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German Pages 345 [346] Year 2020
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Volker Leppin (Tübingen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin) Matthias Pohlig (Münster), Eva Schlotheuber (Düsseldorf)
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Martin Luther – Biographie und Theologie herausgegeben von
Dietrich Korsch und Volker Leppin
2., durchgesehene und verbesserte Auflage
Mohr Siebeck
Dietrich Korsch ist Professor (em.) für Systematische Theologie an der Philipps-Universität Marburg. Volker Leppin ist Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen und Mitglied der Sächsischen Aka demie der Wissenschaften.
ISBN 978-3-16-1555257-1 / eISBN 978-3-16-158590-6 unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. 1. Auflage 2010 © 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort zur 2. Auflage Daß Lehre und Leben bei Martin Luther zusammengehören, prägt die Grundanlage seiner Theologie. Denn Gott ist es, der sich in seinem Wort des Menschen in seinem Lebenslauf annimmt, ihn anspricht, fordert und befreit. Diese Orientierung hat sich in Luthers eigenem Leben herausgebildet, indem er die Brüche und Verwerfungen seiner Lebensgeschichte im Licht des Evangeliums verstehen lernte. Dabei ist ihm zugleich der exemplarische Charakter seines eigenen Daseins aufgegangen. Daß dieser Zusammenhang von Biographie und Theologie nicht nur grundsätzlich einleuchtet, sondern auch in den Etappen seines Werdens Interesse weckt, belegt die Tatsache, daß dieses Buch eine zweite Auflage erfährt. Offensichtlich hat die Fragestellung, die seinerzeit durch die Luther-Biographie Volker Leppins aufgeworfen wurde, nichts an Aktualität verloren. Sie läßt sich, wie dieser Band belegt, nur konsequent verfolgen, wenn man historische und systematische Perspektiven miteinander verschränkt. Der Band und seine Rezeption belegen, daß das sachliche Gespräch der Disziplinen, bei aller kritischen Auseinandersetzung, möglich ist. Das ist gerade in einem Jubiläumsjahr wie 2017 eine erfreuliche Aussicht. Wir danken den Kollegen, die zu der Marburger Tagung im Jahr 2009 beigetragen haben, daß sie ihre Texte für diese Auflage erneut durchgesehen und, wo nötig, aktualisiert haben. Besonders dankbar sind wir für die Tatsache, daß sich der Kreis der Beiträger über Forscher zur Reformation erstreckt, die verschiedenen Generationen der theologischen Wissenschaft angehören. Für die Neuauflage wurde der ganze Band noch einmal gründlich redigiert – hierfür danken wir Frau Anja Bork, Tübingen. So wünschen wir der erneuten Ausgabe dieses Buches, daß sie zur Einsicht in den spezifischen Charakter der reformatorischen Theologie aus der Perspektive der Biographie Martin Luthers weiter beitragen kann. Kassel und Tübingen, im Mai 2017
Dietrich Korsch und Volker Leppin
Vorwort Wissenschaft käme ohne Streit nicht voran – hiervon zeugt auch der vorliegende Band von Aufsätzen. Er geht auf eine Tagung zurück, die die beiden Unterzeichneten gemeinsam vom 23. bis 25. März 2009 in den Räumen des Fachbereichs Evangelische Theologie der Philipps-Universität in Marburg veranstaltet haben. Den Anstoß hierzu gab ein öffentlicher Disput über Fragen der Luther-Biographie in Luther 79 (2008) 45–55. Sie war Teil der Debatte, die Volker Leppins Luther-Biographie ausgelöst hatte, und hatte sich zur Aufgabe gesetzt, diese auf die grundsätzlichen Fragen im Zusammenhang von Biographie und Theologie zuzuführen. Die Grundidee der Tagung war es, an markanten Lebensstationen Luthers – der Entwicklung des Freiheitsverständnisses, dem Ende seines Mönchtums, der Eheschließung, dem Coburg-Aufenthalt, der Auseinandersetzung um das Gesetzesverständnis und den späten Judenschriften – jeweils eine stärker biographisch und eine stärker theologisch akzentuierte Perspektive ins Gespräch miteinander zu bringen. Die Reaktion der Kollegen auf die mit diesem Konzept ausgesandten Einladungen war überwältigend positiv – nur wenige mußten wegen unabdingbarer anderer Verpflichtungen absagen, die anderen folgten der Einladung und trugen zu einer intensiven Gesprächsatmosphäre bei. Ihnen allen gilt unser Dank, ebenso wie dem seinerzeitigen Dekan des Fachbereichs Evangelische Theologie, Peter Dabrock, der die Abhaltung der Tagung ermöglicht und sie durch ein Grußwort bereichert hat. Daß das Anliegen, Luther recht zu verstehen, nicht nur ein innerakademisches ist, hat die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck deutlich gemacht. Für finanzielle Unterstützung und eine beeindruckende persönliche Präsenz danken wir ganz herzlich. Den größten Anteil der Kosten hat die Fritz-Thyssen-Stiftung übernommen, der wir für die großzügige und unbürokratische Unterstützung danken. Ein besonderer Dank gilt für Hilfe bei der Vorbereitung der Tagung und dieser Publikation Heike Mevius, die auch den Satz der Manuskripte sowie die Erstellung des Namensregisters vorgenommen hat. Abschließend hoffen wir, mit diesem Buch einen weiteren Beitrag zum guten akademischen Streit zu bieten – und freuen uns auf Anregung und Kritik. Dietrich Korsch, Marburg
Volker Leppin, Tübingen
Inhaltsverzeichnis Dietrich Korsch Einleitung: Biographie, Individualität und Religion........................................ 1 Georg Schmidt Luthers Freiheitsvorstellungen in ihrem sozialen und rhetorischen Kontext (1517–1521) ..................................................................................... 9 Reinhard Schwarz Luthers Freiheitsbewußtsein und die Freiheit eines Christenmenschen ......... 31 Andreas Odenthal „…totum psalterium in usu maneat“. Martin Luther und das Stundengebet ............................................................ 69 Wolf-Friedrich Schäufele „…iam sum monachus et non monachus“. Martin Luthers doppelter Abschied vom Mönchtum................................... 119 Armin Kohnle „Deus ita voluit, ut derelictae misericordiam praestarem“. Luthers Eheschließung: ein theologisches Zeichen? .................................. 141 Wolfgang Breul „Es ist verloren der geystlich standt“. Luthers Eheschließung im Kontext des Aufstands von 1525....................... 153 Volker Leppin Text, Kontext und Subtext. Eine Lektüre von Luthers Coburgbriefen.................................................... 169 Dietrich Korsch „Sic sum“. Der Theologe Martin Luther auf der Veste Coburg 1530 ............................ 183 Martin Brecht Luthers Antinomerdisputationen: Lebenswirklichkeit des Gesetzes ............ 195
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Inhaltsverzeichnis
Walter Sparn „Lex iam adest“. Luthers Rede vom Gesetz in den Antinomerdisputationen .......................... 211 Anselm Schubert Fremde Sünde. Zur Theologie von Luthers späten Judenschriften ....................................... 251 Hans-Martin Kirn Martin Luthers späte Judenschriften – Apokalyptik als Lebenshaltung? Eine theologische Annäherung .......................................... 271 Johannes Schilling Evangelische Existenz. Leben und Glauben in Luthers Briefen .................. 287 Bernd Moeller Der biographische Sonderfall Martin Luther .............................................. 305 Volker Leppin Biographie und Theologie Martin Luthers – eine Debatte und (k)ein Ende? Ein Nachwort ................................................................. 313
Autoren ...................................................................................................... 319 Namensregister ........................................................................................... 321 Sachregister ................................................................................................ 329
Einleitung: Biographie, Individualität und Religion Dietrich Korsch 1. Individualität und Narration Die Erzählung einer menschlichen Lebensgeschichte ist der klassische Fall von Narration. Nämlich in dem Sinne, daß die durch die leibliche Kontinuität gegebene Kohärenz eines Lebens sich doch als solcher und für sich selbst allein dadurch innewird, daß sie sich in erzählerischen Strukturen auslegt und aus ihnen auf sich zurückkommt. Dabei korrespondiert der Narration, in der sich die individuelle Existenz vor sich selbst auslegt, die Wahrnehmung, die ihr durch andere widerfährt. Im Gewebe der Erzählung konfiguriert sich so – aus der Ich- wie aus der Du-Perspektive – die Identität des individuellen menschlichen Lebens; und das nicht nur fiktiv, sondern eben so real wie die leibliche Existenz inmitten der sichtbaren Welt. Narrativ wird wahrgenommen, daß ein solches individuelles Leben schon von seiner physisch-biologischen Verfaßtheit her in einem Interaktionszusammenhang steht, der sich allein durch symbolische Kommunikation erschließt. Die Art und Weise der symbolischen Kommunikation freilich verfährt nach dem Muster, daß sie Verstehen erst dann generiert, wenn aus der Perspektive des Verstehenwollenden Horizonte gesteckt werden, die es erlauben, sich und andere in ihnen zu plazieren, um so auch der eigenen Individualität ansichtig zu werden. Es ergibt sich daher, daß in der biographischen Narration stets drei Dimensionen miteinander verwoben werden: die raumzeitliche Kontinuität eines physisch-biologischen Lebewesens, die Intersubjektivität eines symbolischen Kommunikationsprozesses und die Individualität der Person. Dabei überlagern und durchdringen sich diese Dimensionen durchaus und auf vielfältige Weise. Etwa so, daß die raumzeitliche Individuierung (immer nur eines an einem Ort zu einer Zeit) auch in den symbolischen Kommunikationen auftaucht, oder so, daß die intersubjektive Verflochtenheit sich bis in die innere Welt des Individuums hinein erstreckt und das eigene Selbstverhältnis prägt. Gleichwohl ist mit der Interferenz dieser Dimensionen das letzte Wort über den narrativen Aufbau der individuellen Biographie nicht gesprochen. Denn es fehlt noch eine Auszeichnung derjenigen Bestrebung und Absicht, die zu diesem Prozeß der narrativen Selbsterfassung den Anstoß gibt – über die faktische
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Verwobenheit der genannten Dimensionen hinaus. Dieses Moment liegt in der Unbedingtheit, mit der das ganze Verfahren ins Werk gesetzt wird, einer Unbedingtheit, die für die eigene Lebensführung und Lebenserfassung alternativlos ist. Sie läßt sich nicht aus den Gegebenheiten des leiblichen Lebens ableiten, auch nicht aus der tatsächlichen kulturellen Verflochtenheit von Intersubjektivität und Individualität. Sie setzt statt dessen die Symbolisierung einer absoluten Referenz voraus, die für die Realisierung der individuellen Selbsterfassung ursächlich und maßgeblich ist. Damit kommt für die narrative Identität eine weitere Dimension in den Blick, nämlich die Religion, die solche Anregung gibt und eine solche Anforderung stellt. Nun ist es gerade die Interferenz dieser verschiedenen Dimensionen, die die Gestalt der Narration notwendig macht. Denn das so verstandene Leben unterliegt einem asynchronen Zeitrhythmus, sofern die Zeit des biologischen Organismus und die Zeit der symbolischen Kommunikation keineswegs gleich getaktet sind; so sehr beide Rhythmen das Moment der Beziehung zu anderem in sich tragen, so wenig läßt sich doch das Verarbeiten der Differenz im biologischen Lebensprozeß mit dem Erzeugen und Pflegen von Unterschieden in der symbolischen Kommunikation identifizieren; die Religion aber hat gar keinen anderen Lebensraum in der individuellen Existenz als eben diese natürlich-kulturellen Zeitrhythmen. Daher kann die Identität, die zu einem individuellen Leben gehört, auch nicht anders als in der Form einer zeitlich sich erstreckenden Erzählung vergegenwärtigt werden, eben als Narration. Diese ergibt sich aber nicht nur zwangsläufig aus den Identitätsbedingungen des individuellen Lebens, sie realisiert auch durch ihr eigenes Vorgenommenwerden die intersubjektive Verknüpfung der Individualität, von der sie als Gegenstand der Erzählung selbst handelt. Indem aber solche Verknüpfungen erzeugt werden, vermitteln sie auch schon in sich den Impuls bei den an dieser biographischen Kommunikation Teilnehmenden, selbst Autoren ihrer eigenen Lebensgeschichte im Zusammenhang anderer Lebensgeschichten zu werden. 1 Es ist die Absicht dieser Einleitung, die hier sehr kurz und verdichtet angedeuteten Momente als Rahmen für die methodische Entfaltung der Bedingungen einer Biographie durchsichtig zu machen und für die Rolle, 1
Paul Ricœur hat das religiöse Moment in dem Vorgang narrativer Identität im Moment eines „Bruches“, einer „Diskontinuität“ gesehen – und damit auf die Unvermittelbarkeit der religiösen Dimension mit den anderen Dimensionen abgehoben. Das ist zutreffend, sofern diese religiöse Funktion nicht einfach als Erweiterung des natürlichkulturellen Komplexes verstanden werden kann. Sie ist aber (was Ricœur auch nicht bestreiten würde) dennoch nur in diesem Geflecht anzutreffen. PAUL RICŒUR, Narrative Identität (1987), in: DERS., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999) (PhB 570), Hamburg 2005, 209–225. Vgl. auch, sehr dicht, im selben Band: Annäherungen an die Person (1990), 227–249, bes. 247–249.
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die Religion darin spielt. Es wird sich zeigen, daß die Konstruktion der Biographie Martin Luthers einen exemplarischen Rang für diesen Zusammenhang einnimmt.
2. Beschreibungen des individuellen Selbst Daß die biographische Konstruktion auf Quellen rekurrieren muß, macht ihren konstruktiven Charakter bereits ab ovo deutlich. Denn bei Quellen handelt es sich immer schon um Dokumente, die aus einer Synthesis der drei genannten verschiedenen Dimensionen entsprungen sind. Sie referieren auf eine raumzeitliche Person, sie tun das in einem intersubjektivkommunikativen Zusammenhang und sie meinen „diese Person selbst“, also deren unvertretbare Individualität. Diese Gemeinsamkeit vorausgesetzt, lohnen gleichwohl weiter differenzierende Unterscheidungen. Die erste und elementare, die uns beschäftigen soll, ist der Unterschied zwischen Fremdquellen und Selbstquellen. Es macht eine grundlegende Differenz aus, ob von außen auf jemanden geblickt und von ihm gesprochen wird – oder ob er selbst spricht und sich damit aus eigenem Vermögen seiner natürlichen und kulturellen Welt ein- und zuordnet. Sie dokumentiert sich darin, daß die Fremdquellen immer schon den Zusammenhang des Individuums mit seiner Umwelt im Blick haben, also vom Gemeinsamen auf das Besondere sehen, wogegen die Selbstquellen eine solche Zuordnung erst einmal von sich aus vornehmen, also das Individuelle tendenziell verallgemeinern. Die Prävalenz des Allgemeinen in den Fremdquellen zeigt sich durchschlagend darin, daß nur sie von Geburt und Tod berichten können, mithin die Eckpunkte der leiblichen Existenz im Strom des Lebens anzugeben vermögen. Der zeitliche Rahmen der Biographie ergibt sich allein über diesen Typ von Überlieferung – und handle es sich nur um einen Grabstein, der die nackten Lebensdaten verzeichnet. Leben heißt handeln, und das ist raumzeitlich verortet. Sich zu bestimmter Zeit an einem Ort aufhalten, Verrichtungen vollziehen, sich zu anderen ins Verhältnis setzen und mit ihnen abstimmen, Vorhaben und Tätigkeiten koordinieren, das umschreibt den Aspekt des Handelns. Was da geschieht, wird von anderen wahr- und aufgenommen und, wenn nötig, dokumentiert. Sofern alle diese Handlungen nun nicht willkürlich vereinzelt erfolgen, bilden sie einen Sinnzusammenhang, der nicht nur vom Akteur (vermutlich) unterstellt wird, sondern der auch erkennbaren Mustern, Routinen, Gewohnheiten folgt – so daß bisweilen gar die Abweichung vom Muster (dem „Beruf“ oder der „Sitte“) überlieferungswürdig ist. Wo es die Quellen zulassen, kann so in gewisser Dichte ein Handlungsmuster ver-
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folgt werden, ein Regelzusammenhang, in den ein individuelles Leben eingelassen ist und in welchem es seine immer auch eigentümlichen Akzentsetzungen verfolgt. Man darf auch davon ausgehen, daß alles Leben als Handeln sich in Konsequenzen geltend macht, die über das agierende Subjekt hinaus andere betreffen, deren Lebensumstände fördern oder hindern. Und daß diese hinderlichen oder förderlichen Umstände keineswegs immer direkt mit den Intentionen koordiniert sind, die die Handelnden verfolgen. Diese Intentionen freilich werden durchaus mit wahrgenommen. Denn in dem Maße, wie sich handlungsleitende Optionen ausgesprochen finden, kommen sie auch als relevante Faktoren des gesamten Handlungszusammenhangs in der Blick – so wenig sich durchgängig eine Übereinstimmung von Absicht und Erfolg zeigen mag. Die geäußerte Absicht erlaubt jedoch eine kritische Perspektive auf das Handeln und das Erleben, also einen Vergleich zwischen Gewolltem und Vollbrachtem. Da mag es durchaus der Fall sein, daß hohe Ziele über bescheidenes Tun hinausreichen – so wie umgekehrt beeindruckende Handlungen auch ohne gesteigertes Bewußtsein von ihrer Bedeutung erfolgen. Die Umwelt kann und wird das wahrnehmen – und entsprechend deuten. Daß angesichts der Opakheit des Inneren bei jedem Handelnden ein breiter Raum bleibt für Unverständnis und für Mißverständnisse, ist evident, kann jedoch den Mechanismus der Wahrnehmung und Beurteilung nicht unterbrechen. Man kann sich, soweit die Struktur von Fremdquellen analysierend, fragen, in welchem Maße und in welcher Absicht dann die Produktion solcher Quellen geschieht. Die Vermutung liegt nicht fern, daß es in gewissem Sinne die Erfahrung des Außerordentlichen ist, die zu derartiger Überlieferung anregt. Jedenfalls dann, wenn die Überlieferung sich von vornherein auf eine handelnde (und ihre Handlungen deutende) Person richtet. Allerdings ist es, andererseits, durchaus so, daß jeder und jede im Netz der gesellschaftlichen Dokumentation humanen Daseins Spuren hinterläßt, die, wenn der Fokus einmal auf die betreffende Person eingestellt wird, mindestens eine Ahnung vom Lebenszusammenhang einer Person geben; hier handelt es sich um solche Quellen, die nicht von ihrem Überlieferungssinn her als solche und damit als Beiträge zur erzählten Geschichte einer Person generiert wurden. Auf der Hand liegt sowieso, um diese Betrachtung abzuschließen, daß der Übergang von der mündlichen in die schriftliche (oder bildliche oder elektronische) Überlieferungsweise signifikant und entscheidend ist für die potentielle Dauer solcher Erinnerungen. Von anderer Art sind die Quellen, die ich als Selbstquellen bezeichnen möchte. Sie verknüpfen, wie oben angedeutet, die Perspektive des Lebenden und Handelnden mit seinen Handlungen in der Welt und seinem Selbstverhältnis. Auskunft geben über die Zusammenhänge, in denen das eigene Leben verläuft – aus der Sicht des unmittelbar verbundenen, aber
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zugleich auch reflektierenden Beobachters –, wäre ein Aspekt dieser Perspektive. Ziele formulieren, die erstrebt und verwirklicht werden sollen, wäre ein anderer. Wie die Welt angesehen wird und wie auf sie Einfluß genommen werden soll, prägt sich in einem ganzen Set von Grundannahmen aus, die man als Haltung oder Charakter verstehen kann. Damit stellt sich die Frage nach der Kohärenz des Weltverhaltens – anläßlich der Selbstzuordnung des agierenden Subjekts zu seinem Lebensumfeld – als Aufgabe der Interpretation. Dieses handlungsbezogene Deuten wird ergänzt – oder auch modifiziert – durch explizite Selbstäußerungen, die sich expressiv oder emotiv auf das eigene Selbstbild beziehen; denn natürlich ist der Pol der Subjektivität im handelnden Weltverhaltens auch noch als solcher zum Thema zu machen. Diese Sichten, die das Subjekt auf sich selbst entwickelt und pflegt, stehen nun ihrerseits in einem Sinnzusammenhang möglicher Selbstverständnisse – moralischer, ästhetischer und religiöser Art. An dieser Stelle kommt dann der religiösen Selbstdeutung eine besondere Rolle zu. Denn so sehr sie sich in den Zusammenhang ihrer Tradition einstellt (oder eingestellt werden kann), so sehr schlägt diese Selbstsicht doch auch ins Innerste des Handelnden durch. Wenn man das moralische Selbstverständnis als auf die aktive Weltbewältigung und den intersubjektiven Lebenszusammenhang in seiner individuellen Verantwortung eingestellt verstehen kann – und das ästhetische Selbstverständnis auf die passive Wahrnehmungsweise des in der Welt Begegnenden einzustellen vermag, dann kommt unter dem Aspekt des Religiösen das In-die-Welt-gesetzt-Sein zur Sprache, mithin die Basis für das moralische und ästhetische Empfinden und Agieren. Diese Beobachtung trifft auch dann zu, wenn die religiöse Semantik gar nicht übermäßig stark akzentuiert wird; mindestens läßt sich eine Leerstelle bemerken, die so oder so durch andere Konzepte gefüllt wird. Um so ergiebiger für eine narrative Erfassung des Lebens sind solche Selbstquellen, die es unternehmen, auf diese innere Verfassung selbst einzugehen und über sie Auskunft zu geben.
3. Wirkungen des individuellen Selbst Haben wir unsere Aufmerksamkeit bisher auf die Beschreibungen des empfindenden, sich ausdrückenden und handelnden Individuums eingestellt, so liegt es bereits in den Merkmalen dieser Betrachtung, daß sie ohne Außenreferenzen gar nicht zu geben sind. Diesem Aspekt soll nun unter dem Titel der Wirkungen nachgedacht werden. Dafür gilt als erste Hinsicht zu beachten, daß jedes menschliche Leben im Zusammenhang der äußeren Welt als der Verknüpfung von Geschehnissen und Ereignissen geführt wird. Niemand hinterläßt in der empiri-
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schen Welt keine Spuren oder Auswirkungen. Es ist nur die Frage, ob und in welchem Ausmaß diese sich feststellen lassen. Das ist natürlich wieder zuerst ein Problem der Zugänglichkeit und Treffsicherheit der Quellen. Aber anders als in den auf die individuelle Person konzentrierten Quellen ist der konstruktive Anteil der Historiker hier wesentlich höher. Es bedarf einer methodisch ausgeprägten Erfahrung, Phänomene, wie sie sich in Quellen kondensieren, in einen Ereigniszusammenhang zu flechten, der selbst den Anschein einer fortlaufenden Geschichte trägt. Es handelt sich, so gesehen, um eine Ausdehnung des narrativen Grundgedankens über die individuelle Biographie hinaus. Dieses Erfordernis der Kontextualisierung im Blick auf veränderte Handlungskomplexe vermag auch zu erklären, inwiefern eine Zeitlang die Orientierung der Geschichtsschreibung an „großen Persönlichkeiten“ vorkam – und daß dieser Aspekt einer Personalisierung der Geschichte als methodisches Verfahren nicht gänzlich ausgeschaltet werden kann. Ohne die Individualität Napoleons läßt sich die neuere europäische Geschichte nicht erzählen – angesichts der Wirkungen und Umwälzungen, die ohne seine Person (so) nicht stattgehabt hätten. Von diesem Kontext der Wirkungen läßt sich auch noch einmal der Kontext der Selbstverständnisse in ihrer historischen Erstreckung unterscheiden. Daß hier die Zu- und Einordnungen wesentlich schwieriger vorzunehmen sind, führt nicht zur Erledigung der Frage. Für diese Aufgabe sind diejenigen Quellen, die – mehr oder weniger handlungsbezogen – über das Innere und seine Selbstdeutungen Aufschluß geben, die wichtigsten Quellen. Daß sie stets nur in der Interaktion mit dem intersubjektiv vermittelten Weltverhalten zu deuten sind, liegt auf der Hand, ja macht gerade ihren besonderen Reiz aus. Es gibt, folgt man dieser Betrachtung, so etwas wie Kulturen des Sichverstehens, Traditionen der Selbstdeutung. Und darin eben auch Kulturen religiösen Selbstverständnisses. Sich ihnen zuzuwenden auf der Basis der Erzählung einer individuellen Lebensgeschichte setzt voraus, die Akzente der Herkunft von den Spuren der Konsequenzen zu unterscheiden, die aus einem solchen individuellen Lebenslauf erwachsen. Überall da, wo solche Selbstäußerungen vorliegen und erkennbar sind, bleiben auch diese nicht ohne Wirkung, so unterschiedlich deren Reichweite sein mag. Man wird sagen können, daß diejenigen Indikatoren, die sich mit dem religiösen Selbstverständnis verbinden, vergleichsweise konservativ verfaßt sind, also einem langsamen Veränderungstempo unterliegen. Um so mehr fallen solche Individuen auf, an deren Lebensgeschick sich markante Umstellungen in den religiösen Selbstdeutungshaushalten knüpfen. Deren Ausmaß und Bestimmtheit zu erforschen, setzt nun wieder die Beobachtung anderer Selbstquellen voraus, die für die Rezeption (und darin immer: Modifikation) der religiösen Selbstdeutung sprechen. In Konversionsgeschichten wird daher die innere Tiefenschicht derartiger Neuorientierungen besonders deutlich.
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4. Die Grenze der Biographie Selbst wenn man sich der methodischen Differenzierungen bedient, die hier angeführt wurden – und de facto wird nicht nur von diesen in jedem biographischen Schreiben Gebrauch gemacht, es kommen noch viel subtilere zur Anwendung –, selbst wenn man diesen Untergliederungen also zu folgen vermag, so richtet sich insgesamt eine Grenze auf, die von prinzipieller Art ist. Alles, was wir an Quellen und Äußerungen in biographischer Absicht zusammenzutragen vermögen, erfüllt doch nie den Inbegriff des Individuellen: individuum est ineffabile. Aber woher wissen wir das? Es handelt sich ja gerade nicht um eine abermalige quantitative Steigerungsstufe, die das Erreichen des vollständig Sagbaren verhindert, obwohl dergleichen zweifellos auch der Fall ist. Der Unterschied zwischen quantitativer und qualitativer Individualität, Narration und Ineffabiliät geht auf eine Perspektivendifferenz zurück – daß nämlich die Individualität des Sich-Empfindens eine Weise der Selbstzugänglichkeit (und in gewisser Weise auch der Selbstverborgenheit!) darstellt, welche sich nicht vollständig über die Selbstauslegung in der Welt zu erfassen vermag, weshalb sie durch alle (notwendigerweise weltvermittelten) Äußerungsformen, von welchem Quellenstatus sie auch sein mögen, nicht auszuschöpfen ist. Gilt das aber für die Konstitution von Individualität, dann besitzt diese Beobachtung auch erhebliche Konsequenzen für die Rezeption von Individualität. So sehr die Narration ein Bindeglied darstellt zwischen Erzähltbekommen und Von-sich-Erzählen, so wenig ist dieser narrative Transfer schon die Erfassung und Erschöpfung der eigenen Individualität. Wenn es aber eine Korrespondenz des Individuellen geben muß, soll Biographie überhaupt möglich sein, dann kann diese Korrespondenz nur im individuellen Vollziehen des eigenen Grundes stattfinden, also in einer religiösen Selbstauslegung. Von dieser kann gesagt werden, daß sie die Individualitätskompetenz vermittelt, ein eigenes Individuum zu sein – und darum dann auch andere Individuen zu verstehen, so wenig deren innerer Selbstzugang sich noch auf- und nachspüren läßt. Religiöse Kommunikation trägt also erheblich zum möglichen Verständnis des narrativen Modus Biographie bei. Oder noch schärfer gesagt: Biographie wurzelt in einem religiösen Grund. Das macht, naheliegenderweise, religiöse Biographien besonders interessant, schon aus methodischen Gründen. Sie sind als Narrationen zu verstehen, die zum Vollzug eigenen individuellen Lebens anregen.
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5. Biographie und Theologie Solche systematischen Hintergründe sind aufgerufen, wenn in diesem Band das Verhältnis von Biographie und Theologie Luthers zum Thema wird. Es handelt sich also einerseits um eine Abfolge von narrativen Versuchen, Elemente des Lebens Martin Luthers zu erzählen. Diese Erzählungen greifen aber – in diesem Falle: von den Quellen wie vom Selbstverständnis und den Wirkungen her – auf die religiöse Selbstdeutung zurück. Diese steht bei Luther in dem besonderen Kontext, als Theologie reflektiert zu werden. Insofern bekommt die Biographie Luthers einen besonderen Akzent, macht sie doch auf dem Umweg der religiösen Selbstdeutung mit den Mitteln der Theologie das Wahrnehmen der Religion und der Veränderungen der religiösen Subjektivität auch begrifflich nachvollziehbar. Das gilt insbesondere deshalb, weil die theologische Konzentration Luthers darauf gerichtet ist, die religiöse Bedeutung der Bibel in den Mittelpunkt zu stellen – und damit die Bedingung anzugeben, unter der die religiöse Orientierung selbst nachvollzogen werden kann. Daß die Biographie Luthers überdies für die Erörterung biographischer Elementaria aufschlußreich ist, liegt in dem markanten Wandel des Selbstverständnisses begründet, den er vollzogen hat. So sehr dieser Wechsel eine einmalige Neupositionierung im Verhältnis zu Gott mit sich gebracht hat, so sehr ist dieses neue Selbstverständnis gerade dadurch gekennzeichnet, daß es sich immer wieder als „Selbstsein im Übergang“ hat erfassen und auslegen müssen. Daher widmen sich die Beiträge dieses Bandes hervorgehobenen kritischen Übergangssituationen und beleuchten diese jeweils aus einer doppelten Perspektive, wobei einmal überwiegend der Handlungszusammenhang, einmal überwiegend das (theologisch artikulierte) Selbstverständnis den Akzent trägt. Daß diese idealtypische Differenzierung nicht in jedem Falle durchzuhalten war, belegt die Verwobenheit der Aspekte im Leben Luthers selbst. Immerhin kann die Lektüre der Beiträge, von diesen einführenden kategorialen Überlegungen her, nach dem Ineinander der unterschiedlichen Betrachtungsweisen fragen.
Luthers Freiheitsvorstellungen in ihrem sozialen und rhetorischen Kontext (1517–1521) Georg Schmidt „Das Wort Freiheit klingt so schön, daß man es nicht entbehren könnte, und wenn es einen Irrthum bezeichnete.“ (Goethe)
Luther war ein „Freiheitsheld“, aber ein solcher „in deutschem Stil, denn er verstand nichts von Freiheit“. 1 Mit dieser Einschätzung Luthers prägte Thomas Mann unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg den Zeitgeist mit. Andere formulierten forscher: „Von Luther zu Hitler“. 2 Sie identifizierten Luthers „Zwei-Reiche-Lehre“ als Ausgangspunkt einer unhinterfragten Obrigkeitshörigkeit und Untertänigkeit der Deutschen, die das Land von der westlichen Entwicklung abgekoppelt und zu einem verhängnisvollen Sonderweg verleitet habe. Mit Thomas Mann ging damals fast die gesamte zivilisierte Welt davon aus, daß der Rückfall der Deutschen in die Barbarei auch mit ihren falschen Vorstellungen von Freiheit zusammenhing – eine Freiheit, die primär nicht dem Individuum, seiner Autonomie und Selbstbestimmung gegolten und sich deswegen nicht mit der Demokratie verbunden habe. Die Ursache für die verbrecherische Entwicklung, die Deutschland im 20. Jahrhundert genommen hatte, wurde in der Geschichte gesucht und unter anderem in einer alten verhängnisvollen Auffassung von Freiheit gefunden. Mit Martin Luther stößt der Historiker auf einen Autor, der zu einem Zeitpunkt häufig von „Freiheit“ sprach, als dieser Begriff noch keineswegs zum Allgemeingut der politischen, nicht einmal der humanistischen Rede gehörte – zumindest nicht im deutschen Sprachraum. Bevor jedoch nach dem Anteil des Reformators an der Etablierung des Freiheitsbegriffes gefragt werden soll, ist kurz auf die Zuschreibungen einzugehen, die aus heu1
THOMAS M ANN, Deutschland und die Deutschen. Reden und Aufsätze 3 (= Gesammelte Werke in 13 Bänden, hier Bd. 11), Frankfurt a. M. 31990, 1126–1148, Zitat 1134. 2 WILLIAM M. MCGOVERN, From Luther to Hitler. The History of the Fascist-Nazi Philosophy, London 1946. Vgl. PETER CLARKSON M ATHESON, Luther and Hitler: a controversy reviewed, in: Journal of Ecumenial Studies 17, 1980, 445–453.
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tiger Sicht die alte deutsche Freiheit seit dem 19. Jahrhundert in Verruf gebracht haben. 3 Der hermeneutische Zirkel ist auch hier für denjenigen, der Geschichte als ständigen Dialog mit der Gegenwart begreift und dementsprechend auch Luther und die frühe Reformation historisieren will, der Ausgangspunkt neuer Erkenntnismöglichkeiten: Ideologiekritik und präzisere Fragestellungen rücken die altbekannten Quellen in eine andere Perspektive. Nur wenn der ungeheure Ballast eines angeblichen Sonderweges nicht in die strukturellen und rhetorischen Verhältnisse der Zeit um 1520 projiziert wird, können sowohl die Freiheitsintentionen Luthers als auch deren zeitgenössische Wahrnehmungen in gegenwärtiger Absicht neu justiert werden. Dies geschieht in fünf Schritten: Vorgestellt wird (1.) der Sonderweg der deutschen Freiheit seit dem 19. Jahrhundert, (2.) das soziale Umfeld und (3.) der rhetorische Kontext, in die (4.) Martin Luther 1520 seine Freiheitstexte entließ, um deren Wirkungen dann (5.) noch einmal kurz anzusprechen.
1. Die Umdeutung der alten deutschen Freiheit Ralf Poscher definiert 2006 im Evangelischen Staatslexikon „Freiheit“ als etwas, das erst durch drei zusätzliche Angaben Gestalt gewinne: „eine zu dem Subjekt oder dem Träger der F[reiheit], eine zweite zu dem Objekt oder dem Gegenstand der F[reiheit] und eine dritte zu dem Hindernis oder der Beschränkung, von der der F[reiheit]sträger hinsichtlich eines F[reiheit]sgegenstandes freigestellt ist.“ 4 Freiheit bezeichnet also den gegen Eingriffe geschützten Handlungsraum. Die politische Freiheit, die Mitbestimmung innerhalb eines Gemeinwesens, erscheint dagegen selbstverständlich und wird von Poscher erst im Rahmen der historischen Aufarbeitung gewürdigt. Die Privilegierung der individuellen Freiheit sowie der Menschen- und Bürgerrechte ist jedoch eine vergleichsweise späte Entwicklung. 1765 unterschied der junge lutherische Theologe Johann Gottfried Herder richtungweisend zwischen den beiden Freiheitsideen: Die alte Freiheit sei darauf gerichtet gewesen, „selbst das Rad des Staats lenken zu wollen“, die neue, eine „feinere und mäßigere Freiheit, die Freiheit des Gewißens, […] die Freiheit, unter dem Schatten des Thrones seine Hütte und Weinstock in Ruhe genießen zu können, und die Frucht seines Schweißes zu besitzen; die Freiheit, der Schöpfer seines Glückes und sei3 GEORG SCHMIDT, Die Idee „deutsche Freiheit“. Eine Leitvorstellung der politischen Kultur des Alten Reiches, in: GEORG SCHMIDT/ MARTIN VAN GELDEREN/ CHRISTOPHER SNIGULA (Hg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400– 1850), Frankfurt a.M. u.a. 2006, 159–189; DERS., Art. Freiheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart 2006, 1146–1164. 4 RALF POSCHER, Art. Freiheit (J), in: Ev. Staatslexikon, 635.
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ner Bequemlichkeit, der Freund seiner Vertrauten, und der Vater und Bestimmer seiner Kinder seyn zu können.“ 5 Benjamin Constant machte diese Differenz zwischen alter und neuer Freiheit mehr als ein halbes Jahrhundert später populär. 6 Isaiah Berlin deutete sie in der Zeit des Kalten Krieges zur positiven und negativen Freiheit um. Das Individuum soll in einer freiheitlichen Grundordnung „negativ“ seine Handlungsspielräume nutzen und staatliche Eingriffe abwehren sowie „positiv“ an der politischen Gestaltung partizipieren. 7 Individuelle und kollektive Freiheit sind in modernen demokratischen Gesellschaften einander komplementär. Sie bilden die beiden Seiten einer Münze und lassen sich nicht mehr gegeneinander ausspielen wie das noch Herder versuchte. Die modernen Freiheitsdefinitionen gehen allerdings davon aus, daß der vorgestellte Träger der einzelne Mensch und kein abstraktes Kollektiv wie Staat oder Nation ist. Dies besagt noch nichts darüber, ob alle Individuen in gleicher Weise an der Freiheit partizipieren und was diese eigentlich konkretisiert. Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts übersetzte die kollektiv und in erster Linie partizipativ verstandene alte „deutsche Freiheit“ als „ständische Libertät“ – als herrschaftlicher Freiraum der Reichsstände, die gleichzeitig und zu Lasten der Reichseinheit an der Gestaltung der Reichspolitik mitwirkten. Diese scheinbare Besonderheit wurde sowohl für die angebliche staatliche Zersplitterung als auch für den landesherrlichen Absolutismus in Deutschland verantwortlich gemacht, die wiederum dazu geführt hätten, daß hier im Unterschied zu einem monarchisch-absolutistisch regierten Staat wie Frankreich die Ausbildung des Nationalstaates blockiert gewesen sei. Nach der Gründung des Wilhelminischen Kaiserreiches setzten sich die Historiker daher offensiv mit der deutschen Freiheit auseinander, um sie einerseits traditionsbildend und legitimierend, andererseits aber doppelt abgrenzend – gegenüber den Wertesystemen des Alten Reichs und der westlichen Demokratien – für den neuen Nationalstaat zu vereinnahmen. Die radikalere Umdeutung rückte die vorgeblich mittelalterliche Tradition einer gebundenen Freiheit in den Mittelpunkt, die sich beinahe nahtlos in die sogenannten Ideen von 1914 8 überführen und mit denjenigen von 5 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Haben wir noch jetzt das Publikum und Vaterland der Alten?, in: DERS., Werke, Bd. 1, 13–28, hier 23f. 6 BENJAMIN CONSTANT , Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der Heutigen, in: LOTHAR GALL/ RAINER KOCH (Hg.), Der europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert. Texte zu seiner Entwicklung, 4 Bde., Frankfurt a.M. u.a. 1981, Bd. 1, Tl. 1: Die Freiheit der Individuen und Gruppen im Staat, 40–64. 7 ISAIAH BERLIN, Two Concepts of Liberty, in: DERS., Four Essays in Liberty, Oxford 1969, 118–172. 8 BERND FAULENBACH, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980.
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1933 amalgamieren ließ. Die deutsche Freiheit wurde explizit gegen die westliche Demokratie und Gleichmacherei ins Feld geführt und stattdessen ein tief im deutschen Wesen verankertes Freiheitsbewußtsein postuliert, das im Mittelalter entstanden sei und auf der freiwilligen Hingebung an die Gemeinschaften und damit auf der notwendigen Unterordnung gegenüber „Macht“ und „Staat“ beruht habe. 9 Die freie Entfaltung des Einzelnen war demnach prinzipiell nur unter einer starken Herrschaft möglich: Der alte deutsche Freiheitsgedanke – so formulierte es Adolf Waas 1939 – basiere auf der „Verbundenheit von Gesamtheit und Einzeldasein, von Schutz und Freiheit“. 10 Die so verstandene alte deutsche Freiheit war nach 1945 diskreditiert. Mit ihr wurde „Untertänigkeit“ verbunden. Mit ihr beschäftigten sich weiterhin vor allem die Historiker, die sie vor dem Scheidejahr „systemkonform“ definiert hatten 11, um nun ihre alten Thesen notdürftig den neuen Verhältnissen anzupassen. Während Herbert Grundmann die mittelalterliche Freiheit in ihrer ganzen Komplexität neu entfaltete 12, kehrte die deutsche Neuzeitforschung zu ihrem alten Erklärungsmuster zurück, das allerdings nur dasjenige der borussophilen protestantischen Historiker des 19. Jahrhunderts gewesen war: Versagt hatte demnach das Heilige Römische Reich und eine die Partikulargewalten stärkende deutsche Freiheit, die sich mit der von außen aufgezwungenen staatlichen Zersplitterung Deutschlands kongenial ergänzte. 13 Diesem Verdikt schloß sich etwa auch Leonhard Krieger in seinem grundlegenden Werk zur deutschen Freiheitsidee an, denn die individuelle Freiheit sei im Deutschland des 19. Jahrhunderts allenfalls halbherzig bejaht worden. 14 Selbst Hans Maier verließ nach der Wende 1989/90 diese im kollektiven Gedächtnis fest verankerte Deutung nicht, rückte aber die ältere deutsche Freiheitsperspektive erstmals wieder ins Bewußtsein. 15 Auf dieser Forschungsbasis, gepaart mit einer außerordentlichen Kenntnis der Luthertexte, kam Martin Brecht noch 1995 zu dem Ergebnis, die frühneuzeitliche 9
Vgl. Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge (von Harnack, Meinecke, Sering, Troeltsch, Hintze), Gotha 1917; WOLFGANG J. MOMMSEN, Die „deutsche Idee der Freiheit“, in: DERS., Bürgerliche Kultur und politische Ordnung, Frankfurt a. M. 2000, 133– 157. 10 ADOLF WAAS, Die alte deutsche Freiheit, München 1939, 105. 11 Das Problem der Freiheit in der deutschen und schweizerischen Geschichte. Mainauvorträge 1953, Neudruck Sigmaringen 1981. 12 HERBERT GRUNDMANN, Freiheit als religiöses, politisches und persönliches Postulat, in: Historische Zeitschrift 183, 1957, 23–53. 13 Zusammenfassend GERHARD OESTREICH, Von der deutschen Libertät zum deutschen Dualismus 1648–1789, in: CARL HINRICHS/ WILHELM BERGES (Hg.), Die deutsche Einheit als Problem der europäischen Geschichte, Stuttgart 1960, 125–140. 14 LEONHARD KRIEGER, The German Idea of Freedom, Boston 1957. 15 HANS MAIER, Das Freiheitsproblem in der deutschen Geschichte, Heidelberg 1992.
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Rezeption der Freiheitslehre Luthers gebe so gut wie nichts her „für die politische und gesellschaftliche Emanzipation“. 16 Dabei könnte man es belassen und darauf verweisen, daß sich Luther mit der diesseitigen Freiheit ohnehin nur wenig beschäftigt und alle Versuche entschieden abgelehnt habe, seine „Freiheit eines Christenmenschen“ für weltliche Zwecke zu instrumentalisieren. Ganz so einfach und eindeutig sind die Dinge allerdings nicht, sobald man etwa den Luther des Jahres 1520 nicht im Lichte seiner späteren Texte und eines verfremdenden Vorverständnisses liest und sich zudem fragt, wie seine mobilisierenden Aufrufe zum Kampf gegen die kirchlichen Mißstände angesichts des gerade beginnenden Freiheitsdiskurses einerseits und der sozialen Verhältnisse andererseits gewirkt haben könnten. Die zu prüfende These lautet daher, daß Luther für die Freiheit im Allgemeinen und für diejenige in Deutschland im Besonderen eine zentrale Rolle spielte. Er war der Katalysator, der sowohl die Freiheitsrhetorik als auch den sozialen Kampf für die Freiheit anfachte und beschleunigte. Um dies zu belegen muß „Luthers Freiheitsverständnis“ nicht neu erfunden, aber vielleicht etwas anders erzählt werden. 17
2. Das gesellschaftliche Umfeld des frühen Luther Luther war auch deswegen erfolgreich, weil er seine kirchenkritischen Äußerungen in eine Zeit und in einen Raum entließ, in dem die Menschen schon länger mit einer elementaren Unsicherheit und transzendentalen Ungewißheit konfrontiert waren, die sich in neuen Ideen sowie einer ungewöhnlichen Häufung von Unruhen und Aufständen äußerte. Luthers Vorstellungen von einer Reformation der Kirche, einer Erneuerung des christlichen Glaubens durch Rückbesinnung auf die Bibel als alleinige göttliche Wahrheit, ordnen sich auf dieser Ebene ein in die vielfältigen und vielgestaltigen Transformationsbewegungen, die mit der Renaissance einhergingen. Die humanistischen Ideen waren im späten 15. Jahrhundert auf breiter Front auch nördlich der Alpen angekommen. Luther hatte in Erfurt, einem Zentrum des frühen deutschen Humanismus, studiert und sich vieles angeeignet – nicht nur die rhetorischen Formeln. 18 Er verdankte den Hu16
MARTIN BRECHT , Die Rezeption von Luthers Freiheitsverständnis in der frühen Neuzeit, in: Lutherjahrbuch 62, 1995, 121–151, Zitat 151. 17 THORSTEN JACOBI, „Christen heißen Freie“. Luthers Freiheitsaussagen in den Jahren 1515–1519, Tübingen 1997; PETER BLICKLE, Reformation und Freiheit, in: BERND MOELLER (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998, 35–53. 18 MEINOLF VIELBERG, Freiheit bei Tacitus und anderen römischen Autoren und deren Rezeption im Humanismus durch Ulrich von Hutten und Erasmus von Rotterdam, in: GEORG SCHMIDT, Freiheitsvorstellungen (wie Anm. 3), 73–89.
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manisten vor allem seinen kritischen Umgang mit der kirchlichen Überlieferung und das Insistieren auf den biblischen (Ur)Text. 19 Nicht entgangen sein können ihm aber auch die Debatten, die von der Wiederentdeckung der Germanenschrift des Tacitus ausgingen und in deren Verlauf die angeblich tapferen, redlichen und freiheitsliebenden Germanen zu Vorfahren der Deutschen wurden. In diesem Zusammenhang dürften die „Gravamina der deutschen Nation gegen den Stuhl zu Rom“ auch Luthers Aufmerksamkeit erregt haben. 20 Etliche dieser Beschwerungen durch tatsächliche oder vermeintliche Übergriffe des Papstes waren erstmals auf dem Konstanzer Konzil formuliert und später ergänzt worden. Sie wurden – nun auch schon im Zeichen einer von den Humanisten aufgeladenen nationalen Stimmung – während des Augsburger Reichstags am 27. August 1518 dem päpstlichen Legaten Cajetan übergeben. Er hatte in Übereinstimmung mit Kaiser Maximilian I. die Reichsstände zur Türkenhilfe verpflichten wollen, damit aber großen Unmut hervorgerufen. Die Reichsstände beließen es bei der Zusicherung, man werde mit den Untertanen über eine Vermögenssteuer verhandeln. 21 Was dies hieß und wie feindselig die Stimmung gegen Rom war, fand Cajetan einleitend in den ihm übergebenen Gravamina. Sie berichteten von Unruhen des gemeinen Mannes, der sich hören lasse, „wie große sum gelts […] und anders aus Teutschen landen verschiner zeit bracht weren und noch wurden“. 22 Die Gravamina sind nicht nur für Heinz Scheible „eine conditio sine qua non der Reformation“. 23 Als Luther im Oktober 1518 nach dem Reichstag in Augsburg von Cajetan wegen seiner Ablaßthesen verhört wurde, muß er von der Empörung über Rom und von der Übergabe der Gravamina gehört haben. Darüber hinaus erlebte der Wittenberger Mönch und Professor das Gerangel im Vorfeld der römischen Königswahl, bei der nationale Zuordnungen und das Freiheitsargument erstmals eine gewisse Rolle spielten. Kaiser Maximilian I. erklärte beispielsweise Kurfürst Friedrich dem Weisen von Sachsen, falls die Krone an die Franzosen falle, bedeute dies den Verlust der 19
HELMAR J UNGHANS, Der junge Luther und die Humanisten, Weimar 1984, 9. HEINZ SCHEIBLE, Die Gravamina, Luther und der Wormser Reichstag 1521, in: DERS., Melanchthon und die Reformation, Mainz 1996, 393–409; HANS-CHRISTOPH RUBLACK, Gravamina und Reformation, in: INGRID BATORI (Hg.), Städtische Gesellschaft und Reformation, Stuttgart 1980, 292–313. 21 Neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede, Tl. 2, Frankfurt a.M. 1747, 170. – Zum Hintergrund vgl. GEORG SCHMIDT , Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999; DERS., Luther und die frühe Reformation – ein nationales Ereignis, in: BERND MOELLER, frühe Reformation (wie Anm. 17), 54–75. 22 JOHANNES J ANSSEN (Hg.), Frankfurts Reichscorrespondenz: nebst anderen verwandten Aktenstücken von 1376–1519, hier Bd. 2, Freiburg i. Br. 1872, 979f. 23 HEINZ SCHEIBLE, Gravamina (wie Anm. 20), 395. 20
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„Libertät […], die sie bisher als freie Deutsche gehabt“ hätten. 24 Zwar hat Luther diesen Brief wohl nie zu Gesicht bekommen, doch eine solche verfassungspolitische Aufladung des Freiheitsbegriffes, eine Art deutsches Politikmuster, das hier von der protoabsolutistischen französischen Königsherrschaft unterschieden wird, deutet auf humanistische Kontexte im Zeichen des aus der Antike überlieferten alten Republikanismus. Als Kaiser Maximilian im Januar 1519 starb, steigerte sich die Unruhe in Deutschland weiter: Herzog Ulrich von Württemberg überfiel die Reichsstadt Reutlingen, Franz von Sickingen und der niedere Adel führten erfolgreich Kriege auf eigene Faust – gegen Kaufleute und Pfaffen, aber auch gegen Fürsten wie den Landgrafen von Hessen oder den Kurfürsten von Trier. Bauern und Bürger suchten nach Sündenböcken und vertrieben die Juden, die ohne Kaiser auch ohne Schutzherrn waren. In den Städten brodelte es, die großen Handelsgesellschaften standen unter Monopolverdacht, und den Herrschenden waren die kürzlich niedergeschlagenen Aufstände des „Bundschuhs“ am Oberrhein und des „Armen Konrads“ in Württemberg noch in bedrohlicher Erinnerung. Es „gärte“ allerorten und der gemeine Mann in Stadt und Land schien bereit, gegen jede weitere rechtliche oder soziale Statusminderung auch mit Gewalt vorzugehen. In dieser bis zum Bersten gespannten Situation entfachten die deutschen Humanisten und die habsburgischen Parteigänger im Wahlkampf zwischen Karl von Spanien und Franz I. von Frankreich eine bisher unbekannte nationale Rhetorik. Für Kardinal Albrecht von Brandenburg, den Mainzer Erzkanzler, mußte beispielsweise „der konig, so man keinen Teutschen kurfursten oder fursten haben kan, von seinem stam und herkomen ein Teutscher sein, domit die ere von unser nacion nit entwendt, auch der gemein man derhalben gesetigt wurde, der dann itzonder zu entporungen und bosen ufruren leichtlich zu bewegen ist“. 25 Herzog Georg von Sachsen nannte nun die „Francoßen erbfint Deutzen gzunges“. 26 Die gewaltigen inneren Spannungen wurden so um eine nach außen gerichtete aggressive Abwehrhaltung gegen die „Welschen“ ergänzt und kurzfristig wohl auch überlagert. Luther erlebte, wie sehr das Freiheitsmotiv, das er für sich und sein Verständnis vom Glauben entdeckt hatte, im Zusammenspiel mit nationalen Argumenten die Stände und auch den gemeinen Mann mobilisierte. König Karl von Spanien garantierte, „die Teutsch nation bey irer freyhait“ zu handhaben. 27 Da sich die Kurfürsten dessen nicht sicher wa24
Deutsche Reichstagsakten (= RTA), j. R., Bd. 1, 92. Ebd., 844. 26 Ebd., 706. 27 ALFRED KOHLER (Hg.), Quellen zur Geschichte Karls V., Darmstadt 1990, 46ff., Zitat 47. – Vgl. auch DERS., Karl V., 1500–1558. Eine Biographie München 22000; DERS. u. a. (Hg.), Karl V. 1500–1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee, Wien 2002. 25
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ren, zwangen sie ihm, um eine monarchische Reichsregierung zu verhindern, eine Wahlkapitulation auf, die den Ständen ihre hergebrachten Freiheiten und die reichspolitischen Mitbestimmungsrechte sowie der deutschen Nation den Besitz des Kaisertums sichern sollte. Darüber hinaus mußte Karl V. versprechen, sein „anwesen und hofhaltung in dem heiligen Römischen reich Deutscher nation“ zu nehmen, die Reichs- und kaiserlichen Hofämter mit „kainer andern nation dan geborn Teutschen“ zu besetzen, und in Rom für eine Reduzierung der finanziellen Belastungen Deutschlands einzutreten. 28 Auch nach der Königswahl blieben die politische Lage gespannt und die Untertanen unruhig. Der niedere Adel sorgte weiter für innere Kriege, um das drohende Gewaltmonopol des Fürstenstaates doch noch zu Fall zu bringen, die Humanisten überboten sich in nationaler Rhetorik gegen die Welschen, und die Kurfürsten agierten als Bewahrer vorgeblich deutscher Interessen. Karl V. und seine Berater dachten hingegen an die über das Kaisertum zu realisierende Universalmonarchie, die sie als Hegemonie im christlichen Abendland deuteten. Sie benötigten dazu die römische Kirche, gegen die Luther unter anderem mit dem Freiheitsargument kämpfte – inzwischen unter großer öffentlicher Anteilnahme.
3. Der rhetorische Kontext Nach dem päpstlichen Bann erklärte Karl V. 1521 Luther auch in die Reichsacht. Er sah in ihm den Ketzer, der die Gemeinschaft der Gläubigen gefährdete und sich der kaiserlichen Gehorsamsforderung verweigerte. Ob er und seine Berater darüber hinaus die Freiheitsrhetorik Luthers als eine politische Gefahr betrachteten, ist nicht bekannt. Die Brisanz des Freiheitstopos kannten sie jedoch. Libertas war der Kampfbegriff, mit dem vor allem die oberitalienischen Kommunen gegen die Oberherrschaft des Kaisers mobil machten. 29 Obwohl die deutsche Mediävistik seit dem 19. Jahrhundert von einer an Herrschaft gebundenen Freiheit ausging, markierte liber („frei“) stets den Gegensatz zu Herrschaft und Unterdrückung. Eike von Repgow führte im Sachsenspiegel aus, daß ursprünglich „alle lute vri“ gewesen seien. Leibeigenschaft und Unfreiheit waren demnach gewaltsam
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RTA j. R., Bd. 1, 864–876. HELMUT G. WALTHER, Der Diskurs der italienischen gelehrten Juristen um den kollektiven Freiheitsbegriff des römischen Rechts im späten Mittelalter, in: GEORG SCHMIDT , Freiheitsvorstellungen (wie Anm. 3), 25–46; MARTIN VAN GELDEREN, Der Weg der Freiheit. Aus dem Italien des 15. in die Niederlande des 16. Jahrhunderts, in: ebd., 47–60. 29
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und unrechtmäßig in die Welt gekommen. 30 Erasmus von Rotterdam hielt es 1516 für absurd Christen als Sklaven oder Leibeigene zu behandeln, wenn sie von Christus selbst mit seinem Blut von aller Knechtschaft erlöst worden seien. Jeder würde sein Reich entwerten, wenn er freie Bürger in Sklaven verwandele – „fecerit imperium, qui liberos cives veterit in mancipia“. Gott selbst habe Engeln und Menschen einen freien Willen gegeben, um nicht über Unterjochte zu herrschen – „Deus ipse, ne coactis imperaret, et Angelis et hominibus liberum debit arbitrium“. Es sei die Aufgabe eines Königs, „über Freie und mit Willen begabte Menschen zu herrschen.“ 31 Conrad Peutinger ging 1520 von der ursprünglichen Freiheit aller Menschen aus, und Ulrich Zasius erläuterte 1526 auf der Basis des römischen Rechts, daß Leibeigene keine Sklaven, sondern so etwas wie „Freigelassene“ seien. 32 Machiavelli nannte unterdessen „Freiheit“ den höchsten Wert des Menschen. Er forderte das politische Engagement des Bürgers, doch er stellte bereits fest, daß dieser „Freiheit“ nur wünsche, um sicher zu leben. 33 Sicherheit war und ist ein wichtiger Aspekt des Freiheitsbegriffes. 1444 wurde anläßlich des Armagnakeneinfalls angeblich das Gerücht kolportiert, der französische König wolle für die „dutsche fryheit“ gegen das Haus Österreich streiten. 34 Zwar hatte 1457 Martin Mayr, Kanzler des Mainzer Erzbischofs, Enea Silvio Piccolomini vom Wunsch führender Kreise der deutschen Nation berichtet, die alte Freiheit zurück zu gewinnen 35, doch die frühen deutschen Humanisten nutzten das Freiheitsmotiv spärlich. Jakob Wimpfeling nannte 1511 Maximilian I. den Befreier Deutschlands und Wiederhersteller der Freiheit des Reichs 36, während Hieronymus Gebwiler 1519 sein Gedicht Libertas Germaniae als Loblied
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Sachsenspiegel. Landrecht und Lehnrecht, hg. v. FRIEDRICH E BEL, Stuttgart 1993, Buch III, Kap. 52, 137. 31 E RASMUS VON ROTTERDAM, Fürstenerziehung. Die Erziehung eines christlichen Fürsten, Paderborn 1968, eingeleitet, übersetzt und bearb. v. Anton J. Gail, 98–105, Zitate 104f. – Vgl. GRETA GRACE KROEKER, Erasmus and the Freedom of Will, in: T HOMAS K AUFMANN u. a. (Hg.), Frühneuzeitliche Konfessionskulturen, Heidelberg 2008, 249–261. 32 PETER BLICKLE, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, München 2 2006, 264f. 33 NICCOLO MACHIAVELLI, Vom Staate (= Gesammelte Schriften, Bd. 1), München 1925, Zitat Buch 1, Kap. 16, 66. 34 Zit. n. CASPAR HIRSCHI, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005, 390. 35 HANS KLOFT , Die Germania des Tacitus und das Problem eines deutschen Nationalbewußtseins, in: Archiv für Kulturgeschichte 72, 1990, 93–114, hier 100f. 36 Zit. n. CASPAR HIRSCHI, Wettkampf (wie Anm. 34), 390.
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auf die Habsburger formulierte. 37 Etwa in dieser Zeit entstand in Straßburg Sebastian Brants „Freiheitstafel“. Sie sollte im Rathaus zusammen mit 52 zugeordneten Illustrationen den Sitzungssaal der Dreizehner schmücken, des höchsten städtischen Gremiums. Brant erörtert hier nicht nur die „traditionelle Frage nach der inneren Freiheit des Einzelnen, sondern auch die Frage nach der Verwirklichung äußerer Freiheit im Zusammenleben der Menschen“. Er gesteht die, mit Blick auf die Erbsünde im 16. Jahrhundert höchst umstrittene, menschliche Willensfreiheit und einen naturrechtlich begründeten Freiheitsstatus allen Menschen zu. Unfreiheit ist für ihn eine historische Erscheinung, die durch die von der biblischen Geschichte belegte Schuld der Menschen entstand. Darüber hinaus hypostasiert Brant Freiheit als „Abwesenheit von jeder Art Zwang und Gewalt“, und er macht diesbezügliche Zielvorgaben. 38 So heißt es in Tafel 7: „Freyheyt ist ein unschatzbahr guth dem nichts auf Erdenn gleichenn thut: Golt, Silber, Reichtumb, Edelgstein ist gehen der freyheit zschetzenn klein: Es ist gantz lustig lebenn frey dasz der mensch ungebunden sey.“ 39
Brants Texte verweisen auf Beispiele von Freiheit, Dienstbarkeit und Tyrannei in der biblischen und der antiken Geschichte und damit auch auf den Freiheitskampf der Germanen bzw. der Deutschen, denn es sei oft versucht worden, „Freyheit ab[zu]kürtzen in teutschen landen; hat doch die leng nicht moegen harren.“ Nur wenige beherzigten, was über die Freiheit gesagt werde: „stehts thut man teutschlandt mehr inbeiszen/ von alter libertet und wiszen; wihr kommen gar in welsch manier“. 40 Obwohl Brants Freiheitszyklus im 16. Jahrhundert ungedruckt blieb, zeigt er, was damals denk- und sagbar war. Um die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit wurden im deutschen Sprachraum unter „Freiheit“ noch ausgesprochen heterogene Sachverhalte zusammengefaßt, während in der italienischen Renaissance die Begriffe Libertas und Respublica bereits gegen die monarchische Herrschaft zusammengeführt worden waren. Von der Sehnsucht nach republikanischer Selbstregierung war in den deutschen Schriften vor und um 1520 noch wenig zu spüren, während in der Verfassungswirklichkeit das ständische
37 Zit. n. T HOMAS A. BRADY, Turning Swiss. Cities and Empire 1450–1550, Cambridge 1985, 27. 38 JOACHIM KNAPE, Dichtung, Recht und Freiheit. Studien zu Leben und Werk Sebastian Brants 1457–1521, Baden-Baden 1992, 482f. 39 Ebd., 489. 40 Ebd., 496 und 499.
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Mitregiment in reichspolitischen Fragen seit dem Wormser Reichstag von 1495 als durchgesetzt gelten kann. 41 Ulrich von Hutten griff daher konsequent auf den wiederentdeckten Tacitus und dessen Germanorum libertas 42 zurück. Mit der nunmehr alten „deutschen Freiheit“ hatte er sein Thema gefunden 43 und er gestaltete es analog zu den ihm bekannten italienischen Autoren: Deswegen appellierte der Reichsritter und Humanist, wenn auch stets ein wenig verklausuliert, immer wieder an die Bürgertugenden: Wachsamkeit, Gerechtigkeit und Eintracht, aber auch Kampfbereitschaft zur Verteidigung oder Erringung von Freiheit und Selbstregierung. Seit 1520 schrieb Hutten vor allem auf Deutsch, um – wie schon Luther vor ihm – die internen humanistischen Zirkel zu überwinden und ein breiteres Publikum einschließlich der politischen Akteure von seinen Vorstellungen zu überzeugen. 44 In seiner „Clag und vormanung“, einen Aufruf zum (Befreiungs)Krieg gegen Rom und die Welschen, verfocht Hutten 1520 ganz ähnliche Vorstellungen wie Luther in seiner kurz zuvor erschienenen Adelsschrift, argumentierte jedoch politischer. Sein Text kennt „der Teütschen freyheit“, „freyheit teütscher nation“ oder „Freyheit der Teütschen“ auch in den ins Auge springenden Marginalien. 45 Die den Deutschen von den Römern entzogene Freiheit ist das Leitmotiv, um das sich Huttens rhetorischer Kampf für Freiheit und Einheit des deutschen Vaterlandes rankt. „All freye Teütschen“ oder „all frommen Teütschen“ sollen unter Führung Karls V. „umb freyheit kryegen/ gott wills han“. Die Vorväter hätten mit ihrem Sieg gegen die Römer „das vatterland in freyheit gsetzt“. 46 Nur durch die Lösung von Rom könnten die Deutschen Freiheit, Recht und Ehre wiedergewinnen. Karl V. wurde aber nicht – wie Ulrich von Hutten im Vadiscus
41
GEORG SCHMIDT, Geschichte (wie Anm. 21), 33–44. Die Germania des Tacitus, erläutert v. Rudolf Much, hg. v. WOLFGANG LANGE, Heidelberg 3 1967, Kap. 37, 416. – Vgl. MANFRED F UHRMANN, Die Germania des Tacitus und das deutsche Nationalbewußtsein, in: DERS., Brechungen: wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition, Stuttgart 1982, 113–128. 43 Vgl. ULRICH VON HUTTEN, Vorred zum Vadiscus, in: DERS., Deutsche Schriften, hg. v. HEINZ METTKE, Bde. 1–2, Leipzig 1972–74, hier Bd. 1, 55. Vgl. auch ULRICH HUTTEN, Liberis omnibus ac vere Germanis S., in: E DUARD BÖCKING (Hg.), Ulrichs von Huttens Schriften, Bd. 1, ND Aalen 1963, 240ff. 44 WOLFGANG HARDTWIG, ULRICH VON HUTTEN. Überlegungen zum Verhältnis von Individuum, Stand und Nation in der Reformationszeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 35, 1984, 191–206, hier 198. 45 ULRICH VON HUTTEN, Clag und vormanung gegen dem übermäßigen unchristelichen gewalt des Bapstes zu Rom und der ungeistlichen geistlichen, in: DERS., Deutsche Schriften (wie Anm. 43), hier Bd. 2, 35–81, Zitate 53f. und 58. 46 Ebd., 61, 63 und 70. 42
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prophezeite – zum „widerbringer [der] teütschen freyheit“. 47 Dieses Büchlein sandte er am 13. Februar 1520 an Sebastian von Rotenhan mit dem bezeichnenden Hinweis, es sei ein Zeichen seiner „angebornen freyheit“. Er finde selbst Gefallen daran, denn er „löse auff der teütschen freyheit, die gebunden und mit Bäpstlichen stricken verhäfft was. Ich bring wid‘ herfür die christlichen warheit“. Dafür begehre er keinen Lohn des Vaterlands „gemein teütsch Nation“, hoffe aber, daß ihn alle frommen Deutschen schützten, falls er verfolgt werde. 48 Mit seinem vor 1520 entstandenen, aber erst 1529 gedruckten „Arminius“, der die Römer auf dem Höhepunkt ihrer Macht besiegt hatte, schuf Hutten jedoch den deutschen Freiheitshelden, der fortan die Gemüter auch deswegen bewegte, weil er selbst die Königswürde angestrebt und damit das Freiheitsbedürfnis seines Volkes provoziert hatte. 49 Hutten forderte im September 1520 von der Ebernburg aus Kurfürst Friedrich von Sachsen auf, sich an die Spitze des Kampfes gegen Rom zu stellen. Er, Hutten und Luther hätten „nit […] leyden mögen, (daß, G. S.) unser vaterland Teütsch Nation, der doch vor anderen allen freyheit gebürt, in gefengnüß und dienstbarkeyt gesatzt werden.“ Doch die Romanisten wollten alle „Teutschen in gemeyn […] irer freyheit“ berauben. Dagegen müsse der Kurfürst kämpfen, denn es seien allein die Sachsen „unter allen andern teütschen, die nye einem außlendischen herren unterworfen, nye kein joch getragen“. Er werde jedenfalls nicht dienen, „dann sterben ist mir nit so erschrockenlich als on freyheit leben“. Er könne nicht sehen, wenn „teütsch nation ihrer freyheit mangelen“. 50 Zuvor hatte Hutten am 4. Juni 1520 Luther aufgefordert, gemeinsam mit ihm die Freiheit zu retten und
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ULRICH VON HUTTEN, Vadiscus oder die Römische Dreyfaltigkeit, in: DERS., Deutsche Schriften (wie Am. 43), hier Bd. 1, 57–148, Zitat 85. – Vgl. ULRICH VON HUTTEN, Ritter, Humanist, Publizist 1488–1523. Katalog zur Ausstellung des Landes Hessen anläßlich des 500. Geburtstages, bearb. v. Peter Laub, Kassel (1988); GEORG SCHMIDT, Ulrich von Hutten, Der Adel und das Reich um 1500, in: JOHANNES SCHILLING/ E RNST GIESE (Hg.), Ulrich von Hutten in seiner Zeit, Kassel 1988, 19–34; GÜNTER VOGLER, Ulrich von Hutten und sein „Vaterland“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 36, 1988, 410–427. 48 Im lateinischen Text heißt es: „vincta erat libertas nostra et ponitificiis impedita laqueis solvo“. E DUARD BÖCKING (Hg.), Epistolae Ulrichi Hutteni, Bd. 1, Leipzig 1854, 323. 49 ULRICH VON HUTTEN, Arminius, in: DERS., Die Schule des Tyrannen, hg. v. MARTIN T REU, Nachdruck Darmstadt 1997, 191–206, bes. 193 und 205. Vgl. HANS-GERT ROLOFF, Der Arminius des Ulrich von Hutten, in: RAINER WIEGELS/ WINFRIED WOESLER (Hg.), Arminius und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur, Paderborn u.a. 1995, 211–238. 50 Ulrich von Hutten an den Kurfürsten von Sachsen, 1520. Sept. 11, in: DERS., deutsche Schriften (wie Anm. 43), Bd. 2, 98–112, Zitate 99, 102, 103 und 112.
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das schon lange unterdrückte Vaterland zu befreien. 51 Hutten erläuterte an anderem Ort, daß auch frühere Kaiser „gern Teutschen land geholffen/ und sein freyheit gern widerbracht hetten“. Ihnen habe es jedoch am nötigen Wissen über ihre Unabhängigkeit vom Papst gefehlt. Dies sei nach Luthers und seinen Schriften nun anders. 52 Während Luther seine Mitte August erschienene Adelsschrift verfaßte, wandte sich der Reichsritter einen guten Monat später mit einem persönlichen Hilferuf an die Stände der deutschen Nation. Gütlich hätte er die Dinge, die „götlicher warheit und freyheit des vatterlands entgegen sein“, nicht ändern können, deswegen habe er nach Leuten suchen müssen, die ihn schützen und ihn beim Kampf um die Freiheit des Vaterlands unterstützen. Nun solle man ihm helfen. 53 Seine Klageschrift überreichte er von Rotenhan mit der Erläuterung, diese publiziert zu haben nicht weil er sich fürchte, sondern weil er alle zur „widerbringung gemeyner freyheit bewegen“ wolle, „durch neüheit der sachen. Dan allein dißes vornemen haben die Romanisten vormals nit mer unterstanden“. 54 1521 ließ Hutten die „deutsche Freiheit“ in einem Dialog der „päpstliche Bulle“ vorwerfen, sie wolle Deutschland in schmähliche Sklaverei verstricken. Die deutsche Freiheit ruft daraufhin alle Deutschen zur Hilfe. Es erscheint zunächst jedoch nur Hutten, um der Bulle zu verbieten, die deutsche Freiheit weiter zu bedrängen. Er könne vielleicht über Luther schweigen, nicht aber über die Freiheit. Dann aber ruft auch er nach den freien Männern und fragt, ob es außer ihm noch einen gebe, der kein Sklave sein wolle, „der sich der Unterdrückung schämt und Freiheit schaffen will“. Hutten verweist nun auf den Reichstag, und Franz von Sickingen fordert die deutschen Fürsten auf, die günstige Gelegenheit zu nutzen: „Ein großes Fenster zur Erlangung der Freiheit ist uns aufgetan, dringen wir ein!“ 55 Wie schon bei Luther sind es auch bei Hutten die Reichsstände denen es gebührt, als cives des Reichs die Freiheit gegen die drohende Abhängigkeit und Sklaverei zu verteidigen. Der gemeinsame Gegner heißt Rom. Es ist von daher verständlich, daß Hutten in Luther einen Verbündeten vermutete. 51 „Vindicemus communem libertatem, liberemus oppresam diu iam patriam“. Böcking, Epistolae, Bd. 1 (wie Anm. 48), 356. 52 ULRICH VON HUTTEN, Anzoig wie allwegen sich die Römisch Bischöff, oder Bäpst gegen den teutschen Kayßern gehalten haben […], in: DERS., Deutsche Schriften (wie Anm. 439), Bd. 1, 225–244, Zitat 239. 53 ULRICH VON HUTTEN, Ein clagschrift [...] an alle stend Deütscher nation, in: ebd., 207–218, Zitat 211. 54 Hutten an von Rotenhan, 1520, Sept. 13. In der lateinischen Fassung wird die Sache deutlicher. „sed rei novitate (solum enim nunquam prius experti sunt hoc Romanitae) multorum animos ad vindicandam communem libertatem accendam.“ E DUARD BÖCKING, Epistolae (wie Anm. 48), Bd. 1, 404. 55 ULRICH VON HUTTEN, Die Bulle oder der Bullentöter, in: DERS., Schule (wie Anm. 49), 55–85, Zitate 82f.
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Doch nicht nur Hutten und Luther sprachen von „Freiheit“ bzw. von „deutscher Freiheit“. Dies beweisen zahlreiche Flugschriften. „Freiheit“ wurde langsam zum überall einsetzbaren Appell. In einer Flugschrift beklagt sich die „schön Germania“, die zur „Bäpst-Eselin“ geworden war: „Vor zeit war ich stark und mannhaft jetzt ist mir genommen all mein kraft [...] Die freyen Teutschen seind nit mehr ...“
Der nicht genau zu datierende Text gehört in das hier behandelte Zeitfenster der sog. Sturmjahre der Reformation, denn die deutschen Bauern und Bürger vertreiben den Ablaßhändler und feiern ihren Erfolg im Wirtshaus. 56 Die Botschaft ist eindeutig: Der Papst hat den Deutschen das Sklavenjoch angelegt, Wachsamkeit, Kampfbereitschaft und Eintracht eint die Nation zur Freiheit. Darum ging es auch Luther.
4. Die Freiheit Luthers Luther hatte Ende des Jahres 1517 seinen Namen gräzisiert. Es ist nicht eindeutig geklärt, was er mit der kurzfristig genutzten Namensform „Eleutherius“ zum Ausdruck bringen wollte. Verhielt er sich mit seinen Thesen und der Disputationsforderung „eines Freien würdig“, fühlte er sich passiv als „Befreiter“ und wollte lediglich sein „Befreitsein“ darüber zum Ausdruck bringen, daß der Mensch die in Gott gegründete Freiheit nur durch Gottes Gnade erringen könne, oder sprach er vielleicht doch als „Befreier“? 57 Luther meinte eine geistig-ideelle Freiheit mit der er die Last der kirchlichen Zwänge und der scholastischen Tradition hinter sich ließ, die seinen Glauben bisher gefesselt hatten. Diese geistig-geistliche Freiheit – Libertas est res spiritualis – fand sich damals noch in den juristischen Vokabularien 58, doch der Freiheitsbegriff hatte auch in Deutschland eine politische Dimension gewonnen, die im Kampf um die Kaiserkrone und rhetorisch von Hutten in Stellung gebracht wurde. Durfte Luther also noch darauf vertrauen, daß seine Freiheitsvorstellung nur auf den geistigen Bereich bezogen wurde? Darüber hinaus gab es eine entscheidende Schnittstelle zwischen geistiger und politischer Freiheit: die Freiheit von Rom und der kirchlichen Hie56
JAKOB CAMMERLANDER, Der new Deutsch Bileams Esel. „Wie die schön Germania durch arge list und zauberey ist zur Bäpst Eselin transformiert worden [...]“ (= Flugschriftensammlung Gustav Freytag, Nr. 4258). 57 Vgl. VOLKER LEPPIN, Martin Luther, Darmstadt 2006, 124f.; BERND MOELLER/ KARL STACKMANN, Luder – Luther – Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen. Göttingen 1981. 58 Vgl. JOACHIM KNAPE, Dichtung (wie Anm. 38), 328.
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rarchie. Politiker, Humanisten und Aufständische nutzten wie Luther das gleiche Wort bzw. den gleichen Wortstamm, um auszudrücken, daß der Mensch sich gegen unrechten Zwang wehren dürfe, ja wehren müsse. Und es war der Reformator, der diese Perspektive popularisierte, denn auf 5000 Belegstellen, die allein für die viel gelesenen deutschen Schriften Luthers zwischen 1517 und 1530 ermittelt wurden 59, dürfte es kein anderer Autor auch nur annähernd gebracht haben. Luther machte „Freiheit“ in diesen Jahren zum mobilisierenden und emotionalisierenden Schlagwort, ohne Inhalt und Bedeutung festschreiben zu können. Freiheit wurde zum vielgestaltigen Bewegungsbegriff, der einen angestrebten oder ersehnten Zustand verkörperte, der zurückgewonnen oder herbeigeführt werden sollte. Auch in dieser Hinsicht ähnelten sich die Vorstellungen der Reichsstände, der leibeigenen Bauern und Martin Luthers. Der Titel einer der drei großen Reformschriften des Jahres 1520 „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ eröffnete dementsprechend einen kaum mehr zu überbietenden Erwartungshorizont, denn er ließ sich natürlich als die grundlegende Antwort und Auseinandersetzung des Reformators mit der Freiheitsthematik verstehen; er mußte vielleicht sogar so verstanden werden. Eine solche diesseitige Deutung liegt im Übrigen dem Inhalt keineswegs so fern, wie die meisten Interpreten später meinten. Luther will die Frage beantworten, was den Menschen zu einer freien und gerechten Person mache. Seine Antwort ist die „Frommheit“ (iustitia): „Freiheit wird dem Gläubigen durch die Gnade Gottes zuteil, sie ist also eine Befreiung des Christen“. 60 Äußere Lebensbedingungen konstituieren hingegen weder die Gerechtigkeit noch die Freiheit einer Person. Sie werden einem Menschen nur dann zu Teil, wenn Gott sie ihm frei zuerkennt. Dies geschieht im Evangelium. Im Glauben gewinnt der Mensch seine Freiheit, die er richtig gebrauchen muß. Es ging Luther in erster Linie darum, die Meinung zu bekämpfen, fromme Werke würden eine Art Anspruch auf Gerechtigkeit gegenüber Gott aufbauen. Konkret wird Luther insofern, als durch den Glauben alle Menschen mit Christus Könige und Priester werden (These 15). Geistlich ist der Mensch ein Herr aller Dinge und ein Priester, denn er kann vor Gott treten und für andere bitten. „Wer mag nu außdencken die ehre und höhe eyniß Christen menschen? Durch seyn künigreych ist er allerdings mechtig, durch sein priesterthum ist er gottis mechtig“. (These 16) Der Christ soll dem Nächsten Dienste und Werke freiwillig tun, denn für sein Seelenheil sind sie nicht nötig. Die innere Freiheit benötige keine Gesetze (These 19). Luther verweist dann auf den Römerbrief, daß Paulus geboten habe, weltlicher 59
ANJA LOBENSTEIN-REICHMANN, Freiheit bei Martin Luther. Lexicographische Textanalyse als Methode historischer Semantik, Berlin/ New York 1998, 18. 60 PETER BLICKLE, Reformation (wie Anm. 17), 39.
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Gewalt untertan und bereit zu sein, nicht daß man dadurch fromm werde, „sondern das sie den andern und der ubirkeit da mit frey dieneten, und yhren willen thetten auß lieb und freyheit.“ Selbst wenn ein Tyrann etwas Unrechtes befehle und man es ausführe, sei das für das Seelenheil unerheblich, sofern es sich nicht gegen Gott richte (These 28). 61 Explizit sagt Luther jedenfalls nicht, daß der Christ der Obrigkeit gehorchen müsse, sondern nur, daß er dies freiwillig tun solle. Luthers Rückgriff auf das paulinische Freiheitsverständnis konnte in einer Zeit der Unruhe und des Aufbruchs auch als politische Forderung zumindest gegen unrechtmäßige obrigkeitliche Gewalt gelesen werden. 62 Daß es Luther nicht um die diesseitige rechtliche, soziale oder politische Freiheit des Einzelnen, sondern um seine Unmittelbarkeit zu Gott ging, sollten die beiden Eingangsthesen belegen: „Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan“. 63 Beide Aussagen ließen sich aber auch unabhängig voneinander deuten, so daß sie aus der Sicht der Betroffenen Leibeigenschaft und andere schwere Formen der Abhängigkeit und Untertänigkeit in Frage stellen konnten. Wenn schon die Autorität des Papstes und der Kirche nichts mehr galten, mußte der auf Erden von seinen Herren bedrängte Mensch daraus nicht den Schluß ziehen, daß er deren, in seinen Augen unrechtmäßigen, Forderungen unter Verweis auf die Freiheit eines Christenmenschen nicht nachzukommen brauche, weil dies für sein Seelenheil unerheblich war? Konnte er nicht glauben, die herrschaftlichen Forderungen nur noch freiwillig erfüllen zu müssen und die versprochene Freiheit auch hier in dieser Welt für sich in Anspruch nehmen zu dürfen? Gerade dieser Text mußte von seinen vielen Lesern und Hörern, die mit der humanistischen Rhetorik nicht vertraut waren, anders als von Luther intendiert auch weltlich – als Freiheit in dieser Welt – verstanden werden. Sie nahmen Luthers Texte, oft auch nur einzelne Sätze daraus, wörtlich und interpretierten sie als Antwort auf ihre konkreten Sorgen und Nöte. Dies führte sie zu einem Verständnis, in dem das göttliche Wort, die Bibel, den Rang einer unhintergehbaren, zurückzugewinnenden Norm gewann – im geistlichen wie im weltlichen Bereich. Von daher sollten nicht voreilig die theologisch-dogmatischen Positionen Luthers, wie sie sich aus seinen späteren Schriften erschließen, als einzig mögliche Deutung festgezurrt werden. Texte sind nun einmal interpretationsfähig und dies gilt auch für 61 MARTIN LUTHER, Von der Freyheyt eyniß Christen menschen, in: DERS., Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7, Weimar 1897, 20–38, Zitate 28 und 37. 62 VOLKER LEPPIN, Evangelium der Freiheit und allgemeines Priestertum. Überlegungen zum Zusammenhang von Theologie und Geschichte in der Reformation, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 58, 06/2007, 103–107. 63 MARTIN LUTHER, WA, Bd. 7 (wie Anm. 61), 21.
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diejenigen Luthers – unabhängig davon, daß und wie sie später kanonisiert wurden. Es bleibt daher letztlich offen, in welchem Kontext Luther, der frühzeitig auf den Druck mit beweglichen Lettern setzte und für seine Zwecke nutzte, den überragenden Erfolg hatte und spätestens mit den Schriften des Jahres 1520 zum Medienstar wurde. 64 Daß er als Seelsorger die Menschen ansprach und sie aus Gewissensnöten befreien konnte, ist wohl nur die eine Seite der Münze, deren andere die transformative Zeitströmung, die Luther mit seinem Verweis auf die Bibel perfekt bediente. Dem Göttlichen hatte sich jeder zu unterwerfen. Von 13 Straßburger Drucken, die zwischen 1520 und 1533 Luthers Freiheitstraktat verteidigten, gingen daher lediglich drei von dem Freiheitsverständnis aus, das heute theologisch mit diesem verbunden wird. 65 Andere zeitgenössische Reformatoren suchten wie Ulrich Zwingli in spätmittelalterlich-kommunaler und republikanischer Tradition die Tugenden des freien Bürgers und seine Bereitschaft, für das Gemeinwohl einzutreten, als Voraussetzung einer wahren christlichen Erneuerung. 66 Daß sich Luther mißverstanden fühlte, ist anzunehmen, daß ein „tatsächlicher Mißbrauch“ seiner Texte erfolgte, wie zuletzt Torsten Jacobi unterstellte 67, setzt deren bewußte Umdeutung voraus und wird sich kaum belegen lassen. Luthers Freiheitsidee war uneindeutig, weil sie – wie Volker Leppin betont hat – vor der Folie der Wünsche und Sehnsüchte seiner Zeitgenossen einen anderen Sinn entfalten mußte, als denjenigen, den er ihr selbst beimaß. 68 Dies umso mehr, als Luther 1520 selbst politisch argumentierte. Nachdem die institutionalisierte Papstkirche seine Reformanliegen abgelehnt hatte, wollte er dafür der „allerdurchlauchtesten, großmächtigsten kaiserlichen Majestät und christlichem Adel deutscher Nation“ die Verantwortung übertragen. Er wandte sich mit der Adelsschrift an die demnächst auf dem Reichstag versammelte politische Führung als Garanten der weltlichen Ordnung: „Wie kommen wir Deutschen dortzu, das wir solch reuberey, schinderey unserer guter von dem babst leyden mussen? hat das kunigreich zu Franckreich sichs erweret, warumb lassen wir Deutschen uns alszo nar64
JOHANNES BURKHARDT , Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002. Vgl. auch BERND MOELLER, Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, in: HARTMUT BOOCKMANN (Hg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, Göttingen 1994, 148–164. 65 MARK U. E DWARDS, The Reception of Luther’s Understanding of Freedom in the Early Modern Period. In: Lutherjahrbuch 62, 1995, 104–117, hier 105f. 66 PETER BLICKLE, Leibeigenschaft (wie Anm. 32), 249 und 253ff. 67 THORSTEN JACOBI, Christen (wie Anm. 17), 248. 68 VOLKER LEPPIN, Freiheit als Zentralbegriff der frühen reformatorischen Bewegung. Ein Beitrag zur Frage „Luther und die Bauern“, in: GEORG SCHMIDT , Freiheitsvorstellungen (wie Anm. 3), 317–327.
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ren und effen?“ 69 Die Adelsschrift fordert nicht nur theologische Reformen, sondern auch politische Konsequenzen: Die deutschen Obrigkeiten sollten schlicht verbieten, weiterhin Gelder nach Rom zu liefern, „dan der bapst hat den pact brochen unnd ein reuberey gemacht ausz den Annaten, zu schaden und schanden gemeyn deutscher Nation“. 70 In Rom dürften keine weltlichen Streitfälle mehr entschieden werden und der Papst keine Macht über den Kaiser besitzen. 71 Die Adelsschrift reagiert auf die politischen Auseinandersetzungen dieser Zeit, die etwa Hutten ganz ähnlich thematisierte. Luther systematisierte die Gravamina der deutschen Nation 72, die Kaiser und Reich nun ohne den Papst umsetzen sollten. Er bündelte die Freiheit von Rom als nationale Strömung und trieb diese voran, weil neben etlichen Reichsständen auch das Volk seine Handlungsanweisungen verstand und insbesondere als Kampf gegen die unnützen Geistlichen umsetzte. Ob Luther ohne die Unruhen und ohne den Rekurs auf die nationale Freiheit Erfolg gehabt hätte 73, bleibt Spekulation. Was die Masse der Leser und Hörer begeisterte, war die Freiheit eines jeden Menschen, die Kritik an der alten Kirche sowie der Aufruf zum nationalen Befreiungskampf gegen Rom und die Kleriker. Die Adelsschrift war das nationale Freiheitspamphlet, das 1520 nur als Plädoyer für eine reformierte deutsche Nationalkirche gelesen werden konnte, die sich vom römischen Joch lösen sollte, um auch die einzelnen Menschen zu befreien. Luthers Botschaft wurde als Aufforderung an jeden Deutschen verstanden, sich am Freiheitskampf gegen Rom aktiv zu beteiligen, um den zeitlichen Wohlstand und das individuelle Seelenheil sicherzustellen.
5. Wirkungen und Folgen Während des Wormser Reichstags unterschied Herzog Wilhelm IV. von Bayern zwischen dem Luther, der mit seiner Kirchenkritik die Nationsund Freiheitsvorstellungen beflügelt, und dem Ketzer, der Papst und Konzilien des Irrtums bezichtigt hatte: „Von ganz Deutschland wäre Luther nicht bloß begünstigt, sondern angebetet worden, hätte er sich auf seine 69 MARTIN LUTHER, An den christlichen Adel deutscher Nation, von des christlichen Standes Besserung, in: WA, Bd. 6 (wie Anm. 61), Weimar 1888, 381–469, hier 419. 70 Ebd., 427f. 71 Ebd., 429–435. 72 Vgl. T HEODOR PAULS, Luthers Auffassung von Staat und Volk, Halle 2 1927, 126– 131. 73 Vgl. ARTHUR GEOFFREY DICKENS, The German Nation and Martin Luther, London 1974; DIETER MERTENS, Nation als Teilhabeverheißung: Reformation und Bauernkrieg, in: DIETER LANGEWIESCHE/ GEORG SCHMIDT (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, 115–134.
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ersten Positionen beschränkt und nicht in offenbare Glaubensirrtümer verwickelt.“ 74 Luther war zum deutschen Helden geworden, weil er Rom und der etablierten Kirche die Stirn geboten hatte. Er schien die Unruhe und Unsicherheit produktiv in eine nationale „normative Zentrierung“ 75 transformieren zu können. Wenn Luther immer wieder von „der Freiheit“ oder „den Deutschen“ schrieb, wußte er, in welchen rhetorischen und sozialen Kontext er diese emotionalisierenden und mobilisierenden Begriffe entließ. Er kannte die einschlägigen Debatten, und er war ein gewichtiger Teil von ihnen. Luthers Schriften wirkten. Seine Texte und sein Verweis auf die Bibel als absolute Wahrheit machten „Freiheit“ zu einem Teil des Göttlichen Rechts. Thomas Murners „Von dem Großen lutherischen Narren“ zeigt schon 1522 einen mit einem Schwert bewaffneten Bauern, der vor einer Burg ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Frijheit“ trägt. 76 Das katholische Pamphlet wollte denunzieren und polarisieren, doch auch Luther begann die gleichen Befürchtungen zu hegen. Seit den Wittenberger Unruhen um die Jahreswende 1521/22 77 ergriff er bei Aufruhr immer eindeutiger die Position der Herrschaft. Gegen Ende des Bauernkrieges forderte er die strenge Bestrafung der Aufständischen, weil sie Gott und das Evangelium für weltliche Zwecke mißbraucht hätten. Wenn zudem ein Humanist wie Melanchthon 1525 dem Kurfürsten von der Pfalz schrieb, er wünsche, „daß eyn solch wild ungezogen volck, als Teutschen sind, noch weniger freyheyt hette dann es hat“ 78, so verweist dies nicht nur auf den Schock, den die Gewalttaten ausgelöst hatten, sondern auch auf die Freiheit als zentrales Problem dieser Zeit. Ablehnende Haltungen zu den Freiheitswünschen der Menschen wie diejenigen Luthers und Melanchthons sind heute schwer vermittelbar. Der Erfolg der Reformation basierte auf einer Konstellation, in der die Masse nicht zwischen religiöser und weltlicher Freiheit trennte. Wenn Luther mit der Bibel die akute Kirchen- und Papstkritik untermauerte, so mußte dies als Aufruf zum Widerstand und zur Befreiung gelesen werden. Aus dem 74 Zit. n. JOHANNES JANSSEN, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 2, Freiburg i. Br. 20 1915, 333, Anm. 1. 75 BERND HAMM, Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 84, 1993, 7–82, hier 76ff. 76 Vgl. PETER BLICKLE, Der Bauernkrieg. Die Revolution des gemeinen Mannes, München 1998, 64. 77 Vgl. VOLKER L EPPIN, Luther (wie Anm. 57), 192–204; ULRICH BUBENHEIMER, Luthers Stellung zum Aufruhr in Wittenberg 1520–1522 und die frühreformatorischen Wurzeln des landesherrlichen Kirchenregiments, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 71, 1985, 147–214. 78 PHILIPP MELANCHTHON, Gutachten über die 12 Artikel für Kurfürst Ludwig von der Pfalz (1525), in: DERS., Opera quae supersunt omnia, hg. v. HEINRICH E RNST BINDSEIL, Halle 1854, 655.
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„Mönchsgezänk“ am Ende der damals bekannten Welt wurde das Thema des Jahrhunderts, weil Luthers Vorstellungen zu den Stimmungen, Diskursen und Strukturen dieser Zeit paßten bzw. als seine Antworten darauf gedeutet wurden. Luther war der Ausgangspunkt der Reformation, doch deren Durchbruch beruhte auf der Akzeptanz der Massen. Die Deutungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu konkurrierenden Paradigmen wie Volks-, Gemeinde-, Stadt- und Fürstenreformation, „Frühbürgerlicher“ oder „Revolution des Gemeinen Mannes“ sowie „Systemkonflikt des gemeinen Mannes mit seiner Herrschaft in Stadt und Land“ geführt haben, verweisen daher zu recht auf kollektive Akteure. 79 Die Reformation muß heute auch nicht mehr mit Leopold von Ranke als „Ursprung der Spaltung in der Nation“ 80 verstanden werden, denn sie initiierte nicht nur das kulturelle Gegeneinander, sondern sorgte komplementär dazu auch für das politische Streben nach Religions- und Gewissensfreiheit, Toleranz und Pluralität. 81 Die im 16. Jahrhundert ausgehandelten Religionsfrieden schufen dafür die unverzichtbare Basis. Sie waren anfangs nur für kurze Zeit und dann bis zur Wiedervereinigung des christlichen Glaubens befristet, doch die der alleinigen Wahrheit ihrer Konfession verpflichteten Theologen konnten ihnen nicht zustimmen. Sie duldeten die weltlichen Regelungen nur, weil sie unumgänglich waren, denn die Alternative hieß Glaubenskriege. Immerhin – die Theologen haben die Religionsfrieden nicht verhindert und so das Nebeneinander verschiedener Konfessionen ermöglicht, das dem Reichs-Staat als Ganzes frühzeitig auf eine plurale Grundlage stellte. Das ius emigrandi war 1555 ein erster Schritt auf dem langen Weg zur Gewissensfreiheit 82, der man 1648 spürbar 79
Vgl. zusammenfassend VOLKER PRESS, Reformatorische Bewegung und Reichsverfassung. Zum Durchbruch der Reformation – soziale, politische und religiöse Faktoren, in: DERS., Das Alte Reich, Berlin 1997. 480–512; RAINER WOHLFEIL, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982; LUISE SCHORN-SCHÜTTE, Die Reformation, München 1996; OLAF MÖRKE, Die Reformation. Voraussetzung und Durchsetzung, München 2005. 80 LEOPOLD VON RANKE, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 2, München 1925, 111; HEINRICH LUTZ, „Ursprung der Spaltung in der Nation“. Bemerkungen zu einem Kapitel aus Rankes Reformationsgeschichte, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag. Bd. 1, Göttingen 1971, 140–160. 81 JOACHIM WHALEY, Religiöse Toleranz als allgemeines Menschenrecht in der Frühen Neuzeit? in: GEORG SCHMIDT, Freiheitsvorstellungen (wie Am. 3), 397–416; GEORG SCHMIDT , Die frühneuzeitliche Idee „deutsche Nation“: Mehrkonfessionalität und säkulare Werte, in: HEINZ-GERHARD HAUPT / DIETER LANGEWIESCHE (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt/ New York 2001, 33–67. 82 Vgl. AXEL GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004, bes. 527– 578; MATTHIAS ASCHE, Auswanderungsrecht und Migration aus Glaubensgründen – Kenntnisstand und Forschungsperspektiven zur ius emigrandi Regelung des Augsburger Religionsfriedens, in: HEINZ SCHILLING/ HERIBERT SMOLINSKY (Hg.), Der Augsburger Religionsfrieden 1555, Heidelberg 2007, 75–104.
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näher kam. Luthers Kampf gegen Rom war von Hutten als Kampf um die „deutsche Freiheit“ auf den Punkt gebracht worden – ein Topos, der in der Frühneuzeit als nationale und als verfassungsrechtliche Mobilisierungsstrategie fungierte. Die Freiheit verdankt insofern Luther viel. Der Kampf für die Freiheit des eigenen Glaubens verband sich gerade in Deutschland von Beginn an untrennbar mit demjenigen für die Freiheit einer in der Vielfalt geeinten Nation. Da die Deutschen nie erobert worden waren, waren sie weder einem fremden Volk noch dem eigenen Kaiser untertan und gaben sich ihre Gesetze selbst. Vor allem evangelische Reichsstände entwickelten daraus die Theorie eines freien Reiches, das von dem gewählten und deswegen abhängigen Kaiser zusammen mit den erbrechtlich legitimierten Fürsten regiert wurde. Die Untertanen scheiterten zwar im Bauernkrieg mit dem Versuch, sich einen Teil dieser Freiheit zu sichern, doch die kollektiven Freiheitsvorstellungen generierten individuelle Freiheitsräume, die etwa als Freiheit des Eigentums und des Solddienstes, als Mobilitäts- und Rechtsweggarantie buchstabiert wurden. Diese Rechte galten zwar nicht für alle in Deutschland lebenden Menschen, aber doch für einen sehr großen Teil der reichsständischen Untertanen und Bürger, die sich einem der in den Religionsfrieden legitimierten Bekenntnisse zuordneten. Der begrifflich inzwischen bereits zum Konfessionsfundamentalismus hochgerüstete Religionsstreit und ein sich auf theologisch-dogmatische Positionen konzentrierender Zugriff auf das Geschehen im 16. Jahrhundert verstellen heute wichtige Einsichten. Vergessen wird nicht nur, daß das kulturelle und politische Nebeneinander sowohl bedrohend als auch befruchtend war, sondern vor allem, daß der Konfessionsstreit durch Freiheit, nicht durch Zwang gehegt und gezähmt wurde. Am Ende der innerdeutschen Kriege, die auch, aber keineswegs nur wegen der Religion geführt wurden, standen Vergleichsfrieden, die die Duldung des Anderen regelten. Christen verschiedener Bekenntnisse lernten, auf der normativen Basis ausgehandelter Verträge, friedlich, wenn auch nicht immer gleichberechtigt, in einem Gemeinwesen neben- und miteinander zu leben. 83 Festzuhalten bleibt: „Von der nach Luther gottgewirkten Befreiung des Gewissens führt ein Weg zur Gewissensfreiheit“. 84 Diese Erkenntnis Marc Lienhards darf bei der Beschäftigung mit der Reformation nicht vergessen werden. Es war ein langer und dorniger Weg von der Gewissensfreiheit der Reichsstände über die eingeschränkte Duldung des Westfälischen Friedens 83 GEORG SCHMIDT, Freiheit, Pluralität und Frieden. Überlegungen zur deutschen Reformationsgeschichte, in: WOLFGANG J. WEBER/ REGINA D AUSER (Hg.), Faszinierende Frühneuzeit. Reich, Frieden, Kultur und Kommunikation 1500–1800. Festschrift für Johannes Burkhardt zum 65. Geburtstag, Berlin 2008, 75–94. 84 MARC LIENHARD, Freiheit in der Sicht Luthers und der Französischen Revolution, in: Lutherjahrbuch 62, 1995, 152–166, Zitat 165.
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zu den modernen Freiheitsrechten. Obwohl die christlichen Kirchen ihn nur unter Vorbehalt mitgegangen sind, dürfen auch sie stolz darauf sein. „Die Hoffnung immer vernünftiger zu werden, uns von den äußeren Dingen, ja von uns selbst immer unabhängiger zu machen, konnten wir nicht aufgeben. Das Wort Freiheit klingt so schön, daß man es nicht entbehren könnte, und wenn es einen Irrthum bezeichnete.“ 85
85 JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, Dichtung und Wahrheit, Tl. 3, Buch 11 (= Goethes Werke, Abt. 1, Bd. 28), Weimar 1890, 69.
Luthers Freiheitsbewußtsein und die Freiheit eines Christenmenschen 1 Reinhard Schwarz Mit dem Thema sehe ich mich vor eine doppelte Aufgabe gestellt; einerseits ist zu prüfen, welcher Freiheitsgedanke Luther zu seiner Namensänderung im Herbst 1517 veranlaßt hat. Andererseits soll analysiert werden, welches Freiheitsverständnis uns in dem Traktat entgegentritt, den Luther 1520 expressis verbis diesem Thema sowohl auf lateinisch als auch auf deutsch gewidmet hat. Erst im Bearbeiten beider Aufgaben kann sich herausstellen, wie die Dinge miteinander biographisch und theologisch verknüpft sind.
1. Luthers Freiheitsbewußtsein bei seiner Namensänderung 1.1 Das Faktum der Namensänderung Für Luthers Namensänderung kann ich voraussetzen, was schon fester Bestandteil der neueren Luther-Biographien geworden ist, seitdem 1981 Bernd Moeller und Karl Stackmann ihre umsichtigen „Erwägungen“ zu Luthers Namensänderung im Herbst 1517 vorgelegt haben. 2 Sie kamen zu dem Ergebnis: Luther war von einem gewissen Freiheitsgedanken beseelt, als er Ende Oktober 1517 seine Thesen gegen den Ablaß verfaßte und im Zusammenhang damit die Form seines Namens änderte. 3 Ich unterstreiche für den Befund der Namensänderung: Ab Oktober 1517 verwendet Luther für sich selbst nicht mehr die Namensform „Luder“, sondern die Form „Luther“. 4 Sie ist ein namensetymologischer Re-
1 Die komplexe Struktur des Stoffes verlangte danach, das Tagungsreferat vom 23. März 2009 erheblich auszubauen. 2 BERND MOELLER, KARL STACKMANN, Luder – Luther – Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen; Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. phil.hist. Klasse, Jg. 1981, Nr. 7. 3 BERND MOELLER, KARL STACKMANN (wie Anm. 2), [22]–[25]. 4 Das erste gewichtige Zeugnis ist Luthers Brief vom 31. Oktober 1517 an Albrecht, Erzbischof von Mainz und Magdeburg, der mit „Martinus Luther August[inianus] Doctor S. Theologie vocatus“ unterschrieben ist, WA.B 1, 112,69–71. Rein universitätsinternen Charakter hat Luthers eigenhändiger Eintrag im Liber Decanorum der Theologischen Fa-
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flex des griechischen Wortes „eleutherius“ 5; denn mit diesem gräzisierten Namen unterschrieb er am 11. November 1517, also kurz nach dem ersten Auftauchen der Namensform „Luther“, einen Brief an den Ordensbruder Johannes Lang in Erfurt 6, mit dem er theologisch eng vertraut gewesen ist. Die Unterschrift eleutherius (bzw. eleutherios) benutzte Luther nur bis Ende Januar 1519 und auch nur in Briefen an einige, wenige Freunde. 7 Später hat er nur in einer Tischrede von 1532 noch einmal diese Namensetymologie aufgegriffen. 8 In noch späteren Jahren meinte er, der Name Luther sei mit „Lothar“ verwandt. 9 1.2 Luthers Freiheitsbewußtsein in seinem theologischen Lehramt Welcher Art war Luthers Freiheitsbewußtsein, als er sich für die Namensform „Luther“ entschied? Der Ansatz zu einer Antwort liegt m. E. in Luthers Bewußtsein seiner Freiheit als Doctor der Theologie. 10 In diesem Bewußtsein schrieb er am 31. Oktober 1517 seinen Brief an Erzbischof Albrecht von Mainz, der uns sogar im Original erhalten ist, während wir einen anderen, gleichzeitig verfaßten Brief an den für Wittenberg zustänkultät von Wittenberg, der auf Mitte Oktober 1517 zu datieren ist, WA 9,307,24.28; 308,1; vgl. BERND MOELLER, KARL STACKMANN (wie Anm. 2), [6] mit Abb.4. 5 Sollte Luther sich an der Lexikographie seiner Zeit orientiert haben, was Moeller und Stackmann nicht annehmen, so könnte nur eine minimale Differenz zwischen eleutherios und eleutheros in Betracht kommen, verzeichnet im Lexicon graecolatinum multis et preclaris additionibus locupletatum; Paris 1512, 123b Zl. 15: „eleutherios, ou, o, liberalis, ingenuus“; Zl. 18 „eleutheros, ou, o, ingenuus, liber“. 6 WAB 1,122,56f.: „F. Martinus Eleutherius, imo dulos et captivus nimis, August[inianus] Wittenbergens[is].“ 7 Adressat war am häufigsten Georg Spalatin, je einmal waren es Johannes Lang (s.o. Anm. 6), Sylvius Egranus und Philipp Melanchthon, als dieser bereits in Wittenberg lebte. Bei einem Brief – WAB 1,160,29 Nr. 66 – ist als Adressat Joh. v. Staupitz mit Sicherheit irrtümlich erst in der späteren Überlieferung eingefügt worden. – Daß der Brief an Egranus 1518 als Beigabe zu einer von ihm verfaßten Schrift in Wittenberg gedruckt erschien, geschah vermutlich ohne Luthers Wissen, WA 1,315f., vgl. WA.B 1,163 Nr. 68. 8 TR 2, 230 Nr. 1829. 9 Nachdem 1537 ein anonymes Werk der Namensetymologie, das unbegründeterweise Luther zugeschrieben wurde, diese Auffassung vertreten hatte (WA 50,137;158,18.23.30; vgl. 60,314–318), hat Luther in seiner Supputatio annorum mundi, WA 53,148 und 156, neben die Namen der beiden Kaiser Lothar I (840–855) Lothar II (1125–37) den Namen „Luther“ hinzugesetzt. Vermutlich eine Zutat des Herausgebers von Luthers GenesisVorlesung 1535–45 ist dort die Bemerkung, WA 44,446,17f., zu Gen 41,45b: „in Saxonia a Lothario sive Lutherio, ut Caesar eum appellat, celebre nomen, et familia nata est die Lueder.“ 10 Ich wähle für meine Interpretation eine andere Perspektive als Bernd Moeller und Karl Stackmann, die von Luthers Brief an Johannes Lang (s.o. Anm. 6) ausgehend Luthers Namensänderung auf dessen „Überzeugung“ zurückführen, „aus den Fesseln der scholastischen Theologie befreit zu sein“, (wie Anm. 2) [31].
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digen Bischof von Brandenburg nicht kennen. An Albrecht von Mainz, der die Hauptverantwortung trug für die in Deutschland laufende Kampagne zugunsten des römischen Petersablaßes, richtete er die eindringliche Mahnung, das Ablaßangebot für die Gläubigen auf das seelsorgerlich vertretbare Maß einzuschränken. Was Luther für theologisch vertretbar hielt, konnte Albrecht zwei beigefügten Texten entnehmen, erstens einem von Luther beigefügten Traktat 11, zweitens den viel schärfer zupackenden 95 Disputationsthesen über den Ablaß. Seine eigene theologische Lehrvollmacht deutete Luther in der Unterschrift seines Briefes an, indem er sich als „berufenen Doctor der heiligen Theologie“ bezeichnete. 12 Eine Ahnung von Luthers Auffassung seiner Lehrvollmacht gibt uns wenige Wochen vor den Ablaßthesen seine ebenso umfangreiche Thesenreihe, die unter dem Namen „Disputatio contra scholasticam theologiam“ läuft. 13 Dort liefert er mit einer damals ungewöhnlich heftigen Stoßkraft einen theologischen Angriff auf eine breite Front scholastischer Theologen. 14 Dennoch erklärt er am Schluß, daß mit den Thesen nichts gesagt sein soll, was nicht mit der Lehre der Kirche und der Kirchenväter im Einklang stehe. 15 De facto messen seine Thesen bestimmte Lehrsätze der scholastischen Theologen an biblischen Texten und an Augustin, der unter allen Kirchenvätern in der lateinischen Kirche höchstes Ansehen genoß. Noch deutlicher wird Luther im Frühjahr 1518 in der Vorbemerkung zu seinen theologischen Thesen für die Heidelberger Disputation, wenn er sagt, seine Thesen seien in erster Linie aus Paulus und in zweiter Linie aus 11
10.
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WA 1,65–69 und in kritischer Edition als Tractatus de indulgentiis, WA.B 12,(2)5–
Nach der Datumsangabe „Ex Vittenberga 1517. Vigilia omnium Sanctorum“ (31. Oktober) verweist Luther ausdrücklich auf seine beiliegenden Thesen (WA.B 1,112,66– 68) und schließt (ebd. Zll. 69–71): „Indignus filius Martinus Luther August[inianus] Doctor S. Theologie vocatus.“ 13 WA 1,(220) 224–228 (9,768f.); verfaßt waren die Thesen für die Promotion des Magisters Franz Günther aus Nordhausen zum Baccalaureus biblicus am 04.09.1517. 14 Verschiedentlich nennt er zwar Vertreter der spätfranziskanischen Theologie – Scotus, Ockham, d’Ailly, Gabriel Biel –, zu manchen Thesen merkt er jedoch an, sie seien gegen die allgemeine scholastische Lehrmeinung gerichtet, z.B. zu Th. 5: „Contra communem [opinionem]“; Th. 18: „Contra communem fere [opinionem]“; Th 35: „Contra omnes scholasticos“; Th. 43 und 45: „Contra dictum commune“; Th. 50 und 75: „Contra scholasticos“; Th. 84 „Contra multos doctores“. 15 WA 1,228,34–36: „In his nihil dicere volumus nec dixisse nos credimus, quod non sit catholicae ecclesiae et ecclesiasticis doctoribus consentaneum.“ – Zum Charakter dieser Erklärung als einer protestatio siehe unten Abschnitt 1.3. Luther bleibt mit dieser Versicherung bei seinem Doctor-Eid; zu dem von Luther geleisteten Doctor-Eid und zwei weiteren damit zusammenhängenden Eidesleistungen vgl. OTTO SCHEEL, Martin Luther, Bd. 2, Tübingen 1930, 557 Anm 6 (Lizentiateneid), ebd. 561 (deutsche Inhaltsangabe des Doctor-Eides), ebd. 564 mit Anm. 3 (Eid bei Aufnahme in den Senat der theologischen Fakultät).
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Augustin, „dem äußerst zuverlässigen Interpreten des Paulus“, geschöpft. 16 Vor allem Augustins antipelagianische Schriften hatten ihm den Zugang zur Theologie des Paulus erschlossen, als er sich in den Jahren 1515–1517 in seinen Vorlesungen intensiv mit dem Römer- und dem Galater-Brief beschäftigte. Dadurch hatte er als Doctor der Theologie und damit gleichbedeutend als Doctor der heiligen Schrift 17 für seine eigene theologische Lehre ein Bewußtsein von Freiheit gegenüber den scholastischen Lehrtraditionen sowie gegenüber der herrschenden kirchlichen Lehre und Praxis gewonnen. 18 Meines Erachtens hat er ganz gezielt im Bewußtsein seiner Befugnis als „Doctor sacrae theologiae“ mit diesem Titel seinen Brief an Erzbischof Albrecht von Mainz unterschrieben, was in gleicher Weise für die beigefügten Ablaßthesen gelten mußte. 19 Im Klartext erscheint sein Freiheitsbewußtsein 1518 in der „Protestatio“, einer grundsätzlichen Erklärung, die er seinen Erläuterungen der Ablaßthesen voranstellt: „Ich beanspruche für mich mit dem Recht christlicher Freiheit („iure Christianae libertatis“), daß ich die Ansichten des seligen Thomas, des Bonaventura oder anderer Scholastiker oder Canonisten, wenn sie ohne Text und Begründung vorgetragen werden, nach meinem Urteil zurückweisen oder billigen will nach dem Rat des Apostels Paulus [1Thess 5,21] ‚Prüfet alles und das Gute behaltet‘.“ 20 Zuvor hat er erklärt, 16 WA 1,353,8–14: „Diffidentes nobis ipsis prorsus […] humiliter offerimus omnium, qui adesse voluerint, iuditio haec Theologica paradoxa, ut vel sic appareat, bene an male elicita sint ex divo Paulo, vase et organo Christi electissimo, deinde et ex S. Augustino, interprete eiusdem fidelissimo.“ 17 Dem mittelalterlichen Sprachgebrauch folgten die Wittenberger Universitätsstatuten, wenn sie die Doktoren der Theologie als „Magistri sacrae paginae“, d.h. als Lehrer der heiligen Schrift, bezeichneten, vgl. OTTO SCHEEL (wie Anm. 15), 561 Anm. 5. 18 Das Insistieren des Paulus auf der wesenhaft zum Evangelium gehörenden Freiheit, ausgefochten im Konflikt mit Petrus, war Luther durch den Gal-Brief und durch die Kontroverse, die darüber einst Augustin und Hieronymus in ihrem Briefwechsel hatten, bekannt geworden. Vgl. KARL HOLL, Der Streit zwischen Petrus und Paulus zu Antiochien in seiner Bedeutung für Luthers Entwicklung, (Ges. Aufsätze 3: Der Westen), Tübingen 1928, 134–146 [zuerst ZKG 38, 1920, 23–40]; Holl konzentriert sich auf die Bedeutung von Gal 2,11ff. und die Folgerung, die Luther für seinen Kirchenbegriff zog und gegenüber Eck in der Leipziger Disputation bekräftigte, nämlich daß für den römischen Bischof weder Primat noch Unfehlbarkeit von Petrus hergeleitet werden kann. – Hayo Gerdes: Luther und Augustin über den Streit zwischen Petrus und Paulus zu Antiochien (Gal 2,11ff.), LuJ 29, 1962, 9–24. 19 Das Freiheitsbewußtsein, von dem der Brief an Erzbischof Albrecht getragen ist, ließe sich wohl durch eine Interpretation seines Briefes an Johannes Lang, 11.11.1517, den er zum ersten Mal mit „F. Martinus Eleutherius […]“ unterschrieben hat (s.o. Anm. 6), abstützen, WA 1,121f. Nr. 52 (v.a. Zl. 33–51). 20 Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute, 1518, WA 1, 530,4–8: „Unum illud addo et mihi vendico iure Christianae libertatis, quod opiniones B. Thomae, Bonaventurae aut aliorum Scholasticorum vel Canonistarum nudas sine textu et probatione positas volo pro meo arbitrio refutare vel acceptare secundum consilium Pauli
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er wolle sich an das halten, was primär in und aus der heiligen Schrift, sodann aus den kirchlich rezipierten und bisher anerkannten Kirchenvätern sowie aus den kirchlichen Canones und den päpstlichen Decretalen belegt und begründet werden kann. Dabei solle stets das Urteil aller seiner Vorgesetzten unangetastet bleiben. 21 In der Entgegnung auf die scharfe Kritik, die der päpstliche Kurientheologe Silvester Prierias an den Ablaßthesen publiziert hatte 22, beruft sich Luther im Spätsommer 1518 noch einmal auf sein „christliches Freiheitsrecht“, das sich nicht erschüttern lasse, wenn der römische Thomist einfach theologisch Unbegründetes vortrage oder sich nur auf Ansichten seines „göttlichen Thomas“ berufe, die dieser geäußert habe, ebenfalls ohne sie durch die heilige Schrift, die Kirchenväter oder kirchliche Canones und wenigstens irgendwelche Sachgründe abzustützen. 23 Auf welcher Linie Luther in der Folgezeit – bis zum Ende des römischen Prozesses – dieses „Recht christlicher Freiheit“ für sich in Anspruch [1Thess 5,21] ,omnia probate, quod bonum est tenete‘.“ Die „Protestatio“ ist innerhalb der Erläuterungen der Ablaßthesen ein eigener Bestandteil, WA 1,529,29–530,12. – Zu beachten ist außerdem der Schlußsatz dieser Protestatio, ebd. 130,10–12: „Hac mea protestatione credo satis manifestum fieri, quod errare quidem potero, sed haereticus non ero, quantumlibet fremant et tabescant ii qui aliter sentiunt vel capiunt.“ Hinsichtlich des Begriffs haereticus denkt Luther möglicherweise an einen Satz des Hieronymus aus dessen Auslegung von Gal 5,19–21 (ML 26,417, Chr. SL 77A, 189, 130ff.), den er 1519 in seinem Galater- Kommentar mit antischolastischer Pointe anführt (WA2, 590, 29ff.) und sich vielleicht schon bei seiner Galater-Vorlesung 1516/17 notiert hat; er ist auch im Corpus Iuris Canonici zu finden, Decret. Grat. 2, c.27 C.24 q.3, RF 1,997f. 21 WA 1,529,30–32: „Quia haec est Theologica disputatio, quo pacatiores faciam animos nudo disputationis textu forte offensos, repetam hic denuo protestationem in Scholis fieri solitam.“ – Da Luther seine Ablaßthesen nach der uns bekannten Textüberlieferung nicht mit einer Protestatio versehen hatte, nimmt er hier mit den Worten „repetam hic denuo protestationem“ wahrscheinlich Bezug auf die von ihm ohne Datum veröffentlichte Protestatio, WA 2,(619) 620 und 59,(54) 55f., s.u. bei Anm. 28. 22 Ad dialogum Silvestri Prieratis Magistri Palatii de potestate Papae responsio, 1518, WA 1,(644) 647–686. 23 Ebd.WA 1,647,30–34: „tu perpetuo verborum textu non nisi nuda verba ponis aut solas opiniones Divi Thomae mihi nunc demum decantas, qui aeque (ut tu) nudis verbis incedit, sine scriptura, sine patribus, sine Canonibus, denique sine ullis rationibus. Ideoque meo iure, id est Christiana libertate, te et illum [Thomam] simul reiicio et nego.“ – Zuvor, ebd. 647,19–18, nennt er die für ihn maßgeblichen Diskussionsgrundsätze in der für ihn gültigen Rangordnung: 1.) die apostolische Verkündigung, angedeutet durch Zitation von 1Thess 5,21 und Gal 1,8; – 2.) die Kirchenväter, für die ihm Augustins Unterordnung unter die hl. Schrift beispielhaft ist (Ep 82,3, CSEL 34 II, 354,4ff., im Decret. Grat. 1, D IX c.5, RF 1,17; vgl. WA.B 1,74,72 u.ö.); – 3.) ein bisher noch nicht nachgewiesener Satz des Kirchenrechts, der die Ablaßprediger an das bindet, was die Kirche ihnen vorgibt. – Die drei Autoritäten von heiliger Schrift, Kirchenvätern und kirchlichen Canones erwähnt er auch in seinem Brief an den Bischof von Brandenburg (s.u. bei Anm. 26), WA.B 1,138,19–23 und 139,30–32.
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nahm, braucht hier nicht nachgezeichnet zu werden. Es war das Recht, sich auf die heilige Schrift zu berufen als Basistext jeder theologischen Argumentation, hinter dem – genau abgestuft – die Texte der Kirchenväter und des Kirchenrechtes immer deutlicher zurücktreten mußten. 24 1.3 Die „protestatio“ zum Schutz der persönlichen Meinungsfreiheit Der Begriff „protestatio“ 25, den Luther im Frühjahr 1518 prononciert verwendet, gibt uns bei historischer Analyse noch weiteren Aufschluß für Luthers Freiheitsbewußtsein in den Anfängen des Ablaßstreites. Die förmliche „Protestatio“, die er den Erläuterungen der Ablaßthesen vorangestellt hat, deutet sich bereits in dem Brief an, mit dem zusammen er eine handschriftliche Fassung dieser Erläuterungen an den für Wittenberg zuständigen Bischof von Brandenburg, Hieronymus Scultetus, geschickt hat, um dessen Urteil zu dieser Schrift zu hören. 26 Gegenüber dem Bischof – ihm hatte er ebenso wie dem Erzbischof von Mainz bereits ein Exemplar der 95 Thesen gesandt – bezeugt er jetzt kurz und bündig, er wolle seine Ansicht zur Diskussion stellen und nicht eine Lehre festlegen, „protestor me disputare, non determinare.“ 27 Das gilt natürlich für die Ablaßthesen vom Herbst 1517 nicht weniger als jetzt für deren Erläuterungen. Als selbständigen Text veröffentlichte Luther höchstwahrscheinlich damals, ehe er zum Ordenskapitel nach Heidelberg reiste, eine lateinische Protestatio, von der auch eine deutsche Übersetzung gedruckt wurde. 28 24
Vgl. die grundsätzlichen Darlegungen zur theologischen Autoritätenfrage in der Einleitung zur Assertio omnium articulorum, 1520/21, WA 7,96,4ff. (stark verkürzt in Grund und Ursach, WA 7,315,28ff.); wie gegenüber Prierias (s.o. Anm. 23) zitiert Luther auch WA 7,99,24ff. sowohl 1Thess 5,21 als auch Gal 1,8 (ferner 1. Joh 4,1). 25 In der hier vorliegenden Bedeutung ist der Begriff, wenn ich mich nicht täusche, noch nicht genauer untersucht worden. Deshalb wird er von mir nicht ins Deutsche übersetzt. 26 WA.B 1,(135) 138–141; die Datierung ist in der Alternative von Februar und Mai 1518 ungesichert; in WA.B hat sich der Herausgeber für den 13. Februar entschieden. Die Tischrede 4,316,28–317,2 Nr. 4446 enthält wahrscheinlich eine zutreffende Erinnerung. 27 Ebd. 140,71; und weiter, Zl. 72: „Disputo, Inquam, non assero, ac disputo cum timore.“ Vgl ebd. 139,53f.: „Nulla vero pertinaciter assero. Tamen omnia Ecclesiae sanctae suoque iudicio submitto.“ Dies zu betonen sehe er sich genötigt, nachdem man Äußerungen seiner Thesen nicht als diskutable Meinung, sondern als feste Behauptung aufgefaßt habe, ebd. 139,48: „non ut disputabilia, sed asserta“. – Dem entsprechend stößt man in den Resolutiones mehrmals auf das Verb „protestor“ und das Substantiv „protestatio“, vgl. WA 67,535 s.v. „protestor, protestatio“. 28 Der lateinische Text WA 2,(619) 620, der deutsche WA 59,(54) 55f. Nachdem der Einblattdruck der deutschen Fassung entdeckt worden ist (vgl. WA59, 54f.), muß mit größter Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß die lateinische Fassung ebenfalls ursprünglich als Einblattdruck existierte. Der in beiden Fassungen deckungsgleiche Inhalt läßt darauf schließen, daß sich Luther hier vor der Öffentlichkeit dagegen verwahrt,
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Luther verwahrt sich vor der Öffentlichkeit dagegen, wegen seiner Ablaßthesen vorschnell als Ketzer verunglimpft zu werden, noch ehe die Streitfrage geklärt worden sei. Er beruft sich darauf, daß ihn bisher weder die Wittenberger Universität noch eine weltliche oder kirchliche Instanz verurteilt habe. Seine Kritiker fordert er auf, entweder, wenn ihnen Gott das verliehen hat, ihm zu besserer Erkenntnis zu verhelfen, oder ihre eigene Ansicht dem Urteil Gottes und der Kirche zu unterwerfen. Daß letztlich Gottes Wort in diesem Lehrstreit für seine Gegner und ebenso für ihn selbst die entscheidende Autorität sein solle, bekräftigt er am Schluß: Er sei weder so leichtfertig, seine eigene Meinung allen anderen vorzuziehen, noch so töricht, Gottes Wort menschlich begründeten „Fabeln“ nachzuordnen. 29 Etwas anders hatte er sich über die kirchliche Autorität angesichts des aktuell gewordenen Petersablasses geäußert, als er Ende Mai 1517, fünf Monate vor den Ablaßthesen, die Wittenberger Gemeinde vor einer religiös leichtsinnigen Inanspruchnahme des Ablasses warnte, der vor den Toren Wittenbergs, nämlich in Kurbrandenburg, als geistlicher Gewinn angepriesen wurde 30; doch gleichzeitig bezeugte er – mit dem Verb „protestor“ –, der Papst habe nach dem Wortlaut des Ablaßausschreibens eine richtige Absicht. 31 Luther kannte damals noch nicht die Anweisung, die Erzbischof Albrecht von Mainz den Ablaßpredigern an die Hand gegeben hatte, die dann Luthers theologischen Zorn erregte, der sich in den Ablaßthesen entlud. Wenn er in jener Predigt dem Text des päpstlichen wegen seiner Ablaßthesen als Ketzer verunglimpft zu werden, und zwar zu der Zeit, als die ersten Verunglimpfungen dieser Art, ausgehend von Tetzel und Gesinnungsgenossen, kolportiert wurden. Deshalb muß diese Potestatio in die Zeit vor Luthers am 7. April 1518 erfolgte Abreise zum Heidelberger Ordenskapitel datiert werden. 29 WA 2,620, 11–13: „Non enim adeo temerarius sum, ut meam solius opinionem caeteris omnibus anteferri, neque tam stupidus etiam, ut verbum Dei fabulis humana ratione excogitatis postponi velim.“ – WA59, 56,5–7: „Ich byn nit ßo frevel [:leichtfertig], das ich meynn synne vor allenn erhebe, Auch nit ßo vorgessen [:unbesonnen, töricht], das ich gottis wort hynder menschen fabeln setzen wolle.“ 30 Die Predigt vom 30. oder 31.05.1517 stellt einer oberflächlichen, geheuchelten Buße, die sich gerne vom Ablaß bedienen läßt, eine wahre, ernsthafte Buße entgegen; WA 1,99,8–17: „Unde duplex est contritio seu poenitentia interior, una scilicet ficta […] Haec res perversissima est sed frequentissima, quia timore poenae et amore sui iustitiam Dei odit et suam iniquitatem diligit: poenam enim odit. Alia est vera, de qua dixi, quod amore iustitiae et poenarum odit peccatum, quia cupit ulcisci iustitiam laesam. Ideo non petit indulgentias sed cruces.“ – Zur Datierung dieser Predigt ist WA 59,348 Nr. 1b heranzuziehen. 31 WA 1,98,19–22: „Primum protestor, quod intentio Papae est recta et vera, saltem ea quae iacet in literis, syllabis. Secundo forte et verba eorum, qui buccinant [:den Ablaß ausposaunen], sunt vera in aliquo sensu, sed tamen quaedam non dicuntur vere vel non intelliguntur recte.“ – Von den geringen Varianten der Parallelüberlieferung, WA 4,674,10–14, ist am ehesten zu notieren „Papae sententiam“ statt „intentio Papae“.
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Ausschreibens eine gute Absicht zugesteht, hat er damit dessen Interpretation in der kirchlichen Praxis noch nicht anerkannt. Das Problem der Interpretation derartiger päpstlicher Texte zeigte sich in voller Schärfe bei dem Verhör Luthers durch Kardinal Cajetan im Oktober 1518. In der „Protestatio“ zu Beginn seiner Erläuterungen der Ablaßthesen bezieht sich Luther ausdrücklich auf einen Brauch der akademischen Lehrdiskussion. 32 Was jedoch eine protestatio damals über die rein akademische Praxis hinausgreifend im öffentlichen Streit um kirchliche Lehre und Praxis bedeutet hat, erkennen wir aus einem Brief Luthers, mit dem er 1514 – etwa im Februar – sich gegenüber Georg Spalatin auf dessen Wunsch zu der dramatischen Entwicklung des Streites äußerte, in den Johannes Reuchlin durch Johannes Pfefferkorn und dessen Gesinnungsgenossen unter den Kölner Theologen verstrickt worden war. 33 Luther betont, Reuchlin habe „sehr oft“ (creberrime) eine protestatio abgegeben, er habe auch nur eine „Meinung“ (opinio), also keine unbestreitbare Lehre, vorgetragen. Unter dieser doppelten Voraussetzung würde er Reuchlin eine untadelige Glaubensüberzeugung zutrauen, selbst wenn dessen „Meinung“ eine ganze Reihe von Irrlehren enthielte. Trotzdem werde er, so stellt Luther verwundert fest, von den Kölnern der Häresie verdächtigt. 34 Das veranlaßt Luther – bereits 1514 – zu der ahnungsvollen Überlegung, unter solchen Voraussetzungen „werden wir fürchten müssen, daß diese Inquisitoren sich schließlich womöglich anschicken, nach Belieben ‚Kamele zu verschlucken und Mücken zu seihen‘ [Mt 23,24] und Rechtgläubige als Häretiker hinzustellen, selbst wenn sie alles mit einer protestatio absi32
S.o. Anm. 21 in dem Zitat die Wendung „repetam hic denuo protestationem in Scholis fieri solitam“. – Einen ähnlichen Hinweis gibt Johannes Eck im Juni 1518 mit der Schlußerklärung zu einer Disputationsthesenreihe über die Erbsünde (Staatsbibliothek München: Einblatt VII,32): „Haec sint pro q[uaestionis] decisione deducta, solita protestatione praefata, quae in his actibus scholasticis theologicis fieri solet, Doctores catholicos hic nominatos diversae sententiae partim ob reverentiam, partim ob amicitiam expressos, novisse debeas lector.“ Während diese Thesenreihe Ecks noch keine antireformatorische Stoßrichtung hat, versieht er eine Thesenreihe vom Mai 1519 über das Wesen der concupiscentia (Staatsbibiothek München: Einblatt VII,35), in der er gegen Luther polemisiert, mit einer Schlußerklärung, die in gewisser Hinsicht einer protestatio gleichkommt: „Sub ecclesiae catholicae ac sum[mi] ponti[ficis] Leonis X. iudicio.“ – Zu vergleichen ist das Schlußwort in Luthers Disputatio contra scholasticam theologiam, s.o. Anm. 15. 33 WA.B 1,(19) 23f. 34 Ebd. 23,7–15: „quia exigis, dico, quod sentio: mihi prorsus nihil apparere in omni eius [d.h. Reuchlins] scripto consilio, quod periculosum sit. Admiror autem vehementer Colonienses, ad quid tandem tam perplexum […] in tam plano scirpo quaeritent, cum ipse tam solemni protestatione creberrime utatur atque non articulos fidei, sed consilii opinionem ponat. Quae duae res apud me ita eum absolvunt a tanta superstitione, ut, si omnium haeresium colluviem in suo consilio congregasset, integrae et purae fidei eum crederem.“
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chern.“ 35 Luther hat Reuchlins Protestationen allerhand Gewicht beigemessen; sie waren ihm keine leere Floskel. Reuchlin hatte 1510 seinem Gutachten über das religiöse Schrifttum der Juden eine protestatio angefügt, ebenso 1511 der lateinischen Erläuterung dieses Gutachtens. 36 Eine ausführlichere, dreigliedrige Protestation formulierte Reuchlin dann in der Einleitung zu seinem „Augenspiegel“ (August / September 1511). 37 Damals sah sich Reuchlin nur im Konflikt mit Johannes Pfefferkorn; doch im folgenden Jahr haben ihn auf Betreiben des Inquisitors Jacobus Hoogstraeten Kölner Theologen, v.a. Arnold von Tungern, öffentlich als Ketzer denunziert. Daraufhin veröffentlichte er im März 1513 eine an den Kaiser gerichtete „Defensio contra calumniatores suos Colonienses“ 38, in deren Einleitung er erneut eine Protestation aussprach. 39 Daß Luther auch von dieser Schrift 1514, als er seinen Brief an Georg Spalatin schrieb, Kenntnis hatte, legen seine Worte nahe. 40 35 Ebd. 23,15–19: „Si enim protestationes tales et opiniones a periculo non sunt liberae, timendum nobis erit, ne forte tandem pro libito isti inquisitores incipiant camelos glutire et culices colare [Mt 23,24] et orthodoxos, etiamsi omnia protestantur, pro haereticis pronunciare. “ 36 Beide Texte bilden zusammen mit einem dritten Text (Zusammenstellung von 34 Unwahrheiten in Pfefferkorns Handspiegel) die Hauptteile von Reuchlins „Augenspiegel“, 1511. Die beiden Protestationen stehen in der kritischen Ausgabe des Augenspiegels in Johannes Reuchlin, Sämtliche Werke 4 I, 64,12–17 und 150,1–4. Nur diese beiden Protestationen nennt und zitiert Otto Clemen in WA.B 1,22. – MARKUS RAFAEL ACKERMANN , Der Jurist Johannes Reuchlin (1455–1522), Berlin 1999, erwähnt nicht die wiederholten Protestationen Reuchlins trotz ihres juristischen Gewichtes. 37 Johannes Reuchlin, Sämtliche Werke 4 I, 23,34–25,6. Der erste, prinzipielle Teil, ebd. 23,34–24,4: „Da mit ich aber inn sollicher meiner Antwurt vnd entschuldigung nit gesehen noch geacht wird yemants woellen schmehen oder laidigen/ sunder allain mein grosse notturfft an tag legen/ wie ich mir selbs des schuldig bin vnd thun soll/ So protestier ich zum ersten und bezeug mich mit dißer schrifft/ was ich in disem handel fürterhin schreiben/ reden oder anzaigen würd/ es gefal Pfefferkorn oder nit/ das ich das alles nit will thuen noch gethon haben zue rach sines vnrechtes an mir begangen/ noch yemants zue schmehen/ sunder allain zue rettung meiner eern/ dar mit mein vnschuld an tag kum/ vnd dem gemainen nutz zue guet/ das sich mengklich wiß vor vnwarhaften leüten zue hueten/ vnd inen leichtlich nit zu glauben. Diße protestation auch die nachuolgenden will ich inn allen reden/ schrifften vnd hendeln vmb kürtze willen repetiert vnd geefert haben.“ 38 Sämtliche Werke 4 I, 197–443. – Vgl. HANS PETERSEN, Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin. Ein Beitrag zur Geschichte des Antijudaismus im 16. Jahrhundert; Mainz 1995, 29–32. 39 Der erste Teil lautet, ebd. 204, 7–14: „Tamen hoc omnium primum affirmo, et tam coram te senatuque tuo illustrissimo, quam etiam coram coelo et terra protestor, in hac mea defensione, quin immo in tota mea vita, omnibus scriptis et dictis meis praeteritis et futuris, nihil sensisse, dixisse ac scripsisse me velle, nisi et quod et qualiter sentit et vult ecclesia catholica et eius caput summus pontifex, cui omnia in his, quae sunt fidei atque morum, dicta et dicenda subiicio, semper paratus eius regulae me conformare et assentiri, ac denique stare sententiae cuiuslibet melius sentientis. Similiter in hac mea defensione
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Durch Reuchlins Konflikt zunächst mit Johannes Pfefferkorn und dann eskalierend mit den Kölner Theologen gewinnen wir einen Eindruck von der Praxis, durch Protestationen einen öffentlichen Meinungsstreit nach Möglichkeit vor unsachlicher Argumentation und vorschneller Verurteilung zu schützen. Diesen Dienst leistet eine „protestatio“, weil ihr Autor öffentlich erklärt, welche Instanz er zur Entscheidung der Streitfrage anerkennt und sich gleichzeitig gegen eine willkürliche, unbegründete Vorverurteilung oder Verketzerung verwahrt. Das Anerkennen einer Autorität, durch die man sich zur besseren Einsicht belehren lassen will und der Widerspruch gegen unbegründete Verunglimpfung sind zwei Seiten derselben Medaille. Erreicht werden soll eine sachliche Klärung der Streitfrage. In dieser Verwendung ist die protestatio gewissermaßen ein vorbeugendes Rechtsmittel im öffentlichen Meinungsstreit. Vielleicht wußte gerade der Jurist Reuchlin recht gut, warum er wiederholt, bei jeder Phase der Auseinandersetzung, in die er verwickelt war, eine protestatio abgab. Für das Rechtsmittel der protestatio hatte der Jurist Reuchlin ein Beispiel gegeben, das Luther wohl noch im Gedächtnis hatte, als seine Kritik am Ablaß außerhalb des akademischen Raumes zur öffentlichen Streitfrage wurde. Allerdings, beim Benennen der Instanz, die er zur Entscheidung der Ablaßfrage wünschte, ging Luther seit Herbst 1517 einen anderen Weg. Er nannte zwar – im Postskript zur „Disputatio contra scholasticam theologiam“ – die „catholica ecclesia“ zusammen mit den „ecclesiastici doctores“ als Instanz, mit der er sich im Konsens zu befinden glaubte. 41 Er nannte jedoch nicht den Papst als Haupt der Kirche. Der Begriff der catholica ecclesia konnte verstanden werden als die Glaubensgemeinschaft, die sich zur heiligen Schrift und zu den Kirchenvätern bekennt. Auch seinen Brief an Erzbischof Albrecht von Mainz vom 31. Oktober 1517 hat er nicht so abgefaßt, daß er, der „Doctor sacrae Theologiae vocatus“, sich mit seiner theologischen Kritik am Ablaß dem Urteil des Erzbischofs unterwerfe. Und einige Monate später informierten Luthers Protestationen in dem inzwischen entflammten öffentlichen Ablaßstreit deutlich darüber, welche theologische Instanz er anerkennen wollte: das dico et in omni parte eius repetitum esse volo atque protestor, quod nullum mihi neque est neque erit propositum, nullum studium, non animus, non voluntas quenquam bonum virum aut hominem laedere, cuiuscunque status, honoris, dignitatis, cuiuscunque nationis, universitatis, facultatis aut doctrinae fuerit.“ – Die Schrift „Ain clare verstentnus“ vom 22. März 1512 (Sämliche Werke 4 I, 171–196) steht noch nicht im Zeichen des offenen Konfliktes mit den Kölner Theologen, enthält jedoch Sätze, die einer Protestation gleichkommen, ebd. 173,37–174,3.20–34. 40 Luthers Worte über die „Colonienses“ (WA.B 1,23,9–13) verraten Kenntnis der Entwicklung nach Reuchlins Augenspiegel. Daß Reuchlin „sehr häufig“ (creberrime) von einer protestatio Gebrauch gemacht habe, läßt vermuten, daß er auch dessen Defensio in die Hände bekommen hatte. 41 S.o. Anm. 15
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Wort Gottes, aber nicht menschliche „Fabeln“ – so in der lateinischen und deutschen Protestatio vor der breiten Öffentlichkeit –, oder in genauer Abstufung heilige Schrift, Texte der Kirchenväter, Texte des Kirchenrechts – so im Rahmen theologischer Auseinandersetzung, die mit exakter Interpretation dieser Texte erfolgen sollte. 42
2. Luthers Verständnis der Freiheit eines Christenmenschen, 1520 2.1 Rahmenbedingungen für die Zeit 1517–1520 In Luthers Berufung auf sein „Recht christlicher Freiheit“ (ius christianae libertatis) verweist uns die Adjektiv-Bestimmung des Christlichen auf den theologischen Sachbezug dieser Freiheit. 43 Offensichtlich beruft sich Luther auf seine akademische Lehrfreiheit, weil er sie nicht nur aus rein formalem Grunde für sich reklamiert, sondern weil es ihm mit seiner Lehrmeinung um die christliche Wahrheit geht. 44 Er nimmt eine spezifisch christliche Freiheit für sich in Anspruch. Beides scheint für ihn ineinander verschränkt zu sein, sein akademisches Recht der Freiheit in der Lehre und die Freiheit, die dem Christen mit dem Evangelium Christi vermittelt werden soll, die jedoch den Widerspruch zum kirchlichen System von Buße und Ablaß hervorruft; denn gleich in der ersten seiner 95 Thesen hat er das wahre Verständnis des Bußrufes Jesu ins Feld geführt. Deshalb will ich mich jetzt dem theologischen Freiheitsverständnis Luthers zuwenden. Welches theologische Freiheitsverständnis Luthers Denken exakt im Herbst 1517 beherrschte, läßt sich kaum ermitteln, weil die Quellenlage
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In völlig anderer Richtung bewegt sich Thomas Müntzer in seiner 1523 verfaßten und Anfang 1524 gedruckten „Protestation oder empietung“ (SuB 225–240); er sprengt den herkömmlichen Begriff der protestatio ganz im Sinn seines eigenen theologischen und reformatorischen Programms, das er nicht argumentativ vor irgendeiner Institution, sondern demonstrativ „vor der ganzen Welt“, „vor allen Nationen allerlei Glaubens“ vertreten will, wie die Schlußabschnitte 20–22 (SuB 239, 27–240,21) deutlich machen. 43 S. o. Anm. 20 und 23. Der Sachbezug klingt an in dem Paulus-Wort Gal 1,8, das nur das Evangelium gelten läßt und jeden „verdammt“, der mit dem Anspruch des Apostolischen etwas anderes predigt. Zu Gal 1,8 s.o. Anm. 23 und 24. 44 Das spricht aus seinem Brief vom 11.11.1517 an Johannes Lang; denn nach der Reaktion, die seine Thesen „contra scholasticam theologiam“ (s.o. bei Anm. 13f.) an der Erfurter Universität hervorgerufen haben, gewärtigt er auch jetzt bei den Thesen gegen den Ablaß den Vorwurf von Leichtfertigkeit und mangelnder Bescheidenheit und meint dazu u.a., WA.B 1,122,33–35: „De temeritate mea v el modestia sciens certissime, quod, sive modestus fuero, veritas mea modestia non fiet dignior, sive temerrius, non fiet indignior mea temeritate.“
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das nicht ermöglicht. 45 Zwei Dokumente erlauben jedoch gewisse Rückschlüsse: 1. Der lateinische Kommentar zum Dekalog von 1518; ihm liegen Predigten vom Winter 1516/17 zugrunde. 46 2. Der von Luther 1519 veröffentlichte Galater-Kommentar, für den er mit Sicherheit seine Ausarbeitungen für die 1516/17 gehaltene Vorlesung über diesen Paulus-Brief verwendet hat. 47 Es soll nun aber nicht aus diesen beiden Quellen Luthers Freiheitsverständnis in der Zeit von 1517/18 eruiert werden. Vielmehr soll für die Frage nach Luthers theologischem Freiheitsverständnis das Jahr 1520 ins Auge gefaßt werden, und zwar in erster Linie weil Luther damals in einem eigenen Traktat, den er sowohl in einer lateinischen als auch in einer deutschen Fassung veröffentlichte, die „libertas christiana“ bzw. die „Freiheit eines Christenmenschen“ als theologisches Thema behandelt hat. 48 Obwohl ich mich im Folgenden auf dieses Werk konzentriere, wird es an einigen 45 Weder die Disputationsthesen „contra scholasticam theologiam“ noch die Ablaßthesen reden explizit theologisch von der christlichen Freiheit. Seine in dieser Zeit laufende Vorlesung über den Hebr-Brief ist uns nur in studentischer Nachschrift überliefert; sie bietet nichts unmittelbar Aufschlußreiches für unsere Frage. Uns ist auch nichts von Luthers Predigttätigkeit für diese Zeit (von Ende Mai bis Ende Dez. 1517) überliefert; vgl. den entsprechenden Zeitraum in der Übersicht über Luthers frühe Predigten, WA 59, (332–347) 338. – Nach der Predigt über Sir 15,1 am 27.12.1517, WA 1,37–43 mit Parallelüberlieferung WA 4,659–666, folgt wieder eine Lücke bis zu einer Predigt am 17. März 1518, WA 1,267–273. 46 Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo, 1518, WA 1, (394) 398–521; zu den Daten der einzelnen Predigten vgl. die Liste WA 59,334–337. 47 Das belegen wenigstens die uns erhaltenen Kollegnachschriften, die nur bruchstückhaft Luthers eigene Ausarbeitung widerspiegeln. Von den Dekalog-Predigten haben wir gar keine Aufzeichnungen. Bei beiden Werken können wir also nicht sagen, wieviel er vor der Publikation noch geändert hat. 48 Einen minutiös analysierenden Kommentar lieferte neuerdings REINHOLD RIEGER, Von der Freiheit eines Christenmenschen. De libertate christiana. (Kommentare zu Schriften Luthers, Bd. 1) Tübingen 2007. – R. Rieger vertritt (wie Wilhelm Maurer) die These der Priorität des deutschen Textes vor dem lateinischen, während ich mich, wenigstens im Ansatz, der Auffassung von Birgit Stolt anschließe. Die Argumente für und wider machen deutlich, wie wenig uns Luthers Arbeitsweise bekannt ist. Eins ist klar, er hat zeitlebens seine Gedanken zunächst lateinisch entworfen. Demnach könnte er nach einem lateinischen Entwurf zunächst die deutsche Fassung ausgearbeitet und dann erst die lateinische fertiggestellt haben. Wie kann man dann im einzelnen entscheiden, was im lateinischen Entwurf zwar enthalten war, jedoch nicht in die deutsche Fassung übernommen wurde, oder was erst später in den lateinischen Text bei dessen abschließender Ausarbeitung eingeflossen ist? Deshalb ist meines Erachtens bei den Details des Textes Vorsicht geboten hinsichtlich der Prioritätsfrage. Bei Zitaten im Haupttext versuche ich, beide Fassungen möglichst genau parallel anzuordnen. Beim Fundort in WA 7 nenne ich, jeweils ohne den Titel der Schrift, zuerst die lateinische, dann nach doppelter Virgel die deutsche Fassung.
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Punkten nötig sein, auf andere Texte der Jahre 1517–1520 zurückzugreifen. 2.2 Das Gesetzesverständnis in Korrelation zum Freiheitsverständis Bei der Analyse des Freiheitstraktates von 1520 läuft man Gefahr, einen Knotenpunkt des Gedankenganges zu übersehen, der in Luthers Freiheitsverständnis eine zentrale Funktion hat. Es ist die Differenzrelation von Gesetz und Evangelium, auf die er fast nur beiläufig zweimal zu sprechen kommt. 49 Darüber liest man im großen Duktus der Schrift leicht hinweg, weil die berühmte Doppelthese am Eingang schnell den Blick auf die beiden Hauptteile der ganzen Schrift lenkt, die unter den Stichwortpaaren „Freiheit und Dienstbarkeit“ sowie „Glaube und Nächstenliebe“ stehen. Luthers Ausführungen über das Gesetz innerhalb des Freiheitstraktates lassen in ihrer Kürze nur schwach erkennen, was Luther damals zu diesem Punkt in grundsätzlicher Weise zu sagen hatte. In der Exegese des Römerund des Galater-Briefes hatte er bereits fundamentale Einsichten dafür gewonnen, wie das Gottesverhältnis des Menschen durch das Phänomen des Gesetzes bestimmt ist. Denn für das Selbstverständnis des christlichen Glaubens hängt entscheidendes davon ab, wie das Phänomen „Gesetz“ gedeutet und dem Menschen im Lebenskontext bewußt gemacht wird. 50 Es wirft ein Schlaglicht auf Luthers Theologie, daß in seiner vorhin erwähnten großen Thesenreihe gegen die scholastische Theologie 51 die theologische Anthropologie den Hauptgegenstand bildet und rund 30 von insgesamt 97 Thesen das Verhältnis des Menschen zum Gesetz behandeln. Denn, wie Luther hier zeigt, kann der Mensch Gottes Gnade in ihrem wahrhaft christlichen Wesen als Grund seiner Freiheit nur dann wahrnehmen, wenn er seine eigene Situation unter dem Gesetz unverstellt erkannt hat. Und wohl nicht zufällig beginnt die vorhin erwähnte Thesenreihe für
49 WA 7,52,25–53,3 // 23,31–24,9. Im zweiten Hauptteil greift Luther die Differenzrelation von Gesetz und Evangelium noch einmal kurz auf, WA 7,63,34–64,4 // 34,11–16. – In beiden Hauptteilen gewinnt der Traktat erst durch die Differenzrelation von Gesetz und Evangelium seine volle Strahlkraft. 50 Die theologische Rede von den „Werken“ des Menschen und dem Verhältnis des Menschen zu seinen Werken ergibt sich aus dem Verständnis des Gesetzes, mit dem es der Mensch in seiner geschöpflichen Verantwortung unausweichlich zu tun hat, dem er entweder unterworfen ist oder dem gegenüber er in seinem Gewissen Freiheit gewinnen kann. Erst in der Freiheit gegenüber dem Gesetz haben die Werke ihren vermeintlichen Heilswert verloren. Solange jedoch der Mensch mit seinem Handeln unter einem Gesetz steht, sind seine Werke für ihn nur in negativer Weise heilsbedeutsam, weil sie ihn daran hindern, das Heil als reines Geschenk Gottes zu erfahren. 51 WA 1,(221) 224–228, jetzt mit deutscher Übersetzung in LDStA 1,19–33.
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die Heidelberger Disputation gleich mit dem provokativen Satz 52: „Gottes Gesetz, die sehr heilsame Lebensanweisung, vermag nicht, dem Menschen zur Gerechtigkeit zu verhelfen, sondern ist eher hinderlich.“ Das unterstreicht, daß wir Luthers Freiheitsverständnis nur dann richtig erfassen, wenn wir seine Rede vom Gesetz möglichst unverkürzt begreifen. Das bewahrt uns davor, die Freiheit des Christenmenschen von ihrer wahren Beziehung zu trennen. Denn die Freiheit, die der Christenmensch durch das Evangelium empfängt, resultiert im wesentlichen aus einer genau zu bestimmenden Befreiung vom Gesetz. Auf vier Punkte ist in Kürze hinzuweisen: 1. In seiner theologischen Rede vom Gesetz denkt Luther stets an Gottes Gesetz, sofern der Kontext nicht ausdrücklich einen anderen Sinn erfordert. 2. Luther meint mit Gottes Gesetz primär den von spezifisch israelitischen Elementen gereinigten Dekalog, der in dieser Textgestalt schon in der katechetischen Tradition vorgegeben war. 3. In dieser Fassung formuliert der Dekalog den allgemein gültigen Anspruch Gottes, unter dem alle Menschen, nicht etwa nur die Christen, vor Gott stehen. 4. Jeder Mensch wird angesprochen in seiner unteilbaren Verantwortung, die er vor Gott, seinem Schöpfer, hat. In seinem Dekalog-Kommentar von 1518 hat Luther die Auslegung der negativ als Verbot gefaßten Sätze in der Weise vertieft, daß sie zu affirmativ gemeinten Geboten werden. Die prohibitive Formulierung wird damit nicht hinfällig; sie wird aber ergänzt und überboten durch eine präzeptive Deutung, mit der die eigentliche Intention der Gebote mit verschärfender Wirkung zur Sprache gebracht wird. 53 Das prohibitive Verbot gilt im Be52 WA 1,(350) 353f. stehen die 28 Thesen „Ex Theologia“ ohne Luthers Erläuterung; ebd. 355,26–365,20 folgen noch einmal diese Thesen mit den Erläuterungen (dieser Teil mit deutscher Übersetzung LDStA 1, 35–61). – Die 1. These, WA 1,353,15f. (bzw. mit Erläuterung 355,30f.): „Lex Dei, saluberrima vitae doctrina, non potest hominem ad iusticiam promovere, sed magis obest.“ LDStA 1, 37,1–4 übersetzt: „Das Gesetz Gottes, die allerheilsamste Lehre des Lebens, kann den Menschen nicht zur Gerechtigkeit befördern, sondern hindert ihn eher.“ Der Superlativ saluberrima ist jedoch angemessener als Elativ zu übersetzen. – Explizit reden noch die Thesen 23f. und 26 von der lex, WA 1,354,25–28.31f. (bzw. mit Erläuterung 363,15–37; 364,17–26): „23. Et lex iram Dei operatur [vgl. Röm 4,15], occidit, maledicit, reum facit, iudicat, damnat, quicquid non est in Christo. – 24. Non tamen sapientia illa mala [vgl. Th.22] nec lex fugienda, Sed homo sine Theologia crucis optimis pessime abutitur. – 26. Lex dicit ,fac hoc‘, et nunquam fit: gratia dicit ,Crede in hunc‘, et iam facta sunt omnia.“ Zu These 23 s.u. bei Anm. 59. 53 Im Kleinen Katechismus z.B. in der Auslegung des 5. Gebotes, WA 30 I,358,12– 14: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, das wir unserm nehisten an seinem leibe keinen schaden noch leid thun, sondern jm helffen und foddern [:fördern] inn allen leibes nöten.“
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reich des Moralischen in der Verantwortung vor den Menschen; das affirmativ verschärfte Gebot stellt den Menschen in die Verantwortung vor Gott als seinen Schöpfer. In Luthers Auslegung gewinnt der Dekalog einen radikal affirmativen Sinn. Denn Gottes Gebot nimmt den ganzen Menschen nicht nur mit seinem nachweisbaren Handeln, sondern auch mit seinem Herzen in Anspruch, und das sogar in der Erwartung, daß der Mensch mit ganzem Herzen und ungeteiltem Willen dem Gebot Gottes zustimmt, nicht etwa nur aus Furcht vor Strafe oder aus Verlangen nach einem eigenen Vorteil. Erst dann hat Gottes Gebot sein Ziel erreicht; erst dann ist die Gerechtigkeit des Gesetzes erfüllt. Erst dann ist der Mensch gerecht. Gerecht ist er dann jedoch nicht, weil er für sich eine Tugend der Gerechtigkeit gewonnen hat, sondern weil er dem vollen Anspruch Gottes gerecht geworden ist. Vermag das Gesetz dieses Ziel beim Menschen zu erreichen? Das ist das religiös bewegende Problem. Die bis ins Innerste des Menschen reichende Forderung meint Paulus, wenn er (Röm 7,14) das Gesetz als „geistlich“ bezeichnet. 54 Und auf dasselbe läuft es hinaus, wenn Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,21ff) die Forderung einzelner Gebote unverkürzt einschärft. Jesus interpretiert die Gebote in ihrem vollen Sinn; er fügt nicht etwa noch etwas hinzu, als sollte jetzt erst durch ihn der Mensch einem höheren Anspruch Gottes unterstellt werden. 55 Beim 5. Gebot (vgl. Mt 5,21f) wird diese Dekaloginterpretation von 54
Decem praecepta, 1518, zum 5. Gebot, WA 1,461,25–35: „Et hic notandum, quod, quando lex dicitur spiritualis [Rom 7,14], intelligitur non quod sit mystice intelligenda, sicut intelliguntur figurae et mysteria. Aliud enim est mysticum et aliud spirituale. Sed spiritualis dicitur, quia solo spiritu impletur et spiritum requirit, hoc est, nisi corde et hylari voluntate impleatur, non impletur. Sed talis spiritus non est in nobis, sed datur per gratiam spiritussancti, quae facit voluntarios in lege domini [vgl. Ps 1,2]. Unde quando auditur lex quaecunque, praecipiens illa vel illa, semper oportet cogitare et subaudire, quia praecipit voluntate talia facere, id est, libere sine timore penae et ex hylaritate, quod cum in nobis non sit statim intelligitur, quod lex cogit ire ad gratiam, ut impleatur. Sic Ps 1 [v.2] ,Sed in lege domini voluntas eius.‘“ – Die Differenz zwischen spirituale und mysticum erläutert Luther ebd. 462,3–12. – Die Motivation aus Furcht vor Strafe wird in augustinischer Tradition ergänzt durch Vorteilsverlangen, vgl. ebd. 462,20–22: „Et opera hominum acriter arguuntur, quod sunt similia quidem veris, sed vera non sunt, quia sine voluntate gratuite fiunt, sed semper habent vel timorem poenae vel amorem commodi pro fine.“ 55 Vgl. ebd. 462,28–36: „Christus Mt 5 [v.20] ,Nisi abundaverit iusticia vestra plusquam scribarum et Pharisaeorum, non intrabitis in regnum caelorum.‘ Et quare hoc? Quia accipiebant legem secundum dicta et sonum syllabarum, id est, non secundum intentionem legislatoris. Ideo dicit [Mt 5,21] ,Audistis, quia dictum est antiquis‘, q. d. dictum, sed non intellectum, verba tantum audierunt, intellectum autem non cognoverunt: ideo secundum literam vixerunt, et hoc totum, quia fuerunt antiqui, carnales, Adamitae, terreni. ,Ego autem dico vobis‘ [Mt 5,22], quibus vobis? utique non antiquis, sed novis, celestibus, Christianis, spiritualibus spiritualiter dico.“
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Luther durchdekliniert. Was Jesus als wahren Anspruch des Gesetzes bewußt macht, ist allerdings nicht moralisch zu leisten. „Du sollst nicht töten“ fordert letztlich, an der Wurzel menschlichen Verhaltens Freiheit von dem Uraffekt des Hasses; deshalb heißt es 1Joh 3,15 zu Recht: „Wer seinen Bruder – sprich: seinen Nächsten – haßt, ist ein Mörder.“ Er ist vor Gott bereits dann ein Mörder, wenn er dem affirmativ Gebotenen nicht gerecht wird und nicht von Herzen das Leben seines Nächsten fördert. Solang er das nicht tut, widerstrebt er dem Schöpfungswillen Gottes. 56 Mit Paulus (Röm 13,8–10 und Gal 5,14) kann Luther unterstreichen, daß alle Gebote, die den Menschen in seinem Verhältnis zu anderen Menschen angehen, zusammengefaßt sind in dem Gebot (Mt 22,39 parr) „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, das ebenfalls bereits bei Mose zu finden ist (Lev 19,18) und ebenfalls einen radikalen Sinn hat, wie auch das Gebot der Gottesliebe (Mt 22,37 parr) bereits bei Mose (Dtn 6,5) uneingeschränkt den ganzen Menschen „mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüt“ beansprucht. 57 Auf die zwei Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe (vgl. Mt 22,37 und 39) läßt sich der ganze Dekalog reduzieren (vgl. Mt 22,40). 58 Da nun aber – in Luthers Verständnis – die „Gottesliebe“ nicht in objektivierenden Akten der Frömmigkeit realisiert werden kann, sondern sich dort ereignet, wo Herz und Gewissen des Menschen vom Glauben, vom Vertrauen auf Gottes Wort, erfaßt sind, so wird das Doppel56 Ebd. 463,30–37 [im Zuge einer Unterscheidung von vier Arten von Vergehen gegen das 5. Gebot in dessen Auslegung durch Jesus Mt 5,21f.; ebd. 462,36ff.]: „Quarti sunt, qui irascuntur affectu, et is gradus est causa, qua supra dicti [die drei Grade in Mt 5,21f.] sunt peccata, quo sine, si etiam fierent et possent fieri, non essent peccata (Ipse enim affectus irae est caput et vita irae verbalis, signi et operis, sine quo non esset ira), de quibus dicit ,Omnis qui irascitur fratri suo reus est iudicio‘ [Mt 5,22a]. Tales enim licet non occidant opere, verbo, signo, tamen corde, de quibus Ioannes in Catholica sua [1J 3,15] ,Qui odit fratrem suum, homicida est.‘ Quare? Quia non favet ei vitam, sed mortem, ideo quo ad cor est occisor fratris coram deo.“ 57 Galater-Kommentar, 1519, WA 2,575,31–576,6 zu Gal 5,14: „Lev 19 [v.18] Idem Rom 13 [v.8–9] dicit: ,Nulli quicquam debeatis, nisi ut invicem diligatis. Qui enim diligit proximum, legem implevit. Nam: non adulterabis [...], non concupisces et si quod aliud mandatum, in hoc verbo instauratur ,diliges proximum tuum sicut teipsum‘. Graece pro ,instauratur‘ ,capitulatur‘ seu ,summatur‘ […] ideo et hoc loco [Gal 5,14] verbum ,impletur‘ intelligi debet ,summatur comprehenditurve‘. Quod ideo dico, ne quis Apostolum putet docere, per novam legem sic impleri veterem, quod illa sit spiritualis intelligentia et spiritualia verba, cum sola gratia sit plenitudo legis et verba verba non implent, sed res implent verba et virtutes confirmant sermonem. Alioquin hoc praeceptum diligendi proximi spiritualissimum nonne Lev 19 [v.18] scribitur? Summatur ergo hoc verbo omnis lex, sed gratia impletur. Igitur ,in libertatem vocati‘ sumus [Gal 5,1]: omnem legem facimus, si proximus ea opus habeat: huic uni charitate servimus.“ 58 So zeigt Luther 1520 im Traktat „Von den guten Werken“, von Joh 6,28f. ausgehend, wie der Glaube das erste Gebot und mit ihm alle anderen Gebote erfüllt; WA 6,204,25ff. Vgl. dazu im Freiheitstraktat WA 7,52,4–19 // 23,7–23.
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gebot der Gottes- und Nächstenliebe in jenen beiden Lebensakten von Glaube und Nächstenliebe erfüllt, die er in den beiden Hauptteilen des Freiheitstraktates entfaltet. Im Glauben gewinnt der Mensch aus dem Evangelium die Freiheit, die selbst Voraussetzung ist für die uneingeschränkte Nächstenliebe. Die Freiheit des Christenmenschen setzt somit die Erfahrung voraus, die der Mensch in seinem Gewissen unter dem radikal fordernden Gesetz macht. Luther zieht die nötigen theologischen Folgerungen aus der paulinischen Rede vom Gesetz. Das bedeutet: Das Gesetz, in seiner vor Gott geltenden Radikalität, wird zum Ankläger und Richter des Menschen; es überführt den Menschen seiner praktischen Gottlosigkeit und bringt ihn zur Erkenntnis seiner Gottesverachtung. Komprimiert ist das ausgedrückt in These 23 der Heidelberger Disputation und deren Erläuterung, wo auch schon die Befreiung durch Christus im Blick ist 59: „Et ,Lex iram operatur‘ [Rm 4,15], occidit, maledicit, reum facit, iudicat, damnat, quicquid non est in Christo. – Sic ad Gal 3 [v.13] ,Christus liberavit nos de maledicto Legis.‘ Et ibidem [3,10]: ,Qui sunt ex operibus Legis, sub maledicto sunt.‘ Et Rom 4 [v.15] ,Lex iram operatur.‘ Et Rom 7 [v.10] ,Quod erat ad vitam, inventum est mihi esse ad mortem.‘ Rom 2 [v.12] ,Qui in Lege peccaverunt, per Legem iudicabuntur.‘ Igitur qui gloriatur in Lege tanquam sapiens et doctus, gloriatur in confusione sua, in maledicto suo, in ira Dei, in morte, ut illi Rom 2 [v.23] ,Quid gloriaris in Lege?‘“
„Und das Gesetz bewirkt [Gottes] Zorn, es tötet, verflucht, verklagt, verurteilt und verdammt alles, was nicht in Christus ist. – So [heißt es] an die Galater 3: ,Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes befreit.‘ Und ebendort: ,Die aus den Werken des Gesetzes sind, sind unter dem Fluch.‘ Und Röm 4: ,Das Gesetz bewirkt [Gottes] Zorn.‘ Und Röm 7: ,Was zum Leben [gegeben] war, fand sich, daß es mir zum Tod gereichte.‘ Röm 2: ,Welche im Gesetz gesündigt haben, werden durch das Gesetz verurteilt werden.‘ Darum, wer sich des Gesetzes rühmt als weise und gelehrt, der rühmt sich seiner Verwirrung, seines Fluches, des Zornes Gottes und des Todes, wie ihm Röm 2 [vorhält]: ,Was rühmst du dich des Gesetzes?‘“
Daß das Gesetz in dieser Weise beim Menschen in dessen Gottesentfremdung negativ wirkt, wird im Freiheitstraktat so gewendet, daß der Mensch unter dem vollen Anspruch Gottes sein eigenes Unvermögen erkennt, dem Gesetz gerecht zu werden, zumal ihn das Gesetz aus dieser Situation nicht zu befreien vermag. Es bringt ihn bestenfalls zur Selbsterkenntnis, zur Einsicht in seine wahre Situation 60: „Praecepta docent quidem bona, sed non statim fiunt quae docta sunt; ostendunt enim, quid facere nos oporteat, sed virtutem faciendi non donant;
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„Die gebott leren und schreyben uns fur mancherley gutte werck, aber damit seyn sie noch nit geschehen. Sie weyßen wol, sie helffen aber nit, leren was man thun soll, geben aber keyn sterck dartzu.
WA 1,363,15–23; Übersetzung in Anlehnung an LDStA 1, 57,3–16. WA 7,52,25–29 // 23,31–35.
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in hoc autem sunt ordinata, ut hominem sibi ipsi ostendant, per quae suam impotentiam ad bonum cognoscat, et de suis viribus desperet.“
Darumb seyn sie nur datzu geordnet, das der mensch drynnen sehe sein unvormuegen zu dem gutten und lerne an yhm selbs vortzweyffeln.“
Der Mensch entzieht sich jedoch möglichst dem Urteilsspruch des Gesetzes und sucht sich selbst aus jenen „Werken“ zu rechtfertigen, mit denen er dem moralisch verstandenen Gesetz gerecht zu werden meint. So kommt es dazu, daß sich die Gottlosigkeit unter dem Gesetz noch steigert. Der Mensch bleibt unter der Macht des Gesetzes; er bleibt vor Gott in Unfreiheit. 61 2.3 Freiheit durch das Evangelium Aus der Situation unter der Macht des Gesetzes will das Evangelium den Menschen befreien. Es befreit den Menschen sowohl aus seiner Sünde der Gottesverachtung als auch aus seiner Unfreiheit unter der Macht des Gesetzes. Beides gehört zusammen. Aus seiner moralisch nicht überwindbaren Sünde der Gottesentfremdung wird der Mensch erst dann befreit, wenn er zugleich Freiheit gegenüber dem Gesetz erfährt. 62 Freiheit von der Macht des fordernden und schließlich verurteilenden Gesetzes bedeutet auch Freiheit gegenüber aller Art von Werken, mit denen der Mensch sich aus der Fragwürdigkeit seiner Identität herausarbeiten möchte, wozu ihm das Gesetz sogar Anreiz gibt. 63 Zur Vergewisserung der eigenen Identität läßt sich der Mensch jedes Gesetz dienen; religiöser Gesetze bedient er sich dazu mit Vorliebe. Deshalb befreit das Evangelium durch den Glauben von jedem Gesetz, und zwar so, daß der Christ in der Freiheit gegenüber allen Gesetzen das tut, was Gott ihm zu tun aufgetragen hat 64: „manifestissimum est, solam fidem esse, quae ex mera dei misericordia per Christum in verbo eius, personam digne et sufficienter iustificet et salvet, et nullo opere, nulla lege Christiano homini opus esse ad salutem, cum per fidem liber sit ab omni lege,
„so ists offenbar, das allein der glaub auß lauttern gnaden, durch Christum und sein wort, die person gnugsam frum und selig machet. Und das keyn werck, keyn gepott, eynem Christen nott sey zur seligkeit, sondern er frey ist von allen gepotten,
61 Vgl. Heidelberger Disputation, 1518, These 1f. mit Erläuterung, WA 1,355,29– 356,14. 62 Galater-Kommentar, 1519, WA 2,576,7–13 zu Gal 5,14: „Quare recte superius [560,15–25 zu Gal 5,1] dictum est, Servitutem spiritus et libertatem peccati seu legis eandem esse, sicut servitutem peccati et legis esse eandem cum libertate iusticiae seu a iusticia et spiritu. Itur de servitute in servitutem, de libertate in libertatem, hoc est de peccato ad gratiam, de timore poenarum ad amorem iusticiae, de Mose ad Christum, […] de mundo ad patrem: omnia haec simul fiunt.“ 63 Zum Zusammenhang von Gesetz und Werken vgl. WA7, 53,28–33 // 24,35–25,4. 64 WA 7,62,8–14 // 32,28–34.
Luthers Freiheitsbewußtsein und die Freiheit eines Christenmenschen et ex mera libertate omnia gratuito faciat, quaecunque facit, nihil quaerens aut commodi aut salutis (cum iam satur et salvus sit gratia dei ex fide sua) sed solum beneplacitum dei.“
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und auß lauterer freyheit umbsonst thut alls, was er thut, nichts damit gesucht seyneß nutzs oder selickeyt, Denn er schon satt und selig ist durch seynenn glaubenn und gottis gnaden, sondernn nur gott darynnen gefallen.“
Widerfährt dem Menschen die Befreiung von der Macht des Gesetzes in seinem Herzen und Gewissen durch das Evangelium, so wird er zugleich in die freie, willige Dienstbarkeit der Nächstenliebe versetzt. In dieser Weise sind die beiden Teile des Freiheitstraktates ineinander verzahnt. 65 Diese Freiheit übertrifft jede andere Art von Freiheit; so resümiert Luther am Schluß seines Freiheitsraktates 66: „Et haec de libertate satis, quae ut vides, spiritualis veraque est libera faciens corda nostra ab omnibus peccatis, legibus et mandatis, […] quae superat omnes alias libertates externas, quantum coelum superat terram.“
„Sihe das ist die rechte geystliche Christliche freyheyt, die das hertz frey macht von allen sundenn, gesetzen und gepotten, wilch alle andere freyheyt ubirtrifft, wie der hymell die erdenn.“
Ist das Überschwang religiöser Rhetorik? Oder trifft es zu, weil mit diesem Freiheitsverständnis die Wahrheit des Menschseins zur Sprache gebracht wird? Weil der Mensch nicht nur zu wahrer Erkenntnis seiner selbst kommen, sondern zugleich Gott in Wahrheit erkennen soll, hängt für Luther alles daran, daß das Wort Gottes in seiner Doppelgestalt von Gesetz und Evangelium dem Menschen ausgelegt wird, damit sie ihm in seinem Glaubensbewußtsein zur eigenen Erfahrung werden. Den Menschen in Gesetz und Evangelium zu unterweisen, ist die vornehmste, sogar die einzig wahre Aufgabe der christlichen Religion. Deshalb erübrigt es sich für Luther, die Bibel als ein Buch von lehrgesetzlich dogmatischen Offenbarungswahrheiten zu lesen. Hier liegt der Schlüssel zu Luthers Verständnis von christlicher Freiheit als Gewissenserfahrung des einzelnen Menschen. Nachdem Luther seinen Traktat mit der Unterscheidung zwischen dem inneren und dem äußeren Menschen eröffnet hat, formuliert er sein Hauptthema als Frage nach dem, was den Mensch in seinem inneren Wesen gerecht und frei und somit zum wahren Christen mache. 67 „Primum […] interiorem hominem appre65
„So nhemen wir fur uns den ynwendigen
S.u. Abschnitt 2.6. WA 7,69,19–22 // 38,12–15. 67 7, 50,13–17.27 // 21,18–22.26f. Die deutschen Äquivalente für „iustus“ und „iustitia“ sind im Freiheitstraktat durchgängig „from[m]“ und „from[m]keit“, so daß sie auch synonym begegnen, z.B. 7, 23,20–23: „der glaub, darynn kurtzlich aller gebot erfullung steht, wirt uberflussig rechtfertigen alle die yhn haben, das sie nichts mehr bedurffen, das sie gerecht und frum seyn. Alßo sagt S. Pauel Ro. X. [V.10] ‚Das man von hertzen glaubt, das macht eynen gerecht und frum.‘“ 66
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hendimus visuri, qua […] ratione iustus, liber, vereque Christianus, hoc est spiritualis, novus, interior homo, fiat.
geystlichen menschen, zu sehen was datzu gehoere, das er eyn frum, frey, Christen mensch sey und heysse.
Et constat, nullam prorsus rerum externarum […] aliquid habere momenti ad iustitiam aut libertatem Christianam, sicut nec ad iniustitiam aut servitutem parandam […] longe alia re opus erit ad iustitiam et libertatem animae.“
So ists offenbar, das keyn eußerlich ding mag [:kann] yhn frey, noch frum machen, […] denn seyn frumkeyt und freyheyt, widerumb seyn boeßheyt und gefenckniß, seyn nit leyplich non eußerlich. […] Dißer ding reychet keyniß biß an die seelen, sie zu befreyhen oder fahen [:gefangen zu nehmen], frum oder boeße zu machen.“
In den Begriffspaaren von Gerechtigkeit und Freiheit einerseits und Ungerechtigkeit und Knechtschaft andererseits verbirgt sich die Differenz von Evangelium und Gesetz. Während der Mensch unter dem uneingeschränkt fordernden Anspruch von Gottes Gesetz ungerecht und unfrei bleibt, wird er durch das Evangelium gerecht und frei. Ungerechtigkeit oder Sünde und Unfreiheit kennzeichnen das Leben des Menschen unter dem Gesetz, weil das Gesetz nichts nachläßt von seinem Gerechtigkeitsanspruch und darin den Menschen gefangen hält. Gesetz und Evangelium oder Sünde und Gerechtigkeit oder Unfreiheit und Freiheit werden in Luthers Theologie zu Indikatoren für Unheil und Heil des Menschen. Gerechtigkeit und Freiheit werden auf der Seite des Heils prädikativ verwendet. Nichts Äußeres, d.h. kein eigenes Werk, kann dem Menschen nach seinem inneren Wesen dazu verhelfen, daß ihm in Wahrheit die Prädikate „gerecht“ und „frei“ zukommen. Das kann er nur dem Wort Gottes in der Gestalt des Evangeliums verdanken, sofern er im Glauben das Evangelium sich zu eigen macht und so zum Christenmenschen wird. Zu Gerechtigkeit und Freiheit tritt häufig „Leben“ als drittes Prädikat des Heils hinzu, sieht sich doch der Mensch dem Tod ausgeliefert, weil er in seiner Gottlosigkeit seinen Lebensgrund in Gott verloren hat, der ihm im Evangelium erneut angeboten ist 68: „Una re, eaque sola opus est ad vitam, iustitiam et libertatem Christianam. Ea est sacrosanctum verbum dei, Euangelium Christi.“
„[So] Hatt die seele keyn ander dinck, widder yn hymel noch auff erden, darynnen sie lebe, frum, frey und Christen sey, den[n] das heylig Euangely, das wort gottis von Christo geprediget.“
Das Heil in der Freiheit des Evangeliums findet außerdem einen besonders prägnanten Ausdruck in der Kombination der Prädikate „Gerechtigkeit / 68 WA 7,50,33–35 // 22,3–5. – In einer anderen Dreierkombination von Heilsprädikaten und analogen Unheilsprädikaten erscheint der Begriff der „Seligkeit“; vgl. WA 7, 52,23f. („solam fidem sine operibus iustificare, liberare et salvare“) // 23,27f. („allein der glaub on alle werck frum, frey und selig machet“).
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gerecht“ (iustitia / iustus) und „Seligkeit / selig“ (salus / salvus), die verbunden sind mit den Verben „rechtfertigen“ oder „gerecht machen“ (iustificare) und „selig machen“ (salvificare). Indem Luther diese beiden Prädikate kombiniert, verknüpft er ohne Zwischenstufe die beiden Heilsstufen, zwischen denen herkömmlicherweise die Forderung von religiös verdienstlichen Werken eingeschaltet war. Denn die gegenwärtige Gerechtigkeit, für die mit der sakramentalen Gnade beim Christen ein Fundament gelegt worden ist, sollte er nach traditioneller Lehre so verdienstvoll im religiösen Leben ausgestalten, daß ihm dafür im Jüngsten Gericht der Lohn der ewigen Seligkeit zuerkannt werden kann. Ohne diese Zwischenstufe ist für Luther im Evangelium des Jesus Christus das Heil in der Einheit von Gerechtigkeit und Seligkeit gegeben. Selbst wenn in solchem Kontext die Freiheit nicht ausdrücklich genannt wird, ist doch für den Glauben in der Einheit des Heils die Freiheit von Gesetz und Werken unabdingbar eingeschlossen; sonst wäre es nicht das Heil des Evangeliums 69: „haec est Christiana illa libertas, fides nostra, quae facit, non ut ociosi simus aut male vivamus, sed ne cuiquam opus sit lege aut operibus ad iustitiam et salutem.“
„Das ist die Christlich freiheit, der eynige glaub, der do macht, nit das wir mueßsig gahn oder uebell thun mugen, sondern das wir keynis wercks bedurffen zur frumkeyt und seligkeyt zu erlangen.“
Auf beiden Seiten, bei der Rede vom Unheil wie vom Heil des Menschen, kann Luther die Prädikate vermehren; er kann sie zu ganzen Ketten erweitern, um möglichst umfassend Unheil und Heil zu umschreiben 70: „Habens [anima] autem verbum, dives est, nullius egens, cum sit verbum vitae, veritatis, lucis, pacis, iustitiae, salutis, gaudii, libertatis, sapientiae, virtutis, gratiae, gloriae, et omnis boni inaestimabiliter.“
„Wo sie [die Seele] aber das wort hatt, ßo [be]darff sie auch keyneß andern dings mehr, sondern sie hat in dem wort gnugde, speiß, freud, frid, licht, kunst, gerechtickeyt, warheyt, weyßheyt, freyheit und allis gutt ueberschwenglich.“
Wer sich im Glauben auf das Evangelium, auf Gottes Wort der Vergebung, verläßt, wird von einem Sünder zu einem Gerechten. Er empfängt aus dem Evangelium durch Gottes Gnade vor Gott das Prädikat „gerecht“ und wird frei gegenüber dem Schuldspruch des Gesetzes. Hat Gottes Gesetz den Menschen als Sünder verurteilt, so schenkt ihm Gottes Evangelium das Prädikat des Gerechten und des Befreiten. Dieses Prädikatswechsels – „Sünder“-„Gerechter“ – wird der Mensch durch den Glauben an Jesus Christus als Grund des Evangeliums vergewissert. Deshalb kreisen Luthers Ausführungen im ersten Hauptteil seines Freiheitstraktates um die Freiheit, 69 WA 7,53,31–33 // 25,1–4; vgl. z.B. ebd. 62,15: „Sic et infideli nullum opus bonum prodest ad iustitiam et salutem.“ // 32,35f.: „Widderumb dem, der on glauben ist, ist kein gutt werck furderlich zur frumkeyt und seligkeit.“ 70 WA 7,51,1–3 // 22,11–14.
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die der Glaube durch das Evangelium in Jesus Christus empfängt. Was dem Menschen an Heil in prädikativer Weise zugesprochen werden kann, wird in Jesus Christus in substantivischer Rede dem Menschen als Gerechtigkeit, Leben, Freiheit, Seligkeit angeboten. Ergreift er es im Glauben, so hat er für sich das Prädikat des Gerechten, Lebenden, Freien, Seligen gewonnen. 71 Der Christ erfährt im Glauben für sich einen Tausch von Sünde oder Ungerechtigkeit, Unfreiheit, Tod, Verdammnis, d.h. Unheil schlechthin, gegen Gerechtigkeit, Freiheit, Leben, Seligkeit, d.h. Heil schlechthin. 72 Wie die christliche Rede vom Heil sich an Jesus Christus als den Messias und Gottessohn zu halten hat, um ihn im Evangelium als den gegenwärtigen Träger der Heilsprädikate dem Glauben zuzusprechen, so redet Luther in analoger Weise vom Wort Gottes, d.h. von dem Heil vermittelnden Evangelium 73: „Cum autem haec promissa dei sint verba sancta, vera, iusta, libera, pacata et universa bonitate plena, fit, ut anima quae firma fide illis adhaeret, sic eis uniatur, immo penitus absorbeatur, ut non modo participet, sed saturetur et inebrietur omni virtute eorum, [...] Hoc igitur modo anima per fidem solam, sine operibus, e verbo dei iustificatur, sanctificatur, verificatur, pacificatur, liberatur et omni bono repletur, vereque filia dei efficitur, sicut Iohan. 1 [v.12] dicit: ,Dedit eis potestatem filios dei fieri, iis qui credunt in nomine eius.‘“
„Nu seyn diße und alle gottis wort heylig, warhafftig, gerecht, fridsam, frey und aller guette voll, darumb wer yhn mit eynem rechten glauben anhangt, des seele wirt mit yhm voreynigt, so gantz und gar, das alle tugent des worts auch eygen werden der seelen. Und alßo durch den glauben die seele von dem gottis wort heylig, gerecht, warhafftig, fridsam, frey, und aller guette voll eyn warhafftig kind gottis wirt, wie Johan.1 [V.12] sagt: ,Er hatt yhn geben, das sie mugen kynder gottis werden, alle die ynn seynem namen glauben.‘“
2.4 Die Freiheit des messianischen Heils Um Luthers theologische Rede von der Freiheit des Christen aus Glauben in einen religionsgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen, halte ich es 71 Luthers theologische Redeweise hat Reflexionen der Logik zum Hintergrund; vgl. PETER OF SPAIN [Petrus Hispanus], Tractatus called afterwards Summulae logicales, ed. L. M. de Rijk, Assen 1972, Tract.5 n.37; WILLIAM O CKHAM, Summa Logicae, Pars prima, ed. Philotheus Boehner OFM, St. Bonaventure N.Y 1957, Cap.5. 72 Die prädikative Rede findet ihren Ausdruck in dem „fröhlichen Wechsel“, bei dem Christus die Unheilsübel des Menschen (Sünde, Tod, Verdammnis) auf sich nimmt, um an seinen eigenen Heilsgütern (Gerechtigkeit, Leben, Seligkeit) dem Glaubenden Anteil zu geben, was Luther, WA 7,54,21–55,36 // 25,26–26,12, in einer bildhaften Vorstellung beschreibt, bei der er die Tradition einer sog. Brautmystik auswertet. 73 WA 7,53,15–23 // 24,22–29. In der Fortsetzung des Zitates betont Luther, daß nur der Glaube in solch partizipierender Weise mit dem Evangelium, dem Heilswort Gottes, verbinden kann, so daß die Werke oder irgendein Gesetz nichts dazu beitragen können. Darin bestehe die Freiheit des Christen.
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für angebracht, sein Freiheitsverständnis im Kontext des messianischen Heilsgedankens zu begreifen. In seiner Theologie erscheint das Christentum als Religion des messianischen Heils, von Luther in der Auslegung der heiligen Schrift mit der prophetischen und apostolischen Heilsbotschaft identifiziert. Daß Luther die Freiheit als Merkmal jenes messianischen Heils begreift, das im Evangelium des Jesus Christus allen Menschen angeboten wird, sei in drei Punkten umrissen: 1. Das messianische Heil des Evangeliums ist in der Erfüllung von Heilserwartungen des Alten Testamentes gekennzeichnet durch Universalität. Denn das Evangelium von Jesus als dem Christus gilt unterschiedslos allen Menschen; darin korrespondiert es der Universalität von Gottes Gesetz, das in sinngemäßer Auslegung des Dekalogs oder des Doppelgebotes der Liebe bei allen Menschen Zustimmung finden kann. Das Evangelium setzt deshalb eine radikale Interpretation von Gottes Gesetz voraus, doch darf dem Evangelium, weil es messianisches Heilswort ist, kein neues Gesetz, auch kein sakrales, beigemischt werden. 2. Im messianischen Heil wird die Freiheit selbst zu einem Prädikat des Heils neben Gerechtigkeit, Leben und anderen Prädikaten, die Luther im Freiheitstraktat immer wieder aneinanderreiht. Die Freiheit des messianischen Heils kann nur durch das Wort des Evangeliums dem Glauben vermittelt werden kann, weil eine sakralgesetzliche Vermittlung sich nicht mit der wesenhaften Freiheit des in Jesus Christus gegebenen Heils verträgt. 3. Aus dem Evangelium empfängt der Glaube eine dreifache Freiheit gegenüber der Macht der Sünde, des Todes und des Gesetzes. Das findet Luther komprimiert ausgedrückt am Schluß von 1Kor 15; dort werden diese drei Größen in einen Erfahrungszusammenhang gebracht (V.56): „der Stachel des Todes ist die Sünde, aber die Kraft der Sünde ist das Gesetz.“ Demnach hat das messianische Heil seine Spitze in der Freiheit gegenüber dem Schuldspruch jenes Gesetzes, dem alle Menschen als Gottes Geschöpfe verpflichtet sind. Die Bedeutung dieser Paulus-Verse ist Luther offenbar bei seinen Vorlesungen über den Römer-, Galater- und HebräerBrief aufgegangen. In seinem Freiheitstraktat greift er zweimal auf sie zurück, ein erstes Mal am Schluß seiner Ausführungen über den Tausch von Heil gegen Unheil zwischen Christus und dem Glaubenden 74 und ein zweites Mal am Schluß des ersten Hauptteils. An beiden Stellen fehlt in der deutschen Fassung die Wendung „die Kraft der Sünde ist das Gesetz“. Das erklärt sich bei der ersten Stelle aus dem Textzusammenhang. Bei der zweiten Stelle reden beide Texte zwar zunächst von der in Christus gewonnenen Freiheit gegenüber Gesetzen und Werken, anschließend jedoch von der Anfechtung durch Sünde und Tod, die sich tatsächlich in der inne74
WA 7,55,17–22.33–36 // 26,2–4.10–12.
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ren Erfahrung unmittelbar aufdrängen, während das Gesetz hinter ihnen verborgen bleiben kann 75: „Cuius enim cor, haec audiens, non totis medullis gaudeat, et tanto solatio accepto non dulcescat in amorem Christi? ad quem amorem nullis unquam legibus aut operibus pervenire potest. Quis est qui tali cordi nocere possit, aut ipsum pavefaciat? Si irruat conscientia peccati aut horror mortis, paratum est sperare in domino, […]
„Dann wo ein hertz alßo Christum hoeret, das muß froelich werden von gantzem grund, trost empfahen und sueß werden gegen Christo, yhn widderumb lieb zuhaben. Dahyn es nymmer mehr mit gesetzen odder werck kummen mag, Denn wer wil eynem solchen hertzen schaden thun oder erschreckenn? felt die sund und der todt daher,
Credit enim iustitiam Christi suam esse et peccatum suum iam non suum, sed Christi esse. At a facie iustitiae Christi omne peccatum absorbeatur, necesse est propter fidem Christi, […] discitque cum Apostolo morti et peccato insultare et dicere [1Cor 15,55–57.54]: ,Ubi est, mors, victoria tua? Ubi est, mors, stimulus tuus? Stimulus autem mortis peccatum est, virtus vero peccati lex. Deo autem gratias, qui dedit nobis victoriam per Ihesum Christum dominum nostrum. Absorpta enim est mors Victoria‘ non tantum Christi, sed et nostra, quia per fidem nostra fit et in ipsa et nos vincimus.“
ßo glaubt es, Christus frumkeit sey sein, und sein sund seyn nymmer sein, sondern Christi, ßo muß die sund vorschwinden fur Christus frumkeit ynn dem glauben, […] und lernet, mit dem Apostell dem todt und sund trotz bieten und sagen [1 Kor 15,55– 57.54]: ,Wo ist nu, du todt, deyn sig? Wo ist nu, todt, dein spieß? deyn spieß ist die sund. Aber gott sey lob und danck, der uns hatt geben den sieg durch Jhesum Christum unsern herrnn. Und der todt ist erseufft ynn seynem sieg‘ etc.“
Es hat für den Freiheitsgedanken kein Gewicht, wenn Luther an beiden Stellen in der deutschen Fassung im Paulus-Zitat die Wendung ausläßt, in der dem Gesetz die „Kraft der Sünde“ zugeschrieben wird. Denn auch dem Leser des deutschen Freiheitstraktates sollte bei der Lektüre bald klar werden, daß Jesus Christus mit seinem Evangelium von der geistlichen Macht aller Gesetze befreit. Hingegen hat Luther wiederholt beklagt, daß im Christentum seiner Zeit Christus zu einem Gesetzgeber geworden sei, weil Gesetz und Evangelium nicht deutlich genug unterschieden wurden. Im Freiheitstraktat wird diese Klage, scharf artikuliert, nur in der lateinischen Fassung laut 76; wohl aus demselben Grunde, wie er oben bei der differierenden Zitation von 1Kor 15,55–57 zu vermuten war, hat sich Luther in 75
WA 7,59,7–20 // 29,20–30. WA 7,66,36–38: „At nunc hominum doctrinis non nisi merita, praemia et ea quae nostra sunt docemur quaerere, et ex Christo non nisi exactorem longe prae Mose severiorem fecimus.“ – REINHOLD RIEGER (s.o. Anm. 48), 307 Anm. 722 zitiert eine Reihe ähnlich lautender Stellen, von denen zwei zeitlich etwas früher sind; 1.) Sermo de digna praeparatione cordis, 1518, WA 1,333,30–34; 2.) Predigt vom 4. 12. 1519 (Datum laut WA 59,340), WA 4,623,11–13 (lies: „Christum falso imaginantur … damnatorem [statt: damnatorum] magis quam salvatorem“). 76
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diesem Zusammenhang in der deutschen Fassung mit einem kurzen, allgemein gehaltenen Seufzer über das zeitgenössische Christentum begnügt, während die lateinische Fassung es geißelt, daß Christus durch die kirchliche Praxis zu einem Mose übertreffenden Gesetzgeber und Eintreiber gesetzlicher Forderungen entstellt und mit der gesetzlichen Wertung religiöser Werke eine egoistische Religiosität gefördert worden ist. 77 2.5 Freiheit in der Konstitution der christlichen Religion In dem bisher Ausgeführten ist eine elementare Erkenntnis Luthers eingeschlossen: Das Evangelium des Jesus Christus kann nur dann seine befreiende Macht für den einzelnen Menschen ausüben, wenn es mit keinem religiösen Gesetz vermischt wird. Mit anderen Worten: Das Freiheitsverständnis von Luthers Freiheitstraktat kann nicht getrennt werden von entscheidenden Punkten der beiden vorhergegangenen reformatorischen Schriften des Jahres 1520 – „An den christlichen Adel deutschen Nation von des christlichen Standes Besserung“ und „De captivitate babylonica ecclesiae praeludium“ –, die eine tiefgreifende Umgestaltung der christlichen Religion zum Ziel haben, v.a. durch die Lehre von den Sakramenten und vom allgemeinen Priestertum der Christen. 78 Ein Strukturelement der evangeliumsgemäßen Gestalt der christlichen Religion begegnet auch in Luthers Freiheitstraktat. Indem er hier auf das Königtum und Priestertum des Jesus Christus zu sprechen kommt 79, leitet er daraus das allgemeine Priestertum der Christen ab. Die priesterliche Freiheit, die der Person des Jesus Christus zu eigen ist, wird durch das 77
WA 7,66,31–36 heißt es von der „Christiana vita“ (unmitelbar vor dem Zitat in Anm. 76): „Sed quae proh dolor hodie in toto orbe ignota est, nec praedicatur nec quaeritur, adeo ut prorsus nostrum nomen ipsimet ignoremus, cur Christiani simus et vocemur, certe a Christo vocamur, non absente, sed inhabitante in nobis, idest dum credimus in eum et invicem mutuoque sumus, alter alterius Christus, facientes proximis, sicut Christus nobis facit.“ Die parallele deutsche Fassung sagt von dem wahren „christlichen Leben“ nur, ebd. 36,9f.: „das leyder nu ynn aller welt, nit allein nyderligt, sondern auch nit mehr bekandt ist noch gepredigt wirt.“ 78 Sätze des Kirchenrechts, die sakrale Strukturelemente der römisch-katholischen Kirche festlegten, stellte Luther in seiner Begründung „Warum des Papst Bücher verbrannt sind“, 1520, WA 7,(152)161–182, zusammen und ließ jedem Satz eine kurze Widerlegung folgen; hier seien nur zwei Sätze herausgegriffen, ebd. 171,1–9: „14. Das Christus priesterthum sey von yhm auff S. Petrum vorsetzt [:übertragen]. De constit. c. translato [Translato, 3. de constitutionibus, tit. 2. lib. I; RF 2,8]. Dawider sagt David Ps 109 [/110,4] und Paulus zu den Hebr [5,6; 6,20; 7,21ff.] das Christus eyn eyniger ewiger priester sey. Wilchs priesterthum nymmer mehr vorsetzt werde. – 15. Das der Bapst gewalt hab, gesetz zu machen ubir die Christliche kirche. xxv. q.1. ideo permittente. [Ideo permittente, 16. XXV. q.1; RF 1,1010; vgl. Sunt quidem, 6. XXV. q.1, RF 1,1008] Dawider S. Paulus sagt Gal 5 [v.13] ‚Ihr seyd ynn eyn freyheyt von gott beruffen‘.“ 79 WA 7,56,15–58,30 // 26,32–29,6.
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Evangelium dem Glaubenden vermittelt. 80 In Luthers Verständnis gehört das Priestertum wie das Königtum des Jesus Christus so eindeutig zu dessen Messianität, daß daraus keine kirchliche Sakralordnung abgeleitet werden kann; denn dem Hebräer-Brief zufolge besitzt Christus allein und für ewig das messianische Priestertum. 81 Daran kann der Christ, der sich auf das Evangelium stützt, ausschließlich im Glauben teilhaben. Das allgemeine Priestertum mit seiner Freiheit verträgt sich deshalb nicht mit dem zusätzlichen Überbau eines speziellen sakralrechtlich geordneten Priestertums der Kirche. 82 In seinem Appell „An den christlichen Adel“ hat Luther bekanntlich das allgemeine Priestertum der Christen mit dem Sakrament der Taufe begründet. 83 Das ist ihm möglich gewesen, weil er mit seinem reformatorischen Sakramentsverständnis die Taufe aus der traditionellen sakramentalen Rechtsstruktur der Kirche herausgelöst hat. 84 In der Schrift „De captivitate babylonica ecclesiae“, seiner großen Auseinandersetzung mit der Sakramentsordnung der Kirche, begründet er mit der Taufe eine Freiheit, die jeder Christ für sich selbst in seinem Gewissen wahrnehmen kann, sogar gegenüber vermeintlichen Ansprüchen einer priesterlichen Rechtsvollmacht der Kirche. Die Taufe erscheint in Luthers Ausführungen in pointierter Rede als das Sakrament der christlichen Freiheit, von der sein Freiheitstraktat handelt, ohne die Taufe zu erwähnen. Mit der Taufe wird jedem Christen in gleicher Weise das Christus-Heil angeboten, so daß es das ganze Leben bestimmt als ein Sterben des gottentfremdeten Menschen und ein Neuwerden in der Christus-Gerechtigkeit des Glaubens. 85 Dadurch ist 80
WA 7,56,35–57,23 // 27,17–28,5. Hbr 5,6; 6,20; 7,21ff. Vgl. Anm. 78 das Zitat WA 7, 171,1ff. (Nr. 14 der zitierten päpstlichen Rechtssätze). 82 Als Hieronymus Emser in seiner Polemik gegen Luther – „Wider das unchristliche Buch M. Luthers An den deutschen Adel [...]“, 1521 – ein allgemeines und ein spezielles Priestertum miteinander verbinden wollte, widersprach ihm Luther nachdrücklich, vgl. LUDWIG E NDERS (Hg.), Luther und Emser. Ihre Streitschriften aus dem Jahre 1521, Bd.1, Halle/S. 1889, 21–27 und WA 7,628,6–632,4. – Mit modifizierter Begründung begegnet Emsers Konstruktion neuerdings im päpstlichen Codex Iuris Canonici, 1983, Can. 834f., sowie im Katechismus der katholischen Kirche, 1993, Nr. 1546f. 83 An den christlichen Adel, 1520, WA 6,407,10–410,2. 84 Ebd. WA 6,456,25–30: [Der christliche Glaube kann] „nit wol bestann, es sey den[n] der Romischen gesetz weniger odder keine. Wir seinn in der tauff frey wordenn, unnd allein gotlichen wortten unterthann, warum sol uns einn mensch in seine wort gefangenn nehmenn? wie sanct Paulus sagt [Gal 5,1 mit 1Kor 7,23]: ,Ir seyt frey wordenn, werdet yhe nit knecht der menschenn‘, das ist der[er], die mit menschen gesetzen regieren.“ 85 De captivitate babylonicae ecclesiae, 1520, WA 6,534,3f.16f.24–30: „Significat itaque baptismus duo, mortem et resurrectionem, hoc est plenariam consumatamque iustificationem. […] ut fides vere sit mors et resurrectio […] Peccator […] mori debet, ut 81
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dem Christen eine Freiheit geschenkt, die im Christus-Glauben gelebt werden will, obgleich sie durch die religiösen Satzungen des Kirchenrechts untergraben worden ist. 86 In der Situation von 1520 gilt es für den einzelnen Christen, sich in seinem Gewissen seine Christenfreiheit zu bewahren, indem er sich dieses hohe Gut seiner Taufe bewußt macht. 87 Wie er zunächst für sich selbst diese Freiheit gegenüber der sakralrechtlichen Macht der Kirche wahrnehmen soll, so soll er auch nicht sich selbst dieser Freiheit durch eigene religiöse Gelübde berauben und seinem Gewissen Bindungen auferlegen, die dem wahren Sinn der Taufe widersprechen. 88 Die recht verstandene Taufe begründet also die christliche Freiheit in einem doppelten Aspekt, zum einen als eine Freiheit des Heils, die jeder Christenmensch vor Gott für sich selbst wahrnehmen kann, zum andern als Freiheit des Gewissens gegenüber den Ansprüchen eines sakralrechtlich verfaßten Christentums, weil sie dem Evangelium widersprechen. Wie der einzelne Christ, der sich der Freiheit seines Glaubens bewußt geworden ist, sich gegenüber anderen Christen unter den Bedingungen eines sakralgesetzlichen Christentums verhalten sollte, das ist für Luther eine Frage der Nächstenliebe, die er im zweiten Teil des Freiheitstraktates behandelt.89 2.6 Nächstenliebe in der Freiheit des Glaubens Wenn Luther im ersten Teil des Freiheitstraktates darlegt, inwiefern ein Christ „ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“ ist, scheint damit das Freiheitsthema erledigt zu sein, da der zweite Teil kontrapunktisch zeigen soll, inwiefern der Christ „ein dienstbarer Knecht aller Dinge
totus renovetur in aliam creaturam […] per baptismum nos significari omnibus modis mori et resurgere in aeternam vitam.“ 86 Ebd. WA 6,535,27–536,6: „Hanc gloriam libertatis nostrae et hanc scientiam baptismi esse hodie captivam, cui possumus referre acceptum quam uni tyrannidi Romani pontificis? qui, ut pastorem primum decet, unus omnium maxime debuit esse praedicator et assertor huius libertatis et scientiae […] ipse solum id agit, ut suis decretis et iuribus opprimat et in potestatis suae tyrannidem captivos illaqueet. Obsecro, quo iure […] Papa super nos constituit leges? Quis dedit ei potestatem captivandae huius nostrae libertatis per baptismum nobis donatae? […] tacita fide, infinitis legibus operum et ceremoniarum extincta est Ecclesia, ablata virtus et scientia baptismi, impedita fides Christi.“ 87 Ebd. WA 6,537,13–17: „Christianis nihil ullo iure posse imponi legum, sive ab hominibus sive ab angelis, nisi quantum volunt: liberi enim sumus ab omnibus. Quod si quae imponuntur, sic ferenda sunt, ut libertatis conscientia salva sit, quae sciat et certo affirmet, iuiuriam sibi fieri, quam cum gloria ferat, ita cavens, ne iustificet tyrannum, ut ne murmuret contra tyrannidem.“ 88 Ebd. WA 6,538,26–541,17. 89 WA 7, 66,39–67,28 // 36,11–30 sowie im lateinischen Anhang 70,28–71,26; vgl. unten Abschnitt 2.7.
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und jedermann untertan“ ist. 90 Diesen zweiten Teil über die Nächstenliebe aus Luthers Freiheitsverständnis auszuklammern, wäre jedoch verkehrt. Vielmehr beschäftigt sich Luther hier hauptsächlich mit einer Kernfrage seiner Ethik: „Wie geschieht die Nächstenliebe in Freiheit?“ Einige Gesichtspunkte des Freiheitstraktates sollen hier aufgegriffen werden. Die Freiheit, die nach dem ersten Teil der innere Mensch durch den Glauben gewinnt, wird nun geltend gemacht als die Freiheit, mit der der Christenmensch als Person in den „Werken“ der Nächstenliebe handelt, weil er sie uneingeschränkt als die Summe von Gottes Gesetz bejaht. 91 Obwohl Luther bei dem Begriff der Person auf deren traditionelle Definition anspielt 92, ist sein Verständnis der menschlichen Person anders gelagert; denn die Person ist auch als Subjekt der Nächstenliebe definiert durch die Beziehung des Glaubens zum Evangelium, aus der sie ein freiheitsbewußtes Selbstverständnis gegenüber den eigenen Werken empfängt. Am Selbstverständnis des Menschen in der Beziehung zu seinen Werken entscheidet sich, ob die Werke des Menschen in Wahrheit gut sind. Deshalb betont Luther, daß es darauf ankommt, mit welcher Meinung (opinio) die Werke getan werden, d.h. mit welchem Selbstverständnis; denn das Verhältnis des Menschen zu seinen eigenen Werken ist entscheidend. 93 Der Glaube stiftet ein freiheitliches Selbstverständnis. Und nur die im Glauben befreite Person bringt die guten Werke der Nächstenliebe hervor, die dem Liebesgebot Gottes entsprechen, wie auch nur ein guter Baum gute Früchte 90
So die zwei Leitsätze, die Luther seiner Schrift vorangestellt hat; WA 7,21,1–4; vgl. 49,22–25: „Christianus homo, omnium dominus est liberrimus, nulli subiectus. Christianus homo, omnium servus et officiosissimus, omnibus subiectus.“ Vgl. am Schluß des Traktates, ebd. 69,12–16: „Concludimus itaque, Christianum hominem non vivere in seipso, sed in Christo et proximo suo, aut Christianum non esse, in Christo per fidem, in proximo per charitatem, per fidem sursum rapitur supra se in deum, rursum per charitatem labitur infra se in proximum, manens tamen semper in deo et charitate eius.“ // 38,6–10: „Auß dem allenn folgt der beschluß, das eyn Christen mensch lebt nit ynn yhm selb [:sich selbst], sondern ynn Christo und seynem nehstenn, ynn Christo durch den glauben, ym nehsten durch die liebe, durch den glauben feret er uber sich yn gott, auß gott feret er widder unter sich durch die liebe, und bleybt doch ymmer ynn gott und gottlicher liebe.“ 91 Zur Nächstenliebe als „Summe“ des Dekalogs s.o. bei Anm 57 die Interpretation von Gal 5,14. 92 Vgl. im Zitat bei der übernächsten Anmerkung die Wendung (WA 7,61,28) „ipsam substantiam seu personam esse bonam ante omnia opera bona“. Die mittelalterlichen Theologen verwenden – im Anschluß an Boethius, De persona et duabus naturis, c. 3 (ML 64, 1343C) – die Definition: „Persona est rationalis naturae individua substantia“; vgl. z.B. Gabriel Biel, Sent. 3 d.1 q.1 B18; d.5 q.un. D14 u.ö. 93 Die Ausführungen über die Qualifikation der Werke durch die Person, und zwar durch deren Glauben oder Unglauben, beginnen mit Cap. 21 der deutschen und analog der lateinischen Fassung (60,19 // 30,31) und erreichen ihre theologische Spitze mit Cap. 25 der deutschen und analog der lateinischen Fassung (63,8 // 33,29).
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hervorbringt. Am Selbstverständnis der handelnden Person entscheidet sich, ob ihre Werke gut oder verwerflich sind 94: „Sic et infideli nullum opus bonum prodest ad iustitiam et salutem. Ediverso, nullum malum opus facit eum malum aut damnatum, sed incredulitas, quae personam et arborem malam facit, mala et damnata facit opera. Unde, dum bonus aut malus quisquam efficitur, non hoc ab operibus, sed a fide vel incredulitate orditur, sicut Sapiens dicit [Sir 10,14] ,Initium peccati apostatare a deo‘, et id est non credere. […] Et Christus idem dicens [Mt 12,33] ,Aut facite arborem bonam, et fructus eius bonos, aut facite arborem malam et fructus eius malos‘, ac si dicat ,Qui volet fructus bonos habere, ab arbore incipiet et hanc bonam plantabit.‘
„Widderumb dem, der on glauben ist, ist kein gutt werck furderlich zur frumkeyt und seligkeit, Widderumb keyn boße werck yhn boße und vordampt machen, sondern der unglaub, der die person und den bawm boeß macht, der thutt boße und vordampte werck. Darumb wen man frum odder boße wirt, hebet sichs nit an den wercken an, sondern an dem glauben, Wie der Weyße man sagt [Sir 10,14] ,Anfang aller sund ist von gotte weychen‘ und yhm nit trawen. Alßo leret auch Christus, wie man nit an den wercken muß anheben, und sagt [Mt 12,33] ,Entweder macht den bawm gutt und seyne fruchte gutt, oder macht den bawm bose und seyne fruechte boeße‘, als solt er sagen ,wer gutte fruecht haben wil, muß zuvor an dem bawm anheben und denselben gutt setzen.‘ Ita, qui vult bona operari non ab operando, Alßo wer do wil gutte werck thun, muß nit an sed a credendo incipiat, quod personam den wercken an heben, sondern an der person, bonam facit. Non enim personam bonam die die werck thun soll. Die person aber facit, nisi fides, nec malam nisi incredulitas.“ macht niemant gut, denn allein der glaub, und niemand macht sie boße, denn allein der unglaub.“
Wie dem Menschen im Unglauben eine Fehleinschätzung seines Handelns innewohnt in dem Bestreben, mit eigenen Werken dem Gesetz Gottes gerecht zu werden und der eigenen Person vor Gott Gerechtigkeit zu verschaffen, so tut demgegenüber der Christ dank seines Glaubens seine Werke frei von jener verkehrten Meinung. Unglaube und Glaube unterscheiden sich in dem Selbstverständnis des Menschen, das ihn als Person in seinem Verhältnis zu seinen Werken und in seiner Verantwortung vor Gott beseelt. Die verkehrte Meinung des Unglaubens bedarf der neuen Orientierung des Glaubens, damit der Glaube als „Selbsttäter und Werkmeister“ 95 das Handeln frei hält von einer untauglichen Wertschätzung 96: 94
WA 7,62,15–26 // 32,35–33,12. Das Zitat von Sir 10,14 ist Paraphrase nach der Vulgata: „Initium superbiae hominis est apostatare a deo.“ – Vgl. ebd. 61,26–30 // 32,4– 9. 95 Vgl. WA 7,56,8–14 // 26,23–31, wo im Kontext (ebd. 55,37ff. // 26,13ff.) in die Erfüllung des ersten Gebotes durch den Glauben auch die Erfüllung der anderen Gebote eingeschlossen wird. 96 WA 7,63,8–20 // 33,29–34,3. In dem Zitat sind ausgeklammert lediglich parallele Ausdrücke, die eine nähere Erläuterung erfordern würden. – An das Selbstverständnis der Person im Verhältnis zu ihren Werken als kritischen Punkt der ethischen Frage nach den
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„Facile ex his cognitu est qua ratione sint opera bona reiicienda aut amplectenda, et qua regula intelligendae sint omnium doctrinae de operibus datae. Si enim opera comparentur ad iustitiam et […] falsa persuasione fiant, ut per ipsa iustificari praesumas, iam necessitatem imponunt et libertatem cum fide extinguunt, et […] bona iam non sunt vereque damnabilia, Libera enim non sunt et gratiam dei blasphemant, cuius solius est, per fidem iustificare et salvare, quod opera non potentia praestare, impia tamen praesumptione per nostram hanc stultitiam affectant, ac sic in officium gratiae et gloriam eius violenter irruunt.
„Auß dißem allen ist leychtlich zuvorstehen, wie gutte werck zu vorwerffen und nit zuvorwerffen seyn, Und wie man alle lere vorstahn soll, die do gutte werck leren, dann wo […] die vorkerete meynung dryn ist, das durch die werck wir frum und selig werden wollen, seyn sie schon nit gutt, und gantz vordamlich, denn sie seyn nit frey, und schmehen die gnad gottis, die allein durch den glauben frum und seligk macht, wilchs die werck nit vormuegen, und nehmen es yhn [:sich] doch fur zu thun und damit der gnaden ynn yhr werck und ehre greyffenn.
Non ergo opera bona reiicimus, immo maxime amplectimur et docemus: non enim propter ipsa, sed propter […] perversam opinionem quaerendae iustitiae ea damnamus, qua fit, ut solum in specie appareant bona, cum revera bona non sint, quibus falluntur et fallunt.“
Drumb vorwerffen wir die gutte werck nit umb yhren willen, ßondernn umb […] falscher vorkerter meynung willen, Wilche macht, das sie nur gutt scheynen, und seyn doch nit gutt, betriegen sich und yderman damit.“
Der Christ ist befreit von der verderblichen Meinung, er müsse sich seiner Identität durch seine Werke vergewissern. Solange er aber mit jener verkehrten Meinung handelt, bleibt er in Unfreiheit unter dem Anspruch eines moralischen oder religiösen Gesetzes, so daß er sogar gut erscheinende Werke instrumentalisiert für die Sicherung des eigenen Selbst. Schlüssig ist Luthers alternative Bestimmung der Person und ihrer Werke durch Unglaube und Glaube, weil damit jeweils über das Gottesverhältnis dieser Person entschieden ist, ob sie unter der Macht des Gesetzes in der Gottesentfremdung oder unter dem Evangelium in der „Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21) lebt und handelt. Es ist eine allgemein menschliche Alternative, die mit dem Paradiesesmythos zur Sprache gebracht wird. Das „paradiesische“ Leben und Tätigsein des Menschen im Einklang mit Gottes Willen, das dem Menschen in der Gottesentfremdung des Unglaubens verloren gegangen ist, wird im Christus-Glauben insofern zurückgewonnen, als der Glaubende sich selbst mit Gott versöhnt sehen und in diesem Selbstverständnis die Werke, die ihm als Gottes Geschöpf aufgetragen sind und von der Nächstenliebe bestimmt sein sollen, in Freiheit tun kann. 97 guten Werken rührt Luther auch ebd. 60,19–23 // 30,31–36 sowie 64,24–27 // 34,29–33, ferner im Anhang der lateinischen Fassung, ebd. 73,1ff. 97 WA 7,61,1–15 // 31,17–32.
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„Ut autem ea quae diximus facilius capiantur, similitudinibus ea monstremus. Debent opera hominis Christiani, per fidem suam ex mera gratuitaque misericordia dei iustificati et salvati, non alio loco haberi, quam opera fuissent Adae et Evae in paradiso et omnium filiorum, si non peccassent, de quibus Gen 2 [v.15] sic dicitur: ,Posuit deus hominem, quem formaverat in paradisum, ut operaretur et custodiret illum.‘
„Das wir des etlich gleychniß geben.
At Adam erat iustus et rectus a deo creatus [vgl. Eccles 7,30], sineque peccato, ita ut per suam operationem et custodiam non opus habuisset iustificari et rectus fieri, sed ne ociosus iret, dedit ei dominus negotium, ut paradisum coleret et servaret. Quae fuissent opera vere liberrima, nullius gratia facta nisi beneplaciti divini, non ad iustitiam obtinendam, quam iam habebat plene, quae et congenita fuisset nobis omnibus.
Nu war Adam von gott frum und wol geschaffen, on sund, das er durch seyn erbeytten und hutten nit [be]durfft frum und rechtfertig werden, doch das er nit muessig gieng, gab yhm gott zu schaffen, das paradeys zu pflantzen, bawen und bewarenn. Wilchs weren eytell frey werck geweßen, um keynß dings willen gethan, denn allein gott zu gefallen, und nit um frumkeyt zu erlangen, die er zuvor hett, wilch uns auch allen naturlich were angeborn geweßenn.
Ita et credentis hominis opera, qui per fidem suam denuo repositus est in paradisum et de novo recreatus, non eget operibus, ut iustus fiat aut sit, sed ne ociosus sit et corpus suum operetur et servet, sunt ei opera eiusmodi libertatis, solum intuitu divini beneplaciti, facienda.“
Alßo auch eynis glaubigen menschen werck, wilcher durch seynen glauben ist widderumb ynß paradiß gesetzt und von newen geschaffen, [be]darff keyner werck frum zu werden, sondern das er nit muessig gahe und seynen leyb erbeytt und beware, seyn yhm solche freye werck zu thun alleyn gott zu gefallenn befolhen.“
Soll man die werck eynis Christen menschen, der durch seynen glauben und auß lautern gnaden gottis umbsonst ist rechtfertig und selig worden, nit anders achten, den wie die werck Adam und Eve ym paradiß geweßen weren, Davon Gen 2 [V.15] stett geschrieben, Das gott den geschaffenen menschen setzt ynß paradiß, das er dasselb erbeytten und hutten solt.
Luthers Sätze könnten wir für uns wohl so ergänzen: Seine unteilbare Verantwortung gegenüber der Schöpfung und seinen Mitmenschen kann der Mensch nur im Glaubensbewußtsein des mit Gott versöhnten Geschöpfes wahrnehmen. – Der Christ bleibt einer tief wurzelnden Schwachheit und Wankelmütigkeit seines Glaubens und Liebens verhaftet; das kann er nicht durch seine Werke überwinden. Helfen kann ihm nur, daß sein Glaube und seine Nächstenliebe in ihrem eigenen Wesen an Stärke gewinnen. 98 Die Nächstenliebe, die aus dem freiheitlichen Selbstverständnis des Glaubens hervorgeht, charakterisiert Luther in sprachlichen Variationen als „freie Liebe“, als einen „williglichen“ Dienst, der „frei, fröhlich und umsonst“ geschieht, mit dem der Glaubende weder bei Gott noch bei den 98 In dem Zitat bei Anm. 97 fährt die lateinische Fassung (ohne deutsche Parallele) fort, WA 7,61,15–17: „nisi quod nondum plene recreati sumus perfecta fide et charitate, quam augeri oportet, non tamen per opera, sed per seipsas.“ Vgl. ebd. 59,37–60,2 // 30,11–15; 65,26–30 // 35,20–23; 68,29–34 // 37,27–30.
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Menschen etwas für sich selbst erwirken will. 99 In solchen Zusammenhängen spricht Luther auch nicht vom fordernden Gesetz Gottes. Vielmehr hat es der Christenmensch nur darauf abgesehen, dem Willen Gottes zu entsprechen und das zu tun, was Gott gefällt. In seiner Freiheit gegenüber jedem Gesetz genügt ihm für seine Selbstgewißheit, daß ihm Gott mit dem Evangelium seine Gnade zuwendet 100: „[Manifestissimum est] nullo opere, nulla lege Christiano homini opus esse ad salutem, cum per fidem liber sit ab omni lege, et ex mera libertate omnia gratuito faciat, quaecunque facit, nihil quaerens aut commodi aut salutis (cum iam satur et salvus sit gratia dei ex fide sua) sed solum beneplacitum dei.“
„[So ists offenbar] das keyn werck, keyn gepott, eynem Christen nott sey zur seligkeit, sondern er frey ist von allen gepotten, und auß lauterer freyheit umbsonst thut alls, was er thut, nichts damit gesucht seyneß nutzs oder selickeyt, Denn er schon satt und selig ist durch seynenn glaubenn und gottis gnaden, sondernn nur gott darynnen gefallen.“
Die freie, spontane Nächstenliebe verdankt sich dem befreienden Wirken des Evangeliums; sie entspringt nicht dem natürlichen Vermögen des Menschen, in seiner Willensentscheidung unter Leitung von Vernunft und Gesetz Akte der Nächstenliebe hervorzubringen. Von Natur aus ist der Mensch allerdings geneigt, sein Verhältnis zu Gott wie auch zu anderen Menschen durch Gesetze und kalkulierbare Werke zu bestimmen. 101 Hingegen die Nächstenliebe, wie sie von Luther entfaltet wird, wurzelt in der Freiheit des messianischen Heils. 102 Obgleich Luther diese Differenz zwischen der im 99 Das lateinische Vokabular ist in diesem Punkt noch abwechslungsreicher als das deutsche; verwiesen sei nur auf einige Passagen: WA 7,60,6–9 // 30,20–22; 60,27–29 // 31,4–8; 64,34–37 // 34,29–33; 66–1–6 // 35,32–34; 66,39–67,6 // 36,11–16; 67,23–25 // 36,25–27; 68,29–34 // 37,27–30. 100 WA 7,62,(8)10–14 // 32,(28)10–14; vgl. ebd. 60,27–29 // 31,4–8; 61,6–15 // 31,22–32; 65,32–36 // 35,25–28. 101 WA 7,73,1–4.8–11 (Schlußabschnitt des lateinischen Anhangs): „Verum cum natura humana et ratio (ut vocant) naturalis sit naturaliter superstitiosa et propositis quibusque legibus et operibus prompta sit in opinionem iustificationis per ea adipiscendae, his adde, quia usu omnium legislatorum terrenorum in eundem sensum est exercita et firmata […] Nisi enim ipse [:dominus] doceat intus hanc sapientiam in mysterio absconditam [1Kor 2,7], natura non potest nisi damnare eam [:libertatem fidei] et haereticam iudicare, quia scandalisatur in ea et stulta ei apparet [vgl. 1Kor 1,23], sicut olim in prophetis et Apostolis vidimus accidisse.“ – Zu den hier ausgelassenen Zeilen s.u. Anm. 102. 102 Gegen Schluß der lateinischen Fassung läßt Luther den messianischen Charakter der durch Christus vermittelten Freiheitserfahrung, die der menschlichen Natur von Haus aus unzugänglich ist (s.o. Anm. 101), anklingen, WA 7,73,4–8: „impossibile est, ut [natura humana] per seipsam se exuat a servitute illa operaria, in libertatem fidei cognoscendam: ideo oratione opus est, ut dominus nos trahat, et theodidactos, idest dociles deo faciat, [1Th 4,9; Joh 6,44.45; vgl. Jes 54,13], et ipse in cordibus nostris (sicut promisit [Jer 31,33f.]) legem scribat, alioquin actum est de nobis.“ – Vgl. ebd. 63,22–28 // 34,4–9.
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Glauben befreiten und der gesetzlich motivierten Nächstenliebe erst am Schluß der lateinischen Fassung seines Freiheitstraktates ausdrücklich zur Sprache bringt, ist sie auch sonst im Hintergrund des zweiten Teils des Freiheitstraktates zu erkennen. Die freiheitlich begründete Nächstenliebe läßt eine Nächstenliebe, die nach der Leistung moralischer oder religiöser Werke beurteilt wird, hinter sich, weil sie nichts für sich selbst sucht, sondern nur das, was für den anderen nach Gottes Willen gut ist. Luther läßt Mt 5,45 und 1Kor 13,5 anklingen 103; er beschreibt jedoch die Selbstlosigkeit der Nächstenliebe am eindrücklichsten mit Phil 2 104: „Sic Philippenses cum Paulus docuisset, quam divites facti essent per fidem Christi, in qua omnia obtinuissent, docet eos deinceps dicens [Phil 2,1–4]: ,Siqua consolatio Christi, siquod solatium charitatis, siqua societas spiritus, implete gaudium meum, ut idem sapiatis et eandem charitatem habentes, unanimes, idipsum sentientes nihil per contentionem neque inanem gloriam, sed in humilitate superiores invicem arbitrantes, non quae sua sunt singuli considerantes sed ea que aliorum.‘
Hic clare videmus, Vitam Christianorum ab Apostolo in hanc regulam esse positam, ut omnia opera nostra ad aliorum comoditatem ordinentur, cum per fidem quisque suam sic abundet, ut omnia alia opera totaque vita ei superfluant, quibus proximo spontanea benevolentia serviat et benefaciat.“
„Denn zu den Philippern, do er sie geleret hatte, wie sie alle gnad und gnugde hettenn durch yhren glauben yn Christo, leret er sie weytter und sagt [Phil 2,1–4]: ,Ich vorman euch allis trosts, den yhr ynn Christo habt, und allis trosts, den yhr habt von unßer liebe zu euch, und aller gemeinschafft, die yhr habt mit allen geystlichen frumen Christen, yhr wolt meyn hertz erfrewen volkoemlich, und das damit, das yhr hynfurt wollet eyniß synnes seyn, eyner gegen dem andernn lieb ertzeygen, eyner dem andernn dienen, und ein yglicher acht haben nit auff sich noch auff das seyne, sondernn auff den andernn, und was dem selben nott sey.‘ Sihe da hat Paulus klerlich ein Christenlich leben dahynn gestellet, das alle werck sollen gericht seyn, dem nehsten zu gutt, Die weyl ein yglicher fur sich selb gnug hatt an seynen glauben, und alle andere werck und leben yhm ubrig seyn, seynem nehsten damit auß freyer lieb zu dienen.“
Hier ist Jesus Christus nicht Vorbild im Sinn einer religiösen Morallehre; vielmehr wirkt er, da er in seiner Person selbst das Evangelium ist, mit seiner rückhaltlosen Selbstentäußerung beispielhaft für eine Nächstenliebe der Selbsthingabe. Aus dem Christus-Glauben, der Gottes Befreiung aus eigener Heillosigkeit erfährt, geht eine Nächstenliebe hervor, in der ein Christ seinem Nächsten gewissermaßen selbst zum Christus wird 105: 103 Betr. Mt 5,45 vgl. WA 7,66,10–16 (ohne deutsche Parallele); betr. 1Kor 13,5 ebd. 69,1–3.8–11 // 37,32–36. 38,2–5. 104 WA 7,64,38–65,9 // 34,33–35,12; hier hat Luther auch Phil 2,5–8 im Blick, das er anschließend zitiert, ebd. 65,10–14 // 35,12–19 (in der deutschen Paraphrase ist eingeschlossen, was in der ausführlicheren lateinischen Fassung, ebd. 65,14–25, expliziert wird mit Kritik an einer abweichenden Auslegung). 105 WA 7,66,23–28 // 36,4–8. Im lateinischen Text (66,29–38) folgt eine Klage über den Verfall des Christentums.
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„Igitur sicut proximus noster necessitatem habet et nostra abundantia indiget, ita et nos coram deo necessitatem habuimus et misericordia eius indiguimus; ideo sicut pater coelestis nobis in Christo gratis auxiliatus est, ita et nos debemus gratis per corpus et opera eius proximo nostro auxiliari, et unusquisque alteri, Christus quidam fieri, ut simus mutuum Christi, et Christus idem in omnibus, hoc est vere Christiani.“
„Denn zu gleych wie unser nehst nott leydet und unßers ubrigenn [:Überflusses] bedarff, alßo haben wir fur gott nott geliden und seyner gnaden bedurfft. Darum wie uns gott hatt durch Christum umbsonst geholffen, alßo sollen wir durch den leyp und seyne werck nit anders den[n] dem nehsten helffen.“
2.7 Die Leiblichkeit der Nächstenliebe Luthers Ethik der Nächstenliebe ist nicht eine wirklichkeitsferne Gesinnungsethik. Sie bedenkt wenigstens im Ansatz die ganze Wirklichkeit des Menschen. Weil das Selbstverständnis des Menschen sein Verhältnis zu seinen eigenen Werken und zu seiner eigenen Leiblichkeit in sich schließt, richtet Luther den Blick zunächst auf den Umgang des Menschen mit seinem eigenen Leib, und zwar nennt er v.a. die Werke, die für die Religiosität seiner Zeit und so auch für ihn als Mönch am nächsten liegen mußten, das Fasten und das Beten in Verbindung mit leiblichem Kasteien. Worauf es in der Freiheit des Glaubens ankommt, ist jedoch nicht nur jenes von Luther erwähnte, in der asketischen Tradition empfohlene, vernünftige Maßhalten (discretio), sondern die klare Absage an die Meinung, solche religiösen Werke seien als solche wertvoll für das Heil. 106 Christlicher Umgang mit dem eigenen Leib sucht der Neigung zur Selbstsucht zu widerstehen und fragt im tätigen Leben nach Gottes Willen. 107 In seiner Geschöpflichkeit lebt der Mensch nicht für sich allein, sondern stets in leiblicher Kommunikation mit anderen Menschen. Deshalb versetzt die Freiheit des Glaubens gegenüber der Macht des Gesetzes in eine vielgestaltige Dienstbarkeit gegenüber dem Nächsten, ist doch im Gebot der Nächstenliebe das ganze Gesetz Gottes zusammengefaßt. 108 Die Nächstenliebe hat es mit jeder Art des Umganges mit anderen Menschen zu tun; die sprachliche Kommunikation gehört genauso dazu wie alles praktisch soziale Handeln. 109 Welche unterschiedliche Gestalt das in christlicher Freiheit geschehende Handeln der Nächstenliebe haben kann, führt Luther für das Feld des kirchlichen Lebens vor Augen, weil hier am dringlichsten das 106
WA 7,59,37–60,38 // 30,11–31,16, v.a. der letzte Abschnitt 60,30–38 // 31,8–16. Innerhalb des in der vorigen Anm. genannten Textes die Passage WA 7,60,25–29 // 31,2–8. 108 Vgl. Luthers Interpretation von Gal 5,14 in der Galater-Vorlesung, 1516/17, bzw. im Galater-Kommentar, 1519, WA 57II,100,5-16 bzw. 2, 575,31–576,6; s.o. Anm. 57. 109 WA 7,64,14–23 // 34,24–28. 107
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reformatorische Freiheitsverständnis 1520 in einer Situation zu bedenken war, als sich noch kein öffentlicher Freiraum für ein Christentum evangelischer Freiheit aufgetan hatte. Beispielhaft ist für Luther die Freiheit, aus der heraus Paulus einerseits an Timotheus die jüdische Beschneidung vornahm (Apg 16,1–3) und andererseits unter anderen Gegebenheiten die Beschneidung des Titus verweigerte (Gal 2,3–5). 110 Dementsprechend soll die reformatorische Freiheit einerseits die Christen, die sich dazu berufen wissen, veranlassen, den Forderungen einer religiösen, angeblich christlichen Gesetzlichkeit entgegenzutreten; andererseits sollen Christen, die sich ihrer christlichen Freiheit bewußt sind, denen gegenüber sich solidarisch verhalten, die die Freiheit des Glaubens von religiöser Gesetzlichkeit noch nicht für sich gewonnen haben. 111 Die verantwortliche Praxis der Nächstenliebe führt zu einem situationsbedingten Prüfen, was für andere notwendig oder nützlich ist. 112 Gegebenenfalls soll ein Christ die Forderung zurückweisen, er hätte um seines Heils willen bestimmte gesetzlich geforderte Werke zu leisten. Wenn er hingegen nicht unter solcher Forderung steht, soll er anderen Menschen mit liebevollem Verhalten entgegenkommen. In ihrem Freiheitsbewußtsein und ihrem praktischen Verwirklichungswillen kann die Ethik der christlichen Nächstenliebe nicht mit den Anforderungen der Moral abgeglichen werden. Im wahren Glaubensbewußtsein weiß sich der Christ in so reichem Maße von der Sorge um sein eigenes Selbst befreit, daß er in seiner Nächstenliebe auch anderen seine Gotteserfahrung zugute kommen lassen möchte und vor Gott sogar des anderen Schuld auf sich zu nehmen bereit ist 113: „En, ista regula, oportet, ut quae ex deo habemus bona fluant ex uno in alium et comunia fiant, ut unus quisque proximum suum induat, et erga eum sic se gerat, ac si ipse esset in loco illius. E Christo fluxerunt et fluunt in nos, qui nos sic induit et pro nobis egit, ac si ipse esset quod nos sumus. E nobis fluunt in eos, qui eis opus habent, adeo ut et fidem et iustitiam meam oporteat coram deo poni pro tegendis 110
„Sihe also mussen gottis gutter fliessen auß eynem yn den andern und gemeyn werden, das ein yglicher sich seynis nehsten also annehm, als were erß selb. Auß Christo fliessen sie yn uns, der sich unser hatt angenommen ynn seynem lebenn, als were er das gewesen, das wir sein. Auß uns sollen sie fliessen yn die, so yr bedurffen, Auch so gar, das ich muß auch meynenn
WA 7,67,7–18 // 36,16–19. Diese Fragen, die in den Anfängen der Reformation so wichtig werden sollten, erörtert er im Anhang zur lateinischen Fassung, wobei er die Funktion von christlichen Zeremonien mit Baugerüsten vergleicht, WA 7,69,26–72,36. 112 WA 7,64,24–27 // 34,29–31. Beachtenswert ist der anschließende Rekurs auf Eph 4,28, ebd. 64,27–37 // (34,31–33 erheblich kürzer). – Wie der Christ in seinem Verhältnis zu anderen Menschen darauf zu achten hat, ob er für die Freiheit seines Glaubens streiten oder ob die praktische Solidarität sein Verhalten bestimmen soll, wird noch einmal im Anhang der lateinischen Fassung ausgeführt, ebd. 70,28–71,14. 113 WA 7,69,1–11 // 37,32–38,5. Vgl. die Übersetzungen bei Rieger s. o. Anm. 48 und in LDStA, Bd. 2, 2006, S.121--185. 111
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et deprecandis proximi peccatis, quae super me accipiam, et ita in eis laborem et serviam, ac si mea propria essent, sic enim Christus nobis fecit.
glaubenn und gerechtickeyt fur meynenn nehsten setzen fur gott, seine sund zu decken, auff mich nehmen und nit anders thun, denn als weren sie meyn eygen, eben wie Christus uns allen than hatt.
Haec est enim vera charitas synceraque Christianae vitae regula. Ibi autem vera et syncera est, ubi vera et syncera fides est. Hinc Apostolus 1 Cor 13 [v.5] Charitati tribuit, quod non quaerit, quae sua sunt.“
Sich das ist die natur der liebe, wo sie warhafftig ist, Da ist sie aber warhafftig, wo der glaub warhafftig ist. Darumb gibt der heylig Apostell der lieb zu eygen 1 Cor 13 [V.5] Das sie nit sucht das yhre, sondern was des nehsten ist.“
3. Biographische Verknüpfung und Begrenzung Wie bereits erwähnt, spricht Luther ganz konkret davon, wie die Nächstenliebe, die von religiöser Gesetzlichkeit befreit ist, sich im Umgang mit anderen Christen bewähren will. Sie verwirft nicht die institutionelle Autorität der Kirche, solange diese nichts verlangt, was dem Willen und dem Wort Gottes widerspricht. 114 Gestützt auf die biblische Freiheitsbotschaft, streitet jedoch der vom Evangelium befreite Christ für die Freiheit des Glaubens; daß nur mit dem Wort für diese Freiheit gestritten werden soll, ist für Luther offenkundig in der Sache begründet und muß deshalb von ihm in der Situation von 1520 nicht ausdrücklich gesagt werden. Im Rückblick von 1520 auf 1517 scheint mir Luthers Freiheitsbewußtsein, das in seiner Namensänderung zum Vorschein kommt, davon erfüllt gewesen zu sein, daß er in der Ablaßfrage nicht nur den akademischen Streit der Lehrmeinung wagen, sondern auch der verantwortlichen kirchlichen Autorität entgegentreten muß, wie er es im lateinischen Anhang des Freiheitstraktates ausspricht. 115 Allerdings war 1517 die Streitfrage noch nicht wie 1520 die christliche Glaubensfreiheit als solche. Inwieweit er dieses Thema bereits im Herbst 1517 hätte theologisch entfalten können, ist ein Problem für sich, das angesichts der gerade für jene Zeit schlechten Quellenlage kaum zu beanworten ist. Etwas anderes halte ich für bemerkenswert: Sowohl die Disputationsthesen „contra scholasticam theologiam“ vom September 1517 als auch die Dokumente der Heidelberger Disputation vom April 1518 bezeugen eine große Nähe zur antipelagianischen Theologie Augustins. 116 Doch im Jahr 114
WA 7,68,7–14 // 37,8–15; vgl. 68,15–19 // 37,16–20. WA 7,70,29–71,1 und 71,15–21. 116 S.o. bei Anm. 15 und 16. 115
Luthers Freiheitsbewußtsein und die Freiheit eines Christenmenschen
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1520 hat Luther in seinem Freiheitsverständnis wie auch in anderen Punkten seiner Theologie ein Stück weit Augustin hinter sich gelassen; das zeigt sich vor allem in seiner distinkten Rede vom Evangelium Christi in der Differenzrelation zum Gesetz. Zugespitzt kann man wohl sagen: In Luthers Theologie hat sich in den Jahren 1517 bis 1520 sein augustinischer Paulinismus zu seinem eigenen, im Vollsinn evangelischen Paulinismus entwickelt. Das geschah im Zuge seiner theologischen Arbeit, bei der seine exegetischen Vorlesungen, Disputationen und Predigten ergänzt wurden durch deutsche und lateinische Traktate. Die theologische Reflexion wurde zweifellos dadurch intensiviert, daß er in der Folge seiner Thesen gegen den Ablaß in Rom wegen häretischer Ansichten angeklagt wurde und sich deswegen in einem kirchlichen Prozeß vor höchster Instanz zu verantworten hatte. Eigentlich ist es nicht verwunderlich, daß Luther in seinem Freiheitstraktat 1520 für die Ethik der Nächstenliebe nur Konkretionen des kirchlichen Lebens zur Sprache bringt, wenn es darum geht, die Freiheit des Evangeliums entweder gegenüber kirchlichen Autoritäten zu vertreten oder in der Solidarität mit anderen Christen zu praktizieren. Was er hingegen in wenigen Zeilen über das Verhältnis des Christen zu anderen Menschen im Feld weltlicher Rechtsgewalt sagt, ist ziemlich allgemein gehalten. Die Perikope Mt 17,24–27 liefert ihm ein Beipiel dafür, daß Christus und seine Jünger nichts von der königlichen Freiheit, die sie aus dem Evangelium schöpfen, preisgeben, indem sie bereitwillig die weltliche Steuerforderung für sich selbst anerkennen. Eine anschließende, äußerst knappe Bemerkung spricht davon, daß anderen Menschen zu dienen sei mit solchem Anerkennen weltlicher Gewalt „aus Liebe und Freiheit“ 117: „Talia sunt, quae et Paulus Ro. 13 [v.1–7] et Tit 3 [v.1] praecepit, ut potestatibus subditi sint, et ad omne opus bonum parati, non ut per hoc iustificentur, cum iam iusti sint ex fide, sed ut in libertate spiritus, per haec aliis et potestatibus servirent, et eorum voluntati gratuita charitate obsequerentur.“
„Auff die weyße gepeut auch S. Paul Ro. 13. [V.1–7] und Tit 3 [V.1] Das sie sollen weltlicher gewalt unterthan und bereyt sein, nit das sie da durch frum werden sollen, sondern das sie den andernn und der ubirkeit da mit frey dieneten, und yhren willen thetten auß lieb und freyheit.“
Das konnte bald nicht mehr genügen, als es dringend notwendig wurde, das Verhältnis des evangelischen Christentums zum weltlichen Rechtsleben genauer zu bestimmen. Auf diesem Feld den Ansatz der reformatorischen Ethik weiter auszubauen, war viel schwieriger als auf dem Feld des kirchlichen Lebens. Luthers Theologie hatte es auf Reform der Kirche abgesehen und wollte im Sinn des Evangeliums das kirchliche Leben von 117
WA 7,67,29–32 // 37,1–4. Die königliche Freiheit des Christen hat Luther vorher der Freiheit des allgemeinen Priestertums an die Seite gestellt, ebd. 56,35–57,23 // 27,17–28,5 und 57,36–58,3 // 28,13–19.
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Reinhard Schwarz
einer als unzuträglich erkannten Gesetzlichkeit befreien, die göttliches Recht für sich reklamierte. Selbst Fragen der kirchlichen Organisation waren für Luther 1520 noch nicht akut. Erst recht war es nicht dringlich zu überlegen, wie mit reformatorischer Theologie die Notwendigkeit weltlichen Gesetzes zu begründen und wie die Verantwortung christlicher Nächstenliebe im weltlichen Rechtsleben wahrzunehmen sei. Ein Jahr später begann Luther während seiner Wartburg-Zeit diese Fragen zu bedenken, denen er dann 1523 seine Schrift „Von weltlicher Obrigkeit …“ widmete. Daß dieser Problemkreis in der Freiheitsschrift nicht erörtert wurde, konnte Mißverständnissen Vorschub leisten, wenn man erstens nicht die wahre religiöse Tiefendimension von Luthers Freiheitsverständnis erkannte und zweitens vielleicht meinte, die Kritik an der kirchlichen Rechtsgewalt könnte ohne weiteres auf die weltliche Rechtsgewalt übertragen werden. Der Intention von Luthers Freiheitstraktat waren also Grenzen gezogen, die auch heutzutage bei der Interpretation beachtet werden müssen. Werden sie beachtet, dann kann erkannt werden, was Luthers damals entwickeltes Freiheitsverständnis für das Gesamtverständnis der christlichen Religion leistet.
„…totum psalterium in usu maneat“ 1 Martin Luther und das Stundengebet Andreas Odenthal 1. Vorbemerkungen zu Fragestellung und Methodik 1.1 Die interesseleitende Fragestellung Fragt man nach den Auseinandersetzungen Luthers mit seiner eigenen monastischen Herkunft und Lebensform 2, darf ein Thema nicht fehlen, nämlich sein Verhältnis zu einer der wichtigsten täglichen Verrichtungen des Mönchs, dem kirchlichen Stundengebet. Doch fällt bei näherem Zusehen auf, daß es sich dabei um ein weitgehend vernachlässigtes Thema sowohl kirchen- wie liturgiegeschichtlicher Forschung handelt. 3 Gerade im Kontext des Abschiedes Luthers vom Mönchtum wurde die Frage nach dieser intensiven monastischen Praxis des täglichen Betens nur selten ge-
1 MARTIN LUTHER, Formula Missae et Communionis (1523), in: WA 12,197–220, hier 219, 19–20. 2 Neben den in den folgenden Fußnoten erwähnten Arbeiten zu Luther und Mönchtum vgl. ULRICH KÖPF, Monastische Traditionen bei Martin Luther, in: CHRISTOPH MARKSCHIES, MICHAEL T ROWITZSCH (Hg.), Luther – zwischen den Zeiten. Eine Jenaer Ringvorlesung. Tübingen 1999, 17–35, hier etwa 20. Köpf geht von einer Kontinuität des monastischen Erbes bei Luther aus, wenn er darauf hinweist, Luther habe nur zögerlich das Mönchsgewand abgelegt und bis zu seinem Lebensende weiter im Wittenberger Augustinereremitenkloster gelebt. Vgl. ULRICH KÖPF, Wurzeln reformatorischen Denkens in der monastischen Theologie Bernhards von Clairvaux, in: ATHINA LEXUTT , VOLKER M ANTEY , VOLKMAR ORTMANN (Hg.), Reformation und Mönchtum. Aspekte eines Verhältnisses über Luther hinaus (Studies in the late Middle Ages, humanism and the reformation 43). Tübingen 2008, 29–56, hier 32–33. 3 Als Ausnahme sei verwiesen etwa auf FRIEDER SCHULZ, Die Ordnung der liturgischen Zeit in den Kirchen der Reformation, in: LJ 32. 1982, 1–24, hier vor allem 18–20; ANGELUS ALBERT HÄUSSLING, Luther und das Stundengebet, in: ANGELUS A. HÄUSSLING OSB, Christliche Identität aus der Liturgie. Theologische und historische Studien zum Gottesdienst der Kirche, hg. von MARTIN KLÖCKENER, BENEDIKT KRANEMANN und MICHAEL B. MERZ (LQF 79). Münster 1997, 231–240.
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Andreas Odenthal
stellt. 4 Dies verwundert insofern, als es um eine Form täglicher Liturgie geht, die allein zeitlich einen großen Teil spätmittelalterlicher religiöser Praxis ausmachte und auch im Zeitalter der Konfessionalisierung keineswegs aufgegeben wurde. 5 Widmet man sich diesem Thema, tun sich zunächst terminologische Schwierigkeiten auf, denn Begriff und Sache des „Stundengebetes“ umfassen folgende Größen: a) Zuerst ist die Offiziumsliturgie der Kloster- oder Stiftskirchen zu nennen, also jene grundsätzlich gesungene, im Chor vollzogene Liturgie, die als reglementiertes Gebetspensum täglich zu verschiedenen Zeiten in ritu4 Es findet sich kein einziger Hinweis auf das Stundengebet bei HANS-M ARTIN BARTH, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung. Gütersloh 2009, ebenso wenig im Sammelband von CHRISTOPH BULTMANN, VOLKER LEPPIN, ANDREAS LINDNER (Hg.), Luther und das monastische Erbe (SMHR 39). Tübingen 2007. Auch bei BERND JASPERT , Mönchtum und Protestantismus. Probleme und Wege der Forschung seit 1877. Band 1: Von Hermann Weingarten bis Heinrich Boehmer (RBS.S 11). St. Ottilien 2005. Band 2: Von Karl Heussi bis Karl Barth (RBS.S 15). St. Ottilien 2006. Band 3: Von Karlmann Beyschlag bis Martin Tetz (RBS.S 19). St. Ottilien 2007, finden sich nur wenige Einträge, bezeichnenderweise zum Thema „Brevier“. Es fällt auf, daß bereits bei BERNHARD LOHSE, Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters. Göttingen 1963, zwar die Mönchsgelübde zur Sprache kommen (etwa 249–254), jedoch kein eigener Abschnitt der Verpflichtung zum Breviergebet gewidmet ist. Die kirchlichen Zeremonien als Werke finden nur gelegentlich Erwähnung (etwa 313, 320–321, 326, 331). Eine Ausnahme bildet JOHANNES BLOCK, Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie. Ein hermeneutischer Beitrag zur Hymnologie am Beispiel Martin Luthers (Mainzer Hymnologische Studien 6). Tübingen, Basel 2002, der (etwa 88–104) das gesungene Wort des Psalters in den monastischen Kontext einbindet und für ein Verstehen Luthers fruchtbar macht. 5 Es wäre eine eigene Untersuchung, die Stellung anderer Reformatoren, etwa Müntzer oder Bugenhagen, zum Offizium zu beleuchten. Vgl. hier etwa die Bemerkungen bei JÜRGEN HEIDRICH, „deütsch oder lateinisch nach bequemigkeit“? Zur Bedeutung der Volkssprache für die protestantische Vesperpraxis des 16. Jahrhunderts, in: KMJ 82. 1998, 7–20, hier 10–12; zu Müntzer im Verhältnis zu Luther vgl. NINNA JØRGENSEN, Hat Luther Müntzers Liturgiereform abgelehnt?, in: ARG 80. 1989, 47–67; zu Melanchthon vgl. HERBERT GOLTZEN, Der tägliche Gottesdienst. Die Geschichte des Tagzeitengebets, seine Ordnung und seine Erneuerung in der Gegenwart, in: KARL FERDINAND M ÜLLER, WALTER BLANKENBURG (Hg.), Leiturgia. Handbuch des Evangelischen Gottesdienstes, Bd. 3: Gestalt und Formen des evangelischen Gottesdienstes II.: Der Predigtgottesdienst und der tägliche Gottesdienst. Kassel 1956, 99–296, hier 198–199, zu Bugenhagen ebd. 199–207; zu Zwingli und seinem Vorschlag zur Änderung des Horengottesdienstes für das Kloster Rüti 1525 vgl. MARTIN BRECHT, Die Reform des Wittenberger Horengottesdienstes und die Entstehung der Zürcher Prophezei, in: Reformiertes Erbe, hg. von HEIKO A. OBERMANN, E RNST SAXER, ALFRED SCHINDLER und HEINZPETER STUCKI (FS Gottfried W. Locher), Bd. 1 (Zwingliana 19,1). Zürich 1992, 49–62, hier 60–61; JOH. P. BOENDERMAKER, Gottesdienst und Gemeinde bei Thomas Müntzer und Martin Luther, in: CHARLES CASPERS, MARC SCHNEIDERS (Hg.), Omnes circumadstantes. Contributions towards a history of the role of the people in the liturgy (FS Herman Wegman). Kampen 1990, 177–188.
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eller Form vollzogen wird und deren Trägergruppe der einzelne Klosteroder Stiftskonvent ist. Dieses Beten ist Liturgie, also Feier, zugleich aber Offizium. Damit ist die Dimension der auferlegten und vom Mönch oder Kanoniker übernommenen Pflicht zum täglich mehrmaligen Beten festgehalten. b) Vom Stundengebet als feierlicher Liturgie ist das Breviergebet des einzelnen Klerikers zu unterscheiden, das er aufgrund seiner Gelübde oder Weihe als Verpflichtung übernommen hat. Es ist für Ordensleute gerade dann geboten, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht am gemeinsamen Chorgebet teilzunehmen vermögen. c) Schließlich gibt es das Stundengebet als Gemeindeliturgie, nämlich immer dann, wenn – etwa am Sonntag – sich eine konkrete Pfarrgemeinde zur Vesper oder sonstigen Gebetszeiten versammelt. 6 Welcher dieser Gruppen man das tägliche Beten zuordnet, wird Konsequenzen für die rituelle Gestalt haben: Feierlich, etwa im Gregorianischen Choral gesungen als Offiziumsliturgie, halblaut privat rezitiert im Breviergebet, eine Mischform zwischen beidem in konkreter Gemeindepraxis. Eine der folgenden Fragerichtungen wird nun die sein, welche der angegebenen Formen Martin Luther selber bis zum Jahre 1520 gekannt und praktiziert hat, und ferner, welche Form des Stundengebetes er nach dem entscheidenden Jahr 1520 selber projektierte, die dann später oft als Nebengottesdienste charakterisiert und behandelt wurde. 7 Es geht zugleich um die Auslotung des Begriffes der horae canonicae, dessen Luther sich über weite Strecken bedient. Damit wird das Stundengebet in das Spannungsfeld von Tradition und Innovation gestellt. Die Untersuchung geht von der Prämisse aus, Luther sei durch seine monastische Praxis wesentlich geprägt worden. Wenn dem so ist, gilt es aufzuzeigen, in welchem Maße und wie Luther zu einer innovativen Veränderung oder aber Ablehnung bisheriger Praxis gefunden hat. Dabei ist von Interesse, welche theologischen Gründe für solche Veränderungen 6
Hier wäre zu fragen, inwieweit Luther durch die Bibelübersetzung und sein Wirken im Hinblick auf die Gebetbücher dazu beitrug, das Stundengebet als Gemeindeliturgie zu etablieren. Daß sich das Stundengebet, etwa in Form von (auch deutschen) Kurzoffizien, vor der Reformation großer Beliebtheit erfreute, zeigen etwa die Stundenbücher im Kontext spätmittelalterlicher Privatfrömmigkeit. Vgl. hierzu den instruktiven Überblick von NIGEL F. PALMER, Tagzeitengedichte, in: VerLex 9. 21995, 577–588. Vgl. auch RUDOLF STEPHAN, Teutsch Antiphonal. Quellen und Studien zur Geschichte des deutschen Chorals im 15. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Gesänge des Breviers (DÖAW.PH Sitzungsberichte 595; Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung 24). Wien 1998. 7 PAUL GRAFF, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands. Bd. I–II. Göttingen2 1937 (Nachdruck Waltrop 1994), hier I, 206–221.
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aufzuspüren sind. Es geht mit diesem Beitrag um die weitere liturgiewissenschaftliche Auslotung des Themas „Liturgiereform“ 8 im ökumenischen Kontext: „Letztlich wird sich die Polarität von Einheit und Verschiedenheit nur als Spannungsverhältnis beschreiben, nicht aber auflösen lassen. Dieses Spannungsverhältnis gilt es auszuhalten und ständig neu zu aktualisieren“, so resümiert Friedrich Lurz seine Überlegungen zu einer Ökumenischen Liturgiewissenschaft. 9 Ein solches Spannungsverhältnis kann nicht nur synchron für die verschiedenartigen Liturgieformen des Christentums diagnostiziert werden, sondern auch diachron im Blick auf die Umgestaltungen liturgischer Traditionen in den jeweiligen Liturgiereformen der Kirchengeschichte. 10 Dies gilt nun auch für die Liturgiereformen im Kontext der lutherischen Reformation, wie sie hier für das Stundengebet beleuchtet werden sollen. 11 Die Untersuchung geht folgende Schritte: Nach einer methodischen Vergewisserung (1.2) wird die Forschungssituation eingeholt (2.), und zwar im Hinblick auf das Stundengebet bei Luther und in den evangelischen Kirchen (2.1), worauf grundlegende Positionen Luthers zu Gebet, Gottesdienst und Musik aus der Forschungsliteratur referiert werden (2.2). Das 3. Kapitel läßt nun Luther selber zur Sprache kommen. Zuerst wird der Bezugshorizont, die spätmittelalterliche Liturgie dargestellt (3.1), worauf dann die schwierige Frage nach Luthers eigenen Erfahrungen mit dem Stundengebet erörtert wird (3.2). Ein eigener Abschnitt gilt dem entscheidenden Jahr 1520, in dem Luther seine Gebetspraxis der „horae canonicae“ nach eigenem Bekunden aufgibt (3.3). Sodann wird ein weiterer Schritt hin zu Luthers Innovationen des Stundengebetes als Gemeindeliturgie getan (3.4). Ein letzter Abschnitt versucht eine Systematisierung der vorgelegten Gedankengänge (4.).
8 Vgl. ANGELUS A. HÄUSSLING, Liturgiereform. Materialien zu einem neuen Thema der Liturgiewissenschaft, in: HÄUSSLING, Identität (wie Anm. 3), 11–45. 9 FRIEDRICH LURZ, Die Feier des Abendmahls nach der Kurpfälzischen Kirchenordnung von 1563. Ein Beitrag zu einer ökumenischen Liturgiewissenschaft (PTHe 38). Stuttgart, Berlin, Köln, 1998, 46. Zur Wissenschaftstheorie einer ökumenischen Liturgiewissenschaft vgl. ebd. 17–47; FRIEDRICH LURZ, Für eine ökumenische Liturgiewissenschaft, in: TThZ 108. 1999, 273–290. 10 Vgl. die Sammelbände MARTIN KLÖCKENER, BENEDIKT KRANEMANN (Hg.), Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes. Teil I: Biblische Modelle und Liturgiereformen von der Frühzeit bis zur Aufklärung (LQF 88/I), Teil II: Liturgiereformen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (LQF 88/II). Münster 2002. 11 Vgl. etwa FRIEDER SCHULZ, Luthers liturgische Reformen. Kontinuität und Innovation, in: ALw 25. 1983, 249–275. REINHARD MESSNER, Reformen des Gottesdienstes in der Wittenberger Reformation, in: KLÖCKENER, KRANEMANN, Liturgiereformen (wie Anm. 10) 1, 381– 416.
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1.2 Methodische Vergewisserung Der Blickpunkt, aus dem die folgenden Gedanken erwachsen, ist der eines katholischen Liturgiehistorikers. Das Interesse an dieser Fragestellung entsteht aus der Wirkungsgeschichte der lutherischen Reformation im Hinblick auf die Liturgie. Denn obwohl Luther selber die „horas canonicas“ im Jahre 1520 aufgab, wurde das Stundengebet in Form der konventualen Offiziumsliturgie wie der Gemeindeliturgie in den Kirchen lutherischer Reformation beibehalten. 12 Dafür mag es mannigfache Gründe geben, die zunächst im institutionsgeschichtlichen Kontext zu suchen sind. Will die weitere Existenz einer Stiftskommunität gewährleistet sein, gehört aufgrund mittelalterlicher Tradition das gemeinsame Beten einfach dazu. Im Kontext der Pfarreien sind es frühe pädagogische Überlegungen: Der tägliche Gottesdienst bietet sich dort an, wo schulische Institutionen mit Pfarreien verbunden sind. Doch bedarf es zugleich der Rückfrage, welchen Sitz in der Theologie Luthers solche (in Bezug auf die Stifte bis weit ins 19. Jahrhundert vorfindliche) Praxis denn habe. Zugleich ist die Frage nach Luthers eigener Erfahrung gestellt. Hier geht es methodisch um den Versuch, Luthers Schriften als Ego-Quelle zu verwenden, um Aufschluß darüber zu erhalten, welche konkrete Praxis er denn selber im Jahre 1520 aufgegeben hat. Damit wird eine Fragestellung kirchen- wie profangeschichtlicher Forschung eingeschlagen, die sich um Auslotung der Innenseite von Erfahrung bemüht. 13 In der Liturgiewissenschaft ist diese Forschungsrich12
Vgl. den Forschungsüberblick bei ANDREAS ODENTHAL, „[…] matutinae, horae, vesperae, completorium maneant…“. Zur Umgestaltung der Offiziumsliturgie in den Kirchen des frühen Luthertums anhand ausgewählter liturgischer Quellen, in: JLH 46. 2007, 89–122, zu Luther hier etwa 94–95, 102–103. – Der Wertung von SCHULZ, Ordnung (wie Anm. 3), 18, es habe sich „noch eine Zeitlang das gereinigte monastische Offizium“ in den evangelisch gewordenen Stiften und Klöstern gehalten, ist doch zu schwach angesichts der Fülle von Zeugnissen für eine tatsächliche Kontinuität der Offiziumsliturgie. Es muß deutlicher unterschieden werden: Die monastische Tradition konnte sich nur kurz, kaum generell in den lutherischen Kirchen beheimaten. Anders ist die Sachlage bei den Stiften: Hier bildete die Stundenliturgie einen der Tragpfeiler der institutionellen Verankerung und somit der weiteren Existenz. Dem enstpricht, daß an liturgischen Quellen Belege für die Umgestaltung stiftischen Offiziums sehr zahlreich, monastischen Offiziums eher selten sind. Als das einzige mir bisher bekannt gewordene Beispiel des letzteren kann die Offiziumsordnung des Benediktinerklosters Berge bei Magdeburg dienen. Vgl. dazu ODENTHAL, Offiziumsliturgie 103–106. 13 Vgl. hier etwa ANDREAS HOLZEM, Bedingungen und Formen religiöser Erfahrung im Katholizismus zwischen Konfessionalisierung und Aufklärung, in: PAUL M ÜNCH (Hg.), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (HZ.B 31). München 2001, 317–332, hier 321: „Die Innenseite der Christentumsgeschichte, die Sicht auf das subjektive Erleben unmittelbaren Gottesbezuges ist durch die Quellen für die allermeisten Kirchenchristen verstellt“. Einen wissenssoziologisch erweiterten historischen Erfahrungsbegriff denkt an ANDREAS HOLZEM, Religiöse Erfahrung auf dem Dorf. Der soziale
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tung mit dem Stichwort „Erlebte Liturgie“ zu versehen. 14 Damit ist eine die Liturgie grundlegend kennzeichnende Spannung bemüht. Es gibt die Liturgie in ihrer offziell normierten Form, wie sie sich etwa in den liturgischen Büchern (in diesem Falle: den Chorbüchern oder dem Brevier) manifestiert. Davon ist indes die Erlebnisseite als Form individueller Rezeption (oder ihrer Verweigerung) abzuheben. Daß aufgrund ihrer individuellen Prägung diese Erlebnisseite stets schwierig einzuholen ist, liegt auf der Hand. Luthers Selbstaussagen über die Erfahrung der „horae canonicae“ werden immer auf ihre konkrete Aussageabsicht hin zu befragen sein, wobei durchaus das literarische Genus berücksichtigt werden muß. 15 Hier geht es um die Frage nach einer Absage an bisherige normierte Praxis der Kirche im Kontext übernommener Gelübde, die Luther durchaus zur Selbststilisierung dienen konnte. Eine andere Perspektive ist die auf Luthers normierende Absicht im Hinblick auf eine Reform des Gottesdienstes. Beide Perspektiven werden die unterschiedlich gewichteten Deutungserfordernisse Luthers in Rechnung stellen. Volker Leppin hat in seiner Biographie über den großen Reformator folgende Blickrichtung vorgeschlagen: „Luther soll auf den folgenden Seiten so lange wie irgend möglich so gelesen werden, als wüßte man nicht, daß sich mit ihm ein Neuaufbruch in Kirche und Gesellschaft, für manche, wohl allzu hoch gegriffen, sogar eine neue Epoche der Weltgeschichte verbindet. Er soll so lange wie möglich als Mensch des späten Mittelalters verstanden werden, der entdeckt, der gelegentlich sogar auch zögerlich entdeckt, der mit seiner Herkunft nicht brechen will – und am Ende wohl auch nicht ganz mit dieser Herkunft bricht“. 16 Diese Blickrichtung soll am Thema Stundengebet insofern erprobt werden, als es darum geht, Luthers eigene Praxis so gut wie möglich zu rekonstruieren, seine Selbststilisierungen aufzuspüren und den kreativen Impuls freizulegen, der zu einer innovativen Praxis führte. Im Hinblick auf das Stundengebet wird also zu prüfen sein, ob es Luther nach zögerlichem Entdecken des Neuen um einen Verzicht auf einen gänzlichen Bruch mit der Tradition ging oder nicht. Das Stundengebet wird so zum Paradigma, unter dem die Biographie Luthers noch einmal angesehen wird, ohne daß diese dadurch ganz beschrieben werden könnte. Zugleich aber geht es dann – über die Biographie hinaus – um systematisch-theologische Grundlagen des Gottesdienstes der lutherischen Reformation. Rahmen religiösen Erlebens im Münsterland der Frühneuzeit, in: Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500–1850. Hg. von NORBERT HAAG, SABINE HOLTZ und WOLFGANG ZIMMERMANN. Stuttgart 2002, 181–205, hier 183–186. 14 Vgl. FRIEDRICH LURZ, Erlebte Liturgie. Autobiografische Schriften als liturgiewissenschaftliche Quellen (Ästhetik – Theologie – Liturgik 28). Münster 2003. 15 VOLKER LEPPIN, Martin Luther. Darmstadt 2006, 39, verwendet in diesem Kontext den für Luther diskussionswürdigen Begriff der „Konvertitenliteratur“. 16 LEPPIN, Luther (wie Anm. 15), 12.
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2. Zur Forschungssituation 2.1 Das Stundengebet des Luthertums als Thema kirchen- wie liturgiegeschichtlicher Forschung Die grundlegende Schwierigkeit der Forschungssituation wurde bereits benannt. Angelus A. Häussling, den man ohne Frage als den besten Kenner der Geschichte des Stundengebetes ansehen darf, warnt im Hinblick auf die lutherische Liturgiereform des Stundengebetes zu Recht: „Eine Gesamtdarstellung, wie die Reformation im ganzen mit dieser Liturgie umging, ist noch nicht geschrieben und wohl auch noch nicht möglich (dieser müßte nach Meinung des Rezensenten erst noch eine Klärung der zutreffenden Fragestellung und der jeweiligen Kontexte vorausgehen)“. 17 Dieses Urteil ist sowohl auf biographische Aspekte Luthers selbst, seinen Umgang mit der überkommenen Normiertheit des Betens wie auf die weiteren Normierungen in den Kirchen der Reformation zu beziehen. Themen der Forschung waren bislang vor allem Luthers Theologie des Gottesdienstes allgemein, 18 die Umgestaltung der mittelalterlichen Messe hin zur lutherischen Abendmahlsliturgie 19 oder die Formen der Ordination. 20 Die schwie17
ANGELUS A. HÄUSSLING, Rez. zu Odenthal, Offiziumsliturgie (wie Anm. 12), in: ALw 49. 2007, 118–119, hier 118. 18 Vgl. hier grundsätzlich immer noch VILMOS VAJTA, Die Theologie des Gottesdienstes bei Luther. Göttingen2 1954. An neueren Darstellungen unter vielen anderen KARLHEINRICH BIERITZ, Daß das Wort im Schwang gehe. Lutherischer Gottesdienst als Überlieferungsund Zeichenprozeß, in: KARL-HEINRICH BIERITZ, Zeichen setzen. Beiträge zu Gottesdienst und Predigt (PTHe 22). Stuttgart, Berlin, Köln 1995, 82–106. KARL-FRIEDRICH WIGGERMANN, Gottesdienst im lutherischen Kontext, in: HANS-CHRISTOPH SCHMIDT -LAUBER, KARL-HEINRICH BIERITZ (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche. Leipzig, Göttingen 1995, 151–161. KARL-HEINRICH BIERITZ, Liturgik. Berlin, New York 2004, bes. 447–474. JOCHEN ARNOLD, Theologie des Gottesdienstes. Eine Verhältnisbestimmung von Liturgie und Dogmatik (VLH 39). Göttingen, 2004, 231–317. Vgl. auch den Überblick bei HANS-CHRISTOPH SCHMIDT-LAUBER, The Lutheran Tradition in the German Lands, in: GEOFFREY WAINWRIGHT, KAREN B. WESTERFIELD TUCKER (Ed.), The Oxford History of Christian Worship. Oxford 2006, 395–421, hier 396–405. 19 Vgl. HANS BERNHARD MEYER, Luther und die Messe. Eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung über das Verhältnis Luthers zum Meßwesen des späten Mittelalters (KKTS 11). Paderborn 1965. EBERHARD GRÖTZINGER, Luther und Zwingli. Die Kritik an der mittelalterlichen Lehre von der Messe – als Wurzel des Abendmahlsstreites (ÖTh 5). Zürich, Köln, Gütersloh 1980. REINHARD MESSNER, Die Meßreform Martin Luthers und die Eucharistie der Alten Kirche. Ein Beitrag zu einer systematischen Liturgiewissenschaft (IThS 25). Innsbruck, Wien 1989. IRMGARD PAHL, Die Feier des Abendmahls in den Kirchen der Reformation, in: HANS BERNHARD MEYER, Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral. Mit einem Beitrag von IRMGARD Pahl (GdK 4). Regensburg 1989, 393–440. Grundlegend zu Luthers Theologie WOLFGANG SIMON, Die Messopfertheologie Martin Luthers. Voraussetzungen, Genese, Gestalt und Rezeption (SuR.NR 22). Tübingen 2003.
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rige Frage nach den theologischen Grundlagen und Wertungen der Offiziumsliturgie bei Luther wurde nur selten und oft nebenbei aufgegriffen. 21 Eine umfassende Untersuchung seiner Stellungnahmen wie auch nur eine vollständige Erfassung fehlen bisher, wenngleich einzelnen Orten und deren liturgischer Praxis sowie manchen lutherischen Liturgica Interesse entgegengebracht wurde und wird. 22 So ist die Beibehaltung des Stundengebetes als feierliches Chorgebet bezeugt für Halberstadt, 23 Havelberg, 24 Magdeburg (Dom und Kloster Berge), 25 Naumburg 26, Brandenburg, 27 Ber-
20 AUGUSTINUS SANDER, Ordinatio Apostolica. Studien zur Ordinationstheologie im Luthertum des 16. Jahrhunderts 1. Georg III. von Anhalt (1507–1553) (IThS 65). Innsbruck, Wien 2004; MARTIN KRARUP, Ordination in Wittenberg. Die Einsetzung in das kirchliche Amt in Kursachsen zur Zeit der Reformation (BHTh 141). Tübingen 2007. 21 Vgl. neben bereits genannten Arbeiten FRIEDRICH ARMKNECHT , Die alte Matutinund Vesper-Ordnung in der evangelisch-lutherischen Kirche nach ihrem Ursprung, ihrer Einrichtung, ihrem Verfall und ihrer Wiederherstellung dargestellt. Ein ConventsVortrag. Göttingen 1856; GOLTZEN, Gottesdienst (wie Anm. 5), 187–198; SCHULZ, Ordnung (wie Anm. 3), 18–19; E RNST WALTER ZEEDEN, Katholische Überlieferungen in den Lutherischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (KLK 17). Münster 1959, etwa 14–20; J. NEIL ALEXANDER, Luther’s Reform of the Daily Office, in: Worship 57. 1983, 348–360; CHRISTIAN MEYER, Vesperarum precum officia. L’office des vêpres à l’époche de la réforme, in: RHPhR 70. 1990, 433–448; INGRID VOGEL, Das Stundengebet, in: HANSCHRISTOPH SCHMIDT-LAUBER, KARL-HEINRICH BIERITZ (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche. Leipzig, Göttingen 1995, 271– 293, hier 281–282; ROLAND ZIEGLER, „Täglich, Herr Gott, wir loben dich“. Zum Tagzeitengebet in der evangelischen Kirche, in: JÜRGEN DIESTELMANN, WOLFGANG SCHILLHAHN (Hg.), Einträchtig lehren. Festschrift für Bischof Dr. Jobst Schöne. Groß Oesingen 1997, 559–575; HEIDRICH, Volkssprache (wie Anm. 5); KARL-HEINRICH BIERITZ, Liturgik. Berlin, New York 2004, 618–624; E RNST KOCH, Fürbitte für die ganze Christenheit. Zur Geschichte des Tagzeitengebetes im deutschsprachigen Raum bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: JLH 45. 2006, 81–102; DANIEL J. GRIMMINGER, Lutherans and Anglicans. Changing Times and the Liturgy of the Hours in Early American Lutheranism, in: AEH 77. 2007, 176–203. 22 Vgl. etwa HILDEGARD T IGGEMANN, Psalterium Davidis. Ein evangelisches lateinisches Brevier (1564) von Paul Eber aus dem Stift Obernkirchen, in: JLH 44. 2005, 42– 62. 23 Vgl. ANDREAS ODENTHAL, Die Ordinatio Cultus Divini et Caeremoniarium des Halberstädter Domes von 1591. Untersuchungen zur Liturgie eines gemischtkonfessionellen Domkapitels nach Einführung der Reformation (LQF 93). Münster 2005 24 Vgl. ANDREAS ODENTHAL (Hg.), Das Vesperale et Matutinale des Havelberger Domdechanten Matthaeus Ludecus. Nachdruck eines lutherischen Offizienbuches von 1589 (Monumenta Liturgica Ecclesiarum Particularium 1). Bonn 2007. Dieses Buch war für den Gebrauch von Pfarreien konzipiert worden, wurde aber im Havelberger Dom in leicht adaptierter Form genutzt. 25 Vgl. ODENTHAL, Offiziumsliturgie (wie Anm. 12), 103–106; 113–117; A. FISCHER, Die Ordnung der evangelischen Gottesdienste in der Metropolitankirche zu Magdeburg zu Anfang des 17. Jahrhunderts, in: GBSLM 7. 1872, 129–146.
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lin, 28 die Damenstifte um Hannover 29 und viele Orte mehr. 30 Von dieser Praxis aus gewinnt die Rückfrage nach Luthers eigener Haltung nochmals an Gewicht. Hier setzen die folgenden Überlegungen an, wobei es nicht möglich ist, die benannte Forschungslücke zu schließen. Es geht eher um die Konturierung weiterer Forschungen, bei denen Luthers eigene disparate Äußerungen zum Offizium systematisch gesammelt und gewertet werden müßten. Im Folgenden werden unterschiedliche Facetten der Haltung Luthers zu den kanonischen Horen aufgezeigt. Dabei steht das entscheidende Jahr 1520, in dem Luther seine eigene Offiziumspraxis aufgibt, mit seinen unterschiedlichen Deutekategorien im Zentrum. Die Disparatheit der Stellungnahmen Luthers soll zum einen aus seinen eigenen biographischen Notwendigkeiten heraus erklärt werden, zum andern aber im Kontext unterschiedlicher Anlässe gesehen werden, so wie die gottesdienstliche Landschaft in den Kirchen der Reformation auch uneinheitlich in Bezug auf Abschaffung, Beibehaltung und Reform des Stundengebetes war. 31 Damit ist Ziel der folgenden Ausführungen, die Vieldimensionalität des Themas anhand Luthers ambivalenter Haltung auszuleuchten, wenn er einerseits die „horas canonicas“ skeptisch bis ablehnend beurteilt, 32 andererseits aber etwa die Sonntagsvesper für Pfarrkirchen wie selbstverständlich projektiert.
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ANDREAS ODENTHAL, Die lutherische Umgestaltung der Offiziumsliturgie im Naumburger Dom. Zum „Psalterium Davidis“ von 1720 und dem „Officium Divinum“ des Antonius Sutorius von 1751, in: JLH 48. 2009, 11–37. 27 Vgl. ODENTHAL, Offiziumsliturgie (wie Anm. 12), 117–119. 28 Vgl. ANDREAS T ACKE, Quellenfunde und Materialien zu Desideraten der Berliner Kirchengeschichte des 16./17. Jahrhunderts. Mit Anmerkungen zu dem Hallenser Vorbild des Kardinal Albrecht von Brandenburg, in: BThZ.ThViat NF 5. 1988, 237–248; NIKOLAUS M ÜLLER , Zur Geschichte des Gottesdienstes der Domkirche zu Berlin in den Jahren 1540–1598, in: JBrKG 2/3. 1905, 337–549, bes. 357–438, der die Ordnung mit der des Stiftes Halle in Beziehung setzt. 29 KATHARINA T ALKNER, „horas mit andacht singen“. Das evangelische Stundengebet in den Calenberger Klöstern (MusikOrte Niedersachsen 1). Hannover 2008. 30 Vgl. hier die Forschungen von NICOLAUS C. HEUTGER, Das Nachleben der alten monastischen und stiftischen Formen in nachreformatorischer Zeit in Niedersachsen. Hildesheim 1961. Zu Heutger vgl. JASPERT , Mönchtum (wie Anm. 4), 3, 272–336. 31 Vgl. hierzu auch die methodischen Bemerkungen bei MESSNER, Meßreform (wie Anm. 19), 18–23. 32 Vgl. GOLTZEN, Gottesdienst (wie Anm. 5), 187–190. Goltzen macht darauf aufmerksam, daß Luthers innige Auslegung des Magnificat wie seine Betonung des Festes Mariä Heimsuchung ohne eine Gebetspraxis des Magnificat kaum zu erklären wäre (ebd. 189–190). Vgl. hier KARL-HEINZ ZUR M ÜHLEN, Luthers Frömmigkeit und die Mystik. Seine Auslegung des „Magnificat“ von 1521, in: KARL-HEINZ ZUR MÜHLEN, Reformatorisches Profil. Studien zum Weg Martin Luthers und der Reformation, hg. von JOHANNES BROSSEDER und ATHINA LEXUTT . Göttingen 1995, 86–100.
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2.2 Gebet, Gottesdienst und Musik: Die Grundlagen lutherischen Denkens Die Frage nach den Grundlagen lutherischen Gottesdienstes ist bislang in der Forschung hauptsächlich ex eventu, aus der Perspektive des späten Luthers beantwortet worden. Dabei kamen Aspekte zur Sprache, die hier deshalb eigens genannt werden sollen, um sie dann im nächsten Absatz in einen biographischen Kontext einzuordnen. Das Thema des Stundengebetes bei Luther gewinnt zunächst an Komplexität, weil es mit seinem Verständnis des Gebetes überhaupt zusammenhängt. 33 Traugott Koch hat in seiner Detailanalyse der Schriften Luthers folgende Prinzipien des Betens herausgestellt: Das rechte unterscheidet sich vom falschen Gebet dadurch, daß der Beter vor Gott seine Sündhaftigkeit bekennt und sich glaubend auf Gottes Zusage und Verheißung verläßt. Bei alledem geht es nicht um viele äußere Worte, sondern um das Beten mit dem Herzen. Ist Anlaß des Gebetes ein besonderes Anliegen, eine konkrete Not, ist darüber hinaus das Gebet Äußerung des Gottesverhältnisses des Menschen und zugleich dessen Vollzug, und zwar im Namen Jesu. 34 „Nach Luther ist das Gebet eine Übung und Stärkung des Glaubens. Aber gerade indem er es so versteht und so als rechtes Gebet bestimmt, versteht er das Gebet immer auch als Einübung einer bestimmten Theologie: eben der seinen, die ihm zufolge rein nur durch die der Hl. Schrift und deren Mitte ist“. 35 Von hierher läßt sich erst adäquat der Reichtum an Gebetsliteratur verstehen, den die Kirchen der Reformation hervorgebracht haben. 36 Denn Luther verwarf die 33
Vgl. hier GUNNAR WERTELIUS, Oratio continua. Das Verhältnis zwischen Glaube und Gebet in der Theologie Martin Luthers (STL 32). Lund 1970, mit Bezug auf die horas canonicas etwa 313; HORST BEINTKER, Die Bedeutung des Gebetes für Theologie und Frömmigkeit unter Berücksichtigung von Luthers Gebetsverständnis, in: NZSTh 6. 1964, 126–153. 34 Vgl. hierzu ausführlich T RAUGOTT KOCH, Johann Habermanns „Betbüchlein“ im Zusammenhang seiner Theologie. Eine Studie zur Gebetsliteratur und zur Theologie des Luthertums im 16. Jahrhundert (BHTh 117). Tübingen 2001, 17–132. – Zum Moment der oratio in der Theologie Luthers vgl. auch HANS JÜRGEN LUIBL, Des Fremden Sprachgestalt. Beobachtungen zum Bedeutungswandel des Gebetes in der Geschichte der Neuzeit (HUTh 30). Tübingen 1993, 3–40; vgl. auch MATTHIAS MIKOTEIT , Theologie und Gebet bei Luther. Untersuchungen zur Psalmenvorlesung 1532–1535 (TBT 124). Berlin, New York 2004, hier den Forschungsüberblick 48–57 (nur sporadische Nennung des Offiziums); OSWALD BAYER, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung. Tübingen 2003, 30–31. 35 KOCH, Betbüchlein (wie Anm. 34), 62. 36 Vgl. hierzu den ausführlichen Überblick bei FRIEDER SCHULZ, Gebetbücher III. Reformations- und Neuzeit, in: TRE 12. 1984, 109–119; FRIEDER SCHULZ, Mit Singen und mit Beten. Forschungen zur christlichen Gebetsliteratur und zum Kirchengesang. Gesammelte Aufsätze mit Nachträgen 1994, hg. von Alexander Völker. Hannover 1995; JOHANNES W ALLMANN, Zwischen Herzensgebet und Gebetbuch. Zur protestantischen deutschen Gebetsliteratur im 17. Jahrhundert, in: FERDINAND VAN INGEN, CORNELIA NIEKUS MOORE (Hg.), Gebetsliteratur der frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktio-
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Gebetbücher traditioneller Art dann, wenn sie zu einem nicht vom Vaterunser oder der Bibel ausgehenden Beten verführten. 37 Diese Prinzipien kann man nun auch auf die Offiziumsliturgie anwenden. „An der zu seiner Zeit vorfindlichen Gebetspraxis hat Luther nicht nur, wie Andere vor ihm, das „Herunterleiern“, das Plappern und Murmeln ohne selbstbeteiligtes Mitbedenken, ohne Mitvollziehen im Herzen kritisiert. Sondern seine Kritik richtet sich insbesondere gegen den „Verdienst“-charakter des Betens, als wirke das Beten als solches oder gar schon durch das bloße Sprechen vorformulierter Gebete etwas Verdienstliches bei Gott oder einen Ablaß, sei es für den Betenden selbst oder stellvertretend für einen Anderen, der das Gebet „bestellt“ hat. Doch darüber hinaus noch verwirft Luther die Anrufung von Heiligen, weil ihr die Vorstellung zugrunde liegt, Gott sei uns als strenger Richter zornig und müsse erst durch das stellvertretende Eintreten der Heiligen, besonders Marias, zum Gnädigsein umgestimmt werden“. 38 Damit ist Luthers Kritik im besten Sinne als radikal einzustufen, denn sie trifft nicht zuerst diese oder jene Ausprägung des Betens, sondern fragt nach der zugrunde liegenden Haltung des betenden Menschen. Reinhard Messner hat auf den großen theologischen Hintergrund der Wittenberger Liturgiereform aufmerksam gemacht, der jene Radikalisierung der Fragestellung verdeutlicht. Luther warnt nämlich vor übereilter Ritenänderung, da das gottesdienstliche Leben der Kirche Teil des endzeitlichen Kampfes sei. Seine Mittel sind Evangelium und Gebet. 39 Der rechte Glaube muß allererst als Voraussetzung einer rechten Änderung der gottesdienstlichen Formen gewährleistet sein. 40 Die eschatologische Freiheit führt dann zur Beibehaltung mancher Traditionen der alten Kirche, und zwar unter der Relation von Verheißung und Glaube. 41 Hier ist allerdings auf die Ambivalenz der Auffassung Luthers hinzuweisen, bei der der „höchste Gottesdienst (…) keineswegs mit den ‚äußeren Dingen‘ des Kultus“ unvereinbar ist. „Meint man mit Kultus einen menschlichen Versuch, nen und Formen in Deutschland und den Niederlanden (Wolfenbütteler Forschungen 92). Wiesbaden 2001, 13–46. Vgl. auch im Kontext einer wie auch immer zu beurteilenden Gesamtdarstellung LUCIAN HÖLSCHER, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland. München 2005, hier etwa 49–67. 37 Vgl. KOCH, Betbüchlein (wie Anm. 34), 131. 38 KOCH, Betbüchlein (wie Anm. 34), 124. 39 Dies zeigt sich etwa in der Bedeutung der Predigt beim täglichen Gottesdienst anstelle der täglichen Messe in der Wittenberger Kirchenordnung von 1533. Vgl. die Wittenberger Kirchenordnung von 1533, in: AEMILIUS L UDWIG RICHTER, Die evangelischen Kirchenordnungen des sechzehnten Jahrhunderts. Urkunden und Regesten zur Geschichte des Rechts und der Verfassung der evangelischen Kirche in Deutschland 1–2. Weimar 1846, Neudruck Nieuwkoop 1967, hier 1, etwa 221. Vgl. hierzu MESSNER, Reformen (wie Anm. 11), 384–391; auch VAJTA, Theologie (wie Anm. 18), 141–149. 40 Vgl. MESSNER, Reformen (wie Anm. 11), 391–398. 41 Vgl. MESSNER, Reformen (wie Anm. 11), 399–416.
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sich gegenüber Gott zu behaupten, so bedeutet Luthers Werk natürlich eine ‚Entkultung‘ eines so verstandenen falschen Gottesdienstes“ 42. Entscheidend ist dabei die Einsicht, „daß die Kritik Luthers an den äußeren Zeremonien nicht in einer Gleichgültigkeit gegenüber den liturgischen Formen gründete, sondern in der Grundeinstellung, daß die Zeremonialgesetze die Gewissen immer durch Werke gefährdeten“. 43 Manfred Josuttis hat die Haltung Luthers zur Liturgie mit folgenden Schlagworten charakterisiert: Der Gottesdienst bei Luther ist antimeritorisch (gegen eine verdienstliche Frömmigkeit gerichtet), antisakramentalistisch (also gegen eine Überbetonung des Sakramentlichen, jedoch nicht antisakramental), antihierarchisch (also sich von einer reinen „Klerusliturgie“ des Mittelalters unterscheidend), antireformistisch (da er die Freiheit des Glaubens wahrt), antispiritualistisch (gegen eine Schwärmerei und ausschließliche Betonung des Wortes), schließlich antisubjektivistisch (es bedarf etwa einer ordentlichen öffentlichen Berufung zum Predigtdienst). 44 Schon jetzt kann vor allem die Ambivalenz benannt werden, daß die lutherische Reformation zwar aufgrund der gleichen Würde aller Getauften eine Klerusliturgie kritisierte, wie sie sich auch in der Form des Offiziums zeitigte, aber kaum Adäquates an ihre Stelle zu setzen vermochte. Nicht nur in den Stiften, auch im gemeindlichen Kontext bleibt das beibehaltene Offizium weitgehend auf musikalische wie theologische Fachleute angewiesen, wie die enge Verflechtung etwa mit dem schulischen System der damaligen Zeit zeigt. 45 Ein weiterer für das Stundengebet relevanter Themenbereich darf nicht unerwähnt bleiben, nämlich die Rolle der Musik, vor allem im Kontext der Psalmenfrömmigkeit Luthers. 46 Hier ist die prägende Funktion des Stun42 VAJTA, Theologie (wie Anm. 18), 26. Daß hier aus neuer religionsphilosophischer Sicht gerade ein falscher Kultbegriff vorliegt, sei nur am Rande erwähnt. Vgl. hierzu ANDREAS ODENTHAL, „Der Kultus als Weltauslegung“. Elemente einer Theorie des Gottesdienstes im religionsphilosophischen Ansatz von Richard Schaeffler, in: ThPh 82. 2007, 351–367. – Zur differenzierten Position in Bezug auf die Verwendung der Bilder vgl. CHRISTOPH WEIMER, Luther, Cranach und die Bilder. Gesetz und Evangelium – Schlüssel zum reformatorischen Bildgebrauch (AzTh 89). Stuttgart 1999. 43 VAJTA, Theologie (wie Anm. 18), 46. – Zum Problem der Adiaphora vgl. GOTTFRIED MARTENS, Die Adiaphora als theologisches Problem. Ansätze zu einer Hermeneutik von FC X, in: LuthBei 5. 2000, 117–127; T HOMAS LENTES, Zwischen Adiaphora und Artefakt. Bildbestreitung in der Reformation, in: REINHARD HOEPS (Hg.), Handbuch der Bildtheologie 1. Bild-Konflikte. Paderborn 2007, 213–240. 44 Vgl. MANFRED JOSUTTIS, Theologie des Gottesdienstes bei Luther, in: FRIEDRICH WINTZER (Hg.), Praktische Theologie. Neukirchen-Vluyn 3 1990, 29–39, hier 30–36. 45 Vgl. die differenzierte Wertung bei ANGELUS ALBERT HÄUSSLING, Brevierreformen im 16. Jahrhundert. Materialien von damals und Erwägungen für morgen, in: HÄUSSLING, Identität (wie Anm. 3), 214–230, hier 221. 46 Vgl. ROBIN A. LEAVER, Luther’s Liturgical Music. Principles and Implications (Lutheran Quarterly Books). Michigan, Cambridge 2007, bes. 173–190; HUBERT GUICHAR-
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dengebetes, das Luther selber vollzogen hat, anzufragen. Denn „… es ist nicht einmal ganz ausgeschlossen, daß Luther, der vom klösterlichen Stundengebet und vom Brevierbeten her mit der Psalmenfrömmigkeit tief vertraut war, zunächst zu diesem Stoff griff“, so Markus Jenny über das neu entstehende Genus der Psalmenlieder. 47 Daß der Psalter als „Wurzelboden des Liedschaffens“ angesprochen werden kann, macht den Zusammenhang zwischen Musikauffassung, Psalmenfrömmigkeit und Stundengebet deutlich. 48 Musik dient der Verkündigung, und die Kritik Luthers greift erst dann, wenn Musik und Gebet diese Funktion nicht mehr erfüllen können. Es ist das Verdienst von Johannes Block, das gesungene Wort des Psalters in seiner Bedeutung für Luther ausgelotet und in den monastischen Kontext gestellt zu haben. 49 Dabei weist er auf, daß Luther sich trotz aller Kritik an der Pflicht der kanonischen Horen zeitlebens mit dem Gregorianischen Choral verbunden fühlte. 50 Sein Lieblingswort aus dem Psalter Non moriar sed vivam (Ps 118,17), zumindest in der Osterliturgie von entscheidender Bedeutung, hat Luther nach Auskunft des Matthaeus Ratzeberger auf der Feste Coburg 1530 an die Wand geschrieben und die gregorianische Intonation im achten Psalmton darüber notiert. 51 Block verweist grundsätzlich auf die in den Dictata super psalterium „mitschwingende liturgische und psalmodische Atmosphäre“. 52 Denn Psalmenbeten im Kontext des mittelalterlichen Chordienstes heißt Singen. In diesen Kontext gehört auch die Beobachtung, daß Luther seine Schrift De captivitate Babylonica mit der ersten Strophe des Vesperhymnus von Epiphanie abschließt, also mit einem Zitat des Stundengebetes 53: ROUSSE, Les musiques de Luther. Préface de Marc Lienhard (HistSoc 31). Genève 1995, 243–259 (zum Kontext schulischer Bildung); CHRISTOPH KRUMMACHER, Musik als praxis pietatis. Zum Selbstverständnis evangelischer Kirchenmusik (Veröffentlichungen zur Liturgik, Hymnologie und theologischen Kirchenmusikforschung 27). Göttingen 1994, 11–40. 47 MARKUS JENNY, Luther, Zwingli, Calvin in ihren Liedern. Zürich 1983, 17. – Vgl. auch GUIDO FUCHS, Psalmdeutung im Lied. Die Interpretation der „Feinde“ bei Nikolaus Selnecker (1530–1592) (Veröffentlichungen zur Liturgik, Hymnologie und theologischen Kirchenmusikforschung 25). Göttingen 1993. 48 BLOCK, Verstehen durch Musik (wie Anm. 4), 83–84. 49 Vgl. BLOCK, Verstehen durch Musik (wie Anm. 4). 50 Vgl. hier auch BERTOLD HÖCKER, Lateinische Gregorianik im Lutherischen Gottesdienst? (Diss.T 69). St. Ottilien 1994, 35–51. 51 Vgl. WA Briefwechsel 5, 638, Anm. 4. Vgl. BLOCK, Verstehen durch Musik (wie Anm. 4), 35, Anm. 61. 52 BLOCK, Verstehen durch Musik (wie Anm. 4), 35. – Vgl. zu den Dictata super Psalterium im Kontext sonstiger Psalmenauslegung (auch des Mittelalters) JACK E. BRUSH, Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Luthers Verständnis des 51. Psalm (HUTh 36). Tübingen 1997, 84–112. 53 Zu den lateinischen Gesängen vgl. auch PATRICE VEIT , Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers. Eine thematische und semantische Untersuchung (VIEG 120). Stuttgart 1986, 52–54.
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Diesen Epiphaniehymnus hat Luther am 12. Dezember 1541 verdeutscht 55: „Was fürchtest du, Feind Herodes, sehr, daß uns geborn kommt Christ der Herr? Er sucht kein sterblich Königreich, der zu uns bringt sein Himmelreich.“ 56
Es ist kaum anders denkbar, als daß der musikalische Luther hier auch die Melodie des aus der Offiziumsliturgie vertrauten Hymnus mitgedacht habe. Inhaltlich ist das Epiphaniemotiv im Kontext seiner Kirchenkritik entscheidend. Es verweist nochmals auf das von Reinhard Messner betonte Motiv des endzeitlichen Kampfes: Das eschatologisch erwartete, an Epiphanie jeweils neu rememorierte Kommen des Herrn ist das entscheidende Kriterium des Christseins und hinterfragt alle auch kirchlichen Machtstrukturen. Bedeutsam ist, daß das Stundengebet hier bei Luther zum theologischen Argument, zum „locus theologicus“ wird. 57 Die eingeholten Wertungen sind, um es nochmals zu betonen, aus der Retrospektive des reformatorischen Schaffens Luthers benannt und geben einen Gesamtblick vom Ende der inneren Prozesse Luthers. Der nun folgende Zugang ist vorsichtiger, es ist der Versuch, dem Prozeß der Veränderungen selbst auf die Spur zu kommen und den jeweiligen Interpretationsbedarf Luthers aufzuspüren, soweit dies aus den Quellen überhaupt noch zu ermitteln ist.
54 WA 6, 573,19–22. Beleg des Hymnus bei GUIDO MARIA DREVES, (ab 24) CLEMENS BLUME, Analecta Hymnica Medii Aevi 1–55. Leipzig 1886–1922, unveränderter Nachdruck Frankfurt am Main 1961, Nr. 12403. 55 So MARKUS JENNY (Hg.), Luthers Geistliche Lieder und Kirchengesänge. Vollständige Neuedition in Ergänzung zu Band 35 der Weimarer Ausgabe (AWA 4). Köln, Wien 1985, 117: „Dies ist das einzige Lied Luthers, von dem man das Entstehungsdatum auf den Tag genau kennt“. – Zu analogen Prozessen vgl. HEIKE WENNEMUTH, Vom lateinischen Hymnus zum deutschen Kirchenlied. Zur Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte von Christe qui lux es et dies (Mainzer hymnologische Studien 7). Tübingen, Basel 2003. 56 Zitiert nach JENNY, Luther (wie Anm. 47), 55, zum ganzen ebd. 55–56; JENNY, Lieder (wie Anm. 55), 302–303 (Nr. 37); vgl. auch ebd. 117–118. 57 Zu den loci theologici vgl. etwa MAX SECKLER, Die Communio-Ekklesiologie, die theologische Methode und die Loci-theologici-Lehre Melchior Canos, in: ThQ 187. 2007, 1–20. Seckler weist darauf hin, daß die Liturgie „heute oft als ein von Cano vergessener locus theologicus angesehen wird“, im Grunde aber in allen loci theologici proprii enthalten sei (ebd. 12).
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3. Luther und das Stundengebet: Der biographische Kontext 3.1 Grundsätzliches zum Verständnis (spät-)mittelalterlicher Liturgie Betrachtet man die Stundenliturgie des späten Mittelalters, so ist aufgrund der eingangs bemühten Unterscheidung von Stifts- und Klosterkonventen einerseits und der Ebene der Pfarreien andererseits Vorsicht geboten. Dabei ist die Pfarrei – ein großes und wichtiges Thema der Historiker 58 – in Bezug auf pfarrlichen Gottesdienst liturgiewissenschaftlich deshalb schwer greifbar, da schriftliche Quellen hauptsächlich aus den großen Institutionen wie Klöstern und Domstiften zur Verfügung stehen. Dort nur gab es das gebildete Fachpersonal, das an einer Weitergabe liturgischer Bräuche Interesse hatte und über die Möglichkeiten schriftlicher Traditionsnormierung verfügte. Und doch prägt das Pfarrleben des späten Mittelalters eine Tendenz, nämlich der Versuch bedeutender Pfarreien, ihren Gottesdienst mit Hilfe von Musikern und angegliederten Schulen dem Reichtum mittelalterlicher Stiftsliturgie anzugleichen. 59 Damit scheint gerade die Liturgie der Stifts- und Klosterkonvente als normgebend auf. Es handelt sich bei der dort vollzogenen Offiziumsliturgie um ein komplexes Gottesdienstsystem, das vom anderen zentralen Bereich der Liturgie, der Messe, nicht getrennt werden kann. 60 Und hier ist ein frömmigkeitsgeschichtliches Moment von besonderer Bedeutung, das seit dem frühen Mittelalter eine eigene Motivation für die Feier der Liturgie zur Verfügung stellt, nämlich das Bewußtsein der eigenen Sündhaftigkeit, das einen besonderen Stellenwert
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Vgl. hier den Überblick bei E NNO BÜNZ, Die mittelalterliche Pfarrei in Deutschland. Neue Forschungstendenzen und -ergebnisse, in: Pfarreien im Mittelalter. Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn im Vergleich. Hg. von NATHALIE KRUPPA. Göttingen 2008, 27–66. 59 Diese Tendenz ist für Köln, St. Kolumba, greifbar bei E DUARD HEGEL, St. Kolumba in Köln. Eine mittelalterliche Großstadtpfarrei in ihrem Werden und Vergehn (SKKG 30). Siegbrug 1996, 216–228. – Daß auch große lutherische Stadtpfarreien ihr Stundengebet in feierlicher Form pflegten, findet sich für Nürnberg etwa bei T HEOBALD SCHREMS, Die Geschichte des Gregorianischen Gesanges in den protestantischen Gottesdiensten. Freiburg (Schweiz) 1930, 113–116; HELMUT S CHATZ, Historische Bilder zum Evangelisch-Lutherischen Gottesdienst. Eine Dokumentation. Ansbach 2004, 66–69; KOCH, Fürbitte (wie Anm. 21), 88. 60 Zum folgenden Rekurs auf das mittelalterliche Messesystem vgl. ausführlich ANDREAS ODENTHAL, „Ante conspectum diuinae maiestatis tuae reus assisto“. Liturgie- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchungen zum „Rheinischen Messordo“ und dessen Beziehungen zur Fuldaer Sakramentartradition, in: ALw 49. 2007, 1–35. – Vgl. in Bezug auf die spätmittelalterliche Messe und ihre Auswirkungen auf die Reformation die Studie von ANNE T. T HAYER, Learning to Worship in the Later Middle Ages: Enacting Symbolism, Fighting the Devil, and Receiving Grace, in: ARG 99. 2008, 36–65 (leider ohne einschlägige neuere liturgiewissenschaftliche Literatur).
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der Buße und der Bußleistung nach sich zieht. 61 Von hierher ist das Stundengebet der Stifts- und Klosterkommunitäten unter dem Blickwinkel der Stellvertretung zu betrachten: Die Mönche und Kanoniker übernehmen kraft ihres Gebetes die Ableistung auferlegter Buße, auch im Kontext der Gebetsverbrüderungen, die einzelne Klöster untereinander eingehen. Das Stundengebet erfährt dabei eine Erweiterung des Pensums in Gestalt von Zusatzoffizien, die die Kommunitäten nun zusätzlich für besondere Anliegen übernehmen. 62 Es geht hier um eine ideelle Verbindung von Büßer und Betendem, die ursprünglich auf das Gebet, näherhin das Stundengebet bezogen ist und später auf die Messe ausgedehnt wird. 63 Arnold Angenendt resümiert: „Der letzte Schritt, der in diesem Bußaustausch vollzogen wurde, bestand darin, daß man in die geistlichen Bußwerke auch die Messfeier miteinbezog“. 64 Der ursprüngliche Gedanke des stellvertretenden Betens mutiert indes immer mehr zu einem gezählten System von Bußkommuta-
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Vgl. im Hiblick auf die Messe etwa ARNOLD ANGENENDT, Missa specialis. Zugleich ein Beitrag zur Entstehung der Privatmessen, in: ARNOLD ANGENENDT, Liturgie im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zum 70. Geburtstag, hg. von Thomas Flammer und Daniel Meyer (Ästhetik – Theologie – Liturgik 35). Münster 22005, 111–190. 62 Daß die Messe zunehmend als Buß- und Gebetsleistung verstanden wurde, zeigt – um nur ein Beispiel zu nennen – der Appendix von 863 zu den Annales Necrologici Fuldenses. A 1049–1057, in: MGH.SS 13. Hannoverae 1881, 161–218, hier 215,45–46: „ut unusquisque illorum singulis annis generaliter pro omnibus vivis 10 psalteria vel 10 missas cantet vel perficiat“. – Vgl. grundsätzlich ALBERT SCHMIDT , Zusätze als Problem des monastischen Stundengebetes im Mittelalter (BGAM 36). Münster 1986. Daß solche Zusatzoffizien auch bei den Augustinereremiten üblich waren, geht aus den 1504 gedruckten Konstitutionen hervor, hier etwa die Angaben zur Zelebration des Triennalkapitels in Cap. 32 mit Nennung etwa des Psalmes 129. Vgl. Constitutiones OESA pro reformatione Alemanniae, bearbeitet von WOLFGANG G ÜNTER, in: JOHANN VON STAUPITZ, Sämtliche Schriften. Abhandlungen, Predigten, Zeugnisse 5: Gutachten und Satzungen, hg. von LOTHAR GRAF ZU DOHNA und RICHARD WETZEL (SuR 17). Berlin, New York 2001, 103–319, hier 249,193. Noch deutlicher wird die Nähe zu den zitierten frühmittelalterlichen Anweisungen, wenn es im 6. Kapitel der Constitutiones heißt: Statuimus etiam, quod quilibet sacerdos pro fratribus, sororibus, familiaribus et benefactoribus defunctis tres missas quolibet anno legat, incipiens circa festum sancti Michaelis, frater vero clericus unum psalterium, concludens quemlibet psalmum cum „Requiem aeternam“, frater autem laicus quingenta „Pater noster“ et in fine cuiuslibet dicat: „Requiem aeternam“ (ebd. 168,14–19). Diese auch in Erfurt zu Luthers Zeiten vorauszusetzende Praxis war also durch und durch mittelalterlich geprägt. 63 Vgl. hier immer noch ANGELUS A. HÄUSSLING, Mönchskonvent und Eucharistiefeier. Eine Studie über die Messe in der abendländischen Klosterliturgie des frühen Mittelalters und zur Geschichte der Meßhäufigkeit (LQF 85). Münster 1973, 202–207. 64 ARNOLD ANGENENDT, GISELA M USCHIOL, Die liturgischen Texte, in: DIETER GEUENICH, UWE L UDWIG (Hg.), Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia (MGH Libri memoriales et necrologia, N.S. 4). Hannover 2000, 28–55, hier 38.
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tionen, auch in Form des Stundengebetes, was Luther etwa in einer Predigt vom 1. November 1545 kritisiert: „Ego et alii sic cogitabant: Si horas 7 dixissem, fecissem opus, quod possem vendere aliis. Non fuit oratio, sed murmur und gesprech. Nesciunt orare“. 65
Damit wird deutlich, wie sehr die gottesdienstliche Praxis, die Luther erlebte, (früh-) mittelalterlich geprägt war. Manches liturgische Erbe im Spätmittelalter konnte nur noch unter dem Stichwort einer „gezählten Frömmigkeit“, kaum mehr in einem liturgietheologisch angemessenen Sinne verstanden werden. Und diese Tendenz betraf auch das Chorgebet. Der Zeitplan liturgischen Betens kann zwar in einem idealen Sinne erstellt werden, so daß die großen Horen (Vigilien/Laudes am Morgen, die Vesper am Abend) die Angelpunkte des liturgischen Tages bilden, die „kleinen Horen“ Prim, Terz, Sext und Non den Tag strukturieren, immer wieder unterbrechen und so zur Heiligung der Zeit beitragen. 66 Doch trat seit dem Hochmittelalter zunehmend die „veritas horarum“, der zeitgerechte Ansatz der Horen in den Hintergrund und wich einer mancherorts dauerhaft betriebenen Kumulation von Horen zu einem Termin. 67 Dies betraf vor allem die kleinen Horen, wobei fast grundsätzlich die Vigilien bereits mit den Laudes verschmolzen waren und nicht mehr als eigenständige Horen erlebt werden konnten. Luther selbst karikiert solche Praxis 1521, in der Schrift „Vom mißbrauch der Messe“: „Szo ist es auch gewißlich des teuffels spil mit S. Severin, der nach seym tode gesagt hatt, das er untreglich peyn leyden mueste: nicht das er wider gotts gebot odder menschen gesetz gesundiget, sundern darumb, das er umb verhinderung mancherley gescheffte die sieben getzeytten am morgen alle auff eynmal nacheynnander, und eyn itzliche nicht tzu gebuerlicher eyngesatzter tzeyt gesprochen hatte. Es ist schande, das der teuffel mit solchen nerrischen kinderwerck die kirche Christi betriegen und verfuren soll …“ 68
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WA 51, 79,9–11. Eine andere Lesart derselben Predigt überliefert: „So doch der gottlos hauff nicht beten konth, ob sie schon den psalter schnatterten wie die gense das haberstro“ (WA 51, 79,31–32). 66 Ein solcher idealer Zeitplan für den Tagesablauf samt der Horenstruktur der Zisterzienser ist rekonstruiert in: Ecclesiastica Officia. Gebräuchebuch der Zisterzienser aus dem 12. Jahrhundert. Lateinischer Text nach den Handschriften Dijon 114, Trient 1711, Ljubljana 31, Paris 4346 und Wolfenbüttel Codex Guelferbytanus 1068. Deutsche Übersetzung, liturgischer Anhang, Fußnoten und Index nach der lateinisch-französischen Ausgabe von DANIÈLE CHOISELET (La Coudre) und PLACIDE VERNET (Cîteaux) übersetzt, bearbeitet und herausgegeben von HERMANN M. HERZOG (Marienstadt) und JOHANNES M ÜLLER (Himmerod) (Quellen und Studien zur Zisterzienserliteratur 8). Langwaden 2003, 20–27. 67 Insofern findet sich bei MARTIN BRECHT, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521. Stuttgart 2 1983, 71, eine idealisierte Darstellung des zeitgerechten Ansatzes der Horen, ebenso bei SIEGFRIED HOTZEL, Luther im Augustinerkloster zu Erfurt 1505 bis 1511. Berlin 2 1971, 19–21. 68 WA 8,533,21–27.
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Luther verurteilt diese Praxis, weil es ja auch eine Zeit lang seine eigene war. Denn das private Gebet des einzelnen Klerikers war ja im Sinne einer Brevierpflicht zu verstehen, die seit dem frühen Mittelalter, nämlich seit der Chrodegangschen Kanonikerregel von 762 besteht. Es geht hier um den Versucht, auch das Leben der Weltkleriker nach monastischem Vorbild zu organisieren. 69 Doch die im späten Mittelalter aus dem Boden sprießenden Druckbreviere machen ex eventu deutlich, daß es mit dieser Brevierpflicht im Sinne eines einheitlichen Betens des Klerus nicht gut bestellt gewesen war: Nun erst, durch das Druckverfahren, bietet sich die gute Möglichkeit einer zumindest diözesanen Vereinheitlichung der Breviere mit erneuter Betonung der Brevierpflicht, auch für den niederen Klerus. 70 Wie anfällig das liturgische System des Spätmittelalters war, wie sehr es innerkirchlich bereits in der Kritik stand, machen unter anderem die Bestimmungen des Konzils von Basel 1435 deutlich. Als Beispiel diene das Havelberger Domkapitel. Dort übernahm man etliche Beschlüsse zur Liturgie der Sessio XXI vom 9. Juni 1435 in die Stiftsstatuten von 1538. 71 Das Konzil verabschiedete Kapitel wie „Quomodo divinum officium in ecclesia celebrandum sit“, „Quo tempore quisque debet esse in choro“, „Qualiter horae canonicae extra chorum dicendae sint“, „De his qui tempore divinorum vagantur per ecclesiam“, „De his qui in missa non complent Credo, vel cantant cantilenas, vel nimis basse missam legunt, aut sine ministro“ und „De tenentibus capitula tempore missae maioris“. 72 Hinzuweisen wäre auf die Mahnung des Konzils, die „laudes divinae per singulas horas non cursim ac festinanter, sed asiatim ac tractim“ zu verrichten. 73 Es geht hier um die auch bei Luther wiederzufindende Kritik an einem veräußerlichten Beten im Sinne des Pensumsgedankens, die es natürlich viele Male gegeben hat. 74 Wenn Luther die konkrete Gebetspraxis 69
Vgl. MARKUS MÜLLER, Officium divinum. Studien zur kodikarisch-rechtlichen Ordnung des kirchlichen Stundengebetes in der lateinischen Kirche (Adnotationes in ius canonicum 42). Frankfurt am Main 2007, 51–52. 70 So ist etwa für Halberstadt das Reformbrevier des Kardinals Albrecht von Brandenburg aus dem Jahre 1515 zu nennen. Vgl. dazu ODENTHAL, Ordinatio (wie Anm. 23), 33– 40. 71 Vgl. ANNETTE KUGLER-SIMMERL, Bischof, Domkapitel und Klöster im Bistum Havelberg 1522–1598. Strukturwandel und Funktionsverlust (Studien zur brandenburgischen Landesgeschichte 1). Berlin 2003, 54. 72 Text in CONCILIORUM OECUMENICORUM DECRETA curantibus Josepho Alberigo, Josepho A. Dossetti, Perikle-P. Joannou, Claudio Leonardi, Paulo Prodi consultante Huberto Jedin. Bologna 3 1973, 489–492. 73 Quomodo divinum officium in ecclesia celebrandum sit, in: CONCILIORUM OECUMENICORUM DECRETA (wie Anm. 72), 489, 32–33. 74 Vgl. etwa Johannes von Wesel bei ADOLPH FRANZ, Die Messe im Deutschen Mittelalter. Beiträge zur Geschichte der Liturgie und des Religiösen Volkslebens. Freiburg i.Br. 1902, Nachdruck Bonn 2003, 311.
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1535 in seiner Schrift „Eine einfältige Weise zu beten für einen guten Freund“ karikiert, dürfte er tatsächlichen Mißbrauch beschreiben, der sich aus dem Pensumsgedanken im Sinne der Einlösung einer Verpflichtung ergibt, wenn er gegen das wahre innere Beten ausgespielt wird: „Was ists anders denn Gott versuchen, wenn das maul plappert und das hertz anders wo zerstrewet ist? wie jener pfaff betet auff die weise: Deus, in adiutorium meum intende, knecht, hastu angespannen, Domine, ad adiuvandum me festina, Magd, gehe, milcke die kue, Gloria patri et filio et spiritui sancto, lauff, bube, das dich der ritt schuette etc. Welcher gebete ich mein tag im Bapstum viel gehoeret und erfaren habe, und sind fast alle ir gebet der art, damit wird Gottes nur gespottet, und were besser, sie spieleten dafur, wenn sie ia nicht bessers thun kuenden oder wollten, Denn ich hab selbs solcher horas Canonicas mein tage viel gebet leider, das der Psalm oder gezeit aus war, ehe ich gewar ward, ob ich angefangen oder im mittel were.“ 75
Daß das Stundengebet – auch als „Offiziumsliturgie“ – dennoch im Spätmittelalter hoch spirituell, ja mystisch erfahren werden konnte, hat Arnold Angenendt in seinen Ausführungen über Heinrich Seuse gezeigt. 76 Seuses mystische Erfahrungen sind eng an das gefeierte Offizium angelehnt. Kann man Luthers Psalmenfrömmigkeit als eine solche subjektive Aneignung objektiver Stundenliturgie werten, die er indes nie eingestehen konnte? 3.2 Luthers eigene Erfahrungen mit dem Offizium im Kontext spätmittelalterlicher Liturgie Von diesen kurz umrissenen Grundlagen ist nun Martin Luther selbst in den Blick zu nehmen, und zwar im Hinblick auf seine eigenen Erfahrungen mit dem Stundengebet während seiner Klosterjahre. Bezüglich des klösterlichen Hintergrundes ist zunächst auf die gewissenhafte Plichterfüllung Luthers hinzuweisen. 77 „Im Verhältnis Luthers zum Stundengebet, mit dem die Tageszeiten in der Woche geheiligt werden, bestand eine schwer auszugleichende Spannung: Einerseits war er geprägt durch die Psalmenfrömmigkeit, in die er als Mönch durch die regelmäßigen Gebetsstunden eingeübt war. Andererseits widersetzte er sich dem gesetzlichen Pensumsgedanken, der Werkfrömmigkeit und der Scheidung der Gläubigen in Priester und Laien“. 78 Diese von Frieder Schulz benannte Spannung trifft 75
WA 38,363,19–29. Vgl. ARNOLD ANGENENDT, Die Liturgie bei Heinrich Seuse, in: ANGENENDT , Liturgie (wie Anm. 61), 333–353. 77 Vgl. DOROTHEA WENDEBOURG, Der gewesene Mönch Martin Luther – Mönchtum und Reformation, in: KuD 52. 2006, 303–327, hier etwa 305. 78 So SCHULZ, Ordnung (wie Anm. 3), 18. Zur Psalmenfrömmigkeit Luthers als Grundlage seines Liedschaffens vgl. auch VEIT, Kirchenlied (wie Anm. 53), 46–52. Zur Auseinandersetzung mit dem Mönchtum vgl. die von JASPERT , Mönchtum (wie Anm. 4), edierte Reihe, hier etwa Band I, 49–67. Nur in Band 2 findet sich bezeichnenderweise ein seltener Hinweis auf das „Brevier“. 76
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für den späten Luther sicherlich zu. Doch wie war das Erleben des Chorgebetes für den jungen Luther während seiner Klosterzeit? Gab es wirklich die bemühte Psalmenfrömmigkeit, und wie sah sie aus? 79 Die entscheidende Frage stellt Ulrich Köpf: „Wie haben der klösterliche Gottesdienst, das regelmäßige Stundengebet und die vorgeschriebenen Andachtsübungen seine persönliche Gebetspraxis, sein Verständnis von Gottesdienst im allgemeinen und von Liturgie im besonderen, aber auch seine Auffassung von worthafter und sakramentaler Existenz und sein Verhältnis zur Bibel geprägt?“ 80 Otto Scheel hat in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Luthers Schulaufenthalt in Magdeburg (1497–1498) hingewiesen. Luther begegnet hier wohl erstmals einem für die spätmittelalterliche Stadt so typischen prunkvollen kirchlichen Leben, besonders in der Liturgie der Domkirche. 81 Daß Luther im Nachhinein keine guten Erinnerungen an den schlechten Chorgesang hat, macht folgendes Zitat deutlich: „Man neme die Chorschueler zu Halberstad und Magdeburg, wenn sie das Quicunque singen, und lasse dafur schreien, Concilium, Concilium. das die Kirche und gewelbe beben. Die koend man ja hoeren, auch weit uber die Elbe, wenn wir gleich alle blind weren, alsdenn were die Kirche wol regirt, Und flugs aus solchen Chorschuelern eitel Bepste, Cardinel und Bisschove gemacht, als die so leichtlich die Kirchen regirn koennen, welchs sonst den Heiligen Vetern zu Rom unmueglich worden ist.“ 82
Der Kontext des Zitates ist der Ruf nach einem Konzil, der in der Kirche des öfteren laut wurde und immer Hand in Hand mit dem Ruf nach Verbesserungen der Liturgie geht. Die Nennung Magdeburgs ist insofern bedeutsam, als die nachreformatorische liturgische Tradition des Magdeburger Domes eine große Traditionsstärke beweist. 83 Wie immer auch es um 79 Es wäre spannend, Luthers Ausführungen zu den Psalmen in die Überlegungen einzubeziehen, gerade im Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal. Zur 1. Psalmenvorlesung im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal vgl. LOHSE, Mönchtum (wie Anm. 4), 227–278. 80 ULRICH KÖPF, Martin Luthers Lebensgang als Mönch, in: Kloster Amelungsborn 1135–1985. Hg. von GERHARD RUHBACH und KURT SCHMIDT -CLAUSEN. Hannover 1985, 187–208, hier 199. 81 Vgl. OTTO SCHEEL, Martin Luther. 1: Auf der Schule und Universität. Tübingen 1916, 66–67; 82–89. 82 MARTIN LUTHER, Von den Konziliis und Kirchen 1539, in: WA 50, 488–653, hier 531,9–15. Das Quicumque vult ist das Symbolum Athanasianum der sonntäglichen Prim. Bereits in der 1. Psamenvorlesung 1513/15 geht es Luther um ein andächtiges Beten „non sicut Chorales halberstadenses“, in: WA 55 I, 294, 17. Vgl. BLOCK, Verstehen durch Musik (wie Anm. 4), 106–107. 83 Zwei Druckwerke sind hier im Kontext des Stundengebetes zu nennen, zum einen das „Enchiridion Geistliker Leder vnde Psalmen“ von 1536 für deutschsprachige Vespern etc., zum andern, nach der Reformation auch des Domstiftes, die „Cantica sacra“ von 1613 für eine traditionsstarke lateinische Liturgie. Vgl. dazu ODENTHAL, Offiziumsliturgie (wie Anm. 12), 113–117.
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die Qualität des Gesanges bestellt gewesen sein mag, es wird deutlich, daß Luther in Magdeburg erste Erfahrungen auch mit der Offiziumsliturgie erhielt und sie durchaus mit ästhetischen Kategorien einordnete. Mit Luthers Eintritt ins Erfurter Augustinerkloster 1505 wird solcher Chordienst zur eigenen täglichen Gebetspraxis. Angelus A. Häussling hat darauf hingewiesen, daß bislang nicht abschließend geklärt ist, welche Form des Offiziums tatsächlich im Erfurter Augustinerkloster geübt wurde. 84 Zunächst ist auf die bereits 1930 von Otto Scheel vorgetragene These hinzuweisen, man habe das Offizium nach dem Brauch der römischen Kurie zelebriert. 85 Denn Innozenz IV. gewährte 1244 den Augustiner Eremiten das Privileg, jenes Breviarium secundum usum romanae curiae zu nutzen: „…Cum igitur perennis obtentu praemii sub Beati Augustini Regula Conditori omnium humiliter famulari et divinum officium secundum Ecclesiae Romanae consuetudinem elegeritis celebrare, Nos vestris precibus favorabiliter annuentes dictam Regulam auctoritate Apostolica devotioni vestrae duximus concedendam. Statuentes, ut vos et successores vestri perpetuis futuris temporibus observetis eandem et officium ipsum secundum praefatam consuetudinem celebretis.“ 86
Bereits der Name „Brevier“ der römischen Kurie verrät, daß hier eine gekürzte (brevis!) Form der Stundenliturgie begegnet. 87 Vielfältige Veränderungsprozesse der Liturgie der römischen Kurie im 13. und 14. Jahrhundert, die hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden können, führten zu 84
HANNS BOHATTA, Bibliographie der Breviere 1501–1850. Stuttgart, Nieuwkoop 21963, 131–133, vermerkt für die Augustinereremiten erst Druckausgaben ab dem 17. Jahrhundert (Nr. 1489–1513, ohne Verweis auf Inkunabeln). Ob also Erfurter Breviere (BOHATTA, Bibliographie 200, Nr. 2223 und 2224) oder gar, wie HÄUSSLING (Luther [wie Anm. 3], 232) in Erwägung zieht, Mainzer Breviere genutzt wurden, bleibt unklar. – Insofern ist auch Otto Hermann Pesch nur mit Vorbehalt zuzustimmen, wenn er davon ausgeht, Luther sei Wort und Sachgehalt von iudicium „täglich im Chorgebet“ begegnet (OTTO HERMANN PESCH, Luther, Martin, Theologe, dt. Reformator, in: LThK 6. 1997, 1129– 1140, hier 1131). – Zur Grundfrage nach einer eigenen Prägung der Erfurter Augustinereremiten vgl. KÖPF, Wurzeln (wie Anm. 2), etwa 31–32. – Zur Erfurter Klosterzeit Luthers vgl. auch ANDREAS LINDNER, Martin Luther im Erfurter Augustinerkloster 1505– 1511, in: LOTHAR SCHMELZ, MICHAEL L UDSCHEID (Hg.), Luthers Erfurter Kloster. Das Augustinerkloster im Spannungsfeld von monastischer Tradition und protestantischem Geist. Erfurt 2005, 59–74. 85 Vgl. OTTO SCHEEL, Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation 2: Im Kloster. Tübingen, 3. und 4. Auflage 1930, 30–31, zum Stundengebet im Erfurter Kloster insgesamt 27–48. Scheel bezieht hier die Ordensstatuten des 16. Jahrhunderts mit ein. 86 So das Privileg Innozenz’ IV. vom 31. März 1244 (Nr. 39):, in: Bullarium Ordinis Eremitarum S. Augustini. Periodus formationis 1187–1256. Hg. von BENIGNUS VAN LUIJK OSA (Cass. 18). Würzburg 1964, 36. 87 Vgl. hier die Textedition: Ordinal of the court of the Roman Church, compiled during the reign of Innocent III (1213–6), in: STEPHEN J.P. VAN DIJK, The ordinal of the papal court from Innocent III to Boniface VIII and related documents. Completed by JOAN HAZELDEN W ALKER (SpicFri 22). Fribourg 1975, 87–478.
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Kürzungen und Veränderungen der reichen Stadtliturgie Roms. Suitbert Bäumer resümiert: „Wenigstens ist das Resultat sicher, daß das Officium der päpstlichen Kapelle in den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts kürzer war als jenes Officium, welches in den übrigen Kirchen Roms gehalten wurde, es war ein Officium Romanum abbreviatum“. 88 Entscheidend ist, daß die Verkürzung der reichen stadtrömischen Stundenliturgie vor allem die vielen rituellen Elemente betraf, die die Liturgie als Feier charakterisierten. 89 Seinen Siegeszug trat dieses neue Brevier dadurch an, daß es der Praktikabilität wegen bald von den Mendikantenorden rezipiert und nochmals kürzend verändert wurde. Was übrig blieb, war dann weniger Liturgie im Sinne einer Feier als vielmehr gerade jener Gedanke des Pensums, der spätmittelalterliche Gottesdienstauffassung prägt. Zurück zum Erfurter Augustinerkloster: Bildete das Breviarium der römischen Kurie, vermittelt durch die Mendikanten, nun die Grundnorm täglichen Betens, bleibt indes unklar, welches Kalendar man dieser Brevierordnung regelnd zugrundelegte, ob man die Ordnung durch Festtage Erfurter oder gar Mainzer Provenienz abgewandelt habe. 90 Daran hängt nun eine für Luther und seine auch aus der Brevierpraxis resultierenden Psalmenfrömmigkeit entscheidende Frage. Zwar regelt das Brevier grundsätzlich die Verteilung aller 150 Psalmen auf die Horen einer Woche. Doch wurde diese Wochenordnung auch wirklich gebetet, die für die „de-ea-Tage“ vorgenommene Verteilung aller 150 Psalmen pro Woche auch wirklich zum erklingenden Gebet? 91 Oder wählte man die vielen Heiligentage, was zu einer Verdrängung der Grundordnung der Psalmenverteilung geführt hätte? Dann hätte man nämlich den Communetexten mit ihrer Psalmauswahl den Vorrang vor dem Wochenpsalter gegeben mit der Konsequenz, daß nur ein bestimmter Pro88 SUITBERT BÄUMER, Geschichte des Breviers. Versuch einer quellenmäßigen Darstellung der Entwicklung des altkirchlichen und des römischen Officiums bis auf unsere Tage. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Freiburg 1895. Mit einer Einleitung und bibliographischen Hinweisen von Angelus A. Häußling OSB. Bonn 2004, 319. 89 Vgl. den Hinweis auf die altrömische Ostervesper bei BÄUMER, Geschichte (wie Anm. 88), 323. – Es ist hier anzumerken, daß gerade die lutherische Offiziumsreform in der Beseitigung ritueller Feierelemente weiter voranschritt, so jedenfalls greifbar für die Liturgie des Halberstädter Domes. Vgl. dazu ODENTHAL, Ordinatio (wie Anm. 23), 61 u.ö. 90 Es scheint sich lediglich ein liturgisches Buch aus dem Erfurter Augustinerkloster erhalten zu haben, nämlich ein Missale Romanum von 1598, vgl. JUN MATSUURA, Restbestände aus der Bibliothek des Erfurter Augustinerklosters zu Luthers Zeit und bisher unbekannte eigenhändige Notizen Luthers, in: Lutheriana 315–332, hier 321. Vgl. auch die ehemals vorhandenen „Statuta provincialia Moguntina“, die eine Anbindung an Mainz nahe legen könnten (ebd. 324). – Zur Bibliothek des Augustiner-Eremitenklosters in Erfurt vgl. auch KATHRIN PAASCH, Die Bibliothek der Augustiner-Eremiten in Erfurt, in: Augustiniana 48. 1998, 345–393. 91 Dies ist problematisiert bei HÄUSSLING, Luther (wie Anm. 3), 232.
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zentsatz an Psalmen zu beten gewesen wäre, dieser aber in gewisser, oftmals bis zum Überdruß führender Regelmäßigkeit. Damit wird der von Angelus Häussling zu Recht bemühte Unterschied zwischen gedrucktem Buch und verlautetem Buchstaben in die Überlegungen über Luthers eigene Brevierpraxis eingeführt. 92 Auch wenn die von Luther verwendeten Liturgica alle 150 Psalmen aufführen, heißt dies noch lange nicht, er habe alle Psalmen aus der Offiziumsliturgie gekannt, gar meditiert. 93 Dann muß die Frage, ob Luther durch Psalmenfrömmigkeit aufgrund des Stundengebetes geprägt war, vorsichtiger angegangen werden. 94 Denn gerade in franziskanischer Veränderung des Breviers der römischen Kurie wird man sagen müssen, „daß, abgesehen von den Lesungen der Matutin, die Verschiedenheit des Neuen und Alten nicht sowohl im Inhalt des Buches (Breviers) lag als vielmehr in dem Mechanismus, um diesen Ausdruck zu gebrauchen, in der verschiedenen Art und Weise seines Gebrauchs oder, wenn wir so sagen dürfen, des praktischen Nichtgebrauchs eines „beträchtlichen Theils“. 95 Und ein solcher Nichtgebrauch könnte auch für Teile des Psalters zutreffen. Ein anderes Moment in Bezug auf Luthers eigene Stundengebetspraxis in der Klosterzeit muß benannt werden. Volker Leppin weist hin auf das Privileg für Lektoren des Ordens, das es ermöglichte, „das Stundengebet auch für sich außerhalb des Chores zu sprechen“. 96 Indes sind die 1504 gedruckten Konstitutionen des Ordens hier differenzierter: „Ad studium particulare conventus unus ultra duos fratres non mittat, sive clerici sint sive sacerdotes. Et illi tentatis lectionibus etiam chorum die noctuque visitent. Concedimus tamen, ut ex laudibus matutinarum exeant sextasque extra chorum dicant. Lectoribus autem et cursoribus concedimus, quod matutinas et completorium una cum sextis extra chorum dicere valeant, ad alias autem horas sine discretione singuli vadant. In festis vero, quando a lectione vacant, omnia ista privilegia cessant.“ 97
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Vgl. HÄUSSLING, Luther (wie Anm. 3), 233. – Diese Feststellung ist nicht unbedeutend im Hinblick auf das von Luther forcierte Prinzip der Mündlichkeit im Hinblick auf deren affektive Kraft. Vgl. BLOCK, Verstehen durch Musik (wie Anm. 4), 80–81. 93 Die eher popularwissenschaftliche Darstellung bei PETER MANNS, Martin Luther. Freiburg i.Br. 1982, räumt (28–30, 50) dem Stundengebet breiten Raum ein und hinterfragt einerseits zu Recht manche polemisch gefärbten Äußerungen Luthers. Doch andererseits wird (allein in Bezug auf den zeitlichen Ansatz der Horen) ein Idealbild des Chorgebetes gezeichnet, das zu Luthers Zeiten eher fiktiv ist. 94 Die Prägung von Luthers Psalmenfrömmigkeit durch Stundengebet auch bei MIKOTEIT, Theologie (wie Anm. 34), 1. 95 So die Wertung bei BÄUMER, Geschichte (wie Anm. 88), 327. 96 LEPPIN, Luther (wie Anm. 15), 42. 97 CONSTITUTIONES (wie Anm. 62), cap. 36,263;15–22. Im Apparat zum Zitat werden übrigens andere abweichende Regelungen der Quellen angegeben. – Diese Quelle müßte auf die konkrete Gottesdiensterfahrhung Luthers systematisch ausgewertet werden.
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Also wird grundsätzlich die Chorpflicht beibehalten, indes für bestimmte Gruppen nur einzelne Horen freigegeben: Matutin, Komplet und Sext. Es verbleiben als Pflicht die Vigilien, Prim, Terz und Non sowie die Vesper. Ist Luther also diesen Konstitutionen gefolgt, modifizieren sich seine Angaben, er hätte die Brevierpflicht eines halben Jahres aufgespart. Es kann sich dabei immer nur um Teile des Stundengebetes gehandelt haben. Von hierher würde sich noch einmal anders einer seiner Aussprüche bei den Tischreden erschließen, der weiter unten noch zur Sprache kommt, indes hier bereits zitiert sei: „,Als ich‘ sprach D. Martin Luther, ‚noch im Kloster ein Mönch war, hatte ich so viel zu schaffen mit Lesen, Schreiben, Predigen und Singen in der Kirche, daß ich dafür meine horas canonicas nicht beten konnte. Darüm wenn ich sie die sechs Tage uber in der Woche nicht beten konnte, so nahm ich den Sonnabend für mich und bliebe ungessen den Mittag und auf den Abend, und betete den ganzen Tag uber. Also waren wir arme geplagte Leute mit den Decretis und Satzungen des Papsts. Davon wissen jzt die jungen Leute nichts‘.“ 98
Was meint Luther hier mit „Singen in der Kirche“? Es könnten die Teile des Stundengebetes gemeint sein, die Luther im Rahmen des gemeinsamen Chorgebetes zu persolvieren hatte, die aber eben viel Zeit in Anspruch nahmen, Zeit, die ihm anderswo fehlte, sei es bei der Privatrezitation der übrigen Horen, sei es bei seiner wissenschaftlichen Arbeit. Mit den „horas canonicas“ aber wären, so diese Interpretation zutrifft, nur die privat zu vollziehende Matutin, Sext und Komplet gemeint. Daß solche Praxis Mühe machte, zeigt folgender Ausschnitt eines Briefes, den Luther am 26. Oktober 1516 aus Wittenberg an den Erfurter Prior Johannes Lang sendet: „Raro mihi integrum tempus est horas persolvendi et celebrandi praeter proprias tentationes cum carne, mundo et Diabolo.“ 99
Wie auch immer: Sicher ist, daß Luther neben dem gesungenen Chordienst das Stundengebet als Breviergebet kannte, das seiner privaten Rezitation auferlegt blieb. 100 Vielleicht ist folgende eher zaudernde Äußerung Luthers ein guter Spiegel authentischer Erfahrung der Offiziumsliturgie des Erfurter Klosters im Spätmittelalter. Unter den Sermonen aus den Jahren 1514 bis 1520 findet sich die Schrift „Theologiae fundamentum“ mit folgender Äußerung: „Sed tamen non reiicio, quae ordinavit ius canonicum, ut horae canonicae cantentur et coenobia ordinentur. Aber es sall nit schlisßen, ut id sit solum opus Dei. Sed omne opus Christiani hominis sall sein ein Dinst Gottes.“ 101
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WA Tischreden 4,654,17–23 (Nr. 5094). WA.B 1,72,11–13 (Nr. 28). 100 Mit „celebrare“ ist in diesem Kontext der Feier der Messe gemeint. 101 WA 4,652,40–653,1. 99
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Hier bestreitet Luther den Sinn der Stundenliturgie nicht völlig, stellt sie aber in den entscheidenden theologischen Kontext, die gesamte christliche Existenz solle ein Dienst Gottes sein. Auch in den „Dictata super Psalterium“ der Jahre 1513–1516 konnte Luther noch eine regelrechte „Kultätiologie“ der „horae canonicae“ vorlegen. 102 Für Psalm 118,164 (Vg.) „Septies in die laudem dixi tibi super iudicia iustitiae tuae“ gibt er folgende Deutung: „‚Septies‘ inquit. Cur hoc? Sine dubio, quia prophetavit ritum istum horarum, qui nunc in Ecclesia celebratur septenarius.“ 103
Diese Kultätiologie könnte sich unter der oben benannten Vorsicht vor allem dann nahelegen, wenn Luther den 118. Psalm aus den kleinen Horen gekannt hat, was die oben erwähnte Notation seiner Lieblingsstelle Non moriar sed vivam inklusive ihrer Vertonung nahelegt. Daß Luther aber eine sinnentleerte Praxis der Horenkumulation seiner Zeit geißelt, zeigt sich in einem Brief Luthers an Spalatin vom 20. August 1519: „Nihil enim ęque metuendum est in cerimonijs statuendis quam ne (ut Apostolus monet) spiritus extinguatur, Meliusque erit, ut interpolatis horis pauca singulis agant, quam si uno tenore omnia absolvent.“ 104
Denn der entscheidende hermeneutische Schlüssel für Luthers Psalmenund Gebetsverständnis ist das Pauluszitat aus 1 Kor 14,15b: „Psallam spiritu, psallam et mente.“ 105 Erneut kritisiert Luther in einem Brief an Spalatin vom 18. Dezember 1519 die Last, die die römische Kurie mit dem Stundengebet den Priestern auflege: „proinde officium tuum a communibus laicorum officiis nihil differt, exceptis oneribus, Quę Ro[mana] Curia sine delectu omnibus sacerdotibus imposuit. […] Sed imcomparabiliter praestantius omnibus tuis sive horis canonicis sive quibuscunque, quę tibi ullus praescribere possit, officiis.“ 106
Hier macht sich jene Tendenz der Auseinandersetzung mit den kirchlichen Gelübden bemerkbar, die zum entscheidenden Wandel im Jahre 1520 führte. Bei Angelus A. Häussling findet sich die Wertung, daß Luther „zeitlebens nie ein einziges gutes Wort für das Chorgebet über die Lippen brachte“ 107. Angesichts der Schwierigkeit, Luthers tatsächliches Beten im Chor 102
In der Neuausgabe von Luthers 1. Psalmenvorlesung findet sich noch der Hinweis: „…et in eadem Ecclesia laudabunt benedicent Psalmis, vt nunc fit et horis Canonicis dominum qui requirent eum“ (WA 55I,200,8–10). 103 WA 4,385,27–28. 104 WA.B 1,504,19–505,21. 105 Vgl. BLOCK, Verstehen durch Musik (wie Anm. 4), 57. 106 WA.B 1,595,35–37;41–42. 107 ANGELUS A. HÄUSSLING, Rez. Benediktinisches Antiphonale, in: ALw 43/44. 2001/02, 104–105, 104.
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und als private Rezitation zu rekonstruieren, wäre folgende von Volker Leppin benannte methodische Vorsicht geboten. Manche der autobiographischen Notizen Luthers müssen im Kontext einer „Literatur, die einen Bruch im Leben, den Klosteraustritt, legitimieren will“, 108 gedeutet werden. Dann aber lägen in den oft polemischen Äußerungen kaum mehr authentische Erfahrungen seiner Klosterzeit vor, sondern Ergebnisse seiner Auseinandersetzungen mit der monastischen Lebensform. 109 Denn es zeigt sich, daß „das geschmähte Chorgebet mit seinen Psalmen, Hymnen und Sequenzen sehr kräftig nachklingt in den Liedern und den liturgischen Texten des Reformators“. 110 3.3 Das entscheidende Jahr: „Unser Herr Gott hatt mich mit gewald ab horis canonicis gerissen anno 1520“ Mit dem Jahre 1520 haben sich maßgebliche Positionen in Luthers Theologie entwickelt, etwa im Hinblick auf seine Auffassung des Mönchtums. 111 Dasselbe Jahr ist für das Thema des Stundengebetes insofern bedeutsam, als Luther damals nach seinem Selbstzeugnis in den Tischreden das Horenbeten aufgab, also ein Jahr, bevor er in „De votis monasticis“ das Mönchsleben generell thematisierte. Mehrere Stellungnahmen Luthers zum Beenden des Horengebetes sind in den Tischreden überliefert, die im Folgenden zur Sprache kommen, weil sie verschiedene Gründe und Selbstdeutungen für das Aufgeben der Stundengebetspraxis überliefern, die durchaus in Spannung zueinander stehen. Gerade so werden aber Luthers Versuche der Selbstdeutung und -stilisierung greifbar, die im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der monastischen Lebensform zu sehen sind. Eine vor 108 LEPPIN, Luther (wie Anm. 15), 39. – Zur prägenden Klosterzeit Luthers vgl. auch KÖPF, Lebensgang (wie Anm. 80). 109 Vgl. VERA CHRISTINA PABST , „[…] quia non habeo aptiora exempla.“ Eine Analyse von Martin Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchtum in seinen Predigten des ersten Jahres nach seiner Rückkehr von der Wartburg 1522/1523 (Rostocker Theologische Studien 18). Hamburg 2007. 110 MANNS, Luther (wie Anm. 93), 50. – Zur Bedeutung des Psalters für Luthers Hymnenschaffen vgl. auch CARL A XEL AURELIUS, Quo verbum dei vel cantu inter populos maneat. The Hymns of Martin Luther, in: The Arts and the Cultural Heritage of Martin Luther. Special Issue of Transfiguration (Nordic Journal for Christianity and the Arts). Copenhagen 2002, 19–34, hier 21–28. 111 Vgl. MESSNER, Meßreform (wie Anm. 19), 21. Vgl. dazu HEINZ-MEINOLF STAMM, Luthers Stellung zum Ordensleben (VIEG 101). Wiesbaden 1980, 19–23. Zur Freiwilligkeit der Gelübde ebd. 23. Zur bleibenden Rolle des Mönchtums für die Reformation in dem Sinne, daß „dem Ernst der monastischen Existenzweise (…) keine Absage erteilt“ wurde, sondern man ihn in sich aufnahm, vgl. BERND MOELLER, Die frühe Reformation in Deutschland als neues Mönchtum, in: BERND MOELLER, Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte. Hg. von JOHANNES SCHILLING. Göttingen 2001, 141–155, Zitat hier 155.
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dem 14. Dezember 1531 zu datierende Äußerung aus Johannes Schlaginhaufens Nachrichten überliefert auch das Jahr, in den Luther das Horenbeten beendete: „Unser Herr Gott hatt mich mit gewald ab horis canonicis gerissen anno 1520, do ich schon uil schreib, und spart oft acht tag mein horas zusamen; auf einen sonabent zalt ich nach einander ab, das ich per totum diem weder aß noch tranck, und schwecht mich also hart, das ich nimmer schlafen kunde, also das man mir Doctor Esch haustum soporiferum must geben, welches ich noch füle in meinem kopf.“ 112
Melanchthon hatte bereits früher als Luther dieses „monastische Erbe“ kritisiert, und zwar gemeinsam mit dem damaligen Theologieprofessor und späteren Bischof von Naumburg Nikolaus von Amsdorf. 113 Martin Jung berichtet nun von der Kritik Melanchthons an Luthers Haltung, nicht wegen der Mühe, sondern wegen der Beharrlichkeit, die Luther an den Tag gelegt habe. Dies aber empfand Luther eher als Lob. 114 Im Frühjahr 1533 findet sich eine ähnliche Bemerkung: „Cum essem monachus, nihil volebam obmittere de precibus. Cum autem urgerer legendo publice et scribendo, sammlet ich mein horas offt ein gantze woch bis auff den sonnabend, je zwo wochen oder drey, das ich mich je drey gantz tag ein sperret vnd nichts ass vnd tranck, bis ich ausgebettet hett. Da war mir der kopff so toll dauon, das ich in funff nachten kein aug zu thett et decumbebam bis auff den todtt vnd kam von sinnen. Cum autem cito convaluissem, wenn ich wolt lesen, so gieng mir der kopff vmb. Also zoch mich vnser Herr Got vi quadam ab illa carnificina orandi. Adeo eram captus. Quare facile ignosco eis, qui 112
WA Tischreden 2,11,5–11. Vgl. MARTIN H. JUNG, Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators (BHTh 102). Tübingen 1998, 52. Zu Nikolaus von Amsdorf vgl. PETER BRUNNER, Nikolaus von Amsdorf als Bischof von Naumburg. Eine Untersuchung zur Gestalt des evangelischen Bischofsamtes in der Reformationszeit (SVRG 179). Gütersloh 1961, 67–69 (zur Amtseinsetzung durch Luther und zur verwendeten Gottesdienstordnung); IRENE DINGEL (Hg.), Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) zwischen Reformation und Politik (LStRLO 9). Leipzig 2008; ROBERT KOLB, Nikolaus von Amsdorf (1483–1565). Popular polemics in the preservation of Luther’s legacy (Bibliotheca Humanistica & Reformatorica 24). Nieuwkoop 1978; vgl. auch die ältere Untersuchung von HANS-ULRICH DELIUS, Der Briefwechsel des Nikolaus von Amsdorf als Bischof von Naumburg (1542–1546). Maschinenschriftliche Habilitation, Leipzig 1968. Auf Amsdorf geht die Schrift zurück „Horas canonicas Jn Kloestern uñ Stifften singen / Vnd gebotene Adiaphora halten / ist eben so wol Abgoetterey / Als die schentlichste Opffermesse“, gedruckt zu Jena 1562. VD 16: A 2374. Exemplar in der Universitätsbibliothek Tübingen, Signatur Gf 18a. Zu dieser Schrift vgl. auch WOLFFRIEDRICH SCHÄUFELE, Kirche Christi und Teufelskirche. Verfall und Kontinuität der Kirche bei Nikolaus von Amsdorf, in: DINGEL, Nikolaus 57–90, hier etwa 70, 76 und 85. Zu Amsdorf als Magdeburger Superintendent vgl. T HOMAS KAUFMANN, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548–1551/2) (BHTh 123). Tübingen 2003, 19–30 u.ö. 114 Vgl. JUNG, Frömmigkeit (wie Anm. 113), 52–53. Dort eine Diskussion der verschiedenen Quellenüberlieferungen der oben zitierten Begebenheit. 113
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non statim huic doctrinae assentiri possunt. Von dem leyden wysst yhr jungen gesellen nichts; es geht mit euch zu, sicut cribitur: Alii laboraverunt, alii intraverunt labores eorum.“ 115
Es ist dasselbe Motiv wie in der ersten zitierten Äußerung: Gott selbst zog mit Gewalt („vi quadam“) von solchem Beten weg. Aus Anton Lauterbachs und Hieronymus Wellers Nachschriften hat sich eine weitere Äußerung von Dezember 1537 erhalten. Hier geht es um die verschiedenen Weisen des Betens, etwa rein „material“ das Brevier zu persolvieren „wie die nonn den psalter gebetet haben“ 116 – das heißt ohne tieferes Nachdenken und Verstehen. Die Berichterstatter fügen an das Aufzählen der vielen Tagestätigkeiten Luthers an: „Deinde recitavit Martinus Lutherus, quomodo initio euangelii illis horis canonicis se macerasset. Cum negotiis occupatus intermisisset, sabbato inclusus septies oravit; tandem negotiis et valetudine impeditus non potuit implere, cumque alii ut Amsdorffius irriderent ipsius precationes, se quoque dimisisse, et maxime ex desperatione: Ingens erat carnificina, unde per euangelium liberati sumus, et si solum hoc beneficium conscientiis contigisset ex libertate christiana, gratiarum actione dignum esset. Nemo enim credit, quantae molestiae in papatu fuerint, nec potest aliter fieri, quin sine spiritu infinitae leges et opera tradantur, sicut liber Rationale divinorum infinita monstra tradit.“ 117
Beachtenwert ist das Motiv der Verzweiflung, das Luther hier benennt: Bei der Auswegslosigkeit seiner Überlastungen vermag das Stundengebet nicht zu entlasten, im Gegenteil: es vergößert die Last und Not. Nur kurz hingewiesen sei hier auf das als Überlieferungsquelle benannte Rationale divinorum officiorum des Durandus von Mende (1230/1–1296), eine der am weitesten verbreiteten Liturgieerklärungen des Mittelalters, die zugleich ein Beispiel mittelalterlicher Verstehenslehre der Liturgie ist.118 Hier geht es um die Ausbildung und Rezeption allegorischer Liturgieerklä-
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WA Tischreden 1,220,9–20 (Nr. 495). WA Tischreden 3,485,25–26. 117 WA Tischreden 3,485,34–486,9 (Nr. 3651). „Darnach fing er, Doctor Martin Luther, an und sagte, ‚wie er sich in der Erste, da das Euangelium angangen wäre, zumartert hätte mit den horis canonicis, die er unterlassen und nicht gesprochen hätte fur vielen Geschäften. Am Sonnabend hätte er sich versperret und in seine Zelle verschlossen, und was er dieselbe Woche uber versäumet, das hätte er erfüllet. Endlich aber wäre er durch Geschäfte und Schwachheit seines Leibes so beschweret und verhindert worden, daß er sie nicht hätte können compliren und erfüllen. Und da die Andern, als Amsdorf, solch Betens lachten und verachten, hätte ers auch lassen fallen, denn es wäre ihm doch nicht möglich gewest zu thun, hätte es also aus Verzweiflung unterlassen“ (WA Tischreden 3,486,32–39). 118 Vgl. hierzu KIRSTIN FAUPEL-DREVS, Vom rechten Gebrauch der Bilder im liturgischen Raum. Mittelalterliche Funktionsbestimmungen bildender Kunst im Rationale divinorum officiorum des Durandus von Mende (1230/1–1296) (SHCT 89). Leiden, Boston, Köln 2000. 116
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rung, die das gesamte Mittelalter prägt. 119 Für Luther rückt solches Denken in dem Maße ferne, wie er sich um das wahre Beten im Geist müht, das nun auf die Worte des gebeteten Psalters zu achten hat, wie sich aus einer in den Nachschriften des Johannes Mathesius vom Juni 1540 erhaltenen Darstellung desselben Sachverhaltes ergibt: „Ego cum essem monachus, eram impeditus multis negotiis legendo, scribendo, cantando etc. ita, ut non possem propter negotia orare horas canonicas. Quare si per sex dies intermisi, sabbatho incoenatus mansi et impransus et oravi totum diem, sed tamen non curavi verba. So waren wir arme leut geplagtt cum decretis pontificum. Dauon wissen die junge leut nichts.“ 120
1542 berichtet Luther davon, er habe einem des Latein nicht sonderlich kundigen Geistlichen abgeraten, die „horas canonicas“ zu beten. Aus seiner eigenen Erfahrung fügt er an: „Ich pflegte auch so hart uber den horis canonicis zu halten […] Ja, ich pflegte wol 14 tage oder vier wochen auff zcu sammeln horas canonicas, wan ich zcu thun hatte, und schutte einen gantzen boden voll; darnach nam ich eine gantze wochen fur mich ader einen tag ader drey und sperret mich in eine kammer, das ich wider tranck noch aeß, bis ich den bodem wol abgebettet hatte. Und balt schutte ich wider einen hauffen auff, das ich ßo lange bette, bis ich todt kranck druber war. Und zcu letzt samlet ich bey eim gantzen virtel jar auff; da wart mirs zcu viel, und ließ gar fallen. […] Was thedt ein Doctor zcu Erffurd in meinem kloster? Der war ein virtel jar wegk, vnd als er wider kam vnd die horae canonicae gar sehre gewachsen warn, das er sie nicht kundt erreichen, nam er zwene zcu sich, den schenckt er etzliche gulden, das sie im hulffen betten, auff das er deste ehe dauon kam. […] Mein prior thets hie auch. Wan er gleich im chor die horas gesungen hatte, gedachte er, wan er mocht etwas außgelassen haben; ßo er in sein zcel kam, hub er an die horas widderumb zu betten. Vnd war also ein molestissimus labor, ein recht carcer vnd purgatorium, da wir innen sein gemartert worden. Da wist ir nichts von.“ 121
Die verschiedenen Aussagen beschreiben jedes Mal dasselbe Phänomen und Luthers Konsequenzen. Luther hat keine Zeit, seine außerhalb des Chordienstes einzuhaltenden Brevierverpflichtung einzulösen und häuft das Gebetspensum als Leistung auf, die er versucht abzuzahlen, bis er schließlich dieses Beten aufgibt. Doch die Deutung des Geschehens in den Selbstaussagen ist unterschiedlich und verändert sich, wobei natürlich in Rechnung gestellt werden muß, daß die Äußerungen durch verschiedene 119 Vgl. hierzu REINHARD MESSNER, Zur Hermeneutik allegorischer Liturgieerklärung in Ost und West, in: ZKTh 115. 1993, 284–319; 415–434. 120 WA Tischreden 4,654,1–6 (Nr. 5094). 121 WA Tischreden 5,137,1–10;15–18;22–27 (Nr. 5428). Derselbe Sachverhalt findet sich auch in der Sammlung B von Anton Lauterbach, leider ohne Datierung, weshalb eine Einordnung in den hier vorgeschlagenen Interpretationduktus kaum gelingen mag. Luther schildert die gegen die Freiheit des Evangeliums gerichteten päpstlichen Zeremonien. Aber man sei es von Jugend auf gewohnt: „…nisi Deus me vi abstraxisset verbo, quod tum praedicabam, nunquam id potuissem“ (WA Tischreden 5,474–475, hier 475,1–2; Nr. 6077). Nun fügt er die Geschichte seines Aufsparens der Horen an.
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Hörerinterpretationen in den einzelnen Nachschriften gefiltert sind. Ist es zum einen der Gewissenskonflikt, nicht mehr den Anforderungen zu genügen, in Verzweiflung überfordert zu sein, so – durchaus in Selbstinszenierung – zum anderen Gottes Eingreifen selbst, das diesen Konflikt löst. Aus theologischen Gründen formt sich diese Wertung jedoch um, und es kommt zu einer Ablehnung der Papstkirche mit ihren menschlichen Satzungen angesichts der Freiheit des Evangeliums; aber dieses Verstehensmodell „konstruiert“ Luther erst im Laufe seiner Entwicklung. 122 In der Fassung von vor Dezember 1531 ist es Gott selbst, der Luther mit Gewalt aus seiner gewohnten Praxis herausgerissen hat, was als Topos ebenfalls 1533 zu finden ist: „vi quadam“ zog Gott Luther von jener „Folterkammer“ (carnificina) des Betens. Das heißt, Luther habe eigentlich so weitermachen, seine Brevierverpflichtung treu einlösen wollen, hätte nicht Gott selbst eingegriffen, weshalb er legitimerweise nun das Horenbeten beendet habe. Der Bericht von 1542 nun stellt den ganz praktischen und subjektiven, nicht mehr den theologischen Grund ins Zentrum: Das Pensum ist Luther zu viel geworden, die Last des normierten täglichen Betens zu groß. Die unterschiedliche Akzentsetzung durch praktisch-konkrete oder theologische Motive könnte sich aus dem Kontext der Äußerungen erschließen. Der ältere Bericht von vor 1531 könnte noch im Zusammenhang mit der damals zehn Jahre früher erschienenen Schrift „De votis monasticis“ von 1521 stehen. 123 Dort nimmt Luther in der Vorrede an seinen Vater zu den Mönchsgelübden als Menschenwerk Stellung, die in seinem Fall vor dem Gehorsamsversprechen den Eltern gegenüber standen. 124 Eigentlich hätte sein Vater ihn vor dem Mönchtum bewahren müssen. Doch es kam anders, und damit der Vater sich nicht rühmen kann, hat Gott selbst ihn nun herausgerissen aus einer falschen Gewissensverpflichtung: „At ne tu glorieris, praevenit te dominus et ipse me extraxit.“ 125
Luther gebraucht hier die seine Handlung legitimierende theologische Formel: „ipse me extraxit“, die er in den Äußerungen der Tischreden über das Breviergebet nun zitiert und ins Deutsche übersetzte: „Unser Herr Gott hatt mich mit gewald ab horis canonicis gerissen anno 1520“. Im Kontext der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit gibt nur ein Eingreifen Gottes selber die Gewissensfreiheit, eine einmal übernommene Verpflichtung abzulegen. Damit schließt sich der Bogen: Die gewaltsame 122 Vgl. LEPPIN, Luther (wie Anm. 15), 45, der auf die Werkgerechtigkeit als eine späte Deutekategorie Luthers hinweist. 123 Dieser Zusammenhang ging mir anläßlich des Vortrages von WOLF-FRIEDRICH SCHÄUFELE auf. Vgl. seinen Beitrag in diesem Band. 124 Zur Besonderheit dieser Widmung an den Vater vgl. WILFRID WERBECK, Martin Luthers Widmungsvorrede zu „De votis monasticis“, in: Luther 62. 1991, 78–89. 125 WA 8,575,24. Ebenso auch Z. 35: „Caeterum is, qui me extraxit …“
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Aktion Gottes korrespondiert dem „von Schrecken und der Furcht vor einem plötzlichen Tode umwallt“ 126 gezwungen abgelegten Mönchsgelübde, wozu auch die Brevierverpflichtung zählt. Beide, die Praxis des gewissenhaften Rezitierens eines auferlegten Gebetspensums wie das bemühte „Eingreifen“ Gottes selbst, zeugen von der Bedeutung der Materie: Die Praxis des täglichen geregelten Betens ist in den zwanziger und dreißiger Jahren ein wichtiges Thema für Luther – auch in seiner Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensform. 127 Wiederum elf Jahre später, 1542, kann Luther die Beendigung des Brevierbetens mit mehr Distanz betrachten: Es ging um eine Plage, die einfach, menschlich betrachtet, für ihn zuviel geworden war und nicht seiner Art des Betens entsprach. Luther kann hier deutlicher, ungeschminkter sagen, was Sache ist. Doch bleibt die theologische Begründung seiner neuen und anderen Weise des Betens nicht außen vor. In den Nachschriften seiner Tischreden durch Johannes Mathesius 1540 findet sich die Frage, warum die lutherische Gebetspraxis so „frigide et raro“ sei. Darauf antwortet Luther: „Diabolus tam ursit nos: Perge, perge! Ille est fortis in suis. At Spiritus Sanctus vocat iam nos et admovet sensum et est frigidior in nobis malis.“ 128 126 WA 8,573,31–574,1: „et ego de coelo terroribus me vocatum assererem, neque enim libens et cupiens fiebam monachus, multo minus vero ventris gratia, sed terrore et agone mortis subitae circumvallatus vovi coactum et necessarium votum“. 127 Daß Luther das Stundengebet als Teil seiner Vergangenheit im Jahre 1531 besonders beschäftigte, zeigt der 1535 gesammelte Kommentar zur im Jahre 1531 gehaltenen Vorlesung über den Galaterbrief. Theologischer Kontext ist die Auseinandersetzung des Paulus im Galaterbrief mit Gesetz und Beschneidung. Beide haben nach Aussage des Galaterbriefes jedwede Heilsbedeutung verloren. Entscheidend ist der Glaube des freien Gewissens. Dies überträgt Luther auf die monastische Praxis: „Sic ego neminem cogo, ut exuat cucullum, cantet 7 horas et halten platten; quid ad nos? Sed sic permitto, modo dicat non necessaria ad iustificationem“ (WA 40 I,160,1–3). Denn es gilt der gnadentheologische Grundsatz: „Igitur neque Monachus per ordinem, neque Sacerdos per missam et horas Canonicas, neque Philosophus per sapientiam, neque Theologus per Theologiam, neque Turca per Alcoranum neque Iudaeus per Mosen iustificatur“ (WA 40 I,244,23–26). Und dann fügt Luther an anderer Stelle der Vorlesung die autobiographische Notiz ein: „Ego 40 iar in monachatu vixi, – et mihi servus similis qui saccos etc.? Et ego orassem canonicas horas? – das macht oculos schel“ (WA 40 I,474,2–4). Eine andere Lesart der Vorlesung lautet so: „Sic hodie Papistae nostri murmurant, dicentes: Quid profuit nos vixisse viginti, triginta, quadraginta annos in Monachatu, vovisse castitatem, paupertatem, obedientiam, legisse horas Canonicas, Missasse, afflixisse corpus ieiuniis, orationibus, castigationibus etc., si maritus, uxor, princeps, consul, praeceptor, discipulus, si mercenarius aut servus portans saccos, si ancilla verrens domum non solum nobis pares, sed etiam meliores ac digniores sunt?“ (WA 40 I,474,14–20). Hier formuliert Luther also die Konsequenz der Gnadenheologie, die das gesamte Gebäude der Werkgerechtigkeit ins Wanken bringe. Von der mit dem Galaterbrief gewonnenen Freiheit kann Luther das viele Lesen des Breviers nur noch spöttisch bewerten: es schade den Augen. 128 WA Tischreden 4,580,12–14 (Nr. 4918).
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Geistgewirktes Beten steht hier der bloßen Erfüllung einer Pflicht gegenüber. Eine dritte Äußerung aus dieser Spätzeit sei noch angefügt. Aus den 40er Jahren des 16. Jahrhunderts datiert folgender, bereits zitierter Ausspruch: „,Als ich‘ sprach D. Martin Luther, ‚noch im Kloster ein Mönch war, hatte ich so viel zu schaffen mit Lesen, Schreiben, Predigen und Singen in der Kirche, daß ich dafür meine horas canonicas nicht beten konnte. Darüm wenn ich sie die sechs Tage uber in der Woche nicht beten konnte, so nahm ich den Sonnabend für mich und bliebe ungessen den Mittag und auf den Abend, und betete den ganzen Tag uber. Also waren wir arme geplagte Leute mit den Decretis und Satzungen des Papsts. Davon wissen jzt die jungen Leute nichts‘.“ 129
Es ist durch die Einfügung „sprach D. Martin Luther“ als ein Zitat aus zweiter Hand deutlich gemacht, nämlich aus den genannten Nachschriften des Mathesius. Im Rückblick vermag das Ablegen der Brevierverpflichtung Luthers Gewissen deshalb nicht mehr zu beunruhigen, als es lediglich um „Decretis und Satzungen des Papsts“ ging. Und doch fügt Luther einen merkwürdigen Satz an: „Davon wissen jetzt die jungen Leute nichts“. Diese Formulierung ist insofern aufschlußreich, als sie anzeigt, wie sehr sich die Welt geändert hat im Vergleich zu Luthers Gewissensnot als Mönch. Die Welt, aus der er einst stammte, gibt es nicht mehr, zumindest nicht in den Kirchen der Reformation. Sein innerer Weg ist deshalb, so könnte man interpretieren, für die jungen Leute kaum nachzuvollziehen, da sie die Ausgangsbedingungen, die Luthers Mönchtum prägten, nicht mehr kennen. 130 Bezieht man die obigen Überlegungen über Luthers eigene Brevierpraxis mit ein, muß nochmals gefragt werden, was Luther im Jahre 1520 eigentlich fallen ließ: Mit Sicherheit das eigene private Brevierbeten im Sinne einer Persolvierung, sicherlich auch den Verpflichtungscharakter des gemeinsamen Chorgebetes, aber nicht unbedingt das gemeinsame geregelte Chorgebet selbst, so es seinem eigenen Verständnis von Gebet nahe kommt. Jung kommt zu dem Schluß: „Luther hat, nachdem er das Horenbeten im strengen Sinne aufgegeben hatte, dennoch am regelmäßigen Psalmenbeten zu fixierten Zeiten festgehalten, also die mönchische Tradition in einem freien, nicht gesetzlichen Stil weiter praktiziert.“ 131 Das Ergebnis des Vergleiches der Berichte über das Aufgeben des Horenbetens 1520 macht Folgendes deutlich: Der erwähnte Zuwachs an Deutungserfordernissen in der Biographie führt zur Interpretation der „horae canonicae“ auf der Grundla129
WA Tischreden 4,654,17–23 (Nr. 5094). Es ist fraglich, was mit dem Singen in der Kirche gemeint ist: Im Sinne der Ordensstatuten das gemeinsame Chorgebet, an dem auch Luther weiterhin hatte teilnehmen müssen, bis auf die den Lektoren zur Privatrezitation überlassenen Horen Matutin, Sext und Komplet. 131 JUNG, Frömmigkeit (wie Anm. 113), 53. 130
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ge der Werkgerechtigkeit, also jener erst im Laufe Luthers eigener Entwicklung ausgebildeten Kategorie, die nun ihrerseits persönliche Erinnerungen rückwirkend überzeichnet. Denn Luther hat ja in Bezug auf die Verdienstlichkeit monastischer Existenz bereits „innerhalb des Klosters den Hinweis bekommen, daß auch das Mönchtum gerade so nicht zu verstehen sei“. 132 Jener Vorgang der Überlagerung des eigenen Erlebens durch theologische Motive war für Luther in den zwanziger und dreißiger Jahren wohl notwendig, um den inneren wie äußeren Prozeß der Auseinandersetzung mit der monastischen Lebensform beziehungsweise dessen Umwandlung zu legitimieren. Hier schafft Luther jene theologische Grundlage, Gott selber habe ihn vom Horenbeten befreit, obgleich er – das ist ja dann zwischen den Zeilen gesagt – selber gerne und selbstredend dabei geblieben wäre. Dieses theologische Argument tritt in den vierziger Jahren in den Tischreden eher zurück zugunsten der Motive seines persönlichen Erlebens: seine Gewissensnot angesichts des für ihn unerträglichen Gebetspensums. Und vor diesem Hintergrund kann das Horenbeten in Luthers Theologie zum Musterbeispiel der Werkgerechtigkeit avancieren 133. Es bleibt eine theologische Einsicht: Das Horenbeten als Pflichterfüllung entsprach nicht Luthers Art des Betens, vielmehr findet er in Abarbeitung an der alten Praxis zu seiner eigenen Form des Gebetes. Wenn Volker Leppin darauf hinweist, daß Luther Stationen seiner Vergangenheit mit Kategorien interpretiert, „die ihm überhaupt erst nach seiner reformatorischen Entwicklung zur Verfügung standen“, 134 so kann ergänzt werden, daß sich manche seiner im Prozeß der Ablösung von der monastischen Lebensform nötigen Deutekategorien mit seiner weiteren Entwicklung nochmals verschieben und modifizieren. Von hierher erscheinen die Entwürfe vom Stundengebet im Gemeindekontext in einem anderen Licht. Man wird dann Folgendes sagen können: Luther projektierte Stundengebetszeiten als Gemeindeliturgie, nicht obwohl er die „horas canonicas“ aufgegeben hatte, sondern weil er über diese Auseinandersetzung mit seinem monastischen 132
LEPPIN, Luther (wie Anm. 15), 78. Ein Beispiel aus vielen anderen sei Luthers Auslegung des 14., 15. und 16. Kapitel des Johannesevangeliums 1538, wobei er den Gedanken des rechten Gottesdienstes wieder aufgreift: „Wie wir bisher inn allen kirchen und Clostern alle stunden soviel gebettet und doch nye nichts erbettet haben, Denn der gnade kunden wir uns nicht zu jm versehen, das wir gewislich erhoret wurden, Dachten nur: Jch mus also beten meine Horas, Rosenkrentze und anders, obs aber Gott gefalle und lust daran habe und mich erhoren wolle, das weis ich nicht, Das ist ja ein elend wesen der welt ausser Christo, da es heisst viel gethan und geerbeitet und doch nichts uberal ausgerichtet, viel gebetet, gesucht und geklopfft und doch nichts erlanget noch gefunden oder geschaffet, Denn sie feilen der rechten thur, denn was sie thun und beten, das thun sie wie sonst ein werck on glawben, haben keinen trost noch zuversicht, ja keinen rechten gedancken, das es Gott gefalle oder sie erhore“ (WA 45,681,1–11). 134 LEPPIN, Luther (wie Anm. 15), 45. 133
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Erbe zu jener für ihn einzig legitimen Form des Betens hingefunden hatte, die eben nicht Folter („carnificina“), sondern Erfahrung der Gnade ist. Bevor Luthers Projekte für das Stundengebet als Gemeindeliturgie vorgestellt werden, sollen noch Äußerungen Luthers aus den frühen zwanziger Jahren in den Kontext der bisherigen Überlegungen gestellt werden. Luther deutet seine Absage an die Horenverpflichtung 1520 – zumindest nachträglich – ähnlich wie die Freiheit den Mönchsgelübden gegenüber als Eingreifen Gottes. Angesichts der Verbindung von beidem verwundert es nicht, daß auch in der Schrift „De votis monasticis“ (1521) das Stundengebet als Offizium Thema wird. Hintergrund ist hierbei das Klosterleben, das auf den Ewigen Gelübden beruht. 135 Luther beschreibt zunächst generell den veräußerlichten Kult, so auch indirekt das Offizium: „Ita iacet quidem verus ille cultus dei, tribus praeceptis primis institutus, et viae Zion lugent, eo quod non sit qui veniat ad solennitatem: in cuius locum illi alium substituerunt sese plane dignissimum, qui est pompa illa cerimoniarum in veste, gestu, cantu, lectionibus, in quibus omnibus nihil fidei neque nominis neque operis est divini, sed omnia sunt humanissima.“ 136
Nicht der Gottesdienst an sich, sondern die Vorschrift hierzu, die indes auf menschlicher Weisung beruht, ist sein Kritikpunkt. Im Anschluß an 1 Kor 14 stellt Luther dann den ursprünglichen Sinn des Gottesdienstes dar, und zwar in seiner dreifachen Gestalt in Form von Schriftlesung, Auslegung und Gebet. 137 Demgegenüber ist die Praxis des Betens, die Luther vorfindet, jedoch die des kirchlichen Offiziums: „Primum aemulantur hodie lectionibus matutinalibus, Epistolis, Euangeliis et singularibus cantibus, Alterum Omiliis, Tertium Responsoriis, Antiphonis, Gradualibus, et quaecunque communiter leguntur vel cantantur, sed infoeliciter omnia. Non enim docendi aut exhortandi, sed operandi tantum studio omnia fiunt. Sic enim legisse, sic cantasse, sic boasse illis satis est. Hoc opus quaeritur et vocatur cultus dei. Quid autem legatur et cantetur, aut cur legatur et cantetur, ne in mentem quidem venit, nec est propheta, qui interpretetur et doceat. Proinde ne sint ociosi in hoc mirabili cultu dei, dedunt sese curae et sollicitudini praelegendi, praecantandi, recte distinguendi, pausandi, terminandi, attendendi, hoc unum spectantes, ut bene, devote et laudabiliter legatur et cantetur“. 138
Luther zählt hier die einzelnen Bestandteile des Stundengebetes auf: die Lesungen des nächtlichen Offiziums, das in die einzelnen Nocturnen mit ihren jeweiligen Lesungen eingeteilt ist. Diese Lesungen sind teils aus der Heiligen Schrift, teils Heiligenviten, teils Kirchenväterhomilien. Sie werden jeweils mit den Responsorien beantwortet. Doch selbst für die biblischen Lesungen gilt, daß sie im Sinne eines Persolvierens des vorgegebe135
Vgl. zu Hintergrund und Aussageabsicht STAMM, Stellung (wie Anm. 111), 49–56. WA 8,621,12–17. 137 Vgl. WA 8,621,17–22. 138 WA 8,621,23–33. 136
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nen Offiziums als Einlösung einer Pflicht vollzogen werden. Sie sind deshalb „unfruchtbar“ („infoeliciter omnia“), da sie nicht der Verkündigung der Frohen Botschaft dienen. Sie bleiben „verba peregrina […] quae nemo intelligat.“ 139
Niemand kann zur Einsicht kommen, da niemand das Wort Gottes auslegt. Ein solcher „murmur in choro“ 140 aber bleibt für Luther sinnlos: „In choro autem boare aut murmurare mandatum non est, imo, cum sit deum tentare et irridere, prohibitum est.“ 141
Luther geht es in der Schrift „De votis monasticis“ keineswegs um die Ordensgelübde als solche, sondern es „soll vielmehr gefragt werden, welche Gelübde fromm, gut und gottgefälltig sind“. 142 Das Gleiche gilt für den Gottesdienst. Die Frage ist folgende: Wann und in welchem Sinne erfüllt er die durch Paulus vorgegebenen Kriterien eines wahren Gottesdienstes, als da sind Schriftlesung, Auslegung und Gebet, und all dies zur Auferbauung der Gemeinde? Deshalb geht seine Kritik auch nicht gegen das Stundengebet an und für sich, sondern seinen Charakter als „Offizium“. Luther beschreibt seine eigne Lebensgeschichte: „Sic in eadem regula voveo statutis horis orare, vestibus, cibis, locis uti. At ubi aegrotavero, ut nihil horum possim, votum non tenetur.“ 143
Hier kommt ein weiteres Argument für das Aufgeben der Brevierverpflichtung hinzu, nämlich das Erkranken über diesem Tun, ein Argument, das bereits in den Tischreden begegnete. Daß das Thema der Horen Luther 1521 und 1522 sehr beschäftigte, zeigen folgende Äußerungen. In einer Predigt zum Sonntag Iudica am 17. März 1521 kommt Luther wieder auf die Horae zu sprechen: „Uber die werck hatt mann andere werck auffgesetzett durch menschenn geboet, mit feyertagen, fasteltagen, kleider tragen, kirch weyhen, horas betten etc. und daruff habenn sie viell regell gemacht. Das sein als allein Menschen geboeth. […] Darumb sollen sulch werck gar frey bleyben, und wir sollens nur darumb brauchenn, das wir dar durch unßeren leyb frume behalten und den negsten dienen, wie gesagt ist.“ 144
Das Argument ist jedes Mal dasselbe: Es handelt sich um menschliche Satzung, die nicht in die Freiheit des Evangeliums führt. In einer Predigt in der Schloßkirche zu Weimar (19.10.1522) wird das Beten der sieben Horen als päpstlicher Gehorsam abgetan: 139
WA 8,622,6. WA 8,625,28. 141 WA 8,626,31–33, ähnlich WA 8, 628,14–15 und 651,9–19. 142 STAMM, Stellung (wie Anm. 111), 49. 143 WA 8,633,10–12. 144 WA 9,613,1–4;9–12. 140
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„Ein pfaff der hat ein gebott, von gott nicht, suendern vom Bapst, als die Septem horas betten, fasten die langen fasten, das und diß thun: er hengt dem mer an, des Bapsts gehorsam zu erfuellen, dan das er das zu lieb Cristo thutt, Er ließ er seinen nechsten hunger und nott leyden.“ 145
Eine Woche später greift Luther diesen Gedanken wiederum bei einer Predigt in der Schloßkirche zu Weimar (24.10.1522) auf und verdeutlicht ihn. Es geht nicht um die Liebe zu Christus, sondern letztlich um eine Fehlform des Gebetes, weil das Herz nicht mit dem Munde zusammenklingt: „Die nun also vil Rosenkrencz, horas Canonicas betten, die maledeyen got, Dan mit dem mundt betten die selben uemb das reich gottes, Aber ir hercz ist weit darvon.“ 146
Dieses Zitat ist insofern bemerkenswert, als die Unterscheidung von Herz und Mund (Stimme) – neben dem biblischen Fundament des Jesajazitates Jes 29,13 in Mt 15,8 – einen bereits in der Benediktsregel formulierten Grundsatz des Chorgebetes aufgreift. Zum Abschluß seiner Ordnung über das Psallieren schreibt Benedikt: „Ergo consideremus, qualiter oporteat in conspectu divinitatis et angelorum eius esse, et sic stemus ad psallendum, ut mens nostra concordet voci nostrae.“ 147
An der Heiligen Schrift orientiertes Beten, aber – so muß hinzugefügt werden – auch ein an der Benediktsregel orientiertes Beten kann nie nur bloßes Werk der Lippen sein. Nun räumt Benedikt im 18. Kapitel seiner Regel ein, wenn jemand eine bessere Psalmenordnung wüßte, stelle er eine andere auf. 148 In diesem Sinne ist nun ein nächster Schritt zu tun, nämlich hin zu Luthers eigener Neuordnung des Stundengebetes, wie sie sich in den Gottesdienstordnungen des Jahres 1523 manifestiert. 3.4 Die Prospektive: Stundengebet als „Lernzeiten der Gemeinde“ Der Kontrast fällt auf: In seiner Predigt am Mittwoch nach Matthiä, dem 25.2.1523, urteilt Luther, wenn man die religiösen Menschen nach dem Sinn ihres Tuns befrage, wüßten sie keine Antwort. Deshalb gelte: 145
WA 10 III,344,3–7. WA 10 III,378,11–13. 147 Regula Benedicti. Die Benediktsregel lateinisch / deutsch. Hg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz. Beuron 1992, cap. XIX,6–7 (136). 148 Regula Benedicti (wie Anm. 147), cap. XVIII,22 (134): „Hoc praecipue commonentes, ut, sic cui forte haec distributio psalmorum displicuerit, ordinet, si melius aliter iudicaverit…“ – Es soll hier natürlich nicht behauptet werden, Luther habe diesen Vers zum Anlaß seiner Neuordnung genommen, sondern lediglich auf den Spielraum aufmerksam gemacht werden, den die (benediktinische) Tradition bereits vorsieht. Daß dieser Spielraum in der benediktinischen Tradition erst spät ausgenützt worden ist, zeigt GEORG BRAULIK, Psalmen beten mit dem Benediktinischen Antiphonale. Norbert Lohfink SJ zum 80. Geburtstag, in: LJ 59. 2009, 3–39. 146
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„Nihil praecipiendum in ecclesia, nisi sit mandatum in Euangelio. Patitur quidem, ut teneas septem horas, ut non habeas opinionem opus bonum esse. Tunc obiiciunt ‚ergo totus ordo ecclesiasticus errat‘.“ 149
Aber im gleichen Jahr 1523 kann Luther wie selbstverständlich in seiner Schrift „Von ordnung Gottesdiensts in der Gemeine“ nicht nur einzelne Horen als Teil der Gemeindeliturgie beschreiben. 150 Vielmehr hat Martin Brecht darauf aufmerksam gemacht, daß die Umbildung des Horengottesdienstes zum Hauptthema wird. 151 Es handelt sich bei Luthers Kritik der Horen einerseits und der Neuprojektierung des Stundengebetes andererseits nur um einen vermeintlichen Gegensatz, denn Luther entwickelt gerade anhand der Kritik der Stundengebetspraxis seiner Zeit sein eigenes Gottesdienstverständnis, das das Stundengebet im Gemeindekontext prägen soll. Brecht weist auf die drei Kritikpunkte Luthers an der bisherigen Gottesdienstpraxis und so auch Form des Stundengebetes hin: a) Man habe nur gelesen und gesungen, aber eine Wortverkündigung und -auslegung im eigentlichen Sinne habe es nicht gegeben; b) Unchristliche Fabeln seien in den Gottesdienst eingedrungen; c) Das Ganze sei zum verdienstlichen Werk auf Kosten des Glaubens geworden. 152 Positiv gewendet sind damit die drei Kriterien des Stundengebetes im lutherischen Verständnis benannt: a) Jede Form des Stundengebetes bedarf der Schriftauslegung; b) Textliche Grundlage des Stundengebetes muß die Heilige Schrift sein; c) Ein solcher Gottesdienst ist im Geiste evangelischer Freiheit zu vollziehen und nicht unter einem zu absolvierenden Pensum im Sinne religiöser Leistung. So projektiert denn Luther zunächst das tägliche Gebet der Gemeinde, bei dem man sehr wohl „der psalmen und ettlicher gutten Responsoria, An149
WA 11,34,21–24. Ein Vergleich der Formula missae von 1523 mit der Deutschen Messe von 1526 findet sich etwa bei OTTFRIED JORDAHN, Martin Luthers Kritik an der Messliturgie seiner Zeit, in: ALw 26. 1984, 1–17; ADOLF BOËS, Die reformatorischen Gottesdienste in der Wittenberger Pfarrkirche von 1523 an und die „Ordenung der gesenge der Wittembergischen Kirchen“ von 1543/44, in: JLH 4. 1958/59, 1–40; 6. 1961, 49–61, 4–11; CHRISTIAN GRETHLEIN, Grundfragen der Liturgik. Ein Studienbuch zur zeitgemäßen Gottesdienstgestaltung. Gütersloh 2001, 94–95. Vgl. MESSNER, Meßrefom (wie Anm. 19), 190–202. Vgl. GOLTZEN, Gottesdienst (wie Anm. 5), 191–195. Goltzen macht (ebd. 193) darauf aufmerksam, eine verbindende Ordnung sei allerdings immer mehr aufgelöst worden. Vgl. auch BRECHT, Reform (wie Anm. 5), 51–55; BIERITZ, Liturgik (wie Anm. 18), 619– 622. 151 Vgl. BRECHT, Reform (wie Anm. 5), 51. 152 Vgl. WA 12,35,10–18. Vgl. BRECHT , Reform (wie Anm. 5), 51. 150
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tiphon“ 153 gebrauchen kann. Vom werktäglichen Gottesdienst unterscheidet sich nun der Sonntag: „Des sontags aber soll solch versamlung fur die gantzen gemeyne geschehen [...] und da selbs, wie biß her gewonet, Messz und Vesper singen [...]. Die teglichen messen sollen abseyn allerdinge, denn es am wort, und nicht an der messen ligt [...]. Das gesenge ynn den sontags messen und vesper las man bleyben, denn sie sind fast gutt und aus der schrifft getzogen, doch mag mans wenigern odder mehren. Aber das gesenge und psalmen teglich des morgens und abents zu stellen soll des pfarrers und predigers ampt seyn, das sie auff eyn iglichen morgen eyn psalmen, eyn feyn Responsorion odder Antiphen mit eyner Collecten ordenen. Des abents auch alßo, nach der Lection und auslegung offentlich zu lesen und zusingen. Aber die Antiphen und Responsoria und Collecten, legenden von den heyligen und vom creutz, laß man noch eyn tzeyt stille ligen, bis sie gefegt werden, denn es ist greulich viel unflatts drynnen.“ 154
Die eingangs vorgenommene Differenzierung des Begriffes „Stundengebet“ paßt sich hier gut ein und bietet einen Schlüssel für Luthers differenzierende Position: Stundengebet ist sinnvoll und nützlich, wenn es als Gemeindeliturgie im Kontext der Verkündigung des Evangeliums dient, problematisch, wenn es als Chorgebet lediglich den Klerikern vorbehalten bleibt, es wird zur „Folterkammer“ (um diesen Begriff aus Luthers Tischreden über das Jahr 1520 aufzugreifen), wenn es vom einzelnen Kleriker als Pensum lediglich zu persolvieren ist. 155 Die Gottesdienstordnung der Pfarrei soll vom Stundengebet geprägt sein, aber eben unter anderen Vorzeichen als im Kloster mit seinen von Menschen gemachten Gewissenszwängen: „Das Herzstück ist die volkssprachliche Auslegung des biblischen Textes; das Gebet kommt hinzu“, so Martin Brecht. 156 Doch kann diese Deutung um die Überlegung erweitert werden, welches Gebet hinzukommt: Es ist der Psalter, also durch und durch biblisches Beten, das damit selbst wieder Wortverkündigung ist und also Herzstück wird. Wie auch immer: Der tägliche Gottesdienst in Form des Stundengebetes bleibt ein grundlegendes Anliegen der Reformation, nicht zuletzt, weil er die tägliche Messe ersetzt. Luther schätzt indes die Lage realistisch ein, wenn er davon ausgeht, daß hauptsächlich Kleriker und deren Schüler nun die Träger dieser Liturgie sind 157: 153
WA 12,36,13–14. WA 12,36,35–37; 37,6–7; 10–18. 155 Später in seiner Schrift „Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe“ 1533 wird der eigentliche Kritikpunkt an der bisherigen Praxis sein, sie diene eben nicht dem Aufbau der Kirche: „Diese Pfaffen uben der obgenanten stueck keines, die zur Kirchen erhaltung Christus geordent hat, Sie predigen nicht, Sie Teuffen nicht, Sie reichen das Sacrament nicht; Sie absolvirn nicht, Sie beten nicht (on das sie das wort des Psalters loeren und wispeln)“ (WA 38,222,25–28). 156 BRECHT , Reform (wie Anm. 5), 54. 157 Zu den Problemen des neuen täglichen Gottesdienstes in der konkreten Umsetzung in Wittenberg vgl. BRECHT, Reform (wie Anm. 5), 54–55. Vgl. hierzu BOËS, Gottesdien154
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„Auch ob solchs tegliches gottis diensts villeicht nicht die gantze versamlunge gewartten kunde, sollen doch die priester und schuler und tzuvor die ienigen, so man verhofft gutte prediger und seelsorger aus zu werden, solchs thun.“ 158
Es muß noch angemerkt werden, daß, wie das obige Zitat deutlich macht, Luther weitere Reformen des Stundengebetes projektiert hat, vor allem im Bereich der Heiligenverehrung. 159 Es wurde ja bereits darauf aufmerksam gemacht, welche Auswirkungen die Feier der Heiligentage etwa auf die tatsächliche Verwendung oder Auslassung von Teilen des Psalters in der bisherigen Praxis hatte. Von hierher sind Bemerkungen Luthers in seiner Schrift „Formula Missae et Communionis“ aus demselben Jahr 1523 bedeutsam, denn Luther plädiert für die Beibehaltung des ganzen Psalters, freilich handhabbar aufgeteilt: „In reliquis diebus, quas ferias vocamus, nihil video, quod non ferri possit, modo missae abrogentur. Nam Matutinae trium lectionum et horae, tum vesperae et completorium de tempore (exclusis sanctorum feriis) nihil sunt nisi scripturae divinae verba. Et pulchrum, imo necessarium est, pueros assuescere legendis et audiendis Psalmis et lectionibus scripturarum sanctarum. Verum si quicquam hic novari debet, prolixitas mutari potest arbitrio Episcopi, ut tres psalmi pro matutinis, tres pro vesperis cum uno vel duobus responsoriis absolvantur. Haec vero non melius ordinantur, quam ipso arbitrio Episcopi, cuius est deligere optima in responsoriis et antiphonis et de dominica in dominicam per hebdomadam ordinare, ut nec nimia eiusdem assiduitate fastidium, nec nimia varietate et multitudine cantus et lectionum tedium spiritus generetur. Sed per partes distributum totum psalterium in usu maneat, et universa scriptura in lectiones partita perseveret in auribus Ecclesiae.“ 160
Wenn er also den ganzen Psalter der Kirche als Gebet aufgibt, verabschiedet er sich von der bisherigen Praxis der Heiligenfeste mit den immer gleichen Psalmen der Communeoffizien und kehrt zum Beten des gesamten Psalters zurück. 161 Der Gedanke an ein Pensum wird damit nicht völlig aufgegeben, jedoch mit einer pädagogisch-seelsorgerischen Note versehen und in einen weitaus großzügigeren Rahmen eingepaßt, als dies im bisherigen (idealen, nicht tatsächlichen) Zyklus von 150 Psalmen pro Woche möglich war. Das Ziel einer solchen Sicht hat Karl-Heinrich Bieritz mit einem Lutherwort benannt: „Daß das Wort im Schwang gehe.“ 162 „Es ist kennzeichnend für Luther, daß er nicht einmal einen solchen Gottesdienst ste (wie Anm. 150), 22–28. – Zum Gottesdienst in Wittenberg im Bericht des Wolfgang Musculus vgl. auch BIERITZ, Wort (wie Anm. 18), 88–91. 158 WA 12,36,29–32. 159 Vgl. GRETHLEIN, Grundfragen (wie Anm. 150), 90; auch VAJTA, Theologie (wie Anm. 18), 149–151. 160 WA 12,219,8–21. 161 Von hierher könnte man mit aller Vorsicht rückschließen, wie sehr Luther in seiner monastischen Stundengebetspraxis der Verzicht auf das regelmäßige Beten aller 150 Psalmen aufgrund der Verdrängung durch die Heiligencommune aufgefallen sein muß. 162 Vgl. BIERITZ, Wort (wie Anm. 18); auch VAJTA, Theologie (wie Anm. 18), 118– 122.
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haben will, in dem zwar das Bibelwort gelesen wird, die Predigt aber fehlt […]. Daraus darf man allerdings nicht den Schluß ziehen, Luther sei prinzipiell dagegen gewesen, die Schrift ohne darauffolgende Predigt zu lesen […]. Was ihm vorschwebt, sind die Horen, in denen nur gelesen wurde. Dazu kam, daß in den Horen erstens neben der Schrift auch Heiligenlegenden gelesen wurden und daß zweitens die Lesungen der Horen officiumCharakter hatten. Das Erstere stritt direkt gegen das Wort Gottes, das im Gottesdienst dominieren sollte, das Letztere war in der Art des Schriftgebrauchs selbst verwerflich. Es ging ja nicht um die Menge des Gelesenen, sondern entscheidend war, daß das Wort Glauben wecken sollte. Nur so war das Wort nicht ein Wort ‚an sich‘, sondern wurde ‚für uns‘ verkündigt, d.h. in die menschliche Wirklichkeit hineingestellt“, so die Wertung von Vilmos Vajta. 163 „Luthers Gottesdienstreform schließt durchaus Eingriffe in das Gefüge des mittelalterlichen Gottesdienstes ein.“ 164 Wenn Luther projektiert, daß die gesamte Heilige Schrift in den Ohren der Kirche bleibe, so entwirft er hier das Bild der auf das Wort ihres Herrn hörenden Kirche; und dies gilt, liturgisch umgesetzt zu werden. Die differenzierte Position Luthers wird nicht nur greifbar, wenn er die Einführung der Metten und Vespern in der Wittenberger Pfarrkirche anregt. Auch für das Stundengebet des Wittenberger Allerheiligenstiftes finden sich modifizierende Hinweise. Damit wird nun gemäß der eingangs vorgenommenen Differenzierung des Begriffes „Stundengebet“ das dritte Moment in den Blick genommen: Es geht um das Stundengebet als (gesungenes oder rezitiertes) Chorgebet. Zu Luthers Absage an eine rein pflichterfüllende private Brevierrezitation und seiner Neuprojektierung des Stundengebetes als Gemeindeliturgie tritt nun ein drittes Moment hinzu, das in der bereits erwähnten Chorgebetspraxis mancher Dom- und Stiftskirchen ein reiches Echo finden sollte. Von Luther selbst ist ein Brief vom 19. August 1523 erhalten, den er an Propst, Dekan und Kanoniker des Allerheiligenstiftes in Wittenberg gesendet hat. Der Kontext dieses Briefes ist, daß Luther mehrfach die hartnäckig an der alten Messpraxis festhaltenden Stiftsherren ermahnt, sich der neuen Lehre anzuschließen. Im Laufe des Jahres 1523 kommt Bewegung in die Sache. Die Stiftsherren selbst erbitten von Luther eine Gottesdienstordnung, die er im besagten Brief dem Stift vorstellt, indes ohne daß damit die Auseinandersetzungen beendet waren. 165 Es geht thematisch also hauptsächlich um die Abschaffung 163
VAJTA, Theologie (wie Anm. 18), 150. – Zur Theologie der Rechtfertigung als eines Wortgeschehens vgl. MESSNER, Meßreform (wie Anm. 19), 119–127. 164 BIERITZ, Wort (wie Anm. 18), 84. 165 Zur Auseinandersetzung Luthers mit dem Wittenberger Kapitel um die Reformierung der Liturgie vgl. immer noch GEORG BUCHWALD, Zu dem Streite Luthers mit den Wittenberger Stiftsherren, 1523–24, in: ThStKr 56. 1884, 562–577; GEORG BUCHWALD,
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der Messe. Und in diesem Kontext gewinnt die Stundenliturgie an Bedeutung, die die täglichen Privatmessen ersetzen soll und zu der Luther wie folgt Stellung nimmt: „Tertio matutinae, horae, vesperae completorium maneant, sic tamen, ut de tempore cantentur solum, ac de nullis sanctis, nisi quos e scriptura habemus, et collectae vel cantica, quae sonant sanctorum suffragia, mutentur collectis et canticis de tempore. Loco autem missarum fiat sub matutinis ante ‚Te Deum laudamus‘ lectio veteris testamenti cum interpretatione et exhortatione, apostolico ritu, 1. Cor. 14. Hanc praestet Praepositus vel qui placuerit. Vespere itidem lectio novi testamenti cum interpretatione fiat, cui serviat Dominus Amsdorfius vel alius, idque pulchrum esset ante ‚Magnificat‘ fieri loco hymnorum vel post hymnos. Completorium iure nominis et significati sui post coenam statim ante somnum compleri oportebat.“ 166
Luther schlägt also eine gereinigte Form des Offiziums vor, die hauptsächlich vom Herrenjahr her, „de tempore“, konstruiert ist. Des Öfteren wurde darauf hingewiesen, daß nur so alle 150 Psalmen wirklich im Wochenrhythmus gebetet werden konnten, die Kirche (in Form des Stiftskonventes) auf das Wort Gottes hörende Kirche bleibt. Das Beten soll schriftgemäß sein, speziell an den Tagen, an denen man der biblisch bezeugten Heiligen gedenkt. Das Heiligengedenken verzichtet indes auf die Anrufung der Heiligen um Fürsprache. 167 Die Verkündigung des Wortes Gottes ist an eine Auslegung, die Predigt, gebunden. „In diesem Sinne hat Luther in den Horen Schrift und Predigt verbunden, wie zum paulinischen Gottesdienst das Zungenreden und seine Auslegung gehörte.“ 168 Denn die Wortverkündigung kann so „als das bedeutendste Werk des gerechtfertigten Menschen“ angesehen werden. 169 Bei solch differenzierter Position wundert es nicht, daß bei aller Kritik Luthers an den kanonischen Horen als Pensum Noch eine Bemerkung zu dem Streite Luthers mit den Wittenberger Stiftsherren, 1523– 24, in: ThStKr 57. 1885, 555–560. 166 WA.B 3,131,27–37. 167 Vgl. hierzu ROBERT LANSEMANN, Die Heiligentage besonders die Marien-, Apostel- und Engeltage in der Reformationszeit, betrachtet im Zusammenhang der reformatorischen Anschauungen von den Zeremonien, von den Festen, von den Heiligen und von den Engeln (Beihefte zur Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, Sonderband 1). Göttingen 1939; ULRICH KÖPF, Protestantismus und Heiligenverehrung, in: PETER DINZELBACHER und DIETRICH R. BAUER, Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart. Ostfildern 1990, 320–344; HANS-M ARTIN BARTH, „Was für ein Volk, was für ein’ edle Schar…“. Der Ort der Heiligen in lutherischer Theologie und Liturgie, in: KARL SCHLEMMER (Hg.), Heilige als Brückenbauer. Heiligenverehrung im ökumenischen Dialog (Andechser Reihe 1). St. Ottilien 1997, 10–27; ERNST KOCH, Die Wittenberger Reformation und das Gedenken der Heiligen, in: BETTINA SEYDERHELM (Hg.), Goldschmiedekunst des Mittelalters. Im Gebrauch der Gemeinden über Jahrhunderte bewahrt. Katalog zur Ausstellung, Dresden 2001, 73–87. 168 VAJTA, Theologie (wie Anm. 18), 151. 169 So die Kapitelsüberschrift bei BRUSH, Gotteserkenntnis (wie Anm. 52), 207–211, im Kontext von Luthers Psalmenauslegungen.
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das Stundengebet in der lutherischen Reformation eine nicht unbedeutende Rolle spielt, etwa in Verbindung mit den damaligen Lateinschulen. Hier wird die Liturgie zur Erreichung eines humanistischen Bildungsideals als „Lern-Zeiten“ des Glaubens umgedeutet. 170 Ferner treten die Horen an die Stelle der abgeschafften Werktagsmessen und bilden so zunächst die einzige Form täglicher Liturgie der Reformation. 171 Ein Jahr später, zum Ende des Jahres 1524, ist Luther erneut genötigt, zu einer Gottesdienstordnung Stellung zu nehmen. In einem Brief an Hans von Minkwitz in Sonnenwalde setzt er sich mit einer für Sonnenwalde erstellten Gottesdienstordnung auseinander, die auf Neuerungen daselbst reagiert: „Die Ordnung, so im andern Zettel gefasset ist, gefället mir nicht übel, und wo sie im Schwange wäre, ließe ich sie so bleiben, nämlich: Daß des Sonntags frühe eine kurze Metten mit den Schülern und den übrigen Priestern, weil sie leben, gesungen werde, damit die jungen Knaben bei dem Psalter und Gesange bleiben und die übrigen Priester was zu tun hätten. Ich wollte aber nicht alle Sonntage einerlei nehmen, sondern immer fortfahren, daß der ganze Psalter und Biblia und Gesang übers Jahr im Brauch blieben, und die Schüler des alles gewohneten. […] ... die Vesper gefället mir auch wohl, wie sie denn verzeichnet ist, ohne daß man immer andere und andere Psalmen und Gesänge nehme, wie denn in Büchern von der Zeit gefunden wird, umb Übung willen der Knaben. Ich achte nicht not sein, alle Werkeltage eine Lection zu haben, man wolle es denn gerne tun, sondern sei genug an dreien Tagen in der Wochen, doch daß gleichwohl täglich, frühe und abends, die Knaben mit Psalmen und Gesang geübet werden. Von keinem Heiligen sollte man singen oder feiern, ohne die Feste, die unsern Herrn Christum betreffen.“ 172
Beachtenswert ist hier das pädagogisch-seelsorgerische Argument, das ganz im Duktus der gemeindlichen Planungen der „Formula Missae“ von 1523 liegt. Es geht um die Ausbildung der Schüler, die gewohnt sein sollen, den Psalter zu singen. Wiederum lehnt Luther die Heiligentage ab und projektiert den Gebrauch der ganzen Schrift, hier im Verlaufe eines Jahres. 1526 erwähnt Luther in seiner Schrift „Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts“ erneut das Stundengebet und beschreibt das um die Schriftlesung erweiterte sonntägliche Offizium: „Des heyligen tags odder Sontags lassen wyr bleyben die gewonlichen Epistel und Euangelia und haben drey predigt. Frue umb funffe odder sechse singet man ettliche psalmen als zur metten. Darnach predigt man die Epistel des tages, aller meyst umb des gesindes willen, das die auch versorget werden und Gottis wort hoeren, ob sie ja ynn andern
170 Vgl. SCHULZ, Ordnung (wie Anm. 3), 18. Vgl. GOLTZEN, Gottesdienst (wie Anm. 5), 197. 171 Vgl. GOLTZEN, Gottesdienst (wie Anm. 5), 193. 172 WA.B 3,412,24–32; 412,37–413,45. – Mit den „Büchern von der Zeit“ ist eigentlich „de tempore“ gemeint.
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predigeten nicht seyn kunden. Darnach ein antiphen und das Tedeum laudamus odder Benedictus umb eynander mit eynem Vater unser, Collecten und Benedicamus domino.“ 173
Ebenso legt Luther die Sonntagsvesper dar, erweitert um die sukkzessive erfolgende Auslegung des Alten Testaments vor dem Magnificat. 174 Interesse verdient nun, daß aus pädagogischen Erwägungen Luther auch künftig die lateinisch vollzogene Vesper projektiert 175: „Fur die knaben und schuler ynn der Biblia zu uben gehets also zu. Die wochen uber teglich fur der lection singen sie ettliche psalmen latinisch, wie bis her zur metten gewonet, denn, wie gesagt ist, wyr wollen die jugent bey der latinischen sprachen ynn der Biblia behalten und uben.“ 176
Und Luther beschreibt den weiteren Verlauf der Vesper, bei dem nun auch die Wortverkündigung in deutscher Sprache auffällt, nämlich für den Fall, „ob yemands von leyen da were und zu horet.“ 177
Damit ist eine deutliche Zäsur zur mittelalterlichen Chorgebetspraxis gemacht, die sich auf die Kleriker konzentierte. Bei alledem weiß Luther um den Wert einer den biblischen Texten entstammenden Stundenliturgie, will aber jeden Gedanken an ein zu absolvierendes Pensum aufgeben, weshalb die Gestaltung grundsätzlich weitgehend freigegeben wird, sich de facto aber an den historischen Vorbildern orientiert. Neu ist die konsequente Ausrichtung auf die Gemeinde und die Wortverkündigung an die Gemeinde. 178 Die vor allem in den großen Stadtkirchen beizubehaltende Stundenliturgie sollte in abgewandelter Form auch in kleinen Dorfgemeinden, sicher aber in den verbliebenen Kollegien und Klöstern geübt und durch eine
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WA 19,78,27–79,4. Vgl. WA 19,79,6–7. 175 Vgl. hierzu auch HÄUSSLING, Brevierreformen (wie Anm. 45), 219–220; VOGEL, Stundengebet (wie Anm. 21), 281; GOLTZEN, Gottesdienst (wie Anm. 5), 195–198. 176 WA 19,80,4–7. 177 WA 19,80,10–11. 178 Von hierher erklärt sich auch die Präsenz des Stundengebetes in den neu entstehenden Gebetbüchern. Als ein Beispiel sei hier nur das Enchiridion geistlicher gesenge vñ Psalmen / fur die leyen / mit viel andern / denn zuuor / gebessert. Sampt der Vesper / durch die gancze wochẽ auff einen iczlichen tag Metten Complet vnd Messe. Gedruckt zu zwickaw durch Hans Schœnsperger den alten. Im 1528. Neudruck nach dem Exemplar der Sächsischen Landesbibliothek Dresden: Leipzig 1979. – Zur Fülle auch lutherischer Gesangbücher etc. im 16. Jahrhundert vgl. PHILIPP W ACKERNAGEL, Bibliographie zur Geschichte des deutschen Kirchenliedes im XVI. Jahrhundert. 2. unveränderter Nachdruck der Ausgabe Frankfurt am Main 1855, Hildesheim, Zürich, New York 1987, das Enchiridion hier 104 und 466–468 (Nr. CCLXV). Für Schlesien ANNA MAŃKOMATYSIAK, Schlesische Gesangbücher 1525–1741. Eine hymnologische Quellenstudie (Acta Universitatis Wratislaviensis No 2800). Wrocław 2005, hier etwa 34–114, ein Gesangbuchverzeichnis ebd. 278–292 174
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eigene Ordnung gesichert werden, wie sich dies in den vielen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts zeitigt. 179 Den Auftrag der Stifte und Klöster zur Erziehung und Bildung würdigt Luther ausdrücklich in den „Schmalkaldischen Artikeln“ von 1537. 180 Der Gottesdienst jedoch wird eindeutig kritisch gewertet. Was zählt, ist der pädagogische Auftrag der Klöster und Stifte: „Wo sie dazu nicht dienen wollen, ists besser, man las sie wueste liegen odder reisse sie ein, Denn das sie solten mit jrem lesterlichem Gottes dienst, durch Menschen ertichtet, als etwas bessers denn der gemein Christenstand und von Gott gestiffte Empter und Orden gehalten werden.“ 181
Im Juli 1539 nimmt Luther wiederum zu liturgischen Fragen Stellung, und zwar in einem Brief an Herzog Heinrich von Sachsen. Nachhaltig plädiert er für die Abschaffung der (Privat-)Messe in den Klöstern und fügt an: „Wollen die Munche aber die horas loren oder predigen vnter sich selbs, das las man gehen, bis man sehe, wo es hinaus will.“ 182
Zusammen mit Jonas, Bugenhagen, Cruciger und Melanchthon verfaßt Luther einen Brief am 18. Januar 1540, in dem es ausführlich um liturgi-
179
Vgl. SCHULZ, Ordnung (wie Anm. 3), 18, der darauf hinweist, daß in Ermangelung eines deutschen Breviers das alte lateinische, wenngleich in gereinigter Form, weiterverwendet wurde. Dieser Sachverhalt kann etwa am Beispiel Halberstadts verifiziert werden, wenngleich mit dem Unterschied, daß hier wohl niemand ernsthaft an einer durchgängig deutschen Stundenliturgie interessiert war. Vgl. GOLTZEN, Gottesdienst (wie Anm. 5), 207–212. Vgl. hierzu auch MARTIN KLÖCKENER, BENEDIKT KRANEMANN, Eine evangelische Offiziumsordnung aus dem Herforder Damenstift St. Marien auf dem Berge vom Ende des 16. Jahrhunderts, in: OLAF SCHIRMEISTER (Hg.), Fromme Frauen und Ordensmänner. Klöster und Stifte im heiligen Herford. Herford 2000, 247–260. 180 Vgl. hierzu STAMM, Stellung (wie Anm. 111), 73–74. 181 WA 50,212,12–18. Auch: Schmalkaldische Artikel. Artikel christlicher Lehre, so da hätten sollen aufs Concilium zu Mantua oder wo es sonst worden wäre, überantwortet werden von unsers Teils wegen und was wir annehmen oder nachgeben künnten oder nicht etc. Durch Dokt. Martin Luther geschrieben Anno 1537, 2,3, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSELK), hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930. Göttingen12 1998, 405–468, hier 426–427. – Vgl. zur Bedeutung der Klöster und Stifte als Schulen auch LUCIA KOCH, „Eingezogenes stilles Wesen“? Protestantische Damenstifte an der Wende zum 17. Jahrhundert, in: ANNE CONRAD (Hg.), „In Christo ist weder man noch weyb“. Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen Reform (KLK 59). Münster 1999, 199–230, hier 208–211. – Zu den Damenstiften vgl. auch ANNETTE VON BOETTICHER, Chorfrauen und evangelische Damenstifte, in: FRIEDHELM J ÜRGENSMEIER, REGINA E LISABETH SCHWERDTFEGER (Hg.), Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500–1700, Bd. 1 (KLK 65). Münster 2005, 217–242. 182 WA.B 8,482,8–10. Diese Passage findet sich in Bezug auf das Bistum Meissen in ähnlicher Formulierung im selben Schreiben: WA.B 8,482,15–17.
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sche Fragen geht, die wohl auch Luthers eigene Position widerspiegeln. Hier heißt es in Bezug auf das Stundengebet: „Zum dritten, Es ist auch zu loben, das an den andern tagen, so man nicht die Communio helt, gleichwol die kirchen, besonder Jn Stetten, nicht ledig stehen, vnnd das es fruchtbar sey, soll ein predig geschehen, dadurch die leut zum gebett vermanet, vnnd wo man person hat, will man psalmen oder Horas Canonicas de tempore singen, ist wol zuzugeben. vnnd dweyl solch gesang ein erinnerung sein solt, solt es nicht zu lang sein. Denn da man vff die fantasey geradten ist, das lang singen, als ein werck, ein gottesdienst sey, hat mans allzulang gemacht, das die erinnerung verloschen ist. Darumb solten die prelaten vnnd pfarner ein masß hierinn ordnen.“ 183
Die Kriterien des täglichen Gottesdienstes sind wiederum dieselben: Es geht um die Verkündigung und Predigt, um ein schriftgemäßes Beten „de tempore“ sowie um die Absage an jede Form von Werkgerechtigkeit. In diesem Geiste sind denn auch die Domstifter zu reformieren: „Die Thumbstifft hielden Ceremonien, wie gesaget ist, ein tegliche predigt, vnnd psalmen oder horas Canonicas, wenn sie aber communicanten hetten, hielt man die communio mit gewohnlichen gesengen …“ 184
Es ist also für einen Stiftskonvent durchaus vorstellbar, auch in der Woche eucharistische Liturgie zu feiern. Das Kriterium hierfür ist, ob Kommunikanten da sind oder nicht. Das erklärt die mehrmals in der Woche stattfindende eucharistische Liturgie etwa in Magdeburg. 185 Im Berliner Domstift teilte man jeden Tag einen Stiftsherren als Kommunikanten ein und ermöglichte so tägliche eucharistische Liturgie. 186 Nur kurz hingewiesen sei auf die Tatsache, daß die bei Luther festgeschriebenen Kritikpunkte auch in den großen reformatorischen Bekenntnisschriften zu finden sind. Hatte schon die Confessio Augustana (1530) versucht, die Zeremonien der Kirche von jeder Werkgerechtigkeit zu befreien und ihre Schriftgemäßheit zu fordern, 187 beklagt die Apologie der
183
WA.B 9,31,446–32,455. WA.B 9,33,519–521. 185 Vgl. Cantica sacra, quo ordine et melodiis, per totius anni curriculum, in Matutinis et Vespertinis, itemque intermediis precibus cantari solent, una cum lectionibus et precationibus, in unum volumen congesta pro S. Metropolitana Magdeburgensi Ecclesia, excusa Magdeburgi sumtibus praedictae Ecclesiae etc. Typis Andreae Bezeli, Anno Christi MDCXIII, pag. 38–41; 44 mit den Gesängen für die Missa am Dienstag und Donnerstag der ersten Adventswoche. 186 Vgl. HERMANN NOTTARP, Zur Communicatio in sacris cum haereticis. Deutsche Rechtszustände im 17. und 18. Jahrhundert, in: SKG.G 9. 1933, 107–125, hier 117. 187 Vgl. etwa Confessio Augustana (CA). Die Augsburgische Konfession. Confessio oder Bekanntnus des Glaubens etlicher Fürsten und Städte uberantwort Kaiserlicher Majestat zu Augsburg Anno 1530, in: BSELK (wie Anm. 181), 31–137, hier etwa cap. 15, 69–70; cap. 26, 100–109 u.ö. 184
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Confessio Augustana von Philipp Melanchthon (1531) vor allem das Pfründenwesen der Stifte als Grundlage des Gottesdienstes: „So singen sie die Psalmen in Stiften, nicht daß sie studieren oder ernstlich beten (denn das mehrer Teil verstünde nicht ein Vers in Psalmen); sondern halten ihre Metten und Vesper als einen gedingten Gottesdienst, der ihnen ihre Rente und Zinse trägt.“ 188
Schließlich bedarf noch eine andere Spur der Erwähnung, die sich im Kleinen Katechismus von 1529 findet. 189 Hier gibt Luther Hinweise für das tägliche Morgen- und Abendgebet, das sich durchaus an der Thematik von Laudes und Komplet orientiert. 190 Es handelt sich hier um eine Sonderform täglichen Betens der Kirche, die die Lebensform der Klöster und Stifte zumindest in Ansätzen auf die ganze Hausgemeinschaft auszudehnen bemüht ist. Es geht dabei um eine „Monastisierung“ der gesamten christlichen Existenz, da alle als Brüder und Schwestern in dem einen „Orden“ der Christenheit verbunden sind. 191 Der Morgen- und Abendsegen des Kleinen Katechismus kann so analog zum katholischen Angelus-Gebet als „kleines Stundengebet für das christliche Haus“ 192 verstanden werden.
4. Systematisierung: Stundengebet im Geiste Martin Luthers Die Überlegungen haben versucht, das schwierige Thema „Luther und das Stundengebet“ zu durchdringen, wobei einschränkend gesagt werden muß, daß nur ein Bruchteil der Äußerungen Luthers zum Stundengebet aufgeführt werden konnte. Luthers eigene Stundengebetspraxis als Mönch konnte hypothetisch aufgrund der Ordenskonstitutionen im Hinblick auf Chorgebet und Privatrezitationen differenziert werden, wobei nicht alle Fragen 188
Apologia Confessionis Augustanae (AC), in: BSELK (wie Anm. 181), 139–404, hier cap. 15, 305,42. 189 Enchiridion. Der kleine Katechismus D. Mart. Lutheri für die gemeine Pfarrherrn und Prediger, in: BSELK (wie Anm. 181), 499–527. 190 Vgl. den Abschnitt „Wie ein Hausvater sein Gesinde soll lehren, morgens und abends sich segenen“, in: BSELK (wie Anm. 181), 521–523. 191 Vgl. WENDEBOURG, Mönch (wie Anm. 77), 314–319. Vgl. auch SUSAN C. KARANT -NUNN, Reformation und Askese. Das Pfarrhaus als „evangelisches Kloster“, in: IRENE DINGEL, WOLF-FRIEDRICH SCHÄUFELE (Hg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit (VIEG 74). Mainz 2007, 211–228. 192 WENDEBOURG, Mönch (wie Anm. 77), 319. Vgl. auch WOLFGANG GRÜNBERG, Lernen im Rhythmus des Alltags. Luthers Kleiner Katechismus nach 451 Jahren. Anmerkungen zu einem theologisch-pädagogischen Konzept, in: PTh 70. 1981, 258–274, hier 269–271. Ebenso OSWALD BAYER, Nachfolge in der Welt. Luthers seelsorgerliche Ethik, in: OSWALD BAYER, HEINRICH DÖRING, ANTONELLUS E LSÄSSER, MANFRED J ACOBS, OTTO HERMANN PESCH, HANS-RICHARD REUTER, GREGOR SIEFER (Hg.), Zwei Kirchen – eine Moral? Regensburg 1986, 53–75.
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geklärt werden konnten. Dies betrifft vor allem die ungelöste Frage, ob Luther wirklich alle Psalmen aus dem Stundengebet kannte. Sodann wurde anhand der vielen Selbstaussagen zum Jahr 1520 deutlich, welche Bedeutung das Horenbeten als Pflichtgebet für Luther hatte und welche Mühe es ihn kostete, seine sich wandelnde Lebensform auch in Bezug auf das Beten zu legitimieren. Neben Motiven der Last, ja Verzweiflung treten theologische Deutungen, Gott selber habe eingegriffen – ähnlich seiner Auseinandersetzung mit den Mönchsgelübden. Die Durchsicht seiner liturgischen Entwürfe zeigte schließlich, wie kreativ und innovativ Luther die Tradition des Stundengebetes in den Gemeindealltag umzusetzen imstande ist, was zu einer markanten Änderung der mittelalterlichen Ordnung des Offiziums führte. Einen eigenen Bereich bildet dabei die weiterhin beibehaltene, aber reformierte Stundenliturgie der Dom- und Stiftskirchen. Im Wesentlichen ergeben sich folgende theologische Gesichtspunkte zur Wertung des Stundengebetes: a) Das Stundengebet als Privatrezitation: Wie ein roter Faden zieht sich durch die Äußerungen Luthers die aus seinem reformatorischen Prozeß gewonnene Kritik an den „horae canonicae“. Dies betrifft indes nicht das Beten als solches, sondern den verpflichtenden Charakter und das damit zusammenhängende Verständnis des Gebetes, weniger die Horen selber. Gemäß der Unterscheidung des Stundengebets in Privatrezitation, Chorgebet und Gemeindeliturgie kann man festhalten, daß die Privatrezitation im beschriebenen Sinne abgelehnt wird, wobei in seinen Selbstaussagen mit Überzeichnungen zu rechnen ist, wenn sich Luther, an die Regeln des Ordens haltend, nur von einem Teil des gemeinsamen Chorgebetes dispensiert wußte. b) Das Stundengebet als Gemeindeliturgie: Luther kann das Stundengebet als Gemeindeliturgie sehr wohl empfehlen, wenn es im Geist evangelischer Freiheit geschieht und dem paulinischen Grundsatz der „Auferbauung der Gemeinde“ genügt: Stundengebet soll als Gemeindeliturgie die Verkündigung des Wortes umfassen. Das ist etwas Anderes als das Rezitieren der Horen in der Klosterkirche. c) Stundengebet als Chorgebet: Klösterliches oder stiftisches Chorgebet wird als Anblähen der Wände kritisiert, wenn ihm der Verkündigungsaspekt fehlt. Anders fällt seine Beurteilung des Chorgebetes aus, wenn das Offizium für eine Gemeinschaft aus dem Geist evangelischer Freiheit als wirkliches Gebet gestaltet wird. Damit sind die wichtigen liturgischen Innovationen bereits benannt: Das Stundengebet hat immer den Verkündigungsaspekt einzubeziehen. Deshalb kommt es zu einer Vermehrung der Lesung der Heiligen Schrift. 193 Vor allem der gesamte Psalter soll gebetet werden, und das Beten aller übrigen 193
Vgl. GOLTZEN, Gottesdienst (wie Anm. 5), 191.
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Teile wie Antiphonen, Responsorien etc. soll dem Modell des schriftgemäßen Betens folgen. In diesen Kontext fällt die angedachte grundsätzliche Revision des Heiligenkultes. Von hierher versteht sich die Reduktion von Anzahl und Umfang der Horen 194 sowie die Umdeutung des Stundengebetes als „Lern-Zeiten“ der Gemeinde. 195 Damit dient das Stundengebet nicht zuletzt als Bildungsinstrument für die verbleibenden Lateinschulen. 196 Nur angedeutet werden soll ein vierter Bereich des Stundengebetes: Es geht um die Wertschätzung täglichen Betens vom Morgen- und Abendsegen her, der durchaus als Stundengebet der Hausgemeinde gedeutet werden kann. Mit diesem Ergebnis ist erneut die spannende Frage gestellt, wieviel Neues und wieviel Altes in der Liturgie der lutherischen Kirche zu finden sei. 197 Wie auch immer: Die Traditionen der evangelischen Kirchen zeigen eine große Beständigkeit des Stundengebetes im Gemeinde- wie im Stiftskontext bis ins 19. Jahrhundert. Doch die Bewertungen sind verschieden. Im Jahre 1905 schrieb Nikolaus Müller über die lutherische Brevierreform des Berliner Domstiftes im 16. Jahrhundert: „Um die Art und den Wert der von Paul Musculus und seinen Gehilfen geleisteten Arbeit kurz zu kennzeichnen, möchte ich ein Bild zu Hilfe nehmen und zunächst das katholische Brevier vor der Reformation mit einem der damals nicht seltenen Fachwerkhäuser sowie sein Psalterium, seinen Zeit- und Heiligenteil mit den Stockwerken, seine Horen mit dem Holzgerüst und den sie füllenden Inhalt mit den Lehm- oder Riegelwänden eines solchen Hauses vergleichen. Obwohl dieses einst so fest gefügte Gebäude infolge der Wetter, denen es nicht nur von Wittenberg, sondern auch von Rom aus ausgesetzt war, längst rissig und brüchig geworden, Luther auf seine Beseitigung gedrängt und Katholiken wie der Kardinal Quignonez den Neubau eines weniger weiten und hohen Hauses gewünscht […], erkannten in ihm die märkischen Theologen noch im achten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts das passendste Heim für den Kultus des Berliner Domes und beschränkten sich darauf, das Holzwerk etwas auszubessern und da und dort eine alte Wand zu beseitigen und eine neue einzusetzen oder noch lieber die ärgsten Risse der alten Wände oberflächlich zu verkleben. Als ein Glück darf es bezeichnet werden, daß ein derartiges Flickwerk keine unmittelbaren Nachahmungen in der evangelischen Kirche fand.“ 198
Nikolaus Müller ist mit seiner Bewertung Vertreter einer Haltung, die – etwa bei der weiteren Ausdifferenzierung der Konfessionen im 17. Jahr194
Vgl. GOLTZEN, Gottesdienst (wie Anm. 5), 191. Vgl. SCHULZ, Ordnung (wie Anm. 3), 18–20. 196 Zu den Lateinschulen und ihrer Wirksamkeit vgl. HEIDRICH, Volkssprache (wie Anm. 5), 10–14. – Vgl. zur in diesen Kontext gehörende, unter den Augen Luthers entstandene Vespersammlung von GEORG RHAW HEIDRICH, Volkssprache (wie Anm. 5), 7– 8. Dort (9, Anm. 4) auch ein Hinweis auf Drucke zur Stundenliturgie von 1524–1550). 197 Vgl. in Bezug auf den Abendmahlsbericht anstelle des Canon Romanus DOROTHEA WENDEBOURG, Den falschen Weg Roms zu Ende gegangen? Zur gegenwärtigen Diskussion über Martin Luthers Gottesdienstreform und ihr Verhältnis zu den Traditionen der Alten Kirche, in: ZThK 94. 1997, 437–467. 198 MÜLLER, Geschichte (wie Anm. 28), 428. 195
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hundert – den Traditionsreichtum des Stundengebetes eher als ein Merkmal des Papsttumes ansah. 199 Insgesamt wird man heute zu einer ausgewogeneren Beurteilung der Veränderungen des 16. und 17. Jahrhunderts gelangen, als dies für Müller möglich war, gerade auch im Blick auf die facettenreiche Position Martin Luthers, der keineswegs so generell auf die Beseitigung des Stundengebetes gedrängt hatte, wie Müller noch annahm. Man wird heute eher geneigt sein, den Wert der damaligen traditionsreichen Liturgiereformen in Rechnung zu stellen und ihre innovative Kraft zu würdigen. Nicht zuletzt mag auch die Einsicht bestimmend sein, daß das tägliche Gebet unserer Kirchen überlebensnotwendig ist. Dies erkannt und die tägliche Stundenliturgie zurückgewonnen zu haben, ist das Verdienst mancher evangelischer Kommunitäten. 200 So mag zuletzt nicht unerwähnt bleiben, daß in Luthers altem Erfurter Kloster seit 1996 wieder das Stundengebet als Chorgebet der Communität Casteller Ring erklingt. 201
199 So findet sich etwa die Wertung des überkommenen Stundengebetes im Havelberger Dom anläßlich der Liturgiereform des 17. Jahrhunderts, es sei „noch außm Pabstthumb übrigblieben“. Vgl. dazu ANDREAS ODENTHAL, „die alten Gewohnheiten und Bräuche fortsetzen“. Zur reformationszeitlichen Liturgiereform des Havelberger Domstiftes unter Matthäus Lüdtke, in: ODENTHAL, Vesperale (wie Anm. 24), 7–40, hier 35. 200 Vgl. hierzu den Überblick bei T IGGEMANN, Psalterium (wie Anm. 22), 61–62; T ALKNER, Stundengebet (wie Anm. 29), etwa 80–98. 201 Vgl. LOTHAR SCHMELZ, ANDREAS HAERTER, Das Augustinerkloster zu Erfurt von 1990 bis 2005, in: SCHMELZ, LUDSCHEID, Luthers Erfurter Kloster (wie Anm. 84), 121– 144.
„… iam sum monachus et non monachus“ Martin Luthers doppelter Abschied vom Mönchtum Wolf-Friedrich Schäufele Von seinem 22. bis zu seinem 42. Lebensjahr war Luther Mönch. Genauer gesagt, war er Mendikant; doch Luther selbst hat diesen terminologischen Unterschied nicht gemacht, und auch wir können für unsere Zwecke davon absehen. Luther war also Mönch. Die reformationsgeschichtliche Forschung hat die Bedeutung dieser Tatsache erst spät erkannt und gewürdigt. Heute wissen wir, daß Luther nicht Reformator wurde, obwohl er Mönch war – Luther wurde zum Reformator als Mönch und weil er Mönch war. Durch die Forschungen von Ulrich Köpf, Reinhard Schwarz und anderen 1 wissen wir, wie viel Luther der monastischen Theologie verdankte. Und wir erkennen zunehmend, wie viel die frühe Reformation und auch noch der heutige Protestantismus diesem monastischen Erbe verdanken. Insofern 1
ULRICH KÖPF, Martin Luther als Mönch, in: Luther 55 (1984), 66–84; DERS., Martin Luthers Lebensgang als Mönch, in: GERHARD RUHBACH/KURT SCHMIDT -CLAUSEN (Hg.), Kloster Amelungsborn 1135–1985, Hannover 1985, 187–208; DERS., Monastische Traditionen bei Martin Luther, in: CHRISTOPH MARKSCHIES /MICHAEL T ROWITZSCH (Hg.), Luther – zwischen den Zeiten, Tübingen 1999, 17–35; DERS., Mönchtum, in: ALBRECHT BEUTEL (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 50–57; DERS., Wurzeln reformatorischen Denkens in der monastischen Theologie Bernhards von Clairvaux, in: ATHINA LEXUTT /VOLKER MANTEY/VOLKMAR ORTMANN (Hg.), Reformation und Mönchtum. Aspekte eines Verhältnisses über Luther hinaus (= SMHR 43), Tübingen 2008, 29–56; REINHARD SCHWARZ, Luthers unveräußerte Erbschaft an der monastischen Theologie, in: GERHARD RUHBACH/KURT SCHMIDT -CLAUSEN (Hg.), Kloster Amelungsborn 1135–1985, Hannover 1985, 209–231; JOHANNES JÜRGEN SIEGMUND, Der Einfluß des Mönchtums in Luthers Leben, in: CistC 104 (1997), 77–105; TIMOTHY WENGERT , „Per mutuum colloquium et consolationem fratrum“: Monastische Züge in Luthers ökumenischer Theologie, in: CHRISTOPH BULTMANN/VOLKER LEPPIN/ANDREAS L INDNER (Hg.), Luther und das monastische Erbe (= SMHR 39), Tübingen 2007, 243–268. Vgl. den Forschungsbericht von Volkmar Ortmann, Luther und das Mönchtum als Thema der Lutherforschung im 20. Jahrhundert, in: LEXUTT /MANTEY/ORTMANN, Reformation und Mönchtum, 227–239. – Vgl. neuerdings BERNDT HAMM, Naher Zorn und nahe Gnade. Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: BULTMANN/LEPPIN/LINDNER, Luther und das monastische Erbe, 111–151 = LEXUTT/MANTEY/ORTMANN, Reformation und Mönchtum, 103–143.
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haben Johannes Schilling und Bernd Moeller die Reformation pointiert als „neues Mönchtum“ bezeichnen können. 2 Trotzdem bleibt es dabei: Luther selbst und mit ihm viele Hunderte Mönche und Nonnen haben seit den 1520er Jahren das Ordensleben aufgegeben. Im Protestantismus ist das monastische Leben zum Erliegen gekommen und – abgesehen von den Diakonissenhäusern des 19. und den kommunitären Initiativen des 20. Jahrhunderts – nicht neu belebt worden. Luthers Abschied vom Mönchtum war im Rückblick mehr als eine persönliche Entscheidung; er war exemplarisch für den Abschied der Reformationskirchen vom Mönchtum. Das Ende von Luthers monastischer Lebensphase ist vergleichsweise schlecht erforscht – ganz anders als sein Eintritt ins Kloster. 3 Die meisten Lutherforscher sehen die entscheidende Peripetie in der Abfassung der Schrift über die Mönchsgelübde (De votis monasticis iudicium) auf der Wartburg. 4 Doch es war ein Abschied in Etappen, der erst mit der Ablegung des Ordensgewands im Oktober 1524 und mit der Eheschließung im Juni 1525 zum Abschluß kam. 5 Sein altes Kloster verlassen hat Luther bekanntlich nicht; bis zu seinem Tode wohnte er mit seiner Familie darin. Der scheinbar lange Abschied Luthers vom Mönchtum hat schon die Zeitgenossen irritiert. Freunde wie Gegner warfen ihm vor, mit seinem persönlichen Leben seinen theologischen Lehren zu widersprechen. Und 2
JOHANNES SCHILLING, Klöster und Mönche in der hessischen Reformation (= QFRG 67), Gütersloh 1997, 10; BERND MOELLER, Die frühe Reformation in Deutschland als neues Mönchtum, in: DERS. (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch (= SVRG 199), Gütersloh 1998, 76–91; hier: 88–91. Vgl. DOROTHEA WENDEBOURG, Der gewesene Mönch Martin Luther – Mönchtum und Reformation, in: KuD 52 (2006), 303– 327, hier: 314–319. 3 Aus Anlaß des 500. Jahrestages von Luthers Eintritt ins Kloster fanden 2005 gleich zwei wissenschaftliche Symposien in Erfurt und in Trier statt: BULTMANN/LEPPIN/LINDNER, Luther und das monastische Erbe; LEXUTT/MANTEY /ORTMANN , Reformation und Mönchtum. Vgl. insbesondere ANDREAS LINDNER, Was geschah in Stotternheim? Eine problematische Geschichte und ihre problematische Rezeption, in: BULTMANN/LEPPIN /LINDNER, Luther und das monastische Erbe, 93–110. 4 KÖPF, Monastische Traditionen, 19; BERNHARD LOHSE, Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters (= FKDG 12), Göttingen 1963, 201; VERA CHRISTINA PABST , „… quia non habeo aptiora exempla“. Eine Analyse von Martin Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchtum in seinen Predigten des ersten Jahres nach seiner Rückkehr von der Wartburg 1522/1523 (= Rostokker Theologische Studien 18), Hamburg 2007, 16. 5 MOELLER, Frühe Reformation als neues Mönchtum, 80. – Nach Oberman soll sich dieser Prozess sogar noch bis 1528 hingezogen haben: HEIKO A. OBERMAN, Martin Luther Contra Medieval Monasticism: A Friar in the Lion’s Den, in: T IMOTHY MASCHKE/FRANZ POSSET /JOAN SKOCIR (Hg.), Ad fontes Lutheri: Toward the Recovery of the Real Luther. Essays in Honor of Kenneth Hagen’s Sixty-Fifth Birthday (= Marquette Studies in Theology 28), Milwaukee 2001, 182–213, hier: 198.
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auch da, wo in der modernen Forschung dieser Lebensabschnitt Luthers überhaupt näher beleuchtet wird, überwiegt die Einschätzung, Luther habe zögerlich und inkonsequent gehandelt. 6 Tatsächlich täuscht dieser Eindruck jedoch. Die These, die im Folgenden entfaltet werden soll, lautet: Luther hat nicht ein einziges Mal zögerlich Abschied vom Mönchtum genommen, sondern zweimal konsequent und theologisch reflektiert. 1521 auf der Wartburg hat er sich vom unevangelischen Mönchtum seiner Vergangenheit und den 1506 in Erfurt abgelegten ewigen Gelübden losgesagt und sich stattdessen einem neuen, evangelischen Mönchtum zugewandt. Vier Jahre später hat Luther dann auch diesem evangelischen Mönchtum den Abschied gegeben und es mit dem Ehestand vertauscht.
I. Luthers Abschied vom Mönchtum als zweite Konversion Wenn Luthers Eintritt ins Kloster im Sinne der monastischen Tradition wie für sein eigenes Empfinden eine lebenswendende conversio 7 gewesen ist, so hat er später auch seinen Abschied vom überkommenen Mönchtum als eine Lebenswende hingestellt. 8 Obwohl Luther in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich von „conversio“ spricht, so klingt die Mehrzahl seiner späteren Äußerungen über das Mönchtum wie typische Konvertitenprosa. Dies läßt sich gut an den bekannten Äußerungen Luthers in seiner Auseinandersetzung mit Herzog Georg von Sachsen aus dem Jahr 1533 demonstrieren. 9 Einerseits legt Luther großen Wert auf die Feststellung, daß er einst ein vollkommener, tadelloser Mönch im Sinne des auf Selbstheiligung und die Erringung von Verdiensten ausgelegten monastischen Ideals des Mittelalters gewesen sei: „War ists, Ein fromer Muench bin ich gewest, Und so gestrenge meinen Orden gehalten, das ichs sagen thar: ist jhe ein Muench gen himel komen durch Muencherey, so wolt ich auch hinein komen sein. Das werden mir zeugen alle meine Klostergesellen, die mich
6 V.a. OBERMAN, Friar, 189, 199f.; vgl. KÖPF, Luther als Mönch, 78; MOELLER, Frühe Reformation als neues Mönchtum, 81; ANTJE RÜTTGARDT, Klosteraustritte in der frühen Reformation. Studien zu Flugschriften der Jahre 1522 bis 1524 (= QFRG 79), Gütersloh 2007, 35. 7 GERT MELVILLE, Religiosentum – Klöster und Orden, in: GERT MELVILLE/MARTIAL STAUB (Hg.), Enzyklopädie des Mittelalters, Darmstadt 2008, Bd. 1, 99–110, hier: 99. 8 Zum Gedanken des Klosteraustritts als zweiter „conversio“ vgl. MOELLER, Frühe Reformation als neues Mönchtum, 86. 9 HEINZ-MEINOLF STAMM, Luthers Stellung zum Ordensleben (= VIEG 101), Wiesbaden 1980, 78–82.
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gekennet haben. Denn ich hette mich (wo es lenger geweret hette), zu tod gemartert mit wachen, beten, lesen und ander erbeit &c.“ 10
Auch sonst hat Luther diesen Anspruch mehrfach erhoben. 11 Doch inzwischen hat er mit seiner monastischen Vergangenheit gebrochen, und jetzt, in seiner Schrift gegen Herzog Georg, findet er nur die härtesten Worte für das Lebensideal, dem er einst so ergeben war: „Denn du must gewonen, wenn du das wort Muench hoerest, das es gleich so viel sey als hoertestu du das wort Verleugneter Christi, Apostata vom glauben Christi, Ein bundgenos des Teuffels oder Zeuberer. Denn wir muenche sind auch die rechten zeuberer und geuckler des Teuffels gewest, die wir alle welt mit unserm falschen gauckel spiel bezaubert und verblendet haben, das sie sampt uns von Christo abgefallen, Apostaten und verleugnete Christen worden sind Und des lieben erloesers sampt seinem leiden und blut gar vergessen haben“. 12
Und wenig später zieht Luther das Fazit: „Ein Kloster ist ein Helle, darinn der Teuffel Abt und Prior ist, Muenche und Nonnen die verdampten seelen“. 13 So spricht ein Konvertit. Aus dem monastischen Saulus ist ein evangelischer Paulus geworden – ein Vergleich, den Luther in der Rückschau selbst gezogen hat. 14 Theologisch hängt Luthers Neubewertung der monastischen Existenz untrennbar mit seiner reformatorischen Einsicht zusammen. Dies wird besonders deutlich an jener viel diskutierten Tischrede Luthers vom Juni oder Juli 1532, nach der ihm der Heilige Geist das neue Verständnis der Gottesgerechtigkeit auf der Kloake eingegeben habe. 15 Es handelt sich dabei um eine Variante zu der bekannteren Lokalisierung derselben Entdeckung im Turm des Wittenberger Augustinerklosters; 16 in einer Überlieferung erscheinen beide Ortsangaben kombiniert. 17 Daß Luther hier buchstäblich den Abtritt als Ort theologischer Innovation gemeint habe, wie 10
WA 38,143,25–29 (Die kleine Antwort auf H. Georgen nehestes buch, 1533). Vgl. z.B. WA 40 I,685,20.22–24 (Annotationes in Epistolam Pauli ad Galatas, 1535): „… non de Monachis impiis …, sed de optimis, qualis ego unus fui et multi alii qui sancte vixerunt et summo labore ac studio conati sunt per observationem Ordinis placare iram Dei et mereri remissionem peccatorum ac vitam aeternam“; WA 54,185,21 (Vorrede zu Bd. 1 der Opera latina, 1545): „irreprehensibilis monachus vivebam“. 12 WA 38,146,37–147,7 (Die kleine Antwort auf H. Georgen nehestes buch, 1533). 13 Ebd., 148,30–32. 14 „Tantus eram Saulus …“ (WA 54,179,27f.; Vorrede zu Bd. 1 der Opera latina, 1545). 15 „Dise kunst hatt mir der S[piritus] S[anctus] auf diss Cl[oaca] eingeben“ (WA.TR 2,177,8f.; Nr. 1681 = OTTO SCHEEL, Dokumente zu Luthers Entwicklung (= SQS 2), Tübingen ²1929, S. 94, Nr. 238). 16 WA.TR 3,228,6–32, Nr. 3232 a/b/c = SCHEEL, Dokumente, 91, Nr. 235. 17 „Dise khunst hat mir der Heilig Geist auff diser cloaca auff dem thorm gegeben“ (WA.TR 3,228,22f.; Nr. 3232b = SCHEEL, a.a.O., Z. 24f.). 11
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etwa Erik H. Erikson in seiner psychoanalytischen Luther-Deutung meinte, 18 kann wohl als ausgeschlossen gelten. Heiko A. Oberman hat eine theologische Deutung der Kloake als Chiffre für die Sündenverfallenheit und Verzweiflung des Menschen vorgeschlagen, die eben der Ort sei, an dem ihm Gottes rettende Gnade begegne. 19 Volker Leppin will darin in einem allgemeineren Sinne eine „deftige Metapher für das damit massiv abgewertete irdische Leben“ sehen, 20 versteht Luthers Reminiszenz also im Sinne eines mittelalterlichen contemptus mundi. Ich möchte eine andere Deutung vorschlagen, die topographische Konkretion und theologische Deutung miteinander verbindet: Wenn Luther in einem Gespräch über Tisch in seinem Wohnhaus ausdrücklich von „dieser Kloake“ spricht, so ist damit nichts anderes gemeint als der aktuelle Schauplatz seiner Äußerung – das ehemalige Augustineremitenkloster. In Luthers Worten vernehmen wir nicht mittelalterlichen contemptus mundi, sondern reformatorischen contemptus monasterii. Ausgerechnet an einem Ort, an dem es galt, durch menschliche Werke und Verdienste selig zu werden, eröffnete sich Luther die Einsicht in die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade durch den Glauben – eine Einsicht, die Luther zugleich seine bisherige Lebensweise als Kot erscheinen läßt. Die Metaphorik erinnert an den zum Paulus gewordenen Saulus des Philipperbriefs, der bekennt: „Was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet … ich erachte es für Kot, damit ich Christus gewinne“ (Phil 3,7f.). Es ist sicher kein Zufall, daß Luther diese Bibelstelle auch in seiner großen Schrift über die Mönchsgelübde zitiert. 21 Ein Jahrzehnt später hat Luther seine drastische Neubewertung der monastischen Existenz von der Kanzel aus wiederholt: „wisse, das ein moench jm Closter, wenn er jnn seiner hohesten beschauligkeit sitzet und an seinen Herrgott dencket, wie er jn selbs malet und treumet, und wil die wellt gar aus dem hertzen werffen, der sitzet (mit urlaub) jm dreck, nicht bis an die knye, sondern uber die oren“. 22
Wenn diese Deutung der „Kloake“ zutrifft, so zeigt sie, wie eng im Rückblick für Luther selbst die Neu- und Umbewertung des Mönchtums mit seiner reformatorischen Entdeckung zusammenhängt. 18 E RIK H. E RIKSON, Young Man Luther. A Study in Psychoanalysis and History, London 1958, 199f. 19 HEIKO A. OBERMAN, Wir sein pettler. Hoc est verum. Bund und Gnade in der Theologie des Mittelalters und der Reformation, in: DERS., Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986, 90–112, hier: 93–101. 20 VOLKER LEPPIN, Martin Luther, Darmstadt 2006, 109. 21 WA 8,609,33f. 22 WA 32,325,27–30 (Das fünffte, sechst und siebend Capitel S. Matthei gepredigt und ausgelegt, 1532). Vgl. WA 40 I,265,17 (Annotationes in Epistolam Pauli ad Galatas, 1535): „Ego in eodem luto haesitavi …“; dazu STAMM, Luthers Stellung, 75f.
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II. Luthers Abschied vom unevangelischen Mönchtum Der Konversionstopik zum Trotz war Luthers Abschied vom Mönchtum keine punktuelle, auf Tag und Stunde zu datierende Lebenswende. Doch ebenso wäre es verfehlt zu glauben, Luthers Distanzierung vom Mönchtum sei ein mehrjähriger Prozeß peinlichen Zögerns und Lavierens gewesen. Tatsächlich läßt sich recht genau eingrenzen, wann Luther dem Mönchtum, so wie er es kennengelernt und praktiziert hatte, den Abschied gab: während seines zehnmonatigen Aufenthalts auf der Wartburg vom 4. Mai 1521 bis zum 1. März 1522. Als eigentliche Zäsur kann dabei die Ausarbeitung von Luthers großer Schrift über die Mönchsgelübde 23 gelten, die er im November 1521 in nur zehn Tagen niederschrieb. Was macht den Mönch zum Mönch? Wenn Luther am 1. November 1521 in dem an seinen Vater Hans Luder gerichteten Widmungsbrief von De votis monasticis angibt, er stehe jetzt im sechzehnten Jahr seines Mönchtums, 24 so rechnet er diesen Zeitraum offensichtlich von seiner Profess im Spätsommer 1506 an. Damals war er vom Novizen zum Mönch geworden. Zwei Elemente waren für diese Art der Initiation konstitutiv: die Ablegung der ewigen Gelübde – im Augustinereremitenorden waren dies die drei klassischen Gelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam – und die endgültige Einkleidung in das Ordensgewand, die das Anziehen des neuen Menschen nach Eph 4,24 symbolisierte. 25 Auf der Wartburg hat Luther seine Profess gewissermaßen rückgängig gemacht – sowohl, was die Gelübde, als auch, was die Einkleidung betrifft. Nach über 15 Jahren vertauschte Luther die schwarze Kutte der Augustinereremiten mit der weltlichen Kleidung eines Adeligen und ließ Hauptund Barthaar wachsen. Auch wenn diese Umstellung den äußeren Umständen geschuldet war, so entbehrt sie nicht einer starken symbolischen Bedeutung: Als Luther am 17. April 1521 in Worms vor Kaiser und Reich stand, da trug er noch die Kutte und hatte sich die Tonsur frisch und – seiner Gewohnheit entsprechend – so groß scheren lassen, daß es von den Beobachtern eigens vermerkt wurde. 26 Gerade mit diesen äußerlichen Abzeichen – der Kutte und der Tonsur – hatte sich Luther demonstrativ als Mönch präsentiert. Umso einschneidender muß er seine äußere Verwand23
De votis monasticis iudicium: WA 8,573–669. Deutsche Übersetzung in den Ergänzungsbänden zur Braunschweiger Luther-Ausgabe: Luthers Werke, hg. von GEORG BUCHWALD u.a. Erg.bd. 1 und 2, hg. von OTTO SCHEEL, Leipzig 1905, I 199-II 202; wieder in: Martin Luther, Freiheit und Lebensgestaltung, hg. von Karl-Heinz zur Mühlen, Göttingen 1983, 75–217. 24 „Annus ferme agitur decimus sextus monachatus mei“ (WA 8,573,19f.). 25 KÖPF, Luther als Mönch, 70. 26 DRTA.JR 2 (1896; ND 1962), Nr. 88, 632,21ff. Vgl. MARTIN BRECHT , Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart ³1990, 431.
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lung zum „Junker Jörg“ empfunden haben, die diese Erkennungszeichen tilgte. Wichtiger noch als solche Äußerlichkeiten war, daß Luther sich auf der Wartburg von seinen Ordensgelübden lossagte. Damit kam ein langjähriger theologischer Klärungsprozeß an sein Ziel. Bernhard Lohse und der Franziskaner Heinz-Meinolf Stamm haben die Entwicklung von Luthers Urteil über das Mönchtum minutiös rekonstruiert. 27 Danach hat Luther noch bis 1519 grundsätzlich am monastischen Ideal des Mittelalters festgehalten. Doch schon in seinen ersten literarischen Zeugnissen, den Marginalien zu Augustinus und dem Lombarden aus den Jahren 1509 und 1510, begann er, neue, eigene Akzente zu setzen. Auffällig ist hier und in der ersten Psalmenvorlesung die deutliche Kritik an der Observanz, die wenigstens teilweise auch durch die aktuellen Auseinandersetzungen in Luthers Orden bedingt war. 28 Mit der ersten Psalmenvorlesung gewann Luther ein biblisch fundiertes Verständnis des Mönchtums. Im Rahmen seiner Demutstheologie deutete er den monastischen Weg nicht mehr als fortschreitende Vervollkommnung auf ein eschatologisches Ziel hin, sondern als Nachvollzug des am Kreuz bereits ergangenen Gerichtes Gottes über die Sünde in Gehorsam und Demut. 29 Folgenreich für Luthers Verständnis der Mönchsgelübde wurde die bereits in der ersten Psalmenvorlesung vorgenommene und in der Römerbriefvorlesung vertiefte Verbindung zwischen den Gelübden und der Taufe: 30 Das eigentliche und Grundgelübde ist das von jedem Christen zu leistende Taufgelübde, nämlich das in der Taufe gleichnishaft geschehene Mitsterben mit Christus im Leben zu verwirklichen. Nichts anderes ist auch der Sinn der Mönchsgelübde. Die gemeinmonastische Anschauung von den Gelübden als zweiter Taufe, wie sie etwa auch Johannes von Paltz vertreten hatte, hat damit keinen Raum mehr, auch wenn Luther sich erst in der Hebräer-Vorlesung ausdrücklich mit ihr auseinandergesetzt hat. Seine neue Zuordnung von Taufe und Mönchtum ermöglichte Luther eine positive theologische Bewertung der monastischen Existenz. 1519 hat er sie in seinem Sermon von dem heiligen, hochwürdigen Sakrament der Taufe klassisch artikuliert: Danach kann die allen Christen aufgegebene „Erfüllung“ oder „Vollbringung“ der Taufe auf unterschiedliche Weise und 27
BERNHARD LOHSE, Luthers Kritik am Mönchtum, in: EvTh 20 (1960), 412–432; LOHSE, Mönchtum und Reformation; BERNHARD LOHSE, Die Kritik am Mönchtum bei Luther und Melanchthon, in: DERS., Evangelium in der Geschichte. Bd. 1: Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors, hg. von LEIF GRANE, Göttingen 1988, 80–96; STAMM, Luthers Stellung. Vgl. SCHILLING, Klöster und Mönche, 128–137. 28 LOHSE, Mönchtum und Reformation, 221–224; STAMM, Luthers Stellung, 17f. 29 LOHSE, a.a.O., 227–278. 30 Ebd., 309–311.
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in unterschiedlichen Ständen erfolgen, je nachdem es dem Einzelnen dienlich ist. Eine dieser Weisen ist der Ehestand mit seinen Mühen und Leiden, eine andere der Ordensstand. Beide Stände haben denselben Zweck und dasselbe Ziel; allerdings ist der Ordensstand mit mehr Leiden und mehr „Übung“ verbunden und führt daher auf kürzerem Wege zum Ziel. 31 Es ist bemerkenswert, daß Luther 1519 seine positivste theologische Stellungnahme zum Mönchtum gefunden hat – im selben Jahr, da ihm der antichristliche Charakter des Papsttums aufging. Allerdings hatte er in diesem Jahr im Streit mit den Franziskanern von Jüterbog und auf der Wittenberger Franziskanerdisputation auch schon scharfe Kritik an der zeitgenössischen Wirklichkeit des Mönchtums geübt 32 – eine Kritik, die sich in den reformatorischen Hauptschriften des Jahres 1520 fortsetzte. In De captivitate babylonica ecclesiae findet sich dann erstmals der Gedanke, mit dem Luther das herkömmliche Mönchtum theologisch aus den Angeln heben sollte: In der Taufe wird dem Christen die evangelische Freiheit geschenkt, die ihm durch nichts und niemanden wieder genommen werden darf; diese Freiheit aber wird von den Gelübden bedroht und zerstört. Die Einrichtung ewiger Gelübde sollte daher abgeschafft werden. 33 Damit war dem Mönchtum im bisherigen Verständnis im Grunde schon der Boden entzogen. Luther riet jetzt ausdrücklich davon ab, in einen Orden einzutreten. Doch noch hatte er keine Klarheit darüber gewonnen, wie sich die Ordensleute zu den von ihnen bereits abgelegten Gelübden zu verhalten hatten. Während Luthers Wartburg-Aufenthalt wurde diese Frage durch die turbulenten Entwicklungen in Wittenberg virulent. Nachdem sich im Mai 1521 die ersten drei Weltpriester verheiratet hatten, wurden neben dem Priesterzölibat auch die Mönchsgelübde auf den Prüfstand gestellt. In einer Disputation im Juni 1521 erklärte Karlstadt, Ordensleute sollten lieber heiraten, bevor sie in Unzucht fielen; zwar sei auch dies Sünde, aber doch eine leichtere als die Unzucht. Melanchthon erklärte dagegen in seinen Loci das Keuschheitsgelübde auf Grund der Schwierigkeit, es einzuhalten, für nicht bindend. 34 Luther konnte und wollte beide Positionen nicht akzeptieren. Unter Berufung auf Ps 75(76),12 („vovete et reddite Domino Deo vestro“; „gelobet und haltet dem Herrn, eurem Gott“) pochte er auf 31
WA 2,735,29–736,32. Vgl. LOHSE, Mönchtum und Reformation, 325–327, 332– 335; STAMM, Luthers Stellung, 33f. 32 KÖPF, Luther als Mönch, 73f.; BERNHARD LOHSE, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 155; STAMM, Luthers Stellung, 26–32. 33 LOHSE, Mönchtum und Reformation, 350-354; STAMM, Luthers Stellung, 35f. 34 Vgl. LOHSE, Die Kritik am Mönchtum bei Luther und Melanchthon; LOHSE, Luthers Theologie, 156f.; STAMM, Luthers Stellung, 41–45; Braunschweiger LutherAusgabe, Erg.bd. 1, 201f.
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die bindende Kraft von Gelübden, insbesondere solcher, die, anders als die priesterliche Zölibatsverpflichtung, freiwillig abgelegt worden waren. Nachdem er seine Position gegenüber Melanchthon bereits in zwei Thesenreihen, den Themata de votis vom September 1521, dargelegt hatte, 35 machte Luther sich im November daran, sein großes Gutachten über die Mönchsgelübde (De votis monasticis iudicium) auszuarbeiten. Den Anlaß dazu boten Gerüchte über die Auflösungserscheinungen in Luthers Wittenberger Kloster. Unter dem Einfluß seines Ordensbruders Gabriel Zwilling, der in der Klosterkirche gegen Messe und Gelübde predigte, hatten am 12. November zwölf Augustinereremiten das Kloster verlassen. 36 Aus Sorge um das Gewissen dieser Brüder legte Luther seine Position in nur zehntägiger Arbeit schriftlich nieder und beauftragte Spalatin mit der Drucklegung, die sich allerdings infolge der Wittenberger Unruhen bis zum Februar 1522 verzögerte. In De votis monasticis bewies Luther in fünf selbständigen Argumentationsgängen, daß die Mönchsgelübde, so wie sie bis dahin verstanden und gehandhabt wurden – nämlich als Verpflichtung zu einer besseren Gerechtigkeit, durch die die Ordensleute Verdienste vor Gott und das ewige Heil erwarben –, dem Wort Gottes, dem Glauben, der evangelischen Freiheit, den Geboten Gottes und der Vernunft widersprachen. Also handelte es sich nicht um gute, Gott wohlgefällige und als solche unbedingt bindende Gelübde, sondern um falsche und gottlose Gelübde, die nicht nur gebrochen werden durften, sondern um Gottes und der evangelischen Freiheit willen gebrochen werden mußten. 37 Deshalb sprach Luther in seiner Schrift unter Berufung auf Gottes Wort feierlich alle Mönche von ihren Gelübden los und erklärte, daß ihre Gelübde vor Gott verworfen und nichtig seien. 38 Freilich ermahnte er abschließend alle Ordensleute, die das Kloster verlassen wollen, zuvor sorgfältig ihr Gewissen zu prüfen. 39 Auch Luther selbst fühlte sich von seinen Gelübden befreit. Dem lag einerseits seine neu gewonnene theologische Einsicht von der Nichtigkeit
35
LOHSE, Mönchtum und Reformation, 356–362; LOHSE, Luthers Theologie, 157f.; STAMM, Luthers Stellung, 45–48. 36 PABST , Exempla, 68f. 37 RENE H. E SNAULT , Le „De votis monasticis“ de Martin Luther, in ETR 31 (1956), H. 1, 19–56; H. 3, 58–91; DERS., Luther et le monachisme aujourd’hui. Lecture actuelle du De votis monasticis judicium (= NSTh 17), Genève u.a. 1964; LOHSE, Mönchtum und Reformation, 363–370; LOHSE, Luthers Theologie, 158–161; STAMM, Luthers Stellung, 49–56; PABST , Exempla, 71–75. 38 „… ausim universos monachos a suis votis absolvere et cum fiducia pronunciare, vota eorum esse coram deo reproba et nulla“ (WA 8,597,2–4). 39 WA 8,669,5–8.
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der herkömmlichen Mönchsgelübde zugrunde. In der Widmungsvorrede von De votis monasticis an seinen Vater 40 räumte Luther ein: „[…] mein Gelübde war keinen Pfifferling wert; denn ich entzog mich damit der Gewalt des Vaters, und dem Willen des göttlichen Gebotes. Ja noch mehr, mein Gelübde war gottlos; und daß es nicht aus Gott sei, bewies nicht nur dies, daß es wider deine Gewalt sündigte, sondern auch, daß es nicht aus freiem und willigem Trieb kam. Dazu geschah es auf Menschenlehren und heuchlerischen Aberglauben hin, die Gott nicht geboten hat“. 41
Darüber hinaus aber sah sich Luther durch ein besonderes Eingreifen Gottes der monastischen Existenzweise entnommen: „ipse me extraxit“. 42 Noch vor dem Aufbruch zum Wormser Reichstag hatte Luther in einem Brief an Johannes Lang festgestellt, er sei durch die päpstliche Bannbulle von den Gesetzen des Ordens und des Papstes befreit. 43 Als er am 1. April 1521 seine Schrift gegen Catharinus dem neuen Generalvikar seiner Kongregation Wenzeslaus Linck zueignete, da betonte er ausdrücklich, daß er sich mit dieser Widmung nicht wieder der Autorität seines Ordensoberen unterstelle – eine Erklärung, mit der er übrigens auch Linck davor schützen wollte, vom Papst zu seiner Auslieferung gezwungen zu werden. 44 Zu Beginn der 1530er Jahre sprach Luther dann sogar von einer dreifachen Lossprechung (absolutio), die ihm widerfahren sei: das erste Mal, als Staupitz ihn 1518 während des Augsburger Verhörs durch Cajetan vom Gehorsamsgelübde gelöst habe, das zweite Mal durch die – hier unrichtig auf 1519 datierte – Exkommunikation durch Papst Leo X., und das dritte Mal durch die 1521 vom Kaiser verhängte Reichsacht. 45 40 WILFRIED WERBECK, Martin Luthers Widmungsvorrede zu „De votis monasticis“, in: Luther 62 (1991), 78–89; PABST , Exempla, 47–55; RÜTTGARDT, Klosteraustritte, 30– 35; JOHANNES SCHILLING, Brief an der Vater. Martin Luthers Widmungsbrief zu „De votis monasticis iudicium“ (1521), in: Luther 80 (2009), 2–11. 41 „Neque enim meum votum valebat hunc floccum, quo me subtrahebam parentis autoritati et voluntati divinitus mandatae, imo impium erat, et ex deo non esse probabat non modo id, quod peccabat in tuam autoritatem, sed etiam quod spontaneum et voluntarium non erat. Deinde in doctrinas hominum et superstitionem hypocritarum fiebat, quas deus non praecepit“ (WA 8,574,14–19). Deutsche Übersetzung nach der Braunschweiger Ausgabe, Erg.bd. 1, 211. 42 WA 8,575,24. 43 WA.B 2,277,13–15 (Nr. 382: Luther an Johann Lang, Wittenberg, 6.3.1521): „Nam ab ordinis et Papae legibus solutus sum et excommunicatus autoritate Bullae, quod gaudeo et amplector, nisi quod vestem et locum non relinquo“. Vgl. KÖPF, Luther als Mönch, 74. 44 „… ne existimes, hac Epistola me denuo redigi in tuam autoritatem, ne forte sanctissimus Vicarius dei in terris mandet tibi, ut sanguine meo polluas manus tuas“ (WA 7,706,28–30; Ad librum Ambrosius Catharinus responsio). 45 WA.TR 1,96,5–10 (Nr. 225); 177,31–37 (Nr. 409); 441,38–442,5 (Nr. 884); WA.TR 2,376,9–14 (Nr. 2250). – Zur Lösung aus dem Gehorsamsgelübde KÖPF, Monastische Traditionen, 19.
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Seit seinem Aufenthalt auf der Wartburg konnte Luther seine monastische Existenz, wie er sie seit 1505 geführt hatte, als beendet ansehen. Am 17. September 1521 bezeichnete er sich letztmalig in einer Briefunterschrift als Angehörigen des Augustinereremitenordens. 46 Dazu stimmt, daß Luther später die Dauer seines Mönchtums wiederholt mit 15 Jahren angegeben hat: „Was hab ich gethan und gelebt bisher in meinem Closter leben, da ich funffzehen jar teglich Christum gecreutzigt und alle Abgoetterey getrieben habe“. 47 Als er, von der Wartburg zurückgekehrt, in Wittenberg wieder auf der Kanzel stand, da konnte er im Perfekt der vollendeten Vergangenheit von seinem Mönchtum sprechen: „Ich bin auch ein monch geweßen …“ 48
III. Luthers Experiment eines evangelischen Mönchtums „Ipse [sc. deus] me extraxit“. 49 Fünfzehn Jahre nach der Profess hatte Luther seine frühere monastische Existenz, die er in ihrer Eigenlogik als Widerspruch zur evangelischen Freiheit, als Abgötterei und Kot erkannt hatte, überwunden und abgelegt. Auf der Wartburg hatte er Abschied genommen von einem unevangelischen Werkmönchtum. Doch anders als viele seiner Wittenberger Klosterbrüder, anders auch als hunderte von anderen Ordensleuten, wechselte Luther nicht sofort in eine weltliche Lebensweise über. Vielmehr praktizierte er noch bis 1524/25 eine Lebensform, die ich „evangelisches Mönchtum“ nennen möchte. Wir haben es in Luthers Biographie demnach mit einem doppelten Mönchtum und dementsprechend auch mit einem doppelten Abschied vom Mönchtum zu tun. So erklärt sich ein auffälliger Widerspruch in den späteren Reminiszenzen Luthers auf seine monastische Vergangenheit, wo er die Dauer dieser Lebensphase einerseits mit 15, andererseits mit 20 Jahren beziffern kann. 50 15 Jahre – das ist die Zeit von der Profess bis zur Abfassung von De votis monasticis, in der sich Luther an die ewigen Gelübde gebunden fühlte, die, wie ihm 1519 aufgegangen war, die evangelische Freiheit zerstörten. 20 Jahre – das ist die Zeit von Luthers Klostereintritt als Postulant bis zu seiner Vermählung mit Katharina von Bora, der demonstrativen Distanzierung vom Keuschheitsgelübde.
46
KÖPF, Luther als Mönch, 74f. WA 21,486,8–10 (Crucigers Sommerpostille 1544, Pfingstmontag). 48 WA 14,123,26f. (Nachmittagspredigt vom Sonntag Jubilate = 26.4.1523); vgl. PABST , Exempla, 299f. 49 S.o. Anm. 42. 50 KÖPF, Luther als Mönch, 68 (mit Belegstellen), 78. 47
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Die knapp fünf Jahre, in denen Luther das von mir so genannte „evangelische Mönchtum“ praktizierte, waren, rückschauend betrachtet, nicht viel mehr als ein Experiment und eine Episode. Luther hat seine neue Lebensform niemals programmatisch erläutert, und er hat auch kein terminologisches Etikett dafür geprägt. 51 Nicht nur, daß dem neuen evangelischen Mönchtum die strukturellen Voraussetzungen fehlten, eine auf Dauer gestellte Institution zu werden – es gab zu Mißverständnissen und Fehldeutungen Anlaß, die seine Kontinuierung nicht geraten erscheinen ließen. Die Möglichkeit und theologische Basis eines evangelischen Mönchtums hat Luther in seinen Schriften aus der Wartburgzeit mehrfach, wenngleich immer nur beiläufig, beschrieben. Bereits in den Themata de votis vom September 1521 stellt er fest, daß die Ordensleute nicht unbedingt das Kloster verlassen müssen. 52 Derjenige Mönch, der dies will und kann, darf bei seinem Orden und seinen Gelübden bleiben, nur muß er den damit verbundenen abusus – die Werkgerechtigkeit und die Vorstellung einer ewigen Bindung durch die Gelübde vor Gott – preisgeben. Im Übrigen ist es gerade ein Gebot der evangelischen Freiheit, eine recht verstandene, aus dem Glauben und der Taufe begründete monastische Existenz nicht in neuer Gesetzlichkeit auszuschließen. Bernhard und andere Heilige hielten ihre Gelübde nicht als bindende Verpflichtung, sondern aus freier Entscheidung. So etwas kann und muß auch heute möglich sein. Luthers Fazit lautet: „Gelübde sind frei, sie sind nicht verdammt; sie können sowohl zeitlich als auch ewig beobachtet werden“. 53 Dieselbe Möglichkeit hat Luther auch in De votis monasticis wiederholt eingeräumt: Es steht dem Christen frei, alle menschlichen Gesetze, Gebräuche und Sitten zu halten, wenn diese nur nicht wider die göttlichen Gebote sind, und er nicht von ihnen sein Heil erhofft: „Darum, wenn du Möncherei gelobst, daß du mit derartigen Menschen leben willst, des Gewissens, daß du keinen Nutz noch Schaden dadurch bei Gott suchest, sondern weils sichs also getroffen hat, diese Art des Lebens anzunehmen, oder weil es dir gefallen hat, so zu leben, ohne daß du deswegen dich für besser hältst als den, der ein Weib genommen oder den Ackerbau ergriffen hat, so gelobst du nicht schlecht und lebst du nicht schlecht, soweit es das Verfahren des Gelübdes betrifft“. 54 51 Der von Vera Pabst verwendete Terminus „Mönch Christi“ (z.B. PABST , Exempla, 1, 128, 300, 337, 342) ist in freier Anlehnung an WA 8,575,28f. gebildet und kommt so bei Luther nicht vor. 52 LOHSE, Mönchtum, 356–362; STAMM, Luther Stellung, 45–47. 53 „Vota libera sunt, non damnata, tum temporaliter, tum perpetuo servabilia“ (WA 8,335,18). 54 „Potest enim Christianus omnes omnium hominum leges, ritus, mores observare et sese eis accommodare, modo non sint adversus divina mandata, nec in eis fiduciam conscientiae ponat. […] Sive enim cum Turcis abstineas a vino, sive cum Christianis bibas vinum, nihil refert, modo libera conscientia biberis. Sic Paulus sese accommodabat gen-
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Allerdings kann ein evangelisches Mönchtum nicht einfach in Perpetuierung der alten, nach Luthers Verständnis gottlosen Gelübde gelebt werden. Denn diese Gelübde sind verwerflich und dürfen von einem Christen nicht gehalten werden. Wer sich im Glauben und in evangelischer Freiheit für ein monastisches Leben entscheidet, muß vielmehr vor Gott neue Gelübde ablegen: 55 Er „soll und mag widder frey welltlich werden, odder muß von newes recht auß hertzen unnd auß guttem grund gelobenn“. 56 In De votis monasticis hat Luther sogar zwei regelrechte Formulare für derartige evangelische Gelübde, formuliert in der 1. Person Singular, mitgeteilt. In dem ausführlicheren von beiden heißt es: „Siehe da, mein Gott, diese Art des Lebens gelobe ich dir, nicht weil ich glaube, dies sei der Weg zur Gerechtigkeit und zum Heil und zur Genugtuung für die Sünden. (…) Ich will diese Form des Lebens ergreifen, um meinen Leib in Zucht zu halten, dem Nächsten zu dienen, über dein Wort nachzusinnen, wie ein anderer den Ackerbau oder ein Handwerk ergreift, ein jeder zu seiner Übung und Beschäftigung, ohne irgend welche Rücksicht auf Verdienste oder Rechtfertigung …“ 57
Das zweite, kürzere Formular einen solchen evangelischen Gelübdes mutet demgegenüber noch sehr viel traditioneller an: „Ich gelobe dir Gehorsam, Keuschheit, Armut mit der ganzen Regel St. Augustini bis zu meinem Tode frei zu halten, das heißt so, daß ich’s ändern kann, sobald es mich gut tibus et Iudaeis liberrima conscientia: cum his abstinebat et circumcidebat, cum illis edebat et non circuncidebat. Ita si voveas religionem, ut cum hominibus eiusmodi vivas, ea conscientia, ut nihil hinc commodi vel incommodi petas apud deum, sed quod vel casus hoc vitae genus obtulerit amplectendum, vel ita visum tibi sit vivere, nihilo te meliorem hinc arbitratus eo, qui vel uxorem duxerit, vel agriculturam apprehenderit, neque male voves neque male vivis, quantum ad voti rationem attinet“ (WA 8,609,38–40; 610,2–10). – Deutsche Übersetzung nach der Braunschweiger Ausgabe, Erg.bd. 1, 270. Vgl. WENDEBOURG, Der gewesene Mönch, 321. 55 STAMM, Luthers Stellung, 122–126. 56 WA 10 I.1,683,5–7 (Weihnachtspostille, 1521); vgl. ebd., 687,20.23: „Darumb allen den tzu ratten ist, das sie platten und kappen, stifft unnd kloster lassen und auffhoren yhr gelubd tzu hallten, odder fahen von newes an, ynn Christlichem glawben unnd meynung tzu geloben solchs leben“. – Vgl. ferner WA.B 2,384,71f. (Nr. 428; Luther an Melanchthon, 9.9.1521): „aut votum eiusmodi rescindatur aut omnino de novo voveatur, hoc est, spiritu libertatis sub votum eatur“ ; STAMM, Luthers Stellung, 45. – „Votum … seu religionem nova pietatis opinione innovare denuo potest“ (WA 8,326,1; Themata de votis, 1521; STAMM, Luthers Stellung, 46). – „Vota monastica extra fidem facta et servata sunt peccata, per hoc et irrita, damnabilia, revocanda et omittenda, aut aliter denuo vovenda et servanda“ (WA 8,593,3–5; De votis monasticis, 1521). 57 „‚Ecce, deus, hoc vitae genus voveo tibi, non quod existimem hanc esse viam ad iustitiam et salutem aut satisfactionem peccatorum. […] … apprehendam hanc formam vivendi exercendi corporis gratia, ad serviendum proximo, ad meditandum in verbo tuo, quemadmodum alius apprehendit agriculturam aut artificium pro suo quisque exercitio, absque ullo meritorum aut iustificationis respectu …‘ (WA 8,604,10f.19–22) = Braunschweiger Ausgabe, Erg.Bd. 1, 260f.
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dünkt“. 58 Die Erwähnung der Augustinusregel an dieser Stelle könnte darauf hindeuten, daß Luther selbst auf der Wartburg so oder ähnlich seine Gelübde vor Gott erneuert hat. In diesem Sinne wird man die zunächst enigmatische Bemerkung Luthers in der Widmungsvorrede von De votis monasticis verstehen dürfen: „… iam sum monachus et non monachus, nova creatura, non Papae, sed Christi“. 59 Luther ist kein Mönch im herkömmlichen Sinne, keine Kreatur des Papstes und seiner Menschensatzungen mehr; Luther ist jetzt ein Mönch im neuen, evangelischen Sinn, eine neue Kreatur Christi. Damit war für die Luther die Entscheidung gefallen, nach der Rückkehr von der Wartburg die mit einem neuen Sinn erfüllte monastische Lebensweise wieder aufzunehmen. Bereits am 18. Dezember 1521 kündigte er dies in einem Brief an Wenzel Linck an: „ego in habitu et ritu isto manebo, nisi mundus alius fiat“. 60 Ganz im Sinne Luthers entschied dann auch das Kapitel der Reformkongregation der Augustinerkongregation, das am Epiphaniastag 1522 unter Vorsitz von Linck in Wittenberg tagte, für seine Angehörigen die Gelübde aufzuheben. Zugleich wurde allen Brüdern freigestellt, freiwillig weiter im Kloster zu bleiben und ein Leben nach dem Maßstab des Liebesgebotes zu führen; dabei sollten sie, um anderen keinen Anstoß zu geben, das Ordensgewand und die übrigen monastischen Gebräuche beibehalten. 61 Damit begann auch auf Kongregationsebene das Experiment eines „evangelischen Mönchtums“. Als Luther am 6. März 1522, von der Wartburg kommend, in Wittenberg eintraf, bezog er wieder seine alte Zelle im inzwischen fast vollständig entvölkerten Schwarzen Kloster. Obwohl für sein neues evangelisches Mönchtum an „Kutte und Platte“ nichts lag, 62 legte er doch umgehend wieder das Ordensgewand an; damit entsprach er den Beschlüssen des Epiphanias-Kapitels. Vom Wittenberger Rat erhielt Luther für über acht Gulden Stoff für eine neue Kutte – möglicherweise dieselbe, die heute im Lutherhaus ausgestellt wird, 63 und auch Hieronymus Schurf und Kurfürst Friedrich der Weise versorgten ihn mit Tuch.64 Als Dokument dieser Lebensphase Luthers zwischen 1522 und 1524 galt bislang ein Lukas Cranach 58 „Voveo tibi obedientiam, castitatem, paupertatem servandam cum tota regula S. Augustini usque ad mortem libere, hoc est, ut mutare possim, quando visum fuerit“ (WA 8,614,12-14) = Braunschweiger Ausgabe, Erg.Bd. 1, 278. 59 WA 8,575,28f. Vgl. E SNAULT , Luther et le monachisme aujourd’hui, 54f. 60 WA.B 2,415,25f.; PABST, Exempla, 81. 61 STAMM, Luthers Stellung, 132; PABST , Exempla, 83. 62 „Quid enim si vestem et rasuram vel gestem vel ponam? Nunquid cucullus et rasura faciunt monachum? ‚Omnia vestra‘, ait Paulus, ‚vos autem Christi‘, et ego cuculli ero, ac non potius cucullus meus?“ (WA 8,575,24–26; De votis monasticis, 1521). 63 HARALD MELLER (Hg.), Fundsache Luther. Archäologen auf den Spuren des Reformators, Halle/Stuttgart 2008, 220f. 64 WA.TR 4,303f.,19–24 (Nr. 4414); WA.TR 4,624,15–18 (Nr. 5034).
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d. Ä. zugeschriebenes Porträt aus dem Besitz der Paul Wolfgang Merkelschen Familienstiftung:65 Es zeigt Luther rasiert und im Ordensgewand, aber ohne Tonsur, mit einem Buch, sicherlich der Bibel, in der Hand. Die ikonographische Analyse ergibt, dass diesem Gemälde zwei ältere Lutherporträts als Vorlage dienten: Das Ordensgewand, die Haltung der freien Hand und das Buch sind Übernahmen aus dem ältesten offiziellen Porträt Luthers, einem Kupferstich Cranachs von 1520. Demgegenüber sind Luthers Haarschopf und die Haltung der Iinken Hand Zitate aus dem Gemälde Cranachs von Luther als Junker Jörg mit einem Schwert.66 In dieser Verschmelzung der Zeitebenen wird Luthers Existenz als evangelischer Mönch, als „monachus et non monachus“, anschaulich. Allerdings steht inzwischen in Zweifel, dass es sich um ein authentisches Porträt handelt. Die neueste Forschung schreibt das Bild der Cranach-Werkstatt zu und datiert es auf die Zeit nach 1546; Luthers volles Haupthaar, das auf die Jahre seines „evangelischen Mönchtums“ verweisen würde, sei schlicht ein historischer Fehler.67 Im Schwarzen Kloster gewährte Luther bald auch anderen vertriebenen Ordensleuten Gastfreundschaft In dieser Verschmelzung der Zeitebenen wird Luthers Existenz als evangelischer Mönch, als „monachus et non monachus“, evident. 68 – darunter Johann Eberlin von Günzburg (ca. 1465– 1533), der damals ebenfalls ein evangelisches Mönchtum praktizierte und sich in einer Schrift vom Oktober 1522 Wider den unvorsichtigen, unbescheidenen Ausgang vieler Klosterleute aus ihren Klöstern, darin sie vielleicht ohne Gottes Schmach hätten mögen wohnen, ausspr ach. 69 Aus einem Bericht des Johannes Dantiscus vom 8. August 1523 erfahren wir, daß die Brüder zwar monastische Kleidung, nicht mehr aber die mönchische Tonsur 65 Lukas CranaCh d. Ä, Bildnis Luthers als Augustinermönch, ca. 1522/24, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Vgl. http://lucascranach.org/DE_GNMN_Gm1570 (19.1.2017); Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers, veranstaltet vom Germanischen Nationalmuseum in Zusammenarbeit mit dem Verein für Reformationsgeschichte, Frankfurt a.M. 1983, Nr. 363, S. 278 und Titelbild. 66 Lukas CranaCh d. Ä, Bildnis Luthers als Augustinermönch, Kupferstich 1520; ebd., Nr. 215, S. 175. – Lukas Cranach d. Ä, Martin Luther als Junker Jörg, 1522, Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen; vgl. http://lucascranach.org/DE_KSW_G9 (19.1.2017). 67 Daniel Hess/Oliver Mack, Luther am Scheideweg oder der Fehler eines Kopisten? Ein Cranach-Gemälde auf dem Prüfstand, in: Wolfgang Augustyn/Ulrich Soding (Hg.), Original – Kopie – Zitat. Kunstwerke des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Passau 2010, 279-295. – Für freundliche Auskünfte danke ich Dr. Daniel Hess vom Germanischen Nationalmuseum. 68 Zum Folgenden Pabst, Exempla, 127–129, 341f. 69 Christian Peters, Johann Eberlin von Günzburg, ca. 1465-1533. Franziskanischer Reformer, Humanist und konservativer Reformator (= QFRG 60), Gütersloh 1994, 73–80; sChilling, Klöster und Mönche, 139f.; rüttgardt, Klosteraustritte, 23.
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trugen – wahrscheinlich deshalb, weil sie rechtlich Abzeichen der Zugehörigkeit zum Klerus und der Unterstellung unter die kirchliche Hierarchie war.70 An den Sonn- und Feiertagen versammelten sich die Bewohner des Schwarzen Klosters vor der Predigt zu einer Morgenandacht, abends pflegten sie geselligen Austausch bei Wein und Bier. Im Kloster trug Luther nicht immer das Ordensgewand; wenn er aber das Haus verließ, legte er es stets an. Das hinderte ihn nicht, im Frühjahr 1522 bei einer Predigtreise durch verschiedene sächsische Städte aus Sicherheitsgründen weltliche Kleidung zu tragen.71 Bis 1524 beobachtete Luther auch weiterhin die traditionellen Fastenvorschriften.72 Das neue evangelische Mönchtum war von den theologischen Einsichten, die Luther auf der Wartburg gewonnen hatte, gedeckt. Und dennoch müssen wir fragen, warum er sich, anders als viele, anders als die meisten anderen vom reformatorischen Evangelium ergriffenen Ordensleute, auf dieses Experiment einließ, warum er seine Gelübde im evangelischen Sinne erneuerte, statt sogleich in ein weltliches Leben einzutreten. Es ist gut vorstellbar, daß es Luther schwergefallen wäre, die über Jahre hinweg praktizierte Lebensform einfach aufzugeben. Dazu kam ein Zweites: Mit der Entscheidung für das monastische Leben hatte Luther sich ehedem von der Lebensplanung seines Vaters emanzipiert, der für ihn eine lukrative Eheschließung vorgesehen hatte.73 Gegen seinen Vater hatte er sich damals auf den göttlichen Willen berufen, wie er sich im Gewitter von Stotternheim kundgetan habe. Noch die Widmungsvorrede von De votis monasticis gibt Kunde von den Auseinandersetzungen, die Vater und Sohn gerade über diesen Punkt geführt hatten. Jetzt, anderthalb Jahrzehnte später, hat Luther seine Sicht des Mönchtums revidiert; doch seine persönliche, biographische Entscheidung revidieren, sich womöglich verheiraten und so nachträglich noch der Lebensplanung des Vaters unterwerfen, kann und will er nicht. Denn inzwischen hat ihn Gott zum Dienst des Wortes berufen: „Und hier ist fürwahr der Gottesdienst, dem die Gewalt der Eltern weichen muß …“74 Im Übrigen ist hier zu beachten, daß es zum monastischen oder klerikalen Rollenmodell für einen Professor der Theologie noch keine etablierte Alter-
70 bernhard sChimmelPfenning, Klerus, in: gerd melville/martial staub (Hg.), Enzyklopädie des Mittelalters, Darmstadt 2008, Bd. 1, 133–139, hier: 136. 71 Pabst, Exempla, 146f. 72 WA.TR 4,303,26 (Nr. 4414). 73 WA 8,573,24. 74 „Sed nunquid iterum tuo te iure et autoritate spolio? plane autoritas tibi in me manet integra, quod ad monachatum attinet, verum is iam nullus in me est, ut dixi. Caeterum is, qui me extraxit, ius habet in me maius iure tuo, a quo me vides positum iam non in fictitio illo monasticorum, sed vero cultu dei. In ministerio enim verbi me esse quis potest dubitare? At hic cultus plane est, cui cedere debet parentum autoritas …“ (WA 8,575,32–38). Deutsche Übersetzung in der Braunschweiger Ausgabe, Erg.bd. 1, 213f., hier: 213.
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native gab; wie schwierig es sein konnte, hier eine angemessene Lösung zu finden, zeigt sich am Beispiel Karlstadts. In erster Linie waren es aber wohl theologische Gründe, die Luther zu der Option eines evangelischen Mönchtums bewogen. Er selbst hat sich wiederholt in diesem Sinne geäußert. In einem Brief an Wolfgang Capito vom 25. Mai 1524 gab Luther an, er habe in den vergangenen zwei Jahren die Kutte „ad sustentationem infirmorum et ad ludibrium papae“ getragen.75 „Ad ludibrium papae“ – zur Verspottung des Papstes: denn Luther stand von 1522 bis 1524 als Mönch auf der Kanzel der Wittenberger Stadtkirche und geißelte – das Mönchtum. Zwischen dem März 1522 und dem Mai 1523 hat er sich in etwa einem Viertel seiner Predigten mehr oder weniger ausführlich mit dem Mönchtum auseinandergesetzt, wie Vera Christina Pabst in einer detaillierten Analyse herausgearbeitet hat.76 Wichtiger indessen scheint der zweite von Luther genannte Beweggrund gewesen zu sein: „ad sustentationem infirmorum“. Damit ist ein theologischer Zentralgedanke seiner Invocavitpredigten aufgenommen. Mit der biblisch gebotenen Rücksichtnahme auf die Schwachen im Glauben begründete Luther im März 1522 seine Ablehnung einer überstürzten, die evangelische Freiheit und das Gewissen mißachtenden Einführung von Neuerungen in Gottesdienst und Gemeindeverfassung. Und eben die Rücksichtnahme auf die Schwachen – seien es jene Ordensleute, die sich weiterhin an ihre Gelübde gebunden fühlten, seien es jene Gemeindeglieder, die Anstoß an den vermeintlich meineidigen, entlaufenen Klosterleuten nahmen – gebot es Luther auch, mit seiner eigenen Existenz ein Zeichen zu setzen. Nach der vorangegangenen heftigen Agitation von Karlstadt, Zwilling und anderen gegen den Ordensstand und nach tätlichen Übergriffen auf Ordensleute auf Wittenbergs Straßen demonstrierte Luther, daß zur evangelischen Freiheit eben auch die Möglichkeit gehörte, an einem recht verstandenen Mönchtum festzuhalten. Es ist kein Zufall, daß der neue, evangelische Mönch Luther seine ersten öffentlichen Auftritte als der Invocavitprediger hatte. Ausdrücklich hat Luther diesen Zusammenhang in der Vormittagspredigt am Dienstag nach Invocavit (= 11. März 1522) thematisiert: „… was got hat frey gemacht, das soll frey bleyben; verbeüt dirs aber yemants, als der Bapst gethan hat, der Antichrist, dem saltu nit volgen. Wer es on schaden thun kan und zu liebe dem nechsten ein kappe tragen oder platten, die weyl dirs an deinem glaüben nicht schadet: die kappe erwürget dich nicht, wan du sie schon trägest. Also, lieben freünde, es ist klar genug gesagt, jch meyne, jr soltens verstan und keyn gebott auß der freyheit machen Sprechende: der pfaff hat ein weyb genommen, darumb müssen sie alle weyber nemmen, noch nitt; der Münch oder Nonne ist auß dem kloster gangen, darumb müssen sie alle herauß gan, noch nit …“77
Am Tag darauf ließ Luther ein persönliches Bekenntnis folgen: 75 76 77
S.u. Anm. 86. Vgl. Pabst, Exempla, 380f.; Oberman, Friar, 200. Pabst, Exempla, 14. WA 10 III,24,4-12; Pabst, Exempla, 135.
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„wenn mich der Bapst oder sonst yemandts wolte zwingen, jch müste die kappe tragen, das und kein anders, so wolt ich jn die kappe zu trutz ablegen; nu es aber in meynem freyen willen ist, so wil ich sie tragen, wenn es mich gelüst, wenn nicht, so wil ich sie ablegen“. 78
IV. Luthers Abschied vom evangelischen Mönchtum Die neue Lebensform eines evangelischen Mönchtums blieb eine Episode in Luthers Leben. Es fällt auf, daß Luther diese Lebensweise nicht offensiv literarisch propagiert oder verteidigt hat. Auch in seinen Predigten der Jahre 1522 bis 1524 ist er nur selten und nebenher darauf zu sprechen gekommen. Außer den beiden oben zitierten Stellen aus den Invocavitpredigten ist hier eigentlich nur die erste Predigt Luthers in der Wittenberger Schloßkirche nach seiner Rückkehr von der Wartburg am 25. Februar 1523 zu nennen; unter Luthers Hörern waren damals Herzog Bogislav von Pommern und die noch mehrheitlich altgläubigen Stiftsherren des Allerheiligenstifts. Doch auch hier blieb es bei einer beiläufigen Bemerkung. Bei Gelegenheit der Erläuterung des reformatorischen „solus Christus“ erklärte Luther, es sei legitim, die Kutte zu tragen, wenn man dadurch Anstoß vermeiden wolle – nicht aber, um dadurch selig zu werden. 79 Wie ist diese Zurückhaltung zu erklären? Offensichtlich war Luther davon überzeugt, daß die Lebensweise eines evangelischen Mönchtums zwar für ihn praktikabel und als Demonstration der evangelischen Freiheit nützlich war, daß sie aber schwerlich als ein Lebensentwurf für viele in Frage kam. Der Grund dafür lag in seiner Beurteilung des Keuschheitsgelübdes. 80 In seiner Auslegung von 1 Kor 7 führte er 1523 aus, an und für sich sei die Keuschheit edler als die Ehe; doch seien beide Gaben Gottes und vor ihm gleichwertig. Freilich handele es sich bei der Keuschheit um ein besonderes Geschenk Gottes, das niemand von sich aus geloben und halten könne. Insofern konnte ein Leben in freiwilliger Keuschheit nur die Option für eine charismatische Minderheit sein, während die Gottes Schöpferwillen eigentlich entsprechende Lebensweise der Ehestand war. Es mag auch mit der mangelnden Verständniswerbung in eigener Sache zu tun haben, daß Luthers persönliche Lebensweise bald Mißdeutungen und Kritik von Seiten seiner altgläubigen Gegner ausgesetzt war. Diese sahen Luthers Lehren über Mönchtum, Zölibat und Fasten durch sein eigenes Leben widerlegt: „Wehre es recht, das er leret, so thet ers auch!“ 81 78
WA 10 III,38,2–5; PABST , Exempla, 138. „Si solus ipse fecit, oportet ut omnia opera nihil sint, ut hucusque facta sunt, potes cuculla uti, ne offendiculum praebeas etc. non tamen, quasi per eam velis salvari“ (WA 11,35,6–9); vgl. PABST , Exempla, 267. 80 Zum Folgenden STAMM, Luthers Stellung, 64, 112. 81 WA.TR 4,303,27 (Nr. 4414). 79
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Selbst der Humanistenfürst Erasmus von Rotterdam äußerte gegenüber Spalatin diesen Vorwurf. 82 Doch auch Anhänger Luthers wie sein ehemaliger Ordensbruder Jakob Probst (ca. 1495–1562), 83 der spätere Reformator von Bremen, empfanden eine anstößige Diskrepanz zwischen der von Luther verkündigten evangelischen Freiheit und seiner monastischen Lebensweise. 84 Es war die Verbreitung derartiger Mißdeutungen, die Luther letztlich zur Preisgabe der monastischen Lebensweise zwang. In der veränderten Situation mußte dieser zweite Abschied vom Mönchtum als das deutlichere Zeugnis für die evangelische Freiheit erscheinen. Luther bekennt rückblikkend, daß er sich damit sehr schwer getan habe; habe er doch mit dem Tragen der Kutte und der Beobachtung des Zölibats und der Fasten nur den Schwachen im Glauben dienen wollen. 85 Am 25. Mai 1524 teilte Luther Capito seinen Entschluß mit, demnächst das Ordensgewand abzulegen. 86 Anscheinend hat er daraufhin zum Zeichen seiner evangelischen Freiheit zunächst einmal für kürzere Zeit auf das Tragen der Kutte verzichtet, sie dann aber wieder angelegt. 87 Am Sonntag, den 9. Oktober 1524, trat Luther erstmals ohne Ordensgewand auf die Kanzel. Zur Frühpredigt am darauf folgenden Sonntag trug er noch einmal die Kutte, um dann zur Vormittagspredigt wieder in weltlicher Kleidung zu erscheinen. 88 Luther hat die Kutte nie wieder getragen. Das war für ihn ein Opfer, das er für die Verteidigung der Glaubwürdigkeit seiner evangelischen Lehre bringen mußte. Die Preisgabe der Fastendisziplin und die Eheschließung im Juni 1525 mußten als weitere Schritte auf diesem Weg notwendig folgen. 89 Damit war Luther nun endlich – zwanzig Jahre, nachdem er sich 82
S.u. Anm. 88. E RNST PULSFORT , Art. Probst, in: BBKL 7 (1994), 966–968. 84 WA.TR 4,304,27–29 (Nr. 4414). 85 „Item dicebat, quam aegre et difficulter deposuisset habitum. […] Papistae cavillabantur me, cum tamen exteris vellem servire, cappa, coelibatu, abstinentia carnibus, quadragesimis … […] … kam mich sawer an, non propter meam conscientiam, sed aliorum, quibus inservire studui“ (WA.TR 4,303,17f.25–27; 304,4–6 [Nr. 4414]). 86 „Nam & ego incipiam tandem etiam cucullum reicere, quem ad sustentationem infirmorum & ad ludibrium papae hactenus retinui” (WA.B 3,299,23–25; Nr. 748); vgl. Pabst, Exempla, 380f. 87 „Ego semel deposui cappam, ut indicarem libertatem eius vestis, postea indui iterum“ (WA.TR 4,624,14f.; Nr. 5034). 88 Vgl. den Bericht Spalatins: „Doct. Martinus Lutherus Dom. post Francisci [9. Oktober] sine cuculla Wittenbergae praedicavit. Dom. Galli [16. Oktober] ante prandium rursus in concionem cucullatus prodiit, post prandium vero sine cuculla concionatus, ut falsus sit Erasmus … ad me scribens Lutherum docere ea licere, quibus ipse non utitur“ (zitiert nach WA.B 3,301 Anm. 6). Vgl. auch WA 15,713,2. 89 „Et tandem anno 1523. [sic!] deposui habitum in gloriam Dei et confusionem Sathanae multis mihi arridentibus pro libertate, dan hette ich nicht selbst die kappe abge83
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durch den Weg ins Kloster einer vom Vater arrangierten Eheschließung entzogen hatte – in den Ehestand getreten. 90 Doch noch 1528 bekannte er, daß er unter anderen Umständen lieber an einem erneuerten Klosterleben festgehalten hätte. 91 Und noch 1533 in der eingangs zitierten Kampfschrift gegen Georg von Sachsen malte Luther wehmütig die von ihm inzwischen als unrealistisch erkannte Vision eines Mönchtum nach dem Vorbild der heiligen Väter aus: „Wenn sie doch also keusch odder unehlich (ich wolt sagen) on Ehe lebten frey da hin wie die heiligen Veter, auch wie Christus selbs gethan hat, machten keine sondere heiligkeit odder Gottes dienst draus, der andern mit geteilet und verkaufft solt werden, Jtem, neereten sich jrer erbeit, wie ein Pfarher und Prediger thun, odder, so jn etwas wuerde gegeben, das sie es mit danck annemen als ein geschencke und gabe umb sonst gegeben, Und nicht da fuer jre ubrige heiligkeit verkeufften, Das were wol ein fein wesen. Aber da würden wenig Münche bleiben …“ 92
Der zweite Abschied vom Mönchtum war, so schwer er Luther fiel, ein Abschied auf Dauer. Es ist bemerkenswert, daß Luther letztlich nie aus seinem alten Kloster ausgezogen ist. Es ist bemerkenswert, daß es ausgerechnet eine ehemalige Nonne war, mit der er 1525 die Ehe einging. Sicher brachten die Eheleute manche Prägungen und Erfahrungen ihrer monastischen Vergangenheit in den neuen Lebensabschnitt ein; Inge Mager hat pointiert von dem „Wittenberger Familienkloster“ gesprochen. 93 Und doch hatten Luther und Katharina von Bora mit ihrer Eheschließung als dem demonstrativen Bruch des Keuschheitsgelübdes für jeden erkennbar mit ihrer monastischen Vergangenheit abgeschlossen. Es ist bezeichnend für Luther, daß er in gleicher Weise, wie er seit seiner Wartburgzeit mit Rat und Tat austrittswillige Mönche und Nonnen legt, fleisch gessen, ein weib genomen, omnes papistae cavillati fuissent meam doctrinam non esse veram, quia aliter fecissem, quam docuissem“ (WA.TR 4,303,29–304,3 [Nr. 4414]). 90 Vgl. HANS-CHRISTOPH RUBLACK, Zur Rezeption von Luthers De Votis Monasticis Iudicium, in: RAINER POSTEL/FRANKLIN KOPITZSCH (Hg.), Reform und Revolution. Beiträge zum politischen Wandel und den sozialen Kräften am Beginn der Neuzeit. Festschrift für Rainer Wohlfeil zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1989, 224–237, hier: 225: „Erst 1525 willfahrt er beiden, dem himmlischen und dem natürlichen Vater, und tritt in den Hausstand ein“. 91 WA.B 4,391,32–34 (Nr. 1228; Luther an Abt Heino Gottschalk von Oldenstadt, 28.2.1528). 92 WA 38,164,16–23. 93 INGE MAGER, Vom Mönchs- und Nonnenkloster zum Wittenberger Familienkloster, in: WOLFGANG BREUL-KUNKEL/LOTHAR VOGEL (Hg.), Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag, Darmstadt 2001, 35–48. Vgl. SUSAN C. KARANT -NUNN , Reformation und Askese. Das Pfarrhaus als „evangelisches Kloster“, in: IRENE DINGEL/WOLF-FRIEDRICH SCHÄUFELE (Hg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit (= VIEG Beih. 74), Mainz 2007, 211–228.
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unterstützte, zeitlebens auch solchen Ordensleuten Beistand leistete, die sich für ein evangelisches Mönchtum entschieden, wie er selbst es zeitweilig praktiziert hatte. 1528 bestärkte er den Benediktinerabt Heino Gottschalk bei Uelzen, der sich schon früh mit seinen Mönchen der Reformation angeschlossen hatte, in seinem Wunsch, das Ordensleben im Geist evangelischer Freiheit fortzusetzen. 94 1529 setzte er sich gegenüber Kurfürst Johann dem Beständigen für den evangelisch gewordenen Abt Johannes III. von Fulda ein. 95 1532 fanden die reformatorisch gesinnten Brüder des Herforder Fraterhauses in Luther einen Fürsprecher und Verteidiger gegen die evangelischen Prediger der Stadt. 96 Mit Interesse verfolgte Luther auch die weitere Entwicklung seiner alten Kongregation, die mit dem Epiphanias-Kapitel von 1522 ebenfalls den Weg eines „evangelischen Mönchtums“ eingeschlagen hatte – einen Weg, der sich mit der Aufhebung des letzten Konvents auf dem Ehrenbreitstein im Jahre 1572 auch auf dieser Ebene als nicht gangbar erwies. 97 Innerhalb weniger Jahrzehnte sollte sich im Großen bestätigen, was Luther persönlich im Wittenberger Mikrokosmos erfahren hatte: daß dem Experiment eines evangelischen Mönchtums – wenigstens unter den Bedingungen des Reformationszeitalters – keine Zukunft beschieden war.
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STAMM, Luthers Stellung, 69f. Ebd., 73f. 96 Ebd., 77. 97 Ebd., 127–144. 95
„Deus ita voluit, ut derelictae misericordiam praestarem“ Luthers Eheschließung: ein theologisches Zeichen? Armin Kohnle 1. Luthers Eheschließung als biographisches Problem Am Dienstag, dem 13. Juni 1525, abends nach 5 Uhr, schlossen Martin Luther und die ehemalige Nonne Katharina von Bora in Luthers Wohnung im Wittenberger Augustinerkloster die Ehe. Die Trauung vollzog der Wittenberger Stadtpfarrer Johannes Bugenhagen, als Zeugen fungierten das Ehepaar Lukas und Barbara Cranach sowie die Wittenberger Professoren Justus Jonas und Johann Apel. 1 Weitere Personen waren nicht zugegen. Die Hochzeitsfeier, an der auch Luthers Eltern teilnahmen, fand zwei Wochen später, am 27. Juni 1525, statt und war mit dem öffentlichen Kirchgang des Brautpaars verbunden. 2 Um diese beiden wohlbekannten Ereignisse, die zusammen die Ehe Martin Luthers und Katharina von Boras begründeten, geht es im folgenden. Dabei ist es die Aufgabe dieses Beitrags, von Luthers Biographie auszugehen. Dies soll in der Weise geschehen, daß die Eheschließung Luthers zunächst lebensgeschichtlich eingeordnet und historisch-genetisch erklärt wird. Die Stärke des biographischen Zugangs besteht ja gerade darin, das Individuelle, das Einmalige offenlegen zu können. Biographie fragt vorrangig nach Konstellationen und Motivationen im Leben eines Menschen, die sich in individuellen Entscheidungen und Handlungen niederschlugen. Dennoch wird sie niemals ohne die Kenntnis der Strukturen, in denen ein Mensch sich bewegt, und ebensowenig ohne die Einbeziehung der handlungsleitenden Ideen und Überzeugungen auskommen, bei einem Theologen also ohne seine Theologie. Aus Gründen der auf dieser Tagung vorgesehenen Arbeitsteilung soll der letztgenannte Aspekt, mithin Luthers Theo1
An grundlegender Literatur zum Ablauf von Luthers Eheschließung vgl. HEINRICH BOEHMER, Luthers Ehe, in: Luther-Jahrbuch Jg. VII (1925), 40–76; INGETRAUT LUDOLPHY, Katharina von Bora, die „Gehilfin“ Martin Luthers, in: Luther 32 (1961), 69– 83; WALTHER VON LOEWENICH, Luthers Heirat. Geschehnis und Geschichte, in: Luther 47 (1976), 47–60. 2 Zu den Einzelheiten vgl. besonders BOEHMER, Luthers Ehe (wie Anm. 1).
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logie der Ehe, 3 allerdings so knapp wie möglich gehalten werden. Zu fragen ist unter biographischen Vorzeichen vielmehr: 1. nach dem historischen Kontext der Eheschließung Luthers und damit eng zusammenhängend 2. nach den Motiven der Braut und des Bräutigams sowie 3. nach den Wertungen und Urteilen ausgewählter Lutherbiographien. Luthers und Katharinas Eheleben wird im folgenden hingegen völlig ausgeblendet bleiben. 4 Die Eheschließung Martin Luthers war zwar ein wichtiges und aufsehenerregendes Ereignis im Leben des Reformators, doch sind wir über die Einzelheiten vergleichsweise schlecht unterrichtet. 5 Was die bloßen Fakten angeht, so hat Heinrich Boehmer im Luther-Jahrbuch 1925 zusammengestellt, was sich ermitteln läßt 6; seither ist an neuen Tatsachen nichts Wesentliches hinzugekommen. Die wichtigsten Informationen zur Eheschließung und zu ihrer Vorgeschichte stammen von Luther selbst und sind in erster Linie verstreuten Bemerkungen in seiner Korrespondenz zu entnehmen – eine höchst einseitige Überlieferung, da von Katharina keine vergleichbaren Zeugnisse vorliegen. Die Ehefrau und ihre Motive sehen wir also ausschließlich durch die Augen anderer. Außer Luther sind es seine Wittenberger Kollegen und Freunde, die sich zeitlich und örtlich zwar aus einiger Nähe, aber nicht besonders eingehend zu den Vorgängen äußerten. 7 Kleinere Ergänzungen liefern die Wittenberger Kämmereirechnungen 8 sowie einige spätere Bemerkungen in den Tischreden Luthers, doch insgesamt bleibt die Überlieferung fragmentarisch. Indem im folgenden hauptsächlich diese für einen biographischen Zugang typischen Quellen herangezogen und Luthers vorausgehende theologische Schriften zur Ehe 9 dem 3
Zur Theologie der Ehe bei Luther vgl. MICHAEL BEYER, Luthers Ehelehre bis 1525, in: Katharina von Bora. Die Lutherin. Aufsätze anläßlich ihres 500. Geburtstages, hrsg. v. Martin Treu, Wittenberg 1999, 59–82; HELMAR JUNGHANS, Die evangelische Ehe, in: Ebd., 83–92. 4 Vgl. hierzu VOLKER LEPPIN, Luther privat. Sohn, Vater, Ehemann, Darmstadt 2006. 5 Vgl. BOEHMER, Luthers Ehe (wie Anm. 1), 41. 6 BOEHMER, Luthers Ehe (wie Anm. 1). 7 Eine Zusammenstellung der wichtigsten Texte im Auszug bei Theodor Knolle, Luthers Heirat nach seinen und seiner Zeitgenossen Aussagen, in: Luther 7 (1925), 21–47. Zu Katharina vgl. Sabine Kramer, Katharina von Bora in den schriftlichen Zeugnissen ihrer Zeit, Leipzig 2016. 8 Ausgewertet sind die entsprechenden Quellen bei BOEHMER, Luthers Ehe (wie Anm. 1); Textauszüge bei KNOLLE, Luthers Heirat (wie Anm. 7), 46f. 9 Es handelt sich vor allem um folgende Schriften: Ein Sermon von dem ehelichen Stand (1519); WA Bd. 2, 166–171. Vom ehelichen Leben (1522); WA Bd. 10/II, 275– 304. An die Herren Deutschen Ordens, daß sie falsche Keuschheit meiden (1523); WA Bd. 12, 232–244. Daß Eltern die Kinder zur Ehe nicht zwingen noch hindern, und die Kinder ohne der Eltern Willen sich nicht verloben sollen (1524); WA Bd. 15, 163–169.
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Korreferenten überlassen werden, 10 soll der geforderte biographische Zugang besonders deutlich angelegt werden. Die Leitfrage wird sein: Inwieweit ergibt sich durch den biographischen Zugang ein anderes Bild von den Vorgängen als es eine systematisch-theologische Betrachtung vermittelt?
2. Die Bedeutung des historischen Kontextes Im Zusammenhang mit Luthers Eheschließung wird gerne auf die Krisensituation des Jahres 1525 verwiesen. Der Bruch mit Erasmus und der Bauernkrieg werden als der Eheschließung zeitlich benachbarte Ereignisse angeführt, 11 wobei offensichtlich ein kausaler Zusammenhang mit Luthers Entschluß angenommen wird. Was Luthers Auseinandersetzung mit Erasmus angeht, erscheint dieser Zusammenhang nicht sonderlich plausibel, da Luthers Antwort auf Erasmus erst am Jahresende 1525 gedruckt vorlag und die Arbeit daran wohl nicht vor September begonnen wurde. 12 Luther selbst stellt einen Zusammenhang mit seiner Eheschließung in diesem Fall außerdem nicht her. Anders verhält es sich mit dem Bauernkrieg. Besonders in Luthers Sendbrief an Erzbischof Albrecht von Mainz, in dem er ihn ermahnte, zu heiraten und sein Bistum in ein weltliches Fürstentum umzuwandeln, 13 machte er knapp zwei Wochen (2. Juni 1525) vor seiner eigenen Hochzeit den Zusammenhang ganz deutlich: Die Empörung, das heißt der Bauernkrieg, ist eine durch den Satan ausgeführte Strafe Gottes und kann gestillt werden, wenn die Ursachen der Empörung, nämlich die widergöttlichen Verhältnisse des geistlichen Standes, beseitigt werden. Zu diesen widergöttlichen Verhältnissen rechnet Luther auch die erzwungene Ehelosigkeit. Auch bei Luthers eigener Eheschließung spielte der aktuelle Kontext nachweislich eine Rolle: Todeserwartung im Angesicht des Aufstands auf der einen Seite und Trotz gegenüber dem Teufel, der im Bauernkrieg sein Werk tut, auf der anderen Seite werden als Motive von ihm selbst genannt. Aussagekräftig ist in dieser Hinsicht besonders Luthers Brief an den Mansfelder Rat Johann Rühel 14: Nach der Ermahnung, Graf Albrecht von Vgl. zur Thematik außer den in Anm . 3 genannten Arbeiten: Und sie werden sein ein Fleisch: Martin Luther und die Ehe. Eine Textsammlung, hrsg. und kommentiert von Volkmar Joestel und Friedrich Schorlemmer, Wittenberg 1999. 10 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Breul in diesem Band. 11 Vgl. LOEWENICH, Luthers Heirat (wie Anm. 1), 47. 12 Vgl. MARTIN BRECHT , Martin Luther Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, 220–222. 13 WA Bd. 18, (402) 408–411. 14 Luther an Johann Rühel, 4. (5.?) Mai 1525; WAB Bd. 3, Nr. 860, Zitat 482,81f.
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Mansfeld solle gegenüber den Bauern unnachgiebig bleiben, kommt Luther auf sich selbst zu sprechen: Und kann ich’s schicken, ihm [dem Teufel] zum Trotz, will ich meine Käte noch zur Ehe nehmen, ehe denn ich sterbe, wo ich höre, daß sie fortfahren. Luther sieht die Macht des Teufels hinter den Bauern wirksam und rechnet mit der Möglichkeit, daß die siegreichen Bauern ihn ermorden könnten: Wohlan, komm ich heim, so will ich mich mit Gottes Hilfe zum Tode schicken und meiner neuen Herren, der Mörder und Räuber, warten […]. 15 Verständlich sind diese Äußerungen vor dem Hintergrund der im mitteldeutschen Raum Ende April/Anfang Mai 1525 keineswegs entschiedenen Situation, in der ein Sieg der Bauern und ihr Vordringen nach Wittenberg für Luther offensichtlich im Bereich des Möglichen lagen. Die Eindrücke, die Luther auf seiner Reise in das Bauernkriegsgebiet gewinnen konnte, spielten bei dieser Beurteilung der Lage offensichtlich eine Rolle. Wenige Wochen später aber, nach der Schlacht bei Frankenhausen (15. Mai), der Eroberung Mühlhausens durch die Fürsten (25. Mai) und der Hinrichtung Müntzers und Pfeiffers (27. Mai) 16 war dieses Szenario nicht mehr sehr wahrscheinlich, ohne daß bei Luther deshalb sofort eine Entspannung eintrat. Als er sich am 3. Juni erneut an Johann Rühel wandte, sprach er wieder davon, daß er heiraten wolle, bevor er sterbe; diesmal lautet die Begründung jedoch: Ich beabsichtige, ehe ich aus diesem Leben scheide, mich in dem Ehestande finden zu lassen, welchen ich von Gott gefordert achte, und sollt’s nicht weiter denn eine verlobte Josephsehe sein. 17 Ähnlich hatte er zuvor an Albrecht von Mainz geschrieben, 18 er solle Gottes Zorn und Ungnade bedenken, wenn er nach seinem Tod unverheiratet vor Gott trete und gefragt werde: Wo ist Dein Weib? 19 Die Erfüllung von Gottes Gebot der Ehe in 1. Mose 2,18 bevor es zu spät ist, ist jetzt das tragende Argument,
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Ebd., 481,67f. Zum Verlauf des Bauernkriegs in Thüringen und Mitteldeutschland vgl. zum Beispiel Der deutsche Bauernkrieg, hrsg. v. HORST BUSZELLO, PETER BLICKLE UND RUDOLF E NDRES, Paderborn u. a. 1984, bes. 154–176; GÜNTER VOGLER (Hrsg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald, Stuttgart 2008; darin: SIEGFRIED BRÄUER, Luthers Reise in das Bauernkriegsgebiet, 299–312. 17 Luther an Johann Rühel, 3. Juni 1525; WAB Bd. 3, Nr. 883, Zitat 522,16–18. In dem Begriff der „verlobten Josephsehe“ spiegelt sich das Spektrum an Möglichkeiten zwischen mönchischer und ehelicher Lebensweise, das Luther in diesen Tagen noch erwog. Innereheliche sexuelle Abstinenz betrachtete er zu diesem Zeitpunkt offenbar noch als eine Option; vgl. zur Problematik den Beitrag von Wolf Friedrich Schäufele in diesem Band. 18 Das Sendschreiben (wie Anm. 13) ist undatiert, wurde aber vor dem 3. Juni 1525 abgeschlossen. 19 Vgl. WA Bd. 18, 410,28–34. 16
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wobei die konkrete Befürchtung, man könne ihn ermorden, virulent bleibt. 20 Der Bauernkrieg ist demnach als ein Faktor zu bewerten, der Luthers Entscheidung zur Heirat beschleunigte, weil er sich unter Zeitdruck sah, vor seinem nahen Tod schnell zu handeln und Gottes Gebot zu erfüllen. Das Wüten seiner Feinde forderte Luther heraus, nicht etwa sich zurückzuhalten, um jetzt nicht auch noch Anstoß zu erregen, sondern im Gegenteil, sie noch töller und törichter [zu] machen, und das alles zur Letze und Ade. 21 Seine Eheschließung diente auch diesem Zweck. Daß Luther in der ohnehin angespannten Situation, in der er sich wegen seiner Haltung im Bauernkrieg der Kritik ausgesetzt sah, nun auch noch verheiratete und damit weitere Kritik provozierte, stieß bekanntlich nicht auf ungeteiltes Verständnis. Philipp Melanchthon verstand Luthers Entscheidung nicht, zumindest nicht sofort. Für ihn, der sich zunächst nur vorstellen konnte, daß Luther verführt worden sei, setzte der Reformator seinen guten Ruf aufs Spiel. 22 Luther war sich jedoch bewußt, daß sein Schritt vor der Welt als Skandal erscheinen mußte. „Ich habe mich durch diese Hochzeit so feil und verächtlich gemacht, daß – wie ich hoffe – die Engel lachen und alle Teufel weinen. … Daher gefällt es mir desto mehr, daß meine Heirat ihrem Urteil verdammlich und anstößig ist, solange sie keine Kenntnis von Gott haben“. 23 Gegenüber Reißenbusch sprach Luther einmal von dem schandtstündlen der Eheschließung, auf das jedoch lauter Ehrenjahre folgen würden. 24 Auch im Zusammenhang seiner eigenen Eheschließung spricht er später davon, daß er wegen dieses Gotteswerks eitel Schmach und Schande zu tragen habe. 25 Der Kontext des Bauernkriegs und Luthers Erwartung seines baldigen Todes erklären die Eheschließung aber nicht zur Gänze. Andere Motive traten hinzu. 20 So zum Beispiel am 15. Juni 1525 an Johann Rühel u. a.: Nun sind Herrn, Pfaffen, Bauren, alles wider mich, und dräuen mir den Tod; WAB Bd. 3, Nr. 890, 531,6f. 21 WAB Bd. 3, Nr. 890, 531,11f. 22 Vgl. das vielfach behandelte Schreiben Philipp Melanchthons an Joachim Camerarius, in: NIKOLAUS MÜLLER, Das Schreiben Melanchthons an Joachim Camerarius vom 16. Juni 1525 über Luthers Heirat, in: ZKG 21 (1901), 595–598; der Text wird hier benutzt in der Übersetzung von KNOLLE, Luthers Heirat (wie Anm. 7), 40f. Zu diesem Brief vgl. auch HEINZ SCHEIBLE, Melanchthon und Frau Luther, in: LuJ 68 (2001), 93–114, besonders 97f. 23 Luther an Georg Spalatin, 16. Juni 1525: WAB Bd. 3, Nr. 892, 533; Übersetzung nach Knolle, Luthers Heirat (wie Anm. 7), 39. Zur altgläubigen Polemik gegen Luthers Hochzeit vgl. Kramer , Katharina von Bora (wie Anm. 7), 197–244. 24 Luther an Wolfgang Reißenbusch, 27. März 1525: WA Bd. 18, 278,1f.; Übersetzung nach KNOLLE, Luthers Heirat (wie Anm. 7), 26. 25 Luther an Wenzeslaus Link, 20. Juni 1525: WAB Bd. 3, Nr. 896, 537,13f.; Übersetzung nach KNOLLE, Luthers Heirat (wie Anm. 7), 42.
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3. Analyse der Motive Luthers Eine Analyse der Motive Luthers führt in ein komplexes Geflecht von Argumenten und Überlegungen, dessen Aufschlüsselung einige Mühe bereitet. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, durch Auswertung der in Frage kommenden Quellen in vier Schritten einzelne Motive oder Motivkomplexe (Emotionen, körperliches Verlangen, äußere Einflüsse, theologische Gründe) bei Luther zu unterscheiden. Zu beginnen ist mit dem am nächsten liegenden Grund, der Liebe. a) Emotionen. Liebe war weder für Martin Luther noch für Katharina von Bora ein Beweggrund bei ihrer Heirat. Gefühle zu bewerten, ist für den Historiker jedoch generell problematisch, und Luthers eigene Äußerungen machen es einem nicht leicht, wenn er etwa an seinen Vertrauten Nikolaus von Amsdorf schreibt 26: „Ich liebe meine Frau nicht aus Leidenschaft und Glut, sondern aus Achtung.“ Leidenschaftliche Verliebtheit war demnach auf Luthers Seite nicht im Spiel, wohl aber Respekt. Dies paßt zu einer späteren Äußerung in einer Tischrede von 1537, in der es heißt, daß er Ave von Schönfeld der Katharina vorgezogen hätte, die er damals nicht lieb gehabt habe, weil er sie für hochmütig hielt. Aber Gott habe gewollt, daß er sich der Verlassenen erbarme. 27 Nicht erst im Rückblick betrachtete Luther seine Heirat als ein Gotteswerk: „Der Herr hat mich plötzlich, da ich ganz andere Gedanken hatte, wunderbar in die Ehe mit Katharina von Bora, der Nonne, geführt.“ 28 Verliebtheit spielte auch für Katharina von Bora keine Rolle. Dies läßt sich zumindest aus den sattsam bekannten Umständen schließen, daß ihre Zuneigung ursprünglich Hieronymus Baumgärtner gehört hatte, der sie jedoch im Stich ließ, und daß Katharina den Pfarrer von Orlamünde, Kaspar Glatz, als Heiratskandidaten ablehnte und statt dessen aus eigener Initiative Amsdorf oder Luther als mögliche Ehemänner vorschlug. 29 Luthers Sinneswandel, Katharina nun doch selbst zu heiraten, wird damit gerne verknüpft, 30 ohne daß sich in dieser Frage wirklicher Aufschluß gewinnen ließe. Wunschpartner, so wird man aber sagen dürfen, waren beide für 26
Luther an Nikolaus von Amsdorf, 21. Juni 1525: WAB Bd. 3, Nr. 900, hier 541,8: Ego enim nec amo nec aestuo, sed diligo uxorem. 27 Vgl. WAT Bd. 4, Nr. 4786, 503,18–22: Si ante 14 annos voluissem uxorem ducere, tunc Basilii uxorem, Aue de Schonfeld, elegissem. Meam nunquam amavi; semper eam habui suspectam superbiae (sicut est), sed Deus ita voluit, ut derelictae misericordiam praestarem. 28 Luther an Wenzeslaus Link, 20. Juni 1525: WAB Bd. 3, Nr. 896, Zitat 537,9f.: Dominus me subito aliaque cogitantem coniecit mire in coniugium cum Catharina Borensi, moniali illa. 29 Vgl. etwa LUDOLPHY, Katharina von Bora (wie Anm. 1), 80f. 30 Vgl. stellvertretend für andere: ebd., 81.
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einander nicht, und auch in wirtschaftlicher Hinsicht lag die Verbindung von Luther und Katharina nicht gerade nahe, da die Frau völlig mittellos war und Luther zu diesem Zeitpunkt zumindest nicht in gesicherten Verhältnissen lebte. Das von Luther selbst genannte Motiv des Mitleids, das er den Nimbschener Nonnen generell entgegenbrachte und das den Aspekt der Verantwortung für ihr weiteres Leben mit einschloß, 31 scheint vor diesem Hintergrund dann doch erhebliches Gewicht zu erlangen. b) Körperliches Verlangen. Als Motiv für die Eheschließung scheidet die Befriedigung sexuellen Verlangens, wie es Luther von seinen altgläubigen Gegnern damals und später gerne unterstellt wurde, 32 aus. Luther betont mehrfach und glaubwürdig, daß ihm als Mönch das Keuschheitsgelübde keine sonderlichen Probleme bereitete, 33 obwohl auch er seinen Geschlechtstrieb spürte. 34 Luther wandte sich ja nie gegen die Keuschheit als solche, sondern gegen die Auffassung von der Verdienstlichkeit der sexuellen Abstinenz und gegen die erzwungene Keuschheit. Die Ehe hingegen ist Teil von Gottes Schöpfungsordnung, ist von Gott geboten und in der Regel die dem Menschen in seiner Leiblichkeit angemessene Lebensweise. Als er im März 1525 Wolfgang Reißenbusch die Verheiratung empfahl, 35 betonte er, daß die Fähigkeit zu einem enthaltsamen Leben nur wenigen gegeben sei. Und Albrecht von Mainz wies er Anfang Juni darauf hin, daß Gott ihn als Mann geschaffen habe, das heißt also auch mit körperlichen Bedürfnissen 36: Wo Got nun nit wunder thůt und auß einem mann einen Engel macht, kan ich nit sehen, wie er on Gottes zorn und ungnad alleyn e und on weyb bleyben mug. 37 Zu den Ausnahmen von dieser Regel zählte Luther, wenige Tage vor seiner eigenen Eheschließung, offenbar noch immer sich selbst. c) Äußere Einflüsse. Der Einfluß äußerer Faktoren auf Luthers Entscheidung läßt sich deutlich nachweisen. Luther focht, wie gezeigt, 38 das Skandalgeschrei seiner Gegner nicht an, sondern es bestärkte ihn geradezu 31
Vgl. etwa Luther an Georg Spalatin, 10. April 1523, WAB Bd. 3, Nr. 600, 54–57. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch von dem Dominikaner Heinrich Denifle, der in Luthers sexueller Begierde überhaupt eine der Hauptursachen der Reformation sehen wollte: HEINRICH DENIFLE O.P., Luther und Lutherthum in der ersten Entwickelung quellenmäßig dargestellt, 1. Bd., Mainz 1904. 33 Vgl. etwa WAT Bd. 1, Nr. 121, 47: Monachus ego non sensi multam libidinem ...; auch Nr. 122. 34 So Luther an Georg Spalatin, 30. November 1524, WAB Bd. 3, Nr. 800, 394,22f.: non quod carnem meam aut sexum meum non sentiam, cum neque lignum neque lapis sim. 35 Vgl. Luther an Wolfgang Reißenbusch, 27. März 1525, WAB Bd. 3, Nr. 848, 463; WA Bd. 18, (270) 275–278. 36 Vgl. Luther an Albrecht von Mainz; WA Bd. 18, 410,23f. 37 Ebd., 410,28–30. 38 Vgl. oben bei Anm. 23ff. 32
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auf seinem Weg. Daß sein Vater mit seinem Eintritt in das Kloster nie einverstanden gewesen war und sich immer wünschte, daß sein Sohn doch noch eine Ehe schließen und Nachkommen zeugen würde, war Luther bewußt. 39 Mitten in den Wirren des Bauernkriegs, im April 1525, besuchte er seine Eltern und wurde mit deren Erwartungen offenbar erneut konfrontiert. Der Vater drängte, der Sohn gehorchte. 40 Die immer wieder betonte Plötzlichkeit des Entschlusses und die Eile bei seiner Durchführung erklärte Luther selbst mit weiteren äußeren Umständen, nämlich einerseits den Versuchen, seine Ehe doch noch zu verhindern, 41 andererseits den umlaufenden Gerüchten über sein angebliches Verhältnis mit Katharina von Bora. 42 Diese äußeren Umstände erklären zumindest das gedrängte Verfahren, bei dem am 13. Juni Verlöbnis, Trauung und Beilager an einem Tag vollzogen wurden. Hinter dieser Eile stand aber auch die grundsätzliche Überzeugung Luthers, daß der Mensch eine von Gott gegebene Gelegenheit sofort ergreifen müsse und nicht durch Abwarten dem Teufel Raum geben dürfe, die zeitlichen Wohltaten Gottes, zu denen auch die Ehe zu rechnen ist, doch wieder zu zerstören. 43 Äußere Umstände und ihre theologische Deutung gehen hier Hand in Hand. d) Schließlich ist die Frage zu klären, ob Luthers Eheschließung, wie es in der vorgegebenen Themenstellung formuliert ist, „ein theologisches Zeichen“ war. In der Frage des Klosteraustritts der Nimbschener Nonnen und der Verheiratung evangelischer Pfarrer 44 scheint Luther von Beginn an auf die Wirkung in der Öffentlichkeit geachtet und diese bewußt einkalkuliert zu haben. Seine Rechtfertigungsschrift für die Nimbschener Nonnen
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Vgl. Luthers Widmung an seinen Vater Hans Luther in De votis monasticis, 21. November 1521; WA Bd. 8, 573–576. 40 Vgl. Luther an Johann Rühel und andere, 15. Juni 1525; WAB Bd. 3, Nr. 890, 531,14f.: So hab ich auch nu aus Begehrn meines lieben Vaters mich verehlicht …; Luther an Nikolaus von Amsdorf, 21. Juni 1525, WAB Bd. 3, Nr. 900, 541,5f.: … et hoc novissimum obsequium parenti meo postulanti nolui denegare spe prolis … 41 Vgl. WAB Bd. 3, Nr. 890, 531,14–16: So hab ich … umb dieser Mäuler willen, daß nicht verhindert würde, mit Eile beigelegen … 42 Diese Gerüchte sind mehrfach bezeugt: Vgl. Luther an Georg Spalatin, 16. Juni 1525: WAB Bd. 3, Nr. 892, 533,4f.; Bugenhagen an Spalatin, 16. Juni 1525; Dr. Johannes Bugenhagens Briefwechsel, gesammelt und hrsg. v. Otto Vogt, mit einem Vorwort und Nachträgen v. Eike Wolgast, Hildesheim 1966, Nr. 14, 32 (deutsch: KNOLLE, Luthers Heirat [wie Anm. 7], 39). 43 Vgl. etwa Luther an Georg Spalatin, 10. April 1525: WAB Bd. 3, Nr. 854, 470f. (deutsch: KNOLLE, Luthers Heirat [wie Anm. 7], 36f.). 44 BERND MOELLER, Wenzel Lincks Hochzeit. Über Sexualität, Keuschheit und Ehe in der frühen Reformation, in: ZThK 97 (2000), 317–342.
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erschien sofort im Druck. 45 Sein Ratschlag zur Verheiratung an Albrecht von Mainz wurde jedoch erst einige Monate später und offensichtlich nicht auf Luthers Initiative veröffentlicht, 46 doch mußte er sicher damit rechnen, daß sein spektakulärer Vorstoß bekannt werden würde. Um so erklärungsbedürftiger erscheint vor diesem Hintergrund die Frage, warum Luther mit seiner eigenen Verheiratung so lange zögerte. Seine theologische Position stand ja seit langem fest. Als er Anfang Oktober seine Kutte öffentlich ablegte, 47 tat er einen weiteren Schritt der Distanzierung von seiner monastischen Vergangenheit. Doch noch Ende November 1524 äußerte er gegenüber Georg Spalatin, er werde nicht heiraten, da er mit seinem baldigen Tod und der Ketzerstrafe rechne. 48 Wie oben dargelegt, 49 wurde während des Bauernkriegs die nahe Todeserwartung dann aber gerade zum Argument, die Ehe schnell einzugehen. Hier scheint noch einmal die Einwirkung des Bauernkriegs auf Luthers Entscheidung deutlich zu werden, eine Entscheidung, die eben doch auch eine persönliche Seite hatte. Erst im Sommer 1525 sah Luther den Zeitpunkt gekommen, seine Lehre durch die Tat zu bestätigen und die Schwachen im evangelischen Glauben zu bestärken. 50 An anderer Stelle schreibt er, er habe nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit der Tat das Evangelium bezeugt und zur Verachtung der triumphierenden und schreienden Feinde eine Nonne geheiratet. 51 Das muß man wohl ein theologisches Zeichnen oder auch ein Zeugnis und eine Bekräftigung seiner Auffassung vom christlichen Leben 52 nennen. Die einmal geäußerte Behauptung, so kann vorläufig bilanziert werden, Luthers Heirat sei nicht aus „persönlichen Beweggründen“, sondern nur „im Zusammenhang und als Tat seines reformatorischen Wirkens zu verstehen“, 53 ist im Ergebnis der vorausgehenden Motivanalyse zumindest in dieser apodiktischen Zuspitzung als unzutreffend anzusehen. Bei keinem Menschen lassen sich theologische Überzeugung und persönliche Beweggründe, was auch immer man darunter verstehen möchte, derart klar von45
Ursach und Antwort, daß Jungfrauen Klöster göttlich verlassen mögen; WA Bd. 11, (387) 394–400; die Schrift erschien wohl noch im April 1523, kurz nach der Flucht der Nonnen. 46 Nach WA Bd. 18, 405 erschienen die frühesten Drucke erst 1526 und alle außerhalb Wittenbergs. 47 LOEWENICH, Luthers Heirat (wie Anm. 1), 49. 48 Luther an Georg Spalatin, 30. November 1524, WAB Bd. 3, Nr. 800, 394. 49 Vgl. oben bei Anm. 14ff. 50 Luther an Nikolaus von Amsdorf, 21. Juni 1525, WAB Bd. 3, Nr. 900, 541,6f.: simul ut confirmem facto quae docui, tam multos invenio pusillanimes in tanta luce euangelii. 51 Luther an Johann Brießmann, nach 15. August 1525, WAB Bd. 3, Nr. 911, 554– 556. 52 Vgl. LOEWENICH, Luthers Heirat (wie Anm. 1), 59. 53 KNOLLE, Luthers Heirat (wie Anm. 7), 21.
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einander trennen, auch bei Luther nicht. Vielmehr gilt auch für ihn, daß die Persönlichkeit und der historische Kontext einzubeziehen sind, wenn man verstehen will, warum Luther handelte, wie er handelte. Mit klassischen biographischen Mitteln kaum zu lösen ist dabei das Problem der Gewichtung der einzelnen Motive gegeneinander. Ob das Setzen eines theologischen Zeichens für Luther wichtiger war als zum Beispiel der Gehorsam gegenüber dem Wunsch des Vaters, ist für den Historiker nicht zu entscheiden, weil Luther sich dazu selbst nicht äußerte. Fest steht lediglich, daß bei Luthers Eheschließung mit mehr als einem Beweggrund gerechnet werden muß. Wir haben es wie eigentlich immer in der Geschichte mit einem Bündel an Motiven zu tun, die nur zusammen eine überzeugende Erklärung liefern. Mit laienhaftem Psychologisieren muß der Biograph zwar sehr vorsichtig sein, gerade in diesem Fall aber fällt es schwer, die durch den Bauernkrieg ausgelöste Hochspannung, den Streß, die Anfeindungen, die Todeserwartung und die Furcht vor einem Triumph der Feinde des Evangeliums als psychologische Faktoren unberücksichtigt zu lassen.
4. Die Eheschließung in ausgewählten Lutherbiographien Die Durchsicht der Quellen zu Luthers Eheschließung hat Neues zu den Vorgängen selbst nicht zutage gefördert, sondern lediglich bestätigt, was in der Literatur seit langem bekannt ist. Auch die gängigen LutherBiographien wiederholen an diesem Punkt Bekanntes, wobei es auffällt, daß kaum ein Autor ganz ohne Vermutungen und Plausibilitätsurteile auskommt. Als Beispiel soll Heinrich Bornkamm angeführt werden, der Luthers Eheschließung in einem längeren und die Aspekte feinsinnig differenzierenden Abschnitt behandelt. 54 In der Frage, warum Luther selbst so lange nicht heiratete, obwohl er die Heirat von Priestern doch öffentlich befürwortete, führt Bornkamm Argumente an wie seine Arbeitsüberlastung, seine Armut oder die Sorge, „seine Auseinandersetzungen mit der römischen Kirche in ein falsches Licht zu bringen“. 55 So plausibel diese Erklärungen klingen, so wenig sind sie doch, wenn hier nichts übersehen wurde, mit Äußerungen Luthers direkt belegbar. Hier liegt eine Schwierigkeit, die bei biographisch ausgerichteten Arbeiten immer wieder zu beobachten ist: Der Biograph findet sich nicht selten in Erklärungsnot, wenn die Quellen einen Einblick in die inneren Prozesse der Überzeugungs-, Willens- und Entscheidungsbildung nicht zulassen. In diesem Dilemma hilft häufig nur der Rückgriff auf Vermutungen oder der Rückschluß von 54 HEINRICH BORNKAMM, Martin Luther in der Mitte seines Lebens. Das Jahrzehnt zwischen dem Wormser und dem Augsburger Reichstag, Göttingen 1979, 354–367. 55 Ebd., 354.
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den Taten auf die hinter ihnen stehenden Überzeugungen mit allen Unsicherheiten, die ein solches Vorgehen mit sich bringt. Auch wenn für diesen Beitrag nur wenige Luther-Biographien durchgesehen werden konnten, scheint sich ein gewisser Konsens in der biographischen Lutherforschung doch abzuzeichnen: Die Frage, ob Luthers Eheschließung ein theologisches Zeichen war, wird in der theologisch geprägten Lutherforschung überwiegend bejaht, wenngleich in ganz unterschiedlicher Terminologie. Heinrich Bornkamm spricht davon, daß Luther sich durch den Bauernkrieg herausgefordert fühlte, „sichtbar zu beweisen“, daß er nichts von seinem „vorigen papistischen Leben“ an sich behalten habe. 56 Martin Brecht spricht vom „Bekenntnischarakter des Aktes“. 57 Auch wo solche Formulierungen nicht zu finden sind, etwa bei Richard Friedenthal 58 oder Heiko A. Oberman, 59 wird Luthers Eheschließung doch als biographische Zäsur begriffen, mit der ein neues Kapitel begonnen wird. Friedenthal, der Luthers Eheschließung als „seine letzte große Protesthandlung“ bezeichnet, 60 könnte als Beispiel einer Lösung des Ereignisses von ihrer theologischen Begründung dienen.
5. Fazit Das Ergebnis der vorstehenden Untersuchung kann in zwei Sätzen zusammengefaßt werden: 1. Luthers Eheschließung war tatsächlich ein theologisches Zeichen, sie war in ihrer Motivation und Durchführung aber auch von anderen, nicht genuin theologischen Motiven beeinflußt. 2. Auch von einer dezidiert biographischen Fragestellung ausgehend, erschließt sich die Theologie Luthers als handlungsleitende Überzeugung zumindest ein Stück weit. Biographische und systematisch-theologische Fragestellungen sind also keine gegensätzlichen, sondern komplementäre Zugangsweisen, die für das Verständnis Martin Luthers aufeinander angewiesen bleiben.
56
Ebd., 359. BRECHT , Martin Luther (wie Anm. 12), 198; vgl. auch 196: „Die Entscheidung hatte tatsächlich etwas von einem Bekenntnis an sich“. 58 RICHARD FRIEDENTHAL, Luther. Sein Leben und seine Zeit, München 1967. 59 HEIKO A. OBERMAN, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982. 60 FRIEDENTHAL, Luther (wie Anm. 58), 530. 57
„Es ist verloren der geystlich standt“ Luthers Eheschließung im Kontext des Aufstands von 1525 ∗ Wolfgang Breul Luthers Eheschließung – ein theologisches Zeichen? Nicht für alle Menschen seiner engeren Umgebung war dies eine offene Frage. Am 16. Juni 1525 schrieb Melanchthon an seinen Humanistenfreund Joachim Camerarius in Bamberg1: „Unerwarteterweise hat Luther die Bora geheiratet, ohne auch nur einen seiner Freunde vorher über seine Absicht zu unterrichten. 2 [...] Du wunderst dich wohl, dass in so ernster Zeit, da die Guten überall so schwer leiden, dieser nicht mit den anderen leidet, sondern vielmehr wie es scheint, schwelgt und seinen Ruf kompromittiert [...] Ich glaube der Vorfall ist folgendermaßen zu erklären: Der Mann ist überaus leicht zu verführen, und so haben ihn die Nonnen, die ihm auf alle Weise nachstellten, umgarnt. Vielleicht hat dieser häufige Verkehr mit den Nonnen ihn, obgleich er ein edler und wackerer Mann ist, verweichlicht und das Feuer bei ihm auflodern lassen. [...] Ich ermahne dich, die Sache mit Gleichmut zu ertragen: heißt es doch in der Heiligen Schrift, dass die Ehe schätzenswert sei. Wahrscheinlich lag auch wirklich bei ihm ein Naturzwang zur Heirat vor.“ 3
∗ Die Vorträge von Armin Kohnle und mir zur Tagung waren ohne Abstimmung im Vorfeld entstanden. Gleichwohl ist die Übereinstimmung in Akzentsetzung und Ergebnis nicht zufällig, sondern in der Sache begründet. Die Vortragsform wurde für die Drucklegung weitgehend beibehalten. 1 Joachim Camerarius (1500–1574) und Philipp Melanchthon verband schon seit frühen Jahren eine Humanistenfreundschaft; vgl. STEPHAN KUNKLER, Zwischen Humanismus und Reformation. Der Humanist Joachim Camerarius (1500–1574) im Wechselspiel von pädagogischem Pathos und theologischem Ethos, Hildesheim 2000, 37. 45f.; MATTHIAS ASCHE, Joachim Camerarius in Leipzig und Erfurt (1512/13–1521). Studien- und Jugendjahre im Zeichen des Humanismus, in: RAINER KÖßLING / GÜNTHER WARTENBERG (Hg.), Joachim Camerarius (Leipziger Studien zur klassischen Philologie 1), Tübingen 2003, 43–60; T ORSTEN WOITKOWITZ, Die Freundschaft zwischen Philipp Melanchthon und Joachim Camerarius, in: GÜNTER WARTENBERG (Hg.), Philipp Melanchthon und Leipzig. Beiträge und Katalog zur Ausstellung, Leipzig 1997, 29–39; vgl. allgemein HEINZ SCHEIBLE, Melanchthon, München 1997. 2 Es folgen einige Nachrichten zum Ablauf der Feier; vgl. dazu und zu den übrigen Umständen der Eheschließung Luthers den Beitrag von Kohnle in diesem Band. 3 Zitiert nach HEINRICH BÖHMERS Übersetzung aus dem Griechischen, DERS., Luther im Lichte der neueren Forschung, Leipzig/Berlin 19143, 115f.; vgl. Melanchthons Brief-
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Dieses scharfe, fast kompromittierende Urteil spiegelt nicht nur die Enttäuschung Melanchthons wider, von seinem engen Wittenberger Kollegen nicht vorab über dessen Heiratsabsichten unterrichtet worden zu sein. Seine Kritik ist grundsätzlicher; sie rekurriert auf die menschliche Schwäche des „Naturzwangs“ 4 der menschlichen Sexualität. Hinter den beinahe topischen Aussagen über Luthers Verführbarkeit durch die heiratswilligen Nonnen bekundet sich eine humanistische Distanz zu Ehe und ehelicher Sexualität, die als Hindernis der „studia“ angesehen werden. 5 Aus dieser Perspektive zeigt sich Luther als „verweichlichter“ Gelehrter, der das natürliche „Feuer“ der Sexualität nicht hat beherrschen können. Diese Schwäche wird aus Sicht Melanchthons dadurch gesteigert, daß ihr „in so ernster Zeit, da die Guten überall so schwer leiden“ nachgegeben wurde. Melanchthon bezieht sich offensichtlich auf den Bauernaufstand, der zu dieser Zeit in Mitteldeutschland zwar zusammengebrochen war, dessen Erschütterung aber noch nachwirkte. 6 Unter diesen Umständen erscheint dem humanistischen Theologen der Gedanke an eine Heirat als ein unverantwortlicher Luxus, der geeignet ist, den Ruf des Bräutigams zu kompromittieren. 7 Luthers Eheschließung war für Melanchthon kein theologisches Zeichen, sondern eine menschliche Schwäche, welche die Humanistenfreunde allenfalls mit Hilfe der Schrift tolerieren konnten. Eine genauere Betrachtung der Umstände führt jedoch zu einer anderen Einschätzung, nach der Luthers Heirat ein bewußt gesetztes theologisches Zeichen war. Im Folgenden ist zunächst die Entwicklung von Luthers Eheauffassung in Grundzügen zu skizzieren, um den Interpretationshorizont vor Augen zu stellen, der dem Reformator zur Deutung seiner Vereheliwechsel, hg. von HEINZ SCHEIBLE, Band T2, Stuttgart-Bad Canstatt, 326, 4–6.8f.; 326,11– 327,15; 339, 34–36. 4 Ẻικóς δε. αvναγκασθη,ναι αvλη,θως γαµεĩν; Melanchthons Briefwechsel T2, 329,35f. 5 Zum Eheverständnis des Humanismus vgl. rüdiger Schnell, Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs. Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und früher Neuzeit (Geschichte und Geschlechter 23), Frankfurt 1998; derS. (Hg.): Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit (Frühe Neuzeit 40), Tübingen 1998. rüdiger Schnell, Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe, Köln etc. 2002. Vgl. auch maja eib: Der Humanismus und sein Einfluß auf das Eheverständnis im 15. Jahrhundert. Eine philosophisch-moraltheologische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des frühhumanistischen Gedankenguts Albrechts von Eyb (Studien der Moraltheologie 9), Münster 2001. 6 WalTher PeTer FuchS, Der Bauernkrieg in Mitteldeutschland, in: derS., günTher Franz (Hg.), Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland: 2 Bände in 3 Teilen, Bd. II, Aalen 1964, XV–XXXVI. 7 Zur Wahrnehmung von Luthers Heirat durch die Zeitgenossen: marTin brechT, Martin Luther, Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, 196–200.
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chung zur Verfügung stand. In einem zweiten Schritt wird auf eine bislang kaum beachtete kleine Schrift Luthers aus dem zeitlichen Umfeld seiner Eheschließung eingegangen werden, welche geeignet ist, seine theologischen Motive deutlicher zu profilieren. Dabei wird auch der von Melanchthon kritisierte Zeitpunkt der Heirat eine Rolle spielen.
I. Ehetheologie und Zölibatskritik in der frühen reformatorischen Theologie Luthers 8 Im Mai 1519 erschien Luthers erste zusammenhängende Auseinandersetzung mit dem Thema Ehe, sein „Sermon von dem ehelichen Stande“. 9 Luther hatte die Predigt vom zweiten Sonntag nach Epiphanias über die Hochzeit zu Kana nach dem Erscheinen einer deutlich abweichenden Fassung noch einmal neu herausgegeben. Im Gegenüber zur unautorisierten Fassung zeigt Luthers Ehe-Sermon bereits einige Merkmale einer veränderten Perspektive. Die Ehe gilt nicht mehr per se als unrein, die eheliche Sexualität ist nicht mehr „Dreck“ und „Gestank“, sondern wird hier erstmals als „Spital der Siechen“ bezeichnet, die in der christlichen Tradition bis dahin hochgeschätzte Jungfrauenschaft hat ihr Vorrecht verloren. Zwar zählt Luther den Sakramentscharakter noch zu den „Gütern und Nutzen“ der Ehe, deutlich stärker aber betont er nun die Verantwortung für die Kinder: „Diße dritte gab du[e]nkt mich schyr die gro[e]ste, wen eyn elich man sein lebtag nichts anderst gu[e]ts thet, dan zo[e]ge allein das kindt recht zu der forcht gottis, so mein ich, er het ym gnug gethan, dorfft nicht zu sant Jacob [de Compostella; Anm. W.B.] ader gen Rom gehen [...].“ 10
Die Abschwächung der Kritik an der ehelichen Sexualität und das Zurücktreten des Gedankens der Jungfrauenschaft können als erste Hinweise auf eine neue Sicht der Ehe verstanden werden. Diese Tendenzen brechen in den großen Schriften des Folgejahrs durch. Mit seiner Neubestimmung des Sakramentsbegriffs wird auch die Ehe in „De Captivitate“ ein „weltlich Ding“, das die Christen prinzipiell mit allen Menschen teilen. Luther setzt 8
Zur Entwicklung von Luthers Eheauffassung vgl. MICHAEL BEYER, Luthers Ehelehre bis 1525, in: Katharina von Bora. Die Lutherin, hg. v. Martin Treu, Wittenberg 1999, 59–82; REINHOLD SEEBERG, Luthers Anschauung von dem Geschlechtsleben und der Ehe und ihre geschichtliche Stellung, Lutherjahrbuch 7 (1925), 77–122; KLAUS SUPPAN, Die Ehelehre Martin Luthers, Salzburg 1971; WERNER E LERT: Morphologie des Luthertums, Bd. 2, München 1932, 80–124; PAUL A LTHAUS, Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1965, 88–104. 9 Vgl. WA 2, 166–171; WA 9, 213–219. 10 WA 9, 218, 5–8.
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in dieser Schrift seine Linie der Aufwertung ehelicher Sexualität fort. Sie steht wohl auch hinter dem noch heute seltsam anmutenden Vorschlag, daß eine Frau im Falle von Impotenz ihres Ehegatten ein außereheliches Verhältnis eingehen könne, wenn eine Scheidung nicht zu erreichen sei. Wenige Monate zuvor hatte Luther in der Schrift „An den christlichen Adel“ den Priesterzölibat scharf angegriffen und als „ein teuffelisch tyranney“ 11 bezeichnet. Neben anderen Argumenten12 spielte auch hier die Neubewertung der menschlichen Sexualität eine wichtige Rolle. Der angehende Priester könne gar keine Keuschheit versprechen, weil dies die „fragilitas humana“ 13 nicht zulasse. Daher habe der Papst „solchs nit macht […] zupietten, als wenig als er macht hat zuvorpieten essen, trincken und den naturlichenn auszgang odder feyst werdenn […]“. 14 Sexuelle Enthaltsamkeit steht auch den meisten Priestern ebenso wie der Verzicht auf andere natürliche Bedürfnisse nicht zu Gebote. Hier bricht sich eines der grundlegenden Argumente der Ehetheologie Luthers Bahn: Weil es nur wenigen Menschen möglich ist, enthaltsam zu leben, bedarf es der Ehe. Sie ist eine von Gott in der Schöpfung gegebene menschliche Ordnung, die nur in seltenen Ausnahmefällen zur Disposition stehen kann. Auch wenn Luthers Vorschlag zur Reform des Priesterstands noch moderat ausfällt 15 – ein christliches Konzil solle die Ehe für Priester freigeben – lud die Schärfe seiner Kritik zu praktischen Konsequenzen ein. Bekanntermaßen zogen mehrere Priester im Mai 1521 die Konsequenz aus dieser Kritik. Von Heinrich Fuchs im hessischen Hersfeld, Jakob Seidel in Glashütte und als prominentestem Vertreter Bartholomäus Bernhardi in Kemberg sowie weiteren namentlich nicht bekannten Priestern im mansfeldischen und meißnischen Gebiet sind Eheschließungen in dieser Zeit überliefert. 16 In der Folge wurde die Frage der Priesterehe zu einem wesentlichen Element der frühreformatorischen Publizistik 17 und die öffent11
WA 6, 441, 34f. Begründung der Priesterehe in der Schrift; die römischen Gesetze als Menschenwerk; pragmatische Notwendigkeit der Unterstützung eines Gemeindepfarrers durch eine Frau; etc. 13 WA 6, 441, 36–442,1. 14 WA 6, 442, 34–36. 15 „Ich wil reden von dem pfarr stand, den got eingesetzt hat … den selben solt durch ein Christlich Concilium nachgelassen werden freyheit, ehlich zuwerden, zuvormeydenn ferlickeit vnd sund. den die weil sie got selb nit vorpunden hat, szo sol und mag sie niemant vorpindenn, ob er gleich ein engel vom hymel were ...“, WA 6, 441, 24.26–29. 16 Vgl. BRECHT (wie Anm. 7), 30f.; ULRICH BUBENHEIMER, Streit um das Bischofsamt in der Wittenberger Reformation 1521/22. Von der Auseinandersetzung mit den Bischöfen um Priesterehen und den Ablaß in Halle zum Modell des evangelischen Gemeindebischofs. Teil I, ZRSG.K 73 (1987), 155–209. 17 Vgl. STEPHEN E. BUCKWALTER, Die Priesterehe in Flugschriften der frühen Reformation, Gütersloh 1998 (QFRG 68). 12
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lich vollzogene Heirat eines Priesters an nicht wenigen Orten 18 zu einer kalkulierten Provokation der evangelischen Bewegung. Bernd Moeller hat dies pointiert formuliert: „[…] die öffentliche Heirat eines Priesters war ein Skandal, der eine Koalition ganz heterogener Interessenten zusammenführte: den Akteuren gab er Anlaß zu einer wirkungsvollen Demonstration und Erläuterung ihrer neuen Überzeugungen, Bischöfen erlaubte er ein disziplinarrechtliches Eingreifen gegen sonst schwer dingfest zu machende Lutheraner, weltlichen Obrigkeiten bot er die Gelegenheit, um die Wahrung ihrer Jurisdiktion oder gar, unter ganz neuen Voraussetzungen und Umständen, um deren Ausweitung zu kämpfen.“ 19
Luther hat in dieser Auseinandersetzung nicht in der vordersten Linie gekämpft. Es waren andere wie Karlstadt und der ehemalige Franziskanermönch Johann Eberlin von Günzburg, 20 die hier mit der Tat und dem öffentlichen Wort vorangingen. Im Gegenteil: Luther hielt nach seiner Rückkehr von der Wartburg an seinem monastischen Habitus fest. 21 Der Wechsel des äußeren Stands hatte für ihn trotz der Veränderungen im klösterlichen Leben und der Heiraten einiger Wittenberger Weggefährten 22 keine Priorität. Aus konkretem Anlaß erschien im Sommer 1522 Luthers erste umfangreichere selbständige Auseinandersetzung mit dem Thema: „Vom ehelichen Leben“. Der Meißener Bischof hatte versucht, in Zwickau die Regeln des kanonischen Rechts für Firmung und Ehe wieder einzuschärfen. Dabei ging es dem Bischof vor allem um die Beachtung der kanonischen Hindernisse. 23 Luther ist dem zunächst mit einem Zettel entgegengetreten, wel18 Vgl. BERND MOELLER, Die Brautwerbung Martin Bucers für Wolfgang Capito. Zur Sozialgeschichte des evangelischen Pfarrerstandes, in: DERS.: Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, hrsg. v. JOHANNES SCHILLING, Göttingen 1991, 154f. 19 MOELLER (wie Anm. 18), 154. 20 Vgl. Wie gar geferlich sey. So ein Priester kein Eeweyb hat. Wie vnchristlich/ vnd schedlich eim Gemeynenn nutz Die Menschen seind/ Weliche hindern die Pfaffe[n] am Eelichen Stand. Durch Johan Eberlin von Güntzburg. [Augsburg] Anno 1522. 21 Vgl. dazu den Beitrag von Wolf-Friedrich Schäufele in diesem Band. 22 Vgl. zu den Heiraten von Karlstadt (20.1.1522) und Justus Jonas, (9.2.1522) ULRICH BUBENHEIMER , Art. Karlstadt, Andreas Rudolff Bodenstein von, in: TRE 17 (1988), 651; heinz Scheible, Melanchthon und Justus Jonas, in: irene dingel (Hg.), Justus Jonas (1493–1555) und seine Bedeutung für die Wittenberger Reformation, Leipzig 2009 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 11), 62, und hanS-günTer leder, Art. Jonas, Justus, in: TRE 17 (1988), 235; Bugenhagen (Oktober 1522), vgl. hanS-günTer leder, Johannes Bugenhagen Pomeranus – Vom Reformer zum Reformator, Frankfurt u.a. 2002 (Greifswalder theologische Forschungen 4), 25; Melanchthon, der kein Kleriker war, hatte bereits am 27.11.1520 geheiratet – nicht zuletzt auf Drängen Luthers; vgl. Scheible (wie Anm. 1), 38. 23 Zum Versuch des Meißener Bischofs, in Zwickau wieder die ehehinderlichen Verwandtschaftsgrade einzuführen, vgl. BRECHT (wie Anm. 7), 95.
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cher die kanonischen Eheverbote wegen Verwandtschaft und Schwagerschaft reduzierte. 24 Doch hat die Auseinandersetzung mit dieser Frage Luther zu einer Beschäftigung mit einem sehr viel grundlegenderen Ehehindernis geführt, nämlich der verbreiteten Geringschätzung der Ehe und der Frauen. 25 Die Schrift bietet nun eine klare schöpfungstheologische Begründung von Ehe, Sexualität und Verantwortung für Kinder. Zweigeschlechtlichkeit und eheliche Fruchtbarkeit werden eingangs als Gottes Wille und gutes Schöpfungswerk gekennzeichnet. 26 Sehr viel ausführlicher setzt sich Luther anschließend mit den Fragen von Ehelosigkeit, Ehehindernissen und Ehescheidung auseinander. Darin bekunden sich die aktuellen Front- und Problemstellungen. An der Wertschätzung der Ehelosigkeit hält Luther hier – wie ein Jahr später in seiner Auslegung des siebten Kapitels des Korintherbriefs – fest 27 (1523). Doch wird sie nun klar der schöpfungstheologischen Argumentation untergeordnet. Die „hohen, reychen geyster, von gottis gnaden auff getzeumet, die von natur und leybs geschick tuchtig sind tzur ehe und bleyben doch williglich on ehe. … Dieße sind seltzam [selten; Anm. W.B.], und unter thausent menschen nicht eyner, denn es sind gottis besondere wunderwerck, des sich niemant unterwinden soll, gott ruff yhn denn beßonders wie Hieremi[as].“ 28
Alle übrigen, die physisch zur ehelichen Sexualität befähigt sind, müssen sich in die Ehe begeben, wenn sie sich nicht einer sündhaften Existenz ausliefern wollen. Denn der Verzicht auf die in der Schöpfung gestiftete Sexualität zwischen Mann und Frau steht fast niemandem zur Disposition. Wer nicht impotent oder von Gott mit der Keuschheit begabt ist, „der dencke nur tzum ehlichen leben, denn da wirt nicht anders auß, du bleybst nicht frum [rechtschaffen], das ist unmuglich“. 29 Diese entschiedenen Aussagen verdanken sich der Frontstellung gegen Priesterzölibat und monastische Keuschheitsgelübde. Denn an anderer Stelle fordert Luther durchaus 24
Vgl.WA 10/II, 261–266; WA 10/III, 7–18. Vermutlich handelt es sich bei der Schrift ursprünglich um eine Predigt, die sich für die Veröffentlichung unter der Hand zur ersten selbständigen und zusammenhängenden Auseinandersetzung Luthers mit dem Thema entwickelte. Dazu könnte auch beigetragen haben, daß in diesen frühen Jahren der Reformation in Wittenberg zahlreiche Anfragen zu Ehe und Priesterstand eingingen. Die alten Ordnungen und Instanzen zur Regelung von Ehefragen (bischöfliche Ehe- und Sendgerichte) hatten ihre Plausibilität verloren, neue waren noch nicht an ihre Stelle getreten. Luther nutzte den Anlaß, um in den anhaltenden Auseinandersetzungen um die Priesterehe eine Orientierung auf evangelischer Grundlage zu bieten. 26 Luther bezieht sich hier auf Gen 1,27f. 27 Vgl. WA 12, 92–142. 28 WA 10/II, 279, 15–17.19–22. 29 WA 10/II, 277, 6–8. 25
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den Verzicht auf eheliche Sexualität, nämlich dann, wenn ein Paar wegen Unverträglichkeit auseinandergeht oder einer der Ehepartner erkrankt. Eine Scheidung läßt er nur bei Impotenz und Ehebruch zu. Sosehr die Schrift „Vom ehelichen Leben“ noch von der Frontstellung gegen Priesterzölibat und Mönchsgelübde geprägt ist, versucht Luther hier doch erstmals ausführlich, Grundlage und Sinn ehelicher Gemeinschaft positiv zu formulieren, vor allem in ihrem dritten Abschnitt. Luther wendet sich eingangs gegen die verbreitete Geringschätzung der Ehe, die oft mit einer Verachtung der Frauen verbunden sei: „Aber davon wollen wyr am meysten reden, das der ehliche stand ßo eyn iemerlich geschrey [Ruf; Anm. W.B.] bey yderman hatt. Es sind vil heydnischer bucher, die nichts denn weyber laster und ehlichs stands unlust beschreyben, alßo das ettliche gemeynett haben, wenn die weyßheyt selbs eyn weyb were, sollt man dennoch nicht freyen.“ 30
Die Ehe sei jedoch kein notwendiges Übel, sondern eine göttliche Einsetzung und solle daher nicht verächtlich gemacht werden. Der Mensch sei zweigeschlechtlich geschaffen, Mann und Frau seien einander zur Hilfe bestimmt (Gen 2,18). Der Glaube an die göttliche Einsetzung der Ehe wirke auf den Ehealltag. Die Mühen der Kinderpflege, die durchwachten Nächte, Geschrei und Gestank der kleinen Kinder erscheinen aus der Perspektive des Glaubens als unverdiente göttliche Wohltaten, „eyttell guldene, edele werck“. 31 In seinem Bemühen um Aufwertung der Ehe und Wertschätzung der Ehefrauen geht Luther so weit, einen Rollentausch zum Wohlgefallen Gottes gedanklich durchzuspielen: „Wenn eyn man hynginge und wussche die windel odder thet sonst am kinde eyn verachtlich werck, unnd yderman spottet seyn und hielt yhn fur eyn maulaffe und frawen man, ßo ers doch thett ynn solcher obgesagter meynung unnd Christlichen glawben, Lieber[,] sage, wer spottet hie des andern am feynsten? Gott lacht mit allen engeln und creaturn, nicht das er die windel wesscht, ßondern das erß ym glawben thut. Jhener spötter aber, die nur das werck sehen und den glauben nicht sehen, spottet gott mit aller creatur als der grosten narrn auff erden.“ 32
Daß nicht nur dieser Rollentausch so gering geachtet wird, sondern insgesamt so viel „unlust unnd iamer“ 33 unter den Eheleuten herrschen, liegt an der Verkennung der göttlichen Einsetzung. Denn was Gott in der Schöpfung gut genannt habe, müsse gut sein, es sei denn, man erkenne es nicht richtig. 34 Daher möchte Luther auch den Einwand nicht gelten lassen, daß ein Mann nur heiraten könne, wenn er in der Lage sei, Frau und Kinder zu
30
WA 10/II, 292, 22–26. WA 10/II, 296, 14f. 32 WA 10/II, 296, 27–297,3. 33 WA 10/II, 298, 9. 34 Vgl. WA 10/II, 299, 12f. 31
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ernähren. Man solle die Armut und Verachtung nicht scheuen und die Ehe mit Gottvertrauen auf einen ausreichenden Unterhalt eingehen. Das wertvollste am ehelichen Leben aber ist für Luther die Fruchtbarkeit und das damit verbundene Elternamt, weil durch seine Wirkung Seelen gerettet werden können. Dies hebt Vater und Mutter als Lehrer und Prediger des Evangeliums für ihre Kinder in den Stand der obersten geistlichen Gewalt. „Wer den andern das Euangelion leret, der ist warlich seyn Apostel und bischoff. Hütte und stebe 35 unnd grosse landt machen wol gotzen, aber Euangelion leren macht Apostel und bisschoffe. Darumb sihe, wie gutt und reych es sey, was gottis werck und ordnung ist.“ 36
Mit der Schrift „Vom ehelichen Leben“ liegt im Spätsommer 1522 Luthers Ehelehre in ausdifferenzierter Gestalt vor. Die späteren Schriften wie die Auslegung von 1. Kor 7 oder die umfangreiche Ehepredigt von Anfang 1525 bieten allenfalls eigene Akzentsetzungen, aber keine Abweichung in den Grundlinien. Die Ehe ist schöpfungstheologisch begründet und damit der älteste aller menschlichen Stände. Sie ist eine allgemein menschliche Ordnung und daher kein Sakrament. Dies erlaubt es Luther auch, über die Möglichkeit von Ehescheidung unter bestimmten Bedingungen nachzudenken. Ehelosigkeit und Keuschheit verlieren nicht ihre Wertschätzung, sie gelten aber als extrem seltene Gottesgabe. Daher wird auch die eheliche Sexualität, wiewohl sie nach dem Fall nicht frei ist von Sünde, nachdrücklich bejaht, weil sie Schlimmeres verhindern kann. Eine besondere Wertschätzung verdient die Ehe allein schon wegen ihrer Erziehungsaufgabe. Luthers Ehelehre ist im ersten Jahrzehnt der Reformation von einem starken antizölibatären und antimonastischen Zug geprägt. Luther kämpft auch 1525 noch für die Ehre der Ehe 37 gegenüber der höheren Wertschätzung der Ehelosigkeit in der römischen Kirche. Nicht zuletzt aus diesem Grund betont er das Naturrecht ehelicher Sexualität, preist die gering geachtete Aufgabe der Kinderpflege, lobt das Amt elterlicher Erziehung und wendet sich gegen die verbreitete Mißachtung der Ehefrauen. Dieser antimonastische und antizölibatäre Zug war auch für seine eigene Entscheidung zur Ehe nicht ohne Bedeutung.
35
Bischofsnot (Mitra) und Stab, die Insignien des Bischofsamts. WA 10/II, 301, 27–30. 37 Die Predigt vom Ehestand 1525 zählt in einem eigenen ersten Abschnitt acht Ehren der Ehe auf, bevor sie auf praktische Fragen (Heirat, Eheführung, Scheidung) eingeht. Vgl. WA 17/I, 8–12 und 12–29, bes. 12–17. 36
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II. Eine bislang wenig beachtete Lutherschrift Ende Mai /Anfang Juni 1525 formulierte Luther einen Sendbrief an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg. „Ich hab ettlich mal Ewer Churfürstliche gnad bißher mit schrifften bemüet, ander leüt halben, yetzt werd ich bezwungen, Ewer Churfürstlich gnaden halben zu schreyben, und bitt gar untertheniglich, Ewer Churfürstliche gnaden wolt es also annemen in gutem, so trewlich, als ichs mayne, unter andern sorgen und fürnemen, so mich auch bekümert, dise leydige und grewliche empörung zu stillen, welche durch den Sathan als eyn straff gottes erregt wirt.“ 38
Zwei Wochen nach der entscheidenden Niederlage der aufständischen Bauern in Mitteldeutschland bei Frankenhausen, aber noch vor dem Ende des Aufstands in den mittelrheinischen Gebieten um Mainz herum, 39 war die Erhebung der Bauern und Bürger eine Frage, welche die Gemüter nicht nur der politisch Verantwortlichen wie keine andere bewegte. Luthers Vorschlag zur „Stillung“ des Bauernaufstands war freilich ungewöhnlich: „Ist mir eyngefallen, Ewer Churfürstlich gnad zu ermanen und an zurüffen, In grosser hoffnung und zuversicht, Ewer Churfürstlich gnad müg und künne, wo sie nur wölle, gar menglich darzu helffen, neben andechtigen gebet zu got, das es besser würde, und ist kürtzlich das die meynung, das sich Ewer Churfürstlich gnad in den Eehlichen standt begeben.“ 40
Dieser Vorschlag ist in mehrerlei Hinsicht erstaunlich. 1. Daß Luther dem zweithöchsten Würdenträger des Heiligen Römischen Reichs die Verehelichung vorschlägt – ein Bruch mit den Standeskonventionen und mit dem Kanonischen Recht gleichermaßen – mag angesichts der frühreformatorischen Polemik gegen den Priesterzölibat noch einzuordnen sein in die oft nicht wählerisch geführten Kontroversen jener Zeit. Luther hatte den Mainzer Kurfürsten schon im Zusammenhang mit dessen Vorgehen gegen verheiratete Priester auf den Widerspruch zu seinem eigenen Lebenswandel hingewiesen. So hatte Luther im Dezember 1521 den Erzbischof Albrecht aufgefordert, sein Vorgehen gegen die verheirateten Priester einzustellen, „die sich, Unkeuschheit zu meiden, in den ehelichen Stand begeben haben oder wollen“. 41 Er solle sie nicht dessen berauben, was sie von Gott erhalten haben. Anderenfalls werde sich „ein Geschrei [...] aus dem Euangelio erheben, 38
WA 18, 408, 6–14. Vgl. WOLF-HEINO STRUCK, Der Bauernkrieg am Mittelrhein und in Hessen: Darstellung und Quellen. Wiesbaden 1975 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 21), 87–89 und 139–149 (Nr. 29–38). 40 WA 18, 408, 14–18. 41 WA.B 2, 408, 79f. 39
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und sagen, wie fein es den Bischoffen anstünde, dass sie ihre Balken zuvor aus ihren Augen rissen, und billig wäre, dass die Bischoffe zuvor ihre Hurn von sich trieben, ehe sie fromme Eheweiber von ihren Ehemännern scheideten“. 42 Es war kein Geheimnis, daß es der Mainzer Erzbischof mit dem Zölibat nicht zu genau nahm; die bekannteste seiner Konkubinen war Ursula Redinger/Riedinger. 43 Man kann also Luthers Aufforderung an den Erzbischof zur Verehelichung von 1525 als die positiv formulierte Wendung der frühreformatorischen Polemik gegen den Zölibat sehen. Auch anderenorts waren in den frühen Jahren der Reformation priesterliche Konkubinarier zur Ehe aufgefordert worden. 44 Doch war diese Debatte 1525 weitgehend abgeebbt. 2. Erstaunlich ist aber auch das unmittelbare zeitliche Umfeld dieses Vorschlags, denn Luther unterbreitete ihn kaum zwei Wochen vor seiner eigenen Eheschließung, zu einem Zeitpunkt, als er längst mit den eigenen Heiratsplänen beschäftigt war. 45 Wenn wir seinem eigenen Zeugnis aus dem Heiratsmonat trauen dürfen, dann hat der Wunsch des Vaters 46 zu diesen Plänen beigetragen. Ihm war Martin Luther bei seiner Reise in das Mansfelder Land in der zweiten Aprilhälfte 1525 (16. April – 6. Mai) begegnet, bei dem er erstmals auch persönlich mit dem Bauernaufstand konfrontiert worden war. Luther hat die Begegnungen mit den Aufständischen auf dieser Reise als aggressiv und bedrohlich empfunden. Aus diesen Erfahrungen ist sein vielfach kritisierter Traktat „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ 47 entstanden. Daß sich Luther zwischen der Auseinandersetzung mit den aufständischen Bauern und den 42
WA.B 2, 408, 90–94. Vgl. Kerstin Merkel: Albrecht und Ursula. Wanderung durch Literatur und Legendenbildung, in: ANDREAS T ACKE (Hg.), „[…] wir wollen der Liebe Raum geben“. Konkubinate geistlicher und weltlicher Fürsten um 1500 (Schriften der Moritzburg 3), Göttingen 2006, 157–185; vgl. auch den Beitrag des Herausgebers im gleichen Band: ‚Alles besiegt Armor‘ Zur Liebesthematik in zwei Heiligenrollenporträts der CranachWerkstatt: Kardinal Albrecht von Brandenburg und seine Konkubine, 359–368. Zum Fürstenkonkubinat um 1500 allgemein Paul-Joachim Heinig: ‚Omnia vincit armor‘. Das fürstliche Konkubinat im 15./16. Jahrhundert, in: CORDULA NOLTE u.a. (Hg.), Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter (Residenzenforschung 14), Stuttgart 2002, 277–314; DERS.: Fürstenkonkubinat um 1500 zwischen Usus und Devianz, 11–37. 44 Vgl. WOLFGANG BREUL-KUNKEL, Herrschaftskrise und Reformation. Die Reichsabteien Fulda und Hersfeld ca. 1500–1525 (QFRG 71), Gütersloh 2000, 189–194. 45 Zu der Reise nach Eisleben und Thüringen am 16. April ist Luther mit konkreten Heiratsplänen aufgebrochen. 46 Vgl. WA.B 3, 531,14f. (Luther an Joh. Rühl, Joh. Thür und Kaspar Müller, Wittenberg, 15. Juni 1525). 47 Zunächst als Anhang der „Ermahnung“ unter „Wider die stürmenden Bauern“ erschienen. Vgl. WA 18, 345 und 351. 43
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Plänen zur eigenen Eheschließung Zeit nimmt für einen Sendbrief an den Mainzer Erzbischof, der ihn zur Eheschließung auffordert, ist bemerkenswert. 3. Am erstaunlichsten aber ist vielleicht der Zusammenhang zwischen Aufstand und Eheschließung, den Luther gleich zu Beginn des Sendbriefs herstellt. Daß Erzbischof Albrecht durch eine Verheiratung zur Beruhigung der Aufständischen beitragen könne, ist auf den ersten Blick ein überraschender Gedanke. Luther führt dafür zwei Argumente an: „Erstlich, das damit der straff gottes zuverkumen [zuvorzukommen; Anm. W.B.] und dem Sathan die ursachen der empörung genumen würden, denn es ist doch am tag, das der geystlich standt offentlich wider got und seyn ehre ist“. 48 Die Bischöfe und (geistlichen) Fürsten hätten es versäumt, rechtzeitig dem Evangelium Raum zu geben und offenkundige Mißstände abzuschaffen. – Da man „weder hören noch sehen wolte“, 49 habe Gott den Untergang des geistlichen Stands zugelassen, „auff das er beweyse, wie seyn wort mechtiger ist, dann alle ding“. 50 Die Einsicht in die fehlende Begründung des geistlichen Stands, so Luthers zweites Argument, habe nun auch den „gemeinen Mann“ erreicht. Die vielfältige Polemik gegen Pfaffen und Mönche zeige, daß „die geysterey“, wie Luther es polemisch nennt, „den leüten auß dem hertzen ist und so hoch verachtet“. Diese Verachtung werde nicht eher aufhören, bis sie auch „auß den augen“ 51 sei. Nachdrücklich resümiert Luther: „Es ist verloren, der geystlich standt kann nit bleyben, vil weniger wider zu ehren kummen, Got hat jn angriffen, er muß hynunder, das und keyn anders [so und nicht anders; Anm. W.B.].“ 52
Halte man länger am geistlichen Stand fest, dann werde man den gemeinen Mann nur weiter reizen und gegen sich selbst aufbringen. Albrecht aber könne dazu beitragen, daß die unvermeidliche Abschaffung des geistlichen Stands friedlich verlaufe, damit Gott nicht dazu den Teufel, die Aufständischen, gebrauchen müsse. 53 Luther versäumt es nicht, auf Herzog Albrecht aus dem Ansbacher Zweig der Hohenzollern zu verweisen, der den Deutschordensstaat in Preußen wenige Monate zuvor säkularisiert hatte: „ein schön exempel, [...] wie gar feyn und gnedig hat Got solch enderung geschickt […] Aber eyn 48
WA 18, 409, 1–3. WA 18, 409, 10. 50 WA 18, 409, 12f. 51 WA 18, 409, 23. 52 WA 18, 409, 28–30. 53 Könne das gemeine Volk einen Wandel erkennen, würden sich ihre Herzen ihm zuwenden und der Wandel könne friedlich erfolgen. 49
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vil grösser exempel were Ewer Chürf. G[naden], als die gleych mitten in Teütschen landen, der grösten haubter eyns ist, das wurde vil leüt stillen und eingewinnen und andere Bischöff hernach ziehen“. 54 Anders als das preußische Vorbild sollte der Mainzer Albrecht aber durch die Eheschließung ein Zeichen für das Ende des geistlichen Stands setzen. Diesem Beispiel – so Luthers Hoffnung – würden andere geistliche Fürsten folgen. Uns mag Luthers Vorschlag, den Bauernaufstand durch eine Säkularisation der geistlichen Fürstentümer mittels Eheschließung zu beenden, seltsam oder kurios erscheinen. So hat ihn die Luther-Biographik denn – wenn sie ihn überhaupt erwähnt 55 – meist als peripheres Votum abgehandelt. 56 Doch war er im Frühjahr 1525 keineswegs so abwegig, wie er vielleicht heute erscheint. Der Aufstand der Bauern und Bürger richtete sich vielerorts gegen Geistliche und insbesondere geistliche Einrichtungen. In Franken waren besonders zahlreich Klöster zerstört worden. 57 Der Regent der Reichsabtei Fulda, ebenfalls ein Hohenzollernspross, wurde von den Bauern zum Verzicht auf die geistliche Herrschaft gedrängt und ihm – sofern die Nachrichten stimmen – die Heirat nahegelegt. 58 Es war also nicht zu verwegen, wie Luther ein Ende der geistlichen Herrschaft zu erwarten. Doch ist es nicht dazu gekommen. Luthers Sendbrief an Albrecht von Mainz teilte das Schicksal der übrigen Bauernkriegsschriften des Reformators – er kam zu spät. 59 Luthers Sendbrief an den Mainzer Erzbischof ist auf interessante Weise mit seinen eigenen Eheschließungsplänen verknüpft. Mitte April 1525 war er nach Eisleben und damit in das Thüringer Gebiet des Bauernaufstands gereist. Luther berichtet darüber in einem Brief vom 4. (5.?) Mai an den Magdeburger und Mansfelder Rat Johann Rühl. 60 In scharfen Worten polemisiert er gegen die Aufständischen, welche die Fürsten vertreiben und 54
WA 18, 410, 5f.11–13. Unerwähnt ist er beispielsweise bei VOLKER LEPPIN, Martin Luther, Darmstadt 2006 und HEIKO A. OBERMAN, Luther: Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1987. 56 Vgl. BRECHT (wie Anm. 7), 196; HEINRICH BORNKAMM, Martin Luther in der Mitte seines Lebens, Göttingen 1979, 358f. 57 Vgl. RUDOLF E NDRES, Zur sozialökonomischen Lage und sozialpsychischen Einstellung des „Gemeinen Mannes.“ Der Kloster- und Burgensturm in Franken 1525, in: Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft, Bd. 1: Der Deutsche Bauernkrieg 1524–1526, Göttingen 1975, 61–78. 58 Vgl. BREUL-KUNKEL (wie Anm. 44), 261–266. 59 Der Druck erschien erst 1526. Vgl. WA 18, 405 und 407; HANS-JOACHIM KÖHLER, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Teil 1. Das frühe 16. Jahrhundert, Bd. 2, Druckbeschreibungen, 348f. (Nr. 2295f); vgl. VD 16, Nrr. L 3771–3775. 60 Vgl. HELMAR J UNGHANS, Luther in Wittenberg, in: DERS. (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546: Festgabe zu seinem 500. Geburtstag/ im Auftr. d. Theol. Arbeitskreises für Reformationsgeschichtl. Forschung, Bd. I, Göttingen 1983, Bd. II, 1072. 55
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„neu Ordnung machen in der Welt, deß sie von Gott weder Gebot, Macht, Recht noch Befehl haben“. 61 Er fordert Rühl auf, seinen Herrn, den Mansfelder Grafen Albrecht, zum Vorgehen gegen die aufständischen Bauern weiter anzuhalten. Ihren Friedensangeboten dürfe man nicht trauen, weil sie nur eine List des Teufels seien, dem eigentlichen Urheber des Aufstands. Der aber ziele auch auf sein eigenes, Luthers, Leben. „Wohlan, komm ich heim, so will ich mich mit Gottes Hilfe zum Tode schicken und meiner neuen Herrn, der Mörder und Räuber, warten“. 62 Inmitten dieser von finsteren Erwartungen bestimmten Polemik kündigt Luther dem ihm verbundenen Johann Rühl 63 seine Heirat an: „Und kann ich's schicken, ihm [dem Teufel; Anm. W.B.] zum Trotz, will ich meine Käte noch zur Ehe nehmen, ehe denn ich sterbe, wo ich höre, daß sie [die Bauern; Anm. W.B.] fortfahren. Ich hoffe, sie sollen mir doch nicht meinen Mut und Freude nehmen.“ 64
In einer Situation, die Luther als persönliche Lebensgefahr empfindet, erklärt er dem Mansfeldischen Rat seine Heiratsabsicht für den Fall, daß der Aufstand andauert – dem Teufel zum Trotz. Die weitere Korrespondenz zwischen Luther und Rühl hat den Bauernaufstand in Mitteldeutschland und seine Niederschlagung als beherrschendes Thema, die Ehefrage bleibt aber erhalten. In seiner Antwort vom 21. Mai reagierte Rühl nicht auf Luthers Heiratsankündigung, aber er bat ihn um ein Schreiben an seinen Mainzer Herrn: „Ich wollte gerne, daß ihr meinem Gnedigsten Herrn von Magdeburg alß in dieser fährlichen Zeit ein Trostbriefflein und ermahnung zu verenderung seines standes, ihr versteht mich wohl, zuschriebet.“ 65
Was die nicht ganz eindeutige Wendung der Standesveränderung bedeutete, war zwischen Luther und Rühl unstrittig: es ging um die Verehelichung des Kurfürsten. Am 30. Mai versprach Luther das erbetene Schreiben, das er am 3. Juni als Kopie und am 5. Juni in der Ausfertigung an Rühl übersandte, damit dieser es an Kurfürst Albrecht übergeben könne. 66 Am 3. Juni hatte Luther erklärt, daß er mit einer Verbreitung des Schreibens durch Kopien oder Druck einverstanden sei, wenn es Kurfürst Albrecht gefalle. Er rechnete also ernsthaft mit der Möglichkeit einer Heirat des Erzbischofs. Sollte Albrecht bei der Übergabe fragen, warum Luther, der jedermann zur Ehe auffordere, nicht selbst mit gutem Beispiel 61
WA.B 3, 480, 24f. (aus Seeburg). WA.B 3, 481, 67f. 63 Er wurde zur Hochzeit eingeladen. Vgl. WA.B 3, 531, 20f. (Luther an Joh. Rühl, Joh. Thür und Kaspar Müller, Wittenberg, 15. Juni 1525); Junghans (wie Anm. 60), 14. 64 WA.B 3, 482, 81–83. 65 WA.B 3, 505f., 44–46. 66 Vgl. WA.B 3, 515f., 522, 524f. 62
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vorangehe, so solle Rühl darauf verweisen, daß er Zweifel an seiner Eignung habe. „Doch, wo meine Ehe Seiner Kurfürstl. Gnaden eine Stärkung sein möchte, wollt ich gar bald bereit sein, Seiner Kurfürstl. Gnaden zum Exempel vorherzutraben, nachdem ich doch sonst im Sinne bin, ehe ich aus diesem Leben scheide, mich in dem Ehestande finden zu lassen, welchen ich von Gott gefodert achte, und sollt's nicht weiter denn eine verlobte Josephsehe sein.“ 67
Luthers Sendbrief ist erst im Folgejahr unter veränderten Vorzeichen in den Druck gegangen. 68 Offensichtlich war er enttäuscht, daß der Mainzer Erzbischof nicht auf seine Empfehlung eingegangen war. 69
III. Schlußfolgerung 1. Nimmt man Luthers Sendbrief an den Mainzer Erzbischof nicht nur als Anekdote am Rande, sondern ordnet ihn in die engeren zeitlichen Zusammenhänge ein, dann wirft er ein scharfes Licht auf Luthers Ehelehre und seine eigene Eheschließung. Luther hat demnach den antizölibatären Zug seiner Ehelehre 1525 keineswegs aufgegeben. In der Krisensituation des Aufstands von 1525 erscheint ihm die Verheiratung eines der höchsten geistlichen Fürsten des Landes als Weg zur Beruhigung der Situation. Der Mainzer Kurfürst sollte seinen persönlichen Stand durch Heirat „säkularisieren“, damit aus seinem geistlichen Fürstentum ein „weltlich ding“ werden konnte. 2. Luther hat seine eigene Eheschließung in entsprechender Weise als Zeichen für die neue vom Evangelium bestimmte Ordnung, für das Ende des geistlichen Stands, angesehen, zu dem er sich nun – in den Zeiten des Aufruhrs und seiner persönlichen Gefährdung – bekennen wollte. Luthers Eheschließung war in diesem Sinne ein theologisches Zeichen, das Luther – entgegen Melanchthons Auffassung – nicht trotz, sondern gerade wegen des Aufstands der Bauern setzte. Als der Aufstand wenige Wochen später beendet war, begann für Luther der eheliche Alltag. Sein Erstaunen darüber hat er rückblickend in einer Tischrede formuliert: „Im ersten Jahr des Ehestands hat einer seltsame Gedanken. Wenn er uber Tisch sitzt, so gedenkt er: Vorhin [zuvor; Anm. W.B.] warst du allein, nu aber bist du selbander; im Bette, wenn er erwacht, siehet er ein Paar Zöpfe neben ihm liegen, das er vorhin [zuvor] nicht 67
WA.B 3, 522, 13–18. S.o. Anm. 59. 69 Vgl. Luthers rückblickende Äußerung in den Tischreden, WA.TR 5, 694, 19–22 (Nr. 6494). 68
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sahe. Also saß meine Käthe im ersten Jahr bey mir, wenn ich studirete, und da sie nicht wußte, was sie reden sollte, fing sie an, und fragte mich: Herr Doctor, ist der Hofmeister in Preußen des Markgrafen Bruder?“ 70
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WA.TR 2, 165, 19–24.
Text, Kontext und Subtext Eine Lektüre von Luthers Coburgbriefen Volker Leppin Selten scheinen sich die beiden Diskurskreise, in denen sich das kirchenhistorische Arbeiten vollzieht, der historiographische und der theologische, 1 so sehr ineinander zu verschlingen wie in der Biographie Luthers – gerade dies dürfte zu der Hitzigkeit der Debatte beitragen. Die gegenwärtige Rekonstruktion der Biographie Luthers gerät dabei, blickt man auf die historiographisch orientierten Gesprächspartner, in eine Diskussionslage hinein, in der Erinnerung gerade noch als „Schleier“ faßbar scheint. Mit dieser Metapher hat Johannes Fried eine Diskussion zusammengefaßt und weitergeführt, 2 die weite Bereiche der Geschichtswissenschaft prägt: Die Gedächtnisforschungen von Jan und Aleida Assmann 3 gehören hierher, es gibt sogar eine wissenschaftliche Reihe „Formen der Erinnerung“. Erinnerung also ist selbst zum Gegenstand geworden, und mit ihr der scheinbar nächstliegende Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Beschäftigung eigenartig ferngerückt: Daß man nicht mehr wissen kann, „wie es gewesen ist“, ist zwar schon lange Gemeingut unter Historikern, aber die Schärfe, mit der Fried die Quellenkritik theoretisch begründet und am Beispiel der Konstantinischen Schenkung durchgeführt hat, 4 hat der Diskussion doch
1 S. zu dieser Schnittpunktstellung der Kirchengeschichte, VOLKER L EPPIN, Kirchengeschichte zwischen historiographischem und theologischem Anspruch. Zur Bedeutung der Semiotik für das Selbstverständnis einer theologischen Disziplin, in: Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch, hg. v. Wolfram Kinzig, Volker Leppin und Günther Wartenberg, Leipzig 2004 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 15), 223–234. 2 JOHANNES FRIED, Der Schleier der Erinnerung, Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004. 3 JAN ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 6 2007; ALEIDA ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003. 4 JOHANNES FRIED, Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and its Original Meaning. With a Contribution of Wolfram
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eine neue Qualität gegeben, an der auch die biographische LutherForschung nicht vorbeigehen kann. 5 Es handelt sich hier um eine methodische Kardinalfrage, die ich in Reaktion auf kritische Rezensionen versucht habe, zuspitzend zusammenzufassen: „Methodischer Ausgangspunkt meiner Lutherbiographie ist nach Dorothea Wendebourg eine ‚Hermeneutik des Verdachts‘. Folgt man dieser Kategorie Paul Ricoeurs, so handelt man sich freilich eine Fülle von Fragen der Religionstheorie und Hermeneutik ein. So nutze ich nicht die Gelegenheit, hier mit der postmodernen Anwendung einer ‚Hermeneutik des Verdachts‘ im dekonstruktivistischen Diskurs zu kokettieren, sondern gebe meinem Verfahren einen etwas simpleren Namen: Quellenkritik. So hat man es wohl einmal gelernt: dass bei Quellen ihre Aussageabsicht zu berücksichtigen ist. Und man wird rasch darüber Klarheit gewinnen, dass der Bericht eines Konvertiten über die Zeit vor der Konversion unter Umständen mit seiner zeitgenössischen Wahrnehmung divergiert. Dass es hierzu Untersuchungen gibt, unterstützt diese sich geradezu aufdrängende Vermutung. Wenn dem aber im Allgemeinen so ist, so wird man mit Luthers späten Aussagen über seine frühe Zeit vorsichtig umzugehen haben, man wird sie kritisch behandeln, ja hier nun in der Tat: dekonstruieren müssen, um der Zeit selbst etwas näher zu kommen. Das ist der methodische Grundansatz, den ich in meiner Biographie verfolge und der meines Erachtens notwendig ist, um zu einem historisch angemessenen Lutherbild zu kommen.“ 6
Genau genommen betrifft diese Dekonstruktion aber nicht nur die Rückblicke und Erinnerungen, sondern man wird grundsätzlich bei jeder geformten Quelle danach zu fragen haben, ob sich in ihr Momente einer Konstruktion finden. Als ein Beispiel hierfür blicke ich im Folgenden auf Luthers Aufenthalt auf der Coburg 1530 – nicht zuletzt deswegen, weil sich hier wiederum die Frage nach Historiographie und Theologie stellt oder zu stellen scheint. Denn an dem Verhältnis zwischen Luther und Melanchthon, wie es sich in den Briefen dieser Zeit niederschlägt, und vor allem an seiner Interpretation und Darstellung lassen sich wiederum unterschiedliche theologische Optionen festmachen. So hat wiederum Dorothea Wendebourg mir vorgeworfen, ich übersähe in meiner Luther-Biographie den seelsorgerlich ermahnenden Charakter von Luthers Äußerungen gegenüber Melanchthon. 7 Nun legt sich angesichts der umfassenden Forschungen von Gerhard Ebeling, 8 Ute Mennecke-Haustein 9 und, im deutschen Sprachraum Brandes: „The Satraps of Constantine“, Berlin / New York 2007 (= Millennium-Studien 3). 5 Zu den quellenkritischen Überlegungen s. VOLKER LEPPIN, Martin Luther, Darmstadt 2006, 11–13. 6 VOLKER LEPPIN, Eine neue Luther -Debatte: Anmerkungen nicht nur in eigener Sache, in: ARG 99 (2008), 297–307. 7 S. die Rezension meiner Luther-Biographie durch DOROTHEA WENDEBOURG, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.2.2007, 14; D. Wendebourg konnte leider die Einladung zu der Tagung, aus der dieser Band hervorgegangen ist, nicht annehmen. 8 GERHARD E BELING, Luthers Seelsorge an seinen Briefen dargestellt, Tübingen 1997.
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leider immer noch zu wenig rezipiert, Matthieu Arnold, 10 der Hinweis auf die Coburger Trostbriefe nahe. Und auch in meiner Luther-Biographie findet sich der Hinweis, daß Trost „eine Komponente aus der überaus dynamischen Korrespondenz“ der Coburgzeit ist. 11 Als Beispiele hierfür seien nur der ergreifende Brief an Justus Jonas zum Tod seines eben geborenen Kindes, 12 die Trostschreiben an Weller, in denen Luther zum Teil unter explizitem Rückgriff auf die von Staupitz 13 im Kloster erfahrene Seelsorge auf Wellers Anfechtungen eingeht, 14 oder auch die Schreiben an Kurfürst Johann 15 erwähnt. Es sei vielleicht bemerkt, daß sich die von Dorothea Wendebourg kritisierte Stelle in meinem Buch gerade nicht in einem Seelsorgebrief an Melanchthon findet, sondern am Ende eines Briefes an Spalatin, dem Luther sagt, wie er Melanchthon ermahnen soll. Es handelt sich also gegebenenfalls um eine mittelbare Seelsorge und damit um eine Kommunikation, die nicht nur bivalent, sondern mindestens trivalent ist: Der Zuspruch an einen Menschen wird zugleich zur Mitteilung an einen Dritten. Dies mag Zuspruch bleiben, es lädt aber zu einer etwas komplexeren Interpretation ein. Was sich hier von einer Quelle her aufdrängt, läßt sich auch noch einmal theoretisch reflektieren. Wenn Luther als Seelsorger agiert, so unterliegt er als Seelsorger jenem in der heutigen Theorie mit „Übertragung“ bezeichneten Phänomen, daß in seine Haltung als Seelsorger auch Dispositionen geraten können, die ihren Ursprung außerhalb der eigentlichen Seelsorgesituation haben und diese belasten. 16 Für die spezifische Konstellation im 16. Jahrhundert kommt noch Weiteres hinzu: Historische Analysen, die aufzeigen, daß die gesellschaftliche Normierung von Kommunikationen in Mittelalter und Früher Neuzeit hoch war, 17 und heutige praktisch-theologische Reflexionen, die das Kommunizieren in einem prädisponierten 9
UTE MENNECKE-HAUSTEIN, Luthers Trostbriefe, Gütersloh 1989 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 56). 10 MATTHIEU ARNOLD, La correspondance de Luther. Étude historique, littéraire et théologique, Mainz 1996 (= Veröffentlichungen des Institus für europäische Geschichte Mainz 168); zur Deutung der Coburgbriefe, 582–585. 11 LEPPIN, Luther (wie Anm. 5), 394 Anm. 35. 12 WA 5, 323f. (Nr. 1571). 13 WA 5, 519,26–29. 14 V.a. WA 5, 373–375 (Nr. 1593); 518–520 (Nr. 1670); vgl. zu den Briefen an Weller MENNECKE-HAUSTEIN, Trostbriefe (wie Anm. 9), 182–195. 15 Z.B. WA 5, 324–328 (Nr. 1572). 16 S. z.B. JÜRGEN ZIEMER, Seelsorgelehre. Eine Einführung für Studium und Praxis, Göttingen ²2004, 174f. 17 Zusammenfassend zu den entsprechenden Forschungsansätzen der Münsteraner Geschichtswissenschaft s. Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800–1800. Katalog- und Essayband zur Ausstellung des Kulturhistorischen Museums Magdeburg, hrsg. v. Barbara Stollberg-Rilinger u.a., Darmstadt 2008.
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kirchlichen Rahmen thematisieren, 18 weisen auf einen für die Interpretation wichtigen Gesichtspunkt hin: Es handelt sich um eine religiös und sozial definierte asymmetrische Kommunikation, wobei für meine Überlegungen die Definition wichtiger ist als die Asymmetrie: Die Kommunikationspartner können zwar, was dem selbst der Seelsorge bedürftigen Luther gelegentlich geschieht, ihre Rollen tauschen, wechseln damit aber nur die Seiten der definierten Kommunikation, in der durch die Definition der Kommunikationssituation der eine der Erhoffende und Empfangende ist und der andere der Gebende. Das heißt aber für eine biographische Fragestellung: Wir begegnen Luther, wenn wir den Gesichtspunkt des Seelsorgers stark machen, im Rahmen einer solchen definierten Kommunikation und können innerhalb deren wiederum seine eigene Füllung des gesetzten Rahmens analysieren – ich verweise wiederum auf die einschlägige Arbeit von Ebeling. Die Rolle des Seelsorgers gehört insofern – wie auch die Kommunikationsrolle des Professors, des Predigers oder des Schriftstellers – auch zu seiner Biographie hinzu, aber in einer sehr spezifischen Weise. Die moderne Gesprächsanalyse weist allerdings auch darauf hin, daß besonders markante individuelle und damit biographisch relevante Züge genau dort auftreten, wo neben der reflexiven Füllung des Rahmens auch jene persönlich-emotionalen Bezüge zu dem Gesprächspartner zu Tage treten, die die mit der Definitionssituation gesetzte Rollenzuweisung durchbrechen. Um auf diese Weise dem persönlichen Engagement der Gesprächsbeteiligten näher zu kommen, wird man jene Hinweise aufzunehmen haben, in denen der Gesprächsteilnehmer neben der ihm in der definierten Kommunikation durch die spezifische Situation zugewiesenen Ausdrucksform auch eigene Emotionen sprechen läßt. Bei dem damit verbundenen Unternehmen handelt es sich wohl um eine dekonstruktivistische Lektüre, für die freilich nach meiner Ansicht zwei Bedingungen gelten sollten, die derzeit in der dekonstruktivistischen Literatur nicht überall vorausgesetzt werden: Erstens hebt die dekonstruktivistische Lektüre jene Lektüren nicht auf, die sich an der gegebenen definierten Kommunikation – in diesem Falle also der gesellschaftlichen Konstruktion – orientieren, sondern versieht sie nur mit einem Gegenakzent beziehungsweise einer Erweiterung der gegebenen Facetten. Zweitens kann eine solche dekonstruktivistische Lektüre dann besonders überzeugen, wenn sie ihren Charme nicht allein aus der Dekonstruktion gewinnt, sondern auch positive Anhaltspunkte für sie zu gewinnen sind. Um aus der Theorie zurück zu den zur Rede stehenden Quellen zu kommen: Mir schiene es unangemessen, in 18
S. MICHAEL KLESSMANN, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2008, 147–177; ZIEMER, Seelsorgelehre (wie Anm. 16), 151–156, mit dem Verweis auf den asymmetrischen Charakter, 154.
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Luthers Verhältnis zu Melanchthon Spannungen allein aus einer Dekonstruktion seiner seelsorgerlichen Äußerungen abzuleiten – tatsächlich aber ist Luther deutlich genug, sich hierzu auch direkt zu äußern. Ich werde darauf noch eingehen. Im Folgenden werde ich mich nach diesen methodologischen Vorüberlegungen zwei unterschiedlichen Kommunikationsbenen zuwenden, die sich aus Luthers Situation auf der Coburg ergeben: die Kommunikationskreise, die sich abzeichnen, sind vor allem die Coburg selbst sowie das Gespräch mit Augsburg. Ein kommunikationsorientierter Blick auf die Coburg stellt als erstes fest: Luther berichtet sehr wenig von den hier erfolgenden Gesprächen. Es sind zwei Vertraute mit ihm da geblieben: Veit Dietrich und Luthers Neffe Cyriacus Kaufmann. 19 Ansonsten scheinen das Kommunikativste die Dohlen gewesen zu sein. Luther klagt und scherzt vor allem in den ersten Briefen von der Coburg aus immer wieder über den Reichstag, den diese um ihn herum abhalten, 20 wobei zwischen den scherzenden Tönen die Klage nicht immer leicht wahrzunehmen ist. Justus Jonas gibt deutlich zu erkennen, daß er begreift, daß es Luther mit diesem Vogelkonzert schlecht geht, wenn er ihm am 5. Mai schreibt, er verwünsche die Vögel, die Luther den Schlaf rauben. 21 Daß solche Anteilnahme eher die Ausnahme bleibt, ist deutlicher Ausdruck der Ambivalenz, mit der Luther selbst die Situation schildert: Am 24. April hatte er ungeachtet des Dohlengekrächzes die Coburg als locus amoenissimus et studiis commodissimus gelobt 22 – ein Lob, das zur Störung durch die Vögel nicht recht passen will. Diese Ambivalenz zieht sich durch die gesamte Beschreibung der Coburg durch. Die angekündigten studia hat Luther in der Tat in Angriff genommen: Berühmt sind die drei Hütten, die er wie am Berg der Verklärung bauen will: für die Psalmen, für die Propheten und für Aesop, 23 und tatsächlich finden sich immer wieder Erfolgsmeldungen über den Fortschritt der Arbeit, 24 am 20. Mai vermeldet er dem Kurfürsten gar auf dessen besorgte Nachfrage: „Die Zeit ist mir fürwahr nit lang, wir leben als die Herren, und sind mir diese Wochen daher also verlaufen, daß mich’s kaum drei Tage dunkt“. 25 Ganz abgesehen davon, daß der Kurfürst wohl nicht der rechte Adressat für eine solche persönliche Klage gewesen wäre, zeigen aber zahlreiche Bemerkungen in den Briefen in performativem Widerspruch zu dieser Zusicherung, daß Luther die äußere Ereignislosigkeit im 19
WA.B 5, 294,3f. (Nr. 1555); zu Kaufmann als Neffe Luthers s. ebd. 522,1f. WA.B 5, 290,6f. (Nr. 1554). 21 WA.B 5, 302,72–74 (Nr. 1560). 22 WA.B 5, 285,6f. 23 WA.B 5, 285,6 (Nr.1552). 24 WA.B 5, 309,9–11. 25 WA.B 5, 325,12–15. 20
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Reich der Vögel und Wolken 26 als belastend wahrnahm: Immer wieder fallen Floskeln, er habe nichts zu schreiben oder dergleichen, 27 durch die er seinen Gesprächspartnern die Ereignislosigkeit des Ortes signalisiert und zugleich sein Interesse an ihren Meldungen über das eigentliche Geschehen. Tatsächlich bestimmt sich Luthers Wahrnehmung der Coburg in hohem Maße auch durch sein Bewußtsein davon, daß er nicht an einem anderen Ort ist, das heißt: nicht in Augsburg. Daß er auf der Coburg bleiben sollte, hat ihn offenkundig verärgert. Ihm sei vom Kurfürsten befohlen worden, auf der Coburg zu bleiben, „Nescio qua causa“, schreibt er schon am 18. April an Nikolaus Hausmann. 28 Und fünf Tage später setzt er zu der Mitteilung an Eobanus Hessus, daß Melanchthon, Agricola, Jonas und Spalatin ihn bald auf dem Weg nach Augsburg treffen werden, hinzu: „fuissem ego libens quintus“. 29 In diesem Schreiben dringt auch durch, daß er sich auch aus Mißtrauen zurückgesetzt fühlt: „[…] erat, qui diceret mihi: tace, tu habes malam vocem“ 30 – mit dieser Bemerkung erklärt er den Grund seines Fernbleibens. Seine Stimme, seine Weise sich zu äußern, war unerwünscht. Wer derjenige war, der dies gesagt hat, teilt er nicht mit, aber das gesäte Mißtrauen bleibt, freilich in der Weise internalisierender Verarbeitung. Ihm sei bewußt, daß er sich zu dem Vorhaben nicht gut schicke, schreibt er am 8. Mai an Linck, und in demselben Brief summiert er dann auch im Blick auf seinen erzwungenen Aufenthalt: „sed quod Deo placuit, et mihi placet“ 31 – schon die Sprachform macht deutlich, daß er hier eine Einsicht in Gottes Willen nachholt und nun seinen Frieden mit der Situation gemacht hat. Freilich bleibt die Coburg sein Eremus 32 – eine ortstheologische Identifikation, bei der die unterschiedlichen biblischen Assoziationen der Wüste als Rückzugs-, Versuchungs- und nicht zuletzt auch Offenbarungsort mitschwingen dürften. Ähnlich ambivalent sind nämlich auch die für die Bergsituation gewählten Metaphern: Gleich nach Melanchthons Weiterreise schrieb Luther ihm am 24. April, er sei nun auf seinem Sinai angekommen, wolle ihn aber durch den Bau der drei schon erwähnten Hütten zum Zion machen. 33 Diese Anspielung auf die Verklärungsgeschichte wirft auch Licht auf das Bild vom Sinai. Gerade das Gegenüber zum Zion läßt es als nicht sehr naheliegend erscheinen, daß der Akzent auf dem Offenbarungscharakter bzw. der Gottesnähe des Sinai 26
WA.B 5, 289,1f. (Nr. 1553). WA.B 5, 286,23f.; 289,20f; 298,10f.; 322,3. 28 WA.B 5, 277,17f. (Nr. 1547). 29 WA.B 5, 283,6 (Nr. 1550). 30 WA.B 5, 283,6 (Nr. 1550). 31 WA.B 5, 309,16–18 (Nr. 1563). 32 WA.B 5, 333,21 (Nr. 1574); 350,5–351,7 (Nr. 1584). 33 WA.B 5, 285,3–6. 27
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liegt. Näher liegt es, das Bild in seiner kommunikativen Dimension auszudeuten, so wie Luther auch von der Wartburg aus biblische Bilder genutzt hat, um seine Situation zu deuten. 34 Dann wäre der Sinai der Ort, an dem Mose allein Gott gegenübertrat, während das Volk im Tal blieb und einen falschen Gottesdienst pflegte. So würde das Bild in eine Situation passen, in der Luther, wie der Hinweis auf seine schlechte Stimme zeigt, schon Mißtrauen gespürt hätte und diesem möglicherweise mit Mißtrauen antwortete. Das würde auch insofern passen, als in dem Gegenüber von Sinai und Tal ja auch das von Mose und Aaron mitschwingt, und damit das von Aarons Eloquenz – Luther bezeichnet in seinem Brief an Hessus jene vier metaphorisch als Briefe, und zwar solche, die „loquentes, imo elequentissimae“ seien 35 – und Moses schwerer Zunge, der dann die schlechte Stimme Luthers entspräche. Was allerdings gegen diese Deutung spricht, ist die Tatsache, daß eigentlich zu diesem Zeitpunkt das Verhältnis zu Melanchthon äußerlich noch ungetrübt war. Damit aber sind wir bei dem nächsten Punkt. Mit der Augsburger Kommunikation gelange ich an jene Stelle, die, wie erwähnt, offenbar theologische Sensibilitäten berührt. Luther und Melanchthon sind in der heutigen Wahrnehmung, nicht zuletzt geprägt durch die Denkmäler des 19. Jahrhunderts, auch Repräsentanten von unterschiedlichen Typen von Theologie – und das Verhältnis von dem offenkundigen fundamentum in re solcher Bilder und ebenso offenkundigen Projektionen ist nicht immer einfach zu klären. So wittert offenbar mancher oder manche, wenn man von Spannungen zwischen Luther und Melanchthon spreche, wolle man diese theologisch gegeneinander ausspielen. Vielleicht ist solche Kritik ihrerseits Ausdruck einer dekonstruktivistischen Lektüre meines Lutherbuches, auf der Sachebene hat sie jedenfalls darin keinen Anhalt, zumal ich ja auch die Versöhnung zwischen beiden ausführlich gewürdigt habe. Was ich zu beschreiben versuche, ist vielmehr die sich bei beiden Protagonisten abzeichnende, einer schroffen Wandlungen unterworfene kommunikative Beziehung, in der vor allem von Luthers Seite Schärfen entstehen, aber auch wieder revidiert werden. Diese kommunikative Beziehung hat Theologie zum Inhalt, ist mit ihr aber nicht gleichzusetzen. Es bedurfte wohl der hohen Empathie für Melanchthon, über die Heinz Scheible verfügt, um in Frage zu stellen, ob es angemessen sei, die Briefe, die dieser von Luther in der Zeit des Augsburger Reichstages erhielt, einfach als Trostbriefe zu bezeichnen. Er drückt seine offenkundige Skepsis gegenüber dieser Einordnung dadurch aus, daß er diesen Begriff in Anführungszeichen setzt 36 – ein durchaus nachvollziehbarer Vorgang, den er 34
S. LEPPIN, Luther (wie Anm. 5), 202. WA.B 5, 283,4. 36 HEINZ SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie, München 1997, 154. 35
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durch eine gründliche Analyse der Angriffe Luthers auf Melanchthon untersetzt. In der Tat wird man darauf achten müssen, daß diese Kategorie nicht dafür eingesetzt wird, vorhandene Spannungen zu überdecken: 37 Man übersähe dann ein äußerst dynamisches Geschehen mit Höhen und Tiefen. Zu Beginn kann man allenfalls die erwähnte Sinaistelle als Ansatzpunkt für Skepsis benennen – konsequent gedeutet, fiele Melanchthon in diesem Bild die Rolle Aarons zu und damit die Rolle dessen, der zu nachgiebig den Willen des versammelten Volkes vollzieht. Im Nachhinein wird man sagen können, daß dieses Bild jedenfalls zu dem paßt, wie Luther Melanchthon später dann wahrnahm. Ob dies aber schon am 24. April so zu verstehen ist, läßt sich nicht sicher sagen. Der Brief endet jedenfalls noch mit einem sehr wohlwollenden Gebet, daß Melanchthon Ruhe vor den Pfeilen des Satans haben möge. 38 Aber schon auffällig bald setzen Luthers Klagen über ausbleibende Briefe ein: Melanchthon war gerade einmal sechs Tage abgereist, da drückte Luther schon seine Verwunderung aus, daß er keinen Brief von ihm erhalten habe 39 – natürlich ohne zu wissen, daß Melanchthon tags zuvor tatsächlich geschrieben hatte. Das Problem löste sich zunächst: Am 12.5. erwähnte Luther Melanchthon gegenüber, er habe mehrere Briefe aus Augsburg erhalten. 40 Darunter befand sich auch das Schreiben des Kurfürsten, mit dem dieser Luther am 11. Mai die erste Entwurfsfassung der Confessio Augustana, vom Kurfürsten als Melanchthons Bearbeitung der Torgauer Artikel charakterisiert, zur Begutachtung vorlegte. Bemerkenswert ist, daß dieser Brief in einer Überarbeitungsstufe Luthers Rolle etwas indefiniter formuliert als zunächst gedacht. In der ursprünglichen Fassung hatte ihm der Kurfürst geschrieben: „und wo Euch solch des Melanchthon Bedenken und Zusatz auch gefällig und dergestalt Rom. Kais. Maj zu ubergeben sein sollen, hat es seinen Wege; hättet Jhr aber in etzlichen Artikeln oder Worten Bedenken, dasselb wollet an einem itzlichen Ort sambt den Ursachen solchs Eurs Bedenkens verzeichnen.“ 41
In der an Luther gesandten Fassung dann hieß es: „und wo es Euch dermaßen gefällig ader ichtwas darvon ader darzuzusetzen bedächtet, das wollet also darneben vorzeichen, domit man alsdann auf Kais. Maj. Ankunft, der wir in Kurze vorsehen, gefaßt und geschickt sein muge.“ 42
37 Eben dies scheint mir in der vereinfachenden Gegenüberstellung der seelsorgerlichen Anliegen zu meiner Deutung durch WENDEBOURG (wie Anm. 7) der Fall. 38 WA.B 5, 286,16f. (Nr. 1552). 39 WA.B 5, 298,10f. (Nr. 1558). 40 WA.B 5, 316,5f. (Nr. 1566). 41 WA.B 5, 312 Anm. b. 42 WA.B 5, 311,8–11.
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Während also der erste Entwurf noch daraus, daß dort, wo Luther keine Bedenken habe, der Text dem Kaiser zu übergeben sei, folgern ließ, daß von Luther beanstandete Passagen dem Kaiser nicht überreicht würden, ließ die zweite Fassung ganz offen, wie mit seinen Bedenken verfahren würde. Wichtiger war dem Kurfürsten zu dieser Zeit ohnehin eine baldige Stellungnahme Luthers zum vom Kaiser in Augsburg erlassenen Predigtverbot für die Evangelischen. Auch Melanchthon hat übrigens Luther nicht so viel Gestaltungsraum zugebilligt, wie die WA-Herausgeber suggerieren: Was sie im Regest als: „Du wirst über die ganze Schrift bestimmen“ fassen, lautet bei Melanchthon: „Tu pro tuo spiritu de toto scripto statues“ 43 – das bedeutet aber nur, daß Luther sein Urteil fällen wird. Was daraus gemacht wird, ist keineswegs gesagt. Luther hat die Bitte um Begutachtung nicht sehr detailliert beantwortet. Seine berühmte Stellungnahme, schon drei Tage nach Erhalt des Textes an den Kurfürsten gesandt, lautet: „Ich hab M. Philipsen Apologia vberlesen, die gefellet mir fast wol, vnd weis nichts dran zu bessern noch endern, Wurde sich auch nicht schicken, Denn ich so sanfft vnd leise nicht tretten kann. Christus vnser herr helffe, das sie viel vnd grosse frucht schaffe, wie wir hoffen vnd bitten, Amen.“ 44
Die Doppelbödigkeit des Leisetretens ist immer mal wieder angesprochen worden. Formal drückt Luther auf diese Weise seinen Respekt vor der diplomatischen Ausdrucksweise Melanchthons aus, aber er signalisiert auch, daß ihm diese jedenfalls fern ist, und Melanchthon reagierte entsprechend unzufrieden: Ihm wäre es, so schrieb er nach einer Woche zur Antwort, lieber gewesen, wenn Luther die Artikel – wie es auch der Kurfürst erbeten hatte – einzeln durchgegangen und Fehler markiert hätte. 45 Luthers pauschale Stellungnahme war in der Tat Zustimmung und Distanz zugleich. Das wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, daß die oben erwähnte Äußerung zu Linck, er sei für das Vorhaben in Augsburg nicht geeignet, auch erst eine Woche alt war. Der Reformator drückte Distanz aus, noch freilich wohlwollende Distanz. Das Wohlwollen aber verschwand in den folgenden dramatischen Wochen, die auf die Übergabe der Confessio Augustana zuführten, und auf die Scheible und ich unsere Darstellungen der Spannungen zwischen Luther und Melanchthon stützen. Die Klage, die Luther nun über ausbleibende Briefe führt, wird immer schärfer: Ignoranz oder Unwillen witterte Luther am 5. Juni, weil ihm die Augsburger Gesandtschaft keine Briefe zusende, obwohl sie doch wissen müßten, daß er nach Nachrichten dürste, 46 und 43
WA.B 5, 314,7 (Nr. 1565). WA.B 5, 319,4–9 (Nr. 1568). 45 WA.B 5, 336,29–31 (Nr. 1576). 46 WA.B 5, 350,5–351,7 (Nr. 1584). 44
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zwei Tage später seufzte er auf: „Ich sehe schon, ihr habt alle beschlossen, mich durch Schweigen mürbe zu machen.“ 47 und im selben Brief lobte er die Wittenberger: Sie hätten dreimal geschrieben, bevor die Augsburger zweimal ruhig gewesen seien. 48 Wiederum ist die Äußerung nicht eindeutig genug, aber die Gegenüberstellung der dreimaligen Äußerung zu einem Nichtverhalten kann zumindest eine Anspielung auf Petrus und den Hahn sein. Man bleibt aber auf solche schwer zu interpretierenden Äußerungen nicht angewiesen: An Kaspar von Teutleben schrieb Luther in aller Deutlichkeit: „Neue Zeitung habe ich Euch nicht zu schreiben, weil mir unsere Junkern Schweigler zu Augsburg nichts schreiben, welches mich nicht wenig verdreußt, und weiß, daß Euer lieber Schwager und mein guter Freund Herr Nicolaus Amsdorf aus der Maßen sollt über sie zornig werden, wo er’s wüßte, daß sie solche Schweigeling worden wären, sonderlich zu dieser Zeit; er soll auch noch Richter über sie werden.“ 49
Der Brief stammt vom 19. Juni, also kurz vor der Überreichung der CA. Man bedarf also für die Feststellung, daß das Verhältnis Luthers zu Melanchthon in dieser Zeit höchst problematisch war, gar keiner Dekonstruktion. Er sagt es selbst – übrigens noch ohne hieraus Folgerungen für das theologische Geschehen in Augsburg zu ziehen. Wie elend es Luther in dieser Zeit ging, zeigt auch eine Bemerkung an Gabriel Zwilling, in der er die Mitteilung, er habe seit einem Monat keine Briefe aus Augsburg erhalten, mit dem Stoßseufzer parallelisiert, seit einem Monat leide er unter Kopfschmerzen, vielleicht wegen des Weins, vielleicht aber auch durch ein Teufelsspiel. 50 Zwar hat sich das Ausbleiben der Briefe bald geklärt: Sowohl Melanchthon als auch Jonas schrieben am 25. Juni an Luther, sie wunderten sich, daß er keine Nachricht erhalten habe, da sie doch mehrfach geschrieben hätten. 51 Aber sie hatten offenkundig von der Stimmung Luthers auf der Coburg gehört. Daß dieser an Teutleben vom möglichen Zorn Amsdorffs geschrieben hatte, war auch Reflex der eigenen Befindlichkeit. Was man bei ihm befürchtete, zeigt Melanchthons Schreiben vom 26. und 27. Juni: Er hat es nicht unmittelbar an Luther adressiert, sondern einem Schreiben an Veit Dietrich beigelegt, weil er fürchte, daß Luther ihm so zürne, daß er von ihm gar nichts mehr lesen wolle. 52 47
WA.B 5, 354,1f.: „Video, vos constituisse omnes, ut silentio nos maceretis“ (Nr. 1586). 48 WA.B 5, 354,4f. (Nr. 1586). 49 WA.B 5, 372,3–8 (Nr. 1592). 50 WA.B 5, 382,4. 8f. (Nr. 1597). 51 WA.B 5, 385,1–5 (Nr. 1600); 388,6f. (Nr. 1601). 52 WA.B 5, 396 (Nr. 1604); S. 402 (Nr. 1607); s. hierzu EBELING, Luthers Seelsorge (wie Anm. 8), 290.
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Es ist diese angespannte Situation, in deren Horizont man nun auch das verstehen muß, was Luther Melanchthon mitteilt. Der Trost, den er spendet, 53 ist nicht weniger ambivalent als die anderen Äußerungen, die sich bislang auf der Coburg verfolgen ließen: Indem Luther Melanchthon tröstet, beschreibt er ihn zugleich mit Begriffen und Bildern, die in ihrer Schärfe theologisch gedeutete Aggression erkennen lassen, wie sie vor dem Hintergrund des bislang Geschilderten gar nicht anders zu erwarten ist. So wittert er in Melanchthons freundlich, ja schmeichelnd gemeinter Zusicherung, man sei in Augsburg ganz seiner, Luthers Sache verpflichtet, eine Distanzierung: Um seine Sache gehe es nicht, sondern es müsse die gemeinsame Sache sein 54 – das findet sich in demselben Brief vom 29. Juni, in dem Luther Melanchthon zwar einerseits mitteilt, daß er nun endlich die bislang ausgebliebenen Briefe erhalten habe, aber auch, daß seiner Meinung nach in der CA mehr als genug nachgegeben sei. 55 Der persönliche Konflikt gewinnt hier also auch eine sachliche Note, die von Melanchthon gewitterte Gefahr, daß die pauschale Zustimmung Luther Hintertüren zur Kritik offenließ, bestätigt sich, wenn auch natürlich nicht am selben Entwurfstext, sondern an der nun endgültig überreichten Fassung. Selbst noch dort, wo Luther explizit Melanchthon in seiner Sorge tröstet, ist die Offenlegung des Grundes der Sorgen nicht nur von Wohlwollen getragen: „Hoc facit, quod tibi soli credis, mihi et aliis non credis, magno tuo malo.“ 56
Wenn man die Formen moderner Kommunikationsanalyse, gerade auch wie sie in der Begleitung seelsorglicher Gesprächsgänge gepflegt wird, nicht völlig ignoriert, wird man angesichts einer solchen Äußerung wohl in aller Vorsicht sagen, daß das therapeutische Ziel der Offenlegung von Gründen der Schwierigkeiten des Seelsorgeklienten unter Interferenzen mit der Ich-Du-Beziehung zwischen Luther und Melanchthon leidet. Anders und etwas banalisierend gesprochen: Wer seinem Gegenüber sagt: „Dir geht es schlecht, weil Du kein Vertrauen in mich setzt“, tröstet nicht nur, sondern formuliert zugleich auch einen Vorwurf – das hat Gerhard Ebeling klarsichtig benannt. 57 Und eben darin wird es für die Dynamik der Beziehung zwischen den beteiligten Personen aussagekräftig. Und unser Bild von der Beziehung Luthers zu Melanchthon wird noch vollständiger, wenn man auf die weitere Korrespondenz desselben Tages
53
S. v.a. das Trostscheiben WA.B 5, 399f. (Nr. 1605). WA.B 5, 406,43–47 (Nr. 1609). 55 WA.B 5, 405,19f. (Nr. 1609). 56 WA.B 5, 411,4f. (Nr. 1611). 57 E BELING, Luthers Seelsorge 308. 54
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sieht. In ihr kehrt der Vorwurf der Selbstfixierung auf Melanchthon wieder, aber nicht direkt an ihn gerichtet, sondern gegenüber Spalatin: „Nein, Es mus nicht heissen: Sic Ego Philippus. Das Ego ist zu geringe. Es heisst: Sic Ego ‚Ero qui Ero‘. […] Tu esto fortis in Domino, et Philippum meo nomine Exhortare semper, ne fiat Deus, Sed pugnet contra illam innatam et a Diabolo in paradiso implantatam nobis ambitionem diuinitatis.“ 58
Die Anspielungen auf Ex 3,14 und Gen 3,5 machen deutlich: „Melanchthon wird in seinem Agieren zum Prototyp des Sünders.“ 59 Und von Trost ist hier wenig zu spüren. Ich notiere mindestens zwei Auffälligkeiten, die zeigen, daß man hier nicht einmal gegenüber Luther selbst dekonstruktivistisch lesen muß, sondern nur gegenüber bestimmten Lutherbildern: 1. Luther schrieb am selben Tag auch an Melanchthon – die Einbeziehung eines Dritten in die Kommunikation mit ihm ist also jedenfalls erklärungsbedürftig. 2. Luther formuliert gegenüber Spalatin zunächst im fortlaufenden Text sachliche Vorwürfe gegen Melanchthon und sein „Ego Philippus“, ehe er Spalatin zur Kommunikation mit Melanchthon ermahnt. Die Anrede an Melanchthon also fängt die zuvor geäußerte sachliche Kritik auf, diese ist nicht etwas, was sich aus einer eventuellen Seelsorgesituation ableitete. Biographisch wird man schwerlich umhinkönnen, daß es sich bei diesen Äußerungen um Ausdruck massiver Kritik an Melanchthon handelt – wie stark Melanchthon selbst das empfunden hat, zeigen ja die erwähnten Sorgen, Luther lese seine Briefe gar nicht mehr. Die folgenden Wochen bleiben von dieser Ambivalenz gekennzeichnet. Vor allem ist zu beobachten, mit welchem Mißtrauen Luther es verfolgte, daß die Augsburger Gesandtschaft sich weiter um Ausgleich bemühte: Immer wieder registriert er, daß eigentlich ohnehin all dieses Bemühen vergeblich sei 60 und er längst mit einer Rückkehr rechne 61 – in diesem Kontext wendet sich dann auch die kommunikative Anspannung zur sachlichen Kritik: Ungeachtet dessen, daß Luther Melanchthon am 3. Juli volle Zustimmung zum Text der Confessio Augustana signalisiert hatte, 62 benannte er Justus Jonas gegenüber achtzehn Tage später die Punkte, die er für unzureichend behandelt hielt: Fegefeuer, Heiligenverehrung und Papst58
WA.B 5, 415,37–43 (Nr. 1612); E BELING, Seelsorge (wie Anm. 8), 313f., hat die einschlägigen Partien zwar durchaus auch referiert, ja, überwiegend wörtlich zitiert, aber auf eine eingehendere Analyse verzichtet. 59 LEPPIN, Luther (wie Anm. 5), 303; dies war die Formulierung, die WENDEBOURG (wie Anm. 7), kritisiert hat. 60 WA.B 5, 470,2–4 (Nr. 1642). 61 WA.B 5, 492,1–5 (Nr. 1656); 495,4–6 (Nr. 1657). 62 WA.B 5, 435,4f. (Nr. 1621).
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frage 63 – hinter der starken persönlichen Dramatik dieser Tage verschwinden diese Äußerungen fast, und Luther hat daraus auch keine weiteren grundsätzlichen Angriffe auf das Verhalten derer in Augsburg gefolgert, auch wenn er noch im August Melanchthon erklärte, ihm selbst sei nie an einer Lehrkonkordie gelegen gewesen. 64 Das weitere Geschehen hat er mit Interesse und Sorge beobachtet und sich, wie schon seinerzeit im Blick auf den erzwungenen Aufenthalt auf der Coburg, immer mehr in die Situation gefügt: Am 11. September 1530 schrieb Luther an Melanchthon, er solle sich durch die nicht zermürben lassen, die sagten oder schrieben, er habe den Papisten zu viel nachgegeben. 65 Damit war der Frieden gemacht.
63
WA.B 5, 496,9 (Nr. 1657). WA.B 5, 577,5f. (Nr. 1699). 65 WA.B 5, 618,28f. (Nr. 1716). 64
„Sic sum“ 1 Der Theologe Martin Luther auf der Veste Coburg 1530 Dietrich Korsch Für das Studium des Zusammenhangs zwischen Luthers Theologie und seiner Biographie im Kontext der Reformationsgeschichte bietet der Sommer 1530 reiche Aufschlüsse. Dabei sind die Einzelheiten sowohl von Luthers Coburg-Aufenthalt wie der Entstehungsgeschichte der Confessio Augustana seit den Arbeiten Hans von Schuberts gründlich bekannt, so daß ich mich auf die Aufgabe einer zusammenfassenden und systematisierenden Überschau beschränken kann. 2 Gerade dann aber, wenn man zu den Abläufen des Geschehens eine gewisse Distanz einnimmt, zeigt sich die paradigmatische Rolle dieser Monate für den Charakter der Reformation besonders deutlich. Die These, die hier vorgestellt sein soll, lautet: Was in der Spannung zwischen der Veste Coburg und der Reichsstadt Augsburg im Sommer 1530 an den Tag kommt, ist eine theologische Spannung in der Reformation selbst. Eine Spannung, deren Eigenart man scharf als Konflikt, milder als Polarität bezeichnen kann, und die das evangelische Christentum bis heute beschäftigt. Es ist die Spannung zwischen der subjektiven Authentizität des Glaubens und der lehramtlichen Ordnung der Kirche. Diese These sei in drei Schritten erläutert. Zuerst geht es, ganz schlicht, um die Wahrnehmung der historischen Situation, die zu der Ortsdifferenz zwischen Luther auf der Veste Coburg und der kursächsischen Delegation in Augsburg geführt hat. Zweitens will ich, vor allem aus den Briefen, ein 1 Am 24. August schreibt Luther an Melanchthon von der Coburg: „Mitto hic sermonem de scholis [Eine Predigt, daß man Kinder zur Schule halten soll], plane Lutheranum, et Lutheri verbositate nihil auctorem suum negans, sed plane referens. Sic sum.“ WA.B 5, 560,9f. 2 HANS VON SCHUBERT , Luther auf der Koburg, LuJ 12, 1930. 109–161. Eine tabellarische Übersicht über Luthers Coburg-Zeit findet sich bei OTTO MATTHES, 10 Briefe aus den Jahren 1523–1590 aus dem Besitz Johann Valentin Andreäs (Ein Bericht Veit Dietrichs vom 8. Juli 1530 über Luthers schriftstellerische Arbeit auf der Coburg im Jahre 1530, 27–112), in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte, 60/61, 1960/61, 19– 176 auf 104–112.
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paar Fingerzeige auf Luthers persönliche Situation auf der Veste Coburg zusammenstellen, die seine Interpretationsperspektive auf Augsburg hin geprägt haben mögen. Drittens will ich in einem kurzen Durchgang durch die Themen und Pointen von Luthers Coburg-Schriften auf die theologische Konstellation hinweisen, die darin zum Ausdruck kommt – wobei der Unterschied zur CA mit zur Sprache kommen muß.
1. Auf dem Weg nach Augsburg Die Ausschreibung zum Reichstag traf den sächsischen Kurfürsten und die Seinen wohl überraschend, aber nicht gänzlich unvorbereitet. Die Beratungen in Torgau, die bis zur Abreise nach Augsburg Anfang April stattfanden, versicherten die Gesandtschaft des Hintergrundes, vor dem man dem kaiserlichen Anliegen, „durch uns alle eine einige und wahre Religion anzunehmen und zu halten“ 3, zu entsprechen versuchen konnte. Dabei ging es, wie es scheint, vor allem um den Nachweis, daß in den inzwischen evangelisch gewordenen Landen kein unrechter Gottesdienst gefeiert würde, also Gott in seinem Wort recht zur Sprache käme. Diese sozusagen strategische Verabredung der Kursachsen hatte an ihrer Seite Formulierungen, wie sie im Nachgang zur Speyerer Protestation vom Frühjahr 1529 im Herbst desselben Jahres zwecks eines reichspolitischen Zusammenschlusses der Evangelischen in den Marburger und Schwabacher Artikeln gefunden worden waren. Es lassen sich, grob gesprochen, also zwei Elemente im Gepäck der Kursachsen unterscheiden: Die Vorbereitung auf die eher inquisitorische Bekenntnis-Situation, wie sie für den Reichstag zu erwarten war, einerseits; ein Fundus von theologischen Gemeinsamkeiten zwischen evangelischen Ständen andererseits, der sich der Nötigung einer politischen Konsolidierung der Reformation verdankt. Die Situation, die dann auf dem Weg nach Augsburg eintritt, ist erstmalig in der Reformationsgeschichte: Die Verhandlungen auf dem Reichstag finden mit den Theologen, aber ohne Luther statt. Diese Lage muß noch einmal kurz bedacht werden. Nicht zuletzt in Folge der Konzentration von persönlicher Präsenz, Bekenntnis und theologischen Grundsätzen, wie sie in Luthers Auftreten in Worms sich darstellt, ist die Reformation in Deutschland von seiner Person inspiriert und auf sie fokussiert gewesen, wie Bernd Moeller gezeigt hat. 4 Nun finden wir – abermals – eine herausgehobene Reichstags-Verhandlung in Dingen der Religion, und die muß 3
SCHUBERT , a.a.O., 109. BERND MOELLER, Was wurde in der Frühzeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt? in: BERND MOELLER, Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, Göttingen 2001, 107. 4
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ohne den Protagonisten auskommen. Das erzeugt schon in der Ausgangslage erhebliche Verschiebungen. Denn wie werden sich die Augsburger Delegationsteilnehmer fühlen und sehen – ohne das theologische Haupt der Reformation? Und wie wird sich der Initiator vorkommen – ohne persönliche Rechenschaft für die breiten, über seine Person hinausgehenden Folgen seines Redens und Handelns geben und für diese Folge einstehen zu können? Es ist bereits aus dieser Sicht der Dinge unvermeidlich, daß zwischen Coburg und Augsburg ein Spannungsgeflecht von Bildern, Erwartungen und Befürchtungen sich aufbaut, das durch bloßen Briefwechsel, der immerhin 240 Kilometer zu überwinden hat, auch bei besserem Willen und geschickterer Logistik nicht abzubauen gewesen wäre. Es kommen aber noch andere Umstände hinzu, und die sind von zugleich persönlicher und theologischer Bedeutung.
2. Luthers persönliche Situation und theologische Option Zum ersten Mal seit dem Wartburg-Aufenthalt schiebt sich zwischen Luther und die öffentliche Vertretung seiner Sache eine äußere Distanz. Nun allerdings im Unterschied zu 1521/22 nicht in der Nachfolge zum Bekenntnis auf dem Reichstag, sondern in dessen Vorfeld, ja mit Ausschluß der Möglichkeit, auf ihm präsent zu sein. Dadurch treten aber, auf die Person gesehen, schon ganz strukturell äußere Distanz und innere Beteiligung in ein scharfes Spannungsverhältnis. Am 30. Juni 1530 schreibt Luther an Melanchthon (in einem auch sonst höchst bemerkenswerten Brief): Nam et mea est causa, atque adeo plus mea quam omnium vestrum. 5 Die eigene Sache – woanders und ohne die eigene Person (ums Ganze!) verhandelt: das erzeugt, wie wir heute sagen würden, Streß. Unvermeidlich ist, daß sich Luther den Reichstag über die Entfernung hin durch Vorstellungen ausmalt und modelliert. Seine Allegorie vom Reichstag der Dohlen 6 spricht das aus und holt gewiß auch Erinnerungen an Worms wieder hervor. Überhaupt scheint die Erfahrung von Worms auch die Deutungsmatrix für Luthers Sicht auf Augsburg abzugeben. Im Brief an den Kurfürsten Johann vom 9. Juli 1530 wertet er die Vorlage der CA als Äquivalent für die in Augsburg vom Kaiser verbotene Predigttätigkeit und rückt sie an die Stelle seines eigenen Wormser Auftritts vor Kaiser und Reich. 7 Damit sieht er sich durchaus in Kontinuität zu den Torgauer Absprachen. Bekennend und bezeugend vor die Öffentlichkeit des Reiches zu treten und in allem Gott allein zu vertrauen, was auch immer 5
WA.B 5, 412,30f. Im Brief an Spalatin vom 24. April 1530, WA.B 5, 290–292. 7 WA.B 5, 453–455. 6
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daraus werden mag, das ist, kurz gesagt, sein Bild von dem, was in Augsburg zu geschehen hat. Damit verstellt sich ihm aber der Blick auf die realen Gegebenheiten. Denn in Augsburg geht es nicht mehr um das Standhalten eines Einzelnen für die von ihm erkannte göttliche Wahrheit. Jetzt steht ein kollektives Bekenntnis an – und dafür braucht es auch gemeinschaftlich verabredete, als reformatorisch anerkannte Formulierungen. Hinzu kommt ein Zweites – was Luther, wie mir scheint, die ganzen Monate auf der Coburg nicht völlig verstanden hat –, nämlich eine massive Verschiebung der Kommunikationssituation für das Bekennen. Dafür haben die 404 Sätze des Johannes Eck 8 eine Rolle gespielt, denen offenbar Melanchthon die Herausforderung entnommen hat, nun mit einem Bekenntnis in Artikelform zu antworten und in dieser Weise, also wesentlich über die Semantik religiöser Rede, die Rechtgläubigkeit der Protestanten unter Beweis zu stellen. Dafür bekamen dann die Schwabacher Artikel den Vorrang vor den Torgauer Strategieüberlegungen, die viel eher auf die religiöse Pragmatik abzielten. Wenn man sich aber erst einmal auf die Schiene einer solchen Verständigung über Vorstellungen begeben hat, dann liegt darin bereits ein starker Impuls, Einigkeit zu suchen. Der Abgleich von Vorstellungen unterliegt einer ganz anderen Logik als die Abgrenzung von Handlungsvollzügen. „Wir denken dies und jenes vom rechten Glauben“ verlangt nach einer anderen Umgangsweise als „Wir leben im rechten Glauben, indem wir Gottes Wort hören“. Von den Bildern war jetzt die Rede, die sich Luther von Augsburg machen muß, und auch von deren Abweichung vom realen Geschehen. Zu diesen eher strukturellen Überlegungen kommt nun Luthers persönliche Situation hinzu, die diesen Eindruck, auf das existentielle Erleben und Bekennen zurückgeworfen zu sein, verstärkt. „Ex eremo“ hat Luther eine Vielzahl von Briefen von der Coburg unterschrieben. Damit ist nicht nur die Lage der Veste gemeint. die zwar im Wald, aber nicht so fern von der Stadt liegt. Es ist die Wüste als Anfechtung, die hier namhaft gemacht wird. Dazu paßt, daß sich Luther Psalmverse „vom Bedrohtsein und seiner letztendlichen Überwindung“ an die Wände geschrieben hat. 9 Dazu beigetragen haben werden die verschiedenen Krankheiten, die ihn von Mai bis Oktober plagten, vor allem ein einmonatiger ununterbrochener Kopfschmerz im Juni. Hinzu kommt die Nachricht vom Tod des Vaters. Er sei nun der für sein Geschlecht Verantwortliche, schreibt er am 5. Juni an
8
Dazu: WILHELM GUSSMANN, Dr. Johannes Ecks vierhundertvier Artikel zum Reichstag von Augsburg 1530, Kassel 1930 (Nachdruck Hildesheim 2005). 9 MARTIN BRECHT, Martin Luther, Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, 359.
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Melanchthon, und an ihm sei die Reihe, nun als nächster zu sterben. 10 Veit Dietrich berichtet an Käthe, daß Luther sozusagen rituell konzentriert um seinen Vater getrauert habe und daß er nachher unverändert gewesen sei; selbst wenn man den Wert einer solchen rituellen Trauer hoch schätzen darf, wird die Annahme, damit sei der Tod des Vaters „bewältigt“, als unrealistisch angesehen werden müssen. Ob und in welcher Weise in dieser Situation mehrfacher Angefochtenheit auch der Weingenuß eine Rolle gespielt haben mag (die Berechnungen ergeben 7 Liter pro Tag für Luther und seine Hausgenossen), kann man fragen, wird die Antwort aber dahingestellt sein lassen, weil man nicht weiß, wie groß die Zahl der Hausgenossen war, die daran teilhatten. 11 Schließlich sei auch noch an die einfühlsamen Trostbriefe erinnert, die Luther an den offenbar depressiven Hieronymus Weller in Wittenberg schrieb und in denen seine eigenen Anfechtungserfahrungen aus früheren Jahren mitklingen. 12 Diese strukturellen und individuellen Umstände muß man im Auge behalten, wenn man Luthers unterschiedliche Aktionen und Interventionen von der Coburg her verstehen möchte. Interessant ist nun, wie unter diesen Ausgangsbedingungen sich Luthers Theologie auf der Coburg gestaltet.
3. Luthers Coburger Schriften Es scheint mir sinnvoll, in Luthers schriftlichen (und mündlichen) Äußerungen von der Coburg verschiedene Genera und Ansprechpartner zu unterscheiden. In die erste Rubrik fallen die Bezugnahmen auf den Reichstag, die in den Predigten, die Luther vor der Abreise der kursächsischen Delegation sowie nach deren Rückkehr hielt, sowie in den Briefen an seine Mitstreiter vorkommen. In die zweite Rubrik fallen die versuchten öffentlichen Interventionen in die dortigen Verhandlungen. In eine dritte reformatorische Schriften, so könnte man sie nennen, die sich an die Allgemeinheit der Lesenden wenden. Und viertens wird man davon, weit weniger genau beobachtbar, die Tagesarbeit unterscheiden müssen, nämlich die Fortführung der Psalmen- und Propheten-Übersetzung sowie die ÄsopBearbeitungen. Die ersten drei Kategorien sind für unsere Frage interessant und sollen mit ein paar Bemerkungen bedacht werden. 1. Schaut man sich die Predigten an, die Luther vor dem Aufbruch seiner Kursachsen und nach deren Rückkehr hielt – dazwischen sind keine Predigten überliefert, wohl auch nicht gehalten worden –, dann kann man deutlich sehen, wie er zuerst die Erwartungen und dann die Erfahrungen 10
WA.B 5, 350–352. BRECHT , a.a.O., 362. 12 Vgl. WA.B 5, 519. 11
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auf den Grundton bekennenden Standhaltens stimmt. Natürlich sind in den Predigten von Karsamstag bis Ostermontag Leiden, Sterben und Auferstehen Christi und damit auch der Christen das Thema. Unübersehbar ist aber auch, wie stark Luther das individuelle Erleben der Rettung aus dem Nichts mit dem Geschick der Augsburger Gesandtschaft synchronisiert, wenn er seine Hörer versichert, daß „wir doch so viel Trost und Verheißung [haben], daß er [Christus] uns nicht will im Leiden stecken lassen“ – und „die andern sollens doch nicht ausführen.“ 13 Oder wenn er auf den Mut und den Glauben der Frauen am Ostermorgen verweist, die zum Grabe eilen, obwohl es doch von Soldaten bewacht wird. 14 Dieser Zugang vom Wort und vom Glauben her ist es auch allein, der dann die Artikel des Glaubens erhält und bewährt: „So gibt uns Christus, unser lieber Herr, den Rat: Willst du diese Artikel erhalten, daß du nicht draus kannst, wohlan, so bleibe bei dem Wort, wo nicht, kannst du deren keinen erhalten.“ 15 Ganz entsprechend verfährt Luther Mitte Oktober im Rückblick auf den Reichstag: Gerade im Widerstand und Widerstreit bewährt sich der Glaube. „Auf die Weise [nämlich im Durchgang durch die Anfechtung] muß man von allen (anderen) Artikeln des Glaubens gedenken und reden und wird man erst dann ein Christ, wenn das Herz also gewiß kann schließen, daß es also sei, es sei Gottes Wort.“ 16 Und genau das gilt für Luther als das entscheidende Ereignis in Augsburg, daß ebendies dort geschehen sei: „Darum sollt ihr dafür Gott fleißig danken, daß nichts von dem Wort verloren ist und wir dabei erhalten sind und ja lernen das für ein sonderlich groß Werk und Wohltat erkennen, daß es also ergangen ist und unsere Leute wieder heim kommen sind. Denn es ist ein Wunderwerk Gottes, das unserem Anschlag und Weisheit nicht zuzuschreiben ist.“ 17
Es läßt sich nicht übersehen, daß sich Luther, von der Coburg her nach Augsburg blickend, konstant in diesem Deutungsrahmen bewegt. 2. Er bestimmt denn auch seine öffentlichen Interventionen auf die gerade beginnenden ebenso wie die fortgehenden Verhandlungen, von denen unklar geblieben wird, ob sie mit den Seinigen abgesprochen sind; vermutlich war das nicht der Fall. Da kommt als erstes natürlich die „Vermahnung an die Geistlichen“ in den Blick, die sich an die auf dem Reichstag präsenten Bischöfe richtete. 18 Das strategische Ziel ist nun schon bekannt (und ja wohl auch die Torgauer Intention): Freigabe der Predigt des Evangeliums – bei einem gewissen Zugeständnis an die Kirchenleitung durch die Bischöfe, sofern sie in die Predigt des Evangeliums nicht hindernd 13
WA 32, 38, 29–31. Ebd., 49, 13f. 15 Ebd., 58, 6–8. 16 Ebd., 99, 22–24. 17 Ebd., 125, 24–29. 18 WA 30 II, 237–356. 14
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eingreifen. Das ist gewissermaßen ein pragmatisches Moment – und es setzt voraus, daß man sich auf der Ebene der Bekenntnissätze gerade nicht einigen kann, weil diese mit der herkömmlichen Praxis verknüpft sind und bleiben. Dieser Grundüberzeugung entsprechend ist Luthers Schrift aufgegliedert. Sie beginnt nämlich – durchaus streitbar – mit der Erinnerung an die Genese der reformatorischen Bewegung („wie meine Lehre anfing“, sagt Luther 19) und ihren systematischen Zusammenhang, nämlich vom Ablaß zur Beichte zur Messe zum Bann. Gegenüber diesem Verbund fallen die Abendmahlsfeier unter nur einer Gestalt und die Priesterehe heraus; sie ließen sich schon ohne eine Veränderung der geistlichen Grundeinsicht anders gestalten. Und sie schließt – auch darin vom Geist fröhlicher Kontroverse getragen – mit einer höchst interessanten Liste von Themen, über die – affirmativ und kritisch – zu handeln wäre. Diese Liste enthält nämlich in ihrem ersten, dem konstruktiven Teil, nichts weniger als die Beschreibung einer Aufbausequenz evangelisch-christlichen Lebens – und gerade keine Aneinanderreihung von Bekenntnissätzen. An erster Stelle steht das Gefüge von Gesetz und Evangelium, Sünde und Gnade. Es folgt deren subjektive Wirklichkeit im Menschen von Gott her in der Themenfolge von Geist, Buße, Beichte, Glaube und Vergebung, die in einer dritten Abfolge sich im Menschen selbst zur Geltung bringt als Freiheit (freier Wille) und Liebe, Kreuz und Hoffnung. Dann erst folgen Taufe, Abendmahl und Kirche (wohlgemerkt: in dieser Reihenfolge!); die innere Gliederung des kirchlichen Amtes (Schlüsselgewalt, Bischof, Diakon); die Aufgaben Predigtamt, Katechismuslehre, Gebet; der fromme Umgang mit der Liturgie und der Bibel; zuletzt die Dimensionen des weltlichen Lebens und seiner Ordnungen. Daß die Liste der Mißstände umfangreicher ist, dafür aber auch einer strengen Ordnung weithin enträt, sei ohne weiteren Kommentar genannt. Fazit der Vermahnung: Es gilt, die Predigt des Evangeliums frei zu lassen. Sie wird sich, auch unter den hemmenden Bedingungen der alten Kirchenverfassung, selbst ihren Weg bahnen und damit die Kontroversen über die kirchliche Lehre in praxi überwinden, ja überflüssig machen. Denn im Hintergrund steht die Überzeugung: „der rechte Helfer und Ratherr hat uns und unser Sachen so weit bracht und dahin gesetzt, daß sie bleiben soll, und da wir’s auch lassen wollen, daß wir hierin für uns keines Reichstags, keines Rates, keines Meisterns bedürfen.“ 20 Gottvertrauen statt Kirchendiplomatie, könnte man sagen. Auf diese Linie passen dann auch die anderen öffentlichen Schriften, die Luther in Richtung Augsburg ausgehen ließ: der „Widerruf vom Fege-
19 20
Ebd., 280, 28. Ebd., 272, 12–15.
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feuer“ vom 30. Juni 21, der offene Brief an Albrecht von Mainz vom 1. Juli 22, die Thesen gegen die „Satansschule“ (am 20. Juli in Augsburg vorhanden) 23 sowie die Schrift von den Schlüsseln, die wohl im September gedruckt vorlag. 24 Gegenüber Albrecht äußert er frank und frei, daß „keine Hoffnung da ist, daß wir […] in der Lehre eins werden. 25“ Insbesondere dann nicht, wenn – wie die Fegefeuer-Schrift betont – fromme Kommentare der Kirchenväter zur Grundlage für kirchliche Lehrsätze werden. Oder dann, wenn der Anspruch, Sünde zu lösen oder zu behalten, in eine n kirchlichen Herrschaftsanspruch oder eine geistliche Erkenntnisregulierung umgemünzt wird. Denn: Die Kirche kann keine Lehre setzen, wie es bündig in der ersten These der Artikel gegen die Satansschule heißt. 26 Von dieser Haltung zeigen sich auch die brieflichen Interventionen Luthers an die Seinen in Augsburg geprägt – bis dahin, daß seine ja gewiß die Verhandlungen störenden und verstörenden Schriften als ergänzende Kommentare und öffentliche Kritik zu verstehen sind. Es muß ja doch immer verwundern, daß es von Luther keine einzige ausführliche Rezension der CA gibt, weder in ihren Vorentwürfen, soweit sie ihm bekannt gemacht worden waren, noch in ihrer Endgestalt. Es legt sich nach dem bisher Erörterten nahe, den Grund darin zu sehen, daß es ihm vor allem auf den Akt des Bekennens vor Kaiser und Reich ankam. Und umgekehrt, so scheint es, hat Melanchthon diese Differenz der Lagebeurteilung mindestens gespürt und Luther darum an den entscheidenden Weichenstellungen der Verhandlungen nicht beteiligt. Denn ihm ging es um ein Verhandlungsergebnis auf der Basis möglichster Gemeinsamkeit, und zwar durchaus im Blick auf den Fortbestand der reformatorischen Bewegung in ihrer Eigenart. Auch der viel berufene Gegensatz zwischen Melanchthons Ängstlichkeit (ob das übrigens psychologisch stimmt, kann durchaus in Frage gestellt werden angesichts der immensen Augsburger Arbeitsleistung) und Luthers Glaubensmut (der ja psychologisch durchaus von Anfälligkeit begleitet ist) bekommt von diesem Blickwinkel her ein leicht verändertes Verständnis. Wer sich wie Luther auf die Glaubensgewißheit auch in der Anfechtung beruft, kann, bei aller Last, unbekümmert auftreten. Wer um den Erfolg von Verhandlungen bangen muß, kann kaum anders als sorgenvoll in die Zukunft blicken. Stellt man die beiden unterschiedlichen Optionen für den Zweck des evangelischen Auftretens in Augsburg in Rechnung, dann erklären sich viele Umstände aus dieser Logik heraus. 21
Ebd., 360–390. Ebd., 391–412. 23 Ebd., 413–427. 24 Ebd., 428–507. 25 Ebd., 400, 22f. 26 Ebd., 242, 9f. 22
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Tatsächlich handelt es sich um so etwas wie eine Akzentdifferenz zwischen beiden. Das sei an einem ausgewählten Beispiel veranschaulicht. Man kann sich nämlich fragen, warum Luther sich daran gestört hat, daß Melanchthon das Thema „Fegefeuer“ nicht in der CA behandeln wollte; es handelt sich ja in der Tat kaum um eine tragende Lehre im Sinne christlicher Elementaria – insofern kann man Melanchthons Verzicht logisch verstehen. Auf dem Topos aber zu insistieren, wird nur dann plausibel, wenn man unterstellen muß, daß ein dogmatisch so randständiges Thema wie das Fegefeuer für den Gebrauch der ganzen Lehre stilprägend ist, sofern es sich um ein Merkmal handelt, an dem die bleibende Ungewißheit des Glaubens hängt. Es muß daher jede Verständigung über den Glauben zugleich den Gebrauch der Vorstellungen des Glaubens mit dem grundlegenden Gottesverhältnis in Beziehung setzen; erst von daher ergibt sich der Grundton des Ganzen. 3. Diese Einsicht ist nun aber nichts anderes als die Konsequenz der reformatorischen Theologie Luthers, wie zum Schluß mit einem Blick auf die Schriften gezeigt werden soll, die oben als „reformatorische“ bezeichnet wurden. Denn das darf man bei aller inneren und äußeren Beschäftigung mit Augsburg nicht übersehen, daß Luther, sozusagen in einem Freisemester, pünktlich seine regulären Arbeitsvorhaben weiterverfolgt hat. Zu dieser Art Schriften ist die „Vermahnung zum Sakrament“ rechnen, in der es um die Gemeindepraxis, nicht um die Abendmahlslehre im engeren Sinne zu tun ist. 27 Natürlich auch die „Predigt, Kinder zur Schule zu halten“, die sich an die bürgerliche Öffentlichkeit richtet. 28 Auch den „Sendbrief vom Dolmetschen“ kann man in diese Rubrik einordnen. 29 Ich will mich hier auf das „Schöne Confitemini“ beschränken, die Auslegung des 118. Psalms. 30 Das ist, um es einmal so zu sagen, klassische reformatorische Theologie unter nun eingetretenen besonderen Umständen, exemplarische Schriftauslegung für jede mögliche Leserschaft. Daß es der 118. Psalm ist, der hier ausgelegt ist, ist in gewissem Sinne zufällig und vermutlich aus der parallel laufenden Psalmübersetzung erwachsen. Gerade aber in der relativen Zufälligkeit zeigt Luthers Auslegung markante Spuren reformatorischer Theologie. Deren zentrale Einsicht wird durch die Deutung der im Psalm selbst durchgängig ausgesprochenen Gegensatzstruktur auf das Verhältnis von Tod und Leben wahrgenommen: „hier sollen wir die Regel lernen, daß, wo im Psalter und in der Schrift die Heiligen also mit Gott handeln von Trost und Hilfe in ihren Nöten, daß daselbst gewiß-
27
Ebd., 589–626. Ebd., 508–588. 29 Ebd., 627–646. 30 WA 31 I, 34–182. 28
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lich vom ewigen Leben und Auferstehung der Toten gehandelt wird.“ 31 Allein wer dies erfährt, erfährt zugleich die Gewißheit des Glaubens: Glauben heißt von Gott gerettet sein. Darum aber ist der Glaubende von der Welt unabhängig: „was sind Kaiser, Papst, Könige, Fürsten und alle Welt gegen Gott?“ 32 „Der Herr ist mit mir, mir zu helfen“ (Ps. 118, 7): „ist unsere Lehre Gottes Wort, so ist dieser Vers unser“, sagt Luther. 33 Das alles sind Strukturen, die die reformatorische Auslegung durchgehend prägen. Man kann versuchen, diese Strukturen im Schönen Confitemini jedenfalls implizit auf die Situation in Augsburg bezogen zu finden. Etwa da, wo nun auch „Heiden“, also die Gegner der Glaubenden, mit dem Anspruch auftreten, Gott auf ihrer Seite zu haben. Dagegen hilft der Verweis auf die innere Gewißheit (die sie nicht haben), auf den Gewaltverzicht in Dingen des Glaubens (weil allein Gott den Glauben wirkt) und auf ein ehrbares bürgerliches Leben (das also den reinen Gottesglauben als sozial kompetent unterstreicht). Man kann darin die Formulierung von Elementarbedingungen für die Anerkennung reformatorischer Frömmigkeit erkennen. 34 Es gibt aber auch noch eine härtere Anfechtung als diesen äußeren Gegensatz – darin nämlich, daß der Teufel im Gewissen die Macht zu ergreifen sucht und dazu verführen will, sich auf ihn, also auf Dinge der Welt (wie etwa religionspolitische Verhandlungen, könnte man unterstellen) zu verlassen: „der Türk noch kein Kaiser kann nimmermehr eine Stadt mit solcher Gewalt stürmen als der Teufel kann ein Gewissen stürmen.“ 35 Dagegen hilft nur, „dies Liedlein der Heiligen singen lernen, das ist, sich selbst verleugnen und an die rechte Hand Gottes sich zu hängen“. 36 Hier „siehest du, wie die rechte Hand Gottes das Herz aufrichtet und mitten im Tode tröstet, so mächtiglich, daß es kann sagen: Und wenn ich gleich sterbe, so sterbe ich dennoch nicht“. 37 Man wird sagen können, daß das die Matrix ist, mit der Luther sowohl seine eigene Situation wie die der Augsburger (und insbesondere Melanchthons) deutet.
4. Verkündigung und Bekenntnis Was zwischen der Coburg und Augsburg aufblitzt, ist, um vorsichtig zu sprechen, mindestens eine Stildifferenz in der reformatorischen Theologie. 31
Ebd., 154, 27–30. Ebd., 102, 23. 33 Ebd., 104, 27. 34 Vgl. ebd., 129–132. 35 Ebd., 147, 28–30. 36 Ebd., 149, 28–30. 37 Ebd., 152, 23–25. 32
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Luther hat, sowohl in seinen Briefen wie in seinen Interventionen gen Augsburg wie in seinen gleichzeitigen reformatorischen Schriften, die Option durchgeführt, daß es die elementare Struktur des Glaubens ist, der durch den Tod ins Leben führt, welche für die Stilprägung des Ganzen die Entscheidung trifft. Was immer lehrmäßig zu sagen ist im Gebrauch der klassischen Bestände christlicher Lehre, bezieht seinen ganzen Sinn von hier aus. Das heißt umgekehrt, daß der Weg von der Kenntnisnahme des Bekenntnisses, so richtig dieses formuliert sein mag, zum Glauben nicht gangbar ist. Anders gesagt: Über Einigungsformeln eines Bekenntnisses läßt sich keine Gemeinschaft im Glauben gewinnen. Dafür kommt allein ein direkter Umgang mit dem biblischen Wort als Wort Gottes in Betracht, in dem Gott selbst den Glauben wirkt. Darum hat Luther Melanchthons Frage, die er mit der Zusendung der verlesenen CA an ihn richtete, was man denn den Altgläubigen an kirchlichen Gebräuchen noch nachlassen könne, gar nicht richtig verstanden – denn eine Einigung über Glaubenssätze oder Glaubensvorstellungen verändert ja nicht schon deren Systemfunktion, die in einem geprägten Handlungs- und Lebenszusammenhang stehen. Melanchthon hat, ausweislich seiner Briefe an Luther, die Rolle des Bekenntnisses anders eingeschätzt – als Rahmen der Anerkennung, innerhalb dessen dann die reformatorische Verkündigung soll stattfinden können. Darum ist ja auch aus der ursprünglich vorgesehenen Apologia eine Confessio geworden. 38 Für diesen Formwandel spricht die Notwendigkeit, Formulierungen zu finden, die als Anhaltspunkt des Bekennens dienen können; und die braucht man, wenn man empirische Kirche sichtbar machen will. Den Zwiespalt von Lehrsatzsammlung und Anhalt zum Bekennen hat die CA achtbar gelöst, wie man besonders an CA 5 und CA 7 sich klarmachen kann. Ut hanc fidem consequamur (CA 5) – da setzt der Glaube in der Tat die Predigt voraus; das Bekenntnis stellt sich selbst unter die Bedingung ursprünglicher Verkündigung. Et ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum (CA 7) – wenn man doctrina evangelii mit der deutschen Übersetzung als das gepredigte Evangelium versteht, erweist sich die Anfangsbestimmung des Glaubens, daß er aus der Predigt kommt, auch als sein hinreichender Grund. Gleichwohl ist eine Spannung unübersehbar. So sehr die reine Verkündigung des Evangeliums einen Leitfaden benötigt, so sehr muß sie doch in der konkreten Gestalt ihrer Durchführung aktuell werden. Und so sehr eine Verständigung über die institutionellen Rahmenbedingungen der Organisation sinnhaft übereinstimmender Verkündigung nötig ist, so wenig kann die Zustimmung dazu als hinreichender Grund der Kirche gelten. Mir 38
WA B 5, 314; Brief vom 11. Mai.
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scheint, für das Hervortreten dieser Spannung, die den Protestantismus bis heute kennzeichnet, ist die Spannung zwischen der Coburg und Augsburg ein erster und in gewisser Weise auch immer noch nicht überwundener Modellfall. Jedenfalls wird man sagen können, daß die religiöse Bewegung im evangelischen Christentum, sofern sie im 20. Jahrhundert neu sichtbar gewesen ist, stärker von der dialektisch verkündigenden Position Luthers ausgegangen ist als von der konfessionskirchlichen Pflege und Deutung der CA. Das spricht am Ende dafür, auch in historischem Sinne mit einer theologischen Prägung individuellen Lebens zu rechnen, bei Luther und bei uns.
Luthers Antinomerdisputationen Lebenswirklichkeit des Gesetzes Martin Brecht Der Zusammenhang ist vorgegeben durch die rahmenden Markierungen der Tagung Biographie und Theologie, zugespitzt durch die sich von den Anfängen bis zur Spätzeit erstreckende Biographie und ihren Zusammenhang mit der reifen theologischen Leistung. Es fragt sich, ob etwas und was sich da durchgehalten hat in Luthers Lebenswirklichkeit. Inhaltlich muß sich dann herausstellen, ob Luthers Bemühungen um die anstehende Problematik einen Ertrag für die theologische Anthropologie und somit für die Deutung von Lebenswirklichkeit überhaupt erbracht haben und worin er bestand. Der Rang der Problematik kann als einigermaßen anerkannt gelten. Luthers 1537 bis 1540 entstandene und erörterte Antinomerdisputationen erfreuen sich großer theologischer Achtung und eines hohen systematischen Interesses. Das wird auch die begriffliche Explikation wiederum erweisen. Bei der Tagung des Theologischen Arbeitskreises für reformationsgeschichtliche Forschung (TARF) 1980 in Leipzig kam es zu einer lebhaften Diskussion, welcher Konflikt für Luther erheblicher gewesen sei, der über das Abendmahl oder der mit den Antinomern. Bernhard Lohse plädierte damals energisch für Letzteres. Obwohl ich von meiner süddeutschen Optik her selber Partei war, möchte ich nunmehr zumindest einräumen, daß in beiden Auseinandersetzungen Essentials von Luthers Theologie und Glauben auf dem Spiel standen und sie sich darum, was ihre Bedeutung anbetrifft, schwerlich und allenfalls hinsichtlich ihrer Reichweite gegeneinander ausspielen lassen.
Die Vorgeschichte Für eine Beschäftigung mit Luthers Spätzeit und deren Gewichtung ist die Thematik der Antinomerdisputationen gut geeignet: Es handelt sich um eine Hervorbringung der Spätzeit, die jedoch offenkundig auf die reforma-
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torischen Anfänge zurückgeht, und das nicht aufgrund einer angeblichen nachträglichen Selbstinszenierung, sondern wegen des Auftritts eines von Luthers frühesten Anhängern: Johann Agricola. Johann Agricola (1494[?]–1566] aus Eisleben hatte einen beachtlichen humanistischen Bildungshintergrund. Seit 1515 studierte er in Wittenberg und dies in erweislich engem Kontakt mit Luther, später auch mit dem 1518 nach Wittenberg gekommenen Melanchthon, mit dem gemeinsam er 1519 den Grad eines Baccalaureus biblicus erwarb. Man hätte mit Agricola erwarten können, daß dies in eine akademische Karriere in Wittenberg münden würde. Dies war jedoch nicht der Fall. Von Differenzen mit Luther ist nichts bekannt, derartiges ist jedoch auch nicht ganz auszuschließen. 1 1525 wurde Agricola die immerhin nicht unwichtige Rektorenstelle an der Schule in seiner Heimatstadt übertragen. Anerkennung von höchster Stelle erfuhr er als Reichstagsprediger seiner fürstlichen Herren. 1536 kehrte er auf einen vermeintlichen Ruf Luthers hin zurück nach Wittenberg. Wie es sich bereits zuvor abgezeichnet hatte, wurde dort offenkundig, daß er auf eine Korrektur der Theologie Luthers drang, die auf eine Eskamotierung des Gesetzes aus dem Prozeß der Rechtfertigung hinauslief. Einem von ethischer Normierung emanzipierten libertinären Protestantismus mochte dies attraktiv erscheinen, weshalb Agricola auch Anhänger fand. Luther jedoch sah darin eine als Schwärmertum zu qualifizierende Fehlentwicklung, an der sich zu beteiligen für ihn keineswegs in Frage kam. Das Gesetz ist neben dem Evangelium bleibend eine der Gestalten des Wortes Gottes, der der Mensch in seiner realen Verfasstheit bedarf. Der aus unterschiedlichen religiösen Befreiungserfahrungen resultierende Dissens ließ sich trotz mehrfacher Versöhnungsversuche auf die Dauer nicht überbrücken. Der Bruch war unvermeidlich. Agricola machte sich deshalb aus Wittenberg davon und nahm die Stelle eines Hofpredigers beim Kurfürsten von Brandenburg in Berlin an. Zu einem großflächigen innerprotestantischen Konflikt kam es darüber nicht, auch wenn die theo1
Einen Vorfall hat es nachweislich immerhin gegeben. 1518 veröffentlichte Agricola Luthers Auslegung und Deutung des heiligen Vaterunsers (WA 9, 122–159), die dieser in der Fastenzeit 1517 in Predigten vorgetragen hatte. 1519 ersetzte Luther diese Ausgabe durch seine Auslegung deutsch des Vaterunser (WA 2, 74–130). Erhebliche theologische Differenzen beider Ausgaben sind freilich nur schwer auszumachen. Den Umstand, daß Predigten Luthers zu jener Zeit ohne sein Wissen und Einverständnis herausgegeben worden sind, hat es noch mehrfach gegeben. Das trifft zu auf den Sermo de duplici iustitia (1518; WA 2, 143–152), dem Luther 1519 eine Neufassung nachschob, sowie auf den Sermon von dem eheliche Stand (1519; WA 9, 213–219), den Luther alsbald durch eine eigene Ausgabe ersetzte (WA 2, 162–171). Der ursprüngliche Herausgeber ist in beiden Fällen nicht bekannt. Es ist aber nicht auszuschließen, daß es wiederum Agricola war. Träfe dies zu, hätte man hiermit ein mehrfaches eigenmächtiges Verhalten, das das Verhältnis zu Luther belastet haben könnte.
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logische Problematik virulent blieb. Fortgelebt hat das Erbe Agricolas unter anderem vermutlich in dem „Freudenchristentum“ des Stephan Praetorius (1536–1603), das seine Spuren in der Frömmigkeitsgeschichte des Luthertums bis ins 19. Jahrhundert hinterließ. 2 Nach diesem Abriß bedarf es nochmals eines Rückgangs zu den gemeinsamen reformatorischen Anfängen Luthers und Agricolas. Dabei ging es bekanntlich um das Verständnis der Buße, wie es von Luther dann auch in seiner ersten Ablaßthese formuliert wurde: Buße nicht als menschliche Aktion und Leistung, sondern als lebenslange Haltung. In der dritten Antinomerdisputation (1538) erinnerte sich Luther selbst, konfrontiert mit dem Argument, „die Reue erfolgt durch die Liebe zur Gerechtigkeit“, also nicht aus dem Gesetz, an die früheren Umstände. 3 Am Anfang der Auseinandersetzung habe man das Evangelium stark betont und Wendungen wie jetzt die Antinomer gebraucht. Aber das geschah damals angesichts der durch Papst und Priester den Gewissen bereiteten Schrecken und Ängste. Luther erinnerte sich noch sehr wohl an den einst ausgeübten Druck, unter dem durch die Prediger der vergebende Christus nachhaltig durch das Bild des Richters verstellt wurde. Da bedurfte es der Verkündigung des Gesetzes nicht, sondern der Vergebung für die Verzweifelten. Nunmehr jedoch habe man es mit sicheren und verstockten Leuten zu tun, die sich in ihrer Haltung nur noch bestätigen ließen. Deshalb dürfe derzeit nicht einfach süß geredet werden. Bei der Verkündigung gelte es zu unterscheiden, je nachdem ob sie sich an angefochtene oder sichere Adressaten richte. In ihrer Erinnerung bestätigen sich Luther und Agricola gegenseitig. Es gab die Bedrückung der Gewissen durch die Bußverkündigung und es gab die Erfahrung der Befreiung durch ein neues Wahrnehmen des Evangeliums. An einer Stelle wird man dabei sehr genau auf Luthers Bericht hören müssen: Durch die Verkündigung des Evangeliums wurde die des Gesetzes niemals eskamotiert. Das lag Luther fern. Er lehrte nie ausschließlich antinomistisch und hatte auch keine Phase, in der er das getan hätte. Das hat die Untersuchung Kjeldgaard-Pedersens 4 überzeugend erbracht. Etwaige Unterstellungen und Verdächtigungen in dieser Richtung sind gegenstandslos. Selbst Luthers Unterrichtung wie sich Christen in Mose sollen schicken in seinen Predigten über das 2. Buch Mose (1525) 5 belegt dies trotz der dort erfolgten deutlichen Relativierung des alttestamentlichen Gesetzes. Bei aller Ablehnung der katholischen Gesetzlichkeit und deren 2 Vgl. E CKARD DÜKER, Freudenchristentum. Der Erbauungsschriftsteller Stephan Praetorius, AGP 38, Göttingen 2003. 3 WA 39/I, 571–574. 4 STEFFEN KJELDGAARD-PEDERSEN, Gesetz, Evangelium und Buße. Theologiegeschichtliche Studien zum Verhältnis zwischen dem jungen Johann Agricola (Eisleben) und Martin Luther, Acta Theologica Danica Vol. 16, Leiden 1983. 5 WA 16, 363–393.
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dann auch erfolgter Überwindung war der Antinomismus für Luther nicht einmal eine Teilwahrheit, mochte er auch im nachfolgenden Protestantismus bis heute vertreten und praktiziert werden. 6 Agricola gehörte zu den Menschen, die sich bereits während ihrer Jugend in ihrem Gewissen wegen ihres Ungenügens religiös bedrängt und umgetrieben fühlten. In dieser Seelenlage wurde ihm also Luther mit seinem Ringen um Buße und Gerechtigkeit zum idealen Mentor, den er aufmerksam hörte und dessen Fortschritte und Aktionen er als treuer Begleiter mitmachte. 7 Sein „böses Gewissen“ hatte Agricola nach seinem Bekenntnis nicht mit menschlichen Genugtuungsleistungen beruhigen können. Die „Bekehrung“ bestand darin, daß er sich von Luther auf das Leiden Christi hinweisen ließ, der ihm dadurch vom Richter zum Mittler wurde. 8 Agricola kann somit geradezu als Zeuge gelten für die in der damaligen religiösen Leistungsgesellschaft herrschende Befindlichkeit. Dies trifft auch für die dann sich ereignende Befreiungserfahrung zu. Man kann es nachfühlen, daß Agricola auf keinen Fall mehr gesonnen war, das alte Zwangssystem mit seinen Bedingungen weiterhin anzuerkennen oder gelten zu lassen. Wie sich zeigen sollte, entstanden in diesem Zusammenhang dann seine späteren theologischen Probleme und Schwierigkeiten. Zunächst einmal durfte sich Agricola als einer der ursprünglichen Gefolgsmänner der großen neuen religiösen Einsichten fühlen. Warum sich das nicht ausmünzte in einer entsprechenden theologischen Karriere beispielsweise entsprechend der Melanchthons lag zum Teil sicher daran, daß er mit seinem persönlichen Format schließlich doch nicht völlig zu überzeugen vermochte. Es ist dabei jedoch einzuräumen, daß wir über eine genaue Kartierung der Theologie Agricolas und ihrer Entwicklung immer noch nicht verfügen. Das haben zum einen die erwähnten Forschungen Ernst Kochs mit dem Nachweis von Agricolas Nähe zur Mystik Taulers gezeigt. Zum andern sind die theologischen Zeugnisse Agricolas (vor allem in der Ratsschulbibliothek Zwickau) nach wie vor nicht vollständig untersucht 9, ein unbefriedigender Zustand, der endlich überwunden werden sollte. Wie schon Ernst Bizer am Beispiel Melanchthons demonstriert hat, war die theologische Entwicklung in Wittenberg bis in die frühen 1520er
6
Gegen die Andeutung von Joachim Rogge, Innerlutherische Streitigkeiten um Gesetz und Evangelium, Rechtfertigung und Heiligung, in: HELMAR JUNGHANS (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, Göttingen 1983, 187–204, hier 192f. 7 Vgl. JOACHIM ROGGE, Johann Agricolas Lutherverständnis. Unter besonderer Berücksichtigung des Antinomismus, Theologische Arbeiten Bd. 14, Berlin 1960, 12–19. 8 Vgl. E RNST KOCH, Johann Agricola neben Luther. Schülerschaft und theologische Eigenart, in: GERHARD HAMMER und KARL-HEINZ ZUR MÜHLEN (Hg.), Lutheriana. Zum 500. Geburtstag Martin Luthers, AWA Bd. 5, 131–150, hier 135. 9 Vgl. STEFFEN KJELDGAARD-PEDERSEN, 13f. Anm. 34.
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Jahre überaus bewegt und bleibt gelegentlich schwer zu deuten. Hier müßte man sich also nochmals der Quellen versichern. Es bleibt zunächst noch die Frage, warum Luther trotz aller Festigkeit des eigenen Standpunktes erst nach zwei Jahrzehnten sich des zwischen ihm und Agricola bestehenden Dissenses hinsichtlich des Gesetzes voll bewußt wurde. In der Perspektive der Gefolgschaft Agricolas scheint die Differenz von ihm zumindest nicht als erheblich wahrgenommen worden zu sein. Immerhin war das Thema 1527 bereits einmal hochgekommen, als Melanchthon aufgrund der Wahrnehmungen der heruntergekommenen sittlichen Zustände bei den ersten Visitationen auf eine stärkere Berücksichtigung des Gesetzes in der Verkündigung drang und Agricola dagegen protestierte. Luther suchte ihn von einer Auseinandersetzung abzuhalten, damit die Visitation nicht gefährdet würde. Auch Luther beteuerte, daß Christus unsere Gerechtigkeit ist, deutete aber an, daß dieses eine schwierige Auffassung für die angeborene und eingefleischte Werkgerechtigkeit sei. 10 Das Problem wurde im Kreis der kursächsischen Theologen zwar erörtert und das Ergebnis sofort am Eingang des Unterricht der Visitatoren in dem Abschnitt Von der Lehre fixiert. 11 Agricola konnte aber dadurch schwerlich befriedigt sein. Es wurde nämlich kein Zweifel daran gelassen, daß es ohne Buße keine Vergebung geben kann und dementsprechend zu predigen sei. Die Kritik an der katholischen Gesetzlichkeit durfte nicht dazu führen, daß die Verkündigung der Buße, „ein gros stück von der schrift“, unterlassen wurde. Reue und Leid über die Sünde zu haben, gilt als unabdingbar, und eine falsche Heiligkeit sollte nicht zugelassen werden. Dabei hatte schon aus Gründen der Vermittlung und Verständlichkeit das Gesetz bei der Buße dem Glauben voranzugehen. Obwohl seiner Zeit auf letzte thetische Eindeutigkeit und Klarheit verzichtet wurde, hatte Agricolas Standpunkt faktisch keine Berücksichtigung gefunden. Auch mit der Aufnahme des Dekalogs in seinen Katechismen ließ Luther keinen Zweifel an seiner Position. Auf ein Vorgehen gegen Agricolas Auffassung und damit auf eine konsequente Klärung der theologischen Verhältnisse wurde freilich verzichtet. Dies mag mit, wenn auch nicht allein dazu beigetragen haben, daß die Atmosphäre unter den Wittenberger Theologen je länger je mehr drückend und undurchschaubar wirkt. Darin kann man eine Schwäche Luthers sehen. Im Falle Agricolas hat er immerhin schließlich für Klarstellung gesorgt.
10 11
Luther an Agricola, 31. August 1527 (WA Br 4, 241f., 24–30). WA 26, 202f.
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Die Thesen der Antinomer und die erste Disputation über das Gesetz Die Front, gegen die Luther sich wandte, ist einigermaßen faßbar in mehreren Gruppen von Thesen, die von ihm veröffentlicht worden sind und auf die er dann seinerseits in insgesamt sechs Thesenreihen Stellung bezogen hat. 12 Ein Autor wird nicht angegeben; die Verfasserschaft Agricolas steht nicht für alle Thesen fest. Ob bereits die gegnerischen Thesen die Erörterung in Gestalt von akademischen Disputationen intendierten, muß offen bleiben. Die Anordnung in unterschiedliche Gruppen könnte für diese Möglichkeit sprechen. Falls dies gewollt war, wäre es eine markante Entsprechung zu Luthers einstigen Auseinandersetzungen um Ablaß und Buße, auf die Luther sich zunächst eingelassen hätte. Der Form der Gegenschrift Wider die Antinomer und Wider den Eisleben bediente er sich erst in der späten Phase des Streites. Mit der Buße setzen die gegnerischen Thesen denn auch ein, aber gerichtet ist ihre erste Gruppe insgesamt gegen eine Beteiligung des Gesetzes am Heilsprozeß. Eine zweite Gruppe stellt „reine“, das heißt gesetzeskritische Sätze aus Luthers und Melanchthons Schriftauslegungen „unreine“, positive Äußerungen aus beiden Schriften einander gegenüber. Eine dritte als alii Articuli bezeichnete Gruppe gefällt sich in der Zuspitzung der antinomistischen Attitude und ist vielleicht erst nachträglich nachgeschoben worden. Offenkundig war Luther gewillt, selbst die Auseinandersetzung mit den Antinomern zu führen. Vorgesehen waren wohl von Anfang an mehrere Disputationsgänge mit jeweils eigenen Thesenserien Luthers, die dann freilich infolge des Gangs der Ereignisse nicht alle disputiert wurden. Ob alle Thesen bereits zu Anfang der Disputationen vorlagen, muß offen bleiben. Daß über eine Materie mehrere Disputationen angesetzt wurden, war in der Wittenberger Praxis eine Neuerung. Luther präsidierte und übernahm überdies die Rolle des Respondenten. Eine Mitbeteiligung Melanchthons wäre von der Sache her durchaus denkbar gewesen, war aber offensichtlich nicht gewollt; so blieb die Debatte im Wesentlichen Luthers alleinige Angelegenheit. Zumindest in diesem Falle nahm er also damals die Führungsrolle ein. Wie die Gegenseite so setzte auch Luther in seiner ersten Thesenreihe 13 mit der Buße ein. Ihm war es jedoch darum zu tun, das Zusammenwirken und die Abfolge von Gesetz und Evangelium dabei darzulegen. Er distanzierte sich von der Scholastik und blieb bei seiner reformatorischen Ein12
Benutzt wird für die gegnerischen Thesen und für Luthers erste Disputation die von RUDOLF M AU besorgte Edition in Luther, Studienausgabe Bd. 5 (Leipzig 1992), 236–241 und 242–325. Dies entspricht WA 39/I, 342–347. 13 LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 242–245.
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sicht, daß die Buße keine menschliche Aktion sein kann, sondern bewirkt sein muß. Darauf beharrte Luther ebenso kurz vorher im gegenläufigen Cordatus’schen Streit über die Notwendigkeit des Gesetzes. Unter die als radikal erfaßte Sünde beschließt das Gesetz alle Menschen. Der gute Vorsatz wird wiederum nicht als menschliche Leistung begriffen, sondern als bewirkt vom Heiligen Geist. Die Scholastik habe infolge ihrer Geringschätzung der Heiligen Schrift nicht über Gesetz und Evangelium Bescheid gewußt. Luther aber bemüht sich die prekäre Verbindung von Gesetz und Evangelium beim Bußgeschehen herzustellen. Denn eine Aufhebung des Gesetzes kommt für ihn nicht in Frage. Dagegen zeugen die Heilige Schrift, die Ordnung der Sache und die Erfahrung. Die Ordnung der Sache besteht in der Abfolge von Tod und Sünde sowie Leben und Gerechtigkeit. Die Erfahrung lehrt, daß Adam wie auch David zuerst vom Gesetz als Übertreter überführt und dann erst durch die Verheißung getröstet worden sind. Unschwer kann Luther dies als Prinzip der Heiligen Schrift demonstrieren, daß sie zuerst alle als Sünder erklärt, die dann durch Christus zu rechtfertigen sind. Soweit an der ersten Thesenreihe erkennbar ist, war es Luther also um eine Differenzierung zu tun. Er beharrte auf seiner früheren Kritik an der von der Scholastik vertretenen Leistungsfrömmigkeit und wies dem Gesetz neben dem Evangelium seine unabdingbare Rolle bei der Rechtfertigung des Sünders zu. In seiner Eröffnungsrede 14 zur ersten, am 18. Dezember 1537 abgehaltenen Disputation setzte Luther ganz prinzipiell und klar ein: Es gehe darum, daß die heilsame Lehre von der Rechtfertigung in der Kirche erhalten bleibe. Das habe nach der Methode zu geschehen, daß die Lehre in Gesetz und Evangelium aufgeteilt werde. Das führt überhaupt zum Begreifen der binären Struktur der Wirklichkeit von Sünde und Gerechtigkeit, Tod und Leben, sowie Zorn und Gnade. Vorausgesetzt ist dabei, daß alle Menschen eine gewisse Kenntnis des Gesetzes haben, die sie ihre Misere erkennen läßt. Aus der dadurch drohenden Verzweiflung hilft tröstend das Evangelium. Luther beruft sich für diese Methode nicht auf irgendwelche dogmatischen Schemata, sondern exegetisch auf Paulus und insbesondere den Römerbrief sowie auf die Apostel und Propheten überhaupt. Eine Aufhebung des Gesetzes kommt also nicht in Frage, ist es doch (in Christus) zu erfüllen. Die Autorität der Heiligen Schrift macht für die Christen die Methode verbindlich. Das Gesetz behält seine Funktion, die Sünde aufzuweisen. Der Zweck der Disputation besteht für Luther darin, die Mitchristen in der Lehre zu bestärken und ihnen einen festen Leitfaden dafür zu geben. Auf diese Weise wird die wahre Buße vermittelt, „die durch unser ganzes Leben dauert“. Damit hatte Luther nichts anderes aufgenommen, als was bereits die erste der Ablaßthesen besagt hatte. Von daher dürfte klar gewe14
LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 245–251.
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sen sein, daß es um mehr als um schematische dogmatische Richtigkeit ging. Die in der Disputation vorgebrachten Argumente hatten, dem antinomistischen Konzept entsprechend, vor allem die Geltung des Gesetzes im Visier. Luther bezog sich dagegen beharrlich auf die in Christus erfolgte Gesetzeserfüllung. Er rechnete damit, daß auch das anklagende Gesetz mittels des Heiligen Geistes seine Funktion verrichte. 15 Diese nicht ohne weiteres geläufige Auffassung bedeutete eine entscheidende Aufwertung des Gesetzes. Aber ohne anklagendes Gesetz wäre auch die Erlösung durch Christus gegenstandslos. Gegen den Einwand, das Gesetz sei aufgehoben, berief sich Luther auf den Dekalog als natürliches Gesetz in uns, das in unser Herz eingegraben und somit eine anthropologische Gegebenheit ist. Außerdem bedürfen die Glaubenden seiner wegen der ihnen noch anhaftenden Reste der Sünde. 16 Das Gesetz ist also eine noch vorfindliche Lebenswirklichkeit in der Entwicklung des Glaubenden. 17 Die durch Christus bewirkte Aufhebung des Gesetzes ist darum für die Glaubenden noch nicht erfolgt. 18 Luther widersprach auch der Meinung, daß das Gesetz die Gerechtfertigten noch bedrücke. 19 Das Gesetz ist zwar nicht notwendig zur Rechtfertigung, sehr wohl aber zu der ihr vorausgehenden Reue, wobei die Abfolge beider ein komplizierter Vorgang ist. 20 Für die Antinomer wurde die Buße nicht durchs Gesetz, sondern durch die Verletzung des Sohnes (violatio filii), faktisch durch den Unglauben ihm gegenüber, bewirkt, was trotz einer gewissen Plausibilität eine allenfalls umständlich zu handhabende Theologentheorie war. Da der Unglaube sowohl gegen den erlösenden Christus als auch gegen die Forderung Gottes sündigt, reduziert Luther den Sachverhalt auf eine Spezialwirkung des Gesetzes. 21 Auch die Offenbarung des Zornes Gottes durch das Evangelium wird faktisch als Aktion des Gesetzes identifiziert. 22 Ebenso verhält es sich mit der im Namen Christi zu verkündenden Buße. 23 In diesem Fall liegt nichts an dem Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium. 24 Wegen der immer noch anhaftenden Sündhaftigkeit dauert auch die Buße lebenslang. Dies will Luther schon von Staupitz erfahren haben. In diesem Zusammenhang wird die scholastische Lehre von den aktualen Sün15
LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 255, 17f.; vgl. ferner, 277, 4–278, 8. LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 260f., vgl. 297, 5. 17 Vgl. LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 262, 1–14. 18 LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 265, 8–17. 19 LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 267, 3–5. 20 LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 268, 3–271, 4. 21 LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 271, 15. 22 LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 274, 11–277, 3. 23 LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 282, 17–183, 12. 24 LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 308, 12f. 16
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den, die durch Beichte und Genugtuungsleistungen zu überwinden seien, als nicht vergewissernd abgelehnt; die durch das Gesetz bewirkte Buße bleibt immer dieselbe. Alles andere wäre Schwärmerei, vor der ernstlich gewarnt wird. Die Botschaft von der Befreiung von den Schrecken des Gewissens durch Christus habe zu Sicherheit und sittlicher Willkür geführt. Mit dem Glauben an Christus hingegen geht lebenslang das heiligende und lebendigmachende Werk des Heiligen Geistes einher. Darin besteht die zu lehrende Buße, nicht in der Bewältigung der aktualen Einzelsünden. Sowohl wegen der Verhärteten als auch wegen der ermahnungsbedürftigen Glaubenden darf das Gesetz nicht abgeschafft werden, und muß es bei der lebenslangen Buße bleiben. 25 Eine gröbliche Anspielung eines Disputanten auf die hergebrachte Einteilung der kirchlichen Buße in Beichte, Reue und Genugtuung veranlaßte Luther zu einer Auseinandersetzung mit der Tradition. 26 Für Luther war die Kirchenlehre abscheulich und schrecklich, ja die größtmögliche Folter, begründete sie doch den Zwang zu den Genugtuungsleistungen, den Ursprung der ganzen Leistungsfrömmigkeit, die aber dann doch keine Gewißheit zuließ und gar noch das Fegfeuer öffnete. Mit seiner Auffassung von der lebenslangen Buße habe sie nichts zu tun, heißt es in radikaler Abgrenzung, die einmal das ganze Ausmaß des reformatorischen Abbruchs erkennen läßt. Man solle sich jedoch hüten, daß die alte Auffassung nicht wiederkehre. Sie sei voller Irrtümer, lästerlich gegen Christus und fabulos. Trotzdem habe man sie geglaubt und verehrt. Im Unterschied zur Reue des Petrus führt die Reue des Judas nicht auf Christus hin und kann deshalb nur verdammlich sein. Wo das Gesetz derart seine Grenzen übersteige, erklärte sich Luther selbst bereit „den Mose helffen steinigen“. Gesetz und Evangelium dürfen nicht zu weit getrennt werden, – das führe wie im Papsttum zur Verzweiflung-, sondern haben einander zu begleiten. Unter allen Sünden sind Verzweiflung und Überheblichkeit die eigentlichen „Knoten“. 27 Wie das Beispiel Christi zeigt, dürfen Gesetz und Evangelium nicht auseinandergerissen werden, sondern sind beide in der Kirche notwendig. Dasselbe gilt für die Buße und die Sündenvergebung. 28 Man kann Luther attestieren, das Gesetz gegen die radikale Operation der Antinomisten eindrücklich verteidigt zu haben. Erfüllt wird es durch das Heilswerk Christi. Dadurch wird es jedoch nicht überflüssig. Es bleibt eine anthropologische Gegebenheit. Es ist nötig wegen der noch anhaftenden Sünde. Die tiefe Einsicht der Formel ‚gerecht und Sünder zugleich‘ blitzt damit auf. Als Wort Gottes wirkt auch das Gesetz durch den Heiligen 25
LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 284, 13–292, 10. LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 309, 11–312, 12. 27 LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 312, 13–316, 7. 28 LUTHER, Studienausgabe Bd. 5, 320, 9–322, 4 und 324, 6f. 26
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Geist. Der Unglaube gegen Christus ist keine Alternative, sondern lediglich ein Sonderfall der Gesetzesübertretung. Funktionen des Gesetzes kann auch das Gebot im Evangelium übernehmen. Das Werk des Gesetzes ist die Reue; insofern ist damit die Buße involviert. An dieser Stelle war Luther einst mit dem Forderungssystem der katholischen Kirchenlehre und -praxis zusammengestoßen. Dahin gab es nach wie vor kein Zurück. Luther war inzwischen nicht nachgedunkelt. Aber bloßer Antinomismus konnte nicht die Antwort auf die frühere Gesetzlichkeit sein und hätte fatale sittliche Folgen gehabt. Dazu ist das Gesetz viel zu sehr in die conditio humana involviert. Es galt genauer zu unterscheiden. So führte die Auseinandersetzung mit den einstigen Anhängern zu einer eindrücklich fortentwickelten Explikation des reformatorischen Konzepts, die man ungern vermissen würde.
Die zweite Disputation und das Einlenken Agricolas Bereits am 12. Januar 1538 wurde erneut disputiert. In diesem Rahmen war auch so etwas wie ein Widerruf Agricolas vorgesehen. Da fügte es sich gut, daß es erneut um das Gesetz gehen sollte. Absichtlich oder nicht sind manche der Thesen 29 so formuliert, daß die Antinomer an sie anknüpfen konnten, indem eine Beteiligung des Gesetzes an der Rechtfertigung energisch ausgeschlossen wurde. Beides ist himmelweit von einander zu trennen. Die Funktion des Gesetzes wurde auf den Aufweis der Sünde zum Zwecke der Selbsterkenntnis beschränkt. Eine Abschaffung oder Aufhebung des Gesetzes jedoch wurde damit bestritten. Ohne Gesetz gibt es keine Erkenntnis der Sünde. Ohne sie, so die harte aber charakteristische Konsequenz, würde sich nämlich das Werk Christi erübrigen. Sünde, Buße und Christus wären so vom Satan aufgehoben zugunsten einer epikuräischen Seinsweise. Die Beseitigung des Gesetzes macht auch Sünde, Tod und Hölle gegenstandslos. Die Aussagen der Antinomisten über die Erlösung verlieren damit ihren Grund. Denn das Ziel des Gesetzes ist nicht seine Vernichtung, sondern seine Erfüllung in Christus und dann auch in den Seinigen. Insgesamt setzten die Thesen dem Gesetz deutlich seine Grenzen, was die Rechtfertigung anbetraf, beharrten aber auf der Notwendigkeit seiner kritischen Funktion und seiner schließlichen Erfüllung. Luthers Vorrede 30 begann mit dem Dank, daß die Thematik nunmehr in der Kirche behandelt und erörtert werde, nachdem sie im Papsttum entweder mit Schweigen übergangen worden oder vom Gesetz als bedrückender Leistungsanweisung und somit pelagianisch gelehrt worden sei. Ausdrück29 30
WA 39/I, 347–350. WA 39/I, 419–422.
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lich werden dabei Occam und die Scholastik erwähnt. Des Epochenbruchs der Reformation ist sich Luther also sehr wohl bewußt. An sich befindet man sich aber im ursprünglichen Kampf mit dem Teufel, und die Disputation soll dafür zurüsten. Bei der neuen Disputation 31 und den nachfolgenden ging es verständlicherweise nicht ohne Wiederholungen von Argumenten ab, die hier auf sich beruhen sollen. Die diagnostische Funktion des Gesetzes hinsichtlich des schlimmen Zustands des Menschen wird herausgestellt. Als kritischer Punkt und zu erlernende Kunst erweist sich dabei immer wieder der Übergang von der Diagnose des Gesetzes zum im Werk Christi bestehenden Heilmittel oder von der Selbsterkenntnis zum Glauben. Luther räumt dabei immer noch bestehende eigene Schwierigkeiten ein. Die Christen befinden sich hierbei eben in einem beständigen Kampf. Der rechte Prediger soll so vom Gesetz reden, daß es nicht in die Verzweiflung treibt. Die pädagogische Funktion des Gesetzes, mit der der Schüler gefördert wird, wird mehrfach betont. Das Gesetz weicht stufenweise, imputativ durch Christi Vergebung und dann durch die Austreibung der Reste der Sünde. Luther weiß, daß er am Jüngsten Tag bei seiner Verklärung nichts tun wird, sondern sie als bloße Materie an sich geschehen läßt. In die schulmäßig wirkende Einübung des Gesetzes ist der Auftritt Agricolas eingefügt. 32 Er bezog sich in seinen nicht immer sonderlich klaren Darlegungen unter anderem auf die in Luthers reformatorischen Anfängen vorkommende Unterscheidung von Christus als (erlösendes) sacramentum und (belehrendes) exemplum, mußte sich aber sagen lassen, daß Christus mit dem exemplum nichts anderes als das Gesetz vorführe. Luther gab sich mit den (in der Sache bescheidenen) Äußerungen Agricolas für diesmal zufrieden und erklärte den Streit für beigelegt, obwohl man den Konflikt offenkundig schwerlich für ausgestanden halten konnte, was sich dann ja auch bald erneut erweisen sollte. Sachlich war festgehalten: Die Buße ist aus dem Gesetz zu lehren, allerdings im Namen Christi. Abgesehen von der Aussöhnung, die immerhin den Streit vorerst beendete, war die Bedeutung der Disputation als theologisches Ereignis doch eher begrenzt und nicht mit der erst kurz zurückliegenden ersten Disputation zu vergleichen.
31 32
WA 39/I, 423–485. WA 39/I, 457–468.
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Die Buße als Thema in der (nicht disputierten) dritten und vierten Thesenreihe Man könnte es geradezu bedauern, daß diese beiden Thesenreihen 33 keine weitere Explikation in Disputationen gefunden haben, denn sie sind besonders geeignet, den antinomistischen Streit im Zusammenhang der Theologie Luthers begreifen zu lassen, ein Umstand, der denn auch selten angemessen konstatiert worden ist. Das Stichwort lautet diesmal nicht „Gesetz“, sondern „Buße“, und damit ist man bei Luthers ursprünglichem Thema. Eingesetzt wird mit einer bezeichnenden kritischen Pauschalaussage, die die Buße von Papisten, Türken, Juden und allen Ungläubigen und Heuchlern, also Kirchenrecht, Naturrecht, alttestamentliches Gesetz und Antinomismus zusammennimmt. Für Luther war dies alles insofern eine einzige zusammenhängende Front, als die Buße bei den genannten Gruppierungen immer einzelne Tatsünden betraf und nicht die sündige Grundverfassung und Verderbtheit des Menschen überhaupt. Die Buße blieb mithin immer nur partikular, wo sie doch für die Glaubenden durch das ganze Leben dauern und verabscheut sein mußte. Damit war Luther wiederum bei der ersten Ablaßthese, die er denn auch zitierte! Dies wird dahingehend expliziert, daß der Kampf des Geistes gegen das Fleisch lebenslang anhalte. Verallgemeinernd können die nach der Rechtfertigung getanen Werke für nichts anderes als für Buße ausgegeben werden, indem die erkannte und vergebene Sünde nunmehr ausgetrieben wird. Die lebenslange Buße wird somit konkretisiert. Das Leid über die Sünde hält auch bei den Gerechten an, obwohl sie in der Gnade sind. Dies wird erstaunlicher Weise am Vaterunser exemplifiziert. Mit seinen einzelnen Bitten wird gleichzeitig bekannt, daß die Gotteswirklichkeit bei uns noch aussteht und sich noch nicht durchgesetzt hat. Damit bekennt die Kirche, daß in ihr die Geltung des Gesetzes andauert und davon die Buße ausgeht. Die Antinomisten müßten mit dem Gesetz darum auch die ganze Verkündigung Jesu aufheben. Das Ausmaß der Unverschämtheit ist damit demonstriert. Den Beteiligten muß bewußt gewesen sein, daß Luther nicht einfach einen seiner exegetischen Geistesblitze vorgeführt hatte. Dieselben Gedanken finden sich wie in Luthers Auslegungen des Vaterunsers überhaupt bereits in der von 1517, die kein anderer als Agricola zuerst herausgegeben hatte. 34 Luther war allerdings mit dem Unternehmen Agricolas irgendwie nicht ganz einverstanden gewesen und veröffentlichte seine Auslegung 1518 noch einmal leicht verändert selber. 35 Der Vorgang muß beiden Partnern erinnerlich gewesen sein und damit auch der Umstand, daß 33
WA 39/I, 350–252 und 352–354. WA 9, 122–159. 35 WA 2, 74–130. 34
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Luther sich auf einen ganz ursprünglichen Komplex seiner Theologie berief. Über das Vaterunser weitete Luther seine Argumentation vollends dahin aus, daß eine Aufhebung des Gesetzes überhaupt nicht möglich ist, weil es den Menschen (als Naturgesetz) ins Herz geschrieben bleibt. Die vierte Thesenreihe setzt wieder mit einer kritischen Feststellung ein, daß es keine schlimmere Bußlehre gegeben habe als die der Papisten, wobei Luther allerdings die der Sadduzäer und Epikuräer, konkret die der Antinomisten, ausnimmt. Die Kritik richtet sich nunmehr dahin, daß es in der katholischen Bußlehre mit ihrer Forderung der menschlichen Verdienste keine Gewißheit über die Sündenvergebung gegeben habe. Dies habe zum Unglauben gegen das Werk Christi geführt, schlimmer noch, zur Verzweiflung. Das führt Luther zu starken Worten: Vor der papistischen Bußlehre habe man sich wie vor der Hölle und dem Teufel zu hüten. Luthers Argumentation wirkt im Zusammenhang plausibel. Nichts weist darauf hin, daß er einen Popanz aufbaut, vielmehr dürfte er tatsächlich von eigenen früheren Erfahrungen ausgegangen sein. Aber für noch weit gefährlicher schien ihm eine Abschaffung der Buße in der Kirche zu sein. Das hatte ihm immer ferne gelegen. Derartige Behauptungen hielt er für bloßes Geschwätz, das nicht gelehrt werden sollte. Von der in Gesetzen verfaßten Situation des Menschen konnte nicht abgesehen werden. Der Aufweis der Sünde durchs Gesetz ist zwar nicht schon die Erfüllung, aber dennoch die Vorbedingung der Rechtfertigung. Schließlich wird durch sie sogar die Verwirklichung des Gesetzes wieder hergestellt. Die Schranken, die Luther in seiner Theologie immer respektiert hatte, waren damit erneut markiert. Dies war der vorläufige, aber dann doch nicht der endgültige Schluß der Debatte. Luther hatte klargestellt, worum es ihm immer gegangen war.
Die beiden letzten Antinomerdisputationen Die nächste der Antinomerdisputationen fand erst Monate später, wohl am 6. September des Jahres 1538 statt. Die bisherige zurückblickende Ausrichtung war nunmehr fast ganz aufgegeben und die akute Frontstellung in den Blick genommen. Wie schon an der fünften Thesenreihe 36 zu erkennen ist, hämmert Luther in ihren nicht weniger als 70 Thesen vor allem die fortdauernde Geltung des Gesetzes im Christenleben und in der Kirche ein, weil Sünde und Tod gleichfalls noch Realitäten sind. Von der von den Antinomern postulierten Aufhebung des Gesetzes kann also schon wegen der Präsenz der Sünde keine Rede sein. Eine Kirche ohne Gesetz wäre eine Fiktion und bloßes Theater, denn die Kirche ist eine gemischte Gesell36
WA 39/I, 354–357.
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schaft. Was die Christen anbetrifft, so bestehen bei ihnen geglaubte Gerechtigkeit und fortdauernde Sünde nebeneinander. Wäre das Gesetz aufgehoben, wäre auch seine Erfüllung durch Christus belanglos. Praktisch heißt das: Die Predigt des Gesetzes und zwar bis hin zu seiner Erfüllung durch Christus ist in der Kirche notwendig. In seiner Vorrede 37 wandte sich Luther nunmehr scharf gegen die Antinomisten als in vieler Hinsicht üblen Menschenschlag mit ihrer Heuchelei, die die Menschen selbstsicher und faul machen. Über die vorgebliche Sünde „schmunzeln“ sie und behaupten eine paradiesisch reine Kirche, was doch gegen alle Erfahrung spricht und dem auch Luther nur widersprechen kann. Luther muß sich auch mittels der Disputation für das keineswegs populäre schwierige, weil ungereimte aber realistische „simul“ (zugleich) von Sünde und Gerechtigkeit verstreiten, denn nur bei dessen Anerkennung kann das Christsein gegen die Schwärmer (!) behauptet werden. Die Auseinandersetzung ist mithin keine punktuelle, sondern eine allgemeine und andauernde und erlaubt es nicht zu schlafen. Aus der sich lange hinziehenden, nicht selten bewußt zugespitzten Disputation 38 sei auf einige Punkte hingewiesen: Die Antinomisten wollen nichts von der anklagenden Funktion des Gesetzes auch für die Christen wissen und machen sich damit das Leben süß. Luther hingegen ist sich bewußt, daß er mit seinem Standpunkt auch sein eigenes Elend einräumt. Es ist zuzugeben: Christen sind eben nicht vollkommen. Den Antinomern in ihrem libertinistischen Gehabe sei nicht zu trauen. Luther wollte ihnen nicht einmal Frau und Tochter anvertrauen und hielt die Auseinandersetzung mit ihnen für notwendig. Mit ihrer Verwerfung des Gesetzes gehörten die Antinomer zu denen, die Christus ans Kreuz gebracht hatten. Bei aller gebotenen Konzentration auf den rettenden Heiland darf Christus auch als Gesetzesprediger nicht außer Acht gelassen werden. Der Christ wird teils als Heiliger, teils aber noch als Sünder begriffen und hat sich so zu verstehen, und insofern bleibt für ihn auch das Gesetz gültig. Eine angebliche Sündlosigkeit, die alles auf die Vergebung abschiebt, würde auch von Christus trennen. Dagegen mit allen verfügbaren Kräften anzugehen, fühlte sich Luther berufen. Wer meinte, Mose leichtfertig an den Galgen wünschen zu können, den zählte Luther zu seinen Feinden. Die Aufgabe, der sich Luther in dieser Disputation hatte unterziehen müssen, war nicht eben dankbar oder begeisternd, mußte er doch gegen gefällige Versprechungen für die Vorläufigkeit, Partialität und Relativität der gerechtfertigten Existenz eintreten. Aber eben nur so konnte man auf dem Boden bleiben und den Prospekt des christlichen Lebens verantwortlich konzipieren. Was Luther gegen Agricola vorzubringen hatte, ist dann eingegangen in seine 37 38
WA 39/I, 489–496. WA 39/I 496–584.
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Schrift Wider die Antinomer (1539) 39, die an sich einmal mehr einen Widerruf Agricolas abgeben sollte. In der Sache brachte sie über die bisherige Auseinandersetzung hinaus nichts Neues. Ohne irgendwelche Konzessionen blieb Luther bei seiner Linie. Die letzte der Antinomerdispuationen wohl vom 10. September 1540 diente Luther nicht mehr so sehr zur theologischen Wahrheitsfindung denn als Nachruf auf den gegen sein Versprechen nach Berlin ausgewichenen Agricola. Die Thesen 40 sind am Anfang eine schiere Konsequenzenmacherei hinsichtlich der Eliminierung des Gesetzes durch die Antinomer, bei der am Schluß nicht einmal mehr Gott, sondern nur noch der Teufel übrig bleibt. Das hört sich sehr eindrücklich an und macht nachdenklich. Dennoch war das Totalverdikt über alle theologischen Äußerungen der Antinomer nicht ohne weiteres überzeugend und, was deren Auswirkungen anbetraf, historisch auch nicht zutreffend. Man wird diese Äußerungen Luthers also dem damals auch sonst von ihm praktizierten Wüten gegen seine Feinde zurechnen müssen. Auch der Disputation selbst 41 fehlte die Front eines ernsthaften Widerlagers, und sie geriet so eher zu einer munteren akademischen Gymnastikübung. Für gefährlich und häretisch hielt Luther die Verdrehung der Heiligen Schrift durch die Gegenseite, infolge deren dann die ganze Lehre falsch wurde. So wurde die Position der Wittenberger in Frage gestellt. Partiell richtige Aussagen seiner Gegner wollte Luther nicht gelten lassen.
Nachwort Der antinomistische Konflikt war kein kurzfristiger Vorgang, sondern ein lange sich hinziehender Prozeß. In seinen Anfängen war er wohl nur schwer wahrzunehmen und wurde denn auch nicht diagnostiziert, weil Luthers Ablehnung der hergebrachten Gesetzlichkeit sich mit dem viel weitergehenden Antinomismus Agricolas überdeckte. Tatsächlich ist Luther aber, was die Geltung des Gesetzes anbetraf, immer auf seiner via media verblieben. Als sich Agricola dann dagegen wandte, begegnete Luther dem lediglich damit, daß er für eine Richtigstellung in seinem Sinne sorgte. Als er schließlich vergleichsweise spät der Differenz in ihrem ganzen Ausmaß gewahr wurde, nahm er die Auseinandersetzung an und sorgte für die erforderliche Klärung bis hin zur Aussonderung der Gegenposition. Durch die ganze Geschichte hindurch wird man Luther schwerlich theologische Unsicherheit vorwerfen können, und man ist gut beraten, von 39
WA 50, 461–477. WA 39/I, 358. 41 WA 39/II, 122–144. 40
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Unterstellungen in dieser Richtung abzustehen. Er war zumindest in diesem Fall bis zum Schluß auf der Höhe seiner Theologie und es besteht kein erheblicher Grund, daran herumzumäkeln. Die von Luther dabei entfaltete Konzeption kann mit Fug zu seinen großen Leistungen, die christliches Denken denn auch nach wie vor beschäftigt, gerechnet werden. Die vorkommenden Selbstzeugnisse sind klar im Kontext artikuliert und wirken plausibel. Eigentlich nichts legt nahe, hier beabsichtigte Selbstinszenierung anzunehmen. Es könnte sein, daß diesbezügliche, nicht selten auch sprachlich eindrücklich formulierte Aussagen doch auch unmittelbares Vertrauen verdienen. An der bezeugten Geschichte muß doch schon von den Wirkungen her zu schließen etwas gewesen sein. Nach neuerlicher Beschäftigung mit dem Thema und seinen Quellen lässt sich wohl der genaue Punkt des Abdriftens Agricolas von Luther noch genauer bestimmen; Anstelle des Nebeneinanders von Buße und Evangelium bei Luther setzte Agricola schließlich allein auf das Evangelium. Das lässt sich an der Nachschrift einer Lutherpredigt durch Agricola erkennen.41
WA 45, 415, 19–36, vgl. Martin Brecht, „dass das Leben der Gläubigen Buße sei“. Zum Verständnis von Luthers erster Ablassthese. Deutsches Pfarrerblatt Jahrg. 116, 2016, 559. 41
„Lex iam adest“ Luthers Rede vom Gesetz in den Antinomerdisputationen Walter Sparn I. Der dogmatische Casus 1. Fragt man nach dem dogmatischen Gehalt der sechs Thesenreihen und vier akademischen Disputationen, die Martin Luther in den Jahren 1537– 1540 gegen die von ihm seither so genannten „Antinomer“ abgehalten hat, 1 so stößt man auf einige Erschwernisse. Der Sprecher der Nomomachi, Johann Agricola, war Luthers langjährig vertrauter Schüler, auch Freund Philipp Melanchthons; 2 die öffentliche Wendung gegen ihn mußte den Lehrer größere Mühe kosten als etwa bei Thomas Müntzer oder bei Erasmus. Wie kompliziert die Beziehung zwischen Biographie und Theologie war, zeigte sich daran, daß „Magister Isleben“ sich in seiner Bußlehre stets als Schüler Luthers bezeichnete, an diesen 1537 jedoch schrieb, seine Bücher enthielten „zwei Modi“ der Lehre von der Buße und der Sündenvergebung; und er beklagte sich über die öffentliche Verurteilung durch Luther, nachdem er seine, Agricolas, Position kurz zuvor mündlich noch akzeptiert habe. 3 Seinerseits rief Luther in der ersten Disputation Agricola, der nicht erschienen war, vergeblich, als Opponenten auf, entzog ihm dann die Erlaubnis, theologische Vorlesungen zu halten, gab ihm aber aufgrund persönlicher Intervention des Ehepaares Agricola in der zweiten Disputation doch die Gelegenheit zu einem Votum und erklärte auf dieses Votum hin den Streit für beigelegt. Aufgrund neuen Ärgers 1538 (doch wurde 1 WA 39 I, 334–358. Zunächst wurden nur die ersten beiden Thesenreihen disputiert, 18. Dezember 1537 und 12. Januar 1538 (WA 39 I, 359–417 bzw. 418–485); die dritte und die vierte Reihe wurden wegen der hier erreichten Verständigung nicht eigens disputiert; die fünfte bzw. die sechste Thesenreihe waren die Vorlage der Disputationen am 6. September 1538 (WA 39 I, 486–584) und am 10. September 1540 (Promotionsdisputation Joachim Mörlin, WA 39 II, 122–144). Alle Angaben ohne Nennung des Fundorts stammen aus WA 39 I. 2 Vgl. JOACHIM ROGGE, Art. Agricola, Johann, in: TRE 2 (1978), 110–118; E RNST KOCH, Art. Agricola, Johannes, in: RGG4 1 (1998), 191. 3 WA.B 8, 279,4f.
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Agricola 1539 in das Wittenberger Konsistorium berufen) und seines rechtswidrigen Entweichens 1540 nahm Luther die Polemik wieder auf und verbreitete seine Sicht auch populär: Wider die Antinomer (1539), Wider den Eisleben (1540). 4 Eine zweite Schwierigkeit resultiert aus der Eindeutigkeit, mit der Luther die „Antinomer“ nunmehr distanzierte. Da Agricola es vorziehen mußte, Wittenberg zu verlassen, durfte man endgültig für geklärt halten, was ein „Antinomer“ sei. Dies wurde ikonographisch verstärkt als ausschließlicher Gegensatz von Gesetz und Evangelium, wie ihn Lukas Cranach d.Ä. in zwei Bildtypen seit 1529 ausgearbeitet hatte. Cranachs Gemälde, Holzschnitte und ihre Nachahmungen 5 realisieren das Sujet „Gesetz und Gnade“ vor Augen in einer typologischen Kontrastierung der Verdammnis und der Erlösung ‚Adams‘. Dieses Bildprogramm führt eine heilsentscheidende Antithese dramatisch vor Augen: Das Gesetz hat die Aufgabe, dem Sünder den ihn verdammenden Spiegel vorzuhalten, sein Vertrauen auf Werke des Gesetzes an der Wurzel zu erschüttern und mit dem ewigen Tod in der Hölle zu bedrohen. Es hat zu Christi Evangelium nur die Beziehung des Ausschlusses einer Alternative, ist also auf das fokussiert, was dogmatisch dann als usus elenchticus legis bezeichnet wurde. Das von den Antinomern vertretene Verständnis des Gesetzes – Luther nannte sie „Süßredner“ und „Vernebler“ 6 – hat in dieser tödlich ernsten Stilisierung keinen Platz. Eine dritte Schwierigkeit liegt darin, daß ein gewichtiger Strang der neueren Interpretation der Lutherschen Rede von „Gesetz“ auf eben jene elenchtische Eindeutigkeit fixiert war. Sie verband dies nicht nur mit der persönlichen Glaubensgeschichte Luthers, sondern handhabte die Unterscheidung von „Gesetz und Evangelium“ als Schlüssel der Theologie Luthers im ganzen – was das Thema „Gesetz“ in den in vielem so unklaren fundamentaltheologischen Streit zwischen ‚Lutheranern‘ und ‚Barthianern‘ um „Gesetz und Evangelium“ oder aber „Evangelium und Gesetz“ hineinzog. Damit hängt, zwar nicht ganz geradlinig, der Kontrast zweier Haupttypen der Interpretation zusammen. 7 Der genannten Auffassung (prominent W. Elert 8, aber auch G. Ebeling 9) widersprach eine andere, die dem
4
WA 50, 468–477 bzw. WA 51, 429–444. Staatliche Museen zu Berlin: Kunst der Reformationszeit, Berlin 1983, 356–360; WERNER HOFMANN (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst, München 1983, 210–216. 6 572,8f.; 573,6; 416,20 u.ö.; den Menschen zu Gefallen, z.B. 358,36f. 7 Vgl. die forschungsgeschichtliche Darstellung bei MARTIN SCHLOEMANN, Natürliches und gepredigtes Gesetz bei Luther, Berlin 1961; fortgeführt bei ANDREAS H. WÖHLE, Luthers Freude an Gottes Gesetz, Frankfurt a.M. 1998. 8 WERNER E LERT , Der christliche Glaube, Berlin 1940, § 21, § 23; DERS., Gesetz und Evangelium, in: DERS., Zwischen Gnade und Ungnade, München 1948, 132–169. 5
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Gesetz Gottes auch eine für das christliche Leben produktive Rolle zumisst, vom elenchtischen „Gesetz“ das paränetische „Gebot“ unterscheidet und letzteres in dem seit Melanchthon eingeführten tertius usus legis wiedererkennt; die (für den Sünder) antagonistische Zweiheit des Gotteswortes als Gesetz und Evangelium wird in der Bewegung der einen, umgreifenden Heilsintention Gottes plaziert (W. Joest 10, B. Hägglund 11, A. Peters 12; etwas anders P. Althaus 13). Gleichermaßen jedoch zielten beide Typen der Interpretation auf einen komprehensiven, systematischen Begriff des Gesetzes im Gegenüber zum Gesetzesbegriff der Antinomer. Doch gibt es Hinweise darauf, daß ein solcher Zugriff wichtige Aspekte der Lutherschen Rede von „Gesetz“ übersieht. 2. Zum einen war der nachträglich so eindeutig erscheinende Gegensatz zwischen Agricola und Luther lange Zeit nicht eindeutig oder tiefgreifend gewesen oder doch nicht als solcher erkannt worden. Das Problem schichtete sich vielmehr aus offenen Diskussionslagen erst allmählich auf. 14 Der Lutherschüler nahm zunächst Anstoß ja nicht an Luther, sondern an Melanchthon, als er den Locus De lege in dessen Entwurf von Visitationsartikeln (1527) kritisierte. 15 Die Beratung zwischen diesen beiden, Luther (!) und Bugenhagen verhinderte nicht, daß Melanchthons „Unterricht der Visitatoren“ von 1528 in der Sicht Agricolas den Anstoß nicht beseitigte. Hier hieß es, das christliche Leben habe drei Stücke: Buße, Glaube, gute 9
GERHARD E BELING, Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie (1950), in: DERS., Wort und Glaube (I), Tübingen ²1962, 50–68; DERS., Erwägungen zur Lehre vom Gesetz (1958), ebd. 255–293. 10 WILFRIED JOEST , Gesetz und Freiheit. Das Problem des tertius usus bei Luther und die neutestamentliche Paränese (1951), Göttingen ³1961; DERS., Art. Gebot II., in TRE 12 (1984), 130.138. 11 BENGT HÄGGLUND, Gesetz und Evangelium im Antinomerstreit, in: LEIF GRANE, BERNHARD LOHSE (Hg.), Luther und die Theologie der Gegenwart, Göttingen 1980, 156– 164; vgl. schon OLE MODALSLI, Das Gericht nach den Werken. Ein Beitrag zu Luthers Lehre vom Gesetz, Göttingen 1963. 12 ALBRECHT PETERS, Glaube und Werke, Berlin/Hamburg 1962. 13 Paul Althaus unterscheidet „Gehalt“ und „Gestalt“ bzw. „Gewalt“ des Gesetzes: Gebot und Gesetz (1952), in: E RNST KINDER, KLAUS HAENDLER (Hg.), Gesetz und Evangelium, Darmstadt 1968, 201–238; PAUL ALTHAUS, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh ²1963, 218–238. Vgl. WOLF KRÖTKE, Das Problem „Gesetz und Evanglium“ bei W. Elert und P. Althaus (ThSt 83), Zürich 1965; ALBRECHT PETERS, Gesetz und Evangelium (HSTh 2) Gütersloh 1981, 166–202. 14 Vgl. GUSTAV HAMMANN, Nomismus und Antinomismus innerhalb der Wittenberger Theologie von 1524–1530, Diss. Bonn 1952; STEFFEN KJELLGAARD-PEDERSEN, Gesetz, Evangelium und Buße. Theologiegeschichtliche Studien zum Verhältnis zwischen dem jungen Johann Agricola (Eisleben) und Martin Luther, Leiden 1983; CHRISTIAN PETERS, Luther und seine protestantischen Gegner, in: ALBRECHT BEUTEL (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, 132–134. 15 PHILIPP MELANCHTHON, CR 26,9–28.
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Werke; ohne das erstere, ohne „Rew und Leid“ sei der Glaube nur ein „gemalter Glawb“: „Denn rechter glawb sol trost und freude bringen an Gott, Solcher trost und freud wird nicht gefület, wo nicht Rew und schrecken ist, wie Christus Matthei am .xi. sagt: ‚den armen wird das Euangelion gepredigt.‘“ Um die im Glauben vorausgesetzte Gottesfurcht zu lernen, ist die fleißige Predigt der Zehn Gebote nötig, verbunden mit der Ankündigung von Strafen in und nach diesem Leben; darum sage Paulus: „Durch das gesetz kompt nür erkentnis der sunde“. 16 Bis zum Antinomerstreit hatte sich Melanchthons pädagogisch pointierte Zuordnung von Gesetz und Evangelium latent nomistisch weiter entwickelt und auf der Grundlage eines naturrechtlichen Gesetzesbegriffes zur Konzeption eines triplex usus legis geführt. Der Autor dieser Entwicklung war in den Disputationen präsent, ohne daß er klärend aufgetreten wäre. 17 Die Entwicklung Melanchthons in der Frage der Rechtfertigung könnte durchaus die Schärfe der Abgrenzung Luthers von Agricola in den Disputationen mitverursacht haben. Zum anderen berücksichtigt die Fixierung eines dogmatischen Begriffs des Gesetzes wenig, daß Luthers zahlreiche Äußerungen zu „Gesetz“, neben autobiographischen Bemerkungen zur Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, meist die Form von Bibelkommentaren und von (nicht zuletzt alttestamentlichen) Predigten haben; hier geht es weniger um eine Lehre vom Gesetz als um den schwierigen Umgang mit dem jeweils zu hörenden oder schon erfahrenen göttlichen Gesetz im erschreckten Gewissen, in der heilsamen Buße und in der Praxis des christlichen Lebens. Nur in den Thesen De lege (1535) und in den Antinomerdisputationen äußert Luther sich explizit lehrhaft und mit der Absicht, puram et certam rationem tractandi christianam doctrinam aufzustellen. 18 Aber auch hier geht es nicht um ‚den‘ Begriff des Gesetzes als solchen, sondern, wie die Eröffnungsansprachen eigens ausführen, um das Gesetz im Rahmen des Artikels von der Rechtfertigung, will sagen: um die Predigt und um die Seelsorge mit dem Ziel heilsamer Buße. Weil die Rolle strittig ist, die das Gesetz in der Buße spielt, wird Luther in den Disputationen mit der Aufgabe konfrontiert, das jeweilige Was, Wo, Wie und Wozu von „das Gesetz“ zu klären. So muß die Analyse auch von akademischen, primär argumentativ und syllogi16 PHILIPP MELANCHTHON, Unterricht der Visitatorn, 1528, StA 1, 222–224, zit. 223. Vgl. TIMOTHY J. WENGERT, Gesetz und Buße. Philipp Melanchthons erster Streit mit Johannes Agricola, in: GÜNTER FRANK (Hg.), Der Theologe Melanchthon (MSB 5), Ostfildern 2000, 375–392. 17 Soweit man erkennen kann, opponierte Melanchthon dreimal, zuerst rein affirmativ (disp. I, arg. XI, 378, 3–11), dann mit einem logischen Fehlschluß, den Luther kurz nur als solchen abweist (disp. III, arg. XII, 576,11–15), schließlich mit einem Argument, das Luther als eines der Antinomer(!) scharf tadelt (arg. XIII, 577,1–579,2; zur Sache s.u.). Zu Melanchthons Verständnis von „Gesetz“ vgl. ALBRECHT PETERS (Anm. 13), 58–81. 18 Vorrede zur ersten Disputation, 360,11.
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stisch prozedierenden Disputationen nicht von vornherein die „grundsätzliche Text- und Situationsbestimmtheit“ 19 der Lutherschen Rede von „Gesetz“ ausblenden. Neuere Arbeiten kommen zu dem Ergebnis, daß es sich bei Luthers Reden von „Gesetz“ um ein „dynamisches Begriffsfeld“ handelt, das eine Vielzahl von Aspekten bildreich namhaft macht und das auch „offene Stellen“ aufweist und von „Paradoxien“ gekennzeichnet ist, ja vielleicht eine aporetische Kategorie darstellt. 20 Die folgende Analyse hätte ihr Ziel erreicht, wenn sie sich von den prinzipientheologischen Verwirrungen der Debatten des vorigen Jahrhunderts lösen und noch deutlicher als bisherige Untersuchungen zeigen könnte, 21 daß Luther auch in der argumentativen Kommunikationsform der Antinomerdisputationen ein beziehungsreiches, an der Buß- und Predigtpraxis orientiertes Gesetzesverständnis entwickelt hat, das, flexibel auf unterschiedliche Situationen und Personen bezogen, unterschiedlich von „Gesetz“ redet. 3. Für das Verständnis des Verhaltens Luthers ist es nützlich, Agricola auch selber zu Wort kommen zu lassen. Auch dieser hatte sich nicht abstrakt, sondern immer im Kontext des seelsorgerlichen Problems der heilsamen Buße zum Thema „Gesetz“ geäußert. Sein Widerspruch gegen Melanchthon hatte sich auf Luther berufen, dem zufolge die Buße ihren Ausgang ab amore iustitiae nehmen solle, 22 und auf Bibelstellen wie Lk 24,47 und Röm 1,17. Hier las Agricola, daß das Evangelium die ganze Gerechtigkeit Gottes offenbare, einschließlich seines Zorns, und daß Jesu Auslegung Moses’ und der Propheten auf sich hin besage, daß die Buße zur Vergebung der Sünde nicht im Namen des „Moses oder eines zornigen Richters“, sondern im Namen Jesu gepredigt werden müsse. Nach dem Mißlingen einer Schlichtung 1527 hielt Agricola an seiner Sicht der Bußfrage fest und ver19 ANDREAS WÖHLE (Anm. 7), 207; ULRICH ASENDORF, Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium aufgrund der Predigten Luther, in: JOACHIM HEUBACH (Hg.), Die Kunst des Unterscheidens, Erlangen 1990, 73–89; MANFRED JOSUTTIS, Die Predigt des Gesetzes nach Luther, in: EvTh 25 (1965), 586–604; GERHARD HEINTZE, Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, München 1958. 20 ANDREAS WÖHLE (Anm. 7), 202ff; WILFRIED JOEST , Gesetz (Anm. 10) 24, 35 u.ö.; JÜRGEN M. SCHIPPER, Gesetz. Aporie einer Kategorie Luthers, Diss. Göttingen 1976; Gesetz und Evangelium als „Chiffren“: ALBRECHT PETERS (Anm. 13), 29–57, hier 37, 57; 21 RUDOLF HERMANN, Zur Bedeutung der lex, ihres Unvermögens und dennoch Bleibens, nach Luthers Antinomerthesen (1958), in: Gesammelte Studien zur Theologie Luthers und der Reformation, Göttingen 1960, 473–485; DERS., Zum Streit um die Überwindung des Gesetzes. Erörterungen zu Luthers Antinomerthesen (1958), in: Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums, Berlin/Göttingen 1981, 139–144; GERD ROSENBERGER, Gesetz und Evangelium in Luthers Antinomerdisputationen, Diss. Mainz 1958; Bengt Hägglund (Anm. 11). 22 Vgl. CR 1, 915; WA.B 4, 272. Vgl. JOACHIM ROGGE, Johann Agricolas Lutherverständnis. Unter besonderer Berücksichtigung des Antinomismus, Berlin 1960.
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trat sie vor allem in seinen (sogar auf Reichstagen) geschätzten Predigten, begründete sie aber auch exegetisch in „Summarien zu den Evangelien“ (1536) und vermittelte sie seinen Schülern als Luthers Lehre weiter. 23 Seit Ende 1536 in Wittenberg zurück, warben „Drei Sermone“ (1537) für diese Auffassung. Zugleich kursierten hier jedoch auch anonyme Thesenreihen, in denen Luther sowohl positiv zitiert als auch kritisiert wurde. Luther publizierte diese (alle?) Texte „unserer Antinomer“ Ende 1537 und kontrastierte sie mit einer eigenen Thesenreihe. 24 Er nannte Agricolas Name nicht, unterband jedoch weitere Drucke der Evangeliensummarien. Die Autorschaft Agricolas ist nicht für alle Thesen nachprüfbar; Luther schrieb ihm auch „epikuräische“ Sätze wie „[…] an galgen mit Mose“ zu. 25 Aber mit der Drucklegung der Thesen wurde die Position Agricolas als einer Diskussion würdig und einer Widerlegung bedürftig markiert; m.W. hat Agricola diesem Vorgang nicht als solchem widersprochen. (1) Agricola plaziert die Rechtfertigungslehre in den Erfahrungskontext der täglichen und lebenslangen Buße, genau wie Luther. Er tut dies aber so, daß die heilsame Buße zeitlich nach dem Zuspruch der Sündenvergebung zu stehen kommt, und das heißt: nicht vom Gesetz des Mose, sondern vom Evangelium Christi bewirkt wird. Luther hatte diese mit Mk 1,15 auch in den Evangeliensummarien begründete Abfolge als eben Jesu Bußruf und dem ordo rei nicht entsprechend abgelehnt. 26 Die Antinomer sehen es jedoch als eine Verdrehung der Worte Christi an zu behaupten, die Zerknirschung der Seelen durch das verdammende Gesetz sei Voraussetzung der Predigt des Evangeliums (th. 12–14: 343,4–12 / 450,1–10). Agricola selbst bekräftigte in der (zweiten) Disputation, daß erst die in Christus offenbare Gnade Menschen zu verstehen befähige, daß die (im Glauben abgelegte) Gottlosigkeit, nämlich der Unglaube Christus gegenüber, die höchste Sünde ist. 27 Das entsprach völlig dem, was Luther kurz zuvor in den Thesen über das Gesetz (1535) und zur Rechtfertigungslehre (1536) über das peccatum radicale und dessen Verletzung des Ersten Gebotes (das allein Christus erfüllen konnte) festgestellt hatte. 28
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Vgl. JOACHIM ROGGE (Anm. 2), 112f. 342,1–345,13 bzw. 345,14–347,19. Die im Text folgenden Angaben zu Agricola beziehen sich hierauf sowie auf den lateinischen Text der LDStA 2, 448–455 bzw. 455– 459 (die deutsche Übersetzung weist erhebliche Fehler auf). 25 „Alle die mit Mose umbgehen, mussen zum Teufel faren, an galgen mit Mose“: 345,1f. / 452,36f., von Luther zitiert z.B. 578,8; „Bistu ein hure, bube, ehebrecher, der sonst ein sunder, gleubstu, so bistu im wege der seligkeit“, 344,26f. / 452,27f., von Luther zitiert z.B. in WA 45, 146,40–147,11. Vgl. JOACHIM ROGGE (Anm. 22), 136ff. 26 Marginalie zu Agricolas Evangeliensummarien, WA 50, 674, 1. 27 Disp. II, arg. XV, 461,20–462,13. 28 De lege, th. 51–6.78, 50,34–51,28; De loco Rom 3,28 disp. IV, th. 5–11, 84,10–28. 24
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(2) Das Gesetz des Mose macht die Sünden offenbar, aber ohne den Heiligen Geist, so daß es schlechthin zur Verdammnis wirkt. Es fungiert, wie mit Luthers Auslegung von Jes 40 gesagt wird, als Erzieher nur des Körpers, nicht des Gewissens; hier könnte es nur Werkgerechtigkeit zur Unehre Gottes bewirken. Daß das Gesetz im Regiment Gottes zur Linken, d.h. daß der usus politicus legis nur äußerliche Gerechtigkeit bewirke, hatte Luther seit „Von weltlicher Oberkeit“ (1523) oft geäußert. Die Antinomer gehen jedoch darüber hinaus mit der These, daß der wahre, eigentliche Gebrauch des Gesetzes überhaupt nur im Äußeren liege, eben im politischen Gebrauch (343,16f. / 450,14f.; 344–6 / 451,6–12). Agricola begründet dies in der zweiten Disputation mit dem interessanten Hinweis auf die innere Logik von „Gesetz“: Es kann die (zu verurteilende) iustitia legis nicht selber verurteilen, weil es sich sonst als Gesetz aufhöbe; also bedarf es einer „anderen Lehre“. Agricola meint damit das Evangelium, das erst eigentlich der Sünde überführt (und so die Logik der Selbstgerechtigkeit unterbricht). Luther stimmt dem Argument ausdrücklich zu, mit dem kleinen Zusatz, daß diese „andere Lehre“ jene Gesetzesgerechtigkeit ex lege erweise. Auf Nachfrage hin erklärt Luther, daß das vorgetragene Argument äquivok von Gesetzesgerechtigkeit rede, d.h. nicht unterscheide zwischen geistlicher und politischer Bedeutung. 29 (3) Zur Buße rufen heißt das tun, was Christus tat (Lk 24,47; Mk 16,15) und was der Heilige Geist tut (Joh 16,8): nicht aus dem Dekalog oder irgendeinem Gesetz des Mose, sondern aus dem Evangelium, d.h. aus der in Phil 2,5ff geübten memoria Christi (342,9–21 / 448,9–21). Das Gesetz kann nur bewirken, daß man das Wort hört und (äußerlich) danach lebt; das Wort überdies im Herzen zu fühlen, das ist die Art und der Weg des Evangeliums (in methodo, 345,7f. / 454,1f.). Das Erfordernis der Buße, das ist der Kern der Lehre Agricolas, liegt nicht schon in einer violatio legis, sondern in der violatio filii, in der mit der Sünde des Unglaubens bis heute fortgesetzten Kreuzigung Christi (345,5f. / 452,36f.). Dafür wird auf Luthers Vorreden zum Römerbrief (zu 1,17f.) und zum Jakobusbrief, auf Luthers Summarium zu Ps 19, für letzteres auch auf die hermeneutischen Regeln in Melanchthons Römerbriefauslegung (343,27 – 344,6 / 450,27 – 451,5) verwiesen. 30 In seinem zweiten Argument als Opponent beruft sich Agricola für seine Verknüpfung der Sündenerkenntnis mit dem Evangelium auf Tit 2,11f. Die Gnade Gottes, Jesus Christus, erscheint allen Menschen und erzieht sie, dem Unglauben usw. abzusagen: ut abnegata 29 Disp. II, arg. XIV, 458,18–459,22; Luther geht auf das mit der „anderen Lehre“ gemeinte Evangelium nicht ein, sondern spricht nur von duplex lex, d.h. von dem zweifachen Verständnis des Gesetzes als geistlich und als fleischliches, 460, 21; dazu s.u. 18. 30 Für das Recht des Rekurses auf Luther vgl. RUDOLF HERMANN, Zum Streit (Anm. 19), 16ff.
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impietate ostenderet hoc esse summum peccatum – also ist das Gesetz nicht zu lehren. Luthers Antwort beruft sich darauf, daß Christus sowohl als Erlöser aus der Knechtschaft der Sünde bzw. dem Fluch des Gesetzes wie auch als sittliches Vorbild das Gesetz voraussetzt: als erfülltes bzw. als zu erfüllendes. Deshalb ist es von Christus nicht abgeschafft, sondern erst recht befestigt worden. 31 (4) Da der Heilige Geist ohne jede Voraussetzung gegeben wird, bedarf die Rechtfertigung des Gesetzes des Moses nicht (Apg 13,38; 10,44; 11,15): iustificantur homines sine lege per solum Euangelium de Christo. Die kategorische Bestimmung „ohne“ versteht Agricola so, daß das Gesetz weder zum Anfang noch zur Mitte noch zum Ziel der Rechtfertigung etwas beitrage; aufgrund der Predigten des Paulus und des Barnabas (Apg 10,44; 11,15; 13,38) wird dies als ein Syllogismus aus der Erfahrung angesehen (342,22–343,3 / 448,22–34). Das Gesetz des Mose kann zur heilsamen Buße vor allem deshalb nichts beitragen, weil es sine spiritu ist. Diese Überzeugung macht den wichtigsten Unterschied des Gesetzesverständnisses Agricolas zu dem Luthers aus, der mit Röm 7,14 von der lex spiritualis spricht. Agricola rechnet dies aber bereits zum Evangelium, während ihm das Mosesgesetz als vergangener, vergeblicher Weg Gottes gilt, die Sünder zur Selbsterkenntnis, d.h. zur Buße zu führen; eine der Thesen sagt sogar, das Gesetz sei nicht wert, daß man es Wort Gottes nenne (344,25 / 452,26). 32 Das Motiv wahrer Buße liegt allein im Evangelium, das, der natürlichen Vernunft nicht bekannt, als göttlich offenbarte praedicatio poenitentiae coniuncta promissioni laut werden muß. Das Evangelium verbindet die Erkenntnis der Sünde als Unglaube an Christus mit dem Zuspruch der Sündenvergebung: (Evangelium) magna efficacia non tantum damnat, sed et salvat simul (343,18–21 / 450,16–21). (5) Die Thesen der Antinomer berufen sich auf Luther, monieren bei ihm aber auch „unreine“ Beschreibungen des modus iustificationis, etwa in den sächsischen Visitationsartikeln oder in der Galaterbrief-Auslegung (344,14–23 / 452,15–23). Man kann dies, wie auch Agricolas brieflichen Hinweis, auf eine Spannung in Luthers Begriff des Gesetzes bzw. eine Unklarheit im Bezug auf das Evangelium, damit erklären, daß Agricola an „früheren theologischen Positionen Luthers“ festhält 33 (wenn sicher wäre, daß Luther seine Position zurecht verändert hat!). Man kann auch umgekehrt meinen, daß Agricola Luther bereits im Rücken habe, d.h. das evan31
461,19–466,20; zit. 462,7–9.; in der letzten Disputation faßt Luther die antinomische These korrekt zusammen: dicunt, Evangelium esse revelatam Die iram, WA 39 II, 133, 15 (A). Zur christologischen Argumentation Luthers s.u., 10. 32 Zur These Agricolas, daß das Gesetz des Mose durch die Erscheinung der Güte Gottes Christus hinter uns liegt, vgl. JOACHIM ROGGE (Anm. 22), 127ff. 33 E RNST KOCH (Anm. 2), 191.
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gelische Verständnis der Gerechtigkeit nicht mehr im Kontext der monastischen Werkgerechtigkeit erringen mußte 34 (was dem neuprotestantischen Antinomismus einen Anhalt schon im 16. Jahrhundert verschafft). Noch diesseits solcher, die Sicht auf Luther spiegelnden Urteile ist klar: Agricola wollte die von seinem Lehrer erneuerte paulinische Rechtfertigungslehre zur Geltung zu bringen, und dies dadurch, daß er den Christusglauben von aller Beziehung auf „Gesetz“ freizuhalten suchte und auch die Umkehr der Sünder zu Christus allein dem Evangelium des Gekreuzigten zuschrieb. Agricola nahm daher den Bußruf in diejenige Verkündigung hinein, in der bereits der Heilige Geist wirkt: „Wir sollen nicht die Menschen bereiten zum Euangelio durch die predig des Gesetzs, Gott mus es thun, des werck sey es“ (345,3f. / 452,34f.). Nicht anders als Luther ging es Agricola um die christliche Freiheit kraft der Erkenntnis des Evangeliums. Doch war er zugleich überzeugt, daß diese Freiheit verfehlt wird, wenn man das Evangelium für den Zweck moralischer Besserung einsetzt (mit Lk 6 gegen (!) 2.Petr 1,10: 345,9–13 / 454,4–9). Dies vermied er durch die Beschränkung des Begriff des Gesetzes, sei er biblisch oder natürlich, auf die moralisch-politischen Sphäre: „Decalogus gehort auff das Ratthaus, nicht auff den Predigstuel“ (344,20 / 452,31). Auch wenn dieser von Luther scharf verurteilte Satz vielleicht nicht von Agricola selbst stammt, so formuliert er doch richtig seine negative Intention, das Gesetz aus der (heilsamen) Gottesbeziehung ganz zu entfernen und seine Rolle auf Irdisches zu beschränken – eine Entmachtung, die man von heute aus auch Säkularisierung nennen kann. Die positive Intention Agricolas ist die Integration der Buße in ein Evangelium von der Versöhnung des Menschen mit Gott, der mit Jesus Christus einen erzieherischen Prozeß initiiert, durch den er korrigierend, orientierend und motivierend den sündigen Menschen zur Buße und zum Heilsziel führt. 35 Agricola steht mit seinem Verständnis des Evangeliums in einer alten, bislang randständigen und auch von den Reformatoren nicht rezipierten Tradition der Versöhnungslehre – in jener, die in der Neuzeit weithin die herrschende wurde. 36 In Luthers, aber auch in Melanchthons Perspektive stufte die Verknüpfung des Gesetzes mit dem Zuspruch des Evangeliums 34
JOACHIM ROGGE (Anm. 2), 114f. Ernst Koch betont das Anliegen einer „Theologie der geistlichen Erfahrung“: Johann Agricola neben Martin Luther. Schülerschaft und theologische Eigenart, in: GERHARD HAMMER , K ARL-HEINZ ZUR MÜHLEN (Hg.), Lutheriana (AWA 5), Köln 1984, 131–150, hier 145. 36 Agricola kommt in den neueren Darstellungen der Versöhnungslehre nicht vor, vgl. GUNTHER WENZ, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, München 1984 (Irenäus, Abaelard, 59ff.; F. Schleiermacher 372f.); WOLFHART PANNENBERG, Systematische Theologie Bd. 2, Göttingen 1991 (447ff.). Als Vorläufer Schleiermachers wird Agricola bezeichnet von ALBRECHT PETERS (Anm. 13), 48. 35
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das, was sie stets die terrores conscientiae, die Verzweiflung angesichts eines tödlichen Gesetzes nannten, herab zum (mit Christus empathischen) Leiden an sich selbst als Sünder und bürdete dem Evangelium die Gesetzeserfüllung fordernde Aufgabe des Gesetzes auf. Dieser Vorwurf setzt ein anderes Verständnis des Gesetzes voraus als das Agricolas, der sich daher von ihm nicht getroffen sah und die Integration der heilsamen Buße in die Predigt des Evangeliums als ein Moment von dessen unbedingter Kraft und Wirksamkeit verstand. Das in gewisser Weise gemeinsame, aber doch nicht durchweg übereinstimmende Verständnis des Evangeliums hatte unterschiedliche Perspektiven auf „Gesetz“ zur Folge, auf seine Beziehung zur Gewißheit der Vergebung der Sünden und auf die Beziehung dieser Glaubensgewißheit zur äußeren Welt der Gesetze, d.h. der moralischen Orientierung und der sozialen Ordnung. Die Frage ist, wie das Luthers Rhetorik und Argumentation in den Antinomerdisputationen diese Komplexität an den Tag bringt. Denn er läßt sich als Respondent Agricolas herausfordern: necesse est dicere, quid lex sit (465,7). 37
II. „Gesetz“ und heilsame Buße Luther nahm die Herausforderung durch Agricola als die Reformation im Kern betreffend an. Das sagt er, bekräftigt durch immer schärfere Polemik, mehrfach ausdrücklich, und so ist es weniger dem polemischen Zweck geschuldet als der Bedrohung der reformatorisch erneuerten Glaubensgewißheit, daß Luther mit den Antinomern zugleich die gesetzlichen Scholastiker bekämpft. 38 Erneut ist die Buße strittig: Welches ist die Bedeutung des (Handeln fordernden) Gesetzes für die heilsame, zum rechtfertigenden Glauben führenden Buße? Dabei geht es nicht nur um die persönliche Glaubenserfahrung, sondern pointiert um die Handhabung von Gesetz und Evangelium in Predigt und Seelsorge. Der Anlaß der Disputationen ist, wie die Ansprache Luthers zur Eröffnung der ersten Disputation sagt, die aliena et nova ratio docendi articulum justificationis der Antinomer; ihr Ziel ist, die richtige, die paulinische methodus ins Licht zu stellen, in der nicht nur das Evangelium, sondern auch, und zwar zuerst, das Gesetz gelehrt wird (360,1–364,4; zit. 360,14). Luther führt diese Aufgabe auf unter37 Nicht zufällig ist der statistische Befund, daß in den Disputationen „Evangelium“ gegenüber „Gesetz“ stark zurücktritt; interessant die Vermutung, daß der Nomos ein begrifflich fixierter Komplex war, das Evangelium dagegen nacherzählt werden muß, ALBRECHT PETERS, Gesetz (Anm. 13), 30f. 38 I, th. 10–21, 346,3–27; Disp. II, Vorrede, 419,1–422,15. Vgl. die zeitgleiche Kritik der „falschen Buße der Papisten“ in den Schmalkaldischen Artikeln 1537 (III,3), BSLK, 438,7–449,4.
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schiedlichen Wegen durch, schon in den sechs Thesenreihen, aber auch im Gegenüber zu den Opponenten in den Disputationen. Die Kohärenz der Argumente liegt nicht immer am Tage; seine Frage: Quid sit lex? (465,6) erfährt nicht nur eine einzige Antwort. 39 1. Luther geht in der ersten Thesenreihe 40 von der, wie er sagt, überlieferten und allgemein geltenden Definition der Buße aus: dolor de peccato cum adiuncto propositio melioris vitae (th.1). Das ist bereits gegen die Antinomer gerichtet, die einen konträren Gegensatz, hier den zwischen Furcht und dem Wollen des Guten, nicht in eodem subiecto akzeptieren. Das gibt in den Disputationen Anlaß, eben dies für die Gläubigen zu behaupten: In ihnen kämpft der Glaube noch gegen die Sünde, obwohl der Glaube in summo gradu die Sünde besiegt (wie auch der verzweifelte höchste Schmerz den Glauben austreibt), also: ... fide nondum perfecte sumus sani, sed sanandi. 41 Gegen das Argument, die Gerechten würden von keinem Gesetz beherrscht (1.Tim 1,9), beschwört Luther die Zuhörer, den Unterschied zwischen Christianus triumphans und Christianus militans in carne und hier die Unterscheidung zwischen dem Christusglauben (wo Moses nicht zugelassen ist) und der eigenen Person (der das Gesetz noch auferlegt bleiben muß) nicht zu verwischen; in Sorge, daß dies nach seinem Tod vergessen werde, tritt Luther in ein direktes Zwiegespräch mit dem immer wieder auftretenden dominus peccatum ein. Mit Röm 7 weiß er, daß ein Christ wahrhaft heilig ist und zugleich für seine Sünden beten muß: Es ist warlich ein fein ding. Reim da, wer reimen kann, in uno subiecto et in eodem puncto temporis. 42 Die Figur des Christen, der im Fleisch mit dem Geist gegen das Fleisch kämpft, ist in allen Disputationen der eigentliche Erfahrungskontext, in dem Luther die Notwendigkeit von „Gesetz“ begründet; die Frage ist dann, welche Formen des Gesetzes hier wirksam sind. 39
Weitere Klärung fordert DIETRICH KORSCH, in: Luther Handbuch (Anm. 14), 381; ALBRECHT PETERS sprach von einer „überscharfen Reflexion“ und von „Unschärfen an den Rändern“ (Anm. 13), 56f., GERHARD E BELING von einer gewissen „Flexibilität“ Luthers: Zur Lehre (Anm. 9), 242. 40 345,14–347,24 / LDStA 2,455–458; wo nicht anders vermerkt, stammen die im Text zitierten Thesen hieraus. 41 Disp. I, arg. VIII, 375,13–376,17, zit. 376,6; arg. IX, 376,18–26. Gegen das Argument, wahre Christen dürften nicht mit dem Gesetz erschreckt werden, weist Luther auf die Briefe des Paulus hin, die Heilige und Sünder zugleich ansprechen: Cum christianus […] sit vere Thomista vel gemellus, partim sanctus, partim peccator, manent interea lex, peccata et mors:, disp. III, arg. XXI, 542,1–543,3; zit. 542,18f. 42 Disp. III, arg. III, 503,4–508,9; zit. 507,21–508,1. Christianus est dupliciter considerandus, in praedicamento relationis et qualitatis. Si considerater in relatione, tam sanctus est, quam angelus, id est, imputatione per Christum … Sed christianus consideratus in qualitate est plenus peccato, WA 39 II, 141,1–6 (disp. IV, arg. XXVIII [A]).
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2. Die zitierte Bußdefinition legt Luther gegen ihren traditionell synthetischen Sinn aus, indem er zwei „Teile“ der Buße kontrastiert. Der erste Teil ist der tactus seu sensus legis in corde (th. 2), die vom Gesetz erzwungene passio seu afflictio (th.13). Dem muß die Verheißung des Evangeliums „hinzugefügt“ werden, damit es zum Vorsatz des Guten kommt (th. 7). Die Buße in ihrer ersten Hälfte ist also ex lege tantum und kann nur (!) synekdochisch „Buße“ genannt werden, weil sie selber nicht ins Vertrauen zu Gottes Barmherzigkeit führt; der gute Vorsatz kann nicht aus dem Gesetz kommen (th. 4, th. 8). 43 Gegen die scholastische Lehre wird der gute Vorsatz verstanden als Impetus des Heiligen Geistes, kraft dessen man die Sünde aus Gottesliebe verabscheut, auch wenn die Sünde sich im Fleisch noch dagegen auflehnt (th. 18). Gegen die „Lehrer der Verzweiflung“, sagt Luther, „begann das Evangelium zu lehren“, daß die Buße nicht nur Verzweiflung sein muß, die Büßer vielmehr Hoffnung schöpfen und die Sünde aus Gottesliebe hassen sollen – was eben jenes bonum propositum ist (th. 21f). Dies sagt auch Agricola – eben darum sei das Gesetz aus der Kirche auszuschließen. Luther nennt dies Blasphemie, da die ganze Schrift lehre, daß die Buße mit dem Gesetz anzufangen hat: id quod rei ipsius ordo et experientia monstrat (th. 24f.). Die Sachordnung, von der Luther hier redet, ist die Abfolge der zwei ungleichen „Teile“ der Buße, des sensus des Gesetzes und des sensus des Evangeliums. Der Sinn des Kontrastes ist klar: Die Buße kann aus menschlichen Kräften begonnen werden, dieser Anfang führt aber aus sich selbst, d.h. im Sünder, in die Verzweiflung; nur ein Zuspruch des Evangeliums, der in keiner Weise aus einem selbst kommt, löst aus der vis peccati bzw. legis (th. 3–5). In der angesprochenen Sachordnung handelt es sich also um einen dramatischen, durch äußere Intervention erzeugten Umschlag. Er setzt das in natura liegende Nacheinander von Tod und Leben, von Sünde und Gerechtigkeit voraus (th. 28f.). Ob man in natura auf den Menschen bezieht oder auf die benannten Vorgänge: Die heils- und lebensgeschichtliche Abfolge von Sünde und Gerechtigkeit gibt die methodus ihrer Kommunikation vor: Quare prior docendus est Adam (id est, peccatum et mors), qui forma est futuri Christi postea docendi (th. 30). 44 Sünde und Tod können nicht durch das Wort der Gnade, sondern müssen durch das Gesetz erwiesen werden (necesse est ostendi, th. 31). Klar ist ebenfalls, daß der soteriologische Kontrast in der Abfolge der sensus von Gesetz und
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So auch gegen das Argument, daß, wenn die Buße aus dem Gesetz komme, dann auch der Glaube, disp. III, arg. XXII, 543,4–54318, hier 544,2f. (mit Augustin, 8ff.). 44 Orthographie und Interpunktion dieses Zitats richtet sich nach 347,5f.; LDStA 2,458,6f. hat den Text m.E. mißverstanden.
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Evangelium das Gesetz nicht in reziproke Antithese zum Evangelium plaziert, als würden sie „einander bedingen“. 45 Die Erfahrung, auf die Luther sich beruft, ist die Adams, Davids und Paulus’; auf sie bezieht sich die Redeweise Christi in Mk 1,15 oder Lk 24,47, das Wirken des Heiligen Geistes laut Joh 16,8 (auf alle diese Stellen beruft sich auch Agricola) und auch die methodus, die Paulus selber befolgt hat und die in der Apostelgeschichte von ihm berichtet wird (th. 32– 39). Luther versteht also die Situation der Buße nicht wesentlich anders als die referierten Erfahrungen der ersten Bekehrung. Lebenslange Buße ist die stets neue Erfahrung von Bekehrung, oder wie seit „De captivitate Babylonica“ (1520) oft ausgesprochen, sie ist die tägliche Taufe und Zurückgehen in die Taufe. 46 3. Luthers Korrektur des traditionellen Bußverständnisses reflektiert, wie die der Antinomer, die Erfahrung scheiternder bzw. geschenkter Buße. In ihrer Deutung nicht als Entwicklung, sondern als Umschlag rekurriert Luther jedoch auf die Kontrastierung des Wortes Gottes als Gesetz und als Evangelium. Luthers Schlüsselerfahrung 47 war ja, die erlösende Zusage von der tödlichen Forderung unterscheiden gelernt, also erfahren zu haben, daß das Evangelium niemals eine durch menschliches Können oder Mühen bedingte, sondern immer allein Gottes „kategorische Gabe“ 48 ist. Auch gegenüber Agricola „teilt“ Luther Gesetz und Evangelium scharf in „zweierlei“, „andere“, „unvermischte“ Worte Gottes. Dies bringen die zweite und die vierte Thesenreihe pointiert zum Ausdruck: Das Gesetz ist nicht bloß nicht nötig für die Rechtfertigung, sondern ganz unnütz und völlig unmöglich. Es muß davon getrennt werden soweit der Himmel von der Erde entfernt ist; in Sachen Rechtfertigung ist außer dem Wort der Gnade in Christus überhaupt zu nichts sagen und zu denken. Und das gilt wegen, nicht trotz der Rechtfertigung: Allein der Christusglaube rechtfertigt, nur er erfüllt das Gesetz, allein er wirkt gute Werke sponte, sine lege (II, th. 1– 11; IV, th. 35–41). Die Kontrastierung von Gesetz und Evangelium erlaubt Luther, sich im Blick auf das Gesetz viel ‚antinomischer‘ zu äußern als Agricola. 45
HELLMUT ZSCHOCH, in: Luther Handbuch, Tübingen 2005, 294. Ein Opponent schließt umgekehrt daraus, daß das Gesetz nicht aus dem Glauben ist, daß es abzuschaffen sei – eine Äquivokation im Wort „Gesetz“, disp. I, arg. IX, 376,18–377,6. 46 Dies gilt auch katechetisch, z.B. GK 4. Hauptstück, 64–86 (BSLK 704,19–707,45); vgl. OSWALD BAYER, Martin Luthers Theologie, Tübingen 2003, 242ff. 47 Ein Beispiel aus dem Jahr 1542 für viele. 48 MARTIN LUTHER, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), Nr. 8f.: WA 7,23f. „[…] Aber als ich die Unterscheidung fand, daß eines das Gesetz, ein anderes das Evangelium ist, da brach ich hindurch“, WA.TR5, 210 (Nr. 5518). Zu dieser „höchsten Kunst in der Christenheit“ vgl. ALBRECHT PETERS (Anm. 13), 33f.; OSWALD BAYER (Anm. 45), 53ff., zit. 53.
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Durchaus mit Agricola (und doch wohl mit Blick auf Melanchthon) erklärt es Luther daher für uneigentliche Redeweise zu sagen, das Gesetz werde für die Rechtfertigung erfordert. Denn dafür werde viel erfordert, „ich, Martin Luther, muß dabei sein“, ohne daß dies doch etwas dazu beitrage; denn ich bin materia für Christi Handeln, „ich erleide es, ich tue nichts.“ 49 Zwar geht Luther über Agricola hinaus, wenn er das Gesetz für die Rechtfertigung, für gute Werke, erst recht für das Heil als ganz und gar unnütz erklärt; er widerspricht aber Agricolas Folgerung, daß die Predigt des Gesetzes abzuschaffen sei, mit der Begründung: Sed econtra iustificatio, bona opera et salus sunt necessaria ad salutem. Denn da Christus gekommen ist, zu retten, was verloren war, non tollitur per Christum lex, sed restituitur, ut fiat Adam talis, qualis fuit et etiam melior (IV, th. 38–41: 354, 9–14). Auch in der gläubigen Ich-Perspektive lassen sich „Gesetz“ und „Evangelium“ demnach nicht bloß nicht aufeinander zurückführen, sondern auch nicht auf ein höheres Drittes hin harmonisieren, wie das die Antinomer in ihrem erweiterten Begriff „Evangelium“ annehmen. Auch „Wort Gottes“ ist für Luther offenbar kein Genus, das ex ante Gesetz und Evangelium unter sich begriffe und koordinierte. 50 Gerade die heilsame Buße behält eine Beziehung zum Gesetz in seinem Unterschied zum Evangelium, und lebenslang übt sie die Kunst dieses Unterscheidens. 4. Für die fortdauernde Beziehung des Glaubens auf das Gesetz rekurriert Luther darauf, daß die christliche Lehre mit Gesetz und Evangelium zwei „Teile“ enthalte, und daß die Heilige Schrift „zwei Dinge“ vorlege: „Zorn oder Gnade Gottes, Sünde oder Gerechtigkeit, Tod oder Leben, Hölle oder Himmel“ – haeque res certae et apertae sunt, anders als im Papsttum, das alles vermischt hat. 51 Ein Predigthörer, so die Antinomer, hört in dieser Opposition den Bezug des Evangeliums auf das Gesetz nur negativ, findet also den Weg zum Evangelium nicht; sie entnehmen die methodus der Rechtfertigungspredigt darum dem Evangelium (345,8 / 454,2f.). Hiergegen bekräftigt Luther den irreduziblen Kontrast zwischen Gesetz und Evangelium auch so, daß er ihn innerhalb des „Evangeliums“, d.h. in der Lehre und in der Person Jesu Christi plaziert und so der Ablehnung des Gesetzes in der Kirche auch mit christologischen Gründen widerspricht. Aus Mt 5,17f. folgert Luther, daß man ohne die Gesetzespredigt auch 49
Disp. II, arg.VIII, 44,12–448,7; zit. 447,11.15. Dies war das wichtigste, auch gegen einen Oberbegriff „Offenbarung“ gerichtete Argument von WERNER E LERT : „[…] daß das Gesetz Gottes keinesfalls in einfacher Koordination zum Evangelium verstanden werden kann“: Der christliche Glaube, Hamburg 5 1960, 130. 51 Disp. I, Vorrede, 361,6. In der 5. Thesenreihe gebraucht Luther auch die traditionelle Formel, daß die Schrift vier Wege der Predigt aufgrund der vier Werke Gottes kennt (die ebenso wenig das Gesetz aufheben, sondern bekräftigen), Deus enim terret minis, solatur promissis, monet afflictionibus, allicit benefactis: V, th. 55–57). 50
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Christus nicht behalten kann. Denn: frustra venit, si nulla sit lex in nobis implenda; ohne das verdammende Gesetz wüßten wir nicht, quid Christus sit (!) aut fecerit, dum pro nobis legem implevit; Christi eigentliche Wohltat an uns ist, daß er das Gesetz erfüllt hat – Quid enim de Christo retineas, dum lege remota, quam ille implevit, nescias, quid impleverit? 52 Das zweite Argument Agricolas gab Luther die Gelegenheit, den Rekurs der Antinomer auf die in Tit 2,11.14 geknüpfte Verbindung der erlösenden und der vorbildlichen Tätigkeit Christi zu korrigieren. Auch das von Luther aufgegriffene „schöne“ Diktum Augustins, daß Christus uns zum sacramentum und zum exemplum gemacht sei, war von den Antinomern als Argument gegen die Gesetzespredigt in der Kirche angeführt worden. Dagegen zeigt Luther, daß Christus nicht nur als nachzuahmendes Vorbild (vestigium), sondern auch als Heiland (redemptor, donum) die Wirksamkeit des Gesetzes einschließt. Das vorbildliche Leben Christi und das Gesetz sagen und bezeugen ein und denselben Willen Gottes, aber auch die Erlösung durch Christus schließt die Sünde ein: per Christum nobis datum declaratur nos habere peccatum. Welcherart die Sünde ist, kann nur durch das Gesetz, d.h. ohne dieses kann die Wohltat Christi an uns gar nicht erkannt werden. Als Gabe bzw. als Vorbild zeigt sich Christus als exemplum impletae et implendae legis. Man kann Christus also nicht behalten, wenn man die doctrina legis abschafft – und Luther muß antworten auf die Frage: Quid sit lex? 53 In der (nicht diskutierten) dritten Thesenreihe führt Luther an Mk 1,15 und an dem (nicht als Gesetz auftretenden) Vaterunser vor, daß Christus zwar nie Gesetzgeber, aber Ausleger des Gesetzes ist. Als solcher treibt er Gesetz durch Fordern, Schelten, Drohen, und das mit dem (erzwungenen!) Effekt der Erkenntnis der Sünde im Gewissen. Quare et ipsa oratio Dominica docet legem esse ante, sub et post Evangelion et ab ipsa inchoanda esse poenitentiam (III, th. 17–30, zit. 30). In der dritten Disputation geht Luther ausführlich auf das Argument ein, daß Christus die Buße aus dem Evangelium predige (somit nicht aus dem Gesetz): Von der gewiß ureigensten Aufgabe Christi, Prediger und Bringer des Evangeliums zu sein (propriissimum officium), muß man seine zwar uneigentliche, aber nötige Aufgabe der Gesetzespredigt unterscheiden. Wenn man das nicht tut, muß man Jesu Forderungen und Gerichtsworte, an denen ja kein Zweifel sein kann, in die Evangeliumspredigt aufnehmen: Mithin treiben die Antinomer faktisch auch Gesetz – ostendere peccata vollzieht immer, auch wenn 52
II, th. 26–33; zit. th. 26, 349,1f.; V, th. 60–68; zit. th. 61, 357,19f.; th. 67, 357,31f. Disp. II, arg. XV, 461,19–466,21; zit. 464,18.23f.; 465,6. Die hier nicht immer klare Argumentation Luthers, die in V, th. 50–53 thetisch wiederholt wird, bezieht sich auch auf die Zahlenspiele Augustins mit unum, duplum, diapason (numerus perfectus), 465,10–23; V, th. 52. 53
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Christus es tut, Anklage und Verurteilung. Ohne zu wissen, was sie tun, wenn sie aus Mk 1,15 die Abschaffung des Gesetzes begründen, kreuzigen die Antinomer Christus nicht weniger als die Pharisäer, die seine Forderung nach der besseren Gerechtigkeit (Mt 5,20) oder sein „Wehe euch“ (Mt 23,13ff.) nicht hören wollten: Sie können gar nicht wahrnehmen, was sie von Christus als Heiland empfangen. 54 Hinausgehend über den Nachweis der Gesetzespredigt Christi im „Evangelium“, d.h. in der historia evangelica 55, argumentiert Luther entsprechend auch im Blick auf das Kreuz Christi. Er distanziert sich auch jetzt nicht von der entscheidenden These der Antinomer, daß die Buße aufgrund der violatio filii zu lehren sei. Gleich die erste Disputation nennt dies mehrmals nach wie vor seine eigene Meinung und die der ganzen Christenheit: Ein Mensch kann auch durch die Erzählung von Kreuz und Tod Christi zur Buße geführt werden, ja, nichts bedrücke und plage das Herz mehr als der Anblick dieser benignitas Dei. Aber für Sünder sei auch dies Gesetzespredigt mit all ihren schrecklichen Folgen, ja gerade dies, da incredulitas in filium die größte Sünde sei. Anders als die Antinomer sieht Luther in diesem Unglauben eine doppelte Gesetzesübertretung: die NichtAnnahme der göttlichen Wohltat in Christus, aber auch die seit Adam andauernde Verweigerung des vollkommenen, d.h. aus reinem Herzen kommenden Gehorsams gegen Gottes gesetzgeberischen Willen. 56 Der Unglaube wird nicht nur durch das formulierte Gesetz, sondern ebenso durch den Anblick des Leidens Christi überführt: Idem est, sive hoc fiat praedicatione benefiorum Christi sive legis nihil refert, tamen est lex. 57 Wenn klar ist, daß niemand „Evangelist“ sein kann ohne das Gesetz, das den Sünder die Krankheit fühlen läßt, für die Christus die Heilung ist, dann wird es letztendlich unwichtig, ob diese Sündenerkenntnis „durch das Gesetz oder durch das Evangelium“ (dessen Proprium, wie immer wieder betont, die Predigt der Sündenvergebung um Christi willen ist) bewirkt wird: idem erit. Nam non omnes eodem modo vocamur ad Christum. 58 Luther unterscheidet sich von den Antinomern also nicht dadurch, daß er zwei Lehren statt nur einer Lehre für notwendig hält. Wie sie, kann er das elenchtische Gesetz ins „Evangelium“ einbegriffen finden – innerhalb 54
Disp. III, arg. XVIII, 532,21–539,2. III, th. 31 (351,30), th. 34 (passim per Evangelium, 351,35); vgl. 535,4; 542,12–17. 56 Disp. I, arg. XV, 384,3–387,16; ebenso arg. XXII, 399,7–14; XXIII, 400,1–13; arg. XXIV, 400,14–402,7; populär dann in „Wider die Antinomer“ (1539), WA 50,471,1–5. Vgl. auch De lege, th. 82: quia lex non est in medio cordis nostri, 52,35f. 57 Disp. III, arg XVIII, 536,3f.; ähnlich 536,13; V, th. 58: Benignitas Dei adducit ad poenitentiam, hoc est, ut legem peccati virtutem esse agnoscas, 357,13f. 58 Disp. II, arg. I, 423,1–425,5; zit. 425,4f. Wo das Evangelium als Gesetz wirkt, tut es das indirekt: ostendit legem peccata arguentem: disp. I, arg. XVI, 386,17–388,20; zit. 388,14. 55
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dessen allerdings das Gesetz diametral unterschieden ist vom Evangelium im eigentlichen Sinne: daß Christus als evangelizator pauperum et miserorum tatsächlich kommt und aufgenommen wird. 59 Diese Binnenunterscheidung entspricht einer elementaren Asymmetrie im Gegensatz von Gesetz und Evangelium. Während das erzählte „Evangelium“ (einschließlich des Kreuzes Christi) auch als verdammendes Gesetz wirken kann, vermag das Gesetz niemals Evangelium zu predigen, d.h. Glauben zu wecken. Dieser Unterschied tritt jedoch nur ein, wenn beide, Gesetz und Evangelium, tatsächlich wirken; auch das Gesetz ist, was es ist, nur in seiner Erfahrung. Gegen das Argument Justus Jonas’, das Gesetz sei in Ungläubigen ohne den Dienst des Evangeliums unwirksam, hatte Luther in der ersten Disputation erklärt: Alle Menschen haben das Gesetz, aber nicht alle den sensus legis; alle haben auch das Evangelium (!), aber nicht alle haben den sensus Evangelii et fides. Man kann zur Buße durch den Anblick des Kreuzes Christi geführt werden, aber weil dieses für den Sünder Gesetz ist, kommt er doch durch beides zur Buße, durch die tödliche Anklage und das „lockende Angebot“: Sive iam lege sive Evangelii rhetorica veneris ad poenitentiam, unum et idem erit. Es sey, wodurch es wolle […] 60 Die beiden Ausdrücke bezeichnen nicht nur bestimmte Inhalte, sondern auch kommunikative Wirkungen, d.h. spezifische Ereignisse. Doch ist der Gehalt des Evangeliums, evangelizator Christus, durch nichts anderes ersetzbar, wogegen der Gehalt des Gesetzes unterschiedlich sein kann, solang er eine göttliche Forderung impliziert. Die „hauptsächliche Definition des Gesetzes“ ist daher nicht die, welche grammatice und materialiter den jeweiligen Gehalt benennt, sondern die den proprius effectus im Gewissen des Sünders benennende Definition. 61 In dieser ganzen Disputation soll „Gesetz“, so Luther ausdrücklich, die furchtbare Erfahrung des Gesetzes bedeuten, ut est et sonat in corde tuo urgens, pungens cor et conscientiam tuam, ut, quo te vertas, nescias. Nam lex est (!) ille sensus seu vis […]. In
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Disp. III, arg. XVIII, 535,11f.; Evangelium propria definitione est promissio de Christo, quae liberat a terroribus legis, a peccato et morte, adfert gratia, remissionen peccatorum, iustitiam et vitam aeternam: 387,2–4; Evangelium est proprie, non quod nos facimus, sed praedicatio remissionis peccatorum gratuitae propter Christum per fidem. Ita describit personam, donum, locum: disp. III, arg. XXI, 542,12–14. 60 Disp. I, arg.XXVIII, 405,12–407,115; zit. 406, 1–3; 407,12f. Nemo intelligit legem, nisi tangatur sensu et vi eius in corde. Is autem tactus seu sensus legis est divinus, 389, 2f. 61 Quare semper debetis manere in principali definitione legis, quod operetur iram et odium et desperationem, non gaudium, salutem et misericordiam: Disp. II, arg. VIII, 444,12–448,7; zit. 446,6–8; als These wiederholt in III, th. 39.
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diesem „theologischen Sinn“ ist das Gesetz omnis generis, dieses eine „L“ (lex) besetzt und füllt die ganze Welt. 62 5. Die Rede von „Gesetz“ verbindet sich, hervortretend in der fünften Thesenreihe, mit der (un)heilsgeschichtlichen These: Haec tria, lex, peccatum, mors sunt inseparabilia (V, th. 7). Diese Plazierung des Gesetzes begründet Luther mit 1.Kor 15,16 und 2.Kor 3,6: Das Gesetz ist die vis peccati, so daß, wenn das Gesetz nicht wäre, auch Sünde und Tod nicht wären (th. 6, th. 17–20). Auch die Gerechten sind nicht ohne Gesetz, Sünde und Tod, denn sie müssen (und wollen) in Christus täglich sterben, solange sie im Fleisch leben und nicht aus dieser Welt gegangen sind, solange also Christus erst anfangsweise in ihnen auferweckt ist (th. 11.13.19; th. 35–41). Diese Erfahrung können die Antinomer nicht widerlegen, meint Luther, und umso mehr müßten sie das Gesetz den Bösen, für die es eigentlich gedacht ist, vorlegen (th. 21–32). In einer Kirche, in der es Fromme und Gottlose gibt, muß das Gesetz beiden gepredigt werden, weil für beide gilt: Lex dominatur in homine, quanto tempore vivit (th.1). Wer das Gesetz abschafft, Sünde und Tod aber übrig läßt, verheimlicht den Menschen ihre Krankheit zu ihrem Verderben (th. 69). Hier zeigt sich in der Tat ein tiefgreifender Unterschied zu den Antinomern. Während diese das Gesetz im Evangelium pädagogisch einsetzen wollen, indiziert „Gesetz“ für Luther einen Kampf in kosmischen Ausmaßen. Auch in der heilsamen Buße vollzieht sich nicht nur eine Bekehrung in einem Menschen, sondern der Kampf zweier Mächte, wie Luther in der zweiten Disputation gesagt hatte: Ist die richtige Medizin, Jesus Christus, im Glauben aufgenommen, dann beginnt das maximum duellum zweier Giganten, des Todes selbst und des Todes Christi. Doch sogleich ruft Christus: Mors mortis, infernus inferni, diabolus diaboli ego sum, noli timere, fili mi, ego vici. 63 In diesem Kontext steht die These, daß das Gesetz vor, während und nach dem Evangelium bzw. Christus da sei: Es bestand schon ante Christum und bleibt auch post Christum bestehen. Das bedeutet aber, daß es immer schon bestand, nämlich als der ewige Wille Gottes, und in Ewigkeit bestehen wird: lex nunquam in aeternum tollitur, 62
Disp. II, arg. XIII, 453,5–457,4; zit. 455,13–16; 456,2; Talis enim est doctrina legis, ut si vere tangant cor, so wirt einen die welt zu enge, neque hic erit auxilium ullum reliquum praeterquam Christus, qui anxiis et miseris conscientiis proponendus est, ut sciant hoc: Lex et prophetae usque ad Ioannem. Est quidem tuum, o lex, exigere, cruciare et perterrefacere, sed ad tempus, donec veniat semen: 456, 7–11; [...] ut, si non veniat Ioannes, iamiam desperandum tibi sit: O we, O we, clamitans, actum est, perii, disperii, non vult me Deus, oblitus est mei, odit me, iudex et condemnator meus est, quo fugiam a facie irae eius?: Ebd. 455,18–21; Ach unnd wehe mir Armen, quo me vertam? 536,13. 63 Disp. II, arg. II, 427,4–11. In einigen Predigten stellt Luther diesen Kampf auch als den zwischen dem Gesetz und Christus vor, d.h. als das Eindringen der Verderbensmächte auf Christus selbst, ALBRECHT PETERS (Anm. 13), 35f.
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sed manebit vel implenda in damnatis, vel impleta in beatis (II, th. 45–47). Die Beziehung des Gehorsams des Menschen gegen Gott, die das göttliche Gesetz sanktioniert, 64 bleibt auch dann bestehen, wenn die im Gesetz liegende Forderung erfüllt worden und in der freien Übereinstimmung des Menschen mit Gottes Willen gegenstandslos geworden ist. Daher wirft Luther den Antinomern vor, mit dem Gesetz zugleich den Gehorsam gegen Gott abzuschaffen (II, th. 27). Ein wesentlicher Aspekt der Lutherschen Rede von „Gesetz“ besteht also darin, das „Gesetz“ ein universales Phänomen, daß es lex naturae ist. Sie beruht auf Röm 2,14 und auf der alten Überzeugung, daß Gottes gesetzgebender Wille auf zwei Wegen promulgiert wurde, in der Heiligen Schrift und im Geist des Menschen; auf Letzteres weist Luther von Anfang an immer wieder hin. Dabei ordnet er das Naturgesetz der lex scripta klar über: Der Dekalog sei zwar nötig wegen der Schwäche unserer Kenntnis des Naturgesetzes, Moses sei aber nur der Ausleger der lex insculpta, die Gott allen Menschen als Handschrift ins Herz eingebrannt habe, nicht ihr Autor. 65 Dem mehrmals vorgebrachten Einwand, das Gesetz habe nur bis Johannes gegolten (Mt 11,13) und sei durch Christus abgeschafft (Röm 6,14), sei mithin eine lex temporalis, begegnet Luther mit dem Argument, daß Christus den Moses zwar in der Tat herabgesetzt habe, daß aber Gehalt und Absicht des Dekalogs dessen zeitliche Grenzen überschreiten: Decalogus vero haeret adhuc in conscientia. Nam si Deus nunquam tulisset legem per Mosen, tamen mens humana naturaliter habet hanc notitiam, Deum esse colendum, proximum diligendum. 66 Damit ist es Luther möglich, gegen die Antinomer zu behaupten: Selbst wenn sie das Gesetz im materiellen Sinn des Worts, d.h. ein bestimmtes Gesetz abschaffen, können sie doch das lebendig eingeschriebene Gesetz nicht tilgen (III, th. 39f); wir empfangen das Gesetz immer extra Christum, d.h. literam nondum impletam, tamen implendam necessario a nobis (V, th. 9); dieses Gesetz ist den Menschen immer schon gegenwärtig: [...] lex adest, ist schon da. Lex prius adest in facto. 67 Scheinbar im Widerspruch gegen die These, das Gesetz sei von der Rechtfertigung so weit entfernt wie die Erde vom Himmel (II, th. 8) und in Übereinstimmung mit den Thesen zur Asymmetrie zwischen dem Gesetz und dem Evangelium bzw. Christus kann Luther jetzt sagen: Lex enim nulla nostra necessitate, sed de 64
Deus autem est dominus requirens obedientiam ab omibus creaturis suis, 406,12f. 361,19–22; (leges) quas antea suo digito in cordibus omnium scripserat, 426,10f.; 454,4.14f. u.ö. 66 Disp. I, arg. VII, 373,25–375,12, zit. 374,3–5; disp. II, arg. XIII (Anm. 61), hier 453,7–454,16. 67 Disp. II, arg. XXIV, 477,3–8; zit. 477,7; als Antwort auf den unangemessenen Einwand (gegen die völlige Trennung von Gesetz und Rechtfertigung, II, th. 8), das Gesetz werde imputativ für die Gerechtigkeit erfordert. 65
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facto iam invitis nobis adest, ante et in principio, medio, fine et post iustificationem (IV, th. 33). Das bedeutet, daß das in einer Hinsicht ewige Gesetz in einer anderen Hinsicht sein praefinitum tempus hat, mit und in Christus aufhört und im künftigen Leben schlechthin (simpliciter) abgeschafft sein wird: Es gibt dort nichts mehr zu gebieten, vielmehr ist in der vollkommenen Gottesliebe alles erfüllt: In futura autem vita prorsus tolletur, illic non opus est monere, ut Deum diligamus. 68 Wenn das fordernd-verurteilende Gesetz heilsgeschichtlich begrenzt, das erfüllte Gesetz, d.h. Gehorsamsbeziehung zu Gott als Liebesbeziehung dagegen ewig ist, so sind die legislative und die judikative Funktion von „Gesetz“ nur eine Zeitlang verbunden: auch „Gesetz“ ist kein homogenes Datum, sondern enthält eine tiefe Asymmetrie. Es fragt sich, wie Legislatur und Judikatur Gottes durch das „Gesetz“ in der noch andauernden Welt zusammenhängen und wie sich das Gesetz, das elenchtisch gepredigt werden muß, zu dem Gesetz verhält, das jedem Menschen immer schon gegenwärtig ist.
III. „Gesetz“ und christliche Seelsorge Angesichts der antinomischen Bedrohung der Heilsgewißheit des rechtfertigenden Glaubens fokussiert Luther die Frage, was „Gesetz“ sei, scharf auf die Frage nach dem officium legis in der Buße. Er beantwortet die Frage mit der Kontradistinktion zwischen der Forderung des Gesetzes und der Zusage des Evangeliums, als Erfahrungsereignis; „Gesetz“ bedeutet hier: elenchtisches Gesetz im Vollzug. Aber auch in diesem Zusammenhang tritt zutage, daß die Rede von „Gesetz“ weiter greift, vor allem im Blick auf die Restitution des Gesetzes durch Christus und auf seine ewige Geltung. In den Disputationen gibt es Hinweise, daß die an jener Elenchtik orientierte und anfangs so stark betonte methodus von Gesetz und Evangelium durch anderes Reden von „Gesetz“ ergänzt wird. Das ist vor allem dort der Fall, wo Luther den seelsorgerlichen Umgang mit „Gesetz“ reflektiert, wo er also persönliche und pastorale Probleme anspricht. 1. In der dritten Disputation, deren Vorrede die Polemik nochmals verschärft und die Zuhörer auf den andauernden Kampf gegen die heuchlerischen fanatischen Geister einschwört, 69 räumt Luther doch ein, daß er in 68
Disp. I, arg. VII, hier 374,5.8f. 489,1–496,24. Die fünfte Thesenreihe bzw. die dritte Disputation folgen der neuerlichen Verstimmung Luthers über die Arroganz Agricolas aufgrund einer Denunziation, aber auch aufgrund eines Briefes Agricolas von Ende August 1538, in dem er unbeirrt wieder die Unterscheidung der Buße aus dem Gesetz und der aus dem Evangelium bzw. Augustins und Luthers Verknüpfung von Christus als sacramentum und exemplum einforderte: 335f. 69
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der Anfangszeit dieser Sache (der Reformation) selber so geredet habe wie die Antinomer. Aber die ratio temporis sei eine ganz andere gewesen; angesichts des papistischen Seelenterrors habe er alles Gewicht auf die Predigt des Evangeliums legen müssen: Damals erschraken „wir“ (und „ich“) und zitterten angesichts eines unerfüllbaren Gesetzes vor Angst. Inzwischen seien die Leute aber sicher, faul, frech und böse geworden. Solchen Epikuräern gegenüber sei es völlig falsch, daß die Antinomer nur „Süßes singen“, nämlich nur „unsere [Luthers] Worte, unsere Lehre, die fröhliche Verheißung von Christus“ beibehalten, nicht aber die Predigt des Gesetzes treiben – und so mitschuldig werden an den Schandtaten der allzu Sicheren, die wie sie ihre Sünde für lächerlich oder leicht kurierbar halten. Andererseits stellt sich nach wie vor die dringende Aufgabe, den Angefochtenen und Zerknirschten so tröstlich wie möglich die Gnade Christi zu predigen. Obwohl die Menschen zu allen Zeiten arm, schwach und fromm oder aber reich, sicher und gottlos sind, muß man also gut lernen, folgert Luther, das Wort Gottes gut zu „schneiden“ in Gesetz und Evangelium und je nach dem, mit wem man es zu tun hat, dieses oder jenes zu predigen: non doceas sine discrimine omnia omnes . 70 In der zweiten Disputation hatte Luther dem Einwand zugestimmt, daß das Gesetz etwas Schlechtes sei, weil es zur Verzweiflung führe, verteidigt aber die Gesetzespredigt in ihrer Analogie zur Arbeit des bonus et fidelis medicus. 71 Meistens bezieht sich Luther auf die ethische Korrelation von Vermögen und Verhalten und auf die juridische Korrelation von Gesetz und Sanktion, er bezieht sich aber auch auf die medizinische Korrelation von Diagnose und Therapie. Diese Metaphorik differenziert die Rede von „Gesetz“ durch einen gegenüber dem elenchtischen Gesetz neuen Aspekt. Der Arzt hat von vornherein die Pflicht zu heilen, und nur in dieser Absicht hat er, wenn er es mit uneinsichtigen Patienten zu tun hat, die ihm die angebotene Medizin gar an den Kopf werfen, die Pflicht zur ungeschönten, niederschmetternden Diagnose, aufgrund derer sie sich helfen lassen (nicht bloß betäuben, wie es der Teufel tut). So muß der Sünder (Luther nennt hier biblische Beispiele verhärteter Überheblichkeit) durch das Spüren der Kraft des Gesetzes, des „Hammers Gottes“ 72 derart niedergestreckt und 70
Disp. III, arg. XXXVI, 571,18–575,2; zit. 574,14f. Disp. II, arg. II, 425,6–430,11, zit. 426,5 (die oben folgenden Seitenangabe stammen aus diesem Text). Die Analogie der Theologie nicht mit der Ethik, sondern mit der Medizin wurde für die methodisch ausgearbeite lutherische Theologie ein unterscheidendes Charakteristikum, vgl. WALTER SPARN, Wiederkehr der Metaphysik, Stuttgart 1976, 23ff. 72 Jer 23,29 spricht allerdings nicht vom Gesetz, sondern vom Wort Gottes überhaupt. Dieser Stelle folgend sprechen auch die Schmalkaldischen Artikel (III,3) vom Gesetz als der „Donneraxt“, BSLK 436, 23; 445,19; [...] passiva contritio, das recht Herzeleid, Leiden und Fuhlen des Todes“, 437,2–4. 71
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vernichtet werden, daß er umso ernster und heißer zu Christus flüchtet. Die vom Gesetz allein bewirkte Verzweiflung ist Tod und Hölle, erst die hinzukommende Verheißung des Evangeliums macht daraus eine heilsame evangelica desperatio, und jetzt wird der Erweis von Sünde und Krankheit zum beneficium (430,9; 445,2; 517,3f.). Die „junge[n] Leuthe“, rät Luther, sollen die Brüder, die zu Tode erschrocken glauben, Gott hasse oder vergesse sie, im Namen Christi auf alle Weise trösten und fröhlich machen; denn finalis praesumptio und finalis dubitatio würden gegen das Erste Gebot und damit gegen den Heiligen Geist sündigen (428,19f.). 73 Gottes Wille ist beides: daß wir gedemütigt glauben, der ewigen Verdammnis schuldig zu sein, und daß wir zuversichtlich glauben, daß Gott unser Unheil nicht will, sondern barmherzig und tröstlich unser Heil; das Erste Gebot „will, daß du glaubst, Gott sei dein Gott, nicht dein Feind […]“ (428,18). Dem entspricht der doppelte Auftrag des Predigtamtes in der Kirche – eine schwierige Aufgabe. Auch Luther selbst gibt ehrlich zu, darin oft gefehlt zu haben: „ich kans selber noch nicht, neque ita fortis sum, ut possim diabolo resistere (429,21f.). Am sichersten sei, die media via zu gehen, d.h. die Predigt von Gesetz und Evangelium je nach Ort, Zeit und Personen einteilen und dann wie der Arzt die Diagnose des drohenden Todes und die Therapie zum Leben verbinden (429,22–430,5). Hic tempus est, ut sequatur digitum Ioannis Baptistae monstrantis agnum Dei tollentem peccata mundi. 74 Luthers anti-antinomisches Beharren auf der methodus von Gesetz und Evangelium kann sich also nur auf das Nacheinander gegensätzlicher Erfahrungen mit Gott beziehen. Die gebotene Seelsorge verschleiert nicht, daß der sensus Evangelii den sensus legis voraussetzt, aber sie formalisiert dies nicht zu einer „zeitlichen Priorität des Gesetzes“. 75 Denn das geängstete Gewissen muß zum Gesetz sagen dürfen: Christus ecce iam adest (!) ... gratis et mihi indigno, itaque sine me, obmutesce (456,11–14). Luther betont daher, daß die Predigt des Gesetzes nie allein bleiben darf, so 73 Praesumptio und desperatio werden auch in der Gesetzesdebatte als die beiden Formen ein und derselben Hauptsünde, des Mißtrauens gegen Gott, charakterisiert und an der Reue Kains, Sauls und Judas’ exemplifiziert, z.B. disp. I, arg. XXXI, 409,25–411,31; auch schon in De lege, th. 38 (50, 28f.); Necesse est vel intellecta lege desperare ignota gratia Dei, Vel intellecta lege de se ipso praesumere, contempta ira Dei: th. 42 (50,36f.). 74 537, 11f.; ähnlich 455,18; 447,3 u.ö. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium je nach „occasio“ auch im Großen Galaterkommentar (1535), vgl. OSWALD BAYER (Anm. 45), 21ff. 75 Dies ist die übliche Formel, der dann der „sachliche Primat“ o.ä. des Evangeliums gegenübergestellt wird, z.B. PETERS (Anm. 13), 44f. Schon die kategoriale Heterogenität von „zeitlich“ und „sachlich“ setzt die Plausibilität der Unterscheidung sehr herab, die übrigens auch dies vernachlässigt: Christus etiam ab initio mundi occisus est pro peccatis totius mundi, antequam ulla Ceremonia esset. Quare de lege et peccatis totius mundi necesse est Paulum [Röm 3,1] intelligi: De lege, th. 12f.: 49, 14–17.
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daß beide Predigten lange getrennt wären wie bei den Papisten, die damit nur Verzweiflung verursachten; beide müssen sich vielmehr gegenseitig (!) begleiten (invicem comitari: 410,13f) und müssen zugleich (!) in der Kirche geübt werden (utrumque simul: 430,8). 76 In diesem Sinne, nicht weil sie einander bedingen würden, sind Gesetz und Evangelium untereinander verbunden und „impliziert“. Das Gesetz muß durch das Evangelium interpretiert und per impossibile auf seinen heilsamen Gebrauch zurückgeführt werden können: Christus macht aus dem räuberischen Gesetz einen geistlichen Erzieher. 77 In diesem Kontext setzt Luther neben (oder gegen) die hauptsächliche, d.h. die elenchtische Definition eine „ganz eigentliche“ Definition des Gesetzes, nämlich die von Gal 3,24: lex est paedagogus ad Christum. Seelsorgerlich richtig befolgt, ist das ein „Trostwort“ und deshalb propriissima et iucundissima legis definitio. Der evangelische elenchtische Gebrauch von „Gesetz“ ist also nur im Umkreis der Wirksamkeit des Evangeliums, des sensus Evangelii möglich: Hier ist der Ankläger zugleich Pädagoge. 78 Ein „kluger Pfarrer“ soll so vom Aufdecken der Sünde durch das Gesetz reden, daß man nicht in Verzweiflung getrieben wird, sondern sich mit Christus trösten kann. Luther polemisiert gegen das antinomische „an den Galgen mit Mose“, aber derselbe Luther würde auch, bevor es jemanden vollends tötet, das anklagende Gesetz des Platzes verweisen unter Berufung auf Christus, der will, daß jenem seine Sünde an der Wurzel gezeigt wird, der aber auch will, daß jener nicht stirbt, sondern getröstet neu lebt: Ich wolt selbst den Moysen helffen steinigen mit dem gesetze. 79 2. Eine aus eigener Erfahrung gespeiste seelsorgerliche Einstellung bewegt Luther dazu, den sensus legis, der allein gelassen tödlich wäre, aufzufangen mit dem tröstlichen Zuspruch des Evangeliums. Er führt neben den biblischen Beispielen für verzweifelnde Reue (Kain, Saul, Judas) auch einen zeitgenössischen Selbstmord als Beispiel für das Elend an, daß niemand mit jenem Zuspruch dazwischentritt, wenn jemand sogar Christus 76
Dies ist auch die Forderung der Schmalkaldischen Artikel (III,3), BSLK 437,11– 438,3. 77 Lex et Evangelium non possunt nec debent separari, sicut nec poenitentia et remissio peccatorum. Ita enim sunt inter se colligata et implicata: Disp. I, arg, XXXVII, 410,4–20; zit. 410,8–10; […] ita debet lex per Evangelium interpretari et reduci per impossibile et ad salutarem usum, ad Christum, et Evangelium sua virtute facit ex latrone paedagogum et rapit illum occisum per legem et reducit ad Christum […]: Disp. II, arg. VIII, 444,12–448,7; zit. 446,2–4. 78 Disp. II, arg. VI, 440,16–443,4; zit. 441,12; (lex terrens) conscientias non diabolice, sed evangelice, 441,10. Luther unterscheidet sich von Melanchthon, der nicht den elenchtischen, sondern den politischen Gebrauch als pädagogischen Gebrauch bezeichnet, vgl. ALBRECHT PETERS (Anm. 13), 74f. 79 Disp. I, arg. XXXI, 409,25–411,21; zit. 410,10.
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nur als Ankläger vor Gott sehen kann – da hat sich der Teufel in einen falschen Christus verwandelt. 80 Mit all diesen Äußerungen steht Luther sehr nahe bei Agricola. Am Schluß der Antwort auf dessen zweites Argument und seine eigene Frage, was „Gesetz“ sei, stellt Luther eben den „klugen Pfarrer“ vor Augen, der das Wort Gottes richtig „einzuteilen“ weiß. 81 Aber auch hier, ja gerade hier läßt Luther eine tiefe Fremdheit gegenüber der evangelischen methodus Agricolas erkennen. Ist schon der Wechsel vom sensus legis zum sensus Evangelii anders als bei Agricola ein diskontinuierlicher, dramatischer Umschlag, so folgt dem nicht etwa ruhiges Fortschreiten im Glauben. Die subjektive Erfahrung von Schrecken bzw. Freude spiegelt vielmehr den endzeitlichen Kampf zwischen Gott und widergöttlichen Mächten um diesen Menschen, das maximum duellum zweier Giganten; und dieser Kampf setzt sich, mit positiver Prognose, im Christianus militans in carne lebenslang fort. In der ‚apokalyptischen‘ Dramatik liegt wohl der tiefste Unterschied zu Agricolas Beschränkung des Gesetzes auf den politischen Bereich einerseits, seines Verständnisses der Sünde nicht als Gesetzesverletzung, sondern als Verletzung Christi andererseits. Luther erkennt in der heilsamen Buße einen endzeitlichen Sieg Christi über Sünde, Tod und Teufel. Wenn man von einer „Realdialektik“ von Gesetz und Evangelium sprechen will, 82 muß man auf diesen Schauplatz gehen. Das oft ausgesprochene Motiv Luthers für seine Betonung der elenchtischen Gesetzespredigt ist die Erfahrung dessen, was er als zunehmenden Epikuräismus bezeichnet; man kann dies als die Verweigerung gegenüber jenem heilsdramatischen Schauplatz verstehen. Diese von Luther ebenfalls als seelsorgerliche Herausforderung betrachtete Erfahrung erklärt vielleicht, warum er das elenchtische Gesetz auch in der politischen Sphäre wirksam sieht bzw. seine Wirksamkeit für nötig erachtet. In der 80
537,19–538,7; zur Begründung der o.a. Unterscheidung von Christus als Gesetzesprediger und als gepredigter Heiland und Erfüller des Gesetzes, 538,13–16. Zu der satanischen Versuchung, Christus als Moses vorzustellen, vgl. OLE MODALSLI (Anm. 11), 128ff. 81 466,1–21. Übt Luther diese Klugheit in seinem unmittelbar anschließenden ‚Freispruch‘ für Agricola (466,22–468,2; Sum contentus de te, coram me es liber. Et credo etiam reliquos nostros dominos ac fratres contentos fore: 467,2–5)? Die confessio, die Luther gehört haben will (466,2), kann kaum Agricolas Argumente meinen. 82 WERNER E LERT, Gesetz (Anm. 8), 132; Elerts „Realdialektik“ blickt zu wenig auf deren seelsorgerlichen Kontext und läßt sich bestimmen vom Gegensatz zur These, das Gesetz sei die Form des Evangeliums, dessen Inhalt die Gnade sei, und daß es an sich schon Gnade sei, wenn Gott mit uns rede (KARL BARTH: Evangelium und Gesetz, München 1935, 4. 11). Von „Realdialektik“ in „endzeitliche(r) Dynamik“ spricht ALBRECHT PETERS, der aber weiß, daß man sie „nur erzählend ausmessen“ kann: DERS. (Anm. 13), 36ff. 56f.; zit. 36.
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sechsten, nach der förmlichen Klage Agricolas gegen Luther beim Kurfürsten und seinem Abgang verfaßten Thesenreihe behauptet Luther, daß die Logik von Röm 4,15 (wo kein Gesetz, dort keine Übertretung, also dort keine Strafe noch Vergebung, also dort weder Zorn noch Gnade) auch politisch gelte: Ubi non est ira nec gratia, ibi nec divina nec humana gubernatio (VI, th. 4). Auch für die politica aut naturalis lex gilt, daß sie nichts ist, wenn sie nicht die Bösen verdammt und erschreckt; wofür Luther nur Röm 3(,1?) und 2.Pt 3(,10?) anzuführen vermag (th. 15). Er geht so weit zu sagen, daß, wer die lex damnans zu lehren ablehne, das Gesetz schlechthin leugne (th. 12): Lex non damnans est lex ficta et picta, sicut chimaera aut tragelaphus (th. 14). 83 Schon in der zweiten Disputation hatte Luther kurz den duplex usus legis angesprochen; diese Formulierung taucht sonst nicht mehr auf. Gegen Luthers scheinbar antinomische These, daß das Gesetz zur Rechtfertigung völlig unnütz sei, wurde eingewandt, daß das Gesetz Delikte vermindere, also etwas zur Gerechtigkeit beitrage. Dagegen konzediert Luther einen ersten, den usus coercendi delicta; aber dieser sei, auch wenn der iustitia mundi ihr Ruhm und Lohn in diesem Leben zugestanden wird, eine bei Gott ganz unwirksame paedagogia carnalis. 84 Dieser äußerliche, „rohe“ Gebrauch des Gesetzes interessiert in den Antinomerdisputationen nicht, in denen die Schlechtigkeit der Menschen zwar oft, gelegentlich auch pauschal (die Welt werde immer schlechter) angesprochen wird, in denen es aber um die Gesetzespredigt in der Kirche geht, wo die Antinomer, wie Luther zusammenfaßt, „das ganze Gesetz unfühlbar machen wollen“. 85 Kaum Ausdruck findet hier Luthers positive Schätzung des natürlichen Gesetzes und seiner Gesetzesgerechtigkeit, wie sie das Konzept der zwei Regimente Gottes bzw. der drei Stände der Gesellschaft impliziert. Daß das „politische oder natürliche Gesetz“ die Vernunft (auch die sündige) auf irdische Gerechtigkeit und Frieden hin orientiere und daß dies dem Segen, 83
Die Disputation (WA 39 II, 122–144), die kein Vorwort hat und in der Luther nur gelegentlich respondierte, greift die zentrale These nicht auf. Auf den Einwand Melanchthons, daß das Gesetz nur eine politische Lehre sei, also nur äußerlich verdamme, nicht im Gewissen (mit 2.Kor 3,18); antwortet Luther nur, daß die Klarheit Christi nicht nur die Decke von Moses weggezogen, sondern die Klarheit des Moses weit überboten habe: WA 39 II 139,16–18; 140,14–20. (A). Ein anderer Respondent hatte auf denselben Einwand geantwortet, daß die Decke weggezogen sei, damit das Gewissen verdammende Gesetz sichtbar werde. Lex dupliciter damnat, iustos in carne, non in spiritu, verum impios et in carne et in spiritu, WA 39 II 13329–35 (B). 84 Wenn das Gesetz spiritualiter er coram Deo aufgefaßt wir, übt es den usus ostendendi delicta aus, Disp. II, arg. VI, 440,17–443,4; zit. 441,2–11. 85 Antinomi volunt facere totam legem insensibilem: disp. IV, arg. XIII WA 39 II, 133,26 (B). […] vulgus pro maxima parte ferox, superbum, rude, fallax, indomitum et vanum est, 432, 12f.; […] mundus est malus et quotidie ruit in peius, nec doceri patitur nec moneri, ut vos olim experiemini iam nobis mortuis, 639, 1f.
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ja der Gnade und Liebe zuzuschreiben sei, mit der Gott seine Schöpfung auf die Wiederkunft Christi hin erhält, das hatte Luther in der dritten Thesenreihe über die Rechtfertigung (1536) kurz zuvor klar zum Ausdruck gebracht. 86 Jetzt übergeht er die positive politische Aufgabe des Gesetzes fast ganz und beachtet sie nur im Überschneidungsfeld mit dem überführenden Gesetz, eben in der verurteilenden Wirkung: Es geht Luther hier nicht um die Unterscheidung zweier usus ‚des‘ Gesetzes, sondern um die diskontinuierliche Duplizität von „geistlich“ und „fleischlich“. Gegen das zweite Argument Agricolas (das Gesetz kann nicht die von ihm selbst verlangte Gerechtigkeit, d.h. sich selbst verdammen), sagt Luther zunächst, daß die politische und juristische, äußerlich erzwungene Gerechtigkeit verdammt werden muß, aber nicht durch sich selbst; um dann mit Röm 7,14 zu konzedieren, daß das Gesetz sich selbst verdamme: ... quod lex seipsam damnet, est enim spiritualis ... Et spiritualiter intellecta damnat illam carnalem et externam iustitiam legis, quam nos quoque modo sectando iustitiam legis in hypocrisi praestitimus corde impuro et repugnante ... Es handelt sich also, wie noch mehrmals gesagt wird, um eine lex spiritualis, die mit reinem und geistlichem Herzen erfüllt werden will und deshalb die iustitia carnalis verdammt; somit bedarf es keiner „anderen Lehre“, denn lex legem evacuat. Luther fügt hinzu, daß man so reden müsse, auch wenn das eine unangemessene Rede sei; eher sollte man sagen, das geistliche Gesetz verdamme die fleischliche Selbstgerechtigkeit. 87 In dieser Schwierigkeit wird deutlich, daß Luther nicht mit einem univoken Gesetzesbegriff argumentiert, während die Antinomer von ein und demselben geistlosen „Gesetz“ mit ein und derselben äußerlichen Strafwirkung sprechen. Für ihn ist der Gegensatz von „geistlich“ und „fleischlich“ nicht identisch mit dem Unterschied von elenchtischem Gesetz und politischem Gesetz, das als solches Kraft jenes Gegensatzes zwiespältig wirkt, während das elenchtische Gesetz nur eine Seite dieses Gegensatzes vertritt. Trotzdem steht beides für ihn unter einem ‚Oberbegriff‘, so daß auch er, wenngleich nur einmal, subsumierend von zwei usus legis sprechen kann: lex naturae. Aber das verschiebt das Problem heteromorpher Gesetze eben dorthin, und hier kehrt es als die Asymmetrie von Legislatur und Judikatur wieder. 88 Luthers Fokussierung auf das elenchtische Gesetz läßt dieses Problem außen vor, doch tritt es gleichwohl auf, wo das 86 Tertia disputatio de loco Rom. 3,28 (1536), th. 10–20, 82,23–83,11; vgl. ALBRECHT PETERS (Anm. 13), 38f. 42f. 87 Disp. II, arg. XIV, hier 459,11–461,18; zit. 460,1–4; 461,10. 88 Dem Vorschlag, den politischen Gebrauch des Gesetzes kategorial selbständig zu fassen (OSWALD BAYER [Anm. 45], 55 Anm. 27) stimme ich also zu; nur müßte das angesprochene Problem in Rechnung gestellt werden, um nicht wiederum antinomistisch zu werden.
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ewige Gottesgesetz in die Heilsgeschichte eintritt. Luther räumt ein, daß das geistliche Gesetz nur vor dem Sündenfall, dann im gerechtfertigten Sünder und schließlich im künftigen Leben der Seligen gut ist und zum Leben wirkt, nicht dagegen im Sünder. Gegen das antinomische Argument, daß das Gesetz hier mithin sine spiritu wirke (450,14f / 343,16f), rekurriert Luther auf eine nur als Grenze zu erfahrende Unterscheidung, die zwischen dem Heiligen Geist, der in Sprachen und geistlichen Gaben „eingewickelt“ gegeben wird, und dem Heiligen Geist, der Gott in seiner Natur und Majestät selber ist: Dieser ist es, der sein Gesetz auf die Tafeln geschrieben hat, der die Sünde erweist und der die Herzen zu Tode erschreckt; denn Gott in seiner Majestät ist uns feind, adversarius noster. Das Gesetz erweist die Sünde und verdammt den Sünder ohne die Gabe des Heiligen Geistes; erst sie vermag die Herzen zu berühren und zu bewegen. Aber vom Gesetz jenes Majestätsgeistes gilt: lex non est donum, sed Dei aeterni et omnipotentis verbum, qui est ignis conscientiis. 89 Das Gesetz als „verzehrendes Feuer“: radikale Antithese zur Säkularisierung des mosaischen Gesetzes durch die Antinomer. 3. Luther liegt viel daran, das Gesetz als verzehrendes Feuer auch im Leben des „kämpfenden Christen“ herauszustellen: Es ist auch bei ihnen noch nicht in facto. Aber zugleich ist es bei ihnen auch schon in fieri, indem sie es nicht bloß imputative, d.h. kraft der Zurechnung der Gesetzeserfüllung Christi, sondern in ihrer Lebensführung „in Anfängen“ auch formaliter, in seinem materialen Gehalt erfüllen. Nun beginnt der Gesetzesgehorsam angenehm zu werden: obedientia legis iucunda. Weil Christus das Gesetz durch vollkommene Erfüllung angenehm und rein gemacht hat, ist es für Christen möglich und leicht zu erfüllen, ist in uns so viel „Freude am Gesetz“ wie viel Geist in uns ist, wie weit Christus in uns bereits auferstanden ist. 90 Gegen den „guten“ Einwand, daß mit der Wirkung des Gesetzes auch dieses selbst gewichen sei, unterscheidet Luther zwischen imputativem und formalem, „expurgativem“ Aufhören des Gesetzes. Letzteres ist erst auf dem Weg in Gestalt des fortwährenden Kriegs zwischen Geist und Fleisch in den Heiligen, die also zugleich sub lege et sine lege 89
Disp. I, arg. IV, 369,17–371,16, zit. 370,10f.22f.; der Heilige Geist als tötender nudus Deus autor legis oder aber als lebendigmachendes donum per Christum, gegen die mystische Theologie und alle, die ohne den Mittler Christus mit dem „nackten Gott“ unmittelbar zu tun haben wollen (wie Luther einst selbst) disp. I, arg. XVII, 388,21– 391,20. Dies widerspricht der These, daß eine übergeordnete lex charitatis die Einheit des Willens und des Wortes Gottes verbürge, wie das JOHANNES HECKEL annimmt, Lex charitatis, München 1953. 90 Disp. I, arg. VII, 374,12–375,12, zit. 375,5; arg. VI: 372,12–373,12; Disp. II, Vorrede, 422,14f.; arg. III, 430,12–435,13. Quantum igitur spiritus est in nobis, tantum etiam delectationis est in lege, 373,9f. Vgl. ANDREAS WÖHLE (Anm. 7), bes. 173ff. sowie für den frühen Luther ANTTI RAUNIO, Summe des christlichen Lebens, Helsinki 1993.
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sind. Für die Engel und die Heiligen im Himmel ist das Gesetz dann völlig „leer“ und „schweigt“, denn in denen, die mit Freude tun, was des Gesetzes ist, handelt dieses gar nicht; für uns gilt nur imputativ: Lex est oratio vacua. Aber auch hier verknüpft Luther die tägliche Buße mit dem überführenden und treibenden Gesetz: Quare lex quoad nostrum solvere est mera res vacua, quia wir haben der müntz nicht nach der Arthmetiken, qua ei satisfit. 91 In diesem Sachzusammenhang attackiert die fünfte Thesenreihe bzw. die Vorrede zur dritten Disputation die Absicht, das Gesetz „unfühlbar“ zu machen. Er nennt es ein Prinzip der Antinomer, daß durch Christus die Sünde formaliter et philosophice seu iuridice, also nicht bloß imputative aufgehoben worden sei; demgegenüber erklärt er das forensische Ereignis der Rechtfertigung um Christi willen zum wesentlichen Moment der Buße: (peccatum) solum reputatione et ignoscentia Dei miserentis esse sublatum. Relative enim, non formaliter aut substantialiter est peccatum sublatum, lex abolita, mors destructa. 92 Das zweite „Prinzip oder Paradox“ sei, daß die Kirche rein und makellos sei; demgegenüber bekräftigt Luther, daß die wahre, heilige Kirche, und zwar nicht bloß wegen der in ihr vorhandenen Heuchler, zu erinnern ist nicht nur an das Beispiel Christi und an seine Vergebung künftiger Sünden, sondern an die noch in unserem Fleisch hängende Sünde des Hochmut, des Mißtrauens und des Hasses gegen Gott. Auch hier nährt die Erfahrung (und das Wort Gottes) Luthers Sorge, daß die Christen ihren realen Zustand zu leicht nehmen und sich wieder in epikuräischer Sicherheit wiegen. 93 Doch auch unabhängig von seiner düsteren Einschätzung der moralischen Situation verweigert er sich dem Versuch der Antinomer, die christliche Existenz zu überführen in ein stimmig ‚identisches‘ Ganzes und die Auflösung von Spannungen der affektiven und praktischen Arbeit des Frommen an sich selbst zuzutrauen. Luthers Antwort auf die Frage nach der Gesetzespredigt in der christlichen Gemeinde ist eine doppelte. Mit dem Argument konfrontiert, daß nach Christus das Gesetz keine Anklagekraft mehr habe (ein verständiges Argument, wie er anmerkt), sieht er einerseits auch bei den Frommen, die ja „Zwillinge“ sind, teils Gerechte, teils aber Sünder, die vis legis unvermindert am Werk. Aber andererseits erfahren sie des Gesetzes Schrecken und Töten „gemildert“ und „erträglich“, weil sie nicht nur im Fleisch und sub lege sind, sondern den Geist haben und so zugleich sine lege sind. 91 Disp. II, arg.III, 430,12–435,13; zit. 433,5; 434,12f.; lex vacua est, 453,2; […] diligenter observandum, interesse inter legem vacuam seu quiescentem seu simpliciter sumptam(!), et inter legem accusantem nos seu chirographum decreti scriptum in mentibus nostris: 433,1–4. 92 V, th. 46–49; zit. th. 47f., 356,29–32, 489,1–496,24, hier 491,22–493,14. 93 V, th. 38, 356,11f.; 490,16–491,22; 493,15–494,1. Wie der Christ ist auch die Kirche heilig per synecdochen, d.h. primo per imputationem, 493,25.
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Unter dem „leichten Joch“ Christi üben sie continua poenitentia ... iucunda et facilis. 94 In diesem Sachzusammenhang gibt Luther als Zweck der Gesetzespredigt für den Christen auch an: ut hortetur ad bonum, oder: instituere vitam, quomodo jam novi homines sancti novam vitam ingredi debeant. Diese ‚weiche‘ Predigt lehrt das Gesetz quasi exhortationis loco. 95 Das scheint dem elenchtischen Gebrauch des Gesetzes das hinzuzufügen, was Melanchthon und ihm folgend die Konkordienformel sowie, freilich in ganz anderer Perspektive, Johannes Calvin, als tertius usus legis bezeichnet haben. Man kann in der Tat sagen, daß Luther einen „adhortativen“ Gebrauch des Gesetzes kennt 96; das erste Hauptstück des Katechismus legt er nicht nur als elenchtisches Gesetz, sondern auch als handlungsorientierendes Gesetz aus. Der Dekalog gehört auf den „Predigtstuhl“ nicht nur wegen seiner anklagenden Wirkung, sondern auch damit sich niemand eigene gute Werke ausdenke statt Gottes Willen zu erfüllen, was Luther auch in den Disputationen nicht zu sagen vergißt. 97 Nichtsdestoweniger ist es richtiger festzustellen, daß man nur „wenige schwache […] Hinweise“ auf einen tertius usus legis bei Luther findet. 98 In den Disputationen wäre der einzige Fundort das Schlußwort Luthers zur zweiten Disputation, das drei Gründe nennt, warum das Gesetz gelehrt werden muß: um der moralischen Disziplin willen; um die Sünden zu erweisen und die Gewissen zu verdammen; tertio ... ut sciant sancti, quaenam opera reqirat Deus, in quibus obedientiam exercere erga Deum possint. 99 Werner Elert hat darauf hingewiesen, daß diese Äußerung schlecht bezeugt ist und einen Auszug aus Melanchthons Loci von 1535 darstellt, wo abweichend von Luther die pädagogische Aufgabe des Gesetzes nicht den elenchtischen, sondern den disziplinären Gebrauch bezeichnet. 100 Es ist gesagt worden, daß dieser untergeschobene Text sachlich durch ähnliche Äußerungen Luthers gedeckt sei; das stimmt nicht. Denn dieser Text steht in einer anderen Perspektive als das bisher Dargestellte, denn er 94 Disp. I, arg. II, 365,7–368,2; arg. XIII, 380,9–381,10; arg. XXI, 394,7–399,6; zit. 398,15f.; arg. XXXII, 411,22–412,8. 95 Disp. II, arg. XXI, 474,1–475,6; zit. 474,22; 475,2; disp. III, arg. XXI, 542,16f. 96 EILERT HERMS in: Luther-Handbuch (Anm. 14), 431, in Bestätigung der These vom usus practicus Evangelii bei WILFRIED JOEST , Gesetz (Anm. 10). 97 Vgl. ALBRECHT PETERS (Anm. 13), 52f.; GUNTHER WENZ (Anm. 31), Bd. I, 259ff.; DIETRICH KORSCH, Dogmatik im Grundriß, Tübingen 2000, 80ff.; OSWALD BAYER (Anm. 40), 257ff. 98 VOLKER LEPPIN, in: Luther-Handbuch (Anm. 14), 23; auch Gerhard Ebeling meint, Luther habe sich auch in den Disputationen nicht in eine scholastisch starre usus-legisTerminologie drängen lassen: Zur Lehre (Anm. 9), 242. 99 Disp. II, Schlußwort Luthers, 485,8–25; zit. 485,22–24. 100 Vgl. WERNER E LERT , Tertius usus in der lutherischen Theologie? In DERS., Zwischen Gnade (Anm. 8), 161–169, hier 162.
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setzt eben den „weiten“, d.h. den naturrechtlich begründeten Begriff des „Gesetzes“ voraus, den Melanchthon brauchte, um von einem tertius usus legis überhaupt sprechen zu können. 101 Das ist möglicherweise aber die Perspektive derjenigen, die jenen Text der Sache nach Luther zuschreiben, denn ihre Unterscheidung der apostolischen Paränesen oder Paraklesen und der göttlichen Mandate oder „Gebote“ in Unterscheidung vom elenchtischen „Gesetz“ als dritter Gebrauch des Gesetzes, setzt ebenfalls ein übergeordnetes Genus (freilich nicht mehr das naturrechtliche „Gesetz“, sondern den uns offenbarten „Willen Gottes“) voraus. 102 Ein solches Genus ist jedoch nicht die Lösung, sondern erst recht das dogmatische Problem der Nebeneinanderreihung eines dreifachen Brauchs des Gesetzes. Die Antinomerdisputationen setzen die lex naturae als Legislatur für alle Rede von „Gesetz“ voraus, aber die Judikatur Gottes, die lex damnans, geht weit über „Gesetz“ im „technischen“ oder „grammatikalischen“ Sinn hinaus und bezieht die ganze Welt ein. Man kann Luthers Ausdruck „Gesetz“ daher als eine theologische Kategorie bezeichnen, die unterschiedliche Erfahrungen des Gewissens in heilsgeschichtlicher, durch den sensus Evangelii eröffneten Perspektive zusammenstellt.
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Mit der Fokussierung auf das elenchtische Gesetz gegenüber Agricola war die Differenz nicht aus der Welt, die sich zwischen Luther und Melanchthon im Blick auf die Bedeutung des Gesetzes für das christliche Leben entwickelte. Schon in der Apologie der Confessio Augustana (Art. IV, 62), in der Confessio Augustana variata und in den Loci seit 1535 hatte Melanchthon aufgrund von Lk 24,47 (Bußpredigt im Namen Jesu, auch von Agricola und von Luther angeführt) einen erweiterten Begriff von „Evangelium“ gebraucht, der die anklagende Bußpredigt und das tröstliche Gnadenangebot verknüpfte (AC, Art. V,62: BSLK 172,29ff.; CA variata, Art. V: BSLK 59,30f. und StA VI, 16,13– 15; Loci praecipui theologici 1559 De Evangelio: StA II/1, 346, (ebenfalls mit Lk 24,47). Wegen der Nähe dieser Erweiterung zu Agricola wurde Melanchthon später des Antinomismus geziehen, zweifellos gegen sein Selbstverständnis. Bei ihm muß man eher von latentem Nomismus sprechen: Er gab dem Naturgesetz, stoisierend verstanden als sittliche notitiae innatae, nicht nur eine heuristische, sondern eine konstitutive Rolle für jede Gottesbeziehung, entsprechend auch für den Begriff Gottes als des weisen Gesetzgebers. Das verlieh der Gotteslehre einen naturrechtlichen Akzent und bezog die Rechtfertigungslehre konstitutiv auf die Ethik. Vgl. ALBRECHT PETERS (Anm. 13), 69ff. 102 Vgl. PAUL ALTHAUS, Theologie (Anm. 13), 236–238, bes. Anm. 124, ebenfalls in Zustimmung zu WILFRIED JOEST , Gesetz (Anm. 10). Albrecht Peters weist darauf hin, daß Luther schon früh von einem sensus puerilis legis spricht (Predigt 24. Februar 1523: WA 11,31,9f.), auf das Spiel-Motiv im Großen Katechismus (BSLK 579, 18ff.) sowie auf das Heiligungsmotiv aus „Von den Konziliis und Kirchen“ (WA 50,643,19ff.): DERS. (Anm. 13), 39–41. 52f.
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IV. „Gesetz“ – ein bewegter Sprach- und Ereignisraum Ohne zu beanspruchen, Luthers Umgang mit „Gesetz“ umfassend zu charakterisieren, möchte ich drei Ergebnisse der Analyse zur Diskussion stellen, um dann einen kritischen Blick auf die neuere, auf Luther sich berufende Rede von „Gesetz“ zu richten. 1. „Gesetz“ bezeichnet primär ein Ereignis. – Das „Gesetz“, das Luther gegen die Antinomer verteidigt, ist die unbedingte Forderung Gottes, das Sünder ihres Unglaubens überführt und sie darin verdammt; von ihm gilt: lex semper accusans nos et mortificans. 103 Genau dies gibt die eingangs berührte Ikonographie Cranachs richtig wieder. Im Unterschied zu Melanchthon, aber noch mehr zu Agricola, sieht Luther dieses Gesetz auch außerhalb seiner Formulierung im ein- oder ausgeschriebenen Gesetz wirksam; auch Christus, obwohl nie Gesetzgeber, kann doch als elenchtisches Gesetz wirken, als überführende Anrede an den Sünder. Dieses wird, was es ‚ist‘, nicht schon durch seinen Gehalt, sondern durch sein Auftreten als unerfüllte und für den Sünder unerfüllbare Forderung. Obwohl als lex naturae allen Menschen gegenwärtig, muß es doch auch eigens verkündigt und gleichsam erweckt werden, um den gewöhnlichen Zustand zu beenden, daß es im zuhandenen Wissen stillgelegt wird. Das elenchtische Gesetz ist in Luthers Verständnis daher ein kommunikatives Ereignis. In diesem (aber nur in diesem) Sinne besteht eine Symmetrie im Kontrast von Gesetz und Evangelium: Auch das Evangelium ist Evangelium nur in seinem Zuspruch, ist hinreichend also erst als Ereignis beschrieben. Diese Klärungen Luthers vermochten die Position Agricolas, die sich ja aus wesentlichen Motiven der reformatorischen Buß- und Rechtfertigungstheologie speiste, dennoch eindeutig auszugrenzen. Agricola vertrat den anomistischen Aspekt der libertas Christiana – Luther geht, unter dem Titel „Evangelium“, damit nach wie vor noch einig. Aber er widerspricht der Ermäßigung des Kontrastes zwischen „Gesetz“ als Ereignis der göttlichen Forderung und „Evangelium“ als Ereignis der göttlichen Zusage. So wurde klar, was lange unklar war (und zwischen Luther und Melanchthon nicht letztlich geklärt wurde): was ‚Antinomismus‘ sei. Luther konnte an Agricola einen bestimmten Antinomismus identifizieren: die Verschiebung der Bußerfahrung aus der dramatischen „Realdialektik“ von Gesetz und Evangelium in eine pädagogische Teleologie des strafenden und tröstenden Evangeliums. Hiergegen profilierte Luther das elenchtische Gesetz als heils- und lebensgeschichtlich auftretenden Widersacher des Evangeliums. Er definiert daher nicht, sondern erzählt den heilsgeschichtlichen Umschlag von der Herrschaft des Gesetzes zu der des Evangeliums; eine oft variierte, bildreiche Erzählung, in der das Gesetz funktional definiert ist. 103
412, 2f.
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Die Unklarheit oder Widersprüchlichkeit, die Agricola an Luther monierte, hatte darin ihr Recht, daß Luther alle Gesetze inhaltlich auf die eine lex naturae bezieht. Aber Luther leitet keineswegs aus dieser naturrechtlichen Annahme zugleich die Möglichkeit verschiedener Widerfahrnisse von „Gesetz“ ab, sondern begründet diese in einer Binnenunterscheidung im Heiligen Geist – zweifellos wiederum eine extreme, freilich schon in De servo arbitrio (1525) vorgetragene Gottesrede. Im Blick auf „Gesetz“ entspricht dem der Widerspruch zwischen der Erwartung, das Gesetz werde dereinst ganz aufgehoben, und der, daß es ewig bestehen bleibe. Agricola mußte nicht so weit gehen; es genügte, der Kanzel das Evangelium (in weiterem Sinne) und dem Rathaus den geistlosen Dekalog zuzuweisen. Allerdings wurde damit die Unterscheidung von Glaube und frommer (Buß-)Leistung unsicher oder implizierte, wie Luther bemerkte, einen performativen Selbstwiderspruch; und Christus war das Ende des Gesetzes im Sinne eines vergangenen, mißlungenen Versuchs der Bußanleitung. Umgekehrt bekräftigte Luthers Argument aus der gubernatio politica die religiöse Autorität weltlicher Ordnung und die moralische Autorität des Predigtamtes, bekräftigte mithin die alteuropäische Überzeugung religio vinculum societatis. 2. „Gesetz“ bezeichnet einen komplexen Sprachraum. – Die Fokussierung der Thesen und Disputationen auf das elenchtische Gesetz hin ist extrem; sie erweckt fast den Eindruck, als gebe es nur dieses. Luther übergeht aber nicht, daß auch andere Ereignisse im christlichen Leben mit „Gesetz“ zu tun haben. Unter der Semantik „Gesetz“ spricht er ganz verschiedene Formen bzw. Erfahrungen des Willens Gottes an: lex terrens, lex civilis, lex vacua, lex iucunda, lex exhortans. Diese Mehrzahl von „Gesetz“ meint nicht einen triplex usus ‚des‘ Gesetzes; denn die verschiedenen Gesetze stehen nie im Verhältnis harmonischer oder auch nur linearer Ergänzung. Luther überführt die damit gegebene Komplexität, ja Paradoxalität der Rede von „Gesetz“ nicht in einen linearen Begründungs- oder Folgerungszusammenhang: Er artikuliert keinen selbsttragenden Begriff ‚des‘ Gesetzes. Seine Rede von „Gesetz“ beläßt es dabei, die so unterschiedlichen Ereignisse und Erfahrungen von „Gesetz“, die sensus legis, jeweils zu beschreiben, genauer: aus der Perspektive des erfüllten Gesetzes als scheiternd oder gelungen nachzuerzählen. Die in Luthers Predigten beobachtete „Text- und Situationsbestimmtheit“ 104 im Gebrauch des Ausdrucks „Gesetz“ trifft im Blick auf die lebensgeschichtliche und seelsorgerliche Situation auch auf die Antinomerdisputationen zu. „Gesetz“ wird nicht zum systematischen Oberbegriff (er sei axiomatisch oder synthetisch) für alle ‚Arten‘ von Gesetz, sondern bleibt der Name für einen nicht homogenen Sprachraum. Die dynamische 104
ANDREAS WÖHLE (Anm. 7), 207.
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Komplexität der Rede von „Gesetz“ 105 fällt jedoch nicht in Äquivokationen auseinander, weil der damit bezeichnete Erfahrungsraum konstituiert wird durch den ewigen Willen Gottes. Dieser Zeitraum liegt zwar nicht mehr als einer und ganzer offen am Tage, sondern wird von den heilsgeschichtlich differenzierten Wirkungen geradezu dementiert; gleichwohl wird er im Glauben an Christus anfangsweise wieder erkannt, weil der Gehalt der lex naturae 106 identisch ist mit der in Christus erfüllten Goldenen Regel – einer lex charitatis, die auch den Dekalog auf sich hin modifiziert. Es ist eine spezifisch christliche Perspektive, die den Zusammenhang der verschiedenen Gesetze erkennt; diese Perspektive erlaubt es aber nicht, den Zusammenhang der Orte, Zeiten und Erfahrungen ex ante in einer kausalen oder teleologischen Kette zu sichern, sondern stellt ihn dem Handeln Gottes anheim. Luther betrachtet das den Willen Gottes formulierende Gesetz als ein heilsgeschichtlich universales Datum, das für die Menschen auch außerhalb des Zuspruchs des Evangeliums gilt, das in anderer Weise aber auch im Reich Gottes bestehen bleibt, insofern „erfülltes Gesetz“ eine wesentliche Form der Gottesbeziehung darstellt. Die Orientierung an der lex naturae bedeutet hier, daß Sünde nicht bloß Verletzung von einzelnen Geboten durch Taten, sondern ein Widerspruch zur Geschöpflichkeit gottebenbildlicher Wesen ist. Denn ihnen ist erst die freie, selbstbestimmte Orientierung an Gottes Willen angemessen, und diese Bestimmung ist im Sünder als Unfreiheit realisiert. Gegen den antinomistischen, „epikuräischen“ Versuch, die normative Differenz von Ist und Soll in die Unmittelbarkeit des faktischen Selbstvollzugs hinein aufzulösen, beharrt Luther auf der Unausweichlichkeit des elenchtischen Gesetzes, das, seelsorgerlich richtig expliziert, akzeptiert werden kann und dann nicht mehr Hochmut oder Verzweiflung zur Folge hat, sondern sich als „Wohltat“ herausstellt. Luther geht also nicht den Weg von einem kontextlosen Gesetz zum Evangelium, sondern geht vom Zuspruch des Evangeliums zum elenchtischen (und zum politischen) Gesetz in ihrer Bedeutung für das Wirksamwerden des Evangeliums; die Annahme einer zeitlichen Priorität des Gesetzes vor dem Evangelium ist nur die halbe Wahrheit. Allerdings hält Luther den Versuch, mittels Erfüllung des göttlichen Gesetzes eigene Gerechtigkeit, d.h. ein eigenerzeugtes Verhältnis zu Gott zu etablieren, für eine „im 105
ANDREAS WÖHLE spricht von einem „oszillierenden Konzept der Theologie Luther (Anm. 7), 202ff.; das ist im Blick auf die produktive Rolle der Sprache in den Predigten angemessen, aber vielleicht doch weniger für die argumentative Sprache der Disputationen, wo es sich aber auch um ein „dynamisches Begriffsfeld“ handelt, ebd. 209. 106 Weil auch die lex naturae ein Datum des göttlichen Willens im Bezug auf die Menschheit ist, lehnt Luther die scholastische Annahme einer ihr zugrunde liegenden lex aeterna ab, vgl. ERNST WOLF, Zur Frage des Naturrechts bei Thomas von Aquin und Luther, in: DERS., Peregrinatio Bd. 1, München 1954, 183–213.
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Fleisch“ unvermeidliche Versuchung auch von Christen, die so die vis peccati ins Evangelium hineinziehen. Aber nicht nur für diese Fatalität ist „Gesetz“ notwendig, sondern auch für Christen, insofern ihnen eine lex iucunda begegnet – Gesetz, das ihnen den Rückfall in eigenerzeugte Unmittelbarkeit zu sich selbst und in die Illusion der verhaltensbegründeten Einheit mit Gott unmöglich macht. 107 3. Gesetz und Evangelium: eine okkasionelle Unterscheidung. – Wenn „Gesetz“ ein univokes Genus wäre, könnte man Luther vorwerfen, wie das im 20. Jahrhundert öfters geschehen ist, seine Rede von Gesetz und Evangelium sei ein dualistisches Quasi-Mythologem. 108 Luthers Ausdruck meint keinen Manichäismus, aber auch keine Synthese im Sinne eines konträren Gegensatzes zu jener Diastase. Die stattdessen oft gebrauchte Figur der Dialektik ist hier nicht ohne weiteres angemessen, weil auch sie einem synthetischen Begriff des Ganzen dienstbar sein kann. Aber Luther bezieht sich auf einen heils- und lebensgeschichtlichen Fortgang in der Perspektive des Glaubens, der den Dual von gesetzlichem Nein und evangelischem Ja nicht logisch, sondern hermeneutisch, d.h. dem Verstehen des Ersten Gebotes als notwendig und gut zuordnet. Dies reicht vom lebensbedrohlichen Gegensatz bis zur lebensförderlichen Konvergenz von Gesetz und Evangelium – nicht in abstracto, sondern je nach der Situation ihrer Wirksamkeit. Anders gesagt: die vollkommene Erfüllung des gesetzgeberischen Willens Gottes durch Christus ist die endzeitliche Erklärung und Überwindung der Destruktivität im Verhältnis von Gesetz und Evangelium seiner. Es ist daher fast falsch, wenn man stattdessen „Wort Gottes“ als Oberbegriff für „Gesetz“ und „Evangelium“ einsetzt. 109 Die semantische Verknüpfung von „Gesetz und Evangelium“ steht dafür, daß diese beiden Anreden Gottes immer „zugleich“ laut werden müssen, wie Buße und Vergebung der Sünden sich immer gemeinsam ereignen; und nur so „implizieren“ sie sich. Die im Glauben erfahrene Bewegung hebt das Gesetz im Evangelium auf und bringt es zum ursprünglichen Ziel, aber niemals hebt das Gesetz das Evangelium auf, als ob dieses im 107 Ähnlich argumentiert DIETRICH KORSCH, in: Luther Handbuch (Anm. 14), 94f. 355f. 380f.; vgl. auch DERS., Luther, ²2007, 88–102, bes. 91f., 94ff. 108 Gegen die Stilisierung einer marcionitisch-lutherischen Diastase und ihre konfessionsspaltende Bedeutung wandte sich jedoch schon ERNST WOLF, Art. Gesetz und Evangelium V., in: ³RGG (1958) 2, 1519–1526, hier 1525. 109 Vgl. DIETRICH KORSCH, in: Luther Handbuch (Anm. 7), 376; vgl. JÜRGEN M. SCHIPPER (Anm. 17), 84. Das schlüssigste Argument für das Bleiben des Gesetzes lautet daher: „Gott sucht die unmittelbare Gemeinschaft mit dem Menschen gerade dadurch, daß er alle Vermittlungsversuche des Menschen negiert. Für Gott gibt es, im Unterschied zu uns selbst, so etwas wie eine Teleologie zwischen Gesetz und Evangelium. Diese dokumentiert sich darin, daß das Leiden Christi der Weg ist, auf dem die Gottesgemeinschaft mit uns entsteht.“ DIETRICH KORSCH, ebd. 380f.
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Gesetz sein Ziel finden könnte. Dieses Gefälle zwischen Gesetz und Evangelium ist daher strikt an ihre Erfahrung, d.h. an das Sein in Christus gebunden; es handelt sich nicht um so etwas wie theologischen Prinzipien. Legitim ist die kategorial reflektierte Beschreibung des Weges der Buße, nicht aber eine aus Prinzipien begründete, suisuffiziente ‚Lehre‘ des Unterschieds von Gesetz und Evangelium. Luther gibt nicht vor, diesen Unterschied begrifflich zu methodisieren; er beschreibt eine je konkrete, okkasionelle Unterscheidung. 110 Die beiden Wörter kann man daher auffassen als „Chiffren“ für bibelhermeneutisch codierte lebensgeschichtliche Ereignisse; sie gerinnen bei Luther nicht zu „fixierten Begriffen“. 111 Auch in den argumentativen Antinomerdisputationen finden sich ‚nur‘ Nacherzählungen von widersprüchlichen und dennoch heilsam verbundenen Erfahrungen der „Erkenntnis Gottes und seiner selbst“. 4. Was heißt heute „Gesetz“? – Die vorgeschlagene Interpretation der Antinomerdisputationen Luthers spricht aus einer großen historischen Distanz. Seinerzeit haben die Disputationen die Spannungen in der ratio docendi articulum iustificationis nicht zureichend erklären und den Anlaß weiterer Kontroversen nicht beseitigen können. Mittelfristig konnte sich der latente Nomismus Melanchthons durchsetzen, der in seinem erweiterten Begriff des Evangeliums Agricola durchaus nahe stand. 112 Anders verhielt es sich mit der Annahme eines tertius usus legis – was einen gegenüber Luther deutlich veränderten, naturrechtlichen Gesetzesbegriff voraussetzte, der jene drei Funktionen als Spezies ‚des‘ göttlichen Gesetzes erscheinen ließ: des ewigen Sittengesetzes, das die unwandelbare Weisheit in Gott selbst ist und als ewige Regel der Gerechtigkeit in vernünftige Geschöpfe hinein „gebildet“ wurde. 113 So konnten bald Gnesiolutheraner (auf deren Seite sich Agricola stellte) und Philippisten, die eine auf Gesetzesübertretungen und eine auf den Unglauben bezogene Buße unterschieden, gegenseitig sich des „Antinomismus“ zeihen. 114
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Man kann sie daher „kairologisch“ nennen: OSWALD BAYER (Anm. 45), 23. So ALBRECHT PETERS (Anm. 13), 57. 112 PHILIPP MELANCHTHON, Examen ordinandorum (1552), StA VI, 186,31–187,12. 113 PHILIPP MELANCHTHON, Examen ordinando rum, StA 6, 184,37–185,3; Loci praecipui theologici (1559), StA II/I, 313–329; zum tertius usus 325,20–326,10; vgl. ALBRECHT PETERS (Anm. 9). 78ff. An der naturrechtlichen Fassung ‚des‘ Gesetzes hängt auch der tiefe Unterschied Melanchthons zu Calvins Figur des triplex usus bzw. des tertius usus (der ersten und wichtigsten Form des göttlichen Gesetzes), JOHANNES CALVIN , Institutio christianae religionis (1559), II,7,6. Vgl. ALBRECHT PETERS (Anm. 13), 89ff.; HERMAN J. SELDERHUIS, Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 394f. 114 Vgl. RUDOLF MAU, Art. Gesetz V. in: TRE 13, 1984, 86f; JOACHIM ROGGE (Anm. 2), 116. Zur Strittigkeit des tertius usus bis zur FC vgl. BENGT HÄGGLUND, Usus legis, Helsinki ²1981. 111
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Die Konkordienformel (1577) übernahm in Art. V nicht nur Melanchthons tertius usus legis und seine naturrechtliche Grundlegung des triplex usus ‚des‘ Gesetzes, sondern auch dessen erweiterten Begriff des Evangeliums als pastoral nützlich; sie vermeidet die Unwägbarkeiten der okkasionellen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Die „Gesetzstürmer“ hören, daß in der Buße das Evangelium zeitlich nach dem Gesetz wirksam werde, aber auch, daß diese zwei Predigten von Anfang der Welt her in der Kirche Gottes „nebeneinander je und allwege mit gebührendem Unterschied getrieben worden.“ 115 Art. VI sagt immerhin genauer als Melanchthon, daß die Frommen im Idealfall keiner Lehre über die richtigen guten Werke bedürften, daß sie in der gegebenen Lage aber vom Gesetz belehrt werden müssen, jedoch wiederum nie nur belehrt werden. Doch wird nochmals betont, daß die Werke des Gesetzes und die des Geistes ein und dasselbe weise, ins Herz der Menschen geschriebene Gesetz Gottes erfüllen; der Unterschied komme allein von den Menschen, die entweder noch sub lege oder als Wiedergeborene in lege leben. 116 Diese frühneuzeitliche Lösung der antinomistischen Herausforderung entzog sich latent nomistisch der Komplexität der Lutherschen Rede von „Gesetz“. Es gehört zu den ironischen Aspekten der Theologiegeschichte, daß auf lange Sicht sowohl Melanchthon als auch Agricola sich durchsetzen konnten. „In ihrer Verallgemeinerung des Evangeliums ist die Neuzeit antinomistisch, wird zugleich aber zunehmend nomistisch.“ 117 Diese Entwicklung rückt uns noch weiter von Luthers Gesetzesverständnis weg. Denn die lex naturae sive moralis war für Luthers Rede von „Gesetz“ nicht nur unverzichtbar, sondern auch fraglos; ihrer theo-ontologischen oder -kosmologischen Begründung verlustigt, wurde sie seit dem 17. Jahrhundert in rationales Naturrecht umgewandelt, dessen allgemeine Geltung durch die Universalität der Vernunft verbürgt schien. Plausibilität und Autorität dieses Vernunftrechtes waren nach wie vor absolut Kraft seines Gesetzgebers, der denn auch lange Zeit die noch an der göttlichen Weisheit partizipierende menschliche Vernunft war. 118 Dem entsprach ein antivoluntaristischer Gottesbegriff, dem zufolge der allmächtige Wille Gottes ausschließlich ein Instrument der göttlichen Weisheit ist. Er hatte eine Entgrenzung des heilsgeschichtlich kontingenten (und nun auch historisch fernen) Evange115
FC, Solida declaratio, Art. V, BSLK 951–961; zit. 959,33–960,1 FC, Solida declaratio, Art. VI: BSLK 962–969, hier 966,31–967,37; vgl. WERNER E LERT (Anm. 49), 163ff.; GUNTHER WENZ, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche , Bd. 2, Berlin / New York 1998, 623–644; KARL-HEINZ ZUR MÜHLEN in: Luther Handbuch (Anm. 7), 462f. 469f. 117 OSWALD BAYER (Anm. 45), 29. 118 Ein Überblick bei WALTER SPARN, Art. Gesetz IV. Dogmatisch und ethisch, in: RGG4 3 (2000), 850–854.; vgl. auch RUDOLF M AU (Anm. 114), 98–107; DIETRICH KORSCH, Dogmatik im Grundriß, Tübingen 2000, 121f. 116
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liums zur Folge: Gott ist wesentlich und ausschließlich Liebe. 119 Diese Liebe erhebt keine Forderung an Menschen außer der Selbstgesetzgebung freier Vernunftwesen, der allzeit liebende göttliche Philanthrop entbrennt nicht in tödlichem Zorn. Bei den endlichen Vernunftwesen treten an die Stelle von Furcht und Schrecken daher Selbstkritik und Mitleid mit denen, die im Widerstreit von guten und bösen Motiven des Herzens irren oder scheitern. 120 Gegen die paradoxe Überlagerung von Nomismus und Antinomismus hat die Theologie des 20. Jahrhunderts leidenschaftlich für die Erneuerung der Lutherschen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium plädiert. In ihren eigenen Versuchen hat sie allerdings weder die im 16. Jahrhundert nicht wirklich gelösten Probleme des Gesetzesbegriffes noch den modernen Begriff des Gesetzes bzw. des Naturrechts genügend in Betracht gezogen. Der Streit zwischen „Gesetz und Evangelium“ und „Evangelium und Gesetz“ blieb nicht zuletzt darum fruchtlos, weil ein historisch und systematisch unklarer Gesetzesbegriff verwickelt wurde in eine Alternative von Offenbarungstheologie und natürlicher Theologie, so daß die Beziehung von „offenbartem Gesetz“ und „immer schon gegebenem Gesetz“ und dessen Bedeutung nicht mehr diskutierbar war. Aber auch heute wird ein „faktisches Prius“ des Sünderseins vor dem begegnenden Evangelium, mit der Lutherschen These lex iam adest begründet, während das im Dekalog promulgierte Gesetz eine „Evangeliumspräambel“ habe, so daß das Evangelium die sachliche und logische Voraussetzung des Gesetzes sei. 121 Worin besteht aber jenes immer schon gegenwärtige „Gesetz“, wenn das Wort mehr besagen soll als das Pathos eines ultimate concern? Dogmatisch und ethisch gescheitert ist der Versuch Werner Elerts, die Wucht der Lutherschen Rede vom elenchtischen Gesetz auf die mit sinnlos herrischem Schicksal konfrontierende „Wirklichkeitserfahrung“ auszudehnen und diese als tödliche „Gesetzeserfahrung“ zu interpretieren. Diese Verallgemeinerung reduzierte die Luthersche Komplexität von „Gesetz“ auf eine dualistische „Realdialektik“ und erforderte weltanschauliche Voraussetzungen, die theologisch nicht bewahrheitet werden können. 122 Die119
Folgenreich etabliert hat diesen Gottesbegriff, mit einer Vorgeschichte in der lutherischen Erwählungslehre, G.W. Leibniz’ Theodizee, vgl. WALTER SPARN in, Grundriß der Geschichte der Philosophie, 17. Jahrhundert, Bd. 4, 1079–1090; WILHELM SCHMIDT BIGGEMANN, ebd. 1069–1075. 120 Ein schönes Beispiel dafür ist das neue Konzept der Tragödie, das Gotthold Ephraim Lessing entwickelte, vgl. MONIKA FICK, Lessing-Handbuch, Stuttgart 2000, 135ff. 121 OSWALD BAYER (Anm. 45), 56f., 205; „Indem das Gesetz den Unglauben zur Erfahrung bringt, setzt es sachlich und logisch den Glauben und das Evangelium voraus“, ebd. 57. Was heißt „sachlich und logisch“? 122 WERNER E LERT, Gesetz und Evangelium (1948), in: DERS., Zwischen Gnade und Ungnade, München 1948, 132–169; DERS., Der christliche Glaube, Hamburg 51960, § 21.
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ser Versuch ist allerdings nach wie vor lehrreich, nicht anders der alternative Versuch Karl Barths, die Kategorie des Gesetzes zu gewinnen aus dem Evangelium, verstanden als die freie Selbstbestimmung Gottes für seine Geschöpfe, den mit ihrer Erwählung auch Gottes Gebot widerfährt. 123 Denn beide Versuche nötigen die Frage auf, welche Gestalten der fordernden Anrede Gottes an seine Geschöpfe theologisch namhaft gemacht werden können, wie vor allem die in ihrer einstigen Form nicht mehr plausible Figur der lex naturae theologisch rekonstruiert werden kann. Viel Lob auf Luthers Lehre von Gesetz und Evangelium ist deshalb so wenig überzeugend, weil es die entscheidende Frage nach der lex aeterna nicht einmal stellt. 124 Diese Frage wird nicht dadurch schon gegenstandslos, daß die evangelische Theologie die ontologische Fassung des Naturrechts, an der das römisch-katholische Lehramt nach wie vor festhält, gern unter den Verdacht des Naturalismus stellt; denn dieses Naturrecht liegt vielen Verlautbarungen evangelischer Kirchen als fundamentalethisches Muster zugrunde.125 Und fast aufdringlich wird die Frage angesichts der religions- und kulturhermeneutischen Befunde zur Universalität von Normativität als „Gesetz“ – besagt dies Ähnliches wie Luthers lex iam adest? Wenn man theologisch davon ausgeht, daß „Gesetz“, wie „Evangelium“, als Anrede wirkt, dann kann diese Kategorie nicht über die Konstruktion eines ontologischen Naturrechts entwickelt werden. 126 Sie ist zu induzieren nur in dem Raum und der Zeit, wo sich strukturelle Gegebenheiten und konkrete Anrede treffen und als ‚Ort‘ strukturieren. Ein solcher Ort ist die menschliche Person in ihrem temporalen Dasein als wechselseitiger, doch nie ausgewogener Prozeß der Ansprüche aus sich selbst mit denen an sie selbst. Die Kategorie Vgl. dagegen GERHARD E BELING, Luthers Wirklichkeitsverständnis, in: DERS., Wort und Glaube Bd. 4, Tübingen 1995, 460–475; MICHAEL ROTH, Zwischen Erlösungshoffnung und Schicksalserfahrung. Das Grundanliegen der Theologie Werner Elerts, Aachen 1997, 40–76. 123 Darin, daß er die Anklage nicht als wesentliches Element des Gesetzes auffaßt, sondern als akzidentelle Folge menschlichen Mißbrauchs, steht Karl Barth Luther sehr fern und dem latenten Nomismus des 16. Jahrhunderts erstaunlich nahe. Vgl. MICHAEL ROTH, Lex semper accusat, in: HANS CHRISTIAN KNUTH (Hg.), Angeklagt und anerkannt. Luthers Rechtfertigungslehre in gegenwärtige Verantwortung (Luther-Akademie, Bd. 6) Erlangen 2009, 109–132, bes. 114f. 124 Vgl. aber E ILERT HERMS, Kosmologische Aspekte des Gesetzesbegriffs, in: DERS., Offenbarung und Glaube, Tübingen 1992, 408–430. 125 Zur Kritik vgl. MICHAEL ROTH, Protestantische Ethik als Explikation der Ethosgestalt des Glaubens? Thesen zur fundamentalethischen Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, in: Luther 76 (2005), 215–229. 126 „Darum bleibt der Versuch, die Kategorie Gesetz über die Konstruktion eines Naturrechts absichern zu wollen, ebenso untauglich wie eine Verobjektivierung des Evangeliums, selbst wenn diese sich der Christologie als Grundlage bedienen wollte“: DIETRICH KORSCH in: Luther Handbuch (Anm. 7), 95.
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„Gesetz“ kann in ihrer von Luther gemeinten Vielschichtigkeit entwickelt werden aus der Selbstreflexion von Personen im Blick auf die Ansprüche auf Anerkennung von innen und von außen, Ansprüche, die sich in ihrer Lebensführung treffen und dieser ihre ambivalente Dynamik verleihen – einer Selbstreflexion, die aber ihrerseits ein Moment dieses Prozesses bildet. Dann kann man die Frage stellen, ob solche „unabweisbaren Zumutungen“ als „Gesetz des Daseins“ gelten können, das im Christusglauben und seiner Sicht auf Ursprung und Ziel des Geschöpfes als verschiedene Gestalten der Anrede Gottes erkannt und angenommen werden kann. 127 Man könnte solche Zumutungen genauer in den Phänomenen des durch leibhaftes und weltgebundenes Handeln, seiner Bedingungen und impliziten Regeln namhaft machen; zumal der subjektivitätstheoretische Aufweis der „immanent antagonistische(n) Struktur“ des Selbst und der Inkonsequenz der „faktischen Lebensführung“ dürfte ein gutes Äquivalent zu Luthers Annahme lex naturae darstellen. Ja, in der „Redeweise des sich selbst deutenden Ich“ lassen sich die zwei Lutherschen usus legis identifizieren, und der tertius usus ließe sich der Ambition eines Vervollkommnungsmodell entkleiden und beschränken auf die von Luther gegebene Beschreibung des spezifisch christlichen Lebens als Erfüllung des Gesetzes „in seinem eigentlichen Gelingenssinn“. 128 Das wäre ganz im Sinne der „Freude am Gesetz“, die Luther trotz seiner anti-antinomistischen Fokussierung auf das elenchtische Gesetz nicht vergessen hat.
127
EILERT HERMS, in: Luther Handbuch (Anm. 7), 428–435, zit. 428.430. DIETRICH KORSCH, Dogmatik (Anm. 118), 76ff. 121ff.; zit. VI. 122; DERS., Luther (Anm. 66), 88ff., zit. 92. Die Zuordnung der „Gelingensrichtung“ in den Strukturen der human unvermeidlichen Praxissituationen zum ersten Sinn des Gesetzes (usus politicus) und der kategorialen Unvermittelbarkeit von Regel (Sollen) und Handlung zur „Erinnerung ans faktische Mißlingen“ (usus elenchticus), ebd. 122f., bedarf der weiteren Ausarbeitung zumal im Hinblick darauf, daß das Gesetz dem Sünder nicht nur die „unaufhebbare Zweideutigkeit“ seiner Existenz, sondern auch die ‚Unmöglichkeit‘ seiner Existenz aufdeckt, daß das vom Evangelium abgetrennte „Gesetz“ also, theoretisch gesehen, ein aporetischer Begriff ist. 128
Fremde Sünde Zur Theologie von Luthers späten Judenschriften Anselm Schubert I Die Auseinandersetzung mit Luthers späten Judenschriften ist auch im wissenschaftlichen Diskurs eine heikle Angelegenheit: gerade eine vermeintlich „rein historische“ Perspektive auf diese Texte steht in der Gefahr, die politische Dimension der Aktualisierung zu verkennen, die jede Beschäftigung mit ihnen immer auch bedeutet. Dennoch gilt, daß wir auch Luthers späte Judenschriften nicht verstehen können, wenn wir nicht zumindest versuchen, sie zunächst als das zu nehmen, was sie eigener Aussage nach in ihrem historischen Kontext sein wollen: theologische Traktate zur Stärkung des Glaubens der Christen. 1 Es hat lange gedauert, bis sich diese Einsicht in der Forschung durchgesetzt hat. Der wohl wichtigste Beitrag dazu kam 1968 von Wilhelm Maurer, der gezeigt hat, daß sowohl die vermeintlich positiven Äußerungen des frühen als auch die Ausfälle des späten Luther ihre theologische Wurzel in Luthers Schriftverständnis haben, in dem „die Juden“ die typologische, überzeitliche Repräsentation der inimici Dei et Christi schlechthin sind. 2 Luthers Judenfeindschaft gehört demnach fatalerweise konstitutiv zu seinem heilsgeschichtlichen Konzept von Verheißung, Rechtfertigung und Erlösung dazu. 3 Soweit ich sehe, ist dies ungeachtet aller Debatten um Kon1
Darauf hat erst kürzlich wieder KENNTH HAGEN, Luther’s so-called ‚Judenschriften‘. A Genre Approach, in: ARG 90 (1999), 130–158, hingewiesen, der zeigt, daß von einem eigenen Genre „Judenschriften“ bei Luther weder theoretisch noch praktisch die Rede sein kann. Im Folgenden soll der Begriff dennoch weiterhin verwendet werden, um die späten Texte Luthers in ihrer Gesamtheit benennen zu können, ohne damit jedoch Gattungsspezifika zu implizieren. 2 WILHELM MAURER, Die Zeit der Reformation, in: KARL HEINRICH RENGSTORF / SIEGFRIED VON KORTZFLEISCH (Hgg.), Kirche und Synangoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen, 2. Bde., Stuttgart 1968, ebd., Bd. 1, 363–452. 3 Vgl. ebd., 375–388.
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tinuität und Wandel, Apokalyptik oder Tradition, Quellen und literarische Abhängigkeiten in Luthers Judenschriften nach wie vor der unbestrittene Ausgangspunkt aller weiteren Forschung. 4 Allerdings haben weder Maurer noch die spätere Forschung diese These für späten Judenschriften überprüft. Die Forschung scheint vielmehr davon auszugehen, daß sie in ihrer grobianischen Polemik und ihrer abstoßenden Rhetorik keine eigentlich theologisch ernst zu nehmende Argumentation aufweisen können. 5 Gerade deshalb aber soll im Folgenden eine solche Rekonstruktion der impliziten und expliziten Theologie der späten Judenschriften am Beispiel der berühmtesten unter ihnen, der Schrift „Von den Jüden und ihre Lügen“, versucht werden. Dabei, und das ist die erste These des vorliegenden Beitrages, zeigt sich schnell, daß gerade diese Schrift keineswegs der irrationale Ausbruch spätmittelalterlichen Judenhasses ist, als der sie in der Forschung weitenteils nach wie vor gilt, 6 sondern im Motiv der ‚Mitschuld an fremder Sünde‘
4 Einen verdienstvollen Überblick über die Forschung bis ca. 1970 bietet JOHANNES BROSSEDER, Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten (BöTh 8), München 1972; die neueste Literatur findet sich denkbar vollständig aufgelistet in PETER VON DER OSTEN -SACKEN , Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas ‚Der ganz Jüdisch glaub‘ (1530/31), Stuttgart 2002, T HOMAS KAUFMANN, Luthers ‚Judenschriften‘ in ihren historischen Kontexten (=Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse 6), Göttingen 2005, und DEAN PH. BELL / STEPHEN G. BURNETT (Hgg.), Jews, Judaism and the Reformation in Sixteenth-Century Germany (= SCEH 37), Leiden 2006. Eine lange Zeit dominante Perspektive hat HEIKO A. OBERMAN, Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus udn Reformation, Berlin 1981, vertreten, der ähnlich wie MARK U. E DWARDS, Luther’s last Battles, Leiden 1983, Luthers Judenschriften als Antwort auf die apokalyptische Naherwartung deutete, angesichts derer noch einmal alle Feinde des Evangeliums verworfen werden müssen. Daß sich Luthers Bild von den Juden wohl dennoch vor allem seinen theologischen Prämissen und der spätmittelalterlichen adversus-judaeos-Literatur verdankt, hat Osten-Sacken, ebd., 47–161 sehr eingehend anhand aller von Luther überlieferten Äußerungen belegt. Kaufmann zeigt überdies die Verflechtung von Luthers Judenschriften in die bewegte zeitgenössische christliche Publizistik und versteht sie als Antwort auf in der Reformation selbst aufbrechende Divergenzen im Schriftverständnis. 5 Das zeigen etwa die Studien von OSTEN-SACKEN, wie Anm. 4 und KAUFMANN, wie Anm. 4, die auf eine eigene inhaltliche Analyse der Schrift erstaunlicherweise verzichten. Auch die ältere Forschung seit Lewin hat sich, mit der verdienstvollen Ausnahme Maurers, fast ausschließlich auf die Schlußpassagen des Textes konzentriert und diese dann ebenso fast ausschließlich unter der Perspektive der persönlichen Einstellung des Autors zu seinem Gegenstand betrachtet. Die Frage nach der theologischen Aussage unterblieb bislang, sei es aus Gründen der moralischen und theologischen Ablehnung des Textes oder im Gegenteil der kritiklosen Affirmation. 6 So noch OSTEN-SACKEN, wie Anm. 4, 230 und 292; überaus wirkmächtig bei OBERMAN, Wurzeln, wie Anm. 4, 152; MORDECHAI BREUER, Das jüdische Mittelalter, in:
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eine organisierende logische Mitte besitzt. 7 Dieses Motiv bildet nicht nur die Grundlage für die berüchtigten Ratschläge der „scharffen barmherzigkeit“, sondern bestimmt seit 1543 auch alle weiteren Äußerungen Luthers zu den Juden. Seine historische Genese und theologische Bedeutung zu rekonstruieren, dürfte für ein sachgemäßes Verständnis der späten Judenschriften deshalb von zentraler Wichtigkeit sein. Die zweite These des vorliegenden Beitrags lautet, daß dieses Motiv entgegen seiner Funktionalisierung in der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ allerdings kein genuin theologisches ist, sondern aus dem zeitgenössischen juristischen Diskurs entlehnt ist. Damit aber stellt sich die Frage nach der theologischen Bedeutung und der Absicht von Luther späten Judenschriften ganz neu. Es ist weder möglich noch notwendig, eine vollständige argumentative Analyse der Schrift Luthers zu bieten. Es soll im Folgenden nur versucht werden, die Binnenlogik der ihr zugrundeliegenden theologischen Struktur zu rekonstruieren, um dann in einem zweiten Schritt die beiden zentralen theologischen Probleme in den Blick zu nehmen.
II Die Schrift selbst zerfällt in vier Teile. In der knappen Einleitung erläutert Luther ihren Zweck. Für ihn versteht es sich von selbst, daß sie sich nicht an die Juden richtet, da diese zu bekehren umöglich sei. 8 Vielmehr soll sie dazu dienen, „unseren“ Glauben zu stärken. 9 Dies sei, so Luther, notwendig vor allem deshalb, weil die Juden in den letzten Jahren begonnen hätten, unter den Christen zu missionieren und sie zu ihrem Glauben hinüberzuziehen. 10 Als Hauptziel seiner Schrift gibt Luther daher den Nachweis DERS. / MICHAEL GRAETZ (Hgg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit Bd. 1: 1600–1780, München 2000, 71f. 7 Das Motiv ist in der Forschung bislang nur von OBERMAN, Wurzeln, wie Anm. 4, 161f., und von OSTEN-SACKEN, wie Anm. 4, 137, Anm. 640, bemerkt worden; während Obermans Vermutung, hier werde auf Straftaten der Juden angespielt, abwegig ist, hat Osten-Sacken, ebd., zutreffend den weiteren Rahmen der Gesetzgebung wider die Gotteslästerung im Blick, geht seiner Herkunft und theologischen Tragweite aber nicht weiter nach. 8 Vgl. WA 53,417,24. 9 Vgl. ebd., 419,16. 10 MAURER, wie Anm. 2, 399, nimmt dies noch als historische Tatsache an und exkulpiert damit Luthers dramatische Äußerungen zumindest teilweise. MARTIN ROTHKEGEL, Die Sabbather – Materialien und Überlegungen zur Sabbatobservanz im mährischen Täufertum, in: ROLF DECOT / MATTHIEU ARNOLD (Hgg.), Christen und Juden im Reformationszeitalter (=VIEG 72), Mainz 2006, 59–76, kann aber nachweisen, daß es für einen tatsächlichen jüdischen Einfluß keinerlei Hinweise gibt. KAUFMANN, Judenschrif-
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an, daß es für einen Christen sowohl ‚närrisch‘ als auch gefährlich sei, zum Judentum überzutreten. 11 Dies vor allem, weil auf den Juden in ihrem „Elend [sc. Exil A.S.] und jamer“ 12 erkennbar der ewige Zorn Gottes liege. Dabei seien es die Lügen und Irrtümer der Juden wider Gott, die das Exil als ewige Strafe über sie heraufbeschworen haben. 13 Diese These begründet nicht nur den Titel der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“, sondern stellt die Grundannahme der gesamten weiteren Argumentation dar. 14 Die Juden selbst können nicht erkennen, daß das Exil die Strafe für ihre Irttümer ist, da ihnen Vernunft und Verstand fehlen. 15 Von daher erscheint es zwangsläufig, daß Luther mit seiner Schrift allein „die Christen gewarnet haben [will], sich vor den Jüden zu hüten!“ 16 Im ersten Hauptteil bekämpft Luther in einer Reihe von Einzelexegesen den vermeintlich Hochmut der Juden gegenüber den Christen, der sich auf ihre Abstammung von den Patriarchen (419–428), das Zeichen der Beschneidung (427–439), das gottgegebene Gesetz (439–446) und das verheißene Land Kanaan (446–447) gründe. Die exegetischen Argumente, die Luther gegen das Selbstrühmen der Juden vorbringt, scheinen sich dabei vor allem seinen literarischen Vorlagen zu verdanken. 17
ten, wie Anm. 1, 537ff., hat dafür plädiert, SEBASTIAN MÜNSTERS, הויכוחVikkuach Christiani Hominis cum Iudæo [...], Basel 1539, als Anlaß von Luthers Polemik anzunehmen. Eine genauere Analyse der Argumente steht allerdings noch aus, überdies bliebe zu erklären, warum Luther erst auf die zweite Auflage reagiert, denn der Text war bereits 1529 in einer ersten Auflage erschienen (vgl. BURNETT , STEPHEN G., A Dialogue of the Deaf. Hebrew Pedagogy and Anti-Jewish Polemic in Sebastian Münsters Messiahs of the Christians and the Jews (1529/39), in: ARG 91, 2000, 168–190). 11 WA 53, 417,9. 12 Ebd., 417,10. 13 Vgl. ebd., 418,3. 14 Bezeichnenderweise führt Luther keinen Schriftbeweis an, sondern verankert sein Hauptargument in der Gotteslehre (vgl. ebd., 418,15ff.): „Denn solcher grausamer zorn Gottes zeigt alzu gnug an, das sie gewislich müssen irren und unrecht faren, solchs mag ein Kind wol greiffen. Denn so greulich mus man nicht von Gott halten, das er solt sein eigen Volck so lange, so grewlich, so unbarmherzig straffen und dazu stil schweigen, weder mit worten noch wercken trösten, kein zeit noch ende stimmen. Wer wolt an einen solchen Gott gleuben, hoffen oder jn Lieben?“ 15 Vgl. ebd., 419,5. 16 Ebd., 417,8f. 17 OSTEN-SACKEN, wie Anm. 4, 40–42, geht davon aus, daß die Argumente vor allem aus der spätmittelalterlichen Tradition von Lyra und Salviagus Porchetus übernommen wurden, ohne eine genaue Analyse zu unternehmen. Auffällig ist aber, daß sich „Doctor iohanns Reuchlins tütsch missive, warumb die Juden so lang im ellend sind“ von 1505 wie eine abbreviaturische Vorwegnahme der lutherschen Argumentation in der Sabbaterschrift und der Lügenschrift liest; vgl. dazu auch GUIDO KISCH, Zasius und Reuchlin.
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Für unsere Fragestellung wichtiger ist, daß Luther in einer Reihe von eingeschalteten Exkursen die Implikationen seines Grundaxioms entfaltet und darlegt, warum die Lügen der Juden Gottes Zorn auf sie herabziehen. Für Menschen kann der Selbstruhm der Juden angesichts ihres elenden Lebens im Exil nur eine „Torheit“ sein, vor Gott aber wird der Selbstruhm zur schweren Sünde. 18 Nicht nur, daß sich der Mensch ganz allgemein vor Gott nicht rühmen soll, die Juden rufen den besonderen Zorn Gottes auf sich herab, weil sie sich für ihren vermeintlichen Ruhm fälschlicherweise auf die Schrift berufen und diese damit lügnerisch verdrehen. Gerade dies „mehret und heuffet imer fort Gottes Zorn uber sie“, 19 „[d]enn was thut solch teufflisch, hoffertig gebet anders, denn das es Gott in seinem wort lügenstrafft“. 20 Damit ist das theologische Stichwort gefallen, das von nun an in immer neuen Variationen den weiteren Text durchzieht. 21 Dabei ist das auf 1. Joh. 5,10 zurückgehende Motiv, Gott zum Lügner zu machen, christologisch determiniert. 22 Auch für Luther steht fest, daß die Juden sich zwar äußerlich nur gegen die christliche Interpretation der Schrift wehren, ihre eigentliche Lüge aber, das titelgebende prw,ton yeu/doj, besteht in ihrer Ablehnung des Vaters im Sohn: Bei der Polemik gegen das jüdische Schriftverständnis setzt Luther solche „Marterung“ der Schrift explizit mit der Marterung und Kreuzigung Gottes in seinem Sohn gleich. 23 Die schriftwidrige Ablehnung des Vaters im Sohn fordert den Zorn Gottes heraus, den sich Luther als ewig und unstillbar denkt. 24 Vor diesem Hintergrund wird Eine rechtsgeschichtlich-vergleichende Studie zum Toleranzproblem im 16. Jahrhundert (= Pforzheimer Reuchlinschriften 1), Stuttgart 1961, 17–21. 18 Vgl. WA 53, 432, 23ff. 19 WA ebd., 427,16 und 432,26f. Als angemessene Strafe erscheint Luther dafür Blitz und Donner von oben und Schwefel und Höllenfeuer von unten (vgl. 422,33). 20 Ebd., 422,14. 21 Vgl. die argumentativ wichtigsten Stellen mit dem Motiv ebd., 424,1; 427,11; 434,21–29; 435,35; 439,19; 449,5; 471,37; 488,19; 498,23; 501,37; 517,30; 541,10. 22 Vgl. 1. Joh. 5,10: „[...] qui credit in filio Dei habet testimonium Dei in se, qui non credit Filio mendacem facit eum“, in der deutschen Übersetzung bei Luther wird die Formulierung zum im heutigen Deutsch gegensinnigen „ihn Lügen zu strafen“ (vgl. die Nachweise in Anm. 21). 23 Vgl. WA 53, 439,1–13: „Man sehe an, wer venunfft hat (wil Christlichs verstands schweigen) wie gar mutwilliglich sie der Propheten Bücher mit jren verzweifelten glosen verkeren und martern wider jr eigen gewissen [...], Denn nu sie die Propheten nicht mehr können leiblich oder personlich steinigen und tödten, So martern sie doch die selbigen geistlich, zu reissen, zu würgen, zu placken jre schönen Sprüche [...]. Darnach, Wenn sie Gott in seinem Wort also zergeischelt, gecreutzigt, verspeiet, gelestert und verflucht haben, wie Esaias viii. weissagt, Komen sie daher getrollet mit jrer Beschneittung und andern ledigen, lesterlichen, eertichten nichtigen werken [...].“ 24 Vgl. die Formulierungen „unleschlich fewr göttlichs zorns“ (WA 53,522,33) sowie 535,29 und 536,16ff.
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erneut deutlich, warum Luther die Christen vor dem Judentum warnt: „Darum hüt dich, lieber Christ fur solchen verdampten, verzweifelten Volck, bey welchen du nichts lernen kanst, denn Gott und sein Wort lügenstraffen [...]“. 25 Im zweiten Hauptteil widmet sich Luther in einer Reihe von Einzelexegesen der Widerlegung der Lügen wider „Lere oder Glauben“, 26 d.h. der jüdischen Ablehnung der interpretatio christiana der alttestamentlichen Messiasweissagungen (Gen. 49,10 [450ff.]; 2. Sam. 23,2 [462ff.]; Jer. 33,17–26 [469ff.]; Hagg. 2,6–9 [476ff.]; Dan. 9,24 [492ff.]) und den Lästerungen wider die Personen, d.h. Christus (513ff.), Maria (516ff.) und die Christen allgemein (519ff.). Auch hier ist der Skopos der Einzelexegesen stets, die besondere Verworfenheit der Juden zeige sich darin, daß sie mit ihren Schriftauslegungen die offenbare Wahrheit Gottes verdrehten und Gott zum Lügner machten. 27 Das fortgesetzte Lügen und Lästern der zeitgenössischen Juden stellt sich dabei als Folge der heilsgeschichtlichen Verstockung dar, mit der Gott die Juden für ihre einstige Ablehnung des Sohnes bestraft. 28 Die besondere Tragik besteht deshalb darin, daß die Juden aufgrund ihrer Verstockung nicht mehr anders können denn lästern und lügen, und also selbst den Zorn Gottes über sich immer weiter verlängern. 29 Dies alles, so resümiert Luther im abschließenden Teil der Schrift, zeige, „was die gewinnen, so Christum und seinen Christen fluchen und feind sind.“ 30 Daran schließen sich konkrete Handlungsanweisungen für den Umgang mit den Juden an. In diesem Kontext gibt Luther den bekannten „trewen rat“, man solle die Synagogen der Juden verbrennen, sie selbst 25
Ebd., 439,18. Ebd., 511,24. 27 Vgl. etwa ebd. 449,5; 449,24; 450,19; 456,16; 471,37; 479,31; 488,19; 498,23; 511,25ff.; 517,30. Besonders drastisch wird dies bei den vermeintlichen Lästerungen der Juden wider die Jungfräulichkeit Mariens herausgestellt (vgl. ebd., 517,17–30) und damit bei eben dem dogmatischen Topos, der den Anlaß zur Abfassung der ersten Judenschrift von 1523 dargestellt hatte (vgl. KAUFMANN, Judenschriften, wie Anm. 4, 510ff.). 28 Vgl. WA 53,517,24ff.: „Wolan, das mag ein Zorn Gottes heissen, der da schrecklich ist, nemlich in solche grundlose, Teuflische, hellische, rasende bosheit, Neid und hoffart fallen lassen.“ (vgl. auch 518,13f.). 29 Vgl. ebd., 517,26ff.: „Wenn ich solt mich am Teufel selbs rechen, wüst ich jm solch ubel und unglück nicht zu wündschen, damit die Jüden durch Gottes zorn geplagt sind, das sie müssen wieder jr eigen gewissen so schendlich liegen und lestern. Wolan, sie haben jren lohn dafur, das Gott jmer hat müssen jr Lügener sein.“ Es wäre zu überlegen, ob hier die Vorstellung einer spiegelnden Strafe zugrundeliegt, nach der der Straftäter durch den Vollzug seines eigenen Verbrechens bestraft wird, in diesem Fall also zum fortgesetzten Lügen und Lästern; zum Konzept der spiegelnden Strafe vgl. RICHARD VAN DÜLMEN, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 1985. 30 WA 53, 522,22f. 26
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in Ställen halten statt in Häusern wohnen lassen, den Talmud sowie das Lehren der Rabbiner verbieten, den Juden das freie Geleit aufkündigen, ihre Besitztümer beschlagnahmen und die Jüngeren unter ihnen zur Sklavenarbeit zwingen: 31 Der unmittelbare Zweck all dieser Maßnahmen ist dabei, die Juden davon abzuhalten, weiterhin in der Öffentlichkeit Gott und seine Wahrheit zu lästern. 32 Dies dient jedoch keineswegs dazu, die Juden vor weiterer Versündigung gegen Gott zu retten 33 – das ist aufgrund ihrer Verstockung nicht möglich. Das eigentliche Ziel besteht darin, die Christen zu schützen, denn diese stehen in der Gefahr – wie Luther nun erstmals explizit sagt – der Lügen, Flüche und Lästerungen der Juden „teilhafftig“ 34 zu werden und so den Zorn Gottes auch auf sich zu ziehen: 35 „Darumb wir Christen dagegen schüldig sind, jr mutwilligs und wissentlich lestern nicht zu leiden, wie gesagt ist: Wer den Son hasset, der hasset den Vater. Denn wo wirs leiden, das sie solchs thun an dem ort, des wir mechtig sind, und sie dazu schützen und handhaben, So sind wir mit jnen ewiglich verdampt umb jrer, als frembden, sünden und lesterung willen, ob wir gleich fur unser person so heilig sein kündten, als die Propheten, Apostel oder Engel, Quia faciens et consentiens pari Poena [...].“36
Damit aber wird die Argumentation um ein zentrales Motiv erweitert. Ging es bislang darum, die Christen davor zu warnen, sich den Juden aktiv anzuschließen, um nicht dadurch den Zorn Gottes auf sich zu ziehen, kann nun bereits die passive Duldung der Juden den ewigen Zorn Gottes über die Christen bringen. 37 Da ein heimliches Lästern der verstockten Juden durch die genannten Maßnahmen aber nicht unterbunden werden kann (und überdies zu befürchten steht, daß die Sklavenarbeit die Juden gegen die Christen aufwiegeln wird 38), rät Luther in letzter Konsequenz zur Vertreibung der Juden. Nur so könne schließlich verhindert werden, der Sünden der Juden „teilhaftig“ zu werden und den Zorn Gottes auf sich zu ziehen. 39 Luthers Bekämpfung der „Juden und ihren Lügen“ vollzieht sich demnach auf einer doppelten Ebene: inhaltlich wird die Schriftauslegung der Juden als schriftwidrige Lüge denunziert; auf einer eschatologischen Ebene aber wird diese Lüge als Lüge wider Gott selbst und insofern als Grund und Manifestation des ewigen Zorns Gottes gedeutet. Da niemand den 31
Vgl. ebd., 523–526 und nochmals 536–537. Vgl. ebd., 523,5f. 33 Vgl. ebd., 522,33f. 34 Ebd., 522,33. 35 Vgl. ebd., 522,29–37. 36 Ebd., 535,25–33. 37 Vgl. erstmals ebd., 522,16.32; dann 523,5ff.; 524,13; 527,19.27.32; 531,22ff.; 532,4ff.; 535,29; 538,9; 542,2f. und öfter. 38 Vgl. ebd., 526,10–16. 39 Vgl. ebd. 538,9 und 542,2. 32
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Zorn Gottes über die Juden teilen wollen kann, ist es ebenso närrisch wie gefährlich, sich dem Judentum anzuschließen. 40 Im Schlußteil seiner Schrift verschärft Luther diese These dahingehend, daß bereits die Duldung der Juden die Christen ihrer Sünde teilhaftig mache und den Zorn Gottes heraufbeschwöre. Vor diesem Hintergrund erfüllt die Schrift Luthers letztlich eine gewisse apokalyptische Funktion: da das Exil die göttliche Strafe für die Lügner und Lästerungen der Juden wider Gott und die Schrift ist und Luther für solche Lästerungen die weitere Verteibung der Juden fordert, entspricht er selbst mit seiner Schrift implizit dem Verwerfungswillen Gottes über die Juden. So klar der gedankliche Zusammenhang von Luthers Traktat ist, seine theologischen Prämissen werfen schwierige Fragen auf. So stellt sich die Frage, warum die Lüge wider Gott eine unvergebbare Sünde darstellt und für die Juden 1543 bei Luther deshalb keinerlei Hoffnung auf Rettung mehr besteht? 41 In einem ersten Schritt (III) ist deshalb zu untersuchen, was es bei Luther bedeutet, „Gott zum Lügner“ zu machen. Zum anderen stellt sich die Frage, warum sich die Christen bereits durch die Duldung der Juden dieser unvergebbaren Sünde „teilhaftig“ machen und dem Zorn Gottes verfallen. Dies steht in diametralem Gegensatz zur anderweitig bekannten hamartiologischen Vorstellung Luthers, niemand werde um fremder, sondern jeder nur um eigener Sünden wollen verdammt. 42 Die theologische Reichweite dieser These zu rekonstruieren ist dabei umso wichtiger, als auf ihr die Spitze von Luthers antijüdischer Polemik, sein berüchtigter Ratschlag, die Juden zu vertreiben, beruht. Diesem logischen Zentrum von Luthers Schrift widmet sich die vorliegende Untersuchung in einem zweiten Schritt (IV).
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Vgl. etwa ebd., 434,26 und 522,20ff. Vgl. 522,33. 42 Vgl. WA 17II,79,5; Zum Aktualsündenverständnis Luthers ALBRECHT PETERS, Der Mensch (= Handbuch Systematischer Theologie 8), Gütersloh 1979, 27–59; BENGT HÄGGLUND, Luthers Anthropologie, in: HELMAR JUNGHANS, (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag. Im Auftrag des Theologischen Arbeitskreises für Reformationsgeschichtliche Forschung, 2 Bde., Göttingen 1983, 63–76 und 747–748; zusammenfassend BERNHARD LOHSE, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 264–268; zum Erbsündenverständnis ebd., 268–270, und ANSELM SCHUBERT , Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung (= FKDG 84), Göttinen 2002, 32–41. 41
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III Bereits in der ersten Psalmenvorlesung erwähnt Luther das Lügenstrafen und das Motiv zieht sich von da an durch sein gesamtes Werk hindurch. Im Scholion zu Ps. 77,40 erklärt er das Lügenstrafen Gottes zur Sünde der Juden, Häretiker und schlechten Christen, all jener, die dem wahren Glauben entgegengesetzt sind: 43 „Hoc autem [sc. Gott in der Wüste erzürnen A.S.] maxime tempore Christi fecerunt [sc. die Juden, A.S.], Et nunc multo amplius tam ipsi quam impii Christiani. Quia non credunt ei Et saltem ipso facto tentant eum et negant ac sic mendacii arguunt. Nihil enim ita Deum prouocat quam incredulitas, quia hoc est directe Deum negare ac sic idolatrare. Quia veritatem Dei non credunt, ergo nec Deum. Qui enim non credit verum esse, quod Deus dicit, simul Deum esse non credit, cum sit Deus veritas et verax. O Miseri nos, quam assidue facimus, quod iste versus dicit!“ 44
Im Laufe der Psalmenvorlesung kristallisiert sich sukzessive heraus, daß Gott zum Lügner zu machen nichts anderes bedeutet, als der Verheißung Gottes nicht zu glauben. Es ist die Grundsünde wider das erste Gebot,45 und in diesem Sinne findet sich die Rede davon, Gott Lügen zu strafen, fortan in Luthers Werk, etwa im berühten Passus der Freiheitsschrift 46 oder der Vorlesung zum 1. Joh. von 1527. 47 So sporadisch die Rede von Gott als Lügner bei Luther bis etwa 1530 auftaucht, so gehäuft findet sich diese Gedankenfigur in den späten Judenschriften, wie sie schließlich zum entscheidenden theologischen Fokus wird. In „Wider die Sabbather“ läßt Luther die Argumentation gegen die jüdischen Missionare auf die logische Alternative hinauslaufen, Christus müsse der Messias sein oder Gott gelo-
43 Vgl. WA 55II,543,254. Der erste Beleg allerdings bereits in der Glosse zu Psalm 50 (WA 3,284,32ff.). 44 WA 55II, 567,974–981. 45 So bereits 1520 in der Resolutio Disputationis de fide infusa et axcquisita (vgl. WA 6,89,4). 46 Vgl. WA 7,25,4ff. und in der lateinischen Fassung WA 7,54,13. 47 Vgl. WA 20,785,25–27: „Deum mendacem facere est Deum spoliare divinitate, ablata vero divinitate est Deum facere diabolum. Seipsum facere veracem est se Deum facere. Ista sunt horrenda, quae concutiunt illum, qui non est certus se divina docere, maxime in doctrina ista fidei. In operibus non est tam periculosum cespitare. [...] At magni periculi res est non credere in filium, quia est in os Patri dicere: tu mentiris. Negare Dei veritatem est negare Divinitatem [...]. Summum periculum animae. Hütet Euch davor.“ In seinen späteren Äußerungen zum Thema bedenkt Luther eher die Wirkung dieser Sünde auf Gott. So schreibt er 1530 (WA 31 I, 511,26–32) „Notabis ergo, quia verba dei facere menadaci est ipsum deum facere mendacem, imo est eum negare, 1. Iohan. 2. ‚Si peccatum non habere nos dicimus.‘ Nam in natura sua deus neque iustificatur neque damnatur sed in verbo suo utrumque patitur. Verbatus enim deus seu praedicatus deus i.e. verbum dei vel iusticifatur vel damnatur ab hominibus.“
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gen haben. 48 In „Von den Juden und ihren Lügen“ wird diese Gedankenfigur, wie gesehen, schließlich zum Ausgangspunkt der gesamten weiteren Argumentation: den ewigen Zorn Gottes haben die Juden über sich heraufbeschworen, weil sie in Gottes Wort Christus und damit Gott selbst abgelehnt haben. Für Luther war bereits in der ersten Psalmenvorlesung klar, daß der Unglaube als Lügenstrafen Gottes die schwerste denkbare Sünde überhaupt sein mußte, 49 und so hatte er sie bereits hier mit der unvergebbaren Sünde wider den Heiligen Geist identifiziert: „quia precise obviat gratiae per superbiam spiritus, dum cedere non vult Deo, Sed sibi cedi.“ 50 Auch wenn Luther sich insgesamt auffällig wenig zur Sünde wider den Heiligen Geist geäußert hat, wird sie, wo er es tut, doch durchgehend mit dem Unglauben identifiziert. Bezeichnenderweise im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Schrift „Wider die Sabbather“ wird das Lügenstrafen Gottes dann schließlich auch explizit als Sünde wider den Hl. Geist Gott bezeichnet: „von Gottes Wort zu fallen und das selbige lügen straffen, [...] heisst die sunde jnn den Heiligen geist, und wie er [sc. der Hebräerbrief] es nennet, den Son Gottes für spott halten und mit füssen tretten und den geist der gnaden schenden, Da behüt Gott fur alle, die da gerne Christen sein wollen [...].“ 51 Diese Passage ist insofern zentral, als sie eine wichtige theologische Voraussetzung der Sabbaterschrift und der Lügenschrift explizit macht: die Juden werden ewig von Gottes Zorn verfolgt und können nicht mehr gerettet werden, weil ihre schriftwidrige Ablehnung des Vaters im Sohn die unvergebbare Sünde wider den Heiligen Geist bedeutet. 52 In dieser Perspektive erscheint die Absage an Bekehrungsversuche in der Schrift von 1543 dann in der Tat, wie Maurer auch für die späten Schriften vermutet hatte, weniger als Härte des alten Luther, denn als Konsequenz seiner theologischen Voraussetzungen seit der ersten Psalmenvorlesung. 48
Vgl. WA 50,318,19–28: „Entweder Mesias mus vor Funffzehen hundert jaren komen sein, odder Gott müsse gelogen (Gott verzeihe mir, so schendlich zu reden) und seine verheissung nicht gehalten haben. [...] Solches konnen die Jüden nicht leugnen, welche anders noch bey vernunfft sind.“ 49 Vgl. Anm. 44. 50 Vgl. 55II,304,88; bereits in den Annotationen zum Lombarden hatte er (vgl. WA 9,82,5ff.) „desperatio / impoenitentia / obstinatio / und praesumptio“ als die Sünde wider den Heiligen Geist definiert. Diese Begrifflichkeit wird in der ersten Psalmenvorlesung (vgl. WA 55II,304,74) und in den Predigten von 1519 (vgl. WA 9,462,33–463,18) aufgenommen. 51 WA 46,342,13ff. – gemeint ist Heb. 10,29. 52 Vgl. dazu WA 53,439,22. Es sei allerdings darauf hingewiesen, daß nach Mt. 12,32 und Lk. 12,10 gerade Worte wider den Menschensohn explizit nicht zur Sünde wider den Hl. Geist gezählt werden und Luthers Identifizierung mit Hebr. 10,29 und seine darauf aufbauende Argumentation wider die Juden exegetisch also kaum haltbar sein dürfte.
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IV Die zweite offene Frage betraf Luthers Überzeugung, die Christen machten sich der Sünde wider den Heiligen Geist bereits „teilhaftig“, wenn sie die Juden nur bei sich duldeten. Daß der Zorn Gottes über die Juden auch die Christen treffen könne, war, wie Wilhelm Maurer gezeigt hat, eine Grundvoraussetzung der Theologie Martin Luthers. 53 Seit der ersten Psalmenvorlesung stehen die Juden in Luthers Werk als typologisches Sinnbild für den ungläubigen Menschen an sich da, 54 wobei die Vorstellung zugrundeliegt, daß der Zorn Gottes, der über den Juden waltet, analog auch den ungläubigen Christen droht. 55 Maurer hat dafür den nicht eben glücklichen Begriff der „Solidarität der Schuld“ zwischen Christen und Juden geprägt. 56 Die Fomulierung bot ihm aber doch die Handhabe, das theologische Problem der späten Judenschriften präzise auf den Punkt zu bringen: daß Luther die „Solidarität der Schuld“ zwischen Juden und Christen, die sein Werk durchzieht, zuletzt aufgekündigt und in den späten Judenschriften die gerechten Christen den ungläubigen Juden gegenüber gestellt habe. 57 Maurer hat dies an den späten Judenschriften nicht im Einzelnen untersucht, dabei zeigt sich jedoch, daß das Motiv der vielleicht besser „typologisch“ genannten Sünde in den späten Judenschriften keineswegs verloren geht, 58 sondern einer fundamentalen Transformation unterzogen wird. Wir wir sahen, verfaßte Luther sowohl „Wider die Sabbater“ als auch „Von den Juden und ihren Lügen“ im Bewußtsein, die Juden hätten begon53
Vgl. MAURER, Zeit der Reformation, wie Anm. 2, 378–385. Vgl. Anm. 44, wie Luther im Schlußsatz die sündigen Christen als geistliche Juden in eine Reihe mit den fleischlichen Juden stellt. 55 Vgl. dazu ausführlich OSTEN-SACKEN, Luther, wie Anm. 4, 58–73. 56 Vgl. MAURER, Zeit der Reformation, wie Anm. 2, 387ff. passim. Zur Kritik dieses Begriffes vgl. OSTEN-SACKEN, Luther, wie Anm. 4, 55ff. 57 Vgl. MAURER, Zeit der Reformation, wie Anm. 2, 437ff. Maurer selbst führte diese „Verschiebung“ der Gleichsetzung zum einen darauf zurück, daß sich seit Ende der 1520er Jahre für Luther die Ketzer nicht mehr auch innerhalb der Kirche, sondern nur noch jenseits der Kirche finden konnten (ebd., 395), zum anderen darauf, daß sich das Judentum um 1530 auf einem Höhepunkt der messianischen Erwartung befunden und missioniert habe, wodurch sich Luther bedroht gefühlt habe (399). 58 Als Resümee der gesamten Schrift behauptet Luther WA 53,522,20ff.: „Aus diesem allen sehen wir Christen (denn die Juden könnens nicht sehen) welch ein schrecklicher Zorn Gottes über dis Volck gangen und on auffhören gehet, welch ein feur und glut brennet da, Und was die gewinnen, so Christum und seinen Christen fluchen oder feind sind. O lieben Christen lasst uns solch grewlich Exempel zu hertzen nemem [...] und Gott furchten, das wir nicht auch zu letzt in solchen oder noch ergern zorn fallen, sondern (wie droben gesagt) sein göttlich wort ehren und die zeit der gnaden nicht verseumen [...].“ 54
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nen, unter den Christen zu missionieren. 59 Bereits diese Vorstellung setzt eine Transformation der älteren Sündenvorstellung voraus, denn hier wird impliziert, daß ungläubige Christen den Juden nicht nur typologisch entsprechen, sondern sich tatsächlich dem wirklichen Judentum anschließen. Sie machen sich nicht mehr nur quasi typologisch wie die Juden schuldig, sondern sündigen schließlich selbst als Juden. 60 In der Lügenschrift von 1543 wird die Vorstellung, der Zorn Gottes gehe von den Juden auf die Christen über, schließlich dahingehend zugespitzt, daß bereits die Duldung der Juden eine Versündigung der Christen mit der Sünde der Juden bedeutet. Dem liegt aber offensichtlich weder das Konzept einer typologischen Sünde noch die Idee eines realen Mitsündigens zugrunde, sondern die Vorstellung einer Mitschuld an fremder Sünde. Diese radikale Fassung des Sündenbegriffs verdängt gegen Ende der Schrift „Von den Lügen“ die hier zunächst vertretenen älteren Konzepte von typologischem und realem Sündigen, 61 und dient schließlich zur Legimitation der Erniedrigung Rechtlosmachung, Versklavung, und endlichen Vertreibung der Juden. 62 Der Begriff der „fremden Sünde“ geht auf 1. Tim. 5,22 zurück, 63 doch spielt diese Bibelstelle in Luthers Werk erstaunlicherweise so gut wie keine Rolle. 64 Das dahinterstehende Konzept einer Sünde, derer man sich durch Duldung selbst schuldig macht, kommt dagegen bereits seit den frühesten Erfurter Predigten in Luthers Werk zur Sprache. 65 Ein bezeichnendes Beispiel ist etwa seine Schrift „Wider das Grewel der Stillmesse“. Hier kann Luther bereits 1525 im gleichen unerbittlichen Ton, derselben apokalyptischen Perspektive und mit derselben Argumentation vor dem gotteslästerlichen Meßkanon warnen wie später vor den „Lügen der Juden“: „Darumb, lieben Christen, last uns fur solchem grewel fliehen, und der sach eynis werden, das man durch ordenliche gewalt dise Gottes lesterung abthun, das wyr nicht frembde 59
Vgl. WA 50,312,6–13 und WA 54,417,4. Vgl. Anm. 8 61 Die Vorstellung von der typologisch-analogen Sünde findet sich noch in WA 53,522,25–28 (vgl. Anm. 58 oben); die Vorstellung eines realen Übertrittes zum Judentum und seiner Sünde besonders deutlich ausgesprochen ebd., 417,9; 427,10ff.; 439,17ff. 62 Vgl. ebd., 522,16.33; 523,12; 524,13; 527,19; 527,27; 531,22ff.; 532,4ff.; 535,29; 538,9; 542,2f. und öfter. 63 1. Tim. 5,22: „[...] manus cito nemini inposueris neque communicaveris peccatis alienis.“ 64 Sogar nicht in seiner eigenen Auslegung des 1. Tim. (WA 26,99,18ff.). Der erste expizite Verweis auf 1. Tim. 5,22 im Zusammenhang mit dem Konzept fremder Sünde findet sich in Luthers Schrift wider den Wucher von 1540 (WA 51,368,18–24). 65 So wird in der Auslegung von Mt. 7,12 die aktive Zustimmung zu einer fremden Sünde ebenfalls als Sünde gewertet: „Qui audit alteri aliquem detrahere et tacet et non excusat, peccat, quia sibi vellet aliter fieri. Igitur et sic fit peccatum alienum, quando non resistit.“ (vgl. WA 4,590–595). 60
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sunde auff unsern hals laden, Denn die oberkeyt schuldig ist, solche offentliche Gottes lesterung zu weren und straffen, leydet sie es aber und sihet zu, wo sie es weren kan, wird doch Gott nicht durch die finger sehen, und mit grewlichem ernst beyde, die lesterer, und so dazu verwilligen, straffen, das yhn zu schwer werden wird. Ich habe das meyne than, trewlich geratten, und yederman gewarnet.“ 66
Die Angst vor Mitschuld an fremder Sünde ist also keineswegs, wie von Oberman behauptet, ein Spezifikum der vermeintlich apokalyptischen Weltsicht eines alt gewordenen Luther, 67 sondern findet sich von Anfang an in Luthers Werk. Gerade deshalb stellt sich allerdings die Frage, wie diese Vorstellung in den weitergehenden Rahmen seiner Soteriologie einzupassen ist. 68 Dazu ist zunächst zu beachten, daß sich die Rede von einer Mitschuld an fremder Sünde bei Luther ausschließlich in Bezug auf die Sünde der öffentlichen Gotteslästerung findet. 69 Die Meßkanon etwa ist für Luther öffentliche Gotteslästerung, „[d]enn wo eyn frecher bube auff der gassen Gott offentlich lestert, flucht odder schendet, und die oberkeyt solchs lydde, und nicht mit ernst straffet, wie sie schuldig ist, wurde sie fur Got teylhaftig solcher untugent. Und ists ynn etlichen landen verpotten fluchen, und schweren, Viel billicher ist, das das die welltlichen herren dazu thun, weren und straffen, weyl solch lestern und schenden ynn der Messe ia so offenbar ist, so offentlich geschicht, als ob eyn bube auff der gassen lestert. Ist eyns strefflich, so ist das ander auch strefflich.“ 70 66
WA 18,36,18–33. OBERMAN, Wurzeln, wie Anm. 4, 157ff. 68 Bereits im Frühmittelalter hatte die Vorstellung, die Duldung fremder Sünde sei selbst Sünde, Eingang ins kanonische Recht gefunden. Spätestens seit dem Liber Extra Gregors IX. galt im Ketzerrecht: „Qui alios, quum potest, ab errore non revocat, se ipsum errare demonstrat“ (X,5,7,2; zitiert nach E MIL FRIEDBERG [Hg.], Corpus Iuris Canonici [...], Leipzig 1881, Bd. 2: Decretalium Collectiones, Sp. 778); vgl. zur Problematik WINFRIED T RUSEN, Rechtliche Grundlagen des Häresiebegriffs und des Ketzerverfahrens, in: SYLVIA SEIDEL-MENCHI (Hg.), Ketzerverfolgung im 16. und 17. Jahrhundert, Wolfenbüttel 1992, 1–20, ebd. 2); Zu den theologischen und philosophischen Problemen dieses Grundsatzes vgl. WILLIAM VON OCKHAM, Dialogus, Pars 1, lib. 7, Kap. 33–34. Allerdings galt diese Regelung im kanonischen Recht explizit nur für den Tatbestand der Häresie; da Juden aber aus leicht nachvollziehbaren Gründen weder nach weltlichem noch nach kanonischem Recht als Häretiker gelten konnten, drohte weder ihnen noch ihren „fautores“ die Ketzerstrafe (vgl. dazu grundlegend WALTER PAKTER, Medieval Canon Law and the Jews (= Münchener Universitätsschriften 69), Ebelsbach 1988). Luthers Ansichten gehen daher wohl eher auf das römische Recht zurück (vgl. unten). 69 Die einzigen mir bekannten Ausnahmen stellen Luthers Aussagen dar, nach denen sich eine Obrigkeit, die Diebstahl (WA 30I,168,19) oder Wucher (WA 51,365–368) nicht verhindere, sich an diesen Sünden ihrer Untertanen mitschuldig mache, und nach denen eine Obrigkeit keinen Glauben aufzwingen dürfe, um sich nicht der Lügen und falschen Bekenntnisse ihrer Untertanen schuldig zu machen (WA 11,264,32). 70 WA 18,36,18–33. 67
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Ebenso wie in der späteren Lügenschrift besteht auch in Luthers Kritik an der Stillmesse das eigentlich Gotteslästerliche in der Leugnung bzw. Verkehrung von Gottes Wort. 71 Und hier ebenso wie dort fordert Luther das Einschreiten der weltlichen Gerichtsbarkeit gegen die Gotteslästerungen. 72 Die Mitschuld an fremder Sünde wird dabei auffälligerweise nicht theologisch begründet, sondern argumentiert im Analogieschluß juristisch mit dem Wohl der gemeinsamen Stadt. 73 Diese Argumentation wird besonders deutlich in Luthers Genesisvorlesung. Im März 1539 deutet er Aufforderung der Engel an Loth „Surge [...] ne forte consumaris in peccato civitatis“ (1. Mose 19,14) als Bestätigung dafür, daß es so etwas wie die kollektive Sünde eines Gemeinwesens in der Tat gebe: die Sünde Einzelner werde zur Sünde der gesamten Stadt, wenn die Obrigkeit, der dies obliegt, sie nicht strafe und ihr damit faktisch zustimme: „privata illa peccata singulorum fiunt peccata civitatis, seu publica peccata, quae publicae calamitates semper solent sequi. Recte enim dicunt leges, quod faciens et consentiens pari poena plectendi sunt.“ 74 In der Folge spielt Luther die Problematik am Beispiel Loths durch. Auch dieser sei an sich ein „homo sanctus et innocens“ und dennoch in Gefahr gewesen, durch fremde Sünde zugrundezugehen. 75 Luther malt damit im Grunde dasselbe dramatische Szenario wie in der Lügenschrift von 1543. 76 Und tatsächlich beruft sich Luther für die Notwendigkeit der Bestrafung öffentlicher Gotteslästerung hier 77 wie dort 78 explizit auf den römischen Rechtsgrundsatz: „faciens et consentiens pari poena plectuntur“. 79 Luthers knappe Aussage, die Vorstellung einer Mitschuld per71 Vgl. ebd, S. 23,12–25; zu Luthers Meßverständnis vgl. HANS BERNHARD MEYER, Luther und die Messe. Eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung über das Verhältnis Luthers zum Meßwesen des späten Mittelalters (= Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien 11), Paderborn 1965; zu Luthers Schrift „Grewel der Stillmesse“ im Kontext seines Meßverständnisses vgl. WOLFGANG SIMON, Die Meßopfertheologie Martin Luthers. Voraussetzungen, Genese, Gestalt und Rezeption (= Spätmittelalter und Reformation 22), Tübingen 2003, 380–406. 72 Vgl. WA 18,22,7–15. 73 Vgl. ebd. 23,1–6. Die Papisten seien nicht zu dulden „Denn weyl sie mit uns ynn eyner stadt und gemeyne wonen [...] würden wyr zuletzt yhre wissentliche lesterunge auch auff uns tragen müssen, als die dreyn verwilligten, und nicht dazu thetten, wie wyr wol kunden [...].“ 74 WA 43,75,10–14. 75 Vgl. ebd., 76,3–5: „Oportet igitur nos sive in Magistratu simus sive privati unanimiter resistere peccatis, ne ira Dei super nos veniat, et absorbeamur omnes simul.“ 76 Vgl. Anm. 36. 77 Vgl. Anm. 74 78 Vgl. Anm. 36. 79 Vgl. DETLEF LIEBS, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, München 2007, 32, in der seit Ulpian klassischen Form: „Agentes et consentientes pari poena plectuntur.“ Seit dem Frühmittelalter hatte dieses Diktum Eingang auch in die päpstli-
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sönlich Unschuldiger sei ein „durum verbum“, wird man dabei wohl als Hinweis dafür werten dürfen, daß ihm das Problematische der Interpretation eines Schriftverses im Lichte antiker Rechtsvorstellungen, 80 mithin der Übertragung weltlicher juristischer Kategorien in den theologischen Diskurs, durchaus bewußt war. 81 Tatsächlich hatte bereits das römische Recht Gotteslästerern die Todesstrafe mit der Begründung angedroht „ut non per huiusmodi impios actus ab ira dei iusta inveniantur et civitates cum habitatoribus earum pereant. Docemur enim a divinis scripturis, quia ex huiusmodi impiis actibus et civitates cum hominibus pariter perierunt.“ 82 Auch wenn die Sorge des chen Dekretalen gefunden. In den Pseudoisidorischen Dekretalen wurde es auch auf die Ketzerfrage angewendet: „Quorum nos sequentes exempla omnes tales praesumptores et ecclesiae raptores atque suarum facultatum alienatores una vobis cum a liminibus sanctae matris ecclesiae anathematizatos apostolica auctoritate pellimus et damnamus atque sacrilegos esse iudicamus, et non solum eos, sed omnes consentientes eis, quia non solum, qui faciunt, rei iudicantur, sed etiam, qui facientibus consentiunt. Par enim poena et agentes et consentientes compraehendit.“ im Corpus iuris Canonici findet sich diese Formel in X,29,1; X,5,34,47; X,5,39,29). 80 Es ist bezeichend, daß Luther für seine Deutung keine Schriftverweise bietet, sondern auf die aus der antiken Literatur bekannten Schicksale verschiedener römischer und griechischer Städte verweist (WA 43,76,7–20). 81 In seiner Genesisvorlesung (WA 43,74,25–31) bemüht er sich darum, zu begründen, daß den Magistrat und jeden einzelnen Bürger tatsächlich eine gewisse eigene Aktualschuld treffe, wenn er Gotteslästerungen in ihrer Mitte dulde: „Durum autem verbum hoc est, quo peccatum ita facit commune et vulgatum, ut appelletur non peccatum adolescentiae seu iuventutis, non virorum aut mulierum, non plebis aut Magistratus, sed totius civitatis: necesse igitur est tale fuisse peccatum, quod consentientibus Magistratibus et universis ordinibus hominum in ista civitate sit perpetratum, et publica licentia concessum, quod pariter omnes involvit, non solum facientes, sed etiam consentientes.“ 82 Corpus Iuris Civilis [...]. Volumen Tertium: Novellae, recognovit Rudolfus Schoell, Berlin 8 1963 [1. Aufl. 1895], 381f: „Novella LXXII. Constitutio de Afficiendis supplicio iis qui per Deum iurant quique blasphemant. Caput I. Igitur quoniam quidam diabolica instigatione comprehensi et gravissimis luxuriis semetipsos inseruerunt et ipsi naturae contararia agunt, et istis iniungimus accipere in sensibus dei timorem et futurum iudicium et abstinere ab huiusmodi diabolicis et illicitis luxuriis, ut non per huiusmodi impios actus ab ira dei iusta inveniantur et civitates cum habitatoribus earum pereant. Docemur enim a divinis scripturis, quia ex huiusmodi impiis actibus et civitates cum hominibus pariter perierunt.“ Zu den Novellen Justinians vgl. MARIO BRETONE, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis Justinian, München 1992, 256–259. Zur Geschichte der Gotteslästerung vgl. die ausführliche Studie von GERD SCHWERHOFF, Gott und die Welt heraufordern. Theologische Konstruktion, rechtliche Bekämpfung und soziale Praxis der Blasphemie vom 13. zum Beginn des 17. Jahrhunderts, Habil. masch. Bielefeld 2004 (Online-Resource unter https://portal.d-nb.de); gekürzte Fassung unter dem Titel DERS., Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200–1650 [= Konflikte und Kultur 12], Konstanz 2005; aufschlußreich aber auch noch immer PAUL HINSCHIUS: Art. Gotteslästerung, in: RE 7, Leipzig 1889, 31–33.
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Codex Justinianus (um 535–575) streng genommen nur der Stadt galt, die eine Art Kollateralschaden zu werden drohte, wenn der Lästerer in ihrer Mitte von Gott bestraft wird, verband sich diese Rechtstradition im Laufe des Mittelalters immer enger mit der Vorstellung, die Gemeinschaft stehe in der Verantwortung für das Handeln jedes Einzelnen, und förderte damit die Entwicklung der Vorstellung einer kollektiven Verantwortung und Schuld des Gemeinwesens. 83 1495 hatte Maximilian I. erstmals in einem Mandat diese Novelle des Codex Justinianus wieder explizit in Kraft gesetzt. 84 Die Reichspolizeiordnung von 1530 machte die Vorstellung der Übertragbarkeit fremder Sünde auf das Kollektiv im Falle der Gotteslästerung schließlich zum Reichsgesetz. 85 Nicht nur sollte fortan am Leben bestraft werden, wer eine Gotteslästerung beging, nun galt: auch wer Ohren- oder Augenzeuge einer solchen Gotteslästerung war, sie duldete, nicht zur Anzeige brachte oder als Obrigkeit eine solche angezeigte Lästerung nicht verfolgte, erfüllte selbst den Tatbestand der Gotteslästerung. 86 Eine Bestrafung war notwendig, damit nicht Stadt oder Land aufgrund eines Gotteslästerers kollektiv dem Zorn Gottes verfielen. Die juristische Vorstellung einer Mitschuld ließ sich dabei prinzipiell auf jedes Subjekt vermeintlicher Gotteslästerung übertragen. Auch Luther etwa konnte, wie gesehen, die katholische Stillmesse, 87 aber auch die Duldung des zwinglianischen Abendmahlsverständnisses in einer Stadt 88 oder die jüdi83
Vgl. dazu SCHWERHOFF, Gott, wie Anm. 82, 153–156. Vgl. ebd., 118–122. Das Mandat wurde in praktisch alle Reichstagsabschiede der Folgezeit wieder aufgenommen und für die Gesetzgebung der folgenden Jahrzehnte maßgeblich. 85 Vgl. ebd., 122ff. 86 In der Reichspolizeiordnung von 1530 stellte das Vergehen der Gotteslästerung den ersten Paragraphen dar und wurde damit als das Hauptvergehen definiert. Vgl. MATTHIAS WEBER (Hg.): Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition (= Ius Commune 146), Frankfurt/Main 2002, 133: „[...] und so solch lesterung beschehen / do bei zwo oder mer personen gewest / sol eyn jeglicher schuldig sein solchs der oberkeyt des orts am fürderlichsten und auffs lengst in acht tagen den nechsten darnach volgend ungeverlich anzubringen / do neben auch anzeygen / wer do bei gewest / unnd solch lesterung gehört hab [...].“ Ebd., 134: § 1/3: „Wo auch eyner oder mer obgemelte lesterung / so sie die gehört /auff erfordern seiner ordenlichen oberkeyt geferlich verhielten / und angeregter maß nit anbrechten / wöllen wir / daß der oder die selben / durch die oberkeyt (als mit verhenger der Gottslesterung / nach gelegenheit der sach) es sei an leben oder gut / herttiglich gestraft werden sollen.“ 87 Vgl. Anm. 66 und 70. 88 Im Rahmen der Verhandlungen zur Wittenberger Konkordie läßt sich auch die Teilnahme am zwinglianischen Abendmahl von Luther als Teilhabe an fremder Sünde verstehen; vgl. seine dementsprechende Formulierung vom 25. August 1530: „Quando prius poenituerunt, Volunt concordia ista nos alienis peccatis participes fieri.“ (WA Br 13,176,10) als Reaktion auf einen Brief Bucers (WA Br 5,568f.) und seine entsprechende Formulierung in einem Brief an Caspaer Huberinus (WA Br 6,244,2). 84
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sche Schriftauslegung als zu meidende „fremde Sünde“ der öffentlichen Gotteslästerung verstehen. Die Vorstellung, daß die Juden in spezieller Weise Gotteslästerer seien und auf die christliche Gesellschaft, die sie duldete, den Zorn Gottes herabriefen, war im Spätmittelalter Gemeingut. 89 Ein prominentes Beispiel, dem in Bezug auf Luther womöglich auch unmittelbar Vorbildfunktion zukommt, ist dabei Johannes Reuchlin. 90 In seinem berühmten Gutachten zum hebräischen Schrifttum von 1510, das den Pfefferkornschen Streit auslöste, liest sich seine Darstellung des Streitgegenstandes in der Tat wie eine Vorwegnahme der später von Luther gebrauchten Argumente: „Ob den iuden ire bücher söllent oder mögent von rechts wegen genommen abgethon oder verbrent werden. Sagent ettlich ia / vß vil vrsachen. Zum ersten / dan sie seie wider die cristen gemacht / Zum andern sie schmehen Jesum / Mariam vnd die zwelff botten / auch vnns vnd vnser cristenliche ordnung. Zum dritten dann sie seien falsch. Zum vierden so werden da durch die iuden verfürt das sie verharren in irer iüdischhait vnd nit zum cristen glauben kommen / Welcher aber solch gros übel weren möcht Vnnd das nit verhütet noch abtette / der were dem tetter gleichförmig zu achten vnn solte als ein mitverwilliger gleicher straff gehalten werden / ex de off. deleg.c.i.et i.q.quicquid invisibilis.“ 91
Bereits hier begegnet die römische Formel „faciens et consentiens pari poena plectuntur“ im Zusammenhang der Kritik an den Lästerungen der Juden. Es ist überdies bemerkenswert, daß auch die „Ratschläge“, die Luther aus dem Konzept der fremden Schuld ableitete, zu diesem Zeitpunkt schon als legitime Anwendung des römischen Rechts empfohlen worden waren. 92 Niemand geringeres als Ulrich Zasius hatte in seinem Gutachten zur Taufe jüdischer Kinder 1508 festgestellt, die Juden würde aufgrund ihrer fortgesetzten Lästerungen wider Christus zurecht als Sklaven ohne eigene Rechte angesehen. 93 Daß die Fürsten sie überhaupt duldeten, gelte deshalb nur solange, wie die Juden bereitwillig ihren Sklavenpflichten nachkämen: „Vnde si ita servire parati forent, gauderent eo securius pietate ei permissa.“ 94 Doch weil täglich zu sehen sei, daß die Juden fortgesetzt 89 Vgl. ausführlich dazu GERD SCHWERHOFF, Blasphemie zwischen antijüdischem Stigma und kultureller Praxis. Zum Vorwurf der Gotteslästerung gegen die Juden in Mittelalter und beginnender Frühneuzeit, in: Aschkenas 10 (2000), 117–155. 90 Vgl. Anm. 17. Zu Reuchlins Auffassung vom Rechsstatus der Juden vgl. FRIEDRICH LOTTER, Der Rechtsstatus der Juden in den Schriften Reuchlins zum Pfefferkornstreit, in: ARNO HERZIG / JULIUS H. SCHOEPS (Hgg.), Reuchlin und die Juden (= Pforzheimer Reuchlinschriften 3), Sigmaringen 1993, 65–88. 91 JOHANNES REUCHLIN, Augenspiegel, Tübingen 1511 (= Quellen zur Geschichte des Humanismus und der Reformation in Faksimileausgaben), ND München 1961, fol. B1rf. 92 Darauf hat erstmals Kisch, Zasius, wie Anm. 17, 13, hingewiesen. 93 Vgl. ebd., 37–46 und RONNY PO-CHIA HSIA, The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany, New Haven/London 1988, 112–119. 94 ULRICH ZASIUS, Questiones de paruulis Iudeorum Baptisandis a communi doctorum assertione dissidentes, Straßburg 1508, fol. c3r: „Iudeos autem ubique servire paratos
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lästerten und das Blut der Christen zu vergießen suchten, „isthaec spurcissima sentina cymeriis abstrudenda tenebris“. 95 Das war eben die Alternative, vor die auch Luther die Juden stellen sollte. Die Tatsache, daß Luther in seiner Lügenschrift von 1543 die Vertreibung der Juden als öffentlicher Gotteslästerer forderte, dies mit der Gefahr einer Mitschuld an fremder Sünde begründete und sich dafür auf das römische Recht berief, legt vor diesem Hintergrund die Vermutung nahe, daß es sich im Kern seiner Argumentation gar nicht um eine primär theologische sondern um die Adaption einer juristischen Denkfigur handelt. 96 Damit aber stellt sich die Frage nach der theologischen Tragweite und Bedeutung von Luthers Lügenschrift und den weiteren späten Judenschriften.
V Eine historische und theologische Bewertung der Tatsache, daß Luther sich in seiner wichtigsten späten Judenschrift am entscheidenden argumentativen Punkt nicht theologischer sondern juristischer Denkfiguren bedient, ist schwierig. Zentral für eine sachgemäße Interpretation dürfte zunächst die Tatsache sein, daß die Vorstellung von der Mitschuld an fremder Sünde sich bei Luther der Sache nach bereits 1513, den Formulierungen nach spätestens seit 1525 findet und von ihm auf verschiedendste Formen vemeintlicher öffentlicher Gotteslästerung angewendet werden kann. 97 Sie stellt also weder ein genuin antijüdisches Argument noch ein Spezifikum des alten Luther dar. Bedenkt man überdies, daß die Verfolgung und Bestrafung öffentlicher Gotteslästerung auch in Kursachsen geltendes Reichsrecht war (und mit ihren schrecklichen Konsequenzen von Versklavung und Vertreibung im Reich vielerorts schon lange vor Luthers Judenschriften auf die jüdische Bevölkerungsminderheit Anwendung gefunden hatte), wird man das Luthersche Argument der fremden Sünde (und den darauf esse sc. [papa dicit A.S.]. Vnde si ita servire parati forent, gauderent eo securius pietate ei permissa.“ 95 Vgl. ebd., c3v: „Tales igitur tam professos vere dixerim hostes, tam truculentas bestias cur non eliminare? cur non a limitibus christianorum eminus expellere maxime principibus permittatur? Est enim isthaec spurcissima sentina cymeriis abstrudenda tenebris.“ 96 Vgl. Luthers Bezug auf die der weltlichen Gesetzgebung zugrundeliegende Vorstellung, daß Gott öffentliche Sünden öffentlich, d.h. an der gesamten Stadt, zu ahnden pflege (WA 43,75,13 und ebd., 74,31). 97 Auffällig ist dabei, daß der in der Schrift von 1543 genannte Rechtsgrundsatz „faciens et consentiens poena pari“ bei Luther vor 1543 nur einmal in der Genesisvorlesung 1539, im Jahr 1543 dann aber gleich mehrmals begegnet (in der Vorlesung über Jesaja 9 und 53 [WA 40III,716,21], in der Genesisvorlesung zu Kap. 33 [WA 44,155,13] und in der Lügenschrift [WA 53,535,33]).
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gegründeten „trewen ratschlag“) noch nicht einmal für ein individuelles oder überhaupt ein genuin theologisches Konzept halten können. Maurer hatte seinerzeit behauptet, in Luthers Theologie prinzipiell zwischen „ihren wesentlichen Aussagen“ und ihrer „Anwendung“, auf „zeitgenössische Verhältnisse“ unterscheiden zu können. 98 Die vorliegende Analyse bestätigt dieses Ergebnis – allerdings nicht dergestalt, daß Luthers späte Äußerungen, wie Maurer meinte, als illegitime Verkürzung seiner Theologie darzustellen sind, 99 sondern so, daß in den späten Schriften ein Wechsel von theologischen zu juristischen Argumentsfiguren festzustellen ist. Dabei entläßt die Feststellung eines juristischen Hintergrundes seiner Argumentation Luthers Theologie an diesem Punkt keineswegs aus der historischen Verantwortung. Denn es gilt in Erinnerung zu behalten, daß der juristische und der theologische Diskurs in der frühen Neuzeit gar nicht sinnvoll voneinander zu trennen sind: Nicht nur berief sich das Reichsrecht, beriefen sich Juristen wie Zasius und Reuchlin für ihre judenfeindliche Auslegung des römischen Rechts auf Argumente der theologischen Tradition, 100 auch Luther wollte umgekehrt die dem juristischen Diskurs entlehnten Gedankenfiguren ja als theologisch valide Argumente verstanden wissen. Dabei sind freilich weder die Argumente noch ihre Verwendung im theologischen Kontext bei Luther neu (wie wir an der Polemik gegen die Stillmesse gesehen haben). Auch oder gerade weil Maurers Ergebnis, daß sich Luthers theologische Anschauungen über die Juden im Laufe seines Lebens nicht grundlegend geändert haben, nach wie vor zuzustimmen ist, 101 stellt sich schließlich die Frage, warum Luther die Debatte über die Juden, die er selbst über Jahrzehnte primär im theologischen Diskurs geführt hatte, zuletzt auf die Ebene des juristischen Diskurses verschiebt, zumal ihm dies nur um den Preis einer weitreichenden Transformation der juristischen Argumente ge98 Vgl. MAURER, Zeit der Reformation, wie Anm. 2, 376. Das führt allerdings zu einer gewissen Inkonsistenz in Maurers Interpretation: denn einerseits meint Maurer in seiner Konzentration auf die Kontinuität von Luthers theologisches Judenbild auch seine späten Judenschriften aus seiner Theologie ableiten zu können, andererseits glaubt er trotz der konsequenten Historisierung, die er selbst vorlegt, die Rechtfertigungstheologie Luthers sowohl von ihrem typologischen Schriftverständnis (445) als auch von den praktischen Konsequenzen trennen zu können, die Luther aus seinem Heilsverständnis für den Umgang mit den Juden zog (448). 99 So unerträglich es klingen mag, könnte man mit Blick auf die historische Rechtspraxis sogar darauf hinweisen, daß Luthers Rat zur Vertreibung der Juden an Schärfe noch hinter den Maßnahmen des Reichsrechts zurückbleibt (vgl. dazu Anm. 86) 100 Vgl. LOTTER, Rechsstatus, wie Anm. 90, ebd., 69ff. 101 Insofern die heilsgeschichtlichen Grundkoordinaten von Luthers Judenbild über die Jahrzehnte konstant bleiben, stellen sich weniger die späten Lügenschriften von 1543, als die vereinzelten positiven Äußerung über die Juden von 1523 als erklärungsbedürftige Abweichung von der historischen Norm dar.
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lingt. 102 Geht es bei der ausführlichen Darstellung der Irrtümer und Lügen der Juden wider Gott und die Schrift tatsächlich um eine Warnung der Christen vor den Juden, wie er behauptet? Die Tatsache, daß sich Luther in der Schrift überwiegend der Widerlegung der jüdischen Schriftauslegung widmet und seine exegetischen Argumente schließlich juristisch bewehrt, legt die Vermutung nahe, daß die jüdische bzw. judaisierende Schriftauslegung schmerzhaft als bleibende Infragestellung des eigenen Schriftverständnisses empfunden wurde. 103 Der Kampf um die hermeneutischen Prinzipien aber ist mit rein theologischen Argumenten bekanntlich nicht zu gewinnen, und so wird in Luthers Verschiebung der diskursiven Ebene zugleich auch die implizite Grenze seiner Theologie deutlich. Der Rückgriff auf juristische Argumentationsfiguren wäre nicht mehr aber auch nicht weniger gewesen als die Fortsetzung der Theologie mit anderen Mitteln.
102 Was dort ein weltliches Vergehen ist, das von Kaiser oder Obrigkeit geahndet wird, wird hier zur unvergebbaren Sünde, die von Gott selbst bestraft wird (vgl. WA 53,531,29f.: „Wenn nu Gott jtzt oder am jüngsten tage mit uns Christen also wird reden: Hörestu es, Du bist ein Christ und hast gewust, das die Jüden meinen Son und mich öffentlich gelestert und geflucht haben, Du aber hast jnen raum und platz dazu gegeben, Sie auch geschützt und geschirmet, damit sie es ungehindert und ungestrafft thun möchten in deinem Lande, Stadt und Haus. Sage mir, was wollen wir hie antworten?“), und wo die Reichspolizeiordnung darauf besteht, daß die Gotteslästerung stets im Einzelfall nachgewiesen werden muß, ist bei Luther (aber auch Reuchlin!) solche Schuld der Juden mit der theologischen Tradition stets schon vorausgesetzt! Die Hypothese, daß wir es mit einer juridischen Vorstellung zu haben, erklärt eventuell auch das bemerkenswerte Argument, mit dem Luther die Warnung vor der Teilhabe an der fremden Sünde der Juden begründet: „Wir haben zuvor eigener sunde gnug auff uns, noch vom Bapstum her, Thun teglich viel dazu mit allerley undanckbarkeit und verachtung seines Worts und aller seiner gnaden, Das nicht not ist, auch diese frembden, schendlich laster der Jüden auf uns zu laden [...].“(ebd., 527,23ff.) 103 Das hat bereits KAUFMANN, Judenschriften, wie Anm. 4, 544ff., so gesehen; vgl. dazu auch den Aufsatz von HANS-M ARTIN KIRN im vorliegenen Band.
Martin Luthers späte Judenschriften – Apokalyptik als Lebenshaltung? Eine theologische Annäherung Hans-Martin Kirn Hat man früher im Bann des Monumentalen Luthers Verhältnis zum Judentum eher an den Rand von Biografie und Theologie geschoben, so wird gegenwärtig zunehmend deutlicher betont, daß das Thema eng mit der Lutherschen Theologie zusammenhängt. 1 Auch die späten Judenschriften sind demnach nicht nur biographisch als Alterserscheinungen oder nur antiquarisch als spätmittelalterliches Traditionserbe zu verstehen, sondern müssen als Teil der sich fortlaufend reflektierenden Theologie Luthers selbst ernst genommen werden. Dabei spielt die sorgfältige Unterscheidung der Motive und ihrer spezifischen Verwertungszusammenhänge eine wichtige Rolle, wie sie am Beispiel der „Lügenschrift“ vorgestellt wurde. 2 Ich wähle im Folgenden einen erweiterten Anlauf mit veränderten Fragestellungen, doch in komplementärer Absicht.
1. Christusliebe und Judenhaß – zwei Seiten einer Medaille? Aufs Ganze gesehen scheint Luthers Theologie zu allem fähig: Zur kraftvollen Explikation einer im Evangelium von Jesus Christus gegründeten Freiheitserfahrung, die auch das Bild des Judentums in früher Zeit positiv beeinflußte, und zum apokalyptisch angeschärften antisemitischen Exzeß, den wir beim besten Willen nicht mehr als genuinen Ausdruck reformatori1 Die – auch formale – Randstellung zeigt sich z.B. noch in der ansonsten verdienstvollen Darstellung von BERNHARD LOHSE, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 356–367 (Exkurs [!]). Vgl. dagegen Th. Kaufmann, der Luthers Judenfeindschaft zu Recht als „dunkle Kehrseite“ seiner Christusliebe, seines Rechtfertigungsglaubens und seiner Schriftauslegung bezeichnet; sie sei „kein unwichtiger Nebenaspekt seiner Theologie“. T HOMAS KAUFMANN, Martin Luther, München 2006, 111. Auch V. Leppin sieht Luthers Haltung „ganz durch [dessen] theologische Überzeugungen gesteuert.“ VOLKER LEPPIN, Martin Luther, Darmstadt 2006, 342. 2 Siehe den Beitrag von ANSELM SCHUBERT in diesem Band.
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scher Theologie gelten lassen und der „unmittelbaren Unbedingtheit“ der viva vox evangelii zurechnen können. In jedem Fall kann das Lob der mentalitätsverändernden Kraft von Luthers theologischen Einsichten oder der Erneuerung der anthropologischen Selbstwahrnehmung im Glaubens- und Gewissensverständnis nicht gesungen werden, ohne ihre möglichen und tatsächlichen Auswirkungen auf die Konstruktion der Gegenwelten von Papisten, Schwärmern, Juden, Türken und anderen Glaubensgegnern mit zu bedenken, und dabei die Frage nach der Einbettung in die tragenden theologischen Konzeptionen zu stellen. Manche Antisemitismusforscher sehen darin schlicht zwei Seiten einer Medaille. Ich plädiere dagegen für ein funktionales Verständnis der Judenfeindschaft Luthers: Sowohl der primär theologisch motivierte Antijudaismus wie der primär religionspolitisch motivierte Antisemitismus sind zu interpretieren als flexible funktionale Größen, die als solche bis zum Selbstwiderspruch veränderbar waren. 3 Ihre sachliche Mitte war der Streit um das sog. Schriftprinzip, zusammengefaßt im Theologumenon von der „Klarheit der Schrift“ (claritas scripturae). Zwar unterschied sich Luther in seiner grundlegend antijüdischen Einstellung von den meisten seiner Zeitgenossen nicht, doch von einer einigermaßen konsistenten „Theologie des Judentums“ kann ebenfalls keine Rede sein. Dies erwies sich im Nachhinein als Schwachpunkt. Die mittelalterlich-heilsgeschichtliche Perspektive von der endzeitlichen Judenbekehrung nach Röm 11,25–27 wurde aufgrund bibelexegetischer Einsichten von Luther nie wirklich akzeptiert. Was blieb, war ein schmaler Rest des traditionellen heilsgeschichtlichen Interpretationsrahmens, nämlich daß es bis zum Ende der Welt Juden werde geben müssen. Die Abkehr vom kanonischen Recht und die Unentschlossenheit gegenüber den Spielregeln der römischen Rechtspraxis in der tolerantia simplicis permissionis schuf offenbar ein Vakuum, das in der Frühzeit judenemanzipatorisch, und in der Spätzeit rigide antisemitisch ausgefüllt wurde. Luthers Judenfeindschaft als „spätmittelalterliches Erbe“ anzusprechen und damit zu neutralisieren, greift demnach zu kurz. Es sind die immanenten Leer- und Bruchstellen einer reformatorischen Theologie des Aufbruchs, die am Ende ihren apokalyptischen Implikationen nicht mehr gewachsen war. 4 3
Die Verwendung des Begriffes „Antisemitismus“ für vormoderne Phänomene der Judenfeindschaft stößt vor allem im deutschsprachigen Diskurs gelegentlich noch auf Skepsis. Diese ist bei entsprechender definitorischer Sorgfalt unberechtigt. Vgl. grundlegend GAVIN I. L ANGMUIR, Toward a Definition of Antisemitism, Berkeley, Calif. 1996. 4 Zur Gesamtentwicklung vgl. HANS-MARTIN KIRN, Luther und die Juden, in: ALBRECHT BEUTEL (Hg.), Luther Handbuch, Göttingen 2005, 217–224; DERS., Israel als Gegenüber der Reformatoren: Zur christlichen Sicht von Juden und Judentum im 16. Jahrhundert, in: FOLKER SIEGERT (Hg.), Israel als Gegenüber. Vom Alten Orient bis in die Gegenwart. 25 Studien zur Geschichte eines wechselvollen Zusammenlebens (Schrif-
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Im Blick auf die späten Judenschriften heißt das: Zum einen griff Luther etwa in der Vertreibungspropaganda auf längst legitimierte und gleichsam gefestigte Rechtspraktiken zurück, beanspruchte aber in einigen seiner radikalen Vorschläge einen gleichsam traditions- und rechtsfreien Raum, in welchem eine apokalyptisch zugespitzte Daseinsdeutung religiöse Vernichtungsphantasien nicht nur erlaubte, sondern geradezu herausforderte. Zum anderen setzte die rigide Judenfeindschaft der Spätzeit eine aporetische, obsessiv verfolgte Theologie der „Klarheit der Schrift“ (claritas scripturae) voraus, die den sachlichen Wahrheitsanspruch der christologischen Mitte der Schrift in keiner Weise mehr an die Bedingungen ihrer Kommunizierbarkeit gebunden sehen wollte. Dafür sorgte der legitimatorische Druck, der von den maßgeblichen konkurrierenden Konzepten ausging: zum Lehramt auf römisch-katholischer Seite und den Nachfolgeidealen des Geistchristentums radikalreformatorischer Prägung trat die Irritation durch die Akzeptanz außerbiblischer normativer Texte im Islam und vor allem im Judentum. Gerade die Konfrontation mit der jüdischen Traditionsliteratur sorgte bei Luther für eine tiefe Verunsicherung. De facto führte dies dazu, daß der hermeneutische Gewinn der Unterscheidung zwischen „äußerer Klarheit“ der Schrift im Sinne der Sachevidenz in Hauptfragen und „innerer Klarheit“ im Sinne geistvermittelter subjektiver Gewißheit preisgegeben und die existentielle Pointe beider Aspekte, nämlich mittels der Christusverkündigung Glauben zu provozieren, verdorrben wurde. 5
2. Die theologische Profilierung der späten Judenschriften auf dem Hintergrund der Gesamtentwicklung Es steht außer Frage, daß sich Luthers Auseinandersetzung mit Juden und Judentum primär als bibelexegetische Auseinandersetzung typisieren läßt, und daß sein theologischer Antijudaismus lebenslang mehr oder weniger unverändert blieb. Hierzu gehört, daß in der mittelalterlichen Tradition die basalen theologischen Grundunterscheidungen von „Fleisch“ und „Geist“ bzw. „Buchstabe“ und „Geist“ neben der innerchristlichen Problemanalyse
ten des Institutum Judaicum Delitzschianum 5), Göttingen 2000, 290–321, hier 293–302; VolKer STolle, Israel als Gegenüber Martin Luthers – im Horizont seiner biblischen Hermeneutik, ebd., 322–356, ThomaS KauFmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, 2. Aufl., Tübingen 2013. 5 Zur „Klarheit der Schrift“ vgl. kurz LOHSE 1995 (wie Anm. 1), 211–213; zur „Klarheit der Schrift“ im Kontext der Entdeckung der Subjektivität des Glaubens vgl. ULRICH BARTH, Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 27–51.
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stets auch zur Beschreibung religionstypologischer Antagonismen verwendet wurden. So demonstriert zum Beispiel Luthers erste Psalmenvorlesung, die Dictata (1513–1515), die enge Verschränkung von Selbst- und Kirchenkritik, Ketzerpolemik und Antijudaismus. 6 Das rabbinische Judentum wurde dabei stets als depotenziertes alttestamentliches Judentum und zugleich als gefährliche Konkurrenz imaginiert – ein Vorurteil, das auch die wenigen Begegnungen Luthers mit selbstbewußten Rabbinern in späterer Zeit nicht veränderten, sondern eher festigten. 7 Für die rabbinische Schriftauslegung als solche interessierte sich Luther nicht, lenkte sie in seinen Augen doch nur ab vom Christussinn der Schrift. Wohl aber wußte er sich je nach Interessenlage gezielt der antijüdischen Polemik zu bedienen, wie sie ihm die christliche Tradition aus zweiter Hand und die Tendenzliteratur der Konvertiten vermittelte. Dabei besaß die Profilierung gegenüber dem Grammatisch-Philologischen der mittelalterlichen jüdischen Ausleger wie im übrigen auch gegenüber dem Spekulativen der (christlich adaptierten) Kabbala ihre eigene Dynamik, insofern sie den theologischen Mehrwert der Texte strikt in christologischer Konzentration ausgelotet wissen wollte. Dies erklärt die Sorge vor dem „Judaisieren“ der christlichen Hebraisten vor allem unter den oberdeutschen und Schweizer Reformatoren, bei denen er eine notorische Unterbewertung der christologischen Pointen im hebräischen Text vermutete. 8 Ein entsprechend unübersichtliches Konfliktpotential war also latent stets vorhanden. Auch wenn sich grundlegende Kontinuitäten in Luthers theologischem Antijudaismus feststellen lassen, sollten die besonderen exegetischen Akzente der Jahre 1515/16 bis 1523 nicht übersehen werden. Peter von der Osten-Sacken hat hier einiges zur Schärfung des Blicks beigetragen. 9 In dieser Zeit entwickelte Luther bei der Paulusexegese ein tieferes Verständnis für den Bundes- und Erwählungsgedanken, welcher der Sicht des Judentums zugute kam. Hier wurzelten die Gedanken von der – wenngleich missionarisch motivierten – besseren gesellschaftlichen Akzeptanz der 6
Die Synagoge gehörte demnach der Sphäre des „Fleisches“ und des „Buchstabens“ zu, die per definitionem keine Wahrheitsansprüche in Glaubensfragen erheben konnte. 7 Entsprechend schockierend wirkte die Konfrontation mit der rabbinischen Traditionsliteratur, die nicht ins Bild des „alttestamentlichen“ Juden paßte. Luthers Unterstützung von Johannes Reuchlin im Streit mit Johannes Pfefferkorn um den Talmud und andere Schriften hatte nichts mit einer besonderen Würdigung dieser Literatur zu tun, sondern mit der Grundüberzeugung, daß die Inquisition nicht die geeignete Instanz sei, die für unstrittig gotteslästerlich gehaltene Glaubenspraxis der Juden zu verhindern. Vgl. WA Br 1; 23f. (Nr. 7). 8 Daß dies auch bei ihm wie in der Tradition zum Vorwurf der Schriftfälschung durch die Masoreten führte, sei nur am Rande erwähnt. 9 PETER VON DER OSTEN-SACKEN, Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Antonius Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31), Stuttgart 2002.
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Juden, die dann in der Schrift von 1523 („Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“) breiter ausgeführt wurden. 10 Die innovativen Seiten dieser Schrift werden des Öfteren noch unterschätzt. Was Luther an Veränderungen der kirchlichen und obrigkeitlichen Judenpolitik einforderte, zeigt, wie weiträumig auf der Basis reformatorischer Theologie gedacht werden konnte. Leitend waren das Gebot der Nächstenliebe und das Vorbild der apostolischen Heidenmission, eine deutliche Vorurteilskritik (etwa am Ritualmordvorwurf), und die Propagierung des schon von Johannes Reuchlin betonten Grundsatzes des Römischen Rechts, der die Juden als „Mitbürger“ (concives) bezeichnete. Zwar sollten sie damit den Christen nicht gleichgestellt, doch stärker vor rechtlicher und politischer Willkür geschützt werden. Diese Linie verfolgte Luther weiter, indem er Vorschläge zur besseren Integration der Juden in die Gesellschaft machte. Das egalitäre Moment wurde gestärkt, und die traditionelle Privilegienpolitik mit ihren restriktiven Sonderbestimmungen de facto aufgekündigt. So sollte den Juden die Erwerbstätigkeit im Handwerk und in der Landwirtschaft möglich gemacht und die freie Wahl des Wohnorts zugestanden werden. Hier finden wir bemerkenswerte Ansätze zur Entwicklung eines reformatorischen Toleranzmodells – ohne jede apokalyptische Konnotation und ohne jeden Verweis auf die unantastbare Strafexistenz der Juden am äußersten Rande der Gesellschaft. Offenkundig führten hier theologische Einsichten zur Freisetzung religionspolitischer Alternativen, die Teile der jüdischen Bevölkerung mit eigenen messianischen Hoffnungen verbinden konnten. 11 Realisiert wurden Luthers Reformideen bekanntlich nicht. Doch sein gedankliches Experiment bleibt, fragen wir nach dem theologisch fundierten sozialpolitischen Potential seines Denkens, ein kaum zu überbietendes Kontrastprogramm zu den Spätschriften. Dies gilt auch dann, wenn die mögliche Enttäuschung der an die Plausibilität der „Klarheit der Schrift“ gebundenen missionarischen Hoffnungen von Anfang an ein Unsicherheitsfaktor blieb. Nach 1525/26 nahmen die Abgrenzungsbemühungen gegenüber dem Judentum wieder zu. Die mit dem Bauernkrieg angezeigten Gefährdungen revitalisierten offenkundig hergebrachte Abgrenzungs- und Dämonisierungsstrategien. Diese Linie stets mehr reduzierter Toleranzperspektiven setzte sich in den 1530er Jahren fort. Das bedeutete auch: Das Modell 10
WA 11; 314–336. – Immerhin kamen hier die Juden auch als real existierende Wesen und nicht nur als theologische Chiffre in Betracht Die positivere Bewertung des Judentums zeigte sich etwa in der Kritik an der verbreiteten Praxis der Passionsmeditation, den Zorn der Zuhörer auf die Juden zu lenken, statt – wie Luther verlangte – sich selbst als „Christusmörder“ im eigenen Herzen zu kritisieren. Vgl. WA 2; 136.3–10. 11 Zu jüdischen Reaktionen auf die Reformation siehe DEAN PHILLIP BELL/STEPHEN G. BURNETT (Hg.), Jews, Judaism, and the Reformation in Sixteenth-Century Germany (Studies in Central European Histories 37), Leiden 2006, Part IV.
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konkurrierender Auslegungsgemeinschaften wurde zunehmend dramatisch kodiert und apokalyptischen Deutungsperspektiven unterstellt, die 1523 wenigstens in Hinsicht auf das Judentum noch undenkbar waren. Der Brief an Josel von Rosheim von 1537 zeigt die Richtung des veränderten Denkens: die Juden waren nicht mehr nur Glaubensgegner, sondern strategisch aktive Christenfeinde, die das Gemeinwohl bedrohten. 12 Theologisch bedeutet dies: Die Verteidigung der reformatorischen Neuorientierung in der Rechtfertigungslehre (sola fide) und in der hermeneutischen Grundunterscheidung von Gesetz und Evangelium schien nicht mehr möglich ohne antagonistische Profilierung gegen alles, was als fundamentale Bedrohung der eigenen, im Schriftprinzip gegründeten Identität wahrgenommen wurde.
3. Das Theologumenon von der „Klarheit der Schrift“ in apokalyptischer Perspektive Auch in der letzten Phase seines Lebens führte Luther die Auseinandersetzung mit Juden und Judentum in erster Linie auf bibelexegetischer Grundlage, und das heißt: im Streit um die äußere claritas scripturae und ihre christologische Sachevidenz. Charakteristisch war, daß die vermeintliche Konkurrenz jüdischer Schriftauslegung zunehmend in die Konstruktion eines endzeitlichen Verfolgungs- und Bedrohungsszenariums eingebettet wurde. „Papisten“, „Schwärmer“, Juden und Türken repräsentierten nun als Kollektivsubjekte jene entfesselten dämonischen Mächte, die auf Bestreitung der claritas scripturae und damit auf die Zerstörung der im sog. Schriftprinzip verankerten „Freiheit eines Christenmenschen“ aus waren. Die Dehumanisierung und Dämonisierung der Gegner als Spielball fremder Mächte war die Folge – nicht nur aufgrund eines apokalyptischen Lebensgefühls, sondern aufgrund einer apokalyptischen Rationalisierung der reformatorischen Theologie und Schriftauslegung. Was in der Papstkritik eingeübt und im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg aktualisiert worden war, weitete sich in der Spätzeit zu einem Instrument kumulativer Identifizierung antichristlicher Mächte. Anders ist es kaum zu verstehen, wie das Gerücht von der jüdischen Mission in Mähren durch die sog. „Sabbater“ zum Anlaß einer ganzen Reihe apologetisch angelegter judenfeindlicher Schriften werden konnte. 13 Die eigenen Wahrheitsansprüche im Horizont des apokalyptischen Weltendramas deuten zu 12
WA Br 8; 89–91. Vgl. WA 50; 312–337. Die Sabbatarier waren eine täuferisch beeinflußte radikalreformatorische Bewegung, für die der Gehorsam gegenüber der Tora (etwa in der Schabbatheiligung) verbindlich war, siehe kurz Art. Sabbatarier I., in: RGG 7, 718f. 13
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müssen, begünstigte die Dämonisierung der Gegner und die Intensivierung der Polemik. Der vermeintlichen Dramatik entsprach der Tausch der Opferrollen, wie er zum Standardrepertoire antijüdischer Agitation gehörte: Nicht mehr die Juden waren Opfer der Christen, wie noch in den frühen Jahren selbstkritisch analysiert, sondern die „unschuldigen“ Christen Opfer der feindlich gesonnenen Juden. Daß Luther in Wahrheit ein radikalreformatorisches Problem reflektierte, bei dem die Juden Stellvertreter innerchristlicher Differenzen in der Schriftauslegung waren, blieb verborgen. Zweifellos lassen sich Luthers späte Judenschriften in die traditionellen Kontexte rigider Ketzerbekämpfung, wie sie auch im Hexenwahn wirksam wurden, vor allem aber in die spätmittelalterliche, vielfach bettelmönchisch inspirierte Agitation gegen die Juden einzeichnen. Der apokalyptische Deutungshorizont begünstigte nun in besonderer Weise den Einsatz radikaler Dämonisierungsstrategien, wie sie etwa im hemmungslosen Gebrauch der Fäkalpolemik und im propagandistischen Rückgriff auf das im deutschsprachigen Bereich verbreitete Motiv der sog. „Judensau“ sichtbar wurden. 14 Waren auch die Elemente als solche nicht neu, so war es doch in gewisser Weise deren theologische Rationalisierung mit Hilfe des Theologumenons von der (äußeren) claritas scripturae. Die Ansätze hierzu lassen sich in vielen zeitnahen Kontexten beobachten. Dies deutlich zu markieren, scheint mir für die Hermeneutik der späten Judenschriften wichtig. So tragen etwa „Die drei Symbola oder Bekenntnis des Glaubens Christi“ von 1538 das Gepräge einer zunehmenden Dramatisierung des Weltgeschehens als kosmischer Kampf zwischen Christus und Teufel. 15 Hier wurde nachdrücklich die mit der Evangeliumsverkündigung notwendig verbundene Intoleranz und Kampfesbereitschaft in der „Scheidung der Geister“ hervorgehoben und mit geschichtstheologischen Analogien untermauert. So wenig sich demnach die Verkündigung des Evangeliums mit dem religiösen Pluralismus der römischen Antike vertrug, so wenig ließ sich die reformatorische Verkündigung mit dem Papsttum und allem, was sich strukturell als verwandt anweisen ließ, vereinigen. 16 Zur Begründung zog Luther unter anderem auch eine Predigt 14
Vgl. ISAIAH SHACHAR, The „Judensau“. A Medieval Anti-Jewish Motif and its History (Warburg Institute Surveys and Texts 5), London 1974. Im Mittelalter konnten auch Mönche und Geistliche mit dem Schwein assoziiert werden, um luxuria und gula, Symbole des Luxus und der Üppigkeit, anzuprangern. Eine bildhafte Stereotypisierung zur „Mönchssau“ oder „Pfaffensau“ unterblieb freilich. 15 WA 50; 255–283. Angesichts des kosmischen Kampfes zwischen Christus und dem Teufel („Belial“) hieß es: „Darumb las gehen, wie es gehet, menge dich nicht zwischen thur und angel, du wirst Christum und Belial nicht vertragen, die feindschafft ist zu hart aneinander geschworen, Einer mus zu letzt untergehen und der ander bleiben, da wird nicht anders draus.“ Ibid., 270.31–34. 16 Vgl. ibid., 271.11–25.
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von Bernhard von Clairvaux und dessen Auslegung von Jes 38.17 (ecce in pace amaritudo mea amarissima) heran. 17 Die Juden erschienen in diesem Zusammenhang noch als (verführerische) Gegenstimmen der glaubenslosen Vernunft, welche die äußere „Klarheit der Schrift“ gegen das innere Zeugnis des Heiligen Geistes behauptete und damit an den Kerngehalten christlichen Glaubens vorbeiging. Trotz apokalyptischer Gesamtschau konnte die religiöse Differenz zwischen Juden und Christen 1538 noch klassisch polemisch so wiedergegeben werden: „Und zwar sind wir Christen ia nicht so gar sinnlos oder on alle vernunfft, wie uns die Juden achten, welche uns fur eitel tolle Gense und Enten halten, als die wir nicht fulen noch mercken kundten, wie nerrisch ding es sey, zu gleuben, das Gott mensch sey und inn der einigen Gottheit drey unterschiedliche person. Nein (Gott lob) wir fulens wol, das solche lere nicht wil noch kan inn die vernunfft gehen, durffen keiner hohen Judischer vernunfft, die uns solchs zeige.“ 18
Zugleich aber beharrte Luther auf der äußeren Klarheit der Schrift für die (erleuchtete) Vernunft: Die christologische Sachevidenz biblischer Grundtexte, etwa die trinitarische Auslegung von Gen 18.1–15, war offen demonstrierbar. 19 Der jüdischen Exegese in den christologisch und trinitätstheologisch relevanten Stellen des Alten Testaments zu folgen hieß demnach, „den gewaltigen text lassen faren und auff blos Juden geschwetz mein hertz und gewissen bawen!“ 20 Die jüdische Uneinsichtigkeit spiegelte einerseits den eigenen „natürlichen“ Vernunftgebrauch mit seinen Zweifeln und Anfechtungen, andererseits aber auch den einzigartigen schuldhaften Verblendungszusammenhang, in dem die Juden durch die Zeiten hin als vermeintlich halsstarrige Propheten- und Christusmörder standen. Wie in der Christenheit bestand auch hier im apokalyptischen Kontext Hoffnung nur für einen kleinen „Rest“ Umkehrwilliger. Die Rationalisierung der äußeren „Klarheit der Schrift“ vollzog sich daher zunehmend im Stil der Proklamation angeblich offenkundiger Wahrheiten. 21 Der Leitgedanke des „heiligen Restes“, der das Zorngericht Gottes durchsteht, kehrte in den späten Judenschriften wieder. Er sollte triumphalistischen Gefühlen wehren, doch die zunehmende Imagination der Welt als Tollhaus, in der die Juden in die Front der erklärten Feinde Christi und seiner Anhänger eingereiht wurden, ließ dem traditionellen Koexistenzgedanken keinen Raum mehr. 17
Ibid., 272.27–33. WA 50; 273.22–28. 19 „Und hilfft hie wider nichts, was die Juden gauckeln, der text stehet da: Der HERR sey es, der im erschein inn drey Personen […]“. WA 50; 280.24–26. 20 WA 50; 280.2f. 21 „Denn ich ja fur habe (wo es Gottes wille sein wolt) unsern glauben gegen der Juden thorheit zu halten, ob etliche unter inen mochten gewonnen werden.“ WA 50; 280.8– 10. 18
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Daß Luthers Kampf gegen das Judentum in der Sorge um die Profilierung seiner Bibelexegese wurzelte, zeigt die Schrift „Wider die Sabbater“ von 1538 deutlich. 22 Diese läßt klare Argumentationsmuster erkennen. Es ging in dieser Phase um den Nachweis, daß sich der protestantische Anspruch auf Normativität im sola scriptura und auf rationale „Klarheit der Schrift“ im sui ipsius interpres bewährte. Das ließ sich als theologischer Anspruch der Sache selbst formulieren, aber zugleich auch als Interesse an einer Klärung der Verhältnisse: Sei es als Homogenisierung der Schriftauslegungsgrundsätze im eigenen Lager, sei es als Markierung der Differenzen gegenüber anderen. Dazu schien die antijüdische Profilierung der eigenen Texthermeneutik mit ihrer Betonung des (christologischen) Literalsinns und der Ablehnung fremder Autoritäten wie Papst und Rabbinern hervorragend geeignet. Entsprechend weitläufig wurden in dieser Schrift die beiden zentralen Themenkomplexe „Messiashoffnung“ und „Toraverständnis“ exegetisch behandelt, teilweise mit Rückbezug auf den hebräischen Urtext. Weithin traditionell blieben die Rationalisierung der Schriftbeweise wie die Rhetorik der Beschwörung, die den Gegner in die Enge treiben und zur Entscheidung zwingen bzw. die Absurdität seiner tatsächlichen Verweigerung hervorheben und zuletzt die eigene Identität festigen sollte. So wurde der klassische antijüdische Geschichtsbeweis, der die ungewöhnliche Länge des jüdischen Exils nach der Zerstörung Jerusalems auf eine ungewöhnlich schwere Sünde (sprich: den Messiasmord) zurückführte, den Juden – bzw. in deren Gestalt den wenig glaubensfesten Christen – in unerbittlicher Strenge vorgehalten, etwa in den Worten: „Sage doch, wers kan: Was ist die Sunde, lieber Jude, sage doch, Wie heisst die Sunde, umb welcher willen Gott so lange uber euch zurnet und seinen Messiam nicht sendet.“ 23
„Sage doch!“ Luther war sich sicher, daß keine Antwort darauf möglich war jenseits der logischen Alternative: Entweder gestand der „liebe Jude“ ein, daß der Messias vor 1500 Jahren gekommen war, oder er machte sich durch das bloße Festhalten an seiner Überzeugung der Blasphemie schuldig, da er Gott faktisch gegen alle Einsicht zum Lügner erklärte. Mit dem Vorwurf der Schmähung des Gottesnamens wurde den Juden kollektiv ein strafwürdiger Religionsfrevel angelastet. Das Theologumenon von der „Klarheit der Schrift“ half dabei mit, die stets latent vorhandene Häretisierung des rabbinischen Judentums voranzutreiben. 24 Die sog. „Ver22
S. Anm. 13. WA 50; 315.23–25. 24 Zur zunehmend rigiden Haltung der Wittenberger im Blick auf den obrigkeitlichen Umgang mit „halsstarrigen“, des Aufruhrs verdächtigen Täufern in den 1530er Jahren vgl. das Gutachten für Philipp von Hessen von 1536, WA 50; 6–15 („Aus diesem allem 23
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stocktheit“ der Juden erschien weniger als Grenzbegriff, der auf das undurchschaubare Ineinander von menschlicher Schuld und göttlichem Verhängnis verwies, sondern als antichristlich fehlgeleitetes Handeln gegen besseres Wissen und unter Mißachtung der Stimme des eigenen Gewissens. Diese zeigte sich für Luther konsequenterweise in der jüdischen Bibelhermeneutik, deren Zielsetzung geradezu die Vermeidung der Einsicht in den existentiellen Christussinn war: „[…] gerne schlipffern und fladdern [sie] von einem auffs ander, wenn sie fulen, das sie getroffen werden.“ 25 Für die unbelehrbaren Juden galt wie für die „Türken“: Sie „stopffen die ohren, augen und hertzen fest zu gegen das selige Buch der Heiligen schrifft […].“ 26 Auf diese Weise konnte die traditionelle Auffassung von der jüdischen Strafexistenz im Exil („Elend“) mit dem Vorwurf der notorischen Gotteslästerung verrechnet und entgegen den Ansätzen der Frühzeit allen humanitären und politischen Reformüberlegungen entzogen werden: [Die Juden] „sitzen imer auff der schuckel [d.h.: sind ohne feste Heimat] und wurffschauffel. Heute nisten sie hie, morgen werden sie vertrieben und ire nester zurstoret, und ist kein Prophet hie, der da spreche, flihet dort hin odder hie her, Sondern mussen auch des orts ires Elendes ungewis sein und schweben im winde, wo er sie hin webd [weht]. Solches ist alles noch nie geschehen […].“ 27
Zuweilen wurde das geschichtstheologische Argument mit geradezu mathematischer Präzision vorgeführt, d.h. mit genauer Angabe der Jahre, wie sie Luthers chronologischen Berechnungen der Weltgeschichte zugrundelagen. 28 Merkwürdig war, daß eben dies Geschichtsargument in der Türkenfrage gerade das Gegenteil beweisen sollte: Dem äußerlich erfolgreichen Osmanischen Reich korrespondierte in Luthers Ausgabe der Confutatio Alkorani von 1542 29 ein von Gott gestraftes Christentum, das in aller Schwachheit Gottes Handeln an sich erkennen sollte. 30 Dies lag nicht weit von der jüdischen Selbstauslegung des Exils entfernt, doch solche Analogien lagen Luther anders als späteren verfolgten Christen noch fern. Zwar bewegen sich diese Aussagen ganz im Rahmen von Luthers Grundauffassung von der „Klarheit der Schrift“, doch die zunehmend aggressive Beschwörung der sog. „Verstockten“ und ihrer Denunzierung als ist nu klar, das weltliche Oberkeit schuldig ist, Gottes lesterung, falsche leer, ketzereien zu wehren und die anhenger am leib zu straffen.“ Ibid., 13.27–29). 25 WA 50; 316.2f. 26 Im Blick auf die Muslime fügte Luther hinzu: „bleiben auff irem Alcoran, das heisst zorn uber allen zorn [...]“, WA 53; 276.18–20. 27 WA 50; 320.37–321.5. 28 Vgl. z.B. WA 50; 336.30–337.2. 29 WA 53; 261–396. vgl. Luthers Vorwort zu Th. Biblianders Koranedition, WA 53; 561–572. 30 Vgl. WA 53; 274.7–276.28.
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Blasphemiker fällt auf. Der emanzipatorische Gewinn, den die These von der sich selbst auslegenden Schrift gegenüber Rom und den radikalen Reformatoren hatte, wurde an Scheinklarheiten exegetischer Art verspielt. Es war, so könnte man sagen, nicht mehr die Zeit des Glaubens an ein um sich greifendes, freimachendes Gotteswort wie in den Anfängen der reformatorischen Bewegung, es war die Zeit der vermeintlichen Gefährdung alles bislang Erreichten. Die einzige Alternative schien, ähnlich wie im Kampf gegen den sog. Papismus, klar und bündig nur diese: Entweder man glaube dem „trewen, warhafftigen Gott odder den falschen, verlogenen Juden“. 31 Im zweiten Teil der Schrift „Wider die Sabbater“, die sich der Frage der Gültigkeit der Tora widmete, wiederholten sich die bibelhermeneutischen Strategien der Distanzierung mittels Proklamation der eigenen Einsichten. Den Juden wurde dabei im Duktus der Substitutionshypothese ihr Judesein schlichtweg abgesprochen, es sei denn – so Luther voller Spott – es gelänge ihnen, wieder nach Jerusalem zurückkehren, den Tempel aufzubauen und ihre verlorene Staatlichkeit zurückzugewinnen. Dann würden gewiß die Christen kommen „und auch Juden werden“. 32 Kurzum: Luther beharrte gerade gegenüber den Juden auf der äußeren „Klarheit der Schrift“. Dies änderte sich auch in den 1540er Jahren nicht, doch trat nun angesichts der jüdischen Unerreichbarkeit und des apokalyptisch gesteigerten Bedrohungsgefühls das Proklamatorisch-Exorzistische in der nun auch religionspolitisch relevanten Scheidung von Glauben und Unglauben noch stärker hervor. 33
4. Die Radikalisierung in den antijüdischen Schriften von 1543 In den Schriften von 1543 setzte sich die Radikalisierung der theologischen Abwendung vom Judentum mittels Häretisierung und Dämonisierung fort. Das anfangs wenigstens noch idealiter imaginierte exegetische Streitgespräch machte sich im Zeichen der göttlichen Verwerfungs- und Zornesperspektive gleichsam selbst überflüssig. Was im Blick auf die Vertreibungspolitik der Obrigkeiten im Spätmittelalter gesagt werden kann, galt auch hier: Man bedurfte der Juden nicht mehr – es sei denn als Projektionsfläche der eigenen Unsicherheiten. Mit Juden ein Glaubensgespräch 31
WA 50; 330.5f. WA 50; 324.3. 33 1538 konnte Luther noch sagen: „Solch Argument weis ich fur war, das wo noch vernunfftige Juden sind, mus sie bewegen, Auch die verstockten dennoch ein wenig stossen. Denn sie konnen nichts bestendigs da widder auff bringen. Bewegt oder stosset sie es nicht, So haben wir dennoch unsern glauben damit wol bestettigt, das uns ire faule, unnutze lugen und falsch geschwetze nichts schaden konnen.“ WA 50; 322.35–323.3. 32
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zu führen, war nun nichts anderes mehr „als wenn du mit einem kotz oder stein redest.“ 34 Sollte ein Gespräch über Glaubensfragen doch unvermeidlich sein, dann hatte der Christ nicht mehr zu tun als den Juden die Dauer des Exils vorzurechnen und diese dem Gotteszorn Verfallenen sich selbst zu überlassen: „Mit diesem Nuslin las sich die Juden beissen und disputiren, so lange sie wollen.“ 35 Offenbar stellte es kein Problem dar, die Elemente spätmittelalterlicher Agitation gegen die Juden in voller Breite in die reformatorische Schriftzentriertheit zu integrieren und apokalyptisch zu konnotieren. Was in der Confutatio Alcorani 1542 gesagt wurde, galt für die gesamten Aktivitäten der antichristlichen Front: „Das sind die rechten letzten schrecklichen grewlichen ergerlichsten plagen, eim Christen schwerlich zu ertragen in seinem hertzen“. 36 Genährt wurde diese Vision durch die dualisierende Aktualisierung des Feind-Motivs der Psalmen, wie etwa der Verweis auf Ps 89,47f. deutlich machte 37 – eine klare Vereinseitigung gegenüber dem Motivgebrauch in jungen Jahren. In dieser Perspektive wurden, etwa in „Von den Juden und ihren Lügen“ 38, alle Äußerungen jüdischer Glaubensund Lebenspraxis interpretiert als hochmütige Zurschaustellung äußerer Selbst- und Werkgerechtigkeit gegen das offenbare Zeugnis der Schrift, ob es nun um das jüdische Erwählungsbewußtsein, um die Beschneidung, um die Messiashoffnung oder um soziales Abgrenzungsverhalten ging. In alledem sah Luther wie bei Türken, „Papisten“ und „Schwärmern“ antireformatorische Mächte am Werk, die das Zentrum des Glaubens angriffen, nämlich Gott „allein durchs Wort“ zu ergreifen. 39 In ihrer Gefährlichkeit rangierten die Juden direkt hinter dem Teufel. 40 „Darumb sind die itzigen
34
WA 53; 435.11f. – Die Hoffnung auf die endzeitliche Rettung einzelner Juden und die Aufforderung zum Gebet für sie wie für die anderen angeblichen Christusfeinde wirkten angesichts der massiven Dehumanisierung im Gesamtkontext der „Lügenschrift“ als bloße Verlegenheiten. Gleichwohl klangen auch Sätze an, die an die Hoffnung auf eine allgemeine Judenbekehrung erinnerten: mit Blick auf die prägende jüdische Erziehung heißt es, „[…] das da kein hoffnung ist, bis sie dahin komen, das sie durch ir Elend zu letzt murb und gezwungen werden, zu bekennen, das Messias sey komen, und sey unsere Jhesus. Sonst ists viel zu frue, Ja gar umb sonst, mit inen zu disputiren, Wie Gott dreyfaltig, Gott mensch sey, Maria Gottes Mutter sey.“ WA 53; 419.6–10. 35 WA 53; 418.13f. 36 WA 53; 276.2f. 37 Ibid., 276.3–6. 38 WA 53; 417–552. Die Schrift gab sich als Gegenschrift zu einer jüdischen Antwort auf „Wider die Sabbater“. 39 Vgl. z.B. WA 53; 435.34f. 40 „Das ists, das ich droben gesagt habe, das ein Christ, nehest dem Teufel, keinen gifftigern, bittern feind habe, denn einen Juden […].“ WA 53; 530.31f.
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Juden seer grobe Lerer und unvleissige Schuler der Schrifft [...]“ 41, ihnen wurde ein „verbittert, gifftig, blind hertz“ zugeschrieben. 42 Zugleich wird in den späten Judenschriften die Funktionalisierung des antijüdischen Arguments im Rahmen einer innerchristlichen Homogenisierungs- wie Differenzierungsstrategie deutlich. Was literarisch gegen die Juden gerichtet war, galt zunächst als Warnung vor einem allzu großen Vertrauen in die christliche Hebraistik, wie sie in Straßburg und im Schweizer Kontext gedieh. 43 Dort schenkte man nach Luther dem „Narrenwerk“ rabbinischer Auslegung zuviel Aufmerksamkeit. Wer den Grundsatz der Glaubensanalogie für die Auslegung alttestamentlicher Texte aufgebe, begünstige in Wahrheit den Aufstand gegen die „helle, öffentliche Wahrheit“ des Evangeliums. Statt sich mit dem Studium rabbinischer Traditionsliteratur zu befassen, begnügte sich Luther mit althergebrachten sekundären Zeugnissen, wie sie Nikolaus von Lyra (um 1270/1275–1349), Paulus von Burgos (1351–1435) und – etwa im Blick auf die messianische Deutung von Gen 49,10 und die „Chaldäische Bibel“ (also den Targum Onkelos) – Salvagus Porchetus (ca. 1315) der christlichen Leserschaft unterbreitet hatten. Von der neueren Polemik beeindruckte Luther insbesondere „Der gantz jüdisch Glaub“ (1530/1531) aus der Hand des Konvertiten Antonius Margaritha.44 Auf diesem Hintergrund mußten ihm die Kontakte christlicher Hebraisten mit sprachgelehrten Juden als Mißachtung der „Zeit der Gnade“ erscheinen, die Gott der Evangeliumsverkündigung noch gab. Dazu gehörte, die sog. „schwachen Christen“ mit allen rhetorischen Mitteln vor Sozialkontakten mit Juden zu warnen, ein wichtiges Element der auf Scheidung von Gut und Böse zielenden Logik apokalyptischen Denkens.45 Der damit betriebenen Immunisierungsstrategie sollte auch das Studium 41
WA 53; 471.20f. WA 53; 419.11. 43 Vgl. STEPHEN G. BURNETT , Reassessing the „Basel-Wittenberg Conflict“: Dimensions of the Reformation-Era Discussion of Hebrew Scholarship. in: ALLISON P. COUDERT , JEFFREY S. SHOULSON (Hg.), Hebraica veritas? Christian Hebraists and the Study of Judaism in Early Modern Europe (Jewish Culture and Contexts), Philadelphia 2004, 181–201. 44 WA 53; 451f. Ein Exemplar von Salvagus Porchetus‘ Victoria adversus impios Hebraeos, Paris 1520, mit eigenhändigen Notizen Luthers findet sich in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe. Zu Margaritha vgl. neben oSTen-SacKen (s. Anm. 9) michael ThomSon WalTon, Anthonius Margaritha and the Jewish Faith. Jewish Life and Conversion in Sixteenth-Century Germany, Detroit/Mich. 2012. 45 „Solchs sage ich zu ehren und stercke unsers Glaubens, Und zur schande dem verstockten unglauben der verblendten, halsstarrigen Juden, Welchen Gott imer und ewig mus ein Lugener sein [...].“ WA 53; 471.37–39. Zur Begründung diente u.a. die Rezeption der alten Vorwürfe, die Juden „wüteten“ in ihren Synagogen gegen Christen, schmähten Jesus als Zauberer und Verführer, Maria als Hure, und die Christen als abergläubische Edomiter. 42
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der rabbinischen Schriftauslegung von gelehrter Seite unterworfen sein. So hieß es in „Vom Schem Hamphoras“: „Lesen mugen wirs, zu sehen, was sie verdampt Teuffels werck bey sich treiben, und dafur zu huten.“46 Nichts hinderte mehr die volle Rezeption der xenophoben Antisemitismen der Tradition, darunter der Vorwurf des Ritualmords und der Brunnenvergiftung. Allein am Hostienschändungsvorwurf bestand verständlicherweise kein Interesse mehr. Alle derartigen Vorwürfe waren 1523 noch als gänzlich unglaubwürdig abgetan worden. Zusammen mit den Ratschlägen der „scharfen Barmherzigkeit“ wurde damit der primär theologisch motivierte Antijudaismus Luthers endgültig zur antisemitischen Agitation, die nur noch ein Ziel kannte: mit geordneten religionspolitischen Maßnahmen dieVerelendung und Zerstörung des Judentums als Religionsgemeinschaft voranzutreiben. Die Diffamierung des Rabbinismus entfaltete Luther weiter in seiner Doppel-Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“, welche als Ergänzung zur „Lügenschrift“ gedacht war, sowie in „Von den letzten Worten Davids“, der Auslegung von 2 Sam 23,1–7. 47 Hier zeigte sich nochmals die Frontstellung gegenüber der philologisch orientierten Exegese von Juden und „judaisierenden“ christlichen Hebraisten, welche die für ihn so wichtige theologische Omnipräsenz Christi in der Bibel verkannten und damit den antichristlichen Kräften in die Hände arbeiteten. 48 In „Vom Schem Hamphoras“ ging es thematisch um den Vorwurf, die Juden trieben mit dem Tetragramm kabbalistisch-magische Zauberei, und denunzierten Jesus als Zauberer, der mit dem Tetragramm (dem Schem HaMephorasch) seine Wunder getan habe. Schwerere Vorwürfe ließen sich im religiösen Bereich kaum erheben, und entsprechend maßlos wurde die Polemik. Hinzu kam, daß die Juden als Lieferanten von Zauberbüchern an die christliche Bevölkerung denunziert wurden, wie die Visitationspraxis angeblich zeigte; die dort gefundenen Zauberbücher hätten seltsame Namen enthalten, die „gewislich Ebreisch“ waren. 49 Auch hier offenbarte sich der Kampf gegen das Judentum als feindlich-konkurrierende Auslegungsgemeinschaft als Kampf um die innerprotestantische Vereinheitlichung und damit Plausibilisierung der eigenen bibelhermeneutischen Grundsätze. 46
WA 53, 644.32f. „Sie sind die rechten Lugener und Bluthunde, die nicht allein die gantze Schrifft mit iren erlogenen glosen, von anfang bis noch daher, on auffhoren verkeret und verfelscht haben.“ WA 53, 433.13–15; siehe auch ibid., 511f. u.ö. 47 WA 53; 579–648; WA 54; 28–100. 48 „Universa scriptura de solo Christo est ubique […].“ WA 56; 414.15f. (1515/1516), vgl. WA 15; 413.4f. (1524). 49 WA 53, 613.32–614.5; hier 614.3. Vgl. die biografisch eingefärbten Beispielgeschichten in diesem Zusammenhang, ibid., 614.6–22.
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Zu einer dauerhaft veränderten Wahrnehmung des Judentums hatte also die reformatorische Theologie nicht geführt, obwohl sie Ansätze dazu entwickelt hatte. Sie blieb am Ende in ihrer antijüdischen Aktualisierung den radikaleren Stimmen der Judenfeindschaft des späten Mittelalters verpflichtet. Dabei wird man konstatieren können, daß das theologische Grundmotiv der Verstockung, das stets auf irgendeine Weise mit der Rationalisierung undurchsetzbarer Wahrheitsansprüche zu tun hat, sein judenfeindliches Potential erst in der Spätphase entfalten konnte, in welcher der Streit um Christus und die Schrift nur noch mit Hilfe der apokalyptischen Dramatisierung zu führen schien. Das ursprünglich emanzipatorisch angelegte Theologumenon von der „Klarheit der Schrift“ wurde nun zum wichtigsten Instrument der Denunziation. So hieß es im Blick auf die „verdammten Rabbiner“: „Und wenn ich meine Papisten nicht hette erfaren, So were mirs ungleublich gewest, das auff Erden so bose Leute sein sollten, die offentlicher, erkanter warheit, das ist Gott selbs ins Angesicht, wissentlich sollten widerstreben.“ 50 Freilich macht auch eine derartige Deutung der eigenen Biographie die Frage nicht überflüssig, welches kritische Potential Luthers Schrifttheologie gegen jene apokalyptischen Verblendungen aufzubieten hat, denen sie selbst verfiel.
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WA 53; 449.22–24.
Evangelische Existenz Leben und Glauben in Luthers Briefen Johannes Schilling Einleitung Verehrte Kollegen, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, meine Damen und Herren, Leben und Glauben, Glauben und Leben in Luthers Briefen oder, bescheidener, in Briefen Luthers. Nicht weniger? Nein, „Biographie und Theologie“ wollten mir zunächst nicht recht einleuchten. Das hat wohl mit dem Verhältnis, oder besser: mit der Beziehung zum Gegenstand zu tun. Freilich auch mit der Beobachtung, daß der Begriff ‚Biographie‘, neuerdings verstärkt, das Wort ‚Leben‘ zu verdrängen beginnt, jemand hat nicht mehr eine Lebensgeschichte, sondern eine Biographie, auch wenn er, aus welchen Gründen auch immer, nicht oder noch nicht einer Lebensbeschreibung gewürdigt worden ist. Ich werde mich auch nicht mit Lutherbiographien befassen, sondern mit Luthers eigenem Schreiben. Und dadurch hat er gewiß auch an seiner Lebensgeschichte geschrieben, ja, dieses Schreiben ist ein Stück seiner Lebensgeschichte. Insofern ist Luther auch sein eigener Biograph, aber er schreibt nicht über sein Leben, sondern dieses Schreiben ist sein Leben, und sein Leben ist Schreiben. Warum interessiert uns Martin Luther noch immer? Doch wohl nicht (zuerst), weil er ein großartiges, faszinierendes Gedankengebäude errichtet hat. Gewiß auch nicht, weil er der lutherischen Kirche, die nach seinem Willen so nicht heißen sollte, seine Lehre hinterlassen hat. Und erst recht nicht als legislator, als Gesetzgeber für die evangelischen Christen. Anweisungen für Recht und Ritual sind von diesem Mann nicht zu erwarten. „Vorschreiben und Nachtun ist weit voneinander“, schreibt er im Januar 1527 an den Landgrafen Philipp hier nach Marburg 1. Luther hat sich, auch Überarbeitete Fassung des öffentlichen Abendvortrags am 24. März 2009 in Marburg. Den mündlichen Charakter des Vortrags habe ich beibehalten, die Nachweise wollen die Kontexte erschließen. Die mir ursprünglich aufgegebene Aufgabe lautete: „Biographie und Theologie in Luthers Briefen“. – Dietrich Korsch danke ich nicht nur für die Einladung, sondern auch für viele Briefe in manchen Jahren.
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wenn seine Widerstände nichts gefruchtet haben, immer dagegen gewehrt, das Orakel von Wittenberg zu sein. Denn das wollte er ausdrücklich nicht, daß ihm mitsamt den übrigen Wittenberger Theologen die Schuld dafür gegeben werde, „als wollten wir niemanden außer uns lassen etwas gelten, so wir doch, das weiß Gott, wohl wünschen, daß jedermann ohne uns das Allerbeste täte“ 2. Seine Autorität galt freilich schon zu Lebzeiten, und nicht ohne Grund, und ohne den Zusammenhang von Lebenszeit und Nachleben wäre auch seine Bedeutung für die evangelische, lutherische und protestantische Orientierung eine solche nicht geworden. Der historische Martin Luther und der rezipierte Vater des neuzeitlichen Christentums, der Mann der Weltgeschichte, gehören zusammen wie der historische Jesus und der verkündigte Christus – von dem sich Luther ausdrücklich unterschieden wissen wollte: „Was ist Luther? ist doch die lere nitt meyn. Szo byn ich auch fur niemant gecreuzigt.“ 3 Warum interessiert uns Martin Luther noch immer? Eine interessante Antwort hat Egon Friedell in seiner ‚Kulturgeschichte der Neuzeit‘ 4 gegeben. Das faszinierende Buch erschien zuerst 1931 und wird seitdem in vielen Auflagen und mehr als einhunderttausend Exemplaren verkauft und gelesen. Friedell, der Wiener Jude, hat gemeint, Luther sei ein ausgesprochener Übergangsmensch gewesen, in dem sich Altes und Neues in höchst seltsamer Weise mischte, ein Revolutionär, der noch mit dem Alten rang und es durch einen inbrünstigen schöpferischen Haß bekämpfte, um dieses Alte zu überwinden und zu beseitigen. „Um etwas mit der tiefsten Leidenschaft bekämpfen zu können“, schreibt Friedell, „muß man aufs tiefste daran leiden können, und um daran wirklich leiden zu können, muß man es sein […] Nur aus diesem immerwährenden Kampf gegen sich selbst und seine Vergangenheit kann er die Kraft zum Kampf für die Zukunft schöpfen. […] Daß er inmitten einer gärenden, tastenden, zerrissenen Zeit ein Ganzer, noch ein Stück ungebrochener mittelalterlicher Kraft und Selbstgewißheit war, daß er mit dem Antlitz in ferne neue Zukunften blickte, mit den Füßen aber fest auf dem alten ersessenen Boden stand, ebendies machte ihn zum Führer und befähigte ihn, als ein zweiter Moses an der Schwelle 1
Luther an den Landgrafen Philipp von Hessen, 7.1.1527: „Furschreiben vnd nachthun ist weyt von einander“ – WA.B 4, 157f. Nr. 1071, hier 158, 29. – Vgl. auch MARTIN LUTHER, Briefe. Auswahl, Übersetzung und Anmerkungen von JOHANNES SCHILLING, Frankfurt am Main 1982 u. ö. [im Folgenden: Insel-Luther 6], 89f. 2 WA.B 4, 157, 7–9. 3 Eine treue Vermahnung an alle Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung. 1522. WA 8, (670) 676, hier 685, 6. 4 EGON FRIEDELL, Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. München 1965 (zuerst 1927–1931). – Vgl. auch die Auswahl: EGON FRIEDELL, Vom Schaltwerk der Gedanken, Hrsg. von DANIEL KEEL und DANIEL KAMPA. Zürich 2007, „Martin Luther“ 454–478.
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zweier Weltalter die Fluten des Alten und des Neuen mit dem Zauberstab zu teilen. Er ist, um es mit einem Wort zu sagen, der letzte große Mönch, den Europa gesehen hat […]“ 5. Im Unterschied zu manchen seiner Zeitgenossen, zu Erasmus und Rabelais etwa, sei Luther ein Mann ohne Verschmelzen und Übergang gewesen, geprägt durch das völlig Instinktmäßige, Elementare, Unreflektierte. Ob Luther so monochrom war, wie Friedell ihn malen will, sei dahingestellt. Ich glaube es nicht, und Leben und Schreiben Luthers zeugen eher davon, daß auch er eine polychrome Gestalt war wie manch anderer seiner Zeitgenossen. Ob man ihn mit dem Monumentalen, Deftigen und Kräftigen immer trifft, ist mir auch nicht gewiß. Die ihn so darstellen, ob Stefan Zweig in seinem Erasmusbuch 6 oder Kurt Flasch in seinen „Kampfplätzen“ 7, schaffen sich immer auch ein Gegenüber nach ihrem Bilde, von dem sie ihre Helden absetzen können. Freilich, daß Luther changierte, gar die Farbe wechselte wie ein Chamäleon, das kann man nicht behaupten, das paßte nicht zu ihm. Immerhin mag es einen nachdenklich machen, daß es kein Porträt Albrecht Dürers von ihm gibt und daß er von niemandem dargestellt wurde wie die Humanisten. Offenbar war er doch aus anderem Holz geschnitzt als diese Zeitgenossen. Dieser lebendige Mensch war ein großer Briefschreiber, und deshalb ist er auch uns lebendig geblieben und wird es wohl weiter bleiben, solange Menschen Briefe schreiben und lesen. Das Briefeschreiben und -beantworten war ein dauerhaft aufwendiges Geschäft; schon 1516 erklärte er seinem Freund Johannes Lang, diese Tätigkeit mache den größeren Teil seiner Lebenszeit aus 8. Freilich wußte der Zweiunddreißgjährige offenbar noch nicht, welche Mengen an Briefen er später bewältigen sollte. Last und Lust hielten sich dabei aber offenbar die Waage, einerseits klagte er am 1. Februar 1539: „Es ist heutte ein briefftag vnd vnlust. Diese Beschäftigungen rauben uns die Möglichkeit zum Studieren, Lesen, Predigen, Schreiben und Beten“ 9. Andererseits war er stolz auf seine Künste im Briefeschreiben, und zwar darauf, daß er etwas zu sagen hatte: „Literas scribere possum, sed non Ciceronianas et oratorias ut Grickell [also Johannes Agricola], sed res habeo, etiamsi verba Latina et elegantia non habeo“ 10. 5
FRIEDELL (wie Anm. 4), 275–277 bzw. 454–456. STEFAN ZWEIG, Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. Wien 1934. Zahlreiche Auflagen seitdem. 7 KURT FLASCH, Kampfplätze der Philosophie. Frankfurt am Main 2008. 8 WA.B 1, 72, 10f. Nr. 28: „et illud, quod iam dixi maiorem partem occupare temporis mei, epistolarum scribendarum negotium.“ 9 WA.TR 4, 459, 17–20 Nr. 4736. Übersetzung von mir. 10 WA.TR 4, 595, 7–9 Nr. 4967. 6
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Leben und Schreiben Luther hat ein Leben lang geschrieben, Schriften, Traktate, die Bibel übersetzt. Scribendo vivimus – vivendo scribimus, möchte man sagen: Indem wir schreiben, leben wir – im Leben schreiben wir. Das ist Lebensarbeit. Schon die mittelalterlichen Mönche wußten davon zwar nicht ein Lied zu singen, aber einen Vers zu dichten: „Tres digiti scribunt totumque corpus laborat“ 11: Drei Finger schreiben, aber der ganze Körper arbeitet. Die Ergebnisse solchen Schreibens sind späteren Betrachtern zu Gegenständen der Bewunderung geworden. Luthers Briefschreiben verdankt sich seinem Verhältnis zum Wort: solo verbo wollte er wirken. Luther hat in seinem Leben Tausende von Briefen geschrieben; wieviele es tatsächlich waren, wissen wir nicht. Natürlich gab es Tage ohne Korrespondenzen, Tage mit einem oder zwei ein- und ausgehenden Briefen, aber auch solche, viele, mit mehreren. Die meisten nachweislich erhaltenen Briefe hat Luther in den Zeiten seiner Exile auf der Wartburg und auf der Coburg geschrieben – bis zu sechs an einem Tage. Es gab auch ein Leben in Briefen. Briefe sind ja mehr als Texte, und schon gar mehr als Informationen. 12 Sie haben einen lebendigen Verfasser, einen Absender, sie haben eine Botschaft, die man auf ihren Wortlaut nicht reduzieren kann und darf, sie sind auf bestimmten, in der Regel wählbaren Materialien mit ebenso wählbaren Schreibgeräten geschrieben, die Wahl von Papier und Schreibgerät bestimmt ihren Charakter ebenso wie die individuelle Handschrift des Briefschreibers oder der Briefschreiberin, und das Briefformat nicht zuletzt bestimmt den Umfang des Briefes: Soll ich noch einen neuen Bogen nehmen?, fragt sich der Schreiber mitunter und entscheidet sich damit für oder gegen die Fortsetzung der Mitteilung oder die Aufnahme eines neuen Themas. Vielleicht war die Entscheidung richtig, vielleicht auch falsch – ist der Gruß erst einmal geschrieben, reicht es allenfalls für ein P.S. Immer ist das Briefschreiben und -absenden, das Erhalten, das Öffnen und das Lesen eines Briefes ein einmaliger Akt – allenfalls die Lektüre erlaubt die Wiederholung. Ansonsten sind Briefe unmittelbar. Umgekehrt gilt: „Sobald Briefe Texte sind, sind Briefe keine Briefe mehr“. 13
11 Vgl. etwa WILHELM W ATTENBACH, Das Schriftwesen im Mittelalter, 4. Aufl. Graz 1958, 284. – HANS W ALTHER, Proverbia Sententiaeque Latinitatis Medii Aevi, Bd. II/5, Göttingen 1967, 353 Nr. 31553. 12 Vgl. zum folgenden Absatz: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, Hrsg. von ANNE BOHNENKAMP und WALTRAUD WIETHÖLTER. Frankfurt am Main 2008. 13 Der Brief (wie Anm. 12), IX.
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Dieses Briefschreiben als solches, der Vorgang der Papierwahl, Arbeit mit Tinte und Feder, das Trocknen, Falten, Siegeln und Versenden hat Luther erheblich beschäftigt. Ein Vergleich mit späteren Jahrhunderten der Briefkultur fällt im Hinblick auf die Materialität der Briefe schlicht aus: Luther benutzt in der Regel handelsübliche Bögen von Schreibpapier, er schreibt mit dem, was ihm zuhanden ist, er siegelt mit rotem Lack. Umschläge gab es nicht – die Adresse steht auf der Außenseite des Briefes, der das Textcorpus in sich birgt. Daß er Medienpolitik mit der Materialität seiner Briefe gemacht habe, sehe ich nicht. Auf außersprachliche kommunikative Signale legte er seine Briefe nicht an – seine Präsenz gab er allein durch das Wort zu erkennen. Wohl aber gab es schon unter den Zeitgenossen den Wunsch, einen Brief von Luther zu erhalten, um ihn zu besitzen. Ob die Empfänger eine Berührungsreliquie oder das Autograph eines prominenten Zeitgenossen ihr Eigen nennen wollten, sei dahingestellt – vielleicht ist eine klare Scheidung auch gar nicht recht möglich. Luther gehört, so meine ich, und das beantwortet unsere Frage nach dem Interesse, in die Anfänge jener Epoche, „da man wußte, der Briefpartner saß über sein Schreibpapier gebeugt und ließ, metaphorisch gesprochen, seine Person mit dem von der Feder gebändigten Tintenfluß unmittelbar einströmen ins Geschehene“ 14 – so hat es Jean Amery in einem Essay ‚Der verlorene Brief. Vom Niedergang einer Ausdrucksform des Humanen‘ formuliert. *** Briefe sind Anreden. So wie das Wort Gottes die Menschen anredet, so reden Briefe Menschen an. Gewiß, Briefe werden geschrieben, aber ihrem Charakter nach sind sie Gespräche mit leiblich Abwesenden. das briefliche Wort, die Botschaft ergeht notwendigerweise more scripturae, wo doch das mündliche Wort seinen Ort hätte – aber weil und insofern dieser Ort kein gemeinsamer von Briefschreiber und Briefempfänger bzw. -leser ist, von dem, der redet, und dem, der reden hört, indem er liest, dient die Schrift als Hilfsmittel, als Vehikel der Kommunikation. Briefe sind in Schrift gefaßte mündliche Mitteilungen an die Adressaten, Anreden, lutherisch gesprochen: „mündliche wort in schrifft gefasset“. Damit haben sie eine Nähe zu dem mündlich ergehenden Wort Gottes – sie sind gleichsam, darf man das so sagen?, menschliches Evangelium. Luthers Briefe sind Zeugnisse eines lebendigen Glaubens, der mit dem anderen und auf ihn hin lebt. Im Brief teilt sich der Glaube Luthers – oder 14
Der Brief (wie Anm. 12), 219.
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soll ich sagen: Luthers Glaube? – dem anderen mit; Briefe sind Kommunikation des Evangeliums. Nicht alle, gewiß. Ich sehe hier ab von geschäftlichen Mitteilungen, Sendschreiben und Sendbriefen, auch und gerade die als solche bezeichneten öffentlichen Briefe, in denen der Zusammenhang von dem Anlaß und/oder der Sache, um die es geht, und den Adressaten so zu bestimmen ist, daß das Gewicht der Argumentation auf der Behandlung der Sache liegt. Die Adressaten oder Empfänger sind dabei nicht beliebig oder gleichgültig, die Wahl der Form des Sendschreibens ist nicht einfach nur die einer literarischen Gattung, aber schon die Veröffentlichung im Druck weist darauf hin, daß es sich bei solchen Briefen um besondere Fälle handelt, paradigmatische, exemplarische Situationen, Themen und Traktierungen einer Sache, die nach und neben den bestimmten Adressaten eine breite Öffentlichkeit, ja, womöglich „alle“ angeht.
Brief an den Vater Ein in dieser Hinsicht besonderes, ja, außerordentliches Exempel ist Luthers Brief an seinen Vater vom 21. November 1521, der Widmungsbrief zu seiner Schrift ‚De votis monasticis iudicium‘. 15 Ja, Luther hat mit diesem offenen Brief ein Exempel statuiert, und er hat Nachahmer gefunden – Briefe an den Vater gab es seitdem viele, auch als Literatur. Und nicht nur der Brief Kafkas 16 macht einen da beklommen. Söhne und Töchter sind wir alle. Alle Menschen haben Eltern oder doch Erzeuger. Und es gehört zu gelingendem Leben, daß das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern stimmt oder stimmig wird im Lauf der Zeit. Das dauert manchmal lange, sehr lange vielleicht; mitunter und nicht eben selten gelingt es nicht, die komplizierte, schwierige, spannungsvolle Beziehung zu Vater und/oder Mutter oder das gefährdete, belastete, zerrüttete Verhältnis zu einem Kind oder den Kindern in Ordnung zu bringen, will sagen, in eine lebbare Beziehung, die den anderen nicht überfordert, ja, wenn es gut geht, ihm gut tut. Schon der Eingang von Luthers Brief läßt den Zusammenhang zwischen Vater, Sohn und Sache deutlich erkennen – Luther hat darüber hinaus, vor 15 Ich habe mich neuerlich mit diesem Text beschäftigt, ihn auch, mit Fidel Rädles Hilfe, neu übersetzt, und dabei übrigens wieder gesehen, mit welch falschen, kläglichen oder einfach unserer eigenen Sprache nicht mehr entsprechenden Übersetzungen wir uns oft behelfen müssen und behelfen. Vgl. jetzt JOHANNES SCHILLING, Brief an den Vater. In: Luther 80, 2009, 2–11. 16 Vgl. etwa FRANZ K AFKA, Brief an den Vater. Hrsg. von Joachim Unseld. Frankfurt am Main 1994.
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allem?, die gottesfürchtigen Leser des Buches im Blick. Es geht darum, darüber zu berichten, zu erzählen, was sich zwischen dem Vater und dem Sohn zugetragen hat. Hier freilich in einem fiktiven Dialog: der Sohn spricht, dem Vater wird die Rede vom schreibenden Sohn in den Mund bzw. in die Druckerpresse gelegt. Ich will und brauche den Inhalt dieses Widmungsschreibens hier nicht zu rekapitulieren. Der Vater-Sohn-Konflikt, ein Lebenskonflikt, die Gefährdung und zeitweise Störung einer Grundbeziehung, kann schließlich überwunden werden, durch die gemeinsame Beziehung zu einem Dritten. Der Sohn erkennt so etwas wie seinen geistlichen Hochmut, seine Selbstgerechtigkeit, und gesteht sie dem Vater gegenüber ein. Er stellt Gotteswort und Menschensatzungen einander gegenüber – Sohn und Vater haben dem göttlichen Wort nicht gehorcht. Was aber ist jetzt zu tun? „Willst du mich immer noch herausholen? Aber damit du dich nicht rühmen kannst, ist der Herr dir zuvorgekommen und hat mich selbst herausgeholt. Was liegt denn daran, ob ich Kutte oder Tonsur trage oder ablege? Machen denn Kutte und Tonsur einen Mönch aus? ‚Alles ist euer‘, sagt Paulus, „ihr aber seid Christi“ [1 Kor 3,22f.]. Und werde ich der Kutte gehören oder nicht vielmehr die Kutte mir? Mein Gewissen ist befreit, und das heißt, voll und ganz befreit zu sein. Deshalb bin ich jetzt zwar ein Mönch, und doch kein Mönch, eine neue Kreatur, aber nicht des Papstes, sondern Christi. Der Papst schafft ja auch Kreaturen, aber Puppen und Pappen, das heißt, Masken und Götzen, die ihm gleich sind, von denen auch ich eine Zeitlang einer war, verführt durch den verschiedenen Wortgebrauch, von denen auch der Weise sagt, er sei in Todesgefahr geraten, bis auch er durch die Gnade Gottes befreit wurde [vgl. Sir 34,13]. Aber beraube ich dich jetzt etwa abermals deines Rechts und deiner Autorität? Nein, die Autorität gegen mich bleibt dir unberührt, was den Mönchsstand angeht, aber der gilt nun nicht mehr bei mir, wie ich gesagt habe. Im übrigen hat der, der mich herausgezogen hat, ein höheres Recht gegen mich als das deine, von dem du mich nicht in den erdichteten Kult der Klosterleute, sondern in die wahre Verehrung Gottes gestellt siehst. Denn wer will bezweifeln, daß ich im Dienst des Wortes stehe? Aber dieser Dienst ist es nun, dem die Autorität der Eltern weichen muß, da Christus sagt: „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert“ [Mt 10,37]. Nicht, daß er mit diesem Wort die Autorität der Eltern aufgehoben haben wollte, da doch der Apostel so oft einschärft, daß Kinder ihren Eltern gehorchen sollen – sondern: Wenn die Autorität und der Ruf der Eltern und Christi gegeneinander streiten, dann muß Christi Autorität allein herrschen.“ 17 17
SCHILLING, Brief an den Vater (wie Anm. 15), 9f.
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Das Ergebnis dieses Autoritätenkonfliktes könnte und konnte den irdischen Vater entlasten: Gott der Vater ist die Instanz, deren Gebot zu folgen ist. Und so können Vater und Sohn, Hans und Martin Luther, sich nun, neu, als Söhne Gottes begegnen.
Da Sein Söhne können Väter werden, Töchter Mütter. Das Sohnsein wird zum Vatersein. Bist du da?, fragen die Kinder. Bist du noch da, fragen die ängstlichen Kinder. Und: Hast du mir etwas mitgebracht?, fragen die neugierigen, erwartungsvollen Kinder nach der Reise. Luther hat sein Vater-Sein angenommen. Zu den Besonderheiten seines Briefwechsels gehört ein Schreiben an seinen Sohn Johannes. Er ist im Juni 1526 geboren. Als der Sohn vier Jahre alt war, begab sich der Vater auf den langen Weg nach Augsburg, blieb in Coburg sitzen, entwickelte eine seit dem Wartburgaufenthalt nicht mehr gewesene Arbeitsamkeit und schrieb eine große Zahl von Briefen, drängende, ungeduldige, unwirsche nach Augsburg auf den Reichstag, dazu zahlreiche andere. Einsamkeit nährt den Wunsch nach Kommunikation, und so wird der Brief zu einem lebendigen Medium der Begegnung, des Dialogs. Der undatierte Brief an Hänschen gilt als der erste oder einer der ersten Briefe eines Vaters an ein Kleinkind. Ist er das eigentlich wirklich? Immerhin, er enthält das Versprechen eines Geschenks von der Reise: „einen schönen Jahrmarkt“ will Luther Hänschen mitbringen. 18 „Meinem herzlieben Sohn Hänschen Luther zu Wittenberg Gnad und Friede in Christo! Mein herzlieber Sohn! Ich sehe gern, daß Du gut lernst und fleißig betest. Tue also, mein Sohn, und fahre fort. Wenn ich heimkomme, so will ich Dir einen schönen Jahrmarkt mitbringen. Ich weiß einen hübschen, schönen, lustigen Garten. Da gehen viele Kinder drinnen, haben goldene Röcklein an und lesen schöne Äpfel unter den Bäumen und Birnen, Kirschen, Spillinge und Pflaumen, singen, springen und sind fröhlich. Haben auch schöne kleine Pferdlein mit goldenem Zaumzeug und silbernen Sätteln. Da fragte ich den Mann, des der Garten ist, wes die Kinder wären? Da sprach er: ‚Es sind die Kinder, die gern beten, lernen und fromm sind.‘ Da sprach ich: ‚Lieber Mann, ich hab auch einen Sohn, heißt Hänschen Luther, möcht er nicht auch in den Garten kommen, daß er auch solche schönen Äpfel und 18
In diesem Fall finde ich es besonders bedauerlich, daß wir ein Original des Briefes nicht haben. Hat die Überlieferung Luthers Wortlaut konserviert? Oder ist der Text etwa kindlicher, niedlicher gemacht worden, als er ursprünglich war? – Fragen, die sich leider nicht beantworten lassen.
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Birnen essen möchte und solche feinen Pferdlein reiten und mit diesen Kindern spielen?‘ Da sprach der Mann: ‚Wenn er gerne betet, lernt und fromm ist, so soll er auch in den Garten kommen, Lippus und Jost auch. Und wenn sie alle zusammenkommen, so werden sie auch Pfeifen, Pauken, Lauten und allerlei Saitenspiel haben, auch tanzen und mit kleinen Armbrüsten schießen.‘ Und er zeigte mir eine feine Wiese im Garten, zum Tanzen zugerichtet, da hingen eitel goldene Pfeifen und Pauken und feine silberne Armbrüste. Aber es war noch früh, daß die Kinder noch nicht gegessen hatten, darum konnte ich des Tanzes nicht erharren und sprach zu dem Mann: ‚Ach, lieber Herr, ich will flugs hingehen und das alles meinem lieben Sohn Hänschen schreiben, daß er ja fleißig lerne, auf daß er auch in diesen Garten komme. Aber er hat eine Muhme Lehne, die muß er mitbringen.‘ Da sprach der Mann: ‚Es soll so sein, gehe hin und schreib‘s ihm also.‘ Darum, lieber Sohn Hänschen, lerne und bete ja getrost und sage es Lippus und Jost auch, daß sie auch lernen und beten, so werdet ihr miteinander in den Garten kommen. Hiermit sei dem lieben Gott befohlen und grüße Muhme Lehne und gib ihr einen Kuß von meinetwegen. Dein lieber Vater Martinus Luther.“ 19
Was Leben und Glauben angeht, haben wir hier einen Text religiöser Früherziehung vor uns. Luther erzählt eine Geschichte, vom himmlischen Garten. Ein Spielparadies – es gibt offenbar alles, was ein Kinderherz begehrt, schöne Kleider ebenso wie allerlei Früchte, und vor allem schöne Spielsachen. Dazu werden Musikinstrumente versprochen und kleine Armbrüste – und das Kinderparadies ist nicht verschlossen, man kann hineinkommen: Lernen, Beten und Frommsein sind die Wege in diesen Garten. Das kann man einem Vierjährigen aufgeben: fleißig lernen, recht beten und brav sein, das Gebotene tun. Anleitung zum Frommsein, mit elterlicher und anderer Erwachsener Hilfe, das ist das Thema dieses Schreibens. Glauben und Leben miteinander verknüpfen, fleißig lernen und beten, orare und laborare, das ist dem Kind aufgegeben. Das passendste Gebet auf diesen väterlichen Brief hätte, so will mir scheinen, so lauten können: „Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Garten komm.“ Damit hätte Hänschen Luther nach seines Vaters Willen wohl „recht“ gebetet. *** Im September 1542 verdichtete sich in Luthers Familie das Verhältnis von Glauben und Leben, insofern Tod und Leben miteinander rangen: Magdalene Luther, geboren am 4. Mai 1529, lag krank, auf den Tod krank. Das kranke Mädchen hatte den sehnlichen Wunsch, ihren Bruder Johannes noch einmal zu sehen, zum Abschied, und so schrieb Luther an Hänschens Lehrer Marcus Crodel nach Torgau, sein Schüler solle so schnell wie mög19
Insel-Luther 6, 119f. Nr. 72. – WA.B 5, 377f. Nr. 1595.
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lich mit dem Wagen nach Wittenberg kommen. „Sie haben einander sehr lieb gehabt – vielleicht kann sie durch seinen Besuch wieder Leben schöpfen.“ 20 Er selbst tue, was er könne, um sich später keine Vorwürfe machen zu müssen, etwas unterlassen zu haben – „damit mich mein Gewissen nicht quält“, wie er schreibt. Luther erwartet den Tod seiner Tochter – und schreibt von ihrem Heimgang „zu ihrem wahren Vater im Himmel, wenn es Gott nicht anders beschlossen hat.“ Leben und Glauben – das heißt hier, Gott alles anheimstellen, selbst, ja gerade das Allerliebste, das Leben eines eigenen Kindes, und zugleich alles Erforderliche tun, was an einem selbst ist – den Brief schreiben, den Wagen schicken, den Sohn unter falschem Vorwand heimlich nach Wittenberg locken. Und dann sehen, was Gott schickt, ein Liebes oder Leides. Am 20. September 1542 starb Magdalene Luther. Ob sie den Bruder Johannes und der Bruder sie noch lebend gesehen hat, ob die beiden, die einander sehr lieb gehabt haben, ein Sechzehnjähriger und seine kleine Schwester, voneinander Abschied nehmen konnten, wissen wir nicht. Drei Tage nach Lenchens Tod schreibt Luther an Justus Jonas nach Halle, über Albrecht von Mainz, den „Sohn des Fluchs und des Verderbens“ – Leben aus dem Glauben heißt ja auch: aus dem zornigen und strafenden Wort 21 –, weiter über Jonas’ pubertierenden Sohn, dem Luther offenbar ordentlich eingeheizt und ihn zur Raison gebracht hat. Und dann kommt die Hauptsache: Nach der Todesankündigung an Crodel und dem Ereignis des Sterbens nun die Rede von einer Wiedergeburt: „Ich vermute, daß die Nachricht zu Dir gelangt ist, daß Magdalene, meine von Herzen geliebte Tochter, wiedergeboren ist zum ewigen Reich Christi. Und obwohl ich und meine Frau nur fröhlich Dank sagen sollten für ihren so glücklichen Heimgang und ihr seliges Ende, durch das sie der Macht des Fleisches, der Welt, des Türken und des Teufels entgangen ist, so ist doch die Macht der natürlichen Liebe so groß, daß wir es ohne Schluchzen und Seufzen des Herzens, ja ohne große Abtötung nicht vermögen. Es haften doch tief im Herzen ihr Anblick, die Worte und Gebärden der sterbenden, ganz gehorsamen und rücksichtsvollen Tochter, daß nicht einmal Christi Tod (und was sind alle Tode der Menschen verglichen mit seinem Tod?) dies ganz vertreiben kann, wie es doch sein sollte. Sage Du darum Gott Dank an unserer Statt. Denn wahrlich, er hat ein großes Werk der Gnade an uns getan, daß er unser Fleisch so verherrlicht hat. Sie war (wie Du weißt) von sanftem und freundlichem Wesen und allen lieb. Gelobt sei der Herr Jesus Christus, der sie berufen hat, erwählt und verherrlicht. Würde doch mir und all den Meinen und all den Unseren ein solcher Tod, oder vielmehr ein solches Leben zuteil; das allein erbitte ich von Gott, dem Vater allen Trostes und aller Barmherzigkeit [2. Kor 1,3]. In ihm lebe recht wohl mit Deiner ganzen Familie, Amen. Sonnabend nach Matthaei 1542. Dein Martin Luther.“ 22 20
Insel-Luther 6 (wie Anm. 19), 238f. Nr. 155. – WA.B 10, 146f. Nr. 3792, hier 147,5. Hier nach Joh. 17 und 2. Thess. 2, womit zugleich eine endzeitliche Note ins Spiel kommt. 22 WA.B 10, 149f, Nr. 3794. – Insel-Luther 6 (wie Anm. 19), 239f. Nr. 156. 21
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Der Tod, so will Luther sagen, ist verschlungen in den Sieg. Der Herr über Leben und Tod hat den Tod ins Leben verwandelt und die verstorbene Tochter zum Leben wiedergebracht – zum Trost der Eltern und zum Weitersagen an die Freunde: Tod und Trauer haben nicht das letzte Wort behalten. Das letzte Wort Luthers über Lenchens Tod war der Brief an Jonas indes noch nicht gewesen. Am 9. Oktober 1542 schreibt er an seinen alten Ordensbruder und Freund Jakob Propst in Bremen: „Gnade und Friede! […] Mir ist meine innigst geliebte Tochter Magdalene hinweggegangen zum himmlischen Vater; im festen Glauben an Christus ist sie entschlafen. Ich habe den väterlichen Schmerz überwunden, aber mit einem sehr drohenden Murren gegen den Tod; durch diese Unwillensbezeugung habe ich meine Tränen gelindert. Ich habe sie sehr lieb gehabt. Aber der Tod wird an jenem Tage die Rache erleiden, zusammen mit dem, der sein Urheber ist. Lebe wohl und bete für mich. Am Tage Dionysii 1542. Meine Käthe grüßt Dich, noch schluchzend, und die Augen vom Weinen naß. Dein Martinus Luther Doktor.“ 23
Am jüngsten Tag werden die Leiden dieser Zeit ein Ende nehmen: Leid, Tod und Geschrei wird nicht mehr sein. Wer weiß, wann das sein wird? Aber die Hoffnung, ja, vielmehr, die Gewißheit, daß es sein wird, ist für Luther ein starker Trost. „Komm, lieber Jüngster Tag“, hat er einmal geschrieben 24, in der Erwartung, ihn vielleicht noch selbst zu erleben. Leben angesichts des Todes wird nicht nur im Glauben gelebt und ausgehalten, sondern von Gott empfangen und auf ihn hin weiter gelebt. *** 250 Jahre später, am 3. und 4. März 1798 hat der Gothaer Gymnasiallehrer Friedrich Schlichtegroll an Jean Paul geschrieben – zwischen dem Beginn des Briefes und seinem Ende liegt der Tod eines kleinen Söhnchens. Anders als bei Luther hört sich die Schilderung des Kindstodes hier so an: „Mein Herz ist mir heute aufgegangen in der Merzsonne, als wär es schon Frühling. Der große Geist hat wie ein Vater für uns gesorgt, daß alles so wechselt auf dieser Erde und daß jedes einzelne Jahr ein Bild des Lebens ist und eine Jugend, eine Sammelzeit und ein Alter hat. Ists dem einen nicht in seinen Sternen geschrieben, daß er die Jahreszeiten alle durch gehen und durchgenießen soll, und muß er früh fort, so hat er doch die Jahrszeiten des Jahres genossen und mit ihnen im Bilde das Leben.“ Und dann: „N. S. d. 4. Merz Sonntags früh 10 Uhr. Das faßte ich nicht, als ich Ihnen gestern dieß Briefchen schrieb und einstweilen noch unversiegelt auf meinem Tische liegen ließ, daß ich heute noch hinzusetzen müßte, 23
WA.B 10, 155–157, Nr. 3797. – Insel-Luther 6 (wie Anm. 19), 241f. Nr. 157. WA.B 11, – Insel-Luther 6 – Vgl. JOHANNES SCHILLING, Komm, lieber Jüngster Tag. Endzeiterwartungen um 1500. In: Jahrhundertwenden. Endzeiterwartungen Hrsg. von MANFRED J AKUBOWSKI-T IESSEN, HARTMUT LEHMANN, JOHANNES SCHILLING und REINHART STAATS. Göttingen 1999, 15–26. 24
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Ihr Pate Paul sey durch einen schnellen Stickfluß 23 Wochen alt wieder genommen. Er bestätigt das alte Sprichwort, daß die schönsten und ruhigsten Kinder dem Himmel gehören, der sie früh wieder abfordert. Die erste unruhige und sorgenvolle Stunde oder vielmehr Minute, die er seiner zärtlichen Mutter verursachte, war auch die letzte des Lebens dieses kleinen Genius des Himmels. Es ist das erste Leiden dieser Art, das mich trifft.“ 25
Ein Tag in Luthers Briefleben Luther hat, wie gesagt, in den Zeiten seines Exils, aus seinem Patmos, aus seiner eremos, oder, anders gesagt, aus seinen Einsamkeiten, viele Briefe geschrieben, lange und gewichtige, am 19. Juni 1530 sechs, ebenso am 30., fünf am 13. Juli, mehrfach vier oder drei, die verlorenen nicht gerechnet. Da artikuliert sich ein Bedürfnis nach Kommunikation, nach Überwindung des Alleinseins. Zwar ist auch dies eine produktive Phase in seinem Leben, aber eben doch, zwischen Wittenberg und Augsburg, eine verzweifelte Situation. Der 5. Juni 1530 war Pfingstsonntag. Nicht irgend ein Tag, sondern ein herausgehobener Tag in Luthers Leben. An diesem Tag wurde er auf eine besondere Weise erwachsen oder der Älteste: Am vorausgegangenen Sonntag Exaudi war sein Vater gestorben. An diesem Pfingstsonntag schrieb Luther vier erhaltene Briefe: an seine Frau, früh, noch vor Erhalt der Todesnachricht, an Wenzeslaus Linck in Nürnberg, an Melanchthon in Augsburg, und an Friedrich Pistorius, ebenfalls in Nürnberg. Der Brief an Käthe bestätigt den Eingang ihrer Briefe sowie eines Bildes der einjährigen Tochter Magdalena, die Luther zuerst nicht erkannt haben will. Dann gibt er Abstillerfahrungen weiter, von Argula von Grumbach, die ihn besucht habe, und auch sonst scheint in diesen Tagen auf der Coburg Leben in der Bude gewesen zu sein, jedenfalls aber mehr Besuch, als Luther lieb war: „Es wil zu gemeiner walfart hie her werden.“ 26 Darauf beklagt er sich über eine schlechte Brille und schreibt über den Reichstag und den Umgang mit Briefen. In diesem Fall setzte der Bote den Schlußpunkt: „Eilend, der bote wolt nicht harren, grusse, kusse, hertze vnd sey freundlich allen vnd yder nach seinem stande!“ 27 Was er wohl noch geschrieben hätte, hätte der Bote gewartet? Der zweite Brief ging an Wenzeslaus Linck nach Nürnberg, seinen innigstgeliebten Bruder im Herrn. Da geht es um einen unfähigen Prediger und um den Tod von Lincks Tochter. Luther tröstet den Freund damit, sie sei nun in Gottes Reich und seliger als wir alle, die wir, mit Psalm 21 zu 25
Der Brief (wie Anm. 12), 84f. WA.B 5, 348, 13. 27 WA.B 5, 348, 24f. 26
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sprechen, ein Gespött der Menschen und Spielball der Dämonen sind. Danach wendet sich Luther Auslegungsfragen von 1. Korinther 15 zu, schließlich dem Augsburger Reichstag, übersandten Geschenken und seinen Kopfschmerzen. Und dann folgt die Mitteilung, von der Luther zu Beginn seines Schreibens noch gar nicht wußte, daß er sie machen würde: „Tieftraurig bin ich nun unter dem Schreiben geworden, ich habe nämlich die Nachricht vom Tode meines Vaters erhalten, des alten Luther, des allerliebsten und allerfreundlichsten, und obwohl ich ihm einen so leichten und glücklichen Übergang in Christus gönne, daß er, befreit von den Furien und Monstern der Welt, in Frieden ruhen möge, wird doch mein Inneres nicht wenig durcheinandergebracht. Denn von ihm gab mir Gott das Leben und die Erziehung. Die Gande Gottes sei immer mit Dir, Amen.“ 28 Plötzlich und unerwartet hat ihn die Nachricht ereilt, unter dem Schreiben. „Charissimus suavissimusque“ sei er gewesen, ein im höchsten Grade lieber und zugeneigter Vater. Das sind die ersten Worte, die Luther nach der Todesnachricht niederschreibt. „viscera mea nonnihil commouentur“ heißt es weiter, ich bin ganz durcheinander, erschüttert. Dieser Vater wird von Luther als ein Werkzeug Gottes angesehen: „Ex ipso enim mihi Deus dedit vitam et educationem.“ 29 Gott schenkt Leben, Gott wirkt die Erziehung des Kindes, durch den leiblichen Vater. In der Nachschrift berichtet Luther noch einmal von den überhand nehmenden Besuchen: „Die Walfart wil zu gros werden hieher“ 30, nahezu wörtlich wie in seinem Brief an Käthe. Und da gibt es noch eine kleine Bemerkung: Grüße Spengler, trägt er Linck auf, ich will ihm bald schreiben, wenn ich fröhlicher geworden sein werde. – Auch dieser Brief an Spengler wird nicht irgendein Brief sein: Am 8. Juli schreibt Luther an Lazarus Spengler über sein Petschaft – als das Merkzeichen seiner Theologie. 31 Nun selbst senior Lutherus in mea familia, im Vollbesitz der Deutungshoheit, löst er seine Zusage ein. Seit Pfingsten 1530 war Martin Luther der älteste, der alte Luther. Der dritte Brief ging an Melanchthon. Er ist, anders als die an Käthe und an Linck, nicht im Original überliefert – wir haben in diesem Falle also nur den Text, nicht den Brief selbst. Nach dem Eingangsgruß schilt Luther Melanchthon, daß die Augsburger abermals einen Briefboten ohne Nachricht hätten ziehen lassen, obwohl sie doch so viele und fast alle „schreibwütig“ (scribaces) seien. „Ich werde überhaupt nicht damit fertig“ – Ego non satis possum cogitare – ob 28
WA.B 5, 349, 18–24. WA.B 5, 349, 20–23. 30 WA.B 5, 349f., Nr. 1583, hier 350, 28. 31 WA.B 5, 444f., Nr. 1628 – Vgl. dazu DIETRICH KORSCH, Luthers Siegel. In: Luther 67, 1996, 66–87. 29
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ihr so nachlässig oder so unwillig seid, da ihr doch genau wißt, das wir hier „in eremo“, in der Einsamkeit, wie in dürstendem Land, nach Euren briefen hecheln, aus denen wir alle Eure Angelegenheiten erfahren möchten. Das Kommunikationsbedürfnis ist ausgeprägt: omnia vestra will Luther wissen. Denn alles ist noch im Werden, im Fluß, das Bekenntnis ist noch nicht vorgelegt, keine drei Wochen wird es mehr dauern, und Luther wird immer ungeduldiger und unwirscher werden. Entsprechend aufgeregt ist er denn auch darüber, was von Kaiser Karl V. aus München und Nürnberg berichtet wird – Argula von Stauffen habe ihm von dem wundersamen Pomp erzählt, mit dem der Kaiser in München empfangen worden sei. Weiter meditiert Luther über das Zustandekommen des Reichstags und äußert sich über sein Buch „Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg“. Im Hinblick auf die Urteile über dieses Buch bekennt er: Mein Gott ist ein Gott der Toren, der der Weisen zu spotten pflegt. Und dann, nach Schelte, Bericht und retractatio seines Buches kommt er zu der Hauptsache: „Heute hat mir Hans Reinicke geschrieben, dass mein liebster Vater Hans Luther der Ältere aus diesem Leben geschieden ist, am Sonntag Exaudi, in der ersten Stunde.“ – Da ist es nun heraus, mit Angabe von Zeit und Stunde. Zum zweiten Mal; während des Briefes an Linck hatte er die Nachricht erhalten und eine erste Reaktion darauf formuliert. „Dieser Tod hat mich in tiefe Trauer gestürzt, da ich zurückdachte nicht allein an seine Natur, sondern auch an die herzliche Liebe; denn mein Schöpfer hat mir durch ihn gegeben, was ich bin und habe. Und obwohl es mich tröstet, daß er schreibt, er sei stark im Glauben an Christus sanft entschlafen, so hat mich doch das Leid und die Erinnerung an den so freundlichen Umgang mit ihm innerlich erschüttert, daß ich den Tod kaum jemals so verachtet habe. Aber „der Gerechte wird vor dem Unglück weggerafft und geht ein zu seiner Ruhe“ (Jes 57, 1f.): so oft sterben wir, ehe wir einmal wirklich sterben. Ich folge jetzt in der Erbschaft des Namens, so daß ich der älteste Luther in meiner Familie bin. So muß ich jetzt nicht allein zufällig, sondern pflichtmäßig in das Reich Christi folgen, das uns allen gnädig gewähren möge der, um dessentwillen wir elender als alle Menschen und ein Ärgernis für die ganze Welt sind. Nun bin ich freilich zu traurig, um noch weiter zu schreiben, denn es ist würdig und recht, daß ich als Sohn um einen solchen Vater trauere, von dem mich der Vater der Barmherzigkeit (2 Kor 1,3) genommen hat und durch dessen Schweiß er mich genährt und gebildet hat, wie ich bin. Ich freue mich wirklich sehr, daß er bis auf diese Zeit gelebt hat, damit er das Licht der Wahrheit sehen konnte. Gelobt sei Gott in allen seinen Taten und Plänen in Ewigkeit, Amen.“ 32 32
WA.B 5, 351, 20–38; Übersetzung: Insel-Luther 6, 117–119 Nr. 71, hier 118f.
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Der letzte erhaltene Brief dieses Pfingstsonntags ging an Friedrich Pistorius, den Pfarrer von St. Egidien in Nürnberg. Er dankt ihm für ein Schwert, das dieser ihm hatte schicken lassen, obwohl das nicht nötig tat, wie Luther bemerkt. „Quamvis non erat necessarium.“ Wie oft sagt und hört man das beim Austausch von Geschenken, und doch will es nicht ohne solche Gaben gehen. Luther hat sich denn auch zu rechtfertigen, was eine Gegengabe betrifft: Ich armer habe nichts zu geben als unnütze Briefe „Ego pauper nihil habeo nisi inanes litteras.“ – Gold und Silber habe ich nicht, was ich aber habe, das gebe ich Dir, so mag man Luthers Rede biblisch-assoziierend verstärken: „inanes litteras“, überflüssige, unnütze Briefe.
Zukunft Stefan Zweig hat 1924 Reflexionen über den Brief am Ende seiner Epoche angestellt 33. Er sieht die „edle und kostbare Kunst“ des Briefschreibens ihrem Ende zugehen, eine Kunst, in dem es „jedem einzelnen Menschen […] gegeben […] war, seinen Augenblicken inneren Aufschwungs und einer nur vorübergehend in ihn eingebrochenen Beseelung im Briefe Ausdruck zu verleihen. Man gab einem Freunde, einem Fremden, was man vom Tage empfing, ein Geschehnis, ein Buch, ein Gefühl, gab es weiter mit leichter Hand ohne die Prätension eines Geschenkes, ohne die gefährliche Anspannung, für ein Kunstwerk verantwortlich zu sein.“ Zweig spricht von „kleine(n) Wunder(n) der Wahrheit in einer stillen Welt, in der noch der Brief bindende Kraft und die Botschaft von Mensch zu Mensch still beschwörende Gewalt hatte.“ Zeitung, Schreibmaschine und Telefon hätten diese alte Kunst vernichtet, lebendige und gestaltete Worte seien dahingegangen, und „einsame Anstrengung“ und „unfaßliche Liebe“, Fleiß und „sittliche Geduld“ für das Briefeschreiben seien geschwunden. Was aber war oder ist damit verlorengegangen? „Dadurch daß jeder Brief sich immer an einen Einzelnen wendet, an einen bestimmten, dem Gefühl gegenwärtigen Menschen wurde er unwillkürlich zum Doppelbildnis des Sprechenden. Unbewußt antwortete die Stimme des Angesprochenen und dieses Fluidum von Gemeinsamkeiten strahlte eine Vertrautheit aus, die offen war und intim zugleich, beredt und verschwiegen, vertraulich und verbergend in einem. Manche Dinge vermochten überhaupt nur in diesem unbeschreiblichen Tonfall ausgesprochen [zu] werden, den die Rede zu 33 Sie wurden als Nachwort zu ‚Briefe aus Einsamkeiten. Drei Kreise‘ von Otto Heuschele zuerst veröffentlicht. – Vgl. STEFAN ZWEIG, Briefe 1920–1931. Hrsg. von Knut Beck und Jeffrey B. Berlin. Frankfurt am Main 2000, 125–127. Erstdruck Berlin: Axel Juncker 1924, 124–126; wieder unter dem Titel: ‚Die Kunst des Briefes‘, in: Blätter der Stefan Zweig Gesellschaft, Wien 15. Januar 1963; vgl. ZWEIG, Briefe 1920–1931, 480.
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Zweien hat und vielleicht sind manche der seelenvollsten Mitteilungen unserer Zeit nur darum verloren, weil wir diese Kunst des Briefes verlernt zu haben scheinen“ 34.
Ich und Du Warum interessiert uns Martin Luther noch immer?, habe ich eingangs gefragt. Weil er uns noch immer zum Gegenüber werden kann. Denn er hat seine Lebenspartner als Du erfahren und angesprochen, und deshalb können auch wir ihn als Dialogpartner über die Zeiten hinweg erfahren. Luthers Leben in seinen Briefen, das ist, natürlich, nicht das ganze Leben. Aber sein Leben in Briefen, his life in letters, macht einen wesentlichen Teil seines Lebens aus. Briefe sind Ausdruck von Beziehung, und sie stiften Beziehungen. Das war damals so, und deshalb hat Luther einen großen Teil seiner Briefe geschrieben. Und das ist auch heute noch so. Für Luthers Briefwechsel, jedenfalls aber für seine eigenen Briefe trifft wohl zu, was Martin Buber als die personale Vergegenwärtigung bezeichnet und beschrieben hat. In der Schrift ‚Elemente des Zwischenmenschlichen‘ von 1953, einer kostbaren Miniatur, die man als kleine Summe seiner Schriften über das dialogische Prinzip lesen kann, charakterisiert Buber diese Situation, unterscheidet das Gespräch vom Gerede, spricht vom Erkennen und Erkanntwerden und benennt als Hauptvoraussetzung für das echte Gespräch, „daß jeder seinen Partner als diesen, als eben diesen Menschen meint“ 35. Luthers Briefschreiben ist Anzeichen und Ausdruck davon und dafür, daß man Wahrheit auch und gerade mit dem anderen und an dem anderen gewinnen kann. Sein Briefwerk, das opus und das negotium scribendi litteras ist für ihn ein Mittel, Menschen mit Gott in die Welt und aus der Welt zu Gott zu führen – Ausdruck der Überzeugung, daß nicht nur die Kirche, sondern auch die einzelnen Christen in der Welt, aber nicht von der Welt seien. Glaubst du, so hast du, sagt Luther einmal. Er könnte auch sagen: Glaubst du, so lebst du. Wie der Glaube aus dem Hören kommt, aus dem Hören auf das Wort Gottes, so kommt das Leben aus dem Glauben. Fides ex auditu – vita ex fide. Fides facit vitam, der Glaube ist es, der Leben schenkt. Die personale Vergegenwärtigung entsteht allererst zwischen Gott und dem Menschen: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, Du bist mein. 34 35
ZWEIG, Briefe (wie Anm. 33), 126f. MARTIN BUBER, Das dialogische Prinzip. Heidelberg 3 1973, 283.
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Das Angeredetsein des Menschen durch Gottes Wort ist der Grund der Beziehung zwischen Ich und Du. Aus dieser Grundbeziehung erschließt sich dem Menschen die Beziehung zum anderen als der personhaften Existenz, die mir zum Du wird. Die Grundbeziehung, das Leben aus dem Wort, setzt meine Sprachkraft frei, die sich an das Du wendet und aus der Kommunikationssituation erwächst, sich nährt und ankommt. 36 Ich lasse ein letztes Mal Luther zu Wort kommen: „Auch ßo ligt eym iglichen seyne eygen fahr dran, wie er glewbt, und muß fur sich selb sehen, das er recht glewbe. Denn so wenig als eyn ander fur mich in die helle oder hymel faren kan, so wenig kan er auch fur mich glewben odder nicht glewben, und so wenig er myr kan hymel oder hell auff odder zuo schliessen, ßo wenig kan er mich zum glawben oder unglawben treyben. Weyl es denn eym iglichen auff seym gewissen ligt, wie er glewbt odder nicht glewbt“ 37. *** Luthers Leben, ein Leben in Briefen, war ein Leben in Beziehung. Ein Leben aus Gott und aus dem Angeredetsein durch sein Wort. Aus diesem Angeredetsein durch Gottes Wort, aus der Beziehung zu Gott erschloß sich ihm die Beziehung zu seinen Mitmenschen, oder eben zu seinen Briefpartnern. Das Angeredetsein durch Gottes Wort setzte in ihm die Sprachkraft frei und gewährte ihm eine Sprachmächtigkeit, in der er seine Adressaten als die geliebten Kinder Gottes erreichte. Martin Luther, schreibend und antwortend, war ein Beziehungsmensch, ein Glaubensmensch, ein Lebensmensch – ein homme des lettres.
36
Gerhard Ebeling hat mit seinen Worten manches in seinen „Thesen zum Glaubensbegriff“ gefaßt – auch sie ein kleiner Text von großer Dichte. In: Wort und Glaube 3, Tübingen ³1975, 232–235. 37 WA 11, 264, 11–17.
Der biographische Sonderfall Martin Luther Bernd Moeller Die Veranstalter dieses Symposions haben mir aufgetragen, an dieser Stelle unserer Tagung, vor der Schlußdiskussion, ein „rückblickendes und vorausschauendes Votum“ zu liefern, „das gern die Länge von dreißig Minuten haben darf“, und dabei den „Versuch eines Resumés“ zu unternehmen. So der Einladungsbrief von Dietrich Korsch an mich. Ich habe mich auf diese Aufgabenstellung eingelassen, was etwas verwegen war, weil ja, was ich resümieren soll, mir (wie uns allen) erst in den letzten Tagen bekanntgeworden ist und bekanntwerden konnte und ich doch andererseits nicht ohne Manuskript hier anreisen wollte. So bin ich bei der Vorbereitung etwas in Verlegenheit geraten, habe mich aber entschlossen, mit dieser Verlegenheit produktiv umzugehen und mich noch einmal auf die Sache selbst, die uns in diesen Tagen beschäftigt, die Bedingungen und Möglichkeiten einer Lutherbiographie, zu konzentrieren. Ich tue das auf die Gefahr hin, Sie mit Wiederholungen oder Trivialitäten zu langweilen, wenn ich Ihnen nun also einige Reflexionen über den „biographischen Sonderfall Martin Luther“ vortrage. Die Überschrift meines Referats ist zweideutig. Ein biographischer Sonderfall ist Luther einerseits in Bezug auf seine Geschichte, die Umstände und den Verlauf seiner Lebensgeschichte, andererseits in Bezug auf die Historie, also die Bemühungen der Historiker, diese seine Geschichte zu erfassen, wiederzugeben und zu würdigen. Beides hängt zwar zusammen, ist aber doch nicht einfach dasselbe und daher getrennt zu untersuchen. Dabei mag sogleich festgehalten werden, daß dieses Problem, die Diskrepanz von Geschichte und Historie, in jeder Biographie wie überhaupt in aller Geschichtschreibung begegnet. Im Falle Luthers stellt es sich jedoch mit besonderer Schärfe, aus Gründen, die wir noch erörtern werden. Ich beginne demnach mit der Frage: Was machte den Luther der Geschichte zu einem Sonderfall? und setze mit den äußeren Gegebenheiten ein, äußerlich gesehen mit der Hauptsache: Wir wissen enorm viel von dem Mann – ich denke: mehr als von jedem anderen Menschen vor dem 18. Jahrhundert. Er hat ein ungewöhnlich großes schriftstellerisches Oeuvre produziert, sowohl nach der Zahl der Wörter gerechnet, die er geschrieben hat, wie nach der Zahl der Bücher, die er zu lesen gab, und er war hierin
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der erste. Er konnte, so darf man ganz unbedenklich sagen, von dem, was der Buchdruck nun ermöglichte, als erster zeitgenössischer Schriftsteller adäquaten Gebrauch machen, von der Gelegenheit nämlich, seine Texte sowohl massenhaft als auch authentisch verbreitet zu sehen. Das Handwerkszeug, um dies zu erreichen, lag zwar schon länger bereit, aber Luther war der erste, der zeigen konnte, wozu es taugte, da er erregende Neuigkeiten mitzuteilen hatte und sich zudem zu einem vorzüglichen Schriftsteller, Sprachkünstler und Übersetzer ausbildete. Er vermochte so, wie in dieser Art und Weise niemand vor ihm, auf eine unabgemessen große Zahl von Personen einzuwirken, von denen er die allermeisten nicht kannte. Viele seiner Texte konnten zu ihrer Zeit Bestseller werden, und manche erwiesen sich sogar als zeitlos. So sind „Luthers Werke“ eine Komponente des „biographischen Sonderfalls Luther“. Freilich nimmt man, wenn man etwa deren „Weimarer Ausgabe“ genauer ins Auge faßt, wahr, daß nur ein Teil von ihnen zu Recht unter diesem Namen firmiert. Neben den vielen Erzeugnissen von Luthers Schriftstellerei, also „Luthers Werken“ im eigentlichen Sinn, findet man dort nämlich einen kaum weniger umfangreichen Bestand an solchen Texten, die man als seine „Lebensäußerungen“ bezeichnen könnte, vor allem die Sammlung seiner Tischreden und die seiner Predigten, aber beispielsweise auch die Protokolle der Bibelübersetzung. Auch in späteren Zeiten sind Hauptpersonen der Geschichte, die ein großes Oeuvre hinterlassen haben, von den Editoren ihrer Werke bis in ihre Alltagsäußerungen hinein verfolgt worden, z.B. Goethe, doch war Luther auch in dieser Hinsicht offenbar der erste, für den das gilt, und ebenso dürfte er der erste gewesen sein, für den ein ganzes System, eine Kunst, des Nachschreibens entwickelt worden ist. Heute werden die Motive, die zu dieser eigenartigen Form der Überlieferung geführt haben, öfters unter dem Stichwort „Monumentalisierung“ abgelegt, und das ist nicht völlig verfehlt. Doch ist zu beachten, daß diese Nachschriften von allem und jedem, was Luther geäußert hat – Quellentexte einer „Oral History“ der alten Zeit –, weithin gar nichts Monumentales an sich haben. Ja, die nachgeschriebenen Predigten wurden nach 1523, als Georg Rörer die Sache in die Hand nahm, fast verschlossen und verfremdet, indem sie, systembedingt, in eine deutschlateinische Kunst- und Mischsprache gefaßt wurden, die Luther auf der Kanzel nie gesprochen hat und die zur Außenwirkung gar nicht geeignet war. Und was die Tischreden betrifft, so wird gewiß schon bei ihrer Aufzeichnung bemerkt worden sein, daß sie manchmal eher eine quälende als erbauliche Lektüre sind. Der Zweck dieses Bemühens um die Reden des Reformators dürfte daher nicht so sehr darin bestanden haben, den Meister zu monumentalisieren, als vielmehr ihn sozusagen auszuschlachten. Man hing an seinen Lippen, wollte kein Wörtlein der Vergessenheit anheimge-
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ben, da in jedem eine Wahrheitspartikel vermutet wurde. In seiner ganzen Person sollte der große Mann festgehalten werden. Diese Merkwürdigkeit folgte natürlich aus der Tatsache, daß der Mann für seine Zeitgenossen so ungewöhnlich interessant war. Das ist eine banale Feststellung. Was aber machte ihn so interessant? Wieder setze ich mit den äußeren Gegebenheiten ein und konstatiere: Luther war interessant durch seine Schicksale. Vor allem schlug zu Buche der soziale Aufstieg, den er genommen hatte, oder der ihm widerfahren war, sowie sein Status als Rebell und Ketzer. In ganz kurzer Zeit war er aus Anonymität zu Allbekanntheit aufgestiegen, vom Niemand zur Hauptperson, er war auf die Ebene der Häupter der Christenheit, Kaiser und Papst, Reichstag und Kurie gelangt und hatte sich – was ja noch ungewöhnlicher war – dort sogar behauptet. Vor aller Augen war er zum Todeskandidaten geworden und überlebte. Woran es ihm allerdings bei dieser Karriere gänzlich fehlte, waren äußere Machtstellungen. Er war und blieb Professor in einer ziemlich unscheinbaren Stadt im Kolonialland, wohnte – der Stürme seines Lebens unerachtet – mehr als drei Jahrzehnte lang im selben Haus, und seine Lebensweise war durch Kontinuität einerseits und eine gewisse Abgeschiedenheit andererseits bestimmt, also unspektakulär. Der Rebell, der Aussteiger war in so etwas wie ein weitläufiges Gefängnis gesperrt. Nach den wenigen größeren Reisen, die er in den Entscheidungsjahren vor und nach 1520 unternommen hatte und an denen er seine Leser jeweils hatte Anteil nehmen lassen – Augsburg, Leipzig, Worms, die Wartburg –, saß er in Wittenberg fest und hat nur noch zweimal die Grenzen oder den näheren Umkreis Kursachsens überschritten – 1529 Marburg und 1537/38 Schmalkalden, beides Städte in der Landgrafschaft Hessen. Einen biographischen Sonderfall aber verkörperte er unter diesen Umständen, weil er von den abgelegenen Örtlichkeiten aus bis in seine Spätzeit hinein eine enorme Autorität ausstrahlte und Meinungsmacht ausübte. Interessant war er durch seine mit diesen Umständen schwer vereinbare Präsenz und Vitalität. Mir scheint es unzutreffend anzunehmen, daß das Jahr 1525 in dieser Hinsicht einen wesentlichen Einschnitt gebracht habe. Man kann sich das klarmachen, wenn man einmal das Gedankenexperiment zuläßt, Luther hätte in den späteren Jahren in der oder jener kritischen Frage anders entschieden, als er entschieden hat. Er hätte also beispielsweise 1525 die aufständischen Bauern in ihrer Berufung auf das Evangelium bestärkt oder seine Heirat unterlassen oder im Marburger Religionsgespräch sowie auf dem Augsburger Reichstag die theologische Eintracht der Reformation gesucht und verfochten oder seine kritische Haltung zum Widerstandsrecht nach 1530 aufrechterhalten, oder was es nun auch sein mag. Ich denke, es ist leicht plausibel zu machen, daß eine jede abweichende Entscheidung solcher Art erhebliche, teilweise sogar fundamentale Folgen für den weite-
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ren Verlauf der neuzeitlichen Geschichte und Kirchengeschichte gehabt hätte, so wie der Verlauf, den sie tatsächlich genommen hat, ja gleichfalls durch Entscheidungen Luthers mitbestimmt worden ist. Diese Meinungsmacht war und blieb auch nach 1525 ein Besitztum Luthers. Ja, alle kirchlichen Erfindungen, die maßgeblich auf ihn zurückgehen, sind erst nach 1525 sei es entstanden, sei es wirksam geworden: Die deutsche Gottesdienstordnung und der evangelische Choral, der Gemeine Kasten und die Biblia deutsch, die Katechismen und das evangelische Pfarrhaus. Die Lebensgeschichte Luthers nahm den doch wohl analogielosen Verlauf, daß da ein Gelehrter, ja Theologe mit radikalen Ansichten derart reüssierte, daß er, mit Jacob Burckhardt zu sprechen, aus der Geschichte nicht wegzudenken ist, und zwar aufgrund von unverzüglichen Wirkungen, die mitzugestalten ihm ermöglicht wurde. Dabei waren die Überzeugungen, die Luther vertrat und bekanntmachte, zwar revolutionär, jedoch gewaltfrei, subtil, aber im Kern einfach, in einem langen und tiefgründigen Erkenntnisprozeß gewonnen und lebenslang fortentwickelt. Bei der Würdigung dieses Vorgangs darf nicht vergessen werden, daß die Gesellschaft der Zeit sich nahezu geschlossen als christlich verstand, wie auch, daß sie in der Beschäftigung mit den Fragen, um die es ging, geübt war – es läßt sich ja, wie Anne Thayer gezeigt hat 1, nachweisen, daß auf den Kanzeln Europas in den Jahrzehnten vor Luthers Auftreten über fast nichts anderes gepredigt worden ist als über die Themen, die dann die Themen Luthers werden sollten – über die Realitäten und Probleme des christlichen Heilswegs. So vermochte der Reformator, sich seinen Zeitgenossen verständlich zu machen, er vermochte ihnen plausibel zu machen, daß das, was er zu sagen hatte, jeden – individuell und in der Gemeinschaft – elementar anging, und damit viele auf die neuen Bahnen mitzunehmen. Versucht man sich in dieser Weise den Erfolg Luthers zurechtzulegen und zu deuten, so bleibt doch die Erkenntnis der Forschung unberührt, daß dieser Erfolg nicht aus dem Spätmittelalter abgeleitet werden kann. Denn die herkömmlichen Heilslehren und -praktiken wurden bei dem Theologen Luther allerdings zutiefst strittig. Er polemisierte gegen die religiöse Leistungsgesellschaft der Zeit, verwarf Massenveranstaltungen wie Ablaß und Wallfahrten, Heiligen- und Bilderkult und die Verdienstlichkeit kirchlicher Stiftungen, er definierte die Rolle der Kirche als Heilsvermittlerin neu, stellte sie als Herrschaftsinstitut in Frage und hob die Teilung der Gesellschaft in Kleriker und Laien, besondere und normale, führende und geführte Christen auf. Stattdessen erschienen bei ihm Kernüberzeugungen der europäischen Christenheit in neuem Licht – der Glaube als Christusglaube, die Gnade als exklusives Grundmaß des göttlichen Wirkens, die Bibel als 1
ANNE T. T HAYER, Penitence, Preaching and the Coming of the Reformation (St. Andrews Studies in Reformation History), Aldershot 2002.
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Wort Gottes und damit das Ganze der christlichen Verkündigung als Quelle des Trostes. Daß der Umbruch, den Luther bewirkte, ebenfalls Phänomene der Massenhaftigkeit aufwies, kann dem Biographen einsichtig werden, der Sonderfall dieser Lebensgeschichte ist nicht einfach unerklärlich. Aus meiner Sicht ist es ein Grundfehler mancher Lutherbiographien, daß sie den Reformator als Individuum mehr oder weniger isolieren. Den Fehler sehe ich nicht bloß darin, daß die Traditionen verkannt werden, in denen er stand und die auf ihn eingewirkt haben, sondern auch und zumal darin, daß man Luthers Zeitgenossen als Mitgestalter seiner Lebensgeschichte übersieht oder unterschätzt – jene Zeitgenossen, denen er zugestimmt oder widersprochen hat, und jene, die ihm zustimmten oder widersprachen, ihn ganz oder halb oder gar nicht verstanden, von ihm Berücksichtigung erwarteten oder einforderten, ihn anzogen oder abstießen, bestätigten oder in Verlegenheit versetzten, ihm halfen oder im Weg standen. Meines Erachtens ist diese Rolle der Partner im Fall Luthers viel bedeutsamer als im Fall vieler anderer, denen Biographien gewidmet werden. Ihn biographisch zu isolieren, läßt ein Zerrbild entstehen, nicht bloß bei Theologen und Kirchenhistorikern, sondern beispielsweise auch bei einem Autor wie Erikson vor fünfzig Jahren 2. Ich meine, Luther und die Reformation lassen sich nur zusammendenken. Gelegentlich wird wahrgenommen, daß der Reformator ein Konvertit war, und manchmal auch bemerkt, daß man dasselbe fast von allen großen christlichen Denkern sagen kann, etwa auch von Paulus oder Augustin. Die Kirchengeschichte ist in ihren großen Momenten auch Konvertitengeschichte. Luther allerdings stellt in dieser Hinsicht noch einmal einen Sonderfall dar: Er zog eine ganze Gesellschaft von Konvertiten heran. Das frühe 16. Jahrhundert wurde in der Kirchengeschichte zu einem Zeitalter von Konversionen wie keines seit dem Urchristentum. Daß sich das gerade jetzt, im Gefolge der Autoritätskultur des Mittelalters, ereignete, ist bemerkenswert. Ein biographischer Sonderfall war Luther nicht zuletzt darin, daß ihm, an dem die Geister sich schieden, diese Sammlung der Anhänger gelang – es war ein Sonderfall im Gelingen. Dabei trat er ja durchaus nicht mit einem in irgendeinem Sinn festen Plan auf – Luther war alles andere als ein Projektemacher. Seine Sache wuchs nach und nach heran, und zu vielem wurde er eher getrieben, als daß er es veranstaltet hätte. Auch war seine Anhängerschaft disparat genug. Es gelang ihm, beinahe alle Gruppen der Gesellschaft anzusprechen, was es ihm erlaubte, allen auch distanziert zu begegnen. Tatsächlich wurde er der zutiefst freie Mann, als den er sich theologisch definierte. Besonders anschaulich wurde diese Unabhängigkeit 2 E RIK H. E RIKSON, Young Man Luther. A Study in Psychoanalysis and History, New York 1958. Deutsch: Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt/M. 1975.
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an der Stelle, an der er am deutlichsten gesellschaftliche Solidarität übte – in seinem Verhältnis zur deutschen Nation. Daß er die nationale Einbindung der Reformation durchaus begrüßt und vorangetrieben hat, ist bekannt. Seine Papstkritik etwa hatte immer auch eine nationale Komponente. Gleichwohl blieb er seinen Landsleuten gegenüber fortdauernd in einer kritischen Position und leistete es sich, sie nicht weniger zu tadeln als zu ermuntern. Dabei darf man ihn als den ersten Deutschen bezeichnen, der als solcher nennenswerte europäische Wirkungen erzielt hat. Bis zu Luther hin herrschte das alte Süd-Nord- und West-Ost-Gefälle der nationalen Kulturen vor – Gerson wurde ins Deutsche übersetzt, jedoch Tauler nicht ins Französische. Schriften Luthers hingegen widerfuhr, was zuvor undenkbar gewesen war – die Übersetzung in sämtliche europäischen Literatursprachen noch zu seinen Lebzeiten. So wurde mit ihm nicht bloß der Trend umgekehrt, sondern er konnte Zeitgenossen – wie beispielsweise einem überschwänglichen Anhänger in Straßburg 1526 – geradezu als Euangelista totius mundi erscheinen 3. Soviel zu dem Luther der Geschichte. Nun noch ein paar Worte zu dem Luther der Historie. Wie schon gesagt, hängen beide, natürlicherweise, zusammen – dieser Luther kann nur aus jenem hervorgehen, und er hat sich an jenem zu orientieren. Daher ist auch der Luther der Historie als ein biographischer Sonderfall zu konzipieren. Ich möchte in drei Punkten knapp zusammenfassen, was das etwa heißen mag. 1. Es kann in einer Lutherbiographie nicht verborgen bleiben, daß sie es mit einer Zentralgestalt der neuzeitlichen Geschichte und zumal mit einer Leitfigur der deutschen Geschichte zu tun hat, ob der Biograph das nun begrüßt oder bedauert. In dieser Rolle war Luther konkurrenzlos und fast ohne Parallele in anderen Nationen. Das hohe Ansehen überdauerte seine Lebenszeit leicht, ja, seine Geltung wuchs nach seinem Tod weithin ins Monumentale, und er übte Wirkungen aus, die fast unermeßlich erscheinen mögen, wenn man etwa bedenkt, daß im protestantischen Deutschland über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hin jedes Kind an Luthertexten lesen und schreiben, sich geistig betätigen und gesellschaftlich verorten lernte und maßgebliche Antworten auf die Heils- und Sinnfrage empfing. Keine Lebensgeschichte einer realen Person wurde hier öfter erzählt als die Luthers, kein Porträt öfter gezeigt, kein Jubiläum öfter gefeiert. In großer Breite und Tiefe löste der Reformator Identifikationen und Projektionen aus – freilich innerhalb scharf gezogener Grenzen. Denn sein Prestige galt nur in der einen Hälfte der Nation, während ihm in der anderen das genau Entgegengesetzte, die Verteufelung, widerfuhr. Ja, es war ihm beschieden, die konfessionelle Teilung Deutschlands förmlich zu verkörpern. Für diesen 3
Martin Schalling d.Ä. in einem Brief an Bucer: JEAN ROTT , Hg., Correspondence de Martin Bucer Bd. 2, Leiden u.a. 1989, 174.
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Sonderweg der deutschen Geschichte steht niemand deutlicher als die Leitfigur Luther. 2. In einer Lutherbiographie kann ebenfalls nicht verborgen bleiben, daß der Mann in herausgehobenem Maß Theologe und Christ war und eben dies das Herzstück seiner Existenz. Eigentlich versteht sich das zwar von selbst, muß aber angesichts seiner Rolle im Konfessionsstreit ausdrücklich erwähnt werden. Großzügige Darstellungen der nachmittelalterlichen Geschichte kommen gelegentlich ja mit der Vorstellung aus, diese Geschichte sei durch eine fortlaufend gesteigerte Entchristlichung und sog. „Säkularisierung“ Europas gekennzeichnet, und können gelegentlich auch Luther hier einordnen. In Wahrheit jedoch ereignete sich, von der Person und dem Lebenswerk des Reformators ausgehend, ein Vorgang emphatischer Intensivierung des Christlichen und strahlte in die ganze Breite der Gesellschaft Europas aus, so daß dem Zeitalter insgesamt geradezu eine „christianisation du christianisme“ zugeschrieben werden kann 4. Daß dabei das kirchliche Heilsinstitut des Mittelalters irreparabel beschädigt, hingegen dem einzelnen Christen eine bis dahin nicht gekannte Bedeutung zugemessen wurde, ist hervorzuheben, ohne daß es weiterer Erörterung bedarf. 3. Endlich kann in einer Lutherbiographie nicht verborgen bleiben, daß der Mann in von uns weit entfernter Zeit gelebt hat, die uns sehr fremd ist. Man geht, denke ich, nicht fehl, wenn man konstatiert, die äußeren Umstände unseres Lebens seien mit den damaligen überhaupt unvergleichbar, und allenfalls im Blick auf Grundsachverhalte der conditio humana seien wir zu Verständigungen mit jener Vergangenheit, oder wenigstens Annäherungen an sie, imstande. Zwar könnte dies in unserem Zusammenhang deshalb zu Buche schlagen, weil sich gerade auf diese Grundsachverhalte der conditio humana die wesentlichen Erkenntnisse Luthers beziehen. Doch ist bei jeglichem Versuch der Aktualisierung des Reformators die äußerste Behutsamkeit am Platz. Die Geschichte der „Nostrifikationen“ Luthers in der Neuzeit kann von einer Fortsetzung eher nur abschrecken. Wie anfangs bemerkt, pflegt im Fall Luthers die Diskrepanz von Geschichte und Historie mit besonderer Schärfe in Erscheinung zu treten. Sein Bild ist Verzeichnungen schutzloser ausgesetzt als das anderer Großpersonen der Geschichte, wobei Überhöhungen und Verkürzungen jeweils Hand in Hand gehen. Das gilt bis in unsere Gegenwart, auch wenn einzuräumen ist, daß uns der Zugang zu Luther, mit Einschluß seiner Fehlleistungen und Irrtümer, heute möglicherweise besser gelingt als früheren Zeiten. Die Aufgabe, ihm gerecht zu werden, gehört zu den schwersten und den reizvollsten der Kirchenhistorie.
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JEAN DELUMEAU, Le catholicisme entre Luther et Voltaire, Paris 1971, 6.
Biographie und Theologie Martin Luthers – eine Debatte und (k)ein Ende? Ein Nachwort Volker Leppin Die Tagung, auf die die vorliegenden Texte zurückgehen, ist durch einen Streit ausgelöst worden. Sie hat den Streit zwar nicht geschlichtet, wohl aber ihm eine Form gegeben, wie sie wissenschaftlicher Kultur angemessen ist. Ein solcher Streit dient vor allem dazu, die zur Rede stehenden Fragen klarer zu fassen, und so kann man nun, rückblickend und zugleich vorausblickend, wenigstens drei Themenkomplexe aus dem Zusammenhang von Biographie und Theologie Martin Luthers ansprechen, über die debattiert wurde und über die weiter debattiert werden muß. Den ersten Themenkomplex, die Frage des Verhältnisses von Individualität, Biographie und Religion, hat Dietrich Korsch in seiner Einleitung bereits in einen entsprechenden theoretischen Horizont hineingestellt – so bleiben für die folgenden Überlegungen vor allem zwei Themenkomplexe: 1. Das Verhältnis von historischer Kontextualisierung und theologischer Entkontextualisierung. 2. Das Verhältnis von Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung Martin Luthers. Kontextualisierung und Entkontextualisierung: Die Frage, um die es hier geht, stellt eine moderne Variation des Themas von Normativität und Deskription dar, wie sie sich in der Beschäftigung mit Martin Luther wiederholt stellt. Tatsächlich ließe sich die Frage nach der normativen Stellung Martin Luthers in der evangelischen Theologie leicht beantworten. Normativ können aus seiner Feder nur die Bekenntnisschriften – die Katechismen und die Schmalkaldischen Artikel – sein, die ihrerseits auch wiederum der norma normans der Heiligen Schrift unterliegen. Diese klare Zuordnung steht dogmatisch außer Frage – und doch beschreibt sie nur begrenzt die faktische Bedeutung Martin Luthers in der gegenwärtigen Theologie. Er ist ein beständiger Referenzautor theologischer Reflexion, und seine Bedeutung für die evangelische Mentalität noch im beginnenden dritten Jahrtausend der Christentumsgeschichte zeigt sich nicht zuletzt an dem Interesse, das sich auf Darstellungen seiner Biographie und Theologie richtet – und an der offiziellen Benennung des auf das Jahr 2017 zuführen-
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den Jahrzehnts als „Luther-Dekade“. Die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sehr unterschiedlicher Ausrichtung favorisierte Bezeichnung als „Reformations-Dekade“ konnte sich nicht durchsetzen. Und so geht nun der deutsche Protestantismus auf Feierlichkeiten zu, die in Benennung und Vermarktung durch ein entsprechendes Logo hochgradig personalisiert sind. Die wissenschaftliche Einschätzung, daß dies unangemessen sei, steht in einem merkwürdigen Mißverhältnis zu der weitreichenden Konzentration der wissenschaftlichen Beschäftigung eben auf die Person Martin Luthers, wie sie nicht zuletzt durch die hier dokumentierte Tagung belegt wird. Martin Luther hat offenbar nicht nur Konjunktur, er hat auch eine Bedeutung als Identifikationsgestalt, wie sich vordem lange Zeit in der allgemeinen Geschichtsschreibung in nationalem Gewand zeigte, was nun aber vor allem ein Problem oder eine Chance der theologisch interessierten Geschichtsrekonstruktion zu sein scheint. Versucht man zu sichten, was diese Bedeutung begründen kann, so dürfte es – neben dem immer wieder zu hörenden Hinweis auf die besondere Formulierungskraft des Reformators – vor allem die Ursprungsrelation sein: In Martin Luther erscheint neu die Formulierung des Evangeliums von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben, und so kehrt evangelische Theologie immer wieder auch zu diesen ursprünglichen Formulierungen zurück. Daß die ursprünglichste Formulierung auch jeweils die richtigste sei, ist freilich alles andere als selbstverständlich, ja, wer dem wissenschaftlichen Diskurs wenigstens die Möglichkeit sukzessiver Lernfähigkeit zugesteht, wird geradezu fragen müssen, ob nicht die neuere Formulierung der früheren gegenüber zumindest das Prae höherer Zeitangemessenheit habe – sofern man nicht, wie es theologisch für die biblischen Schriften in Anschlag zu bringen ist, von einem Offenbarungsgeschehen ausgeht, dem eine Unüberholbarkeit durch geschichtliche Entwicklung eignet. Die reiche „Mann-Gottes“-Tradition in der frühneuzeitlichen Lutherrezeption bietet genug Anschauungsmaterial für ein solches offenbarungstheologisches Deutungsmuster, das freilich auch in diesen Fällen stets nur in der Bestimmtheit durch die biblische Offenbarung denk- und aussagbar ist. Will aber überhaupt jemand unter den Bedingungen nachaufklärerischer – und das heißt über weite Strecken: radikal historisierender – Geistigkeit offenbarungsanaloge Kategorien für Luther verwenden? Und wären solche überhaupt denkbar? Die Beiträge der vorliegenden Tagung haben gezeigt, daß die theologische Aufgabe stets als eine Aufgabe der Theologie im Kontext verstanden wurde: Die Theologie Luthers hat einen historischen Ort – mitten im 16. Jahrhundert. Das gilt, wie ein Teil der Debatten der vergangenen Jahre gezeigt hat, für den Entstehungshorizont seiner Theologie. Immer genauer wurde festgestellt, daß Luther seine Theologie auch im Gespräch mit den Theologien und, wie etwa die Frei-
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heitskonzeption zeigt, auch den politischen und gesellschaftlichen Ideen seiner Zeit entwickelt hat. Daß diese eine Rolle spielten, dürfte heute kaum mehr eine Frage sein, wohl aber, wie stark ihr Einfluß war – wobei sich im Verhältnis von historischer und theologischer Einordnung auch die Frage stellt, in welchem Maße der Nachweis der Originalität auch den Anspruch der Richtigkeit mit sich bringt, ob also Luthers Ideen nur dann als adaptierbar gelten können, wenn sie einen neuen, originären Charakter aufweisen, oder ob sich der konfessionskonstituierende Charakter auch in Kontinuitätsmomenten zeigt – so wie auch die historische Jesusforschung über die Frage zu debattieren hat, ob die Abweichung vom Kontext das entscheidende Kriterium zur Identifikation jesuanischer Botschaft ist oder gerade die Denkbarkeit im gegebenen Kontext 1. Zumindest wird eine sorgfältige Abwägung der laufenden Debatte diese Frage zu stellen haben. Luthers Theologie hat aber nicht nur den einen Ort des Reformationsjahrhunderts, sondern darin, wie sich gezeigt hat, viele historische Orte. Ihnen nachzugehen, war ja eine der Grundideen der Tagung, auf der unterschiedliche Konstellationen verfolgt wurden, um jeweils in ihnen den Theologen Martin Luther als Akteur aufzusuchen. Unbestritten ist dabei: Luthers Theologie ist situativ – und doch in dieser Situativität immer wieder auch grundsätzlich perspektiviert. Sie geht in der Situation nicht auf, sondern weist über sie hinaus – wie jede gute Theologie über die Situation ihrer Entstehung hinausweisen sollte. Wenn dem aber so ist, dann wird jeder theologische Umgang mit Martin Luther zunächst auch eben diese Situativität zu betrachten haben, das heißt: Eine Entkontextualisierung seiner Theologie setzt eine genaue Kontextualisierung voraus. Dies betrifft zunächst eben unmittelbar die angesprochenen Situationen. Die sehr banalen Fragen, was sagt Luther wann zu wem, sind konsequent zu stellen. Seine Texte sind sorgfältig an ihren Entstehungskontext rückzubinden. Bei den im vorliegenden Band behandelten Texten zeigt sich die sehr unterschiedliche Entstehung von Texten etwa dann, wenn man die dem akademischen Disput zugehörigen Antinomerdisputationen mit den Briefen von der Coburg oder den Ausfällen gegen Juden in der Spätzeit vergleicht. Eben diese werfen nun aber auch die andere Frage auf: wie denn mit solchen Aussagen Luthers umzugehen ist, die seiner Theologie noch zuzurechnen sind, aber einer heutigen Sachkritik nicht standhalten können: Entstammt die Sachkritik letztlich einem rein der Gegenwart verpflichteten Kriterium und damit ihrerseits einer situativen Bezogenheit – oder auch, wie es wohl im Falle des Verhältnisses von Christen und Juden angemessener zu formulieren ist, der durch die historische Entwicklung hervorgerufenen besseren Einsicht? Oder liegt das Pro1
GERD T HEIßEN / DAGMAR WINTER, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, Göttingen / Fribourg 1997 (NTOA 34).
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blem schon in Luther selbst? Sind seine Aussagen zu Juden also eine durch die Situation provozierte Verzerrung seiner Position oder deren konsequente Entfaltung? Sollten sie letzteres sein, was bedeutet dies für die Beurteilung seiner Theologie? Hier kann die theologische Sachfrage gar nicht ohne die historische Rekonstruktionsleistung auskommen, die zugleich eine kontextualisierende wie eine auf das Luthersche Denken insgesamt blickende systematisierende sein muß. Diese Überlegung weist auch darauf hin, daß das Verhältnis zwischen historischer Kontextualisierung und theologisch-systematischem Denken keineswegs nur einseitig gedacht werden darf, als sei es Aufgabe des historischen Geschäfts allein, theologisches Denken kontextuell zurückzubinden. Bei einem Theologen wie Martin Luther gehört zur historischen Rekonstruktion in erheblichem Maße auch eine theologische Rekonstruktion, die sich bemüht, in ihrem historischen Horizont die Theologie Luthers zu verstehen und von diesem Verständnis her auch einzelne Aussagen Luthers einzuordnen und zu klären. Das gilt für Texte, aber, wie die Beiträge zum Verständnis der Ehe bei Luther zeigen, auch darüber hinaus: Das Leben selbst, wie es Luther führte, ist ein theologisch gedeutetes. Versucht man es in dieser Weise zu verstehen, wird freilich der Unterscheidungsprozeß zwischen historisch rekonstruierbarer Biographie und nachholender theologischer Deutung noch um einiges schwieriger, als es zunächst erscheint – und möglicherweise führt der Disput gerade an dieser Stelle zu dem eigentlichen Kern einer Theologenbiographie. Indem das Leben immer schon auch selbstausgelegtes Leben ist, sind bruta facta nicht nur aus theologischen, sondern nach heutigem Stand schlicht aus historiographischen Gründen nicht einfach von theologischen Deutungshorizonten zu trennen: Der Reformator, der sich selbst als Offenbarer des Evangeliums versteht, wird dadurch nicht selbstverständlich zu einer Offenbarungsgröße, aber er ist ohne die Kategorie eines Offenbarungsverständnisses auch historisch nicht angemessen zu verstehen – wobei die historische Aneignung sich darüber Rechenschaft ablegen muß, ob und wieweit sie sich diese Selbstauslegung zu eigen machen will. Eben damit aber grenzt diese Frage an die zweite methodische Frage: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung: Die Rekonstruktion von Biographie und Theologie Martin Luthers bedarf auch der kritischen Quellenanalyse. Zu den scharf diskutierten Fragen, die an meine Darstellung der Biographie Martin Luthers gerichtet wurden, gehörte auch die, ob das darin gezeigte Maß an kritischer Distanz zu den Selbstdarstellungen Martin Luthers angemessen sei. Dies war in Vorträgen und Diskussion auf der Marburger Tagung auch Gegenstand der Debatte. Eine Abwägung der Argumente wird hier zunächst die Ebene des Grundsatzes und der Durchführung im Einzelnen zu unterscheiden haben. Aus kirchenhistorischer Sicht wird man im Grundsatz all jene Zeugnisse, die sich der Selbstrekonstruk-
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tion eines Autors verdanken, mit äußerster Skepsis zu betrachten haben 2. Wer über sich schreibt, ist nur in gewisser Hinsicht der beste Zeuge: Er mag über eine besonders intime Kenntnis des Gegenstandes verfügen, aber er hat zugleich auch Interessen, und die moderne Psychologie führt das „Selbstbild“ lediglich als ein Bild neben anderen auf und nicht als unmittelbaren Ausdruck einer ontologisierbaren Wirklichkeit des Selbst. So mit Luther zu verfahren heißt nicht nur, selbstverständliche historische Methoden anzuwenden, die die Exegese längst auch für den biblischen Text verwendet, sondern es bedeutet in ähnlicher Weise, wie es oben aus anderen Gründen angedeutet wurde, eine Lösung aus der Tradition besonderer Verehrung Martin Luthers. Seine Selbstzeugnisse sind ganz selbstverständlich historisch-kritisch zu betrachten. Das bedeutet aber für jede Rekonstruktion seiner Biographie – und damit auch für die Voraussetzungen einer historischen Rekonstruktion seiner Theologie – ein bedenkliches Schwanken des Grundes: Luther-Biographien können gar nicht anders, als sich in reichem Maße der Selbstzeugnisse Luthers zu bedienen – und sie sind doch zugleich auf deren kritische Analyse angewiesen. Es entsteht so ein hermeneutischer Zirkel, der innerhalb der Historiographie nichts Ungewöhnliches ist, im Blick auf eine Person, von der es so umfangreiche Selbstäußerungen und für die es derart eingefahrene Deutungsmuster gibt wie im Falle Martin Luthers, aber doch einige Schwierigkeiten aufwirft. Wenn das grundsätzliche Vertrauen in die Zuverlässigkeit seiner Selbstzeugnisse schwindet, muß der nächste Schritt heißen, daß Regeln gesucht werden, die es ermöglichen, die unterschiedlichen Selbstzeugnisse zu gewichten. In der Auseinandersetzung der vergangenen Jahre ist dabei an klassische Instrumente erinnert worden: Die zeitliche Nähe einer Aussage zum Berichteten beziehungsweise Reflektierten hat in der Regel – aber nur in der Regel und nicht generell! – einen gewissen Vorzug gegenüber der zeitlich ferner stehenden Aussage. Die zufällig erhaltene Aussage hat einen höheren Erkenntniswert als die bewußt geformte. Dies sind relativ einfache Grundaussagen, die man auch etwa anwenden würde, um den unterschiedlichen Quellenwert eines Briefes über Goethe, eines Briefes von Goethe, der Eckermannschen Berichte und von „Dichtung und Wahrheit“ zu unterscheiden, um an einen anderen prominenten Fall schwieriger biographischer Rekonstruktion zu erinnern. Für Luther heißt dies, daß die vorzüglichen Gattungen zur Rekonstruktion – Briefe und Tischreden – beide kritischer Reflexion bedürfen, letztere aber mit höherer Vorsicht zu behandeln 2 Auch Thomas Kaufmann habe ich in seinem für diese Dokumentation leider nicht zur Verfügung stehenden Tagungsbeitrag so verstanden, daß er sich zu einem solchen Ansatz kritischer Quellenanalyse bekannte. Daß er im Detail ebenso scharfe Kritik an der Durchführung dieser Einsicht in meiner Luther-Biographie geübt hat, sei jedoch auch nicht verschwiegen. Die Debatte darüber ist allerdings nicht hier zu führen.
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sind als die ersten, insofern in ihnen der Gestaltungswille nicht nur Luthers, sondern möglicherweise auch der Berichterstatter in höherem Maße zu veranschlagen ist. Grundsätzlich gilt, daß jede Quelle, auch jeder einzelne Brief, jede Predigt und jede Schrift Luthers auf ihren biographischen Quellenwert hin zu untersuchen ist – die beiden sorgfältigen Studien zu Luthers Eheverständnis in diesem Band mögen ein Beispiel für solche Analysen bieten. Dies ist bis heute nicht geschehen, und wenn es denn einmal geschieht, dann wird vermutlich jede der vorhandenen LutherBiographien noch einmal einer kritischen Revision unterzogen werden. Auch die Lutherforschung kommt um die Dekonstruktion nicht herum, zu der das passende Adjektiv freilich nicht „dekonstruktiv“, sondern „dekonstruktivistisch“ ist. Doch was trägt dieser Prozeß aus? Es scheint, man könne dies historisch leichter sagen als theologisch. Doch auch theologisch gilt: Allein auf diese Weise ist der historische Luther als Person wie als Theologe zu gewinnen, allein so wird er zum Gesprächspartner auch für die gegenwärtige Theologie, der anregt und manchmal aufregt. Diese Rekonstruktion ist eine Aufgabe, die mehr vor uns als hinter uns liegt – der vorliegende Band stellt nicht mehr als einen Schritt auf diesem Wege dar.
Autoren Brecht, Martin, D., Dr. theol., D. D., Professor (em.) für Kirchengeschichte an der Wilhelms-Universität Münster. Breul, Wolfgang, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Kirn, Hans-Martin, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der Protestantisch- Theologischen Universität Amsterdam-Groningen, Standort Groningen, Niederlande. Kohnle, Armin, Dr. phil., Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Korsch, Dietrich, Dr. theol., Professor (em.) für Systematische Theologie am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg. Leppin, Volker, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Moeller, Bernd, Dr. theol., Dr. h.c., Professor (em.) für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Odenthal, Andreas, Dr. theol., Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Schäufele, Wolf-Friedrich, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg. Schilling, Johannes, Dr. theol., Dr. phil., Professor (em.) für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Theologischen Fakultät der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel.
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Autoren
Schmidt, Georg, Dr. phil., Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Schubert, Anselm, Dr. theol., Professor für Neuere Kirchengeschichte am Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Schwarz, Reinhard , Dr. theol., Professor (em.) für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sparn, Walter, Dr. theol., Professor (em.) für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Namensregister Ackermann, M. R. 39 Agricola, J. 174, 196– 200, 204ff., 208f., 211–220, 222ff., 230, 234ff., 240ff., 245f., 289 Alberigo, J. 86 Albrecht von Mainz 15, 31–34, 37, 40, 77, 86, 143f., 147, 149, 16–165, 190 Alexander, N. 76 Althaus, P. 155, 213, 240 Ambrosius Catherinus 128 Amery, J. 291 Amsdorf, N. von 95f., 109, 146, 148f., 178 Andräes, J. V. 173 Angenendt, A. 84, 87 Apel, J. 141 Armknecht, F. 76 Arnold, J. 75 Arnold, M. 171, 253 Asendorf, U. 215 Assmann, A. 169 Assmann, J. 169 Asche, M. 28, 153 Augustin 33ff. 66f., 222, 225, 230, 309 Aurelius, C. A. 94 Barth, H.-M. 70, 109 Barth, K. 70, 234, 248 Barth, U. 273 Batori, I. 14 Bauer, D. R. 109 Bäumer, S. 90, 91 Baumgärtner, H. 146 Bayer, O. 78, 114, 223, 232, 236, 239, 245ff. Beck, K. 301 Beintker, H. 78 Bell, D. Ph. 252, 275 Berges, W. 12 Berlin, I. 11 Berlin, J. B. 301 Bernhardi, B. 156 Beutel, A. 119, 213, 272 Beyer, M. 142, 155 Beyschlag, K. 70
Biel, G. 33, 58 Bieritz, K.-H. 75f., 105, 107f. Bindseil, H. E. 27 Bizer, E. 198 Blankenburg, W. 70 Blickle, P. 13, 17, 23, 25, 27, 144 Block, J. 70, 81, 88, 91, 93 Blume, C. 82 Böcking, E. 19ff. Boehmer, H. 70, 141f., 154 Boehner, Ph. 52 Boendermaker, J.P. 70 Boës, A. 105f. Boetticher, A. von 112 Bogislav von Pommern 136 Bohatta, H. 89 Bohnenkamp, A. 290 Boockmann, H. 25 Bora, K. von 129, 138, 141f., 146, 148, 153, 155 Bornkamm, H. 150f., 164 Brady, Th. A. 18 Brants, S. 18 Bräuer, S. 144 Braulik, G. 104 Brecht, M. 12f., 70, 85, 105f., 124, 133, 143, 151, 154, 156f., 164, 186f. Bretone, M. 265 Breuer, M. 252 Breul-Kunkel, W. 138, 143, 162, 164 Brießmann, J. 149 Brosseder, J. 77, 252 Brunner, P. 95 Brush, J. E. 81, 109 Bubenheimer, U. 27, 156f. Buber, M. 302 Bucer, M. 157, 266, 310 Buchwald, G. 108, 124 Buckwalter, S. E. 156 Bugenhagen, J. 70, 112, 141, 148, 157, 213 Bultmann, Ch. 70, 119f. Bünz, E. 83 Burgos, P. von 283 Burkhardt, J. 25, 29, 308
322 Burnett, S. G. 252, 254, 275, 283 Buszello, H. 144 Cajetan 14, 38, 128 Calvin, J. 81, 239, 245 Camerarius, J. 145, 153 Cammerlander, J. 22 Capito, W. 134, 137, 157 Caspers, Ch. 70 Choiselet, D. 85 Clarkson Matheson, P. 9 Clemen, O. 39 Conrad, A. 112 Constant, B. 11 Cordatus, K. 201 Coudert, A. P. 283 Cranach, L. 80, 133, 141, 212, 241 Crodel, M. 295f. Cruciger 112, 129 Dantiscus, J. 133 Dauser, R. 29 Decot, R. 253 Delius, H.-U. 95 Delumeau, J. 311 Denifle, H. 147 Dickens, A. G. 26 Diestelmann, J. 76 Dietrich, V. 173, 178, 183, 187 Dijk, S. J. P. van 89 Dingel, I. 95, 114, 138, 157 Dinzelbacher, P. 109 Döring, H. 114 Dossetti, J. A. 86 Dreves, G. M. 82 Düker, E. 197 Dülmen, R. van 256 Dürer, A. 289 Ebel, F. 17 Ebeling, G. 170, 172, 178ff., 212f., 221, 239, 248, 303 Eber, P. 76 Eberlin von Günzburg, J. 133, 157 Eck, J. 34, 38, 186 Edwards, M. U. 25, 252 Egranus, S. 32 Eib, M. 154 Elert, W. 155, 212f., 224, 234, 239, 246ff. Elsässer, A. 114 Emser, H. 56
Namensregister Enders, L. 56 Endres, R. 144, 164 Erasmus von Rotterdam 13, 17, 137, 143, 289 Erikson, E. H. 123, 309 Esnault, R. H. 127, 132 Faulenbach, B. 11 Faupel-Drevs, K. 96 Fick, M. 247 Fischer, A. 76 Flammer, Th. 84 Flasch, K. 289 Frank, G. 214 Franz, A. 86 Franz, G. 154 Fried, J. 169 Friedberg, E. 263 Friedell, E. 288f. Friedenthal, R. 151 Friedrich von Sachsen 14, 20, 132 Fuchs, G. 81 Fuchs, W. P. 154 Fuchs, H. 156 Fuhrmann, M. 19 Gail, A.J. 17 Gall, L. 11 Gebwiler, H. 17 Gelderen, M. van 10, 16 Georg von Sachsen 15, 121f. 138 Georgen, H. 122 Gerdes, H. 34 Gerson, 310 Geuenich, D. 84 Giese, E. 20 Glatz, K. 146 Goethe, J.W. von 9, 30, 306, 317 Goltzen, H. 70, 76f., 105, 110ff., 115f. Gotthard, A. 28 Graetz, M. 253 Graf zu Dohna, L. 84 Graff, P. 71 Grane, L. 125, 213 Grethlein, Ch. 105, 107 Grimminger, D. J. 76 Grötzinger, E. 75 Grumbach, A. von 299 Grünberg, W. 114 Grundmann, H. 12 Guichar-Rousse, H. 80 Günter, W. 84
Namensregister Gussmann, W. 186 Haag, N. 74 Habermanns, J. 78 Haendler, K. 213 Haerter, A. 117 Hagen, K. 251 Hägglund, B. 213, 215, 245, 258 Hamm, B. 27, 119 Hamman, G. 213 Hammer, G. 198, 219 Hardtwig, W. 19 Haupt, H.-G. 28 Hausmann, N. 174 Häussling, A. A. 69, 72, 75, 80, 84, 89ff., 93, 111 Hazelden Walker, J. 89 Heckel, J. 237 Hegel, E. 83 Heidrich, J. 70, 76 Heidrich, G. 116 Heinig, P. J. 162 Heintze, G. 215 Herder, J.G. 10f. Hermann, R. 215, 217 Herms, E. 239, 248f. Herzig, A. 267 Herzog, H. M. 85 Hessus, E. 174f. Heubach, J. 215 Heuschele, O. 301 Heussi, K. 70 Heutger, N. C. 77 Hieronymus 34f. Hinrichs, C. 12 Hinschius, P. 265 Hirschi, C. 17 Höcker, B. 81 Hoeps, R. 80 Hofmann, W. 212 Holl, K. 34 Hölscher, L. 79 Holtz, S. 74 Holzem, A. 73 Hoogstraeten, J. 39 Hotzel, S. 85 Huberinus, C. 266 Hutten, U. von 13, 19, 20ff., 26, 29 Ingen, F. van 78 Jacobi, T. 13, 25
323
Jacobs, M. 114 Jakubowski-Tiessen, M. 297 Janssen, J. 14, 27 Jaspert, B. 70, 77, 87 Jedin, H. 86 Jenny, M. 81f. Joannou, P. P. 86 Joest, W. 213, 215, 239f. Joestel, V. 143 Jonas, J. 112, 141, 157, 171, 173f., 178, 180, 227, 296f. Jordahn, O. 105 Josuttis, M. 80, 215 Jørgensen, N. 70 Juncker, A. 301f. Jung, M. H. 95, 100 Junghans, H. 14, 142, 164f., 198, 258 Jürgensmeier, F. 112 Kafka, F. 292 Kampa, D. 288 Karant-Nunn, S. C. 114, 138 Karl. V. 15f., 19, 300 Karlstadt, A. R. Bodenstein von 126, 134f., 157 Kaufmann, C. 173 Kaufmann, Th. 17, 95, 252f., 256, 270ff., 273, 317 Keel, D. 288 Kinder, E. 213 Kirn, H.-M. 270, 272 Kisch, G. 254, 267 Kjeldgaard-Pedersen, S. 197f., 213 Klessmann, M. 172 Klöckener, M. 69, 72, 112 Kloft, H. 17 Knape, J. 18, 22 Knolle, T. 142, 145, 148f. Knuth, H. C. 248 Koch, E. 76, 83, 109, 198, 211, 218f. Koch, L. 112 Koch, R. 11 Koch, T. 78f. Kohler, A. 15 Köhler, H.-J. 164 Kohnle, A. 153 Kolb, R. 95 Köpf, U. 69, 88f., 94, 109, 119ff., 124, 126, 128f. Kopitzsch, F. 138 Korsch, D. 221, 239, 244, 246, 248f., 287, 299, 305, 309, 313, 317
324
Namensregister
Kortzfleisch, S. von 251 Kößling, R. 153 Kramer, S. 142, 145 Kranemann, B. 69, 72, 112 Krarup, M. 76 Krieger, L. 12 Kroeker, G. G. 17 Krötke, W. 213 Krummacher, Ch. 81 Kruppa, N. 83 Kugler-Simmerl, A. 86 Kunkler, S. 153 Lang, J. 32, 34, 41, 91, 128, 289 Lange, W. 19 Langewiesche, D. 26, 28 Langmuir, G. I. 272 Lansemann, R. 109 Lauterbach, A. 97 Leaver, R. A. 80 Leder, H.-G. 157 Lehmann, H. 297 Leibniz, G. W. 247 Lentes, Th. 80 Leonardi, C. 86 Leppin, V. 22, 24f., 27, 70, 74, 91, 94, 98, 101, 119f., 123, 142, 164, 169ff., 175, 180, 239, 271 Lessing, G. E. 247 Lewin, R. 252 Lexutt, A. 69, 77, 119f. Liebs, D. 264 Lienhard, M. 29, 81 Linck, W. 128, 132, 145f., 148, 174, 177, 298ff. Lindner, A. 70, 89, 119f. Lobenstein-Reichmann, A. 23 Locher, G. W. 70 Loewenich, W. von 141, 143, 149 Lohfink, N. 104 Lohse, B. 70, 88, 120, 125ff., 130, 195, 213, 258, 271, 273 Lotter, F. 267, 269 Ludolphy, I. 141, 146 Ludscheid, M. 89, 117 Lüdtke, M. 117 Ludwig, U. 84 Luibl, H. J. 78 Luijk, B. van 89 Lurz, F. 72, 74 Lutz, H. 28, Lyra, N. von 283
Machiavelli, N. 17 Mager, I. 138 Maier, H. 12 Mańko-Matysiak, A. 111 Mann, Th. 9 Manns, P. 91, 94 Mantey, V. 69, 119f. Margaritha, A. 252, 274, 283 Markschies, Ch. 69, 119 Martens, G. 80 Maschke, Th. 120 Mathesius, J. 97, 99f. Matsuura, J. 90 Matthes, O. 183 Mau, R. 200, 245f. Maurer, W. 42, 251ff., 260f., 269 Maximilian I. 14f., 17, 266 Mayr, M. 17 Mc Govern, W. M. 9 Melanchthon, Ph. 14, 27, 32, 70, 95, 112, 114f., 125ff., 131, 145, 153f., 157, 166, 170f., 173–181, 183, 185ff., 190ff., 193, 196, 198ff., 211, 213f., 217, 219, 224, 233, 235, 239ff., 245f., 298f. Meller, H. 132 Melville, G. 121, 133 Mennecke-Haustein, U. 170f. Merkel, K. 162 Mertens, D. 26 Merz, M. B. 69 Messner, R. 72, 75, 77, 79, 82, 94, 97, 105, 108 Mettke, H. 19 Meyer, Ch. 76 Meyer, D. 84 Meyer, H. B. 75, 264 Mikoteit, M. 78, 91 Minkwitz, H. von 110 Modalsli, O. 213, 234 Moeller, B. 13f., 22, 25, 31f., 94, 120f., 148, 157, 184 Mommsen, W. J. 12 Mörke, O. 28 Mose 46, 48, 54f., 144, 175, 197, 203, 208, 215–218, 221, 229, 233ff., 264, 288 Much, R. 19 Mühlen, K.-H. zur 77, 124, 198, 219, 246 Müller, J. 85 Müller, K. F. 70,
Namensregister Müller, K. 162, 165 Müller, M. 86 Müller, N. 77, 116f., 145 Münch, P. 73 Münster, S. 254 Müntzer, Th. 41, 70, 144, 211 Murners, Th. 27 Muschiol, G. 84 Musculus, W. 107 Musculus, P. 116 Niekus Moore, C. 78 Nolte, C. 162 Nottarp, H. 113 Obermann, H. A. 70, 120f., 123, 135, 151, 164, 252f., 263 Occam 205 Ockham, W. von 33, 52, 263 Odenthal, A. 73, 75ff., 80, 83, 86, 88, 90, 117 Oestreich, G. 12 Oldenstadt, H. G. von 138 Ortmann, V. 69, 119, 120 Osten-Sacken, P. von der 252ff., 261, 274, 283 Paasch, K. 90 Pabst, V. Ch. 94, 120, 127–130, 132– 137 Pahl, I. 75 Pakter, W. 263 Palmer, N. F. 71 Paltz, J. von 125 Pannenberg, W. 219 Paul, J. 297 Pauls, T. 26 Paulus 23, 33f. 41f., 45f., 53–56, 63, 65, 67, 99, 103, 122f., 130, 132, 201, 214, 218, 221, 283, 293, 309 Pesch, O. H. 89, 114 Peters, A. 213, 214f., 219ff., 223, 228, 232ff., 236, 239, 240, 245, 258 Peters, Ch. 133, 213 Petersen H. 39 Petrus Hispanus 34, 52, 178, 203 Peutinger, C. 17 Pfefferkorn, J. 38ff., 274 Philipp von Hessen 15, 279, 288 Piccolomini, E. S. 17 Pistorius, F. 298, 301 Porchetus, S. 254, 283 Po-Chia Hsia, Ronny 267
325
Posset, F. 120 Postel, R. 138 Poscher, R. 10 Praetorius, S. 197 Press, V. 28 Prierias, S. 35f. Probst, J. 137, 297 Prodi, P. 86 Pulsfort, E. 137 Rädle, F. 292 Ranke, L. von 28 Ratzeberger, M. 81 Raunio, A. 237 Reinicke, H. 300 Reißenbusch, W. 145, 147 Rengstorf, K. H. 251 Repgow, E. von 16 Reuchlin, J. 38ff., 254, 267, 269f., 274f. Reuter, H.-R. 114 Richter, A. L. 79 Ricœur, P. 2, 170 Rieger, R. 42, 54, 65 Rogge, J. 198, 211f., 215f., 218f., 245 Roloff, H.-G. 20 Rörer, G. 306 Rosenberger, G. 215 Rosheim, J. von 276 Rotenhan, S. von 20f. Roth, M. 248 Rothkegel, M. 253 Rott, J. 310 Rublack, H.-Ch. 14, 138 Ruhbach, G. 88, 119 Rühel, J. 143ff., 148 Rühl, J. 162, 164f. Sander, A. 76 Saxer, E. 70 Scultetus, H. 36 Seckler, M. 82 Seeberg, R. 155 Seidel, J. 156 Seidel-Menchi, S. 263 Selderhuis, H. J. 245 Selnecker, N. 81 Seuse, H. 87 Seyderhelm, B. 109 Shachar, I. 277 Shoulson, J. S. 283 Sickingen, F. von 15, 21 Siefer, G. 114
326
Namensregister
Siegert, F. 272 Siegmund, J. J. 119 Simon, W. 75, 264 Skocir, J. 120 Smolinsky, H. 28 Snigula, Ch. 10 Spalatin, G. 32, 38f., 93, 127, 137, 145, 147ff., 171, 174, 180, 185 Sparn, W. 231, 246f. Spengler, L. 299 Suppan, K. 155 Schaeffler, R. 80 Schalling, M. 310 Schatz, H. 83 Schäufele, W.-F. 95, 98, 114, 138, 144, 157 Scheel, O. 33f., 88f., 122, 124 Scheible, H. 14, 145, 153f., 157, 175, 177 Schillhahn, W. 76 Schilling, H. 28 Schilling, J. 20, 94, 120, 125, 128, 133, 157, 288, 292f., 297 Schimmelpfennig, B. 133 Schindler, A. 70 Schipper, J. M. 215, 244 Schirmeister, O. 112 Schlaginhaufens, J. 95 Schleiermacher, F. 219 Schlemmer, K. 109 Schlichtegroll, F. 297 Schloemann, M. 212 Schmelz, L. 89, 117 Schmidt, A. 84 Schmidt, G. 10, 13f., 16, 19f., 25f., 28f., Schmidt-Biggemann, W. 247 Schmidt-Clausen, K. 88, 119 Schmidt-Lauber, H.-Ch. 75f. Schneiders, M. 70 Schnell, R. 154 Schoeps, J. H. 267 Schöne, J. 76 Schœnsperger, H. 111 Schorlemmer, F. 143 Schorn-Schütte, L. 28 Schrems, T. 83 Schubert, A. 258, 271 Schuberts, H. von 183f. Schulz, F. 69, 72f., 76, 78, 87, 110, 112, 116 Schwarz, R. 119
Schwerdtfeger, R. E. 112 Schwerhoff, G. 265f. Staats, R. 297 Stackmann, K. 22, 31f. Stamm, H.-M. 94, 102f., 112, 121, 123, 125ff., 130ff., 136, 139 Staub, M. 121, 133 Stauffen, A. von 300 Staupitz, J. von 32, 84, 128, 171, 202 Stephan, R. 71 Stolle, V. 273 Stolt, B. 42 Struck, W.-H. 161 Stucki, H. 70 Tacke, A. 77, 162 Talkner, K. 77, 117 Tetz, M. 70 Teutleben, K. von 178 Thayer, A. T. 83, 308 Theißen, G. 315 Thomas von Aquin 34f. 243 Thomson Walton, M. 283 Thür, J. 162, 165 Tiggemann, H. 76, 117 Treu, M. 20, 155 Trowitzsch, M. 69, 119 Tungern, A. von 39 Unseld, J. 292 Vajta, V. 75, 79f., 107ff. Veit, P. 81, 87 Vernet, P. 85 Vielberg, M. 13 Voltaire 311 Vogel, I. 76, 111 Vogel, L. 138 Vogler, G. 20, 144 Völker, A. 78 Waas, A. 12 Wackernagel, Ph. 111 Wainwright, G. 75 Wallmann, J. 78 Walther, H.G. 16, 290 Wartenberg, G. 153 Wattenbach, W. 290 Weber, M. 266 Weber, W. J. 29 Wegmann, H. 70 Weimer, Ch. 80
Namensregister Weingarten, H. 70 Weller, H. 96, 171, 187 Wendebourg, D. 87, 114, 116, 120, 131, 170f., 176, 180 Wengert, Th. 119, Wengert, T. J 214 Wennemuth, H. 82 Wenz, G. 219, 239, 246 Werbeck, W. 98, 128 Wertelius, G. 78 Wesel, J. von 86 Westerfeld Tucker, K. B. 75 Wetzel, R. 84 Whaley, J. 28 Wiegels, R. 20 Wiethölter, W. 290 Wiggermann, K.-F. 75 Wilhelm IV. von Bayern 26 Wimpfeling, J. 17
Winter, D. 315 Wintzer, F. 80 Woesler, W. 20 Wöhle, A. H. 212, 215, 237, 242f. Wohlfeil, R. 28, 138 Woitkowitz, T. 153 Wolgast, E. 148 Wolf, E. 243f. Zasius, U. 17, 254, 267, 269 Zeeden, E. W. 76 Ziegler, R. 76 Ziemer, J. 171f. Zimmermann, W. 74 Zschoch, H. 223 Zweig, S. 289, 301f. Zwilling,G. 127, 135, 178 Zwingli,U. 25, 70, 75, 81
327
Sachregister Ablaß 31, 33, 37, 40f., 67, 79, 156, 189, 200, 308 − Ablaßfrage 40, 66 − Ablaßstreit 36, 40 − Ablaßthesen 14, 33–38, 42, 197, 201, 206 Adel 15f., 25f., 55f., 156 − Adelsschrift 19, 21, 25f. Aktualisierung 251, 282, 285, 311 Ambivalenz 79f., 173, 180 Anfechtung 53, 171, 186, 190, 192, 278 Anthropologie 43, 195, 258, 262 Antijudaismus 39, 273f. Antinomismus 198, 204, 206, 209, 213, 215, 219, 240f., 245, 247 Antisemitismus 252, 272, 284 Aufstand 143, 163, 165f., 283 − Aufstand der Bauern und Bürger 164 Augsburg 14, 28, 113, 173f., 176–179, 181, 183–186, 188–194, 294, 298, 300, 307 Autoritätskultur 309 Bauernkrieg, Bauernaufstand 26f., 29, 143ff., 148–151, 154, 161f., 164f., 275f. Befreiung 23, 27, 29, 44, 47, 49, 63, 197, 203 Beichte 189, 203 Bekennen 166, 186, 190, 193, 282 Bekenntnis 29, 135, 151, 184, 186, 192f., 300 Bekehrung 198, 223 Beten 64, 69, 71, 73, 75, 78f., 84–93, 96–104, 106f., 109, 113–116, 122, 221, 289, 294f. − Horenbeten 94f., 98, 100f., 115 Beweggründe − persönliche Beweggründe 149 Bewegungsbegriff 23 Beziehung 2, 44, 58, 77, 83, 175, 179, 191, 211f., 219f., 224, 229, 247, 287, 292f., 302f. Bibel 8, 13, 24f., 27, 49, 79, 88, 133, 189, 283f., 290, 308
− Bibelübersetzung 71, 306 Bilderkult 308 Bildungsinstrument 116 Biographie V, 1ff., 6ff., 15, 31, 74, 100, 129, 141, 150f., 169–172, 175, 183, 195, 212, 215, 285, 287, 305, 309, 313, 316ff. Blasphemie 222, 265, 267, 279 Bonaventura 34 Brevier 70f., 74, 76, 87, 89ff., 96, 99,, 112, 116 − Brevierverpflichtung 97–100 Briefeschreiben 289ff., 301f. Buchdruck 306 Buße 37, 41, 84, 189, 197–207, 211, 213–228, 230, 234, 238, 244ff. Christ 23f., 48, 52, 56f. 59ff., 63, 65f., 82, 188, 221, 238, 256, 282, 311 − allgemeines Priestertum der Christen 55f. Christus 17, 23, 45, 47, 51–56, 59, 62ff., 66f. 104, 138, 188, 197, 199, 201–205, 208, 216–220, 223–234, 237f. 241–245, 256, 259f., 267, 271, 275, 285, 288, 296f. 299f. − Christus-Glauben 53, 60, 63, 219, 221, 223, 249, 308 − Intensivierung des Christlichen 311 claritas scripturae 272f., 276f. Coburg V, 81, 170f., 173f., 178f., 181, 183–188, 192, 194, 290, 294, 298, 315 conditio humana 204, 311 Confessio Augustana (CA) 113f., 176– 180, 183ff., 190f., 193f., 240 Dämonisierung 276f. 281 Dekalog 42, 44ff., 53, 58, 199, 202, 219, 229, 239, 242f., 247 Dekonstruktion 170, 172, 318 Deskription 313 Dialektik 244 duplex usus legis 235
330
Sachregister
Ehe 136, 138, 141–144, 146–149, 153– 160, 162, 165f. − Eheliche Gemeinschaft 159 − Ehelosigkeit 143, 158, 160 − Ehe-Sermon 155 − Eheschließung V., 120, 134, 137f., 141ff., 145, 147f., 150f., 153–156, 162–166 − Ehestand 121, 126, 136, 138, 144, 160, 166 − Luthers Ehelehre 142, 155, 160, 166 − Priesterehe 157 Einsicht 29, 40, 43, 47, 80, 101, 103, 117, 123, 127, 163, 174, 191, 203, 251, 272, 275, 279, 315, 317 − reformatorische Einsicht 122 elenchtisch 212f., 226, 230f., 233f, 236, 239–243, 247, 249 Eleutherius 22, 31f., 34 Entkontextualisierung 313, 315, 319 Erfahrung 4, 6, 47, 49, 54, 72ff., 87, 89, 92, 94, 97, 102, 138, 185, 187, 197, 201, 207f., 218f., 223, 227f., 233f., 238, 240, 242f., 245 − Gewissenserfahrung 49 Erinnerung 4, 15, 113, 169f., 185, 189, 197, 269, 300 Evangelium 23f., 27, 34, 41, 43f., 47– 58, 60, 62f., 66f., 79f., 97f., 103, 106, 125, 134, 149f., 160, 163, 166, 188f., 193, 196ff., 200–204, 212– 234, 240–249, 252, 271, 276f., 283, 291f., 307, 316 exemplum 205, 225, 230 Fegefeuer 180, 190f. Fleisch 138, 143, 206, 221f., 228, 237f., 244, 273f., 296 Forderung 24, 45, 51, 55, 65, 202, 207, 223, 225, 227, 229f., 233, 241, 247 Freiheit 9–13, 16–27, 29f., 32, 34f., 41ff., 47–53, 55–58, 60, 62, 64–67, 80, 97ff., 102f., 126, 130, 189, 213, 219, 223, 276 − alte Freiheit 10f. − christliche Freiheit 219 − deutsche Freiheit 10ff., 19, 21f. − evangelische Freiheit 127, 129ff., 135ff., 139 − Freiheit des eigenen Glaubens 29 − Freiheitsbotschaft 66
− Freiheitsrhetorik 13, 16 − geistige Freiheit 22 − Gewissensfreiheit 28f., 98 − nationale Freiheit 26 − negative Freiheit 11 − neue Freiheit 10f. − politische Freiheit 22 − positive Freiheit 11 − religiöse Freiheit 27 − Religionsfreiheit 28 − sozialer Kampf für die Freiheit 13 − Weltliche Freiheit 27 − Freiheitsdefinition 11 − Freiheitsidee 10, 12, 25 − Freiheitskonzeption 315 − Freiheitspamphlet 26 − Freiheitstafel 18 Fremdbeschreibung 313, 316 Frömmigkeit 46, 74, 77–80, 95 − reformatorische Frömmigkeit 192 Gebet 72, 78f., 81, 84, 87, 90, 95, 98, 100–107, 114f., 161, 176, 189, 255, 282, 295 − Breviergebet 70f., 92 − Chorgebet 71, 76, 85, 88f., 91–94, 100, 104, 106, 108, 115 − Stundengebet 69–77, 80–84, 86–89, 91–94, 96, 99, 101–106, 108, 110f., 113, 115ff. − Stundengebetspraxis 91, 94, 105, 107, 115 Gebot 44–47, 64, 127f., 130, 144f., 156, 165, 204, 213f., 232, 240, 243, 248, 259, 275, 294 Gelübde 57, 71, 74, 93f., 102f., 121, 124–130, 132, 134f. − evangelisches Gelübde 131 − Mönchsgelübde 70, 98f., 102, 115, 120, 123–128, 159 − Ordensgelübde 103, 125 Genugtuung 131, 203 Gerechte 51 Gerechtigkeit 9, 23, 43ff., 50–53, 59, 131, 197ff., 201, 219, 222, 224, 226, 229, 235f., 243, 245 − Gerechtigkeit Gottes 215 Geschichte 4, 6, 9–12, 14f., 18ff., 24f., 27f., 39, 70f., 75–79, 83f., 86, 90f., 97, 109, 111, 116, 120, 125, 141,
Sachregister 150, 154, 157, 164, 171, 209f., 219, 247, 251, 253, 265, 267, 272, 295, 305, 308–311 Gesetz 23, 29, 43ff., 47–56, 58ff., 62, 64, 67, 80, 85, 99, 130, 156, 189, 196f., 199–208, 211–218, 220–249, 276 − elenchtisches Gesetz 213, 226, 230f., 234, 236, 240–243, 247 − natürliches Gesetz 202, 235 − Gesetzeserfahrung 247 − Gesetzeserfüllung 202 − Gesetzespredigt 224ff., 231, 234f., 238 − Gesetzgeber 54f., 225, 241, 246, 287 − Gesetzlichkeit 65f., 68, 130, 197, 199, 204, 209 Gesinnungsethik 64 Gewissen 29, 43, 46f., 49, 56f., 80, 99f., 127, 130, 135, 192, 197f., 203, 214, 217, 225, 227, 232, 235, 239f., 293, 296 Geist 89, 97, 105, 113ff., 139, 189, 221, 237, 260, 273, 297 Glaube 15, 22f., 28f., 41, 43, 46ff., 50, 52f., 56, 58–61, 78f., 99, 159, 188f., 212f., 221f., 224, 242, 244, 247f., 291f., 302f., 308 − Glaubensbewusstsein 61, 65 − Glaubensgewißheit 190, 220 Gnade 22f., 43, 48f., 51, 62, 102, 119, 123, 189, 201, 206, 212, 216ff., 222ff., 231, 234ff., 239, 247, 283, 293, 296f., 308 Gott 8, 17, 22ff., 27, 37, 44–51, 54, 57– 62, 64ff., 76, 78f., 87, 94ff., 98, 101, 104, 112, 115, 126ff., 130ff., 134, 144–148, 151, 156, 158f., 161, 163– 166, 175, 184f., 188f., 191ff., 209, 214, 219, 229f., 232, 234, 236ff., 243ff., 247, 254–260, 263, 266, 268, 270, 278f., 282f., 285, 294–297, 299f., 302f. − Gottes Zorn 47, 144, 147, 202, 224, 254–258, 260ff., 266f., 282 − Regiment Gottes zur Linken 217 − Gotteslästerung 263–268, 270 − Gottesliebe 46, 222, 230 − Gottesverhältnis 43, 60, 78, 191 − Gottvertrauen 160, 189
331
− Gottes Wort 37, 46, 51, 127, 186, 188, 192, 260, 264, 291, 293, 303 Grundsünde 259 Handeln 3f., 43, 45, 64, 185, 220, 224, 243, 249, 266, 280 Häretesierung 279, 281 Heil 43, 50–53, 56, 64, 127, 130f., 224, 232 − messianisches Heil 52f., 62 Heiligenkult 116, 308 Heiliger Geist 122, 201–204, 217ff., 222f., 232, 237, 242, 260f. Heilige Schrift 34ff., 40f., 102, 104f., 108, 115, 153, 201, 229, 313 Heilsweg 308 Herz 45f., 78f., 104, 188, 192, 202, 207, 217, 226, 229, 236f., 246f., 275, 296f. Historie 275, 305, 310f. − Oral History 306 Humanisten 14–17, 23, 289 Idee 10, 12f., 28, 141, 262, 315 − Ideen von 1914 11 Identität 2, 48, 60, 69, 72, 80, 276, 279 Identifikation 174, 310, 315 Identifikationsgestalt 314 Ideologiekritik 10 Individualität 1ff., 6f., 313 Individuum 1, 3, 5, 7, 9, 11, 19, 309 Ineffabilität 7 Iustitia carnalis 236 Juden 15, 39, 206, 251–263, 267–270, 272–284, 315f. − Duldung der Juden 257f., 262 Judenhass 252 Ketzer 16, 26, 37, 39, 261, 307 Ketzerbekämpfung 277 Kirche V, 13, 16, 24–27, 33, 35, 37, 40, 55ff., 66f., 69, 71, 74–77, 79, 85f., 88, 90, 92, 95, 100f., 105–109, 112ff., 116f., 150, 160, 183, 189f., 193, 201, 203f., 206ff., 222, 224f., 228, 232f., 235, 238, 240, 246, 248, 251, 261, 287, 302, 308 − Autorität der Kirche 66 Kirchenväter 33, 35f., 40f., 102, 190 Kleriker 26, 71, 86, 106, 111, 157, 308 Kloake 122f.
332
Sachregister
Kommunikation 1f., 7, 29, 64, 114, 138, 171f., 175, 180, 291, 294, 298 − Kommunikation des Evangeliums 292 − Kommunikationsanalyse 179 Konfessionsstreit 29, 311 Konflikt 34, 39f., 80, 98, 179, 183, 195f., 205, 209, 265 − Vater-Sohn-Konflikt 293 Konkubinen 162 Kontext 6, 8, 10, 15f., 25, 27, 44, 51, 53, 59, 69f., 72–75, 77–84, 87f., 92ff., 98f., 102, 106, 108f., 116, 143f., 145, 150, 153, 169, 180, 183, 210, 215, 219, 228, 233f., 251f., 256, 264, 269, 273, 277f., 283, 287, 314f. Kontextualisierung 6, 313, 315f. Konversionen 309 Konvertit 122, 170, 274, 283, 309 Leben 1–5, 7f., 17f., 20, 29, 44, 46f., 50–53, 55f., 60, 63f., 67, 79, 86, 88, 94f., 119f., 123, 125, 130ff., 134, 136, 141f., 144, 147, 149ff., 156f., 159f., 164ff., 189, 191–194, 201, 206, 208, 213f., 224f., 230, 235, 237, 240, 242, 249, 255, 258, 266, 269, 276, 287, 289f., 292, 295–300, 303, 311, 316 − Monastisches Leben 120 − Lebensform 69, 99, 134 − Lebensweise 136f. − Lebenswende 121, 124 − Lebenswirklichkeit 195 Lehrdiskussion 38 Lehrfreiheit 41 Lehre 33f., 36, 38, 41, 44, 51, 55, 75, 82, 95, 108, 112, 136f., 149, 189– 193, 199, 201f., 209, 211, 213f., 216f., 222, 224, 226, 231, 235f., 239, 245, 248, 287 − Zwei-Reiche-Lehre 9 Leitfigur 310 lex aeterna 243, 248 lex civilis 242 lex exhortans 242 lex iucunda 242, 244 lex naturae 229, 236, 240–243, 246, 248f. lex spiritualis 218, 236 lex temporalis 229
lex terrens 233, 242 lex vacua 238, 242 libertas 16ff., 20, 22, 51 − Germanorum libertas 19 − libertas christiana 42, 241 Libertät 12, 15 − ständische Libertät 11 Liebe 46, 53, 58, 61, 66f., 104, 146, 162, 189, 197, 236, 247, 296, 300f. − Nächstenliebe 43, 47, 49, 57f., 60– 68, 275 Liturgie 69–74, 76, 80, 82ff., 86f., 90, 96, 108ff., 113, 116, 189 − Gemeindeliturgie 73ff., 101f., 105f., 108, 115 − Liturgiewissenschaft 72f., 75f. − Offiziumsliturgie 70f., 73, 75ff., 79, 82f., 87, 89, 91f. − Stundenliturgie 73, 83, 87, 89, 93, 109, 111, 115, 117 Lutherbiographie 142, 150, 170, 305, 309ff., 317 Lutherrezeption 314 Macht 12, 20, 26, 48f., 53ff., 57, 60, 64, 144, 165, 171, 192, 234, 276, 282, 296 Medizin 228, 231 Meinungsmacht 308f. Messiashoffnung 279, 282 Mönchtum V, 69f., 77, 87f., 94, 98, 100f., 119ff., 123–127, 129, 134ff., 138 − evangelisches Mönchstum 129–134, 136, 139 Monumentalisierung 306 Moral 65, 114 Musik 70, 72, 78, 80f., 88, 91, 93 Name 22, 32, 89, 216, 242, 300, 302, 306 − Luthers Namensänderung 31f. Narration 1f., 7 Nation 11, 14, 16f., 19–22, 28, 41, 310 − deutsche Nation 14, 16f., 21, 25f., 28, 55, 310 − Gravamina der deutschen Nation 14, 26 Naturrecht 160, 206, 243, 246ff. Normativität 248, 279, 313
Sachregister Obrigkeit 24, 26, 68, 157, 263f., 266, 270, 281 Papstkirche 25, 98 Papstkritik 27, 276, 310 Partner 206, 302, 309 Paulinismus 67 Person 1–4, 6, 23, 55, 58ff., 63, 131, 184f., 221, 224, 248f., 256, 278, 291, 307, 310f., 314, 317f. Persönlichkeit 6, 150 Pflicht 71, 81, 92, 100, 103, 231 − Brevierpflicht 86, 92 Pluralität 28f. Praxis 34, 38, 40, 55, 65, 69, 71, 73– 77, 84ff., 92, 98f., 101f., 106f., 171, 189, 200, 214, 265, 267, 275 − Offiziumspraxis 77 Predigt 37, 42, 54, 67, 75, 79, 84f., 94, 103f., 108f., 113, 120, 133, 135f., 155, 158, 160, 183, 187ff., 191, 193, 196f., 208, 214ff., 218, 220, 224, 226, 231f., 239f., 242f., 246, 260, 262, 277, 306, 318 Privatrezitation 92, 100, 114f. Professor 14, 134, 141, 172, 307 Projektion 175, 310 Protestatio, Protestation 33, 35–41, 184 Psalmenfrömmigkeit 80f., 87f., 90f. Psalter 70, 81, 85, 91, 94, 96f., 106f., 110, 115, 191 Quellen 3f., 6ff., 10, 15, 42, 71, 73f., 82f., 85, 91, 142, 146, 150, 161, 170ff., 199, 251f., 267 − Ego-Quelle 73 − Fremdquellen 3f. − Selbstquellen 3–6 Quellenanalyse 316f. Realdialektik 234, 241, 247 Rebell 307 Recht 18, 27f., 34ff., 41, 46, 68, 79, 91, 217, 263, 267, 271f., 293, 306 − römisches Recht 16f., 263, 265, 267f., 275 Rechtfertigung 108, 123, 131, 196, 198, 201f., 204, 206f., 214, 218, 223f., 229, 235f., 238, 251, 314 − Rechtfertigungslehre 216, 219, 248, 276 Rechtgläubigkeit 186
333
Rechtsleben 67f. Reformation 10, 13f., 22–29, 65, 69– 78, 80, 83, 85, 87ff., 94f., 100, 106, 110, 112, 114, 116, 119ff., 123–127, 133, 138, 147f., 153f., 156ff., 160, 162, 183–186, 205, 215, 220, 231, 251f., 258, 261, 264, 267, 269, 275, 307f., 310 Reichsacht 16, 128 Reichsrecht 268f. Reichsstände 11, 14, 21, 23, 26, 29 Reichstag 14, 19, 21, 25f., 128, 150, 173, 175, 184f., 187ff., 294, 298ff., 307 Rekonstruktion 169, 252, 316ff. − historische Rekonstruktion 316f. − theologische Rekonstruktion 316 Religion 2f., 8, 29, 49, 53, 55, 68, 184, 313 − Religionsfrieden 28f. Renaissance 13, 18 Respublica 18 Reue 197, 199, 202ff., 232f. Rhetorik 15f., 24, 49, 220, 252 Rücksichtnahme 135 − Rücksichtnahme auf die Schwachen 135 Sabbatarier 276 Sachkritik 315 sacramentum 205, 320 Seelsorge 170ff., 178,ff., 180, 214, 220, 230, 232 Seelsorger 25, 107, 171f. Segen 235 − Abendsegen 114, 116 − Morgensegen 114 Selbstaussagen 74, 97, 115 Selbstbeschreibung 313, 316 Selbstbild 5, 317 Selbstdeutung 6 − religiöse Selbstdeutung 5f., 8 − Tradition der Selbstdeutung 6 Selbsterkenntnis 47, 81, 204f., 218 Selbstreflexion 249 Selbstverständnis 5f., 8, 43, 58f., 60f., 64, 81, 169, 240 Selbstzeugnis 94, 210, 317 Sexualität 148, 154ff., 158ff. Singen 78, 81, 88, 92, 95, 100, 106, 110f., 113f., 192, 231, 290, 294
334
Sachregister
Situation 15, 43, 47f., 57, 65, 137, 144f., 165f., 172–175, 179, 181, 183–187, 192, 207, 215, 223, 238, 242, 244, 292, 298, 302, 315f. Soteriologie 263 Substitutionshypothese 281 Sünde 48, 50, 52ff., 125f., 160, 189f., 199, 201–208, 215–218, 221f., 224ff., 228, 231–234, 237f., 243, 251f., 255, 258–264, 266ff., 270, 279 − kollektive Sünde 264 − Sünde wider den Heiligen Geist 260, 261 Schöpfung 61, 156, 236, 158 − Schöpfungsordnung 147 Schrift 40, 42f., 56, 58, 68, 81, 85, 87, 92, 95, 98, 102f., 105–110, 120, 122ff., 127f., 133, 149, 154ff., 159f., 169, 177, 189ff., 199, 209, 222, 224, 252–256, 258, 260ff., 264, 268, 270, 272–276, 278–282, 285, 291f., 302, 313, 318 − Klarheit der Schrift 272f., 275f., 278f., 280f., 285 − rabbinische Schriftauslegung 274, 284 − Schriftprinzip 272, 276 − Schriftverständnis 251f., 269f. Stildifferenz 192 Taufe 56f., 125f., 130, 189, 223, 267 Tausch 52f., 277 tertius usus legis 212f., 239f., 245f. Theologenbiographie 316 Theologie 8, 32, 34, 195, 271 − monastische Theologie 69, 119 − reformatorische Theologie 68, 155, 191f., 213 − Theologie Luthers 8, 73, 78, 151, 155, 191, 196, 215, 243, 271, 314, 316 Tischreden 92, 94–101, 103, 142, 166, 306, 317 Toraverständnis 279 Toleranz 28 Toleranzmodell 275 Torgau 176, 184, 186, 188, 295 triplex usus legis 213f., 242, 245f. Trost 54, 63, 101, 171, 179, 188, 191, 214, 297 − Trostbriefe 171, 175, 187
Übergangsmensch 288 Überzeugung 32, 141, 148, 157, 189, 218, 229, 242, 261, 279, 302 − Theologische Überzeugung 149, 271 Unabhängigkeit 21, 309 Unbedingtheit 2 Ungerechtigkeit 50 Unglaube 58ff., 202, 204, 207, 216ff., 226, 241, 245, 247, 260, 281, 283 Universalität 53, 246, 248 usus elenchticus legis 212, 249 usus politicus legis 217, 249 Ursprungsrelation 314 Vater 11, 98, 111, 124, 128, 134, 138, 142, 148, 150, 160, 162, 186f., 255, 257, 260, 288, 292–300 Vaterunser 79, 196, 206f., 225 Verantwortung 5, 25, 43, 45, 59, 68, 147, 155, 158, 248, 166, 269 − Kollektive Verantwortung 266 Verlangen 45, 147 − Körperliches Verlangen 146f. Versöhnungslehre 219 Verständnis 7, 15, 41, 43, 46, 56, 58, 81, 83, 100, 105, 115, 122, 125f., 131, 145, 151, 190, 197, 212, 214f., 217, 219f., 241, 253, 272, 316 − das Gottesdienstverständnis 88, 105 Verstockung 256f., 285 Verstocktheit 280 Verteufelung 310 Verzweiflung 96, 98, 115, 123, 201, 203, 205, 220, 222, 231ff., 243 Wahrheit 13, 27f., 30, 41, 49f., 58, 186, 243, 256f., 277, 283, 300ff., 311, 317 − Wahrheit des Menschseins 49 Wallfahrt 308 Wartburg 68, 94, 120f., 124ff., 129, 132, 134, 136, 157, 175, 290, 307 Weimar 14, 24, 26, 30, 79, 103f. Werke 9, 11, 23f. 30, 39., 42f., 52, 55, 58–62, 64f., 70, 80, 123f., 206, 212f., 223f., 239, 246, 306 Wirklichkeitserfahrung 247 Wirkung 5f., 8, 10, 26, 44, 148, 160, 227, 236f., 239, 243, 259, 308, 310 − Wirkungsgeschichte 73 Worms 124, 184f., 307
Sachregister Zölibat 136f., 162 − Priesterzölibat 126, 156, 158f., 161 Zorn 37, 47, 119, 144, 147, 178, 201f., 215, 224, 235, 247, 254–258, 260ff., 266f., 275, 280
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