Astrologie aus dem wissenschaftlichen Diskurs erfolgt somit auf der Basis konstruktiver Leistungen der menschlichen Vernunft. Weder die cartesianische Naturphilosophie, noch die Physik, die sich im Gefolge Galileis und Newtons entwickelte, ließ sich mit denjenigen Annahmen in Einklang bringen, die zum mindesten notwendige Bedingungen für die wissenschaftlich akzeptable Formulierung astrologischer Aussagen sind. Da eine damit vergleichbare Form von Naturwissenschaft in Luthers Umfeld gar nicht existierte, vielmehr die Sterndeutung mit einer ganzen Reihe naturphilosophischer Prämissen, die im 16. Jahrhundert konsensfähig waren, zum mindesten vereinbar war, ja sie nicht selten sogar von ihnen gestützt wurde, sind es jedenfalls andere wissenschaftliche Gründe, die im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit für die Einstellung zur Astrologie ausschlaggebend sind. Darüber hinaus hätte – bzw. hat – Luther eine solche konstruktive Funktion der menschlichen Vernunft als Kriterium für die Entscheidung zwischen richtigen und falschen Auffassungen nicht akzeptiert. Im Gegenteil: gerade die Naturphilosophie des Aristoteles – bzw. das, was als solche galt – attackierte Luther als Inbegriff eines lediglich auf die Vernunft des Menschen zugeschnittenen und damit aus theologischer Perspektive zutiefst unzureichenden Denkens24. Luthers Äußerungen über die Vernunft und ihre verderblichen Auswirkungen allein schließen aus25, sei24
Aus der Vielzahl der möglichen Stellen seien hier nur genannt: (1) Die einleitende Erklärung zur Heidelberger Disputation, die sich sowohl gegen den Aristotelismus als Entstellung des Aristoteles, als auch gegen Aristoteles selbst richtet und zu dem Resultat kommt, „nihil adiumenti ex ipso haberi possit non solum ad Theologiam seu Sacras literas, verum etiam ad ipsam naturalem philosophiam“ (WA 9, S. 170), (2) die Attacke auf den Philosophen, der bei den zeitgenössischen Theologen angeblich mehr gälte als Christus selbst, in der er als „perdens et vastator Ecclesiae“ in apokalyptischer Dimensionierung im Blick steht (WA 7, S. 739). 25 Vgl. z.B. in der Galatervorlesung die Bezeichnung der Vernunft (ratio) als „fons fontium omnium malorum“ (WA 40/1, S. 365). Bekannt ist die Bezeichnung der „natürlichen Vernunft“ als „des teuffels hure“ (WA 18, S. 164). Derart abschätzig hat sich Luther in theologischen Zusammenhängen geäußert, wenn Vernunft und Glaube miteinander konfrontiert werden; so etwa auch in der Heidelberger Disputation, wo die „philosophia“ als ein „perversus amor sciendi“ (analog der Begierde als „perversa cupiditas voluptatis“) charakterisiert wird (WA 59, S. 410). Vgl. zur theologisch bzw. soteriologisch motivierten Vernunft- bzw. Aristoteleskritik Luthers bspw. HELMAR J UNGHANS:
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ne Ablehnung der Sterndeutung in eine konstitutive Verbindung zu Phänomenen der wissenschaftlichen und philosophischen Aufklärung hinsichtlich der Natur des Menschen, seiner Stellung in der Welt und seiner Erkenntnis der Welt zu bringen. Sieht man auf Gründe und Hintergrundüberzeugungen, die für die Ablehnung astrologischer Interpretationen jeweils ausschlaggebend sind, so ist klar, dass die oberflächliche Ähnlichkeit auf keinerlei tieferliegenden Gemeinsamkeiten aufruht und eine Verwandtschaft zwischen Luthers Abgrenzung gegenüber der Astrologie und derjenigen in der Moderne nicht besteht. Warburg ist dieser Unterschied der Gründe, die zu ähnlichen Resultaten führten, nicht entgangen. Aus seiner „Religiosität“, so konstatiert er zu Recht, resultiere Luthers Feindschaft gegen die Sterndeutung26, nicht aber aus rationalen Motiven. Im Horizont des Warburgschen Werkes betrachtet ist diese auf den ersten Blick freilich wenig überraschende Äußerung durchaus bemerkenswert. Denn Religion stand für Warburg auf der Seite der „einschwingenden Phantasie“, wie er später im Vorwort seines Bildatlasses „Mnemosyne“ formulierte; sie lässt den Menschen erleben, was sich in diesem Erleben als mächtiger erweist als er selbst, sie begreift damit also den Menschen als ausgeliefert an die ihn umgebenden Dinge, an Kräfte, letztlich das Göttliche. In der Wissenschaft hingegen, namentlich der Mathematik, zeigt sich der Mensch frei gegenüber allem, was ihn umgibt und was ihn einschränkt, bezaubert oder auch nur beeinflusst. Nur hier unterwirft der Mensch die Außenwelt einer Ordnung, während Religion Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985, S. 149–167, sowie die Studien von K ARL-H EINZ ZUR M ÜHLEN: Reformatorisches Profil. Studien zum Weg Martin Luthers und der Reformation, Göttingen 1995, S. 40–65, 141–173; zur Stelle der Heidelberger Disputation die detaillierten Untersuchungen von T HEODOR D IETER: Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin 2001, bes. S. 446–453. In einer Tischrede vom Juli 1543 hat Luther eine nicht christliche Betrachtung der Welt als eine solche charakterisiert und gebrandmarkt, die man wohl als ironisch bezeichnen könnte, also von Distanzierung, satirischem Unernst und Atheismus geprägt: „Nam totus mundus extra religionem est Lucianicus et Epicureus, ut Erasmus fuit [...]“ (WA.TR 4, Nr. 4846); von der Bedeutung der Gotteserkenntnis für die Naturerkenntnis spricht auch eine Stelle wie WA.TR 2, Nr. 1966. Noch die Disputatio de homine, die durchaus freundlich von der Vernunft zu sprechen weiß, sofern sie auf den Bereich der freien Künste, der Medizin und der Rechte beschränkt ist, konstatiert kritisch das Unzureichende des philosophischen gegenüber dem eigentlich theologischen Wissen (WA 39/1, S. 175 [LDStA 1, S. 664]). Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie vgl. auch G ÜNTER FRANK: Die Vernunft des Gottesgedankens. Religionsphilosophische Studien zur frühen Neuzeit, Stuttgart–Bad Cannstatt 2003 (Quaestiones 13), S. 27–51. 26 W ARBURG: Heidnisch-antike Weissagung (wie Anm. 20), S. 499. – Zu den religionsphilosophischen Auffassungen Warburgs vgl. H ARTMUT BÖHME: Aby M. Warburg (1866–1929), in: Axel Michaels (Hg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997, bes. S. 143–154.
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ihn in eine Ordnung stellt, die ihren Ursprung nicht im menschlichen Geist hat und die ihm deshalb als etwas Achtungsgebietendes oder geradezu etwas Geheimnisvolles entgegentritt. Obwohl sich für Warburg die Astrologie selbst, insofern nicht grundsätzlich anders als die bildende Kunst, als ein zwischen Rezeptivität und Konstruktion, Hingabe und Gestaltung gleichsam pendelndes Phänomen darstellte, galt sie ihm doch als eine Gestalt von „Weltfrömmigkeit“. In ihrem Fortleben bis in die Neuzeit diagnostizierte Warburg die Persistenz „heidnisch-antiken“ Denkens, eines Denkens, das in Bezug auf den Kosmos von religiöser Andacht ist, ja Gott und Kosmos geradezu zu identifizieren vermag27. Wird Religiosität zur Ursache der Feindschaft gegenüber der Sterndeutung, so bedeutet das, den ihr eigenen Charakter der Minimierung von Distanz von den Dingen der Welt abzuwenden und ganz auf die Beziehung zu Gott zu konzentrieren. Das heißt, Luthers Religiosität an dem Widerspruch gegen jede Form von „Weltfrömmigkeit“ zu profilieren. Sie entkleidet die Natur der religiösen Bedeutung und konzentriert sich ganz auf das Verhältnis zwischen Gott und menschlicher Seele. Warburgs Bemerkung dürfte wohl als Anklang an eine Art der Lutherdeutung verstanden werden, die in erster Linie mit dem Namen Albrecht Ritschls verbunden ist. Ritschls Luther war eine Gestalt, die über die Grenzen einer historischen Person aus dem 16. Jahrhundert weit hinausgewachsen war: an ihm fand das an Schleiermacher und Kant geschulte liberale Christentum die geschichtlichen Wurzeln, die es zugleich legitimierte. Konfessionalistische Enge, der unduldsame Dogmatismus waren wie die apokalyptischen Erwartungen und mannigfache Formen des Aberglaubens zu bloßen Zeiterscheinungen marginalisiert, gehörten zudem einer späteren Zeit an. In Luther hingegen begegnete Ritschl dem Sachwalter einer unspekulativen („praktischen“) Theologie, einer Religiosität, die vom Vertrauen auf den die Sünden vergebenden Gott und einem christlichen Ethos geprägt war, das sich innerhalb der Gesellschaft zu bewähren und damit auch zur individuellen Vervollkommnung beizutragen hatte28. Pointierter als an anderen Stellen hatte Ritschl in seiner Rede zu Luthers 400. Geburtstag 1883 vor dem breiten Publikum der Göttinger Universität die christliche Freiheit in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen über die bleibende Bedeutung der lutherischen Reformation gerückt. Damit war natür27
Hinzuweisen wäre u.a. auf das aktive Prinzip der stoischen Kosmologie, das als Geist, Gott, Weltseele usw. bezeichnet werden kann; die ältere stoische Lehre zusammenfassend: C ICERO: Academica I 29; vgl. auch M ANILIUS: Astronomicon II, 60-66. 28 Vgl. die eindringliche theologische Studie von ULRICH B ARTH: Das gebrochene Verhältnis zur Reformation. Beobachtungen zum Protestantismusverständnis Albrecht Ritschls, in: Martin Berger und Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Transformationsprozesse des Protestantismus. Zur Selbstreflexion einer christlichen Konfession an der Jahrtausendwende, Gütersloh 1999, S. 80–99.
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lich kein an den politischen Ideen des Liberalismus orientierter Begriff von Freiheit gemeint. Die Freiheit, um die es Ritschl ging und um die es seiner Meinung nach bereits Luther gegangen war, war prinzipiell religiöser Natur, sie betraf das Verhältnis zu dem liebenden und vergebenden Gott, der dadurch aber den Menschen befähigt, sich dem gegenüber, was ihn in der Welt umgibt, souverän zu verhalten. Diese Souveränität hat nun keinesfalls nur auf den Bereich der Ethik beschränkte Konsequenzen. Der Luther, den Ritschl vor seinem Auditorium erstehen ließ, hatte, recht verstanden, den entscheidenden Grund für die freie, vorurteilslose Wissenschaft gelegt, wie sie in Göttingen exemplarisch gepflegt wurde: Nicht minder ist die von Luther proclamirte christliche Freiheit der Grund für die Selbständigkeit und die reiche Ausbreitung aller Arten des Erkennens. [...] die religiöse Beherrschung der Welt hebt im Grunde auch die Scheu vor der Natur auf, welche im Mittelalter als die Nachwirkung heidnischer Lebensmotive die Gemüther beherrscht, und die genaue Beobachtung und Erforschung der Natur verhindert hat. Dass Luther selbst jene Folgerung nicht gezogen, dass der von ihm getheilte Aberglaube noch eine Reihe von Generationen der protestantischen Völker beherrscht hat, dass die unbefangene Erforschung der Natur auch dem protestantischen Kirchenthum erst mühsam abgekämpft werden musste, dass endlich mit der erfolgreichen Naturforschung des letzten Jahrhunderts ein Bewusstsein von ihrem Zusammenhang mit der leitenden praktischen Idee Luthers nicht verbunden ist, kann nicht mit Recht gegen jene Behauptung eingewendet werden. Denn wo anders findet sich die Voraussetzung aller Naturerforschung, nämlich dass der menschliche Geist über die Welt mächtig und mehr werth sei als sie, vorbereitet, als in Luthers religiöser Idee von der Freiheit eines Christenmenschen? Ist aber die Scheu vor der Natur unter den Menschen des Mittelalters Nachwirkung heidnischer Religion, so kann diesselbe schliesslich nur durch ein religiöses Motiv entgegengesetzter Art ungiltig gemacht worden sein.29
Es bedarf an dieser Stelle keiner Auseinandersetzung mit diesem verklärenden und forciert modernisierten Lutherbild. Dass bei diesem Versuch, Luther geradezu als den wahren Ahnherrn sogar der modernen Wissenschaft auszugeben, Historisches auf der Strecke bleiben musste, sah Ritschl selbst. Warburg, nicht an geschichtlicher Legitimation, sondern an historischen Details interessiert, die er unter dem Aspekt jener genannten Polarität erfasste, die verschiedenen konkreten historischen Ausformungen zugrunde liegt, übernahm die Auffassung Luthers als Heros der Freiheit, namentlich der Freiheit gegenüber dem Relikt des Heidentums, der dämonisierten Natur. Mögen auch die Gründe für das unter assimilierten Juden des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht seltene Bestreben, an einen modernen – d.h. modernisierten – Luther anzuknüpfen, durchaus plausibel
29
A LBRECHT R ITSCHL: Festrede am vierten Seculartage der Geburt Martin Luthers am 10. November 1883 vor der Georg-Augusts-Universität, Göttingen 1883, S. 13.
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sein30: im Falle der Haltung zur Astrologie entgeht einer solchen Sicht, die auf der stillschweigenden Annäherung Luthers an Kant basiert, gerade sein genuin und exklusiv „religiöser“ Charakter. Denn die postulierte Freiheit gegenüber dem Wirken der Gestirne ist eben kein Ergebnis einer aus theologischen Motiven heraus revidierten Physik wie etwa eine okkasionalistische oder auch eine atomistische es wären oder sein könnten31. Auf den von Nicolaus Cusanus eingeschlagenen Wegen der Formulierung kosmologischer und insbesondere geistphilosophischer Alternativen zu den Spielarten scholastischen Philosophierens in De docta ignorantia und De coniecturis sind weder Luther, noch der in Fragen der Naturphilosophie dominierende Melanchthon weitergegangen; Johannes Kepler blieb isoliert. Es entgeht einer solchen Sicht, freilich in weit geringerem Maße als im Falle Ritschls, die Tatsache, dass Luthers Verachtung der Astrologie und deren Verdammung die Kehrseite der totalen Abhängigkeit des Gläubigen von der göttlichen Gnade war. Obwohl hinsichtlich des theologischen Profils deutlich von Ritschls liberaler Interpretation verschieden, ist die u.a. wiederum gegen Paul de Lagarde und Ernst Troeltsch32 entwickelte Lutherdeutung von Karl Holl und seinem Schüler Emanuel Hirsch33 nicht weniger daran interessiert, die Zugehörigkeit Luthers zu einer deutlich von den Auffassungen der idealistischen Philosophie her interpretierten Neuzeit, seine Bedeutung für die Entwicklung der „Sittlichkeit“, der menschlichen „Persönlichkeit“ und auch den Fortschritt der Wissenschaften hervorzuheben34.
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Vgl. zur positiven Einstellung Hermann Cohens gegenüber Luther CHRISTIAN W IE„Auch uns sei sein Andenken heilig!“ Idealisierung, Symbolisierung und Kritik in der jüdischen Lutherdeutung von der Aufklärung bis zur Schoa, in: Hans Medick und Peer Schmidt (Hg.): Luther zwischen den Kulturen, Göttingen 2004, S. 215–259, bes. S. 243– 248. 31 Als Beispiel für einen marginalisierten Versuch innerhalb des Luthertums wäre zu nennen E ILHARD LUBIN: Phosphoros de prima causa et natura mali, Rostock 1601. 32 ERNST T ROELTSCH: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), in: ders., Kritische Gesamtausgabe Band 7, Berlin 2004, S. 81–539; Luther und die moderne Welt (1908), in: Kritische Gesamtausgabe Band 8, Berlin 2001, S. 59–97. Naturphilosophisches kommt hier allerdings nicht zur Sprache. – Zu Kontext und Wirkungsgeschichte dieser Interpretation vgl. T HOMAS K AUFMANN: Luther zwischen den Wissenschaftskulturen. Ernst Troeltschs Lutherdeutung in der englischsprachigen Welt und in Deutschland, in: Luther zwischen den Kulturen (wie Anm. 30), S. 455–481. 33 EMANUEL H IRSCH: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 1, Gütersloh 21960 (11949), bes. S. 113–128, 129–157 zur positiven Rolle des Protestantismus bei der Ausbreitung der neuen copernicanischen Theorie. 34 K ARL H OLL: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 3 1923, insbes. „Die Kulturbedeutung der Reformation“ (S. 468–543); anders als bei Hirsch fehlen hier Bezugnahmen auf die Wissenschaftsgeschichte. SE :
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Auch dann, wenn man die sprachliche Einkleidung in das Gewand der Bildungssprache des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts reduziert, bleibt der Anschluss Luthers an die expliziten und impliziten Vorstellungen dieser Zeit problematisch. Nur ein Gesichtspunkt sei genannt. Hinter der Artikulation der emanzipatorischen Momente, die namentlich Luther und den reformatorischen Bewegungen insgesamt nicht abgesprochen werden können, hinter den Hinweisen auf die „christliche Freiheit“, die Luther proklamierte, droht zu verschwinden, dass eben diese Freiheit mit der prinzipiierenden Subjektivität Kants und Fichtes wenig gemein hat. Sie verdeckt dafür Parallelen und Ähnlichkeiten, die Luthers Bestreitung eines freien menschlichen Willens in der philosophischen Literatur seiner Zeit hatte. Pietro Pomponazzi hat den zumeist weichen Determinismus der Astrologie verschärft und in einem konsequent materialistischen System rekonstruiert, in dem sich die Freiheit des Menschen verflüchtigt35; Machiavellis und Hobbes’ politische und Handlungstheorien reduzierten oder eliminierten sie völlig36. Frühneuzeitliches Denken in dieser Perspektive gesehen erschiene nicht als die Emanzipation von Absolutismen – z.B. theologischer Art –, sondern als motiviert von dem Bestreben, Komponenten zu eliminieren, die sich der Vollstreckung systematischer Konstruktionen in den Weg stellen. Die langsame und keineswegs stetig verlaufende Kritik an der Sterndeutung, die bereits im Mittelalter beginnt und sie schließlich nahezu geräuschlos aussterben lässt, wäre dafür ein privilegiertes Objekt. Dies kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Die Einstellung Luthers zur Astrologie aber, also einer geistigen Tätigkeit, die sich der Erforschung von Dispositionen und Einflüssen widmet, die sich spezialisiert auf das Aufspüren des Verborgenen, aber niemals Sicherheit erlangt, lässt sich verstehen aus dem Zusammenhang mit einer Theologie, die etwas verspricht, was auch die an Aristoteles geschulte „scholastische“ Theologie nicht zu leisten vermag: Dem Menschen eine Form von Gewissheit zu verschaffen, die der Mensch von sich aus und mit seinen eigenen Mitteln nicht gewinnen kann. Bevor dies, jedenfalls ansatzweise, plausibel zu machen versucht wird, wird an Hand der Behandlung der Astrologie durch den Erfurter Philosophen und Theologen Trutfetter der Hintergrund skizziert, auf dem sich Luther interpretieren lässt.
35
P IETRO P OMPONAZZI: De naturalium effectuum admirandorum causis, sive de incantationibus, Basel 1556; DERS.: Petri Pomponatii Mantuani libri V de fato, de libero arbitrio et de praedestinatione, hg. von Richard Lemay, Lucani 1957. 36 Vgl. dazu den v.a. gegen die Neuzeitthese Hans Blumenbergs gerichteten Aufsatz „Neuzeit und Handlung“ von W OLFGANG H ÜBENER in: ders.: Zum Geist der Prämoderne, Würzburg 1985, S. 9–24.
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3. Jodocus Trutfetters Behandlung der Astrologie Trutfetters Lehrbuch der Naturphilosophie ist keine Darstellung der von Aristoteles in der Physikvorlesung und der kosmologischen Schrift De coelo vertretenen Lehren37. Obwohl er sich über weite Strecken an den Begriffen und Auffassungen des Stagiriten orientiert, erstrebt die Summa in totam physicen alles andere als eine treue Interpretation des Wortlautes seiner Schriften. Im Unterschied zu den Peripatetikern bspw. in Padua sucht der Erfurter Professor gerade, von den theologischen Lehren her eine Naturphilosophie zu konzipieren, wobei er sich freilich auf Aristotelisches stützt. Der theologischen Ausrichtung entspricht die Auswahl der Autoritäten: Er konsultiert die Bibel und Augustinus, unter den mittelalterlichen Autoren wird kaum auf Averroës verwiesen, dafür aber werden Stellen von Wilhelm von Auvergne, Thomas, Bonaventura, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham und Gabriel Biel angeführt, darüber hinaus kommen Autoren wie Nicolaus von Lyra und Jean Gerson vor. Das bedeutet eine gewisse Akzentuierung auf Autoren franziskanischer Herkunft, es signalisiert die Nähe des Autors zur via moderna. Die Behandlung der Astrologie eröffnet Trutfetter mit einer beeindruckenden Reihe von Autoritäten, die verschiedene Formen des astrologischen Aberglaubens (superstitiones variae astrologicae) verdammen. Innerhalb der Auflistung zahlreicher Stellen im Werk des Augustinus, der üblichen Bibelstellen und anderer scholastischer Autoren fällt vor allem die Erwähnung der Disputationes contra astrologiam divinatricem Picos auf, das Werk eines Autors, der einer anderen geistigen und sozialen Welt angehörte als die Gelehrten an den Universitäten von Paris und Tübingen. Inwieweit ihm freilich die Schrift des eigenwilligen Philosophen tatsächlich bekannt war, lässt sich schwer entscheiden. Zum mindesten zeigt die Art und Weise der von ihm formulierten Kritik, dass die Gründlichkeit und Radikalität, mit der Pico die Brüchigkeit des traditionellen astrologischen Theoriengeflechtes gezeigt und schließlich auch noch ihre Geschichte de37
JODOCUS T RUTFETTER: Summa in totam physicen: hoc est philosophiam naturalem conformiter siquidem vere sophie, Erfurt 1514. Zu Trutfetter vgl. ERICH K LEINEIDAM: Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt im Mittelalter 1392–1521, Bd. 2: 1460–1521, Leipzig 1969 (Erfurter Theologische Studien 22), S. 148–151, 217–225; JUNGHANS: Der junge Luther (wie Anm. 25), S. 42; ZAMBELLI: Astrologi consiglieri (wie Anm. 5), S. 498–501; SIMO K NUUTTILA: Trutfetter, Usingen and Erfurtian Ockhamism, in: Jan A. Aertsen und Andreas Speer (Hg.): Was ist Philosophie im Mittelalter?, Berlin 1998 (Miscellanea Mediaevalia 26), S. 818–823; PEKKA A. K ÄRKKÄINEN: Nature and Individual in Jodocus Trutfetter’s „Summa in tiotam physicen“, in: ebd. S. 824–828; HENRIK SVENSSON: Jodocus Trutfetter’s Conception of Modal Logic, in: ebd. S. 829–837; PEKKA A. K ÄRKKÄINEN: Theology, Philosophy, and Immortality of the Soul in the Late via moderna of Erfurt, in: Vivarium 43 (2005), S. 337–360.
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struiert hatte, die vorgeblich auf alte und somit ehrwürdige Ursprünge zurückführte, ihm bei der Lektüre entgangen wäre. Denn Trutfetter bekämpft lediglich die „abergläubischen“ Auswüchse, nicht aber gewisse naturphilosophische Grundlagen, auf denen die Astrologie ruht. Diese werden vielmehr ausdrücklich gebilligt. Trutfetter bestreitet folglich nicht, dass die Gestirne generell einen Einfluss auf das irdische Geschehen ausüben, sie die Eigenschaften der Elemente und deren Transmutationen bestimmen, und sie die Entstehung der Metalle in der Erde wie der feurigen atmosphärischen Erscheinungen beeinflussen38. An dem Umfang dessen, was Trutfetter als gesicherte Erkenntnis über das Wirken der Gestirne auf den Bereich der Erde voraussetzt, lässt sich zunächst ablesen, in wie hohem Maße diese der Theologie konforme Naturphilosophie den Rahmen dessen überschreitet, was etwa Aristoteles selbst über den Einfluss der supralunaren Bewegungen auf den irdischen Raum vorgesehen hat39. Und das betrifft nicht allein die Aristoteles doch weitgehend fremden Vorstellungen von dem Einfluss auf die Gestaltung der unbelebten Natur. Auf Grund seiner Unterscheidung zwischen dem Bereich der 4 Elemente und ihrer Eigenschaften, die für die Erklärung chemischer und kinematischer Prozesse herangezogen wurden, und dem supralunaren Raum, in dem es lediglich die Ortsveränderung gab, und zwar in Form der Rotation von Sphären, die den für die Bewegung konstitutiven Charakter einer Veränderung geradezu gegen Null gehen ließ, kam der Einwirkung des oberen stellaren auf den unteren sublunaren Bereich keine 38
T RUTFETTER: Summa in totam physicen, L 1v: „Dicendum coelum per stellas habere multiplicem actionem in haec inferiora tam in elementa quam mixta, et haec tam imperfecta quam perfecta, tum inanimata, tum animata irrationalia tum. In elementis satis claret, quod ex accessu et recessu solis aliorumque astrorum calefactiuorum calescunt aut frigescunt. Unde etiam in eis fit transmutatio unius in aliud et perinde eorundem generatio et corruptio. Item ignis et superior pars aeris ad motum primi mobilis mouentur circulariter, ut est cernere in cometis et impressionbus ignitis. Luna etiam maris fluxum et refluxum efficit. De mixtis imperfectis et meteorologicis impressionibus nihil est dubii quin omnis diuersitas et motus eorundem ad coelos et stellas reducitur. Nec mixtorum insignatorum (ut metallorum in terrae uisceribus generatorum) sola terra causa est, quod eiusdem rationis sit in omnibus regionibus. Oportet igitur causam generationis eorum ad constellationem referre [...].“ Abkürzungen wurden aufgelöst, Orthographie und Interpunktion normalisiert. 39 Bekanntlich hat Aristoteles die Umwandlung der Elemente ineinander ohne Rückgriff auf eine (gegenüber den wahrnehmbaren Prozessen an konkreten Dingen weitere erschlossene) einheitliche und übergeordnete Größe konzipiert, die wiederum diese Veränderungen in Gang setzen würde (De gen. et corr. II 4, 331a14-b11), und die Entstehung von Mineralien und Metallen aus Ausdünstungen der Erde interpretiert (Meteor. III 6, 378a15-b6). In Phys. VIII, insbesondere Kapitel 7–8 (260a20–262a12), erweist Aristoteles die Notwendigkeit einer für alle endlichen Bewegungen grundlegenden ewigen Kreisbewegung; von einer Übertragung primärer oder okkulter Qualitäten hingegen ist selbstverständlich nicht die Rede.
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konstitutive Rolle zu, zum mindesten keine, die den im Stoizismus entwickelten und in der arabischen Philosophie ausgearbeiteten Konzeptionen auch nur annähernd vergleichbar wäre. Ausgesprochen summarisch hatte Aristoteles die Rotation des Himmels als das Bewegungsprinzip verschiedener atmosphärischer Phänomene bezeichnet und vor allem der Sonne einen Einfluss auf irdische Prozesse zugeschrieben40; insbesondere Kometen sollten von der Rotation der untersten Sphäre erfasst und mit umgeführt werden41. Bei der Kometenlehre freilich handelte es sich ohnehin um eine häufig attackierte bzw. uminterpretierte Auffassung, die mit den sonst geäußerten Vorstellungen nur schwer zu vereinbaren und außerdem nicht eben überzeugend war. Aber nicht nur Metalle und feurige Meteora, sondern auch das vegetative und sensitive Sein einschließlich der Veranlagungen der Menschen werden, wie Trutfetter feststellt, von den Gestirnen bestimmt. Ihre Wirksamkeit erstreckt sich bis auf die Prädisposition der willentlich herbeigeführten Entscheidungen, also die Ausbildungen bestimmter „Neigungen“, die aus der spezifischen Mischung der Säfte bzw. der Dominanz eines von ihnen resultiert. Die in zahllosen Traktaten in diesem Zusammenhang angeführte Sentenz, der zufolge die Sterne zwar geneigt machen, nicht aber die Entscheidung des Willens selbst bestimmen42, umreißt genau das riesi40
Vgl. Meteor. I 2–3, 339a19–340b19; 341a13-19 zur Entstehung von Wärme; vgl. auch die Aufzählung der Komponenten Ekliptikebene (für jahreszeitliche Unterschiede), Sonne und Vater zur Entstehung eines Menschen in Metaph. XII 5, 1071a13-17. In einen solchen Zusammenhang gehört auch De gen. et corr. II 10, 336a32-b24: hier ist die jährliche Sonnenbewegung als Ursache für das Entstehen und Vergehen irdischer Wesen genannt. Vgl. bei ALBUMASAR (Introductorium maius III 3, B8 v): „Principaliter Sol rerum nature animantium et vite germinum metallorumque generationibus preest, stelle vero magis singularum provinciarum privatis moribus atque tenore communicant.“ Diese und einige andere Stellen sind bei Albumasar Anknüpfungspunkte, um die astrologischen Auffassungen von der Beeinflussung des Sublunaren durch Astrales mit Aristoteles in Einklang zu bringen; dies wiederum stellt den interpretatorischen Kern der epochalen Studie von ROBERT LEMAY dar: Abu Macshar and Latin Aristotelianism in the Twelfth Century. The Recovery of Aristotle’s Natural Philosophy through Arabic Astrology, Beirut 1962. Vgl. auch P ETER ADAMSON: Abū Macšar, Al-Kindī and the Philosophical Defense of Astrology, in: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 69 (2002), S. 245–270. Zum Konzept des astrologischen Einflusses vgl. v.a. JOHN D. N ORTH: Celestial Influence – the Maior Premiss of Astrology, in: DERS.: Stars, Minds and Fate. Essays in Ancient and Medieval Cosmology, London 1989, S. 243–300; STEVEN V ANDEN BROECKE: The Limits of Influence. Pico, Louvain, and the Crisis of Renaissance Astrology, Leiden 2003, S. 12–80. 41 Meteor. I 7, 344a8-b13. 42 „Astra inclinant, non necessitant.“ Verwandt ist das „sapiens dominabitur astris“, das bspw. begegnet bei THOMAS VON AQUINO (STh I q. 115, a.4 ad 3) und bei P IERRE r D’A ILLY: Concordantia astronomie cum teologia, Augsburg 1490, a3 , und wegen seiner Verbindung zu Ptolemaios wohl auf den 5. Aphorismus des Centiloquiums zurückgehen
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ge Terrain, auf dem die Wirksamkeit der Gestirne sich entfaltet. Es umfasst die Entstehungs- und Veränderungsprozesse in der unbelebten wie der belebten Natur. Lediglich die von der menschlichen Vernunft kontrollierte Entscheidung wird von der Wirksamkeit der Gestirne ausgenommen. Der menschliche Wille erweist sich deshalb als frei, weil er nicht Resultat rein natürlicher Prozesse ist, die von den Sternen und Planeten beeinflusst werden, sondern einer anderen und gegenüber dem Körperlichen höheren Ordnung angehört. Da die Gestirne körperlicher Natur sind, können sie das Geistige am Menschen nicht bestimmen. An dieser Stelle verläuft die Grenze zwischen der korrekten Naturphilosophie und dem „Aberglauben“. Als häretisch gilt es hier, die Freiheit des Willens zu negieren, und zwar gestützt auf den Determinismus natürlicher Ursachen43. Die Möglichkeit, Künftiges vorherzusagen, ist also auf Grund der Spontaneität des menschlichen Willens eingeschränkt. Dem tritt häufig das kognitive Argument an die Seite, dem zufolge auch das, was determiniert ist und folglich vorausgewusst werden könnte (und deshalb von Engeln oder Dämonen auch gewusst wird), auf Grund der Beschränkung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit nicht vorausgewusst werden kann. Dass astrologisches prognostisches Wissen unsicher ist und Behauptungen über Künftiges sich deshalb oft als falsch erweisen, ist ein Argument, das durchaus zum Bestand der astrologischen Theorie selbst gehören wie als spöttischer Einwand verwendet werden kann44. Ohne auf Details einzugehen lassen sich diese Auffassungen bis zum Introductorium maius Albumasars und zu Ptolemaios’ Apotelesmatica zurückverfolgen, also den beiden alle anderen überragenden Autoritäten der Sterndeutung45. Beide unterscheiden sich vor allem darin, dass Albumasar dürfte. Beide Sprüche sind unmittelbar kombiniert in JOHANNES L ICHTENBERGER: Prognosticatio in latino, Heidelberg 1488, Aijr. 43 T RUTFETTER: Summa in totam physicen (wie Anm. 37): „At quod quidam mentiuntur, ex ui positionis siderum necessario causari in hominibus diuersitatem morum, ita quod talis sit quisque in moribus, qualem eum facit esse dispositio siderum, in qua est conceptus uel natus. Dicentes illam uim fatum ueluti impium, hereticum et falsum aspernandum est [...] Verum si quis fatum dixerit dispositionem siue ordinationem causarum secundarum ad effectus producendos diuinitus, sic fatum aliquid est nec negandum.“ (L2 r) 44 Vgl. P TOLEMAIOS: Apotelesmatica I 2, 14f. (hg. von F. Boll und Æ. Boer, Leipzig 1957, S. 8). 45 Die Apotelesmatica (oder auch Tetrabiblos, Opus quadripartitum) wurden 1136 von Plato von Tivoli übersetzt, wenig später (nach 1140) übersetzten Ioannes Hispanus und Hermann von Carinthia jeweils das Introductorium maius des Albumasar (Abū Macšar Ğacfar b. Muhammad b. cUmar al-Balhī), Ioannes Hispanus De magnis coniunctionibus. Für die Ausbreitung dieser Synthese astrologisch-naturphilosophischer Theorien sind neben De essentiis von Hermann von Carinthia (hg. von Charles Burnett, Leiden 1982) vor allem zu nennen: das in seiner Autorschaft umstrittene – häufig Albertus Magnus
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nicht nur, wie aber Ptolemaios, die Planeten auf den sublunaren Raum wirken, sondern im Anschluss an Alkindi die Gesamtheit alles dessen, was am Himmel sichtbar ist, an der Konstitution des Sublunaren beteiligt sein lässt46. Darüber hinaus entwickelte der persische Astrologe die Konjunktionenlehre, eine Lehre, die Perioden der Planetenumläufe mit historischen Ereignissen verband und sich im Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert hinein als Ergänzung und Alternative zu christlichen Zeitalterlehren empfahl. Insbesondere gegen sie hatte Pico seine Kritik gerichtet, sie stand im Hintergrund apokalyptischer Erwartungen, die den Beginn der Reformation begleiteten und bis zum Ende des Jahrhunderts kaum an Vitalität verloren. Die Konjunktionenlehre als spezielle Form einer astrologischen Erkenntnismethode spielt bei Trutfetter keine Rolle, denn seine summarische Behandlung ist darauf konzentriert, den Umfang zu bestimmen, in dem der Einfluss des Himmlischen auf das Irdische zugestanden werden kann, ohne in Kollision mit der kirchlichen Lehre zu geraten. Seine Ausführungen orientieren sich dabei an Ioannes Duns Scotus47 und Gabriel Biel48, darüber hinaus wird Jean Gerson genannt49, der sich auf Pierre d’Ailly bezugeschriebene – Speculum astronomiae (hg. von Paola Zambelli, Dordrecht 1992); Guido Bonatti (Liber astronomicus) und Pietro d’Abano (Lucidator dubitabilium astronomiae, hg. von Graziella Federici Vescovili und Eugenio Garin, Padova 1988; Conciliator controversiarum, quae inter philosophos et medicos versantur, hg. von Ezio Riondato und Luigi Olivieri, Padova 1985) Vgl. dazu im Überblick LYNN T HORNDIKE: History of Magic (wie Anm. 13), Bd. 2, S. 825–835; 874–947. 46 Vgl. ALBUMASAR: Introductorium III 1, besonders B6 v. Vgl. auch ALKINDI: De radiis, cap. 2: „Quocirca convincitur ratione quod omnium stellarum radii diversas habent in rebus mundi operationes secundum earundem rerum proprietates diversas, cum omnes res per radios oriantur et extent. [...] Diversitas ergo rerum in mundo elementorum apparens in quocumque tempore ex duabus precipue causis procedit, scilicet ex materiarum diversitate et varia stellarium radiorum operatione. Inter que, quia in aliquibus est maior, in aliquibus minor differentia, producuntur res tum magis tum minus differentes in diversis locis et temporibus. [...] Ex hac radiorum inter se condicione tanta rerum diversitas surgit in hoc mundo ut nusquam due vel plures res actu existentes in omnibus consimiles inveniantur.“ (De radiis, hg. und mit einer Einleitung von M ARIE-T HERESE D’ALVERNY und FRANÇOISE H UDRY, in: Archives d’ histoire doctrinale et littéraire du Moyen-Âge 41 [49 e année: 1974] 1975, S. 220–222.). Vgl. auch: P SEUDO-AVICENNA: Liber celi et mundi, hg. und mit einer Einleitung von Oliver Gutman, Leiden 2003 (Aristoteles semitico-latinus 14), S. xvii–xxi, 264–274. Bis in die Formulierungen hinein erhalten sich diese Gedanken bspw. bei HEINRICH CORNELIUS A GRIPPA VON N ETTESHEIM: De occulta philosophia, cap. 33, in: Opera, Lyon 1600, Bd. 1, S. 54. 47 I OANNES D UNS SCOTUS: Lectura II d. 14, q. 3 nr. 31–36 (Editio Vaticana Bd. 19, S. 124–126). 48 G ABRIEL B IEL: Collectorium circa II librum sententiarum, hg. von Wilfried Werbeck und Udo Hofmann, Tübingen 1982, d. 14 (Bd. 2, S. 328–344). 49 JEAN G ERSON: Trilogium astrologiae theologizatae, in: Opera, hg. von Louis Ellies Du Pin, Antwerpen 1706 [ND Hildesheim 1987], Bd. 1, S. 189–203.
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zieht, der wiederum Albumasar für die Theologie fruchtbar gemacht hatte. Ungeachtet der Unterschiede ist ihnen die Auffassung gemeinsam, dass die Gestirne – am deutlichsten natürlich Sonne und Mond – die primären Qualitäten der sublunaren Gegenstände beeinflussen und damit auch an deren Entstehen beteiligt sind. Ausgeschlossen wird ihre Mitwirkung bei der Genese der menschlichen Geistseele sowie die Determination des Handelns. Ebenfalls ausgeschlossen wird darüber hinaus der Gedanke der vollständigen Bestimmung der Dinge durch die in Licht und Bewegung sich manifestierende „Kraft“ der Sterne und Planeten50. Dadurch lässt sich vermeiden, jedes Ereignis und jedes zeitlich begrenzt existierende Ding als notwendig bestehend zu betrachten, insofern sie z.B. von der kontinuierlichen Bewegung der Gestirne verursacht sind. Die Gefahr, die Kontingenz dessen, was zur geschaffenen Welt gehört, zu nivellieren, sehen lateinische Autoren vor allem in der Metaphysik des Avicenna begründet, der zufolge sich die göttliche erste Ursache zu allem anderen nicht anders verhalten kann als dessen Existenz und Sosein mit Notwendigkeit zu bestimmen51. Dagegen lässt sich unter Rückgriff auf Aristoteles einwenden, über das Regelmäßige hinaus ereigne sich auch Zufälliges. Wenn dieses aus unterschiedlichen Prädispositionen der Materie oder dem Dazwischentreten einer anderen Ursache – einer „causa concurrens per accidens“ – resultiert, so ist etwa die regelabweichende Ausbildung eines Dinges (z.B. eine organische Missbildung) als zufällig zu bezeichnen, da sie der Form des Organs nicht entspricht. Die Unterscheidung zwischen regelmäßig und zufällig ist deshalb nicht auf das bloße Fehlen ausreichender Informationen zurückzuführen, also nur Resultat einer kognitiven Beschränkung des menschlichen Geistes, sondern objektiv in der unterschiedlichen Rezeptionsfähigkeit der Form in der Materie begründet. Freilich wäre ein solcher Verweis auf den Zufall, dessen sich etwa Thomas von Aquino bedient, noch kein starkes Argument, da er in dem theologischen Zusammenhang, der zum Widerspruch gegen einen naturbedingten Nezes50
Unter den 1277 verworfenen Thesen behandeln (nach der Zählung von Denifle) die Thesen 132f. und 161f. den Einfluss der Himmelskörper auf die menschliche Seele. Vgl. ROLAND H ISSETTE: Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277, Louvain 1977, S. 237–241. 51 So T HOMAS VON AQUINO: In Metaph. commentaria VI lect. 3 (ed. Cathala, Turin 1926, nrr. 1191–1222) unter Berufung auf Aristoteles, Metaph. VI 3, 1027a29-b12 gegen AVICENNA: De philosophia prima tr. 10, cap. 1 (Avicenna latinus, hg. von Simone van Riet, Bd. 4, S. 524f.: „voluntates fiunt postquam non fuerunt, et ideo habent causas ex quibus consequenter proveniunt facientibus eas esse debere. [...] voluntates autem fiunt a causis quae fiunt facientibus debere esse, et inducentibus et innitentibus terrenis vel caelestibus, quae faciunt debere esse necessario illam voluntatem.“); ähnlich ScG III 86 nr. 2624, 2631; Quodlibet XII q. 4: de fato. Vgl. auch die Abgrenzung gegenüber Avicenna in Gerson: Trilogium (wie Anm. 49), prop. 3, S. 190.
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sitarismus allererst motiviert, lediglich bestreiten kann, dass Ursachen wie die Form oder auch – jedenfalls prinzipiell – solche natürlichen Ursachen wie die Gestirne und ihre Bewegungen das materiebehaftete und veränderliche Sublunare stets vollständig bestimmen. Es müsste auch erklärt werden, inwieweit dieses Defizit mit der Wirksamkeit der ersten göttlichen Ursache vereinbar ist und von dieser gewissermaßen kompensiert wird52. Thomas’ Lösung besteht in der Differenzierung zwischen derjenigen Ursächlichkeit, die zwischen geschaffenen Dingen untereinander bestehen kann, und derjenigen Ursächlichkeit, die wiederum jene überhaupt erst ermöglicht: derjenigen Gottes. Es ist die Macht Gottes, die für jede Aktion geschaffener Dinge, seien es supralunare Himmelskörper, einzelne Artexemplare oder Elemente, die notwendige Bedingung darstellt53. Das Stufenmodell des Thomas geht also davon aus, dass die Dinge auf natürliche Weise interagieren, ohne dass darum die Tätigkeit Gottes überflüssig würde oder sein Wirken den Zufall ausschlösse. Als notwendige Bedingung garantiert er, dass sich bestimmte Effekte einstellen oder auch nicht einstellen, wobei eben ausgeschlossen ist, dass sie sich einstellen (bzw. nicht einstellen), ohne dass er tätig wäre. Die göttliche Ursache schließt also die Kausalbeziehungen geschaffener Dinge nicht aus, schränkt sie auch nicht ein, sondern begründet sie nach den Vorstellungen des Thomas vielmehr. Deshalb bleiben die erwähnten, den „Zufall“ begründenden Defizite der natürlichen Prozesse in der Form erhalten, wie Aristoteles sie konzipiert hatte. Das Modell, dessen sich Thomas bei der Veranschaulichung der Art und Weise des Wirkens Gottes im Verhältnis zu den untergeordneten Ursachen bedient, ist das eines weisen Herrschers, der auf die Gegebenheiten in dem von ihm regierten Gebiet Rücksicht nimmt54. Zwar geschieht nichts ohne die begleitende Kausalität Gottes und entgeht nichts seinem Vorwissen – und insofern ereignet sich nichts blindlings und zufällig –, aber dieses kalkuliert die naturbedingt defizitäre Verknüpfung von Zuständen im supralunaren Bereich ein. Das besagt für die von den Himmelskörpern ausgehenden allgemeinen Wirkungen, dass sie, ebenso wenig wie andere
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Vgl. T HOMAS VON AQUINO: In Metaph. commentaria VI lect. 3 nr. 1216: „[...] omnia quae hic fiunt, prout ad primam causam divinam referuntur, inveniuntur ordinata et non per accidens existere [...]. Et propter hoc secundum fidem catholicam dicitur, quod nihil fit temere sive fortuito in mundo, et quod omnia subduntur divinae providentiae.“ Insofern gilt für Thomas – im Unterschied zu Duns Scotus – auch die relative („hypothetische“) Notwendigkeit dessen, was in der Welt geschieht: Gott kennt diesen Weltverlauf, in dem alles, was geschieht, nur so hat geschehen können. Insofern wären Sätze über contingentia futura tatsächlich Aussagen, wenngleich wir ihren Wahrheitswert nicht kennen. Vgl. STh I q. 14, a. 13 ad II sowie Comm. in perihermeneias I, lect. 14, cap. 3f. 53 Vgl. ScG III 70, nr. 2464-2465. 54 So ScG III 71, nr. 2470.
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natürliche Ursachen, in der Lage sind, das, was ihrem Einfluss unterworfen ist, der Notwendigkeit zu unterwerfen. Auf die entsprechenden systematischen Überlegungen des Heinrich von Gent und besonders des Ioannes Duns Scotus, die ihrerseits Thomas’ Auffassungen modifizieren, kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden; sie zielen darauf, die auf Grund der reinen Potentialität der Materie nicht unproblematische Annahme, unprognostizierbares Zufälliges sei aus der Materialität abzuleiten, durch den Gedanken der in der Natur der ersten Ursache begründeten Kontingenz der Welt insgesamt zu ersetzen55. Dadurch wird auf andere Weise der Vorstellung des naturbestimmten Determinismus der Boden entzogen, und zwar durch den Bezug auf den freien göttlichen Willen56. Anders als bei Aristoteles und deutlicher als bei Thomas tritt damit der Gedanke in den Vordergrund, alle Ereignisse der sublunaren Welt, auch die als „regelmäßig“ erscheinenden, auf das Handeln Gottes zurückzuführen und damit den Unterschied zwischen einer Serie von Ereignissen, die mit Notwendigkeit aufeinander folgen, und solchen, die auf Grund anderer Faktoren spontan erfolgen, aufzuheben. Aus der göttlichen Perspektive, so Ioannes Scotus, ist diese Unterscheidung als unsachgemäß abzuweisen, da nichts mit Notwendigkeit und deshalb auch nichts zufällig
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I OANNES D UNS SCOTUS: Lect. I d. 2 qq. 1-2 nrr. 90-95 (Editio Vaticana Bd. 17, S. 143–146). Vgl. dazu unter den älteren Studien bspw. AUGUST F AUST: Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen. Zweiter Teil: Christliche Philosophie, Heidelberg 1932, S. 239–266; ÉTIENNE G ILSON: Johannes Duns Scotus. Einführung in die Grundgedanken seiner Lehre, Düsseldorf 1959, bes. S. 295–303; 399–405. Vgl. aber vor allem LUDGER H ONNEFELDER: Die Kritik des Johannes Duns Scotus am kosmologischen Nezessitarismus der Araber. Ansätze zu einem neuen Freiheitsbegriff, in: Johannes Fried (Hg.): Die abendländische Freiheit vom 10. bis zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich, Sigmaringen 1991, S. 249–263; DERS.: Duns Scotus, München 2005, S. 82–88. – Auf eine eingehendere Darstellung muss schon deshalb verzichtet werden, da auch bei Ioannes Scotus über weite Strecken mit der problematischen Seinsmodalität gearbeitet wird, die gründlicher Analyse bedürfte. 56 In direkter Auseinandersetzung mit Thomas steht Lect. I d. 39 q. 1-5 nr. 58; vgl. dazu die luziden Bemerkungen von P HILOTHEUS B OEHNER in: The Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei et de futuris contingentibus of William Ockham, St. Bonaventure, N.Y. 1945, S. 74–79. Luther hat die Unterscheidung zwischen der necessitas consequentis und der necessitas consequentiae zwar verspottet, vertritt aber grundsätzlich die bloße necessitas consequentiae; vgl. WA 18, S. 616f. [LDStA 1, S. 252/254], freilich mit gewissen Einschränkungen bzw. Modifikationen. – Vgl. die äußerst präzise Darstellung der Kausalitätsvorstellungen insbesondere bei Thomas, Wilhelm von Ockham und Biel in D OMINIK P ERLER und U LRICH RUDOLPH: Occasionalismus. Theorien der Kausalität im arabisch-islamischen und im europäischen Denken, Göttingen 2000, S. 184–201.
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geschieht57. Vielmehr begründet der Wille Gottes, der stets frei bleibt, also die Möglichkeit behält, sich anders zu entscheiden, eine in Gänze nicht notwendige Serie von Zuständen der Welt. Dies ist wohl so zu verstehen, dass deren durch natürliche Kausalität geregelte Sukzession die nur hinreichende Bedingung für das Eintreten eines folgenden Zustandes darstellt, da Gott seiner potentia absoluta nach einen bestimmten Effekt auch außerhalb der natürlichen Prozessualität herbeiführen kann. Obwohl sich diese Kritik gegen Auffassungen richtet, die auch an der Astrologie kritisiert werden, allem voran die Tendenz, den menschlichen Willen zu „naturalisieren“ und damit als freien Willen aufzuheben, sind die Auswirkungen auf die astrologische Theorie wohl eher gering zu veranschlagen, und dies aus zwei Gründen. (1) Die nicht aus natürlichen, d.h. wissbaren Bedingungen ableitbare Freiheit des menschlichen Willens gehört auch bei Anhängern der Idee der Vereinbarkeit zwischen Theologie und Astrologie zu den grundlegenden Voraussetzungen, die lediglich die Prognose erschweren bzw. mit einer irreduziblen Unsicherheit versehen. Gegen die Astrologie kann deshalb immer der Einwand erhoben werden, dass vom Standpunkt eines begrenzten Intellekts aus nicht alles Künftige vorausgesagt werden kann. Ihre vermeintlichen Behauptungen sind dann als weder wahr noch falsch, sondern bestenfalls als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich anzusehen. Zu Wissenschaft nach dem Kriterium der Analytica posteriora, etwas aus seiner Ursache zu erklären, führt ein solches Verfahren, das mit einer solchen Fülle von Unsicherem behaftet ist, natürlich nicht. In die Gruppe derartiger Argumente, die sich auf die Astrologie als einer epistemologischen Position über das Wissen künftiger Sachverhalte kritisch beziehen, gehören neben denen, die die Realität des Zufalls oder des freien Willens verteidigen, auch solche, die hinsichtlich der Möglichkeiten astrologischer Prognose 57
Systematisch hat dies bei der Frage nach dem Grund der Realität gegenüber dem Feld der Möglichkeiten die Priorität des Willens vor dem Intellekt zur Voraussetzung. Weil Gott diesen Sachverhalt will, wird dieser dann auch als wahr erkannt („intellectus divinus primo apprehendit aliquid nec ut verum faciendum in re nec falsum, sed ut neutrum; post autem per voluntatem fit verum, et tunc – sine mutatione intellectus – intellectus illud cognoscit.“), wie in Lect. I d. 39 q. 1-5 nr. 75 (Editio Vaticana Bd. 17, S. 505) festgestellt wird. Diese die Veranschaulichung einer zeitlichen Sukzession verwendende Ausdrucksweise besagt, dass Gottes Ursächlichkeit hinsichtlich der weltlichen Realität in einer Entscheidung besteht, die von keiner der Welt immanenten „Logik“ auch nur mitbestimmt und darum im eminenten Sinne frei ist (vgl. ebd. nr. 69-70; ebd. S. 502f.). Allerdings ist auch für den göttlichen Intellekt der (Schein-)begriff „hölzernes Eisen“ nicht als Objekt vorhanden, folglich kann er sich nicht entscheiden, ein Exemplar desselben zu realisieren oder nicht zu realisieren. Eine „Begrenzung“ der göttlichen Allmacht bedeutet dies wegen der Widersprüchlichkeit der Komponenten und der konzeptionellen Nichtigkeit selbstverständlich nicht. Vgl. dazu Lect. I, d. 43 q. un. nr. 15-19 (ebd. S. 533f.); Ordin I, d. 43 q. un. nr. 16-18 (Editio Vaticana Bd. 6, S. 359–361).
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deshalb ausgesprochen skeptisch ausfallen, da bereits die Planetenbewegungen und die Bewegungen der Fixsternsphäre nicht hinreichend genau bekannt sind, ganz zu schweigen von den Qualitäten der Himmelskörper selbst und der Art und Weise ihrer Wirksamkeit58. (2) Auf einer anderen Ebene als die Argumente für die epistemische Unzugänglichkeit (Nichtvoraussagbarkeit) des Künftigen liegt die ontologische Problemstellung des – häufig vermeintlichen – astrologischen Determinismus. Offenkundig zielt die Lehre des Ioannes Duns Scotus u.a. darauf, den Anschein einer lediglich naturimmanenten Determination des Geschehens zu untergraben, wie sie auch Astrologen vertreten oder wenigstens, wie man annehmen könnte, insgeheim annehmen müssten. Dennoch resultiert sicher auch aus dem theologischen Gedanken der Kontingenz der Welt faktisch kein Indeterminismus. Denn die Serie von Zuständen, die der göttliche Wille Realität hat werden lassen, ist derart, dass nur ein Zustand auf den ihm vorangehenden folgen kann, auch wenn Gott diese Serie kraft seiner nach wie vor uneingeschränkten potentia absoluta unterbrechen und verändern könnte59. Die Determination der Ereignisse resultierte dann zwar nicht unbedingt und auch nicht unzweifelhaft aus den Kausalbeziehungen natürlicher Gegenstände, in denen sich die potentia Dei ordinata manifestiert, genau diese Sukzession aber ist sowohl Gegenstand des unfehlbaren göttlichen Wissens wie auch seines allmächtigen Willens, kraft dessen diese Welt real geworden ist. In wie geringem Maße die zunächst auf die Metaphysik des Avicenna kritisch bezogenen Auffassungen des Ioannes Scotus von der Freiheit Gottes und der Kontingenz der Welt die quasi physikalischen Grundlagen, auf denen die Astrologie aufbaute, tatsächlich tangieren, zeigt nicht zuletzt dessen Behandlung des stellaren Einflusses. Nicht anders als noch bei Gabriel Biel und Jodocus Trutfetter stehen die natürlichen Prozesse in der anorganischen und organischen Natur unter dem stellaren Einfluss und wird auf der anderen Seite der menschliche Geist in Gestalt des liberum arbitrium von dieser weichen, schwer zu fassenden, dennoch irgendwie präsenten Kausalität der Himmelskörper ausgenommen. Weil die Art dieser Verursachung „weich“ ist, da sie von einer entfernten Quelle ausgeht, ermöglicht sie kaum sichere Aussagen, sondern nur die Ansage von Tendenzen. In diesem Rahmen können sie auch Autoren akzeptieren, die in 58
So etwa bei den angeführten Autoren GERSON: Trilogium (wie Anm. 49), prop. 8, S. 192, den wiederum B IEL: Collectorium (wie Anm. 48), In II Sent. d. 14; S. 342f., zitiert. – Unter Berufung auf die aristotelische Erkenntnislehre kann man gegen die vom Allgemeinen ausgehende astrologische Auffassung vom Erkennen prinzipiell einwenden, dass auf diesem Wege überhaupt keine Erkenntnis produziert werden kann. So beispielsweise bei SAVONAROLA: Trattato (wie Anm. 15), II 8, S. 329–331. 59 Vgl. Lect. I, d. 44 q. un (Editio Vaticana Bd. 17, S. 535f.).
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anderen Zusammenhängen sich als äußerst sensible Interpreten angenommener Kausalbeziehungen erwiesen. Innerhalb dieses Rahmens liegt bei Trutfetter auch die Beeinflussung der menschlichen Körpersäfte. Der Mensch als Bestandteil der körperlichen Welt ist also wie die übrigen Gegenstände der sublunaren Region den Kräften des Himmels ausgesetzt und innerhalb dieser Grenzen auch von ihnen bestimmt. Hinsichtlich dessen, was der Mensch mit den vernunftlosen Tieren teilt, räumen Trutfetter und seine Gewährsmänner Astrologen und Medizinern das Feld und lassen sie dort ihre gewissermaßen pathologischen Verfahren anwenden60. Den Widerspruch zwischen der christlichen Religion und der Astrologie, wie ihn bereits Pico, Savonarola und später dann Luther mit großer Schärfe sahen, findet man bei Trutfetter daher nicht. Denn die Astrologie ist weitgehend auf die Lehre von den physischen Einflüssen beschränkt und damit kaum noch in der Lage, tatsächlich interessante Prognosen aufzustellen. Gleichwohl erweist sich aber der Bezug auf die Himmelskörper als für die Erkenntnis konstitutiv. Der Gedanke, dass das Erkennen der individuellen Dinge in den intelligiblen Gegenständen der translunaren Regionen wurzelt – ein Gedanke, der vor allem in emanatistischen Konzeptionen Plausibilität besitzt –, begegnet noch bei Trutfetter. Allerdings nicht in der Form, dass die Verbindung der menschlichen Seele mit der unveränderlichen supralunaren Region durch eine astrale, also eine natürliche Größe vermittelt wird61, sondern Gott ihr „Keimgründe“ der Erkenntnis verleiht, 60
T RUTFETTER: Summa in totam physicen (wie Anm. 37), L1v–L2 r: „Ita quoque in uoluntatem et actus ipsius, quia astra possunt alterare appetitum sensitiuum ut magis inclinetur ad unum quam alteram. Et sic mouere passiones ire: gaudii, tristitiae etc., quae ex qualitatibus alteratiuis oriuntur. Et quia ut in plurimum uoluntas et appetitus rationalis inclinatur in nobis ad id, ad quod inclinatur appetitus sensitiuus. Idcirco haec modo inclinant corpora coelestia uoluntatem dispositiue quidem et mediate, non autem effectiue in ipsa actum uolendi efficiendo nec quouis modo necessitatem imponendo, quin semper per liberum arbitrium possit contraire. Et quia talem pronitatem ad sequendum appetitum sensitiuum contingit cognoscere ax astris accidit aliquam astrologos uere prognosticare de moribus hominum quod certi erunt luxuriosi, timidi, inuidi uel huiusmodi per constellationes natiuitatum.“ 61 Exemplarisch wäre auf den in der Mondsphäre lokalisierten „dator formarum“ bei AVICENNA hinzuweisen; vgl. Liber de philosophia prima tr. 9 c. 4f. (Avicenna latinus [wie Anm. 51], Bd. 4, S. 487, 491–493). Vgl. HERBERT A. D AVIDSON: Alfarabi, Avicenna, and Averroes, on Intellect, Oxford 1992, S. 78–83, 97–103. Eine Kritik dieser Vorstellung, die allerdings insofern in eine der Theologie entgegengesetzte Richtung zielt, als sie die Wirkung des Himmels auf die Entstehung eines organischen Artexemplars auf die Herausführung der Form beschränkt, die im Samen bereits enthalten ist und deshalb einen externen dator formarum überflüssig macht, findet sich bei AVERROËS: Commentarius in Metaph. lib. VI, nr. 31 (Aristotelis opera cum Averrois commentariis [Venedig 1562, Nachdruck Frankfurt/Main 1962], Bd. 8, S. 181A-I). Die averroistische Intellektlehre nimmt deshalb folgerichtig wiederum einen den menschlichen Individuen gegenüber transzendenten intellectus agens an. Selbstverständlich gehen christliche
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indem er ihr die Kräfte, über die die Himmelskörper verfügen, gewissermaßen „einschreibt“62. Auf einem solchen Wege lässt sich Wissen davon erlangen, was regelmäßig erfolgt, und dem Anspruch der Astrologen nach bedeutet auch dies gegenüber einem ungeschulten Blick eine beträchtliche Erkenntniserweiterung, da eine Vielzahl von Komponenten in Betracht gezogen werden kann, die der alltäglichen Wahrnehmung der Welt entgehen. Was diese als überraschend bzw. zufällig empfinden mag, lässt sich durch die Einsicht in die verborgenen Größen, die ein Ereignis haben eintreten lassen, erklären; aus diesem präziseren Wissen um Gründe und Ursachen von Dingen und Ereignissen erklärt sich die Möglichkeit zur Prognose. An seine Grenze aber kommt diese Konzeption des Wissens dann, ist sie Gegenständen konfrontiert, die nicht aus der Kombination gegebener Elemente ableitbar sind. Das sind per definitionem die Entscheidungen des freien Willens. Dabei ist es gleichgültig, ob Entscheidungen des Menschen von Gott vorhergesehen und sogar determiniert sind oder nicht63. Denn als von Gott unmittelbar geschaffenes Wesen gehört die menschliche Seele nicht zu den Gegenständen, die im sublunaren Raum als ein Bündel unveränderlicher Konstituenten existieren; ihnen gegenüber erweist sie sich als frei und damit auch als befähigt, sie zu begreifen. Lediglich konstatieren kann sie hingegen Handlungen, also solche (menschlichen) Aktionen, deren Eintreten möglich, aber nicht notwendig ist – oder genauer: Ereignisse, deren Eintreten nicht aus der Summe der sie ermöglichenden Bedingungen abgeleitet werden kann.
Theologen demgegenüber eher von der Schöpfung und Eingießung der individuellen (und den aktiven Intellekt umfassenden) Seele aus. Vgl. Thomas von Aquino: De unitate int. contra averroistas nr. 43–45; Quaest. disp. de an. a. 11c (hg. von James H. Robb, Toronto 1968, S. 172); ALAIN DE L IBERA: L’unité de l’intellect de Thomas d’Aquin, Paris 2004, S. 140–145. 62 T RUTFETTER: Summa in totam physicen (wie Anm. 37), P 4 v: „Praelarga conditoris clementia, homini animantium praestabilissimo ac omnium facile optimo corpus non sine membrorum decora et commoda commensuratione donans capiti omnem coeli ornatum inscribendo, animam immortalem, liberi arbitrii munere praeditam, ad scientias uirtutesque capessendas semina habentem indidit naturalibus potentiis ac uiribus modo coelestium sphaerarum distinctis eam insigniendo.“ 63 Ausdrücklich wird dies erst im Horizont der Diskussionen um die scientia media und ihr Gegenstück, die praedeterminatio physica thematisiert und kann an dieser Stelle nicht erörtert werden; vgl, dazu SVEN K. K NEBEL: Scientia media. Ein diskursarchäologischer Leitfaden durch das 17. Jahrhundert, in: Archiv für Begriffsgeschichte 34 (1991), S. 262–294, bes. S. 274–279.
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4. Der verknechtete Wille und die Eliminierung von Dispositionen Interessant wird die Astrologie aus einsichtigen Gründen allerdings dort, wo sie die Grenzen überschreitet, die Trutfetter und die von ihm erwähnten Autoren, zumeist Theologen, ihr gezogen haben. Denn auf ihren verschlungenen Wegen möchte man von Sachverhalten Kenntnis bekommen, die ansonsten im Dunklen blieben. Das sind nicht nur Themen, die in der Individualastrologie traktiert werden, sondern auch Fragen, die die „Sitten“ der Völker betreffen, also solche, die zu stellen für Trutfetter bedeutet, sich auf das Terrain des Aberglaubens zu begeben. Was die Menschen am Ende des 15. Jahrhunderts interessierte, lässt sich an dem erfolgreichen Kompilat des Johannes Lichtenberger ablesen64. Dieser bot seinen Lesern einen methodischen und inhaltlichen Mix aus Prophetie, Joachimismus und arabischer Astrologie. Eindrückliche Illustrationen gliedern den Text und steuerten vermutlich schon damals das Leseverhalten: Die die Aufmerksamkeit auf sich lenkenden Bilder laden zur Lektüre einzelner Passagen ein, ohne dass der Text linear studiert werden müsste. Der Leser erhält Auskunft über die zu erwartende Witterung der kommenden Jahre, vor allem aber werden Ängste und Bedrohungen verbalisiert. Die Furcht vor den verderblichen Folgeerscheinungen der von Paul von Middelburg beschriebenen Konjunktion der beiden oberen Planeten65 wurde ebenso zur Sprache gebracht wie die Sorge um den Bestand des Reiches, schließlich die Nähe zur allerletzten Frist dieser Welt. Missstände des Klerus zu benennen vervollkommnet das düstere Bild, das der Astrologe von den Zuständen seiner Zeit entwirft und mit einer heilen göttlichen Ordnung kontrastiert66. Dem Historiker ein schwer zu akzeptierendes Patchwork disparater theoretischer Elemente67 dürfte Lichtenbergers Prognosticatio, wie seine Rezeption belegt, den zeitgenössischen Erwartungen in hohem Maße entsprochen haben. Zu ihnen gehört wahrscheinlich nicht die Widerspruchsfreiheit von Aussagen, wohl aber die Berücksichtigung möglichst 64
Ein Nachweis der Editionen bei KURZE: Johannes Lichtenberger (wie Anm. 21), S. 81–87. 65 Magistri Pauli de Middelburgo prenostica ad viginti annos duratura, Köln 1484, v a2 , a5 r/v und passim; bei L ICHTENBERGER (Prognosticatio [wie Anm. 42]) eher beiläufig und übernommen: A3 v sowie A8 v. 66 Bekanntlich sind die Ankündigungen Lichtenbergers nach den drei Ständen spezifiziert; im Grunde überwiegt die Ansage von Gefahren, Veränderungen und Bedrohungen den Anteil von astrologisch begründeter Prognose, welche vor allem im dritten Teil des Werkes über das einfache Volk konstitutiv ist (F1v-F6 r). 67 Insbesondere K URZE: Johannes Lichtenberger (wie Anm. 21), S. 38–44, tadelt die Inhomogenität der Quellen; von T ALKENBERGER: Sintflut (wie Anm. 21), S. 80f., wird dies einfach übernommen.
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zahlreicher Gesichtspunkte eines imaginären Zusammenhangs, der als geheimnisvoll, bedrohlich und schicksalhaft empfunden wird, da ihn selbst zu beeinflussen nicht in der Macht des Einzelnen steht. Die kryptischen Bilder, die Leser in ihren Bann schlugen und Interpreten bin hin zu Luther und Paracelsus68 in Atem hielten, nicht anders als der sich in Andeutungen ergehende Text, bringen auf je eigene Weise gerade dies zum Ausdruck: Menschliches Handeln, namentlich solches, das man als politisches bezeichnen würde, tendiert in eine Richtung, auf die ebenfalls astrologisch zu erfassende Indizien und verschiedene Prophezeiungen weisen. Die Addition von Autoritäten und Argumenten, die kurz gesagt zu verstehen geben, dass es um diese Welt nicht gut steht und tiefgreifende Veränderungen zu erwarten sind, verstärkt – oder erzeugt allererst – den beklemmenden Charakter, der die Prognosticatio auszeichnet. Worauf Lichtenberger und seine Leser blicken, gleicht einem Verhängnis, das mit Angst erwartet wird. Es ist diese Angst, die er artikuliert, und deren Formulierung findet gerade in der Inhomogenität der Argumente, die sie stützen, ihren adäquaten Ausdruck. Obwohl Lichtenbergers Prognosticatio im engeren Sinne Astrologisches in recht geringem Ausmaß verwendet, so teilt sie mit der astrologischen Literatur der Zeit die „pessimistische“ Grundhaltung. Das von gewisser Unsicherheit geprägte Wissen der Astrologen stimmt auf Gefahren und Störungen ein, wobei auch die Ungewissheit diesen Zug nicht mindert, sondern eher verstärkt. Würde man eine dieser Gruppe astrologischen Schrifttums inhärente Anthropologie zu erheben versuchen, so wäre es keine, die den Menschen als von den Kräften des Kosmos geborgenes Wesen sehen ließe. Als bestimmend erweist sich nicht die Korrespondenz zwischen Mikro- und Makrokosmos, sondern der beängstigende Charakter, den die natürliche und historische Umwelt für den Menschen annimmt. Alles was den Sternen unterworfen ist erscheint für ihn widrig, aus dem Lauf der Gestirne lassen sich sowohl die Verschlechterung der politischen Verhältnisse wie ungünstige Witterung, die Steigerung der Mortalität, ja eventuell sogar das Kommen einer Sintflut prognostizieren. Aus theologischer Perspektive würde das bedeuten, dass die Gestirne die Funktion von Strafpredigern und Unglückspropheten innehaben – eine im 16. Jahrhundert alles andere als selten explizit gezogene Folgerung. Eine so konzipierte Astrologie fokussiert den hinfälligen Menschen in einer sich ihrem Ende zuneigenden Welt. Sie veranschaulicht auf der anderen Seite nicht den weisen Schöpfer, der die Welt mit einer perfekten Ordnung ausgestattet hat, in der geradezu seine Ewigkeit sich spiegelt, sondern sie lenkt den
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Vgl. P ARACELSUS: Auslegung uber ettliche figuren Jo. Lichtenbergers, in: Paracelsus, Sämtliche Werke, 1. Abt., hg. von Karl Sudhoff, Bd 7., München 1923, S. 477–530.
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Blick auf den Gott der Apokalyptik, der der Welt ein Ende bereiten und seine Erwählten aus ihr retten wird. An dieser Stelle sind wir in der Lage, noch einmal auf Luther und die Sterndeutung zu blicken und danach zu fragen, ob seinen sporadischen Äußerungen etwas zugrunde liegt, das sie als spezielle Aussagen in einem systematischen Zusammenhang identifizieren lässt. Gesucht wird mit anderen Worten ein theologisches Modell, das mit den astrologischen Deutungen eine ausreichende Anzahl gemeinsamer Elemente aufweist und auf diese Weise beides überhaupt vergleichbar und miteinander konkurrierend verstehen lässt, was, wie im 3. Abschnitt gezeigt, beispielsweise in Trutfetters Konzeption nicht der Fall war. In einer Predigt zum 2. Adventsonntag, veröffentlicht 1522 in der Adventspostille, hat Luther die Sprache auf Vorzeichen des endzeitlichen Kommens Christi gebracht. Es überrascht nicht, dass er an dieser Stelle die Vertrautheit seiner Hörer mit der Interpretation himmlischer Ereignisse als Zeichen Gottes voraussetzt – eher überraschend dürfte sein, dass er sie ausdrücklich fordert. Möglicherweise ähnlich seinem eigenen Umgang mit dem Gewitter zu Stotternheim Jahre zuvor dominiert auch hier der Gesichtspunkt, Ereignisse – in diesem Falle Finsternisse und andere auffällige Himmelserscheinungen – aus dem natürlichen Zusammenhang auszugliedern, um sie als Zeichen zu interpretieren. Aristoteles’ meteorologische Theorie der Kometenentstehung wird gerade deswegen getadelt, weil sie verhindert, diese Gebilde als etwas tatsächlich Außerordentliches, also als semiophore Gegenstände göttlichen Ursprungs zu verstehen69. Denn was natürlich ist, kann nichts bezeichnen, was über die Natur hinausgeht. Luthers Hörer aber sollen Kometen, Finsternisse, ja sogar die bevorstehende Konjunktion des Jahres 1524 in den Fischen als Mahnung und als Zeichen des bevorstehenden Weltendes verstehen70.
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Luther, WA 10/1,2, S. 99f.: „Die heyden schreyben, der Comet erstehe auch naturlich, aber gott schafft keynen, der nit bedeutt eyn gewiß ungluck. Also auch der blindeleytter Aristoteles hatt eyn eygen buch geschrieben von den hymlischen tzeychen, gibt sie alle der natur, und macht, das sie nit tzeychen seyn. [...] Aber du solt wissen, was sich wandelt am hymel uber die gemeyne weyße, das da gewißlich gottis tzorn seyn tzeychen sehen lest.“ Bei dem Buch über die Himmelszeichen handelt es sich um die Meteorologica. – Auch 1527 ist Luther davon überzeugt, dass Kometen unmittelbar von Gott geschaffene Zeichen sind: Geleitwort zur Prognosticatio Lichtenbergers, WA 23, S. 10. Vgl. WEICHENHAN: „Ergo perit coelum...“ (wie Anm. 7), S. 374–402. – Vgl. auch WA.TR 4, Nr. 5114: Luther bemerkt zu Gen. 1,14: „Deus intelligit certa signa, ut sunt eclipses solis et lunae, non illa incerta. Praeterea, signa heißt nicht, ut ex eis divinemus. Hoc est humanum inventum.“ 70 WA 10/1,2, S. 107: „[...] yhre wunderliche vorsammlung ist eyn groß gewiß tzeychen ubir die wellt.“
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Dass Luther sich zuweilen verbreiteter Vorstellungen von ominösen Vorfällen bedienen konnte, wenn ihm dies nützlich schien, ist bekannt71. Jenes Stück aus der Adventspostille gehört nicht dazu. Zum mindesten lässt sie sich in dem Horizont der vor allem in De servo arbitrio entwickelten Auffassungen von der durch nichts eingeschränkten Wirksamkeit Gottes interpretieren, in der man, obwohl Auseinandersetzungen mit der Sterndeuterei hier gänzlich fehlen, das theoretische Fundament für die Kritik an der Astrologie erblicken kann. Die zentrale Aussage, die Astrologie und die Theologie Luthers miteinander kollidieren lässt, besteht in der durch nichts relativierten Aussage, alles, was sich ereigne, ereigne sich mit Notwendigkeit72. Das muss nun zwar im Sinne der die Kontingenz der Schöpfung im Ganzen wahrenden necessitas consequentiae verstanden werden, insofern nichts, was nicht Gott ist, absolut notwendig ist. Allerdings dürfte Luther wohl der Auffassung gewesen sein, dass alles, was ist, dann notwendig ist, wann es ist. Das aber heißt, dass alles, was geschieht, so und nicht anders hat geschehen können, weil Gott es so gewollt hat73. Dann ist zwar nicht alles, was ist, notwendig, wohl aber ist alles notwendig, sofern es ist74. Man könnte deshalb sagen, den Nezessitarismus, den scholastische Theologen bekämpft hatten, führe Luther in veränderter und zugleich verschärfter Form wieder ein. Da sein Augenmerk sich in erster Linie nicht auf den Zufall richtet, sondern auf die Bestreitung 71
Vgl. z.B. die Deutung des Mönchskalbes von 1523 (WA 11, S. 380–385), Stellungnahmen zu Zauberei und Hexerei (WA 16, S. 551f.) und die Spottverse „Von dem geweihten Wasser und des Papstes Agnus Dei“ (WA 50, S. 671f.); auch die Publikation der Lichtenberger-Prophezeiung gehört in diesen Zusammenhang (WA 23, S. 7-12); dazu insbesondere ROBERT W. SCRIBNER: For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, Cambridge 1981 (Cambridge Studies in Oral and Literate Culture 2), S. 59–147. 72 WA 18, S. 617 [LDStA 1, S. 254]: „Necessitate consequentiae, sed non necessitate consequentis omnia fieri, nihil aliud habet quam hoc: Omnia quidem necessario fiunt, sed sic facta, non sunt ipsemet Deus. [...] Adeo stat et permanet inuicta sententia Omnia necessitate fieri.“ Bereits 1520 hat Luther den freien Willen, wie ihn Wilhelm von Ockham und auch Gabriel Biel voraussetzen, energisch bestritten: WA 7, S. 142–149, bes. 146. 73 Dies entspricht der Auffassung des Thomas von der bedingten Notwendigkeit dessen, was ist, nicht aber derjenigen bei Ioannes Scotus und Wilhelm von Ockham entwickelten Auffassung von der Wahrheit des Satzes „omne quod est, quando est, necesse est esse“ ausschließlich im Sinne des sensus compositionis (also: necesse est: omne quod est, est, quando est). Angewandt auf das Problem des menschlichen Willens und der göttlichen Vorsehung resultiert daraus später die thomistische Auffassung von der praedeterminatio physica; vgl. dazu den entsprechenden Artikel von W OLFGANG H ÜBENER in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Sp. 1216–1225. 74 Luther, WA 18, S. 617 [LDStA 1, S. 252/254]: „[...] facta res non est necessaria, id est, non habet essentiam necessariam, hoc est aliud nihil dicere quam: res facta non est Deus ipse. Nihilominus manet illud, ut omnis res necessario fiat, si actio Dei necessaria uel consequentiae necessitas est, quantumlibet iam facta non sit necessario [...].“
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des freien Willens, der in dieser Weise weder bei Avicenna noch bei den meisten Astrologen explizit in Frage gestellt worden war, sind die Unterschiede allerdings beträchtlich. Diese Form des Nezessitarismus ist sachlich nicht begründet durch die Notwendigkeit kausaler Verknüpfungen, die durch Gott garantiert werden, sie wird nicht problematisiert am Verhältnis des Menschen zu anderen Gegenständen des Kosmos, sondern einzig und allein aus dem Verhältnis Gottes zum Menschen abgeleitet75. Da der Wille Gottes stärker ist als der des Menschen, kann der Mensch ihm nicht gleichsam neutral oder „autonom“ gegenüberstehen76. In Bezug auf Gott besitzt der Mensch folglich keinen freien Willen, er ist gänzlich auf die Wirksamkeit der Gnade angewiesen. Die Eliminierung dieser Störgröße verbürgt für Luther zugleich eine unüberbietbare Gewissheit, die preiszugeben er Erasmus vorwirft77. Die Astrologie hingegen vermag eine solche Gewissheit, wie sie Luther für die Verheißungen postuliert, die in der Bibel dokumentiert sind, auch nicht von ferne zu bieten. Sie scheitert an der Vielzahl der Faktoren, die es zu berücksichtigen gilt, ihre Prognosen erweisen sich als zweifelhaft auf Grund von Fehlschlägen, als unsicher wegen der Fülle der Unbekannten – und schließlich vom freien Willen begrenzt. Einen Blick in die Zukunft zu erlangen ist sie deshalb weitgehend untauglich – mindestens einen Blick in die Zukunft, sofern sie als relevant angesehen werden kann. Für Luther bedeuteten die Aussichten, die auf Witterung, Mortalität, Pestilenz und Krieg eröffnet wurden, in nur sehr geringem Maße etwas tatsächlich Bedeutungsvolles. Die Sterndeutung ist in der Lage, Tendenzen anzukündigen, beschränkt auf den Bereich des Körperlichen erreicht sie aber nicht, was den Menschen als solchen konstituiert. Die Determination des Geschehens, die Luther vorsieht, kommt hingegen nicht beim Menschen zum Abschluss, sondern setzt gerade dort an, wo die natürliche Kausalität endet. Ungleich stärker als in der astrologischen Literatur für gewöhnlich ist der Mensch somit als ein unterworfenes Wesen gesehen, an dem sich etwas ereignet. Beifällig kann sich Luther solcher stoisch geprägten Formulierungen bedienen, die von der Vergeblichkeit menschlicher Pläne angesichts des alles durchwaltenden Schicksals sprechen. Nichts steht in des 75
Nach WA 18, S. 661–664 [LDStA 1, S. 344-352], geht der Streit eigentlich um das Problem, ob es eine vis humanae uoluntatis gibt, „qua se possit homo applicare ad ea, quae perducunt ad aeternam salutem“, also eine Kraft, die nicht den natürlichen Dingen, sondern Gott gegenüber frei genannt werden kann. Hier gilt für Luther, „ad extrema eundum est, ut totum negetur liberum arbitrium et omnia ad Deum referantur“ (ebd. S. 755 [S. 576]). Vgl. auch die Abgrenzung gegen naturphilosophische Fragestellungen (ebd. S. 716 [S. 480]). 76 Vgl. die Polemik gegen die synergistischen Argumentationen des Erasmus in WA 18, S. 635f. [S. 290/292] 77 Vgl. ebd. S. 619 [S. 256/258].
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Menschen Hand, sondern alles geschieht nach kosmischer Satzung78. Die Erfahrungen, die sowohl Luther wie die Stoa vorsehen, gleichen somit einander. Der Mensch wird damit konfrontiert, von etwas Stärkerem überwältigt zu werden und hinnehmen zu müssen, dass sich das, was er selbst ersinnt und plant, als wirkungslos erweist79. Er sieht sich in einen Zusammenhang gestellt, der von ihm nicht gesteuert wird, ja für Luther muss sogar gelten, dass er an ihm als Handelnder nicht einmal beteiligt ist. Die Astrologie hingegen schließt das Handlungssubjekt Mensch nicht aus, denn zum mindesten der Einsichtige ist in der Lage, der natürlichen Kausalität des „weichen“ Einflusses der Gestirne zu entgehen. Dann aktualisiert er sich als rationales Wesen, das in der Lage ist, Entscheidungen unter den – beispielsweise astral bestimmten und astrologisch rekonstruierbaren – Bedingungen zu treffen. Gerade diese Befähigung der Objektivierung physischer Zustände scheidet in dem Horizont, in dem Luther das Problem des Determinismus erörtert, von vorn herein aus. Dies hat seine Entsprechung in der Art und Weise, wie Luther die Ursächlichkeit Gottes in Bezug auf den Menschen deutet: gerade nicht im Sinne eines begleitenden, erhaltenden und disponierenden Wirkens. Unter Verwendung der Terminologie, deren sich die lateinische Fassung des Liber de causis bediente, hatten Gabriel Biel – und der von ihm zitierte Bonaventura – diese als influentia bezeichnet und damit diejenige Wirksamkeit beschrieben, die Gott keinem Geschöpf vorenthält, damit dies je spezifisch tätig sein kann. Im Fall des Menschen heißt dies, dass er, ohne einer außerhalb seiner Natur liegenden und insofern übernatürlichen Gnadengabe zu bedürfen, auch als Sünder in der Lage ist, naturrechtliche Normen zu erfüllen, beispielsweise die Eltern
78
Den ebd. S. 618 [S. 254] angeführten Zitaten aus Vergil ließen sich weitere Stellen aus dem Astronomicon des Manilius, insbesondere IV, 1–118, an die Seite stellen – dem das „certa stant omnia lege“ (IV, 14) entstammt –, die u.a. an Hand des Aufstiegs und Falls historischer Größen das Walten des fatum aufzeigen und astrologisch begründen. Vgl. W OLFGANG H ÜBNER: Manilius als Astrologe und Dichter, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, Teil 2, Bd. 32/1 (Berlin 1984), S. 233–237. 79 Ohne darauf näher einzugehen sei nur darauf hingewiesen, dass mit dem Nachweis der Wirkungslosigkeit des eigenen Willens natürlich nichts über dessen Unfreiheit gesagt ist. Vor allem die Pflichtethik Kants basiert bekanntlich auf der Differenz zwischen beidem. Vielmehr muss Luther sachlich bestreiten, dass es einen guten Willen überhaupt geben kann, der als einziges in der Welt für gut gehalten werden kann (vgl. IMMANUEL K ANT: Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, in: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt 1977 u.ö., Bd. 7, S. 18), und dies geschieht durch das Postulat, dass der menschliche Wille entweder von Gott – dann aber ist es der göttliche, nicht aber der menschliche Wille – oder vom Satan bestimmt werde: WA 18, S. 635 [S. 290]. Zum augustinischen Ursprung des Bildes von Pferd und Reiter und zu den Umbesetzungen in der späteren Scholastik vgl. HEIKO A. O BERMAN: Spätscholastik und Reformation Band 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965, S. 153f.
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zu ehren80. Dieser Einfluss, den Gott auf seine Geschöpfe ausübt, sichert also beim Menschen die spezifische Tätigkeit des Handelns, die von der Verderbnis der Erbsünde nicht betroffen ist. Mochte Luther ein solches Vermögen des gefallenen Menschen irgendwie auch zugeben: in jedem Fall interessierte es ihn nicht. Denn nicht auf die „weiche“ Kausalität des Einflusses, sondern auf die unmittelbar effektive Handlung des allein freien Gottes richtete sich sein Blick. Diese setzt ein Verhältnis zwischen Gott und Individuum und stiftet keine Relation zwischen Gott und menschlicher Natur. Dieser Unmittelbarkeit hatten Theoreme über vorausgesehene Verdienste, über Dispositionen zum Empfang der Gnade, kurz über alles, was die ausschließliche Wirksamkeit Gottes hätte relativieren können, zu weichen. Der Himmel, wie ihn die Astrologen verwendeten, „fragte“ wohl nach Dispositionen des Menschen, insofern er sie bewirkte, der Himmel Luthers hingegen war daran, was tatsächlich zur Wiederherstellung seiner gottebenbildlichen Natur diente, ebenso unbeteiligt wie alles andere, was Menschen aus eigenen Kräften zu vollbringen vermochten. Das aber heißt, dass Luther selbst dann, wenn er die Sterndeutung nicht abgelehnt hat mit Argumenten, die auf der Fragwürdigkeit ihres wissenschaftlichen Status, der Inkommensurabilität zwischen der Größe des Universums und der Kleinheit der Erde, der ausschließlichen „Einwirkung“ von Licht und Bewegung auf den sublunaren Raum unter Ausschluss okkulter Qualitäten basierten – Argumenten, die Pico della Mirandola vorgebracht hatte – er sie hat ablehnen können und müssen als Ausdruck nichtiger menschlicher Versuche, die exklusive göttliche Kausalität zu relativieren und damit zu verdunkeln. Singuläre Zeichen unterscheiden sich vom traditionellen Regelwerk, das die Astrologen anwandten, um Prognosen zu erzeugen: In ihnen glaubte Luther Gottes Macht sich manifestieren zu sehen. Daher waren sie aus dem Zusammenhang der Natur zu isolieren, in dem der Lauf der Gestirne sich andererseits selbstverständlich vollzog. Weil sie als Zeichen isoliert waren, standen sie weniger in Gefahr, natürlich gedeutet zu werden und deshalb das Walten Gottes an eine Ordnung zu binden, die dem menschlichen Geist – ob vermeintlich oder tatsächlich – einsichtig werden könnte. Die zeichen am hymel und auff erden feylen gewislich nicht. Es sind Gotts und der Engel werck, warnen und drewen den gottlosen herren und lendern, bedeuten auch ettwas. Aber kunst darauff zu machen ist nichts, und ynn die sterne solchs zu fassen.81
Dass Ereignisse am Himmel und auf Erden kraft menschlicher Interpretationsregeln zu Zeichen allererst gemacht werden und sich ein solches Verfahren an diesem Punkt nicht von dem der Astrologen unterschied, die be80 81
B IEL: Collectorium (wie Anm. 48), d. 28, q. un. (S. 533, 536f.). Luther: Geleitwort zur Prognosticatio Lichtenbergers, WA 23, S. 11.
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stimmte Winkel zwischen Planeten vor der Projektionsfläche des Zodiakos mit bestimmten Bedeutungen versahen, entging Luther, möglicherweise deshalb, weil apokalyptische Passagen der Bibel exzeptionelle Vorgänge am Himmel unmittelbar vor dem Ende dieser Welt vorgesehen hatten, also für die Zeit, die er selbst bewohnte. Die apokalyptischen Zeichen, nicht anders als monströse Missbildungen, waren aber auch deshalb unbedenklicher als die „Zeichen“ der Astrologen, da sie nichts „beeinflussten“82. Sie führten aus der Sicht der wahren Christen den Gottlosen die drohende Vergeltung Gottes vor Augen, aber sie disponierten nicht. Denn um sich im Gewitter zur Umkehr rufen zu lassen, muss man bereits disponiert sein, sich von ihm anrufen zu lassen. Das hatte Luther u.a. in Stotternheim erfahren.
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In wie geringem Maße, zeigt exemplarisch WA.TR 4, Nr. 5130, welche Stelle deshalb zitiert wird: „[...] Ego plane sic sentio appropinquare diem Domini et nos visuros eum diem ut minimum nostra proxima posteritas. Nam omnia sunt facta magna miracula. Papa est revelatus, mundus furit, vnd wirdt noch nicht besser, dann er komme. Ego commedo et bibo et lego scripturam et libenter dormio cum mea.“
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Was geschah in Stotternheim? Eine problematische Geschichte und ihre problematische Rezeption 1. Transzendenzerfahrungen im Kontext der biblischen Tradition und der Kirchengeschichte Wie die Geschichte von Religionen zumeist von Berichten über die Begegnung mit einer fremden, transzendenten göttlichen Macht oder Mächten in Form von Visionen, Auditionen und Träumen geprägt worden ist, so auch die jüdisch-christliche Tradition. Der Bogen lässt sich hier von den Erzvätern und Mose bis zu Paulus und dem Seher von Patmos spannen. Besonders mit Paulus und der urchristlichen Missionsgeschichte generell ist ein großer Komplex von Visionsbezügen im NT verbunden. So wie deren Ereignisse in der Apostelgeschichte geschildert werden, verknüpfen sich die entscheidenden Weichenstellungen der Mission jeweils mit Visionen oder sogar Verkettungen mehrerer Visionen: z. B. der Übergang zur Heidenmission mit den korrespondierenden Visionen des römischen Hauptmanns Kornelius Apg 10,1-8 und des Petrus Apg 10,9-20; das Ausgreifen der Mission nach Griechenland, Apg 16,9f.; das Ziel Rom für Paulus Apg 23,11. Das Wirken des Paulus ist es vor allem, durch das das junge Christentum aus dem Kontext einer rein innerjüdischen Religionsgeschichte herausgeführt wird. In diesem Sinne, kann man sagen, beginnt Kirchengeschichte mit dem Damaskuserlebnis des Paulus, einer Audition und möglicherweise Vision1. Schlüsselereignisse der Kirchengeschichte werden dann immer wieder in einen Zusammenhang mit Transzendenzerfahrungen gestellt und so tradiert. Markantestes wirkungsgeschichtliches Beispiel ist hier die Kreuzesvision oder der Kreuzestraum Konstantins vor der Schlacht an der Milvischen Brücke 312. In der Folgezeit sind es vor allem Träume, Auditionen (Augustinus) und Visionen (Franziskus), die 1
Vgl. die Auslegung zu Apg 9,4 bei ERNST HAENCHEN: Die Apostelgeschichte, Göttingen 71977 (Kritisch-exegetischer Kommentar 3), S. 270. Paulus erweist sich nicht minder durch die Selbstzeugnisse in seinen Briefen als Mann mit visionären Erfahrungen (z.B. 2Kor 12,1-5, Gal 1,11f.; 2,1f.). Vgl. hierzu ERNST BENZ: Paulus als Visionär, Mainz 1952 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse 1952.2).
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sich immer wieder mit Heiligenviten, gerade auch im Kontext der Mystik (Hildegard von Bingen, Gertrud von Helfta) verbinden2. Nach der Reformation verblieb dieser Traditionsstrang im Bereich der katholischen Frömmigkeit. Hier wiederum ist es vor allem die Marienfrömmigkeit, die im 19. und 20. Jahrhundert eine Ausdrucksform in visionären Erfahrungen fand. Insbesondere diese, wie im Falle von Lourdes und Fatima von der Römisch-katholischen Kirche offiziell approbierten Marienerscheinungen sind für die evangelische Theologie Anlass zu expliziter Abgrenzung geworden. Man nimmt sie als „Ausdruck wesentlicher Tendenzen der röm.-kath. Frömmigkeitsgeschichte“3 zur Kenntnis. Grundsätzlich vertritt aber die evangelische Theologie einen Offenbarungsbegriff, für den die Anerkennung weiterer „Offenbarungen“ über das biblische Zeugnis hinaus unannehmbar ist.
2. Die Rezeption des Ereignisses von Stotternheim durch Luther und seine Umgebung Hat innerhalb dieser tradierten Reihe von Transzendenzerfahrungen auch Stotternheim einen Platz und welche Folgen hat die evangelische Distanzierung von solchen Ereignissen jedenfalls an außerbiblischen Schauplätzen? Was widerfuhr Luther hier am 2. Juli 1505? War es „nur“ ein schweres Gewitter, das in diesem Moment für sein religiöses und sensibles Gemüt, vielleicht behaftet mit einer Lebens- und Orientierungskrise, zu viel war? Oder war es mehr? Eine Vision oder eine Audition, oder beides? Hat Luther geschaut, gehört und wenn ja – was? Wurde es als eine Begegnung mit Göttlichem oder mit Satanischem interpretiert? Der Versuch, auf all diese Fragen zu antworten, ist abhängig von der Quellenlage. Die folgende Übersicht führt alle Texte auf, die in direkte Beziehung zu Luthers Lebenswende gesetzt werden können. Sie stammen von ihm selbst oder von Zeitgenossen, die ihn persönlich kannten. 2
Vgl. PETER DINZELBACHER: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23). 3 DIETRICH RÖSSLER: Art. Marienerscheinungen, in: RGG3 4 (1960), Sp. 762. Spirituelle Grenzerfahrungen – wie immer sie auch zu deuten sein mögen – sind damit allerdings auch im Kontext evangelischer Frömmigkeit nicht vollkommen ausgeschlossen. Zu verweisen wäre hier auf die Geschichte des radikalen Pietismus oder auf den württembergischen Laientheologen Johann Michael Hahn (1758–1819) und seine theosophischen Zentralvisionen (s. JOACHIM TRAUTWEIN: Art. Johann Michael Hahn, in: TRE 14 [1985], S. 380–383) sowie auf seinen Landsmann, den Pfarrer Johann Christoph Blumhardt (1805–1880) und die Ereignisse in seinem Möttlinger Pfarramt (s. JOACHIM SCHARFENBERG: Art. Johann Christoph Blumhardt, in: TRE 6 [1980], S. 721–727).
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I. Brief Nachweis: WA.B 1, Nr. 213 Autor: Crotus Rubeanus an Luther Datierung: 16. Oktober 1519 Charakteristik: Stimmungsbericht zur Situation in Rom; Bestärkung Luthers in seinem reformatorischen Handeln
II. Vorwort zu: De votis monasticis Martini Lutheri iudicium Nachweis: WA 8, S. 573–576 Autor: Luther Datierung: 21. Oktober 1521 Charakteristik: Positive Auseinandersetzung mit der Kritik des Vaters an seinem Klostereintritt
III. Dadelung des obgesatzten bekentnus oder vntuchtigen Lutherischen Testaments Nachweis: O. Scheel: Dokumente zu Luthers Entwicklung , 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 53 Autor: Hieronymus Dungersheim von Ochsenfart Datierung: 1530 Charakteristik: Polemik gegen Luther
IV. Tischrede Nachweis: WA.TR 1, Nr. 881 Autor: Luther (in der Aufzeichnung nach Veit Dietrich) Datierung: erste Hälfte der dreißiger Jahre Charakteristik: Kritik des Vaters
V. Tischrede Nachweis: WA.TR 3, Nr. 3556A Autor: Luther (in der Aufzeichnung nach Anton Lauterbach und Hieronymus Weller) Datierung: Ende März 1537 Charakteristik: Kritik des Vaters
VI. Bericht Nachweis: P.Tschackert (Hrsg.), ThStK, Jg. 1897, S. 577–580 Autor: Justus Jonas Datierung: 1538 Charakteristik: Bericht über Luthers Klostereintritt 15054
4
Diese Quelle ist insofern vollkommen isoliert, als sie von einer Reise Luthers von Gotha nach Erfurt berichtet. Das ist angesichts der übrigen Quellen offensichtlich eine Fehlinformation, die gleichwohl bis in neuere Zeit in flüchtig recherchierten Arbeiten zu Luther auftauchen kann. So z.B. bei HUMBERT FINK: Martin Luther. Der widersprüchliche Reformator, München o.J. (1983), S. 34.
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96 VII. Tischrede
Nachweis: WA.TR 4, Nr. 4414 Autor: Luther (in der Aufzeichnung nach Anton Lauterbach) Datierung: 18. März 1539 Charakteristik: Luther über seinen Irrweg des Mönchtums
VIII. Tischrede Nachweis: WA.TR 4, Nr. 4707 Autor: Luther (in der Aufzeichnung nach Anton Lauterbach) Datierung: 16. Juli 1539 Charakteristik: Luther gedenkt des Jahrestages seines Klostereintritts
IX. Tischrede Nachweis: WA.TR 5, Nr. 5373 Autor: Luther (in der Aufzeichnung eines nicht mehr identifizierbaren Tischgenossen) Datierung: Sommer 1540 Charakteristik: Der Anlass zum Klostereintritt
X. Predigt über Joh 2,1-11 Nachweis: WA 49, S. 322 Autor: Luther (in der Nachschrift Georg Rörers) Datierung: 20. Januar 1544 Charakteristik: Kritik des Vaters
XI. Genesisvorlesung (zu Gen 48,20b) Nachweis: WA 44, S. 711f. Autor: Luther Datierung: 1545 Charakteristik: Kritik des Vaters
Überschaut man diese Quellen, so fällt auf, dass selbst die älteste (I) in einem großen zeitlichen Abstand von immerhin 14 Jahren zu dem Geschehen steht. Das Ereignis als solches wird auch gar nicht thematisiert, sondern ist eingebettet in den Versuch, Luther in seinem Handeln weiter zu motivieren. Dabei erinnert Crotus Rubeanus ihn eben auch an den Ausgangspunkt seines Weges. Die göttliche Vorsehung habe es so eingerichtet, dass ihn „zurückreisend von den Eltern ein himmlischer Blitz wie einen anderen Paulus vor der Stadt Erfurt zur Erde geworfen und ins Augustinerkloster [wörtlich: in die augustinischen Schranken] getrieben hat“. Luther selbst äußert sich zwei Jahre später sehr gezielt im Zusammenhang seiner Schrift über die Mönchsgelübde „De votis monasticis“. Er nutzt deren Vorwort, um vorgeblich in aller Öffentlichkeit reinen Tisch mit seinem Vater zu machen (II): Es sind nun fast sechzehn Jahre her, seit ich gegen Deinen Willen und ohne Dein Wissen Mönch geworden bin. In väterlicher Sorge wegen meiner Anfälligkeit – ich war ein Jüng-
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ling von eben zweiundzwanzig Jahren, d.h., um mit Augustin zu sprechen, in glühender Jugendhitze – fürchtest Du für mich, denn an vielen ähnlichen Beispielen hattest Du erfahren, daß diese Art zu leben, manchem zum Unheil gereicht hatte. Deine Absicht war es sogar, mich durch eine ehrenvolle und reiche Heirat zu fesseln. Diese Sorge um mich beschäftigte Dich. Auch war Dein Unwille gegen mich (nach dem Eintritt ins Kloster) eine Zeitlang nicht zu besänftigen. [...] Endlich aber gabst Du doch nach und fügtest Dich dem Willen Gottes – aber ohne deswegen die Sorge um mich aufzugeben. Denn ich erinnere mich als wäre es heute: Du sprachst schon wieder besänftigt mit mir. Da versicherte ich Dir, daß ich vom Himmel durch Schrecken gerufen, nicht etwa freiwillig oder auf eigenen Wunsch Mönch geworden sei. Noch viel weniger wurde ich es um des Bauches willen, sondern von Schrecken und der Furcht vor einem plötzlichen Tode umwallt, legte ich ein gezwungenes und erdrungenes Gelübde ab. Da sagtest Du: „Möchte es nur nicht eine Täuschung und ein Blendwerk gewesen sein.“5
Der Zwist mit dem Vater ist allerdings nur der Aufhänger für diese Ausführungen. Ob Hans Luther lesen konnte, wissen wir nicht, auf gar keinen Fall aber beherrschte er Latein. Wenn Luther mit seinem Vater ins Reine kommen wollte, so war eine lateinische Vorrede das denkbar ungeeignetste Mittel. Luther ging es vielmehr darum, seine – quasi autorisierte – Version von Stotternheim in die kirchliche und akademische Öffentlichkeit zu bringen. Alle weiteren Äußerungen Luthers sind Gelegenheitsäußerungen aus den dreißiger und vierziger Jahren, zumeist im Kontext seiner Wittenberger Tischgespräche. Die Kritik des Vaters bleibt häufig das bestimmende inhaltliche Moment (IV, V, VII, X, XI). Das Thema hing Luther also weiterhin an und war mit dem Vorwort zu „De votis monasticis“ eben nicht erledigt. Nicht beherrscht von diesem Verhältnis zum Vater und im eigentlichen Sinne biographisch zurückblickend sind nur zwei der acht Äußerungen (VIII und IX). Luthers Freund und Tischgast Anton Lauterbach hat überliefert, wie der Reformator selbst über das Ereignis berichtete. Allerdings tat er das nunmehr bereits mit dem Abstand von 34 Jahren am 16. Juli 1539 (VIII): Heute ist die jährige Zeit, da ich in das Kloster zu Erfurt gezogen. Und er begann die Geschichte vorzutragen, auf welche Weise er das Mönchsgelübde gelobt hatte, nämlich da es kaum 14 Tage zuvor geschehen sei, daß er beim Reisen durch einen Blitz nahe Stotternheim nicht weit von Erfurt so erschreckt worden sei, daß er im Schrecken gesagt habe: Hilf du, St. Anna, ich will ein Mönch werden! Aber Gott hat damals mein Gelübde hebräisch verstanden: Anna, das ist unter der Gnade, nicht nach dem Gesetz. Danach hat mich das Gelübde gereut und viele haben mir abgeraten. Ich aber blieb beharrlich und lud einen Tag vor Alexius etliche von den besten Freunden zum Abschied, daß sie selbst mich am Morgen in das Kloster führen sollten. Als aber jene ihn aufhalten wollten, habe er gesagt: Heute sehet ihr mich und nimmermehr! dann versammelten sie sich mit Tränen um mich. Und mein Vater war ziemlich zornig über das Gelübde, aber ich bin beharrlich 5
De votis monasticis Martini Lutheri iudicium 1521, WA 8, S. 573,19–574,2. Übersetzung nach Kurt Aland (Hg.): Luther Deutsch, Bd. 2, Stuttgart 1962, S. 323f.
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bei meinem Vorsatz geblieben. Niemals hätte ich gedacht, das Kloster zu verlassen. Ich war der Welt rein abgestorben, bis daß es Gott an der Zeit deuchte und Junker Tetzel mich trieb und Doktor Staupitz mich gegen den Papst trieb.
Die Frage ist nun: Wie wahrheitsgetreu berichtet Luther? Dass er den Vorgang im Nachhinein an seine Biographie anpasst, wird an der theologischen Interpretation seines Hilferufes zur Heiligen Anna deutlich. Er hatte Anna als eine der Frömmigkeit jener Zeit vertraute Nothelferin angerufen. An einen durch die Kategorien der Rechtfertigungslehre geprägten Hintergrund, wie er durch den Satz: „Aber Gott hat damals mein Gelübde hebräisch verstanden: Anna, das ist unter der Gnade, nicht nach dem Gesetz“ gezeichnet wird, war noch nicht zu denken6. Vom Vorgang als solchem erfahren wir nur, dass er von einem Blitz erschreckt worden sei. In der Zeit unmittelbar nach dem Ereignis dürfte er mehr zu berichten gewusst haben. Das wird noch 1521 an seiner Formulierung „vom Himmel durch Schrecken […] gerufen“ und am darauf folgenden Einwand seines Vaters: „Möchte es nur nicht eine Täuschung und ein Blendwerk gewesen sein“ deutlich. Der Weg ins Kloster hatte sich als Irr6
Auf diesen Sachverhalt macht der Aufsatz von ANGELIKA DÖRFLER-DIERKEN: Luther und die heilige Anna. Zum Gelübde von Stotternheim, in: Lutherjahrbuch 64 (1997), S. 19–46, aufmerksam; hier speziell S. 42–46. Dörfler-Dierkens These geht dahin, dass Luther die Anrufung der heiligen Anna nicht etwa im nachhinein reformatorisch uminterpretiert, sondern dass die Anrufung der heiligen Anna überhaupt erst durch Luthers Tischredenzeugnis von 1539 im Zuge religiöser Selbstdeutung in den Bericht vom Geschehen bei Stotternheim einwandert. „Religiöse Selbstdeutung muß aber nicht immer der historischen Faktizität entsprechen.“ (ebd. S. 45). Sie belegt das mit Luthers de facto ebenfalls unrichtiger, weil selektiver Darstellung seines Vaters als armer Berghauer, was nur für die Anfangszeit in Eisleben zutrifft. Diese Kernaussage des Aufsatzes findet sich allerdings auch schon in der Antrittsvorlesung des Professors für Kirchengeschichte an der Vrije Universiteit Amsterdam CORNELIS AUGUSTIJN: Luthers intrede in het klooster, Kampen 1968, S. 19–24 (den freundlichen Hinweis auf diesen Aufsatz verdanke ich Prof. Christoph Burger von der Vrije Universiteit Amsterdam). Er scheint bisher in der deutschen Lutherforschung nicht beachtet worden zu sein. Augustijns These ist, dass Luther die Anrufung der heiligen Anna 1539 neu in die Überlieferung zu Stotternheim einträgt, weil das Ereignis für ihn negativ besetzt ist. Der negativen Wendung zum Mönchtum entspricht ebenso negativ die Anrufung einer Heiligen als Ausdruck der von Luther inzwischen gleichermaßen abgelehnten Heiligenverehrung. („Zo zijn nu voor Luther de anroeping der heiligen en het monachale leven twee uitingen van één en dezelf de zaak geworden. Het één hangt onlosmakelijk samen met het ander. Dan behoeft et ons ook niet te verbazen, dat Luther thans in het verhaal van zijn intrede in het klooster bijna onbewust ook op dit beslissende ogenblik het inroepen van de hulp van één der heiligen een plaats geeft. Het behoort daarbij en krijgt dus zijn plaats in het geheel.“ S. 23f.). Wo Dörfler-Dierken von selektiver Darstellung spricht, benutzt Augustijn die Beschreibung, Luther denke in Schablonen („… de neiging; in schablonen te denken“, S. 25), die durch theologische Inhalte bestimmt sind und zur Vermischung verschiedener biographischer Ereignisse führen.
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weg erwiesen. Das Erlebnis von Stotternheim gewinnt dadurch etwas Peinliches und es verwundert nicht, dass Luther in den späteren Jahren auf solche Details nicht mehr gerne eingeht. Gleichwohl erwähnt er den Einwand des Vaters noch zweimal. In einer Tischrede im März 1537 (V): Bei seiner Primizfeier habe ihn der Vater an seine Gehorsamspflicht gemäß des vierten Gebots erinnert und schließlich gesagt: „Wens nur nicht ein Gespenst mit dir were!“ In gleicher Abfolge erzählt er in seiner Predigt von 1544 (X), wo es dann wörtlich heißt: „Wolan, wolt gott, das kein Teuffels gespenst were“. Luther muss also 1505 sein Erlebnis dem Vater so berichtet haben, dass dieser es als Gespenst im Sinne einer Täuschung interpretieren konnte. So ist es fraglich, ob Hans Luther damit den Blitz gemeint hat – denn dessen Realität war unbestreitbar – oder ob er nicht vielmehr auf ein damit in Zusammenhang stehendes Berichtetes von etwas Geschautem oder Gehörtem gezielt hat. Um ein gefühltes, quasi innerseelisches Erleben, kann es nicht gegangen sein, denn die Begriffe Täuschung und Blendwerk, wie sie Luthers Vater hier verwendet, entsprechen den Bedeutungen „3. blendwerk, täuschung, trug“ und „4. bloszer schein, scheinbild, schatten“ des Grimm’schen Wörterbuchs7. Damit ist aber immer die Täuschung über sichtbar Gegenständliches oder sichtbare Handlungen gemeint. In diesem Sinne wird mehrfach Luther selbst als Textzeuge zitiert8. Das Geschehen ist nicht nur zwischen Luther und seinem enttäuschten Vater reflektiert worden. Auch mit seinen Kommilitonen hat er sich darüber auseinandergesetzt, wie es noch in dem Brief des Crotus Rubeanus anklingt, wenn dieser zu Luthers Klostereintritt bemerkt, dass er „aus unserer höchst betrübten Gemeinschaft“ hinweggegangen sei (I). Crotus Rubeanus gehört sicher zu den Zeugen des Erstberichtes Luthers von dem damaligen Geschehen. Er war einer seiner Bursengenossen, und gegenüber seinen Freunden hat Luther damals diesen Weggang rechtfertigen müssen. Das kann er eben nur mit dem bei Stotternheim Erlebten getan haben. Die Freunde trösteten sich, indem sie das Ereignis in Parallele zur schon angesprochenen biblischen Bekehrungsgeschichte des Saulus-Paulus setzten. Das Dictum vom anderen Paulus stammt nicht erst aus dem RubeanusBrief von 1519. Es gehört in die Erfurter Klosterjahre Luthers. Nach Hieronymus Dungersheim (III) rühmte Johann Nathin, einer seiner Lehrer im Augustinerkloster, ihn „als eyn andern Paulum, der durch Christum wunderbarlichen bekerth“9 gewesen wäre. Nun hinkt der Vergleich mit Paulus zwar prinzipiell, denn Luther wurde ja nicht wie Paulus erst zum Christen7
Jakob und Wilhelm Grimm (Hg.): Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, München 1984 (Nachdruck der Ausgabe, Leipzig 1897), Sp. 4141–4143. 8 Ebd. Sp. 4141. 9 OTTO SCHEEL: Martin Luther, Tübingen 3/41930, Bd. 2, S. 9f., Anm. 9.
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tum bekehrt, sondern zu dem Weg, unter dem man damals die vollkommene christliche Existenz verstand – zum Mönchtum. Die Parallelisierung mit der Paulusbekehrung bedingt aber wiederum, dass Luthers Umgebung damals meinte, er sei nicht mit einem Gespenst sondern mit einer wirklichen göttlichen Offenbarung konfrontiert worden.
3. Die Rezeption des Ereignisses von Stotternheim nach Luthers Tod Die folgende Übersicht umfasst alle Quellen, die das Ereignis in einer Situation erwähnen, in der man auf das abgeschlossene Leben und Werk des Reformators zurückblicken konnte und beides für die Nachwelt festhalten wollte. Die Autoren sind alle noch Zeitgenossen Luthers. XII. Vorrede zu Band 2 des lateinischen Teils der Werkausgabe Luthers, Wittenberg 1546 Nachweis: M. Beyer u.a. (Hrsg.): Melanchthon deutsch, Leipzig 1997, S. 156–188 Autor: Philipp Melanchthon Datierung: 1. Juni 1546 Charakteristik: Überblick über das Leben Luthers
XIII. Rapsodiae et dicta quaedam ex ore Doctoris Martini Lutheri in familiaribus colloquiis annotata Nachweis: Forschungsbibliothek Gotha Cod. Chart. B 15 und 16 (handschriftlich) Autor: Valentin Bavarus Datierung: 1548/49 Charakteristik: Notizen zu Luthers Leben und Wirken
XIV. Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri Nachweis: Faksimiledruck, Farnborough / Hampshire 1968 Autor: Johann Cochläus Datierung: 1549 Charakteristik: Biographie (in polemischer Absicht)
XV. Bericht „Von Doctoris Martini Lutheri Eltern und Abkunft“ Nachweis: Die handschriftliche Geschichte Ratzeberger’s über Luther und seine Zeit. Erstdruck mit Einleitung und Anmerkungen durch Chr. G. Neudecker, Jena 1850 Autor: Matthäus Ratzeberger Datierung: vor 1559 Charakteristik: Biographie
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XVI. Überarbeitete Predigtreihe Nachweis: Historien / Von des Ehrwirdigen ... Doctoris Martini Luthers / anfang / lehr / leben vnd sterben. Nürnberg 1566 Autor: Johann Mathesius Datierung: 1566 (1. Predigt gehalten 1562) Charakteristik: Biographie
Melanchthon umgeht das konkrete Ereignis in geradezu nebulöser Weise, wenn er schreibt: „Aber gegen die Erwartung seiner Eltern und Verwandten kam er wenig später im Alter von 21 Jahren plötzlich zur Bruderschaft der Augustinermönche.“10 Ein aufregendes Geschehen, eine außergewöhnliche biographische Episode lässt sich hinter solch einem lapidaren Satz nicht vermuten. Allein Luthers durch den Tod eines Freundes nachhaltig beeindrucktes und besonders skrupulöses religiöses Gemüt wird einen Absatz weiter als Erklärung nachgeschoben. Mit dieser Darstellungsweise entspricht Melanchthon durchaus Luthers Einstellung. Der hatte die Vorrede zum ersten Teil des lateinischen Teils seiner Werkausgabe 1545 noch selbst verfasst. Sie ist in der Art einer theologischen Autobiographie konzipiert als „großes Selbstzeugnis ... über seine Entwicklung zum Reformator“11. Stotternheim oder auch nur ganz allgemein die geistige Wende von 1505, die ihm ja den Weg zur Theologie eröffnete, kommen darin nicht vor. Die anderen Tradenten stimmen darin überein, dass Luther von einem Unwetter derart erschreckt worden sei, dass er gelobt habe, in ein Kloster einzutreten. Darüber hinaus bietet Bavarus das Datum 2. Juli und weiß gemeinsam mit Mathesius von den Einwendungen des Vaters, das Ganze könne eine teuflische Täuschung gewesen sein.
4. Das Ereignis von Stotternheim in der Lutherforschung und das Problem einer objektiven Interpretation In der historisch-kritischen evangelischen Kirchengeschichtsschreibung lassen sich prinzipiell drei Standpunkte zu Stotternheim ausmachen. Der früheste geht davon aus, dass Luthers Bekehrung zum Mönchtum folgerichtiges Endergebnis eines längeren inneren Entwicklungsprozesses war. Dafür steht die erste umfassende und bis heute bedeutende Luther-
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Michael Beyer u. a. (Hg.): Melanchthon deutsch, Bd. 2, Leipzig 1997, S. 172. ERNST STRACKE: Luthers großes Selbstzeugnis 1545 über seine Entwicklung zum Reformator historisch-kritisch untersucht, Leipzig 1926 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 140). 11
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biographie des Halleschen Theologieprofessors Julius Köstlin12. Köstlin hat dafür eine Reihe von Argumenten zusammengetragen. An erster Stelle stehen die inneren Anfechtungen bei der Suche nach dem gnädigen Gott. Dazu kommen eigene Krankheit, eine schwere Pulsaderverletzung am Oberschenkel, an der er schon einmal fast verblutet wäre und der plötzliche Tod eines nahen Freundes, die ihn immer wieder an die Vergänglichkeit des irdischen Lebens gemahnt hätten. Diese Anschauung wurde von den bedeutendsten Kollegen Köstlins innerhalb der von 1880 bis 1925 zu ihrer ersten Hochblüte strebenden Lutherforschung geteilt. Zu nennen sind hier Karl Holl13 mit seinem Aufsatz über die Frage „Was verstand Luther unter Religion?“ von 1917, der von der Erfüllung eines schon länger in der Lebensauffassung Luthers angelegten „geheimen Wunsches“14 spricht. Emanuel Hirsch15, der in einer Kontroverse über Luthers Klostereintritt mit dem katholischen Theologen und Historiker Alphons Viktor Müller16 Holls Standpunkt in wörtlicher Zitierung aufnimmt. Schließlich Heinrich Boehmer, der in „Der junge Luther“ 1925 kurz und bündig behauptet: „daß in jenem Moment höchster nervöser Spannung nur ein längst durch die inneren Kämpfe der letzten Monate vorbereiteter, aber bisher durch Zweifel und Bedenken mancher Art zurückgehaltener Entschluß plötzlich zum Durchbruch kam. [...] Wir dürfen [...] behaupten, er war innerlich schon auf dem Wege zum Kloster, als der Blitz bei Stotternheim auf ihn niederzuckte.“17 12
JULIUS KÖSTLIN: Martin Luther, Bd.1, Elberfeld 31883. Die erste Auflage erschien bereits 1875. Köstlin (1826–1902) war seit 1870 Professor für Systematik und Neues Testament in Halle. Seine Lutherbiographie ist die erste kritische Auseinandersetzung mit Leben und Werk des Reformators. Sie wurde ergänzt und aktualisiert noch einmal in fünfter Auflage herausgegeben 1903 durch den Kieler Professor für Praktische Theologie Gustav Kawerau (1847–1918). 13 KARL HOLL: Was verstand Luther unter Religion? (1917) in: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 71948. 14 HOLL: Gesammelte Aufsätze, S. 15. 15 EMANUEL H IRSCH: Luthers Eintritt ins Kloster, in: Lutherana II. Zweites Lutherheft der ThStK, ThStK 1919, S. 307–314 (auch in: Gesammelte Werke Bd. 3, Waltrop 1999, S. 98–109). 16 Müller (1867–1930) gehörte bis 1897 dem Dominikanerorden an, war dann Mitarbeiter an den Monumentae Germaniae und seit 1900 freier Schriftsteller und Journalist. Scheels Lutherbiographie (vgl. Anm. 24) und die eigene biographische Erfahrung als Mönch regten ihn zu einer eigenen Auseinandersetzung mit Luthers Klosterjahren an: ALPHONS V IKTOR MÜLLER: Luthers Werdegang bis zum Turmerlebnis, Gotha 1920. Müller gehört zur ersten Generation katholischer Historiker, die sich gegen die konfessionellpolemisch gefärbte Lutherdeutung stellten, wie sie die katholische Biographik bis dahin kennzeichnete. In diesem Sinne hatte er bereits 1912 eine Arbeit herausgegeben: Luthers theologische Quellen, Gießen 1912. 17 Zitiert nach HEINRICH B OEHMER: Der junge Luther, Leipzig 61954, S. 39.
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Diese Sichtweise hat zugleich den Vorteil, dass das Ereignis von Stotternheim rationalisiert, d.h. auf die Ebene der aufgeklärten Vernunft gebracht werden kann. Luthers Erlebnis wird in strenger Reduktion und keinen Millimeter über das wirklich absolut Verbürgte hinausgehend als Erschrecken durch einen Blitz festgestellt. Ausdrücklich wird die Möglichkeit einer Vision18 abgelehnt. Die Formulierung „Gespenst“ bedeute eben Täuschung. In diesem Sinne, so Holl, habe auch Luther den Begriff immer benutzt, z.B. wenn er das Papsttum und sein Wirken als „eyttel teufels gespenst“ bezeichnet19. Dieses Beispiel schlägt sich selbst, weil es gegen den Sinn der Bedeutungserklärungen des Grimm’schen Wörterbuchs konstruiert ist. Denn auch bei Holl beraubt Luthers Interpretation des Papsttums als „eyttel teufels gespenst“ dieses ja nicht seiner historischen Realität. Luther hätte demnach schlimmstenfalls eine Halluzination gehabt, die der durch den Blitz hervorgerufene Schrecken in seinem ihm selbst bewusst oder unbewusst zu diesem Zeitpunkt krisenbehafteten Gemüt ausgelöst hätte. Mit diesem ersten Standpunkt ist zugleich die Hauptströmung innerhalb der Lutherbiographik bis in die heutige Zeit umschrieben, sofern die Autoren näher auf Stotternheim eingehen. Dafür steht derzeit abschließend Martin Brecht mit seiner umfassenden Lutherbiographie20, die den Akzent eindeutig auf den Prozesscharakter der Ereignisse legt, die Luther ins Kloster geführt hätten. Bei ihm erscheint die Bekehrung zum Mönchtum als „Höhepunkt und Lösung einer schon länger sich anbahnenden Lebenskrise“21. Dementsprechend verwendet er auch für das Ereignis von Stotternheim die Überschrift „Die Krise“22. Als letzte Verschärfung dieser Krise sieht er das Jurastudium, das Luther seiner Meinung nach von Anfang 18
Der Begriff der „Vision“ als solcher wird in der Lutherbiographik nicht thematisiert. Nach der eingehenden phänomenologischen Untersuchung von D INZELBACHER: Vision und Visionsliteratur (wie Anm. 2), mit ihrer begrifflichen Systematisierung transzendierenden Erlebens (Kap. 5: Definitionen) entspräche Luthers Stotternheimer Widerfahrnis eher dem Phänomen „Erscheinung“, insofern man deren Möglichkeit annimmt, als einer „Vision“. 19 HOLL: Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 13), S. 15, Anm. 1. 20 MARTIN B RECHT: Martin Luther, Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 1981 / Berlin 1986. Als weitere Beispiele seien genannt: WALTHER VON LOEWENICH: Martin Luther. Der Mann und das Werk, München 1982; J OACHIM ROGGE : Der junge Luther 1483–1521, Berlin 1983 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen II/3); REINHARD SCHWARZ: Luther, Göttingen 1986 (Die Kirche in ihrer Geschichte III/1). 21 BRECHT: Luther (wie Anm. 20), S. 55. 22 Köstlin hatte das Ereignis unter die das prozesshafte Geschehen andeutende Überschrift „Übergang ins Kloster“ gestellt. Anders dagegen Otto Scheel, der 1915/16 Luthers Bekehrung in einem eigenen Paragraphen unter der bezeichnenden Überschrift „Die Katastrophe“ behandelt (vgl. Anm. 24). Bei Boehmer heißt es dann neutral „Die Bekehrung“.
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an fragwürdig war. Er vermutet: „Möglicherweise hat Luther im Sommer 1505 mehr gesucht, als die Juristen ihm bieten konnten. Vielleicht vertrug sich die Rechtswissenschaft mit ihrer erkannten Unsicherheit – denn jeder Fall lag anders und erforderte eine andere Lösung – nicht mit den religiösen Problemen, die Luther damals umtrieben“ und die eine generelle Lösung verlangten23. Der Gegenstandpunkt zu dieser These von Luthers innerem Entwicklungsprozess zum Kloster hin, an dessen Ende Stotternheim stehe, wird von Otto Scheel24 vertreten. Er erhält dadurch Gewicht, dass Scheel mit seinen beiden Lutherbänden, die die Zeit von Luthers Geburt bis zu seiner reformatorischen Entdeckung umfassen, auch nach fast einhundert Jahren der umfassendste und profundeste Interpret der Frühzeit Luthers geblieben ist. Scheel nun legt allen Nachdruck auf die Plötzlichkeit der Bekehrung. Zwar erkennt auch er an, dass es im Vorfeld Ereignisse gab, die Luther beeinflusst haben könnten. Er relativiert diese aber alle in einer durchaus gut nachvollziehbaren Weise. Es geht dabei um die schon von Köstlin angeführten Argumente. Luthers inneren Kampf um den durch Buße und Genugtuungsleistungen möglichst gnädig zu stimmenden Gott sieht er zu Recht eingebettet in die allgemeine religiöse Situation des Spätmittelalters. Viele, sehr viele wurden davon umgetrieben, was auch überhaupt erst den Erfolg des Ablasshandels erklärt. Und längst nicht alle, die auf der Suche nach dem gnädigen Gott waren, gingen deswegen ins Kloster. Luthers Krankheit entmythologisiert Scheel als von späteren Quellen aufgebauschte unbedeutende Unpässlichkeit. Bei dem plötzlich verstorbenen guten Freund handelt es sich wahrscheinlich um den Magisterkandidaten Hieronymus Buntz, der im Februar 1505 zu Luthers Examensdurchgang gehörte, aber nicht mehr promoviert werden konnte, da er der in Erfurt grassierenden Pest zum Opfer fiel. Und die eigene wirkliche Todesgefahr, in die Luther schon einmal durch eine Beinverletzung geraten war, dient Scheel als stärkste Bestätigung: In dieser Todesgefahr rief er die heilige Maria an: O Maria hilff! Da wer ich [...] auff mariam dahin gestorben! In der Nacht brach die Wunde wieder auf. Verblutung drohte ihm. Und wiederum wandte er sich in seiner Angst an Maria. Der Gedanke jedoch, ins Kloster zu treten, ist ihm nicht aufgetaucht. In den Wochen der Genesung erlernte er 23
BRECHT: Luther (wie Anm. 20), S. 54. Otto Scheel (1876–1954) war seit 1906 außerordentlicher Professor für Kirchengeschichte in Tübingen. Sein zweibändiges Werk zum jungen Luther erschien zuerst 1915/16 und erlebte bis 1930 vier durchgesehene Auflagen: OTTO SCHEEL: Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation, Bd. 1: Auf der Schule und Universität; Bd. 2: Im Kloster. Dazu kam in der Reihe: Sammlung ausgewählter kirchen- und dogmengeschichtlicher Quellenschriften ein Band: Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519), Tübingen 21929. Scheel dürfte der profundeste Quellenkenner für diesen Lebensabschnitt Luthers gewesen sein. 24
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ohne Lehrer das Lautenspiel, und genesen nimmt er seine Studien wieder auf. Daß er binnen 24 Stunden zweimal dem Tode nahe gewesen war, wirft ihn nicht aus der Bahn heraus.25
Demzufolge wird für Scheels Katastrophenversion nun doch entscheidend, dass Luther sich durch das Ereignis übernatürlich berufen fühlte26. Damit hält er sein Urteil bewusst offener, als es Holl und Hirsch getan haben. In den Anmerkungen zum ersten Band seiner Lutherbiographie schreibt er: Daß ich die ‚Erscheinung‘ nicht, wie man vielfach angenommen hat, als ‚Vision‘ gedeutet habe, brauche ich nicht nochmals zu betonen. Ich habe aus dem Zwiegespräch des Vaters und des Sohnes nur geschlossen, daß beide im Gewitter einen übernatürlichen Eingriff erkannten, der Vater eine teuflische Vorspiegelung, der Sohn einen himmlischen Ruf. Die Frage nach dem ‚Wie‘ ließ ich offen, wohl wissend, daß die Quellen nicht ausreichen, um ein genaues Bild vom Vorgang bei Stotternheim zu geben.27
Den dritten Standpunkt hat Bernhard Lohse in seinem Studienbuch „Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und Werk“ von 1981 am prägnantesten formuliert. Er unternimmt den Versuch, beide Anschauungen aufzunehmen und zu vermitteln, wenn er schreibt: Dieses Gelübde war nicht die Frucht gründlicher Überlegungen, sondern war Luther in seiner Bedrängnis entfahren. Auf der anderen Seite dürfte es bei Luther damals nicht zufällig zu diesem Gelübde gekommen sein; wahrscheinlich hatte er sich gelegentlich schon vorher, wenn auch nicht intensiv mit der Möglichkeit befaßt, Mönch zu werden.28
Einen vierten im Vergleich zur bisher behandelten Lutherbiographik sehr unkonventionellen Weg einer Interpretation, wie sie Scheel wenigstens andeutungsweise offen lässt, hat Karl August Meissinger 1952 mit seinem Buch „Der katholische Luther“ beschritten29. Meissinger zieht folgendes Fazit zum Ereignis von Stotternheim: 25
SCHEEL: Luther, Bd. 1, S. 245f. Für Scheel ist Luthers Bekehrung zum Mönchtum im Gegensatz zu Brecht gerade auch ein unerwarteter Karrierebruch: „Der Rechtswissenschaft wandte er sich ebenso ernsthaft und gewissenhaft zu, wie seinerzeit den freien Künsten.“ (Martin Luther, Bd. 1, S. 242). Der Beruf des Weltjuristen versprach damals die besten gesellschaftlichen Aufstiegschancen. Der Bedarf der sich herausbildenden neuzeitlichen Staatswesen an solcherart qualifizierten Leuten war groß. Luther sei sich von vornherein über den Charakter und die Begrenzung seines Studiums im Klaren gewesen. „Uns ist nichts davon bekannt, daß er sich abgestoßen fühlte von einer Wissenschaft, die nur weltliche und irdische Zwecke verfolgte, und deren Menschenweisheit ihm den Frieden nicht geben konnte, um den er rang.“ (ebd. S. 242f.). 27 Ebd. S. 323, Anm. 54. 28 BERNHARD LOHSE: Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und Werk, München 21983, S. 34. 29 Das Buch ist der unvollendet gebliebene erste Teil einer geplanten Trilogie, die Luthers Leben und Werk mit den Prädikaten „katholisch“, „reformatorisch“ und „lutherisch“ zu gliedern und charakterisieren versuchte. 26
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War es also ein echter Beruf, der Luther ins Kloster führte? Vielleicht ist das eine Frage, die Menschen überhaupt nicht entscheiden können. Jedenfalls aber wäre es eine viel zu bequeme Psychologie, sie lediglich darum zu verneinen, weil Luther später seinem Gelübde untreu geworden ist; das wäre eine unerlaubte Antwort ex post. Ohne die Folgen des Ablaßstreites, für die Luther bei weitem nicht allein verantwortlich ist, hätte er sein Leben recht gut als der musterhafte Ordensmann beschließen können, der er von Anfang an war. Man muß die Dinge hier einmal gründlich zu Ende denken, davon hängt sehr vieles ab. Jedenfalls ist der grundsätzliche Gegner dieser Lebensform, vor allem also der spätere Luther selbst, hier von vornherein Partei, also zu einem Urteil nicht befugt. [...] Dem späteren Luther zum Trotz halten wir also daran fest, daß es die Hand Gottes war, die ihn damals auf dem Feld bei Stotternheim zu Boden geworfen und ihm dann den ersten harten Entschluß seines Lebens abgerungen hat [...].“30
Damit hat Meissinger das Grundproblem angezeigt, das noch nicht einmal darin besteht, dass hier dem späteren Luther zu trotzen wäre. Denn Luther hat später nicht eigentlich geleugnet, dass er bei Stotternheim der Hand Gottes begegnet sei, sondern er hat das Geschehen von Stotternheim auf höchst widersprüchliche Weise als Beginn eines gottgewollten Irrweges beschrieben. In der bereits zitierten Vorrede an seinen Vater in „De votis monasticis“ beschäftigt er sich eingehend mit der Problematik des von ihm gegenüber seinem Vater nicht eingehaltenen elterlichen Gehorsamsgebots. Dabei löst er die Situation folgendermaßen auf: Hier siehe nun, ob nicht auch Du gewußt hast, daß man Gottes Gebote allen anderen Dingen voranstellen muß. Wenn Du gewußt hättest, daß ich damals noch ganz in Deiner Hand war, hättest Du mich nicht kraft Deiner väterlichen Autorität ganz aus der Mönchskutte herausgerissen? Ebenso ich: wenn ich das gewußt hätte, hätte ich es ohne Dein Wissen und gegen Deinen Willen nicht versucht, auch wenn ich viele Tode darüber hätte sterben müssen. Denn mein Gelübde war keinen Heller wert, weil ich mich dadurch der väterlichen Gewalt und dem Willen des göttlichen Gebots entzog. Ja, es war sogar gottlos. Daß es nicht aus Gott sein konnte, erwies sich nicht nur daran, daß es gegen Deine Autorität sündigte, sondern auch daran, daß es nicht frei und willig gegeben war. Weiterhin geschah es im Vertrauen auf menschliche Lehren und heuchlerischen Aberglauben, die Gott nicht geboten hat. Aber Gott, dessen Barmherzigkeit unendlich und dessen Weisheit ohne Ende ist – siehe wieviel Gutes er aus all diesen Irrtümern und Sünden hat erstehen lassen. Wolltest Du jetzt nicht lieber hundert Söhne verloren als dieses Gute (Endresultat) nicht gesehen haben? Anscheinend hat der Satan an mir seit meiner Kindheit etwas von dem vorhergesehen, was er jetzt leidet. Deshalb war er mit unglaublichen Mitteln darauf aus, mich umzubringen und mich zu fesseln, so daß ich mich öfters gewundert habe: ob ich es allein unter den Sterblichen sei, auf den er es abgesehen habe. Der Herr aber hat (das sehe ich jetzt) gewollt, daß ich die ‚Weisheit‘ der hohen Schulen und die ‚Heiligkeit‘ der Klöster aus eigener, sicherer Erfahrung, d.h. an vielen Sünden und Gottlosigkeiten kennenlernen sollte. Die gottlosen Menschen sollten keine Gele-
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KARL AUGUST MEISSINGER: Der katholische Luther, München 1952, S. 32.
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genheit erhalten, von mir als ihrem zukünftigen Gegner hochfahrend zu behaupten, ich verdammte Dinge, die ich nicht kennte.31
Damit stellt Luther das Ereignis von Stotternheim in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Es ist der erste Knotenpunkt des Kampfes zwischen Gott und Satan, der sich für Luthers Denken, Fühlen und Glauben sein ganzes Leben hindurch abspielt.
5. Ergebnis Historisch-objektiv war Luthers Erleben der Ausfluss jener spätmittelalterlichen Volksfrömmigkeit, der auch er vollkommen verhaftet war. Aus dieser Haltung heraus hat er eben nicht Christus, sondern die heilige Anna32 bzw. in einer vorangehenden lebensgefährlichen Situation Maria angerufen. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner, der für Stotternheim festgehalten werden muss. Theologisch-subjektiv entwickelte sich Luthers reformatorischer Glaube aber dahin, dass er dieses Ereignis nicht mehr frei als Begegnung mit dem Übernatürlichen ansprechen und in seine Biographie einordnen konnte. Das nunmehr gegenüber der mittelalterlichen Tradition absolut gesetzte sola scriptura verhinderte dies. Das Ereignis als solches wurde für Luther uninteressant, wichtig waren allein seine Folgen. Spiegel dieses Sachverhalts sind die Notizen der Zeitzeugen des 16. Jahrhunderts, ganz gleich ob sie Luther aufs Engste verbunden waren oder ihn heftigst bekämpften wie Cochläus. Die evangelische Kirchengeschichtsschreibung hat dem Rechnung getragen, indem sie mit einer eben im Blick auf Stotternheim fragwürdigen, selbstverständlichen Ausschließlichkeit festhält, Luther sei für transzendierende Erfahrungen solcher Art nicht empfänglich gewesen33. So hat Luther selbst die spätere evangelische In31
De votis monasticis Martini Lutheri iudicium 1521, WA 8, S. 574,11-29, Übersetzung nach Kurt Aland (Hg.): Luther Deutsch, Bd. 2, S. 325; Hervorhebungen vom Verfasser. 32 Falls nicht selbst diese Anrufung aus dem historischen Geschehen herauszunehmen ist (vgl. Anm. 6). 33 „Eine Vision ist schon aus dem Grund unglaublich, weil Luther für derartiges nie empfänglich war.“ (HOLL: Gesammelte Aufsätze [wie Anm. 13], S. 15, Anm. 1); „unter den großen Gestalten des Christentums eine der ganz wenigen, die sich nie auf ein Gesicht oder sonst eine außerordentliche Berührung mit der himmlischen Welt berufen haben.“ (EMANUEL H IRSCH: Luthers Berufung, in: ders., Lutherstudien Bd. 2 Gütersloh 1954, S. 68; Erstveröffentlichung in: Deutsche Theologie, November 1933, S. 24–34 [auch in: Gesammelte Werke Bd. 2, Waltrop 1998, S. 68–79]); selbst der am meisten abwägende Scheel sichert sich: „Daß ich die ‚Erscheinung‘ nicht, wie man vielfach angenommen hat, als ‚Vision‘ gedeutet habe, brauche ich nicht nochmals zu betonen.“ (SCHEEL: Luther [wie Anm. 24], Bd. 1, S. 323, Anm. 54); „Visionen, das religiöse
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terpretationsgeschichte seiner Bekehrung zum Mönchtum vorherbestimmt, ohne dass ihm damit eine zielgerichtete, bewusste Manipulation unterstellt werden soll. Es handelte sich ja nicht um den punktuell gezielten Akt der Festschreibung einer bestimmten Deutung, sondern um einen lebenslangen Prozess sporadischer Äußerungen, die alle dem gleichen Anliegen dienten. Trotz der massiven Beeinflussung der Rezeption seiner Biographie an diesem Punkt lassen sich in der Gesamtüberlieferung noch immer zwei widersprüchliche Rezeptionsstränge erkennen34: 1. Älterer ursprünglicher Rezeptionsstrang: Positive Kontextualisierung des Stotternheimerlebnisses und seiner Folgen mit dem Damaskuserlebnis des Paulus: Crotus Rubeanus, Brief an Luther vom 16. Oktober 1519 (I) – Hieronymus Dungersheim von Ochsenfart: Dadelung des obgesatzten bekentnus oder vntuchtigen Lutherischen Testaments, Leipzig 1530 (III) 2. Jüngerer apologetischer Rezeptionsstrang: Negative Neudeutung – Umdeutung – Gegeninterpretation zum älteren Rezeptionsstrang: Hauptstück der romanischen Mystiker hat der schwerblütige Deutsche Martin Luther nie erlebt.“ (GERHARD RITTER: Luther. Gestalt und Tat, München [1925], 41947, S. 24). Spätere Lutherbiographien gehen auf das Thema „Vision“ nicht mehr ein und beschränken sich auf die ja auch auf jeden Fall mit Luthers eigenen späteren Zeugnissen zu deckende Feststellung, er habe in Stotternheim „göttlich[e] Nötigung“ (ROLAND H. B AINTON: Hier stehe ich. Das Leben Martin Luthers, Göttingen 1952, S. 19); „göttliche Führung erfahren“ (LOEWENICH: Luther [wie Anm. 20], S. 54); sei „einem höheren Willen und Ziel“ gefolgt (BRECHT: Luther [wie Anm. 20], S. 58). Aus diesem Interpretationsrahmen fällt allein AUGUSTIJN : Luthers intrede (wie Anm. 6), der Meissingers Ansatz entspricht, wenn er für die Sichtweise des Paulus-Motivs davon ausgeht, dass Luther bei Stotternheim eine Christuserscheinung gehabt haben müsse (S. 10 und S. 27). Allerdings diskutiert er das nicht eingehender, weil das Hauptinteresse seiner Untersuchung auf dem genauen Zeitpunkt von Luthers Klostereintritt liegt. 34 AUGUSTIJN (ebd.) nimmt eine dreifache Interpretation („drie verschillende visies“, S. 27) an. Die Rezeption des Paulusmotivs wolle die Zäsur, den Bruch in Luthers Leben betonen. Mit Stotternheim und dem Klostereintritt beginne Neues. Der zweite Rezeptionsstrang, vertreten von Luther selbst seit 1521 (De votis monasticis), betont im Gegensatz dazu die Kontinuität. Der Eintritt ins Kloster ist die äußerste Konsequenz der damals auch von Luther gelebten Scheinfrömmigkeit („…de uiterste consequentie van de schijnvroomheid, zoals die onder het pausdom heerste“ S. 27f.). Die dritte Rezeption wird von Melanchthon repräsentiert, der den Klostereintritt als folgerichtig für einen jungen Mann von der Interessen- und Gemütslage Luthers darzustellen suche und die Schilderung des Geschehens daher endgültig entschärfe (S. 28). Die Rezeptionen zwei und drei lassen Erzählelemente eines übernatürlichen, göttlichen Eingreifens nicht mehr zu, so dass allenfalls eine Gewittererzählung übrig bleiben kann.
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De votis monasticis Martini Lutheri iudicium 1521 (II) – Tischrede Nr. 4707, 16. Juli 1539 (VIII) – Praefatio zu Opera Omnia I, Wittenberg 1545. Nun erklärt sich auch, weshalb in Luthers Rückblick auf seinen theologischen Werdegang 1545 Stotternheim und die geistige Wende von 1505 trotz ihrer offensichtlichen biographischen Schlüsselfunktion nicht vorkommen. Weil sie seit 1521 unter dem Verdikt des Irrwegs stehen. Stattdessen wird der ältere Rezeptionsstrang konterkariert, indem sich Luther hier selbst mit Paulus identifiziert. Allerdings indem er bezüglich seiner Klosterzeit schreibt: „Tantus eram Saulus ...“35. Die Möglichkeit erscheint nicht ausgeschlossen, dass der ihn erschreckende Blitz von Stotternheim das Ergebnis einer theologisch zwangsläufigen Reduktion in der Erinnerung Luthers ist und dass er darüber hinaus hier etwas erlebte, was sich infolgedessen als historische Nachricht nicht mehr fassen lässt. Anders ausgedrückt: Wäre Luther als Mönch im Kloster geblieben und mit seinen Gaben vielleicht ein besonders herausragender Augustiner-Eremit geworden, dann wäre heute ein ganz anderer, sicher detailreicherer Bericht über das Ereignis von Stotternheim Bestandteil seiner Vita. So aber gilt: Wir besitzen von einem religiösen Schlüsselereignis im „vorreformatorischen Teil“ der Biographie Luthers ausschließlich nachreformatorische Informationen und Wertungen. Wie so häufig beschreibt die Geschichtsschreibung also nicht, was geschehen ist, sondern sie schreibt, was geschehen ist36. Im Falle Luthers bei Stotternheim kann von 35
Praefatio zu Opera Omnia I, Wittenberg 1545; WA 54, S. 179,27f. – Dass diese Gegeninterpretation kein Zufall ist, belegt die leider nicht datierbare Tischrede 6427 aus Anton Lauterbachs Sammlung B: Occasio scriptorum Lutheri (WA.TR 5, S. 656,24– 657,8): “Ego noveram ex Decreto, in quo clare id expressum est, damnari, qui animas ex purgatorio liberare volunt. Putabam me gratificaturum papae, sed damnabar. Ibi cogebar me defendere. Hette ich die sache so weit gesehen, als sie Gott lob kommen ist, so hette ich das maul gehalten, sed me tacente wer es viel erger mit dem babstumb worden; principes et magistratus incitatus eius violentia tandem eum deposuissent. Ego moderate egi, sed tamen cum maxima eorum ruina. Ego maximus papista fui, insuper Romae habe ihre schalckheit gesehen, ihre kunst gelernt vnd getrieben. Darfur solt der Teuffel wol 100 000 fl. geben, daß ichs nicht wuste. So ist es bei der Bekehrung des Paulus geschehen; do der heilige pharisaeus von Juden abfiel, reiß er ein groß loch in die synagoga.“ Sie deckt sich inhaltlich mit dem einleitenden Abschnitt der Praefatio, der die Selbstbezeichnung als „Saulus“ enthält. Luther beschreibt sich hier in seiner Mönchszeit als tollsten Papisten („Papistam insanissimum“), der bereit gewesen wäre, für die Sache des Papstes zu töten, wie er in der Tischrede von sich als „maximus papista“ sprechen kann. Wenn Luther also schon mit Paulus verglichen wird, dann so, dass er bis zum Prozess seiner reformatorischen Erkenntnis Saulus war und dieser erst die Bekehrung zum Paulus bedeutet. 36 Eine Sonderversion bietet D IETRICH EMME: Martin Luther. Seine Jugend- und Studentenzeit 1483–1505, Köln 1982, dessen Darstellung mit „Luthers Bekehrung“ (S. 257ff.) und „Eintritt ins Kloster“ (S. 260ff.) endet. Emmes, allerdings von ihm selbst als nicht „ausdrücklich“, d.h. mit einer entsprechenden Quelle, belegbar bezeichnete
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einer bereits durch ihn selbst eingeleiteten Verdrängung gesprochen werden. Wie erfolgreich diese Verdrängung war, zeigt sich daran, dass das Stotternheimer Gewittererlebnis bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert weder in literarisch-dramatischen Bearbeitungen des Lebens Luthers noch in der Ikonographie37 auftaucht.
Hypothese lautet, Luther sei als Sühne für einen im studentischen Duell begangenen Totschlag ins Kloster eingetreten („Luthers Verstrickung“, S. 252–254). Diese Hypothese ist zudem von vielen weiteren Konstrukten abhängig, so dass sie kaum Beachtung gefunden hat. 37 Vgl.: J OACHIM KRUSE: Drei graphische Folgen von Lutherlebenbildern des 19. Jahrhunderts, in: Hardy Eidam und Gerhard Seib (Hg.): „Er fühlt der Zeiten ungeheuren Bruch und fest umklammert er sein Bibelbuch …“ Zum Lutherkult im 19. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 40–53.
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Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung 1. Die übliche Sicht von Luthers Erfurter Klosterjahren: eine dunkle Zeit vor der reformatorischen Wende Das fünfhundertjährige Jubiläum von Martin Luthers Eintritt in das Erfurter Augustinerkloster am 17. Juli 1505 gibt Anlass zum erneuten Nachdenken darüber, welches Gewicht die ersten Klosterjahre Luthers im Rahmen seiner Biographie und für die Reformation insgesamt haben. Nach traditionellem protestantischem Verständnis gibt es eigentlich in diesem Jahr nichts zu feiern, jedenfalls kein wirkliches Reformationsjubiläum. Denn Luthers Klostereintritt und die folgenden Erfurter Jahre bis zu seiner endgültigen Übersiedelung nach Wittenberg im Herbst 1511 eröffneten, wie man meint, noch nicht die reformatorische Umgestaltung von Luthers Theologie und Frömmigkeit. Es scheint heute Konsens zu sein, dass sich deutliche Merkmale einer reformatorisch veränderten Theologie nicht vor seiner Ersten Psalmenvorlesung (1513–1515) zeigen; ja immer mehr Lutherforscherinnen und -forscher kamen bekanntlich in den letzten Jahrzehnten zur Überzeugung, dass nicht einmal die zeitlich folgende Römerbriefvorlesung die sogenannte ‚reformatorische Wende‘ erkennen lässt, sondern erst die Phase des Ablassstreits und des beginnenden römischen Prozesses während des Jahres 15181. Konnte die ältere Forschung des frühen 20. Jahrhunderts, etwa Karl Holl oder Otto Scheel, schon in der Erfurter Zeit Luthers eine starke Veränderungsdynamik, eine Art ‚Wende vor
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Vgl. die Forschungsüberblicke über die Diskussion dieser Frage von OTTO HERPESCH: Zur Frage nach Luthers reformatorischer Wende. Ergebnisse und Probleme der Diskussion um Ernst Bizer, Fides ex auditu, in: Bernhard Lohse (Hg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968, S. 445–505 (Erstveröffentlichung in: Catholica 20 [1966], S. 216–243 und 264–280); DERS.: Neuere Beiträge zur Frage nach Luthers „Reformatorischer Wende“, in: Catholica 37 (1983), S. 259–287, und 38 (1984), S. 66–133; VOLKER LEPPIN: Luther-Literatur seit 1983 (II), in: Theologische Rundschau 65 (2000), S. 431–454: hier S. 448–454. MANN
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der Wende‘ erkennen2, so hat sich in der jüngeren und jüngsten Forschung der Eindruck verfestigt: Erfurt gehört nicht zu Luthers ‚Initia reformationis‘, sondern zur dunklen Vorgeschichte vor der Wende. Man sieht die Erfurter Klosterjahre unter dem dominierenden Vorzeichen schlimmster Anfechtungen, deren Erfahrung zwar für die spätere Ausprägung seiner neuen Theologie konstitutiv wurde, die aber als solche auf die Seite diesseits der Wasserscheide gehören: als persönliche Zuspitzung einer spätmittelalterlichen religiösen Krise, als Sackgasse einer monastisch geschulten Gewissenhaftigkeit, die den jungen Mönch immer tiefer verstrickte, ohne ihm einen Ausweg zeigen zu können. Erfurt wird so zu einer mittelalterlichen Negativfolie, von der sich die helle, befreiende reformatorische Wende abhebt.
2. Abschied vom Forschungskonstrukt der ‚reformatorischen Wende‘ Luthers Die so vertraute, eingeschliffene Redeweise von der ‚reformatorischen Wende‘3 Luthers oder seinem ‚Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis‘4 ist freilich weniger plausibel, als es auf den ersten Blick scheint. All2
Vgl. den sehr instruktiven Überblick über Inhalt und Zeitpunkt der reformatorischen Erkenntnis(se) Luthers in der Forschung des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts bei W ILHELM LINK: Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, München 1940, S. 14–66, zu Holl S. 25–29 (zu Holls Unterscheidung zwischen zwei Brüchen in Luthers Entwicklung, dem „Durchbruch der neuen sittlichen Erkenntnis“ und dem „Wendepunkt“ zur neuen Rechtfertigungserkenntnis, vgl. auch unten S. 126 mit Anm. 51 und Anm. 73), zu Scheel S. 44–52. Große Bedeutung für Luthers Entwicklung misst Scheel jener Bußunterredung mit Staupitz zu, auf die ich unten näher eingehe; er datiert sie in Luthers erste Erfurter Zeit vor 1509 (S. 46); vgl. unten Anm. 93. 3 Vgl. – thematisch erstmals? – PESCH: Zur Frage nach Luthers reformatorischer Wende (wie Anm. 1). Pesch selbst unterscheidet im Unterschied zur üblichen Terminologie der Lutherforschung begrifflich scharf zwischen dem „Turmerlebnis“, das er mit dem „reformatorischen Durchbruch“ gleichsetzt, und der „reformatorischen Wende“, die sich über einen längeren Zeitraum der theologischen Umorientierung erstrecke und deren Beginn „auf jeden Fall vor der 1. Psalmenvorlesung anzusetzen“ sei (Sammelband, S. 500). In jenem pointierten Sinne, der ‚Wende‘, ‚Durchbruch‘ und ‚Turmerlebnis‘ sachlich und zeitlich zusammenfallen lässt, tritt der Wendebegriff dann thematisch hervor bei OSWALD B AYER: Die reformatorische Wende in Luthers Theologie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 66 (1969), S. 115–150 (wieder abgedruckt im zweiten Sammelband der folgenden Anm. 4, S. 98–150); vgl. auch den Titel von Bayers Monographie: Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Göttingen 1971. 4 Vgl. Lohse (Hg.): Der Durchbruch (wie Anm. 1); ders. (Hg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart 1988. Vgl. zuletzt ganz traditionell THOMAS KAUFMANN: Martin Luther, München 2006, S. 39f.:
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zu gut erfüllt sie das tiefe Bedürfnis von Historikern nach klar benennbaren Zäsuren und erst recht das Verlangen von systematischen Theologen nach einer zentralen theologischen Wahrheit, die als Inbegriff der entscheidenden reformatorischen Veränderung zwischen einem Vorher und Nachher in Luthers Lebensweg steht – sozusagen „zwischen den Zeiten“. Es war wohl vor allem die intensive Verquickung von historischer und systematischer Theologie, die im 20. Jahrhundert jene Wenderhetorik forcierte, die immer noch die Diskussion um den jungen Luther beherrscht. Die erneute Beschäftigung mit der Erfurter Zeit Luthers bedeutet für mich nun nichts anderes als der Versuch, durch eine Art ‚Rehistorisierung‘ dieses gesamte Wende-Konstrukt zur Disposition zu stellen. Es ist ja bekannt, dass Luther in seinen späteren Rückblicken hervorhob, wie mühsam, langsam und schrittweise er aus den Irrtümern der Frühzeit herausfand und wie intensiv sein allmähliches Voranschreiten mit der Erfahrung der Anfechtungen verbunden war5. Ich erinnere nur an jene berühmte Tischredenstelle von 1532, in der Luther sagt: „Ich habe meine Theologie nicht auf einmal gelernt, sondern habe immer tiefer und tiefer graben müssen; dahin haben mich meine Anfechtungen gebracht, weil man ohne Übung nichts lernt.“6 Andererseits ist bekannt, dass Luther – seinen eigenen Zeugnissen nach – wiederholt plötzliche Erkenntnisse von großer Tragweite gewann, die ihn tief aufwühlten, Einsichten vor allem in den biblischen Sinn von ‚Buße‘7, ‚Sündenvergebung‘8 und ‚Gerechtigkeit „ein persönliches Erkenntniserlebnis“ von „zentraler Bedeutung“, das „den Kern der sogenannten Rechtfertigungslehre Luthers bildet“, aus dem sich dann „in einem allmählichen Prozeß“ „die radikalen Konsequenzen“ ergaben. 5 Das bekannteste Beispiel sind Luthers Worte aus dem Schluss seiner Vorrede zum ersten Band seiner Opera latina, 5. März 1545, WA 54, S. 186,25-29; LDStA 2, S. 506, 24-29: „Haec ideo narro, optime lector, ut, si lecturus es opuscula mea, memor sis me unum fuisse (ut supra dixi) ex illis, qui (ut Augustinus de se scribit) scribendo et docendo profecerint, non ex illis, qui de nihilo repente fiunt summi, cum nihil sint, neque operati, neque tentati, neque experti, sed an unum intuitum scripturae totum spiritum eius exhauriunt.“ Das ‚ut supra dixi‘ bezieht sich auf einen früheren Abschnitt der Vorrede (S. 183,21-184,11 bzw. S. 500,17–502,5), in dem Luther beschreibt, wie schwierig es für ihn war, sich von den Irrtümern seiner Jugend loszuringen, und in dem er auch diverse Entwicklungsschritte seiner Erkenntnis unterscheidet. 6 „Ich hab mein theologiam nit auff ein mal gelernt, sonder hab ymmer tieffer und tieffer grubeln mussen, da haben mich meine tentationes hin bracht, quia sine usu non potest disci.“ WA.TR 1, S. 146,12-14, Nr. 352. 7 Vgl. Luthers Begleitschreiben zu den ‚Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute‘ an Staupitz vom 30. Mai 1518, WA 1, S. 525–527; LDStA 2, S. 17–23 (lat./dt.); Teilübersetzung mit Literatur bei Volker Leppin: Reformation, NeukirchenVluyn 2005 (Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen III), S. 21f., Nr. 7a; vgl. unten S. 140–142. 8 Vgl. Luthers Römerbriefvorlesung (1515/16), Scholion zu Röm. 4,7, WA 56, S. 273,3–274,11; StA 1, S. 115,7-22; mit den autobiographischen Formulierungen: „Et ex
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Gottes‘9, in die Unterscheidung von ‚Gesetz und Evangelium‘10 oder in das Wesen des Papsttums11 und des Teufels12. Indem Luther solche kognitivaffektiven Entdeckungen und Durchbrüche erwähnt, gibt er Auskünfte über wesentliche Fortschritte auf einem sehr komplexen und kontinuierlichen theologischen Erkenntnisweg, der ihn zu einem neuen Gesamtverständnis des christlichen Glaubens führte. Wie stark er dabei stilisierend und kontrahierend verdichtet, sei dahingestellt. Wesentlich erscheint mir aber, dass er seine theologische Biographie nicht in das Licht einer alles bestimmenden zentralen Wende oder Bekehrung stellt. Er spricht von wichtigen Klärungen, die eine inhaltlich bestimmte und begrenzte theologische Reichweite haben. Das gilt auch für das von ihm mehrfach hervorgehobene Neuverständnis von ‚iustitia Dei‘ (Röm 1,17)13,
hoc ego stultus non potui intelligere, quomodo me peccatorem similem ceteris deberem reputare […] Ita mecum pugnavi, nesciens, quod remissio quidem vera sit.“ 9 Vgl. besonders den berühmten Abschnitt aus der oben Anm. 5 genannten Vorrede von 1545, WA 54, S. 185,12–186,24; StA 5, S. 635,17–638,2; Übersetzung mit Literatur bei Heiko A. Oberman: Die Kirche im Zeitalter der Reformation, Neukirchen-Vluyn 1981 (Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen III), S. 209f.; vgl. die beiden von B. Lohse herausgegebenen Aufsatzbände oben Anm. 4. Frühere Paralleltexte zu diesem späten Rückblick Luthers auf seine Entdeckung des wahren Sinnes von ‚iustitia Dei‘ in Röm. 1,17 sind aufgeführt bei Otto Scheel: Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519), 2. Aufl., Tübingen 1929, siehe Sachregister S. 355: s. v. iustitia dei. Vgl. insbesondere WA 5, S. 144,1-23 (Operationes in Psalmos, 1519–1521); vgl. aber auch bereits WA 56, S. 171,26–172,15 (Römerbriefvorlesung, 1515/16, zu Röm. 1,17). 10 Vgl. z.B. WA.TR 5, S. 210,6-16, Nr. 5518 (Winter 1542/43) = Scheel: Dokumente (wie Anm. 9), S. 172, Nr. 474, mit der Formulierung: „Aber do ich das discrimen fande, quod aliud esset lex, aliud euangelium, da riß ich her durch.“ 11 Vgl. aus der oben Anm. 5 zitierten Vorrede von 1545 den Abschnitt WA 54, S. 183,29–184,11; StA 5, S. 633,19–634,7: Martin Luther beschreibt hier, wie er zur Erkenntnis kam, dass der Papst nicht „iure divino“ Haupt der Kirche sei; aber noch konzedierte er ihm zunächst ein „ius humanum“, bis er zur Erkenntnis durchdrang: Wenn das Papsttum nicht von Gott ist, dann ist es notwendigerweise vom Teufel. – Zur Überzeugung Luthers, dass der Papst der Antichrist sei, die er während des Jahres 1520 gewann, vgl. seinen – nach dem Eintreffen der Bannandrohungsbulle in Wittenberg geschriebenen – Brief an Georg Spalatin vom 11. Okt. 1520: „Iam multo liberior sum, certus tandem factus papam esse Antichistum et satane sedem manifeste inventum.“ WA.B 2, S. 195,22f., Nr. 341. 12 Vgl. WA 50, S. 473,34-57 (Wider die Antinomer, 1539): „Aber der Teuffel ist herr jnn der welt, und ich habe es selbs nie können gleuben, das der Teuffel solt Herr und Gott der welt sein, bis ichs nu mals zimlich erfaren, das es auch ein artickel des glaubens sey: Princeps mundi, Deus huius seculi.“ Vgl. dazu HEIKO A. OBERMAN: Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986, S. 200–202. 13 Vgl. oben Am. 9. Am ehesten stilisiert Luther sein Neuverständnis der ‚iustitia Dei‘ in der späten Tischrede Nr. 5518 (wie Anm. 10) als diakritischen Punkt einer Lebenswende; doch unterscheidet sich diese Stilisierung seines Ringens um Röm. 1,17 von den
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das sogenannte ‚Turmerlebnis‘ Luthers14. Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine elektrisierende exegetische Entdeckung von großem, aber auch deutlich begrenztem Gewicht, die sich in eine Kette bedeutender reformatorischer Neukonzeptionen Luthers einordnet. Man muss also sehr deutlich unterscheiden zwischen Luthers Diktion der überraschenden Entdeckungen und den vielfältigen Versuchen der modernen Forschung, in der Biographie des Reformators die zentrale reformatorische Erkenntnis oder das endgültige Entdeckungserlebnis festzumachen und diesen entscheidenden qualitativen Schub sowohl auf einen ‚wesentlichen‘ theologischen Sachverhalt des ‚Reformatorischen‘ als auch auf ein engeres oder weiteres Zeitfenster einzugrenzen. Indem ich dies hervorhebe, kann ich verschiedene Impulse der Forschung aufnehmen, die bereits das Konstrukt der ‚reformatorischen Wende‘ relativierten. Ich denke etwa an jüngste Publikationen von Volker Leppin15 und Martin Ohst16. Vor allem aber hat schon vor Jahrzehnten Heiko A. Oberman darauf hingewiesen, wie unsachgemäß der vermeintliche Zwang ist, zwischen der Früh- und Spätdatierung eines „theologischen Durchbruchs“ Luthers wählen zu müssen17. Zugleich eröffnete er ein neues
zahlreichen anderen Rückblicken dadurch, dass hier das ganze Gewicht auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium fällt. 14 Die Bezeichnung ‚Turmerlebnis‘ in Verbindung mit dem Neuverständnis von ‚iustitia Dei‘ hat ihre Textbasis in WA.TR 3, S. 228,6-32, Nr. 3232 a/b/c (Juni/Juli 1532) = Scheel: Dokumente (wie Anm. 9), S. 91, Nr. 235. Zum Ort vgl. HEINRICH B ORNKAMM : Iustitia Dei in der Scholastik und bei Luther, in: Archiv für Reformationsgeschichte 39 (1942), S. 1–46: hier S. 28f., Anm. 4. Zur theologischen Deutung des Turmerlebnisses als ‚cloaca‘-Erlebnisses – in Anlehnung an WA.TR ebd. und TR 2, S. 177,8f., Nr. 1681 (Juni/Juli 1532) = Scheel ebd., S. 94, Nr. 238 – vgl. OBERMAN: Die Reformation (wie Anm. 12), S. 94–101. 15 Vgl. LEPPIN in seinem Forschungsbericht (wie Anm. 1), S. 449f., in Anknüpfung an OBERMAN (wie Anm. 17: „Turmerlebnistradition“); DERS.: Von Sturmgewittern, Turmstuben und der Nuss der Theologie. Martin Luther (1483–1546) zwischen Legende und Wirklichkeit, in: Wittenberger Lebensläufe im Umbruch der Reformation, hg. vom Evang. Predigerseminar Wittenberg 2005, S. 11–27: hier S. 18. 16 Vgl. MARTIN OHST: Die Lutherdeutungen Karl Holls und seiner Schüler Emanuel Hirsch und Erich Vogelsang vor dem Hintergrund der Lutherdeutung Albrecht Ritschls, S. 29f., 40f., 46 (in zustimmender Rezeption der Auffassung von der sukzessiven, prozesshaften Entwicklung Luthers bei Holl und Hirsch); DERS.: „Reformation“ versus „Protestantismus“? Theologiegeschichtliche Fallstudien, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), S. 441–479: hier S. 475f. (in kritischer Auseinandersetzung mit Friedrich Gogartens normativ-dogmatischer Reformations- und Lutherdeutung, S. 460–468). 17 Vgl. OBERMAN: Die Reformation (wie Anm. 12), S. 93f. (erstmals publiziert 1967). In diesem Zusammenhang spricht Oberman von der „Turmerlebnistradition“, in der Luther stehe. Es sei theologischer Topos gewesen, dass „suchenden Exegeten plötzlich die innerste Bedeutung eines bestimmten biblischen Textes eröffnet wird“. Wichtig aber sei
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Fragen nach einem positiven Zusammenhang zwischen dem Erkenntnisund Erfahrungsspektrum Luthers während seiner Erfurter Jahre und seiner reifen reformatorischen Theologie. Er insistierte dabei besonders auf einem Weiterwirken der Erfurter Via moderna, die Luther zeitlebens zum Nominalisten gemacht habe18. Aber auch abgesehen von der scholastischen Lehrebene der Universitäten können Forscher wie Reinhard Schwarz und Ulrich Köpf einen intensiven Wirkungszusammenhang zwischen den frühen Klosterjahren Luthers und dem späteren theologischen Profil Luthers wahrnehmen. Es seien bestimmte Elemente einer monastischen Erfahrungstheologie in der Tradition Bernhards von Clairvaux gewesen, die ihn zeitlebens geprägt hätten19. In solche Überlegungen kann man auch die Vermutung einbeziehen, dass Luther schon vor 1511 unter den starken Einfluss der spezifischen Theologie und Spiritualität seines Ordens und seines Ordensoberen, Seelsorgers und Lehrers Johannes von Staupitz geraten ist – ein Einfluss, der sich besonders auf die Ausbildung seines Sünden- und Gnadenverständnisses ausgewirkt haben dürfte20. Von daher stellt sich die Frage, ob am Anfang des 16. Jahrhunderts nur in einer observanten Ordensgemeinschaft, vielleicht sogar nur in einem observanten Augustinerkonvent jene spirituelle und theologische Konstellation möglich war, die erstmals zum reformatorischen Bruch mit dem bisherigen Gesamtgefüge von Kirche, Theologie und Frömmigkeit führte, zugleich aber eine bestimmte Dynamik mittelalterlicher Religiosität weiterwirken ließ. Fragen dieser Art – ob etwas nur so und nicht ganz anders hätte geschehen können – sind prinzipiell nicht zu beantworten. Vieles spricht aber dafür, die Frage zu bejahen. De facto stellen sich Luthers reformatorische Anfänge als eine breitgefächerte Erfahrungs- und Erkenntnisgeschichte dar, die in seiner Erfurter Klosterzeit beginnt und in seine frühen Prägungen durch das Ordensleben eingebettet ist. Meine Ausgangsthese ist daher, dass es nicht nur wichtige religiöse Kontinuitäten zwischen Erfurt und Luthers späterer Lebensgeschichte gibt, sondern dass das reformatorisch Neue und Zukunftsweisende schon in den Jahren 1505 bis 1511 aufbricht. besonders, „dass Luther die von ihm geschilderte Erfahrung offensichtlich mehrfach gehabt hat“. 18 Vgl. HEIKO A. OBERMAN: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982, S. 126–130. 19 Vgl. REINHARD SCHWARZ: Luthers unveräußerte Erbschaft an der monastischen Theologie, in: Gerhard Ruhbach und Kurt Schmidt-Clausen (Hg.): Kloster Amelungsborn 1135–1985, Hermannsburg 1985, S. 209–231; U LRICH KÖPF: Monastische Traditionen bei Martin Luther, in: Christoph Markschies und Michael Trowitzsch (Hg.): Luther – zwischen den Zeiten, Tübingen 1999, S. 17–35; DERS.: Art. Mönchtum, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, S. 50–57. 20 Vgl. unten S. 139–144 (Abschnitt 7).
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Dieser Zeitraum umfasst die Erfurter Ära von Juli 1505 bis Herbst 1508, die Wittenberger Phase von Herbst 1508 bis Herbst 1509 und schließlich die zweite Erfurter Zeit von Herbst 1509 bis Spätsommer 1511, die durch die Romreise Luthers im Winter 1510/11 unterbrochen wurde. Wenn ich im Blick auf die Entwicklung Luthers in diesen Jahren den Terminus ‚reformatorisch‘ verwende, dann nur mit großen Vorbehalten. Es ist ja offensichtlich, wie stark sein Gebrauch von dogmatisch-normativen Vorentscheidungen geprägt ist, so dass man ernsthafte Zweifel an seiner Tauglichkeit für ein historiographisches Vorgehen hegen kann. Andererseits ist der Begriff auch nicht zu vermeiden, wenn man sich der Frage nach dem Neuen, Epochalen und Kirchentrennenden in Luthers Wirken stellen will. Unter zwei Voraussetzungen möchte ich daher doch den Terminus ‚reformatorisch‘ in den Mund nehmen: 1. Er dient mir in historisch-deskriptivem Sinne als Bezeichnung für solche Faktoren, in denen eine grundlegende, ‚systemsprengende‘ Abkehr von der Religiosität des Mittelalters zu erkennen ist. 2. Der Begriff soll so offen gehandhabt werden, dass er nicht auf eine zentrale Erkenntnis und Wende fixiert werden muss, sondern einen großen Bogen von Veränderungen und ein ganzes Ensemble von Erkenntnissen umfassen kann21. 3. Der Begriff signalisiert den sachlichen und wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen der – dem öffentlichen Publikum verborgenen – Frühtheologie Luthers und seiner späteren publizierten Theologie, die Grundlage der evangelischen Kirchen- und Konfessionsbildung wurde.
3. Die Verankerung der Anfechtungen in Luthers Theologie Indem ich den Zeitraum von 1505 bis 1511 in den Lebensbogen des reformatorischen Wende- und Werdeprozesses Luthers integriert sehen möchte, vollziehe ich im Grunde nur nach, was Luther selbst theologisch zum integralen Bestandteil seiner und jeder heilsamen Lebensveränderung macht. Berühmt sind seine wiederholten Aussagen darüber, dass man nur durch die Erfahrung, d.h. nur durch das Widerfahrnis der bedrohlichen Anfech-
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Zum Ensemble dessen, was man – von Luther und einem breiten Publikationsspektrum der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts ausgehend – in einem prägnanten Sinne als ‚gemeinsam-reformatorisch‘ bezeichnen kann, vgl. BERNDT HAMM: Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: Berndt Hamm / Bernd Moeller / Dorothea Wendebourg: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 57–127: hier S. 85–97.
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tung, zum Christen und Theologen werden kann22. Ohne die durch Gottes Gesetz eröffnete Selbsterkenntnis des Sünders, der sich als Angefochtener von der eigenen Sünde, dem Gericht Gottes und der Höllenmacht Satans umstellt sieht, kann es keine befreiende Gotteserkenntnis durch das Evangelium geben. Diesen Zusammenhang betont gerade auch der ältere Luther im Konflikt mit den Antinomern23. In den Zentralbereich seiner Rechtfertigungslehre gehört bekanntlich die Vorstellung, dass der Mensch durch Gottes Führung, sein ‚opus alienum‘, so in die Enge getrieben wird, dass er an das Ende aller seiner soteriologischen Möglichkeiten und Fähigkeiten gerät24. Der im Glauben an das Evangelium geschenkte Trost ist daher immer „getroste Verzweiflung“25. Indem Luther theologisch Anfechtung und tröstenden Glauben so eng miteinander verklammert, verankert er seine persönliche Anfechtungsgeschichte, auch die der frühen Erfurter Jahre, im Rahmen seiner reformatorischen Theologie. So schreibt er in ‚De servo arbitrio‘ über seine einstigen Prädestinationsanfechtungen: „Ich selbst habe – nicht nur einmal – daran Anstoß genommen bis hinein in den tiefsten Abgrund der Verzweiflung, so dass ich wünschte, ich wäre nie als Mensch geschaffen worden. Das war, bevor ich erkannte, wie heilvoll jene Verzweiflung sei und wie nahe bei der Gnade liegend (gratiae propinqua).“26 22
Vgl. OSWALD B AYER: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, S. 20: „Mit ‚Erfahrung‘ meint Luther primär keine actio, sondern eine passio: nicht primär die Erfahrung, die ich mache, sondern die ich erleide. Es ist – zugespitzt – die Erfahrung, die in der Anfechtung mir durch Gottes Wort zuteil wird. So hat denn Luthers berühmte Sentenz ‚Sola experientia facit theologum‘ ihre Pointe, die ihr freilich meist abgebrochen wird, darin, dass nicht die Erfahrung als solche den Theologen macht, sondern die Erfahrung der Heiligen Schrift.“ Die Sentenz „Allein die Erfahrung macht den Theologen“ findet sich in WA.TR 1, S. 16,13, Nr. 46 (1531). Zur grundlegenden Anfechtungserfahrung vgl. auch Bayer ebd. S. 18–20 und 33f. 23 Vgl. JOACHIM ROGGE: Innerlutherische Streitigkeiten um Gesetz und Evangelium, Rechtfertigung und Heiligung, in: Helmar Junghans (Hg.): Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, Berlin/Ost 1983, Bd. 1, S. 187–204 (mit Anmerkungen in Bd. 2, S. 785–787). 24 Vgl. P AUL ALTHAUS: Die Theologie Martin Luthers, 5. Aufl., Gütersloh 1980, S. 111: „Nach Jesaja 28,21 drückt Luther diesen Stil des Wirkens Gottes auch so aus: Gott tut ein ihm fremdes Werk (opus alienum), damit er zu seinem eigenen (opus suum oder proprium) komme.“ Althaus verweist auf WA 5, S. 63,28–64,4 (Operationes in Psalmos, 1519–21); vgl. z.B. auch ebd. S. 503,26f.; WA 7, S. 531,17-33 (Enarrationes epistolarum et euangeliorum, 1521). 25 Vgl. Luthers Brief an Georg Spenlein vom 8. April 1516, WA.B 1, S. 35,34, Nr. 11 (fiducialis desperatio); vgl. folgende Anm. (salutaris desperatio). 26 „Ego ipse non semel offensus sum usque ad profundum et abyssum desperationis, ut optarem nunquam esse me creatum hominem, antequam scirem, quam salutaris illa esset desperatio et quam gratiae propinqua.“ WA 18, S. 719,9-12; LDStA 1, S. 486,2225.
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Einige Monate nach dem Ende seiner ersten Erfurter Zeit, am 17. März 1509, äußert Luther im Brief an seinen Freund Johannes Braun seine Abneigung gegen die philosophisch-scholastische Lehrweise der Universität und sein Verlangen nach einer Theologie, „die den Kern der Nuss, das Innerste des Weizenkorns, das Mark des Knochens erforscht“27. Damit hat er ganz offensichtlich eine Theologie im Blick, die sich nicht an eitle Spekulationen verliert, sondern sich dem existentiellen Zentralproblem des angefochtenen Gewissens und seiner Tröstung widmet. In diesem Sinne wird er dann in einer späteren Tischrede sagen: „Gerson war der erste, der die Sache angepackt hat, die die Theologie angeht; er hat auch viele Anfechtungen erfahren.“28 Aufgrund der eigenen Lebenserfahrung wird für Luther die ‚tentatio‘, das in den Abgrund der Verzweiflung führende Ringen um den gnädigen Gott, zur Basis jeder wahren Theologie. Nur wer an seiner Illusion der ‚iustitia activa‘ zerbricht, wird das Heil in der ‚iustitia passiva‘ Jesu Christi erkennen. Deshalb bezieht Luther die Anfechtungs- und Verzweiflungsgeschichte seiner Frühzeit in die Geburtsgeschichte seiner neuen, befreienden Theologie ein und sagt: Meine Anfechtungen haben mich zu meiner Theologie gebracht29. Spätestens an diesem Punkt meiner Darstellung wird offensichtlich, wie problematisch die Verwendung des Begriffs ‚Anfechtung‘ ist, wenn man ihn auf Luthers frühe Klosterjahre anwendet. Denn er ist ja kein historiographischer Terminus, sondern ein theologischer Begriff der rückblickenden Lebensdeutung Luthers aus der Perspektive des Glaubens. Allerdings bezieht er sich auf die reale Historie erfahrener Trostlosigkeit, Desillusionierung und Verzweiflung. Und in diesem Sinne kann man dann das Interpretament ‚Anfechtung‘ auch als abkürzende Bezeichnung für das Interpretierte selbst verwenden: für all das, was Luther während seines Lebens als religiös erschreckend, angsterregend und gewissensbelastend erfahren hat.
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„[...] studium [...] philosophiae, quam ego ab initio libentissime mutarim theologia, ea inquam theologia, quae nucleum nucis et medullam tritici et medullam ossium scrutatur. Sed Deus est Deus; homo saepe, imo semper fallitur in suo iudicio. Hic est Deus noster, ipse reget nos in suavitate et in saecula.“ WA.B 1, S. 17,41-46, Nr. 5. Vgl. hierzu B ERNHARD LOHSE: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 48f. 28 „Gerson primus est, qui rem aggressus est, quod attinet ad theologiam; ille etiam expertus est multas tentationes.“ WA.TR 2, S. 114,1-3, Nr. 1492 (Frühjahr 1532) = Scheel: Dokumente (wie Anm. 9), S. 88, Nr. 226. Zur Bedeutung, die der französische Theologe Johannes Gerson (1363–1429) als Anfechtungs- und Trosttheologe für Luther gewann, vgl. SVEN GROSSE: Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit, Tübingen 1994, S. 1f. und 140–158. 29 Vgl. das Zitat oben S. 113 mit Anm. 6.
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4. Die Klosteranfechtungen Luthers als Verschärfung einer Strukturkrise spätmittelalterlicher Religiosität 4.1 Die Fragestellung Indem ich auf diese existentielle und theologische Verknüpfung von grundlegender Anfechtungserfahrung und reformatorischem Werdegang Luthers blicke, komme ich erst zur wesentlichen Frage meiner Überlegungen: Gehört diese Bedrängnis durch die Gewissensprobleme der frühen Klosterjahre wirklich zum Neuen der reformatorischen Theologie Luthers? Gab es nicht im ausgehenden Mittelalter zahlreiche Ordensleute, die in der Unsicherheit über ihren Gnaden- und Heilsstand vergleichbare geistliche Anfechtungen durchlitten? Ist die ‚tentatio‘ also nicht ein typisch spätmittelalterliches, durch Luthers besondere Gewissenhaftigkeit und Sensibilität zugespitztes Klosterproblem, das zwar mit der Genese seiner reformatorischen Theologie eng verwoben ist, aber nicht zu diesem Neuaufbruch selbst gehört? Sollte es sich so verhalten, dann wären wir wieder bei dem eingangs skizzierten Mehrheitskonsens der Forschung angelangt.
4.2 Die Antinomien der spätmittelalterlichen Spiritualität Tatsächlich kann man die seelischen Nöte des jungen Luther als Steigerung einer spätmittelalterlichen Grundproblematik sehen. Man kann sagen, dass sich die Strukturkrise der zeitgenössischen Religiosität in der Persönlichkeitskrise seiner quälenden Sünden- und Gerichtsanfechtungen zuspitzt. Hat man die Spiritualität in den observanten Ordensgemeinschaften um 1500 vor Augen, dann gewinnt der Begriff der ‚Frömmigkeitskrise‘ eine vielleicht ungewohnte Beleuchtung. Diese Krise lag nicht in dem, worin man normalerweise Krisenphänomene des spätmittelalterlichen Kirchenwesens wahrnimmt, etwa in bestimmten ‚Missständen‘ der Seelsorge oder einer ‚Veräußerlichung‘ der Frömmigkeit30. Das wesentliche Problem 30
Zu einer derartigen Charakterisierung des ausgehenden Mittelalters auf Seiten katholischer Kirchenhistoriker sagt Volker Leppin: „Es war die ökumenische Öffnung der katholischen Kirche im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils, die sich in der kirchenhistorischen Forschung – vor allem bei Joseph Lortz und seinem Schüler Erwin Iserloh – durch ein Dekadenzmodell der Deutung des Spätmittelalters bemerkbar machte, das darauf hinauslief, zu erklären, jene Kirche, gegen die Luther sich gewandt habe, sei eigentlich gar nicht im Vollsinn katholisch gewesen.“ VOLKER LEPPIN: Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation, in: Gudrun Litz, Heidrun Munzert, Roland Liebenberg (Hg.): Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History, Festschrift für Berndt Hamm, Leiden/Boston 2005 (Studies in the History of Christian Traditions 124), S. 299–315: hier S. 299. – Trotz Bernd Moellers bekann-
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lag vielmehr gerade umgekehrt in einer geistlichen Hochblüte, d.h. in einer forcierten Verinnerlichung und Intensivierung des geistlichen Lebens, wie sie sich auch in den ordensnahen Laien- und Klerikergemeinschaften der Devotio moderna zeigt31. Diese Entwicklung führte zu spannungsvollen Antinomien, die eine traditionell bewährte klösterliche Spiritualität und Seelsorge zu überfordern drohten und im Falle Luthers scheitern ließen. Da gab es zum einen die Spannung zwischen einem gesteigerten Sündenbewusstsein und einem gleichzeitig intensivierten Observanz- und Perfektionsstreben. Die zunehmende Interiorisierung in der Achtsamkeit auf den inneren Menschen leitete dazu an, die Sünde bis in die geheimsten Schlupfwinkel der Seelenregungen aufzuspüren und ebenso demütig wie besorgt das eigene geistliche Unvermögen wahrzunehmen32. In wöchentlicher Beichte soll der regelstrenge Mönch das Ergebnis seiner sorgfältigsten Selbstanalyse dem Seelsorger offenlegen33. Das subtiler gewordene Sündenverständnis machte die vollständige Beichte zu einer schwierigen
ter Gegenthese, das 15. Jahrhundert sei geradezu eines der frömmsten Jahrhunderte in der Kirchengeschichte überhaupt gewesen (von Leppin referiert ebd. S. 300), ist auch auf Seiten eines protestantischen Geschichtsverständnisses immer noch das düstere Bild einer höchst defizitären, die Reformation provozierenden spätmittelalterlichen Kirchlichkeit und Religiosität weit verbreitet. – Zu einer anderen Sicht des Spätmittelalters, die vor allem die Polaritäten in der Frömmigkeit (z.B. extrovertierte und verinnerlichte, angsterregende und tröstende, individualisierende und gemeinschaftsorientierte Einstellungen) hervorhebt, vgl. BERNDT HAMM : Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Gerhard Müller, Horst Weigelt, Wolfgang Zorn (Hg.): Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern, Bd. 1, St. Ottilien 2002, S. 159–211, besonders S. 188–190. 31 Vgl. Nikolaus Staubach (Hg.): Kirchenreform von unten. Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Brüder vom gemeinsamen Leben, Frankfurt a.M. u.a. 2004; ANNE B OLLMANN: „Apostolinne van Gode gegeven“. Die Schwestern vom gemeinsamen Leben als geistliche Reformerinnen in der Devotio moderna, in: Festschrift Hamm (wie Anm. 30), S.131–144 (mit Literatur). Zur Verbindung von Musik und Meditation in der Devotio moderna vgl. ULRIKE HASCHER-B URGER: Gesungene Innigkeit. Studien zu einer Musikhandschrift der Devotio moderna, Leiden/Boston 2002, besonders S. 95–146. 32 Vgl. BERNDT HAMM: Wollen und Nicht-Können in der spätmittelalterlichen Bußseelsorge, in: Berndt Hamm und Thomas Lentes (Hg.): Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, Tübingen 2001, S. 111–146. 33 Vgl. die im Jahre 1504 unter dem Generalvikariat des Johannes von Staupitz verabschiedeten und gedruckten Konstitutionen der deutschen Reformkongregation des Augustinereremiten-Ordens, cap. 8 (Quando, a quo et ubi secretae confessiones fratrum ordinis audiantur): „Praeterea volumus firmiter observari, ut semel ad minus in septimana quilibet frater teneatur confiteri; qui contempserit publice, graviter puniatur.“ Edition von Wolfgang Günter, in: Johann von Staupitz: Gutachten und Satzungen, hg. von Lothar Graf zu Dohna und Richard Wetzel (Johann von Staupitz: Sämtliche Schriften 5), Berlin/ New York 2001, S. 173,37-39.
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Hürde34. Zugleich aber, oft in den gleichen Quellen, wird ein hochfliegendes Perfektionsideal des ‚homo spiritualis‘ propagiert. Man begnügt sich nicht mit einer Observanz der guten Werke, sondern strebt eine Vollkommenheit der Gewissensreinheit, selbstlosen Gottesliebe und entsagungsvollen Kreuzesnachfolge an, die selbst das Schwerste aus innerster Willigkeit und Freude heraus vollbringt35. Mit dieser Spannung verbindet sich unmittelbar eine Unterscheidung zweier Aussageebenen in der spätmittelalterlichen Religiosität, eine Art Rollenspaltung des frommen Menschen36: Einerseits wird ihm die subjektive Aussageform des demütigen Gebets in den Mund gelegt: dass er sich vor der immensen Strenge und Güte Gottes als völlig unwürdigen Sünder erkennt und bekennt, als armseliges Nichts, das nur Strafe verdient und ausschließlich auf Gottes Erbarmen angewiesen ist37. Auf der anderen Sei34
Vgl. RONALD K. RITTGERS: The Reformation of the Keys. Confession, Conscience, and Authority in Sixteenth-Century Germany, Cambridge/Ma und London 2004, S. 23– 46. Zu Luthers Problemen mit der Beichte in seiner frühen Klosterzeit vgl. die quellennahe Darstellung von MARTIN BRECHT: Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483– 1521, Stuttgart 1981, S. 74–77 – mit den rückblickenden Formulierungen Luthers: „Ich habe einmal sechs Stunden gebeichtet.“ „Da war solch ein Laufen, dass man sich nimmer konnt satt beichten.“ „Wir machten die Beichtväter müde.“ (S. 74f.). Vgl. besonders die eindrucksvolle Tischrede WA.TR 5, S. 439,32–440,8, Nr. 6017 (wohl aus den dreißiger Jahren) = Scheel: Dokumente (wie Anm. 9), S.127f., Nr. 342. 35 Die Koexistenz eines forcierten, subtilen Sündenverständnisses und eines hochgesteckten Vollkommenheitsideals findet man z.B. in der von Thomas von Kempen niedergeschriebenen ‚Imitatio Christi‘; zum Ersteren vgl. z.B. Buch III, c. 3, Nr. 25–31 (z.T. zitiert unten Anm. 37), zum Letzteren vgl. z.B. die Beschreibung des Ideals der selbstlosen Liebe ebd. c. 5 passim. Die Vollkommenen unter den Devoten werden (in c. 4, Nr. 23) so beschrieben: „Sunt alii, qui intellectu illuminati et affectu purgati ad aeterna semper anhelant; de terrenis graviter audiunt, necessitatibus naturae dolenter inserviunt; et hi sentiunt, quid spiritus veritatis loquitur in eis, quia docet eos terrena despicere et amare caelestia, mundum neglegere et caelum tota die ac nocte desiderare.“ Ziel der Frömmigkeit ist es, an allen Tugenden reich zu sein („omnibus virtutibus pollere“) und schon auf Erden vor Gottes Angesicht rein wie Engel zu wandeln („tamquam angeli in conspectu eius mundi incedere“); Buch I, c. 19, Nr. 1f. Diese Vollkommenheit zeigt sich vor allem darin, dass man nach Christi Vorbild in der Trübsal den größten Trost und so im Leiden, das einem um Christi willen lieb wird, das Paradies auf Erden findet („invenisti paradisum in terra“); Buch II, c. 12, Nr. 48f. Ich benutzte die zweisprachige Ausgabe von Friedrich Eichler: De imitatione Christi/ Nachfolge Christi, München 1966. 36 Zur folgenden Unterscheidung vgl. ausführlicher BERNDT HAMM: Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens?, in: Bernd Moeller und Stephen Buckwalter (Hg.): Die Reformation in Deutschland als Durchbruch, Gütersloh 1998 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199), S. 103–127: hier S. 107– 113. 37 Vgl. z.B. das in der ‚Imitatio Christi‘ (wie Anm. 35), Buch III, c. 3, Nr. 25–30, formulierte Gebet: „Herr mein Gott, du bist all mein Gut. Und wer bin ich, dass ich es wage, dich anzureden? Ich bin dein ärmster Knecht und ein verworfenes Würmlein, viel
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te aber steht die verobjektivierende Aussageform der kirchlichen Lehre, dass der Mensch und insbesondere die gewissenhaft lebende Ordensperson durchaus dazu befähigt und aufgefordert ist, sich vor Gott durch Liebe und Reue des ewigen Lebens würdig zu machen, durch den Gehorsam eines vollkommenen Bußlebens alle zeitlichen Sündenstrafen schon auf Erden abzubüßen und reiche himmlische Belohnung zu verdienen. Die Nonne und der Mönch sollen also immer tiefer ihre sündhafte Unwürdigkeit vor Gott ausloten und artikulieren und doch zugleich den Aufstieg bis zur höchsten Spitze verdienstvoller Würdigkeit anvisieren, den Heilsweg einer inneren und äußeren ‚iustitia activa‘. Dass durch solche gegenläufigen Tendenzen des Devotionsprogramms strukturell die Möglichkeit schwerer Gewissensnöte vorprogrammiert war, liegt auf der Hand. Es lag in der Logik einer interiorisierten und individualisierten Frömmigkeitssteigerung, dass das seelische Konfliktpotential bis ins Unerträgliche eskalierte. Eine verschärfende Bedeutung gewann dabei die besondere Gewissheitsproblematik des ausgehenden Mittelalters. Einerseits ist auffallend, wie emphatisch von Geistlichen das observante Klosterleben als ‚via securior‘ angepriesen wurde, als exklusive Lebensform maximaler Sicherheiten des Gnaden- und Heilsgewinns38. Andererseits verweigerte das gleiche religiöse System dem Individuum eine letzte persönliche Gnaden- und Heilsgewissheit39 – obwohl doch die Anleitung zu einer persönlichen, mysärmer und verächtlicher, als ich es weiß und zu sagen wage. Gedenke dennoch, Herr, dass ich nichts bin, nichts habe und nichts vermag. Du allein bist gut, gerecht und heilig; du kannst alles, gibst alles und erfüllst alles; den Sünder allein lässt du leer. Erinnere dich deiner Erbarmungen und erfülle mein Herz mit deiner Gnade, der du nicht willst, dass deine Werke leer seien.“ („Domine Deus meus, omnia bona mea tu es. Et quis ego sum, ut audeam ad te loqui? Ego sum pauperrimus servulus tuus et abiectus vermiculus, multo pauperior et contemptibilior, quam scio et dicere queo. Memento tamen, Domine, quia nihil sum, nihil habeo nihilque valeo. Tu solus bonus, iustus et sanctus; tu omnia potes, omnia praestas, omnia imples, solum peccatorem inanem relinquens. Reminiscere miserationum tuarum, et imple cor meum gratia tua, qui non vis esse vacua opera tua.“) – Die Stellung des Menschen vor Gott als „elendes Würmlein“ (vgl. Hiob 25,6 und Ps. 21/22,7) wurde im ausgehenden Mittelalter zur feststehenden Redewendung einer weit verbreiteten Demutsfrömmigkeit. Vgl. z.B. Stephan Fridolin (OFM, gest. 1498): Lehre für angefochtene und kleinmütige Menschen, ed. Petra Seegets, in: Hamm und Lentes (Hg.): Spätmittelalterliche Frömmigkeit (wie Anm. 32), S. 189–195: hier S. 191 (bei Anm. 16) und S. 193 mit Anm. 35: „O lieber herr, jch pin ein arms, unnucz burmlein.“ 38 Vgl. RALPH W EINBRENNER: Klosterreform im 15. Jahrhundert zwischen Ideal und Praxis. Der Augustinereremit Andreas Proles (1429–1503) und die privilegierte Observanz, Tübingen 1996, S. 143f., 153–156, 161f., 197–202, 225f., 232–234, 241f., 246; B ERNDT HAMM, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982, S. 291–299. 39 Zur gleichwohl möglichen Hoffnungsgewissheit (die freilich keine Gewissheit auf der Glaubensebene, kein Wissen, sondern ‚nur‘ ein affektives Hoffen ist), vgl. GROSSE: Heilsungewißheit (wie Anm. 28), S. 106–111 und 230–236; HAMM: Glaube (wie Anm.
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tisch gestimmten Meditationspraxis und die forcierte Beschäftigung mit dem eigenen Gewissen ein genaues, individualisiertes Wissen-Wollen förderten. Das gesamte religiöse Vollkommenheitsstreben um 1500 verlangte nach perfekter Sicherheit, die aber durch die bestehenden Sicherungsmechanismen trotz ihres vielseitigen und kumulativen Angebots nicht zu erreichen war – weder durch eine noch so asketische Lebensführung noch durch Sakramente und Ablässe, Stiftungen und Gebete. Seine dramatische Zuspitzung erfuhr dieses Schutz- und Sicherheitsverlangen bekanntlich durch eine eschatologisch aufgeheizte Religiosität, die neuartige Züge eines panischen Erschreckens vor der Nähe des göttlichen Zorns hervortreten ließ. Die Ars-moriendi-Literatur des 15. Jahrhunderts ist Indiz für eine extreme Finalisierung und Eschatologisierung des gesamten Lebens auf die Sterbestunde hin40; und das bedeutet zugleich, dass das ‚iudicium particulare‘, das persönliche Gericht unmittelbar nach dem Tod mit der Aussicht schrecklicher Jenseitsstrafen, in eine quälende Erlebnisnähe rückt41. Zwar ist zu beobachten, dass dieser angstvollen Nahvergegenwärtigung von Todesstunde, Sündengericht, Hölle und Fegefeuer ‚mitten im Leben‘ eine ebenso intensive Betonung der Gnadennähe Gottes, Christi, Mariens und der gesamten ‚communio sanctorum‘ entspricht. Der nahen Ungnade wird also die Präsenz der schützenden Barmherzigkeit, insbesondere in der Gestalt des Passionschristus, gegenübergestellt42. Allerdings wird diese Extra-nos-Dimension der nahen Gnade in unmittelbare Beziehung zur inneren Gnadenwirkung des Heiligen Geistes gesetzt, die den Sünder mit erneuernder Gerechtigkeit und Tugendfähigkeit erfüllt. Sie 36), S. 107–113; vgl. auch M ICHAEL B ASSE: Certitudo Spei. Thomas von Aquins Begründung der Hoffnungsgewißheit und ihre Rezeption bis zum Konzil von Trient als ein Beitrag zur Verhältnisbestimmung von Eschatologie und Rechtfertigungslehre, Göttingen 1993. 40 Zur Ars-moriendi-Literatur des Spätmittelalters, zu ihren wichtigsten Repräsentanten, Adressaten, Zielsetzungen und Konzeptionen, vgl. den Überblick bei BERNDT HAMM: Luthers Anleitung zum seligen Sterben vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Ars moriendi, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 19 (2004), Neukirchen-Vluyn 2005, S. 311–362: hier S. 312–332 (mit Literatur). 41 Zu der seit dem Hochmittelalter entstehenden Lehre vom Individual- oder Partikulargericht unmittelbar nach dem Tode im Unterschied zum Universalgericht am Ende der Zeit vgl. PETER DINZELBACHER: Die letzten Dinge. Himmel, Hölle, Fegefeuer im Mittelalter, Freiburg i.Br. 1999, S. 47–57. 42 Vgl. BERNDT HAMM: Die „nahe Gnade“ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: Jan A. Aertsen und Martin Pickavé (Hg.): „Herbst des Mittlelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin/New York 2004 (Miscellanea Mediaevalia 31), S. 541–557; DERS.: Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter (wie Anm. 30), S. 198–203 (Die nahe Gnade); DERS.: Ars moriendi (wie Anm. 40), S. 325–331 (Die beschirmende Extra-nos-Heiligkeit und ihr Verhältnis zur Formung des inneren Menschen).
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schenkt ihm jene spontane Liebes-, Reue- und Leidensfähigkeit, die ihn im Individualgericht der Todesstunde bestehen lässt und des ewigen Lebens würdig macht. Aber, so fragt sich der besorgte Fromme, habe ich jetzt und in der Stunde meines Todes wirklich diese Qualität, ohne die es für mich keinen gnädigen Richter gibt, und habe ich durch die Aktivierung dieser Qualität wirklich alle Sündenstrafen abgebüßt? Diese Unsicherheit bleibt, und sie treibt die Menschen zu größten Anstrengungen der Jenseitssicherung.
4.3 Die Verschärfung der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskrise in der Persönlichkeitskrise Luthers Wenn wir uns jetzt wieder dem 21- bis 27-jährigen Luther der Erfurter Zeit zuwenden, wird sofort klar, wie sich bei ihm die gerade skizzierten Intensivierungen und Antinomien der zeitgenössischen Frömmigkeit verdichten. Die erschreckende Nähe des göttlichen Gerichtszorns, die sich mit der angstvollen Wahrnehmung des nahen Todes verbindet, wird am 2. Juli 1505 im Gewitter bei Stotternheim zur persönlichen Erlebnisdimension Luthers – wobei ich offen lasse, wie weit Luther schon vorher durch andere angstvolle Vergegenwärtigungen des nahen Todes und des nahen Gerichts auf eine solche erschütternde Erfahrung mit der Konsequenz des Klostereintritts eingestimmt war43. „Durch Schrecken vom Himmel“ fühlte er sich, wie er 1521 seinem Vater schreibt, zum Klosterleben berufen: „umzingelt von Schrecken und Angst vor einem plötzlichen Tod gab ich ein gezwungenes und abgenötigtes Gelübde“44. Die angstvoll wahrgenommene Nähe der Heiligkeit Gottes im Kontrast zur eigenen Sünde, Unheiligkeit und Unwürdigkeit blieb auch in den folgenden Klosterjahren Luthers akut45. So konnten ihn, wie aus seinen späteren Rückblicken hervorgeht, die Feier der Opfermesse und das Bewusstsein der heiligen Gegenwart Christi in den Abendmahlselementen in ein panisches Entsetzen vor der Majestät Gottes stürzen46. Treffend formuliert Martin Brecht: 43
Vgl. BRECHT: Martin Luther (wie Anm. 34), S. 54–58. „Memini enim nimis praesente memoria, cum iam placatus mecum loquereris et ego de coelo terroribus me vocatum assererem, neque enim libens et cupiens fiebam monachus, multo minus vero ventris gratia, sed terrore et agone mortis subitae circumvallatus vovi coactum et necessarium votum [...].“ Widmungsschreiben zur Schrift ‚De votis monasticis‘ an Hans Luder, 21. Nov. 1521, WA 8, S. 573,30–574,1. 45 Vgl. z.B. Luthers Brief vom 22. April 1507 aus Erfurt an den Stiftsvikar Johannes Braun, in dem er den Eisenacher Freund zur Feier seiner Primiz einlädt, WA.B 1, S. 10,9–11,14.21.28, Nr. 3; z.T. zitiert unten Anm. 78. 46 Vgl. BRECHT: Martin Luther (wie Anm. 34), S. 79–81. Dies geschah noch im Mai 1516; vgl. W ILHELM ERNST W INTERHAGER: Martin Luther und das Amt des Provinzialvikars in der Reformkongregation der deutschen Augustiner-Eremiten, in: Franz J. Felten 44
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„Die Konstellation des Erlebnisses von Stotternheim hat sich bei dem Mönch Luther offenbar immer wieder neu ergeben: Er meinte, der göttlichen Instanz in lebensbedrohender Unmittelbarkeit begegnen zu müssen [...].“47 Die heilige Nähe Gottes erfuhr er damals in erster Linie als bedrängenden Anspruch des fordernden und richtenden Gottes48. Karl Holl hat mit Recht den Blick darauf gelenkt, dass die kompromisslose Strenge dieses Gottesbildes die Grundlage für die ganze weitere Entwicklung Luthers bildet49. Es ist eine ethische Strenge, die nicht nur äußere Korrektheit und Reinheit, sondern die völlige Liebeshingabe an Gott und den Nächsten verlangt, „die Lebendigkeit, die Ganzheit, die Freudigkeit des Wollens“50. Holl sieht darin den „Durchbruch“ einer „neuen sittlichen Erkenntnis“ bei Luther, der in die Erfurter Jahre „zwischen 1509 und 1511“ falle51 und mit einer – für damalige Verhältnisse – ungewöhnlichen Intensität der Bibellektüre verbunden gewesen sei52. So wichtig der Hinweis auf die außerordentliche und schon sehr früh einsetzende Vertrautheit Luthers mit dem Bibeltext ist und so nachdrücklich gerade dies durch die jüngere Lutherforschung, etwa durch Martin Brecht und Helmar Junghans, bestätigt worden ist53, so deutlich wird man doch gegenüber Holl hervorheben müssen, dass und Nikolas Jaspert (Hg.): Vita religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm, Berlin 1999, S. 707–738: hier S. 737f. 47 Ebd. S. 82. 48 Vgl. das oben in Anm. 44 zitierte Widmungsschreiben Luthers an seinen Vater, WA 8, S. 573,12-15: „Scire te volo filium tuum eo promovisse, ut iam persuasissimus sit nihil esse sanctius, nihil prius, nihil religiosius observandum quam divinum mandatum.“ 49 Vgl. KARL HOLL: Der Neubau der Sittlichkeit (1919), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I: Luther, 7. Aufl., Tübingen 1948, S. 155–287: hier S. 197– 217. 50 Ebd. S. 206. 51 Ebd. S. 197. Zu dieser ersten Wende ( „Durchbruch“, „Umwälzung“) vor dem eigentlichen „Wendepunkt“ („Lösung“) vgl. auch KARL HOLL: Die Rechtfertigungslehre im Licht der Geschichte des Protestantismus (1922), in: ders: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte III: Der Westen, Tübingen 1928, S.525–557: hier S. 529. 52 Vgl. HOLL: Der Neubau (wie Anm. 49), S. 197f.: Holl spricht vom „unmittelbaren Eindruck der schlichten Erhabenheit des neutestamentlichen Worts selbst, was die durchschlagende Wirkung bei Luther geübt hat“, doch betont er zugleich, dass die neutestamentliche Sittlichkeit wohl kaum „diesen überwältigenden Eindruck“ auf ihn gemacht hätte, „wofern das Mönchtum ihn nicht dazu erzogen hätte, die strengste Sittlichkeit für die beste zu halten“. 53 Vgl. BRECHT: Martin Luther (wie Anm. 34), S. 88–96; HELMAR J UNGHANS: Bibelhumanistische Anstöße in Luthers Entwicklung zum Reformator, in: Revue d’histoire et de philosophie religieuses 85 (2005), S. 17–42. Luther hatte vor seinem Klostereintritt Kontakt zum Erfurter Humanistenkreis, und der humanistische Einfluss zeigt sich möglicherweise bereits in seiner frühen Hinwendung zum Bibeltext, vor allem aber dann darin, wie er sich in seinen ersten Vorlesungen der humanistischen Bibelphilologie bediente.
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diese Konfrontationserfahrung Luthers mit dem Gott, der das Innerste seines Herzens in seiner gesamten Intentionalität beansprucht, nichts Umbruchhaftes enthält, sondern ganz aus der spätmittelalterlichen Religiosität hervorgewachsen ist und ihrem Rigorismus verhaftet bleibt. Holl selbst hat darauf hingewiesen, wie dabei von Luther insbesondere die Dynamik der observanten Ordensfrömmigkeit mit ihren Idealen des unbedingten Gottesgehorsams und der vollkommenen Christusnachfolge aufgenommen wurde54. Eben diese monastische Schule der Innerlichkeit konnte die Spiritualität des Verzichts so weit treiben, dass sie dem Menschen sogar die Preisgabe jeder Selbstliebe in Gestalt seines Lohn- und Seligkeitsverlangens zumutete55. Ziel war die völlige Unterwerfung unter Gottes Ratschlüsse – bis zum höchsten Vollkommenheitsgrad der ‚resignatio ad infernum‘, der Bereitschaft einer gottliebenden Seele, sich in der Gleichför-
Nach Luthers Zeugnis hat Staupitz seine Klöster zu eifriger Bibellektüre angehalten: „[…] praecepit, ut omnes lectiones a mensa tollerentur et biblia ubique legerentur.“ WA.TR 5, S. 76,7f., Nr. 5346; vgl. 5, S. 99,13, Nr. 5374: „Is primus restituit biblia suis monasteriis […].“ Die unter Staupitz 1504 verabschiedeten neuen Ordenskonstitutionen (wie Anm. 33) sagen in cap. 17 (Edition S. 194,38f.) über die Aufgaben des Novizen: „Sacram scripturam avide legat, devote audiat et ardenter addiscat.“ Bibelhumanistische und ordensspezifische Impulse mögen also bei der auffallenden Vorliebe des Erfurter und Wittenberger Mönchs vor 1511 eine Rolle gespielt haben. 54 Vgl. HOLL: Neubau (wie Anm. 49), S. 198–203, mit der Bilanz (S. 203): „Sein Mönchtum ist also für Luther nicht ein Hindernis, sondern eine Förderung auf seinem Wege gewesen. Er hat das Beste, was dieses im Unterschied von der Kirche als Erbe von der Urzeit her besaß, den Drang nach dem Höchsten und den tiefen Ernst der Beugung unter Gott, aus ihm in sein neues Bewußtsein mit herübergenommen.“ 55 Die spätmittelalterliche Religiosität steht zwar unter dem starken Eindruck der Liebeslehre Augustins, die nicht nur von der Gottes- und Nächstenliebe spricht, sondern auch eine von Gott gebotene Form der Selbstliebe kennt (der Mensch soll sich selbst lieben, insofern er mit seiner Seele bei Gott sein ewiges Heil finden soll, die von Gott gewünschte Selbstliebe erweist sich daher im Streben nach dem eigenen Seelenheil und in der Hoffnung auf himmlischen Lohn); vgl. REINHARD SCHWARZ: Die Umformung des religiösen Prinzips der Gottesliebe in der frühen Reformation. Ein Beitrag zum Verständnis von Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, in: Moeller und Buckwalter (Hg.): Die Reformation (wie Anm. 36), S. 128–148: hier S. 130–132 und die weiteren Seiten. Schwarz erwähnt aber nicht, dass es im ausgehenden Mittelalter auch eine sehr wichtige, von der Mystik des 13. und 14. Jahrhunderts geprägte Richtung der Frömmigkeitstheologie gibt, die das Ziel des geistlichen Lebens in der Befreiung vom Glücks-, Seligkeits- und Lohnverlangen der religiösen Selbstliebe sieht, also die höchste, erstrebenswerte Form der Gottesliebe gegen jede Art der Selbstliebe stellt. Auch Holl hat diese Perfektionsdynamik des spätmittelalterlichen Frömmigkeitsstrebens nicht wahrgenommen und behauptet daher, dass erst Luther die augustinische Verknüpfung zwischen „Sittlichkeit“ und „eigensüchtigem Glücksstreben“ durchtrennt habe; HOLL: Neubau (wie Anm. 49), S. 204f. und 209f.
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migkeit mit Christus bis in die Hölle tiefster Gottverlassenheit führen zu lassen56. Die späteren Selbstzeugnisse Luthers stimmen darin überein, dass er sich während seiner Erfurter Jahre dieses klösterliche Observanzideal mit größtem Eifer zu eigen machte. Je länger je mehr wollte er nicht nur den strengen Regeln der Ordensdisziplin mit exzessivem Beichten, Wachen, Fasten, Beten und harter Arbeit vollkommen gerecht werden, sondern sein Innerstes in völliger Reinheit und Sündlosigkeit Gott darbringen. Die ockhamistische Lehre Gabriel Biels, die er sich während seines Erfurter Theologiestudiums zu eigen machte, konnte ihn in diesem religiösen Perfektionsstreben nur bestärken; erfuhr er doch hier, dass der Mensch aus natürlichen Kräften – „ex puris [= solis] naturalibus“ – bis zum Zustand der reinen Gottesliebe und wahren Reue gelangen kann57. Es ist offenkundig, dass hinter dem spirituellen Höchstleistungsstreben Luthers jenes obsessive Gottesbild von bedrängender Heiligkeit stand, von dem gerade die Rede war, und dass damit zugleich der bedrohliche Gerichtszorn Gottes in permanente Nähe rückte. Im Jahr 1531 wird Luther sagen: Ich war nicht einer von den gottlosen, sondern von den besten Mönchen, „die heilig lebten und mit größter Anstrengung und voller Eifer versuchten, durch gewissenhafte Befolgung des Ordensideals den Zorn Gottes zu versöhnen und Vergebung der Sünden und das ewige Leben zu verdienen“58. Auch sein 56
Zum Frömmigkeitssideal der absolut selbstlosen ‚resignatio ad infernum‘ vgl. z.B. ‚Imitatio Christi‘ (wie Anm. 35), Buch II, c. 11, besonders Nr. 10/10a und 19–21, mit der Formulierung: Hätte ein Mensch auch „die glühendste Andacht, so fehlt ihm doch noch viel: nämlich das eine, was ihm vor allem notwendig ist. Was ist das? Dass er alles verlässt und sich selbst verlässt und ganz aus sich herausgeht und nichts an Eigenliebe zurückbehält.“ („[...] Ut omnibus relictis se relinquat et a se totaliter exeat nihilque de privato amore retineat.“) Diese völlige Selbstpreisgabe schließt auch die Bereitschaft ein, in die Hölle zu gehen, wenn Jesus es wollte. – Vgl. auch Johannes von Staupitz: Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis (Advent 1516, Erstdruck Anfang 1517), ed. Lothar Graf zu Dohna, Richard Wetzel, Berlin/New York 1979 (= Staupitz: Sämtliche Schriften 2), § 45, 172/173, 251–257; zur mystischen Tradition der ‚resignatio ad infernum‘ bzw. ‚ad damnationem‘ (Tauler, Seuse, Theologia deutsch, Gerson) vgl. ebd. S. 236f., Anm. 59. 57 Vgl. HEIKO A. OBERMAN: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965 (Spätscholastik und Reformation, Bd. 1), S. 139–152; LEIF GRANE: Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio Contra Scholasticam Theologiam 1517, Gyldendal (Dänemark) 1962 (Acta Theologica Danica 4), S. 223–261, besonders 242–250. Zur intensiven Biel-Lektüre Luthers vgl. ebd. S. 9–48. Zur Präsenz der „ex puris naturalibus“-Doktrin in der Theologie der Erfurter Augustiner-Eremiten vgl. B ERNDT HAMM: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1982, S. 210, 254–258, 325f. – Zu Luthers monastischem Heiligkeits- und Reinheitsstreben vgl. besonders WA 22, S. 305,35–306,3 (Crucigers Sommerpostille, 1544). 58 „Et loquor iam non de monachis impiis, qui Deum ventrem coluerunt et horribilia peccata, quae non libenter nomino, commiserunt, sed de optimis, qualis ego unus fui et
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Christusbild, auch das des Schmerzensmanns der Passion, war damals, wie er wiederholt bezeugt, ganz geprägt von den Zügen des unerbittlichen Richters, der für jede Sünde Sühne verlangt und keinen Straferlass ohne die Heiligkeit der Buße in wahrer Reue, Beichte und Genugtuung gewährt59. Die besondere Offenbarungsnähe des menschgewordenen Gottessohnes gab der furchtbaren Nähe des Richters in seinen Augen noch schrecklichere Züge der Qual und Marter60. Der Anblick des Gekreuzigten trieb ihn also noch tiefer in das Dilemma seiner leistungsorientierten Gerichtsfrömmigkeit. In dieser Konfrontation mit dem richtenden und zürnenden Gott entwickelte sich die innere Not und verzweifelte Zwangslage Luthers bekanntlich aus der unmittelbaren Wechselbeziehung zwischen dem ganzheitlichen Reinheits- und Heiligkeitsstreben, dem er sich als observanter Mönch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sah, und einer immer tiefer grabenden Wahrnehmung der eigenen Sündhaftigkeit hinter den einzelnen Sündenakten. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass es gerade Theologen seines Ordens waren, die die Sündenverfallenheit und Insuffizienz des natürlichen Menschen besonders stark hervorhoben61. Was sie aber in eine abfedernde Balance zu bringen wussten, prallte bei Luther vehement aufeinander. So entfaltete bei ihm die traditionelle monastische Anleitung zum angespannten Vollkommenheitsstreben und zur gewissenhaften Selbstbeobachtung eine unaufhaltsame Dynamik der Verunsicherung, der Selbstzweifel und einer verzweifelten Angst: Je mehr er den fordernden Heiligkeitswillen Gottes auf die Gesamtheit seiner Existenz bezog und sich um vollkommene Reinheit bemühte, desto stärker wurde sein Bewusstsein des völligen multi alii, qui sancte vixerunt et summo labore ac studio conati sunt per observationem ordinis placare iram Dei et mereri remissionem peccatorum ac vitam aeternam.“ Luther: Kommentar zum Galaterbrief (Druckfassung 1535), WA 40/1, S. 685,20-24. 59 Zu Luthers Angstbild des richtenden Christus („Denn ich kandte Christum nicht mehr denn [= anders] als einen gestrengen richter, fur dem ich fliehen wolt und doch nicht entfliehen kundte“, WA 38, S. 148,11f. [1533]) vgl. B RECHT: Martin Luther (wie Anm. 34), S. 83; BERNDT HAMM: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: Zeitschrift für Historische Forschung 26 (1999), S. 163–202: hier S. 196, Anm. 104. 60 Vgl. unten S. 144 mit Anm. 110 (der Anblick des Gekreuzigten traf ihn wie ein Blitz). Zum Erschrecken angesichts des gemarterten Christus vgl. auch Luther: Ein Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (1519), § 4–11, WA 2, S. 137,10– 139,31. 61 Vgl. die Arbeiten von ADOLAR ZUMKELLER über das Sünden- und Gnadenverständnis der spätmittelalterlichen Augustiner-Eremiten, besonders DERS.: Erbsünde, Gnade, Rechtfertigung und Verdienst nach der Lehre der Erfurter Augustinertheologen des Spätmittelalters, Würzburg 1984; vgl. dort S. XXXIIIf. das Verzeichnis der einschlägigen Publikationen Zumkellers. Vgl. auch ERIC L. SAAK: High Way to Heaven: the Augustinian Platform between Reform and Reformation, 1292–1524, Leiden u.a. 2002.
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Ungenügens; und je wachsamer er seine Unwürdigkeit, Sünde und Schuld wahrnahm, desto drängender wurde sein Perfektions- und Sicherheitsverlangen, das ihm dann aber wieder umso stärker das völlige Scheitern seines Heiligkeitsstrebens und die unmittelbare Nähe des verdammenden Gerichts vor Augen rückte. Er sah schließlich keinen Punkt mehr, an dem er Gottes Heiligkeitswillen, seine Vergebung und den Himmelslohn des ewigen Heils zu einer Qualität im eigenen Herzen und zu einer echten Frömmigkeit seines klösterlichen Lebens in Beziehung setzen konnte. Anders formuliert: Sein Gewissen konnte sich keiner eigenen ‚iustitia activa‘ mehr versichern, sondern nur den radikalen Mangel erkennen – mit der Folge, dass seine Selbstzweifel die Dimension aufwühlender Erwählungszweifel erreichten. So zogen ihn seine Anfechtungen „bis hinein in den tiefsten Abgrund der Verzweiflung“62 und in einen subtilen Hass auf den prädestinierenden und richtenden Gott, der ihm abverlangt, was ihm unerschwinglich schien: die Reinheit einer Gesinnung, die Gott über alles und um seiner selbst willen liebt63.
5. Der Umbruch in Luthers Anfechtung – eine Veränderung von reformatorischer Qualität Was ich damit kurz skizziert habe, sind jene quälenden und eskalierenden Gewissensnöte Luthers, die er während seines Theologiestudiums in Erfurt und Wittenberg – und in veränderter Form auch später noch – erlebte. Bis zu einem gewissen Grad hat Luther damit etwas durchgemacht, was von der seelsorgerlichen Theologie des ausgehenden Mittelalters durchaus vorgesehen und erwünscht war: einen Prozess der demütigenden Selbsterkenntnis und Anfechtung, der alle eitle Selbstgerechtigkeit zunichte macht und den geängstigten Sünder dazu führt, dass er sich voller Hoffnung dem durch Christus versöhnten himmlischen Vater anvertraut – einem Gott, der ihm, wie er weiß, auch die Gnade zu einem geheiligten, genugtuenden und verdienstvollen Bußleben schenkt. Dieser inneren Heiligkeitsqualität soll und kann der Mensch nie völlig gewiss sein; insofern bleibt die geistliche Anfechtung ein Grundzug der christlichen Existenz. Doch darf diese Demutshaltung nie in die Verzweiflung umschlagen, sondern soll stets von 62
„[...] usque ad profundum et abyssum desperationis“; zit. oben S. 118 mit Anm. 26. Zu diesem Gotteshass vgl. aus der oben Anm. 5 zitierten Vorrede von 1545 die Worte: „non amabam, imo odiebam iustum et punientem peccatores Deum, tacitaque si non blasphemia, certe ingenti murmuratione indignabar Deo“, WA 54, S. 185,23-25; LDStA 2, S. 504,25-27. Vgl. auch WA.TR 2, S. 582,18-20 und 28-30, Nr. 2654 (Sept. 1532); Luther: Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519), § 8, WA 2, S. 688, 9-13. 63
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der tröstenden Hoffnung auf Gottes Erbarmen und belohnende Treue getragen sein64. Vergleicht man Luthers klösterlichen Erfahrungsweg der ‚tentatio‘ mit dieser spätmittelalterlichen Anfechtungs- und Trostkonzeption, dann kann man erkennen, wie es bei ihm zu einer Verschärfung und neuen Qualität der Anfechtung kommt. Die krisenhaften Spannungen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit, insbesondere der observanten Ordensspiritualität, führen den jungen Mönch und Theologen in eine trostlose Ausweglosigkeit, die er wenige Jahre später, 1518, so beschreibt: „Da erscheint Gott in fürchterlichem Zorn und mit ihm zugleich die ganze Schöpfung. Da gibt es nirgends ein Entrinnen, nirgends einen Trost, weder innen noch außen, sondern alles klagt uns an. [...] Da bleibt nichts übrig als das nackte Verlangen nach Hilfe und ein schreckliches Seufzen, aber [die Seele] weiß nicht, wo Hilfe zu finden ist.“65 Diese Ausweglosigkeit ist, wie ich meine, die Grundsituation, in der Luther die Koordinaten der bisherigen Theologie, Frömmigkeit und Seelsorge zu verlassen beginnt, auch das, was ihm geistliche Lehrer wie Bernhard von Clairvaux und Johannes Gerson sagen konnten. Es ist der Punkt, an dem ihm auch einfühlsame Seelsorger seines Ordens nicht mehr zu helfen vermochten. Selbst Staupitz, der wie kein zweiter Luther zu trösten wusste, musste an diesem Punkt seine Verständnis- und Ratlosigkeit eingestehen66. 64
Vgl. GROSSE: Heilsungewißheit (wie Anm. 28), S. 35–44; EVA SCHLOTHEUBER: Norm und Innerlichkeit. Zur problematischen Suche nach den Anfängen der Individualität, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 329–357: hier S. 353f. 65 „Hic Deus apparet horribiliter iratus, et cum eo pariter universa creatura. Tum nulla fuga, nulla consolatio, nec intus nec foris, sed omnium accusatio [...] Solum relinquitur nudum desiderium auxilii et horrendus gemitus, sed nescit [anima], unde petat auxilium.“ Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1518), zu These 15, WA 1, S. 557,37–558,5. Fortsetzung des Zitats unten in Anm. 85. Vgl. auch WA 17/2, S. 20,31– 21,4 (Fastenpostille, Nov. 1525). 66 Vgl. WA.TR 1, S. 62,1f., Nr. 141 (Dez. 1531); ebd. 1, S. 240,12-15, Nr. 518 (Frühjahr 1533); 2, S. 26,4-6, Nr. 1288 (Dez. 1531); 2, S. 403,19-22, Nr. 2283 (2. Hälfte 1531); 6, S. 106,32–107,3, Nr. 6669 (undatiert). Die Verständnis- und Ratlosigkeit Staupitzens lag letzlich darin begründet, dass sich ihm das Problem der Anfechtung des homo religiosus nicht als ‚reale‘, (theologisch geurteilt) ‚wahre‘ Kluft zwischen der von Gott gebotenen Liebe des Menschen, seinem Lieben-Sollen, und seinem Nicht-Lieben-Können erschloss, sondern nur unter dem Gesichtspunkt eines psychisch überempfindlichen Sündenbewussteins, d.h. der Fehleinstellung in Gestalt der Skrupulosität. Anders als Luther, wie er uns zu Beginn seiner Ersten Psalmenvorlesung entgegentritt, steht Staupitz noch ganz in jener scholastischen und mystischen Tradition, die in der Rechtfertigung des Sünders den Übergang des Menschen aus der Lieblosigkeit in eine neue Liebesfähigkeit sieht. Luthers radikale Anfechtungserfahrung hingegen treibt den jungen Mönch zur Erkenntnis, dass die ‚iustificatio impii‘ die freisprechende Annahme des nichtliebesfähigen Sünders durch Gottes erbarmende Liebe ist – eine Art des Freispruchs, auf die der Mensch als ‚semper peccator‘ lebenslang angewiesen ist. Zu Staupitz’ Liebes-
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Luther war nicht mehr in die bekannten Koordinaten der Skrupulosität, des zu ‚engen Gewissens‘, einzuordnen67. Mitten in der Anfechtung wird ein Umbruch erkennbar, den man als Beginn einer reformatorischen Neuorientierung verstehen kann. Das Neue liegt darin, dass Luther an das Ende seines klösterlichen Perfektionsstrebens gelangt, dass er die völlige Nichtigkeit seiner Heiligungsbemühungen vor Gott realisiert und keine Möglichkeiten des Aufstiegs seiner Seelenkräfte zu Gott mehr vor sich sieht. Seinen Gewissensnöten glaubt er nun nicht mehr durch eine Intensivierung des geistlichen Tugendlebens und der Heiligkeitswerke entkommen zu können. Was der Mensch vor Gottes richtendem Urteil haben kann, ist, wie Luther nun eingesteht, lebenslang nichts anderes als Sünde und absolute Unwürdigkeit68. Diese Aussage wird bei ihm nun subjektive Bekenntnisaussage des Gebets und verobjektivierende Lehr- und Wahrheitsaussage zugleich69. Damit theologie im Kontrast zu Luthers gleichzeitig sich entfaltender Glaubenstheologie vgl. seinen Traktat ‚Von der lieb gottes‘ (hervorgegangen aus Staupitz’ Münchener Predigten der Adventszeit 1517, erschienen Anfang 1518), Edition in: Johann von Staupitzens sämmtliche Werke, hg. von Joachim Karl Friedrich Knaake, Bd.1: Deutsche Schriften, Potsdam 1867, S.88–119. Vgl. auch unten Anm. 107. 67 Luther gewann daher, wie er rückblickend im Frühjahr 1533 sagt, den Eindruck, dass er allein solche Anfechtungen habe: „In summa, es wolt kein beichtvater drumb wißen. Da gedacht ich: Die tentatio hat niemand denn du! Da ward ich als ein todte leich.“ WA.TR 1, S. 240,15-17, Nr. 518. Vgl. Luthers Widmungsschreiben zur Schrift ‚De votis monasticis‘ an seinen Vater, 21. Nov. 1521, WA 8, S. 574,25: „egone solus essem inter mortales“. – Zu den bekannten Koordinaten der Skrupulosität, wie sie den Beichtvätern aus den gängigen Seelsorge-Anleitungen vertraut waren, vgl. GROSSE: Heilsungewißheit (wie Anm. 28), besonders S. 8–34; W ILFRID W ERBECK: Voraussetzungen und Wesen der scrupulositas im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 68 (1971), S. 327–350. – Zum Verständnis des ‚engen Gewissens‘ vgl. z.B. eine Tischrede Staupitzens aus der Zeit seines Nürnberger Aufenthalts in der Adventszeit 1516 oder der vorösterlichen Fastenzeit 1517, in der er begründet, warum man einem Menschen, „der ains engen gewissens ist“, d.h. durch sein ambitioniertes Frömmigkeitsund Gerechtigkeitsstreben in Kleinmütigkeit und Verzweiflung gerät, nur schwer helfen kann: Johann von Staupitzens sämmtliche Werke (wie Anm. 66), S. 43. 68 In seiner Ersten Psalmenvorlesung (siehe unten S. 136–138) entfaltet Luther wiederholt den grundlegenden Gedanken, dass der Mensch zeitlebens (semper) in der radikalen Ursünde der Verblendung und Selbstsucht befangen ist. So schreibt er in der Auslegung von Vulgata-Psalm 50,5-7 (dort die Formulierung „peccatum meum contra me est semper“): „Quare verum est nos esse in peccatis coram illo semper, ut scilicet ipse in pacto suo et testamento, quod nobiscum pepigit, iustificator sit.“ WA 3, S. 289,5-7. Zu diesem ‚semper‘ vgl. auch oben Anm. 27 und unten S. 136f. bei Anm. 77: „homo saepe, imo semper fallitur in suo iudicio“. 69 Vgl. das pointierte „verum est“ in Anm. 68, von dem sich in Luthers Theologie ein Bogen bis zu seinem letzten Zettel (16. Febr. 1546) spannt: „Wir sein pettler. Hoc est verum.“ WA.TR 5, S. 318,2f., Nr. 5677; vgl. ebd. S. 168,35, Nr. 5468; WA 48, S. 241; WA.B 12, S. 363f.
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wird die mittelalterliche Spaltung der Aussageformen aufgehoben – ein für die gesamte Reformation grundlegender Vorgang70. Der demütige Aussagemodus des Chorgebets: „Herr, ich stehe vor dir als unwürdiger Sünder, der nur Zorn und Strafe verdient hat!“ konkurriert nicht länger mit dem Aussagemodus des Katheders, von dem aus der Theologieprofessor die katholische Glaubenswahrheit formuliert: Der Gerechtfertigte ist ohne Todsünde und kann das ewige Leben durch Würdigkeitsverdienste (merita de condigno) verdienen. Für Luther fallen nun die Lehrform des Glaubens und die Gebetshaltung der Demut zusammen. Das bedeutet aber: Die Demut ist nicht länger eine Tugend meiner Selbsterniedrigung, sondern ein radikal desillusioniertes Innewerden meiner realen Niedrigkeit. In der Demut des Sündenbekenntnisses macht sich der Mensch nicht kleiner als er wirklich ist71, sondern wendet er die Wahrheit des urteilenden Gotteswortes auf sich selbst an und realisiert er, dass er als Kreatur und Sünder vor Gott real nichts ist und tatsächlich nichts zu seinem Heil beitragen kann72. Damit verschwindet aus Luthers Denken auch die scholastische Vorstellung von einer habituellen Gnaden- und Tugendqualität, mit der sich der Gerechtfertigte aktiv auf das ewige Leben zubewegt. Alle Konzeptionen und Ambitionen eines Heilswegs der ‚iustitia activa‘ haben sich im Feuer der Anfechtung als Lug und Trug erwiesen. Zusammenfassend kann man daher sagen, dass sich in Luthers frühen Klosterjahren eine Strukturkrise spätmittelalterlicher Religiosität zur persönlichen Krise seines Heiligkeitsstrebens zuspitzt. In dieser Eskalation eines Dilemmas liegt aber zugleich die Veränderung zu einer grundlegend neuen Sichtweise der Stellung des Menschen vor Gott. Sünde wird von ihm auf neue, ganzheitlich-personale und tiefgründige Weise wahrgenommen, als Verlust der Gottesebenbildlichkeit des zur Liebe bestimmten und aus der Liebe wirkenden Geschöpfs. Es war ein erster Umbruch von reformatorischer Tragweite, die existentielle und theologische Konsequenz der frühen klösterlichen Anfechtungserfahrung; und es war daher wohl ein 70
Dazu und zum Folgenden vgl. HAMM: Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff (wie Anm. 36), S. 115–121 (mit Quellenbelegen). 71 Nach spätmittelalterlichem Frömmigkeitsverständnis ist es Zeichen erstrebenswerter Demut, auch da Schuld zu bekennen, wo keine Schuld ist – gemäß einer vielverwendeten Sentenz Gregors d.Gr.: „Bonarum mentium est ibi culpam agnoscere, ubi culpa non est.“ Vgl. Epist. XI,64 (Migne PL 77,1195B). Zur Verwendung der Sentenz bei Johannes Gerson vgl. HAMM ebd., S. 109, Anm. 21. 72 Vgl. Belege bei HAMM ebd., S. 119. Vgl. WA 5, S. 168,1-13 (Operationes in Psalmos, 1519–1521). Dazu SAMMELI J UNTUNEN: Der Begriff des Nichts bei Luther in den Jahren von 1510 bis 1523, Helsinki 1996; zur kritischen Würdigung der finnischen Lutherdeutung Tuomo Mannermaas und seiner Schule, zu der Juntunen zählt, vgl. LEPPINs Literaturbericht (wie Anm. 1), Teil III, in: Theologische Rundschau 68 (2003), S. 313– 340: hier S. 330–332.
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Veränderungsprozess von längerer Dauer und nicht ein punktuelles Ereignis, ein allmähliches Anders-Sehen-Lernen und nicht ein Durchbruchserlebnis, auf das sich die so verlockende Typologie des paulinischen Damaskuserlebnisses anwenden ließe: „Und alsbald fiel es ihm wie Schuppen von den Augen“ (Apg 9,8). Hat man die Allmählichkeit dieser Veränderung vor Augen, dann kann man darin drei wesentliche, eng miteinander verbundene Komponenten unterscheiden: 1. die Komponente der verzweifelten Ausweglosigkeit, in der Luther sein spirituelles Scheitern erfährt; 2. die Komponente, dass er diese schwerste Anfechtung nicht als eine verwerfliche und zu überwindende Irritation versteht, sondern als notwendigen Erkenntnisvorgang des Sünders, der sein Elend vor Gott jetzt und künftig ‚wahr-zunehmen‘ bereit ist; 3. die Komponente, dass er diese verzweifelte Lage nicht mehr nur als Angriff Gottes oder Satans deutet, sondern zugleich als heilsame Wirkung des Heiligen Geistes, der ihm gerade so einen Ausweg aus seiner Heillosigkeit weist. Damit eröffnet sich ihm erst der Erfahrungsbegriff der ‚Anfechtung‘ als theologisches und christologisches Interpretament: Anfechtung (tentatio) als Kreuz und als Gnade. Es war offensichtlich besonders Staupitz, der ihm den Weg zu einer solchen Deutung seiner Seelennot wies. So tröstet Luther 1530 den Wittenberger Freund und Schüler Hieronymus Weller in seiner Traurigkeit damit, dass es ihm einst, nachdem er ins Kloster eingetreten sei, ähnlich ergangen sei. Als er daraufhin Rat bei seinem Beichtvater Staupitz suchte und ihm eröffnete, unter welch schrecklichen Gedanken er leide, habe dieser ihm gesagt: „Du weißt nicht, Martin, wie nützlich und notwendig dir diese Anfechtung ist; denn nicht ohne Grund prüft dich Gott so: Du wirst sehen, daß er dich als Diener zur Ausführung großer Dinge gebrauchen wird.“73 Staupitz konnte zwar Luther 73
Brief Luthers an Hieronymus Weller (1499–1572) vom Juli (?) 1530, WA.B 5, S. 519,24-32, Nr. 1670: „Volo tibi commemorare, quid mihi olim, cum essem hac aetate fere, qua tu nunc es, acciderit. Cum primum in monasterium essem profectus, evenit, ut semper tristis et moestus incederem, nec poteram tristitiam illam deponere. Quapropter consulebam et confitebar doctori Staupitio, cuius viri libenter facio mentionem, eique aperiebam, quam horrendas et terriferas cogitationes haberem. Tum ille: ‚Nescis, Martine, quam tibi illa tentatio sit utilis et necessaria; non enim temere te sic exercet Deus: Videbis, quod ad res magnas gerendas te ministro utetur.‘“ Vgl. eine Variante des Staupitz-Diktums in WA.TR 1, S. 240,17-23, Nr. 518 (Febr. 1533): „Ach, yhr wisset nit, wie es euch so not ist; sonst wurde nichts guts aus euch. […] Accipiebam igitur tanquam vocem Spiritus Sancti consolantis me.“ Vgl. ebd. S. 61,1-3, Nr. 141. – Luthers Erkenntnis, dass sich in der größten Anfechtung Gottes größte Gnadennähe verbirgt, interpretiert Holl als Umschlag in Luthers Erfahrung: „Sein Leben lang hat Luther den Satz vertreten – er taucht bereits in seinen ersten Schriften auf –, daß der Mensch dann, wenn er sich am weitesten von Gott getrennt meint, in Wahrheit ihm am nächsten ist. [...] Das kann Luther nur in persönlichster Erfahrung gelernt haben. Es muß einen Augenblick gegeben haben, wo ihn inmitten seiner Qual die Ahnung durchzuckte, daß Gott durch eben diese
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in der Seelenqual seiner geistlichen Anfechtungen nicht wirklich verstehen, doch half er ihm dabei, sie als notwendige Not in der gnädigen Führung Gottes verankert zu sehen. Die drei genannten Komponenten beschreiben ein langsames psychisches und theologisches Voranschreiten, das schon in Luthers Erfurter Klosterjahren beginnt. Sie lassen auch erahnen, warum gerade Luther und kein anderer diesen Weg beschritt: Das hohe Anforderungsprofil des Ordenslebens stieß bei ihm auf eine außergewöhnliche persönliche Empfindlichkeit und Gewissenhaftigkeit und weckte in ihm daher einen eminenten Vergewisserungsdrang, der sich mit ebenfalls ungewöhnlicher Intensität auf die Lektüre des Bibeltextes stürzte und die Wahrheit des Gotteswortes theologisch und existentiell zu ergründen suchte. Die Kontingenz der frühen Umorientierung Luthers ergab sich so aus dem Zusammenspiel vieler Faktoren, besonders aber aus dem Ertrag seines selbständigen – wenn auch durch humanistische und ordensspezifische Impulse vermittelten – Bibelstudiums, aus seiner Prägung durch die besonderen spirituellen und theologischen Traditionen der Augustinerklöster (wobei, wie noch deutlicher werden wird, seinem Vorgesetzten und Mentor Staupitz eine herausgehobene Rolle zukam) und aus seiner persönlichsten Erfahrungsfähigkeit74. Was dabei an Neuem herauskam, ist zwar wissenschaftlich beschreibbar, aber wie alles geschichtlich Kontingente und Persönliche nicht ‚restlos‘ und daher streng genommen überhaupt nicht ‚erklärbar‘.
Pein ihn sucht und zu sich heranzieht. Dieser Gedanke wurde seine Rettung. In ihm verstand er Gott. Er begriff Gott jetzt durch seinen Schmerz hindurch als Güte.“ KARL HOLL: Was verstand Luther unter Religion? (1517), in: ders., Gesammelte Aufsätze I (wie Anm. 49), S. 29. Als früheste literarische Belege für diesen „Wendepunkt“ (S. 197) zitiert Holl Texte aus der Ersten Psalmenvorlesung Luthers mit den Formulierungen „maxima tentatio est nullam habere tentationem“, „tunc maxime Deus irascitur, quando non irascitur“, „cum sentio te iratum, maxime propitium confido“, „[die Höllenerfahrung der Anfechtung] signum est, quod tecum Christus et tu cum Christo sis“; WA 3, S. 420,17-20; 433,2-4. Den Wendepunkt dieser „erlösenden Gewißheit“ (S. 30) datiert Holl in den Zeitraum vor der Ersten Psalmenvorlesung: „Ob man 1512 oder 1511 sagen will, unterliegt dem Geschmack.“ (S. 197). So berechtigt Holls Hinweis auf die Zeit vor der Psalmenvorlesung als Phase eines Neuverständnisses der ‚heilsamen Anfechtung‘ ist, so problematisch – aber für Generationen der Lutherforschung typisch – ist seine Punktualisierung auf den „Augenblick“ einer alles verändernden Wende. 74 Im Modus dieser interaktiven Zuordnung der Erfahrung zur theologischmonastischen Tradition und zum Bibelstudium kann ich Karl Holls Betonung der Erfahrungsdimension in Luthers Neuverständnis von Sünde, Gericht und Rechtfertigung aufnehmen. Vgl. SEBASTIAN D EGKWITZ: Wort Gottes und Erfahrung. Luthers Erfahrungsbegriff und seine Rezeption im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1998, S. 21–29 (samt den berechtigten kritischen Anfragen an Holls Erfahrungsverständnis).
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6. Die Erste Psalmenvorlesung Luthers (1513–15) als theologischer Ertrag seiner vorausgehenden Neuorientierung Das Ergebnis dieser beginnenden reformatorischen Umorientierung – sozusagen der theologische Ertrag der Klosteranfechtungen – ist ausführlich in der Ersten Psalmenvorlesung Luthers dokumentiert75. In ihr findet man von Anfang an jene radikale Destruktion menschlicher Heiligkeits- und Tugendqualität, die ich gerade charakterisiert habe. Diese Neuorientierung Luthers hatte offensichtlich schon stattgefunden, bevor er sich seit Sommer 1513 an die Ausarbeitung der Psalmenauslegung machte. Eine so elaborierte, bibelexegetisch versierte, erfahrungsgesättigte und innovative Theologie wie die seiner ersten Vorlesung setzte einen längeren Vorlauf der ‚experientia‘ und ihrer reflektierenden Verarbeitung voraus; und vermutlich hat sich Luther die Psalmen gerade deshalb vorgenommen, weil er an diesen klösterlichen Gebetstexten seine neuartige Gleichsetzung von existentiell-subjektiver und lehrhafter Aussageform ‚coram Deo‘ erproben konnte. Die folgenreiche Umorientierung Luthers, jener lange Bogen der reformatorischen Veränderung, muss also bereits in den Jahren vor den ‚Dictata super Psalterium‘ begonnen haben. Bemerkenswerte Indizien zeigen sich bereits in seinen Erfurter Randbemerkungen zu Petrus Lombardus 1509/10, z.B. in einem ersten Angriff auf die Habitus-Vorstellung der scholastischen Gnadenlehre76. Aber auch die frühen Briefe lassen die gleiche Veränderungsrichtung erkennen, vor allem jener bereits zitierte Brief Luthers an seinen Freund Johannes Braun vom 17. März 1509. Nachdem er sein Verlangen nach einer Theologie, die zum ‚Kern‘ und ‚Mark‘ der Dinge vorstößt, geäußert hat, sagt er unvermittelt. „Aber Gott ist Gott; Men-
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Die wichtigste Literatur zu Luthers ‚Dictata super Psalterium‘ ist zusammengestellt bei KARL-HEINZ ZUR MÜHLEN: Art. Luther II, in: TRE 21 (1991), S. 562 (zu 1.2); REINHARD SCHWARZ: Luther, 1. Aufl., Göttingen 1986, S. 24f.; LOHSE : Luthers Theologie (wie Anm. 27), S. 61. Vgl. auch J ARED W ICKS: Man Yearning for Grace. Luther’s Early Spiritual Teaching, Wiesbaden 1969, S. 41–94. 76 Vgl. besonders WA 9, S. 42,35–43,8 und dazu REINHARD SCHWARZ: Fides, Spes und Caritas beim jungen Luther unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Tradition, Berlin 1962, S. 12–40. – Wie deutlich Luther in diesen Randbemerkungen seiner Frühzeit bereits „neue, eigene Wege“ ging, „die offenbar nicht mehr in eine der verschiedenen spätmittelalterlichen Schulrichtungen integriert werden konnten“ (LOHSE ebd., S. 56 und 61), lässt auch die unten S. 137 bei Anm. 81 zitierte gnadentheologische Passage erkennen, obwohl sie – für sich genommen – durchaus im Rahmen eines pointierten spätmittelalterlichen Augustinismus, etwa der Lehrrichtung Gregors von Rimini, gesehen werden kann.
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schenurteil irrt oft, vielmehr immer. Er ist unser Gott, er wird uns führen in Liebenswürdigkeit (wörtl. Süßigkeit: suavitas) und immerdar.“77 Luther hat damit sein Lebensthema, den scharfen Kontrast zwischen Irrtum und Bosheit des Menschen und barmherziger Güte Gottes, gefunden78. Seine Anfechtungen führten ihn bis zu dem Punkt, dass er den Irrtum seiner klösterlichen Grundfrage: „O wann wiltu [= willst du] einmal from werden und gnug thun, das du einen gnedigen Gott kriegest?“79 erkannte. Sein verklagtes Gewissen suchte nun keinen Ausweg mehr in einer eigenen Reinheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit. Es machte sich – um Luthers Ausdrucksweise in der Ersten Psalmenvorlesung zu verwenden – Gottes anklagendes und verdammendes Urteil im Selbstgericht zu eigen80. Damit aber kam Luther auf dem Wege des Scheiterns seiner monastischen Perfektionsbemühungen zur Erkenntnis, dass Gott den Sünder aus purer Barmherzigkeit rettet. Sehr pointiert hebt er daher schon in den erwähnten Erfurter Randglossen zu Petrus Lombardus hervor, dass die paulinische Aussage „Es kommt nicht auf den an, der will, noch auf den, der läuft, sondern auf Gott, der sich erbarmt“ (Röm 9,16) mit einer cooperatioVorstellung unvereinbar sei; man müsse sie vielmehr „absolute“ verstehen: „Alles ist Gott zuzuschreiben.“ Es kommt „nur“ (tantum) auf das Erbarmen Gottes an81. Hinter dem richtenden Zorn Gottes, wie er in der demütigenden Anfechtung präsent wird, erkennt Luther den gnädigen Gott, der seine Verheißung wahr macht: Dem sündigen Menschen, der nichts Gutes vorzuweisen hat, vergibt er um Christi willen die Schuld und führt ihn aus 77
Siehe oben S. 119 mit dem vollständigen Zitat in Anm. 27. Als Luther zwei Jahre zuvor (am 22. April 1507) ebenfalls an Braun schrieb, um ihn zur Primiz einzuladen, bezeichnete er sich als elenden, ja in jeder Beziehung unwürdigen Sünder, den Gott aus freigebigster Barmherzigkeit und Güte allein in den priesterlichen Dienst berufen habe: „Cum itaque gloriosus Deus et sanctus in omnibus operibus suis infelicem me, quin et omnibus modis indignum peccatorem tam magnifice exaltare inque sublime suum ministerium sola et liberalissima sua misericordia vocare dignatus sit, ut tantae divinae bonitatis magnificentiae (vel quantulumcunque poterit pulvis) gratus sim, creditum mihi officium implere omnino debeo.“ WA.B 1, S. 10,9–11,2, Nr. 3. 79 Predigt über die Taufe (1534), WA 37, S. 661,23f. 80 Vgl. besonders Dictata super Psalterium, Scholien zu Vulgata-Ps. 50, WA 3, S. 287,20–293,21. 81 Randbemerkung zu Petrus Lombardus: Sent., lib. II, dist. 26, c.2: „‚Non est volentis neque currentis‘: Hoc textu tantum vult, quod ista expositio sit reproba, quae ex isto verbo Apostoli intelligt aequalem principalitatem gratiae et voluntatis respectu operis. Quoniam si sunt aeque principales, tunc sicut valet dicere ‚non est currentis et volentis‘ etc., ita valebit dicere ‚non est miserentis, sed habentis, volentis‘. Nunc autem posterius est contra positum Apostolicum, igitur primum non valet. Quare non debet ibi subintelligi signum exclusivum, sed absolute intelligendum et totum Deo tribuendum: ‚Non est currentis nec volentis, sed‘ tantum ‚miserentis Dei‘.“ WA 9, S. 70,32–71,3. Luther bekräftigt die Paulusauslegung des Lombarden, der bereits formuliert hat „totum detur Deo“, und fügt ihr das „absolute intelligendum“ und „tantum“ hinzu. 78
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reinem Erbarmen zum ewigen Leben82. Der Glaubensbegriff, den Luther in der Psalmenvorlesung zum Zentralbegriff des christlichen Lebens macht, enthält daher zwei elementare Wahrheitsbeziehungen zu Gottes Wort: einmal als Demut die Vergegenwärtigung des göttlichen Gerichtsworts in der schonungslosen Wahrnehmung des eigenen Elends; zum andern als vertrauensvolle Hoffnung die Vergegenwärtigung des göttlichen Heilsworts in der ebenso radikalen Wahrnehmung der schenkenden Verheißungstreue Gottes83. Beide Beziehungen gewinnen einen christologischen Grundcharakter: Der angefochtene und demütig gewordene Sünder erfährt die angefochtene Kreuzesexistenz Christi am eigenen Leben84; seine Seele ist, wie Luther 1518 im Blick auf seine durchlittenen Anfechtungen sagen kann, „mit Christus weit ausgespannt, so dass man alle ihre Gebeine zählen kann; und es ist kein Winkel in ihr, der nicht ausgefüllt wäre mit der bittersten Bitterkeit, mit Entsetzen, Angst und Traurigkeit“85. Unter der Gegensatzgestalt des Kreuzes aber (‚sub contrario‘) verbirgt sich die rettende Gegenwart Gottes: Wenn der Angefochtene sich im Elend Christi wiedererkennt, dann kann er auf den Gekreuzigten auch seine Heilsgewissheit gründen86.
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Zu dieser Wahrheitsdimension der Verheißung (promissio) in Luthers Dictata super Psalterium vgl. die Belege bei HAMM: Warum wurde der Glaube bei Luther zum Zentralbegriff (wie Anm. 36), S. 119f. 83 Vgl. HAMM ebd., S. 118–122. 84 Vgl. ERICH VOGELSANG: Die Anfänge von Luthers Christologie nach der ersten Psalmenvorlesung [...], Berlin 1929; DERS.: Der angefochtene Christus bei Luther, Berlin 1932; MARC LIENHARD: Martin Luthers christologisches Zeugnis. Entwicklungen und Grundzüge seiner Christologie, Göttingen 1979 (erstmals frz.: Paris 1973), S. 37–56; vgl. auch die neueste Untersuchung zu Luthers Christologie von JENS W OLFF: Metapher und Kreuz. Studien zu Luthers Christusbild, Tübingen 2005. 85 Fortsetzung des Zitats von oben Anm. 65: „Hic est anima expansa cum Christo, ut dinumerentur omnia ossa eius, nec est ullus angulus in ea non repletus amaritudine amarissima, horrore, pavore, tristitia, sed his omnibus non nisi aeternis.“ Resolutiones, zu These 15, WA 1, S. 558,5-8. 86 Es ist ein Irrtum, wenn manche Forscher gemeint haben, Luther kenne in der Psalmen- und Römerbriefvorlesung noch nicht die Heilsgewissheit des Glaubenden; zu den Dictata super Psalterium vgl. die Stellenbelege bei HAMM: Warum wurde der Glaube bei Luther zum Zentralbegriff (wie Anm. 36), S. 119f., Anm. 44 und 45. Die persönliche Heilsgewissheit der Hoffnung findet, wie die Belege zeigen, Eingang in den Wahrheitsbezug des Glaubens. Diese ‚certitudo‘, die sich an Gottes Verheißung festmacht, ist allerdings eng mit jener existentiellen Verunsicherung und Anfechtung verquickt, die das demütigende Gerichtswort Gottes im Gerechtfertigten bewirkt, indem es ihn dauerhaft mit der Realität seines sündigen Zustandes und mit dem Zorn des deus iudex konfrontiert. So bleibt die Situation des glaubenden Sünders durch ein Oszillieren zwischen Gewissheit und Ungewissheit, zwischen spes und timor gekennzeichnet.
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7. Die Vergegenwärtigung der Barmherzigkeit Gottes in den frühen Klosterjahren Luthers (1507–1513) Aus all dem wird deutlich, wie sich aus Luthers Anfechtungserfahrungen unmittelbar eine neue Sicht der schenkenden Bewegung Gottes auf den Menschen zu ergab. Indem ihm während der Erfurter und Wittenberger Klosterjahre vor Beginn der Ersten Psalmenvorlesung die ‚iustitia activa‘ des Heilserwerbs in das pure Nichts zerfällt, lernt er die ‚iustitia Dei‘ als destruierende und beschenkende Gerechtigkeit verstehen. Schon jetzt befindet er sich auf dem reformatorischen Weg zur ‚iustitia passiva‘ des umsonst geschenkten Heils87. Die erschreckende, ‚bittere‘ Nähe des alle Sünde und Unreinheit verdammenden Gottes schlägt um in die tröstende, ‚süße‘ Nähe des beseligenden Gottes88. Allerdings ist diese erfahrungstheologische und biblisch reflektierte Begegnung Luthers mit der schenkenden Gnadenbewegung Gottes, die sich zum tiefsten Elend des Sünders herablässt, noch völlig umgriffen vom dominierenden Gerichtsrahmen seiner Frühtheologie. Das Gottes- und Selbstgericht erweist sich ihm als Gnadengericht; das befreiende Erbarmen verwirklicht sich im Modus des entlarvenden Gerichts. Auf diesem Weg der allmählichen reformatorischen Neuorientierung gab dem niedergeschlagenen Mönch offensichtlich sein Ordensvorgesetzter, Beichtvater und Lehrer Johannes von Staupitz so wesentliche Hilfen, dass er später sogar sagen kann: „Wo mihr D. Staupitz, oder viel mehr Gott durch Doctor Staupitz, nicht heraus [scil. aus den Anfechtungen] geholffen hette, so were ich darinn ersoffen undt langst in der helle.“89 „Ich hab all mein ding von doctor Staupiz; der hatt mir occasionem geben.“90 Zwar hat sich Luther während seines Theologiestudiums noch nicht die von Gregor von Rimini ausgehende augustinische Lehrrichtung seines Ordens zu eigen gemacht; doch begegnete ihm in Staupitz der Mann, der mit Berufung auf den späten, antipelagianischen Augustin diese radikal gnadentheologische Lehrrichtung aus ihrer spätscholastischen Gestalt in eine seelsorgerliche Frömmigkeitstheologie für den Beichtstuhl und die Kanzel 87
Vgl. KARLMANN BEYSCHLAG: Grundriß der Dogmengeschichte, Bd. II/2, Darmstadt 2000, S. 345: „[...] als Gabe der Gerechtigkeit zu verstehen sei, durch die Gott den NichtGerechten gerecht macht, das, was Luther seit 1525 (so auch in der Vorrede von 1545) im Gegensatz zur Selbstgerechtigkeit des Menschen (,justitia activa‘) als ,justitia Dei passiva‘ (empfangene Gerechtigkeit) terminiert.“ 88 Zur strengen Bitterkeit („amaritudo amarissima“) des verdammenden Gottes vgl. oben S. 138 mit Anm. 85, zur barmherzigen ‚Süße‘ („suavitas“) des beseligenden Gottes vgl. oben S. 137 bei Anm. 77 und Anm. 27. 89 Brief Luthers an Graf Albrecht von Mansfeld vom 23. Februar 1542, WA.B 9, S. 627,23-25, Nr. 3716. 90 WA.TR 1, S. 80,6f., Nr. 173.
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transformierte91. Das war zu Beginn des 16. Jahrhunderts etwas Außergewöhnliches, und es gehört zu den einzigartigen Konstellationen im Leben Luthers, dass ihm in seinen schweren Klosteranfechtungen ausgerechnet dieser profilierte Barmherzigkeitstheologe als Seelsorger beistehen konnte. Über einen längeren Zeitraum waren beide erstmals 1508/09 zusammen, als Luther sein Erfurter Studium für einen mehrmonatigen Wittenberger Aufenthalt unterbrach92. Damals schon könnte jenes wichtige Gespräch über die Buße stattgefunden haben, an das sich Luther in seinem Begleitschreiben zu den ‚Resolutiones‘ an Staupitz vom 30. Mai 1518 erinnert93. Möglicherweise kam es auch erst nach dem Sommer 1511, nachdem Luther endgültig in das Wittenberger Kloster übergesiedelt war, zu dieser Unterredung. Jedenfalls wird sie vor den Beginn von Luthers Psalmenvorlesung zu datieren sein, weil sie genau das Bußverständnis widerspiegelt, das man von Anfang an in den ‚Dictata super Psalterium‘ findet. Wenn manche Lutherforscher zu einer späteren Datierung gekommen sind, dann vor allem deshalb, weil sie zu wenig berücksichtigten, dass Luther in die91
Zum gnadentheologischen Profil des Johannes von Staupitz im Geiste eines radikalen Augustinismus, wie er in scholastischer Gestalt von Gregor von Rimini (gest. 1358) und seinen Schülern gepflegt wurde, vgl. HEIKO AUGUSTINUS OBERMAN: Werden und Wertung der Reformation. Vom Wegestreit zum Glaubenskampf, Tübingen 1977 (Spätscholastik und Reformation, Bd. 2), S. 82–140 (Augustinrenaissance im späten Mittelalter), zu Staupitz S. 97–118. Zu weiterer Staupitz-Literatur vgl. BERNDT HAMM: Art. Staupitz, Johann[es] von, in: TRE 32 (2000), S. 119–127. 92 Über diesen Wittenberger Aufenthalt Luthers vom Herbst 1508 bis Herbst 1509 schreibt BRECHT: Martin Luther (wie Anm. 34), S. 98: „Zugleich setzte er zunächst sein Theologiestudium fort. Sein Lehrer muß vor allem Staupitz gewesen sein. Er war im Wintersemester 1508/09 Dekan der theologischen Fakultät und hielt sich bis Pfingsten 1509 auch einmal für einen größeren Zeitraum tatsächlich in Wittenberg auf.“ 93 WA 1, S. 525–527; LDStA 2, S. 17–23; vgl. oben Anm. 7. Ich halte es für problematisch, diesen Brief, wie es oft geschieht, als ‚Widmungsschreiben‘ Luthers an Staupitz zu bezeichnen, da die Widmung der ‚Resolutiones‘ samt entsprechendem Brief (WA 1, S. 527–529) an Papst Leo X. gerichtet ist. Luther geht vielmehr den Dienstweg und bittet seinen Ordensvorgesetzten, die Erläuterungen zu seinen Ablassthesen an den Papst weiterzuleiten. Daher spreche ich lieber vom ‚Begleitschreiben‘ oder – wie neuerdings Brecht – vom ‚Beibrief‘ an Staupitz; vgl. MARTIN B RECHT: Luthers neues Verständnis der Buße und die reformatorische Entdeckung, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), S. 281–291: hier S. 281. Brecht datiert das Gespräch Luthers mit Staupitz über die ‚wahre Buße‘ „mit großer Sicherheit ungefähr auf den Mai 1515“ (ebd. S. 283), ebenso in seiner Lutherbiographie (wie Anm. 34), S. 181: „Mai/Juni 1515“. Diese Datierung übernimmt VOLKER LEPPIN : „Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“ – Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), S. 7–25: hier S. 13f. Zur Datierung des Bußgesprächs auf einen Zeitpunkt vor 1509 vgl. oben Anm. 2 (Scheel); die Datierung auf den Wittenberger Zeitraum 1508/09 schlägt REINHOLD SEEBERG vor, der dieser Staupitzschen Hilfe die weichenstellende Bedeutung für Luthers reformatorische Gotteserkenntnis zuschreibt (nach LINK: Das Ringen Luthers [wie Anm. 2], S. 59–61).
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sem Brief vier Zeitstufen in der Entfaltung seines Verständnisses von wahrer Buße unterscheidet94. Das Gespräch mit Staupitz, auf das ich nun näher eingehe, ist nur der ersten Zeitebene zuzuordnen. Am Anfang stand der Impuls, den ihm Staupitz gab, das Wort, das „wie der spitze Pfeil eines Starken“ (Ps. 119/120,4) in ihm haften blieb95, also eine lange Folgewirkung zeitigte. Luther schreibt: „Ich habe dich wie eine Stimme vom Himmel vernommen: dass es eine wahre Buße nur unter der Bedingung gibt, dass sie mit der Liebe zur Gerechtigkeit und zu Gott beginnt; und das sei vielmehr der Anfang der Buße, was jenen [scil. den verkehrten Bußlehrern] als das Ziel und die Vollendung [der Buße] gilt.“96 Liest man diesen Satz vor dem Hintergrund der Staupitzschen Theologie97 und zugleich im Kontext der frühen Anfechtungsverarbeitung Luthers, wie sie in seiner Psalmenauslegung dokumentiert ist, dann ergibt sich folgender Sinn: Eine wirkliche Buße, die diesen Namen verdient, flieht nicht vor der Gerechtigkeit Gottes, die das Sündhafte am Menschen richtet und straft, sondern macht sie sich bereitwillig zu eigen; ja der Büßer liebt diese Gerechtigkeit, weil er in ihr die gleiche Gerechtigkeit Gottes erkennt, die ihm im Sühneleiden Christi liebevoll und rettend nahe kommt. In diesem Sinne gewann das Wort ‚Buße‘, wie Luther weiter schreibt, für ihn einen süßen und liebenswerten Klang, weil er es von den „Wunden des süßesten Erlösers“ her zu verstehen begann98. In dem mystischen Begriff ‚süß‘ verdichtet sich die unmittelbare, ‚schmeckende‘ Nah-Erfahrung der barmherzigen Güte Gottes, wie sie dem angefochtenen Sünder im Schmerzens94
Die vier Zeitstufen markiert Luther ebd. durch die Angaben „aliquando“ (WA 1, S. 525,6 [LDStA 2, S. 18,6]), „deinceps“ (S. 525,16 [S. 18,14]), „post haec“ (S. 525,24 [S. 18,22]) und „denique“ (S. 526,1 [S. 18,30]). Das Gespräch mit Staupitz vollzog sich nur auf der ersten Zeitstufe. 95 „Haesit hoc verbum tuum in me sicut ‚sagitta potentis acuta‘ […].“ Ebd. S. 525,15 [S. 18,13]. 96 „[…] te velut e caelo sonantem excepimus, quod poenitentia vera non est, nisi quae ab amore iustitiae et Dei incipit, et hoc esse potius principium poenitentiae, quod illis finis et consummatio censetur.“ Ebd. S. 525,10-14 [S. 18,9-12]. 97 Zu Staupitz’ Bußverständnis, das den Hauptakzent auf die wahre Reue legt, vgl. LOTHAR GRAF ZU DOHNA und R ICHARD WETZEL: Die Reue Christi. Zum theologischen Ort der Buße bei Johann von Staupitz, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 94 (1983), S. 457–482; RICHARD W ETZEL: Staupitz und Luther, in: Volker Press und Dieter Stievermann (Hg.): Martin Luther. Probleme seiner Zeit, Stuttgart 1986, S. 75–87: hier S. 78–81; BERNDT HAMM: Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers, in: Lutherjahrbuch 65 (1998), S. 19–44: hier S. 35–40. 98 „[...] ita, ut, cum prius non fuerit ferme in scriptura tota amarius mihi verbum quam ‚poenitentia‘ (licet sedulo etiam coram Deo simularem et fictum coactumque amorem exprimere conarer), nunc nihil dulcius aut gratius mihi sonet quam ‚poenitentia‘. Ita enim dulcescunt praecepta Dei, quando non in libris tantum, sed in vulneribus dulcissimi salvatoris legenda intelligimus.“ WA 1, S. 525,18-23 [LDStA 2, S. 18,16-21].
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mann Christus begegnet. Staupitz half Luther, sich von allen Bußlehren (insbesondere der Ockhamisten und Skotisten) zu lösen, die in der Liebe Ziel und Vollendung eines aktiv vorantreibenden und mit dem eigenen Bemühen des Sünders einsetzenden Bußprozesses sahen, während doch wirkliche Buße von Anfang bis Ende Liebe zur göttlichen Gerechtigkeit sei, eine Liebesreue, die immer schon durch die rechtfertigende Gnade im Herzen des büßenden Menschen gewirkt ist. Gottes Liebe, Gnade und Gerechtigkeit sind so stets der Liebesfähigkeit, Buße und Gerechtigkeit des Menschen voraus. Die Staupitzsche Verknüpfung von Liebe und Gerechtigkeit wurde für Luther zum Impuls, seine gequälte Existenz im Licht der Passion Christi zu sehen und so im Bitteren der Anfechtung die Süße des göttlichen Erbarmens wahrzunehmen. Vor diesem Hintergrund war dann Luthers Aussage in der Psalmenvorlesung konsequent, dass keine Anfechtung die höchste Anfechtung sei, und dass Gott am meisten zürne, wenn er nicht zürnt99. Man wird Luthers Reminiszenz an die Bußunterredung mit Staupitz nur gerecht, wenn man sie – worauf Luther selbst hinweist – in eine ganze Reihe von Gesprächen einordnet, durch die Staupitz ihn über einen längeren Zeitraum hinweg väterlich tröstete100. Im Mittelpunkt stand dabei die persönliche Aneignung des Passionsgeschehens, d.h. die Art und Weise, wie Staupitz in der Tradition seines Ordens101 die Passionsmystik Bernhards von Clairvaux aktualisierte. Er rät Luther, auf die Wunden des Gekreuzigten zu blicken102 und sich dieses Bild einzuprägen, dann werde das verzweifelte Grübeln und Disputieren über die Prädestination einer getrösteten Hoffnungsgewissheit weichen103. Durch Staupitz vernahm Luther, 99
Vgl. die lateinischen Belege oben Anm. 73. Vgl. das gerade zitierte Begleitschreiben an Staupitz, WA 1, S. 525,4-6 [LDStA 2, S. 18,5f.]: „Memini, reverende pater, inter iucundissimas et salutares fabulas tuas, quibus me solet dominus Ihesus mirifice consolari [...].“ 101 Vgl. SAAK: High Way (wie Anm. 61), S. 467–583. 102 Vgl. die Quellenbelege bei B ERNDT HAMM: Johann von Staupitz (ca. 1468–1524) – spätmittelalterlicher Reformer und ‚Vater‘ der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 92 (2001), S. 6–42: hier S. 32f. mit Anm. 103. Zur Aufnahme dieser Kreuzes- und Wundenfrömmigkeit in Luthers Erster Psalmenvorlesung unter Berufung auf Bernhard von Clairvaux vgl. z.B. WA 3, S. 645,29-34 (Schol. zu Ps. 83/84,4) und dazu B ERNHARD LOHSE: Luther und Bernhard von Clairvaux, in: Kasper Elm (Hg.): Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, Wiesbaden 1994, S. 271–301: hier S. 286f. 103 Vgl. Quellenbelege bei HAMM ebd. (zur Staupitzschen Hoffnungsgewissheit S. 28 mit Anm. 87) sowie BRECHT: Martin Luther (wie Anm. 34), S. 87; vgl. insbesondere das große Tischredenzeugnis vom 18. Febr. 1542: WA.TR 5, S. 293,5ff., Nr. 5658a = Scheel: Dokumente (wie Anm. 9), Nr. 456, mit der Schlussformulierung S. 295,15-18: „Sic et me consolatus est Staupitius contra has diaboli vexationes: Was wiltu mit dein gedancken umbgeen? Accipe vulnera Christi et intuere sanguinem profluentem sanctissimum, car100
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dass im Anblick des leidenden, angefochtenen, für uns bitter büßenden Christus die demütigende Erfahrung der Gottesferne als besondere Nähe des rettenden Gottes zu deuten sei und dass er sich damit gerade als Angefochtener in einer innigen Verbundenheit mit Christus wissen dürfe. Vor und neben Staupitz gab es auch andere Seelsorger und Beichtväter Luthers, die ihm den ‚Christus pro me‘, die ihm persönlich geltende Erlösungsgnade der Sündenvergebung, vor Augen hielten und ihm so aus seinen quälenden Zweifeln, einen gnädigen Richter zu finden, heraushelfen wollten. Offensichtlich wurde der junge Mönch seit seinen ersten Erfurter Jahren von solchen Hinweisen auf die nahe, mühelos zugängliche und überreich beschenkende Barmherzigkeit Gottes begleitet104. Anders ist es angesichts des theologischen und spirituellen Klimas im Erfurter und Wittenberger Konvent auch nicht vorstellbar. Kein anderer Orden hat um 1500 den Kontrast zwischen dem sündhaften Elend des Menschen und dem unendlichen Erbarmen Gottes, zu dem man voller Vertrauen Zuflucht nehmen soll, so scharf akzentuiert wie die observanten Augustinereremiten105. In Staupitz’ Stimme erreichte diese tröstende Barmherzigkeitsdimension eine ungewöhnliche theologische und menschliche Überzeugungskraft. Als Luther das Scheitern seines klösterlichen Vollkommenheitsstrebens bewusst wurde, war es daher im Kontext dieser Ordensseelsorge eine Folge von größter Stringenz, dass er gerade in der völligen Destruktion seiner aktiven Heiligkeit ein ebenso völliges Beschenktwerden durch die Heiligkeit Gottes wahrnahm. Die Christologie des Kreuzes wurde ihm zum hermeneutischen Schlüssel, beides, die Nähe des göttlichen Gerichts und die Nähe des göttlichen Erbarmens, als zwei Seiten des gleichen Geschehens zu begreifen. Und da er Gericht, Zorn und Destruktion in einer
nem pro peccatis nostris, pro meis, tuis et omnium hominum, et: ‚Oves meae vocem meam audiunt‘ [Joh. 10,27].“ Zur Interpretation dieser Tischrede im Kontext der Staupitzschen Verknüpfung von Christologie und Hoffnungsgewißheit vgl. WETZEL: Staupitz und Luther (wie Anm. 97), S. 81–84. 104 Vgl. die Textbelege bei BRECHT: Martin Luther (wie Anm. 34), S. 68 mit Anm. 7 (über Luthers Novizenmeister Johann Greffenstein), S. 75 mit Anm. 28, S. 87 mit Anm. 26. Zum ‚Christus pro me‘ vgl. Philipp Melanchthon: Vorrede zu Bd. 2 der Gesamtausgabe von Luthers Werken, Wittenberg 1546, Corpus Reformatorum 6, Sp. 159: Luther erzählte, er sei im Augustinerkollegium zu Erfurt oft durch die Reden eines Alten („senis cuiusdam sermonibus“) gestärkt worden, der ihn mit Hinweis auf Bernhard von Clairvaux dazu angehalten habe, zu glauben, „quod per ipsum [Christum] peccata TIBI donantur“. Der Zugang Luthers zu Bernhard wird also – wie auch die Vermittlerrolle Staupitzens zeigt – durch die Ordenstheologie und -spiritualität der Augustinereremiten gefiltert und geprägt. Alle Aussagen über Luther und Bernhard (sowie über Luther und die ‚monastische Theologie‘ des Mittelalters) haben diesem Ordensfilter methodisch Rechnung zu tragen. 105 Vgl. oben Anm. 61.
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Weise erfahren hatte, die Staupitz fremd blieb106, kam er auch zu einer neuen Radikalität des theologischen Nachdenkens über die geschenkte Gerechtigkeit Gottes107.
8. Die Nähe des Himmels und die neu erfahrene Süßigkeit: Mystisches in Luthers reformatorischer Neuorientierung Sowohl in der schrecklichen Erfahrung von Gottes Zorn als auch in der tröstenden Begegnung mit Gottes Gnade erschließt sich dem jungen Mönch eine Intensität der Nähe Gottes, die die spätmittelalterlichen Intensivierungen weiterführt, verstärkt und in eine neue Qualität der Gottesbeziehung umschlagen lässt. In Luthers Erleben und in seinen stilisierenden biographischen Rückblicken erscheint diese Erfahrungsnähe als unmittelbarer Kontakt mit dem furchtbar bedrohlichen und sich beseligend öffnenden Himmel. Realität und Symbolik sind dabei verknüpft. So sah sich Luther im Gewitter von Stotternheim „durch Schrecken vom Himmel gerufen“108 und erwähnte später (1539) auch den Blitzstrahl, der ihn so erschüttert habe, dass er der Hl. Anna den Klostereintritt gelobte109. Dieser himmlische Schrecken pflanzte sich in seinen Klosteranfechtungen fort. Wie er in einer Predigt der späten dreißiger Jahre bezeugt, traf ihn einst der Anblick des Gekreuzigten wie ein Blitz110. In einer Tischrede von 1532 sagt er: „Die [biblischen] Begriffe ‚gerecht‘ und ‚Gerechtigkeit Gottes‘ wirkten auf mein Gewissen wie ein Blitz; hörte ich sie, so entsetzte ich mich: Ist Gott gerecht, so muß er strafen.“ Im gleichen Sinne kann er 1538 von einem „donnerschlag“ in seinem Herzen sprechen111. 106
Vgl. oben S. 131 mit Anm. 66. In dieser neuen Konzeption Luthers kam der Liebesfähigkeit des Menschen und der Frage nach seiner wahren, ausreichenden Buße und Reue anders als bei Staupitz keine soteriologische Relevanz mehr zu. Zu dieser Differenz zwischen Luther und Staupitz, die sich schon in der Ersten Psalmenvorlesung abzeichnet, vgl. HAMM: Von der Gottesliebe (wie Anm. 97), S. 38–44. 108 Siehe oben Anm. 44: „de coelo terroribus me vocatum“. 109 WA.TR 4, S. 440,5-11, Nr. 4707 (16. Juli 1539); vgl. unten Anm. 134. Die historische Realität dieser Anrufung Annas durch Luther wird mit klugen, aber nicht zwingenden Argumenten angezweifelt durch ANGELIKA DÖRFLER-D IERKEN: Luther und die heilige Anna. Zum Gelübde von Stotternheim, in: Lutherjahrbuch 64 (1997), S. 19–46. 110 „Ich bin offt fur dem namen Jhesu erschrocken, und wen ich ihnen anblickte am Creutz, so dunckt mich, ehr wahr mir als ein blitz, und wen sein name genennet wurde, so hette ich lieber den Teuffel horen nennen, dan ich gedachte, ich muste so lange gute werck thun, biss Christus mir dardurch zum freunde und gnedig gemacht wurde.“ WA 47, S. 590,1-6; vgl. ebd. 310,7-18. 111 „Nam haec verba ‚iustus‘ et ‚iustitia Dei‘ erant mihi fulmen in conscientia, quibus auditis expavescebam: Si Deus est iustus, ergo puniet.“ WA.TR 3, S. 228,24-26, Nr. 107
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Entsprechend vernimmt Luther Staupitz als eine Stimme aus dem Himmel – „velut e caelo sonantem“112; und wie sich ihm so der Himmel der Liebe und des Erbarmens öffnet, so kann er dann auch in dem berühmten Selbstzeugnis von 1545 seinen Durchbruch zu einem neuen Verständnis von ‚iustitia Dei‘ als Eintritt in das Paradies bezeichnen: „So wurde mir diese Paulusstelle [Röm.1,17] wahrhaft zur Paradiesespforte.“113 „Ich fühlte mich ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten.“114 Auch hier wieder fällt – wie im Brief an Staupitz115 (und vorher schon im Brief an Braun116) – der mystische Begriff der ‚Süßigkeit‘: So verhasst ihm vorher das Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘ war, so lieb und süß wird es ihm nun. Der direkte Kontakt zwischen Himmel und Erde ist in der Bewegung Gottes zum Menschen immer beides miteinander: Offenbarung von Zorn und Gnade, von Sünde und Gerechtigkeit117; und nur im Kontrast zur erschreckenden Nähe des hereinbrechenden Himmels wird der geöffnete Himmel der Seligkeit zur befreienden Gegenwart Gottes. Geht man von dieser Semantik des nah-präsenten und geöffneten Himmels und neu erfahrener Süßigkeit und Liebe aus, dann kann man die reformatorische Neuorientierung Luthers durchaus als einen Vorgang von mystischer Dimension verstehen. Das ist allerdings nur möglich, wenn man sich von einem zu starren Begriff des Mystischen löst und vor allem den Aspekt der Erfahrungsnähe im Blick hat – etwa in dem Sinn, dass man unter Mystik eine persönliche, unmittelbare und ganzheitliche Erfahrung der beseligenden Nähe Gottes bis hin zur innigen Vereinigung mit Gott 3232c, mit Parallelen in Nr. 3232a/b und Nr. 1681 (siehe oben Anm. 14). – WA.TR 4, S. 72,27-31, Nr. 4007 (12. Sept. 1538) = Scheel: Dokumente (wie Anm. 9), S. 148, Nr. 404: „Iustitia Dei in Paulo. Illud vocabulum ‚iustitia Dei‘ ist in meynem hertzen ein donnerschlag gewest, nam quando in papatu legerem: ‚In iustitia tua libera me‘ [Ps. 30/31,2], item: ‚In veritate tua‘, mox putabam illam iustitiam vindicantem furorem, scilicet divinae irae.“ 112 Siehe oben Anm. 96. 113 „Iam quanto odio vocabulum ‚iustitia Dei‘ oderam ante, tanto amore dulcissimum mihi vocabulum extollebam, ita mihi iste locus Pauli fuit vere porta paradisi.“ Vorrede (wie Anm. 5), WA 54, S. 186,14-16; LDStA 2, S. 506,13-15. 114 „Hic me prorsus renatum esse sensi et apertis portis in ipsum paradisum intrasse.“ Ebd. WA 54,186,8f. bzw. LDStA 2, S. 506,7f. 115 Vgl. oben S. 141 mit Anm. 98 („dulcius“, „dulcescunt“, „dulcissimi“). 116 Vgl. oben S. 137 bei Anm. 77 und Anm. 27 („suavitas“). 117 Vgl. Luther in der Ersten Psalmenvorlesung (1513–15) über Röm. 1,17f.: „Dicit enim [Paulus]: ‚Revelatur enim de celo ira Dei etc.‘ [Röm. 1,18]. Item ‚Iustitia Dei revelatur in eo [scil. euangelio] etc.‘ [Röm. 1,17]. Sensus est: Nullus hominum scivit, quod ira Dei esset super omnes et quod omnes essent in peccatis coram eo, sed per euangelium suum ipse de coelo revelavit et quomodo ab ista ira salvi fieremus et per quam iustitiam liberaremur, scilicet per Christum.“ WA 3, S. 174,15-20.
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versteht118. Will man Luthers frühe Entwicklung als Weg zu einer neuen Art mystischer Theologie charakterisieren119, dann jedenfalls nicht in dem – durch mittelalterliche Texte vermittelten – Sinn einer Wesens- und Qualitätsveränderung des Menschen und eines graduellen Aufstiegs zu Gott auf der Leiter liebender Durchgeistigung. Luthers Theologie der tröstenden und beseligenden Nähe Gottes integriert die Naherfahrung von Gericht, Zorn und Schrecken. Sie bewegt sich auf diesem Fundament der Gewissensanfechtung und bleibt stets eine Theologie der ‚Kondeszendenz‘, des Herabkommens der Barmherzigkeit Gottes, d.h. seines Evangeliums von Jesus Christus, zum allzeit sündigen, armseligen und angefochtenen Menschen120. Daher betont Luther das Vom-Himmel-her der rechtfertigenden Gerechtigkeit als einer „externa et aliena iustitia“: „Gott will uns nämlich nicht durch eine heimische [d.h. uns eigene], sondern durch eine äußere Gerechtigkeit und Weisheit retten, die nicht aus uns kommt und entsteht, sondern von anderswoher zu uns kommt, die nicht auf unserer Erde aufgeht, sondern vom Himmel [de coelo] kommt. Deshalb muss man sie völ-
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Indem ich mit dem Begriff der Mystik den der ‚Nähe‘ – einer unmittelbaren Erfahrungsnähe Gottes – verbinde, knüpfe ich am Mystik-Verständnis McGinn’s an, der als definitorisches Merkmal vor allem das „unmittelbare Bewußtsein der Gegenwart Gottes“ nennt; vgl. B ERNARD MCGINN: Die Mystik im Abendland (engl. Originaltitel: The Presence of God. A History of Western Christian Mysticism), Bd. 1: Ursprünge, Freiburg i.Br. 1994, S. 11–20. Der Begriff ‚Nähe‘ erscheint mir im Blick auf die Intensität und Direktheit der mystischen Gottesbeziehung noch angemessener als der Terminus ‚Gegenwart‘ (presence), da Nähe über pure Gegenwart hinaus noch die Qualität der Verbundenheit und Vertrautheit, wie sie besonders für eine Liebesbeziehung charakteristisch ist, zum Ausdruck bringt. Tatsächlich geht es bei den Mystikern und Mystikerinnen des Mittelalters stets um das Bewusstsein und die Erfahrung einer Gegenwart Gottes, die unmittelbare Nähe – insbesondere ‚unio‘ von Gott und Mensch – bedeutet. 119 Vgl. dazu ausführlicher meinen Beitrag: Wie mystisch war der Glaube Luthers?, in: Berndt Hamm und Volker Leppin (Hg.): Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007, S. 237–287. Dieser Aufsatz verdeutlicht auch, wie sich bei Luther die mystische Unmittelbarkeit des glaubenden Menschen zu Christus mit der Vermittlung durch Wort und Sakrament verbindet. 120 Das wird eindrücklich akzentuiert und entfaltet von BEYSCHLAG: Grundriß (wie Anm. 87), S. 322–388. Beyschlags Lutherdarstellung wird durchgängig von seiner Sicht der „kopernikanischen Wende“ bestimmt, „welche die DG [= Dogmengeschichte] des Reformationszeitalters von derjenigen des MA unterscheidet: Hingabe Gottes an die Menschheit statt Hinkehr des Menschen zu Gott“ (S. 328; vgl. S. 291 über Thomas von Aquin und Duns Scotus: „Hinkehr des Menschen durch Gott zu Gott“) – im Blick auf Luthers Abendmahlstheologie: „die Kondeszendenz Christi bis zur Realpräsenz“ (S. 387). Die mittelalterliche Theologie kann zwar seit Bernhard von Clairvaux ebenfalls ein starkes Gewicht auf die Kondeszendenz Gottes legen, doch zeigt gerade das Beispiel Bernhards, wie intensiv mit der Deszendenz Gottes die Aszendenz des geheiligten und immer heiliger werdenden Menschen verbunden ist.
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lig als äußere und fremde Gerechtigkeit lehren und zuerst die heimische und eigene ausreißen.“121 Mit dieser intensiven Verknüpfung von außen (extra nos) und innen122 vertritt Luther eine neuartige Mystik des Glaubens und des Wortes, und das heißt in der Frühtheologie seiner Ersten Psalmenvorlesung (und Römerbriefvorlesung) zweierlei: Glaube ist bitteres Seufzen (gemitus) in der Naherfahrung des unerbittlichen göttlichen Gesetzes und Gerichts, das dem Gewissen jede Berufung auf eigene Qualität und Würdigkeit zerschlägt; und er ist süßes, freudiges, getröstetes Emporgehobenwerden (raptus, exstasis), weil der Glaube mitten im Gericht das Evangelium von der rettenden Gerechtigkeit Christi vernimmt und darauf vertraut123. Diese wird damit nicht zu einer inneren, eingegossenen Gerechtigkeit der Seele, sondern bleibt für den Glaubenden eine ‚iustitia extra nos‘, die ihn von außen beschirmende, vollkommene und ewige Gerechtigkeit des Gottessohnes. Aber im Glauben an das Evangelium wird der Mensch mit dieser Gerechtigkeit Christi – in einer Art ‚unio mystica‘ – innig vereint124. Sie wird für ihn zu einer ‚süßen‘ Naherfahrung des völligen Beschenktseins gegen alle Anfechtungserfahrungen des Gesetzes, der Sünde, des Todes, des Gerichts und der Verdammnis. Die unio-Erfahrung des Glaubens bleibt immer eine gebrochene Erfahrung, weil sie sich gegen die Erfahrungsevidenz der teuflischen Verderbensmächte ‚nur‘ auf die Gnadennähe Christi im Evangelium und in den Sakramenten gründen kann, nicht aber auf eine unmittelbare Heiligungserfahrung des eigenen Lebens. Wenn Luther in den Jahren nach der Psalmenvorlesung auf Autoren und Motive der mittelalterlichen Mystik zu-
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„Deus enim nos non per domesticam, sed per extraneam iustitiam et sapientiam vult salvare, non que veniat et nascatur ex nobis, sed que aliunde veniat in nos, non que in terra nostra oritur, sed que de celo venit. Igitur omnino externa et aliena iustitia oportet erudiri; quare primum oportet propriam et domesticam evelli.“ Römerbriefvorlesung (1515/16), Schol. zu Röm. 1,1, WA 56, S. 158,10-14. 122 Vgl. KARL-HEINZ ZUR MÜHLEN: Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972. 123 Vgl. HEIKO A. OBERMAN: Simul gemitus et raptus: Luther und die Mystik (erstmals 1967), in: ders., Die Reformation (wie Anm.12), S. 45–89. Vgl. oben S. 138 mit Anm. 83. 124 Zu dieser unio-Dimension in Luthers Vorstellung von der geistlichen Gemeinschaft des Glaubenden mit Christus vgl. REINHARD SCHWARZ: Martin Luther (1483– 1546), in: Gerhard Ruhbach und Joseph Sudbrack (Hg.): Große Mystiker. Leben und Wirken, München 1984, S. 185–202 (mit Anmerkungen S. 375–380): hier S. 192–200; ERWIN ISERLOH: Luther und die Mystik (erstmals 1967), in: ders.: Luther und die Reformation. Beiträge zu einem ökumenischen Lutherverständnis, Aschaffenburg 1974, S. 62– 87; HAMM: Wie mystisch (wie Anm. 119).
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rückgriff125, dann immer nur in dieser charakteristischen Gebrochenheit126. Was er damit unterstreichen will, ist die Intimität der Barmherzigkeitsnähe zwischen Gott und der sündigen Seele: dass sich die schenkende Barmherzigkeit Gottes zum Elend des Menschen herablässt und die Seele dies in der völligen Passivität ihrer Glaubensverbundenheit mit Christus erleidet, nicht wirkt.
9. Zusammenfassung: Die verzweifelte Anfechtung als Bestandteil der reformatorischen Neuorientierung Luthers Die doppelseitige Frühtheologie Luthers integriert sowohl die attackierende Nähe des Zorns als auch die unerhörte Nähe der Gnade in das Glaubensverständnis. Damit tritt diese Theologie der Ersten Psalmenvorlesung bereits als deutliches Zeugnis seiner reformatorischen Umorientierung in Erscheinung; die grundlegende Veränderung gegenüber dem spätmittelalterlichen Verständnis der Gerichts- und Gnadennähe Gottes ist offensichtlich. Deutlich ist auch, dass diese theologische Neuorientierung in den folgenden Jahren bis in das Jahr 1520 hinein weitere wichtige Schübe erfährt127 und dass bei dieser reformatorischen Gesamtentwicklung die Interaktion zwischen der persönlichen Anfechtungssituation und einer intensiven Beschäftigung mit der Auslegung biblischer Texte von wesentlicher Bedeutung war. Offen bleiben muss die Frage, bis zu welchem Grad sich die Theologie der Psalmenvorlesung schon in den vorausgehenden Erfurter und Wittenberger Jahren herausgebildet hat. Mit einem hohen Maß an Gewissheit aber kann man sagen: Schon im Zeitraum zwischen 1507 und 1513 erfuhr der junge Mönch und Theologe jene Radikalität der Anfechtung, die ihm eine neue Einsicht in die völlige, niemals real zu beseitigende Sündhaftigkeit des Menschen eröffnete. Es war die Einsicht in 125
Vgl. BRECHT: Martin Luther (wie Anm. 34), S. 137–144; HENRIK OTTO: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, Gütersloh 2003. 126 Inwiefern Luther damit in einer mystischen Tradition des Mittelalters steht, die wiederholt auf höchst radikale, riskante und konfliktreiche Weise die kirchlichen Heiligkeitsstereotypen ihrer Zeit zur Disposition stellte, zeigt der ausgezeichnete Aufsatz von SUSANNE KÖBELE: heilicheit durchbrechen. Grenzfälle von Heiligkeit in der mittelalterlichen Mystik, in: Berndt Hamm, Klaus Herbers, Heidrun Stein-Kecks (Hg.): Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, Stuttgart 2007, S. 147–169. Wenn Luther ‚Mystiker‘ war, dann nur so, dass er die Kategorien oder Koordinaten mittelalterlicher Mystik durchbrach – aber genau das lag in der Logik einer mystischen Offenheit des Mittelalters für das ‚Durchbrechen‘ konventioneller Religiosität. 127 Vgl. oben S. 113f. mit Anm. 7–12.
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die personale Grundsünde unter der Oberfläche der einzelnen und bewussten Sündenakte. Dieses letzte Verzweifeln an den eigenen Möglichkeiten des Heilsgewinns – ein ebenso existentiell-affektives wie theologischkognitives Geschehen – bedeutete eine Abkehr von dem mittelalterlichen Modell der Balance zwischen Anfechtung und Trost, Furcht und Vertrauen, Demut und Hoffnung. Schon hier beginnt die reformatorische Umorientierung Luthers. Es ist der Bruch mit allen spätmittelalterlichen Maximal- oder Minimalprogrammen einer menschlichen Mitwirkung zum Heil – bußtheologisch formuliert: der Bruch mit dem Kontritionismus eines Gabriel Biel ebenso wie mit dem Attritionismus eines Johannes von Paltz128. Das Einzige, was dem Menschen zu tun bleibt, ist das Eingeständnis, nichts tun zu können, und das flehentliche Bittgebet zu Gott129. Ohne dieses Ergebnis der frühen Anfechtungen Luthers, ohne dieses völlige Verzweifeln an der eigenen Qualität, Heiligkeit und Würdigkeit vor Gott, ist seine neue Sicht der einseitig schenkenden Bewegung Gottes auf den Menschen zu nicht vorstellbar. Dass er sich ganz an die richtende und rettende Gerechtigkeit Gottes halten kann, setzt das völlige Scheitern seines monastischen Frömmigkeitsstrebens voraus. In dem, was er später „getroste Verzweiflung“ nennen kann130, ist der unlösbare Zusammenhang von beidem ausgedrückt. Dieser intensive Zusammenhang lässt vermuten, dass Luther schon vor 1513 nicht nur sein Scheitern erfahren hat, sondern auch zu ersten Ansätzen seines neuen Gnaden- und Christusverständnisses gekommen ist. Wahrscheinlich hat ihm erst der Sinn für die christologische Zusammengehörigkeit von Gericht und Gnade die Augen für beides geöffnet: wie abgründig seine Sünde (wie vollständig also sein Angewiesensein auf Gott) und wie grundlos schenkend daher Gottes Erbarmen ist. Ebenfalls wahrscheinlich ist, dass bei dieser zweifachen Neuorientierung Luthers die intensive gnadentheologische und christozentrische Ausrichtung seines Ordens, wie sie ihm vor allem in der Seelsorge und Theologie des Johannes von Staupitz begegnete, eine wesentliche Rolle spielte. Die Anfänge dieser Impulse lagen wohl bereits in den ersten Erfurter Klosterjahren. Doch sind solche Spekulationen oder Fragen der Datierung – etwa der Unterredungen mit Staupitz – für meine Überlegungen nicht wesentlich. Wenn man nicht mehr darauf fixiert ist, im Leben Luthers die große, entscheidende reformatorische Wende sachlich und zeitlich einzugrenzen, 128
Zu dieser bußtheologischen Spannweite vgl. HAMM: Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 57), S. 275–284. 129 Vgl. die Belege aus Luthers Erster Psalmenvorlesung bei BERNDT HAMM: Promissio, pactum, ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre, Tübingen 1977, S. 377–383. 130 Siehe oben S. 118 mit Anm. 25.
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sondern einen großen Bogen der reformatorischen Entwicklung mit mehreren Schüben und Klärungen wahrnimmt, dann werden die Datierungsfragen ohnehin relativiert. Der ‚gedehnte Blick‘ für das Allmähliche schiebt sich vor die Fixierung von Durchbrüchen131. Wichtig für die Lutherforschung aber ist die grundsätzliche Entscheidung, ob man aus diesem Lebensbogen der reformatorischen Neuorientierung Luthers die Anfechtungserfahrungen seiner frühen Klosterjahre ausklammert oder nicht. Die wesentliche Frage ist, ob man erst in den hellen, heiteren und befreienden Zügen seiner späteren Theologie die Substanz des ‚Reformatorischen‘ erkennen will oder bereits in der verzweifelten Ausweglosigkeit seines Heiligkeitsstrebens132. Historisch spricht, wie ich meine, alles dafür, schon in dieser Anfechtungserfahrung des Scheiterns den Beginn der reformatorischen Umorientierung zu sehen. Im besonderen Charakter der Anfechtung selbst liegt bereits eine grundlegende Veränderung der Bewegungsrichtung, die Luther ins Kloster führte. Denn indem er in sich nicht die freie Spontaneität einer reinen Gottes- und Nächstenliebe fand, sondern das Gift der Selbstsucht und einen Widerwillen gegen den Gott, der ihn mit seiner fordernden, richtenden und vergeltenden Gerechtigkeit in die Enge treibt, reiften in ihm das existentielle Eingeständnis und die theologische Erkenntnis, dass Gottes Heil nichts mit einer Qualität und Würdigkeit seiner Seele zu tun hat. Schon darin lag der Bruch mit einer mittelalterlichen Religiosität, die stets einen Kausalbezug zwischen der Tugendqualität und -aktivität des Menschen und dem Zielgewinn des ewigen Lebens lehrte. Auch theologisch, insbesondere kreuzestheologisch ist schwer zu begründen, weshalb man eigentlich nur in der getrosten und befreiten Freude der Heilsgewissheit die Wende zu einer reformatorischen Gottesbeziehung sehen soll, nicht aber auch bereits in einer neuen Dimension von Dunkelheit und Bitterkeit, Schmerz und Seufzen, in einer angsterfüllten Verzweiflung an Gott und sich selbst. Für Luther jedenfalls gehörten die zwei Seiten des Heilsweges untrennbar zusammen, sowohl in seinen autobiographischen Rückblicken als auch in der Architektur seiner Theologie: das erschreckende Gesetz und das beseligende Evangelium. Die erschütternde Anfechtung verstand er als notwendige Voraussetzung des glaubenden Vertrauens auf Gottes Verheißung allein133. In Gottes gütiger Führung sah 131
Den Begriff des „gedehnten Blickes“ habe ich aus einem ganz anderen, belletristischen Bereich übernommen. Ich verdanke ihn Wilhelm Genazino: Der gedehnte Blick, München/Wien 2004. 132 Zur heiklen Verwendung des Terminus ‚reformatorisch‘ vgl. oben S. 117. 133 Vgl. BRECHT: Martin Luther (wie Anm. 34), S. 59: „Was ihn selbst betraf, so hat er seine existenzerschütternden Erfahrungen als Mönch für notwendig gehalten für seinen späteren Angriff auf das Papsttum, also auf die Leitungsstruktur der Kirche.“
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er beides miteinander verklammert: die Nähe des richtenden Zorns und die Nähe der rettenden Gnade134.
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Vgl. z.B. Luthers Rückblick auf das Gewitter bei Stotternheim und seine etymologische Deutung des Gelübdes, das er damals der hl. Anna entgegengebracht haben will: „Hilff du, S. Anna, ich will ein monch werden! Sed Deus tum Hebraice meum votum intellexit: ‚Anna‘, id est sub gratia, non legaliter.“ WA.TR 4, S. 440,9-11, Nr. 4707 (16. Juli 1539) = Scheel: Dokumente (wie Anm. 9), S.154f., Nr. 423. Vgl. auch WA.TR 1, S. 134,32-35, Nr. 326: „Singulari Dei consilio factus sum monachus, ne me caperent. Alioqui essem facillime captus [scil. durch die Machenschaften Satans und seiner Agenten in der Papstkirche (?)]. Sic autem non poterant, quia es nham sich der gantz orden mein an.“
Volker Leppin
Mystisches Erbe auf getrennten Wegen: Überlegungen zu Karlstadt und Luther „Allein Luther nahm Anstoß an Karlstadts Ersetzung der Rechtfertigungslehre durch die Lehre von den Heilsstufen, an der Verselbständigung des Geistes gegen das Wort, an der Verdoppelung der praktischen Bewährung mit den sozialen Reformforderungen und vor allem auch an der Verletzung des Patronatsrechtes. Sein leidenschaftlicher Haß sah in ihm nur mehr einen Genossen Müntzers und unklaren Wirrkopf. So trieb er ihn ins Elend, aus dem ihn dann die über die Mystik milder denkenden Schweizer Kirchen erretteten.“1 Die wuchtige Charakteristik Ernst Troeltschs, der er allerdings fairerweise den Satz folgen lässt: „Der Gegensatz selbst aber war nicht ein persönlicher, sondern ein sachlicher“2, drückt die Diastase aus, in der man Luther und Karlstadt zu sehen pflegt. Beide sind geradezu zum Paradigma der unterschiedlichen Wege der Reformation geworden. Sie stehen symptomatisch für den Weg in die landeskirchliche, in der späteren Wahrnehmung meist auf ihre obrigkeitliche Dimension zugespitzte Reformation einerseits, in die spiritualistische Devianz andererseits – vor der Karlstadt, wie Troeltsch zu Recht betont, dadurch bewahrt wurde, dass er 1530 Zuflucht in Zürich fand und ab 1534, nun in Basel, sogar wieder in seinem alten Beruf, als Professor arbeiten konnte3. Luther selbst hat an diesem Bild gefeilt, sicher auch weil das Verhältnis zu Karlstadt auch für ihn selbst alles andere als geklärt gewesen zu sein scheint: Die Zurückdrängung innerhalb Wittenbergs nach den Wittenberger Unruhen, sein Wechsel nach Orlamünde und schließlich das Hinausdrängen aus Sachsen ohne Rücksicht auf die Schwangerschaft der Frau 1524 auf der einen Seite 1
ERNST TROELTSCH: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1994 (= Tübingen 1912), S. 880; vgl. zur historiographischen Situation W OLFGANG S IMON: Karlstadt neben Luther. Ihre theologische Differenz im Kontext der „Wittenberger Unruhen“ 1521/22, in: Gudrun Litz, Heidrun Munzert, Roland Liebenberg (Hg.): Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. Festschrift Berndt Hamm, Leiden/Boston 2005 (Studies in the History of Christian Traditions 124), S. 317–334. 2 TROELTSCH: Soziallehren, S. 880. 3 S. zu den äußeren Daten ULRICH B UBENHEIMER: Art. Karlstadt, in: TRE 17 (1988), S. 649–657: hier S. 653.
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Volker Leppin
stehen dem schwer erklärlichen Verhalten auf der anderen Seite gegenüber, dass Luther sich, als Karlstadt in Gefolge des Bauernkrieges in Bedrängnis kam, beim Kurfürsten für ihn verwandte4. Es zeichnet sich hier eine der komplexesten Freundschaftskonstellationen ab, die das 16. Jahrhundert kennt, aber es geht nicht nur um das biographische Detail: Auch die theologischen Wege sind viel enger verschlungen, viel stärker aufeinander bezogen, als es das scheinklare Verdikt des Schwärmertums5, das Luther über Karlstadt aussprach, im Nachhinein erscheinen lässt. Immerhin verband beide wenige Jahre lang eine intensive theologische Arbeitsgemeinschaft, in die Karlstadt wiederum bekanntlich sehr viel zögerlicher eingetreten war als manch anderer Wittenberger Weggefährte6. Es verband sie die Hinneigung zu Augustin, aber auch zu Staupitz7 und Tauler8 – und damit zu Autoren, in deren Werk sich spätmittelalterliche Mystik bündelt und vielleicht, im Falle Staupitz’, auch schon wieder bricht9. Beide haben sich sehr dezidiert als Christen wahrgenommen, für deren innere Entwicklung Staupitz eine, wenn nicht die entscheidende Rolle neben Augustin und der Bibel gespielt hat10. Die unterschiedlichen Folgerungen aber, die sie aus diesem mystischen Erbe gezogen haben, sind es, die sie am Ende in den Konflikt bringen, aus dem Luther als der Reformator Sachsens hervorgeht und Karlstadt als der Vertriebene und letztlich Gescheiterte, der mehrfach mit seinem eigenen Lebensentwurf bricht. Im Zuge einer Forschungssituation, in der die Frage nach der Bedeutung der Mystik für die Entwicklung der Reformation wieder verstärkte Aufmerksamkeit findet11, 4
WA.B 3, Nr. 920; vgl. auch WA.B 4, S. 134,52-63. S. zu diesem Konzept VOLKER LEPPIN: Art. Schwärmer, in: TRE 30 (1999), S. 628f. 6 S. hierzu JENS-MARTIN KRUSE: Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522, Mainz 2002 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 187), S. 86–89. 7 S. KRUSE: Universitätstheologie, S. 88. 8 Zu Karlstadts Tauler-Lektüre s. HENRIK OTTO: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und 16. Jahrhunderts, Gütersloh 2003 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 75), S. 241–254. 9 Zu Staupitz s. DAVID C. STEINMETZ: Luther and Staupitz. An Essay in the Intellectual Origins of the Protestant Reformation, Durham 1980; MARKUS WRIEDT: Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 141); B ERNDT HAMM: Johann von Staupitz (ca. 1468–1524) – spätmittelalterlicher Reformer und „Vater“ der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 92 (2001), S. 6–41. 10 S. hierzu VOLKER LEPPIN: Die Wittenbergische Bulle. Andreas Karlstadts Kritik an Luther, in: Mariano Delgado und Gotthard Fuchs (Hg.): Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung, Bd. 2, Stuttgart/Fribourg 2005 (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 2), S. 117–129. 11 T HEO BELL: Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux und Martin Luthers Schriften, Mainz 1993 (VIEG 148); ULRICH KÖPF: Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Bernhards von Clairvaux. Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Kaspar Elm 5
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scheint es daher sinnvoll, dieser doppelten, am Ende getrennten Rezeption mystischen Denkens nachzugehen. Die Ausgangslage ist dabei signifikant unterschiedlich: Luther ist Ordensmann, Karlstadt hingegen ist Weltkleriker12. Das bedeutete, dass Luthers Weg eine viel größere Wahrscheinlichkeit der Begegnung mit Elementen und Formen mystischer Theologie mit sich brachte. In der Tat gibt es Spuren dessen, dass er sich schon sehr früh in seinen Klosterjahren um mystische Erfahrungen bemühte: Kurz vor seinem Tod berichtet er einmal über Visionen und Ekstasen von Mönchen, die eigentlich, so seine späte Deutung, Werke des Teufels seien, und fügt dann hinzu: „Nam fui et ego in ista schola, ubi putavi me esse inter choros Angelorum, cumtamen inter Diabolos potius sim versatus.“13 Die Chöre der Engel stellen eine unverkennbare Anspielung auf das Corpus Dionysiacum dar, auf das er auch schon früh in seinem literarischen Werk rekurrierte14, so wie auch Bernhard von früh an immer wieder bei ihm begegnet: Die Prägungen mystischer Frömmigkeit und monastischer Theologie sind von früh an greifbar, und sie bleiben nachhaltig bestimmend. Allerdings kam für Luther der entscheidende Impuls für eine Aufnahme mystischen Denkens wohl von Staupitz, der ihn bekanntlich nach den Ereignissen um Luthers Romfahrt, die den jungen Erfurter Mönch zunächst auf Seiten der Opposition gegen den Generalvikar, dann aber nach dem (Hg.): Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 6), S. 5–65: hier S. 13f; BERNHARD LOHSE: Luther und Bernhard von Clairvaux, ebd. S. 271–301; VOLKER LEPPIN: „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), S. 7–25; OTTO: Tauler-Rezeption (wie Anm. 8); MARKUS WRIEDT: Mystik und Protestantismus – ein Widerspruch?, in: Johannes Schilling (Hg.): Mystik. Religion der Zukunft – Zukunft der Religion?, Leipzig 2003, S. 67–87; SVEN GROSSE: Wendepunkte der Mystik. Bernhard – Seuse – Luther, in: Frömmigkeit (wie Anm. 1), S. 281–295; VOLKER LEPPIN: Art. Mystik, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, S. 67–70; BERNDT HAMM und VOLKER LEPPIN (Hg): Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 36). 12 S. zu Karlstadts Biographie B UBENHEIMER: Art. Karlstadt (wie Anm. 3), S. 649– 654; HANS-PETER HASSE: Art. Karlstadt, in: RGG4 4 (2001), Sp. 820f. 13 WA 40/3, S. 657,35f. 14 WA 9, S. 63,6f; s. J OSEF WIENEKE: Luther und Petrus Lombardus. Martin Luthers Notizen anläßlich seiner Vorlesung über die Sentenzen des Petrus Lombardus Erfurt 1509/11, St. Ottilien 1995 (Dissertationen. Theologische Reihe 71), S. 84–88; zum Verhältnis Luthers zu Dionysios s. ERICH VOGELSANG: Luther und die Mystik, in: LutherJahrbuch. Göttingen 19 (1937), S. 32–54: hier S. 33-37. Dieser gelehrte Aufsatz von Erich Vogelsang bedarf allerdings der sensiblen zeithistorischen Einordnung (s. VOLKER LEPPIN: In Rosenbergs Schatten. Zur Lutherdeutung Erich Vogelsangs, in: Theologische Zeitschrift. Basel 61 [2005], S. 132–142).
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Scheitern der Mission in Rom sehr rasch auf seiner Seite gesehen hatten15, nach Wittenberg geholt und dort in ein besonderes Vertrauensverhältnis eingebunden hatte. Dass das Verhältnis weit über die persönliche Begleitung als Beichtvater hinausging und auch eine Prägung im theologischen Verständnis des Christentums einschloss, zeigt Luthers späte Bemerkung: „Staupicius hat die doctrinam angefangen.“16 Die Lehre des Staupitz braucht hier nicht eigens zum Gegenstand der Untersuchung gemacht zu werden17. Wichtig ist für den vorliegenden Zusammenhang allein, dass zu den vielen Stücken der theologischen Tradition, die Staupitz in eklektischer Manier zu integrieren verstand, auch mystische Elemente gehörten. Im neunten Kapitel seines Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis beschreibt Staupitz das Verhältnis zwischen der glaubenden Seele und Christus mit einem Bild, das durch Bernhard von Clairvaux zu grandioser mystischer Entfaltung gekommen ist: mit dem Bild von Braut und Bräutigam. Zwar schwankt er in seinem sprachlichen Bild zwischen kollektiver Anwendung der Metapher auf die Kirche und individueller auf die Seele, aber es ist doch letzte wenigstens mitgemeint in jenen Formulierungen, die die innigste Nähe zu Christus ausdrücken: „Die verbindung Christi und der kirchen ist volkumen, dergestalt: ‚Ich nim dich zu der meinen, ich nim dich mir, ich nim dich in mich‘; und herwiderumb spricht die kirche oder die seel zu Christo: ‚Ich nim dich zu dem meinen, ich nim dich mir, ich nim dich in mich‘; domit Christus also sprech: ‚Der christen ist mein, der christen ist mir, der christen ist ich‘; und die braut: ‚Christus ist mein, Christus ist mir, Christus ist ich‘.“18
Die Seele als Braut, Christus als Bräutigam, ein zwischen Possessiv- und Personalpronomina schwankendes Beziehungsgeflecht, in dem es kaum mehr möglich scheint, mit begrifflicher Sprache das Ineinander von Christus und Seele auszudrücken: Dies lässt sich nicht als ausgebildetes mystisches System begreifen, wohl aber als eine Aufnahme mystisch geprägter Denk- und Bildspuren, die etwas von dem ausdrücken, was Anfang des 16. Jahrhunderts im Umfeld der Reformatoren gedacht und von ihnen in mehr oder minder ausgeprägtem Maße auch rezipiert wurde: Das Buch von der ewigen Prädestination war auf Grundlage von 1516 in Nürnberg gehaltenen Predigten im Februar 1517, am unmittelbaren Vorabend der Reforma-
15
S. hierzu VOLKER LEPPIN: Martin Luther, Darmstadt 2006, S. 60f. WA.TR 1, S. 245,12 (Nr. 526). 17 Leben und Lehre von Staupitz sind in den letzten Jahren mehrfach gründlich untersucht worden; s. STEINMETZ: Luther and Staupitz (wie Anm. 9); WRIEDT: Gnade und Erwählung (wie Anm. 9); HAMM: Johann von Staupitz (wie Anm. 9). 18 JOHANN VON STAUPITZ: Sämtliche Schriften. 2. Lateinische Schriften: Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis, hg. von Lothar Graf zu Dohna und Albrecht Endriss, Berlin/New York 1979 (Spätmittelalter und Reformation 14), S. 145–147. 16
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tion im Druck erschienen19 und ist somit auch ein Indiz für die in Wittenberg bei von Staupitz geprägten jungen Theologen wahrgenommene Theologie. Und diese war zwar nicht ohne Weiteres mystisch, sie enthielt aber mystische Elemente. So kann es auch nicht überraschen, dass es in Wittenberg auch zu direkter Begegnung mit der deutschsprachigen Mystik des 14. Jahrhunderts kam20: Henrik Otto hat gezeigt, dass um 1500 die verschiedenen Drucke der Predigten Johannes Taulers (die faktisch auch einige Eckhart-Predigten enthielten) nirgendwo so intensiv gelesen und von so vielen Lesern mit Annotationen versehen wurden wie in Wittenberg21 – und hier präzise im Einflussbereich des Johannes Staupitz: Nicht nur von Martin Luther sind berühmte Anmerkungen zu Tauler erhalten, sondern auch von Johann Lang, Justus Jonas und Andreas Karlstadt22. Und damit tritt nun auch der selbst überhaupt nicht monastisch geprägte Andreas Karlstadt in den Kreis jener ein, die von monastisch gefärbter Theologie geprägt wurden. Das ist insofern nicht verwunderlich, als die Wittenberger Universität – letztlich wohl auch aus pekuniären Gründen, weil man auf die vergleichsweise billigen Lehrer aus dem Bettelorden angewiesen war23 – von Anfang an eng mit dem Orden der AugustinerEremiten, insbesondere aber mit Johannes Staupitz verbunden war: Staupitz war der erste Dekan der Theologischen Fakultät gewesen und hatte diese markant geprägt, bis er 1512 seine Professur24 an Martin Luther abgab. Karlstadt war kurze Zeit, seit seiner Berufung 1511, sein Kollege gewesen – freilich ein deutlich jüngerer Kollege: Staupitz war wohl Jahrgang 1468, Karlstadt 1486. Er war ihm begegnet und auch seinem Einfluss erle19
WRIEDT: Gnade und Erwählung (wie Anm. 9), S. 7. Die Rede von der „Deutschen Mystik“ für dieses Phänomen geht auf den HegelSchüler Karl Rosenkranz zurück und ist in ihren nationaltypologischen Kategorienbildungen schwerlich geeignet, das internationale Phänomen spätmittelalterlicher Mystik adäquat zu beschreiben; s. VOLKER LEPPIN: Die christliche Mystik, München 2007, S. 96f. 21 OTTO: Tauler-Rezeption (wie Anm. 8), S. 175–182. 22 Zu dessen Randbemerkungen zu Tauler s. HANS-P ETER HASSE: Karlstadt und Tauler. Untersuchungen zur Kreuzestheologie, Gütersloh 1993 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 58), S. 23–89; DERS.: Tauler und Augustin als Quelle Karlstadts: am Beispiel von Karlstadts Marginalien zu Taulers Predigt zum Johannistag über Lk 1,5-23, in: Sigrid Looß und Markus Matthias (Hg.): Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486–1541). Ein Theologe der frühen Reformation, Wittenberg 1998, S. 247–282. 23 Vgl. HEINER LÜCK: Art. Wittenberg, Universität, in: TRE 36 (2004), S. 232–243: hier S. 232. 24 Es handelte sich hierbei wie U LRICH KÖPF: Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, in: Irene Dingel und Günther Wartenberg (Hg.): Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602, Leipzig 2002 (Leucorea-Studien 5), S. 71–86, gezeigt hat, nicht, wie oft zu lesen, um eine spezielle „Bibelprofessur“. 20
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gen. Die Situation der Universität Wittenberg ermöglichte es also, dass genuin monastisches Denken weit über die Kreise der klösterlich gebundenen Lehrer und Studenten hinaus prägend wurde. Wie groß seine Bedeutung war, zeigt die Tatsache, dass geradezu konkurrierend sowohl Martin Luther als auch Andreas Karlstadt ihre theologische Entwicklung ganz entscheidend auf Staupitz zurückführten, und dies in ganz ähnlicher Weise. Beide haben einen Bekehrungsbericht verfasst, in dem Staupitz eine prominente Rolle zukommt25: Der Bericht Luthers stammt aus dem Jahre 1518. Er findet sich in dem Widmungsschreiben zu den Resolutiones26, in dem Luther Staupitz seine bisherige Entwicklung darlegen will, und hat vermutlich für ein Verständnis von Luthers früher theologischer Entwicklung ein größeres Gewicht als das lange Zeit im Vordergrund der Behandlung dieser Frage stehende „Große Selbstzeugnis“ von 154527, zu dem er im Übrigen strukturell auffällige Ähnlichkeiten aufweist28: Luther berichtet wie später 1545 auch 1518 schon einmal davon, wie ihm ein bislang unverständliches beziehungsweise verhasstes Wort nun besonders angenehm, „süß“, geworden sei – nur dass es im späten Selbstzeugnis von 1545 das Wort „iustitia“ ist, in dem Selbstzeugnis von 1518 hingegen die poenitentia. In beiden Fällen macht Luther durch die gewählte Bildlichkeit deutlich, dass die Entdeckung der neuen Wortbedeutung einen Erschließungscharakter im Blick auf das Jenseits hat, der über bloß immanente philologische Entdeckungen hinausgeht – einmal redet er von den Pforten des Paradieses, die ihm geöffnet wurden, das andere Mal von einer Stimme wie vom Himmel, womit er die Stimme des Johannes von Staupitz meint. Und in beiden Fällen folgt auf diese Entdeckung eine Überprüfung und Bestätigung des Gefundenen an der gesamten Heiligen Schrift: Die Entdeckung hat hermeneutischen Zentralcharakter. Da das von Luther hier beschriebene Ereignis in die Zeit unmittelbar vor der Begegnung mit dem Neuen Testament des Erasmus fällt, die
25
Zum Folgenden s. LEPPIN: Wittenbergische Bulle (wie Anm. 10). WA 1, S. 525–527; LDStA 2, S. 17-23. 27 S. Bernhard Lohse (Hg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (Wege der Forschung 123); ders. (Hg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart/Wiesbaden 1988 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 25). 28 S. hierzu LEPPIN: „Omnem vitam ...“ (wie Anm. 11) mit Einzelnachweisen und ausführlicherem Argumentationsgang; vgl. zur großen Bedeutung des Textes bei aller Kritik an meiner Deutung auch M ARTIN B RECHT: Luthers neues Verständnis der Buße und die reformatorische Entdeckung, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 101 (2004), S. 281–291. 26
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ihrerseits in die Frühphase der Römerbriefvorlesung zu datieren ist29, kommt man bei dem beschriebenen Sachverhalt genau in die Zeit, in der Luther intensiv mit Johannes Tauler befasst war30 – eine ungefähre Datierung, zu der es gut passt, dass Luther wenige Wochen vor dem Widmungsschreiben einen anderen Brief an Staupitz verfasst hatte, in dem er erklärt hatte, er habe mit seiner Lehre doch nichts vertreten wollen als das, was Johannes Tauler und die Theologia Deutsch lehrten31. Das eben beschriebene Ineinander von Anleitung durch Staupitz und Lektüre Johannes Taulers scheint auch hinter dieser Selbstdeutung zu stehen und wird von Luther nun als entscheidender Anstoß für eine theologische Wende gedeutet. Allein schon dies macht übrigens deutlich, wie wenig hilfreich es ist, bei Luther nach einem greifbaren „reformatorischen Durchbruch“ zu suchen: Luther beschreibt offenkundig einen Vorgang, der in psychologischer Hinsicht alle Züge einer plötzlichen Wende trägt – aber inhaltlich will er betonen, dass diese Wende in voller Kontinuität mit Staupitz und Tauler erfolgt ist. Die gelegentlich bruchartige, impulsive Selbstbeschreibung seiner Entwicklung durch Luther darf nicht dazu verführen, den Bruch zum Muster seines Lebens zu machen. Es handelt sich hier vielmehr um autobiographische Verdichtungen und Pointierungen, deren entscheidende Botschaft aber die ist: Staupitz hat ihn zu neuen Erkenntnissen gebracht, und diese neuen Erkenntnisse sind nach seiner eigenen Wahrnehmung inhaltlich mit dem identisch, was die spätmittelalterliche Mystik gelehrt hat: „Ego sane secutus theologiam Tauleri et eius libelli, quem tu nuper dedisti imprimendum Aurifabro nostro Christianno“32,
so schreibt Luther am 31. März 1518 an Staupitz und drückt damit sein Bewusstsein aus, nicht über Tauler und die Theologia Deutsch hinausgegangen zu sein, also im Kontinuitätsstrom der spätmittelalterlichen deutschsprachigen Mystik zu stehen33. Der Luther, der mit den Ablassthe29
Der Erasmus-Text erschien am 1. März 1516 in Basel (s. KURT ALAND und B ARALAND: Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart ²1989, S. 13). Luther benutzte ihn spätestens von seiner Auslegung von Röm 9,19 an (WA 56, S. 400,15). 30 S. LEIF GRANE: Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515–1518), Leiden 1975 (Acta theologica Danica 12), S. 121f.; ebenso STEVEN E. OZMENT: Homo spiritualis, Leiden 1969 (Studies in medieval and Reformation thought 6), S. 185; KARL-HEINZ ZUR MÜHLEN: Nos extra nos, Tübingen 1972 (Beiträge zur historischen Theologie 46), S. 97. Schon zu Röm 8 – also vor der Benutzung des Erasmus – verweist Luther in der Römerbriefvorlesung ausdrücklich auf Tauler (s. WA 56, S. 378,13). 31 WA.B 1, S. 160,8f.; vgl. LEPPIN: „Omnem vitam …“ (wie Anm. 11), S. 7. 32 WA.B 1, S. 160,8f.; vgl. hierzu ALPHONS V. MÜLLER: Luther und Tauler auf ihren theologischen Zusammenhang neu untersucht, Bern 1918, S. 23f. 33 Vgl. hierzu LEPPIN: „Omnem vitam …“ (wie Anm. 11), S. 7. BARA
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sen schon längst zu einem bekannten Fall öffentlichen Lebens geworden ist, er legt ein Bekenntnis zur Kontinuität zwar nicht zum Mittelalter insgesamt ab – das wäre spätestens seit der Disputatio contra scholasticam theologiam34 schwerlich möglich –, aber zu einem gewichtigen Strom mittelalterlicher Theologie: der Taulerschen Mystik. Dass er dies mit Staupitz verbindet, erhöht die Gemeinsamkeit mit Andreas Karlstadt, mit dem ihn ja auch die Taulerlektüre verbindet: Auch von Karlstadt gibt es einen Bericht über eine Art Bekehrung unter Staupitz’ Einfluss35. Dieser Bekehrungsbericht ist früher als der Luthers – er ist in Zusammenhang mit der Publikation der ersten Bögen seines Kommentars zu De spiritu et littera erschienen, also wohl Mitte Januar 151836. Und er findet sich in einem auf den 18.11.1517 datierten37 Widmungsschreiben, das sich wie das Resolutiones-Widmungsschreiben Luthers an Staupitz wendet und betont, dass die Bekehrung von Staupitz angestoßen wurde. Diese Parallele ist frappierend – auch wenn der Gesamtkontext bei Karlstadt dann doch deutliche Unterschiede zu Luther aufweist: Zum einen liegt der Unterschied schlicht in der Tatsache, dass bei seiner durch Staupitz angestoßenen Bekehrung durchaus schon Luther im Spiel war. Karlstadt hatte sich, diese Hinweise sind berühmt, in Leipzig eine AugustinAusgabe beschafft, um seinen Wittenberger Kollegen zu widerlegen38 und hatte dann die ihn wissenschaftlich ehrende, persönlich aber offenkundig zunächst verunsichernde Erfahrung gemacht, dass diese Widerlegung jedenfalls auf Grundlage der Schrift und Augustins nicht möglich war. In dieser Situation eröffnete ihm Staupitz die dulcedo Christi39, und Karlstadt begann nun nicht wie Luther die Schrift durchzuarbeiten, aber doch ausdrücklich und in Absetzung von den Scholastikern die Väter40. Liest man solche Texte in formgeschichtlicher Perspektive, so fällt in der Abfolge der Ereignisse eine Ähnlichkeit zu Luthers Bekehrungsbericht 34
S. zu ihr nach wie vor grundlegend LEIF GRANE: Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra scholasticam theologiam, Kopenhagen 1962 (Acta theologica Danica 4). 35 Auf den Bekehrungsbericht Karlstadts hat MARKUS MATTHIAS: Die Anfänge der reformatorischen Theologie des Andreas Bodenstein von Karlstadt, in: Ulrich Bubenheimer und Stefan Oehmig (Hg.): Querdenker der Reformation – Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung, Würzburg 2001, 87–109, neu die Aufmerksamkeit gelenkt; vgl. zur Deutung auch LEPPIN: Wittenbergische Bulle (wie Anm. 10). 36 Die entscheidenden Passagen lagen spätestens Mitte Januar 1518 im Druck vor; s. ERNST KÄHLER: Karlstadt und Augustin. Der Kommentar des Andreas Bodenstein von Karlstadt zu Augustins Schrift De spiritu et littera, Halle 1952, S. 48 *. 37 ANDREAS KARLSTADT: Kommentar zu De spiritu et littera, in: KÄHLER: Karlstadt und Augustin, S. 1–134: hier S. 6,18f. 38 Ebd. S. 5,4-7. 39 Ebd. S. 5,16-21. 40 Ebd. S. 5,21-23.
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auf: die Reihenfolge einer Eröffnung der dulcedo Christi und eines dadurch ausgelösten intensivierten und unter neue Vorzeichen gesetzten Studiums. Freilich wird man die Parallele nicht zu weit treiben können, auch wenn die Betonung der Erkenntnis der Gnade bei Karlstadt natürlich unverkennbare Nähen zu Luthers Theologie aufweist: Dessen durch Staupitz gelöste Fragestellung war jedenfalls eine spezifischere, letztlich philologische, nach der Bedeutung des Begriffes poenitentia. Doch auch ohne inhaltliche Vertiefung bleibt die Parallele bemerkenswert: Man hat es mit zwei in großer zeitlicher Nähe verfassten Bekehrungsberichten zu tun, die beide Staupitz als den Urheber der Bekehrung zur neuen Theologie identifizieren, wobei diese neue Theologie wohl in beiden Fällen nicht ohne weiteres mit einer ausgearbeiteten reformatorischen Theologie gleichzusetzen ist. Betrachtet man die Abfolge, so ist schwer von der Hand zu weisen, dass Luther in seiner eigenen Vorrede Karlstadts Hinweis auf Staupitz nachgeahmt hat. Jedenfalls kannte er Karlstadts Text: Am 18. Januar 1518 schrieb er an Spalatin, dass Karlstadts Kommentar erschienen sei41. Als er also einige Monate später von seiner durch Staupitz erfolgten Bekehrung schrieb, tat er dies im Wissen um Karlstadts parallelen Bericht – und rückte wohl zugleich die Verhältnisse zurecht: Während Karlstadt von einer relativ frischen, erst im Jahr 1517 erfolgten Bekehrung sprach, hatte Luther seine eigene schon vor längerer Zeit erfahren, war also gewissermaßen der Erstbekehrte. Es spricht also viel dafür, dass der Bekehrungsbericht im Widmungsschreiben zu den Resolutiones eine Stilisierung ist – was dann freilich aller historischen Wahrscheinlichkeit nach den stilisierenden rekonstruktiven Charakter des sogenannten Großen Selbstzeugnisses nur noch mehr unterstreicht42. Das ist für den vorliegenden Zusammenhang jedoch von geringerer Bedeutung als das auffällige Hin und Her der Berichte: Karlstadt weiß sich von Luther geprägt, benennt aber in seinem Bekehrungsbericht als entscheidend für seine innere Kehrtwende Staupitz, Luther seinerseits kontert wenig später mit einem Bericht, aus dem hervorgeht, dass er schon viel früher von Staupitz bekehrt wurde als Karlstadt. Was sich ausnimmt wie der eitle Streit um die geistliche Primogenitur läuft in der Sache darauf hinaus, dass beide sich in eben der Zeit, in der sie sich, unter anderem im 41
WA.B 1, S. 134,47-49 (Nr. 57). S. hierzu LEPPIN: „Omnem vitam …“ (wie Anm. 11), S. 12f. Bei BRECHT: Verständnis der Buße (wie Anm. 28), der sich intensiv mit meiner Analyse auseinandersetzt, scheint mir letztlich das Verhältnis der beiden Erinnerungsberichte Luthers ungeklärt: Wenn sie, wie Brecht S. 290 schreibt, „von demselben Ereignis und von derselben Sache“ handeln, müsste doch wohl dem früheren Bericht die Priorität zukommen. Dann aber wäre das berichtete Ereignis nicht nur früher als bislang von Brecht angenommen, sondern hätte auch einen anderen Inhalt, nämlich poenitentia statt iustitia. 42
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Zusammenhang mit paralleler Tauler-Lektüre auf den Weg zu einer neuen augustinischen Theologie machten, als in besonderer Weise von Staupitz geprägt sahen, von einem Staupitz, der ihnen Augustin vermittelt hatte, aber auch das Erbe der spätmittelalterlichen Mystik. Die folgende Entwicklung der beiden verlief dann fast chiastisch: Während Luther die mystischen Spuren immer stärker in ein neues Gesamtverständnis des Reformatorischen transformierte, behielt Karlstadts reformatorischer Ansatz einen genuin mystischen Kern, ja, wurde bis in die Mitte der zwanziger Jahre immer ausgeprägter mystisch. Für Luther bedeutete die um 1515 anzusetzende „Bekehrung“ durch Staupitz offenkundig vor allem die Hinwendung zu Christus allein, jenes Solus Christus, das zu einer der Ausschließlichkeitsformeln werden sollte, mit denen sich die reformatorische Botschaft fortan klar und eindeutig beschreiben ließ und lässt43. Der zunehmende Augustinismus ist am Frühesten klar zu fassen in der Quaestio de viribius et voluntate hominis sine gratia disputata, deren Thesen Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch 1516 aufgrund der Vorlesungen zusammenstellte und im September 1516 disputierte. Die Thesen zeichneten sich durch eine antischolastische Zuspitzung und den reichen Gebrauch des antipelagianischen Augustin aus44. Das Solus Christus hatte sich hier manifest zu einem Sola gratia entwickelt, das freilich immer noch einem Augustinismus entsprang, der nicht gegen Staupitz formuliert war, sondern mit ihm: Im Advent desselben Jahres hielt Staupitz jene Predigten, aus denen dann der „Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis zusammengestellt wurde, und darin heißt es: „Demnach ist den erwelten nit allein die fordrung, sunder auch die rechtfertigung pflichtbar, ich sag die rechtfertigung, dodurch der ubertreter widerbracht werde zu der waren gehorsam gots; das denn geschicht, wann durch die gnad gots sein augen widerumb erofnet werden, das er den waren got erkenn durch den glouben, und sein herz enzündet wirdet, das im got wolgefalle. Das ist beiderseits ein lautere gnad, und die auß dem verdinstnuß Christi – vorsehen oder erzeigt – ausfleust, darzu unsere werk nichts tun noch tun mögen; wann die verlasen natur hat weder erkennen, noch wöllen, noch etwas guts tun, der auch got selbst erschrockenlich ist.“45
Mit Augustin und Staupitz allein die Gnade: Das war das Programm, das 1516 die Wittenberger Bewegung bestimmte, und das Luther am 18. Mai 1517 zu dem stolzen Brief an Johann Lang bringen konnte: „Theologia nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant in nostra universitate Deo operante. Aristoteles descendit paulatim inclinatus ad ruinam prope futuram sempiternam. Mire fastidiuntur lectiones sententiariae, nec est, ut quis sibi auditores 43
Vgl. zu den Etappen, in denen Luther das reformatorische solus-Denken entwickelte, jetzt LEPPIN: Martin Luther (wie Anm. 15), S. 116f. 44 KRUSE: Universitätstheologie (wie Anm. 6), S. 81. 45 JOHANN VON STAUPITZ: Libellus (wie Anm. 18), S. 110–112.
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sperare possit, nisi theologiam hanc, id est bibliam aut S. Augustinum aliumve ecclesiasticae auctoritatis doctorem velit profiteri. Vale et ora pro me.“46
Gegen Aristoteles mit Augustin: Das war das Programm, das verfochten wurde, und es war, noch, ein Programm der Theologiereform an der Universität. Die Kampfgemeinschaft mit Karlstadt schlossen diese Formulierungen noch ein, ja, diese Kampfgemeinschaft gewann geradezu öffentlichen Ausdruck in der Leipziger Disputation, die bekanntlich beide gemeinsam bestritten, in der Karlstadt ja geradezu der zunächst von Eck in den Blick Genommene war, Luther aber dann von Eck zu den brisantesten Punkten vorangetrieben wurde. Eck wollte Luther zeigen, dass das, was er lehrte, schon von anderen gelehrt worden sei: von Wyclif und Hus47. Je mehr Eck insistierte, desto stärker wurde Luther zu Konsequenzen gezwungen48: Schließlich sah sich Luther genötigt, zuzubilligen, dass unter den Lehren des Hus viele ganz christlich gewesen seien49, und musste hieraus die Konsequenz ziehen, dass auch Konzilien irren konnten: „Also gibt man uns ins Maul, daß wir, wir wollen oder wollen nit, sagen müssen: Das Concilium hat geirret“50. Damit war er im Zuge der Diskussion, getrieben durch seinen intellektuell hochrangigen Gegner, zu dem Ergebnis gekommen, dass es für theologische Streitfragen keine innerkirchlich institutionelle Größe geben konnte, der die Entscheidungskompetenz zukam. Übrig blieb naheliegender Weise die Schrift allein – eine Konsequenz, die allerdings Melanchthon für Luther in den Thesen zog, die er am 9. September 1519 vorlegte, um den Grad eines Baccalaureus Biblicus zu erlangen51. Darin findet sich nicht nur der Satz, der die unmittelbare Folgerung aus der Leipziger Disputation zog: „Conciliorum auctoritas est infra scripturae auctoritatem“ (These 17)52, sondern als 16. These auch der Satz: „Catholicum praeter articulos, quorum testis est scriptura, non est necesse alios credere“53 – und in den folgenden Thesen zog Melanchthon dann 46
WA.B 1, S. 99,8-13 (Nr. 41). WA.B 1, S. 468,124f (Nr. 192). Zum differenzierten, sich wandelnden Verhältnis Luthers zu Hus s. SCOTT H. HENDRIX: „We Are All Hussites“? Hus and Luther Revisited, in: Archiv für Reformationsgeschichte 65 (1974), S. 134–161. 48 Vgl. hierzu LEIF GRANE: Martinus noster. Luther in the German Reform Movement 1518–1521, Mainz 1994 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 155), S. 100f. 49 OTTO SEITZ (Hg.): Der authentische Text der Leipziger Disputation (1519). Aus bisher unbenutzten Quellen, Berlin 1903, S. 87. 50 WA.B 1, S. 471,218f (Nr. 192). 51 Zur Autorschaft s. W ILHELM MAURER: Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation. Bd. 2, Göttingen 1969 (= ebd. 1996), S. 101–103. 52 Melanchthons Werke, hg. von Robert Stupperich. Bd. 1: Reformatorische Schriften, Gütersloh 1951, S. 24,31f. 53 Ebd. S. 24,29f. 47
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auch die Konsequenz, dass anhand dieses Prinzips bestimmte kirchliche Lehren wie etwa die auf dem Vierten Laterankonzil 1215 beschlossene Transsubstantiationslehre nicht mehr verpflichtend und ihre Leugnung keine Häresie sei54 – so klar war trotz einzelner hieran reichender Formulierungen55 bis dahin das Schriftprinzip noch nicht zur Anwendung nicht nur gegen das Kirchenrecht und päpstliche Verlautbarungen, sondern auch gegen Konzilsbeschlüsse gekommen: Allein die Schrift sollte nun zur Grundlage christlicher Lehre herangezogen werden56. Luther hat die Radikalität Melanchthons ebenso bemerkt wie die Übereinstimmung mit seinem Programm: „Philippi positiones ... auduculas, sed verissimas“57. Damit war in jedem Falle ein klares Instrument zur theologischen Beurteilung gefunden, das auch mit dazu half, die Ausschließlichkeit Christi und der Gnade auf die Ausschließlichkeit des Glaubens bei der Heilsvermittlung zuzuspitzen. Spätestens im Sermon von den guten Werken hat reformatorische Theologie in diesem Sinne ihre volle Gestalt gewonnen. Beobachten lässt sich das Vordringen der Glaubensdimension als Antwort auf das Verheißungswort bereits in der Heidelberger Disputation und ihren Erläuterungen: Die These 25 stellt in aller Schärfe die sich wiederholenden Werke der einen Grundhaltung des Glaubens gegenüber und gründet allein auf diesen das Heil58. In den Jahren 1518 bis 1520 also entwickelt sich, mit ineinander verschlungenen Gedankengängen das von Staupitz angestoßene Bekenntnis zu Christus allein, das durch Augustinlektüre zu einem „allein durch Gnade“ weiterentwickelt worden war, zu einer Betonung der Alleinigkeit der Schrift als Grundlage des Lehrens und Glaubens und einer 54
Ebd. S. 25,1f. Vgl. etwa WA.B 1, S. 171,72-74 (Nr. 74), wo Luther am 9. Mai 1518 gegenüber seinem Erfurter Lehrer Trutfetter bekennt, von ihm habe er gelernt, allein auf die kanonischen Schriften zu vertrauen („solis canonicis libris deberi fidem“) – allein schon die Tatsache, dass Luther dies auf seinen scholastischen Lehrer zurückführt, macht deutlich, dass etwas anderes gemeint ist als das reformatorische Schriftprinzip. 56 Zu dieser Deutung der Baccalaureatsthesen s. KRUSE: Universitätstheologie (wie Anm. 6), S. 227. 57 WA.B 1, S. 514,33f. (Nr. 202). 58 StA 1, S. 210,19–211,4 – wegen der durch Helmar Junghans geschaffenen deutlich verbesserten Textgrundlage ist für die Heidelberger Disputation stets die Studienausgabe heranzuziehen; vgl. auch LDStA 1, S. 35–69. Für die Formulierung der Glaubensausschließlichkeit ist selbstverständlich auch die von OSWALD B AYER: Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt ²1989, S. 182–202, ins Spiel gebrachte Thesenreihe „pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones“ heranzuziehen, die grob in den Frühsommer 1518 zu datieren ist, also jedenfalls auch der Heidelberger Disputation zeitlich nahe steht; löst man sich von dem Konzept eines „Durchbruchs“, so wird man schwerlich diese oder jene Schrift als die eine und erste mit einem bestimmten Gedanken bezeichnen – und braucht dies zum Verständnis Luthers auch nicht. 55
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Alleinigkeit des Glaubens zur Vermittlung der Gnade an den Menschen. Mit dem Jahr 1520 kann man die Theologie Luthers – in aller gebotenen Vorsicht59 – als reformatorisch ansprechen, und gleichwohl beobachten, dass damit den Wurzeln bei Staupitz und mystischem Denken noch keineswegs Abschied gegeben wurde. Berühmt ist die Formulierung aus der Freiheitsschrift: „Nit allein gibt der glaub ßovil, das die seel dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey und selig, sondernn voreynigt auch die seele mit Christo, als eyne brawt mit yhrem breudgam”60,
die mit der Aufnahme des Brautbildes für die Beziehung zwischen Glaubendem und Christus nicht nur an Bernhard von Clairvaux, sondern eben auch an Staupitz anknüpft: Luthers Orientierung an Staupitz ist nun weiter vorhanden, sie ist freilich in einen neuen, klar wort- und rechtfertigungstheologisch orientierten Rahmen eingezeichnet. So kann man für das Jahr 1520 für Luther annehmen, dass die mystischen Stellen, die auch weiterhin nicht ganz ausbleiben, in ihrem systematischen Stellenwert zugunsten einer schrifttheologischen Begründung der Heilszueignung von außen, dezidiert nicht aus dem Inneren des Menschen, an Gewicht verlieren. Bei Karlstadt läuft die Entwicklung anders: Der Kommentar über „De spiritu et littera“ ist noch recht zurückhaltend im Gebrauch mystischer Formeln und Gedanken: Er nimmt zwar das Begriffspaar des homo interior und exterior auf61, das ihm aus Tauler vertraut sein musste, aber auch aus Paulus (2 Kor 4,16) und selbstverständlich Augustin. Es bestätigt eher den Zusammenklang von Augustinismus und Mystik, als dass es sich ausschließlich auf mystische Wurzeln beziehen ließe. Auch wenn Karlstadt das Gottesverhältnis des Menschen als inspiratio und infusio62 deutet, was sich mystisch verstehen lässt, so fällt doch auf, dass gerade Zusammenhänge, die geradezu klassisch für mystische Deutungen wären, eine eher geringe Zuspitzung in dieser Richtung erfahren. So deutet Karlstadt Phil 2,13 („Deus operatur in nobis“) gerade nicht im Sinne der Überschreitung der Subjekt-Objekt-Grenze zwischen Gott und Mensch, sondern in deren Aufrechterhaltung: „Christus facit nos facere“63. Ernst Kähler hat das Phänomen, dass sich in Karlstadts Schriften bis 1519 nur ein sehr geringer Niederschlag seiner Tauler-Lektüre findet, einleuchtend damit erklärt, dass „er nicht die Freiheit besaß, ‚erbauliches Schrifttum‘ auch in der gelehrten
59
S. hierzu VOLKER LEPPIN: Wie reformatorisch war die Reformation?, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), S. 162–176. 60 WA 7, S. 25,26-28; StA 2, S. 275,19-21. 61 KARLSTADT: Kommentar (wie Anm. 36), S. 27,21ff. 62 Ebd. S. 95,29. 63 Ebd. S. 18,17-20.
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theologischen Diskussion zu verwenden“64. Tatsächlich dürfte ein Gutteil des Phänomens Luther damit zu erklären sein, dass dieser eine solche Scheu nicht besaß65. Henrik Otto sieht als eines der bemerkenswerten Phänomene der Wittenberger Reformation geradezu, dass insbesondere Luther, aber auch Melanchthon, Tauler „universitätsfähig“ machten66, und dürfte damit einen sehr wichtigen Punkt des Sprachebenenwechsels markiert haben, an dem Karlstadt zunächst in diesem Maße nicht partizipierte. Er bleibt aber darum keineswegs unberührt von Tauler. In einer groß angelegten Studie hat Hans-Peter Hasse gezeigt, dass Karlstadt ganz entscheidende Impulse aus seiner Tauler-Lektüre empfing und diese immer prägender für sein Gesamtverständnis von Theologie wurden67. Es ist dies insbesondere der Zusammenhang von Gelassenheit, Kreuz und Leiden. Vor allem die „Gelassenheit“ als eine klassische mystische Begriffsprägung wird, wie Hasse in einer sehr geglückten Formulierung schreibt, zur „Existenzform eines theologischen Entwurfs“68. Zentral hierfür ist die Schrift: „Was gesagt ist: sich gelassen“, die Karlstadt 1523 als „newer lay“ veröffentlichte69. Sie ist auch deswegen so bemerkenswert, weil auch hier das Bild von der Ehe zwischen Gläubigem und Christus wieder begegnet, das von Staupitz an die Wittenberger weitergegeben und auch von Luther nicht aufgegeben worden war: „Das ist auch die ursach das zwischen got und ainer gleübige seele ain warhafftig vermehlung und ee steet / unnd darumb nennet sich Christus ainen preütigam / und gott zeyten unsern man Osee. 2. Hie. 3. zeyten unser weyb. Esaie. 46.”70
Aber während dies bei Luther ein Bild bleibt, in dem die Unterschiedenheit stark bleibt, dringt Karlstadt von der Unterschiedenheit zur letztlichen Einheit vor und gibt dem Bild seine ganze mystische Kraft zurück: „Das wir auß eelicher veraynung und pflicht sollen versteen / wölcher weyse wir alle ding gelassen und got allain anhangen sollen / und dadurch lernen/ dz wir flaysch und gepayn von Christo haben/ und zway ding in ainem gayst sein sollen / als mann und weyb zwuo person in ainem flaysch sind (...) Auf das wir durch absterben unsers aygen willens / in seinem götlichem willen leben / und werden ain ding mit got / als Christus
64
KÄHLER: Karlstadt und Augustin (wie Anm. 36), S. 45*. Vgl. zu den sprachlichen Brücken zwischen Mittelhochdeutschem und Lateinischem ZUR MÜHLEN: Nos extra nos (wie Anm. 30), S. 98. 66 OTTO: Tauler-Rezeption (wie Anm. 8), S. 181. 67 HASSE: Karlstadt und Tauler (wie Anm. 22). 68 HASSE: Karlstadt und Tauler (wie Anm. 22), S. 184. 69 Was gesagt ist: Sich gelas=| sen. Unnd was das wort gelassenhait | bedeüt / und wa es in hayliger | schryfft begryffen. | Andres Bodenstein von | Carolstat ain newer lay, [Augsburg: Ulhart] 1523. 70 Ebd. S. A 3 r. 65
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und got aines ewigen willens geweßt seind / und unverenderlich bleyben. Das alles durch anhangung zuo got geschicht.“71
Wie eng diese mystischen Töne mit Karlstadts Existenz verbunden sind, macht dieselbe Schrift deutlich, in der Karlstadt aufgrund der skizzierten Grundhaltung zu einer Polemik gegen die Titelsucht der Universitäten ansetzt72 – und damit seine Orlamünder Lebensphase mit ihrem Abschied aus der Universität als Ausdruck eben jener mystischen Haltung der Gelassenheit deutet. Tatsächlich wurde Orlamünde damit zu einer Art Verwirklichungsform mystischer Existenz. In gewisser Weise kann man sogar sagen, dass das Karlstadtsche kleine Gemeinwesen der Orlamünder, insofern es eine Art Gegenbild zur vorfindlichen Welt darstellte und lebte, implizite Züge monastischer Weltflucht trug und somit auch ein eigengeprägter Ausdruck dessen war, was Bernd Moeller in Anlehnung an Johannes Schilling als charakteristisch für die Reformation insgesamt beschrieben hat: dass sie als „neues Mönchtum“ zu verstehen ist73, wenn auch eben in Orlamünde in ganz anderer Weise als in der oben angeführten Wittenberger Transformation. Der Nachbar Andres war eben vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er auf die äußeren Ehren seines professoralen Berufsstandes verzichtet hatte. Der Verzicht auf Äußeres, den er lebte, war auch zentraler Gegenstand seiner Lehre in diesen Jahren: „Welcher der mannigfaltigkeit feynd wirt/ unnd verlasset das / das sein seel zerspeltet und zerteylet / der wirt ein eyniges gantze / und kumbt in seine eynige inwendigkeit und gantzheit / und mag das edel werck Gottes an sich nehmen. Kanstu das nit versteen / so merck darauf, das das hertz bloß muß werden von allen creaturischen kleyderen oder bildnüß“74,
so formuliert Karlstadt sein innerliches Programm in dem selben Jahr 1523, aus dem die Gelassenheitsschrift stammt, in der Schrift „Von den zweyen höchsten gebotten der lieb Gottes und des nechsten“. Die mittelalterliche Mystik war auch hier unverkennbar transformiert, denn ihre soziale Existenzform war eine andere geworden, und doch ist auch das bewahrende Element innerhalb der Transformation deutlich zu spüren: der Grundgedanke eines mystischen Loslassens von allem Äußeren. Mit diesen theologischen Äußerungen ist das Gegenüber Luthers und Karlstadts in ihrer jeweiligen Rezeption spätmittelalterlicher Mystik schon 71
Ebd. S. A 3 r. Ebd. S. E 3 v. 73 BERND MOELLER: Die frühe Reformation in Deutschland als neues Mönchtum, in: ders. (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199), S. 76–91. 74 Karlstadts Schriften aus den Jahren 1523–25. Teil 1. Ausgewählt und hg. von Erich Hertzsch, Halle (Saale) 1956 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts 325), S. 61. 72
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Volker Leppin
überdeutlich angeklungen: Bei Luther die Zuspitzung auf eine äußere Heilsvermittlung, die er im Wort gewahrt sieht, bei Karlstadt das Bleiben bei dem Weg zum Heil durch das Innere des Menschen, das sich vom Äußeren löst. Luther hat diesen Gegensatz dann 1525 in der Schrift „Wider die himmlischen Propheten“ in aller Schärfe auf den Punkt gebracht: „Doctor Andreas Carlstad ist von uns abgefallen, dazu unser ergester feynd worden.“75
Karlstadt der Abgefallene? Es steht außer Zweifel, dass Karlstadts theologischer Lebensweg eine Fülle von mehr oder minder plötzlichen Wendungen aufweist, ja dass manches wie ein Hin und Her wirkt, weniger geradlinig sich entfaltend als der Weg Luthers, der ab den frühen zwanziger Jahren nur noch in einem Ausbau des Entfalteten besteht. Und doch: Das Bild vom Abfall Karlstadts von Luther und den Seinen suggeriert eine Einlinigkeit, die dem Verhältnis der beiden von Anfang an nicht entsprach: Schon das Ringen um Staupitz hatte deutlich gemacht: Hier verstehen sich zwei als in gewisser Weise gleichursprünglich. Auch wenn Karlstadt die Anregungen durch Luther nicht geleugnet hatte: der eigentliche Anreger war ihm doch Staupitz gewesen, und Luther seinerseits suchte allein von Staupitz her das Verständnis seines Auftretens zu entwickeln. Auch Tauler haben sie, vielleicht nicht unabhängig voneinander, aber doch selbständig gelesen und verarbeitet. Es ist nicht ein Weg, in dem eine eindeutige Klarheit geherrscht hätte, von der Karlstadt dann abgefallen wäre, sondern die Akzentuierungen verlaufen unterschiedlich: Aus verschiedenen Gründen entwickelt Luther eine immer stärker worttheologische Zuspitzung der Heilsvermittlung, während Karlstadt stärker dem Gedanken der Unmittelbarkeit der Heilszueignung verbunden bleibt, der bei ihm vor allem durch die Sprengung der Klostermauern reformatorische Gestalt gewinnt: Löst man sich von einer theologischen Engführung der Definition des Reformatorischen und blickt stärker auf die soziale Wirkung der Reformation als das Verbindende, so wird rasch deutlich, dass das Gemeinreformatorische in der Sprengung der kirchenrechtlichen Schranken zwischen Laien und Klerikern beziehungsweise zwischen Kloster- und Weltleuten bestand76. Dann aber ist die Karlstadtsche Transformation der spätmittelalterlichen 75
WA 18, S. 62,6f. So sind wohl meine Überlegungen zur Bedeutung des Priestertums aller Gläubigen weiterzuführen, die ich in LEPPIN: Wie reformatorisch war die Reformation (wie Anm. 59), S. 175, dargelegt habe. Dass T HOMAS KAUFMANN: Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 101 (2004), S. 138–174: hier S. 173f. Anm. 131, hierin – entgegen expliziten Aussagen a.a.O. – eine rein binnenkirchliche Perspektive sieht und ein Fehlen sozialer und politischer Dimensionen bemängelt, setzt anachronistisch voraus, dass die Unterscheidung von Kleriker und Laien auf den Raum einer von der Gesellschaft abgehobenen Kirche hätte begrenzt bleiben können. 76
Mystisches Erbe auf getrennten Wegen
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Mystik in der Tat eine genuin reformatorische Umformung, denn offenkundig wird hier die mystische Erfahrung nicht an einen besonderen Stand, sei es den priesterlichen, sei es den monastischen gebunden, sondern ist auch in der Existenzform des bäuerlich arbeitenden Nachbarn lebbar, ja gerade in dieser Existenzform: Die Arbeitswelt wird zum Ersatz des Klosters als Ort mystischer Erfahrung. Die Transformation der Mystik also erfolgt bei Luther durch einen Umbau des soteriologischen Ursachenzusammenhanges im Blick auf eine zunehmende Betonung der äußeren Vermittlung des Heils, bei Karlstadt hingegen durch einen Umbau der Extension der mit Mystik verbundenen Heilszueignung. In beiden Fällen lässt sich der Weg als ein allmähliches Herauswachsen aus dem späten Mittelalter beschreiben, in dem hier aufgegriffen Zusammenhang auch ausdrücklich als Herauswachsen aus demselben Zusammenhang, eben dem der Taulersch-Staupitzschen Mystik. In beiden Fällen aber kommt es zu je eigenen Umbauten dieses monastischen Erbes und damit zu einer je eigenen Ausprägung reformatorischer Theologie. Die Vielfalt der Reformation hat auch mit den unterschiedlichen Wegen zu tun, auf denen sich die Reformation aus dem Mittelalter herausgelöst hat.
Christoph Burger
Luther im Spannungsfeld zwischen Heiligungsstreben und dem Alltag eines Ordensmannes 1. Luthers Bericht über seine Pflichten als Funktionär seines Ordens In einem Brief vom 26. Oktober 1516 an den Erfurter Prior Johann Lang, den er selbst eingesetzt hat, schildert Luther die erhebliche Arbeitsbelastung, die seine miteinander konkurrierenden Tätigkeitsfelder ihm auferlegen. Man kann sie strukturieren in disziplinarische und ökonomische Pflichten einerseits, Aufgaben als Hochschullehrer und Prediger andererseits. Er verbringe fast den ganzen Tag damit, Briefe zu schreiben. Allein dafür hätte er eigentlich zwei Sekretäre nötig1. Darüber hinaus aber sei er Prediger seines Konvents, Lektor bei den Mahlzeiten und werde täglich gebeten, in der Pfarrkirche zu predigen. Er habe das Generalstudium des Ordens zu leiten. Als Vikar fungiere er als der Vorgesetzte von elf Prioren einzelner Konvente. Ihm obliege die Aufsicht über den Fischteich des Konvents in Leitzkau. Er müsse in der Streitsache um die Pfarrkirche von Herzberg, die in Torgau verhandelt wurde, auftreten. In seiner Funktion als Hochschullehrer der Theologie halte er eine Vorlesungsreihe über einen Brief des Apostels Paulus und sammle Material für seine zweite Vorlesungsreihe über die Psalmen. Nur selten habe er Zeit, die ihm als Bettelordensmönch vorgeschriebenen Gebete zu lesen und die Messe zu feiern. Dabei habe er natürlich unter den Anfechtungen durch das „Fleisch“, die „Welt“ und den Teufel zu leiden. Wie viel Muße ihm bleibe, das könne Lang sich ja vorstellen. Diese Schilderung der vielfältigen Pflichten Luthers gibt Anlass, Klagen über vergleichbare Konflikte zusammenzustellen. Sodann ist daran zu erinnern, dass es für hervorragende spätmittelalterliche Augustinereremiten die Regel war, Ordensämter wahrzunehmen. Ich werde skizzieren, was die Constitutiones der sächsischen Reformkongregation aus dem Jahre 1504 zum möglichen Konflikt zwischen Ordensamt und dem zentralen Inhalt mönchischen Lebens sagen. Sodann werde ich einige Äußerungen Luthers 1
Luther: Brief vom 26. Oktober 1516 an Johannes Lang (WA.B 1, S. 72,4-5).
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in der Rückschau über seine Zielsetzung beim Eintritt in den Orden in Erinnerung rufen. Dann sollen Luthers Briefe bis zu der eben dargestellten Klage aus dem Jahre 1516 daraufhin durchgesehen werden, was er selbst über seine Pflichten im Orden geschrieben hat. Als Theologiehistoriker versuche ich mich dem eher sozialhistorischen Tatbestand zu nähern, dass Luther als Mönch in den Jahren bis 1516 Verwaltungsaufgaben im Dienst seiner observanten Kongregation in der Tat einen großen Teil seiner Kraft und Zeit gewidmet hat.
2. Ein in der Kirchengeschichte bekannter Konflikt In der Geschichte des Christentums ist der Konflikt zwischen dem Wunsch ernsthafter Christen, schon jetzt im irdischen Leben Gott zu schauen und danach ewig zu leben, und der Notwendigkeit, sich stattdessen mit allerlei alltäglichen Dingen beschäftigen zu müssen, vielfach durchlebt und zur Sprache gebracht worden. Auch im Mittelalter war das oft der Fall. Wenn es darum ging, zu benennen, was denn mit der Anbetung Gottes konkurriere, dann kam beispielsweise zur Sprache, dass jeder arbeitsfähige Mensch für den eigenen Lebensunterhalt sorgen müsse. Genannt wurde aber auch, dass der Nächste auf den Beistand eines Christenmenschen geradezu ein Anrecht habe. Beide Verpflichtungen konnten als Begründung dafür angeführt werden, dass kein Christ ein Recht dazu habe, ausschließlich kontemplativ zu leben. Wer freilich andererseits den Vorrang der Gottesschau gegenüber allem Irdischen betonen wollte, der verwies oft auf Jesu Aussage gegenüber Martha, der Schwester des Lazarus, laut Lukas 10,42: „Eines ist not: Maria hat das gute Teil erwählt ...“2 Mönche und Nonnen klagten wiederholt über den Zwiespalt, in den sie gerieten. Bernhard von Clairvaux etwa formulierte sehr klar, in welchen Widersprüchen sich das Leben eines mittelalterlichen Mönchs bewegen konnte, der viel Verantwortung zu tragen hatte. In einem Brief schrieb er: „Ich führe ja – gewissermaßen als die Chimäre meines Jahrhunderts – weder das Leben eines Geistlichen noch das eines Laien. Denn schon längst habe ich zwar nicht das Mönchsgewand, aber doch die Lebensweise des Mönchs abgelegt.“3 Im 15. Jahrhundert debattierten beispielsweise zwei 2
Zur Frage nach dem Verhältnis zwischen ‚vita activa‘ und ‚vita contemplativa‘ haben beispielsweise Meister Eckhart und Johannes Tauler in ihren deutschen Predigten Stellung bezogen, vgl. DIETMAR MIETH: Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler, Regensburg 1969. 3 Bernhard von Clairvaux: Brief 250,4. Hier zitiert nach: ULRICH KÖPF: Mystik im Denken Bernhards von Clairvaux. Eine Hinführung zu ausgewählten Texten, in: Margot
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Erfurter Kartäuser darüber, ob es erlaubt sei, sich in ein regelstrenges Kloster zurückzuziehen und sich in erster Linie dem Streben nach dem eigenen Seelenheil zu widmen. Iacobus Carthusiensis war der Meinung, das müsse erlaubt sein. Nein, hielt ihm Johannes Hagen entgegen, ein Mönch müsse auch für das Seelenheil anderer Christen wirken4. Um sich nicht durch Alltagsfragen ablenken zu lassen, hat auch Bernhard von Waging sich zunächst geweigert, sich in der Seelsorge zu engagieren5. Schwester Salomé Sticken bedauerte es sehr, dass sie 1412 zur Leiterin des Meister-Geert-Hauses in Deventer gewählt wurde. In der Beschreibung ihres vorbildlichen Lebens wird erwähnt, es sei ihr sehr schwer gefallen, Leiterin zu sein: „Sie wäre so gerne damit zufrieden gewesen, eine einfache Schwester zu sein, die sich mit einem unbekümmerten Herzen unserem Lieben Herren ergeben konnte und ihn ständig mit ihrem ganzen Herzen genießen konnte. Mittels vieler Listen versuchte sie von ihrem Amt befreit zu werden. Aber diese Gnade war ihr nicht vergönnt.“6 1420 erwählte Salomé Sticken, mittlerweile Priorin einer Tochtergründung, des Klosters Diepenveen, die vornehme junge Mitschwester Katharina van Naaldwijk als Subpriorin. Diese ihrerseits sagte oft, wenn sie gewusst hätte, wie viele Leitungsaufgaben sie im Kloster Diepenveen würde übernehmen müssen, dann wäre sie nie eingetreten7. Natürlich sind solche Aussagen auch deswegen aufgezeichnet worden, weil dadurch bewiesen werden sollte, dass diese vorzüglichen Leiterinnen sich um das Amt nicht etwa aus Ehrgeiz beworben hätten. Aber es darf angenommen werden, dass sie auch tatsächlich lieber kontemplativ gelebt als verwaltet hätten. Freilich ging es nicht immer um das rechte Verhältnis zwischen dem Streben nach Heiligung und der gebotenen Fürsorge für den eigenen Lebensunterhalt und für den Nächsten. Oft genug verknüpfte sich mit der Schmidt und Dieter R. Bauer (Hg.): Eine Höhe, über die nichts geht. Spezielle Glaubenserfahrung in der Frauenmystik?, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1986, S. 19–69: hier S. 23. 4 Vgl. B ERNDT HAMM: Die „nahe Gnade“ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: Jan A. Aertsen und Martin Pickavé (Hg.): „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin / New York 2004, S. 541–557: hier S. 543. Hamm verweist seinerseits auf D IETER MERTENS: Iacobus Carthusienis. Untersuchungen zur Rezeption der Werke des Kartäusers Jakob von Paradies (1381–1465), Göttingen 1976, S. 187–230. 5 Vgl. dazu P AUL W ILPERT: Vita contemplativa und vita activa. Eine Kontroverse des 15. Jahrhunderts, in: Passauer Studien. Festschrift für Bischof Dr. Dr. Simon Konrad Landersdorfer OSB, Passau 1953, S. 209–227. 6 Hier übersetzt aus einer Edition des Originals: Van den doechden der vuriger ende stichtiger susteren van Diepen Veen (Handschrift D), hg. von D. A. Brinkerink, Leiden 1904, S. 9. In modernem Niederländisch: Hemels verlangen, zusammengestellt von Wybren Scheepsma, Amsterdam 1993, S. 27. 7 Vgl. W YBREN SCHEEPSMA: Deemoed en devotie. De koorvrouwen van Windesheim en hun geschriften, Amsterdam 1997, S. 38.
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Frage nach dem Vorrang der vita contemplativa gegenüber der vita activa auch sehr irdisches Geltungsstreben. Mönche, die sich auf die Sorge um das eigene Seelenheil konzentrierten, beanspruchten mit Berufung auf ihre freiwillige Übernahme der Verpflichtung, sogar die Evangelischen Räte zu befolgen, häufig einen Vorrang gegenüber Weltpriestern. Als Argument dafür führten sie an, dass die Weltpriester sich ja in der Seelsorge für andere Christen und in der Vermögensverwaltung aufrieben und verzettelten. Verglichen damit stünde ihre eigene Lebensform höher. Die Säkularkleriker wollten den Mönchen und Mendikanten diesen Vorrang nicht einräumen. Der Pariser Theologieprofessor und Universitätskanzler Jean Gerson etwa versuchte um 1400, das Bemühen der Bischöfe und ihrer Helfer in der Seelsorge, der Pfarrer, um das Seelenheil anderer Christen als höherrangig zu erweisen als striktes Selbstheiligungsstreben8. Im Erfurter Kloster, in das Luther eintrat, hatte der Professor der Theologie Johannes von Paltz sich bemüht, zu formulieren, dass ein Leben als Mönch sehr wohl der Weg zum eigenen Seelenheil sei. Der Eintritt in einen Orden erneuert laut Paltz die Taufgnade, verhilft zur vollkommenen Vergebung aller Sündenschuld und Sündenstrafe9, zu einem reineren Leben und zu einem getrosteren Sterben10. Ein Christ, der Gelübde abgelegt hat, sündigt zwar schwerer als einer, der das nicht getan hat. Aber er erlangt auch leichter Vergebung11. Der Sozialhistoriker wird den skizzierten Konflikt recht anders bewerten als der Theologiehistoriker. Er wird darauf verweisen, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit im Laufe der Kirchengeschichte stets erneut alle Gelübde derer eingeholt habe, die sich der „Welt“ entziehen und sich auf Gebet und Meditation konzentrieren wollten. Er wird es als Illusion bezeichnen, wenn jemand meine, sich in einem Mendikantenkonvent des 8
Vgl. CHRISTOPH B URGER: Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris, Tübingen 1986, S. 181, 183–187. 9 Vgl. Johannes von Paltz OESA: Supplementum Coelifodinae (Johannes von Paltz. Werke, Bd. 2, hg. von Berndt Hamm, S. 115,6-8): „Monasterialis disciplina secundum baptisma vocatur ob perfectam mundi abrenuntiationem.“ Paltz zitiert hier Bernhard von Clairvaux: De praecepto et dispensatione 17,54 (Ed. Cist. III, 288,27–289,3). Vgl. dazu die Darstellung von B ERNHARD LOHSE: Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttingen 1963: „Bernhard von Clairvaux: Die Gelübde als zweite Taufe“, S. 120–124. – Paltz führt ferner Thomas von Aquino, Summa Theologiae II/II, qu. 189 art 3 ad 3 an (ed. Hamm, S. 115,8–11): [ubi vult,] „quod eandem gratiam consequantur religionem ingredientes, quam consequuntur baptizati.“ Thomas seinerseits nimmt Bezug auf die Vitas patrum. 10 Vgl. Paltz: Supplementum Coelifodinae (ed. Hamm, S. 118,11–25). 11 Paltz: Supplementum (ed. Hamm, S. 117,8): „Quamvis in istis votis gravius peccet religiosus quam saecularis, tamen conversus religiosus facilius obtinet remissionem.“ Paltz verweist seinerseits auf Pseudo-Anselm (Eadmerus Cantuarensis): Liber de similitudinibus 82 (PL 159, 653B–654B).
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Spätmittelalters ausschließlich der Gottesschau widmen zu können. Auch ein Bettelmönch laviere nun einmal zwischen dem Wunsch, Gott allein zu dienen, und den Rollen, die den Mendikanten geschichtlich zugewachsen seien, als Fürbitter für Laien, Verwalter, Wissenschaftler, Ketzerverfolger. Die für Mendikanten erfreuliche Kehrseite sei es ja gewesen, dass sie in den meisten Konventen ein gutes Auskommen gehabt hätten. Dieser Sichtweise des Sozialhistorikers muss der Theologiegeschichtler zunächst einmal einfach zustimmen. Und doch, kann er seinerseits sagen, blieb die Anpassung der Bettelmönche an die städtische Wirklichkeit, ihre Verbürgerlichung, in den Orden nicht unwidersprochen. Wer ins Kloster eingetreten war, um nach besten Kräften das ewige Leben zu verdienen, der wollte nicht durch allzu viele alltägliche Pflichten daran gehindert werden. Das stets erneute Aufbrechen von Reformbestrebungen in den Orden beweist, dass auch unter spätmittelalterlichen Bettelmönchen der Wunsch lebendig blieb, ein Leben der Gottesschau und Askese zu leben. Der Wunsch, zur alten Regelstrenge zurückzukehren, wurde immer wieder formuliert und durch die Realität stets wieder abgeschliffen.
3. Karriereverläufe im Augustinereremitenorden Es ist in Kürze daran zu erinnern, dass Luther keineswegs der einzige war, der seine besten Kräfte dem Orden zur Verfügung stellte. 1419 rief Papst Martin V. die Augustinereremiten dazu auf, ihren Orden an Haupt und Gliedern zu reformieren12. Schon 1422 ernannte der General einen Vikar für die Kongregation der sächsischen Observantenklöster13. Wie jede Organisation sah sich auch die Kongregation der Observanten dazu genötigt, fähige Leute in Leitungsämter zu berufen. Sie konnte dabei weder auf persönliches Heiligungsstreben noch auf akademische Karrieren Rücksicht nehmen. Dieselben Tatsachen kann man auch vollkommen anders formulieren: Wer sich durch einen akzeptablen Lebenswandel und gegebenenfalls durch Leistungen in der Lehre im Studium, Generalstudium oder an
12
Vgl. W OLFGANG GÜNTER: Einleitung zur Edition der Constitutiones OESA pro reformatione Alemanniae, in: Johann von Staupitz: Gutachten und Satzungen, hg. von Lothar Graf zu Dohna und Richard Wetzel, Berlin/New York 2001 (Johann von Staupitz: Sämtliche Schriften, Bd. 5), S. 119–141: hier S. 119. 13 GÜNTER: ebd. S. 120–121. „Die Reformbewegung in den deutschen Ordensprovinzen und die sächsische Reformkongregation“ schildert ADALBERO KUNZELMANN OSA: Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten, fünfter Teil: Die sächsisch-thüringische Provinz und die sächsische Reformkongregation bis zum Untergang der beiden, Würzburg 1974, S. 383–523.
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der Universität auszeichnete, der konnte in der Hierarchie der Kongregation aufsteigen. Die Formulierung ist eben subjektiv: wer Kontemplation als das eine betrachtet, das not tut, der wird den Kopf darüber schütteln, dass jemand freiwillig Leitungsaufgaben auf sich nimmt. Wer freilich auch Menschenführung und große Verantwortlichkeit für wichtig hält, der wird es als vollkommen sinnvoll beurteilen, in der Hierarchie aufzusteigen und Führungsaufgaben zu übernehmen, auch wenn das für den Betroffenen in erster Linie Verzicht auf ein Leben der Gottesschau bedeutet. So wurden unter den herausragenden Theologen des Augustinereremitenordens im Spätmittelalter beispielsweise Gregor von Rimini und Hugolin von Orvieto, die zuvor in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Paris die Sentenzen gelesen und sich damit als akademische Theologen von europäischem Rang qualifiziert hatten, Generäle des Ordens14. Andreas Proles war 36 Jahre lang Generalvikar der sächsischen Reformkongregation15. Er konnte 22 Konvente aus allen Augustinerprovinzen des Deutschen Reiches für die Kongregation gewinnen16. Der schon genannte Johannes von Paltz gab 1505 seine Position als Professor der Theologie in Erfurt auf und wurde Prior des Konvents in Ehrenbreitstein bei Koblenz, den er seit 1493 aufgebaut hatte17. Auch Johann von Staupitz gab seine Professur auf, um sein Amt als Generalvikar der sächsisch-thüringischen Observantenkongregation besser versehen zu können. Sie alle setzten ihre Kräfte im Dienste des Ordens ein und betrachteten es ganz offenbar weder als einen Rückschritt, aus dem akademischen Lehramt auszuscheiden, um ein Ordensamt zu übernehmen, noch als ein unzumutbares Opfer, das eigene Heiligungsstreben zurückzustellen, um dem Orden zu dienen.
14
Gregor von Rimini (um 1300–1358) wurde am 28.5.1357 General des Ordens. Das Registrum Generalatus 1357/58 wurde herausgegeben von Albericus de Meijer OSA. Hugolin von Orvieto (nach 1300–1373) wurde 1368 zum Ordensgeneral gewählt. 15 GÜNTER: Einleitung (wie Anm. 12), S. 122. – Sein Wirken und sein Observanzideal sind dargestellt bei RALPH W EINBRENNER: Klosterreform im 15. Jahrhundert zwischen Ideal und Praxis. Der Augustinereremit Andreas Proles (1429–1503) und die privilegierte Observanz, Tübingen 1996. 16 Vgl. MANFRED SCHULZE: Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation, Tübingen 1991, S. 87. 17 Vgl. zum Wechsel des Paltz zwischen Ordensämtern und Hochschultätigkeit B ERNDT HAMM: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1982, S. 37–39.
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4. Die Constitutiones der Reformkongregation der sächsischen Augustinereremiten Ein Blick in die Ausführungsbestimmungen zur Ordensregel, die Constitutiones, kann erkennen lassen, in welcher Weise die Mehrfachbelastung fähiger Ordensmitglieder darin berücksichtigt worden ist. Gerade durch das Anwachsen der Zahl der Observanten und durch die Selbständigkeit, die sie sich gegenüber den Konventualen erkämpften, wurden ja die Pflichten ihrer Leiter schwerer. Ein regelgetreu gewählter Generalvikar bedurfte eigentlich noch nicht einmal der Bestätigung des Generals18. Ihm wurde ebenso Gehorsam geschuldet wie dem General des Gesamtordens19. Er durfte visitieren und reformieren wie der General selbst20. Die Kehrseite dieser erkämpften Rechte war die, dass die Generalvikare ständig reisen mussten. Ein Jahr nach dem Amtsantritt des Staupitz als Generalvikar verabschiedete die alljährliche Versammlung der sächsischen Observanten 1504 eigene Ausführungsbestimmungen zur Ordensregel, Constitutiones21. In Kapitel sechs ist zunächst die Rede von den Ämtern, die der Prior eines Konvents vergeben darf. Dort werden Dozenten an Studien, Generalstudien und Universitäten nicht erwähnt, wohl deswegen, weil sie denn doch nicht so zahlreich sind22. Die Dozenten kommen erst dort zur Sprache, wo vom Kapitel die Rede ist, das alle drei Jahre gehalten werden soll23. In Kapitel 36 gehen die Constitutiones von 1504 dann auf die besonderen Anforderungen ein, die für die Verpflichtungen der Dozenten beim Stundengebet gelten: Wer als Lektor oder Cursor an einem Partikularstudium des Ordens doziert, braucht an Arbeitstagen nicht an der gemeinsamen Matutin, Komplet und Sext teilzunehmen. Die lateinische Formulierung lautet: Concedimus tamen. Es handelt sich also um ein Zugeständnis. Diese Regelung der sächsischen Observanten soll die Gebetsverpflichtungen der Do18
Constitutiones OESA pro reformatione Alemanniae, Kap. 32: Wie alle drei Jahre Kapitel gefeiert werden soll (ed. Günter [wie Anm. 12], S. 242,64-65 mit Anm. 35). Papst Eugen IV. hatte dieses Privileg am 5. 11. 1437 erteilt, vgl. KUNZELMANN: Geschichte (wie Anm. 13), S. 398. In Wirklichkeit nahm sich freilich der General wiederholt das Recht, Wahlen zu bestätigen, und Generalvikar Proles bat auch seinerseits darum. Siehe die Constitutiones (ed. Günter, S. 242 und 243, Anm. 36), und KUNZELMANN, ebd. S. 429 und 431. 19 Constitutiones OESA, Kap. 33: Vom Amt und von der Autorität des Generalvikars unserer Union … (ed. Günter, S. 250,5-8). 20 Constitutiones OESA, Kap. 33 (ed. Günter, S. 250,9-11). 21 Vgl. GÜNTER: Einleitung (wie Anm. 12), S. 131. 22 Vgl. Constitutiones OESA, Kap. 7 (ed. Günter, S. 170,9–12). 23 Constitutiones OESA, Kap. 32 (ed. Günter, S. 239,7-8): „magistris, baccalaureis atque lectoribus actu legentibus ...“.
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zenten ermäßigen. Ihr Anteil an der Fürbitte für Wohltäter und für Mitglieder der Bruderschaften, die den Augustinerklöstern verbunden waren, musste dann eben von anderen Mönchen geleistet werden. Ausgerechnet diejenige Richtung innerhalb des Ordens, die für die Rückkehr zur alten Regelstrenge eifert, die der Observanten, ist so realistisch, den Dozenten eine Erleichterung zuzugestehen. Am Ende des 13. Jahrhunderts hatte man eine derartige Regelung noch nicht für erforderlich gehalten. In den Constitutiones des Gesamtordens aus dem Jahre 1290 hatte es noch geheißen: „Die Lektoren müssen den anderen als Beispiele dienen. Sie sollen also fleißig an den Vigilien und den Horen bei Nacht und bei Tage teilnehmen, falls sie daran nicht gehindert werden, weil sie Predigten und Vorlesungen halten müssen“: nisi quando forte ... eorum studium impediretur24. Das mögliche Hindernis sind also die Pflichten der Prediger und Dozenten. Der Normalfall ist der, dass jeder Mönch an den Stundengebeten teilnimmt. Man kann die Regelung der Constitutiones von 1504 als sachgemäße Reaktion auf die Belastung der Dozenten sehen. Man kann zufrieden konstatieren, dass die Observanten, die doch besonders regelgetreu sein wollen, so realistisch dachten. Man kann aber auch von der Norm her denkend die Frage stellen: Welche andere Pflicht darf eigentlich einem Mönch auferlegt werden, die dem Gebet vorzuziehen wäre? Damit würde man sich auf den Standpunkt stellen, eher hätten die beruflichen Pflichten zu weichen als eben die Gebetsverpflichtungen, die ja nicht in einseitiger Weise als Verpflichtung zu sehen sind, sondern auch als Möglichkeit, die eigentlich angestrebte Existenzweise von Mönchen zu leben.
5. Rückblicke in späteren Schriften Luthers auf sein Leben als Mönch Luther betrachtete die Entscheidung, aus der „Welt“ (im negativ qualifizierten Sinne) ins Kloster zu gehen, als einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zum Heil. Trotz der theologischen Erkenntnisse, die ihn dem Mönchsideal vollkommen entfremdeten, behielt er bis zu seiner Eheschließung ein volles Drittel seines Lebens die Lebensform eines Bettelmönchs bei25. Luther konnte später in der Rückschau über das mönchische Lebensideal sagen: „Gott dienen war: in die Einsamkeit fliehen, Obrigkeit, Politik 24
Vgl. Constitutiones OESA, Kap. 36 (ed. Günter, S. 263, Anm. 8). Die Regensburger Constitutiones von 1290 hat Ignacio Aramburu Cendoya bereits 1966 ediert. 25 Darauf weist besonders deutlich ULRICH KÖPF hin: Art. Mönchtum, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, S. 50–57.
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und Wirtschaft verlassen.“26 Er kannte dieses Ideal nicht bloß27, er wollte sich auch darum bemühen und auf diese Weise Gott besonders gehorsam sein28. Er wollte dem geltenden Ideal entsprechen29, dem Gericht und der Hölle entkommen30. Den Konflikt zwischen dem Streben nach Gottesnähe und weltlichen Verpflichtungen hat Luther in seiner Wittenberger Klosterzeit selbst durchlebt. Er war zeitweise derartig beschäftigt, dass er nur noch mit Mühe sein monastisches Stundengebet sprechen konnte. Dabei waren die Gebetsverpflichtungen der männlichen Mitglieder von Bettelorden im Vergleich zu denen der beschaulichen Orden ja ohnehin schon gekürzt. 1515 holte Luther einmal, von einem Gewitter erschreckt, das er als Drohung erlebte, die Stundengebete nach, die er tagsüber wegen der Teilnahme an mehreren Promotionen hatte versäumen müssen31. Es quälte ihn sehr, dass er mit dem Beten der Horen im Rückstand war32. Schließlich musste Luther es aufgeben, seinen Gebetsverpflichtungen nachzukommen. Zusammenfassend kann man feststellen, dass Luther sich gewünscht hatte, durch den Eintritt in den Orden Ruhe des Gewissens und Muße zur geistlichen Sammlung zu finden. Gefunden aber hatte er Umtriebigkeit.
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Luther: Enarratio psalmi 2 (1532). Übersetzt ist WA 40/2, S. 282,12–283,1. Hier zitiert nach MARTIN B RECHT: Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 1981, S. 58. Brecht gibt auch die Fundstellen der Rückblicke Luthers an, die nun kurz zusammengefasst werden. 27 Luther: Wochenpredigt über Mt. 5,8, gehalten 1530/1532 (WA 32, S. 327,20-22): „Da jch jung war, rhumet man dis sprich wort: ‚Bleibt gerne allein, so bleiben ewer hertz rein‘…“. Vgl. zu dem Sprichwort den Revisionsnachtrag zur Stelle. 28 Luther: Vorlesung über Genesis 49,13, gehalten 1535–1545 (WA 44, S. 782,14-15): „persuasum habebam, me eo genere vitae et laboribus illis tetricis magnum obsequium Deo praestare.“ 29 Luther: Predigt am 25.12.1544 über Lukas 2 (WA 49, S. 636,17-19): „Ich wolt so from, streng leben per mea opera, ut fur Got tretten et dicerem: Hic habes sanctitatem.“, und Predigt vom 1.2.1534 (WA 37, S. 274,14-16): „Ego fui XV annis Monachus et tamen nunquam potui baptismo me consolari. Ach quando vis semel from werden? Donec fierem Monachus.“ 30 Luther: Tischrede Nr. 4414 (WA.TR 4, S. 303,15-17): „Ego enim non ventris, sed salutis meae causa vovebam et rigidissime servabam nostra statuta.“ 31 Vgl. die Tischrede Nr. 4919, aufgezeichnet von Johannes Mathesius am 16. Mai 1540 (WA.TR 4, S. 580,15-18). BRECHT: Martin Luther (wie Anm. 26), S. 463, Anm. 10, weist darauf hin, dass diese Promotionen im Dekanatsbuch der theologischen Fakultät der Universität Wittenberg verzeichnet sind (WA 9, S. 307,6-10). 32 Vgl. Luther, Tischrede WA.TR Nr. 5428 (WA.TR 5, S. 137,1-10).
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6. Aussagen Luthers über seine Tätigkeit im Dienste des Ordens in Briefen bis 1516 Reformatoren des 16. Jahrhunderts äußern sich in ihren Briefen an Freunde und in Konfliktfällen relativ offen und zuverlässig. Natürlich stilisieren sie sich auch. Aber das bleibt denn doch im Rahmen. Die eben referierten Berichte Luthers aus späterer Zeit dagegen sind, wie Martin Brecht selbst schreibt, sehr parteiisch33. Ich werte nun einige frühe briefliche Aussagen Luthers daraufhin aus, was in ihnen zur Sprache kommt von der Spannung zwischen seinem Heiligungsstreben und seinem Alltag als Mendikantentheologe34. Mit einem Brief vom 22. April 1507 lädt Luther den Vikar am Marienstift Johannes Braun zu seiner Primiz ein. In diesem Brief sagt er von sich selbst, er sei nun für die „Welt“ tot35. Demselben Adressaten schreibt er am 17. März 1509, es wäre ihm lieber, wenn er seinen theologischen Werdegang in Wittenberg fortsetzen könnte, als dort Philosophie zu lehren, und er beschreibt dann, welche Art der Theologie er meint, mit den berühmt gewordenen Worten: „und zwar eine Theologie, die den Kern der Nuss, das Mark des Weizens und der Knochen erforscht.“36 Man kann in dieser Aussage einen gewissen Unmut lesen, wenn man bedenkt, wie sein Alltag aussah. Doch Luther legt sich selbst Zügel an, wenn er weiter schreibt: „Gott ist Gott. Ein Mensch täuscht sich in seinem Urteil oft – ja vielmehr stets.“37 Er will also gegen den ihm aufgezwungenen Lehrauftrag offenbar nicht revoltieren. Zum Konflikt mit Mitgliedern seines Erfurter Heimatkonvents kommt es, als er in Wittenberg die Doktorwürde erwirbt. Luther behauptet ihnen 33
BRECHT: Martin Luther (wie Anm. 26), S. 70. Die beiden vorzüglichen neueren Darstellungen der Korrespondenz Luthers von Arnold und Ebeling machen den Konflikt zwischen dem Bemühen um geistliche Sammlung und weltliche Aufgaben nicht zu einem eigenen Gliederungspunkt, wenn ich recht sehe (MATTHIEU ARNOLD: La correspondance de Luther. Etude historique, littéraire et théologique, Mainz 1996, und GERHARD EBELING: Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen an seinen Briefen dargestellt, Tübingen 1997). 35 Luther, Brief an Johannes Braun vom 22. April 1507 (WA.B 1, S. 11,42): „mundo nunc mortui …“. 36 Luther: Brief an Johannes Braun vom 17. März 1509 (WA.B 1, S. 17,43-44). Wohl auf Erasmus’ Adagia [2,7,19] zurückzuführen: Anm. 13 auf S. 17 der Edition. Dieselbe Aussage Luthers wird im Beitrag von B ERNDT HAMM in diesem Band anders gedeutet. Wahrscheinlich haben beide Deutungen ihr Recht. 37 Luther, Brief an Johannes Braun vom 17. März 1509 (WA.B 1, S. 17,44-45). Auch dieser Satz ist vielfältig deutbar. Statt als Ergebung in einen nicht besonders erfreulichen Berufsalltag kann man ihn mit Recht auch als theologische Aussage über die Grenzen menschlicher Erkenntnis lesen. 34
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gegenüber im Juni 1514, er habe niemals geschworen, nirgendwo anders als eben in Erfurt zu promovieren. Diesen Eid lege man ja während der feierlichen Vorlesung zu Beginn des Kurses als baccalaureus biblicus ab, während der principia. Diese Vorlesung habe er nicht in Erfurt gehalten38. Im Dezember desselben Jahres versichert er dasselbe dem Dekan und den Professoren der theologischen Fakultät der Universität Erfurt39. Luther scheint aber nicht recht darauf zu vertrauen, dass man ihm das in Erfurt glaubt. Er baut also eine zweite Verteidigungslinie auf und schreibt, der Generalvikar Staupitz habe gewünscht, dass er die Doktorwürde erwerbe. Er selbst habe diesem Wunsch solchen Widerstand geleistet, dass es für Staupitz geradezu beleidigend gewesen sei40. Zwischen dieser brieflichen Äußerung und der nächsten, die zur Sprache kommt, liegt Luthers Wahl zum Provinzialvikar auf dem Kapitel der Reformkongregation in Gotha 151541. In dem bekannten Brief Luthers an den Ordensbruder Georg Spenlein in Memmingen schreibt Luther im April 1516, er wolle gerne erfahren, ob dieser lerne, von seiner eigenen Gerechtigkeit abzusehen und stattdessen auf Christi Gerechtigkeit zu vertrauen42. Sei doch die Versuchung, hochmütig zu werden, gerade für die groß, die sich Mühe gäben, gerecht und gut zu sein. Gerade sie kämen in die Versuchung, aus eigener Kraft gut zu handeln und Gottes Gerechtigkeit nicht kennenzulernen, die in Christus sehr reich umsonst geschenkt werde43. Er selbst habe diesen Irrtum nun überwunden44. Hier wird im Briefwechsel einmal der Anspruch auf geistliches Wachstum spürbar, während die Briefe Luthers sonst oft bezeugen, dass er sich mit recht alltäglichen Fragen herumschlagen muss. In einem Brief vom 1. Mai 1516 bittet Luther, der als observanter Provinzialvikar für mehrere Konvente Verantwortung trägt 45, den konventualen Augustinerprior von Mainz, einen Mönch zurückzuschicken, der aus dem Dresdener Konvent entlaufen ist, der seiner Aufsicht untersteht. Sol38
Luther, Brief an den Prior und die Senioren des Erfurter Augustinerkonvents vom 16. Juni 1514 (WA.B 1, S. 25,22-24). 39 Luther, Brief an den Dekan und die übrigen Mitglieder des Lehrkörpers der Theologischen Fakultät der Universität Erfurt vom 21. Dezember 1514 (WA.B 1, S. 30,14-15). 40 Ebd. S. 30,27-28: „cum ... usque ad offensionem autoritati resisterem.“ 41 Vgl. W ILHELM ERNST W INTERHAGER: Martin Luther und das Amt des Provinzialvikars in der Reformkongregation der deutschen Augustiner-Eremiten, in: Franz J. Felten und Nikolaus Jaspert (Hg.): Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm, Berlin 1999, S. 707–738: hier S. 727. 42 Luther, Brief an Georg Spenlein vom 8. April 1516 (WA.B 1, S. 35,15-17). 43 Ebd. S. 35,17-21. 44 Ebd. S. 35,22-23. 45 Luther, Brief an Johannes Bercken [Byrcken] vom 1. Mai 1516 (WA.B 1, S. 39,1-28).
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che Disziplinarprobleme gehören ohnehin schon zu den unerfreulichsten Aufgaben für einen sensiblen Menschen, der Führungsaufgaben wahrnimmt. Doppelt unangenehm muss es für Luther gewesen sein, als Observant den Prior eines konventualen Klosters bitten zu müssen, einen in einen konventualen Konvent entlaufenen observanten Bruder zurückzusenden. In elf Jahren ist Luther vom Novizen zum Provinzialvikar aufgerückt. In seinem Heimatkonvent hat er Johann Lang als Prior eingesetzt. Seine früheren Erfurter Lehrer Nathin und Usingen haben allen Grund, neben berechtigtem Stolz auf den begabten Zögling auch ein wenig eifersüchtig zu sein. Ist ihnen der Schüler doch über den Kopf gewachsen. Einen besonders geschliffenen Brief sendet Luther dem Humanisten Mutian. Er entschuldigt sich dafür, dass er ihn während seines Aufenthalts in Gotha weder aufgesucht noch zu sich eingeladen habe. Er sei einfach zu beschäftigt gewesen46. Ob wirkliche Überlastung die Ursache gewesen ist, ist für den modernen Leser deswegen schwer zu sagen, weil der besonders sorgsam gefeilte Stil dieses Briefes die wirklichen Empfindungen des Autors zu analysieren erschwert. An den Augustinerprior Lang in Erfurt schreibt Luther am 29. Mai 1516 aus Langensalza, er solle ein Rechnungsbuch anlegen und darin die Ausgaben für Bier, Wein und Fleisch aufzeichnen. Es freue ihn, dass er in Gotha nur eine Stunde für die Visitation gebraucht habe, in Langensalza nur zwei. Aus diesen Sätzen spricht die Erleichterung, dass es in diesen beiden Konventen keine erheblichen Probleme zu lösen gab. Am 8. Juni 1516 ist Luther wieder in Wittenberg. Sein Brief an Spalatin zeugt vom Selbstbewusstsein des Theologen: Was Spalatin ihm im Auftrag des Kurfürsten schreibe, missfalle Gott. Es gehe doch wohl darum, Staupitz zuzureden, die Nachfolge des Bischofs von Chiemsee anzustreben. Doch so klug der Kurfürst auch in weltlichen Dingen sei, in den Fragen, die Gott und die Seligkeit der Seelen beträfen, sei er vollkommen blind. Der gelehrte Rat des Kurfürsten, Pfeffinger, sei nicht besser47. Wie die Dinge stünden, heiße „Bischof werden“ so viel wie „verderben“48. Dem Augustinerprior Michael Dressel in Neustadt an der Orla befiehlt Luther, einen Deutschordensherren nur dann in den eigenen Orden aufzunehmen, wenn dieser ein Schreiben seiner Oberen vorlege, dass sie mit dem Ordenswechsel einverstanden seien. Er beruft sich dafür auf die Con-
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Luther, Brief an Konrad Mutian vom 29. Mai 1516 (WA.B 1, S. 40,6): „festinantia itineris mei pariter et officii iniuncti sedulitas.“ Zur Visitationsreise Luthers vgl. W INTERHAGER: Martin Luther (wie Anm. 41), S. 731. 47 Luther: Brief an Georg Spalatin vom 8. Juni 1516 (WA.B 1, S. 44,21-24). 48 Ebd. S. 45,34-40.
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stitutiones49. Es folgen Mitteilungen über Personalentscheidungen und auf diese ein Abschnitt über das Erlangen inneren Friedens. Luther spricht hier als Vorgesetzter und als Ratgeber. Er muss auf Dressels Sorgen eingehen. Dennoch darf man davon ausgehen, dass er seine Empfehlungen theologisch durchdacht und durchlebt hat. Das gibt das Recht, auch bei Luther selbst vorauszusetzen, dass auch er unter den Aufgaben der Personalführung litt, die ihm sein Ordensamt auferlegte. Gott verleihe Frieden nur mitten in Anfechtungen.50 Sobald Dressel froh einstimmen könne in die Worte: „Gesegnetes Kreuz, wie es sonst keines gibt unter allen Hölzern“, höre sein Kreuz auf, ein Kreuz zu sein51. Das eben sei der Friede Gottes, der allen Verstand übersteige52. Wer so geplagt werde, der erfahre diesen Frieden Gottes53. Dressel solle die Verwirrungen (perturbationes) freudig auf sich nehmen54. Luther unterschreibt als „Vicarius districtus“, als der zerstreute Vikar. Damit spielt er wohl darauf an, dass auch er selbst durch sein Ordensamt vom Gebet und von inhaltlicher theologischer Arbeit abgelenkt wird55. Luthers folgender Brief an Johann Lang in Erfurt strotzt von Problemanzeigen. Der Erfurter Prior solle dem durch verschiedene Verpflichtungen überforderten, eben erst gestifteten Augustinerkonvent in Eisleben einen Bruder senden. Wenn er keinen auf Dauer entbehren könne, dann doch
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Luther: Brief vom 23. Juni 1516 an Michael Dressel (WA.B 1, S. 46,1–47,6-20). Ebd. S. 47,28-30: „An ignoras, optime Pater, quod Deus ideo est mirabilis in populo suo, quod pacem suam posuit in medium nullius pacis, id est, omnium tentationum?“ Luther zitiert Psalm 68 (67),36 der Vulgata. 51 Ebd. S. 47,35-36: „Tam cito enim crux cessat esse crux, quam cito laetus dixeris: crux benedicta, inter ligna nullum tale.“ Luther spielt wohl auf den Beginn der achten Strophe im Hymnus „Pange, lingua, gloriosi“ des Venantius Fortunatus an: „crux fidelis, inter omnes arbor una nobilis – nulla talem silua profert flore fronde germine –, dulce lignum dulce clavo dulce pondus sustines ...“. Hier zitiert nach FRIEDRICH OHLY: Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik, in: Günther Heintz und Peter Schmitter (Hg.): Collectanea Philologica. Festschrift für Helmut Gipper, Bd. 2, BadenBaden 1985, S. 403–613: hier S. 413. 52 Luther: Brief vom 23. Juni 1516 an Michael Dressel (WA.B 1, S. 47,38-39). Luther spielt auf Philipper 4,7 an. 53 Ebd. S. 47,40-42. 54 Ebd. S. 47,47. 55 Anders W INTERHAGER: Martin Luther (wie Anm. 41), der darin eine Anspielung auf einen Distrikt sieht (S. 730), wie Luther ja auch in WA.B 1, S. 42 „in districtu isto“ schreibt. 50
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zumindest eine Zeit lang56. Luther unterzeichnet hier als „Vicarius particularis“, als Vikar eines Teils der Observanz57. Am 25. September 1516, nur drei Monate nach seiner eingehenden seelsorgerlichen Mahnung, das Kreuz auf sich zu nehmen, setzt Luther von Wittenberg aus den Neustädter Prior Dressel ab. Es ist diesem nicht gelungen, in seinem Konvent Eintracht zu stiften, folglich muss er abtreten. Die feierliche Formulierung lässt keinen Zweifel darüber bestehen, dass die Absetzung vollzogen wird58. Diesen Brief unterzeichnet Luther als „Vicarius medius Augustiniensium“59. In einem Brief an Johann Lang in Erfurt beklagt Luther Geldmangel und berichtet, auch Staupitz werde in München durch finanzielle Not an der Weiterreise gehindert60. So weit dieser Überblick der Aussagen Luthers zu seinen Aufgaben im Dienste des Ordens bis zu dem zu Beginn dieses Aufsatzes zitierten Brieftext.
7. Resümee Ein Blick in die Statuten der sächsischen Reformkongregation des Augustinereremitenordens hat gezeigt, dass trotz aller Regelstrenge auf die Berufswirklichkeit der Lektoren und Dozenten Rücksicht genommen worden ist. Es erwies sich, dass mehrere als Theologen ausgewiesene Mitglieder des Ordens vor Luther ohne weiteres den Schritt aus dem akademischen Lehramt in Ordensaufgaben vollzogen haben.
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Luther: Brief vom 30. Juni 1516 an Johannes Lang (WA.B 1, S. 48,8): „si non tradas, tamen interim concedas.“ Zum Entstehen des Eislebener Konvents vgl. WINTERHAGER : ebd. S. 734–737. 57 Luther: Brief vom 30. Juni 1516 an Johannes Lang (WA.B 1, S. 49,24): „Vicarius particularis.“ Zu Luthers Vikariat ist sehr aufschlussreich der genannte Beitrag von W INTERHAGER. Zu den Titeln, die Luther selbst verwendet, ebd. S. 708–709. Zur Bedeutung des Amtes eines Provinzialvikars beispielsweise ebd. S. 716. 58 Luther: Brief vom 25. September 1516 an Michael Dressel (WA.B 1, S. 57,25-26): „Quare auctoritate officii tibi Fratri Michaeli Dressel praecipio, ut officium et sigillum resignes ...“ W INTERHAGER weist darauf hin, dass Luther als Provinzialvikar einen Prior absetzen durfte, was nicht einmal einem Provinzial möglich war (ebd. S. 718, Anm. 34). In Erfurt setzte Luther, wie bereits erwähnt, Johannes Lang als Prior ein (WA.B 1, S. 41,21-24), vgl. W INTERHAGER ebd. S. 731. 59 Luther: Brief vom 25. September 1516 an Michael Dressel (WA.B 1, S. 59,71). Winterhager deutet das ‚medius‘ geographisch: das Vikariat von Sachsen-Thüringen (als Mitteldeutschland) wäre dann unterschieden von den Vikariaten ‚superioris Germaniae‘ im Süden und ‚inferiorum partium‘ im Nordwesten (ebd. S. 728 mit Anm. 62). 60 Luther: Brief vom 5. Oktober 1516 an Johannes Lang (WA.B 1, S. 61,5-10).
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Liest man die frühen Briefe Luthers mit der Frage, wie er den Konflikt zwischen seinem Heiligungsstreben, seinen Pflichten als Hochschullehrer und dem Alltag eines Mendikantentheologen erlebt hat, dann wird jedenfalls deutlich, dass die Ämter als Provinzialvikar und Hochschullehrer erheblichen Druck auf den hoffnungsvollen Nachwuchsmann ausübten, der Luther damals noch war. Ein Sozialhistoriker und ein Theologiehistoriker werden den Konflikt, der sich vollzog, wohl ganz unterschiedlich deuten. Während der Sozialhistoriker geneigt sein wird, jeden Schritt eines Mendikanten hin zur städtischen Normalität als selbstverständlich anzusehen, wird der Theologiehistoriker eher geneigt sein, die Ordensregel als Norm anzuerkennen und kritisch zu fragen, ob der Alltag eines spätmittelalterlichen Ordensfunktionärs und Mendikantentheologen diesem eigentlich genug Raum ließ, dem nachzustreben, dessentwegen er Mitglied des Ordens geworden war.
Thomas Kaufmann
Der „alte“ und der „junge“ Luther als theologisches Problem I. Die Rede vom „jungen“ und vom „alten“ Luther ist allgemein verbreitet, ohne dass eine Diskussion geführt würde oder gar ein Konsens darüber bestünde, was jeweils darunter verstanden wird. Dass die Rede vom „jungen“ und vom „alten“ Luther implizite Wertungstendenzen enthält, dürfte allerdings evident sein. Der „junge“ Luther gilt gemeinhin als interessanter und bahnbrechender als der „alte“, gilt als innovativ, kämpferisch, kreativ und offen, als begeisterungsfähig und aufwühlend; der „alte“ vielleicht als tiefsinnig und rechthaberisch, cholerisch und doktrinaristisch, im ganzen jedenfalls nurmehr als Schatten seiner selbst. Diese Wertungstendenz hat Wurzeln, die bereits in Luthers Lebenszeit zurückreichen: Seit Mitte der 1520er Jahre wurde es üblich, dass sich ehemalige Parteigänger auf Luthers frühere Äußerungen beriefen und diese gegen seine späteren Positionen anführten, und dass ihm altgläubige Kritiker Widersprüche zwischen früheren und späteren Aussagen vorhielten. Luthers ‚Selbsthistorisierung‘, mit der er den ersten Band seiner lateinischen Schriften eröffnete, war zum Teil diesem Umstand fragwürdiger Inanspruchnahmen geschuldet. Die Relativierung seiner frühen Schriften mit dem Hinweis darauf, er sei damals ein Mönch und unsinniger Papist gewesen, trunken von, ja ertrunken in den Lehren des Papstes1, diente einerseits der rhetorischen Begründung dafür, dass ein Leser diese Schriften „cum iudicio, imo cum multa miseratione“2 lesen solle, zielte andererseits natürlich darauf ab, das Gewicht seiner aktuellen gegenüber seiner früheren Rede zu betonen. Insofern stellt Luthers Äußerung von 1545 ein prominentes und in gewissem Sinne definitives Beispiel in einer Reihe von 1
„Et sciat [sc. der Leser], me [sc. Luther] fuisse aliquando monachum, et papistam insanissimum, cum istam causam [sc. den Ablass] agrressus sum, ita ebrium, imo submersum in dogmatibus papae […].“ WA 54, S. 179,24f. = Cl 4, S. 421,28–422,3 [Cl: Luthers Werke in Auswahl, hg. v. Otto Clemen, 4 Bde., Berlin 61983]. 2 WA 54, S. 179,23 = Cl 4, S. 421,27f.
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Versuchen des Reformators dar, den normativen Rahmen einer Interpretation seiner Person und seines Werkes noch selbst abzustecken. Der rezeptionsgeschichtlich sicher wichtigste Versuch dieser Art, ‚Herr‘ über die Deutung seiner Theologie zu werden oder zu bleiben, war sein „Bekenntnis“ von 1528, mit dem er einer Berufung dissentierender Mitreformatoren auf angebliche Lehrmeinungen, die er aber nicht verträte, ein für allemal ein Ende machen wollte3. Die Spannung zwischen dem „jungen“ und dem „alten“ Luther war also in gewissem Sinne schon für Luther selbst ein theologisches Problem, freilich ein solches, das ihm durch die kritische Rezeption einiger seiner Schriften aufgezwungen worden war. Luther ging dieses Problem so an, dass er seinen jeweils aktuelleren, neueren Äußerungen einen Vorrang gegenüber früheren einräumte, sich selbst also gleichsam als „älterer“ über den „jüngeren“ Luther stellte. Dass sich diejenigen lutherischen Theologen der sogenannten „zweiten Generation“, die sich in Distanzierung von Melanchthon um die Wahrung des ‚authentischen‘ Luthererbes bemühten, vornehmlich in den hermeneutischen Schranken der Lutherschen Selbstauslegung bewegten und im Zweifel immer dem „alten“ gegenüber dem „jungen“ oder jedenfalls jüngeren Luther recht gaben4, kann meines Erachtens als sicher gelten und verwundert allein deshalb nicht, weil sie darin ja Luther selbst folgten. Auch die Konkordienformel ist diesen Weg gegangen5. Der „alte“ Luther, 3
„Weil ich sehe / das des rotten und yrrens / yhe lenger yhe mehr wird / und kein auffhoeren ist des tobens und wuetens des Satans / Damit nicht hinfurt bey meym leben oder nach meinem tod / der etliche zukuenfftig sich mit mir behelffen [Koch: sich auf mich berufen] / und meine schrifft / yhr yrthum zu stercken / felschlich furen moechten / wie die Sacraments und Tauffs schwermer anfiengen zu thun / So wil ich mit dieser schrifft fur Gott und aller welt meinen glauben stueck zu stueck bekennen / darauff ich gedencke zu bleiben bis ynn den tod / drynnen (des mir Gott helffe) von dieser welt zu scheiden […].“ StA 4, S. 245,4-11; WA 26, S. 499,15-22. Ernst Koch, der Editor der Abendmahlsschrift von 1528 in der Studienausgabe, bietet ebd. S. 27 Anm. 44 einige Beispiele für die Berufung auf Luther bzw. für die Behauptung seines Abfalls von früheren Aussagen bei den Täufern, Schwenckfeld, den Schweizern und den Oberdeutschen. Dass Bucer bei der publizistischen Verbreitung dieses von mir so genannten ‚Luther-gegen-Luther‘-Arguments eine Schlüsselrolle spielte, habe ich in meiner Dissertation, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528, Tübingen 1992 (Beiträge zur historischen Theologie 84), gezeigt. 4 Beispiele in bezug auf die politische Theorie in: THOMAS KAUFMANN: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation N.R. 29), darin der Abschn.: Apokalyptik und politisches Denken im lutherischen Protestantismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Zu Amsdorf in Magdeburg vgl.: THOMAS KAUFMANN: Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ 1548–1551/2, Tübingen 2003 (Beiträge zur historischen Theologie 123), passim. 5 Vgl. BSLK S. 983–985; Luthers Lehre sei „tanquam compendio“ in den Artikeln der CA invariata enthalten; „so kann und soll mehrgedachter Augsburgischen Confession
Der „alte“ und der „junge“ Luther
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der Luther, bei dem die maßgeblichen Vertreter der „zweiten Generation“ zum größten Teil selbst studiert hatten, von dem sie graduiert oder ordiniert worden waren, und dessen aktuelle Schriften sie jeweils zügig gelesen hatten, war der Luther ihres Lebens geworden. Kenntnisse des „jungen“ Luther und seiner Texte waren überdies für die Nachgeborenen vor den oder außerhalb der Gesamtausgaben allenfalls mühsam und zufällig zu gewinnen gewesen. Einer der brisantesten und, soweit ich sehe, in der Lutherforschung wenig diskutierten Sachverhalte der publizistischen Wirkung Luthers bestand ja darin, dass seine Schriften mit Ausnahme der Bibelübersetzungen, der Postillen, einiger Bibelkommentare, der Lieder und Katechismen, fast nur im engsten historischen Umfeld ihrer Erstveröffentlichung verbreitet wurden, mithin literarische ‚Eintagsfliegen‘ waren, denen erst im Modus ihrer Thesaurierung in den großen Sammelausgaben dauerhaftere Rezeptionsmöglichkeiten eröffnet wurden. Und welchen Sinn sollte es schließlich haben, sich die später nicht mehr nachgedruckten Schriften des „jungen“ Luther zu beschaffen und zu lesen, wenn Luther selbst diesen Schriften keine besondere Bedeutung beimaß?! Zeigte nicht gerade ein ‚Fall‘ wie Johann Agricola und der Streit um den Antinomismus, dass man gut daran tat, im Zweifel dem „alten“ Luther recht zu geben?
II. Der lutherische Protestantismus des konfessionellen Zeitalters dürfte im Zuge des dominierenden Interesses an der ‚Lehre‘ des von Gott gesandten, heilsgeschichtlich gedeuteten „Kirchenvater[s], den man fast wie einen Religionsstifter verehrte“6, wenig spezifisches Interesse an einer Disjunktion zwischen dem „jungen“ und dem „alten“ Luther aufgebracht, aber aufs Ganze gesehen stärkere Affinitäten eher zu letzterem gehabt haben. Der für die neuere Lutherdeutung und -forschung im ganzen charakteristische Bedeutungsgewinn des „jungen“ gegenüber dem „alten“ Luther ist durch die eigentlicher Verstand und Meinung aus keins andern denn aus D. Luthers Lehr- und Streitschriften [didacticis et polemicis scriptis] eigentlicher und besser genommen werden.“ BSLK S. 985,1-9 (SD VII 41). 6 ERNST W ALTER ZEEDEN: Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums, Bd. 1, Freiburg 1950, S. 70. Unter Berufung auf Horst Stephan (Luther in den Wandlungen seiner Kirche, Berlin 21951, S. 15f.) urteilte Zeeden, dass Luthers Schriften im 17. Jahrhundert „kaum gelesen“ wurden (S. 97). Dieses Urteil dürfte angesichts des Forschungsstandes kaum angemessen, jedenfalls hinsichtlich unterschiedlicher Textgruppen bzw. -gattungen Lutherscher Schriften stark differenzierungsbedürftig sein.
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neuzeitliche Transformation des Protestantismus in Pietismus und Aufklärung besiegelt worden, auch wenn sich Gottfried Arnold für seine Wertung nicht ohne eine gewisse Berechtigung auf Seckendorf berief7. Für die konfessionell-lutherische Deutung des Reformators und seiner Theologie freilich blieb – wie Adolf Harnack in Bezug auf die Darstellung der Theologie Luthers aus der Feder seines Vaters8 urteilte – die Orientierung am „‚ganzen‘ Luther“9 charakteristisch. Die Darstellung der – wie Theodusius Harnack selbst formulierte – „gesammte[n] Glaubensanschauung und Theologie Luthers“10, die er vornehmlich von der Versöhungsund Erlösungslehre her entfaltete, basierte auf der in gewissem Sinne schon für die ‚altprotestantische‘ Lutherinterpretation im Angesicht der 7
GOTTFRIED ARNOLD: Unpartheyische Kirchen- und Ketzer=Historie, Bd. 1, Frankfurt/M. 1729, Neudruck Hildesheim 1967, S. 499a: „Wenn man auf das inwendige mehr als auf das äuserliche sichet, so stellen uns diese ersten 7 jahre die bleibende jugend der neugebohrnen christlichen religion vor, ob gleich das ansehen der vornehmen und andere dinge nicht dazu kommen sind, die vielmehr zum schein und pracht und zur äusserlichen sicherheit der bekäntnüß gedienet haben, als zum wesen des glaubens.“ Allerdings basierte diese Berufung auf Seckendorf offenbar auf einem absichtsvoll geänderten Zitat. Bei Seckendorf heißt es nämlich: „Demnach stellen diese sieben Jahr [sc. zwischen 1517 und 1524], wenn wir mehr auf das Innerliche als auf das Aeusserliche sehen, gleichsam die blühende Jugend der wieder an den Tag gebrachten Christlichen Lehre vor, ob wohl die Autorität der Potentaten und andere Dinge, so mehr zum Schein, Staat und Sicherheit, als der Religion selbst gehören, noch nicht darbey waren.“ VEIT LUDWIG VON SECKENDORFF: Ausführliche Historie des Lutherthums, Und der heilsamen Reformation …, Leipzig 1714, Bl. e2 v. Die textlichen Übereinstimmungen dürften dagegen sprechen, dass Arnold eine eigene Übersetzung der lat. Version des Seckendorfschen Werkes angefertigt und zitiert hat; die Distanzierung von dem Begriff der „Lehre“ und von der bei Seckendorf wertneutral behandelten – bei Arnold negativ besetzten – Rolle der weltlichen Obrigkeiten bei der Etablierung der Reformation deuten auf eine absichtsvolle, tendenziöse Manipulation des Zitates hin. Zu Seckendorf s. ZEEDEN: Martin Luther (wie Anm. 6), S. 113ff.; zu Arnold vgl. nur den Sammelband: DIETRICH B LAUFUSS und FRIEDRICH N IEWÖHNER (Hg): Gottfried Arnold, Wolfenbüttel 1995. 8 T HEODOSIUS HARNACK: Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre, Bd. 1, Erlangen 1862; Bd. 2, Erlangen 1886; zu den beiden Harnack vgl. meinen Aufsatz: Die Harnacks und die Seebergs, in: Hartmut Lehmann und Manfred Gailus (Hg.): Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870– 1970), Göttingen 2005 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 214), S. 165–222 (Lit.). 9 ADOLF VON HARNACK: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3: Die Entwicklung des kirchlichen Dogmas II/III, unveränderter Nachdruck der 4. Aufl. 1909 Darmstadt 1990, S. 809 Anm.; vgl. EGINHARD P. MEIJERING: Der „ganze“ und der „wahre“ Luther: Hintergrund und Bedeutung der Lutherinterpretation A. von Harnacks, Amsterdam 1983 (Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschapen, Afd. Letterkunde N.R. 46,3). 10 T HEODOSIUS H ARNACK: Luthers Theologie (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 1; ähnlich S. 6: „Gesammtanschauung Luthers“; u. ö.
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gegenreformatorischen Herausforderung11 typischen methodischen Grundentscheidung, „den früheren Luther aus dem späteren“12 zu erklären. Dieser Ansatz war von einem biographischen Reifungskonzept bestimmt, nach dem Luther nach und nach „abstreif[te] [,] was ihm noch aus seiner Jugendzeit und Bildungsepoche her anhaftete“, und er „immer mehr er selbst wird“ bzw. er in Auseinandersetzungen „seine volle Glaubensanschauung, wie sie unmittelbar schon anfänglich in ihm lebte“13, immer deutlicher explizierte. Adolf Harnacks eigenes Lutherbild hat demgegenüber in der „herrliche[n] Episode“14 der Jahre 1519 bis 1523 ihr Zentrum. In dieser Periode habe Luther „[a]lles an sich [zu] ziehen und zu einer wundervollen Einheit [zu] gestalten [vermocht], was in der Gegenwart lebendig sei, als sei ihm die Macht gegeben, wie Niemandem je zuvor, sein Ich zum geistigen Mittelpunkt der Nation zu bilden und mit allen Waffen gewappnet sein Jahrhundert in die Schranken zu rufen“15. Seine unausgesprochenermaßen auch gegen das Lutherbild seines Vaters gerichtete Frage: „Wer wagt es denn wirklich, den ‚ganzen Luther‘ zu repristinieren mit der Massivität seines mittelalterlichen Aberglaubens, den vollendeten Widersprüchen seiner Theologie, der seltsamen Logik seiner Argumente, den Fehlern seiner Exegese und der Ungerechtigkeit und Barbarei seiner Polemik?“16 ratifizierte eine ‚neuprotestantische‘ Wertungsperspektive, die im hierarchiekritischen Freiheits- und Subjektivitätspathos des „jungen“ Luther einen positiven Bezugspunkt, im scholastischen Doktrinarismus des protestantischen Kirchenvaters hingegen einen dezidiert nicht gegenwartsfähigen mittelalterlichen ‚Rest‘ ausmachte. Möglicherweise bereits Adolf Harnacks, sicher aber Karl Holls Lutherdeutung basierte dann auf einem in Abhängigkeit von oder in Analogie zu Dilthey entwickelten Persönlichkeitskonzept, das in der Jugend des genialischen Individuums die eigentlich formative und produktive Lebensphase sah17. Dass ‚das Eigentliche‘ beim „jungen“ Luther zu finden und nicht 11
Vgl. das Kapitel: Protestantische, vornehmlich lutherische Anti-Jesuitenpublizistik zwischen 1556 und 1618, in: KAUFMANN: Konfession und Kultur (wie Anm. 4), Abschn. 6, S. 243ff. 12 T HEODOSIUS HARNACK: Luthers Theologie (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 12. 13 Ebd. S. 13. 14 ADOLF VON HARNACK: Lehrbuch III (wie Anm. 9), S. 811. 15 Ebd. 16 Ebd. S. 817. 17 Vgl. in theologiegeschichtlicher Perspektive: MARTIN O HST: Die Lutherdeutungen Karl Holls und seiner Schüler Emanuel Hirsch und Erich Vogelsang vor dem Hintergrund der Lutherdeutung Albrecht Ritschls, in: Rainer Vinke (Hg.): Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick, Mainz 2004 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz B. 62), S. 19–50; zu Holls Wirkung auf Rückert:
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von historisch kontingenten Konstellationen und Kontroversen evoziert oder auch nur tangiert gewesen sei, entsprach – wenn ich recht sehe – mentalitätsprägenden basalen Grundüberzeugungen einer von der ‚Jugendbewegung‘ enthusiasmierten Zeit, denen auch Heinrich Boehmer in seinem wegweisenden Buch „Der junge Luther“ ihren Tribut zollte, indem er Luthers Jugend erst mit 37½ Jahren, mit der Wartburgzeit, enden ließ. Als sich zum „erstenmal das Tor der Wartburg hinter ihm schloß“, markierte dies nach Boehmer „einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben. Seine Jugend, darf man sagen, lag nun endgültig abgeschlossen hinter ihm. Aber“, so fragt Boehmer, „ist es nicht etwas kühn, ihn noch in jener Zeit als jung zu bezeichnen?“ Nein, antwortet Boehmer selbst, und zwar deshalb nicht, weil auch Luther „wie die meisten großen Männer der Religionsgeschichte, sich sehr spät entwickelt“ habe. „Erst in seinem dreißigsten Jahre, also in einem Lebensalter, in dem das Durchschnittsindividuum in der Regel schon nicht einmal mehr die Kraft aufzubringen vermag, ganz neue Anschauungen und Erkenntnisse innerlich sich völlig anzueignen, hat er überhaupt […] Neues zu gebären begonnen.“18 Das innovative Potential Luthers bildet demnach für Boehmer das sachliche Kriterium für die ‚Jugend‘ des „jungen“ Luther. Die entwicklungspsychologische Definition der Jugend des „young man Luther“, die Erik H. Erikson zugrundelegte19, basierte insofern auf einer mit der theologisch-biographischen Lutherforschung vergleichbaren Basisprämisse, als der entscheidende Schlüssel zu Luthers Entwicklung eben in seiner Jugend – die bei Erikson vor allem mit der Adoleszenz identifiziert wurde – zu finden sei.
B ERNDT HAMM: Hans Rückert als Schüler Karl Holls. Das Paradigma einer theologischen Anfälligkeit für den Nationalsozialismus, in: Thomas Kaufmann und Harry Oelke (Hg.): Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich“, Gütersloh 2002 (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 21), S. 273–309. 18 HEINRICH B OEHMER: Der junge Luther, Gotha 1925 (Die deutschen Führer Bd. 1), S. 388. In der von Heinrich Bornkamm besorgten Ausgabe (5. Aufl. Leipzig 1952): S. 350; zu Heinrich Boehmers Historiographie vgl. KURT NOWAK: Kirchengeschichte und Politik. Heinrich Boehmer als politischer Publizist, in: Theologische Versuche 14 (1984), S. 65–74; EIKE W OLGAST: Biographische Geschichtsschreibung: Heinrich Boehmer (1869–1927), in: Herbergen der Christenheit 19 (1995), S. 45–65. 19 ERIK H. ERIKSON: Der junge Mann Luther, Frankfurt/M. 1975 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 117); Originalausgabe: Young Man Luther. A Study in Psychoanalysis and History, New York 1958; zur Erforschung des „jungen“ Luther noch immer instruktiv: KARL-HEINZ ZUR MÜHLEN: Zur Erforschung des „jungen Luther“ seit 1876, in: Lutherjahrbuch 50 (1983), S. 49–125.
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III. Natürlich wäre es eine ganz illegitime Perspektive, die theologische und die historische Lutherforschung des 20. Jahrhunderts seit Holl ausschließlich im Banne des „jungen“ Luther zu sehen. An Stimmen gegen die vorrangige Bedeutung des „jungen“ Luther bei Holl und seinen Schülern hat es schon in den 1920er Jahren nicht gefehlt. Elert etwa stänkerte gegen Holl und Hirsch mit Sätzen wie: „Wer auch den Luther nach 1525 kennt und nicht annimmt, daß er von da ab seine eigene Theologie nicht mehr verstanden habe“20; und aus der Hollschule selbst, bei Heinrich Bornkamm etwa, ging ein vitales Interesse an der Lebensphase zwischen 1521/22 und 1532, dem Jahr des Frankfurter Anstands, als eigentlich formativer, die Reformation gestaltender Periode hervor21. Karin Bornkamms methodisch wegweisende komparatistische Analyse des frühen und des späteren Galaterkommentars hat unmissverständlich deutlich gemacht, wie sehr sich die theologischen Denkkoordinaten des „jungen“ und des „alten“ Luther in Hinblick auf die Formulierung seiner Rechtfertigungslehre dadurch unterschieden, dass er sie später nicht mehr primär in der Auseinandersetzung mit der römischen Kirche und Theologie, sondern unter Bezug auf das im Aufbau befindliche reformatorische Kirchenwesen zu entfalten hatte22. Gerade im Horizont diachroner theologiegeschichtlicher Fragestellungen wird deutlich, dass und inwiefern Luther ein hochgradig gegenwartsverantwortlicher, auf die Kontexte und Herausforderungen des Tages bezogener theologischer Schriftsteller war. Einen Prediger und Professor Luther, der mit älteren Manuskripten auf Kanzel und Katheder gestiegen wäre, scheint es in keiner Lebensphase gegeben zu haben. Insofern berührt die Frage nach dem „jungen“ oder dem „alten“ Luther im Kern das Problem der Kontextualität seines Werkes im ganzen. Eine historische Lutherinterpretation wird jedenfalls eher dazu neigen, der Rede vom „jungen“ oder „alten“ Luther eine bloß formale Qualität zuzuschreiben, etwa in der 20
WERNER ELERT: Die Lehre des Luthertums im Abriß. Mit einem Geleitwort von Gerhard Müller, Erlangen 21978, S. 150; zu Elert zuletzt: Rudolf Keller und Michael Roth (Hg.): Mit dem Menschen verhandeln über den Sachgehalt des Evangeliums. Die Bedeutung der Theologie Werner Elerts für die Gegenwart, Erlangen 2004. 21 HEINRICH B ORNKAMM : Martin Luther in der Mitte seines Lebens. Das Jahrzehnt zwischen dem Wormser und dem Augsburger Reichstag. Aus dem Nachlaß hg. von Karin Bornkamm, Göttingen 1979; zum durch Heinrich Bornkamms Tod verhinderten ursprünglichen Plan, in Fortführung des Boehmerschen Werkes (s. Anm. 18) die sich anschließende Lebensperiode bis 1532 zu ziehen, also jener Phase, in der „die eigentliche Reformation nach der Rückkehr von der Wartburg begonnen hatte“ vgl. das aus einschlägigen Zitaten Heinrich Bornkamms kompilierte Vorwort Karin Bornkamms, hier S. 9. 22 KARIN B ORNKAMM : Luthers Auslegungen des Galaterbriefs 1519 und 1531. Ein Vergleich, Berlin 1963 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 35).
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von Brecht in ihren paritätischen Proportionen eindrucksvoll ausgewogenen Periodisierung erstens bis 1521, zweitens bis 1532 und drittens bis 154623. Möglicherweise wäre es im Interesse der Historisierung eines solchen Schemas auch sinnvoll, eine der üblichen Lebensalterlehren24 als Referenzsystem anzuführen, zum Beispiel die des Terentius Varro, der die Lebenszeit in fünf Gruppen von je 15 Jahren einteilte: „bis 15 puer, bis 30 adolescens, bis 45 iuvenis, bis 60 senior, danach senex“25. Demnach wäre Luther etwa bis zur Übernahme seiner beruflichen Lebensstellung in Wittenberg ein adolescens, und bis zur Zeit des Abendmahlsstreites (um 1528) ein iuvenis gewesen. Eine solche Strukturierung dürfte jedenfalls für eine biographische Perspektive kaum weniger sinnvoll sein als die Orientierung an zäsurierenden Illustrationsdaten der politischen und der allgemeinen Reformationsgeschichte, die ja nur im Falle des Wormser Reichstags überzeugend mit einer biographischen Periode korreliert werden können. Wer jedenfalls vom „jungen“ und vom „alten“ Luther redet, muss bekanntlich auch den Luther „in der Mitte seines Lebens“ kennen26. Luther selbst ist als 47jähriger über der Nachricht vom Tode seines Vaters Hans in der Generationenfolge aufgerückt und damit im familiären Kontext zum „alten“ Luther geworden: „Ego succedo nunc in haereditate nominis, ut senior sim fere Lutherus in mea familia.“27 Wie auch immer man hier also chronologisch optiert: diese Fragen stellen sicher nicht unwichtige historische Ordnungsaufgaben, aber kaum ein theologisches Problem dar. Das theologische Problem liegt zweifellos auf der Ebene der sachlichen Differenzen oder Entwicklungen in Luthers Theologie und der Frage nach den Motiven und Anlässen dafür. Anhand zweier immer wieder diskutierter Themenkreise, seiner Abendmahlstheologie und seiner Stellung zur „Judenfrage“, möchte ich diesem Pro23
MARTIN B RECHT: Martin Luther, 3 Bde.: Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483– 1521, Stuttgart 31990; Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986; Bd. 3: Die Erhaltung der Kirche 1532–1546, Stuttgart 1987. 24 Vgl. KLAUS T. W IRAG: Cursus Aetatis. Lebensalterdarstellungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Diss. München 1995; W OLFGANG REINHARD: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 174ff. 25 REINHARD: Lebensformen, S. 175. 26 Das scheint B ERNHARD LOHSE aber nicht vorauszusetzen, wenn er formuliert: „Die pauschale Redeweise vom jungen und vom alten Luther sollte auf keinen Fall dazu führen, dass man irgendwann zwischen beiden eine scharfe Zäsur annimmt.“ Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, München 31997, S. 164. 27 Luther an Melanchthon 5.6.1530, WA.B 5, S. 351,29f. (Nr. 1584); MBW 1, Nr. 922; zu Luthers Verarbeitung der Todesnachricht vgl. auch WA.B 5, S. 349,18ff.; 351,20ff.; 379,13ff.; WA.TR 2, S. 81,8-12 (Nr. 1388); BRECHT: Luther (wie Anm. 23), Bd. 2, S. 364.
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blem des Verhältnisses vom „jungen“ und „alten“ Luther nun exemplarisch nachgehen.
IV. Dass Luthers Abendmahlskonzeption innerhalb des knappen Jahrzehnts zwischen Herbst 1519 – dem Erscheinen seines Sermons von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften28 – und Frühjahr 1528 – der Publikation seiner testimonialen Darstellung des Abendmahls gegen Ende der ersten, öffentlich geführten innerprotestantischen Abendmahlskontroverse Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis29 – einem beschleunigten, mehrschichtigen Transformationsprozess unterlag, dürfte communis opinio der einschlägigen Forschung sein. Ausgehend von einer stark an den Canon Quintus in Erasmus’ Enchiridion militis christiani erinnernden30, ethisch-kommunitären, die σύναξις betonenden Konzeption schritt Luther im Zuge der Zentrierung seiner Theologie auf das verbum promissionis im Sermon vom Neuen Testament31 und in De Captivitate Babylonica32 systematisch konsequent zu einer dezidiert reformatorischen Position fort, die die mit Christi wahrem Leib und Blut paradox identischen Elemente als Siegel und Bekräftigung der als Verheißungswort interpretierten Einsetzungsworte verstand. In den genannten Abendmahlsschriften von 1520 setzte Luther die leibliche Realpräsenz Christi selbstverständlich voraus, ohne dass ihr aber ein besonderer theologischer Eigenwert zugekommen wäre. Dies änderte sich bekanntlich in literarisch greifbarer Weise in seinem Sermon Von Anbeten des Sakraments33 von 1523 und bestimmte dann, erweitert um die bisher eher implizit vorausgesetzten als explizit ausgeführten christologischen Lehrgehalte, seine Äußerungen im innerreformatorischen Abendmahlsstreit. Überdies kann als unstrittig gelten, dass Luthers abendmahlstheologische Äußerungen der Jahre 1519 und 1520 primär im Horizont seiner Auseinandersetzung mit der römischen Theologie standen und in der Forderung des Laienkelchs, der Ablehnung der Messopfertheo28
WA 2, S. 742–758; Cl 1, S. 196–212. Zu Luthers Abendmahlstheologie zuletzt ausführlich: W OLFGANG S IMON: Die Messopfertheologie Martin Luthers. Voraussetzungen, Genese, Gestalt und Rezeption, Tübingen 2003 (Spätmittelalter und Reformation N.R. 22). 29 WA 26, S. 261–509; Cl 3, S. 352–516; StA 4, S. 13–258. 30 ERASMUS VON ROTTERDAM: Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Welzig, Bd. 1, Darmstadt 1968, S. 180ff. 31 WA 6, S. 353–378; Cl 1, S. 299–322; StA 1, S. 288–311. 32 WA 6, S. 497–573; Cl 1, S. 426–512; StA 2, S. 168–259. 33 WA 11, S. 431–456.
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rie und der Kritik an der Transsubstantiationslehre auch fortan innerhalb des evangelischen Lagers im ganzen unstrittige Sachverhalte betrafen, während die seit 1523 publizierten Schriften Luthers primär die Gegnerschaft unter den protestantischen Gesinnungsgenossen bzw. die Klärung der theologischen Beziehung zu den Böhmischen Brüdern betrafen. Das Verhältnis zwischen früheren und späteren Aussagen Luthers – oder, wenn man so will, zwischen „jungem“ und „altem“ Luther – stellt sich in Bezug auf die Abendmahlsfrage also einerseits als fortschreitender ‚endogener‘ Klärungsprozess, andererseits als von ‚exogenen‘ Faktoren, insbesondere einer erheblichen diskursiven Ausweitung der wahrgenommenen und zu diskutierenden Positionen, verursachter Entwicklungsgang dar. Beide Aspekte, der endogene Klärungsprozess und die diskursive Herausforderung, machen gerade in ihrer kaum entwirrbaren Verflechtung die Dynamik und die Dramatik von Luthers Entwicklung und der Behandlung der Abendmahlsfrage in der frühen Reformation aus. Das historische und theologische Schlüsseldokument für die Interpretation von Luthers Abendmahlstheologie in ihrer späteren Gestalt ist meines Erachtens seine Schrift von 1523; sie ist deshalb ein besonders komplexes und kompliziertes Dokument, weil sie bereits präzise Kenntnisse der symbolischen Argumentation der erst im Frühherbst 1525 wahrscheinlich durch Bucer34 publizierten Epistola christiana Hoens voraussetzt, deren wesentliche Inhalte Luther wohl im Sommer 152235 kennengelernt, und – wie es scheint – spontan zurückgewiesen hatte. Sodann ist wichtig, dass 34
KAUFMANN: Abendmahlstheologie (wie Anm. 3), S. 284ff.; diese These hat den Widerspruch von B ASTIAN J AN SPRUYT: Cornelius Henrici Hoen (Honius) and his epistle on the Eucharist (1525), Houten 1996, gefunden. Spruyts Argumentation gegen Bucer als Herausgeber der lateinischen Version der Epistola christiana basiert m. E. auf einer Fehlentscheidung hinsichtlich des Urdrucks, der nach Straßburg gehört; außerdem gewichtet Spruyt die von Straßburg aus betriebene Verbreitung der deutschen Übersetzung des sog. Hoen-Briefes und dessen Bedeutung im Kontext der publizistischen Offensive der Straßburger Reformatoren im Herbst 1525 nicht angemessen. Zu Hoen vgl. auch HARM KLUETING: Art. Hoen, in: RGG4 3 (2000), Sp. 1817; zu Bucer vgl. auch: MATHIEU ARNOLD und B ERNDT HAMM (Hg.): Martin Bucer zwischen Zwingli und Luther, Tübingen 2003 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 23). 35 Laut Titelangabe der 1525 gedruckten Epistola christiana wurde sie „ab annis quatuor“ (ZWINGLI: Opera 4, CR 91, S. 512,1) jemandem, ‚bei dem das ganze Urteil über die heilige Schrift stehe‘ („quem omne iudicium sacrae scripturae fuit“, S. 512,2f.) mitgeteilt. Diese Anspielung dürfte sich auf Luther beziehen und ergibt zurückgerechnet das Jahr 1521 oder 1522 (unter Voraussetzung des verbreiteten Usus, angebrochene Jahre mitzuzählen). Insofern halte ich die in der älteren Literatur vertretene These eines Wittenbergbesuchs Hinne Rodes im Sommer 1522 – entgegen der Datierung bei Clemen auf 1521! – für wahrscheinlicher, gegen OTTO CLEMEN: Hinne Rode in Wittenberg, Basel, Zürich und die frühesten Ausgaben Wesselscher Schriften, in: ders., Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (1897–1944), hg. von Ernst Koch, Bd. 1 (1897–1903), Leipzig 1982, S. 24–50.
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der Sachgehalt der Schrift, nämlich die Explikation der leiblichen Realpräsenz anhand der Auslegung der Einsetzungsworte und die frömmigkeitspraktische Frage des Umgangs mit dem Sakrament, nicht nur primär in Bezug auf die Auseinandersetzung Luthers mit den Böhmen – wie in der von Koffmane bearbeiteten Einleitung in WA 11 (1900) vorausgesetzt36 –, sondern wohl auch in Hinblick auf nicht näher bezeichnete „leychtfertige geyster“37 aus dem eigenen Lager und schließlich in Bezug auf die ‚altgläubigen‘ Gegner von entscheidender Bedeutung gewesen ist. Denn Luther war nicht nur – wie Koffmane richtig nachgewiesen hat38 – aufgrund einer Anfrage Markgraf Georgs von Brandenburg-Ansbach vom 5. Januar 1523 um Aufklärung darüber gebeten worden, was von den umlaufenden Gerüchten zu halten sei, dass er angeblich lehre, dass es „nit noth [sei], daß man das Sacrament Eucharistiae anbete, ehre, auch nit vonnothen, in Betbuchlein ze beten und Reliquiens Sanctorum […] zu veneriern“39. Sondern er war – was Koffmane übersehen hat und auch in der weiteren Literatur nicht berücksichtigt worden ist – im Rahmen der Verhandlungen des Nürnberger Reichstags folgender Irrlehre bezichtigt worden: „Zum ersten solde er von sich schreiben und predigen, das under der gestalt des brots der ware leichnam cristi nicht were, ßunder allein ein figura, wie im abentessen auch gewest, und konde auch nimancz das sacrament consecriren; dan die wort der benediction, wie Cristus das brott benedicirt hett, waren nicht vorhanden. Das ewangelium saget woll: Accepit Jesus panem, benedixit et fregit etc., aber mit welchen worten, und wie ers benedicirt hett, das wust man nicht.“40 Auch wenn der kursächsische Gesandte Hans von Planitz insbesondere das auf das Sakrament und die Christologie bezogene 36
WA 11, S. 417–422. WA 11, S. 434,2. 38 WA 11, S. 417. 39 WA.B 3, S. 9,50-52 (Nr. 568); Enders 4, S. 58f.; diese Aufforderung findet sich nicht in dem mit Grußformel und Datum schließenden Brief (Datum: Prag 5.1.1523) selbst, sondern in einer überlieferungsgeschichtlich selbständigen „Cedula“, die nur den Hinweis „Datum ut supra“ (WA.B 3, S. 10,61), aber kein eigenes Datum trägt. Ob die „Cedula“ wirklich zu diesem Brief gehört, scheint mir unsicherer zu sein, als gemeinhin angenommen wird. Wenn sich Luthers Bemerkung gegenüber Spalatin (22.1.1523, WA.B 3, S. 18–20 [Nr. 574]: hier S. 19,20f.), Markgraf Georg habe ihm geschrieben und sich für gewisse, in seinem Namen geschehene Verunglimpfungen entschuldigt, auf den Brief vom 5.1.1523 beziehen würde, hingegen die an derselben Stelle gebotene Information über ein diesbezügliches Schreiben Markgraf Georgs an Friedrich von Sachsen aus dem entsprechenden Brief nicht hervorgeht, ist wohl die Möglichkeit eines weiteren Briefes des Brandenburgers an Luther in diesem zeitlichen Kontext nicht von der Hand zu weisen. Vielleicht gehörte die „Cedula“ in diesen Kontext. 40 Planitz an Kurfürst Friedrich von Sachsen 2.1.1523, in: Ernst Wülcker und Hans Virck (Hg.): Hans von Planitz. Berichte aus dem Reichsregiment in Nürnberg 1521– 1523, Leipzig 1899, Neudruck Hildesheim 1979, S. 301–305 (Nr. 132): hier S. 302f. 37
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Gerücht nicht recht glauben wollte, ließ er seinem Landesherrn gegenüber gleichwohl keinen Zweifel daran, dass es – wie auch Markgraf Joachim von Brandenburg ihm gegenüber im Gespräch betont hatte – politisch opportun werden könnte, Luther fallen zu lassen41, falls es sonst um die Kurwürde der Wettiner geschehen sei. Dass diese Gerüchte irgendeinen zwingend nachvollziehbaren sachlichen Anhaltspunkt in öffentlich zugänglichen Äußerungen des Wittenberger Reformators gehabt haben sollten, wird man wohl ausschließen können, und auch die Genese dieses Gerüchtes ist – soweit ich sehe – nicht rekonstruierbar. Es macht aber meines Erachtens verständlich, warum Luther in Von Anbeten des Sakraments so ausführlich auf die Frage der leiblichen Gegenwart Christi in Brot und Wein eingeht, eine Frage, von der er immerhin in Hinblick auf die Böhmen feststellt, dass er sich aufgrund mündlicher Äußerungen hier bisher einer Übereinstimmung sicher gewesen sei42. Wäre es ihm nur um die Aufklärung eines Missverständnisses im Verhältnis zu den Böhmen gegangen, hätte die extensive Darlegung seiner eigenen Abendmahlslehre in einer durchaus umfänglichen Druckschrift kaum nahegelegen. Offenbar ging es Luther neben der böhmischen Diskussionslage auch darum, „yderman“43 deutlich und unmissverständlich klarzumachen, dass und warum er den Glauben an Christi leibliche Gegenwart als Essenz der Einsetzungsworte für die „summa […] des gantzen Evangelii“44 hielt. Im Frühjahr 1523 kämpfte Luther also einerseits gegen altgläubige Verleumdungen, die ihm die Preisgabe der leiblichen Realpräsenz vorwarfen, andererseits gegen innerreformatorische Gegner – sicher Karlstadt und dessen sächsische Anhänger –, die in Anknüpfung und Weiterführung seiner eigenen abendmahlstheologischen Äußerungen, und möglicherweise auch unter Berufung auf die Böhmen, eine rein figurative Deutung der Einsetzungsworte vertraten. In seinem Brief an die Christen zu Straßburg wider den Schwärmergeist vom Jahresende 1524 bekannte Luther, dass, hätte er „fur funff jaren“ eine überzeugende Begründung dafür kennengelernt, „das ym Sacrament nichts
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Ebd. S. 303f. „Denn ich mundlich höret von yhn [sc. den böhmischen Gesandten], bekenne, wie yhr eyntrechtlich hallten sollt, das Christus warhaffig mit seynem fleysch und blutt unter dem sacrament sey, wie es von Marien geporn und am heyligen creutz gehangen ist, wie wyr deutschen gleuben.“ WA 11, S. 431,10-13. Als Anlass seiner „den Brudern genant Valdenses ynn Behemen und Mehren“ (ebd. Z. 1f.) gewidmeten Schrift gibt Luther sakramentstheologische Irritationen aufgrund des brüderischen Kinderkatechismus an, in dem sich die Lehre finde „das Christus ym sacrament nicht selbstendig, naturlich, auch desselb nicht anzubeten sey“ (ebd. Z. 5-7). 43 WA 11, S. 431,22. 44 WA 11, S. 432,25. 42
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denn brod und wein were“45, er dies mit Freuden aufgenommen hätte. Seine ins Jahr 1519 zu datierende „Abendmahlsanfechtung“46 schilderte er folgendermaßen: „Ich hab wol so hartte anfechtunge da erlitten und mich gerungen und gewunden, das ich gerne eraus gewesen were, weyl ich wol sahe, das ich damit dem Bapstum hette den grössisten puff kund geben. Ich habe auch zween gehabt, die davon geschickter zu myr geschrieben haben denn D. Carlstad und nicht also die wort gemartert nach eygenem dunckel. Aber ich byn gefangen, kan nicht eraus, der text ist zu gewaltig da und will sich mit worten nicht lassen aus dem synn reyssen.“47 Diese ‚autobiographische‘ Bemerkung Luthers enthält zweifellos ‚authentischen‘ Erinnerungsstoff, ist aber natürlich primär als Aussage des Jahres 1524 zu würdigen. Den Empfängern seines Briefes, der Straßburger Gemeinde, aber auch der allgemeinen ‚Öffentlichkeit‘, teilt Luther auf diese Weise folgendes mit: 1. Er habe Verständnis für Zweifel an der leiblichen Gegenwart Christi im Abendmahl, denn auch er selbst habe darüber Anfechtungen erlitten. 2. Er habe nach exegetischen Möglichkeiten gesucht, den biblischen Text in dem Sinne, „das ym Sacrament nichts denn brod und weyn were“48, auszulegen, weil dies der denkbar stärkste Schlag gegen das Papsttum gewesen sei. Er sei sich also der – ja etwa von Hoen betonten49 – reformationsstrategischen Bedeutung dieser Frage bewusst. Er habe auch die exegetischen Lösungen, die man ihm nahegebracht habe, geprüft. Gemeint war außer dem Hoenbrief wohl ein Schreiben Franz Kolbs vom August 152450, in dem Luther eine vor allem auf Joh 6,63 basierende exegetische Argumentation gegen die leibliche Realpräsenz bekanntgeworden war. Daraus sollte implizit folgen: 3. Die Adressaten könnten Luther glauben, dass es nach Prüfung aller exegetischen Alternativen keine dem eindeutigen Text entsprechende Auslegung gäbe, die die Preisgabe der leiblichen Realpräsenz rechtfertige. Neben der argumentationsstrategischen Bedeutung dieser Bemerkung Luthers im Kontext des Spätjahres 1524 kommt der Erinnerung an seine „Abendmahlsanfechtung“ natürlich eine entscheidende Funktion für die Rekonstruktion seiner eigenen abendmahlstheologischen Entwicklung zu. 45
WA 15, S. 394,11-13. GOTTFRIED KRODEL: Die Abendmahlslehre des Erasmus von Rotterdam und seine Stellung am Anfang des Abendmahlsstreites, Diss. theol. masch. Erlangen 1955, Exkurs V, S. 19ff. 47 WA 15, S. 394,14-20. 48 WA 15, S. 392,12f. 49 Vgl. ZWINGLI: Opera 4 (CR 91), S. 512,35ff.; 513,24ff.; 516,21ff. 50 Vgl. WA 15, S. 384; W ALTHER KÖHLER: Zwingli und Luther. Ihr Streit über das Abendmahl nach seinen politischen und religiösen Beziehungen I, Leipzig 1924 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 6), S. 178f.; WA.B 3, Nr. 769 (27.8.1524); vgl. KAUFMANN: Abendmahlstheologie (wie Anm. 3), S. 178, 266. 46
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Das sicher eindeutigste Zeugnis einer ‚gewundenen‘ Exegese in der Abendmahlsfrage war zweifellos sein Sermon von 1519, der in Sätzen wie: „Alßo ist diß sacrament / yn brott und weyn empfahen / nit anders / dan eyn gewiß tzeychen empfahen / dißer gemeynschafft unn eynleibung mit Christo und allen heyligen“51 faktisch auf eine 1 Kor 10,17 extrapolierende ekklesiologische Allegorisierung des Leibes Christi und eine Preisgabe der leiblichen Realpräsenz des Leibes Christi in den Elementen hinauslief. Genau diese abendmahlstheologische Konzeption, die Luther selbst in publizistisch erfolgreicher, seine Rezeption in Böhmen begründender Weise propagiert hatte, unterzog er 1523 in Von Anbeten des Sakraments einer radikalen Kritik. Denn der zweite „Yrthum“52 in Sachen Abendmahl nach dem ersten, der Auslegung des est als significat53, bestand nach Luthers Sicht des Jahres 1523 darin, die verba institutionis von 1 Kor 10,17 her folgendermaßen zu deuten: „Wenn yhr diß brott und weyn nehemet, ßo werdet yhr meyns leybs teylhafftig, das also das sacrament nichts anders sey denn gemeynschafft am leybe Christi […].“54 In dem „Ander Yrthum“55 kämpfte Luther also eine abendmahlstheologische Konzeption nieder, von der er voraussetzte, dass sie gegenwärtig noch Anhänger besitze56, von der er aber zugleich verschwieg, dass er selbst es wenige Jahre zuvor gewesen war, der dieser Lehrposition mit einem publizistischen Nachdruck zur Verbreitung verholfen hatte wie kein zweiter. Seine den Sachstand des Sermons vom Neuen Testament und De captivitate kongenial zusammenfassende Rekapitulation seiner Abendmahlslehre, die er am Anfang von Von Anbeten bot57, schloss er mit der Bemerkung: „Das ist unßer meynung geweßen unnd noch an dißem sacrament.“58 Für das Jahr 1520 stimmte das, für 1519 natürlich nicht. Angesichts der „harte[n] anfechtunge[n]“59, die Luther in der Frage der leiblichen Realpräsenz befallen hatten, ist kaum vorstellbar, dass ihm selbst verborgen geblieben wäre, dass er 1523 eine Lehre bekämpfte, die er 1519 selbst vertreten hatte. Doch er vollzog diese Selbstkorrektur stillschweigend und im Horizont einer explizit an die Böhmen gerichteten Schrift. Diese Selbstkorrektur war 51
WA 2, S. 743,20-22 = Cl 1, S. 197,27-29. WA 11, S. 437,12. 53 WA 11, S. 434,5–437,11. 54 WA 11, S. 437,16f. 55 WA 11, S. 437,12; der entsprechende Passus findet sich: 437,12–441,17. 56 Z. B.: „Wollen sie auff yhrem synn bleyben und solchen unßern verstandt [in bezug auf die Deutung der sakramentalen Gemeinschaft] nicht annemen, ßo laß sie faren. Wyr haben yhn dennoch den spruch [sc. 1 Kor 10,1] ungewiß gemacht […].“ WA 11, S. 440,22-24. 57 WA 11, S. 432,10–433,33. 58 WA 11, S. 433,34. 59 WA 15, S. 394,14f. 52
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einerseits aufgrund seiner Entdeckung des effektiven, promissorischen Charakters der Einsetzungsworte, andererseits wegen der rezeptionsgeschichtlichen Wirkungen seiner Konzeption von 1519 möglich und nötig geworden. Die unbedingte Prädominanz des Wortes gegenüber einer vernunftgemäßen Auslegung60 der biblischen Abendmahlsüberlieferung, wie sie Luther seit 1523 immer wieder einschärfte, basierte auf der persönlichen Erfahrung des Reformators, hier selbst ‚gefehlt‘ zu haben. Wollte man die Rede vom „jungen“ und vom „alten“ Luther auf seine Entwicklung in der Abendmahlsfrage anwenden, wäre es unvermeidlich, sie chronologisch nahe aneinanderzurücken. Als markante Differenz zwischen „jungem“ und „altem“ Luther aber ergäbe sich eine durch rezeptionsgeschichtliche Wirkungen früherer Schriften veranlasste Selbstkorrektur. Den „jungen“ und den „alten“ Luther trennt und verbindet nicht nur ein bestimmter Zeitraum, sondern die komplexe Erfahrung seiner offenen, vielfältigen, disparaten und zu Präzisierungen nötigenden Rezeptionsgeschichte. Oder anders formuliert: Den „jungen“ und den „alten“ Luther trennt und verbindet die Geschichte der reformatorischen Bewegung. Dies aber bedeutet, dass Lutherforschung nur als Reformationsgeschichtsforschung sinnvoll möglich ist.
V. In Bezug auf mein zweites Beispiel, die „Judenfrage“, wird man geneigt sein, das chronologische Spatium zwischen dem „jungen“ und dem „alten“ Luther weiter zu spannen, also etwa mit den Eckpunkten 1523, dem Erscheinungsjahr von Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei und 1538, der Schrift Wider die Sabbater oder gar 1543, der Publikation von Von den Juden und ihren Lügen, zu fixieren. Die revisionistische Haltung, die der „alte“ Luther in der Judenfrage einnahm, war durch eine Reihe an Motiven und Erfahrungen bedingt, die sich mittelbar als Rezeptionsgeschichte seiner Schrift von 1523 beschreiben lassen61. 60
Vgl. etwa die Zielangabe seiner Argumentation: „[…] das wyr sehen, wie unmöglich es sey, auf rechter ba(e)n tzu bleyben, wo das wort nicht am höhisten geacht und der glaube daran geübt wirtt.“ WA 11, S. 434,3f. Oder der Appell: „Da hütt dich nu für [sc. vor der tropischen Deutung des ‚est‘ als ‚significat‘], laß vernunfft und witze faren, die sich bekumert vergeblich, wie fleysch und blutt da seyn müge […].“ Ebd. S. 434,17f. In bezug auf die von ihm früher selbst vertretene ekklesiologisch-allegorische Auslegung des Leibes Christi urteilt er: „Solch gedancken haben woll eyn hübschen scheyn für der vernunfft, wenn man yhn wollt nach geben […].“ Ebd. 438,10f. 61 Da ich mich erst unlängst zu diesem Thema geäußert und in diesem Zusammenhang die einschlägigen Quellen und die umfängliche Sekundärliteratur ausgewiesen habe,
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Die Schrift Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei war von ihrem ursprünglichen Entstehungskontext her dadurch veranlasst gewesen, dass Luther während der Verhandlungen des Nürnberger Reichstages vorgeworfen worden war, die christologische Zwei-Naturen-Lehre zu leugnen und aus Jesus Christus einen bloßen Menschen zu machen. Luther fand diesen Vorwurf verständlicherweise absurd, nahm ihn aber zum Anlass, anhand alttestamentlicher Schlüsselstellen die Messianität und die gottmenschliche Personalität Christi zu erweisen. Die apologetische Tendenz dieses Nachweises gegenüber seinen römischen Kritikern kombinierte er mit der rhetorischen Strategie, den Juden das unter der Finsternis des Papsttums verborgene, nun erstmals seit Jahrhunderten wieder aufscheinende Evangelium nahebringen zu wollen. Die Idee dazu war unter dem Eindruck seines persönlichen Umgangs mit dem nahe Wittenberg lebenden jüdischen Konvertiten Bernhard, der von Luther selbst wesentliche Anregungen zum Christentum empfangen hatte, entstanden. Die Tatsache, dass Luther in dieser Schrift ausschließlich die Papstkirche dafür verantwortlich machte, dass die Juden bisher bekehrungsresistent geblieben waren, verband sich mit der Hoffnung, dass dies nun in nennenswertem Umfang anders werden möchte. Zugleich zielte Luther von vornherein darauf ab, die Juden zu „rechten“ Christen zu machen, ließ die Taufe als Moment auf diesem Weg aber völlig unerwähnt und steigerte damit gegenüber der bisherigen Konversionspraxis der Papstkirche das religiöse Anspruchsniveau des Übertritts zum evangelischen Christentum in geradezu dramatischer Weise. Die Rezeption von Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei lässt keinen Zweifel daran zu, dass christliche und jüdische Zeitgenossen hierin den Beginn einer neuartigen Beziehungsgeschichte sahen. Katholische Kontroverstheologen polemisierten gegen Luther als Judenfreund, jüdische Autoren begrüßten ihn als Gesinnungsgenossen Reuchlins und als Bahnbrecher einer neuen Haltung der Toleranz und kontaktierten ihn vereinzelt in einer entsprechenden Erwartungshaltung, und reformatorische Parteigänger unternahmen verstärkte Anstrengungen, Juden insbesondere auf literarischem Wege die Plausibilität des christlichen Glaubens auch und vor allem auf der Baerlaube ich mir zur Begründung für die hier in knapp rekapitulierender Form präsentierten Thesen einen Verweis auf diese Publikation: T HOMAS KAUFMANN: Luthers „Judenschriften“ in ihren historischen Kontexten, Göttingen 2005 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen: Philologisch-Historische Klasse 2005,6); an wichtiger neuerer Literatur seien lediglich genannt: P ETER VON DER OSTEN-SACKEN: Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31), Stuttgart 2002; ACHIM DETMERS: Reformation und Judentum, Stuttgart 2001 (Judentum und Christentum 7); DEAN BELL und STEPHEN B URNETT (Hg.): Jews, Judaism, and the Reformation in Sixteenth Century Germany, Leiden 2006 (Studies in Central European Histories 37).
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sis einer lectio christiana des Alten Testaments nahezubringen. Weltliche Obrigkeiten evangelischen Bekenntnisses sahen sich unter Berufung auf Luther zu einer fiskalisch attraktiven, bisher seitens der Theologen immer wieder in Frage gestellten Duldungspolitik berechtigt und trugen damit mittelbar zur zeitweiligen Stabilisierung jüdischen Lebens im Alten Reich bei. Luther aber sah sich mehr und mehr mit dem Vorwurf konfrontiert, dass der mit seiner Schrift von 1523 eingeleitete Umschwung im Verhältnis zu den Juden und seine Ermahnung zur Freundlichkeit als eines Mittels der Werbung für das Christentum das genaue Gegenteil dessen bewirkte, was er intendiert und erwartet hatte: eine nennenswerte Anzahl an Konversionen. Seine Anfälligkeit für jede Form von Judenpolemik, für Enthüllungspropaganda von Konvertiten wie Antonius Margaritha, für vorreformatoriche Antijudaica, stand einerseits in einer biographischen Kontinuitätslinie mit Auffassungen des jungen Wittenberger Bibelprofessors, bildete andererseits einen Reflex historischer Erfahrungen oder Imaginationen, die Luther immer deutlicher davon überzeugt sein ließen, er selbst sei durch seine frühere Publizistik mit dafür verantwortlich, dass Juden Juden blieben und Christus schmähten. Dass ihm zuletzt buchstäblich jedes Mittel recht war, um den Fortbestand jüdischen Lebens in protestantischen Städten oder Territorien zu verhindern, war die Konsequenz der geradezu tragischen Selbstkorrektur seiner judenpolitischen Optionen, die in Luthers Sicht dadurch notwendig geworden war, dass sich sein euphorisches Vertrauen auf die Durchsetzungskraft des Evangeliums auch gegenüber den Juden als völlig verfehlt erwiesen hatte. Luthers Judenhass ist die Kehrseite seiner Christusliebe und eine Folge seines prophetischen Selbstverständnisses und Wahrheitsanspruchs. Die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Luther bewusst hochstilisierte vermeintliche Proselytenmacherei der Juden in der Sabbaterschrift und die vor allem den Juden zur Last gelegte Argumentation christlicher Hebraisten wie Sebastian Münster, gegen die Luther in Von den Juden und ihren Lügen kämpfte, waren rhetorisch-theologische Strategiefelder, auf denen er sein eigentliches Ziel verfolgte: die bedingungslose und dauerhafte Austreibung der Juden aus protestantischen Stadt- und Territorialstaaten. In Bezug auf die Judenfrage stellt sich das Verhältnis des „jungen“ zum „alten“ Luther also ähnlich dar, wie in der Abendmahlsfrage, obwohl der zeitliche Abstand, um den es in beiden Fällen geht, deutlich differiert: Luther vollzog eine Selbstkorrektur, die freilich in Bezug auf die „Judenfrage“ keinen grundsätzlichen theologischen Wandel, sondern einen judenpolitischen Paradigmenwechsel bedeutete. Eine irgendwie theologisch
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positiv zu bewertende Religion war das Judentum für Luther in keiner Lebensphase.
VI. Die Selbstkorrekturen Luthers in der Abendmahls- und in der Judenfrage wurden nicht in dem Sinne explizit vollzogen, dass er sie etwa im Stil der Augustinschen Retractationes öffentlich inszeniert hätte, obschon sein großes Selbstzeugnis von 1545 immerhin Momente einer abgeklärten Lebensbilanz des evangelischen ‚Kirchenvaters‘ erkennen lässt. Einzelne seiner Zeitgenossen, Karlstadt zuerst und die ‚Schwärmer‘, später auch die Juden, haben seine Selbstkorrekturen sensibel registriert. Aber eine explizite Revokation seiner abendmahlstheologischen ‚Irrung‘ von 1519 oder seiner Bekehrungshoffnungen von 1523 hätte den späteren Luther allenfalls anfechtbarer gemacht und war angesichts der permanenten Bedrängnisse und Herausforderungen durch den ‚römischen Antichristen‘ keine realistische Option. Luthers Selbstkorrekturen waren natürlich auch die Folge noch unabgeschlossener theologischer Reflexionen, die unter dem Druck der Zeitläufte, im Eifer des antirömischen Kampfes, in der Euphorie des unerwarteten Erfolges und der sich darin dokumentierenden heilsgeschichtlichen Wende publiziert wurden und sich für den Wittenberger Professor erst im Modus ihrer Rezeption als problematisch erwiesen. Denn Luther formulierte seine Theologie seit Jahresende 1517 niemals mehr außerhalb des geschichtlichen Stromes, in dem er stand, sondern im Angesicht der lebendigen Herausforderungen, die ihm begegneten, und der vielfältigen Reaktionen, die er provozierte. Die v. a. innerprotestantische Rezeptionsgeschichte Luthers ist ein wesentliches Movens dieser Selbstkorrekturen des „alten“ gegenüber dem „jungen“ Luther geworden. Insofern ist die Dominanz der Lutherrezeption in der Varianz ihrer Ausformungen das Schlüsselproblem im Verhältnis zwischen dem „alten“ und dem „jungen“ Luther, zwischen Luther und der reformatorischen Bewegung62 und in Bezug auf die Frage nach ‚Einheit und Vielfalt‘ der Reformation63. Für eine historische Lutherinterpretation gibt es gar keine Alternative zum „ganzen“ Luther, der freilich weder als Lehrer einer kirchlichen theologia perennis noch als gesammelte, abgerundete Persönlichkeit im Sinne 62
Vgl. zuletzt: THOMAS KAUFMANN: Luther und die reformatorische Bewegung in Deutschland, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, S. 185–196. 63 BERNDT HAMM, BERND MOELLER, DOROTHEA W ENDEBOURG: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995.
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des 19. Jahrhunderts zu konstruieren, sondern als die angefochtene, gebrochene, notorisch überforderte Gestalt des zu Unrecht verurteilten Ketzers zu rekonstruieren ist64.
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In diese Richtung weist: THOMAS KAUFMANN: Martin Luther, München 2006 (Beck’sche Reihe 2388).
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Die Zweidimensionalität des Mensch-Seins: Die zweierlei Gerechtigkeit in Luthers De votis monasticis Iudicium „Die Rückkehr Luthers aus dem Kloster in die Welt, in den ‚Beruf‘, ist – echt neutestamentlich – der heftigste Angriff und Stoß, der seit dem Urchristentum gegen die Welt geführt worden ist. Nun wird in der Welt gegen die Welt Stellung bezogen, der Beruf ist der Ort, an dem dem Ruf Christi geantwortet und so verantwortlich gelebt wird. So ist zwar die mir im Beruf gesetzte Aufgabe eine begrenzte, zugleich aber stößt die Verantwortung vor dem Ruf Jesu Christi durch alle Grenzen hindurch.“1
So äußerte sich Dietrich Bonhoeffer in seiner Ethik, um „den Ort der Verantwortung“ des christlichen Lebens zu beschreiben. Man kann aber durchaus auch sagen, dass Luthers Rückkehr aus dem Kloster in die Welt und die damit verbundene Aufwertung des „alltäglichen“ Lebens, ein heftiger Angriff und Stoß gegen die in seiner Zeit herrschenden Vorstellungen von der rechten Gotteskindschaft und dem Weg zum Heil gewesen ist. Luthers Ablehnung des Mönchswesens betrifft also nicht nur das Verhältnis des Gläubigen zur Welt, sondern auch und sogar an erster Stelle dessen Verhältnis zu Gott, d.h. die Gestalt der aus dem Glauben an Christus konstituierten christlichen Existenz. Die Voraussetzung dafür und für die Wirkmächtigkeit seiner Kritik war – und dies ist meine These – eine anthropologische, nämlich eine neue Definition der menschlichen Existenz, d.h. des Mensch-Seins. Luther sah den Menschen und die Bezüge, in denen er lebt und handelt, bekanntlich in zwei Dimensionen. Schon in den Schriften von 1518/1519, im Sermo de triplici iustitia und im Sermo de duplici iustitia, finden wir, dass Luther den Menschen in seinem Gottesbezug als vollkommen passiv definiert, d.h. als ein Geschöpf, dessen Identität in dem unerschütterlichen Vertrauen auf den Schöpfer begründet ist. Im Verhältnis zu den anderen Kreaturen jedoch kommt der Mensch als ein aktives Wesen in den Blick, dessen „humanitas“ bzw. Mensch-Sein sich in der Liebe zu anderen Menschen und anderen Geschöpfen verwirklicht. Diese grundlegende Definition spiegelt sich in Luthers Konzept der zweierlei Gerechtigkeit wider. In seiner Schrift De votis monasticis Iudicium, die zweifellos zu 1
DIETRICH B ONHOEFFER: Ethik, hg. von Ilse Tödt, Eduard Tödt, Ernst Feil und Clifford Green, München 1992 (Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 6), S. 291f.
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seinen großen reformatorischen Hauptschriften zählt, wandte er dieses Konzept auf eine seinerzeit virulente Problematik des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens an. Sein Angriff und Stoß – um noch einmal mit Bonhoeffer zu reden – richtete sich gegen die im Mönchtum praktisch umgesetzte Vorstellung von einer „humanitas“, die sich dadurch auszeichne, sowohl im weltlichen als auch im geistlichen Bereich autonom handeln und so zum eigenen Heil aktiv beitragen zu können. Die vorhandenen Kommentare zu Luthers Iudicium De votis monasticis, seiner wichtigsten Schrift gegen das Mönchtum, haben diese theologische Grundvoraussetzung für seine Argumentation zwar nicht völlig ignoriert, aber nur nebenbei erwähnt und nicht als ein hermeneutisches Prinzip für die Anlage der Schrift erfasst. Es ist ihnen entgangen, wie sehr Luthers Stellungnahme von der theologischen Maxime der zweierlei Gerechtigkeit durchdrungen ist2. Das könnte daran liegen, dass diese Thematik – die zweierlei Gerechtigkeit – nicht zu den traditionellen theologischen Topoi avanciert ist. Die zweierlei Gerechtigkeit gehörte nämlich zu den lehrmäßigen Fundamenten der Wittenberger Theologie, wie sie seit Melanchthon in Loci communes gebündelt vorlag. Man begann nämlich den Inhalt der heiligen Schrift – die sogenannte analogia fidei – bereits mit der Zusammenstellung von Loci zu einem corpus doctrinae zu gestalten3. Die zweierlei Gerechtigkeit funktionierte in diesem System als erkenntnistheoretische Grundlage, die den inhaltlichen Zusammenhang der loci überhaupt erst gewährleistete. Man könnte sie auch als eine Art Kreislaufsystem oder Nervensystem im „corpus“ der reformatorischen Lehre bezeichnen. Die Theologie Luthers bzw. die einzelnen Loci der Wittenberger Theologie werden also von dem anthropologischen Konzept der zweierlei Gerechtigkeit wie von einem verborgenen Nervensystem durchzogen. Legt man das Funktionieren dieses Nervensystems frei, dann wird auch die innere Kohärenz der reformatorischen Theologie Luthers insgesamt klar4. Die zweierlei Gerechtigkeit ist, neben anderen ähnlichen Lehrfundamenten wie der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, sozusagen die „Grammatik“ der Sprache reformatorischer Theologie. Der sogenannte reformatorische Durchbruch Luthers kann deshalb als ein Sich-Einlassen auf neue Sprachregeln innerhalb von neuen Paradigmen des Denkens und der Verkündigung bezeichnet werden. 2
Vgl. z.B. BERNHARD LOHSE: Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttingen 1963, bes. S. 363–370; HEINZMEINOLF STAMM: Luthers Stellung zum Ordensleben, Wiesbaden 1980 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 101), bes. S. 49–56. 3 Vgl. IRENE DINGEL: Melanchthon und die Normierung des Bekenntnisses, in: Günter Frank (Hg.): Der Theologe Melanchthon, Stuttgart 2000, S. 195–211. 4 Z.B. in der neuen Untersuchung von BO KRISTIAN HOLM: Zur Funktion der Lehre bei Luther. Die Lehre als rettendes Gedankenbild gegen Sünde, Tod, und Teufel, in: Kerygma und Dogma 51 (2005), S. 17–32.
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1. Die theologische Bedeutung der zweierlei Gerechtigkeit Luther unterscheidet bekanntlich zwischen der aktiven Gerechtigkeit des Menschen, die in seinem Gehorsam dem göttlichen Gesetz gegenüber besteht und eine eigene Leistung hervorbringt, und der passiven Gerechtigkeit des Menschen, die Gott umsonst, gemäß seiner unerforschlichen Barmherzigkeit und Gnade, seinen auserwählten Kindern schenkt. Viele Vorgänger und Zeitgenossen Luthers haben dagegen vorausgesetzt, dass das Mensch-Sein vor Gott nur in einer Art von Gerechtigkeit ans Ziel kommt, nämlich in der Erfüllung von Gottes Gesetz. Gottes Gnade kommt dem Gläubigen lediglich in der Erfüllung der Forderungen des Gesetzes zu Hilfe. Sie macht die menschliche Leistung zu einer gottgefälligen. Eine solche Theologie verkennt, dass die menschliche Existenz überhaupt, und auch das neue Leben in Christus, nur auf Gottes unbedingter Entscheidung, den Menschen (neu) zu erschaffen, ruht, d.h. einzig und allein auf Gottes unerklärbarer Liebe und Gunst. Daher kann Luther sagen, dass der Mensch vor Gott nur deshalb gerecht ist, weil Gott ihn als Gerechten ansieht oder durch das Wort der Absolution neu erschafft. Diese passive Gerechtigkeit begründet die neue Identität des Menschen als Kind Gottes. Die aktive Gerechtigkeit in den Bezügen und Erfordernissen des Alltags in der Welt geht aus dieser neuen Identität hervor. Dies ist sozusagen das „Design“, das Gott dem menschlichen Leben zugrunde gelegt hat. Im Jahre 1535 hat Luther in der Vorrede seines großen Galaterbriefkommentars diese Unterscheidung der zwei Arten menschlicher Gerechtigkeit als „unsere Theologie“ bezeichnet und die Notwendigkeit einer adäquaten Unterscheidung folgendermaßen erklärt: „damit nicht Sitten und Glaube, Werke und Gnade, Staatswesen und Religion durcheinander geraten. Jede aber ist notwendig, aber jede muß innerhalb ihrer Grenzen gehalten werden.“5 Diese anthropologische Voraussetzung seiner Lehre hatte er bereits 1518/1519 deutlich formuliert. In seinem Sermo de triplici iustitia hatte er nämlich eine Gegenüberstellung von drei Arten von Sünde – criminale, essenciale, und actuale – und drei Arten von Gerechtigkeit vorgenommen: eine mechanisch vollzogene Gerechtigkeit, eine wesensmäßige, und eine sich in menschlichen Leistungen verwirklichende Gerechtigkeit6. Die wesensmäßige Gerechtigkeit, also die „iusticia ... natalis, essencialis, originalis, aliena“ ist gleichbedeutend mit der „iusticia Christi“; sie ist „nostra per fidem“, von ihr gilt, „per baptismum confertur“. Luther betont ihren Geschenkcharakter, der die Verdammnis aufhebt, selbst wenn der Mensch 5
Luthers Galaterbrief-Auslegung von 1531, hg. von Hermann Kleinknecht, Göttingen 1980, S. 23; WA 40/1, S. 45,24-27. 6 „Sermo de triplici iustitia“ (1518), WA 2, S. 43,6–46,25; LDStA 2, S. 53–65.
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Sünder bleibt7. Diese geschenkte Gerechtigkeit aber bringt eine zweite Art von Gerechtigkeit hervor: die der menschlichen Leistung und der Taten des neuen Gehorsams, die iustitia actuale. Sie sieht der „iustitia civilis“ im Leben der Nicht-Gläubigen täuschend ähnlich, die freilich aus einer anderen, von Luther als falsch eingestuften Orientierung des Lebens hervorgeht. Er kann sie deshalb auch als eine „iustitia“ bezeichnen, die „simias Salomonis“ macht8, als eine „Affengerechtigkeit“, die die aus der iustitia essentialis hervorgehende iustitia actualis einfach nur oberflächlich nachäfft. Es gibt also nach Luther zwei Dimensionen des wahren MenschSeins, nämlich die aus der Gnade Gottes lebende Kern-Identität, und die sich in der praktischen Hinwendung zum Nächsten und damit zu den Strukturen der Welt bewährende humanitas, welche sich in guten Werken erweist. Im Kern hatte er dies bereits 1518/1519 angesprochen. Zur reifsten Entfaltung brachte er diesen Gedanken in seinem Großen Galaterbriefkommentar von 1535. Eine wichtige Zwischenstufe auf diesem Weg war die Schrift De servo arbitrio von 1525. Denn hier findet sich dieser Gedanke von der Zweidimensionalität des Mensch-Seins eingekleidet in die Terminologie der zwei Reiche oder Bereiche des menschlichen Lebens. Sein ganzes Leben lang hat Luther mit neuen Formulierungen für seine Einsichten experimentiert. Hier nun verstand er die zwei Reiche nicht als den Ort der menschlichen Verantwortung, sondern als Kraft des Menschen, sein Leben selbst zu bestimmen bzw. zu beherrschen. Er führte aus, dass Jesus Sirach 15,14-16 – „Er hat im Anfang den Menschen geschaffen und ihm die Entscheidung überlassen. Wenn du willst, so kannst du die Gebote halten und in rechter Treue tun, was ihm gefällt. Er hat dich vor Feuer und Wasser gestellt; ergreife das, was du willst“ –, jener Orientierungspunkt des Erasmus, zeige, „dass der Mensch in zwei Reiche eingegliedert wird“. In dem einen bewegt er sich nach seinem Willensvermögen und Rat ohne die Vorschriften und Gebote Gottes, nämlich in den unter ihm liegenden Dingen. Hier herrscht er und ist Herr, wie er in der Hand seines Rates gelassen ist. Nicht dass Gott ihn so im Stich ließe, dass er nicht in allem mit ihm zusammenwirkte. Sondern dass er den Gebrauch der Dinge jenem frei nach dem Willensvermögen zugestanden hat und ihn nicht durch irgendwelche Gesetze oder Vorschriften hinderte.
7
WA 2, S. 44,14–45,31; LDStA 2, S. 59. Vgl. „Sermo de duplici iustitia“ (1519), WA 2, S. 145,9–147,23; LDStA 2, S. 69–71. 8 WA 2, S. 43,14; LDStA 2, S. 55. Vgl. 1Kön 10,22, 2Chr 9,21, wo erwähnt wird, dass Salomon unter anderem Affen importiert hat. An dieser Stelle notiert die Glossa ordinaria, dass die Affen den Menschen imitieren und dass diese Stelle deswegen auf die oberflächliche Ähnlichkeit des heidnischen Glaubens dem christlichen hinweist, vgl. Biblia Latina cum Glossa Ordinaria. Facsimile Reprint of the Editio Princeps Adolph Rusch of Strassburg 1480/1481, Brepols 1992, Bd. 2, S. 120.
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Gott allein bestimmt das Verhältnis zwischen sich und dem Menschen, aber im Verhältnis zu den Mit-Geschöpfen Gottes ist der Mensch selbst verantwortlich. Vor Gott aber, in der vertikalen Dimension, ist er von dem Schöpfer völlig abhängig und ganz und gar auf ihn angewiesen: In dem andern Reich aber ist er nicht in der Hand seines Rates gelassen, sondern bewegt sich nach dem Willensvermögen und Rat Gottes und wird danach geführt. Wie er sich aber in seinem Reich nach seinem Willensvermögen ohne die Vorschriften eines anderen bewegt, so bewegt er sich im Reich Gottes nach den Vorschriften eines anderen [nämlich Gottes] ohne sein eigenes Willensvermögen.9
Der iustitia activa im horizontalen Bereich steht die iustitia passiva im vertikalen Bereich gegenüber. Im Großen Galaterbriefkommentar von 1535 fand Luther zu einer noch klareren Beschreibung dieser menschlichen Befindlichkeit: Denn gleich wie die Erde selbst den Regen nicht hervorbringt noch durch irgend ein eigenes Werk, Bearbeitung oder durch Krafteinsatz sich beschaffen kann, sondern ihn lediglich von oben durch Himmelsgeschenk empfängt, so wird uns ohne unser Werk und Verdienst von Gott her jene himmlische Gerechtigkeit geschenkt. Soviel also die dürre Erde aus sich heraus beitragen kann zur Beschaffung eines reichlichen und beglückenden Regens, soviel können wir Menschen mit unseren Kräften und Werken beitragen, um uns jene göttliche, himmlische und ewige Gerechtigkeit zu verschaffen; nein wir müssen sie durch geschenkweise Zurechnung als unaussprechliche Gabe Gottes empfangen.10
Dies wiederum führt das christliche Gewissen dazu, zu sagen: Ich suche nicht die aktive Gerechtigkeit, müßte sie zwar haben und schaffen, und gesetzt, dass ich sie hätte und schaffte, so kann ich auf sie doch nicht vertrauen noch durch sie bestehen vor dem gerechten Gott. Daher verwerfe ich mich außerhalb aller aktiven Gerechtigkeit, außerhalb meiner eigenen und des Gesetzes Gerechtigkeit und umfasse schlicht jene passive Gerechtigkeit, die da ist die Gerechtigkeit der Gnade, der Erbarmung, der Sündenvergebung. In Summa: Es ist Christi und des H[eiligen] Geistes Gerechtigkeit, die wir nicht schaffen, sondern erleiden, nicht haben, sondern empfangen, wenn sie uns Gott der Vater durch Jesus Christus schenkt.11
Der Mensch empfängt das Leben allein aus Gottes Gnade, durch das unbedingte Geschenk des Lebens, ohne Werke des Gesetzes.
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LDStA 1, S. 371; WA 18, S. 672,7-19. Galaterbrief-Auslegung (wie Anm. 5), S. 22; WA 40/1, S. 43,18-25. 11 Galaterbrief-Auslegung, S. 22; WA 40/1, S. 42,26–43,15. 10
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2. Iustitia passiva in „De votis monasticis“ oder das schöpferische Wort des Evangeliums Wir sehen: Luthers Begriff von der passiven Gerechtigkeit des Menschen, die außerhalb seiner eigenen Aktivitäten liegt [iustitia passiva bzw. aliena], ruht auf dem Fundament der Gotteslehre des Reformators. Das Geheimnis, was es heißt, ein menschliches Geschöpf des allmächtigen Schöpfers und gleichzeitig ein eigenverantwortliches Wesen zu sein, löst Luther nicht auf, sondern er hält die Spannung des Nebeneinanders von Gottes Verantwortlichkeit für die gesamte Kreatur einerseits und der Verantwortlichkeit des Menschen als Geschöpf Gottes in der Ausübung seines Mensch-Seins durch. Die Souveränität Gottes als allmächtiger Schöpfer des Himmels und der Erde äußert sich in eminenter Weise in seinem erschaffenden Wort, durch das er alle Kreatur ins Leben ruft, alles Leben und dessen Bezüge gestaltet. Selbst wenn der Große Galaterbriefkommentar die reifste Formulierung dieser Theologie bietet, so liegen entscheidende Entwicklungsstufen schon in den 20er Jahren. Die Schrift De votis monasticis von 1521 kann als ein Paradebeispiel für eine konsequent durchgeführte praktische Anwendung dieser theologischen „Grammatik“ gelten12. In seinem ersten Einwand gegen die Klostergelübde führte der Reformator z.B. deutlich die Autorität des Leben schaffenden Wortes des souveränen Gottes und auch die kreative Kraft dieses Wortes ins Feld. Er wies darauf hin, dass sich die Gelübde keineswegs auf Gottes Wort gründen, sondern ihm vielmehr zuwider sind, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum ersten haben sie keine Berechtigung und kein Vorbild in der Heiligen Schrift und stehen sogar gegen Worte und Beispiel Christi, von dem der Vater sagte, „den solltet ihr hören“ (Mt 17,5)13. Deswegen erzwingt ein rechtes Verständnis der Schrift geradezu die Ablehnung der Gelübde14. Auch die dem Mönchtum zugrunde liegende Unterscheidung zwischen Geboten und Räten ist mit Gottes Wort nicht kompatibel. Denn einerseits verkehren sie den Verheißungscharakter des Evangeliums in Gesetzlichkeit und andererseits ersetzen sie Gottes Gesetz durch selbst gemachte Regeln und Statuten in dem irrigen Glauben, das Gesetz Gottes sei nicht ausreichend, das Wohlgefallen des
12
Der lateinische Text in WA 8, S. 573–669; eine deutsche Übersetzung in: Martin Luther. Freiheit und Lebensgestaltung. Ausgewählte Texte, hg. von Karl-Heinz zur Mühlen, Göttingen 1983, S. 75–217 (üb. von Otto Scheel; zuerst in: Luthers Werke, hg. von Georg Buchwald u.a., Erg.-Bd. 1, hg. von Otto Scheel, Berlin 1905, S. 199–376). 13 WA 8, S. 578,6–579,10; Ausgewählte Texte, S. 84f. Vgl. Luthers „Antwort auf etliche Fragen Klostergelübde belangend“ (1526), WA 19, S. 283–293; in dieser ganz kurzen Schrift ist die Unterscheidung der beiderlei Gerechtigkeit nicht so klar ausgedrückt. 14 WA 8, S. 579,11-12 und 1-4; Ausgewählte Texte, S. 85.
Die Zweidimensionalität des Mensch-Seins
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Schöpfers zu erhalten15. Mit Jesaja 30,9-13 konnte Luther die Mönche als „ein Volk, das zum Jähzorn reizt, verlogene Kinder“ qualifizieren, „die nicht hören wollen das Gesetz Gottes“, die sich verlassen „auf Frevel und Getümmel“, so dass „diese Missetat … wie ein Riß“ Schöpfer und Geschöpf entzweit16. Worauf es Luther ankam, war, ins Bewusstsein zu rücken, dass nur Gott durch sein wirkmächtiges Wort das vorzeichnet, worin sich rechtes Mensch-Sein verwirklicht. Dieses Verständnis des Wortes Gottes geht aber weit über eine bloße Direktive hinaus, der der Mensch sodann zu entsprechen hätte. Vielmehr gewinnt im Wort zugleich Gottes schöpferisches Handeln Gestalt, das den Menschen jenseits aller Werke und Verdienste, sozusagen a priori, als Gerechten konstituiert. Vor diesem Hintergrund wird Luther nicht müde, dem Sünder die bereits geschenkte, allen Aktivitäten vorgängige Gerechtigkeit Gottes in Erinnerung zu rufen. In De votis monasticis Iudicium lautet dies folgendermaßen: Denn vor allen Werken müssen Gerechtigkeit und Seligkeit da sein, aber keine beliebige Gerechtigkeit und Seligkeit, sondern die von Gott stammende, d.i. eine ewige, die von Ewigkeit zu Ewigkeit bleibt, die allein Gott uns gibt und in uns wirkt; und gerade deswegen, weil sie das Werk Gottes allein in uns ist, kann sie durch unsere Werke verhindert, aber nicht zubereitet werden.17
Während Aristoteles eine kontinuierliche Verbesserung des Menschen durch das Tun des Guten lehrt, geht es Gott um die wahre menschliche Gerechtigkeit, begründet in seinem schöpferischen Handeln, geschenkt durch Jesus Christus18. Die Gerechtigkeit der menschlichen Leistung ist deshalb, nach Luther, diejenige die Paulus für einen Dreck und Schaden hält (Phil 3,6)19. Denn sie ist nicht auf das Verhältnis zu Gott ausgerichtet, sondern bleibt dem zwischenmenschlichen Bereich verhaftet. Da das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf nur das einer totalen Abhängigkeit sein kann, muss jeder Versuch, dieses Verhältnis durch eigene Anstrengung aufzubauen oder zu bewahren, vergeblich, ja sogar anmaßend sein20. 15
WA 8, S. 580,38–581,18; Ausgewählte Texte, S. 88f. WA 8, S. 590,29–591,3; Ausgewählte Texte, S.102. 17 WA 8, S. 605,21-25; Ausgewählte Texte, S. 122. Vgl. WA 8, S. 656,1-8; Ausgewählte Texte, S. 196. 18 WA 8, S. 607,33–608,5; Ausgewählte Texte, S. 125. 19 WA 8, S. 608,6-9, 609,23-24; Ausgewählte Texte, S. 125f. 20 Vgl. WA 8, S. 604,9-23; Ausgewählte Texte, S. 120f., wo Luther behauptet, Christus allein habe die Ehre, „daß er das Lamm Gottes ist, das der Welt Sünde trägt, in seinem Blut alle reinwäscht und rechtfertigt“. Der, der mit solchem Glauben ein Gelübde macht, sage, „nicht will ich so frevelhaft deine Gnade von mir stoßen. Ich will solche Erwartung und Hoffnung auf ihn allein setzen, keineswegs auf mich oder irgendwelche Kreatur, geschweige auf meine Gelübde und Werke. Aber das will ich tun, sintemal ich 16
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So wie Gott der Schöpfer seinem Geschöpf die göttliche Gerechtigkeit als Geschenk mitgibt, so schenkt sie der Menschgewordene aufs Neue dem in Sünden gefallenen Menschen durch seinen Tod und Auferstehung. Diese Wirkung von Tod und Auferstehung des gerechten Gottessohns begegnet dem Menschen in erster Linie in der Taufe (Röm 6,3-11). Dass man die Taufe auch als Gelübde verstehen konnte, gab Luther die Möglichkeit, dieses Sakrament in De votis monasticis Iudicium in krassen Gegensatz zu den Klostergelübden zu rücken. Auf der einen Seite die verdienstlichen Leistungen der Mönche – auf der anderen das neu schaffende Wort Gottes in der Taufe. Schon im Sermo de triplici iustitia hatte Luther die Taufe mit der iustitia passiva zusammengesehen und ausgeführt: „Diese Gerechtigkeit wird uns durch die Taufe übertragen, diese Gerechtigkeit ist es eigentlich, die das Evangelium verkündigt, und es ist nicht die Gerechtigkeit aus dem Gesetz, sondern die Gerechtigkeit aus der Gnade.“21 Ähnlich erklärte er in De votis monasticis, dass Gott in der Taufe an die Stelle der verderblichen inneren Begierden des Sünders22 dessen Orientierung an Gott durch den Glauben setzt. Das bedeutete, dass allein das Evangelium, das im Sünder diese neue Orientierung des Glaubens einrichtet, zum Fundament allen äußerlichen Umgangs mit den Gütern und Gaben dieser Welt wurde, denn – wie Luther sagte – „die äußere Verwaltung der Dinge ist auch durch das Evangelium zugelassen“23. Vor diesem Hintergrund verloren die Klostergelübde jegliche Berechtigung. Denn alles was der Mensch überhaupt geloben konnte oder wollte, mit Ausnahme der Enthaltsamkeit, hatte der Gläubige bereits in der Taufe gelobt. In den Klostergelübden sah er deshalb nichts anderes als eine Erfindung des Satans, um die Gläubigen von
im Fleische leben muß und nicht müßig gehen darf: ich will diese Form des Lebens ergreifen, um meinen Leib in Zucht zu halten, dem Nächsten zu dienen, über dein Wort nachzusinnen, wie ein anderer den Ackerbau oder ein Handwerk ergreift, ein jeder zu seiner Übung und Beschäftigung, ohne irgendwelche Rücksicht auf Verdienste oder Rechtfertigung, die im Glauben zuvor da sein muß und immer die erste bleiben und in allem herrschen muß.“ Vgl. auch WA 8, S. 608,15-37; Ausgewählte Texte S. 126, „Begreifst du jetzt endlich, warum ich sooft gesagt habe, daß weder unsere Gelübde noch unsere Werke notwendig sind zur Gerechtigkeit und zum Heil? Denn dies sagt ein frommes Gewissen von den Werken Christi allein, die in der Taufe über uns ausgeschüttet und uns geschenkt sind, und so ist es frei von allen Werken, nicht zwar von denen, die getan werden sollen, sondern von den anklagenden und verteidigenden. Denn wer an Christus glaubt, hat keine so bösen Werke, daß sie ihn verklagen und verdammen könnten, wiederum keine so guten, dass sie ihn verteidigen und retten könnten; sondern alles, was unser ist, klagt uns an und verdammt uns, allein aber, was Christi ist, verteidigt und rettet uns.“ Vgl. auch WA 8, S. 619,9-14; Ausgewählte Texte, S. 141f. 21 LDStA 2. S. 59; WA 2, S. 45,6-8. 22 WA 8, S. 587,4-7; Ausgewählte Texte, S. 97. 23 WA 8, S. 587,7-10; Ausgewählte Texte, S. 97.
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ihrer wahren Bestimmung abzulenken und zu verführen24. Die Mönche hatten schlicht ihre Taufe in Vergessenheit geraten lassen und damit auch die göttliche Zusage, ihre Zuversicht nicht auf eigene, sondern auf die Werke Christi setzen zu dürfen25. Was die Enthaltsamkeit anging, so bemerkte Luther, dass die Gelübde der Taufe und der Keuschheit durchaus entgegengesetzter Natur sind: dieses bietet an, was es nicht hat; jenes empfängt, was es nicht hat. Hier verspricht der Mensch mit leeren Händen etwas Fremdes, dort verheißt der reiche Gott sein Eigenes. ... [D]as Gelübde … der Taufe ist wahr und vollkommen, denn es stützt sich auf den verheißenden und gebenden Gott. Doch wie, wenn etliche es nicht annehmen? Es ist nichtsdestoweniger wahrhaftig der, der es anbietet.26
Hier sind zwei Aspekte der Lehre vom Wort Gottes ineinander verschlungen: das Wort, das dem menschlichen Leben seine Richtlinie gibt, ist zugleich das kreative Wort, das das wahre Mensch-Sein in die Existenz setzt. Die in der Taufe Wirklichkeit werdende Anrede Gottes an den Menschen schafft insofern eine neue Wirklichkeit, als sie in der Sündenvergebung den Grund legt für das Gottvertrauen der Kreatur. Das in der Taufe begründete neue Gottesverhältnis aber ist ein zweiseitiges. Die Seite Gottes ist charakterisiert durch seine unbedingte Barmherzigkeit und Wohlgefallen. Die Seite des Menschen besteht aus seinem Orientierung schaffenden Vertrauen zu Gott. Dies ist die Grundlage für Luthers zweiten Einwand gegen die Mönchsgelübde. Gelübde sind gegen den Glauben. An diese Behauptung knüpfte Luther eine Erklärung der Gerechtigkeit des Glaubens. Ebenso wie er seine früheren Themata de votis mit Römer 14,23 begonnen hatte, „was nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde,“27 so ließ er auch diesen Teil von De votis monasticis mit dieser Definition von Sünde beginnen28, um herauszustellen, dass Basis und Kern des menschlichen Lebens im Gehorsam gegen das erste Gebot gründen, d.h. – wie er dies später im Kleinen Katechismus formulierte – im Gott Fürchten, Lieben und Vertrauen. Am Glauben zeigt sich – so Luther in der Erklärung des ersten Gebots im Großen Katechismus – ob der Mensch in wahrem Mensch-Sein steht oder ob er seine humanitas verfehlt hat. Denn der Glaube, der den Menschen an einen „Gott“ bindet, definiert, ob der Mensch im Verhältnis zu dem wahren Gott, seinem Schöpfer, bleibt oder ob er seinem Mensch-Sein eine andere Richtung gibt, nämlich durch sein Vertrauen auf eine nicht vertrauenswürdige Instanz. Ein solcher falscher 24
WA 8, S. 585,38-586,5; Ausgewählte Texte, S. 95f. WA 8, S. 618,15-22; Ausgewählte Texte, S. 140f. Vgl. WA 8, S. 603,13-21; 642,4-9. 26 WA 8, S. 659,30-37; Ausgewählte Texte, S. 201f. 27 „Themata de Votis“ (1521), WA 8, S. 323,6. 28 WA 8, S. 591,8-12; Ausgewählte Texte, S. 102. 25
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Glaube „verbiegt“ daher nicht nur die Identität des Menschen als Kind Gottes, sondern verunstaltet auch die Taten, die aus einer solchen Identität hervorgehen. Auf dem rechten, lebendig machenden Glauben als Geschenk und Neuerschaffung Gottes29 ruht die Gerechtigkeit des Glaubens. Denn – um es ganz simpel auszudrücken – was Gott an seinen Menschen gefällt, ist, dass sie ihm vertrauen. „Gott hat geheißen“, so Luther in De votis monasticis, „sicher und ohne Zweifel auf seine Barmherzigkeit zu trauen und zu hoffen, dass wir und unsere Werke wohlgefällig sind, nicht durch unsere Würdigkeit oder Verdienst, sondern auf Grund seiner Güte. Denn dies ist das Gewissen eines gesunden Glaubens, welches diesem Befehl und dieser Verheißung treu und ohne Wanken anhängt.“30 Damit ist zugleich die Konkretisierung von Gottes Verheißung in Christus angesprochen. Dieser Glaube hängt an Christus, so dass Luther in De votis monasticis fortfahren kann: Christus allein gebührt es, durch seine Verdienste und Werke anderen zu helfen und sie zu retten. Die Werke aller anderen nützen keinen Menschen, auch nicht ihnen selbst; denn es steht fest der Spruch: ‚Der Gerechte wird aus seinem Glauben leben‘ (Röm 1,17). Denn der Glaube setzt uns auf die Werke Christi, ohne unsere Werke, und führet uns aus dem Exil unserer Sünden in das Reich seiner Gerechtigkeit.31
Um dies zu belegen, konnte Luther sogar einen allseits anerkannten Mönch zu seinem Gewährsmann machen. Er zitierte Bernhard von Clairvaux, der einmal geäußert habe, dass „ich verdammlich gelebt habe“. Und Luther fährt fort: „Er fühlt das Urteil Gottes, vor dem niemand als allein Christus und seine Gerechtigkeit besteht; deswegen lässt er sich fahren und geht zu ihm über, sein ganzes gerechtes Leben für verloren erklärend.“32 Der Zisterzienser selbst also hatte nach Luther bereits erkannt, was der Reformator nicht müde wurde, den Adressaten von De votis monasticis einzuschärfen, nämlich die Verdammlichkeit der aus eigenen Werken hervorgehenden Gerechtigkeit, der iustitia activa. Die Gerechtigkeit des Glaubens, die iustitia passiva, dagegen ist allein schon durch ihre Ausrichtung völlig anders. „Denn der Glaube an Christus kann es nicht leiden, daß durch unsere oder anderer Werke die Gnade und Gerechtigkeit komme; denn er weiß und bekennt fest, daß dies allein Christi Sache ist.“33
29
Ebd. Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. 30
S. 592,12-13 bzw. S. 104. S. 593,29-35 bzw. S. 106 (korrigiert). S. 599,20-24 bzw. S. 114. S. 601,28-31 bzw. S. 116f. S. 599,8-10 bzw. S. 113.
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3. Iustitia activa in „De votis monasticis“ oder die Antwort des Menschen auf das schöpferische Wort Gottes Das heißt aber nicht, dass dieser Glaube jede menschliche Leistung ausschlösse oder gar entwertete. Luthers implizite Anwendung seines Konzepts der zweierlei Gerechtigkeit erlaubte ihm, dem verantwortlichen Handeln des Menschen in den weltlichen Bereichen seines Lebens größtmöglichen Wert zu verleihen, auch wenn sie im Blick auf seinen Gottesbezug nur zerstörerisch wirken können. Das heißt: der neue Gehorsam, bzw. die iustitia activa, ist nicht die Ursache, sondern das Ergebnis des Heil stiftenden Glaubens. Dieses Verhältnis von Ursache und Wirkung fasste Luther in De votis monasticis in die Behauptung, dass es aber allein des Glaubens Sache ist, Sündenvergebung zu wirken, ein gewisses, fröhliches und von Sünden freies Gewissen zu schaffen. Die Werke aber oder die Früchte des Glaubens erstrecken sich nicht eigentlich auf die Vergebung der Sünden und ein frohes Gewissen, sondern sind die Früchte der schon gegenwärtigen und vorangehenden Vergebung und des guten Gewissens. ... [Das heißt,] daß die Werke vor dem Glauben Sünde sind, daß allein der Glaube ohne die Werke Sündenvergebung, Rechtfertigung und ein gutes Gewissen wirkt, daß die Werke aber nach dem Glauben die Früchte des bereits gerechtfertigten Menschen sind, und aus der Sündenvergebung und dem guten Gewissen, d.i. aus Glauben und Liebe hervorgehen.34
Ohne die Begrifflichkeit zu verwenden, hatte Luther deutlich herausgestellt, dass iustitia passiva und iustitia activa nicht voneinander getrennt werden können. Sie gehören beide, in ihrer Bezogenheit aufeinander zu dem Gesamtbild des Menschen und bestimmen sein gottgewolltes MenschSein. Dies hatte auch in der alltäglichen Lebenspraxis Gestalt zu gewinnen. Eine in christlicher Freiheit recht ausgeübte iustitia activa verhindert in Luthers Sicht jede sonst gegebene Instrumentalisierung anderer im Sinne der Verwirklichung eigener Interessen. Derjenige, der aus dem Glauben lebt, ist frei, sich um des Nächsten willen in einem Gelübde zu binden, da er weiß, dass vor Gott weder Gelübde noch Werke Christus und sein Verdienst ersetzen oder ergänzen können35. Dennoch ist der Neugeborene nicht einfach von Gottes Geboten oder „Direktiven“ für das menschliche Leben ausgenommen. Die Erfordernisse eines rechten menschlichen Zusammenlebens im weltlichen Bereich und Gottes Entwurf für das sich darin konkretisierende Mensch-Sein haben die Umsetzung des göttlichen Willens in die Praxis zu bestimmen. In dieser „Welt-Gestaltung“ hat der in die iustitia passiva des Taufgelübdes gebundene Mensch – anders als der Mönch – denn auch die Entscheidungsfreiheit und freie Verantwortung im 34 35
Ebd. S. 594,31-41 bzw. S. 107f. Ebd. S. 604,9-23 bzw. S. 120f.
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Umgang mit den an ihn herangetragenen Nöten und Bedürfnissen. So schreibt Luther: Du selbst siehe nun zu, wie die Werke der zehn Gebote zu unterlassen und zu tun sind, welches Keuschheit, Gehorsam, Sanftmut, Freigebigkeit u. dgl. sind. Sie sind nicht zu unterlassen, sondern, daß ich es so sage, ihrem Wesen nach zu tun, aber nicht dem Gewissen nach, d.h. nicht als solche, die da verteidigen und rechtfertigen. ... Sondern frei und umsonst sind sie zu tun, zum Nutzen und Vorteil des Nächsten, gleichwie die Werke Christi für uns frei und umsonst getan sind. Alsdann aber sind sie nicht mehr Gesetzeswerke, sondern Christi, der in uns durch den Glauben wirksam ist und in allem lebt; deswegen können sie ebenso wenig wie der Glaube selbst unterlassen werden und sind nicht weniger notwendig als der Glaube. Im übrigen sind die Werke, die wahrhaft Werke des Gesetzes sind, erdichtet und falsch. Denn außer Christus ist niemand von Herzen sanftmütig, keusch, freigebig, gehorsam, fromm, gottesfürchtig usw. Denn er tut es nicht aus freiem Gewissen, sondern aus Liebe zu Vorteil oder Ehre, oder aus Furcht vor Strafe. Und da geheuchelte Heiligkeit eine doppelte Ungerechtigkeit ist, so ist es offenbar, daß derartige Werke nicht nur nicht notwendig sind, sondern auch unterlassen und gemieden werden müssen.36
Mit anderen Worten: die die iustitia passiva verleugnenden geistlichen oder religiösen Tätigkeiten des sogenannten „sakralen“ Bereichs oder die Werke der Frömmigkeit dürfen und können nicht als Trumpf gegen die Aufgaben im „profanen“ Bereich ausgespielt werden, die ihren unbestrittenen eigenen Wert behalten. Luther protestierte ganz entschieden dagegen, dass Klostergelübde letzten Endes sogar zur Befreiung von gottgewollten weltlichen Bindungen führen konnten, wie dies im Blick auf das Verhältnis von Eltern und Kindern am deutlichsten wurde, aber auch auf zahllose andere Bezüge in Familie und Gesellschaft übertragbar war. Darum soll jeder Christ gewiß sein, daß, gleichwie du nicht geloben kannst, Gott und seine Gebote zu verleugnen, du auch nicht geloben kannst, den Eltern nicht zu gehorchen und den Nächsten nicht zu dienen, da Gott geboten hat, den Eltern zu gehorchen und den Nächsten zu dienen. Darum sollst du dein Gelübde zuversichtlich so auslegen, daß, sobald deine Eltern oder deine Nächsten dich nötig haben, du durch Gottes Autorität selbst ganz gewiß bist, daß das Gelübde durchaus nicht mehr halte.37
Die Klostergelübde verhinderten also – nach Luther – die aus der iustitia passiva hervorgehende, notwendige Entfaltung einer iustitia activa und damit die Konkretisierung des menschlichen Lebens in seiner gottgewollten „humanitas“. Dies wiederum kann nicht auf eine kleine Gruppe bezogen bleiben oder sozusagen in ein Ghetto zurückgenommen werden, sondern richtet sich auf die gesamte Schöpfung, deren verantwortlicher Teil der Mensch ist und bleibt. Weil die Art der seinerzeit praktizierten Gelübde den Menschen aber dieser Ordnung Gottes entfremden, sollten und mussten sie unbedingt abgeschafft werden. 36 37
Ebd. S. 608,15-37 (607,18–608,14) bzw. S. 126f. Ebd. S. 626,10-15 bzw. S. 151f.
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So ist es auch wohl wahr, wenn sie sagen, daß Liebe auch unter den Mönchen geübt werden könne, daß sie gegenseitig sich dienen, aber ist nicht wahrhaftig gesprochen. Denn die Liebe ist frei, keiner Person besonders zugetan; aber sie binden sie an die Ihrigen und sich allein und vernachlässigen die anderen vollständig. Das ist eine erdichtete Liebe und Zunder für Spaltungen und allerlei Haß, wie wir denn sehen, daß Klöster gegen Klöster, Orden gegen Orden wechselseitig wüten und eifern. Jene echte und auf das Ganze gerichtete Liebe aber, die vom Apostel 1Kor. 13 beschrieben wird und die allen, Freunden und Feinden, zu dienen bereit ist, ist ihnen verboten und nicht erlaubt.38
4. Zusammenfassende Thesen 1. Schon 1521 mit „De votis monasticis“ vollzieht Luther die Rückkehr aus dem Mönchtum in die Welt und begründet eine bedingungslose Aufwertung des weltlichen Berufs. Bonhoeffer ist Recht zu geben, wenn er sagt, dass Luther in der Welt gegen die Welt Stellung bezogen hat. 2. Diese bedingungslose Aufwertung des weltlichen Berufs setzt aber sozusagen eine „geistliche Berufung“ voraus, die auch den Menschen durch die Gabe seiner von Gott gestifteten Identität als Kind Gottes erschafft. Das bedeutet, dass das Geschenk der in einem rechten Gottesverhältnis gründenden menschlichen Identität, unter anderem, frei macht zum weltbezogenen Handeln. 3. Wenn wir Luthers Äußerungen dazu einer Analyse unterziehen, so wird deutlich, dass er dies unter Anwendung einer grundlegend neuen theologischen Grammatik deutlich macht. Es ist das Konzept der „zweierlei Gerechtigkeit“ d.h. die Unterscheidung von iustitia passiva und iustitia activa, das nicht nur Luthers spätere Werke, sondern schon seine Stellungnahmen aus den zwanziger Jahren wie ein verborgenes Nervensystem durchzieht. 4. Dieses Konzept dient ihm in De votis monasticis Iudicium dazu, anthropologische Grundlagen der Reformation vor Augen zu führen, nämlich die grundlegenden Voraussetzungen für eine menschliche Existenz und wahre „humanitas“, die aus dem schöpferischen Wort des Evangeliums lebt und dies in weltlicher Lebenswirklichkeit in Freiheit und Liebe umsetzt, eben in der Welt gegen die Welt. 5. Liest man De votis monasticis mit Blick auf diese für die Wittenberger Reformation maßgeblichen theologischen Grundlagen, dann wird deutlich, dass das seelsorgerliche Anliegen Luthers, das als Anstoß für die Abfas38
Ebd. S. 628,1-8 bzw. S. 154.
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sung der Schrift gedient hat, schon 1521 tief in einer durchreflektierten reformatorischen Theologie verankert ist, deren grundlegendes Paradigma der – reformatorisch verstandenen – „duplex iustitia“ allen sehr bald eingetretenen Entwicklungen in der Lehre der Wittenberger unverändert Stand gehalten hat.
Else Marie Wiberg Pedersen
“Ein furtrefflicher Munch”: Luther and the Living out of Faith In a note left on his bedside table, Luther wrote his very last words before departing for the lofty halls of eternity. The words ran something like this: No one who has not been a shepherd or a peasant for at least five years understands the poetry of Vergil. No one who has not had an important position in a state administration for at least twenty years understands the letters of Cicero. No one can ever claim to have tasted enough of the Holy Scriptures unless with the Prophets he has led the community for a hundred years. ‘This divine epic calls not for our exploration but for our humility.’ We are beggars: That is the truth.
The focus of the note is Luther’s call for humility, one of the ideals of monastic life, in an understanding of the human situation as anything but selfsupporting and self-sufficient. To Luther, however, humility was an attitude each and every person ought to take to life, since it is not on their own abilities and good fortune that human beings should depend, but on God as the origin and creator of human capacities and possibilities, and thus on the human relationship with God1. That same understanding of humility we find 400 years earlier in another reformer, Bernard of Clairvaux, the 12th century reformer of monastic life. In his Lenten Sermons 9, 5–6, Bernard also speaks of the faithful
1
When Luther praises humility, it is important to understand that for him humility should not be seen as a deed or a special form of piety. This will become clear later in this article, but for now let me point to the commentary on the Magnificat which he wrote in 1521 and addressed to his supporter prince Johann Frederick, Duke of Saxony. Here Luther stresses how Mary is called humble due to her social status as poor and despised, not because of any specific piety but because of that openness to God which she expressed. The Duke, with all his riches and power, should therefore look to the example of Mary, and be as humble and open in ruling his people as Mary was in her attitude towards that true God who takes note of the lowly, the shameful, the insignificant and unworthy. See Luther’s Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt, in: WA 7, 544–604 [StA 1, 312–364]. See also ELSE MARIE W IBERG P EDERSEN: ‘The Holy Spirit shall come upon you.’ Mary – the Human ‘Locus’ for the Holy Spirit, in: Else Marie Wiberg Pedersen and Johannes Nissen (eds.), Cracks in the Walls. Essays on Spirituality, Ecumenicity and Ethics, Frankfurt 2005, 23–41, esp. 32–35.
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as beggars in their trust in God’s promises and word, rather than in knowledge of literature or in worldly ingenuity: For the hapless beggar commits himself to you; you will be the helper of the fatherless. If rewards are promised me, it is through you I hope to obtain them; if a host encamps against me, if the world fumes, if the evil one rages, if the flesh itself lusts against the spirit, I will hope for you. 6. Brothers, to savor this is to live by faith. No one can pronounce this sentence, because you, o lord, are my hope, except the person who is inwardly persuaded by the spirit that, as a prophet admonishes, he casts his burden upon the Lord, knowing that he will be cared for by him.2
This is because God can do all things by his words alone, Bernard explains. When God decides to save, Bernard continues, we will immediately be set free; and leading on from this observation he boldly states: This is justice based on faith, not on law! In these sermons, pondering on Lent, Bernard establishes the triangular relation of hope, faith and promise: The hope and faith of the human being on the one hand and God’s promises, his promissio – to use Luther’s later technical term for God’s message of good news to the universal human sinner – on the other. But as Bernard emphasizes, hope and faith are also gifts of God. In his Lenten sermon 10, 1 he then goes on to see faith and hope as “such close kin that the one believes shall be what the other already begins to hope shall be for itself”, basing himself on Paul (1Cor 2:10; cf. Heb 11:1). And with Paul, Bernard defines “faith as the substance of things hoped for, because no one can hope for something without first believing in it, any more than he can paint on empty space”3.
Continuity or discontinuity between Luther and his monastic past As can be seen from the few quotations above from Bernard’s Lenten sermons, the most influential and famous abbot of the 12th century has for2
I here quote from Bernard of Clairvaux: Sermons on Conversion. On Conversion, a Sermon to Clerics and Lenten Sermons on the Psalm ‘He Who Dwells’, translated and introduced by Marie-Bernard Saïd, Kalamazoo 1981, 187. The Lenten sermons in this edition are translated from Sermones in quadragesima de psalmo ‘Qui habitat’ (Sancti Bernardi Opera IV, 383–492). I have chosen to introduce practically all citations from Bernard in English translation, with the intention of opening up his texts to readers of this publication on the assumption that they will be less well known to them than Luther’s. 3 On Conversion, a Sermon to Clerics (see note 2), 192. The text on conversion is translated from Ad clericos de conversione (Sancti Bernardi Opera IV, 69–116).
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mulations on faith and the living out of faith which are very similar to the doctrine of faith which Luther propounded in his reformation programme 400 years later. During the 20th century it was a matter of much dispute whether there really is continuity to be found between Bernard and Luther, and if there is continuity, how then the similarities between the two should be evaluated. On the one hand, some have firmly stated that there is no connection whatsoever, but rather so clear a discontinuity between the two that it is impossible to compare the theology of the monk and so-called mystic Bernard of Clairvaux with the theology of the former monk Martin Luther. On the other hand, some have stated just as firmly that there is such an indisputable similarity that there is genuine continuity between the two. Others again choose an intermediate position, seeing certain similarities but registering strong reservations against pushing such similarities too far. I shall not go into the details of these different views in this article. However, let me stress that many of these views of medieval theology generally and of Bernard specifically have to a large extent been the results of what I would describe as a ‘backward’ reading, by which I mean a reading where a later understanding and rendering of a theological discourse is read into an earlier discourse, in this case either into Bernard’s or Luther’s theological deliberations. Bernard in particular is read in this fashion, through the filter of scholastic theology and the scholastic reception of his teaching or through the filter of modernity’s theological preoccupations4. To be sure, not all the marks of Bernard’s theology can be traced through Luther’s, even if both theologians are read in a forward reading. But it is neither the point of my critique nor the aim of this article to show that such a reading would find a total and indisputable echo of Bernard’s theology in Luther’s writings. The point of my critique is that we distort both Bernard and Luther by a backward reading, and that we do not thereby represent their theology, but something else entirely. This something else may often be determined by our own theological agendas rather than by a historical rendering of facts and thoughts. I would also like to stress that my pointing to a forward reading should not be taken as a sign of naivety on my part. I am not suggesting that it is possible for anyone, myself included, to be absolutely objective in theological or historical expositions and judgments. But I do want to make a call for us to be conscious of our objectives and our own subjective judgments, and with this consciousness to read the “historical” texts of a Bernard or a Luther in a forward reading, in order to 4
See ELSE MARIE W IBERG PEDERSEN: Justification and grace. Did Luther discover a New Theology or Did He Discover Anew the Theology of Justification and Grace?, in: Studia Theologica. Scandinavian Journal of Theology 57 (2003), 143–61, where I have treated these different views in the debate on continuity vis-à-vis discontinuity between Bernard and Luther.
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Else Marie Wiberg Pedersen
at least try to let the texts speak as much as possible for themselves without ascribing to them our own “political” programmes. Regarding the relation between Bernard and Luther, both as to their theological deliberations and to their views on monasticism, there are a number of examples of backward readings where there seems to me to be a politico-theological interest in finding more in the way of dissimilarities than similarities. Let me give an example of what I would class as a backward reading, especially of Bernard, even by such a comparatively impartial observer as Bernhard Lohse. There is in fact good reason for this, since Lohse’s research was devoted specifically to the relationship between Bernard and Luther, and his work has had a significant impact on other scholars’ views on the matter. Lohse began, with his dissertation of 19635, by concentrating on Luther’s criticism of monasticism in the years after 1513 when he started his intensive studies of scripture. With a natural and logical emphasis on Luther’s later break with monasticism (he left the monastery in 1524), Lohse was much more occupied in his research with differences between Luther and Bernard than with similarities. He therefore built his theses on the concept of monasticism represented by several important medieval theologians who were all criticized by Luther, rather than on the monasticism represented by Bernard which Luther, as I shall show, actually highlighted as exemplary. Lohse nevertheless stuck to his thesis that Luther always critiqued Bernard, particularly his monastic life, in an article from as late as 19946 listing seven points where he found that Luther disagreed with Bernard. The seven points where Lohse sees an unbridgeable divide between Bernard and Luther are7: 1. Luther’s critical view of Bernard’s demand for and commendation of the vita monastica which, so Lohse claims, built on Luther’s regret that Bernard founded so many monasteries and all in all contributed so much to the spread of “monkery”. 2. Luther’s criticism of Bernard’s praise of the pope and papacy after Luther had had his defence countered at the Leipzig Disputation by Johann Eck also employing Bernard. Luther would thereafter, according to Lohse, combine his criticism of the papacy and his criticism of monasticism. 5
BERNHARD LOHSE: Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttingen 1963. 6 BERNHARD LOHSE: Luther und Bernhard von Clairvaux, in: Kaspar Elm (ed.), Bernhard von Clairvaux: Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 6), 271–302. The book is a collection of papers, all about the reception of Bernard in Europe before the 19th century, given at the 27th Wolfenbüttel Symposium, 23–27 October 1990. 7 LOHSE: Luther und Bernhard von Clairvaux (see note 6), 297–300, lists the seven points of disagreement.
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3. Luther’s criticism of Bernard’s Marian devotion, which he saw as obscuring the role of Christ as sole saviour. 4. Luther’s so-called critical remarks concerning Bernard’s teaching on creation and justification. 5. Luther’s comment that Bernard taught the “Messopfer” on account of Christ’s sacrifice on the cross. 6. Luther’s critique of Bernard’s teaching on free will (WA 8, 449, 1518). 7. Luther’s reservations concerning Bernard’s mysticism, at the least warning against its dangers, as Lohse has it. Having listed these points of discord between Luther and Bernard, Lohse then concludes: Man kann von daher keineswegs sagen, dass Luther zu Bernhard in einem Verhältnis bruchloser Kontinuität steht. Was Luthers eigene Theologie, seine Frömmigkeit, sein Kirchenverständnis und sein reformatorisches Handeln betrifft, so dürfte es nirgends ein Lehrstück geben, wo sich monastische Überlieferungen unreflektiert und unkritisch bei ihm in der Zeit seit seinem Konflikt mit Rom durchgehalten haben. Damit soll nicht gesagt sein, dass Luther dem Mönchtum nichts verdankt hätte. Was Luther vom Mönchtum gelernt hat, das ist vor allem die radikale Frage nach dem Christsein, nach der Nachfolge, nach dem, worauf es im christlichen Leben ankommt. Aber von den Antworten, die darauf in dem Mönchtum gegeben worden sind, hat sich keine einzige für Luther bewährt. Sie sind alle durch die harte Kritik seiner reformatorischen Theologie gegangen und von ihm nur noch in verwandelter Form herangegezogen worden.8
Some comments must be made on this. First of all, all seven points in varying degree build on a backward reading of Bernard (and of Luther), and they are all made out of context. Thus, Lohse avoids the fact that some of the points are founded on Pseudo-Bernardine texts, in particular Luther’s criticism of Bernard’s Marian devotion (point 3), and that many of the points, such as point 7 on mysticism, are not properly substantiated. Secondly, most of the seven points are not directed towards Bernard in particular but are more an expression of a natural and sound criticism of tradition as such, Luther in equal measure directing his criticism even to Augustine when he disagrees with his teaching. It is therefore problematic for Lohse to claim, in point 2, that Luther completely changed his positive attitude towards Bernard into a negative one owing to Eck’s use of Bernard in the disputation in Leipzig. The same would have been the case if we delved into Luther’s relation to Augustine, who was employed by all parties in the disputes in the 16th century9 as well as during the centuries 8
Ibid., 300. For example, Luther claimed that Augustine was entirely on his side in the dispute about justification by faith alone (sola fide), as also did Jerome Seripando, Prior General of Luther’s erstwhile Order, when Luther was condemned at the Council of Trent for his teaching that justification is by faith formed in love (fides caritate formata). For the vari9
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before and after. Similarly, when in point 4 Lohse emphasizes Luther’s socalled criticism of Bernard’s teaching on creation and justification, he ignores the fact that it is actually also directed towards Dominic and Basil, and that it is not really a criticism at all. Also, to corroborate a negative view of Bernard by the reformers, Lohse simultaneously ignores the fact that Melanchthon evaluated Bernard quite differently from Luther, using Bernard as testimony in support of the doctrine of justification at the Augsburg negotiations in 1530. Thirdly, it cannot be overstated that Luther of course could not accept the whole package of the “furtrefflicher Munch”, 400 years his senior, because the whole context was different, in exactly the same way that we cannot buy the whole package of the brilliant reformer from 500 years ago, because the context and conditions in which we live have changed again. There is no reason to dispute that Luther dissociated himself from monasticism as an institution that isolated itself from the seculum and from the vulgo, as he had it. Nonetheless, I contend that Luther does side with Bernard on the subject of the nucleus of Christian faith, so that theologically, though not strictly institutionally (or sociologically), there is a structural similarity between Bernard and Luther. Important and essential similarities between their teachings on justification and love of neighbour and hence a strong continuity in the nucleus of their understanding of the freedom of a Christian can be detected, even though their lives were lived within very different frameworks, since society at large, and the church too, had undergone considerable change. In spite of his emphasis on the points of disagreement between Bernard and Luther, Lohse does however admit that to Luther Bernard was the most holy of monks, quoting his praise of Bernard in the lecture on 1 John: “der heiligste Mönch …, von dem er wisse”, and “dass Bernhard sogar über Gregor und Benedikt stehe”10. Ironically enough, this formulation is from the very same 1527 text that Lohse employs in the above point 1 in order to demonstrate Luther’s critical stance towards Bernard for commending the vita monastica and spreading monasticism so far. Accordingly, and equally ironically, later still, in 1999, Lohse states: Indeed, Luther did not spare Bernard when criticizing medieval monasticism. Yet in Luther’s early phase, and partly also later on, we find an essential dependence on some of Bernard’s thoughts. At the same time, however, Luther in his early years did not ac-
ous uses of Augustine, see P AUL ROREM: Augustine, the Medieval Theologians, and the Reformation, in: G. R. Evans (ed.), The Medieval Theologians, Oxford 2001, 365–72, where he refers to the prolific work of Jaroslav Pelikan on these uses. 10 Luther’s own words as they appear in Vorlesung über 1 Joh. (1527): “Ego sanctiorem monachum non animadverti quam Bernhardum, ich setz yhn uber Gregorium, Benedictum,” WA 20, 746,14f.
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cept Bernard’s vehement stress upon the monastic ideal and later he sharply criticized his praise of the vita monastica.11
Lohse thus reveals an ambivalent evaluation of Luther’s relation to Bernard, which at times seems to blur his view. One could, of course, claim that this ambivalence to a certain degree mirrors Luther’s own ambivalence towards Bernard. However, Luther’s ambivalence should not be driven too far, and one cannot just translate his points of critique into a general and combined negative attitude to and evaluation of Bernard’s theology and monasticism as such. Thus, Luther is mostly positive towards Bernard as a theologian and as a preacher on Christ. He also takes a positive view of Bernard’s understanding of the monastic life as a completion of baptism, the greatest of vows, on a par with matrimony, the two being different yet equally valid lifestyles as he states in his sermon on baptism of 151912. He can even at one point see a small advantage to monasticism, namely that it involves more suffering than matrimony and therefore is better equipped to prepare for the death from this world of which baptism is an expression, monasticism thereby being “a more complete exercise” of baptism13. So, on the one hand Luther evaluated Bernard very positively, for example in the 1527 lecture on 1 John quoted above, and ten years later in his 1537–40 sermons on Matthew, where he called Bernard “ein furtrefflicher Munch” and “der aller frömest Munch”14. On the other hand he could also evaluate aspects of Bernard negatively, as for example in his 1537–38 sermons on John, where he emphasized how whilst loving Bernard for his preaching on Christ he did not estimate Bernard’s cowl or habit highly because that would mean a devaluation, even a damnation, of all other Christians as of lesser importance15. We should take note here of Luther’s exact wording: he does not simply dismiss Bernard as a monk or dismiss monasticism as such. More specifically, Luther stresses that he approves Bernard for his theology, specifically his Christology, and not because of his status as a monk. The argument for the 11
BERNHARD LOHSE: Preface to Franz Posset’s book Pater Bernhardus. Martin Luther and Bernard of Clairvaux, Kalamazoo 1999 (Cistercian Studies Series 186), 15–19, here 16 (italics added). 12 In Ein Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe, WA 2, 736,7f. 13 WA 2, 736,25-29. 14 WA 47, 598,20; 47, 85,12; 47, 109,22; cf. 38, 154,7. 15 “Als Sanct Bernhard (welchen ich seer lieb habe als der unter aller Scribenten Christum auff das aller lieblichste prediget) folge ich in dem, wenn er Christum prediget, und in dem Glauben, darinne Sanct Bernhardus gebetet hat, bete ich auch zu Christo. Aber das ich mir solte gefallen lassen seine Kappe und sein heren Hembde und seine Mönchische kleidung, das thue ich nicht, denn damit verdamete ich sonst alle andere Christen, als weren dieselbigen nicht so gute Stende und in den ehren und wirden als der Mönch Bernhardus,” WA 46, 782,20.
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latter is that if “ich mir solte gefallen lassen seine Kappe und sein heren Hembde und seine mönchische Kleidung” then “verdamete ich sonst alle andere Christen, als weren dieselbigen nicht so gute Stende”. He cannot praise Bernard’s status as a monk since this status is no better than that of other Christians. But it is no worse, either. More than anything else it is a matter of the equality, the equal status, of all Christians. The question is now whether Luther really is ambivalent towards Bernard, and also whether he is as critical of the monastic ideal as Lohse claims16. To be more precise, we are prompted to ask what in Bernard as a monk Luther favoured and what in monasticism it was that made him dissociate himself so vehemently from this way of life as he eventually did in 1521 – resulting in his final laying aside of his habit in 1524. To this end I will look now into Luther’s treatise on monastic vows of 1521 – when he was still a monk – in which he repeatedly refers to Bernard in a highly positive way, even though the treatise was written after the disputation in Leipzig.
From monk to monk In his treatise on monastic vows from 1521, De votis monasticis iudicium, Luther in most respects dissociates himself from the monasticism of which he himself had been a part for about 16 years, since entering the order of the Augustinian Hermits in Erfurt on 17th July 1505. The treatise follows chronologically Luther’s central and programmatic writings An den christlichen Adel, De captivitate Babylonica, and Von der Freiheit eines Christenmenschen, all written in 1520, and his extremely important 1519 sermons – Ein Sermon von dem Sakrament der Buße, Ein Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe, and Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heyligen wahren Leichnams Christi Und von den Bruderschafften Doctoris Martini Luther Augustiners – in which writings he explicated his “magnificent discovery”: the significance of God’s promissio17. Not less important, the treatise comes right after Luther’s dis16
After I gave this paper in June 2005 in Erfurt – on the occasion of the 500th anniversary of Luther’s entry into the Augustinian monastery there – I came across DOROTHEA W ENDEBOURG: Luther on monasticism, in: Lutheran Quarterly 19 (2005), 125–52. Wendebourg here shows how Luther is both for and against monasticism, but her aim is not the same as mine, in that her article looks into how the complex approach might afford “a fresh rationale for monastic life within Protestantism today”, 126. This is a very different approach from that of Lohse, whom one might suspect of magnifying Luther’s critique of Bernard in order to magnify his, Luther’s, critique of monasticism. 17 All three sermons are found in WA 2, 709ff. [StA 1, 244ff.].
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putations with Rome, personified by Cajetan in 1518 and Eck in 1519, which culminated with his being banned on 3 January 1521. This sets the historical frame, but I shall now go on to look at the treatise and Luther’s views on monasticism and on Bernard from a more theological perspective. Luther addresses the treatise to his father, who was very much opposed to his son taking monastic vows in 1505, thus abandoning his legal studies. The reason for this choice of addressee Luther gives in the prologue as being to – as he formulates it – tell the pious reader what the disagreement between father and son has been about18. In the very first part of his deliberations on monasticism, written as a direct reply to his father, he takes his point of departure in God’s commandments. Luther’s father was opposed to his son taking monastic vows, and Luther wants to explain how he himself has now become wiser and realized that his father was right, but that his father was nonetheless just as lacking in knowledge as he then was. For his father was also ignorant of Luther’s new insight, that nothing is more holy, noble or spiritual than to abide by God’s commandments. Counter to God’s commandments stand human vows of the most unholy kind, such as the monastic vows that according to Luther are very seldom given freely and spontaneously but more usually, so he claims from his own experience, out of fear and Angst. Luther explains how by entering the monastery he had turned away from his father’s authority, and thus also from the will of God. These two authorities, the earthly father and the divine father, are then viewed together under God’s commandments that one must honour not only God (first commandment) but also one’s father and mother (fourth commandment), as opposed to the pope and the monastery whose authorities represent nothing but human teaching, lies, sin and impious acts. Luther sums up his deliberations thus: “On your side there is divine authority, on my side human conjectures.” In other words, the three monastic vows of celibacy, obedience, and poverty are but human inventions, though especially the two latter, since Luther does find some scriptural (and divine) grounds for celibacy in the writings of Paul. However, what is a conditio sine qua non is that to have any positive value such vows must be given freely, out of a free wish to serve God. If such vows are given out of fear of God – the monks therefore 18
WA 8, 573. Whether Luther’s father, who was an illiteratus, could read this treatise is not the issue here. The addressee may just be a rhetorical figure representing any fatherly authority. However, it cannot be excluded that Luther imagined the treatise read to his father, and that in one way or another he had a wish to close discussion with his earthly father while opening discussion with the ecclesiastical authorities. It should in this connection be noted that he ends his prologue with a direct greeting to his parents, explicitly also mentioning his mother, Margarete.
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drawing away from life in general under the illusion that monasticism is a status perfectionis in which one is already saved – then they are false. Luther time and again emphasizes how monastic life, if it is entered under this illusion of being perfect and sinless, is the most sinful of all ways of life. For by such an understanding the monks in reality reverse God’s commandments and dispense with the order of creation. The whole treatise presupposes it as a fact, explicated in his address to his father, that he, Luther, has now begun a new life. God has drawn him out of monasticism (“Möncherei”, ‘monkery’, as he usually calls it) and “set [him] in, not the monks’ fictitious service of God, but the true service (vero cultu dei)”: Who can doubt that I am in the ministry of the Word? But this is the true cult for which obedience to one’s parents must cede, in the words of Christ: Whoever loves his father or mother more than me is unworthy of me [Matt 10:37].19
Luther here sees the true ministry of God to be the ministry of the word. This same conviction we find in Bernard of Clairvaux, for example in his address to the new order of Templars, which he concludes by pointing to the importance of the ministry of the word in relation to the forgiveness of sins and consolation of souls20. To Luther this is of paramount importance, and to corroborate the seriousness of the matter, he names himself a new creature under God’s mandate: I am a monk and yet not a monk, I am a new creature who belongs, not to the pope, but to Christ.21
Thus Luther here, as we know from so many of his writings, shapes the treatise as a set of operational opposites: true and false authority, the true and the false life, true and false service of God. Together with his law– gospel scheme, these operational opposites, introduced in the preceding years and which he never again gave up, constitute the backbone of his Christian belief and reformation programme and here form the whole ar19
WA 8, 575–76: “In ministerio enim verbi me esse quis potest dubitare? At hic cultus plane est, cui cedere debet parentum autoritas, dicente Christo: ‘Qui amat patrem et matrem plusquam me, non est me dignus.’” 20 See Bernard of Clairvaux, De laude novae militiae 12, 30, where he states that priests are ministers of the word and must be careful in their administering the word of salvation: “ministros verbi sacerdotes caute necesse est ad utrumque vigilare sollicitos, quo videlicet delinquentium cordibus tanto moderamine verbum timoris et contritionis infligant, quatenus eos nequaquam a verbo confessionis exterreant, sic corda aperiant, ut ora non obstruant, sed nec absolvant etiam compunctum, nisi viderint et confessum, quoniam quidem corde creditur ad iustitiam, ore autem confessio fit ad salutem.” Here cited from Sources Chrétiennes 367, Paris 1990, 126–28. 21 WA 8, 575: “Itaque iam sum monachus et non monachus, nova creatura, non Papae, sed Christi.”
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gument for his decision to leave the monastery and hence break those vows that were considered holy and unbreakable and seen as “a second baptism”, adding something to the ‘first’ baptism. To Luther it was a matter of both faith and life, and he knew from previous disputes that he would be vehemently attacked. In a “Trostbrief” dated as late as 1533, he defends his decision to break his monastic vows against the charge of perjury, and here again, as also in the above treatise and elsewhere (for example in his sermon on Matthew 7:24-27), Luther uses Bernard as his most important defence and support. Quoting Bernard in his sermon 20 on the Song of Songs, Luther states that even Bernard, the most pious of monks whose writings and life were better than those of any other monk, expressed his desperation with that monasticism which devotes itself to self-made holiness: “Oh, I have lived damnably and passed my life shamefully.” Luther cites Bernard for reproaching the monks that their devotion was not to Christ, to his suffering and blood, but to their own overzealous conduct in fasting, praying etc., and that they therefore did not live according to His teaching. And, indeed, Luther seems to have read thoroughly Bernard’s sermons 19–20 on the Song of Songs, the main theme of which is a true monastic life led in accordance with God’s commandments to obey God rather than men (Acts 5:29) and with the love of God so that they “never exceed the proper limits of discretion by superstition or frivolity or the vehemence of a too eager spirit” but remain in the faith of Christ, human and divine. Luther ends his direct address to his father by pointing to true service in God and Christ, quoting his motto from The Freedom of a Christian that he, now liberated by Christ from his monastic vows, has been given the freedom to be everybody’s slave and yet have no other immediate bishop, abbot, prior, father or teacher than Christ alone, thus stating a strong solus Christus22.
Monasticism and the common life The fact that taking monastic vows was considered as a second baptism is nothing less than blasphemy coram Deo according to Luther. Whilst claiming to transcend the promise of baptism, monks in reality retract or annul it23. 22
WA 8, 576: “Mitto itaque hunc librum, in quo videas signis et virtutibus Christus me absolverit a voto monastico, et tanta libertate me donarit, ut, cum omnium servum fecerit, nulli tamen subditus sim nisi sibi soli. Ipse enim est meus immediatus (quod vocant) Episcopus, Abbas, Prior, dominus, pater et magister.” 23 WA 8, 641–647.
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When Luther characterizes the monastic life as imperfect, and not as the status perfectionis it claims to be, this has its explanation in several factors, all of which are central to his programme. First of all, the vows are not only against God’s commandments but against God’s word as such and cannot find authority in Scripture or in the earliest tradition24. Therefore, monasticism does not follow the truth laid out in the gospel but is based on lies invented later, since every one of the three vows goes beyond and even against the gospel. By claiming that the gospel is not for all but only for the chosen few, monks prove that they have misunderstood its nucleus, which is God’s promise that he will be beneficent to human beings. Likewise, they disobey Christ’s commandment to go out into the whole world and preach this gospel to all creation (Mark). To Luther it is of the utmost importance that the gospel is for all, that it is held in common. The gospel cannot be appropriated for the few, locked in behind thick walls, for according to Luther it represents God’s salvific power for anyone who believes. By simultaneously withdrawing from the world and keeping the gospel for themselves, the monks pervert the very essence of the gospel, in that the commandment to love one’s neighbour as well as one’s enemy is turned into the special counsels of celibacy, poverty and obedience. Luther thus here employs another operational pair of opposites: the precepts of every baptized person, obedience of God and love of God and neighbour, over against what the monks have made special counsels, which are but human vows, not like the precepts “mandata Dei”. The distinction between praecepta and consilia cannot be maintained, since the ethics of the Sermon on the Mount are for all Christians25. Hence monastic vows should be rejected everywhere and all having taken them should return to the common life of all Christians (communem viam Christianorum), which is created in the grace of God, and allows for a good conscience. To reject them will be, with the best conscience, to follow Christ and God’s commandment, since it is God who takes back such a person26.
24
WA 8, 578ff. Luther continues this argument through the whole treaty, culminating in its last part “Ultimo”, 641–69. 25 See WA 8, 580: “Et ut omittam, quod hac distinctione sese ignorare testantur, quid sit proprie Evangelium (dum praecepta et consilia ex ipso faciunt), quod est merae promissiones dei, exhibita beneficia hominibus annunciantes, inter quae sunt et declarationes illae mandatorum dei et exhortationes ad eadem sevanda, Matth. v. vi. et vii. a Christo factae.” Constantly referring to the maxims of the Sermon on the Mount, Luther explicates this through the whole treatise. 26 Behind this lies the law–gospel scheme: the self-knowledge of the sinner leading to salvation. This becomes even more evident in the treatise’s two following parts: part two on the vows as contrary to faith, and part three on the vows as contrary to the freedom of the gospel.
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Second, Luther argues that the monastic vows are a form of contempt for life and the created world. To divide Christian life into a perfect and an imperfect state, claiming perfection for oneself whilst condemning the multitude of humanity to be imperfect, is a mistake, and monasticism in reality is but a mask (larva) of external acts27. Thus monasticism is not identical to perfection simply by way of celibacy, which is but a mode of life, but is merely a service freed of the carnal concerns connected to family life28. All the vows are works of Satan, not of God, illusions as they are; and Luther identifies the imperfection of monasticism vow per vow: Celibacy goes beyond God’s commandment and is perversa impia; poverty is but words, as monasteries in reality collect and administer great riches29. The vow of obedience Luther characterizes as a perversion of obedience to God, since monks are required to be more obedient to the rule than to God. In relation to this vow, we find one of the few instances where Luther actually and vehemently dissents from Bernard. In Luther’s view, the vow of obedience is in direct opposition to what he labels “evangelical humility”, and but a beautiful illusion that has deluded even Bernard into thinking that the monk, besides the rule, was obligated only to his abbot30. Luther, who for polemical purposes here draws quite another conclusion from the monastic rule, expressing a bombastic understanding of obedience very different from Bernard’s31, concludes the treatise’s first part by judging monastic life to be sectarian (sectatores), segregated from common life, from the ordinary, and from the plurality of people32. As stated, Luther builds his texts on the Sermon on the Mount, explicating how monastic vows when falsely applied are contrary to God’s com27
WA 8, 584. We find all these same arguments against monasticism in CA 27, though in a much more concise and programmatic fashion. 28 WA 8, 585. 29 WA 8, 586ff. 30 WA 8, 586. 31 Luther is referring to Bernard’s treatise De praecepto et dispensatione, which had an immense “Wirkungsgeschichte” since it was often used as a commentary to the Rule of Benedict, and was employed as a canon for dispensing with the Rule as we see here with Luther. However, Luther, who on the Wartburg did not have access to a copy of the text, refers to it from memory only and leaves out the context in which Bernard speaks about departing form the Rule. To Bernard it is very important that the rule is taken voluntarily, emphasized by the fact that the Cistercian order was the order that introduced and demanded adult recruitment of novices – for it is, as Bernard stresses, a rule made by human beings, as opposed to God’s commandments. But when taken voluntarily, the rule is actually obligatory and can only be dispensed with in a very few cases (for example illness or some sort of weakness) by the abbot who is, indeed, also obligated to abide by the rule. See further THEO B ELL: Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993, 223–27. 32 WA 8, 588–90.
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mandments, which are precepts for all Christians. Almost 400 years earlier, in 1139–40, Bernard also construed a whole text on the verba Christi of the Sermon on the Mount, Sermons on Conversion of Clerics, an address to the clergy of his time, first given as a lecture to the students and clerics at Paris33. Here Bernard by way of the Beatitudes (Mt 5:3-10) instructs the clerics that it is better to follow the words of God and his commandments rather than human discourse, and that the conversion “required of a son of man” (filii hominum) is the working of the divine, not the human, voice. According to Bernard, conversion is an inner and spiritual matter, a turn from evil to good, which is caused by God alone34. He pursues the contrast between those who are false ministers and “peace preachers” (Mt 5:9), on the one hand, and those who are “peacemakers”, ministers of the word, on the other. Bemoaning “the present state of the church”35, Bernard urges his audience to both preach the gospel freely and to practise it36. Similarly, Bernard stresses the fact that the celibate life, “a great precept which not everyone can accept”, is not automatically a profession of perfection, since many turn their abstention from marriage into all kinds of vice37. Two things should be noted here. First Bernard does not make the distinction between counsel and precept, but sees celibacy as “a great precept” which should not be lived by all38. Thus, and secondly, he states that those who cannot remain continent should not choose celibacy so rashly but should better marry in order “to be saved in the humble ranks of the faithful than to live less worthily in the lofty ranks of the clergy and 33
Bernard of Clairvaux, On Conversion (see note 2), 32. Ibid. 33: “if I look after my own interests rather than those of Jesus Christ, then you may judge my word as coming from me and not from the Lord. What is more, even if we speak of God’s justice and seek God’s glory, it is from him alone that we must hope for results. We must ask him for it, so that our own voice may be in harmony with the voice of majesty. May I suggest then that you prick up the ears of your heart in order to hear this inner voice and that you make an effort to hear God speaking within rather than the man speaking without.” Cf. ibid., 59. 35 Ibid. 71ff. 36 Ibid. 77: “If only those among us who today seem to be Pharisees – and perhaps they are – could at least preach the Gospel free of charge, might at least offer something for the charge! If only they would preach the Gospel to earn their bread.” 37 Ibid. 74f., culminating in the plea to let perfection appear in the form of godliness and not be an empty appearance of the celibate life, thus a void of truth. 38 Ibid. 74. Cf. Aelred of Rievaulx, Liber de speculo caritatis, where he distinguishes between obligatory and voluntary sacrifice in relation to a Christian life. Monastic vows such as stability, conversion of life, and obedience to the Rule are thus distinguished from the precepts of God such as charity, humility, patience and other virtues, to which all Christians, indeed all humans, are obligated. See The Mirror of Charity, translated by Elizabeth Connor, OCSO, Kalamazoo 1990 (Cistercian Fathers Series 17), 273–87, here esp. 283. 34
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be more severely judged”39. Whether this is a hierarchical ranking is debatable. Bernard does not say that one way of life is higher than the other, rather that one is “humble”, the other “lofty”, though this might just as well be read as a decomposition of a hierarchical order. It is not ranking in social status that occupies Bernard, however, but a ranking in the living out of faith. Hence, he concludes by warning against the hirelings who “mask shameful doings”40, as opposed to the shepherds who practice the word of God – and in my own view Bernard, though clearly being in favour of his own monastic life, is more than aware of the fact that no one person, of whatever profession, is perfect in this life. Neither is he saying that monasticism is perfection perfected. What he is saying – both here and in other texts where he warns against the severity of monasticism41 – is that monasticism is not for everyone, and that marriage is an equally good path to salvation. It is better to marry than to take a false celibate life or ministry. Those clerics who live a masked shameful life not only stain the church, God’s own people, they also fail to please God. So in fact what Bernard is focusing on is the inner conversion of every person, and the inner spiritual cloister, raised through genuine faith in God, of every person42. As already mentioned, this conversion is not, as some maintain, 39
Ibid. 74. Ibid. 78. 41 Bernard actually had Aelred of Rievaulx write Liber de speculo caritatis in order to warn the multitudes that were attracted to the Cistercian order in the 12th century that it was a very stern life. Being a mirror of love, the message of the book is that the love of God must be mirrored in human action, and that the Cistercian order is a school of love that works on teaching the novices and later monks to act according to God’s commandments of love, moulding them to behave socially, not out of self-centredness. See The Mirror of Charity (note 38), in which Bernard’s letter to Aelred, who has postponed the task, can be found (69–72). Aelred fashions the book as a debate between a schoolmaster, Aelred, and a novice. The latter praises the monastic life as echoing the precepts of the Gospel or the apostles [sic]: “There is among the brothers such great unity, such great harmony, that what each has is considered as belonging to everyone, and what everyone has to each one,” no quarrels, etc. (194) – to which Aelred replies: “You are a novice, so I would attribute these [reflections] not to boasting, but rather to fervor. Still, I want you to be careful not to suppose that there is any profession in this life that does not include impostors, and not to be troubled if, contrary to your expectations, you perhaps see someone transgressing the rule either by word or deed, as I know does happen.” (195). Aelred later sums up in what the love of God consists: “anyone who keeps trying to the best of his ability to reach God – that is, by obeying his commandments and living soberly, justly, and godly [Tit 2:12], according to the teachings of the Gospel and the apostles – even though he does not taste any of this sweetness, should be said to love God, on the testimony of him who said The person who keeps my commandments is the one who loves me [John 14:23]”. 42 On Conversion, 59: “You must not consider this paradise [Gen 2:8] of inner pleasure … some material place: you enter this garden not on foot, but by deeply-felt affec40
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simply a matter of becoming a monk. Far more, it is a matter of turning from self-interest to the interests of Jesus Christ43. Luther in his treatise on the vows of monasticism accentuates as perfection the ministry of the word. To preach the gospel, the word of God, and to be everybody’s slave with glowing love, is perfection44. For the difference between perfection and imperfection is measured by spirit, faith and love, and those precepts one rather finds in the common (in vulgo) than in an externally pious life45. This means that Luther’s understanding of community life has to do with the common life ruled by the spirit, by faith and by the love of neighbour and enemy. What we find is a secularization of Christian life, placing faith in the midst of our quotidian life, coherent with a desacralisation of the institution of the church46. Clearly, there is a difference between Bernard and Luther, but it is not a stark contrast, more a divergence in accent. Bernard who, along with Aelred, acknowledges that there are those within monastic (and ecclesial) life who mask their shameful doings, finds the monastery to be the sublime place for moulding people to live their faith in the love of God. And there is no doubt for Bernard that taking monastic vows must be a voluntary act. Luther, 400 years later, has different experiences and views. He sees motions”, after which Bernard points to the grace of God as the only way to righteousness (62), stated in Holy Scripture and experience (67), and given through Jesus Christ (70). 43 To Bernard, monasticism is a sublime way of imitating Christ indeed, but it is only by way of Christ and by way of the church as a whole imitating Christ that there is perfection – or rather a way towards perfection, a pilgrimage as the Christian life is. In this context, Bernard perceives of the cloister as a place on earth that acclimatizes people to the love of God and Christ. Based on Paul and Augustine, Bernard expresses it thus in On the Song of Songs 23, 6: “For nature has made all men equal. But since this natural moral gift was corrupt by pride, men became impatient of equal status.” Therefore the proud character must be disciplined, which is the task of the monastery, mostly by way of obedience: “The natural goodness lost by pride is recovered by obedience, and they learn, as far as in them lies, to live peacefully and sociably with all who share their nature, with all men, no longer through fear of discipline but by impulse of love.” But no one person is perfect by him- or herself. According to for example Song of Songs 58, 11, for monks too there is always a need for pruning vices. For the text in English translation see On the Song of Songs, translated by Kilian Welsh and Irene M. Edmonds, Kalamazoo 1971–80 (Cistercian Fathers Series 4, 7, 31, 40). 44 The wording is found in WA 8, 584–85: “servire in verbo dei, praedicare, testificare” (585), “fervente charitate omnium servum” (584). 45 WA 8, 584: “Et hanc differentiam non metiuntur iuxta mensuram spiritus et fidei et charitatis”. 46 Cf. the abovementioned sermons from 1520 (and 1519), the small and large Catechism from 1529, plus On the Councils and the Church from 1539, in all of which Luther accentuates a desacralisation or even a “secularization” of the ecclesial institutions and the ministry in order to stress that those institutions are not holy by themselves but are instituted for the service of God.
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nasticism as primarily a mask of shameful doings called special counsels of God that are anything but voluntary. But this view on monasticism is clearly separated from his views on Bernard. In what remains, I shall focus on two of Luther’s major subjects in relation to Christianity, which also play a major role in relation to his views on monasticism, namely the freedom of a Christian and faith. In the treatise on monastic vows these two are not only given separate parts, but they also play an integral role in the other parts of the treatise.
Monasticism and freedom When Luther speaks of freedom, he always speaks of freedom in the gospel, not freedom as a total moral freedom in the conduct of one’s life or a merely philosophical phenomenon. His conception of freedom, particularly explicated in part three, is closely linked to his perception of the Christian life as first and foremost a social life, and perhaps therefore his law–gospel scheme stands as a vibrant factor in and underneath this text. Seemingly paradoxically, yet as a logical consequence of his understanding of the gospel, Luther regards the Decalogue, The Ten Commandments, as being necessary to life, though – and this should be stressed – not to salvation47. These commandments must be given free to the benefit of one’s neighbour. The commandments are not an end in themselves but serve as a direction to the acknowledgement of sin. And this is the significant point: neither in monasticism nor in any other earthly life can we live without sin48. The most significant feature in Luther’s understanding of freedom is its relation to equality. Precisely as freedom is the freedom to serve all, so it entails equality between humans. If there is no equality, there is no freedom. Therefore to Luther, quoting Gal 3:28 several times, the right background for monastic life ought to be equality49. However, as he stresses, monasticism is utterly contrary to evangelical freedom since instead monks claim to be a chosen elite, and if the claimed imbalance would be denied, they should rather choose marriage50. As freedom is a gift of God51, there 47
WA 8, 605. Bernard also points to the fact that we were all born equal by nature, as sinners, as in The Song of Songs 78, 4: “all men have come into the world in the same condition, whether they are elect or wicked. There is no distinction; all have sinned, and all bear the badge of their shame.” 49 E.g., WA 8, 615 and 652, both times primarily stressing the equality between man (masculus) and woman (femina). 50 WA 8, 610. 48
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are no divides between humans coram Deo, only different charismata (cf. 1Cor 12), and all should serve common faith spontaneously without merit52. In his criticism there is one point where Luther is somewhat approving of monasticism, namely insofar as monasteries grew out of the early Christian tradition of educating young people in both faith and discipline. Luther also emphasizes that such education in the early church should take place in free Christian schools and entail the teaching of girls53. In this tradition, monasteries once functioned well as “scholae Christianae”, which in a certain sense echoes Bernard’s “schola caritatis”, but this function has according to Luther now been superseded by other things. Finally, it is important to note that when Luther speaks of the freedom of a Christian, it is freedom in a theological sense and not in an anthropological or psychological perspective. It is freedom solely in man’s relationship coram Deo, not coram hominibus. Hence, in the relationship with God there is freedom, but not in relationships between human beings. Translated into human life, whilst it is legitimate to break one’s monastic vows, it is not legitimate to break one’s marital vows. This is so because the former denote a relationship between man and God whereas the latter mark a relationship between two human beings, and godly freedom is not a hindrance to binding to one’s neighbour54. All in all, God wants human beings to develop strong and positive relationships (ibidem). In connection with his deliberations on Christian freedom, Luther again calls attention to Bernard as proof of his own teaching, and points to Bernard as one who understood true monastic life to be a life lived out of freedom of the spirit, not out of obligation to the vows: He did not let his vow teach him this freedom, but quite to the contrary taught the necessity of freedom.55
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WA 8, 608–09: given in baptism, “donum” given “gratis”. Cf. ibid., 642. WA 8, 612: “Sunt igitur dona dei diversa, et magna et parva, 1 Cor. xii. et vii., … omnes vero gratis serviant communi fide et Christo abundantes, qui operatur inequalia aequalis ipse in omnibus.” 53 WA 8, 615: “Hinc primum natae scholae Christianae, in quibus et puellae quoque erudiebantur”… 54 WA 8, 615: “Libertas Evangelica regnat in iis solum, quae geruntur inter deum et teipsum, non inter te et proximum tuum. Non enim vult rapinam in holocaustum, nec quicquam fieri ab ullo, quod vergat in proximi iacturam, imo vult omnia fieri in proximi commodum.” 55 WA 8, 612: “Ita Bernhardus vovit et vixit in voto, sed non ex necessitate voti, imo ex libertate spiritus, licet votum suum hanc libertatem non doceret, imo necessitatem libertati contrariam doceret.” 52
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Luther concludes that even if Bernard has lived in celibacy, obedience and poverty under his vows, he has not lived according to the vows but rather according to the gospel. Again we find Luther’s reformation programme well integrated into his whole exposition, his law–gospel scheme vibrating out of every fibre of the text. Similarly, we find his principle that between human beings and God there should be absolutely no intermediary but Christ, just as between human beings there should be no ontological divides, created into equality and equal in a soteriological perspective as they are (cf. Gal 3:28; Eph 4:5).
Monasticism and the living out of faith The last of Luther’s major reformation causes I will look at is faith, as explicated particularly in part two of the treatise on monasticism. As is well known, faith according to Luther is the constitutive factor of humans’ entire relationship with God, and thus of the true Christian life. In his exposition of faith as opposed to monastic life Luther cites Rom 14:23: not to believe in God is sin. In this part of the treatise we find the features that so characterize Luther’s theological programme: on the one hand his identification of faith with conscience, on the other the feature that in many ways formed the incentive of his reformatory zeal: a very strong criticism of scholasticism56. As Luther has it: “to act against one’s conscience will then lead to hell”. Having distanced himself from both the scholastic and the monastic concept of faith (which according to him make faith either into some habitual and moral enterprise or into a diffuse and diversified phenomenon), Luther explicates his perception of faith. True faith is a Christian’s faith in God’s mercy and goodness, which constitutes man’s whole existence – exactly in adhering to God’s commandments and promise. Not to have such faith in Christ is sin57. But precisely because Christian faith is belief in God’s promises and the forgiveness of sins, monks should and may retract their vows, which 56
It is precisely his magnificent discovery of faith and the individual’s conscience in the faith relation to God which seems to gain marrow for the backbone of his programme from this specific opponent. 57 WA 8, 593: “At deus iussit certo et indubitato fidere in suam misericordiam et praesumere nos et nostra placere, non ex nostra dignitate aut merito, sed sua bonitate. Haec est enim conscientia sanae fidei, quae huic iussui et promissioni dei fidelissime et inconcusse adheret: quam conscientiam vastat et contra eam peccat illa, quae vel non credit, vel, quod idem est, dubitat, se et sua placere deo, ideo et contra seipsam et illam simul peccat, faciens quod non credit placere.”
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without such faith are expressions of the law of acts58. Citing 1Tim 4:1-4 (in which those who hinder matrimony and certain foods are condemned), Luther again asks every monk to liberate himself from his vows and any Manichean sectarianism59. The exposition reaches its climax when Luther describes his own taking of monastic vows as an act of sacrilege in opposition to his understanding of justification. In an ultimately polemical address to the monks, Luther argues that nothing is more opposed to faith, understood as a free relationship to God, than taking monastic vows60. In harmony with his reformation programme, the Christian is defined thus: A man who believes that he is justified, freed from his sins and saved solely by the acts of Christ, without any acts of his own. Accordingly, Christ is the one who saves his people from their sins, giving them his own merit and universal justification61. As we see, Luther, in order to focus his programme and make its contours sharp, utilises very strong words in his characterisation and critique of monasticism. When taking the vow, monks in fact commit sacrilege and blasphemy. They live not out of faith in Christ, but out of faith in themselves, deluding themselves in thinking that they are already saved in their sectarian life, in total opposition to the gospel and its godly promises of universal salvation. However, Luther also finds that there are some very happy exceptions. One such happy or miraculous exception is Bernard, who was saved from monastic sins through such a pure faith in Christ as Luther describes. According to Luther, even when having taken vows it is necessary to demonstrate how one can serve through a miraculously pure faith in Christ, and Bernard is an example of just such a living out of faith62. The fact that Bernard, with others such as Augustine, confessed that the monastic life in itself was not compulsory for salvation, but rather a life freely chosen in honour of God, frees him from the charge of sacrilege and makes him a true Christian. Again Luther cites from Bernard’s sermon 20 on the Song of Songs where Bernard so clearly refers to Christ’s double lordship: first as the son of God (divinity), second as one who suffered (passion). In other words, Luther like Bernard refers to the double nature 58
WA 8, 592 and 595. WA 8, 596ff. 60 WA 8, 598: “Si scires tete vovisse, ut sacrilegium faceres, utique votum cassares et mutares, cur non et hoc mutas et cassas? Sed id fortassis te moratur, quod et me hactenus moratum est: Quod monachi non docent, sed sua sponte sese tradunt in hoc genus doctrinae et hypocrisis, Sacerdotes vero praecepto Papae coguntur, non sponte vovent.” 61 WA 8, 599. 62 WA, 8, 600: “Atque demus, ut fide pura miraculose serveris vovens et vivens in votis, sicut Bernhardus et multi alii servati sunt, quibus propter fidem Christi, qua pleni erant, venenum hoc non nocuit.” 59
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of divinity and humanity. Luther emphasizes how one here sees the most Christian words of the heart, full trust in Christ and faith solely in his actions. Precisely because Bernard will not glory in the vows of poverty, obedience and celibacy, to him a corrupted life, he is saved and justified through his faith together with all believers63. Anyone who reads Bernard in a forward reading will find Luther’s words to be true. Bernard consistently refers to his belief in Jesus Christ, Jesus from crib to cross and resurrection. Where Luther and Bernard would disagree is not so much in the living out of faith but over what form of life, modus vivendi, would allow this faith to be most sublimely lived out. Bernard saw monastic life to be a means of social moulding, his Cistercian order being an ordo caritatis, a school of love, which could contribute to the salvation of a world otherwise characterized by violence and war, though he himself never remained behind the thick walls of the monastery64. Four hundred years later, Luther experienced the monastic walls as surrounding anything but a place of social moulding for the benefit of humanity. He therefore started his whole “democratic” programme and broke down the walls that divided humanity into an unhealthy hierarchy so contrary to creative and salvific equality. To this end he could draw on Bernard’s theology, particularly his Christology, but not on the monastic frame in which Bernard conceived it. Social and cultural developments since the 12th century called for a new approach to the living out of faith.
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WA 8, 601. Cf. Bernard in The Song of Songs 76, 6: “Believe, and you have found him. Believing is having found. The faithful know that Christ dwells in their hearts by faith. What could be nearer? Therefore seek him confidently, seek him faithfully. ‘The Lord is good to the soul who seeks him.’ Seek him in your prayers, follow him in your actions, find him in faith. How can faith fail to find him? It reaches what is unreachable, makes known what is unknown, grasps what cannot be measured, plumbs the uttermost depths, and in a way encompasses even eternity itself in its wide embrace. I speak of faith [when I say that] I believe the eternal and blessed Trinity, although I do not understand it, and I hold fast by faith what I cannot grasp with my mind.” 64 Bernard considered sin, whatever kept a man from loving God and his neighbour, to be the real walls that bar us from Christ. See The Song of Songs 56.
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„Per mutuum colloquium et consolationem fratrum“: Monastische Züge in Luthers ökumenischer Theologie „Monastische Züge“ und „ökumenische Theologie“ – das sind zwei außergewöhnliche Formulierungen, die man nicht erwartet, wenn es um Luther geht1. Denn noch immer halten viele Handbücher, Studien und Biographien daran fest, dass Luther schon im Jahre 1521 massive Kritik gegen das Mönchtum und gegen die monastischen Gelübde gerichtet habe2. Wo dennoch „monastische Züge“ festgestellt werden, handele es sich nur um vereinzelte vorreformatorische Reste oder höchstens um solche vom Reformator wiedergetauften traditionellen Einsichten, die durch seine evangelische Theologie gereinigt worden seien. In den letzten zwanzig Jahren hört man gelegentlich auch Stimmen, die Luthers Klosterleben und mönchische Bildung als positiven Gegenstand seiner Theologie würdigen3. 1
Der Autor dankt Dr. Nicole Kuropka für die Übersetzung des vorliegenden Beitrags. Zum Beispiel fasst CHANG SOO P ARK: Luther und die Franziskaner, Hamburg 1996, S. 197, seine detaillierte Analyse von Luthers Verhältnis zu den Franziskanern so zusammen: „Zwischen Mönchtum und Reformation gibt es eine unüberbrückbare Kluft.“. Auch J OHANNES SCHILLING: Gewesene Mönche: Lebensgeschichten in der Reformation, München 1990 (Schriften des Historischen Kollegs 26), S. 28, schreibt: „Die Reformation hat das Mönchtum theoretisch und praktisch in Frage gestellt.“ 3 Vor allem ULRICH KÖPF: Martin Luthers Lebensgang als Mönch, in: Gerhard Ruhbach und Kurt Schmidt-Clausen (Hg.): Kloster Amelungsborn 1135–1985, Hermannsburg 1985, S. 187–208. Er fragt (S. 199): „Welche Bedeutung hatte eigentlich das Leben als Mönch für Luthers religiöse und theologische Entwicklung...?“ Im selben Sammelband findet sich die Arbeit von REINHARD SCHWARZ: Luthers unveräußerte Erbschaft an der monastische Theologie, S. 209–231, in der er behauptet (S. 210): „Luther hat noch in seiner reformatorischen Theologie ein Erbe der monastischen Theologie bewahrt.“ Aber dann fährt er fort, „allerdings ist dieses Erbe so angeeignet, daß es umgeschmolzen ist zu etwas Neuem“. Als ein Beispiel nennt er die Idee vom corpus Christi mysticum, die Luther aber s. E. nicht im Klosterleben erlebte (S. 223): „Der geistliche Leib Christi bleibt ein Gegenstand geistlicher Erfahrung und kann als solcher nicht in einer spezifisch christlichen Lebensform in der Welt dargestellt werden.“ Vgl. auch BERND MOELLER: Die frühe Reformation in Deutschland als neues Mönchtum, in: Bernd Moeller und Stephen E. Buckwalter (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, Gütersloh 1998, S. 76–91, bes. S. 91: „Ich denke, in ihren dynamischen Utopien war die frühe Reformation ein neues Mönchtum.“ Leider ist dieser Aufsatz zu spekulativ und theoretisch. 2
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Diesen Denkansatz fortführend wird hier entgegen der gewohnten Argumentationsweise von solchen monastischen Zügen die Rede sein, die Luther selbstverständlich und zielgerichtet aus seinem Klosterleben und seiner monastischen Denkweise in die sich neu entwickelnde evangelische Theologie mit einbrachte. Aber noch schwieriger: Wie kann man von Luther als ökumenischem Theologen reden? Gemeinhin wird ihm unterstellt: Seine Theologie oder vielleicht sogar seine Sturheit zerstörten die Einheit der mittelalterlichen Kirche oder behinderten zumindest die von Humanisten und anderen angestrebte Verständigung. Über Melanchthon als Ökumeniker hat 1997 ein ganzer Sammelband von Aufsätzen erscheinen können. Aber in Bezug auf Luther meinen viele, man müsse zunächst seine Theologie von Polemik und Schärfe reinigen, ehe man überhaupt von ökumenischen Bestrebungen reden dürfe. In diesem Zusammenhang sind auch die Versuche wenig hilfreich, die Luthers eigenen Lebenslauf dergestalt aufteilen, dass man einen ökumenisch gesinnten jungen Mönch von einem verstockten, halsstarrigen alten Reformator zu trennen sucht. Obwohl diese Trennung für das katholische Lutherbild sehr hilfreich war und ist, entbehrt sie aus historischer Sicht jeder Grundlage. Ein „Vorher-Nachher“-Bild Luthers geht an seinem eigentlichen Lebenslauf vorbei. Dadurch wird Luthers Theologie derart verdreht, dass hinter den heutigen ökumenischen Bestrebungen Luther selbst und seine – auch für unsere Zeit herausfordernden – Ideen ganz und gar verschwinden. Trotzdem werden wir von Ökumene bei Luther reden können. Jedoch in einem völlig anderen Verständnis, als das besagt, was wir so häufig unter diesem Stichwort in den heutigen Kirchenbeschlüssen finden. Nämlich einer Ökumene, die sich aus Luthers eigener, reformatorischer und durchaus auch monastischer Ekklesiologie entwickelte. Bevor also Luthers Theologie für die heutige ökumenische Diskussion fruchtbar gemacht werden kann, gilt es zunächst, die monastische Struktur seines Denkens zu entdecken.
Berühmte letzte (monastische) Worte Um Luthers monastisches Erbe oder seinen ökumenischen Geist nicht von Anfang an falsch einzuschätzen, ist es notwendig, bei Luthers eigenen Worten zu beginnen, die er von seinem vermeintlichen Sterbebett 1536 aus diktierte. Während der anstrengenden Arbeit an dem, was wir heute als die „Schmalkaldischen Artikel“ kennen, erlitt Luther einen Herzinfarkt. Dar-
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aufhin diktierte er den letzten Teil der Artikel den rasch an sein Krankbett geeilten Veit Dietrich und Caspar Cruciger dem Älteren, die wohl hofften, dort „letzte Worte“ des Reformators zu vernehmen. Inhalt des Diktats war eine Serie von kürzeren Artikeln, beginnend mit Luthers Definition des Evangeliums in Teil 3, Artikel 4. Wir wollen nu wieder zum Evangelio kommen, welchs gibt nicht einerleiweise Rat und Hulf wider die Sunde; denn Gott ist uberschwenglich reich in seiner Gnade: erstlich durchs mundlich Wort, darin gepredigt wird Vergebung der Sunde in alle Welt, welchs ist das eigentliche Ampt des Evangelii, zum andern durch die Taufe, zum dritten durchs heilig Sacrament des Altars, zum vierden durch die Kraft der Schlussel und auch per mutuum colloquium et consolationem fratrum, Matth. 18.: „Ubi duo fuerint congregati [Wo zwei oder drei versammelt sind]“ etc.4
Luther fällt am Ende des Artikels ins Lateinische mit den berühmten Worten „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“, die – wie wir aufzeigen werden – zu den „monastischsten“ Aussagen des ganzen Werkes gehören. Selbstverständlich bezieht sich die Passage hier unmittelbar auf den Anfang des dritten Teils, nämlich darauf, dass diese Themen mit Gleichgesinnten zu besprechen seien5. Diese „Theologie des Gesprächs“, wie ich sie an anderer Stelle einmal genannt habe, war in weit größerem Maße das bestimmende Kennzeichen der Wittenberger Theologie der 1530er Jahre, als die uns heute oft schockierende Polemik, die wir leider auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch in kirchlichen Auseinandersetzungen finden können6. 4
BSLK S. 449,6-14. Darauf folgen in den Artikeln V-VIII Ausführungen zur Taufe (Art. V), zum Abendmahl (Art. VI), und zum Amt der Schlüssel (VII-VIII). Der lateinische Text (S. 449,23-29) lautet: „Nunc ad evangelium redibimus, quod non uno modo consulit et auxiliatur nobis contra peccatum. Deus enim superabundanter dives et liberalis est gratia et bonitate sua. Primum per verbum vocale, quo jubet praedicari remissionem peccatorum in universo mundo. Et hoc est proprium officium evangelii. Secundo per baptismum. Tertio per venerandum sacramentum altaris. Quarto per potestatem clavium atque etiam per mutuum colloquium et consolationem fratrum, Matthaei 18.: ‚Ubi duo aut tres fuerint congregati‘ etc.“ 5 BSLK S. 433,7-8: „Folgende Stücke oder Artikel mugen wir mit gelehrten, vernunftigen oder unter uns selbs handeln ...“ Als er Simon Wolferinus 1543 in der Kontroverse um den Abendmahlswein in Eisleben tadelte, gebrauchte Luther ausgerechnet diese Phrase, mutuum colloquium, um aufzuzeigen, welche Herangehensweise Wolferinus gegenüber seinen Gegnern hätte wählen sollen; vgl. WA.B 10, S. 347,10-12 und 348,43-45 (Nr. 3894; Luther an Simon Wolferinus, datiert auf den 20. Juli 1543): „Poteratis haec mutuo colloquio transigere, cum non contra rabiem Papistarum, sed contra socium ministerii et religionis vobis res esset. … Poteritis uti (si vos mutuo colloqui primo timetis) aliis et idoneis personis, qui inter vos mediatores existant. Haec quae tibi scribo, et Vigelio et D. Friderico scripta esse volo.“ 6 T IMOTHY J. WENGERT: Luther and Melanchthon/Melanchthon and Luther, in: Luther-Jahrbuch 66 (1999), S. 55–88. Vgl. auch die schneidende Kritik an Richard Marius von HEIKO OBERMAN: Martin Luther contra Medieval Monasticism: A Friar in the Lion’s
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In dem zitierten Artikel verweisen die Worte, „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“, wie Luther selbst anmerkt, auf das Jesus-Wort in Mt 18: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind ... Obwohl Luther diese genaue lateinische Formulierung in keinem anderen Kontext verwendet, lassen sich an mehreren anderen Stellen verwandte Aussagen finden, die ebenfalls auf einen monastischen „Sitz im Leben“ und eine Verbindung mit Mt 18 hinweisen7. Ganz grundsätzlich lässt sich festhalten, dass in Luthers Schriften das „mutuum colloquium“ insbesondere das Gespräch unter vier Augen meint8: Jesu Begegnung mit Nikodemus wird beschrieben als „freundtlich colloquium“9. Jakob und Esau hatten (zumindest in Gen 33,5) „hoc pulcherrimum et suavissimum colloquium … duorum fratrum“10. Und auch Sara und Abraham teilen im Zusammenhang mit der Unfruchtbarkeit Saras „colloquia, gemitus, lachrymas, consolationes mutuas“11. Auch in Luthers Briefen an zwei seiner engsten Freunde, Spalatin und Amsdorf, wird die Formulierung eindeutig auf die private Aussprache bezogen12. Sogar auf Luthers Verständnis menschlicher Beziehungen zu Gott greift diese Vorstellung des privaten Gesprächs über: In einer Predigt über den Titusbrief vom Januar 1546 deutet Luther das „Amen“ als Vergewisserung, „ein[en] freundlichen, leutseligen Got“ zu haben13. Ein glaubender Mensch, der sich Gottes Gegenwart in dieser Weise bewusst ist, „spricht ‚auf du und du‘ mit ihm, und ein wechselseitiges Gespräch [mutuum colloquium] zwischen ihm und dir [ist da]. Er spricht zu dir als guter Freund ...“14 Ungeachtet dessen kann Luther jedoch einen übertriebenen Gebrauch dieses zuletzt genannten Gedankens auch scharf kritisieren. Indem er auf die bekannte allegorische Deutung der Rolle von Jakobs Frauen zurückDen, in: Timothy Maschke, Franz Posset, Joan Skocir (Hg.): Ad fontes Lutheri: Toward the Recovery of the Real Luther: Essays in Honor of Kenneth Hagen, Milwaukee 2001, S. 183–213: hier S. 191. 7 Siehe JÜRGEN HENKYS: Seelsorge und Bruderschaft, Stuttgart 1970. – Die Angaben über Luthers Sprachgebrauch beruhen auf der Ausgabe: Luthers Werke im WWW (ProQuest-CSA). 8 Hier weist Henkys zu Recht auf die Abwesenheit des „oder drei“ im Zitat von Mt 18,20 in den Schmalkaldischen Artikeln hin. 9 WA 48, S. 630,11. 10 WA 44, S. 124,20. 11 WA 42, S. 579,25. 12 Vgl. WA.B 3, S. 455,11-12 (Nr. 842, Luther an von Amsdorf, datiert: März 1525): „ut mutuo aspectu et colloquio consolemur“; WA.B 10, S. 234,9 (Nr. 3834, Luther an Spalatin, datiert auf den 4. Januar 1543): „usque ad colloquium mutuum“. 13 WA 51, S. 120,33. 14 WA 51, S. 120,39–121,1: „loquitur tecum et tu cum eo, et mutuum inter ipsum et te colloquium. Ipse loquitur tecum als ein guter freund ...“.
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greift (derzufolge Lea die vita activa und Rachel die qualitativ überlegene vita contemplativa des Mönchtums repräsentieren), beschreibt Luther die monastische Spiritualität (vor allem des Franziskanerordens, wie er selbst anmerkt) als Gespräch der Seele mit Christus (bzw. mit den Engeln, Maria oder den Heiligen). Er gesteht sogar zu, dass er selbst, hätte Staupitz ihn nicht gedrängt, Theologie zu lehren, den Weg dieser Frömmigkeit beschritten hätte15. Darüber hinaus unterscheidet Luther vom wechselseitigen Gespräch unter Schwestern und Brüder andere, öffentliche Gnadenmittel. Ohne die individuellen Offenbarungen Abrahams (Gen 17,22) oder sogar (Pseudo-) Dionysius’ zu leugnen kann Luther darüber hinaus Taufe, Abendmahl und das mutuum colloquium mit der gleichen direkten Gotteserfahrung positiv beurteilen: „In der Tat, es ist nicht so, dass ich private Offenbarungen gänzlich zurückweisen würde, nur, dass ich mir bewusst bin, dass sie nichts sind im Vergleich zu Taufe und Abendmahl oder gar dem gottesfürchtigen Gespräch (colloquium pium), das ich mit dem Bruder im Glauben haben kann.“16 An zwei Stellen seiner Vorlesung zum Hohen Lied (1530/31) wird deutlich, dass Luther das „mutuum colloquium“ als Quelle des Trostes vom Amt der öffentlichen Verkündigung unterscheidet17. Auch die Geschichte von Lot und Abraham (Gen 13,5-7) zeugt Luther zufolge davon, dass noch über dem Glauben und der rechten Lehre die Liebe zum Nächsten steht, dies gilt insbesondere in Zeiten geistlicher Anfechtung. Obwohl natürlich der Heilige Geist die angefochtene Seele tröstet, ist es – Luther zufolge – auch eine große Wohltat, mit dem Bruder sprechen zu können und von diesem getröstet zu werden18. In denselben Kommentaren bringt Luther diese Form des brüderlichen Gesprächs mit Mt 18,20 in Verbindung und kritisiert von dort aus jede Form eines individualistischen 15
WA 43, S. 667,28-34: „Illi nihil aliud somniabant, nisi mutua colloquia Christi, angelorum, sanctorum, Mariae cum animabus. Et extat adhuc liber de revelationibus Brigittae, qui continet colloquium Christi et animarum. Sed sunt merae illusiones Sathanicae, quibus tamen pene ipse captus essem Monachus adhuc, nisi per Stupicium essem revocatus, qui me ad professionem Theologiae publicam perpulit, cum ipsius consilio et iussu renunciatus essem Doctor Theologiae.“ 16 WA 42, S. 667,24-26, gehalten 1535: „Non quidem, quod poenitus contemnam, sed quia scio, quod nihil sunt ad baptismum, ad coenam Domini. Imo ad colloquium pium, quod habere possum cum quolibet pio fratre.“ 17 WA 31/2, S. 692a,13-14 („Das ist fein, quando non solum ex ministerio verbi, sed ex mutuo colloquio potest alterum consolari“) und S. 694b,36-38 („‚Favus‘ [Hohelied 4,11], Populus, qui sic habet ministerium verbi, est favus, id est: colloquium et consolatio mutua. Et ‚distillans favus‘, id est: dimanans. Illa suavitas et puritas doctrinae pervadunt totum populum.“ 18 WA 42, S. 501,25-27 (ebenfalls 1535): „Etsi enim animi Spiritu sancto recte sunt confirmati, tamen magnum ex eo est commodum, si habeas fratrem, cum quo de religione colloqui possis, et consolationem ex eo audire.“
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Christentums19. Abschließend sei hingewiesen auf Luthers Einleitung zum 13. Psalm von 1531, in der er zu Vers 6a („Ich aber traue darauf, dass du so gnädig bist; mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst“) ausführt, dass über den unmittelbaren Trost Gottes in seinen Verheißungsworten hinaus „du anschließend die brüderliche Unterhaltung und den Trost genießen magst“20. In Jürgen Henkys’ Essay von 1970, der diese Formulierung aus seelsorglicher Perspektive beleuchtet, finden sich einige hilfreiche Hinweise darauf, in welcher Beziehung sie zu den Schmalkaldischen Artikeln steht und inwieweit sie sich von anderen Manifestationen des Evangeliums, die Luther darin aufführt, unterscheidet21. Henkys’ Untersuchung früherer Erklärungsansätze der Formulierung bietet einen hilfreichen Überblick zur Forschungslage22. Höchst aufschlussreich ist insbesondere sein Hinweis auf Luthers eigenen Kommentar zu dieser Stelle der Schmalkaldischen Artikel in einer Predigt über Mt 18,20, die er 1537, ein Jahr nach der Abfassung der Artikel, hielt23. Doch weder Henkys noch seine Vorgänger setzen die Formulierung in Beziehung zu Luthers monastischen Wurzeln, obwohl dieser selbst in besagter Predigt von 1537 diesen Bezug herstellt. Dagegen ist Henkys völlig im Recht, wenn er feststellt, dass die Formulierung „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“ nicht auf das Schlüsselamt nach Mt 18,18 abzielt. Er übersieht allerdings, dass das Evangelium für Luther aus vier, nicht aus fünf Teilen besteht: „erstens durchs mundlich Wort ... zum andern durch die Taufe, zum dritten durchs heilig Sakrament des Altars“. Im Anschluss an diese Auflistung der ersten drei Teile beschreibt er den vierten und letzten Teil, der jedoch zwei Aspekte umfasst: „zum vierden durch die Kraft der Schlussel und auch per mutuum colloquium et consolationem fratrum“. Obwohl Luther sich hier unvermittelt im Lateinischen äußert, müssen das „durch“ und das „per“ als zwei zwar verwandte aber doch unterschiedliche Konzepte verstanden wer19
WA 42, S. 501,38-41: „Faciliora autem omnia sunt, si habeas coniunctum fratrem, ibi enim promissio: ‚ubi duo vel tres in nomine meo congregati sunt, Ego ero in medio eorum.‘ Fugienda igitur solitudo, et expetenda hominum notorum consuetudo est, maxime in periculis spiritualibus.“ 20 WA 59, S. 184,18-20: „Postea utaris colloquio et consolatione fraterna concessis et a deo ordinatis voluptatibus, quibus animum relaxes atque exhilares.“ 21 Er vermag nicht nachzuweisen, dass die Auslassung des „oder drei“ irgendeine Bedeutung hat; sie verweist wohl nur auf Luthers Vorliebe, biblische Passagen unvollständig zu zitieren, siehe S. 33f., 38; nichtsdestoweniger ist seine Beobachtung, dass das wechselseitige Gespräch und der Trost eine eigenständige Form der Evangeliumsverkündigung repräsentieren, völlig korrekt. 22 HENKYS: Seelsorge und Bruderschaft (wie Anm. 7), S. 17–24; er untersucht Georg Merz, Julius Schniewind, Julius Köstlin und Erich Roth. 23 HENKYS: Seelsorge und Bruderschaft, S. 34–40.
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den. Beide Aspekte dieser vierten Dimension des Evangeliums handeln von der Vergebung der Sünden (d.h. Schlüsselamt und Verkündigung des göttlichen Versprechens) und von Gespräch und Trost (d.h. colloquium et consolatio). Doch hat jener Aspekt seinen Ursprung im kirchlichen Amt und dieser in der Gemeinschaft, die Luther unter den fratres erwartet24. Gerade hier wird der Hinweis auf Matthäus 18,20 in Luthers späterer Auslegung in der Predigt von 1537 verständlich. Diese Predigt unterstreicht nicht nur Henkys’ These, dass das wechselseitige Gespräch und der Trost der Brüder und Schwestern nicht mit der in der privaten Beichte erteilten Absolution gleichzusetzen sei. Sondern sie offenbart auch in offenkundiger Weise die monastischen Wurzeln von Luthers Denken. In der Predigt verbindet Luther zunächst den 20. Vers mit dem vorangehenden, der tatsächlich vom Schlüsselamt spricht: „Nu wirdt ehr die Schlussel [d. h., die Vergebung der Sünden] theilen in ein iglich Haus“, so fängt Luther an25. Ein Christenmensch verlässt die christliche Gemeinde und den in ihr lebendigen Trost des Evangeliums in Wahrheit nie und kann demzufolge die Vergebung seiner Sünden überall dort empfangen, wo zwei oder drei Christenmenschen versammelt sind [in ein iglich Haus]26. Christen sollten darum darauf bedacht sein, „das sie unter einander trost und vergebung der sunden verkundigen und zusprechen sollen“27. Weil Christus so voll der Gnade ist, dass er seine Vergebung bis in den letzten Winkel ausgießt, können Christenmenschen dieser Gnade nicht nur in der Gemeinde teilhaftig werden, „sondern auch doheim im Hause, auff dem felde, im Gartten, und wo nur einer zum andern kompt, do solle ehr trost und rettung haben“28. Man kommt nicht umhin, bei dieser Stelle an Luthers eigene Unterhaltungen mit Staupitz „unter eben jenem Baume“ zu denken, wie er selbst die Gespräche mit seinem spirituellen Mentor im Garten später bezeichnete29. Luther geht dann im Folgenden von sich selbst aus, und zwar von sich als einem Trostsuchenden: Und solle mir auch dar zu dienen, das, wen ich betrubt und traurig bin oder in trubsal und gebrechlickeit stecke, das mir etwas mangelt, welche Stunde und Zeit es sein mag, und man nicht offentlich in der kirchen allezeit mag predigt finden, und mein Bruder oder Nehester zu mir kompt, so sol ichs dem, der mir der neheste ist, klagen und ihnen umb
24
Obwohl Henkys für einen fünften Teil plädiert, hat er völlig recht damit, dass „colloquium et consolatio“ nicht einfach eine genauere Beschreibung des Schlüsselamtes ist. 25 WA 47, S. 297,27. 26 WA 47, S. 297,33-34. „Alhier strecket der Herr Christus diesen Trost weitter aus, jedoch also, das ehr nicht gehe aus der gemeinschafft der Christen.“ 27 WA 47, S. 297,39-40. 28 WA 47, S. 298, 2-4. 29 Über das Predigtamt: WA.TR 3, S. 188,15-16 (Nr. 3143b).
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Trost bitten, was ehr mir als dan fur Trost gibt und zusaget, das soll bej Gott im Himel auch Ja sein.30
Im Anschluss daran dreht Luther den Spieß gewissermaßen um und beschreibt – wiederum in der 1. Person Singular – was er selbst einem hilfesuchenden Bruder sagen würde: „Lieber freund, lieber bruder, worumb lessestu nicht dein Bekummerniß? Ists doch nicht gottes wille, das dir ein einiges leidt widerfhare. Gott hat seinen Sohn für dich sterben lassen, nicht das du trauren, sondern frolich sein mögest.“31 Anschließend empfiehlt er den beiden niederzuknien, das Herrengebet zu sprechen und sich bewusst zu machen, dass sie im Himmel auch tatsächlich gehört werden. „Dan Christus spricht: ‚Ich bin da mitten unter ihnen.‘ Er spricht nicht: Ich sehe es. Ich höre es, oder ich wil zu ihnen komen, sondern ich bin schön da.“32 Nach dieser Einleitung wendet sich Luther gegen die „Sondergeister“ und fasst unter dieser Bezeichnung Mönche und Täufer zusammen. Doch tatsächlich eröffnet diese Polemik keinen neuen Gedanken und stellt ebenso wenig einen Angriff auf die Form des Mönchtums dar, die Luther selbst erfahren und praktiziert hatte. In der Tat gab es ja im Mönchtum selbst, spätestens seit der Entstehung der Benediktsregel, Strukturen, die der singularitas Grenzen setzen. Luther verwendet im Deutschen ein verwandtes Wort, um die Form der Frömmigkeit zu beschreiben, zu der er selbst sich hingezogen fühlte, hätte von Staupitz ihn nicht daraus gerettet. Diesem Verständnis der singularitas zufolge separiert sich der Einzelne von den anderen, zieht sich zurück in die Wüste oder ins Kloster, lebt in seiner Zelle und entfernt sich dadurch von seinen Nächsten – das alles nur, um vor sich hin zu starren und auf eine besondere Offenbarung Gottes zu warten. „Solche Winckelheiligen will gott nicht haben, die nicht in der gemein und bei der kirchen sein wollen, sondern sich in einen winckel verkriechen. Dan es soll niemands auff seinem heimlichen Trost stehen.“33 Gott will nämlich seinen Trost überall spenden, durch den Prediger in der Gemeinde, aber ebenso durch die Zuwendung untereinander. Item, so Bruder sich unter einander trösten das ist auch gottes wille und wortt. Es ist die gantze welt vol trostes und alle Winckel vol offenbarung gesteckt, und redet Gott mit mir von der Cantzel, ehr redet mit mir durch meinen nachbarn, durch meine gute freunde und gesellen, durch meinen Man, durch mein Weib, durch meinen Herrn und durch meinen knecht, item vater und Mutter etc.34
Dieser Beschreibung des deutschen Sozial- und Familienlebens stellt Luther Elemente spätmittelalterliche Frömmigkeit gegenüber, namentlich 30
WA 47, WA 47, 32 WA 47, 33 WA 47, 34 WA 47, 31
S. 298,4-10. S. 298,11-14. S. 298,17-18. S. 298,29-32. S. 298,38–299,1.
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Pilgerreisen und den Rückzug in die Wüste oder andere „winckel“. All dies war für ihn nichts anderes als die mutwillige Abkehr von der öffentlichen Predigt und der Zuwendung durch den „Bruder oder sonst [einen] frommen Christ[en]“, die eben nicht um des Geldes willen, sondern allein im Namen Christi geschieht. Luther drängt diejenigen, die gebrochenen Herzens sind, dazu, nicht wegzulaufen, sondern den Pastor oder den Nächsten in ihrer Nähe zu suchen und ihm zu sagen: „Ich hab traurigkeit.“ Und er weist andererseits die derart Angesprochenen an, zu antworten: „Christus will froliche diener haben, und ehr ist drumb fur dich nicht gestorben, das du den kopff hengen und die stirn runtzeln soltest, sondern Gott dancksagen mogest.“35 In solchen Fällen – so Luther – spricht durch sie Gott selbst. Andere – Luther nennt erneut Mönche und Täufer – warten in ihrem eigenen stillen Kämmerlein auf eine besondere Offenbarung Gottes. Was ihnen aber tatsächlich dort begegnet, ist der Teufel in Gestalt eines Engels. In einer Reihe von Geschichten und Erinnerungen beschreibt Luther derartige Begegnungen: Zunächst erinnert Luther sich selbst daran, dass in früheren Jahren – er denkt dabei vermutlich an seine Zeit als Mönch – auch Menschen zu ihm gekommen seien, die eine solche besondere Offenbarung für sich in Anspruch genommen hätten36. Weitere Beispiele aus der Geschichte folgen: Die Legende des Heiligen Martin von Tours berichtet von einem Bruder, der sich (noch vor der Entstehung des Mönchtums, wie Luther anmerkt) in sein „kemmerlein“ zurückzieht und Gott nach mehreren Tagen ohne Essen und Trinken um eine besondere Offenbarung bittet. Diese bekommt er auch, jedoch vom Teufel und in Gestalt einer kostbaren seidenen Robe, die genau in dem Moment verschwindet, als ihn die Brüder vor den guten Bischof geführt haben37. Luther fügt dieser Legende die Geschichte einer Nonne an, die in ihrer Zelle eingeschlossen, fastete und darum betete, Christus, ihr Bräutigam, möge zu ihr kommen. Ihre Schwestern fanden sie jedoch schließlich in Lumpen vor, Kuhdung auf ihrem Kopf, wovon sie selbst aber dachte, es handele sich um ein prachtvolles Gewand und eine goldene Krone38. Dieser Form der Suche „wie die Sondergeister und der Bapst lehret“ stellt Luther die Praxis eines Christenmenschen gegenüber, der zur Kirche geht und Gottes Wort, die Taufe, das Credo und das Gebet des Herrn hat. Besonders eindrücklich wird Luthers Kritik am Mönchtum, wenn er dem Rückzug der Mönche aus der Gesellschaft den Dienst der Seelsorge an den Sterbenden gegenüberstellt. Die Sterbenden 35
WA 47, S. 299,10.16.17-19. WA 47, S. 299,29-35; er könnte hier sogar an seine Erfahrungen als Provinzialvikar denken. 37 WA 47, S. 299,36–300,17. 38 WA 47, S. 300,18-29. 36
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solle man ermahnen, ihre Seelen getrost Christus anzuvertrauen (gerade was die Mönche nicht tun), anstatt sie zu drängen, sie selbst im Testament zu bedenken39. Diesen Gegenüberstellungen folgt eine ausführliche Diskussion der Nottaufe durch Hebammen und andere Frauen, bevor Luther wieder auf sein eigentliches Thema, den christlichen Haushalt als Ort unermesslichen göttlichen Trostes und göttlicher Hilfe zu sprechen kommt40. „Auch wen wir in unsern heusern sind, so kann das weib in der noth von ihrem Manne und widerumb der man von seinem Weibe getrostet werden.“41 Im christlichen Haushalt verortet Luther also genau die Form der gegenseitigen Zuwendung, die er im oben zitierten biblischen Bericht von dem noch kinderlosen Ehepaar Abraham und Sara ausmachen konnte. Luther rät seinen Zuhörern zwei Dinge: Zum einen, in die Kirche zu gehen, wo Gott selbst, und nicht nur der Prediger, spricht und tauft. Und falls keine Zeit bleibt, einen Pastor zu holen, „so hastu deinen Nehesten, dein weib und knecht, so dir ein freundlichs wortt aus Gottes wortt zusprechen“42. Man muss also – Luther zufolge – nicht nach Rom reisen, sondern kann einfach in der eigenen Stadt bleiben und im eigenen Haus, nämlich dort, wo man die Taufe, Gottes Wort, die Vergebung der Sünden und das Mahl des Herrn findet – d.h. all das, was das Evangelium nach der Formulierung der Schmalkaldischen Artikel ausmacht. Luther hält darum abschließend fest, dass die päpstlichen Dekrete, die dem widersprechen, nicht sicherer seien als ein Holz, das im Wasser treibt, verglichen mit dem sicheren Fels des Wortes Gottes43. Wie kann man nun aber angesichts dieses Befundes, angesichts der drastischen Kritik Luthers an Mönchtum und Papstkirche, davon sprechen, dass Luthers Theologie wesentliche Impulse seiner monastischen Erfahrung verdankt? Die enge Verbindung von Luthers Theologie zu seinem Leben als Mönch wird jedoch deutlich, wenn wir eine für Luther grundlegende Denkbewegung in den Blick nehmen: die Übertragung des monastischen Ideals auf das Leben im christlichen Haushalt. 39
WA 47, S. 301,1-13. WA 47, S. 301,14–303,28; dies erinnert an eine Geschichte aus dem Leben des jungen Athanasius, dessen Taufe spielender Heidenkinder der Bischof von Alexandrien als gültig erachtete, ebenso wie an die Geschichte vom Hofnarren des römischen Kaisers, der, nachdem er aus purem Vergnügen bei einem höfischen Spiel getauft worden war, diese Taufe ernst nahm und als Märtyrer starb; Luther griff sogar die allgemeine Anschauung an, nach der die Taufe durch einen schlechten Priester beim Baby für Koliken verantwortlich sei; es ist für ihn eben Gottes Wort, auf das es ankommt, wer nun tatsächlich die Taufe vollzieht oder die Sünden vergibt, spielt demgegenüber keine Rolle. 41 WA 47, S. 303,30-32. 42 WA 47, S. 304,3-5. 43 WA 47, S. 304,10–305,15. 40
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Der deutsche Haushalt: Die Freiheit der Familie unter einer Regula Scripturae Die Theologie Luthers, die gesättigt ist mit Attacken gegen das Mönchtum, findet ihren prägnantesten Ausdruck in seinen Katechismen. In ihrem Enstehungsjahr 1529 konnte Luther schon auf vier Jahre als verheirateter Mann und Familienvater zurückblicken, inklusive der Geburt zweier Kinder und des Todes eines von ihnen. In dieser Zeit verwendete er seinen theologischen Sachverstand auf die Zusammenstellung des katechetischen Materials für seine lieben Deutschen, wie er es in der „Deutschen Messe“ drei Jahre zuvor bereits eingefordert hatte. Durchgängig attackiert Luther hier die Mönche. Besonders scharf wird er in seinen Erläuterungen zu den Zehn Geboten und in seiner Einleitung zur Haustafel im Kleinen Katechismus. Gerade diese Angriffe erhellen jedoch die monastischen Züge, die Luthers Theologie prägen. Wir beginnen mit dem Titel der Haustafel aus dem Kleinen Katechismus: „Die Haustafel etlicher Spruche für allerlei heilige Orden und Stände, dadurch dieselbigen als durch eigen Lektion ihres Ampts und Diensts zu ermahnen.“ Die Anmerkungen der BSLK sind in diesem Zusammenhang leider nur wenig hilfreich, behaupten sie doch „Orden“ beziehe sich auf „ordo ecclesiasticus, politicus und oeconomicus“ und „ihres Ampts“ sei zu verstehen als „an ihr Amt“44. Um Luthers Wortwahl hier richtig zu verstehen, ist zunächst zu beachten, dass „heilige Orden“ als terminus technicus immer die monastischen Orden bedeutet45. Der Ausdruck kommt in Luthers Schriften siebenunddreißig Mal vor, jedes Mal mit dem spezifischen Bezug zum monastischen Leben.46 Wenn Luther im Kleinen Katechismus 44
BSLK S. 523, Anm. 4 und 6; selbst die Glosse zu ‚Lektion‘, Anm. 5, ist verwunderlich („eine sie besonders betreffende Schriftstelle“); dagegen hat Luther die vorgesehenen Lesungen, insbesondere bei den Mahlzeiten im Kloster, im Sinn; für weitere hilfreiche Hinweise vgl. WA 30/1, S. 397, Anm. 2. 45 Sogar Grimms Wörterbuch, Bd. 13, Sp. 1318, zeigt an, dass „Orden“ „besonders die verbindliche Ordensregel und die unter solchen lebende Gesamtheit von Mönchen (Nonnen) oder geistlichen Ordensrittern ...“ bedeutet. 46 Vgl. WA 17/1, S.12,33-37; WA 22, S. 187,11; WA 26, S. 504b,30.32; 505b,2.20; 508b,26; WA 30/1, S. 173, 3 [= BSLK S. 630,46]; WA 30/2, S. 190a,17; WA 30/3, S. 384a,2-3; WA 31/1, S. 166a,16-17; 167a,1; WA 32, S. 526,30; WA 33, S. 532a,7-21; WA 38, S. 106,15; 153,22-23; 231b,22; WA 45, S. 615,22.25.27.33.37; 616,4; 717,32; WA 46, S. 579,8; 580,7; 585,4; 596,39; 671,9; WA 47, S. 109,18.32; WA 49, S. 529a,1819; 800,1; WA 50, S. 19,20; 272,13.21; WA 54, S. 266,20; 270,33; besonders bedeutsam sind sieben Vorkommen in WA 26, S. 504b,30.32; 505b,2.20 und 508b,26 (Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis, 1528 [StA 4, S. 245-257]), in denen Luther die monastischen Orden mit den „heilig werck und heiliger Orden“ der Pastoren, Obrigkeiten, Väter und Mütter kontrastiert.
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von den „heiligen Orden“ spricht und diesen Ausdruck auf Bischöfe und Pastoren (ordo ecclesiasticus), Obrigkeiten (ordo politicus) und den Haushalt (ordo oeconomicus) anwendet, müssen seine Leser dies aufgrund der offenkundigen Assoziation mit dem Mönchtum als scharfe Kritik der monastischen „heiligen Orden“ verstanden haben. In der Tat blieb diese Anspielung in einer lateinischen Übertragung erhalten, in der schlicht von „pro omnibus sanctis ordinibus“47 die Rede ist. Die einleitende Formulierung „als durch eigen Lektion ihres Ampts und Diensts“ wird von Luther selbst am Ende des kleinen Katechismus aufgegriffen: „Ein jeder lern sein Lektion, So wird es wohl im Hause stohn.“48 Auch dies erinnert an den monastischen Gebrauch (wie in der lectio divina) und passt gut zu Luthers Kritik am Mönchtum, das sich eben nicht auf ein göttliches Gebot für seinen Lebensstil berufen kann. Dementsprechend kontrastiert Luther in seinem Traubüchlein, das dem Kleinen Katechismus stets angefügt wurde, den nach dem Zeugnis der Schrift segensreichen Ehestand mit der unheiligen Konsekration der Mönche und Nonnen49. Die zwei Nomina im Genitiv („ihres Ampts und Dienst“) beziehen sich in diesem Zusammenhang auf Lektion und nicht auf „zu ermahnen“. Luthers Ziel ist es somit nicht, die Mitglieder des Haushaltes über ihr Amt und ihren Dienst zu belehren, sondern vielmehr, ihnen diejenigen biblischen Texte zur Lektüre vorzustellen, die sich mit jedem nur denkbaren Amt und Dienst verbinden. Für Luther ersetzen diese biblischen Verse die Regeln der monastischen Orden durch eine ganz anders geartete Lectio, die der lateinische Übersetzer sogar als „elegantes quaedam … sententiae“ erklären kann, d.h. „sorgfältig ausgewählte Aussagen“50.
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Die andere Übertragung, die eine viel freiere Übersetzung bietet, übergeht alle derartigen Fachausdrücke, außer in der Haustafel. See WA 30/1, S. 326b,17-21: „Tabula Oeconomica, In Qua proponuntur Sententiae sacrarum literarum, quibus quisque sui officij commonetur, in quocumque tandem vitae sit genere.“ 48 BSLK S. 523,33-34 und 527,25-26; das Deutsche taucht auch in der Lateinischen Version auf; siehe auch WA 35, S. 580, Anm. 1 und WA 30/1, S. 402, Anm. 1. Grimms Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 488, definiert das Wort als „die Lesung eines Bibelabschnittes zur Erbauung“, vgl. Apg 13,15; das Lateinische lectio impliziert oft das laute Lesen oder meint schlicht den Text, der gelesen wird. 49 BSLK S. 529,24-32: „Weil man denn bisher mit den München und Nonnen so trefflich [besonders] groß Gepränge getrieben hat in ihrem Einsegenen, so doch ihr Stand und Wesen ein ungöttlich und lauter Menschengeticht ist, das keinen Grund in der Schrift hat, wieviel mehr sollen wir diesen göttlichen Stand ehren und mit viel herrlicher Weise segenen, beten und zieren?“ 50 Demzufolge ist der gesamte Titel am besten wiederzugeben mit: „Liste einiger Bibelverse für den Hausgebrauch, für alle heiligen Orden und Stände, durch welche diese ermahnt werden sollen durch die eigene Lektüre in Verbindung mit ihren Ämtern und Pflichten“.
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Der überraschende Titel dieses letzten Teils des „Kleinen Katechismus“ offenbart also, dass Luther nicht einfach nur das monastische Lebensideal zurückweist, sondern dass er es bewusst durch das Leben in dem christlichen Haushalt bzw. (noch umfassender) im christlichen Gemeindewesen mit seinen Haushalten, Kirchenleitungen und regierenden Obrigkeiten ersetzen will. Dies bedeutet jedoch umgekehrt, dass auch sein Verständnis des christlichen Hauses ganz grundlegend von seiner monastischen Erfahrung geprägt war, wie bereits die von Luther empfohlenen Gebete am Morgen, am Abend und zu den Mahlzeiten nahelegen. Diese Beobachtung bestätigt sich in besonderer Weise auch in seiner Polemik gegen das Mönchtum, die seine Auslegung der Zehn Gebote im „Großen Katechismus“ durchzieht. Erste Anzeichen dieser Kritik finden sich bereits in seinen Kommentaren zum ersten Gebot. Nachdem er darin die Menge der „Götter“ aufgezeigt hat, an die die Menschen ihr Herz hängen, fügt er als letztes Beispiel die Werkgerechtigkeit selbst an. „Darüber ist auch ein falscher Gottesdienst und die höchste Abgötterei, so wir bisher getrieben haben und noch in der Welt regieret, darauf auch alle geistliche Stände [omnes religiosorum ordines] gegründet sind.“51 Hier zeigt sich Luthers schärfste Anklage gegen das Mönchtum seiner Zeit, das das Verlassen auf die eigenen Werke an die Stelle des Vertrauens auf Gott und seine Verheißungen setzt. Im Zusammenhang mit dem dritten Gebot kommt Luther erneut auf den falschen Gottesdienst der „Geistlichen“ zu sprechen. „Geistlichen“ ist dabei ein Ausdruck, der Gemeindepfarrer, Mönche und Laienbrüder (religiosi) umfasst. „Denn feiern und müßig gehen konnen die unchristen auch wohl, wie auch das ganze Geschwurm unser Geistlichen täglich in der Kirche stehen, singen und klingen, heiligen aber keine Feiertag nicht, denn sie kein Gottes Wort predigen noch uben, sondern eben dawider lehren und leben.“52 Luther kritisiert in seiner Einleitung zum Vaterunser insbesondere die Gebete der Mönche, er weist die bloße Rezitation von Gebetstexten zurück und fordert stattdessen die ehrliche Benennung der menschlichen Bedürfnisse vor Gott53. Es ist aber vor allem das vierte Gebot, das Luther Gelegenheit bietet, das Leben der Mönche dem Leben in der christlichen Hausgemeinschaft gegenüber zu stellen. Aufbauend auf seiner Kritik in De votis monasticis Martini Lutheri iudicium von 1521 und darin insbesondere dem Vorwort an seinen Vater, stellt Luther direkt am Anfang die „groß, gut und heilig 51
BSLK S. 564,40–565,1 (Zehn Gebote, Abs. 22). BSLK S. 583,8-15 (Zehn Gebote, Abs. 90). 53 BSLK S. 667,42-46 (Vater Unser, Abs. 25). „Darümb haben wir billich der Münche und Pfaffen Gebete verworfen, die Tag und Nacht feindlich [= gewaltig] heulen und murren, aber ihr keiner denket ümb ein Haar breit zu bitten.“ 52
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Werk“ des kindlichen Gehorsams gegenüber Gott denen entgegen, die Gottes Gebote und sein Wort verachten. „So hätte man kein Klosterleben noch geistliche Stände dürfen aufwerfen wäre ein iglich Kind bei diesem Gepot blieben …“54 Wo Gottes Gebote sie nicht stützen, versinken alle menschlichen Werke in der Bedeutungslosigkeit und erzeugen nur Unsicherheit. „O wie teuer solltens alle Karthäuser, Mönche und Nonnen käufen, dass sie in alle ihrem geistlichen Wesen ein einig Werk fur Gott möchten bringen, aus seinem Gepot getan …“55 Diese erbärmlichen Menschen müssen schließlich mit Ehrfurcht vor dem Wert des Gehorsams eines einzigen Kindes stehen, das ihre eigenen selbstauferlegten Werke so deutlich Lügen straft. Indem er dieses Gebot auf diejenigen ausweitet, die die Eltern bei der Erziehung der Kinder unterstützen (Haushaltsvorstände, Lehrer, Pfarrer und Fürsten), zieht Luther erneut einen deutlichen Trennstrich zum monastischen Leben. Der Gehorsam gegenüber dem Familienoberhaupt wird dort nämlich verachtet, „dafur idermann ins Teufels namen in Klöster, zu Wallfahreten und Ablaß gelaufen ist mit Schaden und bösem Gewissen“56. Dagegen gilt: Wenn die Dienstmagd nur ihre Arbeit erledigt, dann ist das „besser … denn aller Monche Heiligkeit und strenges Leben“57. Mit dem, was Luther zum fünften Gebot ausführt, wird noch einmal deutlicher, dass er darauf aus ist, die spätmittelalterliche monastische Frömmigkeit durch die „down-to-earth“-Frömmigkeit des christlichen Haushaltes und der christlichen Gemeinde zu ersetzen und sie so zu überwinden. Für Luther umfasst das Tötungsverbot auch den Keim des gemeinschaftlichen Lebens, in dem der Mensch seinem Nächsten hilft. Es gibt keine Grenze für die guten Werke, die ein jeder hier vollbringen kann: Solchs sollt man nu treiben und bleuen, so wurden wir gute Werk alle Händ voll zu tuen haben. Aber das wäre nicht fur die Mönche gepredigt, dem geistliche Stande zuviel abbrochen, der Karthäuser Heiligkeit zu nahe, und sollt wohl eben gute Werke verpoten und Klöster geräumet heißen.58
Indem er dem alltäglichen christlichen Leben einen solchen Wert zuspricht, entlarvt Luther zugleich die Heuchelei des Klosterlebens: Die Mönche verstehen die Gebote als bloße Ratschläge und erachten ihr eigenes Leben darum als perfekt, zugleich entziehen sie sich in den Klöstern jedoch gerade der Forderung, für den Nächsten da zu sein. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Luther das sechste Gebot nutzt, um die wahre Reinheit und den Segen des Ehestandes mit der Heuchelei der Priester, Mönche und Nonnen zu kontrastieren. „Daraus 54
BSLK BSLK 56 BSLK 57 BSLK 58 BSLK 55
S. 588,44-47 (Zehn Gebote, Abs. 112). S. 590,33-37 (Zehn Gebote, Abs. 118). S. 597,27-29 (Zehn Gebote, Abs. 144). S. 598,2-3 (Zehn Gebote, Abs. 145). S. 610,3-10 (Zehn Gebote, Abs. 196–197).
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siehest Du, wie unser bäpstischer Haufe, Pfaffen, Monche, Nonnen wider Gottes Ordnung und Gepot streben, so den Ehestand verachten und verpieten und sich ewige Keuschheit zu halten vermessen und geloben, dazu die Einfältigen mit lugenhaftigen Worten und Schein betriegen.“59 Dieses Gebot verurteilt alle Formen von Gelübden und erklärt sie für ungültig. Darum gilt: Selbst wenn das monastische Leben sonst in jeder Beziehung gottgefällig wäre, liefe es doch immer Gefahr, gegen dieses sechste Gebot zu verstoßen. Luthers Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Die Zehn Gebote fassen das ganze christliche Leben und die guten Werke zusammen. „Laß nu sehen, was unsere große Heiligen rühmen können von ihren geistlichen Orden und großen, schweren Werken, die sie erdacht und aufgeworfen haben und diese fahren lassen, gerade als wären diese viel zu gering oder allbereit längist ausgericht.“60 Diese Kritik, die bereits im Traktat „Von den guten Werken“ zur Sprache kommt, berührt alle Gesichtspunkte des monastischen Lebens: den Anspruch auf Verdienste (1. Gebot), das Leben im Gebet (3. Gebot), den Gehorsam (4. Gebot), das Leben in Gemeinschaft (5. Gebot), und die Keuschheit (6. Gebot). Luther gibt dabei durchaus zu, dass die hier geforderten Werke nicht den Charme und die besondere Note des monastischen Lebens, inklusive Weihrauch, Kerzen, Gewänder und Kasteiungen haben, „Aber daß ein armes Maidlin eines jungen Kinds wartet und treulich tuet, was ihr befohlen ist, das muß nichts heißen. Was sollten sonst Münche und Nonnen in ihren Klostern suchen?“61 Nachdem seine Lehre vom Evangelium der Rechtfertigung allein durch den Glauben in den 1520er Jahren zahlreiche Klöster entleert hat, exportiert Luther nun sozusagen die dort beheimatete Frömmigkeit in die Welt des gemeinen Volkes, das seinem normalen Tagewerk im Haushalt und in der Gemeinde nachgeht. Außerhalb der Einleitung zu den Zehn Geboten im „Großen Katechismus“ äußert sich Luther nicht mehr über das Mönchtum, abgesehen von seiner Einleitung zum Vaterunser, in der er das mönchische „Geheule und Gemurre“ dem Beten aus wahrer Bedürftigkeit gegenüberstellt62. Insgesamt zeigt sich also in Luthers Katechismen von 1529, wie aus seiner Kritik am Mönchtum die positive Beschreibung des gemeinschaftlichen Lebens erwächst. Es muss daher nun im Folgenden darum gehen, wie sich Luthers Kritik am Mönchtum zu seiner eigenen po59
BSLK S. 614,13-19 (Zehn Gebote, Abs. 213). BSLK S. 639,20-25 (Zehn Gebote, Abs. 312). 61 BSLK S. 640,4-8 (Zehn Gebote, Abs. 314); vgl. auch BSLK S. 640,29-49 und 645,30-43 (Zehn Gebote, Abs. 315–316, 333), hier nimmt Luther in besonderer Weise Anstoß am Gegensatz zwischen Geboten und Ratschlägen und betont zugleich die Unmöglichkeit der Gebotserfüllung und den unermesslichen Wert der guten Taten, die diese Gebote fordern. 62 BSLK S. 670,13 (Vater Unser, Abs. 33). 60
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sitiven Sicht des monastischen Lebens aus früheren Jahren verhält und wie sich dieses Verständnis zu seiner Ekklesiologie der Haus-Kirche verhält.
Die Freiheit eines Mönchs ohne Gelübde Ich kritisiere nicht das monastische Leben, weil ich etwa den Regeln und Ritualen der Kirche und Klöstern widersprechen würde. Im Gegenteil, von Anfang an war es die Grundidee des mönchischen Lebens, das jemand ins Kloster eintritt, um Gehorsam durch Aufgabe des eigenen Willens zu lernen und bereit werde, jedermann in allen Dingen zu Dienen. Die Klöster waren die eigentlichen Lernorte, um christliche Freiheit zu lernen und in ihr zu wachsen. Wie sie’s dort bis heute auch noch sind, wo immer sie dieser ursprünglichen Absicht entsprechen.63
„Wie sie bis heute sind“, so schreibt Luther 1519, nach dem reformatorischen Durchbruch (wie früh oder spät man diesen auch datieren mag), und er bestätigt damit den Wert des monastischen Lebens, ungeachtet der Kritik, die er ebenfalls hat. In einem der letzten Essays, die noch zu seinen Lebzeiten erschienen sind, stellt Heiko Oberman heraus, dass Luther wesentlich länger als die allgemeine Forschungsmeinung behauptet, nämlich bis weit in die 1520er Jahre hinein, an seiner positiven Haltung zum Mönchtum festgehalten habe64. Zwar fehlen allgemeine positive Aussagen zum Mönchtum, doch konnte Luther sich durchaus vorstellen, dass Mönche wie Bernhard, Bonaventura oder auch er selbst in der „Löwengrube“ der Mönchsgelübde leben konnten, weil sie so voll des heiligen Geistes waren, dass die Anfechtungen dieses Lebens ihnen nichts anzuhaben vermochten. In gewisser Weise endet Obermans Argumentation leider kurz vor dem Punkt, an dem er seine Beobachtung der positiven Wertschätzung monastischer Frömmigkeit bei Luther mit dessen theologischen Vorstellungen von der Kirche hätte in Verbindung bringen müssen. Erst im Zuge seiner Hochzeit 1525, mit der er selbst den Teufel in die Schranken weisen wollte, hört Luther auf, sich selbst zu der Tradition des Mönchtums in Bezie63
AWA 2, S. 50,5-10, zitiert in der Übersetzung Obermans in: Martin Luther contra Medieval Monasticism (wie Anm. 6), S. 192. 64 Vor allem richtet OBERMAN: Martin Luther contra Medieval Monasticism (wie Anm. 5) seine Bemerkung gegen die Arbeit von BERNHARD LOHSE: Mönchtum und Reformation. Luthers Augseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttigen 1963, besonders wenn dieser schreibt (S. 344), „So radikal seine Kritik am monastischen Ideal in vielfacher Hinsicht geworden ist, so hat er doch diese äußerste Konsequenz noch nicht gezogen.“ So hat KÖPF in seinem Aufsatz: Martin Luthers Lebensgang als Mönch (wie Anm. 3) bemerkt (S. 188), dass Luther ab und zu sagte, er sei ein Mönch nicht für fünfzehn sondern für zwanzig Jahre (WA 22, S. 328,36 und WA 41, S. 705,34), das heißt von 1505 bis 1525, gewesen.
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hung zu setzen. Zur gleichen Zeit beginnt er jedoch – bildlich gesprochen – damit, das Fleisch aus der Löwengrube der monastischen Erfahrung großzügig an seine deutsche Gemeinde zu verteilen. Die „Deutsche Messe“ ist ein wichtiges Zeugnis dieser Übertragung, wie einer der wenigen Forscher zum Thema, Johannes Schilling, richtig bemerkt hat: „In seiner Theologie hat [Luther] Gedanken universalisiert, die im Mönchtum partikularisiert vorhanden waren und gelebt wurden.“65 Was Schilling übersieht, ist die Tatsache, dass diese Universalisierung für Luther vor allen Dingen in den deutschen Haushalten zum Zuge kommt.
Die „Deutsche Messe“: Die Freiheit des Gottesdienstes ohne das Gesetz Ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis von Luthers monastischer Perspektive auf das christliche Leben sind seine verblüffenden Kommentare zur Liturgie, die er im Vorwort zur „Deutschen Messe“ (1526) macht. Er unterscheidet darin drei Formen des Gottesdienstes: die lateinische Messe der formula Missae, die „Deutsche Messe“ selbst, die sich an das „ungebildete Laienvolk“ wendet und eine „wahrhaft evangelische Ordnung“. Sogar Helmar Junghans, der richtig festhält, dass „Luther hier an eine Gemeinschaft von Christen denkt, in der intensiv gegenseitig Sorge getrieben und die brüderliche Ermahnung nach Mt 18,15-17 praktiziert wird“, erfasst die monastische Aura dieses dritten Gottesdiensttypus nicht ganz. Luther selbst beschreibt ihn folgendermaßen: Aber die dritte weyse, die rechte art der Euangelischen ordnunge haben solte, muste nicht so offentlich auff dem platz geschehen unter allerley volck; sondern die ienigen, so mit ernst Christen wollen seyn und das Euangelion mit hand und munde bekennen, musten mit namen sich eyn zeychen und etwo yn eym hause alleyne sich versamlen zum gebet, zu lesen, zu teuffen, das sacrament zu empfahen und andere Christliche werck zu uben. Inn dieser ordnunge kund man die, so sich nicht Christlich hielten, kennen, straffen, bessern, ausstossen odder ynn den bann thun nach der regel Christi Matth. xviii [v. 15-17]. Hie kund man auch eyn gemeyne almosen den Christen aufflegen, die man williglich gebe und aus teylet unter die armen nach dem exempel S. Pauli. ij. Cor. ix [v. 1], Hie durffts nicht viel und gros gesenges. Hie kund man auch eyn kurtze feyne weyse mit der tauffe und sacrament halten und alles auffs wort und gebet und die liebe richten. Hie 65
SCHILLING: Gewesene Mönche (wie Anm. 2), stellt zusammenfassend fest (S. 28): „So könnte man sagen, daß die Reformation sich selbst gleichsam als ein neues Mönchtum verstand oder doch so verstanden werden konnte.“ Sein Kommentar geht ebenfalls nur haarscharf an der Sache vorbei (S. 29): „Mit dieser Universalisierung verband sich freilich eine fundamentale Transformation.“ Weder SCHILLING noch MOELLER: Die frühe Reformation (wie Anm. 3), S. 76-91, verbinden diese Transformation, genauer gesagt diese Übertragung, jedoch in besonderer Weise mit Luthers Verständnis des Haushaltes.
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muste man eynen guten kurtzen Catechismum haben uber den glauben, zehen gebot und vater unser. Kurtzlich, wenn man die leute und personen hette, die mit ernst Christen zu seyn begerten, die ordnunge und weysen weren balde gemacht.66
Was ist dies anderes als Luthers Entwurf einer evangelischen Gemeinschaft, die alle guten Bestandteile des monastischen Lebens – oder zumindest dessen erklärte Ideale – für sich fruchtbar macht? Die Abkehr von der Welt („etwo yn eym hause alleyne“); Arbeit und Gebet („zum gebet, zu lesen, … und andere Christliche werck zu uben“); Disziplin („die, so sich nicht Christlich hielten, kennen, straffen, bessern, ausstossen odder ynn den bann thun“); Fürsorge für die Armen („eyn gemeyne almosen“); Einfachheit („nicht viel und gros gesenges“); Hilfe zum Glauben („eynen guten kurtzen Catechismum“) – Kennzeichen einer Gemeinschaft von Menschen also, die „alles auffs wort und gebet und die liebe richten“. Ein Beweis für diese Relation von monastischen Idealen und evangelischer Gemeinschaft findet sich 1524 in einer Schrift Luthers gegen Karlstadt. Als Antwort auf dessen Attacken gegen die Elevation der Hostie und gegen die Messgewänder beim Abendmahl, verweist Luther darauf, die Wittenberger hätten einen dritten Weg zwischen dem päpstlichen Insistieren auf derartige Praktiken und Karlstadts Verbot derselben eingeschlagen. In diesem Zusammenhang stellt er die schlichte Art und Weise, wie die Messe im Augustinerkloster gefeiert wurde, der feierlicheren liturgischen Praxis in der Stadtkirche gegenüber: Hie sind wyr herrn und leyden keyn gesetz, gepot, lere nach verbot, Wie wyr denn auch beyderley hie zu Wittemberg than haben, Denn ym kloster haben wyr Mess gehabt on kasel, on auff heben, schlecht auffs aller eynfeltigst, wie Carlstad Christus exempel růmet, Widderumb ynn der pfarr haben wyr noch kasel, alben, altar, heben auff, wie lange es uns gelůstet.67
66
WA 19, S. 75,3-18. Vgl. HELMAR J UNGHANS: Luthers Gottesdienstreform – Konzept oder Verlegenheit?, in: Reinhold Morath und Wolfgang Ratzmann (Hg.): Herausforderung: Gottesdienst. Bd. 1: Liturgische Studien und Forschungen, Leipzig 1997, S. 88. 67 WA 18, S. 113,3-8; vgl. auch die Zeilen 9-22: „Darumb sollt meyn rotten geyst nicht widder uns Wittemberger auff die weyse fechten: ‚Sie heben das sacrament auff, drumb sundigen sie widder Gott‘, Sondern also: ‚Sie leren und gepieten, man musse das sacrament auff heben bey eyner todt sunde, drumb sundigen sie widder Gott‘, Denn so thun und leren die Papisten, Wyr aber leren nicht so und thun doch also frey, so lange es uns lůstet, Das thun schad nicht, die lere aber ist der teuffel, Widderumb ym kloster lassen wyrs, aber wyr lerens nicht, wie D. Carlstad thut, Das lassen schad nicht, das leren aber ist der teuffel. Daraus mercke nů, wilche ‚des Endchrists vettern‘ seyen, wyr odder D. Carlstad, Wyr thun wie die Papisten, on das wyr die lere, gepot und zwang nicht leyden, Wyr lassen auch wie die Carlstadischen, aber das verbot leyden wyr nicht, So sind nů der Bapst und D. Carlstad rechte vettern ym leren, denn sie leren beyde, eyner das thun, der ander das lassen, wyr leren aber keynes, und thuns beydes.“ Für diesen Hinweis bin ich Prof. Gordon Lathrop zum Dank verpflichtet.
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Vor dem Hintergrund von Obermans These, Luther sei in seiner Beziehung zum Mönchtum bis zu seiner Heirat ein Daniel in der Löwengrube geblieben, machen Luthers Attacken gegen Karlstadt sowie sein Vorwort zur „Deutschen Messe“ deutlich, dass Luther hier erste Schritte hin zu einem konkreten Alternativmodell zum monastischen Leben geht, einem Modell, das doch wesentliche Elemente des monastischen Geistes in sich aufhob. Luthers einzige Ergänzung zum monastischen Vorbild ist die Betonung der Sakramente („zu teuffen, das sacrament zu empfahen“). Darüber hinaus etabliert Luther die Verbindung zum christlichen Haushalt in seiner Forderung eines guten, prägnanten Katechismus zum Credo, zu den Geboten und dem Vaterunser, der – nach seiner Vorstellung – in der Hauskirche, fernab der Öffentlichkeit seine Wirksamkeit entfalten solle. Der kleine Katechismus mit seiner Haustafel zementiert diese Verbindung, und auch die heftige Kritik am Mönchtum im Großen Katechismus (in Verbindung mit den Ausführungen zum Hochzeitsgottesdienst im Vorwort) machen deutlich: Luthers Vision des Christentums entstammt einer radikalen Rückbesinnung auf das monastische Lebensideal und dessen Übertragung auf den christlichen Haushalt. Indem Luther in seine Katechismen Erklärungen zu den Sakramenten und eine Taufordnung aufnimmt, bringt Luther sogar Taufe und Abendmahl in dieser neuen Gemeinschaft mit Wort und Gebet zusammen. Die Tatsache, dass Luther selbst sich 1526 noch nicht berufen fühlte, „eyne solche gemeyne odder versamlunge“ ins Leben zu rufen ist demgegenüber ohne Bedeutung, da er bereits 1529 – ungeachtet seiner Angst vor „rotterey“ und vor der Unbändigkeit des deutschen Volkes – einen solchen Prozess im christlichen Haushalt ernsthaft verfolgte.
Freiheit im Wort: oratio, meditatio, tentatio All diesen Aspekten der Theologie Luthers liegt die Begegnung des Christenmenschen mit dem Wort zugrunde. Doch auch in diesem Zusammenhang war Luthers monastische Erfahrung von Bedeutung, wie bereits ein Blick in seine Genesis-Auslegung zeigt. Luther weist seine Zuhörer im Zusammenhang von Gen 45,17-18 auf die Tatsache hin, dass Josef in einzigartiger Weise seiner Familie zugetan war. Zugleich kontrastiert er dies mit dem Leben der Mönche, die frei waren von Ehestand und anderen häuslichen Pflichten. Auf diese Weise war es ihnen möglich zu sagen: „Ich habe Zeit für das Gebet, die Lektüre und die Meditation – alles ehrenwerte Absichten!“68 An dieser Stelle ist es nicht die sonst übliche Kritik Luthers 68
WA 44, S. 623,40: „Vaco orationi, lectioni, meditationi. Recte sane.“
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am mönchischen Rückzug aus der Welt, die auffällt, sondern es sind die drei Worte, mit denen Luther das Leben der Mönche charakterisiert: oratio, lectio, und meditatio – und die positive Rolle, die er diesen zuspricht („Recte sane“)69. Es war zweifelsohne diese Tradition, die – in leicht veränderter Form – dem berühmten Vorwort zu Luthers Deutscher Werkausgabe zugrunde lag: Uber das wil ich dir anzeigen eine rechte weise in der Theologia zu studirn, denn ich mich geuebet habe, wo du die selbigen heltest, soltu also gelert werden, das du selbs koennest (wo es not were) iaso [geradeso] gute Buecher machen als die Veter und Concilia ... Und ist das die weise, die der heilige Koenig David ... leret im 119. Psalm. Da wirstu drey Regel innen finden, durch den gantzen Psalm reichlich furgestellet. Und heissen also: Oratio, Meditatio, Tentatio.70
Oratio, Gebet, erwächst konkret aus dem Umstand, dass die Bibel die menschliche Weisheit als Narretei überführt. Sie muss darum mit der Kraft des Heiligen Geistes verstanden werden, anders als beispielsweise Aesops Fabeln. Meditatio bedeutet für Luther ein sehr eingehendes Lesen des Textes, eine Verbindung also von lectio und meditatio („nicht allein im Hertzen, sondern auch eusserlich“)71, in der man zu erkennen sucht, warum die Schrift ausgerechnet dieses bestimmte Wort oder diese besondere Phrase verwendet und keine andere. Wie Kenneth Hagen aufgezeigt hat, ist gerade diese eng am Wortlaut bleibende, beinahe nach-betende Lektüre des Textes kennzeichnend für sämtliche Bibelauslegungen Luthers, besonders für seine Vorlesungen zum Galaterbrief72. Natürlich verwendet Luther darin auch die scholastischen und humanistischen Methoden der Texterschließung. Darüber hinaus zeigt er sich auch empfänglich für die Einsichten der exegetischen Tradition. Dennoch hat er den oben beschriebenen monastischen Ansatz, den er selbst als oratio, lectio und meditatio beschrieben hat, nie preisgegeben. Dieser Zugang zur Schrift sollte nun jedoch für jeden 69
Nach der Pro-Quest Version der WA erscheinen die beiden Ausdrücke oratio und meditatio an einigen Stellen in Verbindung mit dem Hinweis auf die Lektüre der Schrift, vgl. besonders: WA 1, S. 520,14-17; WA 7, S. 470,22-29; WA 40/2, S. 115b,32-34; WA 40/3, S. 191b,25-26; WA 41, S. 738,32-33; WA 43, S. 378,5-6; und WA 44, S. 409,7-9; eine ähnliche Begriffs-Trias kommt im Großen Katechismus selbst vor: Vorwort, Abs. 9, in Verbindung mit Mt 18,20 (BSLK S. 549,2-16): „Denn ob sie es gleich allerdinge aufs allerbeste wüßten und künnten … so ist doch mancherlei Nutz und Frucht dahinden, so mans täglich lieset und übet mit Gedanken und Reden, nämlich daß der heilige Geist bei solchem Lesen, Reden und Gedenken [Latin: huic lectioni, sermoni ac meditationi] gegenwärtig ist … wie Christus auch verheißt Matthäi 18 [v. 20] …“ 70 WA 50, S. 658,29–659,4. 71 WA 50, S. 639,22-23. 72 KENNETH HAGEN: Luther’s Approach to Scripture As Seen in His „Commentaries“ on Galatians, 1519-1538, Tübingen 1993; vgl. auch SCHWARZ: Luthers unveräußerte Erbschaft (wie Anm. 2), S. 210–216, und seine Ausführungen zu Luthers exegetischer Methode.
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Theologiestudenten verbindlich sein, nicht nur für diejenigen, die ein Mönchsgelübde abgelegt hatten. In der Einleitung zum ersten Band seiner Lateinischen Werkausgabe sechs Jahre später nimmt Luther nicht wieder explizit Bezug auf diese Methodik, er gibt jedoch ein eindrückliches Beispiel derselben in seiner berühmten Auslegung von Röm 1,17.73 Hier dreht sich alles um das eine Wort (unicum vocabulum), „iustitia Dei“, das Luther zunächst ohne Rückgriff auf die Heilige Schrift zu verstehen sucht, d.h. im Sinne der üblichen philosophischen Bedeutung entsprechend den Vorgaben „bei allen Lehrern“. Doch schließlich klagt er Gott (oratio) sein Leid und klopft beharrlich bei Paulus an, um zu verstehen, was dieser (und damit der Heilige Geist) mit dem Ausdruck sagen wollte (lectio): „bis ich, durch Gottes Erbarmen, Tage und Nächte [Psalm 1] darüber nachsinnend [meditabundus] meine Aufmerksamkeit auf die Verbindung der Wörter richtete“74. Luther beschreibt hier präzise die Praxis, die er seinen Studenten sechs Jahre zuvor selbst empfohlen hatte: das Beten über dem Text, um die Weisheit der Welt zu überwinden, die textnahe Lektüre und Meditation bei Tag und Nacht. Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, die sich gerade in dieser Interpretation von Röm 1,17 auftut (zunächst als Gesetz, das ihn verwirft, dann als Evangelium, aus dem er wiedergeboren wird und ins Paradies eingeht) bedeutet keinen Bruch mit Luthers monastisch geschulter Bibellektüre, sondern untermauert diese vielmehr. Sobald ein Mensch sich dem biblischen Text mit Gebet, Lektüre und Meditation nähert, stürzt sich dieser Text gleichsam selbst auf ihn und treibt ihn (als Gesetz) durchs Zimmer, bis der Lesende schließlich gepackt wird von der Gnade Gottes und beginnt, das Lied des Evangelium anzustimmen. Am Ende seines Lebens blickt Luther also auf seine Erfahrungen aus der Klosterzeit und die Anfänge der Reformation zurück, betont den Zusammenhang zwischen beiden und bestätigt so den monastischen Kontext seines reformatorischen Aufbruchs. Er geht sogar noch weiter – in einer Weise, die so subtil ist, dass viele moderne Gelehrte es gar nicht zur Kenntnis nehmen – und verortet selbst das Herzstück der Reformation (nämlich die Rechtfertigung allein aus Glauben und die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium) in der einzigartigen monastischen Herangehensweise an die biblischen Texte. An einem Punkt jedoch bricht Luther folgenreich mit einem großen Teil der mystischen Tradition des Mittelalters. Denn diese nahm den Weg vom
73
WA 54, S. (176) 179–187; LDStA 2, S. 491–509. LDStA 2, S. 507,1-2; WA 54, S. 186,3-4: „Donec miserente Deo meditabundus dies et noctes connexionem verborum attenderem ...“. 74
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Gebet und der Meditation hin zur illuminatio oder contemplatio75. Diese mystischen Begriffe spielen im Vokabular des späteren Luther kaum noch eine Rolle, wie eine kursorische Untersuchung von Pro-Quest’s „Luther on Line“ zeigt. De facto verwendet Luther diese Begriffe eher im negativen Sinne76. An ihre Stelle tritt bei Luther die Anfechtung (tentatio), die dritte Kategorie Luthers, die ich bisher außen vor gelassen habe. Diese geringe Wertschätzung solch mystischer singularitas kommt auch in Luthers Predigt zu Mt 18,20 zum Ausdruck, die oben schon eine Rolle gespielt hat. Luther ersetzt hier eben diese besonderen Offenbarungen an den Einzelnen durch einen Vorgang, den alle gläubigen Christen kennen: die Anfechtung. In der Bibellektüre wie in der Auslegung des Evangeliums nach den Schmalkaldischen Artikeln schafft Luther somit für alle Christenmenschen gleiche Voraussetzungen im Bereich der Spiritualität: Alle und nicht nur diejenigen mit einer größeren religiösen Einbildungskraft können des Evangeliums teilhaftig werden. Es sind eben nicht einfach die Gelehrsamkeit und das intellektuelle Verstehen, die einen Theologen ausmachen, sondern es ist gerade die Erfahrung. Ausgerechnet die Attacken des Teufels lassen den Glaubenden nämlich erfahren „wie recht, wie warhafftig, wie suesse, wie lieblich, wie mechtig, wie troestlich Gottes wort sey, weisheit uber alle weisheit“77. Luther verwendet hier die der Mystik eigene Sprache (besonders: „süße“ und „lieblich“), um verständlich zu machen, was passiert, wenn ein Mensch die Wahrheit des Evangeliums entdeckt und darum unausweichlich auch in die Bedrängnis durch den Teufel gerät78. Gerade unter dem Eindruck dieser Attacken entstand Luthers Kreuzestheologie, wie Walther von Löwenich schon vor Jahren bemerkte:
75
Vgl. STEVEN E. OZMENT: Homo Spiritualis: A Comparative Study of the Anthropology of Johannes Tauler, Jean Gerson and Martin Luther (1509–1516) in the Context of their Theological Thought, Leiden 1969. 76 Verwendet man die Pro-Quest Datenbank der WA, erscheint das Wort „illuminatio“ 86 Mal in Luthers Textcorpus, ganze 31 % davon in den Dictata super Psalterium und den Operationes in Psalmos; andere elf Verwendungen (13 %) finden sich in den Genesisvorlesungen, in denen der Begriff, anders als in den älteren Texten, sechs Mal mit negativer Bedeutung gebraucht wird und vier Mal mit der Erleuchtung durch das Wort Gottes; das Wort „contemplatio“ taucht nur 45 Mal auf, 27 % (elf Mal) in den Dictata oder in Luther Marginalien zu Tauler und 13 % (sechs Mal) in den Genesisvorlesungen. Luthers erste Disputation gegen die Antinomer von 1537 (WA 39/1, S. 390b,21-22) enthält folgenden Kommentar: „Valde vitandae sunt contemplationes nudae maiestatis divinae.“ 77 WA 50, S. 660,2-4; Luther verwendet diese sehr ekstatische Sprache, um seinen reformatorischen „Durchbruch“ im Vorwort zu seiner lateinischen Schriftausgabe zu beschreiben. 78 Vgl. HEIKO OBERMAN: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982.
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Die Offenbarung Gottes geschieht ausgerechnet an dem Ort, an dem man sie als letztes vermuten würde79.
Luthers Ekklesiologie des Kreuzes im Dienst der Ökumene Dieser letzte Punkt bringt uns schließlich zu der einen monastischen Einsicht Luthers, die nicht nur die vorangegangenen Gedankengänge bündelt, sondern uns auch Luthers bedeutendsten Beitrag zur Ökumene vor Augen führt: Martin Luthers Ekklesiologie, insbesondere das, was ich seine Ekklesiologie des Kreuzes nenne. Für Luther wird die Kirche im Kontext des alltäglichen Lebens in Haushalt und Gemeinde erfahrbar80. In der ökumenischen Diskussion unter Lutheranern in den Vereinigten Staaten wurde in jüngster Zeit aus einer bestimmten Richtung behauptet, die lutherische Kirche habe sich von Luthers ekklesiologischen Prinzipien längst verabschiedet. Man dürfe von CA VII mit seinem satis est her nichts anderes als Basis ökumenischer Vereinbarungen mit anderen Kirchen gelten lassen als allein den Konsens über Wort und Sakrament. Diese Argumentationsweise ist jedoch für die Praxis einer gelebten Ökumene äußerst problematisch. Die weitgehende Einigkeit in Fragen der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung zur Mindestanforderung jedweder Ökumene zu machen, bedeutet nämlich de facto, dass jede Annäherung in weniger zentralen Punkten an Bedeutung verliert und ein Aufeinanderzugehen der Kirchen dadurch erschwert wird. Diese Sichtweise führt somit von dem, was man als überzogenen Episkopalismus kritisiert hat, hin zu dem, was man als überzogenen Kongregationalismus bezeichnen könnte. Beide Positionen verraten auf diese Weise letztlich das satis est der CA, das sie eigentlich schützen wollten. Außerdem gehen beide ökumenischen Modelle völlig am Kern von Luthers kreuzestheologischer Ekklesiologie vorbei. Luthers eigene Auffassung in dieser Frage ist eine radikal andere. Er versteht die Einheit der Kirche zuallererst als alleinige Gabe des Heiligen Geistes vermittelt durch Wort und Sakrament. Diese charakteristischen Kennzeichen der Kirche (nota ecclesiae) sind für ihn gegenwärtig in der weltweiten Kirche und vereinigen Christenmenschen aller Zeiten und Orte. Von daher ist das Streben nach Einheit ein völlig überflüssiges Unterfangen, da Gott selbst diese Einheit schenkt, wo immer das Evangelium gepredigt und die Sakramente in dessen Sinne recht verwaltet werden. Vor 79
W ALTHER VON LÖWENICH: Luther’s Theology of the Cross, trans. Herbert Bouman, Minneapolis 1976; dt. Originalausgabe: Luthers theologia crucis, München 1929. 80 Für diesen Teil vgl. insbesondere GORDON LATHROP und T IMOTHY J. W ENGERT: Christian Assembly: Marks of the Church in a Pluralistic Age, Minneapolis 2004, Kapitel 2, 4 und 5 sowie die dort angegebene Literatur.
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dem Hintergrund dieser Auffassung kann der späte Luther sogar auch bei seinen Gegnern problemlos Kennzeichen der Kirche ausmachen. Vor diesem Hintergrund arbeitete Luther jedoch auch gewissenhaft daran, die Trennungen zwischen den Kirchen seiner Zeit zu überwinden. Dabei waren es nicht so sehr die Kennzeichen der Kirche, die ihn bewegten, als vielmehr die Praxis von Vergebung und Versöhnung. Die Freiheit in den äußerlichen Dingen und Zeremonien sollte hier den Raum frei geben für die christliche Nächstenliebe und die Sorge um die Schwachen. Der für unseren Zusammenhang entscheidendste Aspekt ist jedoch folgender: Luthers Ekklesiologie war immer geprägt vom Kreuz, sub contrario specie. Wie ich andernorts aufgezeigt habe, ist dies ein Element der theologia crucis Luthers, das sogar Philipp Melanchthon aufgenommen hat81: Gott gibt sein Wort und Sakrament, damit sie Frucht hervorbringen für die Schwachen und Zerbrochenen. Diese Parteinahme für die Unterprivilegierten und Bedürftigen zeigt sich beispielsweise in der Tatsache, dass bei Christi Geburt Maria, Joseph, Elisabeth, Zacharias, die Hirten und Magier versammelt waren, nicht aber die Familien von Hannas, Kaiphas oder Herodes82. Das Kreuz selbst wird für Luther zum Kennzeichen der Kirche83. Dasselbe Denken sub contrario erlaubt ihm auch die Verlagerung der Privilegien des monastischen Lebens und seiner Spiritualität auf den einfachen christlichen Haushalt, in dem nun plötzlich das Kind oder die Magd jenes gottgefällige Leben in Gehorsam, Reinheit und – sofern sie ihr Leben für den Nächsten hingaben – auch Armut führt. Zusammengefasst bedeutet dies, dass Luthers Beitrag zur ökumenischen Theologie sich nicht nur einfach aus den Quellen seiner reformatorischen Theologie speist, sondern konkret aus seinen monastischen Erfahrungen, die er auf den deutschen Haushalt und die Gemeinschaft unter dem Kreuz überträgt. Man muss überlegen, ob Theologen der Ökumene die Einheit der Kirchen an der richtigen Stelle zu finden versuchen: nämlich in formellen Übereinkünften, in der theologischen Annäherung aneinander oder im Zusammendichten, im „rewriting“, einer gemeinsamen Geschichte84. Luther jedenfalls entdeckt die Einheit nicht einfach in den Verhandlungen auf 81
T IMOTHY J. WENGERT: Caspar Cruciger Sr.'s 1546 ‘Enarratio’ on John’s Gospel: An Experiment in Ecclesiological Exegesis, in: Church History 61 (1992), S. 60–74; vgl. auch DERS.: Beyond Stereotypes: The Real Philip Melanchthon, in: Scott H. Hendrix and Timothy J. Wengert (Hg.): Philip Melanchthon Then and Now (1497-1997), Columbia, SC 1999, S. 9–31. 82 Vgl. z.B. WA 10/1,1, S. 62,17–63,13; WA 17/2, S. 354,24-32; 400,1-11; WA 59, S. 228,16–229,39. 83 LATHROP und WENGERT: Christian Assembly (wie Anm. 80), S. 88f. Vgl. WA 12, S. 195; WA 59, S. 175; WA 42, S. 187, 401; und besonders WA 50, S. 641,35–642,32. 84 Vgl. z.B. Charles Brockwell und Timothy J. Wengert (Hg.): Telling the Churches’ Stories: Ecumenical Perspectives on Writing Christian History, Grand Rapids 1995.
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institutioneller Ebene, wie wichtig diese auch immer sein mögen, sondern im Haushalt und in der Gemeinde, also in dem, was man einen „Haushaltsökumenismus“ (oder, vielleicht, eine „Ökumene der Hausgemeinschaften“) nennen könnte. Wenn es die Erfahrung in den Hausgemeinschaften ist, die einen Menschen zum Ökumeniker macht, dann findet die wahre Rezeption der Ökumene nicht einfach in kirchlichen Institutionen statt, sondern in Haushalten und Gemeinden, die unter dem Zeichen des Kreuzes stehen und sich geleitet wissen von der Begegnung mit dem Heiligen Geist in oratio, meditatio und tentatio. In christlichen Haushalten haben Christenmenschen verschiedener Konfessionen über Jahre hinweg Frieden miteinander gemacht, gemeinsam Wege gefunden, ihre Kinder zu erziehen und ihren Glauben zu bezeugen85. Hier beten und meditieren Menschen, hier werden sie mit Gottes Wort als Gericht und Gnade konfrontiert, und hier erfahren sie auch das Leiden und die Anfechtung86. Weit mehr als professionelle Theologen es sich wohl eingestehen wollen, sind der christliche Haushalt und die Ortsgemeinde die Orte, an denen der christliche Glaube in all seiner Komplexität und Einfachheit praktiziert und meditiert wird, im Angesicht all der Sorgen und Freuden des Lebens. Anstatt diese Theologie oder diese Form der Ökumene als bloße Ergänzung zum Eigentlichen, d.h. zu den Vereinbarungen und Übereinkünften diverser Kirchenoberen, zu verstehen, zielt Luthers monastische Theologie überraschenderweise genau auf das Gegenteil: Luther wendet sich vom Individualismus des spätmittelalterlichen Mönchtums ab und findet die ursprünglichen Ideale des mönchischen Lebens in Gebet und Arbeit, in Armut, Reinheit und Gehorsam nun im christlichen Haushalt verwirklicht. Hier, im „irdischen“ Leben zwischen dem Herrichten der Betten, dem Windelnwechseln und dem Pflügen des Feldes, zwischen der Hochzeit der Lebenden und der Klage über die Toten, hier sind die Samen der wahren Ökumene und der wahren ökumenischen Aufnahmefähigkeit reich gesät87. Konkret im „wechselseitigen Gespräch und der Tröstung durch Brüder und Schwestern“ erfahren wir die einigende Kraft des Evangeliums und leben wir diese Einheit. Luthers Vision eines solchen Lebens wurde Wirklichkeit im Kern seiner (und Käthes!) Erfahrungen als Mönch (und Nonne). Die Demut des Glaubens ersetzt den Stolz der Verdienste. Gebete, die aus Bedürftigkeit kamen, treten an die Stelle des „Heulens und Murrens“ gedankenloser Rezi85
Vgl. jeweils die Bemerkungen Luthers und Melanchthons zu ihren eigenen Eltern. Die Verwendung des Römischen Breviers für die Morgen-, Mittags- und Abendgebete ist kein Zufall. 87 Für eine eher traditionelle Deutung dieser Aufnahmefähigkeit vgl. HERMANN J. P OTTMEYER: The Reception Process: The Challenge at the Threshold of a New Phase of the Ecumenical Movement, in: Ecumenism: Present Realities and Future Prospects, Notre Dame 1998, S. 149–168. 86
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tation. Gehorsam gegenüber den von Gott eingesetzten Autoritäten in Haus und Gesellschaft verdrängt den Gehorsam gegenüber dem Abt. Die Keuschheit des häuslichen Lebens ersetzt den erzwungenen Zölibat des Klosterlebens, und das Leben in Sorge um die tatsächlich Armen tritt an die Stelle eines Lebens in individueller Armut und kollektivem Wohlstand. Letztlich überrascht es nicht, dass Luther, als er glaubte sterben zu müssen, vom Deutschen ins Lateinische fällt: Dieses spezifisch Lutherische der Einheit im Evangelium preist er in seiner zugleich ganz monastischen Sprache und Form: per mutuum colloquium et consolationem fratrum. Dieses durch und durch monastische Konzept stellt Luthers größtes Geschenk an die heutige ökumenische Bewegung dar.
Risto Saarinen
Klostertheologie auf dem Weg der Ökumene: Wille und Konkupiszenz 1. Gerecht und Sünder zugleich? Ein ökumenisches Problem Die evangelisch-lutherische Kirche lehrt, dass der Christ gerecht und Sünder zugleich ist. Auch als Christen bleiben wir Sünder und können nicht verdienstliche Werke vor Gott hervorbringen. Das Fortschreiten des Christen ist fraglich. Gute Werke sind zwar von den Christen zu erwarten, aber sie sind keine sicheren Kennzeichen einer lutherischen Kirche, da auch außerhalb der Kirche äquivalente gute Werke hervorgebracht werden können. Diese lutherische Auffassung von der bleibenden Sündhaftigkeit repräsentiert keineswegs eine via media des Christentums, sondern sowohl die alten Kirchen als auch die neuen Freikirchen unterscheiden sich davon durch ihr relativ optimistisches Bild von der Heiligung. In der Auffassung vom „gerecht und Sünder zugleich“ vertreten die Lutheraner eine Lehre, die sehr viele andere Kirchen nicht ohne weiteres wiedererkennen. Auch die biblische Grundlage dieser lutherischen Position ist durch die sogenannte neue Perspektive der Paulusforschung in Frage gestellt worden. Die neue exegetische Perspektive betont die Heiligung und die Erfüllung des Gesetzes bei Paulus und kann der Rechtfertigungslehre und dem introspektiven Gewissen keine solche zentrale Rolle zuschreiben, wie es Lutheraner üblicherweise tun1. So scheint die heutige Paulusforschung eher den alten Kirchen und den modernen Heiligungsbewegungen nahe zu stehen als dem lutherischen Protestantismus.
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Vgl. STEPHEN W ESTERHOLM: Perspectives Old and New on Paul: The „Lutheran“ Paul and His Critics, Grand Rapids 2004, sowie D. A. Carson, Peter T. O’Brien, Mark A. Seifrid (Hg.): Justification and Variegated Nomism, Bd. 1–2, Tübingen 2001/2004, und R ISTO S AARINEN: The Pauline Luther and the Law: Lutheran Theology Re-engages the Study of Paul, in: Pro ecclesia 15 (2006), S. 64–86, sowie B ERND OBERDORFER: Der suggestive Trug der Sünde: Römer 7 bei Paulus und Luther, in: Sigrid Brandt (Hg.): Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema, Neukirchen-Vluyn 1997, S. 125–152.
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Im Lutherischen Weltbund habe ich selbst einerseits an dem Dialog mit den Orthodoxen, andererseits mit den Adventisten teilgenommen2. Orthodoxe und Adventisten repräsentieren höchst unterschiedliche Lehrmeinungen, aber in beiden Kirchenfamilien wird generell gedacht, dass ein Christ in Zusammenarbeit mit Gott gute Werke hervorbringen, in der Heiligung fortschreiten und gewissermaßen auch dem göttlichen Moralgesetz folgen kann. Deswegen sind das lutherische „gerecht und Sünder zugleich“ und die bleibende Unfähigkeit des Christen, Verdienste zu präsentieren, nur schwer im Dialog mit diesen Kirchen verständlich zu machen. In solchen Dialogen beleuchten die Lutheraner ihre Position oft mit Berichten von Luthers Klosterzeit. Die lutherische Allergie gegen menschliche Verdienste wird anhand der spezifischen Fragestellungen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit erklärt. Mit Hilfe der Kirchengeschichte versuchen die Lutheraner ihre Diskussionspartner davon zu überzeugen, dass der Kampf gegen die falsche Selbstgerechtigkeit Luther motiviert hat, die bleibende Sündhaftigkeit des Christen und die Unmöglichkeit der Verdienste zu betonen. Wenn Lutheraner auf „simul iustus et peccator“ insistieren, machen sie in den Augen mancher Diskussionspartner allerdings ein Laster zu einer Tugend und identifizieren sich mit etwas, was nur als kontextuelle Kritik an der übertriebenen Scheinheiligkeit verstanden werden sollte. Jeder Mensch braucht täglich Sündenvergebung, wie auch das Vaterunser-Gebet lehrt. Aber diese faktische Beobachtung bedeutet in vielen Kirchen gerade nicht, dass „simul iustus et peccator“ zu einer christlichen Lehre gemacht werden sollte. Der christliche Glaube strebt danach, die Sünde abzulehnen und sie zu überwinden. Auf diese Weise kommen die Lutheraner als besonders eifrige Wächter gegen die Selbstgerechtigkeit zum Vorschein. Lutheraner erscheinen in den Augen anderer Christen als relativ gesunde Menschen, die allerdings ständig klagen, wie krank sie sind, oder als relativ reiche Menschen, die ständig klagen, wie arm sie sind. Diese Klage ist nicht gerade falsch, aber sie ist unproportioniert. Lutheraner haben, oder so denken wenigstens die ökumenischen Diskussionspartner, an dieser Stelle die richtigen Maßstäbe des Christ-Seins verloren. Ich werde dieser ökumenischen Dialektik nicht weiter folgen. Meine Absicht ist eher, historisches Material zu präsentieren und seine ökumenische Tragweite zu erörtern. Die Frage nach der bleibenden Sündhaftigkeit des Christen ist neulich im Rahmen der Debatte um die „Gemeinsame Er2
Vgl. RISTO S AARINEN: Adventisten und Lutheraner im Gespräch. Ein Erfahrungsbericht, in: Ökumenische Rundschau 50 (2001), S. 475–489, und DERS., Der weltweite lutherisch-orthodoxe Dialog von 1994 bis 2002, in: Ökumenische Rundschau 52 (2003), S. 213–229.
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klärung zur Rechtfertigungslehre“ ausführlich analysiert worden3. Trotz der Fülle von Beiträgen hat Otto Hermann Pesch neulich in Bezug auf die Herkunft der Formel „simul iustus et peccator“ konstatieren müssen: „Es fehlt bis heute eine monographische Untersuchung zur Geschichte der Formel als solcher, die klären könnte, wie originell und/oder wie abhängig Luther bei ihrer Ausbildung gewesen ist. ... die historische Lutherforschung [springt] zumeist vergleichend von Augustinus unmittelbar zu Luther und fragt kaum nach möglichen Zwischenstationen auf dem Weg von Augustinus über die Scholastik zur Reformation.“4 Diese Lücke kann ein kurzer Beitrag nicht füllen, aber ich hoffe, etwas über die historischen „Zwischenstationen“ zu sagen, insbesondere in Bezug auf die Verhältnisbestimmung von Wille und Konkupiszenz. Dieser Absicht folgend wird zunächst (2.) die augustinische Lehre von der Konkupiszenz skizziert und ihre Auslegungsgeschichte anhand einiger mittelalterlicher Zwischenstationen untersucht. Danach sollen die Erfurter Lehrer Luthers (3.) sowie Luther selbst (4.) zu Worte kommen. Der Leipziger Disputation von 1519 wird besondere Aufmerksamkeit (5.) gewidmet. Schließlich (6.) wird die mögliche ökumenische Tragweite dieses historischen Weges kurz kommentiert. Meine begrenzte Fragestellung kann weder die großen Debatten der letzten Jahre lösen noch die Vorurteile der anderen Kirchen hinsichtlich der bleibenden Sündhaftigkeit ausräumen. Mit der Erwähnung dieser Vorurteile kann aber der breitere theologische Horizont der historischen Fragestellung sichtbar werden. Umgekehrt kann eine historische Klärung von Luthers Position der ökumenischen Verständigung wenigstens ansatzweise dienen.
2. Die zwei Varianten von Augustins Sündenlehre Die lutherische Position sagt also, dass die Sünde im getauften Christen bleibt. Sie kann als beherrschte Sünde bezeichnet werden, aber sie ist trotzdem Sünde. Sie kann eine Konkupiszenz genannt werden, aber das Vorhandensein dieser Konkupiszenz ist Sünde abgesehen davon, ob die Person einer bestimmten Tat willentlich zustimmt oder nicht. Die katholische Position lehrt, dass die Taufgnade alles, was wirklich Sünde und ver3
Vgl. vor allem Theodor Schneider und Gunther Wenz (Hg.): Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen, Freiburg 2001. Die Textbelege bei Luther und der heutige Forschungsstand werden von OTTO HERMANN PESCH: Simul iustus et peccator. Sinn und Stellenwert einer Formel Martin Luthers, in dem von Schneider und Wenz herausgegebenen Band, S. 146–167, zusammengefasst. 4 P ESCH: Simul iustus et peccator, S. 146.
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dammungswürdig ist, tilgt. Nach der Taufe bleibt jedoch im Christen eine aus der Sünde kommende und zur Sünde drängende Neigung, die Konkupiszenz genannt wird. Diese gottwidrige Neigung wird Sünde durch die Zustimmung des Christen. Wenn aber ein solches personales Element der Zustimmung fehlt, sehen die Katholiken die Konkupiszenz nicht als Sünde an. In diesem Sinne kann ein katholischer Christ nicht „gerecht und Sünder zugleich“ sein5. Dieser konfessionelle Unterschied hat sich einerseits durch die lutherischen Bekenntnisschriften, andererseits durch das Konzil von Trient als Merkmal der jeweiligen kirchlichen Identität festgesetzt. Woher hat aber der junge Luther seine Einsicht von „simul iustus et peccator“ gewonnen? Neulich hat der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen festgestellt, dass schon bei Augustinus sowohl die katholische als auch die lutherische Position zu finden sind.6 Christoph Markschies zeigt, wie Augustinus bisweilen Konkupiszenz als bloße Neigung zur Sünde beschreibt, bisweilen sie als Sünde im metaphorischen Sinne bezeichnet und einige Male sogar Konkupisenz eine Sünde im eigentlichen Sinne nennt. Folglich haben einige Augustin-Forscher einen Widerspruch bei dem Kirchenvater festgestellt, andere einen unpräzisen Sprachgebrauch7. Markschies schlägt vor, dass man bei Augustin zwischen dem eigentlichen und dem universalisierten Sündenbegriff unterscheiden, aber nicht trennen, soll. Wenn Augustin von Konkupiszenz als Sünde spricht, meint er den universalisierten Sündenbegriff, der in solchen Redewendungen wie „der Mensch hat von sich selbst heraus nichts als Sünde und Lüge“ zum Vorschein kommt. In solcher „lutherischen“ Rede geht es bei Augustin um eine besondere Sprechweise, modus loquendi, oder eine zweite „Reihe“ des Sprechens. Es geht nicht um eine bloße Metapher, sondern sowohl die katholische als auch die universalisierte lutherische Sprechweise bringen denselben Sachverhalt zum Ausdruck, nämlich dass der Mensch mit der Sünde zeitlebens kämpfen muss8. Markschies bemerkt im weiteren, dass Augustin und Luther einander näher sind als protestantische und katholische Forscher in der Vergangenheit angenommen haben. Beide lehren den sogenannten Partialaspekt des simul, d.h. dass Christen teils Sünder, teils Gerechte sind. Was den Total5
Vgl. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, S. 28–30, in: Harding Meyer (Hg.): Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 3., Frankfurt 2003, S. 426f., sowie bei Schneider und Wenz (wie Anm. 3). 6 Schneider und Wenz (wie Anm. 3), S. 425–426 (Abschließender Bericht). 7 CHRISTOPH MARKSCHIES: Taufe und Concupiscentia bei Augustinus, in: Schneider und Wenz (wie Anm. 3), S. 92–108. 8 Ebd. S. 102–104.
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aspekt betrifft, d.h. dass Christen ganz Gerechte und ganz Sünder sind, wird der Unterschied zwischen Luther und Augustin geringer, wenn man einsieht, dass Augustin Konkupiszenz gemäß der universalisierten Sprechweise als Sünde bezeichnen kann. Weil die Konkupiszenz bis ans Ende im Christen bleibt, ist der Christ auch bei Augustin, universal gesprochen, ganz Sünder. Denn die Konkupiszenz ist keine bloße Begierde, sondern auch eine Macht, die einen totalen Anspruch an den Menschen stellt9. Die Interpretationsschwierigkeiten des augustinischen Ansatzes hängen damit zusammen, dass der Kirchenvater oft sagt, nur im Willen oder in der Zustimmung sei die Sünde identifizierbar. Markschies legt diese Stellen so aus, dass die katholische Position zwar an sich augustinisch ist, dass man aber darüber hinaus sagen kann, schon das Vorhandensein der Konkupiszenz sei sündhaft, obwohl die Sünde dann nicht angerechnet wird10. Das Problem der Willensfreiheit in diesem Kontext ist äußerst komplex, insbesondere wenn die augustinische und scholastische Tradition zwischen Augustin und Luther näher untersucht wird. In den patristischen und monastischen Analysen der Zustimmung zu einem Vorschlag der Konkupiszenz kommen verfeinerte Handlungstheorien und Emotionstheorien zum Vorschein, die ihren Ursprung in stoischer Philosophie haben. Für das Verständnis der Konkupiszenz ist die stoische Auffassung von den ersten Bewegungen (primus motus) bzw. den Propassionen (propassio, antepassio) von besonderer Bedeutung. Nach dieser Theorie, die bei den Kirchenvätern ab Origenes und Hieronymus populär wird, empfindet man den ersten Eindruck eines äußeren Stimulus als nichtwillentliche erste Bewegung der Seele. Als zweite Bewegung kommt die Zustimmung der Seele zur Geltung. Erst nach dieser Zustimmung entsteht die Emotion im eigentlichen Sinne. Obwohl die Menschen normalerweise unterschiedliche emotive Empfindungen erfahren, kann die menschliche Vernunft die meisten oder vielleicht sogar alle emotive Zustimmungen kontrollieren bzw. unterlassen und so die Entstehung der eigentlichen Emotionen und Passionen willentlich verhindern11. Ein trainierter stoischer Philosoph kann bekanntlich den Zustand von apatheia erreichen, in dem er keinen Empfindungen zustimmt. Aber auch ein solcher Philosoph empfindet die ersten Bewegungen, weil sie unmittelbar durch die Sinne, unabhängig vom Willen und von der Vernunft, entstehen. So kann der Philosoph sich zum Beispiel im Seesturm fürchten, aber
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Ebd. S. 104–108. Ebd. S. 106f. 11 SIMO KNUUTTILA: Emotions in Ancient and Medieval Philosophy, Oxford 2004, S. 111–151. Im Folgenden wird die christliche Rezeptionsgeschichte dieser Einsichten näher belegt. 10
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seine Furcht ist keine eigentliche Emotion, sondern eine Propassio, die als ungewollte reflexive Reaktion entsteht12. Bei den Kirchenvätern und insbesondere in den monastischen Traditionen wird die Unterscheidung zwischen erster und zweiter Bewegung für die Analyse der sündhaften Erregungen und Eindrücke benutzt. Eine weit verbreitete Meinung war die stoische, der gemäß die erste Bewegung (propassio, titillatio) nicht sündhaft sei, weil sie eben als bloße Reaktion entstehe. Erst die Zustimmung mache sie sündhaft. Die Zustimmung sei noch keine äußere Tat, sondern sie könne als gewollte Verlängerung einer moralisch schlechten ersten Bewegung zustande kommen13. Bei der Benutzung einer stoischen Analyse könnte im Prinzip festgestellt werden, wie viele Sekunden man in der Fastenzeit Fleischgerichte ohne Sünde sehen oder riechen kann. Wenn man unerwartet ein Fleischgericht sieht, kann die Entstehung der entsprechenden Propassio nicht vermieden werden. Sehr schnell gerät sie aber unter die Kontrolle der rationalen Zustimmung und wird somit ein moralisch bewertbarer Sachverhalt14. Augustin kennt die stoische Auffassung, und seine Haltung ihr gegenüber bleibt ambivalent. In De civitate Dei (9.4) findet er das Beispiel vom Stoiker im Seesturm wenig glaubwürdig. Augustin denkt, dass der Stoiker einfach wie jeder andere Mensch sich fürchtet. An anderen Stellen von De civitate Dei (9.5, 14.8-9) kritisiert er das Ideal von apatheia und misst den Gefühlen einen positiven Wert bei. Auf der anderen Seite lehrt Augustin häufig und im Einklang mit der späteren „katholischen“ Theorie von der Konkupisenz, dass der emotive erste Eindruck noch keine Sünde sei, sondern erst durch die Zustimmung zu einer Sünde würde15. Im lateinischen Mittelalter bleiben zwei unterschiedliche Auslegungsvarianten von der Konkupiszenzlehre Augustins wirksam. Im Folgenden werden sie als die stoische und die gregorianische Variante bezeichnet. Die stoische Variante versteht Konkupiszenz als erste Bewegung, als ungewollte titillatio oder propassio. Als solche ist sie noch nicht Sünde, sondern wird Sünde erst dann, wenn sie durch die Zustimmung kontrollierbar wird16. Die stoische Variante kommt also dem tridentinischen Verständnis von Konkupiszenz nahe. 12
KNUUTTILA: Emotions, S. 63–67. KNUUTTILA: Emotions, S. 118–125 (Klemens, Origenes), 127–136 (Kappadozier), 144–151 (Cassianus). 14 Die stoische Freiheitstheorie wird übrigens heute in der Gehirnforschung diskutiert, in der empirisch feststellbar ist, dass bei dem Wahrnehmungsprozess neurologische Veränderungen stattfinden bevor die Perzeption bewusst wird. Vgl. Benjamin Libet u.a. (Hg.): The Volitional Brain: Towards A Neuroscience of Free Will, Thorverton 1999. 15 Vgl. MARKSCHIES: Taufe und Concupiscentia (wie Anm. 7) und KNUUTTILA: Emotions, S. 152–172. 16 Vgl. KNUUTTILA: Emotions, bes. S. 180f. 13
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In der monastischen Frömmigkeit wurde die Frage ausführlich diskutiert, ob die unkontrollierbare Sinnesempfindung sofort Sünde ist. Nach der stoischen Meinung ist die Kontrollierbarkeit solcher Erregungen Kriterium ihrer Sündhaftigkeit. Gregor der Große verwendet dieses Kriterium allerdings nicht. Er lehrt, dass die schlechten Erregungen sofort lässliche Sünden sind, auch bevor wir sie mit dem Willen kontrollieren können. Der Vorschlag der ersten Bewegung ist schon Samen der Sünde, das Lustgefühl ihre Nährung und die Zustimmung bringt die Sünde zur Reife, konstatiert Gregor17. Wahrscheinlich können Augustins Texte Anlass zu beiden Interpretationsvarianten geben, je nach dem, ob das Vorhandensein der Konkupiszenz im ersten Eindruck als Sünde verstanden wird. Wichtig ist aber, dass beide Auslegungen durch das Mittelalter einflussreich blieben. Gregors Auslegung lebte vor allem durch die Sentenzen von Petrus Lombardus weiter. Lombardus schildert die Stufen von Sünde, nämlich Vorschlag, erste Bewegung, propassio, Lust am Denken und schließlich Zustimmung, als quantitative und zugleich qualitative Steigerungen der Sünde18. So interpretiert Lombardus Augustin auf moderat gregorianische Weise. Während Augustin eine relativ klare Unterscheidung zwischen bloßer Wahrnehmung und willentlicher Zustimmung macht und erst das Letztgenannte ohne Zweifel als Sünde bezeichnet, empfindet Lombardus jede positive Reaktion bei jeder steigenden Stufe der sündhaften Überlegung schon als lässliche Sünde. So denken auch viele andere Frühscholastiker, zum Beispiel Hugo von St. Viktor, der sagen kann, die ungewollte sexuelle Lust sei Strafe für die Seele und als solche eine lässliche Sünde. Odo von Soisson sagt, dass titillatio oder propassio eine lässliche Sünde sei. Die stoische und die gregorianische Auslegung der Konkupiszenz wurden im 12. und 13. Jahrhundert kontrovers diskutiert und es entstanden Positionen, die einen Mittelweg zwischen beiden zu finden versuchten. Die graduelle Steigerung der Sündhaftigkeit im Prozess des Erkennens und Wollens kann leicht als solcher Mittelweg verstanden werden. Zu diesen Mittelwegen kann vielleicht auch die Aussage des Thomas von Aquin gerechnet werden, der zufolge die erste Bewegung in die falsche Richtung schon eine
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So KNUUTTILA: Emotions, S. 172–174 im Anschluss an Gregors Brief in: Beda, Hist. eccl. 1.27.9 und im weiteren KNUUTTILA ebd. S. 181–184. 18 KNUUTTILA: Emotions, S. 181f. im Anschluss an Sent. II.24.6-12, II.33.5.5. Hier begründet Lombardus wiederum seine Meinung mit Augustinus-Zitaten. – In gewissem Sinne läuft diese Auslegungsgeschichte parallel zu dem Sachverhalt, der vom Ökumenischen Arbeitskreis (Schneider und Wenz [wie Anm. 3], S. 426f.) als „ambivalente Tradition“ der Augustinus-Rezeption bezeichnet wird.
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lässliche Sünde deswegen ist, weil der Wille sie indirekt hätte verhindern können19. Im Spätmittelalter konnte die gregorianische Variante von Petrus Lombardus in den vielen Sentenzenkommentaren weiter entfaltet werden. Die stoische Variante war ebenfalls einflussreich, wie zum Beispiel der viel gebrauchte Ethikkommentar von Johannes Buridan zeigt20. Buridan unterscheidet zwischen drei grundsätzlichen Stufen oder Akten bei der Entstehung einer gewollten Handlung. Der erste Akt des Willens ist der Akt des Gefallens oder Missfallens (complacentia, displicentia), der infolge eines unmittelbaren Erkenntnisurteils in der Seele entsteht. Ein Urteil über die Güte oder Schlechtigkeit des Objektes bedeutet, dass das Objekt „sub ratione boni“ (vel mali) gesehen wird. Dieses Urteil ruft zuerst ein Gefallen oder Missfallen am Objekt auf Seiten des Willens hervor. Der erste Akt entsteht somit als unmittelbarer Eindruck eines Objekts. Der Wille ist jedoch noch nicht durch diesen passiven Eindruck bzw. durch das bloße Erkenntnisurteil bestimmt. Es ist im weiteren auch möglich, dass dasselbe Objekt unter verschiedenen Hinsichten verschiedene und widersprüchliche Urteile, also sowohl Gefallen als auch Missfallen hervorruft21. Auf diese Weise ist der erste Akt der stoischen propassio ähnlich: er vermittelt dem Willen die ersten Eindrücke eines Gefallens bzw. Missfallens. Der zweite Akt des Willens ist ein Akt der Annahme oder Zurückweisung (actus acceptationis, refutationis). Die Freiheit des Willens bezieht sich primär auf diesen zweiten Akt, der ein Antrieb zum dritten Akt der eigentlichen Handlung, also etwas zu verfolgen oder zu unterlassen (prosequendum vel fugiendum) ist. Der Wille kann nicht gleichzeitig etwas annehmen und zurückweisen, sondern er muss zwischen den unvereinbaren Alternativen wählen. Buridans differenzierte Handlungstheorie beinhaltet auch weitere Rahmenbedingungen, zum Beispiel (a) dass unter Umständen eine Verzögerung des zweiten Aktes möglich ist, (b) dass der zweite Akt wenigstens teilweise dem ersten Akt folgen muss und (c) dass der Wille
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So KNUUTTILA: Emotions, S. 181–192. Textbelege: Hugo von St. Viktor, De sacramentis, PL 176, 315C–316A, 391B; Odo von Soisson, in: Analecta novissima spicilegii Solesmensis, ed. J.B. Pitra, altera continuatio, ii, Paris 1888, S. 183–184; Thomas von Aquin, De veritate 25.5, ad 5, ad 6. 20 Für das Folgende vgl. RISTO S AARINEN: Weakness of the Will in Medieval Thought: From Augustine to Buridan, Leiden 1994, S. 161–187. Neuere Literatur wird z.B. von J ACK ZUPKO: John Buridan, Notre Dame 2003, bes. S. 243–270 diskutiert. Die deutsche Terminologie folgt GERHARD KRIEGER: Der Begriff der praktischen Vernunft nach Johannes Buridan, Münster 1986. 21 Johannes Buridanus, Questiones super decem libros Ethicorum, Paris 1513, Nachdruck Frankfurt 1968, fol. 41 va-42va (III q3). SAARINEN: Weakness, S. 169–171.
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nicht unmittelbar gegen die praktische Vernunft handeln kann22. Für unsere Betrachtung ist es ausreichend zu konstatieren, dass der zweite Akt mit dem stoischen Akt der Zustimmung äquivalent ist. So verbindet Buridans Handlungstheorie, wie die Buridan-Forscher im Detail gezeigt haben23, stoisches und augustinisches Gedankengut mit thomanischer und zugleich skotistischer Analyse der Willensfreiheit. Im Rahmen unserer Fragestellung ist Buridan ein Vertreter der stoischen Variante der Konkupiszenz-Theorie. Die Emotion ruft einen ersten Akt des Willens hervor, aber man ist nicht für diesen Akt des Gefallens oder Missfallens eigentlich verantwortlich. Erst der zweite Akt der Zustimmung ist ein freier Akt des Willens im moralischen Sinn. Buridans Ethikkommentar vermeidet theologische Begriffe wie „Sünde“, aber die Erfurter Lehrer Luthers verbinden Buridans Analyse mit der moraltheologischen Beurteilung der Sünde.
3. Wille und Konkupiszenz bei den Erfurter Lehrern Luthers In seiner Parvulus philosophiae naturalis präsentiert Bartholomäus Arnoldi von Usingen Buridans Theorie auf eine vereinfachte Weise. Usingen zufolge sündigt man nicht im ersten Akt des Gefallens oder Missfallens, weil der Wille in Bezug auf seinen ersten Akt nicht frei ist. So lehrt nach Usingen auch die katholische Sprechweise, der Augustinus folgt24.Erst im zweiten Akt der Annahme oder Zurückweisung sei der Wille frei und moralisch verantwortlich. Usingen skizziert an dieser Stelle eine Interpretation der Freiheit, die auch Buridans viel diskutierte Einsicht von der Freiheit als Verzögerung des Willensaktes enthält25. 22
Buridan 1513, 41va-42va; SAARINEN: Weakness, S. 169–171; ZUPKO: John Buridan, S. 252f. 23 KRIEGER: Begriff (wie Anm. 20); ZUPKO: John Buridan (wie Anm. 20). 24 Usingen, Parvulus philosophie naturalis, Leipzig 1497, fol. 63v: „Primi sunt complacentia et displicentia, in quibus voluntas non est libera, sed per modum naturalis necessitatis format tales, ut presentato voluntati obiecto delectabili cognito tali velit, nolit, elicit actum complacentie. Similiter presentato tristi et difformi ac despecto elicit displicentiam. Quare in illis actibus non peccat, cum non sit libera in eis, sed actus peccaminosus sive moraliter, sive catholice loquendo procedit a libero arbitrio inquantum tali, ut habet videri alibi. Et secundum augustinum peccatum adeo liberum est, quod, si non libere fieret, peccatum non esset.“ 25 In der Buridan-Forschung herrscht gewisse Unklarheit darüber, ob dieses Freiheitsverständnis Buridans mehr skotistisch-voluntaristisch (so KRIEGER: Begriff [wie Anm. 20] und SAARINEN: Weakness [wie Anm. 20]) oder intellektualistisch-thomistisch (so ZUPKO: John Buridan [wie Anm. 20]) veranlagt ist. Jedenfalls deuten Usingen und Trutfetter Buridans Einsichten hier auf voluntaristisch-skotistische Weise. Auch Luthers Allergie gegen „pelagianische“ Scholastik wäre als Kampf gegen solchen Voluntarismus
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Nach Usingens Interpretation ist der Wille frei in seinem zweiten Akt, aber dann auf eine bestimmte Weise. Der Wille ist frei in Bezug auf kontradiktorische Gegensätze, aber nicht hinsichtlich konträrer Gegensätze. Nach Usingens Gedankengang besteht ein kontradiktorischer Gegensatz im zweiten Willensakt zwischen velle und non velle, ein konträrer Gegensatz aber zwischen velle und nolle. Der Wille ist also frei, etwas zu wählen oder seine Wahl zu unterlassen. Es wird vorausgesetzt, dass der Gegenstand der Wahl dem Willen in seinem ersten Akt gefällt, also dass er im Erkenntnisurteil „sub ratione boni“ präsentiert wird. Der Wille kann nur Gutes wählen, aber er kann auch seinen Akt suspendieren (non velle) und dadurch den Sachverhalt weiter untersuchen und seine Freiheit auf die Probe stellen. Der Wille kann aber nicht etwas Schlechtes wollen oder etwas Gutes direkt zurückweisen26. Die Sündenlehre wird an dieser Stelle nicht eigens thematisiert, aber es ist offenbar, dass man in Buridans Theorie auf verschiedene Weisen sündigen kann. Erstens kann eine allzu lange Verzögerung im Zustand des non velle sündhaft sein. Zweitens kann auch die schlechte Alternative durchaus dem Willen sub ratione boni präsentiert werden, nämlich unter dem Aspekt des Genusses, der im Erkenntnisurteil als gut erscheint. Drittens ist die Sünde zumeist mit gewisser Ignoranz verbunden, und zwar so, dass das Subjekt einige Gesichtspunkte vernachlässigt. Bei Buridan ist dieser dritte Aspekt notwendigerweise anwesend, während bei Usingen die Einsicht, dass der Wille einfach „um seine Freiheit auf die Probe zu stellen“ (propter experiri suam libertatem) im Zustand von non velle bleiben kann, sogar die Möglichkeit der völlig bewussten und erkannten Sünden zu ermöglichen scheint. In seinem Compendium naturalis philosophie verbindet Usingen die aristotelisch-augustinische Sicht von der Konkupiszenz explizit mit der m.E. am besten verstehbar. So auch T HEODOR DIETER: Der junge Luther und Aristoteles, Berlin 2001, S. 225–228. 26 Ibid. „Secundi sunt, qui sequuntur primos, et tales sunt duplices, scilicet contrarii et contradictorii. Contrarii stet ut velle, nolle; acceptare, refurare. Et in illis ambobus voluntas non est libera circa idem obiectum, cum non possit idem velle et nolle, acceptare et refutare. Non enim potest bonum cognitum tale nolle vel refutare. Nec malum, ut sic acceptare et velle, quia nihil acceptat et vult, nisi sub ratione boni, quia bonum vel apparens tale est obiectum volitionis et acceptationis. Et nihil refutat, nisi appareat malum. Sed est libera in altero, tamen ut circa apparens bonum in velle et acceptare. Posset enim non acceptare, sed suspendere actum suum. Et circa apparens malum libera est in nolle et refutare simili modo, secundum quod communiter loquuntur philosophi. Sed contradictorii sunt: velle, non velle; refutare, non refutare; acceptare, non acceptare. Et in illis actibus ambobus est libera circa obiectum proportionatum, ut circa bonum cognitum tale est libera in velle et non velle, quia potest suspendere actum suum propter melius deliberare et inquirere de bonitate, vel propter experiri suam libertatem.“ – Für die handlungstheoretische Rolle von non velle bei Buridan, siehe SAARINEN: Weakness, S. 161–172.
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Willenstheorie Buridans. Als Teil der wahrnehmende Seele lädt der lusterregende (concupiscibilis) Appetitus das Subjekt ein, dem Guten des Genusses (bonum delectabile) zu folgen. Im Willen entsteht dementsprechend ein erster Akt des Gefallens, der noch keine Sünde ist27. Im zweiten Akt ist der Wille aber frei in seiner Möglichkeit, den Willensakt hervorzubringen oder ihn zu suspendieren28. Usingens buridanische Willenstheorie war in Erfurt umstritten, aber auch ihre Gegner gaben zu, dass sie eine mehr anerkannte Lehrmeinung war als etwa die Willenslehre Ockhams. So schildert nämlich Jodokus Trutfetter in seiner Summa in totam physicen die Erfurter Diskussionslage. In diesem Werk gibt Trutfetter zuerst die buridanische Theorie extensiv wieder, fügt aber dann hinzu, dass Ockham und Biel den Willen auf andere Weise konzipiert haben29. Wir folgen jedoch Trutfetters Analyse nicht weiter. Meine Absicht beschränkt sich darauf nachzuweisen, dass die stoische Variante von Augustins Sündenverständnis durch die Vermittlung von Buridan und Usingen eine opinio communis in Erfurt zu Luthers Zeiten 27
Compendium naturalis philosophie, Erfurt 1507, fol. Miiii r: „[Appetitus sensitivus] concupiscibilis est secundum quem animal fertur in bonum delectabile ipsum consequendo. ... [Actus voluntatis] primi sunt complacentia et displicentia, in quibus voluntas non est libera, quam velit, nolit obiectum delectabile placet et triste displicet, quare in illis actibus non est peccatum.“ 28 Miiii v: „Secundi sunt duplices, scilicet contrarii sunt velle et nolle, acceptare et refutare. Et voluntas in altero istorum tamen libera est, quia bonum libere vult, sed non potest ipsum nolle. Et malum libere refutat, sed non potest acceptare sub ratione mali. Contradictorium sunt velle et non velle, acceptare et non acceptare, refutare et non refutare. Et in illis ambobus est libera, quia potest suspendere actum suum, vel propter experiri suam libertatem, vel propter melius deliberare de bonitia vel malitia obiecti.“ 29 Trutfetter, Summa in totam physicen, fol. Gg 2v-3r (Quid obiectum voluntatis): „Licet frequentior et communior sit opinio, quod obiectum voluntatis sit bonum, verum vel apparens, sic quod voluntas non possit velle illud, in quo nulla apparet intellectui ratio bonitatis, et ita suo modo nec nolle illud, in quo nulla apparet ratio malitie vel fugabilitatis. Licet possit actum suum suspendere non volendo aut non nolendo, ut prius fiat inquisitio, si apparenti bonitati sit annexa malitia aliqui, vel malitie bonitas. Quia id, quod aliquod apparet malum, potest velle et ita nolle, quod aliquod apparet bonum (Verbi gratia: adulterium potest velle ratione delectationis et nolle ipsum ratione inhonestatis.) Atque hinc voluntas nihil possit velle aut nolle contra totale iuditium intellectus, licet bene partiale. Nec velle malum sub ratione mali, nec nolle bonum sub ratione boni, licet id, quod prima facie apparet bonum, possit non velle, nec secundo id quod prima facie apparet malum non nolle, aut illud, in quo simul apparent rationes boni et mali, velle et nolle. Secundum quod etiam communiter dicitur, voluntatem esse liberam in actibus contradictoriis (quales sunt velle: non velle, nolle: non nolle), sed non contrariis (ut puta his: velle: nolle, acceptare: refutare). Tamen Guilhelmus q. 13 lib 3. (et post eum Gabriel dist. 43 lib. 2 eiusdem memit) probabiliter tenet et probare contendit quod obiectum voluntatis non sit bonum sed ens in genere ...“ – Für die buridanische Terminologie in diesem Passus, vgl. SAARINEN: Weakness (wie Anm. 20), S. 166–172.
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war. Die vielen Qualifikationen und persönlichen Lehrmeinungen in Bezug auf die Willensfreiheit sollten in einer anderen Studie untersucht werden.30 Für das Verständnis von Luthers Klostertheologie ist ein weiterer Aspekt der Willenstheorie Buridans von Bedeutung. Was bleibt vom ersten Willensakt des Gefallens oder Missfallens übrig, wenn der zweite Akt der Zustimmung oder Zurückweisung die freie Handlung beginnt? Diese Frage wird bei Buridan anhand der aristotelischen Analyse von Willensstärke bzw. Willensschwäche beantwortet. Bei Aristoteles handelt der gute Mensch gut, ohne innere Motivkonflikte. Aristoteles kennt aber auch die Phänomene der Willensstärke (enkrateia, continentia), in der der Mensch gut handelt, obwohl die schlechten Impulse latent wirksam bleiben, sowie der Willensschwäche (akrasia, incontinentia), in der der Mensch trotz seiner guten Absichten schlecht handelt31. In Buridans Analyse bleiben die konträren appetitiven Kräfte, also die ersten Willensakte des Gefallens und Missfallens, in den akratischen und enkratischen Menschen latent wirksam. Willensschwäche und Willensstärke sind somit mit den Situationen verbunden, in denen das Objekt sowohl etwas Gutes als auch etwas Schlechtes enthält und so sub ratione boni et mali im Erkenntnisurteil erscheint32. Usingen behandelt solche Konfliktsituationen in seinem Exercitium de anima, indem er die Frage behandelt, ob konträre appetitive Kräfte im gleichen Seelenteil wirksam sein können33. Nach Usingens Antwort ist dies nicht der Fall. Der aristotelische Fall des sogenannten gemischten Willens, zum Beispiel von einem Seemann, der im Sturm seine wertvolle Last ins Meer senkt um zu überleben, ist kein solcher Fall. Dieser Fall stellt nur eine komplizierte Entscheidungssituation dar, in dem der Wille letzten Endes doch willentlich die Entscheidung trifft34. Im Fall der Willensstärke und Willensschwäche bleiben zwar konträre appetitive Kräfte wirksam, aber sie betreffen unterschiedliche Seelenteile so, dass der Konflikt zwischen Vernunft und lusterregender Tierseele (appetitus sensibilis concupiscibilis) stattfindet. Bei den enkratischen Menschen siegt die Vernunft über das Lustprinzip, obwohl das letztere latent in der Seele bleibt. Bei den akratischen Menschen wächst aber der erste Akt von titillatio und passio dermaßen gewaltig, dass die Wahrnehmung der 30
Dr. Pekka Kärkkäinen in Helsinki, dem ich für die Bereitstellung vieler Texte danke, beschäftigt sich zur Zeit mit der philosophischen Psychologie in Erfurt. 31 Vgl. Aristoteles, Eth.Nic. VII und SAARINEN: Weakness (wie Anm. 20). 32 SAARINEN: Weakness, S. 173–174. 33 Usingen, Exercitium de anima, Erfurt 1507, P4r: „Utrum in eodem animali appetitus sit contrarius appetitivi.“ 34 Ibid., P4v. Vgl. Eth.Nic III,1 (1110a1-19: Hier spricht die lateinische Übersetzung von Taten und Willensakten, die „mixta“ sind.)
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Lust mächtiger als die Vernunftseele wird und so die schlechte Handlung verursacht35. An dieser Stelle folgt Usingen übrigens nicht nur Buridan, sondern darüber hinaus auch dem Exercitium librorum de Anima von Johannes de Lutrea, Domprediger von Mainz, dessen Bücher in Erfurt gedruckt und benutzt wurden36. Für uns wichtig ist allerdings, dass die stoisch-buridanische Unterscheidung zwischen dem ersten und dem zweiten Willensakt nicht nur hinsichtlich der Entstehung des konkreten Handelns interessant ist, sondern auch für die Analyse des enkratischen bzw. akratischen Konflikts zwischen Konkupiszenz und Vernunft während und nach der vollzogenen Handlung benutzt wird. Wenn der erste Akt des Willens keine Sünde enthält, wie Usingen lehrt, können wir sagen, dass der enkratische Mensch trotz der bleibenden Konkupiszenz nicht sündigt, weil der zweite und eigentlich moralische und freie Akt des Willens das Gute wählt. Auf diese buridanische Weise kann die stoische Variante der augustinischen Sündenlehre mit der aristotelischen Lehre von der Willensstärke begrifflich verbunden werden.
4. Luthers frühe Auslegungen von Römer 7 (1515–1521) Um die Relevanz dieser „Zwischenstationen“ für Luther zu zeigen, werden im Folgenden seine frühen Auslegungen von Römer 7 von 1515 bis 1521 kurz kommentiert. In diesen Auslegungen, die eigentlich noch zu Luthers Klostertheologie gehören, kommen seine Einsichten vom bleibenden Sün-
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Ibid., Q1r: „Continentes, qui operantur bona, sed cum luctu et renitentia propterea, quod sensualitas non est omnino rationi subiecta. Vincit tamen ratio sensum atque debellat et in illis appetitus sensitivus contrariatur intellectivo. Incontinentes, qui operantur mala cum luctu et resistentia propterea, quod ratio non est omnino suppressa atque sensualitati subiecta. Vincit tamen sensualitas rationem in surgentibus passionibus in appetitu sensitivo. Iudicat enim incontinens non esse fornicandum, dum non pulsatur passione at titillatione et pruritus passione insurgente tradit arma duciturque fune veneris ad clinopalim, sicut thaurus imolandus ad victimam, et in illis etiam est contrarietas appetituum.“ 36 Joannes de Lutrea, Exercitium librorum de anima, Erfurt 1482, 71r-v: „Quidam sunt continentes et sunt illi, qui operantur bona cum luctu et resistentia. Quia in illis hominibus sensualitas non est omnino depressa, nec etiam appetitus sensitivus est omnino subiectus rationi, nihilo minus tamen habet dominium et vincit iudicium sensus. Et in illis appetitus sensitivus est contrarius appetitivi intellectivo. Quidam sunt incontinentes et sunt, qui operantur mala cum luctu et resistentia. In illis etiam appetitus sensitivus et intellectivus contrariantur, quia in illis ratio omnino non est simpliciter depressa, nihilominus sensualitas vincit rationem, et ibi etiam appetitus est contrarius appetitivi.“
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der-Sein des Christen auf paradigmatische Weise zum Vorschein37. Drei weitere Gründe haben diese Textwahl motiviert. Erstens, weil der Apostel in Römer 7 behauptet, das Gute zu wollen, braucht die äußerst komplizierte Frage nicht diskutiert werden, ob der Gegenstand des menschlichen Wollens überhaupt das Gute ist38. Zweitens kann ein besseres Verständnis dieser Luthertexte für die Geschichte der Exegese interessant sein39. Drittens ist für unsere breitere Fragestellung wichtig, wie Luthers „gerecht und Sünder zugleich“ auf dem Weg der Ökumene fruchtbar oder wenigstens verständlich gemacht werden kann (Abschnitt 6 unten). Bekanntlich versteht Luther, im Anschluss an den antipelagianischen Augustin, das „ich“ von Römer 7 als Apostel Paulus. Er lehnt ausdrücklich die Möglichkeit ab, dass dieser „ich“ auf den jüdischen Saulus bzw. den vorchristlichen Menschen hinweisen könnte40. Wegen dieser Grundentscheidung ist es Luther möglich zu konstatieren, dass der exemplarische Christ, Paulus, nicht ohne Sünde ist. Die Grundentscheidung legt es auch nahe, Römer 7 so zu interpretieren, dass der Apostel die guten Werke nicht hervorbringen kann, obwohl er sie innerlich will. Diese Interpretation lässt Luther allerdings nicht zu. Paulus will mit dem ganzen Willen das Gute, aber wegen des fleischlichen Widerstands kann er nicht mit derselben Leichtigkeit und Spontaneität das Gute verwirklichen, wie er es in seinem inneren Willen wünscht. So kann der Apostel zwar Gutes tun, aber nicht auf vollendete Weise. Diesen Gedankengang Luthers hat schon Rudolf Hermann exemplarisch herausgearbeitet. Hermann betont: „Es fehlt also offenbar nicht an Werken. Sie kommen auch aus einem gereinigten Herzen. Es fehlt ihnen nur das eine, dass der gute Wille nicht zur Vollendung gediehen ist.“41 So bewegt sich Luthers Auslegung zwischen zwei Polen: einerseits will er sagen, dass sogar der exemplarische Christ Paulus gerecht und Sünder zugleich ist. Andererseits sagt Luther „mit erfreulicher Klarheit, dass der Apostel keineswegs von sich behaupte, er tue alles Schlechte und gar kein
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Für das Gesamtbild vgl. PESCH: Simul iustus et peccator (wie Anm. 3) und die darin angeführte Literatur. Die folgende sehr begrenzte Textwahl will eigentlich nur den Zusammenhang mit den „zwei Varianten“ der Sündenlehre Augustins belegen. 38 Zu dieser Frage und anderen grundsätzlichen theologisch-ethischen Fragen bei Luther, vgl. ANTTI RAUNIO: Summe des christlichen Lebens, Mainz 2001. 39 Für diese Problematik vgl. SAARINEN: The Pauline Luther (wie Anm. 1). 40 WA 56, S. 339,4-8. Die Erwähnung zeigt jedoch, dass die Möglichkeit anderer Auslegungen zu Luthers Zeit bekannt war. 41 RUDOLF HERMANN: Luthers These „Gerecht und Sünder zugleich“, Gütersloh 1960 (1. Aufl. 1930), S. 189; vgl. WA 56, S. 341,27-33 und Pesch: Simul iustus et peccator (wie Anm. 3), S. 150–153. Trotz vieler neuerer Arbeiten bleibt Hermanns Analyse m.E. bei vielen Luther-Stellen die meist nuancierte Interpretation.
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Gutes.“42 Der Sünder Paulus kann also äußerlich gute Werke hervorbringen; darüber hinaus hat der Apostel auch den guten Willen, den Hermann mit dem gereinigten Herz gleichsetzt. Auf dem Weg vom guten Willen zur vollzogenen Handlung geschieht aber etwas, was das endgültige facere so beeinflusst, dass das Werk als Ganzes der ursprünglichen guten Intention nicht entspricht, obwohl das vollzogene Werk des Paulus keine Tatsünde ist. Zwischen 1515 und 1521 präsentiert Luther diese Analyse von Römer 7 wenigstens viermal, zuletzt sehr ausführlich in der Kampfschrift gegen Latomus43. Jedes Mal identifiziert er sorgfältig das sündhafte Moment, das die Handlungen von Paulus so kontaminiert, dass sie seinem guten Willen nicht entsprechen. Es geht um „adversa concupiscentia“, die eine fleischliche „resistentia“ ist44. Öfters wird diese sündhafte Wirklichkeit als „repugnantia“ bzw. „repugnare legi dei“ bezeichnet, die nichts anderes als Sünde und Laster ist45. In den Vorbereitungen zur Heidelberger Disputation gebraucht Luther scholastische Terminologie, um die Sachlage zu beleuchten: diese sündhafte Wirklichkeit ist „quaedam ... noluntas“, ein „contrarium“ zum guten Willen. Die konträren Willensakte bilden zusammen einen gemischten (mixta) Willen, die keine voluntas tota sein kann46. In der Latomusschrift spricht Luther von einem partialen Willen, der eine partiale Zustimmung und eine partiale oder geteilte Handlung hervorbringt. So setzt er die augustinische und aristotelische Sprechweise von dem gemischten oder partialen Willen auf originale Weise fort47. Jedes Mal geht es Luther darum zu zeigen, dass auch die besten Christen in ihren guten Taten sündigen. In der Heidelberger Disputation spricht er sogar davon, dass der Christ auch „zwischen“ den guten Taten sündigt, weil der Wille ununterbrochen im „gemischten“ Zustand bleibt48. Es ist aber wichtig zu sehen, dass die paradoxen Züge dieser Sprechweise nicht dadurch entstehen, dass der Christ einfach gegen seine gute Intention han42
HERMANN: Luthers These, S. 189. WA 56, bes. S. 340–342 (Römerbriefvorlesung); WA 1, S. 367,15-27 (Vorbereitung auf Heidelberger Disputation, 1518); WA 2, S. 412,13-20 (Resolutiones, 1519); WA 8, S. 99–126, bes. 120,31–126,14 [LDStA 2, S. 324–392, bes. 378,19–392,26] (gegen Latomus). 44 WA 56, S. 342,13-19. 45 WA 56, S. 341,27-33; WA 2, S. 412,13-20. 46 WA 1, S. 367,18-21, 24-27. Vgl. StA 1, 190,11–191,6 und zur Textgeschichte ebd. 186–189. 47 WA 8, S. 120,33-36. Für voluntas non tota und ähnliche Formulierungen in der Tradition, vgl. SAARINEN: Weakness (wie Anm. 20), S. 20–86 und neulich ANDREA RUBIGLIO: L’impossibile volere, Milano 2002. 48 WA 1, S. 367,2, 24: „mixta enim sunt haec duo [velle, nolle] in omni vita et opere nostro.“ 43
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deln würde. Luthers Exegese von Römer 7 will beweisen, dass das „facere“ des Apostels seinem guten Willen nicht entspricht, obwohl es nicht an entsprechenden guten Werken fehlt. Paulus hat den guten Willen und er tut gute Werke, aber trotzdem erfährt er, dass etwas in diesem facere fehlt und dass er deswegen ununterbrochen ein Sünder bleibt. Das Paradox ist also darin zu finden, dass der Apostel sowohl innerlich als auch äußerlich ein „Gerechter“ ist, aber nichtsdestoweniger ein Sünder bleibt. Luthers Verständnis von Römer 7 kann nicht einfach auf scholastische Denkmodelle reduziert werden, weil die paradoxe Gleichzeitigkeit der konträren Gegensätze schließlich theologisch-biblisch, als Gegensatz von Fleisch und Geist, begründet wird. Einige Vergleiche mit den mittelalterlichen Modellen können aber seine Position vor dem Hintergrund der Erfurter Universitätslehrer erhellen. Im Rahmen der aristotelischen Tugendlehre ist ein so verstandener Paulus kein Beispiel für die Tugend, weil der innere Motivkonflikt in ihm wirksam bleibt. Wegen seines äußerlich guten Verhaltens ist Paulus aber auch kein Beispiel für die Willensschwäche, obwohl Römer 7 im ersten Blick eine Beschreibung von akrasia zu sein scheint. Im aristotelischen Sinne stellt Luthers Auslegung von Römer 7 eigentlich eine Beschreibung von enkrateia, Willensstärke, dar. Paulus hat den guten Willen und er handelt auch gut, aber mit innerem Widerstand und bei bleibendem Motivkonflikt. Seine Introspektion ist der aristotelischen Willensstärke ähnlich, weil auch der enkratische Mensch bei Aristoteles trotz schlechter Affekte gut handelt (Eth.Nic. 1151a25-32). Doch könnte ein wirklicher Aristoteliker kaum sagen, „quod nolo illud facio“ sei eine Beschreibung von enkrateia. Luthers Auslegung geht über das aristotelische Tugendschema hinaus. Sie ist vor allem von dem theologischen Erkenntnisinteresse geleitet, das Paulus sowohl als exemplarischen Christen als auch als Sünder verstehen will. Wie schon der Anmerkungsteil der Weimarer Ausgabe von Luthers Römerbriefvorlesung erwähnt, hat Luthers Auslegung von Römer 7 terminologische Ähnlichkeiten mit Usingens Diskussion von „appetitus contrarii“49. Die stoisch-buridanische Auslegung von Augustins Sündenlehre ist für das Verständnis dieser Ähnlichkeiten von großer Bedeutung. Usingen benutzt Johannes Buridans Willenstheorie, bei der die Zustimmung im sogenannten zweiten Willensakt den moralischen Wert der Handlung festlegt, während der erste emotive Eindruck moralisch unbedeutsam ist. Deswegen ist bei den Erfurter Lehrern Luthers das bloße Vorhandensein der Konkupiszenz noch keine Sünde. 49
WA 56, S. 351, Anm. zu Z. 23.
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Luther will aber die sogenannte gregorianische Variante der augustinischen Theorie bejahen, der gemäß die ungewollte Entstehung und das Vorhandensein einer schlechten Emotion schon sündhaft ist. Diese Variante war durch das Mittelalter wirksam, aber zumeist in moderierten Fassungen. Petrus Lombardus’ oben erwähnte Theorie von den verschiedenen steigenden Stufen der Sünde kann als typische moderierte Fassung der gregorianischen Variante verstanden werden. Luther will aber die gregorianische Augustindeutung radikalisieren. Das Vorhandensein der Konkupiszenz macht schon die Person zu einem Sünder, weil sie „in omni vita et opere nostro“50 die Vollkommenheit des Willensaktes, der Zustimmung und der guten Handlung in Frage stellt und so sogar den besten Christenmenschen stets als unvollkommene Person erscheinen lässt. Im Rahmen der mittelalterlichen Diskussion kann Luthers simul iustus et peccator als Radikalisierung der gregorianischen Variante der augustinischen Sündenlehre verstanden werden. An dieser Stelle sei kurz bemerkt, dass die Rolle und der Stellenwert des Begriffes „Zustimmung“ bei Luther komplex ist. Seit Rudolf Hermanns Studien haben die Lutherforscher gewusst, dass Luther Ausdrücken wie „non consentire peccato“ große Bedeutung beimisst51. Möglicherweise nimmt der Reformator durch seinen sorgfältigen Gebrauch dieser Ausdrücke nicht nur zum augustinischen Gedankengut Stellung, sondern darüber hinaus auch zu den spätscholastischen Theorien von non velle. Dieser Vermutung kann nicht jetzt weiter gefolgt werden52. Unabhängig von dieser Vermutung gilt aber, dass auch nach der Radikalisierung der augustinischen Hamartiologie die menschliche Zustimmung zur Sünde ein wichtiger Gedanke bei Luther bleibt. Die Tatsache, dass das Vorhandensein der Konkupiszenz und des fleischlichen Widerstands den Christen schon zum Sünder macht, vermindert nicht die Wichtigkeit der verantwortlichen Lebensführung, auf die mit den Begriffen „Zustimmung“ bzw. „Nicht-Zustimmung“ hingewiesen wird. Die lutherische Kritik an dem stoischen und 50
WA 1, S. 367,24 (vgl. oben). Vgl. HERMANN: Luthers These (wie Anm. 41), S. 155–233. 52 Anhand des neuen Sachregisters zu WA wäre es möglich, die alten Ergebnisse von HERMANN: Luthers These, und MARTIN SEILS: Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, Gütersloh 1962, hinsichtlich des consensus-Begriffes zu überprüfen und mit spätmittelalterlichen Autoren zu vergleichen. Für die Hintergründe von Buridans non velle als Entschluss des Willens, vgl. ZUPKO: John Buridan (wie Anm. 20), S. 251–260 und R ISTO SAARINEN: The Parts of Prudence: Buridan, Odonis, Aquinas, in: Dialogue. Canadian Philosophical Review 42 (2003), S. 749–766. Die Ausdehnung der akrasia-Diskussion bis zur Reformation habe ich neulich untersucht in: R ISTO S AARINEN: Weakness of Will in the Renaissance and the Reformation, in: Tobias Hoffmann, Jörn Müller, Matthias Perkams (Hg.): Das Problem der Willensschwäche in der mittelalterlichen Philosophie, Leuven 2006, S. 331–353. 51
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später tridentinischen Verständnis von der menschlichen Zustimmung bedeutet also keineswegs, dass die mit diesem Begriff ausgedrückte persönliche Verantwortlichkeit des menschlichen Tuns verneint würde.
5. Die Annäherung zwischen Karlstadt und Eck in Leipzig 1519 Luthers Auslegung von Römer 7 war am Anfang der Reformation gut bekannt und wurde ausführlich diskutiert, wie vor allem die Leipziger Disputation von 1519 zeigt. In seiner zweiten Disputationsthese vertritt Luther die Meinung, dass man auch in guten Werken sündigt, wie Paulus sagt53. In seinen späteren Resolutiones legt er die These näher aus54, aber in der eigentlichen Disputation mit Eck sagt er, dass er die nähere Verteidigung dieser These Andreas Karlstadt überlasse55. Johann Eck wiederum bestreitet in seiner zweiten These die Meinung Luthers56. In der Leipziger Disputation wird diese Kontroversfrage tatsächlich zwischen Karlstadt und Eck diskutiert57. Karlstadt wiederholt die Auslegung Luthers, demgemäß die heiligen Personen den bleibenden Widerstand (repugnantia) fühlen und deswegen nicht auf vollkommene Weise das Gute wollen können. Deswegen „male faciunt“ bzw. „sündigen“ auch die Heiligen, weil sie die latenten schlechten Regungen (desideria prava) immer noch haben. Erst nach dem Tod können die Christen frei von diesen Regungen sein und auf vollkommene Weise Gutes wollen und tun58. 53
WA 2, S. 160,33-35: „In bono peccare hominem et peccatum veniale non natura sua sed Dei misericordia solum esse tale aut in puero post baptismum peccatum remanens negare, hoc est Paulum et Christum semel conculcare.“ 54 Vgl. vor allem WA 2, S. 414,13-20. 55 WA 59, S. 546, 3545–3555. Vgl. jedoch ebd. 3735–3744; 3881–3887; 4825–4831; 5179–5183. 56 WA 9, S. 208,37–209,2: „Etsi peccata venialia sint quottidiana, tamen iustum semper peccare in omni opere bono, etiam bene moriendo, negamus. Sicut erroneum dicimus iustum manente iusticia peccare posse mortaliter aut in puero post baptismum alienae voluntatis peccatum remanere.“ 57 Insbesondere im Abschnitt „Justum peccare in bonis operibus“, in: Otto Seitz (Hg.): Der authentische Text der Leipziger Disputation, Berlin 1903, S. 229–245. 58 Ebd. S. 237f.: „... Paulus Rom. 7: Video autem aliam legem in membris meis repugnantem legi mentis meae et captivantem in lege peccati, quae est in membris meis. Propter istam legem dicit Paulus, se captivum duci et eo, quo non vult, et paulo superius: Scio enim, quia non habitat in me, i.e. in carne mea, bonum: Nam velle adiacet mihi, perficere autem bonum non invenio: non enim quod volo bonum, facio. Ecce Paulus expresse dicit, quod vult bonum, vult servare mandata dei, vult mori pro Christo, ut August. exponit, sed non invenit perficere, quia renisus est voluntatis, qui refragatur bono velle. Ex quibus patet, quod sancti, dum bene volunt, nihilominus male faciunt: hoc est sentiunt
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In seiner Erläuterung dieser Frage bemerkt Eck, dass die Kirchenväter diese Frage unterschiedlich behandelt haben. Er ist sich also der komplizierten Auslegungsgeschichte der Sündenlehre (oben Abschnitt 2) voll bewusst. Seine Lehrmeinung folgt derjenigen Meinung Augustins, der zufolge das Vorhandensein der Konkupiszenz zwar vor der Taufe eine Sünde genannt werden kann, nach der Taufe aber nicht mehr59. Karlstadt erwähnt die exegetisch interessante Frage, ob Paulus zur Zeit der Verfassung des Römerbriefs getauft war. Für ihn ist die Frage allerdings bloß rhetorisch. Natürlich war der Apostel getauft, und trotzdem nennt er die bleibende Konkupiszenz Sünde. Deswegen sollen auch wir im paulinisch-biblischen Sinne die Christen als Sünder bezeichnen60. Dieser Wortwechsel macht schon relativ klar, dass beide Seiten den bleibenden Widerstand des Fleisches bei Paulus ähnlich verstehen. Beide Seiten denken, Paulus könne Gutes tun, obwohl nicht auf vollkommene Weise. Sie setzen das christliche Ich als Sprecher in Römer 7 voraus, obwohl sie auch erkennen, dass unterschiedliche Auslegungen in der Tradition vorhanden sind. Es geht bei Eck und Karlstadt eigentlich nur um die semantische Frage, ob die bleibende repugnantia als „Sünde“ bezeichnet werden kann. In seiner Schlussrede kommt Eck sogar ziemlich nahe an die Meinung Luthers und Karlstadts. Eck erwähnt, dass bei einigen Kirchenvätern an dieser Stelle entweder von einer schlechten Gewohnheit (de consuetudine peccati) die Rede sein kann, oder dass Paulus hier nicht als er selbst, sondern in der Rolle einer schwachen Person (in persona infirmorum) redet61. Er gibt schließlich auch zu, dass man von der Konkupiszenz als „Sünde“ reden kann, wenn mit solcher Rede nicht die Schuldhaftigkeit prava desideria in natura, quae desideria non auferentur, donec mortale hoc vestiverit nos; postquam autem mors absorpta fuerit in victoria, tunc erit bonum velle absque pravo desiderio, tunc erit velle et perficere ...“ 59 Ebd. S. 242: „Porro quod de lege membrorum induxit et auxilium apostoli imploravit, dico omnia apostoli adducta me libentissime credere, et propter brevitatem omitto, quam varie istud caput sit expositum per Origenem, Hieron., Augustin., Ambros., Damascenum et s. Paulinum. Tamen in praesentia accipio posteriorem sententiam Augustini, qui aliquando fuit in sententia Paulini, et tunc dico concupiscentiam illam legem membrorum, quamvis fuerit peccatum ante baptismum, tamen post baptismum non est peccatum. ... In summa dico concupiscentiam infirmitatem illam et malam valetudinem, legem membrorum, legem carnis, non esse peccatum nec mortale nec veniale, et post baptismum non originale ...“ 60 Ebd. S. 244: „Postremo rogo D.D., dicat mihi, si Paulus fuerit baptizatus, vel ne, quando ad Rom. epistolam scripsit. Si fuit baptizatus, tunc male appellavit concupiscentiam peccatum post baptismum, cum dicit: Nunc autem iam non ego operor illud, sed quod habitat in me peccatum. Testimonium est apostolicum, quod apostolus post baptismum concupiscentiam in carne sua vocavit peccatum ...“ 61 Ebd. S. 244f.
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(culpa), sondern die Strafe (poena) gemeint wird. Eine solche Redeweise kommt in der Tradition vor. Er kann ihr zustimmen, obwohl nicht in der Bedeutung von „Schuldhaftigkeit“. Eck bemerkt im weiteren, dass eine biblische Redeweise nicht allein ausreichend für eine dogmatische Beurteilung der Sachlage sei, weil die Redewendungen auch figürlich oder volkstümlich gemeint sein können62. Das Gespräch zwischen Karlstadt und Eck ist gewissermaßen ein Vorgänger späterer Diskussionen um das lutherische simul iustus et peccator. Es ist aufschlussreich zu sehen, dass die katholische Theologie gerade wegen der traditionellen Pluralität der Auslegungen von Römer 7 eine gewisse Bereitschaft zeigt, auch die „lutherische“ Position zu tolerieren. Darüber hinaus ist es wichtig zu sehen, wie beide Seiten die Nicht-Vollkommenheit des Paulus interpretieren. Paulus ist kein schwacher oder akratischer Mensch, sondern ein vorbildlicher Heiliger, der das Gute wollen und vollziehen kann, der aber trotzdem zugestehen muss, dass er die Konkupiszenz nicht gänzlich vernichten kann und deswegen unvollkommen bleibt.
6. Luther und Erfurter Klostertheologie: was kann ein Ökumeniker lernen? Unser kurzer Vergleich zwischen Luther und seinen Erfurter Lehrern und theologischen Zeitgenossen kann keine Gesamtlösung der ökumenischen Probleme um „simul iustus et peccator“ bieten, vor allem weil wir nur den begrenzten Blickwinkel von Wille und Konkupiszenz, beziehungsweise die Perspektive von Römer 7 betrachtet haben und weil wir im weiteren der theologischen Entwicklung dieses Themas nach 1521 nicht gefolgt sind. Für eine breitere ökumenische Bilanz muss auf die neuere Diskussion hingewiesen werden63. Allerdings möchte ich zum Schluss anhand meiner Ausführungen einige ökumenische Vorurteile beseitigen sowie einige ökumenische Möglichkeiten formulieren. 62
Ebd. S. 245: „Tertio dico, quod per peccatum hic intelligatur concupiscentia, tamen peccatum ibi accipitur pro poena peccati. Ut ex Augustino lib. 6 contra Julian c.5 expresse liquet et in superioribus diximus, peccatum aliquando accipi pro poena peccati, ut quando pro mortuis oramus, ut a peccatis solvantur, ... Ergo concupiscentia post baptismum peccatum dicitur, sicut scriptura alicuius dicitur eius esse manus. Quare si concupiscentiam dicitis peccatum ad modum iam declaratum, facile assentio; si autem peccatum pro culpa et reatu assumitis, manibus et pedibus renitar. Tamen addo pro corollario: Non semper licere, ut modum loquendi etiam sanctorum patrum teneamus ...“ 63 Vor allem Schneider und Wenz: Gerecht und Sünder zugleich (wie Anm. 3), S. 402–456 (abschließender Bericht des „Ökumenischen Arbeitskreises“) sowie PESCH ebd. S. 160–167 (ökumenische Interpretation von Luthers Beitrag).
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1. Die Betonung der bleibenden Sündhaftigkeit beim jungen Luther will eine Distanzierung von der stoisch-buridanischen Lehre von der moralischen Zustimmung signalisieren. Die theologische Anwendung dieser ethischen Lehre, wie sie zum Beispiel bei Usingen vorkommt, stellt eine Verharmlosung der sündhaften Eindrücke dar, indem sie meint, die ersten Bewegungen des Willens seien moralisch indifferent, weil sie außerhalb unserer Kontrolle sind. So ruft Luthers in diesem Zusammenhang ausgesprochene Formel „simul iustus et peccator“ zu einer christlichen Wachsamkeit und zur Bekämpfung der Sünde. 2. Luthers Auslegungen von Römer 7 zeigen deutlich, dass der exemplarische Christ trotz seiner Sündhaftigkeit einen guten Willen besitzt und auch Gutes tun kann, obwohl er letzten Endes immer unvollkommen bleibt sowie Gnade und Vergebung bedarf. Inhaltlich unterscheidet sich diese Beschreibung des Christ-Seins kaum von solchen Kirchenfamilien, deren theologische Sprache den freien Willen sowie die Heiligung mehr explizit bejahen als Lutheraner üblicherweise tun. Der junge Luther steht somit auch der „neuen Perspektive“ der Paulusforschung näher als manche Exegeten denken. 3. Der neue Gehorsam der Christen und ihre Verantwortung gegenüber dem Gesetz, sei es als Moralgesetz oder als Wille Gottes verstanden, braucht auch im Luthertum das theologisch-ethische Moment, das im Begriff der Zustimmung ausgedrückt wird. Häufig ist dieses Moment als Renuntiation der Sünde bzw. als Nicht-Zustimmung zum Bösen charakterisierbar. 4. Das theologische Erbe Augustins umfasst sowohl die „stoische“ als auch die „gregorianische“ Variante der Sündenlehre. Erst im Konzil von Trient erscheint die Radikalisierung der gregorianischen Variante als für das katholische Lehramt problematisch. Viele monastische Sündenlehren kommen Luther erstaunlich nahe, indem sie die ersten unkontrollierbaren Regungen als Sünde interpretieren. In diesem Sinne kann das lutherische simul iustus et peccator als Ausdruck radikalisierter monastischer Theologie verstanden werden. So bleibt die Formel innerhalb des Spektrums der Auslegungen von Sünde und Römer 7, das in der katholischen Tradition schon vor der Reformation existiert. 5. Lutherische Kirchen sollten die Willenslehre von Paulus, Augustin und Luther auf keinen Fall als unvermeidbare Willensschwäche (akrasia) interpretieren. Die Unvollkommenheit unserer guten Werke kann nicht undifferenziert als Unmöglichkeit aller menschlichen Gerechtigkeit verstanden werden. Eher lädt Luthers Auslegung von Römer 7 uns ein, unser ganzes Tun als differenzierte Einheit von inneren Affekten und äußeren Handlungsprozessen zu begreifen. In diesem ganzheitlichen „facere“ bleiben unsere Motive, Zustimmungen und Handlungsergebnisse auf komplexe
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Weise gemischt. Sowohl der partielle Erfolg als auch das partielle Scheitern unserer guten Absichten sind erkennbar. In dieser Handlungseinheit bleibt der gesamte Prozess einerseits ein Werk des Sünders. Andererseits kann er zugleich als Gesamtwerk des gerechtfertigten, glaubenden Menschen als gottgefälliges Handeln begriffen werden.
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„Allein durch den Glauben“: Antwort auf die Frage eines mittelalterlichen Mönchs oder Angebot zum Umgang mit einem Problem jedes Menschen?1 In seiner Seele kämpft, was wird und war, Ein keuchend hart verschlungen Ringerpaar. Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet – Mich wundert’s nicht, dass er Dämonen sieht!2
1. Luther zwischen Mittelalter und Neuzeit 1.1. Luther als Vorbote der Neuzeit Dieser berühmte Vers von Conrad Ferdinand Meyer gilt Luther und beschreibt ihn als Grenzgänger zwischen zwei Welten. Er fasst die Nähe und die Ferne Luthers zur eigenen Gegenwart Meyers in das Verhältnis zweier Zeiten, Mittelalter und Neuzeit treffen sich in ihm wie – die Anspielung dürfte beabsichtigt sein – im Ringen Jakobs mit Gott am Jabbok. Die Diagnose Meyers schließt ein, dass der Kampf, der sich in der Person Luthers vollzieht, entschieden ist, dass also Luther die Person ist, in der sich die Neuzeit vom Mittelalter losringt und den Sieg davonträgt – „was wird und war“ kämpft da nach Meyer, somit die Zukunft mit der Vergangenheit; und da die Zeit parteiisch ist, hat die Vergangenheit schlechte Karten. 1
Dieser Text gehört mit zwei weiteren kleinen Studien zusammen, die in nächster Zeit erscheinen werden; die erste hat den Zusammenhang von Gerichtsdarstellung und Bußsakrament im Mittelalter zum Gegenstand (NOTGER SLENCZKA: Der endgültige Schrecken. Das Jüngste Gericht und die Angst in der Religion des Mittelalters, in: Angst und Schrecken im Mittelalter, Das Mittelalter 12/1 [2007], S. 97–112), die andere die Frage nach der Einordnung der theologia crucis in die Entwicklung der Theologie Luthers (NOTGER SLENCZKA: Das Kreuz mit dem Ich, in: Klaus Grünwaldt und Udo Hahn [Hg.]: Kreuzestheologie – kontrovers und erhellend, Hannover 2007 [im Erscheinen]). 2 CONRAD FERDINAND MEYER: Huttens letzte Tage, Sämtliche Werke, München / Zürich [1965], S. 947.
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Andere, Ernst Troeltsch zum Beispiel, der in einem seiner einschlägigen Aufsätze diesen Vers Meyers auch zitiert3, verorten Luther weniger eindeutig; gewiss ein in die Zukunft weisender religiöser Aufbruch, eine Neuorientierung der Religion um das Thema der individuellen, als Geist gefassten Subjektivität herum; aber realisiert wird dieser Aufbruch unter den kulturellen, weltanschaulichen und sozialen Bedingungen des Mittelalters4. An dieser Ambivalenz Luthers als des Vorboten der Neuzeit, der doch mit beiden Beinen fest im Mittelalter steht, hat nach Troeltsch auch das Zentrum seiner Theologie, die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein aus dem Glauben teil: Gewiss, Luther sieht das Heil des Menschen nicht mehr in der objektiven, sinnlich sakramental vermittelten Gnade begründet, die objektiv, unterhalb der Bewusstseinsebene an der Seele Wirkungen hervorbringt, sondern Luther sieht, so immer noch Troeltsch, das Heil des Menschen darin begründet, dass dieser Mensch in einem unableitbaren Akt den Zuspruch der Gnade als Erschließung des Willens Gottes erfasst und aneignet. An die Stelle der heteronomen Autorität tritt der individuell und unvertretbar vollzogene Glaube, und an die Stelle kausaler Wechselwirkung zwischen Gnade und Seelensubstanz tritt die Erfassung der Religion als Kommunikation zwischen geistigen Wesen5.
1.2. Luther und das Mittelalter Diese Neuentdeckung bietet Luther, so Troeltsch weiter, allerdings auf als Antwort auf eine Frage, die den weltanschaulichen Voraussetzungen des Mittelalters verhaftet ist und bleibt: Der Protestantismus beantwortet zunächst nur die alte Frage nach der Heilsgewißheit, die die Existenz Gottes, sein ethisch-persönliches Wesen, das biblische und mittelalterliche Weltbild überhaupt voraussetzt und nur die Not zum Problem macht, wie angesichts der Verdammung aller zur Hölle durch die Erbsünde und angesichts der Schwäche und Nichtigkeit aller menschlich-kreatürlichen Kräfte die Rettung aus dem Sündengericht, die ewige Seligkeit und ein … Friede des Herzens auf Erden erreicht werden könne. Es ist
3
ERNST TROELTSCH: Luther und die moderne Welt, in: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), Berlin 2001 (Kritische Gesamtausgabe 8), S. (53) 59–97: hier S. 68. 4 Zum folgenden vgl. ERNST TROELTSCH: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt [1911], in: KGA 8 (wie Anm. 3), S. (183) 199–313; DERS: Luther (wie Anm. 3); dazu: NOTGER SLENCZKA: Luthertum und Neuzeit, in: Reinhard Rittner (Hg.): Was heißt hier lutherisch!, Hannover 2004, S. 164–192. Bes. aber KARL-HEINZ ZUR MÜHLEN: Reformatorische Vernunftkritik und neuzeitliches Denken, Tübingen 1980 (Beiträge zur historischen Theologie 59). 5 Dazu TROELTSCH: Luther (wie Anm. 3), S. 70–76.
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durch und durch die alte Frage, die durch die Erziehung des Katholizismus immer tiefer und eindrucksvoller in die Herzen geschrieben worden war.6
In der Tat ist ja diese Frage nach dem Heil und nach der Gewissheit des Heils die in den rückblickenden Selbstzeugnissen Luthers und auch in der Rezeptionsgeschichte prägende Erfahrung seiner Klosterzeit – ‚Luther im Kloster‘ ist immer der angefochtene und um Trost und Gewissheit ringende Luther, umgetrieben von der Verzweiflung angesichts des bevorstehenden Gerichtes und des befürchteten Urteils Gottes. Diese Frage, auf die hin Luther die Rechtfertigungslehre als Antwort anbietet, ist nun aber durchaus mittelalterlich, so Troeltsch; dem Mittelalter verhaftet ist die Begründung der Religion auf objektive Faktoren, die jeden subjektiven Vollzug tragen und vor allem normieren7. Mittelalterlich ist der institutionelle Kirchenbegriff und der Anspruch dieser Institution, normativ das religiöse Bewusstsein und das weltliche Leben der gesamten Gesellschaft zu bestimmen. Mittelalterlich ist der weltanschauliche Rahmen, in dem das Subjekt der wunderhaften Einwirkung gegenständlicher Instanzen ausgesetzt ist – zuhöchst dem über den Himmeln thronenden Gott, der durch das Institut der Kirche wunderhaft in der Welt präsent ist; mittelalterlich ist die dem Menschen vor jeder persönlichen Entscheidung vererbte Sündenschuld Adams, die Vorstellung eines zeitlich ausstehenden Endes der Welt und eines Gerichts, das Verdammnis oder Seligkeit zum Ergebnis hat8. Die bei Luther anhebende Subjektivierung der Frömmigkeit bleibt zunächst und bei Luther durchgängig diesem gegenständlichen weltanschaulichen Rahmen verpflichtet, eine durchaus neue Antwort auf eine alte Frage, die sie auch bald sprengt9. Soweit Troeltsch.
1.3. Die Frage Luthers Man kann nun dieses Bild des Horizontes mittelalterlicher Frömmigkeit als Verzerrung beklagen und darauf hinweisen, dass die Entgegensetzung eines objektivierenden und eines subjektiven Verständnisses des christlichen Glaubens bzw. die Gegenüberstellung einer Sakraments- und einer Glaubensreligion kategorial fragwürdig ist10 – aber es ist doch offensichtlich, dass die von Luther selbst als Zentrum seiner Theologie betrachtete Recht6
TROELTSCH: Bedeutung (wie Anm. 4), S. 234. TROELTSCH: Luther, S. 83, vgl. DERS.: Bedeutung, S. 224–232, 235f. 8 TROELTSCH: Luther, S. 86; vgl. DERS.: Art. Eschatologie IV: Dogmatisch, in: RGG1 II, Sp. 622–632, bes. Sp. 631f. 9 TROELTSCH: Bedeutung (wie Anm. 4), S. 235–247; DERS.: Luther (wie Anm. 3), S. 70–76, 83–89. 10 TROELTSCH, Luther, S. 70–76 unter dem Titel des Gegensatzes zwischen einer Glaubens- und einer Sakramentsreligion; vgl. DERS.: Bedeutung, S. 226f., 233–237. 7
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fertigungsbotschaft ohne den Horizont eines endgültigen göttlichen Gerichtes unverständlich bleibt, und es ist zumindest einzuräumen, dass die darin voraus- und mitgesetzte Frage nach der Gnade Gottes im Gericht über die Sünde zu den auf den ersten Blick eher schwer vermittelbaren Gehalten gehört, die dazu führen, dass man entweder, wie beispielsweise Peter Brunner, ein Wiedergewinnen des Gerichtshorizontes als Voraussetzung eines Verständnisses der Rechtfertigungsbotschaft betrachtet11, oder dass man, wie andere, in der mit dem Gerichtshorizont verbundenen juridischen Terminologie und ihren Vorstellungshorizonten eine Gefährdung der Rechtfertigungsbotschaft sieht und sie beispielsweise als Botschaft vom Gegebensein des Lebens reformuliert12. Das ist ja auch nicht falsch, impliziert aber doch eine Problemanzeige, die erkennen lässt, dass die Hinweise Troeltschs mit ihrer etwas vereinfachenden Terminologie nicht selbst gegenstandslos geworden sind. Das eigentliche Problem eines ernsthaften Nachvollzugs der Lehre von der Rechtfertigung des Menschen allein durch die Gnade Gottes ist der gegenständliche Rahmen von Sünde, Gericht und Verdammnis, den sie voraussetzt.
1.4. Gedankengang Ich werde im folgenden zunächst (Abschnitt 2) zeigen, dass sich nicht erst bei Luther, sondern bereits in der mittelalterlichen Theologie des Bußsakraments mit der Zentralstellung der contritio eine tiefgreifende Subjektivierung des Sakraments und der Bedingungen seiner Wirksamkeit vollzieht, angesichts derer der von Troeltsch profilierte Gegensatz von Glaubens- und Sakramentsreligion sich nicht eindeutig am Übergang zur Reformation festmachen lässt. Ich werde dann (Abschnitt 3) zeigen, dass Luthers Anfechtungserfahrung dieser Subjektivierung des Bußsakraments entspringt, dass aber andererseits seine Kritik am Ablass – jedenfalls in den Ablassthesen von 1517 – der Tradition einer Subjektivierung des Bußsakraments durchaus auch verpflichtet ist. Ich werde in einem weiteren Schritt (Abschnitt 4) zeigen, dass für Luther die contritio und die compunctio cordis derart ins Zentrum des Verständnisses der Buße tritt, dass er den weltanschaulichen Rahmen des Bußsakraments und des Ablassinstituts – das Fegefeuer, die Hölle und die Ewige Seligkeit – von diesem Phäno11
PETER BRUNNER: „Rechtfertigung heute.“ Versuch einer dogmatischen Paraklese, in: ders., Pro ecclesia. Gesammelte Aufsätze zur Dogmatik, Bd. 2, Berlin 1966 (= Nachdr. Fürth 1990), S. 122–140: hier bes. S. 123–127 und 134–137. Vgl. auch ebd.: Die Vergebung Gottes und das Gericht Gottes, S. 113–121. 12 So etwa W ILFRIED HÄRLE: Zur Gegenwartsbedeutung der „Rechtfertigungs“-Lehre. Eine Problemskizze, in: Zur Rechtfertigungslehre, Zeitschrift für Theologie und Kirche. Beiheft 10 (1998), S. 101–139: hier bes. S. 106–110 und 116–118 sowie bes. 118–122, bes. 120.
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men der Subjektivität her als negatives Selbstverhältnis zu deuten beginnt. Diesem Phänomen des negativen Selbstverhältnisses stellt Luther seine Entdeckung der Rechtfertigung des Sünders allein aus dem Glauben an Christus entgegen, deren ursprünglicher Sinn sehr knapp umrissen werden soll (Abschnitt 5); die Frage nach dem ursprünglichen Sinn und der Neuzeitfähigkeit dieser Einsicht ist Gegenstand des letzten Abschnitts (Abschnitt 6).
2. Die contritio im mittelalterlichen Bußsakrament 2.1. Die Subjektivierung des Bußsakraments: contritio Ich suche einen ersten Zugang zum Thema, indem ich dem Hinweis Troeltschs nachgehe und mich der Frage zuwende, die Luther umtrieb und von der Troeltsch feststellt, dass es eine grundsätzlich mittelalterliche Fragestellung ist: Die Frage nach der Heilsgewissheit. Diese Frage bricht im Rahmen des Bußsakraments auf, das in der Tat entschiedene Züge der Heteronomie und der Bindung an die externe Autorität der gnadenvermittelnden Kirche aufwies – gerade in der seit 1215 vorgeschriebenen Pflichtbeichte einerseits13 und in den nachbarlichen Abwegen des Ablasswesens andererseits. Allerdings gibt es kein Sakrament der vorreformatorischen Kirche, das in solch tiefgreifender Weise wie das Bußsakrament konstitutiv an unvertretbare subjektive Vollzüge gebunden ist: Bezüglich des Bußsakraments wird an der Schwelle zur Hochscholastik gerade die Frage debattiert, welche Funktion der institutionalisierten Buße und Lossprechung im Blick auf die göttliche Vergebung zukommt. Strittig ist dabei, ob der kirchliche Vollzug der Lossprechung für das Erlangen der göttlichen Vergebung und Gnadenvermittlung überhaupt eine konstitutive Funktion hat, oder ob nicht der priesterliche Losspruch eine lediglich deklarative Funktion hat, den Vollzug einer Vergebung feststellt, der nicht am Vollzug des Bußsakraments hängt, sondern an der contritio, der inneren Zerknirschung über die 13
Dazu die grundlegende Abhandlung zum mittelalterlichen Bußwesen bis 1215: MARTIN OHST: Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im hohen und späten Mittelalter, Tübingen 1995 (Beiträge zur historischen Theologie 89). Zur Theologendiskussion: REINHARD SCHWARZ: Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, Berlin 1968 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 41); ferner KARL MÜLLER: Der Umschwung in der Lehre von der Buße während des 12. Jahrhunderts, in: Adolf Harnack u.a. (Hg.): Theologische Abhandlungen (Festschrift Carl von Weizsäcker), Freiburg 1892, S. 289–320; ferner LUDWIG HÖDL: Die Geschichte der scholastischen Literatur und der Theologie der Schlüsselgewalt, Münster 1960 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 38/4).
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Sünde14. Dann wäre die Vergebung Gottes eine Reaktion auf die volle contritio, und das Bußsakrament nur der Ort, an dem dieser Erfolg festgestellt wird15. Thomas von Aquin etwa unterscheidet zwischen der poenitentia als sacramentum und als virtus und hält den Vollzug des Bußsakraments für notwendig zur Zulassung zur Eucharistie, nicht aber für das Erlangen der vollen Sündenvergebung16; in vergleichbarer Weise hält Gabriel Biel in den Distinktionen über das Bußsakrament in seinem Collectorium17 mehrfach fest, dass unter den konstitutiven Elementen des Bußsakraments – contritio cordis, confessio oris, satisfactio operis – schon die contritio allein die Sündenvergebung erlangt, und dass umgekehrt ohne den subjektiven Vollzug der contritio kein anderes Element des Bußsakramentes wirksam zur Erlangung der Sündenvergebung ist18.
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Etwa Petrus Abaelard: Ethica seu Scito te ipsum. In: Patrologia latina 178, Sp. 633– 678 – entgegen den Erwartungen, die der Titel wecken mag, eine Hamartiologie und Bußlehre. Zur contritio im Bußsakrament: Sp. 660–678. Zu den Voraussetzungen in der Sündenlehre: ebd. cap 2 (Sp. 636–647, bes. 636–638 und 645f.), vgl. auch cap X (Sp. 652 C): nicht die Menge der Taten, sondern die die Tat leitende Gesinnung macht das Tun gut; vgl. die Aufklärung des Sündenbegriffes in cap XIV (Sp. 654f.). Dazu OHST, Pflichtbeichte (wie Anm. 13), S. 56–59; HÖDL, Geschichte (wie Anm. 13), Kap. 3 (S. 78– 115); ARTUR MICHAEL LANDGRAF: Der zur Nachlassung der Schuld notwendige Grad der contritio, in: ders., Dogmengeschichte der Frühscholastik II: Die Lehre von den Sakramenten, Bd. 2, S. 244–276; vgl. die benachbarten Debatten im Rahmen des Taufsakraments: DERS.: Die Wirkung der Taufe im fictus und im contritus, ebd. S. 87–181, bes. S. 128–169. 15 Zum Hintergrund im Verständnis der Sünde und dem darin begründeten Verständnis der contritio bei Abaelard vgl.: SLENCZKA: Schrecken (wie Anm. 1), S. 105–107. Dazu auch die Diskussion des Problems bei Biel: Gabriel Biel: Collectorium circa quattuor libros Sententiarum (hg. von Wilfried Werbeck u.a., Tübingen 1973–1977), IV dist 14 q 2 a 1 not 2 [D–L]. 16 Thomas von Aquin: STh suppl q 5 a 1 ad 3; die Position des Thomas ist ambivalent: zum Ganzen vgl. STh III q 84, 85 und 86; zur contritio vgl. suppl q 5 a 1resp und a 2resp. Q 84 a 8resp und q 86 a 2resp schreibt Thomas der poenitentia als virtus das Erreichen der Sündenvergebung zu. Anders allerdings q 84 a 5resp, wo ausdrücklich die sakramentale Buße als heilsnotwendig bezeichnet wird, ebenso suppl q 6 a 1resp, wo Thomas festhält, dass die confessio und damit die sakramentale Buße heilsnotwendig ist zur Beseitigung einer Todsünde; auch nach suppl q 7 a 3resp gehört die confessio vor dem Priester auch zur Tugend der poenitentia hinzu. Den Ausgleich zwischen beiden Gedankenreihen vollzieht Thomas in III q 87 a 6resp mittels des Form-Materie-Schemas, wobei hier nicht zu untersuchen ist, ob das wirklich befriedigend ist 17 Biel: Collectorium (wie Anm. 15), IV dist 14–22, hier bes. dist 14 und 16f. Vgl. dazu und zum folgenden auch: HEIKO A. OBERMAN: Spätscholastik und Reformation, Bd. 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965, hier bes. S. 139–152. 18 Dazu Biel: Collectorium (wie Anm. 15), IV dist 14 q 1 a 2 concl 5 [O; Auseinandersetzungen mit obiectiones: P–U]; ebd. dist 14 q 2 a 2, concl 1–5, bes. concl 3!; ebd. dist 16 q 1 a 2 concl 6 [H].
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Unter ‚contritio‘ ist dabei für Biel – und das gilt für die entsprechende Tradition seit Abaelards Ethica19 – die detestatio, die Missbilligung der Sünde zu verstehen, von Biel ausgelegt als der Wunsch, nicht gesündigt zu haben20; damit liegt nun zugleich liegt die Logik dieser Hochschätzung der contritio auf der Hand: Mit der contritio kommt der consensus, die innere Zustimmung zur Untat, an ihr Ende, durch die der objektive Verstoß gegen das göttliche Gesetz überhaupt erst schuldhaft und strafwürdig wird21. Die gegen Gott gerichtete Gesinnung und Willensausrichtung, durch die der Verstoß gegen das Gesetz überhaupt erst Sünde ist, wird im erfolgreichen Vollzug der contritio – als detestatio der ursprünglich bejahten Sünde – ersetzt durch die Liebe zu Gott. Die Bedeutung der contritio hängt also ganz im Gegensatz zum von Troeltsch gezeichneten Bild an einer gleichzeitigen Verinnerlichung des Begriffes der Sünde; die contritio ist nicht Aufhebung der Untat, wohl aber der Vorgang, dass das Subjekt der Tat die Einheit mit der schuldhaften Gesinnung bzw. Willensausrichtung aufgibt, die den Gesetzesverstoß trug und die ihn zur Sünde macht. Die contritio ist ein negatives Selbstverhältnis im Sinne der Unfähigkeit, sich zur eigenen Vergangenheit in ein Verhältnis der Übereinstimmung zu bringen.
2.2. Das Motiv der Selbstdifferenz – contritio und attritio Diese detestatio der Sünde unterliegt allerdings – ich folge als einem unter vielen möglichen Beispielen weiter Gabriel Biel – zudem der Bedingung, dass sie formata sein muss, motiviert also durch die auf Gott bezogene und durch die Gnade vermittelte caritas22. Das ist eine ausgesprochen scharfsinnige und psychologisch belangvolle Bedingung, denn die Alternative zu dieser Motivation besteht darin, dass die detestatio der Sünde der Furcht 19
Abaelard: Ethica (wie Anm. 14), cap XIX [PL 178, Sp. 663, 665, hier bes. 664 D] und cap XVIII [Sp. 661–663]. 20 Biel: Collectorium (Anm. 15) IV dist 16 q 1 a 1 not 3 [B]: contritio als „velle non pecasse“ und als „detestatio peccati commissi“ oder als „dissensus voluntatis ab ipso peccato“; vgl. ebd. dist 14 a 1 not 1 [A 28-31, sowie D]. 21 Abaelard: Ethica, cap XIX [664 D]. Zum entsprechenden Sündenbegriff vgl. ebd. cap III: „Ein Laster ist daher das, was bewirkt, dass wir zum Sündigen bereit sind, das heißt: dazu neigen, dem zuzustimmen, was nicht erlaubt ist, so dass wir es tun oder lassen. [Nicht schon diese Neigung, sondern] Diese Zustimmung [consensus] nennen wir eigentlich Sünde; dies ist die Schuld der Seele, durch die die Verdammnis verdient wird bzw. durch die sie [die Seele] vor Gott als Angeklagte steht. [...] Unsere Sünde ist die Verachtung des Schöpfers, und ‚sündigen‘ heißt: den Schöpfer mißachten [...].“ [636 A; Übers. N.Sl.]. Vgl. Biel: Collectorium IV dist 14 q 1 a 2 concl 5 [O 4-10]. Thomas von Aquin: STh III q 86 a 2resp. 22 Vgl. die Diskussion um das Verhältnis der dispositio ad gratiam (durch die detestatio peccati) zur Mitteilung der Gnade (als formatio des actus contritionis durch die Liebe zu Gott): Biel: Collectorium IV dist 14 q 1 a 2 concl 5 [O–T, hier bes. S].
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vor der Strafe entspringt. Diese detestatio wäre strenggenommen keine detestatio der Tat, sondern eine detestatio der unentrinnbaren Tatfolgen; Luther hat in einer Reihe von frühen Texten – insbesondere im Sermo de poenitentia – genau diese Unterscheidung aufgenommen23. Die detestatio der Sünde als detestatio der Tatfolgen bezeichnet Biel als attritio und bestreitet, dass diese attritio eine entwicklungsfähige Vorstufe der contritio sei24; das schließt aber nicht aus, sondern ein, dass die contritio Vorstufen kennt: die volle, durch die Liebe zu Gott motivierte contritio ist nach Biel ein Werk der Gnade, die aber eine annähernde Disposition des Empfängers voraussetzt: Demjenigen, der sich dem Zustand der contritio möglichst weitgehend annähert, wird die Gnade eingegossen – das hochkomplexe Verhältnis der contritio als dispositio ad gratiam und der gratia als forma der contritio muss hier nicht weiterverfolgt werden25.
2.3. Zusammenfassung In welchem Maß auch immer das Bußinstitut im faktischen kirchlichen Gebrauch, gerade auch in der Situation der massenhaften Beichten in der vorösterlichen Fastenzeit und in den Vergröberungen des Ablasswesens veräußerlicht war: In der theologischen Theorie, die Luther voraussetzt, handelt es sich um ein Sakrament, in dem es ganz entschieden um die unvertretbare Innerlichkeit des religiösen Subjektes geht; und das Bußsakrament, gerade das Beichtverhör steht ausweislich der Bußsummen26 unter dem Ziel der Weckung dieser contritio und des verantwortlichen Umganges mit dieser contritio. Gerade in der seelsorgerlichen Situation des Mönchtums ist dieses Beichtinstitut in höchstem Maße individualisiert und wird zum Instrument der Seelenführung, wie gerade die Klostererfahrung Luthers zeigt.
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Martin Luther: Sermo de poenitentia (1518), WA 1, S. 321; LDStA 2, S. 40/42. Biel: Collectorium IV dist 16 q 1 a 1 not 3 [C 5-9] und q 1 a 3 dub 1 [I–M]: Nach Biel ist die attritio nicht eine durch die formatio per gratiam perfektible dispositio ad gratiam, sondern eine durch die unzureichende Motivation irreparable Abart der contritio – vgl. allerdings die Beschreibung eines Fortschritts von der attritio zur contritio in dist 14 q 1 a 2 concl 5 [S. 8–32]. Anders OBERMAN: Spätscholastik (wie Anm. 17), S. 147f. 25 Biel: Collectorium IV dist 14 q 1 a 2 concl 5 [bes. S. 8–32]. Zur frühscholastischen Diskussion vgl. LANDGRAF: Nachlassung (Anm. 14). 26 Dazu OHST: Pflichtbeichte (wie Anm. 13); auch SLENCZKA: Schrecken (wie Anm. 1), S. 99–104. 24
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3. Die contritio in Luthers Anfechtungserfahrung und Ablasskritik Im Blick auf die Frage, die Luther offenbar umtrieb, gilt nun einerseits, dass sie in dieser intensiven Subjektivierung des Bußsakramentes ihren eigentlichen Auslöser hat (1.); es gilt aber andererseits, dass Luthers Kritik am Ablasswesen motiviert ist durch die These, dass gerade dieser subjektive Faktor der contritio das eigentlich Entscheidende am Bußsakrament ist (2.). Luthers Widerspruch gegen den Ablass ist positiv ein Votum für ein von der contritio her verstandenes und ernstgenommenes Bußsakrament.
3.1. Die Forderung der contritio als Ursprung der Anfechtungserfahrung Durch diese Subjektivierung des Bußsakramentes löst sich der Vorgang der göttlichen Gnadenvermittlung vom institutionellen Rahmen. Nicht mehr der bloße Vollzug des Sakraments, sondern der subjektive Zustand des Menschen wird zum eigentlichen, inneren Sinn des Bußsakramentes. Das bedeutet zugleich, dass auch die Gewissheit der göttlichen Vergebung an dem Bestehen einer inneren Verfassung hängt – und so eigentümlich und bemerkenswert es ist: Hinsichtlich keines Sachverhaltes ist sich der Mensch so ungewiss wie hinsichtlich seiner inneren Verfasstheit. Damit wird das Bußsakrament und sein wirksamer Vollzug zum Gegenstand des Zweifels. In den vielfältigen Rückblicken Luthers auf die Klosterzeit27 spielt die contritio und die Bielsche Lehre von der contritio eine entscheidende Rolle, und zwar als die jede Gewissheit der sakramentalen Heilsvermittlung ruinierende Reflexionsfigur; ein Beispiel: Wenn nämlich zu erwarten ist, dass man hinlänglich zerknirscht ist, gelangt man niemals zum Hören der Freude [i.e. des Evangeliums], was ich im Kloster mit großem Schmerz sehr häufig erfahren habe. Ich hing nämlich jener Lehre von den Zerknirschungen [doctrina de contritionibus] an, aber je mehr ich Zerknirschung empfand, um so größer wurde der Schmerz, und das Gewissen wurde mächtiger, und ich konnte die Lossprechung und die anderen Tröstungen nicht zulassen, die jene anbrachten, denen ich beichtete. Ich dachte nämlich: Wer weiß, ob solchen Tröstungen zu glauben ist.28
Wenn die Wirksamkeit des Sakramentes ganz an der inneren Verfassung des Poenitenten hängt, tritt der Zuspruch der Vergebung unter den hochkomplexen Vorbehalt einer der Liebe zu Gott entspringenden detestatio der 27
Den besten Überblick über die Selbstzeugnisse und Rückblicke Luthers verschafft die Textsammlung von OTTO SCHEEL: Dokumente zu Luthers Entwicklung, Tübingen 2 1929. 28 Martin Luther: Enarratio Psalmi 51 (1532/38), WA 40/2, S. (313) 315–470: hier S. 412,16-20.
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Sünde – denn, wie die Thesen 36 und 38 der Resolutiones (= II,11 und 13 der Ablassthesen)29 zeigen: Luther ist mit seiner franziskanischen Tradition der Ansicht, dass der Zuspruch des Priesters lediglich deklarative Funktion hat und das Vorliegen der Bedingungen einer Sündenvergebung im Poenitenten, insbesondere eben des zureichenden Maßes an contritio, konstatiert. Ob der Beichtvater aber über das Maß der contritio besser Bescheid weiß als der Poenitent, ist fragwürdig, und der Poenitent ist sich seiner selbst gerade nicht gewiss – dieses Problem steht im Hintergrund des Zweifels: „Wer weiß, ob solchen Tröstungen zu glauben ist.“ Das Gottesverhältnis hängt an der contritio und die Gewissheit des Gottesverhältnisses nicht am Zuspruch des Priesters, sondern an der reflexiven Selbstvergewisserung hinsichtlich dieses inneren Zustands. Und, wie Luther in einer genialen Wendung sagt: Die menschliche Innerlichkeit entgleitet der Reflexion, erweist sich als uneindeutig und ist damit dem, der sie unterhält und der auf sie reflektiert, am wenigstens vertrauenswürdig: Zudem, wenn du auch nicht der Meinung bist, dass du hinreichend zerknirscht bist (dir selbst kannst und sollst du nämlich nicht vertrauen), so sage ich dir, dass du nichtsdestoweniger, wenn du dem glaubst, der sagt: Wer glaubt und getauft ist, der wird selig werden – dieser Glaube macht, dass du wahrhaft getauft wirst, wie immer es um deine contritio steht.30
3.2. Die Kritik am Ablasswesen als Insistieren auf der contritio Luther leidet allerdings zur Zeit seiner Anfechtungserfahrung nicht nur unter dieser Subjektivierung des Bußsakraments, sondern er ist im Streit um das Ablasswesen auch ihr entschiedener Vertreter, der die Notwendigkeit der contritio gegen den Erwerb von Anlässen anführt und dem priesterlichen Zuspruch eine rein deklarative Funktion zuweist: 36. Jeder wahrhaft seiner Sünde schmerzlich bewusste Christ [Christianus vere compunctus] hat vollständige Vergebung der Strafe und der Schuld, auch ohne dass von ihm Ablassbriefe beigebracht werden müssten. […] 38. Die Vergebung und die Teilhabe an [den Gütern] des Papstes ist keinesfalls zu verachten, weil sie (wie ich bereits gesagt habe) die öffentliche Feststellung der göttlichen Vergebung ist.31
Die Kritik am Ablass ist ursprünglich begleitet vom Hinweis auf die um die contritio konzentrierte (und damit vom sakramentalen Vollzug abgelös29
Martin Luther: Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum, WA 1, S. (229) 233–238, These II,10-13 (Resolutiones Th 36–38); LDStA 2, S. 1-15; Zitat vgl. folgenden Abschnitt. 30 Martin Luther: Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute, WA 1, S. (522) 525-628, Concl XXXVIII (S. 595,1-4). Vgl. auch concl XXX (S. 586,20–587,2). 31 Luther: Disputatio (wie Anm. 29), These II,10-13 (Resolutiones Th 36–38).
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te32) Buße, neben dem ein isolierter Umgang mit zeitlichen Sündenstrafen eigentlich keinen Raum hat und haben kann – es sei denn als Nachlass der vom Papst iure humano verhängten Strafen33. Also: Nicht erst die Antwort Luthers auf die ‚Heilsfrage‘ des Mittelalters, sondern bereits seine Frage entspringt einer Subjektivierung und Verinnerlichung des Begriffes der Sünde und folgeweise des Bußsakraments; und diese Subjektivierung ist keine Einsicht Luthers, sondern Luther entnimmt sie einer bereits im Frühmittelalter belegbaren, bei Abaelard expliziten und bei den großen Franziskanertheologen, von deren Theologie Luther geprägt ist, vertretenen Tradition.
4. Die Subjektivierung der Eschatologie: Fegefeuer und Anfechtung 4.1. Kritik am traditionellen Verständnis des Fegefeuers Doch betrifft diese Subjektivierung oder Verinnerlichung nicht nur die Theorie und den Vollzug des Bußsakraments, sondern auch den von Troeltsch apostrophierten weltbildhaften Rahmen der Rechtfertigungslehre, nämlich die Lehre vom Fegefeuer und Gericht: Luther schlägt gerade in den Resolutiones zu den 95 Thesen (1518) eine Art existentialer Interpretation der Fegefeuervorstellung vor34. Ausgangspunkt seiner über mehrere Conclusiones sich hinziehenden35 Argumentation ist zunächst der Spott über die ‚copiosissimi animae redemptores‘, die über das Geschick der vom Körper getrennten Seelen (im Fegefeuer) so gut Bescheid zu wissen beanspruchen, dass sie kaum noch Menschen seien; diesen Spott wendet er gleich im folgenden Satz in eine den Sinn des Ablasswesens in Frage stellenden Einwand: Es kommt zu dieser Schwierigkeit [i.e. dass Menschen über das Geschick der Seelen nach dem Tod nichts wissen können] hinzu, dass es Gelehrte gibt, die der Meinung sind, 32
Vgl. Luther: Disputatio (wie Anm. 29), These I,1-7 u.ö. – wobei Luther den Zusammenhang des subjektiven Vollzugs mit dem deklarativen priesterlichen Losspruch festhält (II,13 u.ö.). Auch diese Ablösung der Buße vom sakramentalen Vollzug ist nicht neu, sondern bereits in der Unterscheidung der Buße als Sakrament von der Buße als virtus – etwa bei Thomas von Aquin (oben S. 296 und Anm. 16), aber auch bei anderen – vorgebildet. 33 Vgl.Luther: Disputatio, These I,1-7; II, 10ff .; vgl. auch die Resolutiones (wie Anm. 30), concl XVIII (S. 562ff). 34 Zum folgenden vgl. Luther, Resolutiones (wie Anm. 30), hier bes. die conclusiones XIV bis XIX (S. 554,26–567,24). 35 Vgl. concl XVII (S. 559,9) und das Ende von concl XIII (S. 554,22-25) sowie concl XVIII (S. 562,5ff.).
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dass die Seelen nichts durch das Feuer, sondern nur im Feuer erleiden, so dass das Feuer nicht der Ursprung der Qual der Seelen, sondern nur der Ort ihrer Gefangenschaft ist. Daher werde ich hier die in höchstem Maße von Zweifeln und Disputationen behaftete Materie in Angriff nehmen und vortragen, was ich bezüglich dieser Dinge meine.36
Zunächst geht es also um den von Luther auch später37 vorgetragenen Nachweis, dass die Strafe des Fegefeuers und der Hölle nicht bzw. nicht nur ein leibliches Feuer sein kann – das sind höchst traditionelle Einsichten, für die sich Luther zu Recht auf eine breite Tradition („doctores“) beruft38; er zielt mit diesem Nachweis darauf ab, dass ein Ablassinstitut, das die Verkürzung der Aufenthaltsdauer im Fegefeuer zum Ziel hat, gar nicht mit dem Zustand umgeht und nicht den Zustand löst, der eigentlich unter dem Begriff Fegefeuer gemeint ist und dessen Lösung notwendig ist, wenn der Mensch mit Gott verbunden werden soll39.
4.2. Fegefeuer und Hölle als Zustand der ungetrösteten contritio Luther kommt es positiv darauf an, zu zeigen, dass das Fegefeuer und die Hölle – unbeschadet ihres Charakters als reales Feuer40 – eigentlich in einem bestimmten seelischen Zustand besteht („horrorem esse in animabus“41), und dass damit eben nicht die im Ablasswesen intendierte Verkürzung der Zeit des Fegefeuers, sondern nur die Lösung dieses seelischen Zustandes die Erlösung aus dem Fegefeuer sein kann. Als den Zustand des Fegefeuers bzw. der Hölle identifiziert Luther nun, zum Teil unter Rückgriff auf die eigene Anfechtungserfahrung – den Zustand der Anfechtung als Zustand des Bewusstseins des Verworfenseins bzw. der Verzweiflung: Aber auch ich kannte einen Menschen, der behauptete, er habe diese Strafen häufig erlitten, nur eine kurze Zeit lang, aber so große und höllische [Strafen], dass sie eine Zunge nicht aussprechen und der Stift nicht schreiben und ein Unerfahrener nicht glauben kann, so dass er, wenn sie vollständig geworden wären oder eine halbe Stunde gedauert hätten, ja auch nur den zehnten Teil einer Stunde, vollständig zugrunde gegangen wäre und alle Knochen zu Asche zerfallen wären. Hier erscheint Gott als furchtbar erzürnt und mit ihm gleichsam die gesamte Kreatur. Dann gibt es kein Entweichen, keinen Trost, weder innen noch außen, sondern alles wird zur Anklage. Dann klagt er diesen Vers: ‚Ich bin versto36
Concl XIII (S. 554,22-25 [kursiv von mir]). Vgl. den Hinweis auf den Charakter der Ausführungen Luthers als opinio („opinando et disputando, nihil asserendo“): concl XVIII (S. 562,9f.). 37 Dazu NOTGER SLENCZKA: Entzweiung und Versöhnung. Das Phänomen des Gewissens und der Erlösung in Shakespeares „King Richard III“ als Hintergrund eines Verständnisses der „imputativen Rechtfertigung“ bei Luther, in: Kerygma und Dogma 50 (2004), S. 289–319: hier S. 314–316. 38 Vgl. dazu SLENCZKA: Schrecken (wie Anm. 1), S. 108–111. 39 Vgl. zur Zielrichtung der conclusiones XIV–XVII auch concl XVIII (S. 562,5-17). 40 Vgl. concl XV (S. 555,29ff.). 41 Ebd. S. 556,6.
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ßen von deinem Angesicht‘ und wagt doch nicht zu sagen: ‚Herr, in deinem Zorn verwirf mich nicht‘. 42
Luther deutet diese Anfechtungserfahrung selbst als Erfahrung des Fegefeuers und sogar als punktuelle Erfahrung der Hölle, folgt darin der Theologia Deutsch, die er bekanntlich 1516, und zwar in der Vermutung, dass es sich um ein Werk Taulers handelt, veröffentlicht43. Dabei bleibt wie in ähnlichen späteren Aussagen Luthers44 ganz unbestritten, dass es ein künftiges, gegenständliches Gericht und ein gegenständliches Fegefeuer und Höllenfeuer gibt – aber das Gewicht verschiebt sich in eigenartiger Weise auf die Deutung der Hölle, der Seligkeit, des Fegefeuers als innerer, seelischer Wirklichkeit: Daher: wenn schon den Lebenden jene Höllenstrafe zustößt, d.h. jener unerträgliche und trostlose Schrecken, wie viel mehr werden die Seelen im Fegefeuer diesen Strafen – nun aber beständig bleibenden, unterliegen. Und dies ist jenes innere Feuer, das viel furchtbarer ist als das äußere.45
4.3. Entgegenständlichung von Jüngstem Gericht und finaler Strafe Eigenartig ist diese Gewichtsverschiebung darum, weil hier das, was die Theologen vor und neben Luther säuberlich trennten, ineinanderfließt: Der seelische Zustand des Sünders, die Sünde, und des Sünders künftiges Geschick: das göttliche Gericht, die Strafe der Hölle: Der Sünder verzweifelt angesichts des göttlichen Gerichtes46, das ihm nicht bevorsteht, sondern das er in seiner Verzweiflung im Vollzug erfährt47; er verzweifelt nicht angesichts der künftigen Strafe der Hölle, sondern erfährt diese Höllenstrafe in seiner Verzweiflung48; damit ist zugleich das Gericht mit der Strafe identifiziert; und er erfährt schließlich auch nicht die Strafe für eine vor42
Concl XV (S. 557,33–558,1). Tauler ist für Luther im unmittelbaren Kontext des eben gebotenen Zitats ein Beleg dafür, dass das Fegefeuer ein Zustand der Seele (und kein leibliches Feuer) sei: WA 1, S. 557,25-32. Zum Einfluss der Taulerschen Mystik auf Luther vgl. VOLKER LEPPIN: Mystische Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), S. 7–25; DERS.: Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 112 (2001), S. 189–204. 44 Dazu wieder SLENCZKA: Entzweiung (wie Anm. 37), S. 308f. 45 Luther, Resolutiones (wie Anm. 30), concl XV (S. 558,12-15). 46 Concl XV (S. 557,37ff.). 47 Ebd. – vgl.: Hic Deus apparet horribiliter iratus … Tum nulla fuga … sed omnium accusatio. 48 Ebd. S. 557,33f., 558,12ff. Das gibt es übrigens auch bei Thomas von Aquin, der feststellt, dass die poenitentia bzw. contritio als dolor sensibilis, also als passio (im Unterschied zum habitus bzw. actus voluntatis), den Charakter der Strafe hat: STh suppl q 5 a 2resp. 43
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ausgegangene Sünde, sondern die Verzweiflung ist selbst die Sünde, weil sie das Gegenteil des Vertrauens, der Liebe und der Hoffnung Gott gegenüber ist49. Dasselbe gilt natürlich auch unter dem positiven Vorzeichen: Das Vertrauen und die Liebe des Getrosten ist der Ort der Erfahrung des göttlichen Freispruchs, der Ort der Seligkeit, der Zustand des ‚Neuen Menschen‘ als des Menschen, der Gott über alle Dinge liebt und ihm vertraut. Kurz: Das differenzierte Szenario des Fegefeuers, des Gerichtes und der Hölle bzw. der Seligkeit, mit dem das Ablassinstitut umgeht und das es zu bewältigen verspricht, wird entgegenständlicht und interpretiert als Beschreibung des Zustandes der Verzweiflung, Sündenfolge und Sünde zugleich, zu dessen Bewältigung der Hinweis auf erlassene Jahre in einem gegenständlichen Höllenfeuer gar nichts austrägt50. Denn zur Bewältigung steht das Bewusstsein des Verworfenseins bzw. der ‚Furcht vor Gott‘. Dieser Umgang mit den gegenständlichen Vorstellungen des Fegefeuers, der Hölle und des Gerichts ist ausgesprochen kühn, entschärft nur dadurch, dass Luther den Sachgehalt der traditionellen Gegenständlichkeit nicht bestreitet – aber eben unter dem Vorzeichen, dass der eigentliche Gehalt der traditionellen Aussagen die innere Erfahrung sei und eben diese innere Erfahrung das zu bewältigende Problem des Menschen darstelle. Denn das so verstandene Fegefeuer und die so verstandene Hölle sind, wie der Verweis auf die Anfechtungserfahrung deutlich macht, Gegenwart, nicht Zukunft. Luther gewinnt unter dieser Voraussetzung auch dem Begriff des Fegefeuers und der im Ablassinstitut mitgesetzten Vorstellung einer sukzessiven Rettung aus dem Fegefeuer etwas ab – aber eben unter der Voraussetzung, dass die Rettung aus dem Fegefeuer den Übergang vom Zustand der Verzweiflung und der Furcht vor Gott zur Liebe zu Gott darstellt: Er definiert die Hölle, das Fegefeuer und die Seligkeit als unterschiedliche Mischungsverhältnisse von Furcht und Verzweiflung einerseits und Frömmigkeit bzw. Liebe andererseits, nimmt also, geleitet von Joh 4,1851, die beiden einander ausschließenden Motivationen der detestatio peccati auf52 und bestimmt sie als die Extreme des Himmels bzw. der Seligkeit und der Hölle bzw. der Unseligkeit53: Der Himmel und die Seligkeit ist der Friede des Gewissens und die securitas54, die er mit der caritas erga deum identifiziert; die Hölle ist nichts anderes als die völlige, endgültige, von Furcht 49
Vgl. concl XVII (S. 559,9–561,42); vgl. concl XVI und XIV, bes. S. 554,36: die Identifikation des Verzweifelten mit dem Alten Menschen. Vgl. auch concl XVIII (S. 562,5ff.). 50 Concl. XVIII (S. 562,5ff.). 51 Vgl. concl XIV (S. 554,29). 52 Dazu oben S. 297f. 53 Vgl. dazu concl XVI (S. 558,25–559,5). 54 Im positiven Sinne! Ebd. S. 558,29.
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und Schrecken begleitete Verzweiflung. Das Fegefeuer hingegen ist der Zustand der mit Schrecken und Entsetzen gemischten Liebe. Das bedeutet zum einen: Alle diese Orte sind innere Zustände des Subjekts bzw. haben ihr Wesen in solchen inneren Zuständen. Und es bedeutet zugleich: Das so verstandene Fegefeuer lässt sich nicht mit einer zeitlichen Verkürzung der Feuerstrafen bewältigen, sondern nur durch den Abbau des Bewusstseins der Verdammnis einerseits und dem Aufbau des Bewusstseins der Rettung andererseits. Es geht im Fegefeuer in der Tat – damit nimmt Luther uminterpretierend die Tradition auf – um einen veränderlichen Zustand, nicht aber um die Reduktion von zeitlichen Sündenstrafen, sondern um die Stärkung des Vertrauens bzw. der Liebe zu Gott und die entsprechende Minderung der Furcht55. Der Umgang mit dem Fegefeuer ist nicht einfach der Umgang mit der Strafe, sondern der Umgang mit der Sünde selbst, ist eben das ‚Sterben des Alten‘ und das ‚Erstehen des Neuen Menschen‘, oder – als seelischer Zustand ausgedrückt: Das Ende der Furcht vor Gott und der Beginn der Gewissheit Gottes56. Damit zeigt sich für Luther zugleich die völlige Untauglichkeit des Ablassinstituts, das eben nicht die Furcht vor Gott und der göttlichen Strafe beseitigt, sondern bestehen lässt und nährt.
4.4. Konzentration: Die contritio als Selbsturteil An dieser ‚existentialen‘ Deutung der Eschatologie sind mehrere Punkte in besonderer Weise interessant: zum einen die Tatsache, dass der Schrecken, dem das Subjekt unterworfen ist, gegenstandslos ist bzw. nicht mehr in der Qual einer gegenständlichen Hölle und ihres Feuers besteht, die die zeitgenössischen Bildwerke von Gericht und Hölle vermitteln57, sondern ausschließlich aus dem Urteil und dem Zorn Gottes. Nicht die Höllenstrafen als Folgen des Urteils sind Gegenstand des Schreckens, sondern Ursprung des Schreckens ist das Verdammungsurteil selbst; die Höllenstrafe ist die Erfahrung des endgültigen Negiertseins. Gericht und Strafe fallen ineinander, die Strafe wird als eben das negative Gottesverhältnis gefasst, das sich im Gericht vollzieht. Zweitens ist die Erfahrung, auf die Luther als Kern des Fegefeuers rekurriert, als Vernichtungserfahrung gefasst, die Urteilscharakter hat. Es gibt nichts, was der göttlichen Negation entzogen ist und was gegenüber dieser Negation als Halt dienen könnte – „… es bleibt nur der nackte Wunsch nach Hilfe und das schreckliche Wehklagen, aber es weiß nicht, wo es Hilfe suchen soll.“58 55
Concl XVIII (S. 562,5ff.). Vgl. dazu concl XVII (S. 559ff.). 57 SLENCZKA: Schrecken (Anm. 1), S. 98f. 58 Luther: Resolutiones (wie Anm. 30), S. 558,4f. 56
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Diese Vernichtungserfahrung wiederum hat nun drittens darin ihre besondere Pointe, dass sie nach Luther zugleich ein Selbstverhältnis darstellt. Diese Vernichtungserfahrung fasst Luther nämlich in den 1518, kurz nach den 95 Thesen entstandenen Thesen ‚Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones‘ als „böses Gewissen“ und identifiziert dieses – anschließend an Röm 2,15f. – mit der höchsten Strafe und damit mit dem göttlichen Gericht: „Die Vergebung der Schuld beruhigt das Herz und hebt die schwerste aller Strafen, nämlich das Bewusstsein der Sünde, auf.“59 Der Zustand, den Luther beschreibt, ist also wesentlich ein Selbstverhältnis, eine negative Bezugnahme auf sich selbst, die Urteilscharakter hat, das heißt: Das in der Tradition als Urteil Gottes gefasste Gericht schlägt sich in einem Selbstverhältnis nieder; seinen bedrängenden Charakter gewinnt das ‚Jüngste Gericht‘ nicht dadurch, dass dem Urteil Gottes ewige Strafen folgen, sondern dadurch, dass es den bereits gegenwärtigen Zustand eines Menschen zusammenfasst, der gegen sich selbst gewendet ist: Er ist gleichsam unfähig, dem Urteil Gottes zu widersprechen, ist mit sich selbst eins und doch unfähig, sich selbst zu bejahen. Der Zustand des Sünders, der zugleich der Zustand des Gerichtsurteils Gottes ist, ist das „odium sui“60. Diese Identifikation von Strafe und Schuldbewusstsein hat viertens Konsequenzen für das Instrument des Ablasses, das nur mittels der Unterscheidung zwischen dem reatus culpae und dem reatus poenae Bestand hat: Wo, wie bei Luther, die zeitliche Sündenstrafe nicht mehr vom göttlichen Schuldspruch und vom Schuldbewusstsein getrennt werden kann, da kann auch kein Institut seinen Ort haben, das zur Bewältigung der noch bestehenden Sündenstrafen und ausdrücklich nicht zur Bewältigung der Sündenschuld eingerichtet ist.
4.5. Die Verortung der theologia crucis Schließlich – und dies ist der dann entscheidende Punkt: Luther deutet im Anschluss an Tauler diese Leidenserfahrung selbst als Christuserfahrung, deutet also diesen Schrecken als Teilhabe am Geschick Christi und damit als Kehrseite des Heils; entsprechend besteht der Grundzug seiner 95 Thesen nicht in der Predigt der Rechtfertigung sola fide, sondern in der Anweisung, sich der contritio und damit der recht verstandenen Buße und
59
Martin Luther: Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones, WA 1, S. (629) 631–633, hier These 2, 630,7f. [„Remissio culpe quietat cor et maximam omnium penarum, scilicet conscientiam peccati, tollit.“]. 60 Luther: Disputatio (wie Anm.29), These I,4.
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dem Schmerz der Buße nicht zu entziehen61. Nur in diesem Schmerz nämlich wird das Leiden Christi erfahren und der ‚Alte Mensch‘ in den Tod gegeben62: 92. Den Abschied allen jenen Propheten, die dem Volk Christi ‚Frieden, Frieden‘ verkündigen – und ist doch kein Frieden. 93. Willkommen allen jenen Propheten, die dem Volk Christi verkündigen: ‚Kreuz, Kreuz‘ und ist doch kein Kreuz. 94. Die Christen müssen ermahnt werden, dass sie ihrem Haupt Christus durch Strafen, Tod und Hölle zu folgen sich bemühen, 95. und so eher darauf vertrauen, durch viel Betrübnis in den Himmel einzugehen, als durch die Sicherheit des Friedens.63
Die Gefahr der Praxis des Ablasses besteht für Luther darin, dass dem Sünder die contritio und damit eben der heilsame Schmerz des Kreuzes genommen wird; damit wird dem Menschen auch der Weg zum Himmel versperrt, der nach Luther nur durch das Kreuz führt (Th. 95). Die ‚Theologia crucis‘ der Heidelberger Thesen ist hier eindeutig präformiert und in den später verfassten Resolutiones auch terminologisch explizit präsent64. Die ‚Lösung‘ der Anfechtung besteht darin, dass das Leiden unter dem Nein des Gottes- und Selbstverhältnisses unter der Kategorie des Kreuzes, der Gegenwart Gottes unter dem Gegenteil, deutbar wird als Gestalt der Einheit mit Gott.
4.6. Zusammenfassend Damit ist deutlich, dass der von Troeltsch und anderen als Zentrum der Reformation diagnostizierte und als Bruch mit dem Mittelalter gedeutete 61
Vgl. ebd. bes. II,5 (S. 234,35); II,10 (S. 235,5f); bes. II,14f. (S. 235,14-17); III,8 (S. 236,14f.). 62 Vgl. die Aufnahme der Grundmotive der Theologia Crucis in den Resolutiones (wie Anm. 30), concl LVIII, hier S. 608,36ff. und bes. S. 612,40–614,37, hier bes. 614,17ff. die explizite Aufnahme des ‚theologus gloriae‘ im Unterschied zum ‚theologus crucis‘. Diese Deutung des Kreuzes als Heilsort ist eher der mittelalterlichen Leidensmystik eines Bernhard von Clairvaux oder eines Tauler verwandt als der entfalteten Gestalt der imputativen Rechtfertigung, in der allein ich den adäquaten Ausdruck von Luthers reformatorischer Einsicht erkennen kann. Die Heidelberger Disputation ist diesbezüglich nach meinem Urteil janusköpfig wie auch die Resolutiones, ein Schwellentext; dazu LEPPIN: Traditionen (wie Anm. 43); SLENCZKA: Kreuz (wie Anm. 1). 63 Luther: Disputatio (wie Anm. 29), These IV,17-20; diese Thesen kommentiert Luther in seinen Resolutiones (dort concl XCII–XCV) nicht mehr, und zwar mit der Begründung, dass sie in den vorangehenden Thesen und Resolutiones hinreichend exponiert sind – sie stellen also Luthers Zusammenfassung der Thesen dar. 64 Vgl. concl LVIII, bes. S. 612–614.
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religiöse Subjektivierungsschub, der sich bei Luther vollzieht, nur zu einem Teil auf sein Konto geht. Luther nimmt vielmehr die im Bußsakrament immer schon gesetzte Konzentration auf die unvertretbar subjektive contritio auf und betont sie so, dass sie nicht nur den Vorgang der Buße, sondern den gesamten gegenständlichen Rahmen des Bußsakraments – Gericht, Fegefeuer, Hölle und Seligkeit – zu tragen und in sich aufzunehmen beginnt. Er rezipiert zunächst die Zentralstellung der contritio in der Franziskanischen, namentlich Bielschen Theologie so, dass er sie einerseits als Ursache dessen erfasst, dass das Bußsakrament keine tröstliche Wirkung entfaltet, sondern den Poenitenten in die Verzweiflung führt; andererseits nimmt er die Zentralstellung der inneren Verfasstheit des Sünders auf und kritisiert das Ablasswesen daraufhin, dass durch es dem Sünder dieses letztlich die Vergebung tragende Selbstverhältnis erspart wird. Er reinterpretiert schließlich unter Rückgriff auf entsprechende mittelalterliche Deutungen das Fegefeuer und die Hölle als innere Zustände bzw. Selbstverhältnisse des Sünders und zeigt so, dass der im Ablassinstitut intendierte Umgang mit der Dauer der Sündenstrafe, der nicht zugleich und in eins ein Umgang mit dem Bewusstsein des Sünders sein soll, nicht denkbar ist. Und zuletzt nimmt er diese Zentralstellung der contritio auf in seiner theologia crucis und deutet die Buße als den Vorgang der Selbstnegation, der zugleich der Ort der Gegenwart des Kreuzes Christi und so ein heilsamer Schmerz oder eine heilsame poena ist.
4.7. Die Konzentration auf das Subjekt und sein Selbstverhältnis als Ansatz zur angemessenen Reformulierung des Gerichtshorizontes der Rechtfertigungslehre Diese Beobachtungen scheinen mir nun zugleich einen Weg zur Reformulierung des vergessenen Rahmens der Rechtfertigungslehre Luthers zu weisen; die Reformulierung hätte dann darin ihr Zentrum, dass die Rede vom Gericht, von der Hölle, vom Himmel etc. nicht zunächst Informationen über ausstehende Ereignisse sind, deren Wirklichkeit dem Menschen andemonstriert werden müsste, damit die Schuldverhaftung des Menschen und die Dringlichkeit einer Lösung erkennbar wird; vielmehr ist der eschatologische Horizont existential zu interpretieren als die gegenständliche Darstellung des Selbstverhältnisses, das Luther als schwerste aller Strafen bezeichnet: des Bewusstseins der Schuld bzw. des odium sui. Damit wird aber auch deutlich, dass sich hier eine Möglichkeit des Nachvollzugs dieser Frage, die die lutherische Lehre von der Rechtfertigung sola fide beantwortet, eröffnet, die Möglichkeit eines Nachvollzuges, der ohne den konstitutiven Rekurs auf Transzendenzinformationen auskommt – dies
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eben so, dass die Aussagen über ein künftiges Gericht, das dort ergehende Urteil Gottes sowie die dann folgende Höllenstrafe Luther konsequent folgend ‚übersetzt‘ werden in Aussagen über das gegenwärtige Selbstverhältnis des Menschen.
5. Die Antwort Luthers: Das Selbstverhältnis des Glaubens 5.1. Die Rechtfertigung durch Imputation als die ursprüngliche Entdeckung Luthers Ich wende mich unter Voraussetzung dieser Frage nun der Antwort zu, die Luther einen Umgang mit der Anfechtungserfahrung ermöglicht hat und die er in verschiedenen Selbstzeugnissen als biographische Wende während seiner Klosterzeit beschrieben hat65, besonders in der Vorrede zur Ausgabe seiner lateinischen Schriften von 1545. Ein langes Referat ist gar nicht nötig66, weil nur ein Zug daran für meinen Zweck interessant ist – Luther stellt dort nämlich fest, dass er sein Verständnis der Gerechtigkeit Gottes als kommunikativer Eigenschaft Gottes auch bei Augustin wiedergefunden habe, freilich mit einer Einschränkung: Und obwohl dies [die Aussagen Augustins zur iustitia Dei] immer noch unvollkommen ausgedrückt ist und er bezüglich der Imputation nicht alles klar darstellt, gefiel es mir doch, dass hier die Gerechtigkeit Gottes gelehrt wird, durch die wir gerechtfertigt werden.67
Was Luther bei Augustin nicht findet ist das, was er für das Zentrum seiner Entdeckung hält, nämlich das imputative Verständnis der Gerechtigkeit des Christen, der genau in dem Sinne gerecht ist, dass er diese Eigenschaft als fremde und fremd bleibende empfängt und so gerecht ist durch die Gerechtigkeit eines anderen.
65
In Bernhard Lohse (Hg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (Wege der Forschung 123); ders. (Hg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther – neuere Untersuchungen, Stuttgart 1988 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beiheft 25). Die nach meinem Eindruck überzeugendste Deutung gibt LEPPIN: Traditionen (wie Anm. 43). 66 Eine genauere Auslegung: NOTGER SLENCZKA: Das Evangelium und die Schrift, in: ders., Der Tod Gottes und das Leben des Menschen, Göttingen 2003, S. 39–64, hier 50– 55. 67 Martin Luther: Vorrede zur Wittenberger Ausgabe der lateinischen Werke, WA 54, S. (176) 179–187: hier S. 186,16-20, Zitat 18-20; LDStA 2, S. 491-509: hier S. 506,1719 (dt. S. 507,23-26).
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5.2. Entfaltung: Die neue Identität Der Glaube besteht nun nicht einfach darin, diese Eigenschaft anzunehmen oder ähnliches, sondern der Glaube ist eine Gestalt des Selbsturteils, ein Selbstverhältnis, in dem der Mensch sich selbst nicht nur durch diese fremde Eigenschaft der Gerechtigkeit Christi, sondern durch die Person Christi insgesamt identifiziert: Man muß richtig von dem Glauben lehren, durch den du so mit Christus zusammengeschweißt wirst, dass aus dir und ihm gleichsam eine Person wird, die man von ihm nicht losreißen kann, sondern die beständig ihm anhangt und spricht: Ich bin [wie] Christus; und Christus wiederum spricht: Ich bin [wie] jener Sünder, der an mir hängt und an dem ich hänge. Denn wir sind durch den Glauben zu einem Fleisch und Bein verbunden, wie Eph 5[,30] steht … So, dass dieser Glaube Christus und mich enger verbindet als Gatte seiner Gattin verbunden ist.68
Es handelt sich um eine Auslegung von Gal 2,19f. in der großen Galatervorlesung Luthers. Dabei wird der Vorgang der Übertragung der Eigenschaften des Glaubenden auf Christus und umgekehrt beschrieben aus der Perspektive des betroffenen Subjektes, das sich die Identität Christi in der Weise aneignet, wie es sich seine eigene Vergangenheit anzueignen gezwungen ist. Die eigene Identität tritt unter das Vorzeichen der Identität Christi; diese fremde Identität wird als meine angeeignet. Ich halte dieses Zitat für den vollgültigen und – nicht nur gestützt auf die zitierte Kritik Luthers an Augustin – für den eigentlichen Sinn der lutherschen Rechtfertigungslehre69; diese ist ein begriffliches Konzept, das einen Vorgang beschreibt – aber nicht einen Vorgang dritter Person, sondern den durch das Evangelium, den Zuspruch der Person und des Lebens Jesu, motivierten, ‚von innen‘ („ich bin …“) erlebten Vorgang der kontrafaktischen, dem ursprünglichen Selbstverständnis widersprechenden Wandlung des Selbsturteils. Alle theologischen Begriffe wie ‚Rechtferti68
Martin Luther: Galaterbriefvorlesung 1531/35, WA 40/1, S. 285,24–286,17 [Luthers Galaterbrief-Auslegung von 1531, hg. von Hermann Kleinknecht, Göttingen 1980, S. 111]. Ich habe das ‚wie‘ deshalb eingeklammert, weil es eine Abschwächung der sehr direkten Identifikation darstellt, die noch die Handschrift bewahrt hat: „Sed fides facit ex te et Christo quasi unam personam, ut non segregeris a Christo, imo inherescas, quasi dicas te Christum, et econtra: ego sum ille peccator, quia inhaeret me et econtra.“ (ebd. S. 285,5-7). 69 Dazu SLENCZKA: Entzweiung (wie Anm.37), S. 310–316; ich habe diese These in den vergangenen Jahren in einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen in unterschiedlichen Hinsichten profiliert – etwa SLENCZKA: Luthertum (wie Anm. 4); DERS.: Der Freiheitsgehalt des Glaubensbegriffs als Zentrum protestantischer Dogmatik, in: Jörg Dierken und Arnulf von Scheliha (Hg.): Freiheit und Menschenwürde, Tübingen 2006, S. 49–64; DERS.: Neubestimmte Wirklichkeit. Zum systematischen Zentrum der Lehre Luthers von der Gegenwart Christi unter Brot und Wein, in: Dietrich Korsch (Hg.): Die Gegenwart Jesu Christi im Abendmahl, Leipzig 2005, S. 79–98.
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gung‘, die ‚particulae exclusivae‘ etc. weisen hin auf diesen Vorgang: die Übernahme einer zugesprochenen fremden Identität in ein Selbsturteil. Der Vorgang erschließt sich in anderen, entsprechenden Passagen als Attributionsvorgang; Luther bestimmt die in den Evangelien dargestellte Lebensgeschichte Christi als bestimmt von einer performativen Intention: Sie sind insgesamt ein Zuspruch, so dass in den Evangelien in einem sprachlichen Vorgang alles, was von Christus berichtet wird, dem Glaubenden zugesprochen wird, und umgekehrt alles, was vom Glaubenden gilt, von Christus ausgesagt wird: Das Hauptstück und Grund des Evangeliums ist, dass du Christus, ehe du ihn als Exempel fasst, aufnimmst und erkennst als eine Gabe und ein Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen sei, so dass, wenn du ihm zusiehst oder hörst, dass er etwas tut oder leidet, dass du nicht daran zweifelst, er selbst Christus mit solchem Tun und Leiden sei dein, worauf du dich nicht weniger verlassen sollst, als hättest du es selbst getan, ja als wärest du derselbe Christus.70
Die Nachzeichnung des Lebensvollzuges Jesu in den Evangelien hat nach Luther selbst den Zweck, diesen Lebensvollzug dem hörenden oder lesenden Subjekt zuzueignen. Die Evangelien sind strenggenommen nicht bloße Berichte, sondern sie sind Berichte, die in eins ein Urteil über den Leser darstellen: im Berichten (und nicht in einem zweiten Akt) wird das Berichtete dem Hörer und Leser zugesprochen; zugleich steht damit dies lesende Subjekt unter der Zumutung, diese fremde Biographie als eigene anzueignen, sich kontrafaktisch durch die und mit der Biographie einer fremden Person zu identifizieren; und der sachgemäße Gebrauch der Evangelien ist genau diese Übernahme des im Evangelium ergehenden Zuspruchs in ein Selbsturteil: ... so dass, wenn du ihm zusiehst oder hörst, dass er etwas tut oder leidet, dass du nicht daran zweifelst, er selbst Christus mit solchem Tun und Leiden sei dein, worauf du dich nicht weniger verlassen sollst, als hättest du es selbst getan, ja als wärest du derselbe Christus.
Und genau dieses ‚nicht daran Zweifeln‘, d.h. die Selbstidentifikation durch eine fremde Biographie (als wärest du derselbe Christus) ist das, was Glaube eigentlich ist: fides apprehensiva in genau diesem Sinne, sich verstehen durch ein anderes. Deutlich ist dabei, dass die ‚alte‘ Identität nicht einfach verloren geht, sondern der Christ beständig vor der Nötigung steht, die zugesprochene und angeeignete Biographie Christi (‚ich bin wie Christus‘) gegen das Urteil des Gesetzes, das ihn mit dem identifiziert, was er im Laufe seines Lebens geworden ist, festzuhalten: Der Christ lebt in ge70
Martin Luther: Kirchenpostille, WA 10/1,1, S. 11,12-18 (sprachlich leicht modernisiert). Vgl. auch Luther: Sermo de duplici iustitia, WA 2, 145–153: hier S. 145; LDStA 2, S.67–85: hier S. 68.
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nau diesem Sinne zwischen Gesetz und Evangelium bzw. als iustus et peccator: Als Inhaber zweier Identitäten.
5.3. Blick auf das Verhältnis der ‚Resolutiones‘ zu den 95 Thesen Es erscheint mir übrigens sehr fraglich, ob dieser Gedanke in den 95 Thesen schon vollends im Blick Luthers steht. Jedenfalls aber findet er sich in den Resolutiones zu diesen Thesen von 1518 in aller Deutlichkeit: Es ist unmöglich, dass jemand ein Christ ist und Christus nicht hätte, und wenn Christus, dann alles, was Christus gehört. … Denn durch den Glauben an Christus wird der Christ ein Geist und eines mit Christus. Es werden nämlich zwei in einem Fleisch, was ein großer Hinweis auf Christus und die Kirche ist. Wenn also der Geist Christi in den Christen ist, durch den die Brüder Miterben, Teilhaber des Leibes und Bürger Christi werden, wie könnte da nicht die Teilhabe an allen Gütern Christi sein? Denn auch Christus hat in demselben Geist all das Seine. So geschieht es durch den unschätzbaren Reichtum der Gnade Gottes, dass ein Christ sich rühmen und in Christus mit Zutrauen alles in Anspruch nehmen kann, weil nämlich die Gerechtigkeit und die Tugend, die Geduld, die Niedrigkeit, alle Verdienste Christi auch ihm gehören durch die Einheit des Geistes aus dem Glauben an ihn; und umgekehrt sind alle seine [des Christen] Sünden nicht seine, sondern sind Christus zu eigen durch dieselbe Einheit, in dem [i.e. Christus] alle verschlungen werden. Und das ist das Vertrauen der Christen und die Freude unseres Gewissens, dass durch den Glauben unsere Sünden nicht mehr unsere sind, sondern Christus zu eigen werden, und er selbst unsere Sünden trug, selbst das Lamm Gottes [ist], das die Sünden der Welt trägt, und wiederum wird jede Gerechtigkeit Christi uns zu eigen.71
Die unio cum Christo als Teilhabe an den Eigentümlichkeiten und Prärogativen Christi und umgekehrt wird hier ausdrücklich auf die Erfahrung des Gewissens („iucunditas conscientiae nostrae – Freude unseres Gewissens“) bezogen und so als die Lösung der compunctio cordis oder der contritio gefasst. Dieser Text ist nun zwar eine Auslegung der These II,12 der 95 Thesen, in der es im Rückgriff auf II,11 um den Zusammenhang von compunctio, d.h. der contritio und göttlicher Vergebung geht; während dort aber das Motiv des ‚fröhlichen Wechsels‘ noch nicht im Blick ist, tritt es in den in vielen Hinsichten deutlich weiter als die ursprünglichen Thesen gehenden Resolutiones prominent ins Zentrum72.
71
Luther: Resolutiones (wie Anm. 30), concl XXXVII (S. 593,14-28). Vgl. bes. concl XXXVII (S. 593,4ff.); ein weiteres Beispiel einer in den Resolutiones weiter als in den Thesen entwickelten Position ist das Verhältnis von These und Auslegung in concl XXXVIII (S. 593,40ff.). 72
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6. Die Gegenwart der Frage Luthers 6.1. Die Konstitution der Person in Urteilsakten Diese Gedankenfigur – die Konstitution der Identität durch einen Urteilsakt, in dem eine fremde Biographie zu- und angeeignet wird – wirkt zunächst sehr ungewöhnlich; sie verliert einen Teil ihrer Fremdheit, wenn man sich verdeutlicht, dass in der Tat auch nach neuzeitlichem Verständnis sich die Identität einer Person in Selbstzuschreibungsakten konstituiert73. John Locke beschreibt im berühmten 27. Kapitel des zweiten Buchs seines Essay concerning Human Understanding die Identität der Person als das Ergebnis einer Selbstzuschreibung; die Einheit der Person ist nicht einfach vorhanden wie Eigenschaften an einem Raumgegenstand sind; sie ist auch nicht begründet in der Identität des Leibes, durch den sich die Erfahrungen eines Lebens vollziehen. Die Identität der Person ist vielmehr begründet in der Integration der erinnerten ichhaften Vergangenheit in die Einheit eines Selbstbewusstseins. So weit die Erinnerung an Ichakte reicht, so weit reicht die Identität der Person – und umgekehrt: Akte, die ernsthaft als ichhaft vollzogene nicht erinnert werden können, sind strenggenommen kein Teil der Person. In einem Aneignungsvorgang, in einem Urteil bildet und erhält sich die Einheit und Identität der Person. Dass dieser Vorgang der Aneignung komplexer ist als Locke das schildert, kann man bei Freud nachlesen und erfährt dort, dass es eine verdrängte, aber doch unterbewusst angeeignete und zugleich negierte Vergangenheit gibt. Damit ist zugleich erkennbar, dass dieser Vorgang der Aneignung nicht den Charakter einer desinteressierten Wahrnehmung hat, sondern untrennbar von Wertungen durchzogen ist. Die Einheit mit sich selbst, die in der Übernahme der ichhaften Vergangenheit erfolgt, vollzieht sich zugleich als Selbstbewertung.
6.2. Die Fragilität der Personidentität Wenn man das Phänomen des ‚Selbstbildes‘ weiter auslegen würde74, würden verschiedene Aspekte deutlich werden; so würde erkennbar werden, dass sich ein Identitätsbewusstsein nicht in der gleichmäßigen Aneignung aller je vollzogenen Akte bildet, sondern dass sich Gewichtungen ausbil73
John Locke: An Essay concerning Human Understanding, ed. J. W. Yolton, 2 Bde., London repr. 1961. Zum folgenden und den Belegen vgl. SLENCZKA: Luthertum (wie Anm. 4), S. 185f. und DERS.: Freiheitsgehalt (wie Anm. 69), S. 60–62. 74 Ich werde in einem demnächst erscheinenden Aufsatz zum Phänomen der Scham einige Schritte in dieser Richtung gehen und dort einige der im folgenden genannten Aspekte einlösen.
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Notger Slenczka
den, dass bestimmte Ereignisse und Erlebnisse dazu tendieren, ihren partiellen Charakter zu verlieren und sich als Schlüssel anbieten, der den Sinn des Lebensganzen erschließt und so in besonderer Weise das Selbstbild prägt. Es würde ferner erkennbar werden, dass das Bewusstsein der eigenen Identität in vielfältiger Weise mit den strukturellen und individuellen Rollenzuweisungen, Fremdwahrnehmungen und Fremdbewertungen verschlungen ist, denen jeder Mensch ausgesetzt sind und die er nicht umhin kann zu übernehmen75. Das sind Hinweise, die einer sehr viel weitergehenden Entfaltung bedürftig, aber auch fähig sind; sie lassen sich zu der These verdichten, dass wir die Identität unserer Person nicht anders als in diesem Vorgang der Aneignung unserer Vergangenheit und damit in einem Urteilsakt haben; zugleich aber liegt dieser Urteilsakt – bereits in der Nötigung zur Integration von Fremdurteilen – nicht in der Hand des Subjektes, das ihn vollzieht. Ein Mensch kann sich ganz buchstäblich seiner Identität, das heißt: seiner selbsttätig vollzogenen Bestimmtheit und der damit verbundenen Bewertung unserer Identität, nicht gewiss sein. Sie ist fragil. Momente, in denen dieser Sachverhalt schlagartig aufleuchtet, sind Strukturen des negativen Selbstverhältnisses, des odium sui, die dadurch gekennzeichnet sind, dass wir mit uns selbst eins sein müssen, dies aber nicht können – zu diesen hochinteressanten Verhältnissen gehört beispielsweise das Bewusstsein der Schuld76; das damit verwandte Phänomen des Gewissens77; und das Phänomen der unentrinnbaren Integration des fremden Blicks und des fremden Urteils: die Scham78, aber auch anders gelagerte Phänomene wie die Trauer. Diese Erfahrungen sind punktuelle Identitätskrisen, in denen das beständige Gefährdetsein und die Zerbrechlichkeit der menschlichen Identität aufscheint. Was Luther in den Darstellungen seiner Anfechtungserfahrung als Momente der Hölle und des göttlichen Verneinungsurteils beschreibt, sind solche (fremdinduzierten) negativen Selbstverhältnisse. Er beschreibt mitnichten diese Erfahrungen als den Normalfall des menschlichen Lebens und Selbstverständnisses; aber er weist darauf hin, dass diejenigen, die darauf aufmerksam geworden sind, dass nur die zusammenfassende und urteilende Bezugnahme auf unsere Vergangenheit die Einheit, die Selbig75
Diese These ist genauso genommen schärfer und so zu fassen, dass es ein Selbstverhältnis, dem nicht ein Fremdverhältnis zugrunde liegt und das nicht die Integration eines Fremdverhältnisses ist, nicht gibt – ich verweise zur Begründung auf den in Anm. 74 angekündigten Text. 76 Dazu NOTGER SLENCZKA: Schuld und Entschuldigung, in: ders., Der Tod Gottes und das Leben des Menschen (wie Anm. 66), S. 184–197. 77 Dazu SLENCZKA: Entzweiung (wie Anm. 37). 78 Zu diesem Thema und zur Phänomenologie negativer Selbstverhältnisse im Allgemeinen wird 2007 ein Text von mir erscheinen.
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keit und den Wert unserer selbst gewährleistet, die Erfahrung der Fragilität des menschlichen Selbstverhältnisses gemacht haben. Sie (und nur sie) sind umgetrieben von der Frage nach einem letzten und letztgültigen Urteil über sich selbst. Aber Luther ist auch überzeugt davon, dass diese Menschen und nur sie das allgemeingültige, aber immer schon verdrängte Grundproblem des menschlichen Identitätsbewusstseins erfahren und erfasst haben. Mit der Möglichkeit, diese Überzeugung Luthers von der Fragilität menschlichen Identitätsbewusstseins zu erschließen, steht und fällt die Verständlichkeit seiner Antwort. Wenn diese Einsicht in die Fragilität der eigenen Identität nicht mehr vermittelbar ist, dann ist in der Tat die These Luthers, dass der Mensch seine Identität ‚allein durch den Glauben‘ findet, überholt.
Autorenverzeichnis CHRISTOPH BURGER Professor für Kirchengeschichte, Faculteit der Godgeleerdheid, Vrije Universiteit Amsterdam BERNDT HAMM Professor für Kirchengeschichte, Theologische Fakultät, Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg THOMAS KAUFMANN Professor für Kirchengeschichte, Theologische Fakultät, Georg-AugustUniversität Göttingen ROBERT KOLB Professor für Systematische Theologie, Concordia Seminary, St. Louis, Missouri VOLKER LEPPIN Professor für Kirchengeschichte, Theologische Fakultät, Friedrich-SchillerUniversität Jena ANDREAS LINDNER Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kirchengeschichte und Systematische Theologie, Martin-Luther-Institut, Universität Erfurt JOSEF PILVOUSEK Professor für Kirchengeschichte, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Erfurt RISTO SAARINEN Professor für Ökumenische Theologie, Teologinen Tiedekunta, Helsingin Yliopisto
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Autorenverzeichnis
NOTGER SLENCZKA Professor für Systematische Theologie/Dogmatik, Theologische Fakultät, Humboldt-Universität Berlin MICHAEL WEICHENHAN Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Systematische Theologie/Philosophie, Theologische Fakultät, Humboldt-Universität Berlin TIMOTHY WENGERT Professor für Kirchengeschichte, Lutheran Theological Seminary, Philadelphia, Pennsylvania ELSE MARIE WIBERG PEDERSEN Lektorin für Systematische Theologie, Det Teologiske Fakultet, Aarhus Universitet MARKUS WRIEDT Professor für Kirchen- und Theologiegeschichte, Fachbereich Evangelische Theologie, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, und Marquette University, Milwaukee, Wisconsin
Personenregister Aufgenommen sind Namen von Personen aus der Zeit bis 1600, die im Text bzw. in den Anmerkungen genannt werden. Die Namen neuerer Autoren sind nur aufgenommen, soweit sie im Text genannt werden. Kursive Seitenzahlen verweisen auf eine Nennung in einer Anmerkung. Abaelard, Petrus 296, 297, 301 d’Abano, Pietro 76 Aegidius von Rom 19, 23, 29, 31, 32, 34, 49–51, 54 Aegidius von Mendonta 24 Aegidius von Viterbo 26 Aelred von Revaulx 234f., 236 Aesop 262 Agricola, Johann 189 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 76 d’Ailly, Pierre 74, 76 Albertus Magnus 50, 75 Albert von Padua 32 Albrecht von Mansfeld (Graf) 139 Albumasar 74, 75, 77 Alexander von Hales 13, 50 Alfonso Vargas von Toledo 21f., 31 Alkindi 74, 76 Ambrosius 287 Amplonius Rating de Bercka 50, 51 Amsdorf, Nikolaus von 188, 246 Angelus von Döbeln 47 Anselm von Canterbury 26 Aristoteles 20, 30, 31, 38, 50, 66, 71, 72–74, 77f., 79f., 86, 162f., 213, 280f., 283f. Arnold, Gottfried 190 Athanasius 252 Augustinus 9–38, 49, 54, 72, 89, 93, 97, 127, 139, 154, 157, 160, 162, 163, 164, 165, 204, 225, 236, 240, 271, 272–276, 277, 279, 281, 282–286, 287, 289, 309, 310
Augustinus von Ancona 32 Augustinus Favaroni von Rom 25 Averroës 72, 82 Avicenna 77, 81, 82, 88 Avicenna (Pseudo-) 76 Bartholomäus von Urbino 23f., 32 Basilius d. Gr. 226, 274 Bavarus, Valentin 100, 101 Benedikt von Nursia 226, 233 Bercken (Byrcken), Johannes 181 Bernhard (Konvertit) 202 Bernhard von Clairvaux 116, 131, 142, 143, 146, 154, 155f., 164, 172, 174, 216, 221–241, 258 Bernhardi, Bartholomäus 162 Biel, Gabriel 34, 48, 72, 76, 79, 81, 87, 89, 128, 149, 160, 279, 296f. 298, 299, 308 Blumhardt, Johann Christoph 94 Boehmer, Heinrich 102, 192 Bonatti, Guido 76 Bonaventura 13, 31, 72, 89, 258 Bonhoeffer, Dietrich 207, 219 Bornkamm, Heinrich 193 Bornkamm, Karin 193 Borxleben, Christian 40 Bradwardine, Thomas 12, 14, 23f. Braun, Johannes 119, 125, 136f., 180 Brecht, Martin 103, 126, 194 Brunner, Peter 294 Bucer, Martin 188, 196 Bucholt, Nicolaus 40 Buntz, Hieronymus 104
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Personenregister
Burckardi, Konrad 45 Buridan, Johannes 276f., 278–281, 284 Cajetan, Jakob de Vio 229 Cardano, Girolamo 59, 65 Cassian 274 Cicero 14, 68, 221 Clemens von Alexandrien 274 Cochläus, Johann 100, 107 Cohen, Hermann 70 Crotus Rubeanus 57, 95, 96, 99, 108 Cruciger, Caspar 245, 266 Cusanus, Nicolaus 61, 70
Galilei, Galileo 66 Gaurico, Luca 65 Georg von Brandenburg-Ansbach (Markgraf) 197 Gerson, Jean 34, 72, 76, 77, 119, 128, 131, 133, 174 Gertrud von Helfta 94 Gratian von Bologna 11 Gregor d. Gr. 133, 226, 274, 275, 276, 285, 289 Gregor von Rimini 12, 14, 18, 19–21, 22, 23f., 25f., 27, 31, 32, 37, 49, 51, 136, 139, 140, 176
Eadmerus Cantuarensis 174 Eberbach, Georg 54 Eck, Johann 163, 224, 225, 229, 286–288, Eckhart (Meister) 157, 172 Eckermann, Willigis 22 Elert, Werner 193 Epikur 67 Erasmus von Rotterdam 67, 88, 158, 159, 180, 195, 199, 210 Erikson, Erik H. 192
Hagen, Johannes 173 Hahn, Johann Michael 94 Hansen, Dorothee 28 Harnack, Adolf (von) 190f. Harnack, Theodosius 190 Hasse, Hans-Peter 166 Heinrich von Friemar 32, 45 Heinrich von Gent 22, 50, 79 Heinrich von Mainz 46 Henkys, Jürgen 248 Hermann, Rudolf 282f., 285 Hermann von Carinthia 75 Heymstete, Johannes 40 Hieronymus 273, 287 Hildegard von Bingen 94 Hirsch, Emanuel 70, 102, 105, 193 Hobbes, Thomas 71 Hoen (Honius), Cornelius Henrici 196, 199 Holl, Karl 70, 102, 103, 105, 111, 126f., 191, 193 Hottenbach, Johannes 39 Hugo von St. Victor 29, 275, 276 Hugolin von Orvieto 22f., 24, 25, 26, 27, 32, 176 Hus, Johannes 25, 163
Fichte, Johann Gottlieb 71 Flasch, Kurt 13 Florus von Lyon 10 Franz von Assisi 93 Frater Guido 24 Freud, Sigmund 313 Fridolin, Stephan 123 Friedrich von Sachsen (Kurfürst) 197 Friemel, Salesius 26 Fries, Lorenz 62
Jakobus von Aquila 19 Jakobus Carthusiensis 173 Jakobus Perez von Valencia 26 Jakobus von Viterbo 32 Jan Strantz zu Gräfentonna 46 Jedin, Hubert 26 Joachim von Brandenburg (Markgraf) 198 Joachim von Fiore 84 Johann Friedrich (Kurfürst/Herzog) 35, 221
Descartes, René 66 Dietrich, Veit 95, 245 Dilthey, Wilhelm 191 Dionysios Areopagita 155 Dionysius (Pseudo-) 247 Dionysius von Montina 24, 25 Dominikus 226 Dorsten, Johannes von 38, 47f. Dressel, Michael 182–184 Drolmeier, Johannes 44 Dungersheim von Ochsenfart, Hieronymus 95, 99, 108 Duns Scotus, Johannes 19, 72, 76, 78, 79–81, 87, 142, 146, 277
Personenregister
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Johannes Damascenus 287 Johannes Hispanus 75 Johannes Klenkok 23f. Johannes de Lutrea 281 Johannes von Retz 24 Jonas, Justus 95, 157 Jordan von Quedlinburg (von Sachsen) 18, 27–33, 36, 37, 41, 45 Junghans, Helmar 126, 259
Melanchthon, Philipp 59, 63–65, 70, 100, 101, 143, 163f., 166, 188, 194, 208, 244, 245, 266 Meyer, Conrad Ferdinand 292 Moeller, Bernd 41, 167 Müller, Alphons Victor 26, 102 Münster, Sebastian 203 Müntzer, Thomas 153 Mutian, Konrad 182
Kähler, Ernst 165 Kant, Immanuel 68f., 71, 89 Karlstadt, Andreas Bodenstein von 35, 36, 153–169, 198f., 204, 260, 261, 286–288 Katharina van Naaldwijk 173 Kepler, Johannes 70 Koffmane, Gustav 197 Kolb, Franz 199 Konrad von Ebrach 24f. Köpf, Ulrich 116 Köstlin, Julius 102, 104 Kürzinger, Joseph 21
Nathin, Johannes 44, 47, 99, 182 Newton, Isaac 66 Nikolas von Alexandria 28 Nikolaus von Lyra 72 Nikolaus von Siegen 47
Lagarde, Paul de 70 Lang, Johann 157, 162, 171, 182, 183f. Latomus, Jacobus 283 Lauterbach, Anton 57, 95f., 97, 109 Lauterer, Kassian 25 Leppin, Volker 115 Lichtenberger, Johannes 62, 65, 84f., 86, 87 Linck, Wenzeslaus 34 Lindemann, Dietrich 50 Locke, John 313 Löwenich, Walther von 264 Lohse, Bernhard 49, 105, 224–228 Lubin, Eilhard 70 Lucian 67 Ludwig von Siegen 40 Luder, Hans 97, 125f., 132, 229 Macchiavelli 71 Manilius 68, 89 Markschies, Christoph 272f. Margaritha, Antonius 203 Martin von Tours 251 Mathesius, Johann 101, 179 Matthäus Lang von Wellenburg 34 Meissinger, Karl August 105
Oberman, Heiko A. 115, 258, 261 Odo von Soisson 275, 276 Ohst, Martin 115 Origenes 273, 274, 287 Otto, Henrik 166 Paltz, Johannes von 32, 44, 48, 123, 149, 174, 176 Päpste – Eugen IV 177 – Johannes XXII 28 – Leo X 140 – Martin V 175 Paracelsus (Theophrast Bombast von Hohenheim) 85 Paul von Middelburg 84 Paulus Carnificis 40 Paulinus 287 Pelagius 15 Pesch, Otto Hermann 271 Petrus Lombardus 10, 13, 26f., 136, 137, 155, 275, 276, 285 (s. auch s.v. Sentenzen) Pfeffinger 182 Pico della Mirandola 63, 72, 76, 82, 90 Planitz, Hans von 197 Platon 20 Plato von Tivoli 75 Polich von Mellerstadt, Martin 59 Pomponazzi, Pietro 71 Proles, Andreas 33, 44f., 123, 176, 177 Ptolemaios 75f.
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Personenregister
Ratzeberger, Matthäus 100 Reuchlin, Johannes 202 Ritschl, Albrecht 68f., 70 Rode, Hinne 196 Rörer, Georg 96 Rusch, Adolph 210
Tetzel, Johann 98 Themestius 50 Thomas von Aquin 13, 14, 20, 22, 24, 31, 34, 47, 50f., 72, 74, 77f., 79, 83, 87, 124, 146, 174, 275, 276, 277, 296, 301, 303 Thomas von Kempen 122, 128 Thomas von Straßburg 19, 30, 32 Troeltsch, Ernst 70, 153, 292f., 294, 295, 297, 301, 307 Trutfetter, Jodokus 48, 51–53, 54, 72–83, 84, 86, 164, 277, 279
Saak, Eric Leland 31f. Savonarola, Girolamo 62, 63, 82 Schambach, Johannes 40, 41 Scheel, Otto 104f., 111 Schildesche, Herman 32 Schilling, Johannes 167, 259 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 68 Schulze, Manfred 22, 23, 24, 25, 26 Schwarz, Reinhard 116 Schwenckfeld, Kaspar von 188 Seckendorf, Veit Ludwig von 190 Seripando, Girolamo 26, 225 Seuse, Heinrich 128, 155 Simon Fidatio von Cascia 26 Spalatin, Georg 52f., 114, 161, 182, 197, 246 Spenlein, Georg 118, 181 Stakemeier, Eduard 26 Staupitz, Johannes von 18, 32, 33–36, 37, 38, 98, 112, 116, 121, 127, 128, 131, 132, 134, 139–144, 145, 149, 153–169, 176, 177, 181, 182, 184, 247, 249, 250 Steinmetz, David Curtis 27 Sticken, (Schwester) Salomé 173 Stöffler, Johannes 64
Waging, Bernhard von 173 Warburg, Aby 64f., 66f., 69 Weller, Hieronymus 95, 134 Werbeck, Wilfried 26 Wilhelm von Auvergne 72 Wilhelm von Cremona 29 Wilhelm von Ockham 14, 27, 47, 48, 51, 72, 79, 87, 128, 142, 279 Wolferinus, Simon 245 Wycliff, John 12, 14, 25, 163
Tauler, Johannes 37, 128, 148, 154, 157, 159f., 162, 165, 166, 168f., 172, 303, 306
Zachariae, Johannes 47 Zumkeller, Adolar 21, 22, 23, 26 Zwingli, Huldrych 196
Usingen, Bartholomäus Arnoldi von 44, 48, 51, 53f., 72, 182, 277–281, 284, 289 Varro, Terentius 194 Venantius Fortunatus 183 Vergil 89, 221 Volprecht, Georg 41
Sachregister Das Sachregister schließt Ortsnamen mit ein. Abendmahlstheologie 194, 195–201, 245, 260 Aberglauben 60, 64f., 68f., 72f., 75, 84, 106, 191, 231 Ablass 52f., 111, 124, 159, 256, 294, 295, 300, 302, 304f., 308 analogia fidei 208 Anfechtung 113, 117f., 119, 120, 130–135, 137, 139–143, 144, 146, 148–150, 171, 183, 199f., 264, 294, 299f., 302f., 309, 314 Anthropologie 207–220, 238 Antichrist 59 Antipelagianismus 12, 14, 18, 19, 23, 24, 30, 35, 36, 37, 139, 162, 282 Apokalyptik 60, 68, 75, 86, 91, 188 arabische Philosophie 63, 73, 84 ars moriendi 124 Askese 49, 175, 229 Astrologie 57–91 auctoritas scripturae 163 Augsburg 226 Augustinereremiten 18, 33, 39–55, 177f. Basel 25, 153 Beichte 121, 128, 129 Benediktiner 34, 39 Bergpredigt 232–234 Bettelorden (Mendikantenorden) 14, 18, 29, 32, 37, 42, 45, 47, 174f., 179, 180, 185 Bibelauslegung 22, 29, 35, 36, 88, 113, 126, 139, 148, 158, 191, 199–201, 202, 208, 229, 237, 262–265, 281–286, 287 Bibelorientierung 19, 29, 30, 34, 35, 51, 52, 54, 59, 72, 107, 126, 135, 154, 160, 163f., 224, 288
blasphemia 130 Blendwerk 97–99 Böhmen 195–200 Bologna 22, 23, 24, 25 Buße 42, 113, 123, 140f., 295–301, 308 Christologie 26, 143, 161, 195, 202, 241, 310–312 corpus doctrinae 208 Decretum Gratiani 11 Demut 130, 133, 138, 143, 149, 221, 233, 267 Determinismus 21, 23, 24, 62, 71, 75, 77, 79, 81, 89 Deutscher Orden 182 Deventer 173 Devotio moderna 121 Dialektik 52 dilectio Dei 31, 32, 122 Dominikaner 30, 39, 40, 45 Donatismus 14f. Dresden 181 dulcedo Christi 161 Ehrenbreitstein 176 Eisleben 183 Ekklesiologie 265f. emanzipatorische Momente 71 Erbsünde 19, 20, 22, 23, 25, 26, 90, 292 Erfurt 23, 26, 38, 39–55, 72, 111–119, 125–130, 135, 136, 139f., 143, 148f., 174, 176, 180f., 182, 184, 228, 277–281, 284 Erkenntnisweg 114, 115, 131 Eschatologie 124, 301–306, 308
324
Sachregister
Ethik 69, 126, 232 evangelische Räte 174 Evangelium 35, 38, 114, 118, 145, 146f., 150, 202f., 208, 212–216, 230, 232, 234, 237, 239, 245, 248, 249, 252, 259, 263, 266f., 310f. Exegesegeschichte 13, 282 Florenz 29 Frankfurt/Oder 40f. Franziskaner 31, 39, 40, 45, 46, 72, 243, 300f., 308 freier Wille 20, 71, 74, 75, 80, 81, 83, 87, 88, 276f., 278f., 280 Freiheit 68, 69, 71, 237–239, 258f. Frömmigkeit 11, 13 Frömmigkeitskrise 120 Fürsprache der Heiligen 58 Gebet 29, 122, 124, 128, 132f., 136, 149, 171, 174, 177f., 179, 250, 255, 260f., 263, 267, 270 Gefahr für die Seele 59 Gelassenheit 166f. Gemeinschaft, sakrale 41 Generalstudium 18, 19, 22, 23, 26, 29, 32, 34, 47, 48, 171, 175, 177 Gewissen 119, 120–125, 130, 132, 137, 146f., 179, 211, 214, 216, 217f., 232, 239, 256, 299, 304, 312, 314 Glaube 31, 36, 133, 138, 147, 164, 214–216, 217f., 239–241, 292, 310 Gnadenlehre 12, 19, 20, 22, 23, 25, 26, 116, 123f., 137, 161f., 164, 249 Gotha 44, 45, 181, 182 Gottesebenbildlichkeit 133 Gotteshass 130, 150 Gottesschau 175f. Greifswald 40 Häresie 31 Hausgemeinschaft 253–258, 259, 261, 265–268 Haustafel 253f. Heidelberg 52, 53, 66, 164, 283, 307 Heidentum 20, 24, 60, 62, 68, 69 Heiliger Geist 13 Heiligkeitsstreben 133, 269f., 289 Heilsgewissheit 123, 138, 292f., 295 Hellenismus 63
Hermeneutik 18, 143, 158, 208 Heterodoxie 28 Historismus 16, 17 Hochmut 181 Hoffnung 138, 142 Horoskop Christi 59 Humanismus 38, 54, 126, 127, 135, 244, 262 humanitas 218 Interpretationsregeln, religiöse 59 iustitia activa 130, 133, 139 158, 211, 217 Jenseitsstrafen 124, 301–305 Johanniter 41 Judentum 201–204 Jurisdiktionsprimat 14, 168, 252 Karthäuser 39, 173, 256 Kausalität Gottes 78f., 89f. Ketzerverfolger 175, 205 Köln 33 Kometen 74, 86 Konfessionalismus 68, 117, 189 Konkordienformel 188 Konkupiszenz 20, 26, 269–290 Konstellation 116, 140, 154, 192 Kontemplation 172f., 176 Kontinuität 116 Kontroverstheologie 13–15 Konversion 202 Kreuzesnachfolge 122, 306f. Langensalza 182 Laterankonzil (IV.) 164 Lehrprimat 14, 164 Leipzig 33, 40, 160 Leipziger Disputation 163, 224f., 228, 286 lux evangelii 35, 38 Magisterprüfung 49 Mainz 181 Makrokosmos 85 Manichäismus 14 Mathematik 67 Memmingen 181 Messe 171, 195, 225, 259 ministerium sublime 137, 180 München 33, 184 murmuratio 130
Sachregister Mystik 30, 37, 94, 123f., 127f., 131, 141f., 144–148, 153–169, 223f., 263f., 303 Nachfolge Christi 11, 57, 127 Naturforschung 69 Naturphilosophie 72, 73, 75 Naturrecht 89 Neuplatonismus 14 Neustadt an der Orla 182f., 184 Nezessitarismus 78, 87f. Nominalismus 19, 52, 116 Nürnberg 156, 197 Observanzbewegung 18, 41, 43–46, 127, 131, 143, 175f., 177f., 182, 184 odium sui 306, 308, 314 Ökumene 243f., 265–268, 269–271, 282, 288–290 Orlamünde 153, 167 Oxford 23, 24, 32 Padua 72 papista insanissimus 187 Papsttum 114 Paris 19, 21, 22, 24, 25, 28, 29, 30, 32, 72, 176, 234 pater eremitarum 28 Paulusforschung 269, 289 Perfektionsideal 122, 130, 132 Periodisierung 194 Peripatetiker 72 Persönlichkeitskonzept 191 Phänomene am Himmel 58, 59, 64, 90 poenitentia 158, 161, 296, 303 praeceptor 27, 28, 29 Prädestination 19, 21, 22, 23, 130, 142 Prag 23, 24 Predigt 17 promissio 222, 228, 239 Protestantismus 189f. Provinzialvikar 171, 181–185 publizistische Wirkung 189, 201, 202, 204 Rechtfertigungslehre 19, 21, 23, 26, 30, 113, 118, 124, 131, 137, 139, 141f., 146f., 153, 165, 168, 181, 193, 207–220, 225f., 240, 257, 263, 269, 292–294, 306, 308, 309–312
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Reformkongregation 43, 171 Religiosität 67f. repugnantia 283 Rezeptionsgeschichtsforschung 16, 17, 187–195, 204, 293 Rom 59, 109, 117, 155f., 252 Rostock 40 Säkularisierung 207, 236, 257 Sakramente 147, 195–201, 245, 247, 248, 252, 261, 268, 295–301 Salzburg 34 Schöpfung 30, 85, 118, 133, 207, 210f., 212–216, 218, 221, 225f., 230, 239 Scholastik 38, 53, 70, 71, 87, 116, 119, 131, 133, 139, 160, 162, 164, 223, 239, 262, 271, 273, 283f., 295 Seelsorge 37, 45, 46 Selbstliebe 127 Sentenzenvorlesung 10, 19, 21, 22, 24, 25, 30, 31, 33, 47, 176, 276 Serviten 39 Sevilla 21 simul iustus et peccator 269–290, 312 Sintflut 85 Skepsis 14 Spätantike 9 Sprachkritik 52 Stoa, Stoizismus 68, 74, 88f., 273–277, 279, 285, 289 Stotternheim 57, 58, 59, 86, 91, 93–110, 125, 126, 144, 151 Straßburg 198 Subjektivierung 293f., 295–301 Subjektivität 292, 295 Sündenlehre 21, 23, 113, 116, 118, 121, 125, 129, 130, 132, 133, 141, 147, 148f., 214, 237, 269–290, 295–297, 303–305 Taufe 209, 214f., 227, 231f., 245, 247, 271f., 287 Templerorden 230 Terminstationen 46 theologia affectiva 31f. Theologia Deutsch 37f., 128, 159, 303 Theologie des Gesprächs 245 Thomismus 19, 24 Tischlesungen 11
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Sachregister
Toleranz 203 Traditionshorizont 27 Transzendenzerfahrung 94 Trient 272, 274, 286, 289 Trost 118, 119, 131, 142, 146, 149, 174, 243–268, 293, 299 Tübingen 33, 72 Unglückspropheten 85 Urstand 19, 20, 26 Verantwortung 207 Verdienst 19 Vernichtungserfahrung 305f. Vernunft 19, 25, 66, 67, 75, 103, 201, 273, 277, 280f. Voluntarismus 20
Wartburg 192 Weltfrömmigkeit 68 Wende-Konstrukt 113, 115, 133f., 135, 149f., 159 Wertungsperspektive 191 Wien 24 Wirken der Gestirne 73 Wittenberg 26, 33, 40, 59, 111, 117, 130, 139f., 143, 148, 153, 156–158, 160, 179, 180, 182, 194, 202 Worms 194 Wort Gottes 138, 212f. Zisterzienser 24, 216, 235, 241 Zitat 15, 16, 17, 22, 23, 27, 34, 35 Zorn Gottes 128, 151, 305 Zürich 153