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German Pages [256] Year 2013
Luigi Dallapiccola, die Wiener Schule und Wien
Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg am Institut für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien
Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg Herausgegeben von Hartmut Krones
Band 8 (zugleich Journal of the Arnold Schönberg Center 9/2011) Hartmut Krones und Therese Muxeneder (Hg.) Luigi Dallapiccola, die Wiener Schule und Wien
Luigi Dallapiccola, die Wiener Schule und Wien
Herausgegeben von Hartmut Krones und Therese Muxeneder
BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR
Gedruckt mit Unterstützung durch die MA 7 – Kulturamt der Stadt Wien – Wissenschafts- und Forschungsförderung, die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sowie das Arnold Schönberg Center.
Redaktion: Maria Helfgott und Therese Muxeneder (Mitarbeit: Lukas Seifried) Layout: Maria Helfgott Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar ISBN 978-3-205-78822-5 Titelbild: Brief von Luigi Dallapiccola an Arnold Schönberg vom 10. September 1950 (The Library of Congress, Washington, D. C.), Bildvorlage: Arnold Schönberg Center, Wien Rückseite: Luigi Dallapiccola (Archivio Contemporaneo „A Bonsanti‘‘, Gabinetto G. P. Vieusseux, Fondo Luigi Dallapiccola, Firenze) Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2013 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar www.boehlau-verlag.com Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: Prime Rate kft., Budapest
Inhalt Zum vorliegenden Band ............................................................................................... 7 HARTMUT KRONES (Wien) Zu Luigi Dallapiccola und seinen „Wiener“ Beziehungen. Unter Einbeziehung der Korrespondenzen mit A. Schönberg, A. Webern, M. Caridis und der Universal-Edition ................................................... 9 MANFRED PERMOSER (Wien) „… In dieser ausgestorbenen Stadt …“. Anmerkungen zur Wiener Dallapiccola-Rezeption .............................................. 127 MARIO RUFFINI (Florenz) Dallapiccolas „unvollendeter“ Ulisse als Hommage an Schönberg .................... 137 PETER ANDRASCHKE (Perchtoldsdorf) Über die Musik Luigi Dallapiccolas. Webern-Nähe und Widerstand gegen Gewalt und Faschismus ......................... 171 THEO HIRSBRUNNER (Bern) † Luigi Dallapiccola: Liriche Greche .............................................................................. 193 PIERLUIGI PETROBELLI (Rom) † Luigi Dallapiccola: Tre poemi ..................................................................................... 203 DIETRICH KÄMPER (Köln) „Spazio immenso e infiniti mondi“. Zur Frage der Beziehungen zwischen Luigi Nono und Luigi Dallapiccola ..... 211
Anhang LUIGI DALLAPICCOLA Der Weg zu zwölf Tönen ......................................................................................... 231 LUIGI DALLAPICCOLA Erfahrungen mit der Zwölftonmethode ................................................................ 239 Personenregister ......................................................................................................... 243
Zum vorliegenden Band Zu den ersten nicht der „Schönberg-Schule“ angehörenden Musikern, die sich der „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ verschrieben, zählte Luigi Dallapiccola. 1904 in Pisino/Pazin (Istrien) geboren, hielt er sich 1917/18 durch die Kriegsereignisse bedingt in Graz auf, lebte dann in Triest und studierte schließlich in Florenz Klavier und Komposition. Die Begegnungen mit Schönbergs „Harmonielehre“ und den Melodramen „Pierrot lunaire“ ließen ihn endgültig den Komponistenberuf ergreifen, und bereits in den 1930er Jahren wandte er sich einer persönlich beleuchteten Form der Dodekaphonie zu, nachdem er bei den IGNMFesten weitere Werke der Wiener Schule kennengelernt hatte. Wegen ihrer radikalen Atonalität wurden seine Kompositionen aber sowohl im nationalsozialistischen Deutschland als auch im faschistischen Italien abgelehnt, sodaß Dallapiccola, der 1942 in Wien mit Anton Webern zusammentraf und ihm später seine Sex carmina Alcaei widmete, erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer breiteren Anerkennung gelangte. Vor allem seine Oper Il prigioniero sowie die Canti di liberazione verschafften ihm den endgültigen Durchbruch zu internationalem Ruhm, der 1968 durch die Berliner Uraufführung seiner Oper Ulisse (die in vielen Details ihr Vorbild in Schönbergs Moses und Aron besitzt) ihren Höhepunkt fand. 1975 starb Dallapiccola in Florenz. Der Band, der die Beziehungen Dallapiccolas zu Arnold Schönberg bzw. allgemein zur „Wiener Schule“, aber auch sein Naheverhältnis zu Österreich und Wien insgesamt (und hier auch zu seinem Wiener Verlag, der Universal-Edition) beleuchtet, versammelt die – zum Teil wesentlich erweiterten – Referate des am 18. und 19. Oktober 2004 anläßlich seines „100. Geburtstages“ gemeinsam vom Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg (am Institut für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) und vom Wiener Arnold Schönberg Center veranstalteten Symposions. Dabei werden sowohl anhand der in Wien aufgefundenen zahlreichen Briefe des Komponisten neue Details seiner Biographie offengelegt als auch die Nähe seiner Werke zu Stil, Ästhetik und Ausdrucksbezogenheit seiner Wiener Vorbilder analytisch betrachtet. Zwei eigene, diese Thematik in den Blick nehmende Essays Dallapiccolas, zum einen (Der Weg zu zwölf Tönen) einer wenig bekannten Publikation entnommen, zum anderen (Erfahrungen mit der Zwölftonmethode) erstmals ins Deutsche übersetzt, runden den Band ab. Wien, im Dezember 2012 Hartmut Krones und Therese Muxeneder
HARTMUT KRONES (Wien)
Zu Luigi Dallapiccola und seinen „Wiener“ Beziehungen Unter Einbeziehung der Korrespondenzen mit A. Schönberg, A. Webern, M. Caridis und der Universal-Edition Die Beziehungen von Luigi Dallapiccola zu Arnold Schönberg, insgesamt zur Musik der Wiener Schule sowie auch allgemein zu unserer Stadt sind bereits in zahlreichen Schriften untersucht und gewürdigt worden, und sie sind – zumindest indirekt – auch Gegenstand sämtlicher Artikel in vorliegendem Band. Der folgende Beitrag versteht sich somit als Ergänzung, die aus zwei Gründen unternommen wurde: Zunächst, weil der Briefwechsel zwischen Arnold Schönberg und Luigi Dallapiccola nur zu einem geringen Teil publiziert ist, weiters, weil die (zahlreichen) Briefe des Komponisten an den Dirigenten Miltiades Caridis eingesehen werden konnten und schließlich, weil die zeitweise überaus intensive, bereits 1934 einsetzende Korrespondenz Dallapiccolas mit der Wiener Universal-Edition (die sich erst ab 1955 immer häufiger und schließlich immer ohne Bindestrich schrieb) inzwischen aufgearbeitet und ausgewertet wurde.1 Dallapiccolas „erste Begegnung mit dem kompositorischen und schriftstellerischen Werk Arnold Schönbergs“2 fand am 16. August 1921 statt, als der Siebzehnjährige in Triest die Aufsatzsammlung Intermezzi critici von Ildebrando Pizzetti erstand und in ihr dessen Verriß der Schönbergschen Harmonielehre fand, die Pizzetti 1916 in 1
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Der Autor dankt der Direktorin der Universal Edition, Frau Mag. Astrid Koblanck, dem früheren Archivar, Herrn Prof. Werner Schembera-Teufenbach, der derzeitigen Archivarin, Frau Katja Kaiser, sowie Frau Ilse Heinisch für mannigfache Unterstützung bzw. für die Erlaubnis zur Einsicht in diverse Geschäfts-Akten sowie in die im Verlagsarchiv verwahrte Dallapiccola-Korrespondenz aus den Jahren 1938–1974. (Trotz umfangreicher Recherchen besteht aber durchaus die Möglichkeit, daß sich einzelne weitere Briefe des Komponisten in diversen Akten des Verlages befinden.) Der Hauptteil des Schriftverkehrs der Universal-Edition aus den Jahren 1933–1951 wird derzeit auf Grund eines Arbeitsübereinkommens des Verlages mit dem Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg (einer Abteilung des Instituts für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) von unserer Mitarbeiterin MMag. Katharina Bleier aufgearbeitet, der hier für Recherchen nach Briefen mit Bezug auf Dallapiccola gedankt sei. Die 17 Briefe Dallapiccolas an die Universal-Edition aus den Jahren 1935– 1937 befinden sich als Dauerleihgabe des Verlages in der Wienbibliothek im Rathaus. – Weiters dankt der Autor Frau Prof. Dr. Annalibera Dallapiccola für die Genehmigung, Briefe ihres Vaters abzudrucken. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit. Leben und Werk des Komponisten Luigi Dallapiccola, Köln 1984, S. 3. Siehe auch ders., Dallapiccola und der Schönberg-Kreis, in: Bericht über den 2. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft. „Die Wiener Schule in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Wien, 12. bis 15. Juni 1984, hrsg. von Rudolf Stephan und Sigrid Wiesmann (= Publikationen der Internationalen SchönbergGesellschaft, Bd. 2), Wien 1986, S. 83–92, hier S. 83f.
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seinem Artikel Di Arnold Schoenberg e di altre cose3 veröffentlicht hatte. Zwei Wochen später (am 30. August) konnte Dallapiccola die Harmonielehre erwerben, was er später mit dem James-Joyce-Wort „HOW LIFE BEGINS“ umriß – so bedeutungsvoll sah er die Begegnung mit den Schönbergschen Ausführungen, wie er am 24. April 1963 anläßlich der Präsentation der (von Giacomo Manzoni übersetzten) italienischen Ausgabe der Harmonielehre gestand: „For forty-two years Schoenberg’s Treatise has been with me in my travels and moves, even in the involuntary displacements of war. I feel I know it well enough. Today what really attracts me about it is just that it is not in fact ,like a hundred others, like all the others, no less respectable, no less dull, no less pedantic.‘ Indeed it is precisely the opposite.“4
Einen Höhepunkt in Dallapiccolas früher Schönberg-Verehrung bedeutete dann sein Besuch der Pierrot lunaire-Aufführung vom 1. April 1924 in der Sala Bianca des Palazzo Pitti von Florenz, nach der es er laut eigenen Worten nicht wagte, die Begegnung mit dem „maestro“ (wie er Schönberg später nannte5) zu suchen: „Aber wie hätte ich den Mut finden sollen an diesem Abend, ich – ein Student des Konservatoriums – Ihnen die Hand zu schütteln ? Jedenfalls habe ich nie Puccinis Verhalten Ihnen gegenüber vergessen, an diesem 1. April 1924, und seit diesem Abend habe ich den berühmten italienischen Komponisten für einen Mann von solcher Intelligenz und Menschlichkeit gehalten wie ich es vorher nicht vermutet hätte.“6
Wien selbst bereiste Dallapiccola erstmals im Zuge einer Konzertreise, die er Anfang 1930 nach Berlin und Wien als Klavierbegleiter der amerikanischen Tänzerin La Meri unternahm und über die er in dem Aufsatz Di Vienna di Berlino e di altre cose berichtete.7 Sowohl eine Aufführung von Giuseppe Verdis Simon Boccanegra in der
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Ildebrando Pizzetti, Di Arnold Schoenberg e di altre cose, in: Il Marzocco, Firenze (17 dicembre 1916); Wiederabdruck in: Intermezzi critici, Firenze 1921, S. 143ff. Teilübersetzungen des Artikels bei Dietrich Kämper, Dallapiccola und der Schönberg-Kreis (Anm. 2), S. 83f. Pizzetti selbst huldigte in seinem Œuvre einem „Neomodalismus“, der auch der damals hochgehaltenen „italianità“ bzw. der „chiarezza latina“ entsprach. Vgl. ebenda S. 85. Übersetzung von Dallapiccolas Presentazione della Harmonielehre (ediert in: Ders., Parole e Musica, hrsg. von Fiamma Nicolodi (= La Cultura. Saggi di arte e di letteratura, Bd. 53), Milano 1980, S. 239–246) bei Michael Eckert, Luigi Dallapiccola on Arnold Schoenberg, in: Journal of the Arnold Schoenberg Institute 7/1 (June 1983), S. 93–100, hier S. 94. Deutsche Teilübersetzung bei Dietrich Kämper, Dallapiccola und der Schönberg-Kreis (Anm. 2), S. 90. Siehe Wolfgang Schreiber, Schönberg und Dallapiccola, in: Österreichische Musikzeitschrift 29/6 (1974), S. 304– 309, hier S. 304. Laut Schreiber hat Dallapiccola in einem am 10. April 1974 in Trient gehaltenen Vortrag („Schönberg – Musicista e Uomo“) Schönberg als jenen Meister bezeichnet, den er „von allen Musikern dieses Saeculums am meisten geliebt“ habe. Brief Dallapiccolas an Schönberg vom 9. September 1949 (siehe S. 53f.). Puccini hatte der Aufführung des Pierrot lunaire in Florenz mit der Partitur in der Hand beigewohnt und im Anschluß daran gebeten, Schönberg vorgestellt zu werden. Vgl. Dallapiccolas Artikel Sulla strada della dodecafonia, der in vorliegendem Band auszugsweise (S. 231–238: Der Weg zu zwölf Tönen) übersetzt ist. Siehe Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 8.
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Wiener Staatsoper8 unter der Leitung von Clemens Krauss als auch eine Realisation der 1. Symphonie von Gustav Mahler unter der Leitung von Oswald Kabasta im Musikverein9 wurden ihm hier zu besonderen Erlebnissen. Indirekte Wien-Kontakte gab es im April 1934 beim 12. IGNM-Fest in Florenz, wo der Komponist drei vom Kolisch-Quartett gespielte Sätze aus Alban Bergs Lyrische Suite hörte, sowie durch die persönliche Begegnung mit Berg anläßlich der Aufführung von dessen Konzertarie Der Wein durch Hanna Schwarz unter der Leitung von Hermann Scherchen beim „venezianischen Festival im September 1934, die Dallapiccola zugleich auch eines seiner musikalischen Schlüsselerlebnisse in diesen Jahren der Selbstfindung vermittelt“.10
Bei diesem Festival fand auch (siehe unten) die Uraufführung der dort zum zweiten Mal preisgekrönten Rhapsodie statt, worüber der Anbruch kurz berichtete: „Das erste Konzert brachte insoferne eine Enttäuschung, als die darin vorgeführten Werke der Italiener G. Usigli, R. Nielsen, L. Rocca und V. Mortari nur wenig Originalität aufwiesen. Lediglich die ,Rhapsodie für Gesang und Orchester‘ von L. Dallapiccola (Hertzkapreis [!] 1934) zeigte eigenartiges Gepräge und starken Ausdruckswillen. Die dem italienischen Programm angeschlossenen ,Drei Inventionen‘ von B. Martinu (Tschechoslowakei) und das ,Divertimento‘ von P. Kadosa (Ungarn) erwiesen sich als Nebenwerke.“11
Werke aller drei Meister der „Wiener Schule“ konnte Dallapiccola dann beim (vom 1. bis 7. September 1935 stattfindenden) IGNM-Fest in Prag erleben, wo neben Weberns Konzert, op. 24 (5. September, hiezu siehe unten) auch Schönbergs Variationen für Orchester, op. 31 (2. September), sowie Bergs Lulu-Suite (6. September) erklangen. Seine „tiefe Verehrung für Berg“ drückte Dallapiccola dann in einem am 8. März 1936 gehaltenen „erstaunlichen“ Vortrag im Konservatorium „Luigi Cherubini“ von Florenz aus, der „unter den Florentiner Kollegen Befremden hervorrufen mußte“12. Denn „in den drei Abschnitten seiner Rede (1. Schönberg und die Atonalität, 2. Schönbergs Verhältnis zu Publikum und Kritik, 3. Alban Berg und das Theater) versuchte Dallapiccola zu motivieren, warum der ,Richtung‘ Schönbergs, 8
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Die Premiere dieser Neuinszenierung (mit einem deutschen Text von Franz Werfel) ging am Sonntag, dem 12. Jänner, als Simone Boccanegra über die Bühne, weitere Vorstellungen gab es am 14., 18., 24. und 27. Jänner sowie am 2. Februar. Dieses Konzert fand am 21. Jänner 1930 statt und sah neben Mahlers „Erster“ noch die Ouvertüre Der Römische Karneval, op. 9, von Hector Berlioz sowie den Symphonischen Tanz im baskischen Stil, op. 14, von Hermann Hans Wetzler als Wiener Erstaufführung auf dem Programm. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 16. Das „venezianische Festival“ ist das erstmals 1930 stattfindende „Festival Internazionale di Musica Contemporanea“. Musikfest in Venedig, in: Anbruch 16/7 (September 1934), S. 152. Dietrich Kämper, Dallapiccola und der Schönberg-Kreis (Anm. 2), S. 86. Veröffentlicht wurde der Vortrag unter dem Titel Di un aspetto della musica contemporanea in: Atti dell’Accademia del R. Conservatorio di Musica „Luigi Cherubini“, Firenze 1938.
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des ,unpopulärsten unter den heutigen Musikern‘, die Zukunft gehören mußte, wie es zur atonalen Tonsprache kam und warum die Dodekaphonie ein sinnvolles kompositorisches Ordnungsprinzip darstellt. Vor allem aber hielt er Abrechnung mit Schönbergs Gegnern [...].“13
Dallapiccola und die Universal-Edition 1934–1948 1933 schrieb die Wiener Universal-Edition erstmals einen Kompositionspreis aus, den sie nach ihrem 1932 verstorbenen Direktor Emil Hertzka benannte, und begründete dies folgendermaßen: „Es hieße dem Andenken Emil Hertzkas schlecht die Treue halten, würden wir es nur durch noch so weihevolle Stunden der Erinnerung und des Gedächtnisses feiern. Denn dieses Andenken soll nicht nur rückschauend fortleben bei denen, die ihn und sein Lebenswerk gekannt haben, sondern es soll, über die begrenzte Spanne Zeit hinaus, die seinen eigentlichen Weggenossen gegeben ist, auch für jene ein greifbares Element ihres Bewußtseins darstellen, denen sein wärmstes Interesse und hingebendes Wirken gewidmet war: den jungen Komponisten. Hochherzige Spender haben uns in Stand gesetzt, diesem Ziel durch die Verleihung eines Emil-Hertzka-Preises an hoffnungsvolle junge Autoren zu dienen. [...] Die Jury sah sich vor die ebenso erfreuliche und anregende, wie schwierige und zeitraubende Aufgabe gestellt, 267 Werke zu prüfen, von denen die meisten von bedeutendem Umfang und – was mehr besagen will – eine ungewöhnlich große Anzahl von so erheblichen künstlerischen Qualitäten war, daß die Auswahl der zu prämiierenden zu einem schwer zu lösenden Problem wurde. [...] Die eingereichten Werke verteilten sich auf alle Gebiete der Musik: Orchester-, Chor-, Kammermusik, Vokalwerke der verschiedensten Besetzungen waren vertreten; gering an Zahl und Bedeutung waren die Bühnenwerke. [...] Die der Jury vorgelegten Werke waren mit Chiffren versehen, die Namen der Autoren befanden sich in geschlossenen Kuverts und waren somit den Preisrichtern bis zu ihrer Beschlußfassung unbekannt. Es zeigte sich, daß die stärksten Begabungen sowohl, als auch die verbindlichsten Lösungen sich immer noch und immer wieder nach jenem künstlerischen Anschauungsweisen und Denkformen orientieren, die, wenn von Entwicklung und Fortschritt in der Musik gesprochen werden soll, in der vordersten Linie stehen und, wie man weiß, von Wien ihren Ausgang nahmen.“
Der Jury des ersten Jahres gehörten Alban Berg, Ernst Krenek, Franz Schmidt, Erwin Stein, Anton Webern und Egon Wellesz an, Vorsitzender war der Rechtsanwalt Gustav Scheu; Clemens Krauss mußte sein Amt wegen „beruflicher Ueberlastung“ zurückzulegen. Schließlich wurden „folgende Autoren in alphabetischer Reihenfolge [...] mit den fünf gleichen Preisen in der Höhe von je S 500.– [...] beteilt: Robert Gerhard, Norbert von Hannenheim, Julius Schloss, Leopold Spinner, Ludwig Zenk.“14 13 14
Wolfgang Schreiber, Schönberg und Dallapiccola, (Anm. 5), S. 305. Emil Hertzka–Preis, in: Anbruch 15/6–7 (Juni/Juli 1933), S. 87–89.
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1934 wurde der Preis erneut ausgeschrieben, doch „während im Jahre 1933 ernste Kompositionen aller Art Gegenstand des Preisausschreibens waren, wurde für das Jahr 1934 die Bewerbung eingeschränkt auf ernste Kompositionen für kleines oder mittleres Orchester in einer Spieldauer von etwa 20 Minuten. Komponisten aller Länder waren zugelassen“,
berichtete der Anbruch vom Mai 1934. Und dieses Mal bewarb sich auch Luigi Dallapiccola, und zwar mit der hier „Rhapsodie für Kammerorchester“ genannten Komposition Rapsodia (Studio per „La Morte del Conte Orlando“) nach Worten des Rolandsliedes, die dann zwar nicht zu den vier preisgekrönten Werken zählte, von der Jury (der Julius Bittner, Heinrich Jalowetz „an Stelle des von Wien abwesenden Herrn Alban Berg“, Ernst Krenek, Franz Schmidt, Erwin Stein, Anton Webern und Egon Wellesz angehörten) aber mit einer „auszeichnenden Anerkennung bedacht“ wurde.15 (Noch im selben Jahr errang Dallapiccola mit dieser Rapsodia einen Preis beim „Concorso tra i giovani compositori italiani“ des Festivals von Venedig, wo das Werk auch am 8. September 1934 im Teatro La Fenice zur Uraufführung gelangte.) Im Bericht „anläßlich der Preiszuerkennung am 9. Mai 1934“ können wir dann im Anbruch – neben der Klage um die Knappheit der finanziellen Mittel – folgendes lesen: „Bis zum Ende des Einsendetermines (15. Februar 1934) liefen 66 Kompositionen ein. Die Jury freut sich abermals feststellen zu können, daß das Niveau der eingesendeten Arbeiten ein außerordentlich hohes ist. Die Jury ist auch dieses Mal wieder zum Entschluß gelangt, die zur Verfügung stehende Summe, die durch das Entgegenkommen des Kuratoriums auf S 1600.– erhöht wurde, unter mehrere Preisträger aufzuteilen. Sie erkannte acht Werke als der Auszeichnung würdig, mußte sich aber in Anbetracht der begrenzten Mittel damit begnügen, 4 von diesen mit je einem Preise von S 400.– zu bedenken, während die übrigen 4 der auszeichnenden Anerkennung durch die Jury teilhaftig wurden. Die 4 preisgekrönten Werke sind: Einsendungs-Nr. 13, Kennwort: ‚Melorhythmie‘, Tanzphantasie, Komponist: Josef Matthias Hauer in Wien. [...] Kennwort: ‚Molière‘, Symphonie. Komponist: Karl Alfred Deutsch, Paris. [...] Kennwort: ‚Doppel-Fuge‘, Variationen und Doppel-Fuge über ein Klavierstück von Schönberg, Komponist: Viktor Ullmann in Wien. [...] Kennwort: ‚Iterum‘, Orchester-Suite. Komponist: Otto Jokl in Wien. Die mit der auszeichnenden Anerkennung bedachten Werke sind: [...] Kennwort: ‚Steinbock‘, Suite für Orchester über Volkslieder der französischen Alpen. Komponist: Rudolf Moser, Arlesheim bei Basel. [...] Kennwort: ‚Mult’ ad apris‘, Rhapsodie für Kammerorchester, Komponist: Luigi Dallapiccola, Florenz, Italien. 15
In einer im Archiv der UE erhaltenen handschriftlichen „Liste der Preisträger 1934“ ist Dallapiccolas Adresse mit „17 via Gino Copponi Florenz“ angegeben. Originaltitel von Kompositionen oder Schriften werden bei einer Erwähnung durch den Autor kursiv wiedergegeben, bei Zitierung aus Briefen anderer Personen hingegen jeweils in der dortigen Schreibweise.
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[...] Kennwort: ‚Peter 2‘, Kleine Symphonie für kleines Orchester, Komponist: Paul Dessau, Paris. [...] Kennwort: ‚Suite all’ antica‘, für Kammer-Orchester, Komponist: Julian Bautista, Madrid.“16
Einen Schriftverkehr mit der Universal-Edition (UE) muß es also bereits im Zuge der Bewerbung um den Hertzka-Preis 1934 gegeben haben, doch ist dieser (derzeit) ebenso unauffindbar wie jene Nachricht Dallapiccolas an den Verlag über die Annahme seines Divertimento beim Karlsbader Musikfest, die in dem Antwortbrief der UE („S/P.“) an den Komponisten (p. A. 17 via Gino Capponi, Firenze) vom 5. Jänner 1935 zur Sprache kommt: Sehr geehrter Herr ! Wir haben uns sehr gefreut zu hören, dass Ihr „Divertimento“ für das Musikfest in Karlsbad angenommen worden ist. Wir hoffen das Werk dann bei der Aufführung hören zu können. Sollten Sie eine Partitur entbehren können, so wäre es uns erwünscht, wenn Sie sie uns ganz unverbindlich zur Durchsicht einsenden könnten. Was Ihr anderes Werk betrifft, Rhapsodie für Gesang und Kammerorchester, erlauben wir uns, Ihnen die Partitur im Auftrage der Emil Hertzka Stiftung zurückzuschicken. Wir schätzen die künstlerischen Qualitäten des Werkes, doch scheint uns vom praktischen Standpunkt eines Verlages die Vertriebsmöglichkeit nicht allzu gross. Wir sehen auch leider keine Möglichkeit, eine Aufführung in nächster Zeit in Wien zu veranlassen. Wir werden uns freuen von Ihnen zu hören und zeichnen mit vorzüglicher Hochachtung17
Dieser Brief kreuzte sich mit einem Schreiben Dallapiccolas (hs., dt.) vom 6. Jänner „an die geehrte Leitung der Universal-Edition“, in dem er dem Verlag vor allem seine „Rhapsodie“ zum Druck anbietet (Abbildung 1): An die geehrte Leitung der Universal-Edition. | Wien. Ich erlaube mir hiemit, an diese geehrte Leitung mein zuletzt veröffentliches [!] Werk „Rhapsodie“ für Gesang und Kammerorchester zum Verlage anzubieten. Wie es Ihnen bereits bekannt, hat sich das in Frage kommende Werk auf dem internationalen Hertzka-Preis 1934 besonders hervorgehoben. Einige Monate darauf wurde mein Werk mit einen [!] einzigen anderen für die Veröffentlichung auf dem internationalen Musikfest von Venedig ausgewählt. 16 17
Der Emil Hertzkapreis [!] 1934, in: Anbruch 16/5 (Mai 1934), S. 97f. Typoskript in deutscher Sprache. Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 1 der Sammlung Dallapiccola (Leihgabe der Universal Edition). Hinter dem Kürzel „S“ ist Erwin Stein zu vermuten, der 1924 Leiter der Orchesterabteilung der Universal-Edition wurde. Siehe Thomas Brezinka, Erwin Stein. Ein Musiker in Wien und London (= Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg, hrsg. von Hartmut Krones, Bd. 2), S. 101ff. Im folgenden werden die Kürzel „typ.“ (maschinschriftlich), „hs.“ (handschriftlich) sowie „dt.“ (deutsch), „frz.“ (französisch) und „it.“ (italienisch) verwendet. Briefe, die nicht in der Wienbibliothek im Rathaus liegen, befinden sich im Archiv der Universal Edition bzw. derzeit (zur Aufarbeitung) im Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg des Institutes für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (siehe Anm. 1).
Zu Luigi Dallapiccola und seinen „Wiener“ Beziehungen
Im vergangenen September wurde es in Venedig aufgeführt, und nochmals in Neapel am 1. Dezember 1934, unter Leitung Alfredo Casella’s. In diesem Jahre wird mein Werk noch in Rom und in Paris aufgeführt. (RadioParis, unter Leitung des Meisters R. Desormières). Ich kann dieser geehrten Direktion vollständige [!] Aufführungsmaterial als Manuskript zur Verfügung stellen. Sollte mein Vorschlag Ihnen nicht im Voraus als unannehmbar erscheinen, kann ich auf Ihrem gefl. Verlangen, eine Menge Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte einsenden, die mein Werk besprechen. Ihren geehrten Rückäusserungen bald entgegenstehend [!], zeichne ich hochachtungsvoll | Luigi Dallapiccola18
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Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 2 der Sammlung Dallapiccola.
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Abbildung 1: Luigi Dallapiccola an die Universal-Edition, „6. Jan. 1935“.
Kurz nach Absendung dieses Briefes erhielt Dallapiccola das oben zitierte Schreiben der Universal-Edition und antwortete unter dem Datum „Florenz, den 8. Januar 1935“ (typ., dt.): An die geehrte Leitung der „Universal Edition“; Wien. Einige Stunden nachdem ich Ihnen meinen Brief geschickt hatte, bekam ich den Ihrigen. Ich bin dankbar dieser werten Direktion wegen der Teilnahme die Sie meinem „Divertimento in vier Uebungen“ erwiesen hat.
Zu Luigi Dallapiccola und seinen „Wiener“ Beziehungen
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Es handelt sich um ein kleines Kammermusikwerk (Aufführungsdauer: 10 Min.) für Sopranstimme und fünf Instrumente, das in Genf, am 22. Oktober 1934 zum ersten Mal aufgeführt worden ist. In diesem Jahre wird es noch in Florenz (11. März) aufgeführt werden unter Leitung Fernando Previtali’s. Ich habe noch nicht die Partitur aus Karlsbad zurückbekommen: sobald ich sie bekommen werde werde ich sie Ihnen mit grossem Vergnügen senden. Hochachtungsvoll | Luigi Dallapiccola19
Die nächste Nachricht Dallapiccolas ist eine mit 7. Februar 1935 datierte Postkarte20 (hs., frz.), in der er die Übersendung der Partitur des Divertissement en quatre Exercises ankündigt; da er dieses Original für die Aufführungen in Amsterdam und Florenz nicht benötige, könne die Universal-Edition es bis Ende März behalten.21 Zwei Tage später (9. Februar) entschuldigt er sich (hs., frz.) in einem Brief22 (auf Briefpapier des „R. Conservatorio di Musica ,Luigi Cherubini‘, Firenze“) „tausendmal“, daß er dem letzten Brief widersprechen müsse. Er habe erfahren, daß sein Divertissement Ende März oder Anfang April in Stockholm aufgeführt werde, und bitte nun, die Partitur schnell zu lesen und ihm bis Ende Februar zurückzusenden, damit er sie dorthin schicken könne. Am 21. Februar antwortet der Verlag („S/G“) brieflich (typ., frz.)23, daß man das Divertimento in 4 Esercizi durchgesehen habe und als „Beweis eines sehr großen Talents“ erachte, aber lieber ein anderes Werk in Verlag nähme, da das vorliegende „ja für eine eher seltene Instrumentenkonstellation geschrieben sei“. Da Dallapiccolas Name jedoch „auf unserem Territorium noch nicht bekannt“ sei, wäre es vorteilhafter, „zuerst ein Werk zu veröffentlichen, das größere Chancen der Verbreitung hat, also ein kurzes Stück für Orchester in normaler Besetzung“. Später, „wenn Ihr Name schon gut eingeführt ist“, könne man eventuell auch das Divertimento veröffentlichen. Schließlich frägt der Verlag, ob es schon ein derartiges Stück für Orchester gäbe oder ein solches in Planung sei, und sendet das Divertimento zurück. Dallapiccola antwortet am 26. Februar (typ., frz.)24, daß „Ihr Urteil“ ihm „die wertvollste Kritik“ sei und daß er es als großes Glück erachte, „mit der größten Edition der Welt in Verbindung“ zu sein. Leider könne er aber nichts anderes als das Divertimento anbieten, auch weil es seiner Meinung nach „die größte Verbreitungschance hat“ – Aufführungen in Genf, Amsterdam, Florenz, Stockholm und Karlsbad seien fix, in Rom, Berlin und Paris könnten drei weitere folgen. Derzeit arbeite er an der 3. Serie der „Choeurs de Michelangelo Buonarrotti le Jeune“ (die zweite werde im Zuge des 3. Festivals der zeitgenössischen italienischen Musik nächsten April in Rom uraufgeführt), und so habe er wirklich keine Zeit für ein Orchesterwerk. Er könne aber das Manuskript des Divertimento sehr deutlich abschreiben, 19 20 21 22 23 24
Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 3 der Sammlung Dallapiccola. Wienbibliothek im Rathaus, Postkarte Nr. 4 der Sammlung Dallapiccola. Für die Übersetzung der französischen Briefe Dallapiccolas an die Universal-Edition danke ich Frau Rebecca Summereder. Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 5 der Sammlung Dallapiccola. Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 6 der Sammlung Dallapiccola. Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 7 der Sammlung Dallapiccola.
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sodaß die Universal-Edition eine photographische Reproduktion davon veröffentlichen könne. Schließlich berichtet er, mit seinen Freunden „Prof. G. Maglioni, M. Castelnuovo Tedesco et mon maître Vito Frazzi“ in Florenz eine „Camerata musicale“ gegründet zu haben, die dem Publikum sowohl selten aufgeführte ältere Werke als auch moderne Musik vorstellen werde. In den zwei ersten Programmen im März würden Werke von Krenek, Schönberg, Strawinsky, Hindemith und Kodály aufgeführt, und in den sechs Konzerten der nächsten Jahres hoffe er, u. a. Berg und Apostel spielen zu können. Er bittet, ihm die Verlags-Publikationen für kleines Ensemble zu melden, und freut sich auf persönliche Kontakte in Karlsbad. Die Antwort der UE vom 8. März 1935 (typ., frz.) bezeichnet die „Camerata musicale“ als „zweifelsohne sehr schöne Institution“, der man möglichst oft „assistieren werde“. Als Beilage werden „zwei Seiten unseres großen Kataloges“ beigelegt, „die Ihnen unsere Musik für kleines Ensemble zeigen“; zudem signalisiert man Bereitschaft, „Ihnen die Werke per Post zuzusenden, die Sie interessieren“. Es seien aber keine Neuheiten, „da wir in letzter Zeit in diesem Genre keine Werke veröffentlicht haben. Die Produktion in diesem musikalischen Bereich ist immer noch sehr interessant, aber wir waren wider Willen gezwungen, auf diese Art von Publikationen zu verzichten, da es zu wenig Chancen für Verbreitung liefert. Leider muß wir uns entscheiden, aus demselben Grund auf Ihr Divertimento zu verzichten.“
Und da die photographische Reproduktion „für alle unseren neueren Orchesterpublikationen verwendet wurde“, sei Dallapiccolas Vorschlag „keine Lösung für die Schwierigkeiten (die wir schon erklärt haben)“. Schließlich bittet die UE, Dallapiccola möge ihr von neuen Werken berichten – man gebe „die Hoffnung nicht auf, später Ihren Namen in unserem Katalog aufscheinen zu sehen“.25 Als nächstes Schriftstück existieren in Wien zwei Typoskript-Seiten mit Abschriften von „Critiche sulla Seconda Serie dei Cori di Michelangelo Bounarroti il Giovane (1934/35)“ aus den Zeitungen Musical America (giugno 1935; Anna Wright), Neue Zuercher Zeitung (24 aprile 1935; „H. H.-St.“ [Hans Heinz Stuckenschmidt]), Il Lavoro Fascista (9 aprile 1935, Roma; Mario Labroca), La Gazzetta del Popolo (14 giugno 1935; G. Francesco Malipiero), Il Popolo di Roma (7/8 aprile 1935; Luigi Colacicchi) und Il Popolo di Brescia (11 aprile 1935; C. B.), die den handschriftlichen Vermerk „Dallapiccola ablegen“ tragen und wohl von dem Komponisten an die UE gesandt wurden.26 – Präsent ist Dallapiccola auch auf der Titelseite des Anbruch (17/8) vom August 1935, die das „Programm des Prager Musikfestes“ vom September 1935 abdruckt, in dessen erstem Kammerkonzert (3. September) folgende Werke geboten wurden: „Henk Badings (Violinsonate), Woytowicz und H. W. Süsskind (Lieder mit Instrumentalbegleitung) | Finke (Konzert für zwei Klaviere) | Bush (Streichquar25 26
Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 8 der Sammlung Dallapiccola. Wienbibliothek im Rathaus, Brief (Abschriften) Nr. 9 der Sammlung Dallapiccola.
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tett) | Dallapiccola (Divertimento) | W. Burkard [recte: Burkhard] (Phantasie für Streichorchester)“.
Am 22. Juni 1936 setzt der Briefverkehr mit der Universal-Edition erneut ein, an welchem Tag „S“ Dallapiccola folgendes mitteilt (typ., dt.): Lieber Maestro ! Ich sprach hier mit Fritz Reiner über Sie. Er sagte mir, dass Sie ihm ein Orchesterwerk zur Aufführung vorgeschlagen haben, das er gerne sehen möchte. Sie werden wohl wissen, um welches Orchesterwerk es sich handelt. Bitte schicken Sie es uns ein oder lassen Sie es uns durch Carisch [Dallapiccolas Mailänder Verlag] schicken. Wir werden es dann an Fritz Reiner weiterleiten. Die Sache eilt nicht, denn Reiner kommt erst am 1. September wieder nach Wien.27
Und am 17. Juli 1936 tituliert „S“ Dallapiccola als „Sehr geehrter Herr Professor !“ und berichtet ihm (typ., dt.), daß „der in Amerika sehr bekannte Vorkämpfer für neue Musik Nicolas Slonimsky derzeit eine Geschichte der neuen Musik seit 1900 [schreibt]. Herr Slonimsky fragt mich nach einigen jungen Komponisten, die in das Werk Aufnahme finden sollten. Ich möchte Ihnen empfehlen, ihm unter Berufung auf mich einige biographische Daten einzusenden und ihm Ihre Werke zu nennen.“28
Dallapiccola dankt am 23. Juli „1936/XIV“29 (hs., frz.) zunächst für das Gespräch mit Fritz Reiner, dem „ich in der Tat die Aufführung der ,Rapsodie sur le mort de Roland‘ vorgeschlagen habe (Emil Hertzka-Preis 1934), die Sie vielleicht in Erinnerung haben“.
Er habe den Brief „sofort an das Haus Carisch weitergeleitet, das die Partitur am 1. September schicken werde“. Danach bedankt er sich „für die Adresse von Slonimsky, dem ich selbst schreiben werde“ und gibt seine neue Adresse (ab 25. Juli) bekannt: Trento, via Michelang. Mariani, 6. Schließlich bittet er, „Mme Erwin Stein et les éminents MM. Dr. Jalowetz et Křenek“ Grüße zu übermitteln.30 Knapp ein Jahr später, am 5. Juni „1937–XV“, bedankt sich Dallapiccola (hs., frz.) bei der „Direction de l’ Universal-Edition“ „von ganzem Herzen, mir die Partitur der Lulu zur Ansicht geschickt zu haben“, und frägt, ob er mit der Rücksendung bis 10. Juli warten könne.
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Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 10 der Sammlung Dallapiccola. Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 11 der Sammlung Dallapiccola. Ab 29. Oktober 1922 (bis 25. Juli 1943) zählte man in Italien die Jahre sowohl nach der traditionellen Weise („nach Christi Geburt“) als auch nach dem Tag der Machtübernahme (28. Oktober 1922) des Faschismus („anno fascista“ bzw. „anno (I bis XXI) dell’era fascista“). Der [das] erste „anno fascista“ begann demnach am 29. Oktober 1922 und endete am 28. Oktober 1923. Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 12 der Sammlung Dallapiccola.
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„Die Radio-Sendung von Zürich31 war meines Erachtens nach perfekt, und der Erfolg enorm. So habe ich mir sogar im Namen meiner besten Schüler erlaubt, einen Brief an die Direktion des Stadttheaters zu schreiben, um für die Bemühungen zu danken, dieses Meisterwerk des uns fehlenden Alban Berg bekanntgemacht zu haben.“32
Die UE („G“) antwortet postwendend (am 9. Juni), und zwar (typ., frz.) an die Adresse „17, Via Gino Capponi“: „Nachdem Sie das Werk so sehr bewundern, haben wir das Vergnügen, Ihnen ein Exemplar des Klavierauszuges en hommage zu widmen. Ich bin sehr glücklich, von Ihnen zu erfahren, daß die Radiosendung von „Lulu“ sehr befriedigend war und daß Sie einen Dankbrief an die Direktion des Züricher Theaters geschickt haben. Für mich, der die Freude hatte, bei der Aufführung anwesend zu sein, war der Eindruck absolut imposant.“33
Dallapiccola ist dann „sehr gerührt“, dankt „für Ihre Großzügigkeit“ (den Klavierauszug der Lulu) und gratuliert Erwin Stein „für seine großartige Arbeit, die ich tief bewundert habe“ (die Herstellung des Klavierauszugs).34 – Im Spätsommer 1937 sendet die UE Dallapiccola Partitur und Stimmen von Schönbergs Suite, op. 29, zur Ansicht, wofür sich dieser am 18. September aus Trento (typ., frz.) bedankt und fortfährt: „Ich hatte die große Freude, das genannte Werk in Venedig dreimal zu hören (zwei Proben und die Aufführung), großartig von der „Groupe Instrumental Viennois“ gespielt, und ich garantiere Ihnen, daß diese Suite einen enormen Eindruck auf die verständigen Musiker machen wird (es gibt Gott sei Dank noch welche). Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf eine interessante Kritik von M. Rognoni lenken, die im ‚l’Ambrosiano‘ erschienen ist (Milan, le 14 sept.) und auch auf einen Artikel, unterzeichnet von B. Barilli (Omnibus, Rome, 18. sept.) Mir tut es unendlich leid, dieses Mal keine Gelegenheit gehabt zu haben, einen Artikel zu verfassen (im Programm waren auch meine Trois Laudi), denn ich hätte gerne meine Gedanken über Schönberg und sein Werk geschrieben.“35
Am 23. September bedankt sich die UE („S“) und zeigt sich „sehr glücklich über Ihre Informationen, insbesondere über Ihre Bemerkung, daß es noch verständige Musiker gibt. [...] Wir nützen diese Gelegenheit, um Ihnen wieder zu sagen, daß wir Ihr Schaffen verfolgen und wünschen, einmal eines Ihrer Werke zu publizieren, wenn es eine Komposition ist, die auch vom 31 32 33 34 35
Lulu wurde am 2. Juni 1937 im Züricher Stadttheater in seiner „originalen“ unvollendeten Form uraufgeführt und im Radio übertragen. Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 13 der Sammlung Dallapiccola. Handschriftlich ist am oberen Rand des Briefes (von der UE) ergänzt: „17 via Gino Capponi“. Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 14 der Sammlung Dallapiccola. Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 15 der Sammlung Dallapiccola. „Firenze, le 15. juin 1937-XV“ (hs., frz.). Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 16 (typ., frz.) der Sammlung Dallapiccola.
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praktischen Standpunkt gute Chancen zu liefern scheint. Wir denken in erster Linie an ein kurzes Werk für normales symphonisches Orchester.“36
Über das von Dallapiccola angesprochene Internationale Musikfest von Venedig berichtet der Anbruch ausführlich: „Das Direktorium der Biennale, der großen, alle zwei Jahre wiederkehrenden international-zeitgenössischen Kunstausstellung in Venedig, veranstaltet seit dem Jahre 1932 regelmäßig im Herbst auch internationale Musikfeste; diese finden auch in solchen Jahren statt, in denen die Pforten der Ausstellungspavillons geschlossen sind, wie eben jetzt. Mit diesem Jahre trat als Programmberater Alfredo C a s e l l a auf den Plan. Kleinlichkeit oder etwa außermusikalische Rücksichten bleiben italienischen Kunstereignissen von vornherein fern. In diesem Sinne war das Fest in Venedig konzipiert. Es dauerte vom 6. bis zum 12. September, sein Schauplatz war das sehr intime Teatro Goldoni [...]. Es gab sechs Konzerte [...]. Der zweite Abend brachte drei italienische Kompositionen, darunter drei stimmungsvolle Lieder von Mario Labroca für Mezzosopran und Klavier [...]. Am dritten Abend das vielgespielte Divertimento für Kammerorchester von L. E. Larsson und die weiter zurückliegende ‚Fantasia Baetica‘ für Klavier von De Falla [...]. Ein Höhepunkt des ganzen Festes: die drei ‚Laudi‘ für Sopran (Ginevra Vivante) und Kammerorchester von Luigi D a l l a p i c c o l a , Musik einer starken Individualität, die sich mit den alten Texten in einer vollkommen neuen Art auseinandersetzt. Ein Harfenkonzert von CastelnuovoTedesco zeigte die Vorzüge der Solistin Clelia Aldrovandi-Gatti. Die Orchesterserenade von G. Salviucci erinnerte schmerzlich an den wenige Tage vorher jungverstorbenen Komponisten. Weiterer Abend: inmitten eines italienischen Programms, von dem wir die zwei Inventionen für Klavier und kleines Orchester von Gorini hervorheben möchten, eine Aufführung der Suite Opus 29 von S c h ö n b e r g , glänzend aufgeführt (zum erstenmal ohne Dirigenten !) von einem Wiener Kammerensemble. Das Werk, 1927 komponiert, seither siebenmal und seit sieben Jahren nicht wieder gespielt, bezeichnet einen sozusagen extremen Punkt in der Schaffenskurve des großen Anregers – einem italienischen Publikum wird es wohl kaum je kongruent sein. Fast alle italienischen Kompositionen des Festes, es sei bei dieser Gelegenheit zusammenfassend gesagt, bewegen sich innerhalb der Grenzen der Tonalität, wenn auch diesen Grenzen manchmal ziemlich nahe, und bemühen sich um Wiedergewinnung hergebrachter Formen und um das romanische Klangideal. Nicht immer ist solcherart eine starke Initiative zu erwarten – immer aber wird Zeugnis abgelegt für eine hohe Kultur und für die große Überlieferung eines Landes, das einst das Land der Musik an sich war.“37
Im Februar 1938 bat Dallapiccola die UE um Noten von Zoltán Kodálys Die Spinnstube, deren Empfang er am 26. Februar „1938/XVI“ (hs., frz.) bestätigt, wobei er berichtet, Bartóks Blaubart schon vor einigen Jahren gekauft zu haben, sodaß er nun sämtliches notwendige Material für die Vorbereitung seines Vortrages beim „Mai 36 37
Wienbibliothek im Rathaus, Brief Nr. 17 (typ., frz.) der Sammlung Dallapiccola. Anbruch 19/8 (September 1937), S. 230f. Sperrungen original.
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Musical 1938“ habe. Mit 7. März 1938 datiert ist dann eine Visitenkarte Dallapiccolas, die er offensichtlich „M. le Maestro Luigi Colonna di Stigliano“ mitgab, einem Mitarbeiter „bei unseren symphonischen Konzerten von Florenz“ und Assistenten von Mario Rossi, der wohl geschäftlich zur UE nach Wien reiste und den Dallapiccola dem „cher Monsieur“ (höchstwahrscheinlich Erwin Stein) in dieser Form „vorzustellen“ sich erlaubte. Grüße an „Mme Elvira Stein und Mme Hertzka“, die bekanntlich eine Woche später der Verfemung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt waren,38 schließen die Zeilen. Nach dem „Anschluß“ Österreichs an Hitler-Deutschland wurde bekanntlich Ernst Geutebrück als kommissarischer Leiter der Universal-Edition eingesetzt, der spätere Direktor Alfred Schlee (1901–1999), zunächst Repräsentant der UE in Berlin, trat im Spätsommer 1938 in die Geschäftsführung ein. Eine seiner ersten Geschäftsreisen führte ihn Anfang September nach Italien, und hier zunächst zum Festival von Venedig, von dem er am 7. September an das Büro der UE u. a. berichtete: „Ibert und Martinu sind nicht gekommen. Schade, besonders Martinu hatte einen Riesenerfolg. Den grössten bisher. Mit Recht. Ich habe ihm einige gratulierende Worte geschrieben und ihn gebeten, uns im Oktober etwas zu schicken. Ibert werde ich in Rom zu erreichen versuchen. Sehr ausführliche Unterhaltung mit Ravizza, bei der sich viele Möglichkeiten ergaben. [...] Bekanntschaft mit Mortari, der sehr hübsche Stücke für Kinder bei Carisch hat. Dallapiccola spielte eine hochinteressante Oper vor. Leider etwas kulturbolschewistisch, aber grossartig in der Anlage. Gute Unterhaltungen mit den Dirigenten Sanzogno und Sacher.“
Einen Tag später hatte Schlee noch „sehr angeregte Unterhaltungen mit Gerigk, Kennet Wright und Dallapiccola“. – Dallapiccola selbst beschrieb das erste Treffen mit Schlee später folgendermaßen: „Ich hatte eben den Nachtflug beendet und wollte das Werk am Nachmittag des 7. September 1938 in einem kleinen Saal des Teatro La Fenice zu Venedig einigen Freunden auf dem Klavier vorspielen. Darunter befand sich auch Herr Calisto Ravizza aus dem Hause Carisch in Mailand, mein erster Verleger, der mich mit Alfred Schlee von der Universal Edition, Wien, bekannt machte. Am gleichen Abend noch drückte mir Herr Schlee die Hand und meinte: ‚Ich weiß schon eine deutsche Stadt, die die Welturaufführung Ihres Nachtflug bringen könnte: Braunschweig !‘ “39
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Zur „Arisierung“ der UE im Zuge der Ereignisse des Jahres 1938 siehe Hartmut Krones, „Die Arisierungsbestätigung ist nun eingelangt ...“. Die Universal-Edition im Jahr 1938, in: Österreichische Musikzeitschrift 56/8–9 (August–September 2001), S. 20–26, sowie Martin Sima, Der österreichische Musikverlag im Zweiten Weltkrieg, Diplomarbeit, Universität Wien 1997. Luigi Dallapiccola, Sehen, was anderen verborgen bleibt, in: Programmbuch des Braunschweiger Staatstheaters, Nr. 27, Spielzeit 1964/65, Vorstellung vom 31. März 1965 (Manuel de Falla: Meister Pedros Puppenspiel, Luigi Dallapiccola: Nachtflug, Richard Strauss: Macbeth), S. 296–299, hier S. 296 (Kursivdruck original).
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Dallapiccola sandte daraufhin am 21. September das „livret“ seiner Oper (Vol de nuit) nach Wien und kündigte in einem Begleitschreiben (hs., frz.) an, Anfang Oktober einen Klavierauszug zu übersenden, den er auf eigene Kosten in einer provisorischen Auflage von 40 Exemplaren habe herstellen lassen, um das Werk schon vor der „echten Edition“ bekanntmachen zu können.40 In einer Postkarte (hs., frz.) an Schlee vom 4. Oktober weist er dann noch einmal auf die kommende Zusendung hin, die der Adressat als Erinnerung an ihn behalten möge; natürlich wäre er dankbar, wenn Schlee etwas für das Werk tun könne. Dieser, kurzzeitig verreist, antwortete dann am 13. Oktober 1938 (typ., dt.), wobei er auch von seiner Intervention in Braunschweig berichtet: Lieber Herr Dallapiccola ! Vielen Dank für die Zusendung des Auszuges. Ich bin eben von meiner Reise zurückgekommen und freue mich, dieses schöne Werk, das auf mich einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hat, hier vorzufinden. Ich habe bereits aus Braunschweig eine Nachricht, dass man sich sehr für das Stück interessiert. Falls Sie von dort keine Nachricht erhalten haben, senden Sie bitte einen Klavierauszug an das Landestheater Braunschweig, Deutschland, zu Handen von Herrn Karl Heinz Gutheim. Es war mir eine grosse Freude, Sie in Venedig kennenzulernen und ich hoffe, dass wir noch manches gemeinsam tun werden. Mit den besten Empfehlungen auch an Ihre Frau, bin ich Ihr sehr ergebener [Schlee]
Im Braunschweiger Programmbuch der Saison 1964/65 berichtete Dallapiccola dann anläßlich der Aufführung des Nachtflug vom 31. März 1965, daß ihm der Braunschweiger „Operndramaturg Karlheinz Gutheim“ am 6. Oktober 1938 unter anderem folgendes mitgeteilt habe: „Vielleicht hat Ihnen Herr Schlee erzählt, daß wir in jedem Frühjahr moderne Festspiele machen, an denen immer sehr schöne und bedeutungsvolle Werke zur Aufführung gelangten, und die immer einer großen Resonanz in der internationalen Musikwelt sicher waren. Wenn Sie an der ersten Aufführung in Deutschland im Rahmen unserer Festspiele interessiert sind, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie mir Gelegenheit gäben, das Werk kennenzulernen [...].“41
An Schlee schrieb Dallapiccola am 5. November 1938 (typ., ital.), daß er bereits am 11. Oktober auf eine Anfrage des Intendanten Gutheim hin einen „spartito“ (Klavierauszug) nach Braunschweig gesandt, bislang aber keine Antwort erhalten habe.42 Derzeit stelle er die Orchesterpartitur seiner Oper her, wobei sich auf jeder Seite einige Probleme ergäben. „Die Arbeit wird noch lange und anstrengend sein, aber am Ende werde ich das ausdrücken können, was ich will.“ Schließlich erkundigt er 40 41 42
Am 25. Oktober 1938 berichtet La Stampa ausführlich von der Fertigstellung der Oper: Nuove opere italiane. ,Volo di notte‘ di Luigi Dallapiccola. Luigi Dallapiccola, Sehen, was anderen verborgen bleibt (Anm. 39), S. 296. Für die Übersetzung der italienischen Briefe Dallapiccolas danke ich Frau Mag. Erika Horvath.
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sich, ob es in Wien A-cappella-Chöre von 30 oder 40 Personen gibt, die an seiner bei Carisch erschienenen Prima Serie dei Cori di Michelangelo Buonarroti il Giovane interessiert sein könnten. Bereits am 7. November antwortet Schlee (typ., dt.): Lieber Herr Dallapiccola ! Vielen Dank für Ihren Brief. Ich bin erstaunt, dass Sie aus Braunschweig noch keine Nachricht haben. Man hat mir geschrieben, dass grosse Begeisterung über Ihr Werk besteht und dass die Annahme so gut wie sicher sei. Jedenfalls bin ich von Braunschweig schon gefragt worden, was man als Ergänzung am gleichen Abend spielen könne. Ich glaube also, dass diese Aufführung zustandekommt. Ich freue mich sehr darüber. Die verschiedenen Kammerchöre in Wien sind grösstenteils noch in der Umbildung, da sie ihre Dirigenten in letzter Zeit wechseln mussten. Ich bin sehr gern bereit, einigen Chören hier und auch in Deutschland Ihre Chöre vorzulegen. Ich denke, dass wir mit Carisch zu einer Vereinbarung kommen, die dies auch in geschäftlicher Hinsicht möglich macht. Lassen Sie mir bitte sofort zunächst einmal eine Partitur zukommen, damit ich beurteilen kann, wo wir für diese Chöre etwas tun können. Sie hatten den Wunsch, die Oper von Zillig kennenzulernen. Ich sende Ihnen gleichzeitig einen Klavierauszug. Schicken Sie mir ihn gelegentlich zurück. Es hat Zeit. [...]
Am 10. November (typ., it.) berichtet Dallapiccola dem „egregio e caro Dott. Schlee“ sodann, daß vom „Landestheater di Braunschweig“ eine „ottime notizie“ gekommen sei, die Schlees Schreiben vom 7. d. bestätige. Er bedankt sich wärmstens für dessen Hilfe und berichtet, Gutheim signalisiert zu haben, daß er nun bis 18. November auf eine definitive Zusage warte, da ihm auch ein italienisches Theater geschrieben habe. Außerdem werde er nun seinen Verleger fragen, ob er dieses Werk annimmt. Weiters erkundigt er sich „im Vertrauen“, „ob die Opern, die in der modernen Woche in Braunschweig gespielt werden, einmal oder wenigstens zweimal aufgeführt werden“, ob es normalerweise eine Rundfunk-Übertragung gibt und ob das Landestheater „die Gewohnheit hat, dem Komponisten für die Uraufführung eine Prämie“ zu bezahlen. In Erwartung guter Nachrichten und der Oper von Zillig43 verbleibt er mit Grüßen, auch an Schlees Frau. Handschriftlich hinzugefügt ist die Notiz, daß Dallapiccola seinen Verleger Carisch gebeten habe, Schlee die Sei Cori di Michelangelo zu schicken. Bereits am 12. November antwortet Schlee (typ., dt.): Lieber Freund ! Besten Dank für Ihren Brief vom 10.d.M. Zunächst möchte ich Sie darüber beruhigen, dass das Landestheater in Braunschweig die Aufführungen, die in der Festwoche herauskommen, mehrfach ansetzt. Das wenigste dürften 3 – 4 Aufführungen sein. Strawinskys „Persephone“ ist jedoch etwa 10mal gespielt worden. Dies hängt ganz von dem Erfolg ab. 43
Die Universal-Edition hat 1937 Zilligs dodekaphone Oper Das Opfer in Verlag genommen.
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Es ist im allgemeinen nicht üblich, dass ein Theater dem Autor ein besonderes Honorar aussetzt. Statt dessen haben jedoch manche deutsche Theater die Gewohnheit, dem Komponisten zur Uraufführung seines Stückes einzuladen und ihm die Kosten für Reise und Aufenthalt zu zahlen. In Ihrem Falle dürfte dies wahrscheinlich auch zu ermöglichen sein. Eine Radioübertragung hat bisher bei der Braunschweiger Festwoche noch nicht stattgefunden. Ich fürchte auch, dass dies nicht möglich ist. Viele herzliche Grüsse Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin. | Ergebenst [Schlee]
Am 22. November 1938 (typ., dt.) schreibt Schlee dann, daß eine „Schwierigkeit [...] jetzt nur daran“ läge, daß „niemand von uns ordentlich italienisch kann und daher das Buch von uns nur teilweise verstanden wird“. Daher hätte er gerne, „bevor wir eine Rohübersetzung in Angriff nehmen“, das Original gesehen. „Dieses scheint französisch zu sein.“ Und er bittet um dessen Übersendung, da er das Buch „in hiesigen Buchhandlungen“ nicht fände. Zwei Tage später berichtet Dallapiccola (typ., it.) dem „egregio e caro Dott. Schlee“, daß die Braunschweiger Uraufführung von Volo di notte nach den letzten Nachrichten vom dortigen Landestheater gesichert zu sein scheint. Zwar wollten die Behörden noch das Libretto ansehen, er mache sich aber keine Sorgen. Und er frägt, ob die Universal-Edition bereit wäre, seine Arbeit in Verlag zu nehmen: „Es wäre das erste Mal, daß ich mit diesem Verlagshaus verhandle.“ Schließlich berichtet er, am 12. November den Klavierauszug der Oper von Zillig bekommen zu haben, eine „ungemein interessante“ Arbeit. Es würde gerne den Komponisten kennenlernen. Einen Tag später („Firenze, le 25. nov. 1938/XVI“) bestätigt er mit einer Postkarte (frz., hs.), den Brief vom 22. November erhalten, sofort eine Original-Edition von Vol de nuit geschickt und seine Schwägerin gebeten zu haben, eine grobe Übersetzung des Librettos vorzubereiten. – Schlees mit 28. November 1938 datierte Antwort (typ., dt.) auf Dallapiccolas Brief vom 24. November lautet: Lieber Herr Dallapiccola ! Besten Dank für Ihre Nachrichten. Selbstverständlich würde ich mich riesig freuen, wenn wir Ihr Werk „Volo di notte“ in die Universal-Edition aufnehmen könnten. Dabei gibt es einige Schwierigkeiten, die allerdings nicht unüberwindlich sind. Die eine ist die, dass wir von dem künstlerischen Wert des Werkes ebenso überzeugt sind, wie leider davon, dass mit diesem Stück nicht ein grosser Gewinn erzielt werden kann, dass es sogar wahrscheinlich ist, dass die bedeutenden Kosten der Materialherstellung nur teilweise durch die Einnahmen zu decken sind. Auch dies ist kein Grund, der uns allzu sehr verschreckt. Wir haben schon manches Werk herausgebracht, bei dem wir uns von vornherein darüber im klaren waren, dass es kein „Geschäft“ im kaufmännischen Sinne werden wird. Die grössere Schwierigkeit liegt in diesem Falle darin, dass gegen den Stil Ihres Werkes möglicherweise sich Widerstand spürbar machen wird. Wir werden sehen, wie die Prüfung des Stückes durch die Behörden ausgehen wird. Sollten diese sich positiv äussern, so werden auch wir die Genehmigung erhalten, das Werk zu übernehmen. Wir müssen Sie darauf aufmerksam machen, dass auch
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wir vor der Erwerbung des Werkes eines ausländischen Komponisten eine Genehmigung bei den Behörden einholen müssen und dass hierbei sicherlich auch die Frage, ob durch die Inverlagnahme des Werkes ein Devisengewinn zu erwarten ist, eine Rolle spielt. Wir möchten Sie daher bitten, die Frage nach der Inverlagnahme noch etwas hinauszuschieben. Auf jeden Fall sind wir bereit, nach wie vor uns für dieses Stück einzusetzen und dafür mit aller Intensität zu arbeiten. Unser künstlerisches Gewissen zwingt uns dazu und wir tun es, wie Sie bemerkt haben werden, gern und mit grosser Freude. Vielleicht wäre diese ganze Frage leichter zu erörtern, wenn wir gleichzeitig mit der Oper auch ein Orchesterwerk von Ihnen erwerben könnten, das „gangbar“ ist, also ein Stück, das nicht die alleräussersten Anforderungen an die Ausführenden und an die Hörer stellt. Wenn wir ein solches Stück, das wir dann mit allergrösster Intensität überall propagieren würden, im In- und Ausland viel placieren können und damit auch nennenswerte Einnahmen erzielen, so ist dann natürlich die Frage, was mit „Volo di notte“ zu geschehen hat, viel leichter. Ich weiss nun nicht, inwieweit Sie die Möglichkeit haben, uns ein solches Stück zu übergeben. Verstehen Sie uns nicht falsch. Ich meine nicht, dass Sie ein Kompromisstück [!] schreiben sollen, es soll durchaus ein echter Dallapiccola sein. Nur glaube ich schon, dass es möglich sein müsste, dabei den praktischen Gegebenheiten etwas Rechnung zu tragen. Schreiben Sie mir bitte, was Sie darüber denken. [...]
Am 1. Dezember antwortet Dallapiccola (hs. Postkarte, it.), daß er in wenigen Stunden nach Mailand müsse und nur kurz versichern möchte, den „noblen Brief“ nicht zu vergessen. Er frägt, ob die Originalausgabe von Vol de nuit angekommen sei. Die Übersetzung werde in 10–12 Tagen fertig sein44 und sofort an Schlee sowie nach Braunschweig geschickt. Auf die „Entscheidung der Autoritäten“ würde man eben noch ein bißchen warten, ehe man entscheiden könne. Wegen der gewünschten Orchesterkomposition wüßte er nicht, was er sagen solle, aber vielleicht habe er in Zukunft eine schöne Idee. – Am 14. Dezember (typ., dt.) bedankt sich Schlee dann sowohl für die „Rohübersetzung“ als auch für das „Originalbuch“; von Carisch erwarte er „die Partituren Ihrer Orchesterwerke, da ich versuchen will, für diese in Deutschland einige Aufführungen zu erzielen“.
Mit „Firenze, 7 gennaio 1939/XVII“ datiert ist Dallapiccolas nächster Brief (typ., it.). Aus Braunschweig gäbe es keine Nachricht, obwohl er die Übersetzung des Librettos dorthin sandte. Er frägt, ob Schlee etwas aus Braunschweig erfahren habe, denn er wisse nicht, ob er es gestatten dürfe, daß das „Teatro delle Novità“ von Bergamo Volo di notte in sein Programm aufnähme. Außerdem habe er vor einer Woche einen Brief von Erich Bormann aus Köln erhalten, in dem u. a. zu lesen sei: 44
Dallapiccola bat damals den in Florenz wohnenden Dr. Felix Lederer um eine Übersetzung ins Deutsche (s. u.).
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„.... aber um so mehr freut es mich, Ihnen mitteilen zu koennen, dass Herr Generalintendant Spring bereit ist Ihr Stueck in Koeln uraufzufuehren....“.45
Auch der Komponist Karl Amadeus Hartmann habe ihm davon berichtet: „.... eben schrieb mir mein Freund Erich Bormann aus Koeln, dass Ihre Oper in Koeln am Opernhaus aufgefuehrt wird. Er selbst wird die Regie fuehren....“.
Daher hätte er gerne eine definitive Antwort von Herrn Gutheim. Und er sendet, auch im Namen seiner Frau, tausend Wünsche für ein gutes Jahr an Schlee sowie an die „verehrte Frau Schlee“. In einem weiteren, (wohl) nicht erhaltenen Schreiben muß Dallapiccola berichtet haben, daß die Oper von Olmütz Interesse für Volo di notte zeige, jedenfalls antwortet Schlee, der laut einer kurzen Mitteilung seiner Sekretärin („Wi.“) einige Zeit verreist war, am 17. Februar (typ., dt.), daß das „Opernhaus in Olmütz“ zwar „ein sehr rühriges“ sei, aber über „äußerst beschränkte Mittel“ verfüge. Und auch „Herr A. Heller ist uns als tüchtiger Kapellmeister bekannt“. Dennoch sei es „jedenfalls nicht ratsam, dort die Uraufführung Ihrer Oper zu veranstalten“. Auf der anderen Seite glaube er auch nicht an eine Aufführung in Köln, „da die Herren in Köln kaum das richtige Verständnis für Ihren Stil finden werden“. Er wolle „jetzt nochmals in Braunschweig nachfragen“. Unter dem Datum „28 febbrajo 1939/XVII“ antwortet Dallapiccola (typ., it.), daß das Theater von Braunschweig trotz der Ankündigung einer Antwort diese noch immer nicht gegeben habe. Aber: In Köln gebe es 1940 eine große internationale Ausstellung, und er habe über Empfehlung von Dr. Bormann eine Kopie der deutschen Übersetzung des Librettos seiner Oper an Dr. Spring gesandt. – Schließlich zählt er Aufführungen seiner Werke im Februar 1939 auf: Am 4. die Tre Laudi in Strasbourg, am 5. die Partita in Rom, am 17. die Tre Laudi in Radio Brüssel, am 25. die zweite Serie der Cori di Michelangelo im Palazzo Pitti in Florenz. Außerdem wirkte er am 5. Februar bei einer Mailänder Aufführung der Musica per Tre Pianoforti mit. Am 15. März 1939 erhielt Dallapiccola eine offizielle abschlägige Antwort Gutheims aus Braunschweig, die er in seinem Programmbuch-Beitrag von 1965 zitiert: „Wir haben uns lange und redlich bemüht und nichts unversucht gelassen, um die Uraufführung Ihrer Oper ‚Nachtflug‘ zu übernehmen. Es ist uns aber nicht gelungen, von unserer vorgesetzten Behörde, dem Reichs-PropagandaMinisterium, die Genehmigung zu dieser Uraufführung zu bekommen.46 Wir 45 46
Hier sowie in allen weiteren zitierten Briefen ist die Anzahl der Punkte (...., ..... etc.) gemäß dem Original wiedergegeben. Das diesbezügliche Gutachten des zuständigen Referenten Dr. Ludwig Karl Mayer lautet folgendermaßen: „Nach Kenntnisnahme des Klavierauszuges habe ich den eindeutigen Eindruck, dass es sich hier um ein Werk ausgesprochen destruktiver Art handelt. Es ist weder ein melodisches noch ein formales Prinzip musikalisch-logischer Gestaltung ersichtlich. Die Musik ergeht sich teils in expressionistischen Floskeln, teils in mechanistischen Geräuschen. Der Komponist scheint zur Gattung jener italienischen Über-Radikalisten zu gehören, die in Italien längst überwunden sind. Umso weniger Anlass besteht zu einer Aufführung auf einer deutschen Bühne. Zudem bekäme eine solche als Präzedenzfall vermutlich verhängnisvolle Bedeutung.“ Weitere „Mitarbeiter der Reichsmusikprüfstelle“ schrieben „Eine durch-
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müssen also zu unserem größten Bedauern von diesem Plan wie auch von anderen Dingen Abstand nehmen. ... Wir werden Ihrem Schaffen und speziell diesem Werk weiter unser Interesse entgegen bringen. Vielleicht bringt die künftige Zeit doch eine Klärung und eine Revision im Hinblick auf die Aufführungsmöglichkeit.“47
Dallapiccola berichtet Schlee sofort („15 marzo 1939/XVII.“) von diesem Schreiben (typ., it.): „Die Antwort ist nicht genau die, die wir erhofft haben“, doch wundere er sich nicht. Allerdings würde er – nach fünf Monaten Verhandlungen – gerne die wahren Gründe für die negative Antwort wissen. Er glaubt nicht an interne Gründe am Theater und frägt sich, ob seine Musik oder das Textbuch schuld sein könnten. „Wenn aber Musik oder Text schuld sind, würde ich keine Verhandlungen mit anderen deutschen Theatern mehr führen. Ich wäre dankbar, wenn Sie mir dazu schreiben könnten. Und auch, wenn Sie mir ein anderes Theater raten könnten, das an einer Oper wie meiner interessiert sein könnte.“
Schlee, der einige Zeit verreist war, antwortet am 4. April 1939: Lieber Herr Dallapiccola ! Vielen Dank für Ihre beiden Briefe. Es ist sehr schwierig, Ihnen genaue Auskunft zu geben, da ich selbst ziemlich ungenau informiert bin und auch trotz aller Nachfragen keinen Bescheid erhalten habe, der mich völlig befriedigte. Soviel ich gehört habe, hat Braunschweig das Programm der diesjährigen Festwochen völlig verändern müssen. Dies mag wohl auch der Grund sein, weshalb die Aufführung Ihrer Oper nicht zustandekommt. Ich befürchte allerdings, dass möglicherweise auch an anderen Stellen Bedenken gegen den Stil des Werkes auftauchen könnten. Ich werde versuchen, was sich tun lässt. Im übrigen hoffe ich Sie bei dem Musikfest in Venedig zu treffen. Inzwischen herzlichste und ergebenste Grüsse [Schlee]
Dallapiccola bedankt sich am 7. April (hs., it.), insbesondere für Schlees Verständnis und Treue, und frägt, ob eventuell Zürich an seinem „ersten theatralischen Experiment“ interessiert sein könnte. „Nach dem zu beurteilen, wie es 1937 und auch voriges Jahr war, würde ich ja sagen. Aber die Sache könnte sich geändert haben.“
Nach diesem Brief scheint der Schriftverkehr zwischen Dallapiccola und der UE über ein Jahr zu ruhen, lediglich in einem Brief von Wladimir Vogel an den Komponisten wird der Verlag erwähnt. Dallapiccola, der damals an seinen Canti di prigionia arbeitete, die dann „ein neues, weiter fortgeschrittenes Stadium in der Aneig-
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aus pathologische Angelegenheit“ oder „Indiskutabel!“. Und im Schreiben an das „Breslauer [recte wohl: Braunschweiger] Opernhaus“ ist zu lesen: „Die Musik gehört zu der atonalen, volksfremden Art, die wir als indiskutabel ablehnen.“ Zit. nach Boris van Haken, Volo di notte – ein verbotenes Werk, in: Programmheft der Oper Frankfurt/Main vom 6. Juni 2004, S. 22–23, hier S. 22. Luigi Dallapiccola, Sehen, was anderen verborgen bleibt (Anm. 39), S. 296.
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nung der Dodekaphonie erkennbar“48 werden lassen, hatte sich bei Vogel nach Literatur über die Zwölftontechnik erkundigt, worauf dieser ihn am 12. Jänner 1940 auf Artikel in den Musikblättern des Anbruch hinwies: „Dr. Schlee wird sie Ihnen schicken. Um die verschiedenen Verfahren kennenzulernen, muß man sich an die Werke von Schönberg und Berg halten [...].“49
Mit 29. April 1940 datiert ist sodann der Vertrag zwischen dem Verlag Ricordi und Dallapiccola über die Oper Volo di notte, deren Uraufführung am 18. Mai 1940 im Rahmen des (erstmals 1933 stattfindenden) „Maggio Musicale Fiorentino“ im „Teatro della Pergola“ von Florenz unter der Leitung von Fernando Previtali stattfand.50 Dallapiccola hatte gehofft, Alfred Schlee bei der Premiere begrüßen zu können, wie seinem Brief vom „25. Aug. 1940/XVIII“ aus „Covigliaio (Firenze), ,Il Castagno‘“ (hs., dt.) zu entnehmen ist: Sehr geehrter Herr Schlee, ich hatte gehofft Sie in Florenz zu sehen, als mein Nachtflug aufgeführt worden ist. Der Sekretär der „Maggio Musicale“ hatte mir gesagt, dass Sie ihm darüber geschrieben hatten. Ich verstehe, allerdings, dass es heuer sehr schwer war sich zu bewegen. Ich schreibe Ihnen jetzt, mich auf die Teilnahme die Sie in jeder Angelegenheit für meine Oper gezeigt haben, stützend.
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Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 41. Als seinen „ersten Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit“ und somit zur Dodekaphonie bezeichnete Dallapiccola später sein 1934 geschriebenes Divertimento in quattro esercizi, von dessen Erfolg er damals der UE berichtete (s. o.). Vgl. Ursula Stürzbecher, Werkstattgespräche mit Komponisten, München 1973, S. 260. In: Luigi Dallapiccola, Saggi, testimonianze, carteggio, biografia e bibliografia, hrsg. von Fiamma Nicolodi, Milano 1975, S. 65; zitiert nach Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 41. Am 12. Februar 1951 wurde das Copyright der Oper „assigned to Universal-Edition“, das Copyright für die deutsche Version (Gutheim/Reinking) ging 1952 somit an die Universal-Edition; sowohl in der (mittlerweile neu aufgelegten) Partitur als auch in dem (ebenfalls neuen) Klavierauszug mit italienischem und deutschem Text ist daher (im Sinne der Vereinbarung) zu lesen: „German version copyright 1952 by Universal Edition A. G., Wien / Copyright 1940 by Universal Edition, Wien / U. E. 11902“. In der Partitur der reduzierten Fassung (UE 33116) ist das Copyright mit 1953 datiert. Für den französischen Klavierauszug und das französische Textbuch (beides erstellt von Jacques Bourgeois) war laut den Verlagsunterlagen kein eigenes Copyright notwendig. Hier lauten in dem (nur französischsprachigen) originalen Klavierauszug die Angaben folgendermaßen: „German version copyright 1952 by UniversalEdition A. G., Wien / Copyright 1940 by Universal-Edition, Wien / Universal-Edition Nr. 11980“. Im (nur deutschen) Textbuch lautet die Angabe: „Nachtflug (Volo di notte). Oper in einem Akt nach dem Roman „Vol de nuit“ von Antoine de Saint-Exupéry von Luigi Dallapiccola. Neue deutsche Übertragung von Karlheinz Gutheim und Wilhelm Reinking. Universal-Edition A. G., Wien. Copyright 1952 by Universal-Edition A. G., Wien. Printed in Austria.“ – Bezüglich der reduzierten Fassung von Interesse sind folgende Einträge auf den die Materialherstellungen für Volo di notte verzeichnenden Karteikarten (im Archiv der UE): „3. 4. 56 An Prof. Apostel 60 Bogen Part. Papier No. 27 für Anlage einer Partitur mit kleinerer Besetzung“. – „4. 56 Prof. Apostel Arbeitszeit für Uminstrumentierung 144½ Stud. [...].“ – „24. 8. 56 Schönberg Einrichtung einer Part nach Apostel Vlge [Vorlage] S. 1–62 51 Std. [...].“ Hier handelt es sich um Georg Schönberg, den in Mödling lebenden Sohn des Komponisten, der für die UE Kopiaturarbeiten durchführte. (1963 etwa wurden ihm noch die Stimmen „der Batteria“ zur Korrektur übergeben.) Die Erstaufführung der reduzierten Fassung fand am 30. September 1956 im Opernhaus der Landestheater Hannover unter der Leitung von Johannes Schüler statt.
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Frau Marianne Kolisko, Gattin des Musikdirektors der Volksoper in Wien, schreibt mir, dass Sie [!] „Nachtflug“ in Florenz gehört hat, dass es sie sehr interessiert hat, und bittet ihrem Mann einen Klavierauzug zu schicken. Ich bin sicher, dass Sie so freundlich sein werden Ihre Stütze der Sache zu geben. Ich weiss dass für die Aufführung in Braunschweig sich ernste Schwierigkeiten ergeben haben. Vielleicht aber die Tatsache, dass die Oper schon in Italien, am Maggio Fiorentino, mit Erfolg ausgeführt worden, und auch gute Presse in Deutschland gehabt hat, wird helfen diese Schwierigkeiten zu überschreiten. Ich danke Ihnen im vorheraus, für alles was Sie für meine Oper zu tun gedenken und bin Ihr ergebener Luigi Dallapiccola
Am 5. September antwortet Schlee (typ., dt.) und „bedauert unendlich“, nicht bei der Premiere anwesend gewesen zu sein, hofft aber, im Zuge einer Italien-Reise bald für einen Tag nach Florenz zu kommen. Selbstverständlich sei er „mit Begeisterung bereit mich bei Kolisko für den ,Nachtflug‘ einzusetzen“, warnt aber vor zu großen Hoffnungen: „Ich möchte Sie nur schon von vorneherein darauf aufmerksam machen, dass ich an der Wiener Volksoper keine sehr grosse Möglichkeit sehe, den ‚Nachtflug‘ aufzuführen. Die Wiener Volksoper hat einen äusserst konservativen Geschmack und obwohl Herr Kolisko sehr an neuem interessiert ist, glaube ich nicht, dass er ein Werk, [!] wie den ‚Nachtflug‘ in diesem Hause durchsetzen kann. Ich sehe eine Chance für das Werk eigentlich nur darin, dass es aus Anlass eines Musikfestes, wie sie ja jetzt häufig stattfinden, von einem italienischen Delegierten oder einer italienischen Kommission in Vorschlag gebracht wird. Falls zum Beispiel Lualdi sich dafür einsetzen würde, wäre eine Aufführung im Rahmen eines Musikfestes des Conseil permanent auch in Deutschland denkbar.“
Dallapiccola antwortet umgehend per Postkarte (hs., dt.) und bittet um Mitteilung, wann Schlee in Florenz sein werde, da er ihn „unbedingt sprechen möchte“ (Abbildung 2). Am 21. September (typ., dt.) muß Schlee allerdings die Zusammenkunft in Florenz absagen und schlägt als Treffpunkte Mailand (7. oder 8. Oktober) oder (10. Oktober) Padua bzw. Venedig vor, wo er Petrassi besuchen werde. Im übrigen habe er „inzwischen auch in Deutschland Interesse wieder für den ,Nachtflug‘ geweckt“. „Eben hat Kapellmeister Vondenhoff aus Freiburg den Auszug angefordert. Er hat die Absicht ein italienisches Musikfest zu veranstalten.“ – Das Treffen hat dann stattgefunden; Dallapiccola reiste laut seinem Brief (hs., it.) vom „2 ottobre 1940/XVIII“ am 7. Oktober nachmittags nach Mailand, quartierte sich dort im „Albergo Rosa, via Pattari, nahe dem Dom“ ein und verständigte auch „I Carisch“ von seiner Ankunft.
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Abbildung 2: Luigi Dallapiccola: Postkarte an Alfred Schlee vom September 1940.
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Hartmut Krones
Mit „Firenze, 16 dicembre 1940/XIXo“ (typ., it.) datiert ist Dallapiccolas nächster Brief. Er entschuldigt sich für sein langes Schweigen, ist sich aber sicher, daß Mario Labroca „in diesen Tagen Grüße übermittelt hat“, und so sei ja der Kontakt aufrecht. Dallapiccola erinnert daran, daß er im Oktober in Mailand nach jenen Heften des Anbruch gefragt habe, in denen über die Zwölftontontechnik gesprochen wird, und bittet, sie ihm bald zu schicken, den Preis zu nennen und zu schreiben, wie er sie bezahlen könne. – Derzeit stelle er die Partitur zu seinem „Piccolo Concerto di [!] Muriel Couvreux“ für Klavier und Kammerorchester fertig, in Turin gab es eine gute Aufführung der 3. Serie der Cori di Michelangelo; leider würden insgesamt die Aufführungen weniger. Er schließt mit Wünschen für das Weihnachtsfest und das Neue Jahr. Am „13 genn. 1941/XIXo“ (typ., it.) erwidert Dallapiccola die von der UE erhaltenen „sehr willkommenen“ Neujahrswünsche und bedankt sich für die ihm „gerade rechtzeitig“ übersandten drei Hefte des Anbruch, vermißt allerdings die Rechnung.51 – Inzwischen waren zwei Jahre seit dem Versuch des Braunschweiger Landestheaters vergangen, die Oper Nachtflug in ihr Programm aufzunehmen, und nun versuchte der Verlag Ricordi im Jänner 1941 seinerseits, eine Aufführung in Deutschland zu erwirken. Vielleicht kam die Anfrage wegen der Kölner oder Freiburger Bemühungen (siehe oben), vielleicht auch wegen einer Planung des Darmstädter Landestheaters,52 jedenfalls unterband ein „in strengem, ja dohendem [!] Ton gehaltener Brief der ,Reichstheaterkammer‘ an den Verlag Ricordi [Leipzig 05 – Breitkopfstr. 26] vom 8. März 1941“53
jedweden weiteren Versuch, das Werk in Deutschland auf die Bühne zu bringen: betr. „Der Nachtflug“ (Volo di notte) von Luigi Dallapiccola. Den mir zugeleiteten Klavierauszug sowie die Inhaltsangabe der obengenannten Oper erhalten Sie anbei zurück.
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Da von einer solchen nicht mehr die Rede ist, waren die drei Hefte des Anbruch wohl ein Geschenk. Laut Boris van Haken wollte „das Landestheater Darmstadt [...] in der Saison 1941/42 die deutsche Erstaufführung zeigen. Sogar einen Übersetzer für das Libretto hatte der Ricordi-Verlag gefunden.“ Van Haken zitiert auch einen Brief des Reichsdramaturgen Rainer Schlösser, den dieser nach der Anfrage des Verlags Ricordi an Josef Goebbels richtete: „Das Werk wurde bereits vor 2 Jahren geprüft und in musikalischer Hinsicht so destruktiv gefunden, dass seine Aufführung in Deutschland als unerwünscht erklärt werden musste [...]. Da ein glattes Verbot von den Italienern vielleicht falsch aufgefasst werden könnte, möchte ich dem Verlag G. Ricordi & Co. von dem Vorhaben, die Oper in Deutschland zu vertreiben, mit der Begründung abraten, dass eine Musik von dem radikalen Charakter des Dallapiccola’schen Werkes dem Geschmack des deutschen Theaterpublikums nicht entspreche und ein geschäftlicher Erfolg auszuschließen sei. Ich bitte um Zustimmung.“ Offensichtlich stimmte Goebbels zu. Da van Haken die geplante Braunschweiger Aufführung von 1940 in umfangreicher Darstellung nach Breslau verlegt (siehe Anm. 46) und den eben zitierten Brief offensichtlich nicht richtig wiedergibt, sondern in die neue deutsche Rechtschreibung transferiert, scheint vielleicht auch die angeblich geplante Darmstädter Aufführung (über die im Briefverkehr Dallapiccolas mit der UE nichts zu finden ist) zweifelhaft. Luigi Dallapiccola, Sehen, was anderen verborgen bleibt (Anm. 39), S. 296. In diesem Artikel ist der Brief der „Reichstheaterkammer“ als Faksimile abgedruckt (S. 297).
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Wie Ihnen bekannt ist, hat das Werk bereits vor zwei Jahren dem Herrn Reichsdramaturgen vorgelegen, und schon damals ist Ihnen abgeraten worden, eine Verbreitung der Oper in Deutschland vorzunehmen. Dieser Standpunkt der Reichsdramaturgie hat sich auch heute nicht geändert, obgleich die Oper inzwischen beim Maggio Fiorentino 1940 zur Aufführung gelangte. Nach den bisherigen Erfahrungen lehnt das deutsche Theaterpublikum eine derartige Musik, die zu stark in [!] Atonale geht, ab, und daher dürfte es sich kaum für den Verlag rentieren, die Kosten der Uebersetzung und Bearbeitung aufzuwenden. Ich kann Ihnen daher nur anraten, von der Verbreitung des Werkes Abstand zu nehmen. Heil Hitler ! Vereinigung der Bühnenverleger e. V. gez. Stadeler
In den folgenden Monaten ruhte der Schriftverkehr zwischen Dallapiccola und der UE, bis Schlee dem Komponisten am 4. August 1941 (typ., dt.) seinen Besuch des Musikfestes von Venedig im September ankündigt.54 (In der Zwischenzeit, am 14. März 1941, schlossen die Verlage Ricordi und Gallimard, der Verlag des französischen Originalbuches von Vol de nuit, in Paris den Vertrag über den Text der Oper55 Volo di notte ab.) Dallapiccola bedankt sich am 13. August (hs. Postkarte, it.) aus Marina di Pietrasanti (Lucca) für die „nette Karte“, freut sich auf ein Wiedersehen und berichtet, daß er selbst am 25. September sein Piccolo Concerto per Muriel Couvreux unter der Leitung von Previtali aufführen werde. Es sei vor kurzem bei Carisch herausgekommen und müßte schon an Schlee geschickt worden sein. In Venedig kam es aber zu keinem Treffen, da Dallapiccola depressiv gestimmt war und sofort nach dem Konzert abfuhr. Er schrieb diesbezüglich am 7. November 1941 (typ., it.) an Schlee, er habe „seit vielen Wochen das Bedürfnis zu schreiben“ gehabt, seitdem er am 26. September, nach der Aufführung seines Piccolo Concerto, aus Venedig abgefahren sei, aber die große Arbeit habe ihn gezwungen, das dritte und letzte der Canti di prigionia gut zu Ende zu bringen – „das ist der Abschluß meines Hauptwerks“. Außerdem habe er an seiner „szenischen Bearbeitung“ der Oper Ritorno di [!] Ulisse in Patria von Monteverdi gearbeitet.
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Schlee bot in einem Brief vom 2. September 1941 „Herrn H. H. Stuckenschmidt“ (Prag II, Herrengasse 12) an, vom Musikfest in Venedig, „wo zum grössten Teil neue Werke von Casella, Petrassi, Dallapiccola, Malipiero, Pizzetti, Ghedini, Tommassini und einigen anderen zur Aufführung kommen, [...] für Ihre Zeitung etwas [zu] schreiben. Da ich allerdings immerhin interessierter Verleger bin, käme nichts kritisch Kunstbetrachtendes in Frage, sondern eher eine Plauderei Begegnung mit italienischen Komponisten.“ (Stuckenschmidt war damals in der Redaktion der Prager Zeitung Der Neue Tag tätig.) Am 1. Oktober 1941 berichtete Schlee dann „Herrn Dr. Heinrich Strobel“ (Paris, Feldpostnummer 43200 Z), „eben aus Venedig zurück[zukommen], wo es zwei ganz wunderbare Konzerte von erstaunlichem Niveau mit Werken von Petrassi, Dallapiccola, Casella, Malipiero usw. gegeben hat. [...] Wenn wir nun zu einer Zusammenarbeit kämen, die geschäftlich fundiert ist, würde ich mich riesig freuen. Schon aus dem Grunde, weil ich zuweilen einen Bundesgenossen brauche.“ 55 Mit Jacques Bourgeois schloß die UE am 8. Februar 1960 einen Vertrag über dessen neue Übersetzung des Librettos ab.
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„Leider hatten wir nicht mehr Zeit, miteinander zu sprechen (außer vier Worte nach dem Konzert), ich hätte gerne einen längeren Meinungsaustausch mit Ihnen gehabt. Aber die Atmosphäre in Venedig war sehr bedrückend, deswegen bin ich am Tag nach der Aufführung abgereist. Es gab viele Gründe, und ich habe wohl nur ein paar an Sie weitergegeben; ich werde Ihnen später vielleicht einmal alles erzählen.“
Und Dallapiccola klagt, kaum Aufführungen zu haben. Weder „all’ Adriano di Roma“ noch in den zwanzig Konzerten am Teatro Communale in Florenz sei in der letzten Saison ein Werk von ihm gespielt worden, nur im Palazzo Pitti (Florenz) wird er sein Piccolo Concerto spielen, „und in Rom gibt es Hoffnung auf eine Aufführung der ,Canti di prigionia‘ (Preghiera di Maria Stuarda, Invocazione di Boezio, Congedo di Girolamo Savonarola) am Teatro delle Arti. Das ist alles, man muß sich zufriedengeben.“
Schlee dankt am 25. November (typ., it.), sein deutschsprachiges Konzept lautet folgendermaßen: Sehr verehrter lieber Freund ! Vielen Dank für Ihren Brief, über den ich mich sehr gefreut habe, wenngleich ich – wie schon in der kurzen Aussprache in Venedig – daraus ersehen muss, dass auch Sie manche Sorgen haben. Es fiel mir auf, dass Sie betrübt waren und ich wunderte mich am nächsten Tage, als ich Sie suchte, zu erfahren, dass Sie bereits abgereist seien. Lassen Sie sich die Gegenwart nicht verdüstern. Ihr Werk ist so bedeutend und hebt sich so deutlich aus dem Durchschnitt hervor, dass es nicht verwunderlich ist, wenn die Resonanz nicht im ersten Augenblick anklingt. Es geht nicht nur Ihnen so und es ging vor Ihnen den Meisten so. Auch ich habe es sehr bedauert, dass wir uns nicht ausführlich über viele Probleme unterhalten konnten. [...]. Halten Sie mich doch bitte auch über Ihre Arbeiten jeweils auf dem Laufenden. [...]
Der nächste schriftliche Kontakt ist ein Telegramm Dallapiccolas an Schlee vom 26. Februar 1942, daß er (unterwegs nach Budapest) am Abend des 1. März Wien passiere, am Südbahnhof um 22.29 Uhr ankomme und bitte, ihm zwei Betten in einem Hotel zu buchen. Aus Budapest avisiert er dann am 7. März seine Ankunft an diesem Tag um 18 Uhr und bittet wieder um eine Hotel-Buchung. Sein Treffen mit Anton Webern vom 9. März im Haus von Alfred Schlee sowie der anschließende direkte Kontakt mit Webern (einschließlich der Frage der Widmung der Sex Carmina Alcaei an ihn) werden weiter unten in dem Kapitel „Dallapiccola und Anton Webern“ Betrachtung finden und daher im folgenden nicht thematisiert. – Nach Florenz zurückgekehrt, berichtet Dallapiccola seinem „carissimo amico“ Alfred Schlee am 12. März (typ., it.) von im Zuge der Rückreise gepflegten Kontakten und dankt für das ihm ermöglichte Treffen mit Webern: „Auf meiner Rückreise habe ich mich einige Stunden in Venedig aufgehalten und Mario Corti besucht. Ich weiß nicht, ob Sie darüber informiert sind, daß wir auch dieses Jahr ein bißchen Musik im September im Teatro La Fenice machen
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werden. Meine Ankunft in Venedig war sehr günstig, weil ich Corti ein paar Ratschläge geben konnte, von denen wir hoffen, daß er sie auch befolgen kann, ohne daß andere Parteien ihm Schwierigkeiten machen. In wenigen Worten habe ich dem Intendanten von Venedig gesagt, daß er die Passacaglia op. 1 von Webern in sein Programm aufnehmen solle, und Corti hat mir versprochen es zu tun. Er macht es vor allem im Hinblick auf die Tatsache, daß er einen deutschen Komponisten braucht, der selbst seine Komposition dirigiert. Ich habe eventuell an die 6 Stücke op. 6 gedacht ....., was sagen Sie dazu ? Da das venezianische Ambiente und das Orchester nicht excellent sind, ist vielleicht die Passacaglia weniger schwierig, sowohl für das Publikum als auch für die Instrumentalisten. Ich wünsche mir auf jedem Fall, daß Maestro Webern so bald wie möglich die Einladung erhält und daß man die Sache durchführen kann. Von meiner Seite kann ich Ihnen nicht sagen, wie zufrieden ich wäre, nützlich zu sein (auch wenn nur im kleinen) für die Kenntnis der Musik eines Komponisten, den ich liebe und sehr schätze. Während der folgenden Verhandlungen müssen Sie beachten, daß Maestro Webern mehrere Proben einfordern sollte. Sie wissen, daß das Orchester von Venedig nicht das von Florenz oder Turin ist. Ich habe schon mit Labroca gesprochen, der die Einladung für Sie und Ihre Frau zum Maggio Musicale senden wird. Am 23. und 26. Mai wird es den Ulysse von Monteverdi geben, und in derselben Zeit den Doktor Faust. Vielleicht wird diese Periode die interessanteste der ganzen Saison sein. Ich danke noch einmal für den schönen Abend, den ich in Ihrem Haus verbracht habe, und für die Möglichkeit, die Sie mir geboten haben, endlich Anton Webern kennenzulernen. Mit den besten Wünschen an die gnädige Frau auch von Seiten meiner Frau [...].“
Am 2. April (typ., it.; Konzept auf dt.) bedankt sich Schlee „für Ihre Intervention bei Corti“, dem er „sogleich das Material gesandt“ habe, und geht danach auf das Treffen mit Webern ein: „Herr Dr. Webern hätte gern einige Arbeiten von Ihnen durchgesehen. Würden Sie die Güte haben und Ihren Verleger veranlassen, dass er uns die Noten schickt. Ich habe mich sehr gefreut, dass die historische Begegnung in unserem Haus stattfinden konnte und ich freue mich auf eine hoffentlich baldige Fortsetzung unserer Gespräche.“
Am 14. April (typ., it.) berichtet Dallapiccola Schlee aus Florenz, daß (nachdem „die Sache [zunächst] aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich war“) er „eine Packung Zitronen abgesendet“ habe, und bittet, „dieses kleine Ostergeschenk Ihrer lieben Frau zu geben mit den besten Grüßen von meiner Frau und mir. Und wir hoffen, daß diese Ware ohne große Verspätung ankommt.“
Auch hoffe er, daß Dr. Webern (nachdem nun „das Material nach Venedig geschickt“ wurde) eingeladen worden sei. „Wenn dem so wäre, kann ich Ihnen nicht sagen, wie groß meine Freude wäre.“ Die Partitur der Canti di prigionia wollte er selbst an Webern schicken und wartete darauf, daß [Sandor] Veress, dem er sie in
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Budapest gelassen hatte, nach Florenz kommt und ihm die drei Partituren zurückbringt. Bis jetzt habe er aber keine Nachricht von ihm (er scheint in Rom zu sein). Er habe aber eine Kopie des 3. Stücks und werde diese Carisch mit der Bitte zukommen lassen, die beiden anderen Stücke dazuzulegen und alles an Schlee für Webern zu senden. „Ich bin sehr empfänglich für das Interesse, das der Meister für alles zeigt, was ich schreibe.“ – In Wien habe er Schlee auf die Möglichkeit einer Ende April oder Anfang Mai gemeinsam mit [Sandro] Materassi durchgeführten Konzertreihe aufmerksam gemacht, bei der Wien einbezogen wäre und bei der man „Ravel, Strawinsky, Adone Zecchi und Brahms“ aufführen würde. Nach langen Diskussionen müsse man nun auf die Konzerte verzichten, „weil wir uns nicht getraut haben (aus Gründen künstlerischer Moral), an Stelle des ursprünglichen Programms Corelli, Vitali, M. E. Bossi und Brahms“ aufzuführen. „Es wird ein anderes Mal stattfinden. Mir hat es vor allem leid getan, daß wir uns so nicht noch einmal in Ihrem Haus treffen.“ Und Dallapiccola wünscht, daß Schlee zu „mancher Aufführung des Maggio Musicale“ kommen werde. Am 24. April 1942 (typ., it.; Konzept typ., dt.) bedankt sich Schlee für die Zitronen und berichtet, von [Aurel von] „Milloss“ einen Brief mit der Nachricht bekommen zu haben, „dass das Festival in Venedig ausfällt. Da Milloss dort ein Ballett von Veress aufführen wollte, ist es allerdings möglich, dass nur die Ballettveranstaltungen abgesagt sind. Hoffen wir das beste.“
Er habe inzwischen Nachricht, „dass in Rom ,Wozzeck‘ aufgeführt werden soll, was auch recht erfreulich ist.“ Dallapiccolas „Einwand gegen das Programm“ der Konzertreihe verstehe er, Veress dürfte noch in Rom sein, wolle ihn aber auf der Rückreise besuchen. Am 19. Oktober 1942 (typ., dt.) kündigt Schlee an, „am 28. und 29. Oktober auf der Durchreise nach Rom in Florenz“ zu sein und bittet, ihm im Hotel Roma eine Nachricht zu hinterlassen, „ob Sie dort sind oder wo ich Sie in Rom treffe“. Dallapiccola ist erfreut (27. Oktober, hs., it.) und bittet, ihn sofort unter der Nummer 42.321 anzurufen. „Meine Frau und ich würden uns freuen, Sie morgen um 21 Uhr bei uns zum Abendessen zu sehem. Es werden wenige Freunde da sein: Markevitch, der Pianist Scarpini und ein paar andere.“
In Rom ging dann im November 1942 am „Teatro Reale dell’Opera“ dreimal die Oper Volo di notte unter der Leitung von Fernando Previtali über die Bühne. Zu einer weiteren Aufführungs-Serie konnte es nicht mehr kommen, da das Haus knapp danach durch ein Bombardement zerstört wurde und bis 1949 geschlossen blieb. Auch die Stimmen-Materialien der Oper fielen den Kriegshandlungen zum
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Opfer.56 – Nach seiner Rückkehr nach Wien schrieb Schlee am 14. November 1942 (typ., dt.) an Dallapiccola: Lieber Freund ! Den Abend bei Ihnen werde ich nicht so bald vergessen. Es war schön, dass wir einmal in solcher Ruhe miteinander sprechen konnten. Ich habe nur bedauert, dass Sie bei den Proben zum „Wozzek“ nicht zugegen waren. Die Arbeit von Serafin war bewundernswert. Ich hoffe, dass Sie wenigstens eine Aufführung erlebt haben. Obwohl ich das Werk wirklich gut kenne, war die neuerliche Begegnung doch eines meiner grössten Erlebnisse. Uebrigens habe ich durch einen sehr glücklichen Zufall doch „Volo di Notte“ gehört. Auch das war für mich ein starker und schöner Eindruck. Ueberhaupt muss ich sagen, dass der Aufenthalt in Italien reich an künstlerischen Eindrücken gewesen ist und mir einen neuen starken Auftrieb gegeben hat, für den ich Ihnen und allen, die mich so lieb aufgenommen haben, von Herzen dankbar bin. Hoffentlich haben wir bald die Möglichkeit, Sie zu ähnlichen interessanten Ereignissen hierher einzuladen. Mit besten Grüssen an Sie und Ihre Frau bin ich Ihr ergebener [Schlee]
Am 23. November antwortet Dallapiccola (hs., it.), nicht Schlee müsse ihm danken, sondern er habe zu danken und sich sehr über dessen Besuch in Florenz gefreut. Die Fortsetzung des Briefes liegt in der UE weitgehend in einer deutschen Übersetzung vor: „Wir sind in Rom gewesen, wo wir zweimal den ‚Wozzeck‘ hörten. Unser Eindruck war der, dass ausgenommen ‚Pelleas und Melisande‘, unser Jahrhundert nichts ähnliches dem Theater gegeben hat. Ich bin sehr froh, daß [gemäß dem it. Original: das Schicksal es Ihnen ermöglicht hat] Sie ‚Volo di notte‘ hören konnten, dass Sie [aber leider] von den drei Aufführungen die am wenigsten gute gehört haben. Die Aufnahme beim Publikum war trotz der verschiedenartigsten Schwierigkeiten ausserordentlich herzlich und sobald ich etwas erholt bin schreibe ich ein anderes Werk für das Theater. Im Moment beschäftigt mich das Ballett ‚Apollo und Marsia‘ ganz besonders und macht mir Sorge.“
Am 16. Dezember 1942 (typ., dt.) bedankt sich Schlee für „die schönen Worte, mit denen Sie Ihren Eindruck von Wozzek formulierten. Sie haben Recht. Inzwischen war auch Labroca hier.“ Gleichzeitig sendet er „einen Teil der Musik. Der Rest muß besorgt werden.“ Diesen Brief scheint Dallapiccola aber nicht erhalten zu haben, sondern an seiner Stelle ein an Helene Berg gerichtetes Schreiben, wie wir seiner Antwort vom 26. Dezember (hs., it.) entnehmen können: „Dr. Willi Reich hat unbeabsichtigt die Umschläge von ein paar Briefen verwechselt. Von demjenigen, der an mich gerichtet ist, weiß nur Gott, wo er geendet hat; in diesem Umschlag finde ich dieses Blatt, das offensichtlich an Frau 56
Vgl. S. 77. Aus diesem Grund kam wohl auch eine Aufführung in Paris, über die Ricordi am 7. Dezember 1945 einen Vertrag mit Dallapiccola abschloß, nicht zustande.
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Berg gerichtet ist. Ich habe es gelesen, und es tut mir leid, so das Briefgeheimnis verletzt zu haben. Aber was hätte ich anderes tun können? Ich bitte Sie, den beigefügten Brief an die Adressatin zurückzuschicken (ich hatte die Ehre, sie im Mai 1937 in Florenz kennengelernt zu haben) und ihr zu versichern, daß auch ich diese Weihnachten, wie zu allen folgenden nach 1935, an den großen und unvergeßlichen Meister gedacht habe.“
Im nächsten Jahr gibt es von Seiten der UE vor allem einen für die weitere Verbindung mit Dallapiccola wichtigen Kontakt mit dessen Mailänder Verlag Carisch. Denn am 11. Jänner 1943 überläßt Carisch der „Universal=Edition, Dr. Johannes Petschull“57 „das in unserem Verlag erschienene Werk ,Ballet‘58 zum ausschließlichen Vertrieb in Deutschland und zum Mitvertrieb in jenen Ländern Europas, in denen wir keine ständigen Vertreter haben.“
Ausgenommen waren somit: „Schweiz, Frankreich, England, Argentinien, Uruguay, U.S.A. und Ungarn [...].“ Juli 1951 schließen die beiden Häuser einen Vertrag über den wechselseitigen Vertrieb der jeweiligen Verlagswerke, ab 1955 war die UE dann für Dallapiccolas Werke für alle Länder außer „Italien, Argentinien, Brasilien und Uruguay“ Subverlag von Carisch59 und hatte auch den Alleinvertrieb von dessen Orchester- und Bühnenwerken in Österreich und der Schweiz inne, mit 10. August 1955 übernahm sie die gesamte „Vertretung für die gesamte Schweiz mit Ausnahme von Radio Lugano“; 1960 wurde sie zudem Subverlag für Großbritannien.60 Es muß aber auch weitere Kontakte zwischen der UE und Dallapiccola gegeben haben, denn Mai (17.), Juni (2.) und Juli (6.) 1943 frägt Schlee beim Verlag Suvini 57 58 59
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Die UE wurde (über Betreiben der Nationalsozialisten) 1940 (endgültig 1941; vgl. Anm. 62) an Johannes Petschull verkauft. Siehe: UE. Universal Edition. 1901–2001, Wien 2000, S. 5. Es handelt sich um das 1942/43 entstandene Ballett Marsia. Am 27. Juni 1955 berichtet die UE an Carisch (Herrn Calisto Ravizza), daß die Canti di prigionia beim Wiener Musikfest gerade großen Eindruck gemacht hätten. (Sie wurden am 21. Juni im Mozart-Saal des Konzerthauses durch den Wiener Kammerchor unter der Leitung von Hans Gillesberger realisiert, und dieselben Musiker brachten sie dann am 26. April 1956 sowie am 5. Dezember 1958 erneut zur Aufführung; vgl. Anm. 134). Eine Liste der bei Carisch erschienenen „Opere di Luigi Dallapiccola“ führt (in dieser Schreibweise und Reihenfolge; die Satzbezeichnungen sowie – zumeist – die Besetzung werden hier nicht zitiert) folgende Werke an (Schreibungen in Versalien sind hier kursiv wiedergegeben): Partita per grande orchestra (1930–32); Tre Studi (Sarabanda, Giga, Canzone) (1932); Rapsodia [.] Studio per „La morte del Conte Orlando“ (1933); Divertimento in quattro esercizi (1934); Musica per tre pianoforti – (Inni) (1935); Sei cori di Michelangelo Buonarroti il giovane (1935–36) | Prima Serie: per voci miste senza accompagnamento | a) Il coro delle Malmaritate – b) Il coro dei Malammogliati | Seconda Serie: per quattro cantori solisti (o coro da camera di sei soprani e sei contralti) e diciassette strumenti | a) Invenzione: I balconi della rosa – b) Capriccio: Il papavero | Tera [!] serie: per voci miste e grande orchestra | a) Il coro degli Zitti (Ciaccona) – b) Il coro dei Lanzi briachi (Gagliarda); Tre Laudi (1936–37) | per una voce acuta e orchestra da camera (13 strumenti); Piccolo Concerto per Muriel Couvreux (1939–1941); Canti di prigionia (1938–1941) | a) Preghiera di Maria Stuarda per voci miste e alcuni strumenti | b) Invocazione di Boezio per voci femminili e alcuni strumenti | c) Congedo di Girol-Savonarola [!] per voci miste e alcuni strumenti; Marsia (1942–1943) Balletto drammatico in un atto (tre parti) di Aurel M. Milloss – Riduzione per pianoforte di Pietro Scarpini.; Frammenti sinfonici dal balletto „Marsia“ per grande orchestra; Tre Episodi dal balletto „Marsia“ a) angoscioso, b) Ostinato, c) Sereno – Trascrizione per Pianoforte dell’Autore.“
Zu Luigi Dallapiccola und seinen „Wiener“ Beziehungen
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Zerboni wegen Dallapiccolas Sex Carmina Alcaei (bzw. Liriche greche) an.61 Und ein (nicht vorhandener) Brief Dallapiccolas an die UE vom 31. August 1943 wird in dem (sehr späten)62 Antwortschreiben Schlees vom 28. Jänner 1944 (typ., it.; typ. dt. Konzept vom 25. Jänner) erwähnt, in dem sich dieser erbötig macht, Webern „Mitteilung“ von Dallapiccolas Plan einer Widmung an ihn zu machen: Ich habe Webern davon nichts gesagt, doch weiss ich ganz genau, dass er sich über die Widmung ganz besonders freuen würde. Ich werde ihm nun doch bei nächster Gelegenheit Mitteilung davon machen, da ich nicht weiss, ob Sie ihn im Augenblick selbst verständigen können. Anlässlich seines Geburtstages gab es in Basel ein Konzert, dass [!] ein ganz ausserordentlich starkes Echo gefunden hat.63 Die Aufführung Ihres Ballettes in Leipzig ist nun leider zunichte geworden, doch hoffe ich, dass sich bald eine Gelegenheit geben wird, das Werk an anderer Stelle zur Aufführung zu bringen, vor allen Dingen habe ich an Carisch geschrieben, dass wir uns auch für die Konzert-Suite in stärkstem Masse interessieren. Ich hoffe, dass es Ihnen gut geht und ich grüsse Sie und Ihre Frau Gemahlin herzlichst [Schlee]
Dallapiccolas Antwort vom 22. Februar 1944 (typ., it.) liegt in der UE auch in einer Übersetzung vor: „Vor einigen Tagen erreichte mich Ihr lieber Brief vom 28. I. und schon vorher hatte ich durch das liebenswürdige Frl. Fischer Nachricht von Ihnen. Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie so lieb an mich gedacht haben, in einem für meine Arbeit und mein Leben besonders schweren Augenblick. Ich möchte Ihnen gleich sagen, dass wir uns am Tage nach dem Bombardement vom 25. September von Florenz entfernt haben und dass wir in den Bergen 4 1/2 Monate zugebracht haben. (lange und ermüdende Monate) Weit entfernt vom Lärm der Stadt war es für unsere Gesundheit sehr gut. Ich höre auch, dass die postalischen Verbindungen zwischen unseren beiden Ländern wieder geöffnet sind und schreibe ich gleich heute, auch an Dr. Webern, um ihm die Widmung meiner ‚Sex Carmina Alcaei‘ mitzuteilen. Nach einer solchen Arbeit gelingt es mir nicht viel zu machen, leider. Aber ich habe das Libretto für meine nächste Oper vorbereitet und ich hoffe, dass der Tag nicht ferne ist, um mit der Musik beginnen zu können. Ich danke Ihnen für 61 62
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Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 60. Die UE erfuhr in jenen Jahren, nachdem bereits 1938 die „Arisierung“ erfolgt war, aus politischen Gründen weitere Umstrukturierungen. Oktober 1941 wurde das gesamte Firmenvermögen an Dr. Johannes Petschull übertragen, der Firmenname der UE lautete nun „Universal-Edition Dr. Johannes Petschull“. Petschull beschlagnahmte in der Folge zahlreiche Druckplatten und führte sie in den Besitz des (ihm und dem Berliner Staatsrat Dr. Kurt Hermann gehörenden) Leipziger Verlages „C. F. Peters“ über. Siehe Martin Sima, Der österreichische Musikverlag im Zweiten Weltkrieg (Anm. 38), S. 127f. Das Konzert wurde am 5. Dezember 1943 von der Basler Sektion der IGNM veranstaltet. Auf dem Programm standen Weberns Opera 27, 23 (Uraufführung), 7, 11 sowie – „nach einer Ansprache von Willi Reich“ und einer Wiederholung der Opera 27, 7 und 11 – (abschließend) 3; vgl. Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes, Zürich 1980, S. 503.
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Ihr Interesse, das Sie an meiner Arbeit nehmen: was die Aufführung meines Ballettes betrifft, von der Sie mir schreiben, scheint es mir mehr als natürlich und ich kann es nicht einmal bedauern. Vielleicht wird die Zukunft mich von der Vereinsamung, in der ich seit Jahren gezwungen bin zu leben, lösen und ich hoffe sehr, dass ich auf Ihre Stütze und auf Ihre Freundschaft, die ich notwendig brauche, zählen kann. Natürlich wird nicht eine Note von mir in dieser Saison aufgeführt, um des lieben Friedens willen mit den Leitern unserer Konzertgesellschaften. Ich verstehe dies auch und finde es sogar richtig, glaube aber, dass die Tre Laudi demnächst in Brüssel aufgeführt werden. Das einzige Zeichen, dass ich noch lebe. Aber ich will Sie nicht länger mit meiner Melancholie langweilen, obwohl sie leider berechtigt ist. Wichtig ist nur, die Kraft zur Weiterarbeit zu finden. Augenblicklich wird die Suite meines Ballettes ‚Marsia‘ nicht herauskommen, aber Carisch versichert mir, dass die Veröffentlichung sofort nach Kriegsende erfolgen wird. Hoffen wir .... Mit besten Empfehlungen auch von meiner Frau an Ihre verehrte Frau Gemahlin Ihr ergebener Ich glaube es wird nicht möglich sein das Manuskript meiner ‚Sex Carmina Alcaei‘ an Dr. Webern zu senden. Vielleicht könnten Sie als Leiter eines Verlages mir einen Weg raten.“
Am 22. März 1944 antwortet Schlee: Lieber Freund, Ihren Brief vom 22. II. habe ich heute erhalten. Er wurde mir in die Berge nachgeschickt, wohin wir einen Teil der UE verlegt haben. Ich freue mich immer, wenn ich eine Nachricht von Ihnen bekomme. Trotz der Schwierigkeiten, die sich der Verlagsarbeit jetzt entgegenstellen, möchte ich doch gerne schon Pläne auf längere Sicht machen und Sie deshalb fragen, ob Sie in nächster Zeit einige Ihrer Werke der UE anvertrauen wollen. Es wäre doch sehr schön, mit dem Herrn Dr. Webern gewidmeten opus den Anfang zu machen. Vielleicht könnte man dann auch die Oper folgen lassen. In Bezug auf die Aufführungsmöglichkeiten von Opern bin ich zwar etwas skeptisch geworden. Die mir befreundeten Komponisten haben daher in letzter Zeit solche Stoffe bevorzugt, deren Aufführung nicht an ein modernes Theater mit grosser Maschinerie und szenischem Aufbau gebunden ist. Wir werden wohl gezwungen sein in vielen Fällen Aufführungen in Räumen zu veranstalten, die nicht als Theater gebaut sind und solche Stücke, die diese Möglichkeiten berücksichtigen, haben die meisten Chancen. Dabei ist es nicht nötig in Bezug auf den musikalischen Schwierigkeitsgrad Konzessionen zu machen. Die Musiker und Sänger werden zwar vielleicht in der Zahl beschränkt sein, ihre Qualität braucht darunter aber nicht zu leiden. Wir bräuchten also Stücke von der Gattung der Geschichte des Soldaten. Stücke, die man eben in jedem Saal aufführen kann. In künstlerischer Hinsicht verspreche ich mir von dieser Entwicklung sogar einen grossen Aufschwung, da das Theater viel mehr als in den letzten Jahren wieder auf die Persönlichkeit des Darstellers gestellt sein wird.
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Lässt Ihr Libretto eine solche Ausarbeitung zu ? Ich würde mich freuen, wenn Sie es mir gelegentlich schicken würden. Carisch schrieb uns vor einiger Zeit, dass er die Möglichkeit habe, uns Musikmaterial zuzusenden. Doch ist bisher noch keines der angekündigten Exemplare eingetroffen. Ich werde wahrscheinlich im Frühjahr Sacher und Reinhart sehen. Ich werde mit beiden gerne neuerlich über Ihre Arbeit sprechen. Welche Werke soll ich ihnen besonders nahe legen ? Haben Sie irgend etwas von Milloss oder Petrassi gehört? Ich habe von Beiden seit einem halben Jahr keinerlei Nachricht. Viele herzliche Grüsse [Schlee]
Dallapiccola bekräftigt in seiner Antwort vom 15. April 1944 (typ., it.; dt. Übersetzung in der UE), daß er seit Jahren den Ehrgeiz hätte, in der Universal-Edition verlegt zu werden, und dies insbesondere jetzt, „wo ich mich mehr denn je einsam fühle“. Wegen der Sex Carmina Alcaei könne er leider „aus finanziellen Bedenken“ nicht so einfach zusagen. Er habe in diesem „tragischen Jahr“ weder ein Konzert gegeben noch einen Vortrag gehalten und auch nicht „die geringste Einnahme aus Autorenrechten“ gehabt und bitte deshalb um „einen Vorschlag in dieser Hinsicht“. Weitere Bitten schließen sich an: „Meine künftige Oper in einem Akt ist keine Kammeroper. Auch mir wäre es erwünscht, wenn Sie das Buch kennen lernen könnten, aber heute macht dies grosse Schwierigkeit. Könnten Sie nicht auf Ihrer Rückreise aus der Schweiz einen kurzen Aufenthalt in Italien machen, vielleicht bei Carisch? Ich würde dann trachten, dass Sie dort eine maschinschriftliche Kopie des Buches vorfinden. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für die mir angebotene Hilfe bei Maestro Sacher und Dr. Reinhardt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den beiden irgendein Werk von mir für eine Aufführung suggerieren wollten. Insbesondere die ‚Canti di prigionia‘ und die ‚Sex Carmina Alcaei‘; aber in Winterthur, wo von mir noch keine Note aufgeführt wurde, kämen auch die ‚Cinque Frammenti di Saffo‘ oder das ‚Piccolo Concerto per Muriel Couvreux‘ sehr gut in Betracht. Von meinen Kollegen in Rom habe ich keinerlei Nachricht, und, um die Wahrheit zu sagen, ich habe sie auch nicht gesucht. Milloss hat mir kürzlich einen langen Brief geschrieben: Er ist voll Vertrauen in seine Arbeit und voll Hoffnung, eines Tages ‚Marsia‘ tanzen zu können .... Aber wann?“
Die späte Kriegszeit sowie die Wirren der frühen Nachkriegszeit unterbrachen die Verbindung zwischen Dallapiccola und der Universal-Edition, doch bereits am 5. Februar 1946 trat der Komponist dem Verlag das Urheberrecht für Ciaccona Intermezzo e Adagio für Cello solo (Universal-Edition Nr. 11686) ab. Dallapiccola hatte im Sommer 1945 über Auftrag des berühmten Cellisten Gaspar Cassadó (der in Florenz lebte) mit der Komposition begonnen, diese laut Anmerkung am Ende des Druckes („settembre 1945 DEO GRATIAS“) sehr schnell vollendet und der Edition Suvini Zerboni gegenüber geäußert, daß er das Werk in der UE verlegen werde, um eine „alte Dankesschuld gegenüber Alfred Schlee“ (in Bezug auf Volo di notte) abzu-
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tragen: „Es handelt sich um eine alte Rechnung, die Dr. Göbbels noch zu begleichen hat.“64 Drei Wochen nach dem Vertrag mit der UE, am 26. Februar 1946, brachte Cassadó das Werk, das sehr schnell populär wurde, im Mailänder „Teatro Nuovo“ zur Uraufführung.65 Am 6. Mai 1946 berichtete der Wiener Kurier: „Der berühmte italienische Komponist Dallapiccola hat ein C a s a l s [sic!] gewidmetes Werk für Cello-Solo fertiggestellt, das demnächst im Verlag der Universal-Edition Wien erscheinen wird. Ebenso wird noch in diesem Jahr Alfredo Casellas ,Missa solemnis pro Pace‘ in der Universal-Edition erscheinen.“
Die Drucklegung erfolgte dann im Oktober 1947, das Vorwort von Cassadó ist mit „Firenze, ottobre 1945“ datiert. Mittlerweile hatte Alfred Schlee dem Schweizer Dirigenten und Mäzen Paul Sacher am 27. März 1946 von Dallapiccolas mißlicher Lage berichtet: Lieber Herr Sacher ! Ich habe von Dallapiccola schon einige Briefe bekommen aus denen hervor geht, dass er mit den allergrössten Ernährungssorgen kämpft. Sollte es eine Möglichkeit geben, von der Schweiz Liebesgabenpakete nach Italien zu senden, so wie es nach Oesterreich und Deutschland möglich ist, wäre ich Ihnen ganz besonders dankbar, wenn Sie sich Dallapicollas [!] annehmen wollten. Vielleicht gibt es auch noch einige andere Freunde in der Schweiz, die helfen könnten.66
Sacher erkundigte sich dann am 8. November bei Schlee, ob „das Stück für CelloSolo von Dallapiccola fertig“ sei. „Es würde mich für die IGNM Basel sehr interessieren [...].“ Schlee mußte am 18. November verneinen, „da die zweite Korrektur auf dem Weg zum Autor verlorengegangen ist. Wenn Sie es dringend brauchen, könnten wir Ihnen ein Korrekturexemplar senden.“ Doch zehn Tage später antwortete Sacher, daß die Sache nicht so eilig sei. – Nach der Drucklegung von Ciaccona Intermezzo e Adagio bedankte sich Dallapiccola am 30. Oktober 1947 überschwenglich bei Schlee: Lieber Herr Schlee, lieber Freund ! Mit Freude habe ich die 5 Exemplare der CIACCONA INTERMEZZO & ADAGIO, die Sie mir gesandt haben, erhalten und sage Ihnen gleich, dass ich ausserordentlich zufrieden bin mit der Ausgabe, nach allen Gesichtspunkten hin 64 65
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Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 82. Die im Archiv des ORF befindlichen Karteikarten der RAVAG (heute Österreichischer Rundfunk) weisen „Ciaccona – Intermezzo – Adagio“ erstmals am 6. Jänner 1950 aus, und zwar als Aufnahme mit Gaspar Cassadó, der das Werk an jenem Tag im Konzerthaus aufführte (s. u.). Ein Sendetermin ist in den Karteikarten nicht angegeben. Die erste Aufnahme eines Werkes von Dallapiccola fand am 8. Oktober 1949 statt; Lydia Stix sang Rencesvals. Auch hier ist kein Sendetermin angegeben. Der Autor dankt Herrn Mag. Hannes Heher für Auskünfte und Unterstützung bei der Benützung des Archivs des Österreichischen Rundfunks. Bezüglich Dallapiccolas finanzieller Notlage in der ersten Nachkriegszeit vgl. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 80. Am 23. Juli 1946 bot Schlee zudem Dr. Heinrich Kralik vom Österreichischen Rundfunk Dallapiccolas „Le laudi“ [!] für ein eventuelles Radiokonzert der Sängerin Ginevra Vivante an, die „etwa Mitte Oktober“ in Wien „bei der Kulturvereinigung einen Liederabend geben wird. [...] Termin womöglich 15. Oktober oder in unmittelbarer Nähe davon.“
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(Papier, Druck etz. [!]) nicht ausgenommen das Titelblatt, das mit viel Geschmack hergestellt ist. (Wer ist der Verfasser ?) Ich danke Ihnen sehr und hoffe sehr, dass ich Ihnen in Zukunft andere Werke senden kann. Ich habe keine [eingefügt: Druck] Fehler in der Musik gefunden. Ich glaube, dass Cassado die Absicht hat einige Fingersätze abzuändern und er wird Ihnen seinerzeit noch diesbezüglich schreiben, weil er jetzt auf 3 Monate auf Konzertreisen in Nordeuropa ist. Bei dieser Gelegenheit wird er Sie auch bitten, Exemplare dieser meiner Arbeit an prominente Cellisten wie Casals, Piatigorsky, Fournier etz. [!] zu senden, ich glaube im ganzen 8–10 Exemplare. Einige Fehler habe ich im Vorwort gefunden. Im Italienischen sagt man für Vorwort Prefazione und nicht Preface. In der 6. Zeile steht collandanto und muss in collaudato korrigiert werden. In der 7. Zeile steht specifiche anstatt spezifiche In der 13. Zeile steht appoggiare mit 2 g anstatt appogiare In der französ. Übersetzung des Vorwortes in der vorletzten Zeile muss es heissen si bém anstatt si b-moll. Was die deutsche Übersetzung betrifft so verlasse ich mich vollständig auf Sie, nur in der letzten Zeile würde ich für das Wort erniedrigt „verschleiert“ vorziehen. Vielleicht irre ich mich aber. Endlich konnte ich mit der Partitur von „Il Prigioniero“ beginnen und fürchte, dass es bis zum Frühjahr dauern wird ..... Cassado glaubt, dass er meine Arbeit in Rom am 6. Jänner, in London Ende Jänner und in Zürich aufführen wird. Ich habe verschiedene Aufführungen meiner Werke überall nur nicht in Florenz. Aber vielleicht ist es besser so. Hat Ihnen Collaer jemals geschrieben, dass man „Volo di notte“ in Brüssel geben will ? Herzliche Grüsse, auch an Ihre liebe Frau Ihr ergebener67
Eine erste Rezension des Werkes erschien Jänner 1948 in der Österreichischen Musikzeitschrift: „LUIGI DALLAPICCOLA: Ciaccona, Intermezzo e Adagio per Violoncello solo. Verlag: Universal-Edition, Wien. Diese drei Stücke für Cello allein sind durch ihre radikale Tonsprache nicht nur als Musik neu, sondern stellen den Cellisten überdies vor eine Menge neuer 67
Diese deutsche Übersetzung des Briefes ist im Archiv der UE im Verband eines Korrekturexemplares des Werkes von der Hand Gaspar Cassadós überliefert, das Original scheint verloren. Handschriftlich hinzugefügt wurden im Verlag die Bemerkungen „Korr. dem [?] Exemplar angelegt 12. 11. 47“ sowie „Bei Neudruck auch ein Vermerk, dass Titelzeichnung von [Platz für den Vornamen] Steinwendner“. Dieses „exemplar [!] mit Korrekturen Cassadós“, das den mit 23. Februar 1984 datierten Vermerk „Vorwort korr. / Korr. in den Noten nicht notwendig“ trägt, ist von hohem Interesse. Denn hier erscheint ebenfalls „Preface“ in „Prefazione“ korrigiert, weiters „collandati“ in „collaudati“, „specifiche“ in „spezifiche“, „appogiare“ in „appoggiare“ [!], „erniedrigt“ in „verschleiert“, sowie im frz. Vorwort „Firenze“ in „Florence“, „s’attaque“ in „s’attache“, „en face de différents“ in „en face á différents“ sowie „si b-moll“ in „si bemolle“. Weiters ist die Widmung „a Gaspar Cassadó“ ergänzt. Offensichtlich wurden also im Verlag auch Korrekturen Dallapiccolas eingetragen. Die (zahlreichen) Ergänzungen von Spielanweisungen, Artikulationen und Fingersätzen müssen hier unberücksichtigt bleiben.
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spieltechnischer Probleme. Deren richtige Lösung zu gewährleisten, hat Gaspar Cassadó das Werk (es ist ihm gewidmet) im Einvernehmen mit dem Komponisten genau bezeichnet (mit Fingersätzen, Bogenstrichen und anderen Ausführungsvorschriften) und auch mit einem Vorwort versehen. Jeder junge, moderne Cellist wird sich mit dem Werk auseinandersetzen müssen, wie auch immer er sich nach seiner Bewältigung dem DEO GRATIAS, das der Komponist an den Schluß schrieb, anschließen mag.“68
Die Drucklegung der Ciaccona durch die UE rief bei Komponistenkollegen Dallapiccolas offensichtlich Unwillen hervor. Jedenfalls schrieb Gian Francesco Malipiero (hs., dt.) aus Venedig an die UE (wohl an Dr. Schlee): Mein lieber Feind [!], ich habe etwas merkwürdiges gesehen: eine U. E. Ausgabe von einem Stück (für Cello) von Luigi Dallapiccola bei Ihnen erschienen. Sehr schöne Ausgabe. Ich gratuliere. Sie wissen, nur wegen die [!] Ausgaben (Druck, Papier) und Orchesterstimmen (kleine Partitur gestochen) bin ich nicht in Ihre Arme gefallen. Nun ? Denken Sie nach diesem Fragen Zeichen [!], das was Sie wollen. Ich hoffe dass Sie nach Asolo [Treviso/Venetien] kommen werden. Ich weiss es, Sie wae ren in Rom am Ende des Jahres; ist es wahr dass Sie meine V Symphonie gehört haben ? Haben Sie “Pfui„ [!] dazu gesagt ? An Ihre Frau Gemahlin meine Empfehlungen, Ihnen viele Grüsse. G. Francesco Malipiero Venezia 14. II. 1948 = Santo Stefano 2810 = e Die V Symphonie wird auch in Amsterdam (S.I.M.C.) gespielt.
Im Spätherbst 1938, vor den Verhandlungen um eine mögliche Uraufführung in Braunschweig (s. o.), hatte Dallapiccola den in Florenz wohnenden Dr. Felix Lederer um eine Übersetzung des Textes von Volo di notte ins Deutsche gebeten und die UE nun offensichtlich wieder daran erinnert. Jedenfalls bat der Verlag am 26. April 1948 Lederer, ihr „möglichst bald sowohl die Uebersetzung als auch die szenischen Bemerkungen zu DALLAPICCOLA’s ,Volo di notte‘ [zu] senden“. Lederer sollte dem Verlag zudem seine „Bedingungen“ mitteilen, „zu denen Sie uns Ihre Arbeit überlassen wollen“. Lederer bestätigte am 5. Mai das Schreiben, dem er entnahm, „dass Sie sich für meine rhythmische Übersetzung des ,Volo di notte‘ von Dallapiccola interessieren. Leider besitze ich kein maschinengeschriebenes Exemplar dieser Arbeit, da ich die Arbeit seinerzeit für Mo Dallapiccola persönlich direkt in den Klavierauszug eingetragen habe. Sie werden verstehen, dass ich nach nunmehr neun Jahren die Arbeit einer erneuten Durchsicht unterziehen möchte. Falls es nun für Sie nicht möglich oder nicht erwünscht wäre, mir den Klavierauszug mit der Übersetzung, den Ihnen Mo Dallapiccola zur Verfügung gestellt hat, auf kurze Zeit zu überlassen, könnte man es eventuell so machen, dass Sie 68
Österreichische Musikzeitschrift 3/1 (Jänner 1948), S. 26; der Autor zeichnet mit „K. T.“ [Konrad Thomasberger].
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mir dort eine genaue Maschinen-Kopie der Übersetzung anfertigen lassen und mir zusenden [...].“
Schließlich übermittelt Lederer seine finanziellen Vorstellungen, über die bald Einigung erzielt wird, sodaß die UE bei der Nationalbank um die Ueberweisung des „Uebersetzunghonorars“ einreicht und sich am 9. Juli 1948 befriedigt zeigt, „dass wir so rasch zu einer einvernehmlichen und im Interesse des Werkes günstigen Lösung gekommen sind. Ihrem Wunsche, auf dem inneren Titelblatt auf die von Ihnen vorgenommene rhythmische Uebersetzung hinzuweisen, werden wir gerne entsprechen und erwarten nun die Einsendung der fertigen Uebersetzung.“
Am 30. Juli 1948 berichtete Lederer dann aus Florenz, „die fertige Übersetzung [...] Herrn Dr. Schlee hier persönlich eingehändigt (Klavierauszug und maschinengeschriebenes Exemplar)“ zu haben. „Wegen der Namensnennung auf dem Titelblatt wäre es vielleicht gut, meinen Dr. und in Klammern: Florenz anzugeben, weil mein Vater, der Professor an der Hochschule für Musik zu Berlin ist, genau denselben Vornamen hat wie ich [...].“ – Schließlich übertrug Dallapiccola der UE am 13. Oktober 1948 die Rechte an der deutschen Fassung der einaktigen Oper Volo di notte (UE 11902/3) nach Vol de nuit von Antoine de Saint-Exupery.69 Dallapiccola und Anton Webern Einen ersten, allerdings nur sehr indirekten Kontakt Dallapiccolas mit Anton Webern gab es im Zuge seiner Bewerbung um den „Emil-Hertzka-Preis“ 1934, dessen Jury ihm für seine Rhapsodie für Kammerorchester eine „auszuzeichnende Anerkennung“ aussprach (siehe oben). Der Jury gehörte neben Julius Bittner, Heinrich Jalowetz, Ernst Krenek, Franz Schmidt, Erwin Stein und Egon Wellesz auch Anton Webern an. Mit Weberns Musik kam Dallapiccola am 5. September 1935 in Prag in Berührung, als im Rahmen des XIII. IGNM-Festes das Konzert, op. 24, erklang, ein laut Dallapiccola „Werk von unwahrscheinlicher Kürze (sechs Minuten Musik) und von einzigartiger Konzentration. Jedes dekorative Element ist ausgeschaltet. [...]. Ich war nicht imstande, mir ein genaues Bild von dieser Arbeit zu machen; sie war für mich zu schwierig, doch daß sie trotzdem eine Welt bedeutet, scheint mir außer Zweifel. Wir sehen uns einem Künstler gegenüber, der ein Höchstmaß an Ideen mit einem Mindestmaß an Worten ausdrückt. Obwohl ich das Werk nicht gut verstanden hatte, glaubte ich darin eine ästhetische und stilistische Einheitlichkeit wahrzunehmen, wie ich sie größer nicht hätte wünschen können. [...]. Ich
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Das Honorar für die Übersetzung erhielt Lederer dann erst nach einem umständlichen, mit der Nationalbank abzuwickelnden Genehmigungsverfahren.
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habe nicht das ganze Programm dieses Abends gehört. Webern zwingt mich zum Nachdenken.“70
Am 17. Juni 1938 hörte Dallapiccola dann im Eröffnungskonzert des Londoner IGNM-Festivals die Uraufführung von Weberns Kantate Das Augenlicht, op. 26, unter der Leitung von Hermann Scherchen. Und wieder war der Eindruck ein exzeptioneller: „Weberns Musik ist zu neu, um beim bloßen Lesen alle Eigenheiten ihrer Klangfarbe zu enthüllen. Und der Wunsch, das Werk eines mir zu wenig bekannten Künstlers näher kennenzulernen, war ja einer der Gründe, die mich zu dieser Reise bestimmten. Um Das Augenlicht hören zu können, war es der Mühe wert, durch das grüne Frankreich und, von Möwen umschwirrt, über den Ärmelkanal zu fahren. [...] Anton Webern ist eine isolierte Erscheinung, die keiner anderen gleicht. Er ist ganz verschieden von Arnold Schönberg, seinem Lehrer, verschieden auch von Alban Berg, der ihm Freund und Bruder war. Man braucht sich nur diese Verschiedenheit vor Augen zu halten, um zu schließen, daß das Zwölftonsystem nicht die Sackgasse sein kann, die so viele darin erblicken wollen; [...] vielmehr eine Sprache, die sehr differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten in sich birgt – und vielleicht werden nicht wir es sein, die ihre Ergebnisse sehen. Was in Das Augenlicht beim ersten, leider einmaligen Hören zunächst überrascht, ist die Qualität des Klangs. Die asketische Partitur, die beim Lesen tausend problematische Stellen zu bieten scheint, wäre allein genug, um die Grundlosigkeit soundso vieler Regeln aufzuzeigen, die unsere Lehrbücher der Instrumentierung sich sozusagen auf dem Erbwege weitergereicht haben. Ich denke da in erster Linie an die fast abergläubische Furcht, die ihre Verfasser vor der Gefahr jenes Nachlassens in der Partitur empfinden, das in der Fachsprache als ‚Löcher‘ bezeichnet wird. [...] Webern zeigt uns, wie – auch wenn er nicht eigentlich im streng kontrapunktischen Sinn verfährt – zwei Töne der Celesta oder ein leises Anschlagen des Glockenspiels oder ein kaum hörbares Tremolo der Mandoline genug sein kann, um Abgründe miteinander zu vereinen, die auf den ersten Blick durch unüberbrückbare Entfernungen getrennt schienen. Die Orchester-Besetzung ist aufs Wesentliche beschränkt. [...] Das Augenlicht offenbart beim Hören eine Fülle poetischer Harmonie. Stimmen und Orchester, oft sehr weit von einander entfernt, setzen ihre Klangebenen gegeneinander. Die Partitur scheint sich durch jene geheimnisvollen Schwingungen zu bereichern, die eine Wiedergabe unter einer Glasglocke ihr verleihen würde. Der musikalische Aufbau besitzt einen inneren Rhythmus, der nichts mit dem mechanischen Rhythmus zu tun hat. Gewisse Feinheiten der Orchestrierung würden eine Behandlung für sich verdienen; so z. B. zu beobachten, wie 70
Luigi Dallpiccola, Incontro con Webern, in: Il Mondo: lettere scienzi arti musica 1/15 (3 novembre 1945), S. 12ff.; autorisierte deutsche Teilübersetzung: Begegnung mit Anton Webern, in: Melos 32/4 (April 1965), S. 115–117, hier S. 115. Französische Übersetzung als Rencontre avec Anton Webern – Pages de journal, in: Schweizerische Musikzeitung, Sondernummer Luigi Dallapiccola (Juli–August 1975), S. 165–168. Siehe auch den Beitrag von Peter Andraschke, S. 171ff.
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Webern soviel wie möglich jenes brüske Zurückrufen in die Wirklichkeit vermeidet, das durch das Hervorheben der Tonstärke entsteht und das hier unvermeidlich die traumhafte Atmosphäre zerreißen würde, die diese hochpoetische Komposition erfüllt. Im Augenblick stellt der Klang die größte Bereicherung dar, die diese Arbeit mir gegeben hat: Ein Klang, der allein genügen würde, um mich in Das Augenlicht eines der grundlegenden Werke unserer Zeit sehen zu lassen. Und ganz besonders sollte man von den Musikalischen Anspielungen sprechen, die gleich allerfernsten harmonischen Tönen aus der dodekaphonischen Serie und ihren Entwicklungen zu entspringen scheinen.“71
Als Dallapiccola dann am 1. März 1942 im Zuge einer Reise nach Budapest in Wien Station machte (siehe oben), könnte im Gespräch mit Schlee die Idee zu einem Treffen mit Webern auf der Rückreise aufgekommen sein. Jedenfalls blieb Dallapiccola vom 7. März abends bis (wahrscheinlich) 10. März in Wien, wo es am 9. März 1942 im Haus von Alfred Schlee zu jener denkwürdigen Begegnung der beiden Komponisten kam. Man sprach laut Schlee „über die Entwicklung der europäischen Musik“. Dabei war „die Sicherheit, die Webern für die Zukunft des Schönberg-Kreises bekundete“, offensichtlich „ebenso frappierend wie die bescheidene Einfachheit, mit der er sie als nicht diskutierbare Selbstverständlichkeit zum Ausdruck brachte“72.
Dallapiccola erinnerte sich in seinem Tagebuch ganz genau: „Ein Aufenthalt von zwölf oder vierzehn Stunden in dieser ausgestorbenen Stadt ist unvermeidlich, wenn man aus Ungarn nach Italien zurückfährt (zwei polizeiliche Kontrollen sind obligatorisch). Doch ich freue mich darüber, denn heute abend habe ich im Hause Schlee Gelegenheit gehabt, Anton Webern die Hand zu drücken. Ein Mystiker, ein kleines Männchen, das mit etwas österreichischem Tonfall spricht, sanft, aber zu Zornausbrüchen fähig und so herzlich, daß er mich wie seinesgleichen behandelte (‚unsere gemeinsame Verantwortung‘, sagte er). Ohne alle Scheu, rückhaltlos redet man vom Krieg. Das ist jetzt in allen Ländern das vordringlichste Thema. Und wir verstehen uns leicht. Auf welcher Seite der Barrikade wir uns befinden, steht uns auf der Stirn geschrieben. [...] Aber wir sprechen auch über Musik. Da Webern den immensen Erfolg von Das Augenlicht in London nicht selbst miterlebt hat, erzähle ich ihm von dem Eindruck, den das Werk damals auf mich gemacht hat. Und er fragt gleich: ‚Auch einen Klangeindruck?‘ (der Klang ! Ich hatte richtig verstanden). Wir erörtern Probleme des Orchesterklangs, und der feine Sucher (den die Geschichte schon wegen seiner machtvollen Beiträge zur Bildung einer neuen Tonsprache nicht wird ignorieren
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Ebenda (Melos), S. 115f. Für die Zeitschrift La Rassegna Musicale 12 (1939), S. 363ff., verfaßte Dallapiccola dann Rezensionen über Das Augenlicht, die Variationen für Klavier, op. 27, und das Streichquartett, op. 28. Vgl. Dietrich Kämper, Dallapiccola und der Schönberg-Kreis (Anm. 2), S. 86. Aus dem Nachruf von Alfred Schlee auf Luigi Dallapiccola (siehe S. 123f.).
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können) erklärt: ‚Ein Akkord von drei Trompeten oder vier Hörnern ist für mich nunmehr unvorstellbar.‘ Gelegentlich fällt der Name von Kurt Weill. Und Webern explodiert plötzlich. Er streckt den Zeigefinger gegen mich aus (aber ich war es nicht, der den Namen eines ihm nicht genehmen Komponisten vor ihm genannt hat) und stellt mir die unumwundene Frage: ‚Was finden Sie in einem solchen Musiker noch von unserer großen mitteleuropäischen Tradition, der Tradition, die Namen wie (und hier zählt er sie an den Fingern auf) Schubert, Brahms, Wolf, Mahler, Schönberg und den meinen umfaßt?‘ Ich bin verlegen. Nicht daß eine Antwort nicht möglich gewesen wäre; doch was mich verwirrt, ist, daß Webern das Wort ‚Tradition‘ gebraucht hat, ein Ausdruck, von dem ich – nach meiner Kenntnis der Variationen op. 27, der Kantate Das Augenlicht und, wenn auch nur ein einziges Mal gehört, des Konzerts op. 24 – angenommen hätte, daß er keinen Platz in Weberns Wortschatz fände. Aber nicht nur das – daß er sich als Sohn der Tradition betrachtet, d. h., daß er an die Kontinuität der Ausdrucksweise glaubt ! Und daß er endlich verrät, was ihn von Kurt Weill trenne, seien keine ästhetischen oder Geschmacksfragen, sondern allein die Tatsache, daß Weill die mitteleuropäische Tradition verworfen habe. Webern hat mir großen Eindruck gemacht, auch als Mensch. Und ich denke an das, was Theodor W. Adorno vor Jahren über ihn geschrieben hat – daß der Angriff, den Schönbergs Konstruktivismus wider die vermauerten Tore der musikalischen Objektivität begann, in Weberns Liedern op. 14 und op. 15 nur noch ein Zittern ist, das aus weiter Ferne zu uns dringt. Es ist die einsame Seele, die vor den vermauerten Toren zittert und am Glauben sich hält: nichts sonst blieb ihr. * (Was mir 1942 unverständlich erschien, ist heute allen klar, die mit Anton Weberns Werk vertraut sind. Ohne alle Anstrengung sehen wir, wieviel er der Tradition, dem ‚Ländler‘ verdankt; und wenn man die erste Seite der Symphonie op. 21 als ‚Transparenz‘ hören will, wird es nicht zu schwer sein zu bemerken, daß sie trotz aller Verschiedenheit als eine letzte Erinnerung an den Anfang der vierten Brahms-Symphonie betrachtet werden kann.)“73
Auf seiner Rückreise empfahl Dallapiccola dem Intendanten des Festivals von Venedig, Mario Corti, in den Konzerten des Herbstes 1942 Webern selbst seine Passacaglia, op. 1, oder die Sechs Orchesterstücke, op. 6, dirigieren zu lassen, wozu es dann aber nicht kam, da die Konzerte angesichts der Kriegswirren abgesagt wurden (siehe oben). Am 1. April 1942 schreibt Schlee an Dallapiccola, daß Webern gerne „einige Arbeiten von Ihnen durchgesehen“ hätte, worauf dieser die Canti di prigionia übersenden läßt. Weberns Antwort vom 3. Juni 1942 läßt deutlich dessen große Wertschätzung für den jungen italienischen Kollegen erkennen:
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Luigi Dallapiccola, Begegnung mit Anton Webern (wie Anm. 70), S. 116f. Siehe auch die Beiträge von Peter Andraschke, S. 171–192, und Manfred Permoser, S. 127–136.
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Dr. Anton Webern MARIA ENZERSDORF Wien XXIV. Im Auholz Nr. 8 Lieber Herr Dallapiccola, über Ihr freundliches Schreiben habe ich mich außerordentlich gefreut ! Gern hätte ich Ihnen umgehend geantwortet, doch wollte ich das Einlangen Ihrer Partituren abwarten. Sie sind indessen eingetroffen und ohne Aufschub bin ich daran gegangen, sie zu studieren. Nun möchte ich sagen: seien Sie versichert, dass mir im ersten Augenblick unserer Begegnung klar geworden war, welche Welt sich mir hier eröffnen würde. Mag auch Ihre Art der Darstellung von der meinen recht verschieden sein, die Gedankenkreise liegen doch, so fühle ich es, ganz nahe beisammen. In diesem Sinne haben wir wohl einen gemeinsamen Weg. Es beglückt mich, dies aussprechen zu können. Dass Sie in Ihrer Widmung unserer ersten Begegnung gedachten, dafür danke ich Ihnen herzlichst und hoffe, bald Gelegenheit zu haben, Ihre große Freundlichkeit zu erwidern. Schön wäre es, wen wir uns in Venedig wiedersehen könnten. Bis heute habe ich noch keine Nachricht von dort. Doch: selbst wenn Ihr schöner Plan keine Verwirklichung finden sollte, so hat mir Ihre Initiative, die ich bewundere, schon Freude genug gebracht. Ich werde Sie sogleich verständigen, falls Nachricht aus Venedig gekommen sein sollte und verbleibe mit den herzlichsten Grüßen Ihr aufrichtiger Anton Webern 3. VI. 194274
Anfang April 1943 entdeckt Dallapiccola in dem von Andrea Della Corte und Guido Pannain herausgegebenen „Musiklexikon“75 deren völliges Unvermögen, Weberns Konzert, op. 24, zu verstehen und seiner Bedeutung entsprechend zu würdigen, und schreibt am 5. April die folgende Notiz nieder: „Audiatur et altera pars. Das Konzert op. 24 von Webern hatte mir durch jene Besonderheit Eindruck gemacht, die ich nicht anders als durch das Wort Konzentration kennzeichnen konnte. Jetzt lese ich im Musiklexikon von Della Corte und Pannain: ‚... es ist die vollständigste Auflösung und Verneinung der Aus74
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Siehe Luigi Dallapiccola, Saggi, testimonianze, carteggio, biografia e bibliografia, a cura di Fiamma Nicolodi, Milano 1975, S. 83f. Die Schreibweisen wurden hier gemäß dem Original (Fondo Dallapiccola, Archivio Contemporaneo del Gabinetto G.P. Vieusseux, Firenze) korrigiert. Eine Kopie konnte bei der „Wiener Arbeitsstelle Anton-Webern-Gesamtausgabe“ an der Kommission für Musikforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Kopie eingesehen werden. Am Kopf des Briefes (rechts) waren Name und Adresse aufgestempelt (Namensstempel), wobei Webern „XXIV.“ hs. hinzufügte und das Wort „bei“ vor „Wien“ strich, da „Maria Enzersdorf bei Wien“ mit Wirkung vom 15. Oktober 1938 der Stadt Wien als „XXIV. Bezirk“ eingemeindet wurde (und dies, vor allem über Wunsch der sowjetischen Besatzungsmacht, bis 1954 blieb). Wahrscheinlich handelt es sich hier um die von Andrea della Corte und Guido Pannain verfaßte Storia della musica, Torino 1936, bzw. deren 2. Auflage („molto ampliata“), Torino 1942.
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druckselemente der Form. Die extremsten Beispiele dieser Art zu jeder Vitalität und Zukunft unfähigen Musik kommen uns von Anton Webern.‘ Bei dieser Gelegenheit kann ich es mir nicht versagen, auch die Definition anzuführen, die Schönberg in bezug auf die Gedrängtheit der Werke seines ersten Schülers gegeben hat: ‚Ein Roman in einem Ausatmen.‘ “76
In unserem Zusammenhang von Interesse ist auch ein Briefverkehr zwischen der UE und dem Mailänder Verleger Ferdinando Ballo, der über Vermittlung Dallapiccolas zustandekam. Ballo berief sich in einem Brief vom „4 Febbraio 1943 XXIo“ an Schlee darauf, daß Dallapiccola ja bereits berichtet hätte, daß er, Ballo, gerne seine Verlags-Programme in Editionen der UE präsentieren würde: „Ich selbst werde Ihnen eine Publikation schicken, in welcher die zukünftigen Aktivitäten meines Hauses angekündigt sind. Aus diesem Grund ersuche ich Sie: Ich möchte in einem kleinen Buch die sechs Vorträge veröffentlichen, die Webern 1930 gehalten hat, und vielleicht würde sie Dallapiccola selbst übersetzen. Ich ersuche deshalb um die Erlaubnis für die Veröffentlichung und Übersetzung, gleichzeitig möchte ich die Kosten wissen und ob ich den Text bereits haben könnte – so könnte ich ihn schon lesen.“77
Am 5. April erinnert Ballo an sein Schreiben vom 2. Februar, worauf Schlee nun am 16. April 1943 (typ., it.) antwortet: „Wir haben leider nur Ihren Brief vom 5. 4. bekommen. Wir müssen Sie leider davon informieren – wie wir auch schon an Dallapiccola geschrieben haben – daß wir Ihnen die Vorträge Weberns über moderne Musik nicht zur Verfügung stellen können, weil diese nicht geschrieben sind. Und Webern hat im Moment keine Zeit, diese Arbeit zu machen, aber ich hoffe, daß er es später machen kann.“
Am 31. August 1943 kündigt Dallapiccola dann an, daß er (offensichtlich angesichts des bevorstehenden 60. Geburtstages von Anton Webern) eine seiner „neueren Kompositionen Webern widmen“ wolle. Schlee antwortet spät, und zwar erst am 76
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Dallapiccola, Begegnung mit Webern (Anm. 70), S. 117. Dallapiccola meint hier das Vorwort Schönbergs zu Weberns Sechs Bagatellen für Streichquartett, op. 9, wo es (richtig) heißt: „[...] Man bedenke, welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich so kurz zu fassen. Jeder Blick läßt sich zu einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber: einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken: solche Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt. | Diese Stücke wird nur verstehen, wer dem Glauben angehört, daß sich durch Töne etwas nur durch Töne Sagbares ausdrücken läßt. [...].“ (ASSV Nr. 5.1.4.4.) Das von Julia Bungardt und Nikolaus Urbanek unter Mitarbeit von Eike Feß, Hartmut Krones, Therese Muxeneder und Manuel Strauß erstellte Verzeichnis sämtlicher Schriften Arnold Schönbergs (Arnold-Schönberg-SchriftenVerzeichnis, ASSV) befindet sich auf den Seiten 331–568 in folgendem Band: Hartmut Krones (Hg.), Arnold Schönberg in seinen Schriften. Verzeichnis – Fragen – Editorisches (= Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg, Bd. 3), Wien–Köln–Weimar 2011. Weberns Vortragsreihen, die er Jänner bis März 1932 über „Der Weg zur Komposition in 12 Tönen“ sowie Februar bis April 1933 über „Der Weg zur Neuen Musik“ gehalten hat, wurden dann 1960 von Willi Reich in der Universal Edition herausgegeben: Anton Webern, Der Weg zur neuen Musik, Wien 1960.
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22. Februar 1944, daß er Webern zunächst noch nichts davon gesagt habe, doch wüßte er „ganz genau, dass er sich über die Widmung ganz besonders freuen würde. Ich werde ihm nun doch bei nächster Gelegenheit Mitteilung davon machen, da ich nicht weiss, ob Sie ihn im Augenblick selbst verständigen können.“
Und er berichtet von jenem Geburtstagskonzert für Webern in Basel anläßlich von dessen 60. Geburtstag.78 – Inzwischen hatte Dallapiccola am 3. Dezember 1943 folgende Zeilen notiert: „Heute wird Anton Webern sechzig Jahre alt. ‚Eine einsame Seele, die sich am Glauben hält...‘ In Florenz, wie übrigens nunmehr in allen italienischen Städten, nimmt die Verfolgung ein beängstigendes Tempo an. Auch ich fühle mich heute mehr denn je als eine einsame Seele... Ich sagte, ich würde dem Meister meiner Carmina Alcaei, die ich nach dem Kriegsende übergeben will, mit dem Zagen widmen, das wohl kennt, wer ein eigenes Werk dem Urteil eines Mannes unterbreitet, der so viel mehr ist als er.“79
Am 22. Februar 1944 schreibt Dallapiccola dann an „Caro Dott. Schlee; caro amico“, daß er nun, da „die postalischen Verbindungen zwischen unseren beiden Ländern wieder geöffnet sind“, sowohl Schlee als auch „Dr. Webern“ die Widmung seiner Sex Carmina Alcaei an den 60jährigen Jubilar mitteilen wolle. Und er bittet Schlee, ihm „als Leiter eines Verlages einen Weg [zu] raten“, wie er „das Manuskript meiner ,Sex Carmina Alcaei‘ an Dr. Webern senden“ könne. Daraufhin frägt Schlee Dallapiccola am 22. März, ob er nicht „in nächster Zeit einige Ihrer Werke der UE anvertrauen wolle(n)“. „Es wäre doch sehr schön, mit dem Herrn Dr. Webern gewidmeten opus den Anfang zu machen. Vielleicht könnte man dann auch die Oper folgen lassen.“
Doch Dallapiccola sieht sich gezwungen, aus finanziellen Gründen abzusagen (siehe oben). – Webern erfuhr bald von der Widmung und dankte Dallapiccola am 15. April 1944 mit überschwenglichen Worten: Mein lieber Herr Dallapiccola, was für eine große Freude bereiteten Sie mir doch mit Ihrer Widmung ! Wie macht sie mich stolz ! Aber vor allem bedeutet sie mir ein tief Tröstliches, Beruhigendes: wie aber bedarf man heute solcher Wärme und Freundschaft ! Seien Sie also herzlichst bedankt. Ihr mir gewidmetes Werk kennen zu lernen, wie freue ich mich darauf. Ich hoffe, es dauert nicht mehr allzulang !
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Siehe Anm. 63. Luigi Dallapiccola, Begegnung mit Webern (Anm. 70), S. 117. Zu den Carmina Alcaei siehe den Beitrag von Peter Andraschke, hier S. 185ff.
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Schon seit längerer Zeit ist es meine Absicht, Ihnen einige meiner LiederCyclen, die Sie vermutlich noch nicht kennen, zu schicken. Wenn es die Postverhältnisse zulassen, werden Sie bald die Noten erhalten. Ich arbeite unausgesetzt. Ein größeres opus, für Solo-Stimmen, Chor u. Orchester ist fertig geworden. – Ich bitte Sie, mir bald wieder Nachricht zu geben ! Es erfüllt mich Sorge. Ich hätte längst geschrieben, hätte ich nicht das zulässige Kontingent an Auslandsbriefen für März schon voll gehabt. Mußte also April abwarten. Mit den wärmsten Grüßen und besten Wünschen bin ich Ihr Anton Webern Wien XXIV. Maria Enzersdorf Im Auholz 880
In der deutschen Übersetzung von Dallapiccolas Webern-Notizen findet sich schließlich unter dem 22. Oktober 1945 die Nachricht, daß er von „einem Freund aus Wien“81 von Weberns Tod erfahren habe. (Webern wurde am 15. September 1945 in Mittersill auf Grund eines tragischen Mißverständnisses von einem amerikanischen Soldaten erschossen.) Und tief erschüttert fügt er der Todesnachricht folgende Zeilen an: „Die Carmina Alcaei werden, in Demut und Ehrfurcht, seinem Andenken gewidmet sein.“82
In der Florentiner Zeitung Il Mondo vom 3. November 1945 veröffentlicht Dallapiccola dann seine Tagebuchnotizen zu Webern: Incontro con Anton Webern, Ausschnitte daraus erscheinen unter dem Titel Begegnung mit Anton Webern April 1965 im 32. Jahrgang, Heft 4, der Zeitschrift Melos in deutscher Übersetzung (siehe Anm. 70). Auch in späteren Jahren ist Webern im Briefwechsel Dallapiccolas mit der UE immer wieder ein Thema. Am 23. September 1957 (hs., frz.) bedankt er sich für die Übersendung der 1. Kantate und findet in ihr einen Druckfehler („in der nächsten Edition wird man die letzte Note in der Harfe korrigieren, S. 40, die ein e und kein g haben soll“), Dezember 1959 frägt er Schlee aus New York, ob er ihm „eine Kopie des Briefwechsels zwischen Webern und Hildegard Jone nach Florenz schicken 80
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Luigi Dallapiccola, Saggi, testimonianze, carteggio, biografia e bibliografia (Anm. 74), S. 84f. Die Schreibweisen wurden hier gemäß dem Original (Fondo Dallapiccola, Archivio Contemporaneo del Gabinetto G.P. Vieusseux, Firenze) korrigiert. In der französischen Übersetzung heißt es hingegen unter dem 22. Oktober 1945: „De Vienne, en date du 8 courant, Alfred Schlee m’écrit à la fin de sa longue et intéressante lettre: ‚...hélas, je dois vous faire part d’une nouvelle extrêmement triste. Webern est mort dans un tragique accident [...]‘.“ Luigi Dallapiccola, Rencontre avec Webern (Anm. 70), S. 165. Ebenda, S. 117. Die erste Notiz vom 22. Oktober 1945 lautet: „Aus Wien schreibt mir ein Freund am 8. d. M.: ‚...leider muß ich Ihnen auch eine recht schmerzliche Nachricht geben. Webern ist durch einen tragischen Unfall gestorben, gerade da sein Werk sich auch bei uns endlich durchzusetzen begann...‘“. – Im ORF ist eine frühe Aufnahme der Carmina Alcaei vom 27. November 1952 verzeichnet; Ilona Steingruber (Sopran) singt unter der Leitung von [Felix] Prohaska.
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könne, wo er um den 27. Jänner 1960 sein wird“, wofür er sich dann am 9. Februar 1960, nach seiner Rückkehr, bedankt. Schließlich drückt er am 25. Mai 1961 seinen Dank für die Übersendung der Webern-Vorträge aus, „eine Publikation von seltenem Interesse“, deren baldige italienische Übersetzung er erhoffe. Dallapiccolas Briefverkehr mit Arnold Schönberg 1949–1951 Am 9. September 1949 verfaßte Luigi Dallapiccola einen von tiefer Ehrfurcht erfüllten hs. Brief an Arnold Schönberg, in dem er ihm zum bevorstehenden 75. Geburtstag gratulierte. le 9 septembre 1949 Maître, il y a cinq ans, Florence étant libérée depuis deux mois, il n’y avait pas possibilité de correspondre avec l’étranger et je me souviens encore très vivement que j’ai profondément regretté – le matin du 13 septembre – de ne pas pouvoir saisir l’occasion de votre 70ème anniversaire pour oser de vous écrire pour la première fois. (Je vous avais vu vingt ans avant, à Florence, lors de la première tournée italienne du Pierrot Lunaire: mais, où trouver le courage, ce soir là, moi – élève du Conservatoire – pour venir vous serrer la main? En tout cas je n’ai jamais oublié l’attitude de Puccini à votre égard, ce 1er avril 1924 et depuis cette soirée j’ai considéré le populaire compositeur italien d’une intelligence et d’une humanité que je n’aurais pas soupçonné). J’ai parlé tout à l’heure de mon profond regret de ne pas vous avoir écrit, il y a cinq ans. Parce que, au cours des longues années de l’isolément, il m’est arrivé assez souvent de me surprendre à poser à moi-même, à mon insu, des questions: „Quelle œuvre occupera à présent l’esprit de Schoenberg ?“ (Questions qui démeuraient sans réponse ....) Parce que, au temps de guerre, j’ai pensé (et je n’étais pas le seul, en Italie, je vous l’assure) mille fois à vous, à votre vie, à votre travail. À vous, comme au cours d’une période d’oppression, on pense aux héros de la liberté. (C’est pour cela que, lorsque l’Amérique a décerné un certain prix, peu après guerre, à Monsieur Toscanini, en lui faisant jouer le rôle de l’homme auquel tous les italiens avaient pensé comme au paladin de la liberté, je suis devenu furieux. D’autant plus que Benedetto Croce était resté parmi nous, pour apprendre – à la minorité, hélas ! – avec son exemple présent et vivant, la vraie signification du mot liberté.)
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Depuis 1944 le catalogue de vos œuvres s’est encore enrichi d’œuvres admirables: là où il y avait l’opposition la plus acharnée contre vous, cette opposition a cédé ou elle cède peu à peu; là où le public peut s’exprimer librement, il s’exprime de façon de plus en plus respectueuse et admirative. Personnellement je remercie Dieu de m’avoir donné possibilité de vous écrire aujourd’hui et je vous souhaite bonne santé et bon travail et je serre très humblement la main au „Maestro di color che sanno“. Votre très dévoué Luigi Dallapiccola FIRENZE, ITALY 55 via Bolognese83 Meister, vor fünf Jahren, Florenz war seit zwei Monaten befreit, gab es keine Möglichkeit zur Korrespondenz mit dem Ausland, und ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran, zutiefst bedauert zu haben – am Morgen des 13. September –, daß ich nicht die Gelegenheit Ihres 70. Geburtstages wahrnehmen konnte, um es zu wagen, Ihnen zum ersten Mal zu schreiben.84 (Ich hatte Sie vor zwanzig Jahren in Florenz gesehen, anläßlich der ersten Italien-Tournee des Pierrot Lunaire: Aber wie hätte ich den Mut finden sollen an diesem Abend, ich – ein Student des Konservatoriums –, Ihnen die Hand zu schütteln ? Jedenfalls habe ich nie Puccinis Verhalten Ihnen gegenüber vergessen, an diesem 1. April 1924, und seit diesem Abend habe ich den berühmten italienischen Komponisten für einen Mann von solcher Intelligenz und Menschlichkeit gehalten, wie ich es vorher nicht vermutet hätte.) Ich habe gerade von meinem tiefen Bedauern gesprochen, Ihnen vor fünf Jahren nicht geschrieben zu haben. Denn während der langen Jahre der Abgeschiedenheit kam es häufig vor, daß ich mir unwillkürlich Fragen stellte: „Welches Werk beschäftigt Schoenberg wohl gerade?“ (Fragen, die ohne Antwort blieben ....) Denn während des Krieges dachte ich (und ich war, das versichere ich Ihnen, nicht der Einzige in Italien) tausend Mal an Sie, an Ihr Leben, an Ihre Arbeit. An Sie, wie man während einer Zeit der Unterdrückung an Freiheitshelden denkt. (Aus diesem Grund bin ich wütend geworden, als Amerika Herrn Toscanini gleich nach dem Krieg einen gewissen Preis verliehen hat und ihn damit die Rolle eines Mannes spielen ließ, an 83
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Adreßzusatz in der Handschrift von Arnold Schönberg. Unterstreichungen gemäß dem Original. Französisch und in italienischer Übersetzung abgedruckt in: Mila De Santis (Hg.), Ricercare. Parole, musica e immagini dalla vita e dall’opera di Luigi Dallapiccola, Firenze 2005, S. 86f. Deutsche Übersetzung unbekannter Provenienz im Arnold Schönberg Center. Für die Übersetzung der restlichen französischen Briefe Dallapiccolas an Arnold Schönberg ins Deutsche danke ich Frau Annette Kappeler. Luigi Dallapiccolas Briefe an Arnold Schönberg befinden sich in der Library of Congress, Washington D.C. (Arnold Schoenberg Collection); die Briefe Schönbergs an Dallapiccola sind ebendort in Durchschlägen verwahrt und werden im vorliegenden Beitrag nach diesen sowie nach Kopien der Originale zitiert, die Laura Dallapiccola dem Arnold Schoenberg Institute in Los Angeles (seit 1998: Arnold Schönberg Center, Wien) zur Verfügung gestellt hat. Mit der Datums-Angabe „Venezia, 13 settembre 1948“ schloß Dallapiccola an Schönbergs 74. Geburtstag seine Quattro Liriche di Antonio Machado ab, welches Datum auch als „Bekenntnis“ zu dem verehrten Komponisten zu werten ist. Vgl. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 90. Ein Jahr später veröffentlichte er den Aufsatz Der 13. September (in: Stimmen. Zum 75. Geburtstag Arnold Schönbergs 16 (1949), S. 455f.), in dem er auf die „schicksalhafte Verkettung“ von zwei Daten verwies: Schönbergs Geburtstag am 13. September 1874 und die „Entdeckung Amerikas“ am 13. September 1492. Vgl. auch Wolfgang Schreiber, Schönberg und Dallapiccola (Anm. 5), S. 305.
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den alle Italiener als einen Freiheits-Ritter dachten. Umso mehr, als Benedetto Croce unter uns geblieben war, um uns – leider nur einer Minderheit – mit seinem präsenten und lebendigen Beispiel die wahre Bedeutung des Wortes Freiheit zu zeigen.)85 Seit 1944 wurde der Katalog Ihrer Werke um weitere wunderbare Werke bereichert: Da, wo die Gegnerschaft gegen Sie am heftigsten war, hat diese Gegnerschaft nachgelassen oder sie läßt auch noch weiter nach; da, wo sich das Publikum frei ausdrücken darf, drückt es sich immer respektvoller und bewundernder aus. Ich persönlich danke Gott, daß er mir die Gelegenheit gab, Ihnen heute zu schreiben. Ich wünsche Ihnen beste Gesundheit sowie gutes Schaffen und drücke dem „Maestro di color che sanno“ demütig die Hand.86 Ihr sehr ergebener Luigi Dallapiccola
Mit Datum vom 16. September 1949 versandte Schönberg bekanntlich jenen, die ihm zum 75. Geburtstag gratuliert hatten, die folgende Danksagung (vervielfältigtes hs. Rundschreiben87): Erst nach dem Tode anerkannt werden – – – – – ! Ich habe in diesen Tagen viel persönliche Anerkennung gefunden, worüber ich mich sehr gefreut habe, weil sie mir die Achtung meiner Freunde und anderer Wohlgesinnter bezeugt. Andrerseits aber habe ich mich seit vielen Jahren damit abgefunden, dass ich auf volles und liebevolles Verständnis für mein Werk, für das also, was ich musikalisch zu sagen habe, bei meinen Lebzeiten nicht rechnen darf. Wohl weiss ich, dass mancher meiner Freunde sich in meine Ausdrucksweise bereits eingelebt hat und mit meinen Gedanken vertraut worden ist. Solche mögen es dann sein, die erfüllen, was ich vor genau siebenunddreißig Jahren in einem Aphorismus voraussagte: „Die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts wird durch Ueberschätzung schlecht machen, was die erste Hälfte durch Unterschätzung gut gelassen hat an mir.“ Ich bin etwas beschämt über all diese Lobpreisungen. Aber ich sehe dennoch auch etwas Ermutigendes darin. Nämlich: Ist es denn so selbstverständlich, dass man trotz dem Widerstand der ganzen Welt nicht aufgibt, sondern fortfährt aufzuschreiben, was man produziert? Ich weiss nicht, wie Große darüber gedacht haben. Mozart und Schubert waren jung genug, dieser Frage nicht näher treten zu müssen. Aber Beethoven, wenn Grillparzer die Neunte konfus nannte, oder Wagner, wenn der Bayreuther Plan 85
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Arturo Toscanini verließ Europa 1937 und leitete ab diesem Jahr (in New York) das „NBC Symphony Orchestra“. Benedetto Croce (1866–1952), bedeutender italienischer Philosoph und Kunsthistoriker, blieb in Italien und wurde 1935 aus der „Accademia Nazionale dei Lincei“ ausgeschlossen, da er es ablehnte, den Treue-Eid auf den Faschismus zu leisten. Danach stand er unter Überwachung; zudem wurde über ihn de facto ein Publikationsverbot verhängt. 1944, nach der Wiedererrichtung der Demokratie, wurde Croce in der neuen Regierung Minister ohne Portefeuille. „Maestro di color che sanno“ ist ein Zitat aus der Commedia (La divina commedia, Die göttliche Komödie) von Dante Alighieri (Canto IV, Vers 131), bezieht sich dort auf Aristoteles und bedeutet so viel wie „Meister des Wissens“ (ein „Meister [von allen], der [alles] weiß“. Arnold-Schönberg-Schriften-Verzeichnis (ASSV) Nr. 5.1.2.20. Faksimile in: Arnold Schönberg, Briefe. Ausgewählt und herausgegeben von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 4.
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zu versagen drohte, oder Mahler, wenn alle ihn trivial fanden – wie konnten diese weiterschreiben ? Ich weiss nur eine Antwort: Sie hatten Dinge zu sagen, die gesagt werden mussten. Ich wurde einmal beim Militär gefragt, ob ich wirklich dieser Komponist A. S. bin. „Einer hat es sein müssen“ sagte ich; „keiner hat es sein wollen, so habe ich mich dazu hergegeben.“ Vielleicht musste auch ich Dinge sagen, unpopuläre anscheinend, die gesagt werden mussten. ––– Und nun bitte ich Sie alle, die Sie mir mit Ihren Glückwünschen und Ehrungen wirkliche Freude bereitet haben, dies anzunehmen als einen Versuch, meine Dankbarkeit auszudrücken. Vielen, herzlichsten Dank ! Arnold Schoenberg Los Angeles, California, 16. September 1949
Diese Danksagung sandte Schönberg auch an Dallapiccola und überschrieb sie handschriftlich „Für: Mr. Luigi Dallapiccola, Firenze“. Ebenfalls handschriftlich fügte er am Ende der allgemeinen Danksagung sowie auf deren Rückseite die folgenden Zeilen hinzu:
Abbildung 3: Beginn der an die allgemeine Danksagung Arnold Schönbergs vom 16. September 1949 anschließenden persönlichen Zeilen an Luigi Dallapiccola.
Mon cher Mr Dallapiccola: Je ne peux pas écrire assez bien en français et il y aura un trop grand nombre de fautes, c’est pourquoi je vais écrire en allemand. [Mein lieber Herr Dallapiccola, ich kann nicht gut genug auf französisch schreiben, und es wird eine zu große Anzahl von Fehlern geben, das ist der Grund, weshalb ich auf deutsch schreiben werde.]
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Man hat mir nämlich erzählt, dass Sie in Wien gelebt und bei Webern studiert haben. Wenn das richtig ist, so wissen Sie vielleicht einiges über sein Leben und seinen Tod. Es wäre mir lieb, wenn Sie mir etwas darüber schreiben wollten. Ich möchte auch gerne Ihre Musik sehen. Ich habe von Leibowitz88 und Stein darüber gehört und das hat mich sehr interessiert. Soviel ich verstanden habe, ist es ihr Bestreben, unnötigen Härten, die scheinbar durch 12-Tonreihen bedingt sind auszuweichen. Es ist das auch mein Bestreben und sofern es mir nicht völlig gelingt, muss ich hoffen, dass die Zukunft darin Härten so wenig sehen wird, als wir heute Härten in Wagner sehen. Oder dass sie sie in Kauf nimmt. Es ist schade, dass Sie in Florenz nicht zu mir gekommen sind. Ich habe mich immer gefreut junge Leute zu sehen, insbesondere, wenn sie wie junge fühlen. So alt ich heute bin, so habe ich für die Jugend noch immer soviel Sympathie, als wenn ich noch Einer der ihren wäre. Das ist aber leider vorbei ! Auf Puccini’s Besuch der Pierrotaufführung war ich immer stolz. Es war sicherlich ein Zeichen menschlicher Größe, dass er da zu mir gekommen ist – und ein[e] große Freundlichkeit. Ich hoffe bald von Ihnen zu hören. Herzlichen Dank für Ihren Brief. Ihr Arnold Schönberg
[hs.]
Firenze, le 2 décembre 1949. 55, via Bolognese. Maître, en me réservant de repondre [!] d’une façon attentive et complète à votre charmante lettre (qui a été pour moi un cadeau de la plus grande importance) au début de la prochaine semaine (je viens de rentrer de Turin, où M. Scherchen a dirigé d’une manière sans-pareille mon nouveau opéra) je vous adresse ce soir ces quelques lignes seulement, et en voilà la raison: J’ai montré à M. Scherchen ma dernière partition: Variations, pour chant et 14 instruments (textes d’après James Joyce, Michelangelo et Manuel Machado), dont il voudrait être l’éditeur (Ars Viva ; Bruxelles – Zürich). Nous avons longtemps parlé de vous, ça va sans dire, et – comme la dite partition a été achevée le jour de votre anniversaire, à Venise – M. Scherchen m’encourage à vous demander si vous en accepteriez la dédicace. J’ose espérer que vous daignerez d’accepter cet humble hommage, en témoignage de vingt-cinq années d’admiration pour votre art et pour votre vie. En attendant un mot de vous je vous serre très respectueusement la main. Votre reconnaissant et infiniment devoué Luigi Dallapiccola
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Dallapiccola lernte René Leibowitz beim IGNM-Festival London 1946 kennen und pflegte mit ihm in der Folge einen „regen Gedankenaustausch“. Dietrich Kämper, Dallapiccola und der Schönberg-Kreis (Anm. 2), S. 86.
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Meister, Ich erlaube mir, auf Ihren charmanten Brief (der für mich ein Geschenk von größter Bedeutung war) Anfang nächster Woche aufmerksam und vollständig zu antworten (ich bin gerade aus Turin zurückgekommen, wo Herr Scherchen meine neue Oper auf unvergleichliche Art dirigiert hat)89 und richte heute Abend nur diese wenigen Zeilen an Sie, und zwar aus folgendem Grund: Ich habe Herrn Scherchen meine letzte Partitur gezeigt: Variationen, für Gesang und 14 Instrumente (Texte nach James Joyce, Michelangelo und Manuel Machado), die er gerne herausgeben möchte (Ars Viva; Brüssel – Zürich).90 Wir haben lange über Sie gesprochen, das versteht sich von selbst, und – da jene Partitur am Tag Ihres Geburtstages in Venedig fertiggestellt wurde, ermutigt mich Herr Scherchen Sie zu fragen, ob Sie eine Widmung annehmen würden. Ich wage zu hoffen, daß Sie die Güte haben werden, diese ehrfürchtige Hommage anzunehmen, als Zeugnis von fünfundzwanzig Jahren Bewunderung für Ihre Kunst und für Ihr Leben. Ich warte auf ein Wort von Ihnen und drücke Ihnen sehr respektvoll die Hand, Ihr dankbarer und sehr ergebener Luigi Dallapiccola
[typ.]91
ARNOLD SCHOENBERG ANGELES 49 CALIFORNIA
Herrn Luigi Dallapiccola Firenze, 6 55, via Bolognese Italy
116 N. ROCKINGHAM AVENUE
LOS
10. Dezember, 1949.
Lieber Freund: Ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief, der mich ausserordentlich gefreut hat. Selbstverständlich nehme ich mit grossem Vergnügen die Widmung Ihrer Komposition an. Es ist mir ein grosses Vergnügen, durch die Widmung Ihres höchst-interessanten neu[e]n Werkes zu erfahren, dass Sie ein wirklicher Freund sind und das ist auch warum ich Sie am Beginn dieses Briefes als „Lieber Freund“ anspreche. Die Idee Variationen für eine Singstimme zu schreiben ist äusserst originell un[d] vielversprechend. Ich beneide Sie darum, dass Sie das getan haben. Schade, dass mir das nicht eingefallen ist. Was sind die 14 Instrumente? Ich bin schon sehr neugierig diese Partitur zu sehen. Hoffentlich ist Scherchen auch rasch genug mit Druck bei der Hand, so dass ich es bald bei mir habe.
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Hermann Scherchen dirigierte am 1. Dezember 1949 im Turiner Rundfunk die konzertante Erstaufführung von Il Prigioniero. Es handelt sich um die (zunächst „Variazioni per canto e 14 strumenti“ genannten) zwölftönig konzipierten, mit 13. September 1949 datierten Tre Poemi per una voce e orchestra da camera, die Scherchen am 13. März 1950 in Triest zur Uraufführung brachte. Sie tragen die Widmung „ad Arnold Schoenberg, per il suo settantacinquesimo compleanno“. Teile des Briefes ediert in: Arnold Schönberg, Briefe (Anm. 87), S. 291f.
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Ich bin mit vielen herzlichen Grüssen und dem Bedauern, dass ich Ihnen nich[t] Französisch oder Italienisch schreiben kann, Ihr, [hs.:] Arnold Schoenberg R.H.92
[typ.]
Firenze, le 9 janvier 1950. 55 via Bolognese Tél. 45/342
Maître, votre lettre du 10 décembre m’a donné une grande et pure joie. Je ne puis pas vous dire ma reconnaissance pour avoir daigné d’accepter la dédicace du petit ouvrage achevé à Venise, exactement le jour de votre anniversaire. Immédiatement après avoir eu la dite lettre j’ai travaillé à une copie sur papier lucide de la partition et du matériel; le tout a été envoyé à M. Scherchen et je pense que l’édition pourra suivre bientôt. Entre temps la Maison Suvini-Zerboni vous a evoyé les trois cahiers de mes mélodies sur Sappho, Anacréon et Alcée et j’ai écrit à l’Universal-Ed. de vous envoyer dès que possible „Chaconne, Intermède & Adagio“ pour violoncelle-solo. En vous priant d’accepter la dédicace de mon récent ouvrage, c’est pour brévité que je vous ai parlé de „Variations“.... Le titre original est: TROIS POÈMES pour chant et orchestre de chambre et le sous-titre en est: Variations sur une série de douze sons. Il s’agit de trois morceaux qui, au pont de vue „forme“, sont plus proches à la conception de la variation que Webern a adopté dans son Op. 27 qu’à la vraie forme classique de la variation. C’est pour cela que en lisant votre phrase: „Ich beneide Sie darum, dass Sie das getan haben. Schade, dass mir das nicht eingefallen ist“, je me suis dit que la vraie variation pour chant et instruments doit être encore écrite et je serais très heureux d’apprendre, tôt ou tard, que vous l’avez réalisée. Soyez indulgent dans votre jugement sur ma musique..... et maintenant, en repondant à votre précédente lettre, je vous explique quelque chose sur ma vie. Je pense que Leibowitz et Erwin Stein aussi se sont un peu trompés en vous parlant de moi. Il est vrai que je suis né en Autriche (Kuestenland, entre Trieste et Pola); c’est pour cela que je connais pas mal l’allemand (et j’ai lu toujours avec joie votre magnifique prose allemande); mais je ne le connais pas si bien pour oser de [!] l’écrire. Comme j’ai écrit quelques lignes après avoir eu l’affreuse nouvelle de la mort de Anton Webern, je pense que Leibowitz et Stein aussi aient pensé que j’ai été élève de votre élève. Malheureusement il n’est [recte: n’en est] pas ainsi. (Je me permets de vous envoyer avec le même courrier les deux articles dont il est question x [hs. Einfügung am Ende der Seite: x peut-être il y aura quelqu’un qui puisse traduire ma prose italienne, indéniablement difficile ?]: et veuillez m’excuser si, dans l’article paru sur IL MONDO, il y a une coupure: évidemment il m’a été nécessaire de couper la photographie de Webern pour l’envoyer à un autre journal ou bien à una [recte: une] autre revue.) Malheureusement, je le redis, parce que le peu que j’ai pu ap92
Schönberg ließ diesen Brief von seinem Assistenten Richard Hoffmann maschinschriftlich ausführen.
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prendre sur le système de douze-sons il m’a fallu l’apprendre sans traités, sans articles, et essayant de comprendre quelque chose en analysant vos ouvrages qu’il m’a [recte: qui m’ont] été possible d’obtenir de Vienne au temps de guerre. Or, je ne sais pas si mon effort est exactement d’enlever „die unnoetigen Haerten“ .... jusqu’à ce moment-là j’ai plus travaillé dans le domaine mélodique que dans le domaine harmonique. Et je me sens encore un commençant (ein Anfaenger). Mon seul soutien est une grande foi et la certitude que votre route, Maître, est la seule qui puisse garantir la continuité de la musique. Encore un mot pour ce qui concerne la mort de Webern: immédiatement après, Clark et d’autres ont parlé avec insistence d’un affreux crime, d’un drame de famille (le mari de la fille de Webern aurait été un grand nazi ?): plus tard on a accepté la version dont je parle dans l’article sur „Emporium“. Maintenant on revient à la première version..... Peut-être ce drame est destiné a demeurer obscur. Je viens d’apprendre qu’un collègue américain a acheté pour moi vos dernières ouvrages et qu’il les a déjà envoyé[s]. Ainsi je vis dans l’attente, surtout aprés avoir entendu à Baden-Baden un entregistrement du SURVIVANT DE VARSOVIE ! En vous remerciant encore je vous prie, Maître, de croire à ma gratitude et d’accepter avec mes meilleurs vœux pour cette année mes salutations les plus dévouées. Votre [hs.:] Luigi Dallapiccola Meister, Ihr Brief vom 10. Dezember hat mich mit großer und reiner Freude erfüllt. Ich kann meine Dankbarkeit darüber, daß Sie die Güte haben, die Widmung des kleinen Werkes anzunehmen, das in Venedig genau am Tag Ihres Geburtstages vollendet wurde, nicht ausdrücken. Sofort nach Erhalt des Briefes habe ich eine Kopie der Partitur und des Materials auf Transparentpapier angefertigt, alles wurde an Herrn Scherchen geschickt, und ich denke, daß die Herausgabe bald folgen wird. Inzwischen hat Ihnen der Verlag Suvini-Zerboni die drei Hefte meiner Melodien über Sappho, Anacreon und Alcée geschickt, und ich habe an die Universal-Ed. geschrieben, daß sie Ihnen sobald wie möglich „Chaconne, Intermède & Adagio“ für Violoncello solo schicken soll. Als ich Sie darum gebeten habe, die Widmung meines letzten Werkes anzunehmen, habe ich um der Kürze willen von „Variationen“ gesprochen.... Der Originaltitel ist: TROIS POÈMES pour chant et orchestre de chambre, und der Untertitel ist: Variationen über eine Zwölftonreihe. Es handelt sich um drei Stücke, die in Bezug auf die „Form“ der Konzeption der Variation Weberns in seinem Op. 27 näher sind als der echten klassischen Form der Variation. Deswegen habe ich mir beim Lesen Ihres Satzes: [original Deutsch:] „Ich beneide Sie darum, dass Sie das getan haben. Schade, dass mir das nicht eingefallen ist“, gesagt, daß die richtige Variation für Gesang und Instrumente noch geschrieben werden muß, und ich wäre sehr glücklich, früher oder später zu hören, daß Sie sie verwirklicht haben. Seien Sie nachsichtig mit dem Urteil über meine Musik..... und jetzt, indem ich auf Ihren letzen Brief antworte, erkläre ich Ihnen etwas über mein Leben. Ich glaube, Leibowitz und auch Erwin Stein haben sich etwas geirrt, als sie Ihnen von mir erzählt haben. Es stimmt, daß ich in Österreich geboren bin (Kuestenland, zwischen Triest und Pola); deswegen kann ich nicht schlecht Deutsch (und ich habe immer mit Freude Ihren wunderbaren deutschen Stil gelesen); aber ich kann es nicht gut genug, um mich zu getrauen, es zu schreiben. Da ich einige Zeilen geschrieben habe,
Zu Luigi Dallapiccola und seinen „Wiener“ Beziehungen
nachdem ich die schreckliche Nachricht von Anton Weberns Tod gehört habe, glaube ich, daß Leibowitz und auch Stein dachten, ich sei ein Schüler Ihres Schülers. Leider ist das nicht der Fall. (Ich erlaube mir Ihnen mit der gleichen Postsendung die betreffenden Artikel zu schicken [hs. eingefügt: x ; am Ende des Briefes hs. eingefügt: x Vielleicht gibt es jemanden, der mein zugegebenermaßen schwieriges Italienisch übersetzen kann ?] Und entschuldigen Sie, wenn im Artikel, der in IL MONDO erschienen ist, das Photo von Webern herausgeschnitten ist: Offensichtlich war es notwendig, da ich es einer anderen Zeitung bzw. Zeitschrift schicken mußte.) Leider, ich sage es noch einmal, weil ich das Wenige, das ich über das Zwölftonsystem lernen konnte, ohne Lehrbücher, ohne Aufsätze lernen und etwas zu verstehen versuchen mußte, indem ich Ihre Werke analysierte, die ich mir während des Krieges aus Wien beschaffen konnte. Nun, ich weiß nicht, ob meine Bemühung genau darin besteht, [original Deutsch:] „die unnötigen Härten“ zu überwinden. Bis jetzt habe ich mehr im melodischen als im harmonischen Bereich gearbeitet. Und ich fühle mich noch immer als Anfänger [zusätzlich auf Deutsch:] (ein Anfaenger). Mein einziges Hilfsmittel ist ein starker Glaube und die Gewißheit, daß Ihr Weg, verehrter Meister, der einzige ist, der die Kontinuität der Musik garantieren kann. Noch ein Wort zu Weberns Tod: Unmittelbar danach haben Clark und andere mit Nachdruck von einem schrecklichen Verbrechen gesprochen, von einem Familiendrama (der Mann von Weberns Tochter soll ein überzeugter Nazi gewesen sein ?): Später hat man die Version akzeptiert, von der ich im Artikel im „Emporium“ spreche. Jetzt kehrt man wieder zur ersten Version zurück..... Vielleicht ist es vorherbestimmt, daß dieses Drama unaufgeklärt bleibt. Ich habe gerade erfahren, daß ein amerikanischer Kollege Ihre letzten Werke für mich gekauft und schon abgeschickt hat. Jetzt warte ich ungeduldig, vor allem nachdem ich in Baden-Baden eine Aufnahme des ÜBERLEBENDEN AUS WARSCHAU gehört habe ! Ich danke Ihnen noch einmal und bitte Sie, Meister, an meine Dankbarkeit zu glauben und mit den besten Wünsche für dieses Jahr meine ergebensten Grüße entgegenzunehmen. Ihr [hs.] Luigi Dallapiccola
[typ.]
Firenze, le 13 août 1950 55 via Bolognese Tél. 45/342 Maître, en rentrant à Florence, mi-juillet, après une absence assez longue, j’ai trouvé la coupure de la revue TIME – avec votre très spirituel commentaire. Très spirituel, en effet; mais – au [recte: en] même temps – quelque peu mélancolique. C’est bien gentil de votre part de vouloir connaître mon point de vue sur l’article en question. Or, comme autour de mon opéra „Le Prisonnier“ a été déchaîné presque un Kriminalroman (la politique n’a pas été absente, ça va sans dire !: nos sales communistes trouvaient que dans mon opéra l’on parlait trop souvent de „liberté“; le parti au gouvernement a reçu un tas de lettres dans lesquelles on me dénonçait comme anti-chrétien (!) parce que l’on traite un épisode de l’Inquisition d’Espagne..... et il a été question de défendre la représentation de l’opéra) j’ai accepté un interview d’un journaliste américain. Je pense avoir éclairci mon point-de-vue au cours de cet interview: j’ai parlé des difficultés des
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compositeurs italiens vis-à-vis de l’opéra (tout le monde sait que, ches-nous [recte: chez nous], pour un compositeur il est possible de faire une „carrière“ en écrivant de la musique de chambre ou bien de la musique pour orchestre... mais le jour où il décide d’écrire un opéra il aura „contre“ tout le monde [recte: il aura tout le monde „contre“ lui]: parce que „après Verdi et Puccini l’opéra ne peut pas être abordé“); j’ai parlé de la façon la plus simple qui m’a porté vers le système des douze-sons, en commençant par cet inoubliable 1er avril 1924, c’està-dire par votre exécution florentine du „Pierrot Lunaire“. J’ai dit encore que ma petite Annalibera (même si ma femme est juive) est catholique et que, le dimanche, c’est moi qui la conduit à l’église.... etc. etc. Or, selon notre ineffable article, je conduis ma petite Annalibera chaque jour (quel embêtement pour la petite! et quelle faute psychologique de ma part!) à l’église; la téchnique des douze-sons est devenue une chose étrange pour l’oreille (!) .... etc. etc. On m’a dit, au cours de l’interview que TIME est publié en 16 millions d’exemplaires, ce qui signifie 80 millions de lecteurs. ([hs. Einschub:] Mes félicitations !) Je dois reconnaître que la revue (peut-être on a eu un peu de pudeur) n’a pas eu le courage de m’envoyer l’article. Ce sont les petites misères de la vie de chaque jour...... Dieu merci, il y a encore quelque chose qui vous console: et je suis heureux de vous dire que – au cours de ce dernier mois – l’étude de votre TRIO (qui m’est enfin arrivé d’Amérique) et celle de votre SURVIVOR FROM WARSAW réprésentent encore les joies les plus pures de toute cette dernière période, pour moi. Merci, Maître. Bon éte [!]; bon travail, et croyez au dévoument le plus sincère de votre [hs.:] Luigi Dallapiccola Meister, als ich Mitte Juli nach ziemlich langer Abwesenheit nach Florenz zurückkam, habe ich den Ausschnitt aus der Zeitschrift TIME gefunden – mit Ihrem sehr geistreichen Kommentar.93 Wirklich sehr geistreich, aber gleichzeitig auch – etwas melancholisch. Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, sich für meine Ansicht über den betreffenden Artikel zu interessieren. Nun, nachdem sich um meine Oper „Le Prisonnier“ beinahe ein [original Deutsch:] Kriminalroman entwickelt hat (die Politik spielte selbstverständlich auch eine Rolle: unsere dreckigen Kommunisten fanden, daß in meiner Oper zu oft von „Freiheit“ die Rede war; die Regierungspartei hat eine Menge Briefe erhalten, in denen man mich als anti-christlich (!) angeprangert hat, weil eine Episode der spanischen Inquisition behandelt wird..... und es war die Rede davon, die Aufführung der Oper zu verbieten) habe ich in ein Interview mit einem ame93
Am 29. Mai 1950 erschien in der TIME ein Artikel über Dallapiccola mit dem Titel Music: Il Bruttino, der folgendermaßen beginnt: „In Italian musical circles, short, homely Composer Luigi Dallapiccola is affectionately known as Il Bruttino – The Ugly One. For some Italian critics, the name also applies to his dodecafonico music. In Italy, the land of Verdi and Puccini, Luigi Dallapiccola, 46, is the chief disciple of Arnold Schoenberg’s strange-to-the-ear twelve-tone technique. | Like dodecaphonists the world over, Istrian-born Composer Dallapiccola has had a rough road to follow. He has gained an international reputation, says one Florentine critic, (simply) because he is connected musically to international trends.‘ At home, he has won critical respect [...].“ Offensichtlich sandte Schönberg diesen Artikel an Dallapiccola gemeinsam mit einem „geistreichen Kommentar“, der uns leider nicht vorliegt.
Zu Luigi Dallapiccola und seinen „Wiener“ Beziehungen
rikanischen Journalisten eingewilligt. Ich glaube, daß ich in diesem Interview meinen Standpunkt deutlich gemacht habe: Ich habe über die Schwierigkeiten der italienischen Komponisten mit der Oper gesprochen (jeder weiß, daß es bei uns für einen Komponisten möglich ist, „Karriere“ zu machen, indem er Kammer- und Orchestermusik schreibt... aber an dem Tag, an dem er beschließt, eine Oper zu schreiben, wird er alle „gegen“ sich haben: denn „nach Verdi und Puccini darf die Oper nicht mehr angetastet werden“); ich habe von der einfachen Art und Weise gesprochen, wie ich zum Zwölftonsystem gekommen bin, angefangen mit diesem unvergleichlichen 1. April 1924, das heißt mit Ihrer Aufführung des „Pierrot Lunaire“ in Florenz. Ich habe auch gesagt, daß meine kleine Annalibera (selbst wenn meine Frau Jüdin ist) katholisch ist und daß ich selbst sie sonntags in die Kirche fahre.... etc. etc. Also, nach unserem unsagbaren Artikel, fahre ich meine kleine Annalibera jeden Tag (wie ärgerlich für die Kleine! und welch psychologischer Fehler von mir!) zur Kirche; die Zwölftontechnik ist eine seltsame Sache für die Ohren geworden (!) .... etc. etc. Man hat mir während des Interviews gesagt, daß die TIME eine Auflage von 16 Millionen Exemplaren hat, was 80 Millionen Leser bedeutet. [handschriftlich eingefügt:] Meine Glückwünsche ! Ich muß zugeben, daß die Zeitschrift (vielleicht hat man sich doch ein wenig geschämt) nicht den Mut hatte, mir den Artikel zu schicken. Das sind die alltäglichen kleinen Ärgernisse...... Gott sei Dank gibt es auch noch etwas, das einen tröstet: und ich freue mich, Ihnen zu sagen, daß – während dieses letzten Monats – das Studieren Ihres TRIOS (das ich endlich aus Amerika bekommen habe) und Ihres SURVIVOR FROM WARSAW die einzigen echten Freuden der letzten Zeit für mich waren. Danke, Meister. Schönen Sommer; gute Arbeit, Ihr ehrlichst ergebener [hs.:] Luigi Dallapiccola
[hs.]
Firenze, le 22 août 1950 55, via Bolognese. Maître, en faisant suite à ma lettre du 13 cour. je vous adresse ce soir ces quelques lignes pour vous dire que je viens de recevoir (les „imprimés“ voyagent toujours avec un retard impitoyable !) votre livre „Style and Idea“. Il ne m’est pas possible de vous dire la joie que j’ai [é]prouvé lorsqu’on ma remis le précieux paquet et lorsque j’ai ouvert le livre et je l’ai trouvé si aimablement signé et dédicacé par vous ! Je pense avoir déjà lu en allemand certains articles; notamment celui qui est consacré à Mahler: comme j’ai commencé à apprendre l’anglais, voilà une occasion sans pareille de les relire, en méditant sur chaque mot ! Merci encore, Maître. Et croyez-moi votre reconnaissant et très dévoué Luigi Dallapiccola
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Meister, nach meinem Brief vom 13. dieses Monats richte ich nun heute Abend einige Zeilen an Sie, um Ihnen zu sagen, daß ich gerade (die „Drucksachen“ kommen immer mit schrecklicher Verspätung an !) Ihr Buch „Style and Idea“ 94 erhalten habe. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie glücklich ich war, als man mir das wertvolle Paket übergab und als ich das Buch öffnete und es so liebenswürdig von Ihnen unterschrieben und gewidmet fand ! Ich denke, ich habe einige Aufsätze schon auf Deutsch gelesen; vor allem jenen, der Mahler gewidmet ist: Da ich angefangen habe Englisch zu lernen, ist das nun eine unvergleichliche Gelegenheit, sie wieder zu lesen und über jedes Wort nachzudenken ! Danke noch einmal, verehrter Meister. Ihr dankbarer und sehr ergebener Luigi Dallapiccola
[hs.; abgebildet auf dem Titelblatt des Buches] Firenze, le 10 septembre 1950. Maître, je vous prie de bien vouloir accepter mes vœux les plus sincères pour le jour de votre anniversaire. Ce même jour, au Festival de Venise, M. Scherchen donne la première audition en Italie de votre „Survivant de Varsovie“, attendue [recte: attendu] avec extrème intérêt par tous les „hommes de bonne volonté“. Dieu veuille que la prochaine année, en vous envoyant nos vœux, nous puissions vous félicitér pour l’achèvement de „Moses und Aron“. Il y a besoin de votre opéra. Bonne santé, bon travail et croyez-moi, Maître, votre très dévoué Luigi Dallapiccola Meister, ich bitte Sie, meine aufrichtigsten Glückwünsche für Ihren Geburtstag anzunehmen. An diesem selben Tag gibt Hr. Scherchen beim Festival von Venedig die erste Aufführung Ihres „Überlebenden aus Warschau“ in Italien, die von allen „Menschen mit gutem Willen“ mit extremem Interesse erwartet wird. Möge Gott darüber wachen, daß wir Ihnen im nächsten Jahr, wenn ich Ihnen meine Glückwünsche sende, zur Vollendung von „Moses und Aron“ werde gratulieren können. Man braucht Ihre Oper. Beste Gesundheit, gutes Schaffen und, seien Sie versichert, Meister, Ihnen sehr ergeben Luigi Dallapiccola
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Schönberg hatte seine bei der Philosophical Library erschienene Aufsatzsammlung im Juni mit folgender Widmung an Dallapiccola gesandt: „A Mr Luigi Dallapiccola | cordialment | Arnold Schoenberg | Juin 1950“. Faksimile des Titelblatts in: Mila De Santis (Hg.), Ricercare (Anm. 83), S. 88.
Zu Luigi Dallapiccola und seinen „Wiener“ Beziehungen
[hs.]
Firenze, le 27 décembre 1950. 55, via Bolognese Tél. 45/342 Maître, un mot pour vous envoyer mes vœux les plus sincères pour la nouvelle année; mes vœux les plus chalereux de bonne santé et de bon travail. Il y a un an, je vous écrivais en exprimant le désir d’apprendre quelque chose sur „Moses und Aron“; depuis quelque temps je suis au courant des pour-parlers entre Vous, Maître, et M. Francesco Siciliani, directeur artistique du „Mai Musical Florentin.“ Comme je connais depuis des longues années M. Siciliani, comme je connais son attitude au temps de guerre (la guerre a été pour nous tous une véritable pierre de touche !), je peux vous assurer qu’il s’agit d’un authentique ami de votre Art [!]; s’il vous a écrit, il vous a écrit avec le plus grand désir de contribuer (dans la mésure [!] de ses possibilités) à l’achèvement d’un chef d’œuvre. Et M. Siciliani est un homme qui connaît les difficultés de la vie d’un artiste digne de ce nom. Cette année je veux – en vous envoyant mes vœux pour la deuxième moitié de ce siècle si bouleversé – exprimer le désir, l’espoir que vous [recte: votre] pourparler [!] avec la direction du Mai Musical arrivent, dès que possible, à la solution désirée par tous ce qui attendent, de votre „Moses und Aron“ une nouvelle révélation. En cet espoir je vous serre, Maître, très respectueusement, la main. Votre très dévoué Luigi Dallapiccola Meister, ein paar Worte, um Ihnen meine aufrichtigsten Wünsche zum Neuen Jahr zu senden; meine herzlichsten Wünsche für gute Gesundheit und gute Arbeit. Vor einem Jahr habe ich Ihnen geschrieben, mit dem Wunsch, etwas über „Moses und Aron“ zu erfahren; seit einiger Zeit bin ich auf dem laufenden über die Besprechungen zwischen Ihnen, verehrter Meister, und Herrn Francesco Siciliani, künstlerischer Leiter des „Maggio Musicale Fiorentino“. Da ich Herrn Siciliani seit vielen Jahren kenne, da ich seine Haltung während des Krieges kenne (der Krieg war für uns alle ein wahrer Prüfstein !), kann ich Ihnen versichern, daß es sich um einen wahren Freund Ihrer Kunst handelt; wenn er Ihnen geschrieben hat, dann mit dem stärksten Wunsch, etwas zur Vollendung eines Meisterwerks (im Bereich seiner Möglichkeiten) beizutragen. Und Herr Siciliani ist ein Mensch, der die Schwierigkeiten im Leben eines Künstlers kennt, der würdig ist, diesen Namen zu tragen. Dieses Jahr möchte ich – indem ich Ihnen meine besten Wünsche für die zweite Hälfte dieses so bewegten Jahrhunderts schicke – den Wunsch und die Hoffnung ausdrücken, daß Ihre Verhandlungen mit der Leitung des Maggio Musicale so bald wie möglich die gewünschte Lösung finden mögen für alle jene, die von Ihrem „Moses und Aron“ eine neue Offenbarung erwarten.
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In dieser Hoffnung drücke ich Ihnen, verehrter Meister, sehr respektvoll die Hand. Ihr sehr ergebener Luigi Dallapiccola
[typ.]
ARNOLD SCHOENBERG ANGELES 49 CALIFORNIA
116 N. ROCKINGHAM AVENUE
LOS
8 Januar, 1951
Herrn Luigi Dallapiccola Firenze 55, via Bolognese Italy Lieber Herr Dallapiccola: Vielen Dank für Ihre guten Neujahrswünsche, die ich herzlichst erwidere. Was Sie mir über Herrn Siciliani schreiben ist höchst erfreulich und erfüllt mich mit grösstem Vertrauen. Leider jedoch habe ich nicht gewusst, dass ausser dem florentinischen Musikfest, auch ein Neapoletanisches [!] abgehalten wird. Ich habe über beide von Hermann Scherchen gehört und sie deshalb miteinander verwechselt. Oder dirigiert Scherchen beide? Ich habe die selben Informationen, die ich Herrn Siciliani gegeben habe, auch Scherchen für Neapel gegeben und ich würde mich sehr freuen, wenn in beiden Gelegenheiten meine Opern zu Worte kämen. Ich denke dabei auch an Er[wa]rtung, Glückliche Hand und Von Heute auf Morgen, welche drei einen Opernabend füllen. Nochmals wärmsten Dank für Ihre Informationen und, bitte, grüssen Sie Herrn Siciliani bestens von mir. Ich werde versuchen die Kritiken über Ihr Stück, das Wallenstein hier aufgeführt hat, zu finden. Angeblich hat ein Bekannter ein Record von dieser Aufführung gemacht, aber ich weiss nicht, ob das wahr ist. Ich konnte leider nicht ins Konzert gehen. Viele Grüsse und beste Wünsche, [Arnold Schoenberg]
[typ.]
ARNOLD SCHOENBERG ANGELES 49 CALIFORNIA Herrn Luigi Dallapiccola 55 via Bolognese Firenze, Italy.
116 N. ROCKINGHAM AVENUE
LOS
19 Januar. 1951
Lieber Herr Dallapiccola: Aus einer Bemerkung des Herrn Fritz Dorian-Deutsch, der auch bei Webern gelernt hat, entnahm ich dass dieser erklärt habe, die Idee der Klangfarbenmelodien mit der ich meine Harmonielehre schliesse, stamme von ihm. Er habe
Zu Luigi Dallapiccola und seinen „Wiener“ Beziehungen
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Klangfarbenmelodien bereits komponiert, und daraufhin habe ich das in meiner Harmonielehre verwendet. Das ist ja geradezu der Vorwurf eines Plagiats.95 Ich will meinen toten, alten Freund, der trotz vieler Schwankungen in andere Lager, im ganzen doch ein guter Freund gewesen ist, nicht attackieren, heute wo er wehrlos ist. Ausserdem ist das Verdienst der Erfindung dieses Ausdrucks für mich nicht wertvoll genug, um eine grosse Affaire daraus zu machen. Ich glaube ich habe genug andere Verdienste und kann leicht auf das eine oder das andere verzichten. Wenn ich Ihnen aber nun doch darüber schreibe, so geschieht es wegen der in der Welt vorherrschenden Sucht, den Juden, zu Gunsten des Ariers herabzusetzen. Und es sollte dann wenigstens meine Konstatierung die Wahrheit bezeugen. Lassen Sie mich aber vorher sagen, dass ich eher an ein Missverständnis oder an einen Gedächtnisfehler des Herrn Dorian glaube, da ja Leibowitz in seinem Buch, bevor er mit mir persönlich in Kontakt kam, den wahren Vorgang darstellt: und er hat doch auch bei Webern gelernt. Zur Sache nun. Meine Vorstellung von Klangfarbenmelodien wäre durch Weberns Kompositionen nur zum geringsten Teil erfüllt. Denn ich meinte etwas anderes unter Klängen, un[d] vor allem aber, unter Melodie. An Klängen, wie ich sie hier meinte, würden solche Einzel-Erscheinungen in meinen früheren Kompositionen in Betracht kommen, wie etwa die Gruftszene aus Pelleas und Melisande, oder vieles aus der Einleitung zum vierten Satz meines zweiten Streichquartetts, oder die Figur aus dem zweiten Klavierstück, die Busoni in seiner Bearbeitung so oft wiederholt hat und vieles andere. Das sind niemals bloss einzelne Töne verschiedener Instrumente zu verschiedenen Zeiten, sondern Kombinationen bewegter Stimmen. Aber das sind noch keine Melodien, sondern Einzelerscheinungen innerhalb einer Form der sie untergeordnet sind. Melodien werden es wenn man Gesichtspunkte fände, sie so anzuordnen, dass sie eine konstruktive Einheit bilden, von unbedingter Selbstständigkeit, eine Organisation, die sie nach ihren Eigenwerten verbindet. Ich hätte nie daran gedacht etwa die alten Formen, dreiteiliges Lied, Rondo oder Durchführung dafür in Betracht zu ziehen. In meiner Vorstellung wären solche Formen etwas neues gewesen, für das es noch keine Beschreibung gibt, weil sie ja noch nicht existieren. Ich bin fest überzeugt, dass Webern sich höchstens geirrt haben kann, in dem Anteil, den er an dieser Idee nahm. Ich glaube nicht, dass er mich absichtlich berauben wollte. Dennoch würde ich es ihm heute verzeihen. Er hat für seine wahren Verdienste und seinen tiefen und heiligen Glauben an die Kunst grössere Entschädigung, grössere Ehrung verdient, als die Welt ihn [!] gewährt hat. Es stimmt mich immer traurig, wenn ich an sein Schicksal denke, und ich wäre der Letzte, seinen Ruhm zu verkleinern.
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Vgl. Schönbergs mit 1. und 3. Mai 1951 datierten Artikel Anton Webern: Klangfarbenmelodie (ArnoldSchönberg-Schriftenverzeichnis [ASSV] Nr. 5.3.1.114). In englischer Übersetzung publiziert in: Arnold Schoenberg: Style and Idea. Selected Writings, ed. by Leonard Stein, London 1975, S. 484f.
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Deswegen bitte ich Sie und die drei anderen Freunde an die dieser Brief geht dringenst [!], seinen Inhalt nur im alleräussersten Notfall bekannt zu machen: das ist, zum Beispiel, wenn man mich angreift, oder meine Urheberschaft bestreitet. Es sei sonst ein Geheimnis zwischen uns fünfen. Ich bin mit herzlichsten Grüssen, aufrichtig Ihr [Arnold Schoenberg]
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Firenze, 401 le 16 mars 1951 55 via Bolognese Tél. 45/342 Maître, je suis honteux de repondre [!] à peine aujourd’hui à vos lettres; mais seulement avant-hier il m’a été possible d’avoir un long entretien avec M. Siciliani. Il va de soi que, pendant notre entretien nous avons parlé presque exclusivement de vous et de votre MOSES UND ARON. Dans votre lettre précédente vous m’avez parlé de Naples. Mais je pense que M. Scherchen ne vous ait pas bien expliqué la chose. À Naples M. Scherchen a toujours un accueil formidable de public et de presse et il est très lié avec le Directeur du Théâtre San Carlo. Or, ce Théâtre a une saison „normale“ au cours de l’hiver et du printemps: il va de soi que, pour des événéments [!] exceptionnels, il y a du public et de la presse de tous les cotés de l’Italie; mais il ne s’agit pas d’un véritable Festival International. Le „Mai Musical Florentin“ a, dès sa fondation, une allure bien plus „internationale“ et votre opéra dans le cadre florentin serait sans doute à sa véritable place. M. Siciliani m’a mis au courant des derniers projets de M. Scherchen et il paraît que ceux-ci puissent être résumés de la façon suivante: préparer l’Opéra à Darmstadt (il va de soi qu’une première d’une telle importance doit avoir lieu dans la langue originale: et notre choeur ne peut pas chanter en allemand); la donner en première mondiale à Florence, au cours du „Mai Musical 1952“, et la reprendre ensuite à Darmstadt et dans d’autres villes d’Europe. Si ce ravissant projet pourra [recte: pouvait] se réaliser je serais absolument heureux. Pour ce qui est de votre deuxième lettre, je commence avec mes remerciments les plus sincères pour la marque d’estime morale que vous m’avez donné en m’inscrivant parmi les trois que vous avez estimés dignes de recevoir une lettre pareille. Vous ne savez pas comme j’ai été déçu lorsque j’ai appris que mon visa américain n’est pas arrivé en temps utile pour me permettre de faire mon voyage projéte [!] aux Etats-Unis. Ma déception n’a rien à voir avec p. ex. le désir de „remercier“ (?) le public qui, peut-être, fera un accueil favorable, ou pas trop défavorable à mon Prisonnier en ces jours à New York. Ma déception a été grande pour une autre raison; c’est-à-dire par ce que j’avais accepté un engagement en Californie, surtout avec l’espoir de pouvoir vous voir. Et j’aurais bien voulu pouvoir parler avec vous de cette regrettable affaire dont vous m’avez donné communication, avec des nombreux détails.
Zu Luigi Dallapiccola und seinen „Wiener“ Beziehungen
Par lettre il est si difficile, pour moi, de traiter [!] un sujet pareil. En tout cas je crois comprendre que votre jugement en général sur Webern est toujours le plus favorable: la seule fois que j’ai eu l’honneur de le rencontrer (à Vienne, en mars 1942) j’ai eu l’impression de me trouver vis-à-vis d’un grand musicien et aussi d’un homme d’une noblesse extrème. Or, ce qu’il aurait dit, est-ce-qu’il l’a dit véritablement ? Malheureusement après la mort [hs. Einfügung: d’une grande personnalité] il y a toujours beaucoup de monde qui ne connaît pas l’art de se taire. Et, en Italie, j’ai assisté au dégoutant phénomène, peu après la mort de Busoni, de dizaines de pianistes qui se proclamaient élèves du Maître, comme à Paris, vingt ans après la mort de Debussy, une légion de violonistes a prétendu avoir assisté à la création du dernier ouvrage du Maître français. Je me rends parfaitement compte que cette réponse est bien naive et incomplète, de ma part. Mais, si j’aurais eu la chance de venir en Californie et d’être réçu par vous, j’aurais bien voulu vous dire çela et bien d’autres choses encore. Pour le moment, soyez sûr, Maître, que je vais garder votre précieuse lettre de la façon la plus jalouse et que je suivrai votre désir de la considérer strictement reservée. Mon ami Wladimir Vogel m’a écrit qu’il y a la possibilité d’un votre voyage en Europe et je voudrais bien en connaître l’époque exacte, et possiblement, celle de votre arrivée. Car, au mois de juin, je compte me rendre aux Etats-Unis. Et je voudrais faire tout mon possible pour ne pas vous manquer encore une fois. J’espère, Maître, que vous êtes en état de travailler à votre opéra et que son achèvement ne soit pas trop loin. Encore un grand merci, pour tout. Et croyez-moi votre profondément dévoué [hs.:] Luigi Dallapiccola Meister, es ist eine Schande, daß ich erst heute auf Ihre Briefe antworte; aber es war mir erst gestern eine längere Unterredung mit Herrn Siciliani möglich. Selbstverständlich haben wir während unserer Unterredung fast ausschließlich von Ihnen und von Ihrem MOSES UND ARON gesprochen. In Ihrem letzten Brief haben Sie von Neapel geschrieben. Aber ich glaube, daß Herr Scherchen Ihnen die Sache nicht gut erklärt hat. In Neapel wird Herr Scherchen vom Publikum und von der Presse immer begeistert aufgenommen, und er hat sehr enge Beziehungen zum Direktor des Theaters San Carlo. Also, dieses Theater hat eine „normale“ Saison im Winter und im Frühling: Es versteht sich von selbst, daß zu außergewöhnlichen Ereignissen Publikum und Presse aus ganz Italien kommen; aber es handelt sich nicht um ein wirklich internationales Festival. Der „Maggio Musicale Fiorentino“ ist seit seiner Gründung viel „internationaler“, und Ihre Oper wäre im florentinischen Rahmen zweifellos am richtigen Platz. Herr Siciliani hat mich über die letzten Projekte von Herrn Scherchen informiert, und es scheint, daß man sie wie folgt zusammenfassen kann: die Oper in Darmstadt einstudieren (selbstverständlich muß eine Premiere von dieser Bedeutung in der Originalsprache stattfinden: und unser Chor kann nicht deutsch singen), ihr eine internationale Premiere in Florenz verschaffen, und zwar im Verlauf des „Maggio Musicale 1952“, und sie noch einmal in Darm-
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stadt und in anderen europäischen Städten aufführen. Wenn dieses wunderbare Projekt realisiert werden könnte, wäre ich sehr glücklich. Was Ihren zweiten Brief betrifft, beginne ich mit dem herzlichsten Dank für das Zeichen der Achtung, die Sie mir erwiesen haben, indem Sie mich in die Reihe der drei eingereiht haben, die sie dafür würdig erachtet haben, einen solchen Brief zu erhalten. Sie können sich vorstellen, wie enttäuscht ich war, als ich erfuhr, daß mein amerikanisches Visum nicht rechtzeitig angekommen ist, um mir die geplante Reise in die USA zu ermöglichen. Meine Enttäuschung hat nichts mit dem Wunsch zu tun, dem Publikum zu „danken“ (?), das vielleicht meinen Prisonnier dieser Tage in New York günstig oder doch nicht allzu ungünstig aufnehmen wird. Meine Enttäuschung war aus einem anderen Grund so groß; nämlich weil ich ein Engagement in Kalifornien vor allem in der Hoffnung angenommen hatte, Sie dort sehen zu können. Und ich hätte die Gelegenheit ergriffen, mit Ihnen über diese bedauernswerte Angelegenheit, über die Sie mir berichtet haben, in all ihren Details zu sprechen. Brieflich ist es so schwierig für mich, ein solches Thema anzusprechen. Jedenfalls glaube ich, daß ihr Urteil über Webern im allgemeinen immer das allergünstigste ist: das einzige Mal, bei dem ich die Ehre hatte, ihn zu treffen (in Wien, im März 1942), hatte ich den Eindruck, einem großen Musiker und auch einem sehr edlen Mann gegenüberzustehen. Also, was er gesagt haben soll, hat er das wirklich gesagt ? Leider gibt es nach dem Tod [handschriftlich eingefügt: einer großen Persönlichkeit] immer viele Leute, die die Kunst des Schweigens nicht beherrschen. Und, in Italien, wurde ich Zeuge eines ekelhaften Phänomens, daß sich Dutzende von Pianisten kurz nach Busonis Tod als Schüler des Musikers ausgaben, wie in Paris zwanzig Jahre nach Debussys Tod eine ganze Reihe von Geigern behauptet hat, sie hätten an der Entstehung des letzten Werkes des französischen Meisters teilgehabt. Mir ist völlig klar, daß diese Antwort von mir sehr naiv und unvollständig ist. Aber wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, nach Kalifornien zu kommen und von Ihnen empfangen zu werden, dann hätte ich Ihnen gerne das und noch andere Dinge gesagt. Im Augenblick versichere ich Ihnen, verehrter Meister, daß ich Ihren wertvollen Brief mit der größten Eifersucht hüten werde und daß ich Ihrem Wunsch, ihn völlig diskret zu behandeln, nachkommen werde. Mein Freund Vladimir Vogel hat mir geschrieben, daß Sie möglicherweise eine Reise nach Europa machen werden, und ich würde gerne das genaue Datum und, wenn es geht, den genauen Zeitpunkt Ihrer Ankunft erfahren. Denn im Juni beabsichtige ich in die USA zu fahren und ich würde gerne alles, was mir möglich ist, tun, um Sie nicht noch einmal zu verpassen. Ich hoffe, verehrter Meister, daß Sie gerade an Ihrer Oper arbeiten können und daß sie bald vollendet sein wird. Noch einmal vielen Dank, für alles. Ihr sehr ergebener [hs.:] Luigi Dallapiccola
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Dallapiccolas „Schönberg-Briefverkehr“ 1951–1975 Zwei Tage nach Schönbergs Tod sandte Dallapiccola ein Kondolenz-Telegramm an Gertrud Schönberg, in der er seiner Bestürzung beredten Ausdruck verlieh (siehe Abbildung 10 auf S. 125): 1951 JUL 15 AM 7 36 LA016 BA021 B.PTA022 DL PD=PITTSFIELD MASS 15 919A= MRS ARNOLD SCHOENBERG= 116 N ROCKINGHAM AVE LOSA= DEEPLY GRIEVED BY PASSING OF THE MASTER GREATEST MUSICAL FIGURE OF OUR AGE BRILLIANT EXAMPLE OF STRENGTH OF CHARACTER PLEASE ACCEPT SINCEREST CONDOLENCES= LUIGI DALLAPICCOLA=
Ein Brief Dallapiccolas (hs.) an Gertrud Schönberg (1898–1967) aus dem Jahr 1955 dokumentiert, daß die tiefe Verbundenheit des italienischen Komponisten zu Schönberg (sowie zu seiner Familie und seinem Umkreis) weiter erhalten blieb; offensichtlich hatte Gertrud ihm zum 51. Geburtstag (3. Februar) gratuliert, worauf er folgendermaßen antwortete: le 1er février 1955. Madame, c’est presque un cas de téléphathie [!]! En rentrant à Florence, j’ai trouvé vos vœux ainsi que le programme-souvenir de „Moses und Aron“; de mon côté je pensais de vous [recte: pensais vous] envoyer mes vœux (et ceux de ma famille) avec quelques semaines de retard, c’est-à-dire à mon retour de Hamburg. Car c’est le 24 cour. [courrant] que j’ai eu la rare, l’immense émotion, grâce à la gentillesse de M. le Dr. Hübner, d’entendre l’opéra „inachevé“ (et pourtant plus „achevé“ que n’importé quel opéra) de Schoenberg. Pourquoi faire étalage d’adjectifs vis-à-vis d’un tel chef-d’œuvre? Moses und Aaron c’est l’opéra et au [recte: en] même temps l’œuvre le plus grand, le plus accompli de notre époque. Merci encore pour votre souvenir; et avec ma pensée amicale à Mlle Schönberg, je vous prie de bien vouloir acceptér mes hommages les plus distingués et de me croire votre profondément fidèlement dévoué Luigi Dallapiccola Madame, es grenzt an Telepathie ! Zurück in Florenz fand ich Ihre Wünsche sowie das Programm-Souvenir von „Moses und Aron“ vor; ich meinerseits gedachte, Ihnen meine Wünsche (und die meiner Familie) einige Wochen später zu senden, also bei meiner Rückkehr von Hamburg. Denn es ist am 24 d., an dem ich das seltene, immense Gefühlserlebnis hatte, dank der Freundlichkeit von Herrn Dr. Hübner, die „unvollendete“ Oper (die dennoch mehr „vollendete“ als irgendeine andere) von Schönberg zu hören.96 Wozu mit Adjektiven prahlen ange96
Schönbergs Moses und Aron wurde am 12. März 1954 in Hamburg zur szenischen Uraufführung gebracht und vom Nordwestdeutschen Rundfunk aufgenommen. Offensichtlich wurde das Band an interessierte Journalisten wie Dr. Wolfgang Hübner weitergegeben. Im Nachlaß von Gertrud Schönberg
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sichts eines solchen Meisterwerks? Moses und Aaron ist gleichzeitig die größte, vollendetste Oper und Werk unserer Epoche. Nochmals danke für Ihre Aufmerksamkeit; und mit meinen freundschaftlichen Gedanken an Frl. Schönberg bitte ich Sie, meine achtungsvolle Verehrung anzunehmen und mich als Ihren treuen Diener zu sehen Luigi Dallapiccola
Auch mit Schönbergs Schüler und Schwiegersohn Felix Greissle (1894–1982), dem Mann von Schönbergs Tochter (aus erster Ehe) Gertrud (1902–1947), führte Dallapiccola einen Briefverkehr; er befindet sich zum Teil im Arnold Schönberg Center.97 Der erste hier erhaltene Brief (hs., frz.) stammt vom 31. Oktober 1952, wobei wir aus der Anrede „Mon très cher ami“ schließen können, daß bereits eine langjährige Verbindung bestand. Zudem gibt Dallapiccola am Beginn des Briefes seiner Freude Ausdruck, Greissle auch dieses Jahr begegnet zu sein, wodurch sich nach und nach „unsere Freundschaft“ entwickelt habe.98 Danach entschuldigt er sich mit beredten Worten dafür, daß er Greissle eine Unannehmlichkeit bereitet habe: Er befände sich derzeit bei ruhiger See (wodurch er sich bestens erhole) auf dem Schiff nach Europa und habe Greissle in der Nacht vor seiner Abreise (vom 20. zum 21. Oktober) ein Western-Union-Telegramm nach New York (wahrscheinlich – wie auch den Brief – an die Adresse c/o Edw. B. Marks Music Corporation, 1250 Sixth Ave.) gesendet, dann aber erfahren, daß er dieses am Bahnhof nicht bezahlen könne. Leider müsse der Empfänger bezahlen, weshalb er nun Greissle darum bitte; er werde den Betrag aus Florenz sofort in Form von Briefmarken erstatten, was für ihn die einzige Möglichkeit sei. Schließlich hofft er, in Florenz gleich wieder arbeiten zu können, und bedankt sich bei Madame Greissle für die schöne „soirée“ vom Sonntag. Am 29. Dezember 1952 bedankt sich Dallapiccola (hs. Briefkarte, frz.) bei Greissle für die „treue Erinnerung“ („Merci, mon cher ami, pour votre fidèle souvenir“) und entbietet ihm und Madame Greissle seinerseits die besten Wünsche für das Neue Jahr. Er warte immer noch auf eine Antwort auf seinen Brief vom 31. Oktober, weil er seine Schuld begleichen möchte. Soeben habe er einen Brief von Ernst Hartmann („U.-E., Wien“) erhalten, der ihm von dem Erfolg seiner Oper Vol de
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befindet sich jedenfalls ein mit 31. 1. 1955 datierter Brief, in dem ihr Dietrich Lotichius vom Nordwestdeutschen Rundfunk Hamburg u. a. mitteilte: „Endlich habe ich jetzt auch (obwohl nicht ganz vollständig) ,Moses und Aron‘ hören können und muß sagen, daß ich die Musik schon beim ersten Hören erstaunlich eingängig fand.“ – Dallapiccolas Anwesenheit in Hamburg erklärt sich durch eine Aufführung seiner hier „Nachtflug“ genannten Oper (gemeinsam mit Schönbergs Erwartung) in der Hamburger Staatsoper; Volo di notte hatte dort am 9. Mai 1954 unter der Leitung von Leopold Ludwig in einer Matinee eine Realisation erfahren, und zwar mit derartigem Erfolg, daß man das Werk dann in der Saison 1954/55 in den „normalen“ Abendspielplan aufnahm. Die Koppelung der beiden Werke sprach Dietrich Lotichius Gertrud Schönberg gegenüber eigens an: „[...] ich fand, daß die beiden Werke ausgezeichnet zu einander passen.“ Felix Greissle Collection. Gemäß Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2, S. 102), kam es wohl Anfang 1951 zu einem ersten Kontakt, als Greissle Dallapiccolas Tartiniana für die New Yorker Edward B. Marks Music Corporation gewinnen wollte.
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nuit in Freiburg (der deutschen Erstaufführung) berichtete. Ansonsten arbeite er und versuche, sich gegen den Dreck zu verteidigen, den seine Kollegen in Rom verursachten .... Einen weiteren Brief Dallapiccolas (typ., frz.) an Greissle besitzen wir dann erst wieder vom 23. Dezember 1971; er scheint (nach langer Pause?) etwas förmlicher als die früheren zu sein („Cher Mr. Greissle“). Dallapiccola berichtet, daß er nach 18tägiger Abwesenheit wieder in Florenz sei, was seine späte Antwort auf Greissles Brief vom 2. November erkläre. Danach bedankt er sich für ein Angebot Greissles, das ihn sehr ehre, insbesondere, weil es wohl einstimmig beschlossen wurde. Obwohl er sehr beschäftigt sei und auch aus der großen Distanz die Arbeit des Komitees kaum werde unterstützen können, würde er das Angebot annehmen. Er hoffe allerdings, daß, wenn er seine Unterschrift unter den Bericht des Schatzmeisters setze, auch Greissle unterschreiben würde.99 Und er „wagt zu glauben, daß meine Frage nicht den Regeln widerspricht“. Dallapiccola wünscht noch alles Gute für das Neue Jahr sowie beste Gesundheit und bedankt sich noch einmal für die „Ehrbezeugung“ (marque d’honneur). Der letzte (typ.) Brief Dallapiccolas an Greissle, von dem wir Kenntnis haben, stammt vom 22. Oktober 1972 und ist noch förmlicher und zudem in deutscher Sprache abgefaßt („Sehr geehrter Dr. Greissle“). Die beiden scheinen einander knapp zuvor in Italien „verpaßt“ zu haben, da Greissle von einem Unwohlsein befallen wurde und dieses offensichtlich dem schlechten italienischen Trinkwasser zugeschrieben hat. Dallapiccola bittet zunächst um Verzeihung wenn ich Ihnen auf Deutsch schreibe, aber mein Deutsch ist etwas besser als mein Englisch. Ich wunderte mich nichts mehr von Ihnen zu hören und es tut mir sehr leid, dass die Ursache ein Unwohlsein war. Ich glaube jedenfalls nicht es sei das Wasser gewesen. Es ist ein weitverbreitetes Vorurteil (und besonders in Amerika), dass das Wasser in Italien gefährlich sei. Es kann manchmal geschehen, in einem kleinen Orte, in Süd-Italien, sicher nicht in den grossen Städten und absolut nicht in Florenz, wo das Wasser schrecklich100 schmeckt weil es so stark mit Chlor desinsfiziert [!] ist. Vielleicht haben Sie etwas gegessen, das nicht ganz frisch war. Leider sind die Restaurants nicht immer so gewissenhaft wie sie sein sollten und die Hitze macht das [!] Rest; – jedenfalls sind das unangenehme Vorfälle, die auf Reisen passieren können und es tut mir sehr leid, dass so etwas unsere Begegnung verhindert hat. Wie Roger Ihnen gesagt hat, bin ich ziemlich krank gewesen; aber das ist später geschehen, Ende Juli, während einer Reise in England. Glücklicherweise ist das 99
Bei dem Komitee könnte es sich um eine Initiative handeln, die Greissle mit Mitgliedern der New Yorker ISCM gestartet hatte, deren Vorsitzender er viele Jahre war. (Der Autor dankt Berthold Tuercke für diese Information.) 100 Dallapiccola teilt dieses Wort folgendermaßen ab: „schrek=klich“, weiß also offensichtlich, daß „ck“ mit „k=k“ abzuteilen ist, bedenkt aber das anschließende „-lich“ nicht.
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„health service“ in England wundervoll und man hat mich glänzend gepflegt. Jetzt geht es mir ganz gut. Was Sie mir über Frau Berg schreiben freut mich sehr. Eine [!] Photo habe ich Ihnen den 9. Oktober geschickt. Mit herzlichen Grüssen, Ihr [hs. und typ.:] Luigi Dallapiccola
Damit endet der uns vorliegende Briefverkehr mit Felix Greissle. Schließlich besitzt das Arnold Schönberg Center eine Kopie eines weiteren (letzten?) Schönberg betreffenden Briefes von Dallapiccola (hs., frz.);101 dieser wurde unter dem Datum „Firenze, le 19 Janvier 1975“ (einen Monat vor dem Tod des Komponisten) an Elsa Cohen („Chère amie“) gerichtet. Elsa Cohen schickte die Kopie am 4. Dezember 1975 an ihre Freundin Clara Steuermann mit dem Kommentar „his script got smaller, but his enthusiasm for Schoenberg did not fail [...].“ – Dallapiccola erwiderte in dem Brief zunächst die Wünsche für das Neue Jahr und gab der Meinung Ausdruck, daß dieses Jahr 1975 wohl ein problematisches (und schwieriges) sein wird. Aber was tun ? Wir sind keine Politiker, und in unserer Zeit, so scheint es, hängt alles von der Politik ab. Ich versuche zu arbeiten. In den Monaten Oktober/November war ich in London, an der Leeds University, in Wien, Mailand und Stuttgart (ich habe einige Lektionen über Schoenberg gegeben): und, in London, habe ich die zwei Filme102 über den großen Meister bewundert, in Privatvorstellungen, einen oder zwei Tage vor der „Première“. Das war ziemlich berührend. Und nun unsere Wünsche und unsere tiefe Freundschaft. Alles Gute, Ihr Luigi Dallapiccola
Dallapiccola, Wien und die Universal-Edition 1949–1954 Hier ist zunächst von einigen Versuchen Alfred Schlees zu sprechen, Werke Luigi Dallapiccolas zu propagieren. So legt er am 28. Oktober 1949 seinem „lieben Freund“ „Maestro Mario Labroca, Venezia, Teatro La Fenice“ die Oper Volo di Notte ans Herz: „Das Werk wurde kürzlich in Brüssel aufgenommen und gelangt am 2. Februar in Paris zur Sendung. Eventuell können Sie ja auch eine Uebertragung vornehmen, falls eine eigene Sendung in absehbarer Zeit nicht in Frage kommen sollte.“
Und am 30. Jänner 1950 schreibt er an „Kapellmeister Paul Sacher“ in Schönenberg-Pratteln:
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Clara Steuermann Collection. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um die zweiteilige BBC-Produktion Bogeyman Prophet Guardian von Alexander Goehr.
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Lieber Herr Sacher, ich hätte grosse Lust, Dallapiccola einen Auftrag für ein Streicher- oder Kammerorchester-Werk zu geben, eventuell Streicher mit einigen anderen Instrumenten. Hätten Sie Interesse, sich an diesem Auftrag in ähnlicher Weise, wie im Falle Ibert, zu beteiligen? Ich glaube, dass mit dem Auftrag vielen genützt werden könnte. Dallapiccola’s finanzielle Verhältnisse sind sehr schlecht. Wir könnten ein Werk von ihm sehr brauchen und ich glaube damit auch wirklich etwas zu erreichen. Und für Ihre Programme wäre die Uraufführung eines für Sie komponierten Werkes von Dallapiccola sicher auch ganz schön. Ich weiss natürlich nicht, wie Dallapiccola auf den Vorschlag reagieren wird, aber ich glaube, dass er ihn annehmen würde. Er könnte das Stück vielleicht im Laufe des Sommers schreiben und die Uraufführung könnte noch im Laufe der nächsten Saison bei Ihnen stattfinden. Bitte lassen Sie mich wissen, was sie davon halten und wieviel Sie ihm zahlen würden.
Durch einen Zufall wissen wir über die Versuche Schlees, ein weiteres Werk Dallapiccolas in Verlag zu nehmen, noch ausführlicher Bescheid. Im Schriftverkehr der UE hat sich ein Brief (eher eine Art Aktennotiz) vom 8. September 1950 an den damaligen Generalsekretär des Konzerthauses, Dr. Egon Seefehlner, erhalten, der offensichtlich im Begriff war, nach Italien zu reisen (und wohl auch mit Dallapiccola zusammentreffen wollte). Bleistift-Notizen auf dem Durchschlag lauten: „ablegen“ sowie „Reise Dr. Seefehlner (Italien)“, der Briefbeginn läßt auf ein geplantes Treffen Seefehlners mit Dallapiccola schließen. (Im Konzerthaus hatten am 25. Oktober 1948 Mitglieder der Accademia Filarmonica Romana Dallapiccolas Due Studi für Violine und Klavier aufgeführt, am 6. Jänner 1950 spielte Gaspar Cassado Ciaccona, Intermezzo e Adagio, zudem brachten die Wiener Symphoniker unter Erich Kleiber am 7. und 8. Dezember 1949 Dallapiccolas Zwei Orchesterstücke zur österreichischen Erstaufführung, und zwar in einem von der Konzerthausgesellschaft – auf Grund eines damaligen Arbeitsteilungs-Abkommens103 – im Großen Musikvereinssaal veranstalteten Konzert. Nach dem Brief folgte am 18. März 1953 die österreichische Erstaufführung der Cinque Frammenti di Saffo durch Dagmar Hermann und das Kammerorchester der Wiener Konzerthausgesellschaft unter der Leitung von Michael Gielen.) Der Brief Schlees an Seefehlner lautet: „Er wird sich wahrscheinlich beschweren, dass er lange Zeit keine Abrechnung bekommen hat. Machen Sie ihn bitte darauf aufmerksam, dass die Auslandsabrechnungen erst dann vorgenommen werden können, bis die Deviseneinnahmen hier sind, was sich immer ziemliche Zeit verzögert. Wir sind aber allenfalls bereit, jetzt wieder eine Vorschusszahlung zu leisten, wenn er uns ein Werk in Aussicht stellt. 103
Hiezu siehe Hartmut Krones, Das 20. und 21. Jahrhundert (Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart), in: Wien[.] Musikgeschichte. Von der Prähistorie bis zur Gegenwart, hrsg. von Elisabeth Th. Fritz-Hilscher und Helmut Kretschmer (= Geschichte der Stadt Wien, Bd. 7), Wien–Berlin 2011, S. 359–485, hier S. 392. Siehe auch den Beitrag von Manfred Permoser im vorliegenden Band.
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Ich habe am 28. Februar 1950 an Dallapiccola folgendes geschrieben: ‚Ich würde Ihnen gerne eine Summe bezahlen, wenn Sie für unseren Verlag ein Orchesterwerk schreiben würden. Bitte teilen Sie mir mit, welche Summe nötig wäre, damit Sie in Ruhe ein solches Werk vollenden können. Ich würde aber eventuell auch die ‚Canti di liberazione‘ übernehmen, falls Sie diese noch nicht einem anderen Verlag übergeben haben. Wir wollen ganz offen miteinander sprechen. Ich weiss, dass Sie es sehr schwer haben und dass die vielen Konzerte, die Sie geben müssen, Sie von Ihrer schöpferischen Arbeit ablenken. Vielleicht wäre es doch möglich, dass wir ein Abkommen treffen, das Ihnen für einige Monate Freiheit für Ihr Schaffen gewährt. Um aber diese Möglichkeiten überhaupt zu erörtern, müssten Sie mir die Summe nennen, die Sie benötigen. Falls Sie ein Stück für nicht zu grosses Orchester schreiben werden, bestünde auch noch die Möglichkeit, dass Paul Sacher sich an der Finanzierung in der Weise beteiligt, dass er Ihnen ein Uraufführungshonorar zahlt. Da die Uraufführung dieses Orchesterwerkes erst für die Saison 1951/52 in Betracht kommt, werden Sie ja vielleicht die Zeit finden, in der Sie es schreiben können. Nur müsste man jetzt schon einen Plan aufstellen, damit Sie wissen, in welchen Monaten Sie von uns Geld bekommen müssen und in welchen Monaten Sie konzertieren.‘ Auf diesen Brief hat er mir nie geantwortet. Die Zusage von Sacher ist nicht leichtfertig von mir gemacht, sondern ich hatte mit Sacher darüber gesprochen. Es wäre jetzt allerdings an der Zeit Endgültiges darüber abzumachen [...].“
Schlee nennt jetzt noch die ungefähren Summen, die zu zahlen er sich vorstellen könne. Weiters teilt er Seefehlner mit, daß „Köhler-Helffrich, Wiesbaden“ die Oper Volo di notte „machen“ wolle und diesbezüglich mit Dallapiccola in Korrespondenz stünde. Köhler-Helffrich gefalle aber die Übersetzung nicht, „weshalb Gutheim eine neue Uebersetzung machen oder sie zumindest korrigieren soll“. Neue Klavierauszüge seien ohnehin noch nicht gedruckt, die UE besäße nur einige alte Exemplare von Ricordi, wo das Material „ausgebombt“ sei. „Wir haben das Werk dann von Ricordi erworben“, leider habe Ricordi der UE dann aber die „Platten“ nicht „billig zur Verfügung gestellt“, worauf man gehofft habe; „deshalb hat sich die Herstellung des Druckes verzögert, da ich noch immer nicht entschieden bin, wie man es machen soll“. „Falls Sie nach Mailand kommen, könnten Sie doch noch einmal bei Ricordi vorsprechen und versuchen, ob er Ihnen die Platten nicht zu einem vernünftigen Preis überlässt [...].“
Als Dallapiccola im September 1950 einen Auftrag der „Koussevitzky Music Foundation“ erhält, zum Andenken an Natalie Koussevitzky ein Orchesterwerk zu verfassen, und hiefür ein Divertimento für Violine und Orchester über Themen von Tartini (Tartiniana) komponiert, versucht Ernst Hartmann104, das Werk bei der Uni104
Ernst Hartmann leitete nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit Alfred Schlee die UniversalEdition. Am 5. Juni 1951 wurden die beiden gemeinsam mit Alfred A. Kalmus von der konstituierenden Generalversammlung der „Universal-Edition A. G.“ zu Vorständen bestellt. Kalmus starb 1972, in
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versal-Edition in Verlag zu nehmen. Dallapiccola bleibt jedoch seinem Verlag Edizioni Suvini Zerboni treu.105 Für Josef Rufers 1952 erschienenes Buch Die Komposition mit zwölf Tönen verfaßt er dann für die als „Anhang I“ angeschlossene Rubrik „Zeitgenössische Komponisten über ihre Art mit zwölf Tönen zu komponieren“106 ein Statement, und am 15. März 1952 (typ., it.) sendet er der „Universal-Edition“ in Antwort auf deren Brief vom 5. März seinen anläßlich der Uraufführung gehaltenen Vortrag über Volo di notte, der „das gesamte Material“ zur Geschichte der Oper enthält. Und er fügt folgende erläuternde Notizen bei: negli anni 1936–1937 ho scritto le Tre Laudi, che sono degli studi per „Volo di notte“ „Volo di notte“ è stato composto negli anni 1937–1939 Prima rappresentatione, 18/V/1940, Teatro della Pergola, Firenze (Maggio musicale). (Dir. Fernando Previtali) Altra presentatione scenica: Novembre 1942. Teatro Reale dell’Opera, Roma (Dir. Fernando Previtali) Dal ’42 al ’49 l’opera non è piu stata eseguita, causa la distruzione del materiale d’orchestra e degli spartiti conservati nello stabilimento della Casa Ricordi di Milano, distrutta durante un bombardamento. [Von ’42 bis ’49 wurde die Oper nicht mehr aufgeführt auf Grund der Zerstörung des Orchestermaterials und der Stimmen, die bei Ricordi in Mailand verwahrt waren, zerstört während des Bombardements.] Esecuzioni radiofoniche: Luglio 1949, INR, Bruxelles, dir. Leonce Gras. Febbraio 1950, Radiodiffusion Française, Parigi, Dir. Roger Désormières. Aprile 1951, RAI, Roma, dir. Fernando Previtali.107
(Wohl) Mai 1952 erscheint in der UE die „german version“ des Klavierauszuges von Volo di notte,108 und diese deutsche Fassung (von Karlheinz Gutheim und Wilhelm Reinking109) gelangt am 2. Dezember 1952 in Freiburg zur Erstaufführung.110
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welchem Jahr dann auch Hartmann aus dem Vorstand ausschied und Johann Juranek, Margherita Kalmus und Stefan Harpner Platz machte. Vgl. UE. Universal Edition. 1901–2001, Wien 2000, S. 5. Vgl. Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 102f. Luigi Dallapiccola [laut Rufer über seine „kompositorischen Erfahrungen mit der Erfindung beziehungsweise der Methode Schönbergs“] in: Josef Rufer, Die Komposition mit zwölf Tönen (= Stimmen des XX. Jahrhunderts, Bd. 2), Berlin und Wunsiedel 1952, S. 162–165. Dieses Statement ist in vorliegendem Band auf den Seiten 239–242 abgedruckt. Laut den Aufzeichnungen der UE fanden die Sendungen am 24. Juli 1949 (Brüssel), 9. Februar 1950 (Paris) sowie 19. April 1951 (Rom) statt; die RAI-Aufnahme aus Rom wurde zunächst auch am 12. Mai 1951 von der Radiodiffusion Française sowie (wohl) am 7. Mai 1952 vom 3. Programm der BBC gesendet (da hier nur von einer „Übertragungsgebühr“ die Rede ist und somit von keiner eigenen Aufführung ausgegangen werden kann). Weitere Sendungen des RAI-Bandes: 22. April 1956 RAI Rom, 19. Dezember 1956 und 30. Mai 1957 Radio Saarbrücken, 26. Juli 1957 Radio Marokko sowie 25. Februar 1962 Radio Genf. Weitere Radiosendungen (wohl auch des RAI-Bandes): 21. Oktober 1953 Radio Hilversum, November 1953 Radio Stockholm, 28. November 1954 Radio Zürich. Laut einem Brief vom 16. Mai 1952 an Frau Luise Reden (Wien IX) – samt Übersendung des Klavierauszuges „anbei“ – „soeben“. Zur Verlagsgeschichte von Volo di notte siehe oben Anm. 50. Inwieweit Gutheim und Reinking von der UE die frühere Übersetzung Felix Lederers erhalten bzw. benützt haben, konnte nicht festgestellt werden. Mit Reinking hatte die UE schon bei den Salzburger
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Im Vorfeld informierte die Badische Zeitung (H. R.) vom 29. November eingehend über das Werk: „[...] ‚Schon steigt ein Orgelklang auf: Das Flugzeug‘, steht am Schluß des Buches. Der musikalische Vergleich ist gegeben. Der Komponist Luigi Dallapiccola, unter Federico Ghedini, Mario Castelnuovo-Tedesco, Goffredo Petrassi oder Nino Rota, das Haupt der italienischen Moderne, hat es in seiner einaktigen Oper ‚Volo di notte‘ ausgezeichnet verstanden, das epische Werk Antoine de Saint-Exupérys in sechs hochdramatische Szenen zusammenzupressen. [...] Die Musik Dallapiccolas, im Zwölftonsystem geschrieben, steigert und durchdringt das Wort der Dichtung. Dallapiccola verwendet zwei Orchester, eines vor der Bühne und eines hinter der Bühne. Motorisches wechselt mit zarter Lyrik, Gesangspartien von expressiver Dynamik mit allen Skalen des Sprechgesangs. Und da ist noch die ‚vox interna‘, eine unsichtbare Frauenstimme, die Stimme des Gewissens, die wie aus dem Unterbewußtsein des Direktors Rivière mahnend spricht, wie die unsichtbaren Chöre, die Stimmen der Menschheit, der Menschlichkeit ...“
Angesichts der Edition von Volo di notte durch die Universal-Edition (Partitur und Klavierauszug 1952; siehe Anm. 50) erfuhr das Werk dann in der Österreichischen Musikzeitschrift eine hymnische Kritik: „Für denjenigen, der die Oper in der zeitlosen Welt der Mythe oder in den zeitentrückten Gefilden der Historie beheimatet wissen möchte, mag der Gedanke etwas Erschreckendes an sich haben, daß ein Opernkomponist die moderne Technik zum ausdrücklichen Gegenstand seines Schaffens wählt, so wie es Luigi Dallapiccola in seinem Einakter ‚Nachtflug‘ getan hat. Sollte sich hier etwas von dem Neorealismus des italienischen Films auf das Musiktheater übertragen haben? Wenn man Dallapiccolas Werk gehört hat, wird man zu andern Resultaten kommen. Luigi Dallapiccola, der mit Frederico Ghedini, Goffredo Petrassi, Mario Castelnuovo-Tedesco oder Nino Rota zu der musikalischen Avantgarde Italiens gehört, ist im ‚Nachtflug‘ auch sein eigener Textautor. Er hat sich die Anregung zu seinem Bühnenwerk aus der denkbar besten Quelle geholt, aus dem Fliegerbuch ‚Vol de nuit‘ des französischen Dichters Antoine de Saint-Exupéry. [...] In allen seinen Büchern taucht die Angst auf vor dem Verlorensein des Menschen an die Maschine, als tief religiöser Mensch weiß dieser Dichter um die Heiligkeit der Natur, die der Mensch verletzt, wenn er Zeit und Raum mit der Maschine überwinden will. Hier setzt Dallapiccola ein. Er hat Saint-Exupérys ‚Nachtflug‘ ins Szenische übersetzt und seine Tendenzen durch die Musik gesteigert und überhöht. [...] bis zum bitteren Ende, als das Flugzeug ins Meer versinkt. Das ist von unerhörter Wirkung; zum ersten Mal sind hier die Mittel der modernen Technik in den Dienst der Operndramaturgie gestellt.
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Festpielen 1950 Kontakt, am 16. Juni 1952 sandte Schlee ihm den Klavierauszug von Volo di notte samt einem kurzen Begleitschreiben („Lieber Freund !“). Rezensionsexemplare des Klavierauszuges gingen u. a. an Hans Ferdinand Redlich (c/o Scherrbacher, Heidelberg-Wieblingen) sowie wohl an Karl H. Wörner, der am 26. November um ein solches bat.
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Wer Gelegenheit hat, die Musik Dallapiccolas etwa in dem Klavierauszug zu studieren, den die Universal-Edition, Wien, vorgelegt hat, der wird ein Partiturbild von äußerster Präzision vorfinden, ähnlich dem Strawinskys. Die Oper ist im Zwölftonsystem geschrieben und erreicht mit diesen Mitteln gelegentlich eine zauberhafte Klanglichkeit und ein bezwingendes Melos bester italienischer Tradition. Dallapiccola verwendet zwei Orchester, eines vor der Bühne zur Untermalung der meist rezitativisch geführten, mitunter aber auch hochdramatisch ausladenden Singstimmen, und eines hinter der Bühne zur Verdeutlichung kosmisch-seelischer Vorgänge; in ähnlicher Weise verkörpern Chöre die Stimmen der Menschlichkeit gegenüber der motorischen Unerbittlichkeit der Welt der Technik, eine ‚vox interna‘, eine unsichtbare Frauenstimme, bildet die Stimme des Gewissens, des Unterbewußtseins; der Welt des Kalt-Rechnerischen sind metaphysische Kräfte übergeordnet. Zusammen mit einer sich ins Grandiose türmenden Rhythmik ergibt sich für den Hörer das Bild einer völlig neuartigen Opernmusik, die bei allem äußeren Aufwand doch sehr sparsam, nobel und diskret ist und die von den Ausführenden höchste Genauigkeit verlangt, Dallapiccola schreibt zum Beispiel nicht weniger als vier nach Deklamationen, Rhythmus und Tonhöhe abgestufte Arten des Sprechgesanges vor. Diese überlegene Klarheit des Klangbildes im Verein mit seiner durchschlagenden dramatischen Kraft sichern dem Werk seine Wirkung. Vor kurzem haben die Städtischen Bühnen Freiburg i. Br. unter der Leitung von Professor Heinz Dressel die deutsche Erstaufführung herausgebracht, die sich zu einem vollen Erfolg gestaltete.“111
Am Rande von Interesse ist eine Intervention von Egon Wellesz, die sich zugunsten Weberns gegen Dallapiccola richtete. Auf Briefpapier von The New Oxford History of Music, deren Editorial Board Wellesz angehörte, richtete der Komponist ein längeres Schreiben an Ernst Hartmann von der UE, das dort am 12. Juli 1954 einlangte. Neben Berichten über Aufführungen eigener Werke und diversen Wünschen ist hier folgendes zu lesen: „Die Oxf. History of Music in Sound (HMV) wollte, um die 12 Tontechnik zu zeigen Dalla Piccola’s [!] Goethelieder in Bd 10 bringen; ich schlug Webern vor. Können Sie mir Lieder von Webern aus der 12 Ton Zeit (also nicht aus der frühen & mittleren Periode) senden, mit kleiner Kammermusikbegleitung, oder Klavier, die ich vorschlagen kann ? Der Cyclus von Dalla Piccola [!] ist für Sopran und 1 Clarinette,112 daher leicht aufführbar und verständlich; aber ich dachte, man soll das Original bringen, und nicht die Kopie.“113 111 112 113
Hanns Reich, „Nachtflug“ von Dallapiccola, in: Österreichische Musikzeitschrift (Rondo) 8/2 (Februar 1953), S. 67. Es handelt sich um die 1953 komponierten Goethe-Lieder für Mezzosopran und drei Klarinetten nach Gedichten aus Goethes West-östlicher Divan. Die Intervention von Egon Wellesz hatte keinen Erfolg, es wurden die Goethe-Lieder von Dallapiccola eingespielt: The History of Music in Sound, General Editor: Gerald Abraham, Vol. X: Modern music [1890– 1950], ed. by Gerald Abraham, Oxford University Press, London 1959. Es handelt sich um zwei Schallplatten, auf deren „Side 3“ neben Werken der „Anti-romantic reaction“ (Strawinsky, Bartók, Janácek und Hindemith) „Twelve-note Music“ zu hören ist: der Marsch aus Schönbergs Serenade, op. 24, sowie
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Dallapiccolas Briefe an Miltiades Caridis (1954–1965) Auf lange Sicht gesehen eine nachhaltige Beziehung Dallapiccolas zu Wien bzw. zu einem viele Jahre in Wien lebenden Musiker rief die österreichische Erstaufführung der Canti di prigionia hervor, die der „Grazer A-cappella-Chor“ unter der Leitung von Miltiades Caridis114 am 24. Mai 1954 im Kammermusiksaal im Rahmen des „Studio[s] für Probleme zeitlich naher Musik“ realisierte. Caridis sandte dem Komponisten zwei Rezensionen des Konzertes zu, worauf sich Dallapiccola umgehend (typ., frz.) mit überschwenglichen, sehr privat gehaltenen Worten bedankte: Firenze, le 5 juin 1954 34 via Romana Tél. 293.163 Cher et honoré Monsieur Caridis, pour étrange qu’il puisse paraître, à mon âge encore il peut arriver de temps en temps d’être attendri, touché jusqu’aux larmes. Un état d’esprit si particulier (pour ce qui concerne ma personne) a toujours un rapport très étroit avec des souvenirs d’enfance ou bien de l’adolescence. En voyage, il y a deux ans, – en voiture – entre New York et Mexico City quel attendrissement j’ai prouvé vis-àvis de la terre rouge de l’Alabama ! Car cette terre rouge n’etait pas dissemblable de la terre de ma patrie. Je suis né, en effet, dans ce Küstenland (Istrien) qui appartenait à L’Empire autrichien; à l’intérieur de cette petite péninsule. Or, en Alabama il m’a fallu penser aux années de mon enfance. (Il ne faut pas oublier que je suis un grand lecteur de Proust et que, par cela, la „recherche du temps perdu“ fait partie de mon être). Et ce matin, en recevant votre charmante lettre et les deux coupures de presse que vous avez eu la gentillesse de m’envoyer, il m’a fallu accomplir un autre voyage à la recherche de mon temps perdu: à la période précisément que j’ai passé à Graz (27 mars 1917 – 19 novembre 1918), car mon Père, directeur du Gymnase de Pisino (sur la route Trieste-Pola), ayant été jugé P.U. (politisch unverlaesslich) par le Gouvernement avait été obligé à quitter le lieu où il avait travaillé bien d’années. Or, la période de Graz a été pour nous une période d’exil;
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die Goethe-Lieder Nr. 2, 3, 5 und 6 von Dallapiccola. Seite 1: „Impressionism“ (Debussy und „Falla“) und „Late Romanticism“ (Skrjabin, R. Strauss, Reger), Seite 2: „Late Romanticism“ (Schönberg: 1. Satz aus dem 2. Streichquartett, Berg: Lieder „In Leukos“ [recte: Leukon] sowie Nr. 2 und 3 aus Opus 2) und „Anti-romantic reaction“ (Satie, Bliss, Milhaud), Seite 4: „Modern eclecticism“ (Roussel, Schostakowitsch, Copland, Rubbra, Rawsthorne). „Volume I: Ancient and Oriental Music“ war 1957 von Egon Wellesz herausgegeben worden. Miltiades Caridis (1923–1998), der (u. a.) an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst bei Hans Swarowsky studierte, war von 1948 bis 1959 Korrepetitor, stellvertretender Chordirektor und Kapellmeister an der Grazer Oper sowie von 1954 bis 1959 Leiter des „Grazer A-cappella-Chores“. 1957–1959 stand er zudem beim Österreichischen Rundfunk (RAVAG) als Dirigent des Großen Wiener Rundfunkorchesters unter Vertrag. 1959–1962 war er Kapellmeister am Kölner Opernhaus, 1962– 1969 an der Wiener Staatsoper, daneben 1960–1967 Chefdirigent der Philharmonica Hungarica (in Marl) sowie 1962–1969 erster Gastdirigent am Radio Kopenhagen. 1969–1975 Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters Oslo sowie 1975–1981 Chefdirigent des Duisburger Symphonie-orchesters, war er von 1979 bis 1985 Chefdirigent des Niederösterreichischen Tonkünstlerorchesters in Wien. Schließlich leitete er ab 1995 das griechische Rundfunk-Orchester. Caridis war international als Experte für die Musik des 20. Jahrhunderts anerkannt.
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mais pour moi a signifiée la découverte de la musique. Si je ne me trompe pas, le 18 mai 1917 j’ai entendu à l’Opernhaus de Graz „Der fliegende Hollaender“. C’est cette soirée-là que j’ai décidé de devenir compositeur („grand compositeur“ – à vrai dire – c’était mon projet). Et combien de fois je me suis rendu dans le poullailler de l’Opernhaus pour entendre „Don Giovanni“, „Ring“, „Tristan“, „Meistersinger“! Et j’ai eu occasion plusieures fois de parler et d’écrire sur Graz et de témoigner ma gratitude à Oscar C. Posa qui alors était chef d’orchestre à l’Opernhaus ! Je ne l’ai jamais connu personnellement: mais il est sûr que, dans le cas que je le recontre un jour à l’Enfer, je lui dirai exactément ce que le Dante dit à Brunetto Latini: m’insegnavate come l’uom s’eterna (Inf., XV). 36 ans se sont écoulés depuis cette période. Et il est tout-à-fait certain que personne parmi ceux qui ont discuté (même applaudi) mes CANTI DI PRIGIONIA était à connaissance que la discussion ou bien les applaudissement du public de Graz m’auraient touchés si profondément. Et encore plus certain que personne ne savait que je devais sans doute beaucoup de mon œuvre à l’expérience de Graz, à la terre de Graz, choses aux quelles je pense toujours avec une gratitude infinie..... Mystère des naissances on lit dans „Ulysses“ de James Joyce. Pour la naissance de l’œuvre d’art c’est la même chose. D’après ce qui precède, vous comprenez, cher et honoré Monsieur, que cette lettre n’a rien à voir avec une lettre de circonstance, avec une de ces lettres que l’on écrit pour remercier un chef d’orchestre qui a donné une très bonne exécution d’une œuvre. Ma gratitude est bien plus authentique; bien plus profonde. Saluez de ma part l’Opernhaus et soyez sûr que je garde toujours le souvenir des derniers mots de Hans Sachs imprimés dans le marbre, du côté de la place; je vous souhaite bon travail et Dieu veuille que un jour nous pouvons nous rencontrer ! Avec mes sentiments les meilleurs, croyez-moi, cher Monsieur, votre très amicalement dévoué [hs.] Luigi Dallapiccola P.S. Il n’y a aucun rapport entre le DIES IRAE et la série de douze sons, employée, d’ailleurs, de façon tout-à-fait libre. Peut-être il vous sera possible de trouver THE MUSICAL QUARTERLY (Juillet 1953) de New York: il y a là un long essai autogiographique [!]: The Genesis of the CANTI DI PRIGIONIA and IL PRIGIONIERO. (Schirmer ed. New York). Malheureusement je n’ai pas une copie du dit article..... Il y a quelques souvenirs sur l’Opernhaus dans des extraits de mon „Journal“ publiés des LETTERATURA (Gabinetto Vieusseux, Palazzo Strozzi, Firenze), N° 33, mars-avril 1947. Sehr geehrter Herr Caridis, So eigenartig dies scheinen mag, so kann es in meinem Alter doch noch hie und da vorkommen, dass ich bis zu Tränen gerührt bin. Ein so eigenartiges Gefühl, was mich selbst betrifft,
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steht immer in sehr engem Zusammenhang mit Jugenderinnerungen. Wie gerührt war ich zum Beispiel auf einer Reise vor 2 Jahren von New York nach Mexiko City, als ich vor mir die rote Erde Alabamas sah, die der Erde meiner Heimat so sehr ähnelt – ich bin nämlich in jenem Küstenland geboren (Istrien), das früher zu Österreich gehörte. In Alabama wurde ich nun sehr an meine Kindheit erinnert (man darf nicht vergessen, dass ich ein eifriger Leser Proust’s bin und dass daher die „Suche nach der verlorenen Zeit“ einen Teil meines Wesens ausmacht.) Diesen Morgen nun, als ich Ihren lieben Brief und die beiden Zeitungsausschnitte erhielt, musste ich abermals eine Suche nach der verlorenen Zeit antreten: In die Zeit, die ich in Graz verbrachte (27. März 1917 bis 19. November 1918), als mein Vater, Direktor des Gymnasiums von Pisino, von der Regierung als politisch unverlässlich erklärt, gezwungen wurde, seinen langjährigen Arbeitsplatz zu verlassen. Wenngleich unser Grazer Aufenthalt für uns eine Zeit des Exils war, so bedeutete er für mich die Entdeckung der Musik. Wenn ich nicht irre, so war es am 18. Mai 1917, als ich im Opernhaus zu Graz eine Vorstellung des „Fliegenden Holländers“ hörte und an jenem Abend entschloss ich mich, Komponist zu werden. – Um bei der Wahrheit zu bleiben, : ein „grosser Komponist“ wollte ich werden... Und wie oft stand ich im Stehparterre des Opernhauses und hörte Don Giovanni, den Ring, Tristan, Meistersinger ! Ich hatte mehrmals Gelegenheit, über Graz zu schreiben und dabei auch des damaligen Opernchefs Oscar C. Posa in dankbarer Erinnerung zu gedenken. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, aber eines ist sicher: Sollte ich ihm einmal in der Hölle begegnen, so würde ich ihm die gleichen Worte sagen, die Dante an Brunetto Latini richtete: [hs. Einfügung in der typ. Übersetzung: Und väterlich hast Du mich eingeweiht, wie man die Menschheit führt zur Ewigkeit !] 36 Jahre sind seitdem vergangen und es ist sicher, dass keiner der Zuhörer, die meine „Gesänge der Gefangenschaft“ abgelehnt oder beifällig aufgenommen haben, ahnen konnte, wie sehr mich gerade das Urteil des Grazer Publikums berühren würde. Und niemand wusste, wie sehr mein Werk der Erde von Graz verbunden ist, der Stadt, an die ich immer mit unendlicher Dankbarkeit zurückdenke. Mysterium der Geburt heisst es in „Ulysses“ von James Joyce, dasselbe gilt für die Entstehung eines Kunstwerkes. Nach allem Vorhergegangenen werden Sie, sehr geehrter Herr, verstehen, dass dieser Brief nichts mit einem jener gewöhnlichen Briefe zu tun hat, in denen man einem Dirigenten für die gute Aufführung eines seiner Werke dankt. Meine Dankbarkeit ist viel tiefer. Grüssen Sie mir das Opernhaus und seien Sie versichert, dass ich mich immer an die letzten Worte des Hans Sachs erinnern werde, die auf der Seite des Platzes in Marmor gemeisselt sind. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg und gebe Gott, dass wir uns eines Tages kennenlernen. Mit meinen besten Wünschen verbleibe ich Ihr Luigi Dallapiccola.115
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Typ. Brief mit hs. Unterschrift Dallapiccolas. Die zitierte (typ.) Übersetzung des Briefes, die wahrscheinlich von Caridis und seiner Frau bzw. seiner Schwiegermutter angefertigt wurde, befindet sich im Nachlaß von Miltiades Caridis. Der Autor dankt der Tochter des Dirigenten, Frau Aristea Caridis, für Nachforschungen im Nachlaß ihres Vaters sowie für die Erlaubnis, die Briefe und Karten Luigi Dallapiccolas einzusehen und auszuwerten. Weiters sei Frau Rebecca Summereder für die Übersetzung der übrigen Briefe Dallapiccolas an Miltiades Caridis gedankt.
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P.S. Es gibt gar keinen Zusammenhang zwischen dem DIES IRAE und der Zwölftonserie, welche, nebenbei bemerkt, in sehr freier Art und Weise angewandt wird. Vielleicht wird es Ihnen möglich sein, THE MUSICAL QUARTERLY (Juillet 1953) von New York zu finden: darin befindet sich ein sehr langer autobiographischer Essay: The Genesis of the CANTI DI PRIGIONIA and IL PRIGIONIERO. (Schirmer ed. New York). Leider habe ich keine Kopie des besagten Artikels. Es gibt ein paar Erinnerungen an das Opernhaus in den Auszügen meines Tagebuchs, welches veröffentlicht wurde in der LETTERATURA (Gabinetto Vieusseux, Palazzo Strozzi, Firenze), No 33, mars-avril 1947.
Caridis’ Brief sowie Dallapiccolas Antwort leiteten einen bis November 1965 fortgeführten Briefwechsel ein, der uns zu Zeugen einer sich nach und nach intensivierenden Künstler-Freundschaft macht, wenngleich derzeit nur eine Seite genauer betrachtet werden kann: 12 Briefe und 7 Karten, die Dallapiccola (immer in französischer Sprache) an Caridis sandte. Der zweite (typ.) Brief Dallapiccolas stammt vom 5. Dezember 1954. Der Komponist berichtet, von einer Spanien-Tournee zurückgekehrt zu sein, die er gemeinsam mit dem Cellisten „Gaspar Cassado“ [!] unternommen habe; dieser sei danach nach Graz aufgebrochen und habe ihm, Caridis, wohl telephonisch seine Grüße mitgeteilt. Dallapiccola hat in Florenz Caridis’ Brief vom 30. November vorgefunden, bedankt sich und gibt seiner Freude Ausdruck, daß Vol de nuit tatsächlich in Graz inszeniert werde. Er bedauert aber, daß nicht Miltiades Caridis die Aufführung leiten dürfe: „In unserem dreckigen Metier (sâle métier) kommt es sehr oft zu Enttäuschungen.“ Dallapiccola versteht, daß Caridis enttäuscht sei, rät ihm aber, geduldig zu sein; seine Zeit werde kommen. („Und die Erde war ihm entgegengesprungen“..., zitiert er Thomas Mann in deutscher Sprache.) Er, Dallapiccola, werde es ihm jedenfalls nie vergessen, daß sein Name durch ihn in jener Stadt bekannt wurde, an die ihn so viele Erinnerungen verbinden. Am 15. März 1955 folgt ein handschriftlicher Brief, in dem sich der für zwei Tage nach Florenz zurückgekehrte Dallapiccola nach einem Dank für das „bezaubernde Schreiben“ von Caridis für den Bericht über die „soirée moderne“ in der Grazer Oper bedankt. Er freut sich, daß Vol de nuit gut aufgenommen wurde, wovon ihm auch schon Dr. Schlee berichtet habe, und will wissen, wie oft die Oper gespielt würde, gibt aber auch erneut seiner Freude über seine „misteriösen“ Verbindungen zu Graz Ausdruck. Schließlich berichtet er, daß Dr. Schlee ihm gegenüber angedeutet habe, daß er seine Beziehungen dahingehend geltend machen werde, Caridis eine Vorstellung der Oper dirigieren zu lassen, und frägt, ob dies bereits der Fall gewesen sei.116 Der nächste (typ.) Brief datiert vom 28. April 1955. Dallapiccola spricht sein Bedauern darüber aus, bei keiner Grazer Vorstellung von Vol de nuit anwesend sein zu 116
Der „Nachtflug“ ging am 10. März 1955 im Grazer Opernhaus gemeinsam mit Carl Orffs Der Mond über die Bühne; Dirigent war Gustav Cerny. Hiezu siehe Dr. Dw., Österreichische Chronik. Graz, in: Österreichische Musikzeitschrift 10/5 (Mai 1955), S. 177f.; ein Dirigat von Caridis hat nicht stattgefunden.
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können. Er habe dies bereits sowohl dem Intendanten117 als auch „M. Baumgarten (ich glaube, daß der Name so richtig ist)“118 unter Angabe der Gründe mitgeteilt. Den Intendanten habe er zudem gebeten, ihm ein Programm von der Premiere zu senden, doch habe er dieses nie bekommen; und auch an weitere (von ihm mitgeteilte) Adressen sei kein Programm gelangt. Dallapiccola bittet nun Caridis, sowohl ihm als auch den im Anhang aufgelisteten Personen je ein Programm zu schicken, und hofft, daß dies nicht zu viele Umstände macht. (Der Anhang ist nicht erhalten.) Schließlich berichtet Dallapiccola, daß er die Partitur der Canti di liberazione vollendet habe. Am 5. und 6. März 1956 konzertiert Dallapiccola gemeinsam mit dem Geiger Sandro Materassi in Graz und in Wien (Einzelheiten hiezu siehe im nächsten Kapitel), wodurch der Komponist mit Caridis (in Graz) zusammentrifft. Nach der (wohl längeren) Tournee kehrte der Komponist am 23. März nach Florenz zurück, zog eine „spirituelle Bilanz“ der Reise und gab am 25. März in einer (hs.) Karte seiner Freude Ausdruck, den Dirigenten nun endlich persönlich kennengelernt zu haben: Er sei ja der Angelpunkt für seine Reise nach Österreich gewesen, und dies insbesondere im Hinblick auf Graz – durch Caridis’ mutige Präsentation seiner Canti di prigionia vor genau zwei Jahren. „Ich werde nie den Empfang vergessen können, den Sie und Ihr Chor mir am Bahnhof bereitet haben. Ich habe den Eindruck, Ihnen nur danke gesagt zu haben, doch wenn ich tief gerührt bin, bin ich nicht in der Lage, lange Reden zu halten ..... Und so sage ich Ihnen noch einmal danke.“ Und Dallapiccola schließt mit besten Wünschen für das Osterfest. Am 27. April 1958 teilt Dallapiccola (typ.) dem „Cher Maître et Ami“ Caridis mit, daß ihm Dr. H.[arald] Kaufmann119 berichtet habe, welch wunderbaren Weg die Karriere des Dirigenten in den letzten Jahren genommen hat. Und er erinnert ihn an seinen Brief vor drei Jahren, in dem er ihn zur Geduld mahnte: „Sie haben Geduld gehabt, haben jetzt gesiegt und siegen noch immer.“ – Dallapiccola hatte von seinem Verleger erfahren, daß sein „Prisonnier“ in Radio Wien präsentiert wurde, und sowohl Kaufmann als auch die Universal-Edition berichteten ihm, daß Caridis diese Aufführung dirigieren durfte.120 Er sei davon entzückt (ravi), da er ihm und 117 118 119
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Von 1954 bis 1965 war André Diehl Intendant des Grazer Opernhauses, zuvor (1950–1954) Viktor Pruscha. Ulrich Baumgartner (1918–1984) war damals Kulturredakteur der Grazer Tageszeitung Neue Zeit und Organisator der „Kapfenberger Kulturtage“, später (1964–1977) Intendant der Wiener Festwochen. Harald Kaufmann (1927–1970), Musikwissenschaftler und Jurist, war Musikkritiker, Librettist, Rundfunkautor und Hochschullehrer. 1967 gründete er an der Grazer Musikakademie (jetzt Universität für Musik und darstellende Kunst Graz) das „Institut für Wertungsforschung“ (jetzt Institut für Musikästhetik), das er bis zu seinem Tod leitete und in dessen Rahmen er ab 1968 die „Studien zur Wertungsforschung“ herausgab. Caridis nahm Il Prigioniero am 25., 26. und 27. Februar 1958 im Österreichischen Rundfunk auf; die Proben hatten ab 14. Februar stattgefunden. Gesendet wurde die Aufnahme laut der Programmzeitung Radio Österreich am 1. Mai 1958 von 20.15 bis 21.20 Uhr im „Dritten Programm (UKW)“. Ausführende waren (u. a.) das Große Wiener Rundfunkorchester, der Chor des Österreichischen Rundfunks – Radio Wien (Einstudierung: Gottfried Preinfalk), Gertraud Hopf (die Mutter), Eberhard Wächter (der Gefangene) und Dino Halpern (Kerkermeister und Großinquisitor). Eine weitere Ausstrahlung fand am 28. Februar 1959 statt.
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seiner künstlerischen Ader vertraue, obwohl er ihn nicht als Dirigent erlebt habe. Ein Wiener Freund habe ihm aber eine Rezension von der Pressevorführung der Aufnahme geschickt, aus der er trotz ihrer Kürze entnehmen konnte, daß Caridis’ Leistung großartig gewesen sei. Und so möchte er sich mit derselben Intensität bedanken wie seinerzeit nach der österreichischen Erstaufführung der Canti di prigionia. – Dallapiccola berichtet nun von seiner sehr interessanten Tournee in die Schweiz sowie nach Deutschland, Dänemark und Schweden. In Stockholm habe er Proben und einer Aufführung der Canti di liberazione beigewohnt, den Klavierpart seines Piccolo Concerto gespielt, zwei seiner Lieder-Zyklen begleitet und „la première série des Choeurs de Michelangelo le Jeune (1933!)“ sowie die Goethe- und „Anakreons-Lieder“ dirigiert. Am 6. September werde er für vier Monate nach New York reisen, seinem Verleger habe er soeben das Manuskript seines „Concerto pour la nuit de Noël de l’année 1956“ gegeben; derzeit arbeite er an einer von Radio Hamburg bestellten „Cantate“ (so der provisorische Titel). Und er beschließt den Brief mit den besten Wünschen für Caridis’ Arbeit. Am 26. Oktober 1958 bedankt sich Dallapiccola handschriftlich für Caridis’ „bezaubernden“ Brief vom 10. Oktober und gratuliert ihm zu seinem Engagement an das Kölner Opernhaus. „Wenn ich nicht irre, ist dort Herr Dr. Schuh Intendant?“ Dallapiccola bedauert, daß das Engagement erst im nächsten Jahr beginnt, da er Ende November nach Köln fährt, um dort den letzten Proben (unter Hans Rosbaud) für die deutsche Premiere seines „Concerto pour la nuit de Noël de l’année 1956“ beizuwohnen – dieses Werk habe er in den USA über Auftrag der „Ramem Society“ von Tokio geschrieben, und er hoffe, daß seine Musik trotz dieses „kontinentalen Salats“ ausreichend italienisch geblieben ist („in my way“ – zumindest). Er hätte sich hierüber gerne mit Caridis ausgetauscht. „Ihre Karriere führt Sie nun logischerweise an die größten Theater. Aber ich erlaube mir, da ich um einiges älter bin, Ihnen zu empfehlen, nie das Theater in Graz zu vergessen. Vielleicht haben Sie dort manchmal gelitten, aber vergessen Sie es trotzdem nie. Ich hoffe, daß Sie von Zeit zu Zeit dort [deutsch: ‚als Gast‘] dirigieren. Bitte versprechen Sie es mir.“
Dallapiccola fährt fort: „Mich hat sehr berührt, was Sie über ,Le Prisonnier‘ geschrieben haben“, welche Oper übrigens (angeblich) im Dezember in Basel aufgeführt wird. Im selben Monat soll im Juilliard Theatre von New York sein „mystère Job [Hiob]“ von 1950 über die Bühne gehen. Danach bedankt sich Dallapiccola, daß Caridis in sein Wiener Programm sein „Jugendwerk“ aufgenommen hat,121 das 121
Caridis dirigierte am 17. Dezember 1958 im Großen Sendesaal des Österreichischen Rundfunks in Wien neben (vom Großen Rundfunkorchester ausgeführten) Werken von Boccherini und Mozart (Klavierkonzert d-Moll, KV 466, mit Paul Badura-Skoda) alle sechs Cori di Michelangelo Buonarroti il giovane (es sang der Chor des Österreichischen Rundfunks): Il coro dei Malammogliati, Il coro delle Malmaritate, I balconi della rosa, Il papavero, Il coro degli zitti und Il coro dei lanzi briachi. Ausgestrahlt wurde dieses Konzert am 7. Jänner 1959 um 21.30 Uhr im „Dritten Programm (UKW)“ sowie am 12. Februar 1959 um 0.05 Uhr im „Zweiten Programm“. Die Österreichische Erstaufführung von Il coro dei Malammogliati und Il coro delle Malmaritate hatte am 15. Juni 1954 im Mozart-Saal des Konzerthauses durch den Akademie-
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er nie verleugnet habe (er selbst dirigierte im April in Stockholm die I. Serie des „Michelangelo“: Selbstverständlich sei sein Stil heute anders, aber er denke dennoch, damals – vor einem Vierteljahrhundert – einige Musik hineingelegt zu haben). Danach spricht Dallapiccola die Hoffnung aus, in der nächsten Woche sein viertes Werk für Chor und Orchester zu beenden: Requiescant, in fünf Sätzen; die Nummern 1, 3 und 5 für Stimme und Instrumente, die anderen für Orchester allein. Es sei dies eine Bestellung aus Hamburg, wo die Uraufführung im Oktober 1959 sein werde. Schließlich gratuliert Dallapiccola seinem „cher ami“ noch einmal und bedankt sich für die Freundschaft. Eine Fortsetzung findet der in Wien erhaltene Briefverkehr am 27. August 1959 (typ.). Dallapiccola gibt aus seinem Feriendomizil Forte dei Marmi (Lucca), 35 via Mattéo Civitali, seiner Freude Ausdruck, daß Caridis in Perugia dirigieren werde,122 bedauert aber, bei dessen Ankunft nicht anwesend sein zu können – Gott allein weiß, wie gerne er ihn persönlich begrüßt hätte, weil er sich mit Wehmut an das „rührende und unvergeßliche Willkommen“ am Grazer Bahnhof erinnert. – Am 8. September werde er erneut nach Amerika einschiffen und dort bis Ende Jänner bleiben. Frau und Tochter würden ihn bis Paris begleiten und am 21. September nach Florenz zurückkehren. Sollte Caridis dorthin kommen (und Florenz sei eine sehr sehenswerte Stadt), möge er seine Frau anrufen und ein Treffen organisieren; seine Frau, die gut deutsch spricht, würde sich freuen, ihn nach den vielen Erzählungen auch persönlich kennenzulernen. – Dallapiccola hofft, daß der erste Kontakt mit dem italienischen Publikum Caridis einen großen Erfolg einträgt und daß er in Perugia zufrieden sein werde. Seine Adresse in New York, falls es Neuigkeiten gebe: „Hotel Wellington, 55th Street & Seventh Ave“. – Gegen den 25. April werde er in Köln sein und hoffe auf ein Treffen. Handschriftlich folgt ein Brief vom 30. Jänner 1960 aus Florenz. Dallapiccola kehrte vor einigen Tagen aus New York zurück, wo er Caridis’ „netten Brief“ vom 23. Dezember erhielt. Er hatte ein Zimmer im Hotel Wellington reserviert, mußte aber umdisponieren, denn offensichtlich dürfen in New York Komponisten nur im Great Northern Hotel wohnen .... – daher die verspätete Antwort. Er habe übrigens aus Paris großartige Nachrichten über Caridis’ Tätigkeit in Köln erhalten. (Dallapiccolas Freund Gaspar Cassadó, Professor an der Kölner Hochschule für Musik, wird den Kontakt zu ihm suchen.) Und Dallapiccola gratuliert Caridis zu seinem Mut, einige Jahre zu warten – er sei ein großartiges Beispiel in der heutigen schnellebigen Zeit, in der jeder vom Dämon der Geschwindigkeit besessen ist. Vom 23. bis 25. April werde er sicher in Köln sein und hoffe, Caridis zu sehen; vielleicht könnten sie auch zusammen die Canti di liberazione hören. Er freut sich, daß Caridis das Werk
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Kammerchor unter Ferdinand Grossmann stattgefunden. Sie wurde vom Rundfunk aufgenommen, eine Nachaufnahme dürfte am 21. Juni stattgefunden haben. Ein Sendetermin ist auf den Karteikarten nicht verzeichnet. Caridis interpretierte am 22. September 1959 im Rahmen der „XIV Sagra musicale Umbria“ zusammen mit der Wiener Singakademie und den Wiener Symphonikern Kirchenmusik von Joseph Haydn, darunter die Missa in tempore belli sowie das Te Deum für die Kaiserin Marie Therese.
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im Mai in Wien dirigieren wird, kann aber leider nicht bei dieser wichtigen Aufführung sein. Er hat sich in Amerika sehr angestrengt und muß jetzt komponieren. Die von Cassadó bestellten Dialoge für Violoncello und Orchester hat er fertiggestellt; nur die Partitur ist noch zu schreiben, zudem muß er an die nächste Oper denken (Ulysses). „Mein Gott, wie ist das Leben kurz .....“ Er freut sich, nach vier Monaten wieder bei der Familie zu sein und Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Und außerdem freut er sich auf den Gedankenaustausch mit Caridis im April. Am 24. Mai 1960 teilte Caridis dem Komponisten („Mon cher ami“) offenbar mit, daß die Wiener Aufführung der Canti di liberazione nicht stattgefunden habe,123 jedenfalls gibt Dallapiccola in einem (typ.) Brief vom 1. Juni 1960 seinem Bedauern darüber Ausdruck – vielleicht habe der Chorleiter nicht realisiert, daß das Werk solche Schwierigkeiten aufweise. Vom 14. bis 16. Juni werde er in Köln sein und am 17. Juni nach Wuppertal reisen, wo Le Prisonnier gegeben wird; laut einem gestern erhaltenen Telegramm sei die Premiere ein großer Erfolg gewesen. Er freut sich, Caridis und seine Frau wieder zu sehen, und hofft, daß diesmal keine unprofessionellen Sängerinnen seinen Deutschland-Aufenthalt vergiften. In einer (hs.) Postkarte vom 27. Juni 1960 berichtet Dallapiccola dann von seinen Aufenthalten in Köln (drei Tage) und Wuppertal (einen halben Tag). Er habe zweimal versucht, Caridis telephonisch in der Oper zu erreichen, aber ... „no answer“. Und so mußte er zum Schluß kommen, daß Caridis auf Reisen gewesen sei; er bedauere zutiefst, ihn verpaßt zu haben, weswegen er nun diese wenigen Zeilen schreibe, um ihn seiner Freundschaft zu versichern. Am 21. November 1960 teilt Dallapiccola (typ.) Caridis mit, gerade [Aurel] Milloss124 geschrieben zu haben, um ihm mitzuteilen, daß er am 3. Dezember abends mit seiner Tochter in Köln ankommen und dort bis 6. Dezember bleiben werde. (Am 5. Dezember findet in der Reihe „Musik der Zeit“ die deutsche Premiere seiner „Dialogues pour violoncelle & orchestre“ statt.) Er hofft, das Ehepaar Caridis zu treffen – er wohnt wie immer im „Königshof“. Inoffiziell hat er erfahren, daß 123
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Die Canti di liberazione hätten am 11. Mai 1960 im Großen Sendesaal des Österreichischen Rundfunks durch den (von Gottfried Preinfalk einstudierten) Chor des Österreichischen Rundfunks unter der Leitung von Caridis aufgeführt werden sollen. Sie wurden durch ein Werk von Alexandre Tansman ersetzt. Dem Abendprogramm war ein Zettel mit folgendem Vermerk beigelegt: „Aus materialtechnischen Gründen mußten die ,Canti di liberazione‘ von Luigi Dallapiccola auf einen späteren Termin verschoben werden. [...].“ Sie gelangten dann erst am 10. Februar 1961 durch „Chor und Orchester des Österreichischen Rundfunks – Radio Wien“ unter der Leitung von Ernst Märzendorfer (der den ursprünglich vorgesehenen Michael Gielen ersetzte) zur Aufführung. Gesendet wurde dieses Konzert am 22. Mai 1962 im „Zweiten Programm“ sowie am 3. März 1969 im „Ersten Programm“. Eine erste Ausstrahlung erfuhren die Canti di liberazione bereits am 4. Oktober 1959 um 21.15 im „Dritten Programm (UKW)“, und zwar in einer Aufnahme, die bei den „Semaines musicales de Paris“ durch Orchester und Chor der RAI-Rom unter der Leitung von Nino Sanzogno getätigt wurde. Schließlich fand laut Karteikarte des Rundfunks am 24. Juli 1971 durch ORF-Chor, ORF-Orchester und Carl Melles eine Aufnahme statt, die am 19. März 1973 und 21. Februar 1975 zur Sendung kam. Die Ausstrahlung vom 21. Februar 1975 scheint im gedruckten Rundfunk-Programm nicht auf, da es sich um eine kurzzeitig zusammengestellte Gedenksendung für den am 19. Februar verstorbenen Komponisten handelte. Aurel von Milloss (1906–1988), Tänzer, Choreograph und Ballettdirektor, war von 1959 bis 1963 Ballettdirektor der Kölner Oper.
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bei den Wiener Festwochen 1961 seine Cori di Michelangelo il Giovane aufgeführt würden, und er hofft, daß Caridis dirigieren wird.125 Dallapiccola erinnert Caridis, daß sie schon einmal über Vergangenheit und Zukunft dieses Werkes korrespondiert hätten und daß er gesagt habe, er würde es nicht negieren. Heute sei er stolz, daß es aufgeführt wird und hätte „keine Gewissensbisse“. Im übrigen habe ihm Radio Köln vor zwei Wochen Kritiken über seine beim IGNM-Festival vom letzten Juni aufgeführten Canti di liberazione geschickt.126 Eine der Kritiken trägt die Überschrift „Nicht an Wirkung verloren“, womit sein Werk gemeint gewesen sei. Der Kritiker fand es großartig, daß ein vor fünf Jahren gehörtes Werk „auch heute noch seine Wirkung macht...... Dahinter versteckt sich ein strenges Urteil, wie mir scheint, aber auch ein furchtbares Urteil über die Zerbrechlichkeit (fragilité) der Materie, mit der wir in unserer Zeit arbeiten...... Oder irre ich mich?“
Und Dallapiccola hofft, diese Diskussion in wenigen Tagen weiterführen zu können. In einer (hs.) Postkarte vom 28. November 1960 bedankt sich Dallapiccola von ganzem Herzen für Caridis’ lieben Brief und hofft, die ausgesprochene Einladung annehmen zu können. Er kann aber noch keine Antwort geben, bevor er den Kölner Probenplan erfährt, und bittet Caridis, ihn zwischen 4. und 12. Dezember um 9 Uhr früh im Hotel „Königshof“ anzurufen. Am 9. Dezember 1960 berichtet Dallapiccola (typ.), nach kurzem Aufenthalt in Zürich nun wieder in Florenz zu sein. In Zürich habe er Hans Rosbaud bei guter Gesundheit angetroffen: Rosbaud sei gerade aus den USA zurückgekehrt, wo er 14 Konzerte in Chicago sowie vier Konzerte in New York dirigierte – solch eine Aktivität sei ein Beweis, daß es ihm besser gehe.127 – Er schreibe diese wenigen Zeilen heute abend, um sich, auch im Namen seiner Tochter, für den freundschaftlichen Empfang und den entzückenden Abend zu bedanken; und er bittet Caridis, seiner Schwiegermutter zu übermitteln, daß er und seine Tochter von ihrer Persönlichkeit beeindruckt gewesen seien. – Dallapiccola legt Caridis seinen Brief an Madame Lanfranco bei, der Intendantin des „Théâtre Carlo Felice“ von Genua, weiß aber nicht, ob dieser seine „elaborierte“ schwierige italienische „Prosa“ versteht. Er wolle ihn aber über seine Aktivitäten am laufenden halten und ihm zeigen, daß er immer Garantien für eine künstlerische „Ordnung“ fordere. Wenn es diese Garantien 125
Il coro delle Malmaritate und Il coro dei Malammogliati wurden am 29. Mai 1961 im Rahmen des 35. Weltmusikfestes der IGNM sowie des 10. Internationalen Musikfestes der Wiener Konzerthausgesellschaft im Mozart-Saal durch den „Nederlands Kamerkoor“ unter Felix de Nobel interpretiert und bereits am 30. Mai im „Dritten Programm (UKW)“ des Österreichischen Rundfunks gesendet. Am 26. November 1968 erklangen die beiden Chöre in demselben Saal durch den Akademiekammerchor Graz unter der Leitung von Karl Ernst Hoffmann. 126 Das 34. Weltmusikfest der IGNM, in deren Rahmen die Canti di liberazione Aufführung gelangten, fand vom 10. bis 19. Juni 1960 in Köln statt. 127 Hans Rosbaud (1895–1962), international renommierter Dirigent Neuer Musik, leitete u. a. 1954 in Hamburg die konzertante sowie 1957 in Zürich die szenische Uraufführung von Schönbergs Moses und Aron.
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nicht gebe, wäre es besser, die Sache bleiben zu lassen. Schließlich hofft Dallapiccola, Caridis in Italien empfangen zu dürfen. Knapp drei Wochen später, am 29. Dezember 1960, berichtet Dallapiccola (hs.) Caridis, gestern einen Anruf aus Genua erhalten zu haben. Er nimmt an, daß Madame Lanfranco ihn inzwischen telegraphisch gefragt habe, ob er in der Periode vom 19. bis 30. April frei wäre, um Vol de nuit zu dirigieren. Sie würden „alle sehr gespannt“ auf seine Antwort warten.128 Weiters bedankt sich Dallapiccola aus ganzem Herzen für den lieben Brief und bittet (auch im Namen seiner Frau und seiner Tochter) sowohl Caridis als auch seine Frau und seine Schwiegermutter, ihre besten Wünsche für das Neue Jahr entgegenzunehmen:
Abbildung 4: Luigi Dallapiccola an Miltiades Caridis, 29. Dezember 1960.
Dezember 1961 bedanken sich Luigi, Laura und Annalibera Dallapiccola (hs.) auf einer Postkarte (adressiert an „M. et Mme. Miltiades Caridis, Hermann Pflaume128
Die Aufführungen in Genua scheinen nicht zustandegekommen zu sein (siehe auch unten). Caridis hat dort jedenfalls nicht dirigiert.
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straße 32, Köln-Braunsfeld“) für „votre amical souvenir“ und wünschen frohe Weihnachten sowie ein gutes Neues Jahr, am 19. Juli 1962 gratuliert Dallapiccola samt Frau und Tochter (hs.) Caridis und seiner Familie129 zum neuen Haus (in Köln) und wünscht ihm einen schönen Sommer sowie gute Arbeit. Auf der nächsten, mit 6. Februar 1964 datierten (hs.) Postkarte gibt Dallapiccola der Hoffnung Ausdruck, daß diese Zeilen Caridis „somewhere, sometime, somehow ...“ erreichen werden, und bedankt sich für die „Erinnerung“, die ihn zutiefst berührt hat. „Mitte Jänner ist im Grazer Opernhaus ,Le Prisonnier‘ präsentiert worden, und ich habe viel an Sie gedacht. Sie waren in der Tat derjenige, der zum ersten Mal meine Musik in der Steiermark eingeführt hat: ich würde sogar sagen: nach Österreich ... Mit den besten Wünschen und in treuer Freundschaft, Ihr Luigi Dallapiccola“.
Abbildung 5: Postkarte von Luigi Dallapiccola an Miltiades Caridis vom 6. Februar 1964.
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Caridis war mit Sonja, geb. Dengel (21. Juli 1923, Berlin – 3. August 2003, Wien), verheiratet; am 11. September 1961 wurde die Tochter Aristea geboren.
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Die letzte (hs.) Postkarte, die sich erhalten hat, stammt vom 29. November 1965 und bezieht sich auf eine Mitteilung von Caridis, der wahrscheinlich irgendwo Aram Chatschaturjan begegnet ist:130 „Wenn die ,historische Funktion‘ von Herrn Chatschaturjan die ist, mir die Möglichkeit gegeben zu haben, von Ihnen Neues zu hören, so beginne ich, diesem Herrn eine gewisse Bedeutung seiner Präsenz auf dieser Erde zuzuerkennen ....“
Und er bedankt sich für das Schreiben, würde aber gerne Details über Caridis’ Aktivitäten erfahren. Er arbeite intensiv an seiner neuen Oper, Annalibera studiere in Heidelberg, seine Frau kümmere sich um ihn. Und Dallapiccola schüttelt Caridis, auf Neuigkeiten wartend, in altbewährter Freundschaft die Hand. Damit endet der in Wien erhaltene Briefwechsel zwischen Dallapiccola und Caridis; über allfällige weitere Beziehungen oder Begegnungen kann wohl nur der Nachlaß des Komponisten Auskunft geben. Dallapiccola, Wien und die Universal[-]Edition 1956–1975 Am 6. März 1956 brachte Dallapiccola (nach einer ersten Aufführung vom 5. März in Graz131) gemeinsam mit dem Geiger Sandro Materassi im Vortragssaal der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst (3. Bezirk, Lothringerstraße 20) im Rahmen eines von der Sektion Österreich der IGNM veranstalteten Konzertes (Abbildung 6) seine Tartiniana Seconda / (Divertimento per violino e pianoforte) (1955) in dieser kammermusikalischen Fassung zur Uraufführung, zudem erklangen hier seine „Due Studi (1946–1947)“.132 Im Vorfeld war im Wiener Neuen Kurier unter der Überschrift „Am 6. März: Luigi Dallapiccola musiziert zum erstenmal in Wien“ eine Ankündigung zu lesen, die voll der Kritik an den „offiziellen“ Vertretern der Wiener Musikszene ist: „Der 6. März dieses Jahres bringt einen prominenten Komponisten nach Wien: Luigi Dallapiccola, eine der fruchtbarsten und originellsten schöpferischen Po130
Ein Dirigat eines Werkes von Chatschaturjan durch Caridis hat nach dessen (sehr vollständigen und gut geordneten) Unterlagen nicht stattgefunden. 131 Der ORF nahm laut den in seinem Archiv erhaltenen Karteikarten am 4. März 1956 Dallapiccolas Kleines Konzert für Klavier und Kammerorchester (für Muriel Couvreux) unter der Leitung von Kurt Richter und mit dem Komponisten am Klavier (Sendungen: 27. Juli und 29. September 1956 im Zweiten Programm) sowie am 5. März 1956 mit Sandro Materassi und Dallapiccola die Zwei Studien (Sendung laut Karteikarte am 13. Jänner 1969 [!] im Ersten Programm) auf. Das Kleine Konzert gelangte dann noch einmal am 21. Februar 1975 im Ersten Programm im Rahmen einer kurzfristig programmierten Sendung „in memoriam Luigi Dallapiccola“ zur Ausstrahlung (vgl. Anm. 123). 132 Laut dem im Archiv der IGNM Österreich befindlichen Abendprogramm (Abbildung 6, S. 94); vgl. Anm. 131. Im Rahmen der Sektion Österreich der IGNM hatte „Charlotte Zelka (Los Angeles), Schülerin von Artur Schnabel“, schon am 14. Dezember 1954 (neben Werken von Toch, Krenek, Strawinsky, Schönberg und Hindemith) Dallapiccolas Quaderno musicale di Annalibera zu Gehör gebracht. Zudem hatte sie dieses „Musikheft für Annalibera“ laut Karteikarte des Rundfunks am 20. April 1954 aufgenommen (Sendung: 9. Juli 1954, Zweites Programm).
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tenzen der italienischen Gegenwartsmusik, wird zusammen mit dem Mailänder Geiger Sandro Materassi in einer Veranstaltung der IGNM [...] konzertieren. [...]. Ehe Dallapiccola zu seinem ersten Wiener Konzert hier eintrifft, wird er Graz einen Besuch abstatten, wo nicht nur seine ‚Gesänge der Gefangenschaft‘, sondern auch seine Oper ‚Nachtflug‘133 in Österreich erstaufgeführt wurden. Aus diesem Anlaß sind einige Empfangsvorbereitungen getroffen worden. So soll Dallapiccola bei seiner Ankunft unter anderen [!] von Kapellmeister Caridis und dem Grazer a-cappella-Chor auf dem Bahnsteig mit einige Takten aus den erwähnten „Gesängen der Gefangenschaft“ begrüßt werden. Das geschieht freilich in einer Stadt, in der es nicht der IGNM vorbehalten bleibt, die Bedeutung dieses großen Komponisten richtig einzuschätzen, in der vom Landesmusikdirektor bis zum Musikverein alle künstlerischen Aktiva mobil gemacht werden, um den prominenten Gast zu ehren.“134
Von Dallapiccolas Grazer Konzert bzw. insgesamt von seinem Aufenthalt in der steirischen Landeshauptstadt berichtete das Blatt (Autor: „E. C.“) dann am 6. März folgendes: „Die alte und die neue Liebe: Luigi Dallapiccolas Wiedersehen mit Graz Herzlicher Empfang für den italienischen Komponisten Heute: | Konzert in Wien Als sprühenden, dabei wirklich illustren Geist, nicht nur in seiner Musik, sondern auch im Wort, lernte Graz den florentinischen Weltmann Luigi Dallapiccola nun auch persönlich kennen – den führenden Repräsentanten der ‚Musica nova‘ in Italien, für den sich in der steirischen Landeshauptstadt der junge Dirigent Miltiades Caridis mit einer ausgezeichneten Aufführung der ‚Gesänge aus der Gefangenschaft‘ und das Opernhaus mit einer fesselnden ‚Nachtflug‘Inszenierung erfolgreich eingesetzt haben. (Beide Werke erklangen in Graz als österreichische Erstaufführungen.) Für Dallapiccola selbst war der Besuch in Graz außerdem ein Wiedersehen mit der Stadt, die er in einer für seine Familie sehr schweren Zeit – sein Vater mußte hier während des ersten Weltkrieges fast zwei Jahre in unfreiwilligem Exil verbringen – als Vierzehnjähriger kennen und dennoch sehr lieben gelernt hat. Auf Schritt und Tritt fühlte er sich von Erinnerungen ‚angerührt‘, schon bei seinem ersten nächtlichen Gang durch die Straßen – alle Italiener müssen sich, wie er sagte, wenn sie ins Ausland kommen, zuerst einmal ‚umsehen‘, ganz gleich, zu welcher Stunde sie eintreffen. Daß er sich auch musikalisch sofort daheimfühlen konnte, dafür hatten Miltiades Caridis und einige Mitglieder seines A-cappellaChors gesorgt: Als der Zug auf dem Bahnsteig zu später Stunde einlief, klang ihm ein Sätzchen aus den ‚Canti di Prisoniera‘ [!] entgegen. Ein Konzert im Grazer ‚Studio für Probleme zeitlich naher Musik‘ gab ihm Gelegenheit, sich als exzellenter Pianist vorzustellen, zusammen mit dem Bologneser Geiger Sandro Materassi, der ihm seit langen Jahren Freund und ‚Bruder‘ in 133 134
Siehe Anm. 114. Neuer Kurier, Wien, 27. Februar 1956, S. 5.
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der geistig-musikalischen Haltung ist. Es gab gerade ein Musterexempel der Ebenbürtigkeit des Könnens, das aus der absoluten Werkbeherrschung mit bestrickender Selbstverständlichkeit eingesetzt wird, animato und impetuoso, dabei immer in Zucht und Form gehalten durch den romanischen Sinn für Nobilita. Aus dem Programm, das Werke von Haydn, Strawinsky und Milhaud brachte, interessierte natürlich besonders Dallapiccolas eigenes Opus: die ‚Due Studi‘, in denen es sich überzeugend zeigte, daß Zwölftonmusik, wenn sie sich aus der Sklaverei eines starren Prinzips löst und von musikantischen Impulsen getragen wird, starkes Leben gewinnen kann. Vor allem erwies sich die Fuge als ein packendes Stück neuer Musik. Mit Dallapiccola wurde der exzellente Geiger stürmisch gefeiert. Es war rührend, daß sich Dallapiccola gleich darauf ins Opernhaus begab, um bei einer Aufführung des ‚Fliegenden Holländers‘ nach dem Stehplatz auf der Galerie Ausschau zu halten, auf dem er als Knabe dieses Werk zum erstenmal gehört hat. Da hatte er, wie er selbst sagte, zum erstenmal die Berufung gefühlt, Komponist und Musiker zu werden. Bei einer ‚Conversation musical‘ im Landeskonservatorium ging Dallapiccola höchst anregend auf die großen geistigen Aspekte seines Schaffens ein, wobei er Mozarts ‚Don Giovanni‘ zum Ausgangspunkt fesselnder Ausführungen über den musikalischen Expressionismus nahm, um sich dann sehr nachdrücklich zu den Ordnungselementen in Schönbergs Lehre zu bekennen. Graz hat den Maestro, der sich so herzlich zu seiner alten Liebe bekannt hat, mit neuer Liebe aufgenommen. * Luigi Dallapiccola wird heute in einer Veranstaltung der IGNM im Vortragssaal der Akademie konzertieren, und zwar mit demselben Partner wie in Graz (Sandro Materassi). Aufgeführt werden Sonaten von Milhaud, Strawinsky, Dallapiccola und Rota. Beginn: 18.30 Uhr.“135
Die Besprechung des Konzertes selbst lautete dann folgendermaßen: „Das Abgründige in Dallapiccola Der italienische Meister und Sandro Maseratti [!] als Gäste der IGNM Luigi Dallapiccola gehört zu den Avantgardisten der musikalischen Moderne. Man bekam es bestätigt, als der Komponist zusammen mit dem Geiger Sandro Maseratti seine zwei Studien für Violine und Klavier aufführte. Zwölftonmusik ganz persönlicher Prägung, licht im Klang und klar in der Zeichnung. Die ‚Tartiniana‘ hingegen ist ein Gustostückerl für jeden Geiger und würde auch das konservativste Publikum im Brahms-Saal entzücken: Das Werk strotzt nur so vor Tonalität. Für den Dogmatiker tut sich hier ein Abgrund auf. 135
Neuer Kurier, Wien (6. März 1956), S. 5. Überschriften, erster Absatz und Nachsatz (KonzertAnkündigung) fett. Vgl. Österreichische Musikzeitschrift 11/4 (April 1956), S. 156: „Aufhorchen ließen auch zwei Duo-Abende: im Studio des Landesmusikdirektors spielte Luigi Dallapiccola (Klavier) mit dem Geiger Sandro Materassi Werke von Haydn, Strawinsky (Konzertantes Duo), Milhaud (12. Sonate) und Proben aus der eigenen Werkstatt; [...].“ Zu den Wiener Konzerten mit Werken Dallapiccolas siehe auch den Beitrag von Manfred Permoser im vorliegenden Band.
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Dallapiccola spielte nicht nur eigene, sondern auch Werke anderer zeitgenössischer Komponisten. Von Darius Milhaud stand die spritzige Schaumschlägerei der zweiten Violinsonate, von Igor Strawinsky das aus härterem klanglichem und rhythmischem Stoff geformte ‚Duo concertant‘ auf dem Programm. Können und Mühe der beiden hervorragenden Interpreten waren an die erste Programmnummer, eine Geigensonate von Nino Rota, verschwendet. Dieser dünne Respighi-Aufguß dürfte sogar den wenigen konservativen Zuhörern auf die Nerven gegangen sein. Aber: Dallapiccola gehört zu den Avantgardisten. Das ist international anerkannt und sogar lexikalisch beglaubigt. Da darf er sich schon viel erlauben. Frei nach dem Motto: ‚Ist der Ruf einmal ruiniert, lebt man gänzlich ungeniert !‘ “136
Abbildung 6: IGNMKonzert vom 6. März 1956 in Wien. 136
Neuer Kurier, Wien (8. März 1956), S. 5 (Überschriften fett). Gezeichnet ist der Artikel mit „R. W.“ (= Rudolf Weishappel).
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Am 26. April 1956 interpretierten der Wiener Kammerchor und das Kammerorchester der Wiener Konzerthausgesellschaft im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses unter der Leitung von Hans Gillesberger Dallapiccolas Canti di prigionia,137 am 23. September 1957 (hs., frz.) bedankt sich Dallapiccola bei Schlee für das Programm des Konzertes der „ISCM“, in dem seine „Machado-Lieder“ enthalten waren,138 sowie für die „nette Zusendung der 1. Kantate von Webern“ und berichtet, „nach kurzem Aufenthalt in Milano und zwei Tagen in Venedig“ in Florenz wieder die Arbeit aufzunehmen. Von speziell hohem Interesse ist dann Dallapiccolas Brief (typ., ital.) vom 9. März 1959 (seine Antwort auf einen in Wien nicht erhaltenen Brief der UE vom 26. Februar), der auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt. Dallapiccola nimmt hier zunächst zur prozentualen Verteilung der Tantiemen zwischen dem Verlag Gallimard, den Übersetzern „in anderen Sprachen als italienisch oder französisch“ und sich selbst Stellung und fährt dann fort: „Sie wissen, wieviel Vorbehalte ich gegen die Übersetzung von Gutheim gehabt hatte: Sie erinnern sich, wie sehr ich die Vulgarität dieser Übersetzung bedauert hatte – um ein einzelnes Beispiel zu nennen: ‚Ich bleibe lieber zu Hause mit Dir‘ wurde, in der deutschen Übersetzung, zu ‚Ich bleibe lieber im Bett mit Dir‘, was ich glücklicherweise noch in den Vorlagen ändern konnte, obwohl sie mir geschickt wurden, erst nachdem der deutsche Text bereits eingetragen war und die Übersetzung von Dr. Lederer ohne mein Wissen abgelehnt worden war, Übersetzung, die seinerzeit meine volle Zustimmung gehabt hatte. Wie die Sachen nun stehen, habe ich das Gefühl dass, was Herrn Gutheim und die Universal Edition anbelangt, weder Gallimard noch ich damit zu tun haben.... Da wir aber schon dabei sind, möchte ich fragen, ob manche Ungenauigkeiten und Fehler, die den Text ganz verzerrten, inzwischen ausgebessert worden sind. Z. B. jene ‚Ehrenkette‘ auf der letzten Seite, wo es sich doch aber um die Kette eines Gefangenen handelt, la chaîne de la lourde victoire.139 Sie erinnern sich zweifellos auch daran, dass, nach der Korrektur der Partiturvorlage, die mir und meiner Frau unsagbare Mühe verursachte, Sie mir schrieben, dass Sie mir ein Exemplar der Partitur geschickt hatten und auch die einzige Photokopie des
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Das Konzert wurde von der RAVAG aufgenommen und am 6. Juni 1956 im Dritten Programm gesendet. Die Canti di prigionia wurden vom Wiener Kammerchor unter Hans Gillesberger am 5. Dezember 1958 erneut im Mozart-Saal realisiert (Sendung: 16. März 1959 im Dritten Programm). Zuvor waren am 17. und 18. Dezember 1957 im Großen Konzerthaus-Saal Dallapiccolas „Variationen für Orchester (1954)“ durch die Wiener Symphoniker unter Lorin Maazel gespielt worden. Hier handelte es sich wieder um ein Wiener IGNM-Konzert: Die Quattro Liriche di Antonio Machado wurden am 4. Februar 1957 in einem von Carla Henius (Mannheim) bestrittenen Liederabend (Klavier: Norbert Scherlich) zur Aufführung gebracht. Auch in den nächsten Jahren standen immer wieder Werke Dallapiccolas auf den Programmen der Wiener IGNM-Konzerte. Auf einer der Karteikarten der UE, auf denen Datum und Menge der bestellten (sowie retournierten) Aufführungsmaterialien verzeichnet sind, ist folgende Anweisung zu lesen: „Bei Aufführungen in dtsch. Sprache muß von nun an im Kl.A auf pag. 73 & 120 das Wort ,Ehrenketten‘ durch ,schweren Ketten seiner hart erkämpften Siege‘ ersetzt werden. April 1959“.
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Originals, die in meinem Besitz gewesen war und die ich Ihnen geborgt hatte. Weder das eine noch das andere ist damals eingetroffen. Ich bin froh, dass sich indirekt eine Gelegenheit geboten hat, Ihnen all dies zu sagen. In Erwartung Ihrer Antwort [...]“
Am 17. Juli 1959 (typ., frz.) freut sich Dallapiccola in einem Brief aus Forte dei Marmi (Lucca) über die „sensationelle Nachricht“, daß die Opéra Comique Vol de nuit aufführen wird; er hätte dies nie für möglich gehalten, ist – wie wohl auch Schlee – sehr erstaunt und schreibt weiter: „Ich kenne das Niveau des Theaters nicht, denke aber, daß es sich um ein sehr niedriges Niveau handelt (wie bei allem, was man in Paris an Opern gibt). Nachdem aber Vol de nuit im Zuge der Präsentation durch die Hamburger Oper im April 1955 einen sehr großen Erfolg hatte, hoffen wir, daß die guten Pariser sich zumindest zu bemühen versuchen, ein annehmbares Niveau zu erreichen. Was die Übersetzung angeht, die Sie von Ricordi bekommen haben, bin ich nicht in der Lage, Ihnen etwas Definitives zu sagen. 1949 (gleichsam am Vortag der Aufführung von Vol de nuit am Théâtre des Champs-Elysées unter der Leitung von Désormières bei der konzertanten Realisation für Radiodiffusion Française) hat es einen unglücklichen Journalisten gegeben, der in Rom lebt, der rasch eine einfach grauenvolle Übersetzung des Textes erarbeitet hat. Da der besagte Journalist (ein Bruder von Madame Ivanova, die ihrerseits Schülerin von Respighi ist) nicht bedacht hatte, daß es gute und schlechte Zeiten gibt ([deutsch:] starke, schwache Taktteile), können Sie sich vorstellen, was er gemacht hat. Ich erinnere mich, daß sogar die Presse das festgestellt hat, und zwar mit Ironie. Ich weiß nicht, ob es später andere Übersetzungen geben wird. Auf jeden Fall wird es für Sie einfach sein, das zu verifizieren. Ich kenne M. Bourgeois nicht: die Entscheidung liegt bei Ihnen, nachdem Sie die Übersetzung, die Sie von Ricordi bekommen, einer Untersuchung unterzogen haben. Da ich mich am 8. September in Le Havre nach New York einschiffe, werde ich die Übersetzung von M. Bourgeois am 6. und 7. September in Paris überprüfen. Glauben Sie, daß die Übersetzung in einer annehmbaren Zeit vorbereitet werden kann ? WICHTIG: Ich muß Sie um einen Gefallen bitten: Können Sie Radio Wien anrufen, um die Daten der Aufführung sowie der Übertragungen von meinem Prisonnier unter der Leitung von M. Caridis zu erfahren, und diese rasch an das Haus Suvini Zerboni mitteilen. Danke !!!140 Am 21. [Juli] fahre ich nach London (Le Prisonnier am Sadler’s Wells Theatre durch die New Opera Company), am 29. bin ich wieder hier, bis Ende August.“
Im Dezember 1959 sendet Dallapiccola der UE das Programm eines im Rahmen der New Yorker „New School Concerts“ veranstalteten Konzertes vom 13. Dezember 1959, in dem nach Mozarts Kegelstatt-Trio Es-Dur, KV 498, Werke 140
Handschriftliche Eintragung durch die UE: „1. 5. 58 / 28. 2. 59“. Siehe Anm. 120.
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von ihm gespielt wurden (die er zum Teil auch dirigierte): Due liriche di Anacreonte für Sopran, zwei Klarinetten, Viola und Klavier, Ciaccona, Intermezzo e Adagio (1945) „for unaccompanied cello“ sowie „Goethe-Lieder“ für Sopran und drei Klarinetten; Ausführende waren u. a. Elisabeth Soederstroem (Sopran) und Gaspar Cassado (Cello).141 Auf dem Programm notiert Dallapiccola (hs., frz.) Weihnachts- und Neujahrs-Wünsche und frägt, ob Schlee ihm eine Kopie des Briefwechsels zwischen Webern und Hildegard Jone142 nach Florenz schicken könne, wo er um den 27. Jänner 1960 sein würde (siehe oben). Am 9. Februar 1960 bedankt sich Dallapiccola (typ., frz.) für den übersandten Briefwechsel, gibt seine neue Telephon-Nummer (222.161) bekannt und kommt auf eine offensichtlich projektierte neue deutsche Übersetzung von Volo di notte zu sprechen: Er hätte gerne für einige Tage die alte deutsche Übersetzung des Librettos, die Felix Lederer angefertigt habe (er datiert diese auf „1939, wie ich glaube“). Das würde seine Arbeit sehr erleichtern, denn „meine Kenntnis der deutschen Sprache ist (wie Sie wissen) sehr beschränkt“. – In New York habe „Gaspar Cassado einen persönlichen Triumph erlangt“, als er „Ciaccona Intermezzo & Adagio“ spielte: „Diese Komposition, die dermaßen diskutiert und dermaßen schlecht aufgenommen wurde, scheint jetzt endlich angehört und geschätzt zu werden. Selbstverständlich gab es zur Zeit der Komposition nicht die starken Werbemethoden, die wir heute haben (ich bereue das nicht ! das soll klar sein ..... es ist fast erstaunlich zu sehen, daß das Publikum in unseren Tagen dem aufmerksam zuhört, was vor 15 Jahren komponiert wurde): ich weiß, daß M. Baldovino das Stück in Rom aufführen wird. Angeblich hat er es auch in London, Dublin und anderswo aufgeführt. Ich habe bei meiner Rückkehr in Paris Station gemacht. Aber es war unmöglich, die französische Übersetzung von VOLO DI NOTTE zu sehen, M. Bourgeois war am Land; M. Dugardin war auf einem Gletscher skifahren, in Begleitung von M. Karajan. Man sagt mir, daß diese Übersetzung fertig ist....... glauben Sie daran ? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“
Doch bereits am 11. Februar hat Dallapiccola die französische Übersetzung von Jacques Bourgeois in Händen und sendet sie gemeinsam mit einem umfangreichen Begleitschreiben (typ., frz.) an die „Spett. Casa Editrice Universal-Edition“: Er 141
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Am 18. Dezember 1959 erklang unter der Leitung von Hans Swarowsky durch die Wiener Symphoniker, die Wiener Singakademie sowie Hilde Konetzni, Anton Dermota, Kostas Paskalis, Karl Vogel und Roman Hencl im Großen Konzerthaus-Saal Dallapiccolas Il Prigioniero, laut Programm als „Österreichische Erstaufführung“. Das Werk wurde dann am 20. Juni 1970 im Großen Musikvereinssaal im Rahmen der Wiener Festwochen durch ORF-Symphonieorchester, ORF-Chor, Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor sowie Liliana Poli, Gerald Englisch, Eberhard Wächter, Werner Krenn und Christian Boesch unter der Leitung von Carl Melles erneut realisiert und direkt gesendet. Die vom 15. bis 19. Juni eingespielte Studio-Aufnahme des Werkes gelangte am 1. Mai 1971, am 6. September 1974, am 14. Februar 1975, am 2. Februar 1979, am 2. August 1980, am 24. April 1982 sowie am 6. Februar 1984, jeweils im Ersten Programm, zur Sendung. Weberns Briefe an Hildegard Jone und Josef Humplik erschienen, herausgegeben von Josef Polnauer, 1959 in der Universal Edition.
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zweifle zwar nicht an den Französisch-Kenntnissen von Bourgeois, könne aber kein Urteil über die Prosodie abgeben, bevor er nicht „die Integration der Übersetzung in die Noten gesehen“ habe. Und er beklagt noch einmal, daß er weder am 6. September, als er eigens nach Paris gefahren sei, noch jetzt am 22. Jänner 1960, auf seiner Rückreise von New York, über die Übersetzung sprechen konnte. Am 8. Februar habe ihm dann M. Charles Bruck aus Straßburg mitgeteilt, daß die Übersetzung fertig sei. – Und Dallapiccola leitet an Alfred Schlee seinen Brief an Bruck vom 12. Februar 1960 weiter: „Sie haben mich netterweise am vergangenen Sonntag aus Straßburg angerufen, ehe wieder für einige Tage Stille eintrat. Gestern vormittag ereignete sich dann etwas Großes: Ich habe von der UE eine maschingeschriebene Kopie der Übersetzung von VOL DE NUIT bekommen. Ich erhielt auch einen Brief, in dem man mich gebeten hat, den Text zu überblicken ..... etc. etc. Meine umgehende Antwort war, daß ich den Text express nach Wien gesendet habe, aber mit folgenden Anmerkungen: a) daß wir am 6. September des vergangenen Jahres darüber zu reden begonnen haben, was mit der Übersetzung ist; b) nachdem wir vier Monate lang keine Neuigkeiten bezüglich der genannten Übersetzung erfuhren, habe ich am 6. Jänner nach New York geschrieben, um von Herrn Dugardin Aufklärung zu erhalten; c) daß Herrn Dugardin mir per Telegramm die in Arbeit befindliche Übersetzung geschickt hat, nachdem er meinen Brief bekommen hatte, sodaß ich beschlossen habe, über Le Havre nach Europa zurückzureisen (über Neapel wäre es wesentlich logischer gewesen......) d) daß es bei meinen Ankunft in Paris nicht möglich war, Kontakt mit Herrn Bourgeois aufzunehmen, da er am Land war; e) daß ich zwischen dem 23. Jänner und dem 8. Februar, abgesehen von Ihrem Anruf, keine Neuigkeiten erfahren habe. Zusammenfassend wollte ich unterstreichen, daß von meiner Seite aus alles Mögliche bezüglich einer Zusammenarbeit unternommen wurde, daß meine Bemühungen aber völlig mißlungen sind. Deswegen habe ich es abgelehnt, eine Übersetzung zu kontrollieren, die nicht schon an die Noten angepaßt ist. Mir leuchtet ein, daß wir im Verzug sind, lehne es aber ab, die Verantwortung für diesen Verzug auf meine Schulter zu nehmen.“
Am 19. Februar schreibt Dallapiccola (typ., frz.) dann an seinen „cher ami Dugardin“, er habe den Klavierauszug erhalten und gleich überprüft, und er sende ihn nun zurück. Herr Bourgeois habe den Geist des Textes wunderbar getroffen, doch hätte er in Bezug auf die Prosodie Zweifel: „Zwar korrespondiert die Zahl der Silben perfekt mit dem Original, doch habe ich den Eindruck, daß die Akzente zu oft verschoben sind. Am angefügten Zettel werden Sie einige Beispiele finden.“143 143
In der UE befindet sich lediglich ein Durchschlag des Briefes, der erwähnte Zettel ging wohl nur an Dugardin.
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Dallapiccola bedauert nun nochmals, „keine Möglichkeit zu einem persönlichen Gespräch mit Herrn Bourgeois“ erhalten zu haben: „In der Diskussion wären zweifellos Lösungen möglich gewesen.“ Schließlich schlägt er vor, Charles Bruck zu kontaktieren, „der für M.me De Casafuerte und mich mit seinen Ratschlägen bei der Übersetzung des PRISONNIER so wunderbar behilflich war. Ich erinnere mich, daß er uns in wenigen Stunden die verbal und musikalisch exaktestmögliche Lösung gegeben hat.“
Am 17. Mai (typ., frz.) berichtet Dallapiccola von einem „befremdlichen Brief“ Dugardins: Die Aufführung von Vol de nuit sei auf die nächste Saison verschoben worden, da es, wenn er es richtig verstanden habe, einen Reformplan für die Opéra Comique gebe. Besonders ärgerlich sei dies, da die Aufführung sogar in amerikanischen Zeitungen schon angekündigt gewesen sei. Angesichts der bisherigen Vorkommnisse (der Unmöglichkeit der Kontaktnahme bezüglich der Übersetzung) sei dies aber keine Überraschung. Und auch sein Versuch, Herrn Prêtre (den Chef des Orchesters der Opéra Comique) zu treffen, sei gescheitert, ohne daß irgendeine Entschuldigung eingetroffen sei – „man muß zur Meinung kommen, daß die ,französische Höflichkeit‘ dasselbe Los ereilt hat wir der Schnee von gestern“. Noch dazu sei ihm „witzigerweise“ der Vorschlag gemacht worden, in der Rolle der Madame Fabien einige Änderungen vorzunehmen, da M.lle Duval „gewisse tiefe Töne nicht in ihrem Register habe“. Am 10. Juni (typ., it.) antwortet Dallapiccola auf einen Brief Schlees vom 2. Juni, daß er dessen Eindrücke von den Verhandlungen mit der Opéra Comique, so paradox sie auch seien, nur bestätigen könne. Danach kommt er auf Verhandlungen der UE mit dem Mailänder Verlag Carisch zu sprechen: „Ihre Nachrichten über Ihr Gespräch mit Herrn Ravizza interessierten mich sehr. Sie wissen, welche Bedeutung ich der Möglichkeit beigemessen habe, daß die Universal-Edition als Subverleger für meine bei Carisch erschienenen Werke fungiert, und wie leid es mir getan hat, daß das ganze Projekt auf einmal gefallen ist. Damals kannte ich die Ursache nicht, und auch jetzt frage ich mich, warum die Stellungnahme des Herrn Pilz so ausgefallen ist, wie es der Fall war..... (Ich habe Herrn Pilz zweimal getroffen und muß sagen, daß er mir gegenüber sehr freundlich war..... Also? Es stimmt, daß unsere Zeit eine Zeit der ,Zweideutigkeit‘ ist, von der Politik bis zur Kunst: jedenfalls war es für mich eine unangenehme Überraschung. Es ist immer schmerzlich, wenn man bemerkt, daß man kein Vertrauen zu seinem Nächsten haben kann). Ich werde mich freuen, so bald wie möglich weitere Nachrichten über die Verhandlungen mit Carisch zu bekommen. Werden wir uns in Köln sehen? Ich werde nur drei Tage dort sein; dann einen Tag in Wuppertal (am 17. Il Prigioniero), und dann fahre ich wieder heimwärts.“144 144
Wortlaut frei nach einer Übersetzung des Briefes im Archiv der UE.
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Am 17. August 1960 (typ., frz.) sendet Dallapiccola Schlee aus Forte dei Marmi (Lucca), wo er sich bis 12. September aufhält, die Abschrift eines Briefes des Pariser Regisseurs Jean Mercure vom 5. Juli: Dieser versichert ihm, Vol de nuit sehr zu lieben und noch vor den Sommerferien eine erste Serie von Proben beendet zu haben. Es scheine alles sehr gut zu gehen – bis auf kleine Probleme mit der Prosodie, da sich die französische Sprache doch sehr von der italienischen unterscheide. Sie würden aber ihr Bestes tun. Jedenfalls hofft Mercure, „daß die Oper in Frankreich das Aufsehen erregen werde, das sie verdient“. Und Dallpiccola schließt: „No comment.“ Schlee hat Dallapiccola offensichtlich noch in Forte dei Marmi besucht, da der Komponist in seinem nächsten Brief vom 20. November 1960 (typ., frz.) darauf Bezug nimmt. Danach berichtet er von der Aufführung seiner Dialogues beim Festival von Venedig sowie von der Vorstellung von Vol de nuit im „Théâtre National de l’Opéra-Comique“. Pariser Freunde hätten ihm geschrieben, daß die Pariser Aufführung sehr gut gewesen sei, vor allem Herr Ruzicska [!]; und die ganze Welt sei derselben Meinung. – Frau Lanfranco, „Sovrintendente du Théâtre Carlo Felici de Gênes“, richtete an Dallapiccola die Anfrage, ob er am 25. und 27. (November) nach Genua kommen könne, um bei der Aufführung seiner Tartiniana Seconda (Celibidache / Materassi) zu assistieren. Er habe aber abgelehnt, da er am 2. Dezember nach Köln fahren müsse (Dialogues: Sixten Ehrling / Cassado) und gerade im Arbeitsfluß sei. Frau Lanfranco wollte auch prinzipiell über eine Aufführung von Vol de nuit am Théâtre Carlo Fenice im Frühling 1961 sprechen, worauf er ihr mitgeteilt habe, er würde nach 18 Jahren Quarantäne keiner Aufführung zustimmen, die nicht von erster Qualität wäre. Bei einem bedenklichen („glissée“) Angebot mit einem sehr jungen italienischen Dirigenten würde er „keine Atmosphäre von vier Sprüngen in der Familie“ dulden. Seine Vorschläge: als Dirigent Gielen oder Caridis,145 als Tenöre Handt oder Krebs, als Sopran natürlich Magda Laszlò, als Baß-Bariton Rehfuss oder Waechter, als Regisseur Rennert oder Jean Mercure. – Wenn Vol de nuit 1961 in seinem Land gegeben werde, müsse dies eine gute Aufführung sein. Am 6. Jänner 1961 (typ., frz.) sendet Dallapiccola Schlee die Kopie eines Briefes, den er Madame Lanfranco geschrieben hat, und dankt dem Verleger, daß er ihm diesbezüglich volle Handlungsfreiheit läßt. Weiters erkundigt er sich nach dem Fortgang der Edition der Canti di prigionia und berichtet, daß Frau Trudy Goth von einer für den Mai geplanten Wiener Aufführung der „Michelangelo-Chöre“ gesprochen habe; er frägt nun an, ob diese Nachricht vertrauenswürdig sei, da er keine unnötige Zeit für Programm-Notizen aufbringen wolle.146 – Den „ungefähren Inhalt des Briefes von Dallapiccola an Sig.na Lanfranco“ faßt eine in der UE erhaltene freie Übersetzung zusammen:
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Siehe oben (Anm. 128). Die Chöre gelangten am 29. Mai 1961 im Mozart-Saal des Konzerthauses zur Aufführung (siehe oben Anm. 125). Im Abendprogramm befinden sich keine „Programm-Notizen“ Dallapiccolas.
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„Dallapiccola schreibt Frau Lanfranco, dass er vollkommen damit einverstanden ist, die Verhandlungen abzubrechen, und dass es ihm auch nicht das geringste ausmachen würde, falls diese nächste Saison nicht wieder aufgenommen würden. Er selbst könne von seinem Standpunkt nicht einmal einen Millimeter abweichen. Er wehrt sich gegen den Ausspruch Frau Lanfrancos: er sei misstrauisch. Es sei jedoch vollkommen natürlich, dass man misstrauisch werde – bei all dem, was zwischen dem 19. November (erster Telefonanruf Frau Lanfrancos) und gestern vorgefallen ist, nämlich andauernde Änderungen, Terminverschiebungen etc. etc. (Der Brief ist sehr scharf gehalten, es dürfte zu Streitigkeiten zwischen Frau Lanfranco und Dallapiccola gekommen sein.)“
Eine gänzlich andere Sache spricht ein Brief Dallapiccolas vom 19. Februar 1961 (typ., it.) an, in dem zunächst ein englischer Brief zitiert ist, den Igor Blazhkov, Dirigent des Staatlichen Symphonieorchesters der Ukraine, dem Komponisten aus Kiew gesandt hatte. Blazhkov bekundete großes Interesse an Dallapiccolas Musik, und „meine Freunde, die jungen Komponisten und ich möchten Ihre Werke studieren und hier popularisieren. Wir wären glücklich, wenn Sie uns einige Partituren (speziell die ,Canti di prigionia‘) und Aufnahmen senden könnten“ (Schallplatten oder Bänder, die in der UdSSR nicht zu bekommen sind „because of absence of the currency exchange“). Dallapiccola richtet nun an Schlee die Frage, ob er die Möglichkeit habe, Noten in die UdSSR zu senden – wenn ja, würde er Carisch bitten, ihm eine Partitur der „Canti“ zu schicken, und selbst in Mailand eine Kopie der Schallplatte besorgen. Aus menschlichen Gründen sollte man das versuchen. Am 25. Mai 1961 (typ., frz.) dankt Dallapiccola Ernst Hartmann für den Brief vom 17. sowie für den von ihm (in Florenz?) gegebenen Abend, insbesondere aber auch für die Übersendung von „les WEBERN“ (wohl die 1960 edierten Mitschriften seiner Vorträge147), „eine Publikation von seltenem Interesse“, die hoffentlich bald auch in italienischer Sprache erscheinen werde. – Für die Aufführung des ViolinKonzertes von [Mario] Peragallo148 in Marseille am 2. Juni habe Materassi im Einvernehmen mit dem Dirigenten eine großzügige Anzahl von Proben ausgehandelt, und schließlich dankt der Komponist für die genauen Angaben zur Wiener Aufführung der Canti di liberazione (Radio Wien)149 und bittet um eine Kopie des Programmes. Im Herbst 1961 (17. Oktober) berichtet Dallapiccola (typ., frz.), daß der „Executive Head“ der Stanford University, William Crosten, seine Oper Vol de nuit ursprünglich während seines nächsten Aufenthaltes in den USA (September 1962 bis Jänner 1963) herausbringen wollte. Jetzt aber solle diese Aufführung bereits im März 1962 stattfinden, wofür man schnell die englische Übersetzung benötige. Er fügt sowohl Crostens Brief als auch einen Durchschlag seiner Antwort bei, in der er Crosten 147 148 149
Anton Webern, Der Weg zur neuen Musik (Anm. 77). Dieses mit 1954 datierte Werk wurde 1954 von der Universal-Edition verlegt (UE 12299). Die Canti di liberazione gelangten am 10. Februar 1961 in einem öffentlichen Konzert des Österreichischen Rundfunks durch „Chor und Orchester des Österreichischen Rundfunks – Radio Wien“, geleitet von Ernst Märzendorfer, zur Aufführung (s. o. Anm. 123).
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mitteilte, daß die Universal-Edition bereits Eric Smith mit einer englischen Übersetzung beauftragt habe und ihm die bereits vorhandenen Noten sicher senden werde. Schlee frägt er, ob es nicht schon einige Noten für Gesang und Klavier mit englischem Text gebe, und er bittet ihn, Crosten mitzuteilen, daß auch eine Fassung für reduziertes Orchester existiere; er kenne die Proportionen des Theaters in Stanford nicht, glaube aber nicht, daß dort genügend Platz für die Originalversion sei. An sich sei das Niveau der Aufführungen an amerikanischen Universitäten ja sehr gut, und es würde sich zudem um eine amerikanische Erstaufführung handeln. Schließlich bittet er um die Übersendung der Kritiken von der letztjährigen Pariser Aufführung der Oper. Die Aufführung in Stanford fand dann Anfang März 1962 statt. Dallapiccola schrieb der Universal-Edition150 am 14. März (typ., it.), daß ihm sein zukünftiger chairman der Universität am 6. März berichtet habe, einige Tage zuvor „mit großem Vergnügen“ seine Oper gehört zu haben. Und er nahm dies zum Anlaß, über die letzten Ereignisse in Bezug auf diese Oper zu berichten: „a) Der ‚offizielle Besuch‘ der Opéra Comique in Genf. Während ich mich in Mailand für die Proben und die Erstaufführung des ‚Prigioniero‘ in der Scala aufhielt, erreichten mich einige komische Briefe. Zwei, unterschrieben mit J. Bourgeois, die mir erklärten, daß die Genfer Aufführung meines Werkes nichts mit der in Paris gemein habe, da zwei der wichtigsten Hauptsänger im letzten Moment ausgetauscht wurden, der Dirigent ein anderer sei und auch die Regie eine andere als in Paris wäre. Ein Brief, unterschrieben mit J. Mercure: In ihm erzählte mir der Regisseur, daß ‚Volo di notte‘ in Paris den Preis ‚Noël Boyer‘ bekommen habe, und zwar für die ‚Realisation‘; diese sei nach Monaten des Studiums (!) zur Perfektion gekommen, und er habe, da er nicht glaube, daß in Genf eine ähnliche Sache gemacht werden könne, angeordnet, daß sein Name von den Plakaten genommen wird. Und schließlich ein Brief von Monsieur A. M. Julien, dem ‚Administrateur‘ der ‚Réunion des Théâtres Lyriques Nationaux‘, aus dem ich einige Zeilen zitiere: [frz.:] ‚Verzeihen Sie mir die Freiheit, die ich mir nehme, indem ich Ihnen schreibe, aber ich weiß, daß die Vorbereitung für die Aufführung, die die Opéra Comique demnächst in Genf geben wird, von den zahlreichen Bemühungen meiner Mitarbeiter profitiert hat, und wenn die Aufführung auch nicht genau diejenige ist, die wir in Paris hatten, ist sie nicht weniger exzellent.....‘ Wie ihr seht, sind die Meinungen sehr kontroversiell..... Der Herr Bourgeois hat mir geraten, die Aufführung in Genf zu verbieten, und ich habe ihm geantwortet, daß das, wenn der Fall eintritt, Aufgabe des Verlegers sei und nicht meine. (Ich habe auch daran gedacht, wie lange letztes Jahr die Verhandlungen mit Genf gedauert haben.) Am 21. Februar fuhr ich nach Genf, um einen Einführungsvortrag zu Volo di notte zu halten. Der Orchesterdirektor hat sich nicht einmal gezeigt. Ich habe den Leuten von Radio Genf die Aufnahmen, die 1951 von Radio Roma ge150
Dallapiccola schreibt „Universal-Edition“ weiterhin mit Bindestrich.
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macht worden sind, empfohlen, und aus ihnen habe ich einige Ausschnitte ausgewählt, um den Vortrag zu illustrieren. Am 23. Februar konnte ich in Florenz im Radio bei guten atmosphärischen Bedingungen die [Genfer] Premiere hören. Es war die schlimmste Auführung, die man sich vorstellen kann. Die schlimmste, weil es gar keine Skandale gab, die daraus resultierten und das angezeigt hätten. 100 % Mittelmäßigkeit, ohne Akzent, ohne Persönlichkeit, ohne Gleichgewicht, schlecht geprobt, noch schlechter gesungen. Das ist der Grund, warum ich nicht zur zweiten Aufführung nach Genf gefahren bin, wie ich es gleichsam habe hoffen lassen. b) Ereignisse des letzten Jahres und Ereignisse dieses Jahres. Vielleicht wegen des Erfolges des Prigioniero in der Scala und weil die Bühnenbilder der Scala für Genf leicht erreichbar sind, hat die Intendantin Lanfranco entschieden, zwei Aufführungen dieses Werkes in Genf zu geben. Davon bin ich nicht gleich informiert worden, wohl, weil Signora Lanfranco eingesehen hat, daß nach den Ereignissen des letzten Jahres zwischen uns nicht einmal eine geschäftliche Beziehung möglich ist. Ich habe dem Haus Suvini Zerboni gesagt, daß ich mit nichts einverstanden bin, daß ich nicht einmal als Gast nach Genf kommen würde und daß Frau Lanfranco mir gegenüber nur Einsicht zeigen wolle, indem sie Volo di notte wieder ansetzt. Aber ich weiß, daß sie alle Gesangskünstler von der Scala engagiert hat (außer Wächter) und daß sie sich die Bühnenbilder ausgeliehen hat. Ich wollte Ihnen heute sagen, daß ich an dieser Angelegenheit überhaupt keinen Anteil habe. Und wenn ich ‚keinen Anteil‘, schreibe, so heißt das ‚keinen Anteil‘. Ich hatte das Gefühl, daß ich Ihnen das aus Gründen der Korrektheit und der Freundschaft sagen muß.“
Von dem Preis „Noël Boyer“ hatte Dallapiccola Schlee bereits am 22. Oktober 1961 (typ., frz.) berichtet: Seine Tochter habe ihn auf diese „merkwürdige Neuigkeit“ in der Rubrik „Notizie in breve“ der Zeitung „La Natione“ aufmerksam gemacht; er habe diese ausgeschnitten und dem Brief beigefügt. Es sei dies wieder einmal ein Preis, der kein Geld bringe, ein Preis, wie er ihn bereits drei oder vier Mal in Buenos Aires erhalten habe: „pour ,Le Prisonnier‘, pour les ,Canti di prigionia‘, pour les ,Machado-Lieder‘....“. Wenn Schlee aber denke, daß die Neuigkeit einer Aufführung der Oper nützlich sei, möge er sie in seinem Bulletin publizieren. Vielleicht wäre sie auch für Crosten interessant. Eigenartig sei allerdings, daß er bis jetzt offiziell nichts von dem Preis gehört habe. Und er zitiert die allgemein verbreitete Meinung, daß die Komponisten ein bißchen wie „cocue“ (Hahnreie) seien: Jeder wüßte von deren „Affären“ außer sie selber. Nun ruht der Schriftverkehr zwischen Dallapiccola und der UE einige Zeit, zumindest haben sich in Wien keine Briefe erhalten.151 Am 31. Oktober 1963 (typ., frz.) 151
Am 14. Jänner 1962 spielten Gaspar Cassadó und die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Bruno Maderna in einem öffentlichen Konzert des österreichischen Rundfunks (neben Werken von Roman Haubenstock-Ramati und Gustav Mahler) Dallapiccolas „Dialoge für Violoncello und Orchester“ (Ausstrahlungen: 26. März 1963, 23.15 Uhr, und 8. März 1966, jeweils im Zweiten Programm). Am 9. und 10. Mai 1963 hielt Dallapiccola in der Salzburger Akademie für Musik und darstellende Kunst, „Mozarteum“, zwei öffentliche Vorträge im Schloß Frohnburg, und zwar über „Betrachtungen über die
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berichtet Dallapiccola dann „cher ami Schlee“, daß ihn Miklos Szinetar, der Direktor des ungarischen Fernsehens, eingeladen habe, am 10. Oktober zur FernsehWeltpremiere von Vol de nuit nach Budapest zu kommen. Leider müsse er aber am 7. Oktober in Palermo das „Concerto piccolo“ mit Vittorio Gui spielen und bereits am 10. Oktober in Amsterdam sein. Außerdem (das habe er Szinetar aber nicht geschrieben) würde es wohl mindestens sechs Wochen dauern, das ungarische Visum zu erhalten. Vielleicht könne aber Schlee nach Budapest fahren und ihm „eine vertrauenswürdige Zusammenfassung von dem geben, was sie gemacht haben“. – Nach Amsterdam sei er dann in Köln, in Düsseldorf, in Braunschweig („la semaine de Braunschweig“), weiters in London, Dublin und noch einmal London. Zurück käme er gegen den 10. Dezember. Am 9. November 1963 (hs., frz.) ergeht aus dem Hôtel Jura in Basel eine Antwort Dallapiccolas an eine (ungenannte) „Madame“, bei der sich der Komponist vorweg entschuldigt, daß er ihren Namen nicht lesen konnte; im Postskriptum bittet er, ihm den Namen leserlich mitzuteilen. Es handelt sich um Frau Dr. Herta Blaukopf, die Korrekturarbeiten an der Neuausgabe von Vol de nuit durchführte, die Dallapiccola in Florenz vorfand und auf die Reise mitnahm. Er kündigt an, den ersten Teil vor dem 20. November korrigiert aus Braunschweig abzusenden und den zweiten Teil Ende November aus London folgen zu lassen. Die für Florenz projektierte Aufführung der Oper sei allerdings erst am 18. Juni und nicht schon Ende Mai. – Aus Braunschweig (hs., frz.) meldet er dann am 21. November „chère Madame Blaukopf“ (die ihm unterdessen wohl ihren Namen leserlich mitgeteilt hatte) das Fehlen der Seiten 99–100 und bittet um deren Nachsendung nach London, Headfort Place Hotel. Weiters vermißt er die Nennung der Edition Gallimard: „Wenn ich mich nicht irre, gibt es einen Paragraphen im Vertrag zu dieser Sache. Ich möchte auf keinen Fall noch einmal mit der gänzlich ,französischen Höflichkeit‘ dieses Herren experimentieren müssen.“
Schließlich weist er auf kleine Widersprüche und bittet um Vereinheitlichung, erkundigt sich, ob einzelne Worte bei einem Kleindruck lesbar sein würden, und findet, daß „Con gli occhi sbarrati“ vielleicht besser „mit erstarrten Augen“ anstatt „mit geschlossenen Augen“ übersetzt wäre. – Aus London (hs., frz.) bittet er Frau Blaukopf schließlich am 24. November, ihm die Korrekturen nach Florenz zu senden, wo er ab 10. Dezember sein werde. Unter dem 27. November (typ., dt.) zerstreut „h“ (Ernst Hartmann) dann Dallapiccolas Bedenken wegen der Nicht-Nennung des Verlages Gallimard „als Originalverleger“ von Vol de nuit:
Komtur-Szene in Mozarts ,Don Giovanni‘“ sowie über „Wort und Ton in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts“. Akademie für Musik und darstellende Kunst „Mozarteum” in: Salzburg, Jahresbericht 1962/63, Salzburg 1963, S. 50. Siehe auch Österreichische Musikzeitschrift 18/7–8 (Juli/August 1963), S. 357 (mit einem Photo Dallapiccolas, der an der Tafel „das Formschema des Quartetts“ aus Verdis „Maskenball“ zeigt).
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Verehrter Meister, [...]. Wir haben nun alle unsere Verträge, die in dieser Angelegenheit geschlossen wurden, durchgesehen und finden keinen diesbezüglichen Passus. Lediglich in dem alten Vertrag zwischen Ricordi und Gallimard befindet sich folgender Punkt: „Le livret, les affiches, les programmes et tout autre moyen de publicité porteront la mention: ‚VOL DE NUIT‘ opéra tiré du récit de Monsieur Antoine de Saint-Exupéry édité par la Nouvelle Revue Française, musique de Monsieur Luigi Dallapiccola. Toutefois l’Editeur ne pourra être tenu responsable de toute emission qui pourra être faite sur les affiches, programmes et publicités, par les Directions Théâtrales et Agents de Publicité“. [Das Libretto, die Plakate, die Programme und alle anderen Mittel der Veröffentlichung tragen die Erwähnung: „VOL DE NUIT“, entnommen der Erzählung von [...]. Jedoch wird der Verlag [der Herausgeber] nicht für sämtliche Plakate, Programme und Publikationen verantwortlich gemacht werden können, die von den Theaterdirektionen und Agenturen stammen.] Abgesehen davon, dass dieser Passus in unserem Vertrag mit Gallimard nicht mehr aufscheint, scheint sich der Wunsch Nennung des Verlages doch nur auf die Propaganda-Mittel (moyens de publicité !) zu beschränken. Es ist nirgends erwähnt, dass der Name Gallimard auch in den Musikausgaben eingedruckt werden muss. Unserer Meinung nach sind wir daher nicht verpflichtet, den vorgeschriebenen Wortlaut in der Partitur aufzunehmen, es sei denn, dass Sie persönlich Wert darauf legen oder vielleicht von einer Verpflichtung Gallimard gegenüber Kenntnis haben, die uns unbekannt ist. Wir bitten Sie um baldige diesbezügliche Nachricht. [...] P. S. – Die fehlenden Partiturseiten 99 und 100 sind mit gesonderter Post an Sie nach London abgegangen.
Dallapiccola dankt am 30. November (hs., frz.) aus London („zurück aus Dublin“) für die Zusendung der Seiten 99 und 100 und schließt sich in Bezug auf Gallimard der Meinung des Verlages an; er habe wohl „den alten Vertrag mit Ricordi“ im Kopf gehabt. Außerdem hätte er „keinen speziellen Grund, mit Monsieur Gallimard freundlich zu sein“. Am 10. Dezember werde er „nach ein paar Tagen Paris“ wieder in Florenz sein.152 Am 12. Dezember 1963 folgt aus Florenz die Antwort (typ., frz.) auf Herta Blaukopfs Brief vom 3. Dezember (der uns nicht vorliegt), in dem Dallapiccola ihr sein „volles Vertrauen in die Korrektoren der Universal Ed.“ ausspricht und „Ihre Fragen bejahend beantwortet“: Auch er sei der Meinung, „daß eine neue Sendung und Rücksendung, vor allem zu dieser Jahreszeit, zu viel Zeit benötigen würde“. 152
Es existiert auch ein mit 5. Dezember datierter Brief (hs., dt.) von Laura Dallapiccola an die „sehr geehrte Frau Dr. Blaukopf“: „heute ist Ihr Esprès-Brief an meinen Mann angekommen. Leider ist mein Mann noch nicht zurück, er wird erst am 10. Dez. hier sein, und ich kann ihn auch nicht unterdessen erreichen. | Warten Sie bitte, also, einige Tage auf seine Antwort.“
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Am 17. April 1964 bringen der Chor des Österreichischen Rundfunks und die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Piero Bellugi im Großen Konzerthaus-Saal Dallapiccolas Tre laudi und Tre poemi zur Österreichischen Erstaufführung, 1965 befindet sich Dallapiccola, „der bedeutende, in Florenz lebende italienische Komponist“, wieder einmal selbst in Wien: Er „unternahm am 9. März auf Einladung der Gesellschaft für Musik im Palais Palffy den ‚Versuch einer Selbstkritik‘. Dallapiccola, der die Freiheit zeit seines Lebens als höchstes Gut des Menschen achtete und ihr immer wieder in seinen Werken ein tönendes Denkmal setzte, stand deswegen bei den faschistischen Machthabern nicht gerade in hohem Ansehen. Seine Jugend verbrachte er zwangsweise – als ‚feindlicher Ausländer‘ interniert – in Graz, wo er am 18. Mai 1917 im Opernhaus zum erstenmal Wagners ‚Fliegenden Holländer‘ hörte. [...]. Einen weiteren nachhaltigen Eindruck hinterließ ein Konzert in seiner Wahlheimatstadt Florenz; er hörte dort am 1. April 1924 inmitten eines tobenden, schimpfenden und lachenden Publikums Arnold Schönbergs ‚Pierrot lunaire‘ unter der persönlichen Leitung des Komponisten. Diese musikalische Begegnung mit Schönberg – Dallapiccola lernte 1934 auch Berg und 1942 Anton Webern persönlich kennen – bewog ihn schließlich, sich in seinen Kompositionen immer mehr der Zwölftontechnik zu bedienen. Schönberg habe ihn, so erklärte Dallapiccola, von der Wichtigkeit des Grundsatzes überzeugt, den Mut zu einem eigenen Weg aufzubringen. Webern und seinem Landsmann Gian Francesco Malipiero – den er als die größte Musikerpersönlichkeit in Italien seit Verdis Tod bezeichnete – verdanke er die tiefe Wertschätzung einer echten, ursprünglichen Tradition in der Musik. Einige grundlegende Elemente des musikalischen Theaters will Dallapiccola schließlich von Ferruccio Busoni gelernt haben. Der Gast aus Italien gab auch eine knappe, durch eingeblendete Tonbandaufnahmen aufgelockerte Übersicht über sein Schaffen, in dessen zeitlichem Verlauf er drei Entwicklungsperioden konstatierte. Die erste Periode reicht bis 1936 und wird mit den machtvollen Michelangelo-Gesängen beschlossen. Die zweite Periode setzt mit den ‚Tre laudi‘ ein und umfaßt die wichtigsten Hauptwerke, die dem Komponisten zu seinem internationalen Durchbruch verhalfen: die Opern ‚Nachtflug‘ und ‚Der Gefangene‘, die ‚Gesänge aus der Gefangenenschaft‘ und das Ballett ‚Marsyas‘. Sie schließt mit dem geistlichen Spiel ‚Hiob‘ ab. Diese Entwicklungsphase ist durch die erstmalige Verwendung von zwölftönigen Melodien und durch die erstmalige Vertonung religiöser Texte gekennzeichnet. Eine dritte Entwicklungsperiode datiert Dallapiccola ab 1951, in der er versuche, ‚den strukturellen Werten der Reihe auf den Grund zu gehen‘. Augenblicklich arbeitet der Komponist an seiner dritten Oper ‚Odysseus‘, die er in etwa zwei Jahren fertigzustellen gedenkt.“153
Der in Wien liegende Briefwechsel Dallapiccolas mit der UE setzt nun erst wieder am 20. März 1966 (typ., frz.) ein, unter welchem Datum sich der Komponist bei Alfred Schlee „für den letzten Brief mit der Information“ bedankt, daß Vol de nuit 153
Walter Szmolyan, Veranstaltungen der österreichischen Gesellschaft für Musik, in: Österreichische Musikzeitschrift 20/3 (März 1965), S. 179. Der Vortrag fand um 20 Uhr im Großen Saal des Palais Palffy statt.
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bei den italienischen Wochen in Münster aufgeführt werde. (Inzwischen war die Oper – siehe oben – am 31. März 1965 in Braunschweig über die Bühne gegangen.) Er fände dies angesichts der thematischen Ausrichtung zwar selbstverständlich, wundere sich aber dennoch, da solche Unternehmungen ja meist „im römischen Milieu“ organisiert würden, zu dem er seit 1948 keine Verbindung habe: „Sollte es sich aber um eine italienische Organisation handeln, bitte ich zu bedenken, daß ich nicht erlaube, daß mein Vol de nuit von den Herren [Bruno] Maderna oder aber [Massimo] Paris dirigiert wird. Ich bitte Sie, das früh genug bekanntzugeben, um eine in letzter Minute eintretende unangenehme Situation zu vermeiden. Am liebsten hätte ich M. [Reinhard] Peters als Dirigenten, den ich vor etwa vier Jahren in Berlin bei l’Elegie [die Elegie für junge Liebende] von Henze bewundern konnte.“
In den Aufzeichnungen der UE ist von der in Münster geplanten Aufführung von Vol de nuit nicht mehr die Rede; sie wird wohl nicht zustande gekommen sein. – Am 27. Mai 1966 (hs., frz.) bedankt sich Dallapiccola dann bei Ernst Hartmann für dessen „netten“ Brief vom 11. Mai und bekundet seine große Freude, diesen „in Florenz getroffen und Ideen ausgetauscht zu haben“. Weiters bedankt er sich für den „wunderbaren Mahler“154 sowie für die „Anthologie der österreichischen Musik“155, zudem habe er „mit Freude die Suite von Froberger gelesen, von der Sie mir erzählt haben; sie ist köstlich, ohne Zweifel“. Doch gebe ihm derzeit sein Ulysse keine Ruhe, und er könne sich durch keine anderen Arbeiten von ihm ablenken lassen, mögen sie noch so interessant sein. Schließlich meldet er, daß er ein merkwürdiges Gerücht vernommen habe: Neapel, eine Stadt, die ihn immer (sogar in polemischer Weise) ignoriert habe, wolle seinen Vol de nuit geben. „Wissen Sie etwas von diesem Projekt?“ Jedenfalls müsse man darauf achten, daß eine etwaige Aufführung gut gemacht würde. Am 1. August 1966 schreibt Dallapiccola (typ., frz.) aus Forte dei Marmi an Hartmann, daß es bezüglich Neapel keine Neuigkeiten gebe. Mitte Mai habe sich bei einem Kongreß in Fiesole ein Mann namens Profeta an ihn herangemacht und ihn unter Hinweis auf eine angebliche Korrespondenz sogar geduzt. Profeta berichtete, das Theater „San Carlo“ plane eine Aufführung von Vol de nuit, konnte aber keinen Dirigenten nennen. Als Dallapiccola Hermann Scherchen vorschlug, ohne die wenige Wochen später eintretende Tragödie vorhersehen zu können [Scherchen starb am 12. Juni 1966 in Florenz], sei Profeta aber nicht einverstanden gewesen. Und Dallapiccola warnt: 154 155
Es könnte sich hier entweder um die 1964 in der UE erschienene Partitur von Das Lied von der Erde oder um die im gleichen Jahr edierte Partitur des Adagios der X. Symphonie handeln. Wahrscheinlich handelte es sich hier um eine von der „Österreichischen Gesellschaft für Musik“ bzw. von deren Leiter Harald Goertz (vgl. Anm. 174) herausgegebene hektographierte Broschüre Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts, die 127 Komponisten des E-Musik-Bereichs unter Angabe von Kurzbiographien und summarischen Werklisten anführt. Der Autor dankt Harald Goertz für seine Hilfe bei den Recherchen im Archiv der „Österreichischen Gesellschaft für Musik“.
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„Wir riskieren, irgendwelchen Nullen gegenüberzustehen, die weder OrchesterChefs noch Musiker sind und außerdem nicht an den Partituren arbeiten.“
Inzwischen habe er aber erfahren, daß Palermo im Jänner 1967 fünf Abende von Vol de nuit veranstalten werde, und zwar gemeinsam mit Malipieros Meisterwerk Le Sette Canzoni sowie mit Don Quijote von Petrassi. Schließlich frägt er nach, ob die Partitur von Bachs Es-Dur-Praeludium und Fuge in der Bearbeitung von Schönberg inzwischen neu gedruckt sei, und bittet um „jenen Liederzyklus von Mahler (Gesang und Klavier), in dem Revelge enthalten ist“. Und in einem handschriftlichen Postskriptum ersucht er noch, ihm „die Partitur in 16 (Taschenformat) der ,Lyrischen Suite‘ von Berg“ zu senden. In einem Telegramm (it.) teilt Dallapiccola der UE dann am 18. November 1966 mit, „schmerzlicherweise das von Ihnen vorgeschlagene Angebot nicht annehmen“ zu können.156 – Am 17. Jänner 1967 (typ., frz.) antwortet er Friedrich Saathen (der damals als Lektor für die UE arbeitete): er sei sehr zufrieden damit, daß man „das Andenken an unseren lieben Alfredo Casella“ hochhalten wolle, und autorisiere ihn, Saathen, „mit dem größten Vergnügen“, seinen Artikel, der Jänner/März 1958 in der Zeitschrift L’approdo157 erschienen ist, zu publizieren. Er hoffe, „daß eine Publikation zu Ehren von Casella dazu beitragen kann, die negative Einstellung, welche es hinsichtlich unseres Meisters bei einer gewissen ,Jugend‘ gebe, wieder ins Lot zu bringen“.
Da er wisse, wie schwierig seine italienische Prosa ist, würde er nur bitten, ihm „die deutsche Übersetzung für eine eventuelle Durchsicht“ zu schicken. Offensichtlich gab es diesbezüglich einen weiteren Schriftverkehr, jedenfalls dankt Dallapiccola Friedrich Saathen am 24. Juni 1967 auf einer Postkarte (hs., frz.) für seinen Brief vom 7. Juni und erkärt sich mit den vorgeschlagenen Korrekturen einverstanden; zugleich bittet er um drei Kopien der neuen UE-Nachrichten, die dann als JuniNummer erschienen und Dallapiccolas Artikel Casella maestro in deutscher Übersetzung (Casella: ein Lehrmeister) abdruckten: Es ist jetzt viele Jahre her; die faschistische Presse versäumte damals keine Gelegenheit, die Musiker internationalen Ansehens zu diskriminieren (was gemäß den Usancen jener Zeit darauf hinauslief, sie als „Kommunisten“ oder jedenfalls als „Antifaschisten“ anzuprangern), damals fiel mir die Aufgabe zu, bei einer öffentlichen Aufführung eines Stückes von Casella einige einleitende Worte zu sprechen. Bei meinem Versuch, die singuläre Gestalt des Meisters kurz zu umreißen, gestattete ich mir, aus einer Rezension von Vittorio Rieti über die „Serenata“ zu zitieren, die in einer seriösen und einflußreichen Zeitung erschienen war. In der Rezension hieß es unter anderem:
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In Wien konnte nicht eruiert werden, worum es sich bei diesem „Angebot“ handelt. Vielleicht gibt der Nachlaß Dallapiccolas Auskunft. Luigi Dallapiccola, Casella maestro, in: L’approdo musicale 1 (1958), S. 54–56.
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„Der zweite Satz dieser Serenata hat einen Titel, der alles sagt: Cadenza, Adagio e Siciliana. Das Angebot wächst unausgesetzt. Und Casella kann sich mit Genugtuung die Hände reiben; er hat Schule gemacht.“ Worauf ich replizierte: „Casella hat in der Tat Schule gemacht. Aber nicht in dem Sinn, daß er Nachahmer größeren und kleineren Talents um sich versammelt hätte, sondern in dem Sinn, daß er uns lehrte, uns umzusehen, und daß er uns lehrte, einzusehen, wie wenig politische Interessen, wenn überhaupt, mit solchen der Kunst korrespondieren.“ Heute, da er den Polemiken, aber auch aller anderen Mühsal dieser Erde längst entrückt ist, können wir deutlich sehen, wie signifikant und wichtig seine Werke sind, und was die Nachwelt ihm dafür schuldet. Es sind Werke, die, wie die „Partita“ und die „Serenata“, durch die hohe Vollendung des Stils typisch für ihn geworden sind; Werke, die, wie „A notta alta“, in brennende Probleme der Sprache entscheidend eingegriffen haben; Werke schließlich, wie die „Messe“, die „Paganiniana“ oder die „Due Ricercari“, die soviel inneren Reichtum besitzen, daß kommende Generationen nicht nur das Dokument einer Epoche darin sehen[,] sondern mit geistigem Gewinn daran teilhaben und darin studieren werden können; denn mannigfaltig sind die Lehren, die sie enthalten. Gewiß, Casella war ein Lehrmeister, einer, der seinen inneren Auftrag erfüllt, die große Aufgabe zu lehren auf wirklich große, Sokratische Art, gemeistert hat. Und es gibt keinen anderen italienischen Musiker, der dieses feierlichen Titels würdiger wäre als er. Bevor ich ihn persönlich kennenlernte, habe ich ihn im Konzertsaal oft aus der Entfernung der letzten Sitzreihen oder der Galerie bewundert, schon 1924 auf seiner Tournee mit „Pierrot lunaire“, und später, als er „Les Noces“ dirigierte (1927) oder etwa seine „Scarlattiana“ aufführte (1929). Er erschien mir beinahe wie ein überirdisches Wesen; so groß war sein Gleichmut angesichts der Meinungsverschiedenheiten, die diese Werke hervorriefen, und so fest war seine Überzeugung, daß sie sich früher oder später durchsetzen würden. Später lernte ich ihn kennen. Er half mir (wie allen jungen Leuten der damaligen Avantgarde) durch Rat und Tat, und als ich einmal dafür dankte, wehrte er mit den Worten ab: „Als ich jung war, hat Gustav Mahler mir geholfen. Warum sollte ich heute den jungen Leuten jene Großzügigkeit schuldig bleiben, die er mir damals so offen bekundet hat?“ Casella war ein Lehrmeister sowohl der schöpferischen als auch der nachschaffenden Musiker. Seine Vielseitigkeit und Beweglichkeit dokumentiert sich auch in der Hinterlassenschaft beispielhafter kritischer Ausgaben von klassischer und romantischer Musik; sie sind beispielhaft, weil Casella die Tätigkeit des Herausgebers, wie die des Lehrers, nie als eine Routinearbeit betrachtete; es ging ihm vielmehr darum, das weiterzugeben, was er selbst wußte, und das war sehr viel. Im Sommer 1942 wurde Casella krank. Von da an mäßigte sich die Überheblichkeit der Kritik insofern, als sie eine weniger böswillige Haltung annahm, man gab sich jedenfalls duldsamer und rücksichtsvoller. Von solchen späten Gunstbezeigungen [!] hat sich Casella zweifellos nicht allzusehr beeindrucken lassen, was schon daraus hervorgeht, daß er, obgleich viele Monate ans Bett gefesselt, zäh weitergearbeitet hat.
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Ein anderer wäre vier Jahre früher gestorben. Casella „wollte“ leben, um jeden Preis. Er klagte nie über den Zustand seiner Gesundheit. So manche seiner unvergessenen Affirmationen („Mir geht es ausgezeichnet“) klangen paradox genug, aber sie waren nicht paradox; sie waren der Ausdruck seines extrem angespannten Willens. Viereinhalb Jahre unausgesetzten inneren Kampfes gegen die Krankheit für ein Vierteljahr, einen Monat, eine Woche mehr. Ein einziger verzweifelter Versuch zu retten, was vom Leben noch zu retten war. Ein Versuch, der durch nichts anderes motiviert gewesen sein konnte denn durch den Glauben an das Leben als an ein Geschenk Gottes. Damit hat der Meister, der nie alt war und nie den Anschein erwecken wollte, müde zu sein, der heutigen, allzuoft enttäuschten und allzu schnell verzweifelnden Generation von seinem Totenbett aus die letzte Lektion gegeben, die allerschwerste, die er je gegeben hat. März 1947 Luigi Dallapiccola Im März 1967 jährte sich zum 20. Male Alfredo Casellas Todestag.158
Am 1. April 1967 dankt Dallapiccola (typ., frz.) Ernst Hartmann für die Anerkennung, die er ihm durch die Einladung nach Alpbach bereite, welches Forum er durch Berichte von Harald Kaufmann und Luigi Rognoni gut kenne.159 Er müsse aber absagen, da er nicht von seiner Arbeit am Ulysse abgelenkt werden dürfe. Zwar werde auch Stuckenschmidt enttäuscht sein, hingegen sei [Gustav Rudolf] Sellner sicher glücklich, „weil es auf diese Weise ein neues Zeichen [gebe], daß meine Oper in einer brauchbaren Zeit beendet werden wird. Was die zwei Aufführungen von Volo di Notte betrifft, habe ich gute Nachrichten aus New York. Ich habe zwei Kritiken bekommen: jene der ‚New York Times‘ ist ziemlich ordentlich und durchschnittlich, viel intelligenter ist die der ‚Tribune‘. Ich habe auch einen Brief vom Präsidenten des Hauses, Presser, bekommen.... und diesbezüglich muß ich Ihnen sagen, daß ich unfähig bin, dies zu verstehen. Er sagt, daß die englische Übersetzung unmöglich sei: Aber ich erin158 159
Luigi Dallapiccola, Casella: ein Lehrmeister, in: UE Nachrichten (Juni 1967), S. 2. Die (23.) Internationalen Hochschulwochen Alpbach 1967 standen unter dem Thema „Information und Kommunikation“, wovon die Musiksektion allerdings unberührt blieb: „Heuer entwarf Hans Heinz Stuckenschmidt ein festgegründetes Gebäude des ,Musikalischen Theaters als Zeitausdruck‘; dies der Titel der von ihm geleiteten Arbeitsgemeinschaft. Vom ,Wozzeck‘ ausgehend, gab Stuckenschmidt – mit bestechenden Strukturanalysen immer akademischen Rang wahrend – einen ebenso faßlichen wie einleuchtenden Überblick über neueres Musiktheater, der Strawinskys ,Oedipus Rex‘ und Schönbergs ,Moses und Aron‘, Kreneks ,Karl V.‘ und Dallapiccolas ,Der Gefangene‘, Weills ,Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘ und Dessaus ,Die Verurteilung des Lucullus‘ sowie Werke von Schostakowitsch, Britten und Virgil Thomson berührte. Ausgeklammert blieben – zum Teil wegen der Schwierigkeiten, Klangbeispiele zu geben – avancierte Stücke, etwa von Zimmermann, Nono, Haubenstock-Ramati und Pousseur. Die These, daß es weder einen totalen Bruch mit Traditionen noch einen vollständigen Verzicht auf sie gäbe, stand bereits am Beginn des Arbeitskreises: ihr dienten die gewählten Werke als Beleg. | Die Frage der geschichtslosen Wertung mit Hilfe informationstheoretischer Analysen spielte eine wesentliche Rolle in den diesjährigen Alpbacher Untersuchungen zum Thema ,Information und Kommunikation‘. Darauf ging, im Rahmen des Konzepts verständlich, Stuckenschmidt leider nicht ein.“ Claus-Henning Bachmann, Thesen zum modernen Musiktheater in Alpbach, in: Österreichische Musikzeitschrift 22/11 (November 1967), S. 664.
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nere mich sehr gut, daß, als Hr. [Eric] Smith nach Florenz gekommen ist, um mit mir zu arbeiten, mein Schüler Salvatore Martirano (der Amerikaner ist) mit Hr. Smith jedes Wort besprochen hat, um das beste Resultat zu erzielen. Also ? Ich weiß sehr gut, daß mein Englisch zu bescheiden ist, um ein Urteil zu wagen; aber manchmal frage ich mich, ob es sich nicht um eine bekannte Manie unserer Tage handelt: daß jedes Theater eine neue Übersetzung haben möchte .... Ich bin auf Ihre Meinung zu diesem Problem neugierig.“
Die Premiere von Volo di notte in der New Yorker „Manhattan School“ fand am 10. März 1967 statt. Oktober/November 1967 waren dann einige Aufführungen der Oper in Frankfurt angesetzt, was Ernst Hartmann Dallapiccola im September mitteilte, allerdings zu spät für dessen eventuelle Teilnahme, wie wir einem Brief der Gattin Laura vom 21. September (typ., dt.) entnehmen: Lieber Herr Hartmann, ich Danke [!] Ihnen für die Mitteilung über den [!] Aufführungen von „Nachtflug“ in Frankfurt. Mein Mann ist in diesen Tagen auf dem Weg nach den U.S.A., über England und wird erst Anfang November zurück sein. Es hätte nur eine Verschiebung von einigen Tagen genügt und er hätte einer Aufführung beiwohnen können, da er über Berlin zurückkommt, und er ungefähr am 5. oder 6. November durch Frankfurt fährt. Mit meinen besten Grüssen, Ihre Laura Dallapiccola Bitte Lassen Sie unsere Adresse so ergänzen: | Via Romana 34. 50125 Firenze.
Dallapiccola selbst meldet sich dann am 29. Oktober (hs., frz.) von seiner Rückreise (Absender: Cunard Line R.M.S. Queen Elizabeth) und berichtet, „übermorgen in Cherbourg vom Schiff“ zu gehen und eine Nacht in Paris zu verbringen. Ab 1. November sei er fünf Tage in Berlin (Hotel am Steinplatz), danach werde er mit seiner Tochter zwei Tage in Heidelberg verbringen und schließlich gemeinsam mit ihr Volo di notte in Frankfurt sehen. Anschließend bittet er („ganz strikt unter uns“) um Neuigkeiten bezüglich der Premiere, da er Herrn [Theodore] Bloomfield zwar zweimal getroffen habe, seine Fähigkeiten als Dirigent jedoch nicht kenne. In den USA habe er das Gerücht gehört, daß Bloomfield in Frankfurt gefeuert worden und daher das letzte Jahr an der Oper sei. Zwar gebe es in der Kunstwelt ständig solche Gerüchte, andererseits wolle er keine mittelmäßige Aufführung hören. Und er bittet um einen raschen exakten Bericht nach Berlin, eventuell per Telegramm, um eine Entscheidung treffen zu können. – Der Bericht fiel wohl sehr schlecht aus, wie wir dem (mit Neujahrswünschen verbundenen) Brief vom 26. Dezember 1967 (typ., frz.) an Alfred Schlee entnehmen können: „Es ist schon lange her, daß wir miteinander korrespondiert haben: Ich bedanke mich bei Herrn Hartmann für sein Telegramm betreffend Vol de nuit aus Frankfurt, und es versteht sich von selbst, daß ich keine Lust hatte, mich umgehend dahin zu begeben, um eine weniger als mittelmäßige Aufführung zu hören..... Ich habe es vorgezogen, nach Hause zurückzukehren und meine unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen. Inzwischen habe ich erfahren, daß dieselbe Oper in Toulouse (?) dargeboten wird, einer Stadt, die mit persönlichen Erinnerungen verknüpft ist, weil ich dort
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(1960, wenn ich nicht irre) auf einer Tournee durch den Süden Frankreichs auf dem skandalösesten Klavier, das mir jemals in meiner Karriere begegnet ist, spielen mußte. Wir wollen hoffen ! A propos ‚Vol de nuit‘: M. Schlee hatte mir mitgeteilt, daß das schwedische TV beabsichtigte, das Band nach Hollywood zu schicken..... Ich habe seit damals nichts mehr davon gehört. Wissen Sie, daß in Moskau in einer von Lev Ginsburg herausgegebenen Anthologie von Kompositionen für Violoncello-Solo auch ‚Ciaccona Intermezzo & Adagio‘ erschienen ist? Ich war sehr erstaunt, als ich die für mich bestimmte Kopie mit einer Widmung von Herrn Ginsburg erhielt.... Ich diskutiere nicht die Tatsache an sich: Ich wage zu hoffen, daß sie bei Ihnen wenigstens um Erlaubnis gebeten haben, das abzudrucken ! Entschuldigen Sie bitte meine Eile; aber ich arbeite 10 Stunden am Tag; auch an den Feiertagen. Ich habe meine Arbeit unterbrochen, nachdem ich die Seite Nr. 300 geschrieben habe. (Aber es gibt noch weitere.)“
Unter dem „19. Januar 1968“ (typ., dt.) antwortet Alfred Schlee: Verehrter, lieber Freund, [...] Ich kann Ihnen bezüglich Toulouse noch nichts genaues sagen. Die Aufführung ist für 1968 zwar angekündigt gewesen, aber unseres Wissens noch nicht endgültig fixiert. Wenn Sie dort das schlimmste Klavier Ihres Lebens gefunden haben, so kommt das nur daher, dass Sie noch nie in der Universal Edition vorgespielt haben. Wir haben den Ehrgeiz gehabt, ein Klavier zu besitzen, auf dem alles so scheusslich klang, dass ein Komponist es als das Antivorschuss-Klavier bezeichnete. Über den Erfolg der schwedischen Televisionsaufnahme des „Volo di notte“ in Hollywood haben wir noch nichts gehört aber eben gerade danach gefragt. Anscheinend haben sie doch keinen Preis gewonnen, sonst hätten wir es wohl erfahren. Es ist doch sehr erstaunlich, dass „Ciaccona, Intermezzo & Adagio“ in der Sowjetunion in eine Anthologie aufgenommen worden ist. Ich hatte davon bisher nichts gewusst, da man uns keine Belegexemplare geschickt hat. Genehmigung und Bezahlung kommen ja schon deshalb nicht in Betracht, weil die Sowjetunion nicht der Berner Konvention angehört, also jedes im Westen erschienene Werk ohne weiteres in ihrem Gebiet in jeder Weise verwerten kann, ohne dafür eine Kopeke zu bezahlen. Eine einzige Möglichkeit gibt es: falls Sie selbst nach Moskau fahren, würden Sie, wenn Sie es reklamieren, wahrscheinlich dort ein kleines Honorar oder ein grosses Paket Kaviar erhalten. Wir freuen uns schon alle auf die Uraufführung Ihrer Oper und daher will ich Sie auch nicht länger stören. [...]160
Im Frühling 1968 wollte Alfred Schlee offensichtlich von Edizioni Suvini Zerboni ein Jugendwerk von Luciano Berio in die UE übernehmen, worauf ihm der italienische Verlag unter dem 2. Mai 1968 antwortete, er fände es nicht gut, ein einziges 160
Am 31. Jänner (typ., dt.) berichtet das Sekretariat der UE („h“, also Schlees Sekretärin Dr. Elena Hift) Dallapiccola, daß man sich „nach dem Schicksal der [!] ,Volo di notte‘-Fernsehfilmes bei Sveriges Radio erkundigt“ und erfahren habe, daß der Film keinen Preis erringen konnte.
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Berio-Jugendwerk, deren ja alle bei Suvini Zerboni wären, „herauszunehmen und cedieren“. Man wäre allerdings bereit, „alle in unserem Katalog aufgenommene[n] Berio-Werke gegen Dallapiccolas und Petrassis bei Ihnen erschienenen Werke auszutauschen“ (Ciaccona, Adagio e Finale sowie Volo di notte von Dallapiccola sowie Il Ritratto di Don Chisciotte von [Goffredo] Petrassi). Beigelegt war sowohl eine „Liste der Verkaufswerke für Österreich“161 als auch eine „Liste der Leihmaterialien für Österreich (ausser der Orchester- und Bühnenwerke, die in der Verkaufsliste schon enthalten sind als Taschenpartituren oder Klavierauszüge)“162.
Schlee kommt dann in einem Brief an Dallapiccola vom 9. Mai 1968 (typ., dt.) unter anderem auch auf dieses „Tauschgeschäft“ zu sprechen: Verehrter, lieber Freund, ich habe nun ein Belegexemplar der Sammlung von Stücken für Cello solo erhalten, die in dem russischen Staatsverlag Musika erschienen ist und in der Ihr Stück den Abschluss bildet. Ich war inzwischen in Moskau und habe auch mit dem Herausgeber dieser Sammlung, Herrn Ginsburg, gesprochen, der sehr stolz ist, Ihr Werk in dieser Ausgabe zu haben. Ich hatte Ihnen schon gesagt, warum keine Genehmigung notwendig war und warum wir auch keine Honorarüberweisung beanspruchen können. Ich habe inzwischen aber bestätigt erhalten, dass Autoren, die in der Sowjetunion einreisen, innerhalb eines gewissen Zeitraumes ein Honorar beanspruchen können. Sollten Sie also zufällig die Gelegenheit haben, im Laufe der nächsten Jahre nach Moskau zu kommen, vergessen Sie bitte nicht, den Verlag zu besuchen (Neglinaja 14, Moskwa K-45) und dort ein Honorar zu verlangen. Ich kann Ihnen nicht hundertprozentig versprechen, dass es gelingt, aber die Wahrscheinlichkeit ist gross. Suvini Zerboni hat uns einen Vorschlag gemacht, Ihre bei uns erschienenen Werke diesem Verlag zu übertragen (im Austausch gegen bei Suvini erschienene 161
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Die Liste der Verkaufswerke beinhaltet (neben Werken anderer Komponisten): „BERIO, Luciano | 5119 Fünf Variationen für Klavier; 5081 Zwei Stücke für Violin und Klavier; 5053 Chamber Music für weibliche Stimme, Klarinette, Cello und Harfe; 5282 Streichquartett[,] Stimmen in Vorbereitung; 5283 Taschenpartitur“ sowie „DALLAPICCOLA, Luigi | 4219 Sonatina canonica für Klavier; 4462 Zwei Etuden für Violine und Klavier; 4267 Roncesvals für Singstimme und Klavier; 4582 Vier Lieder von Antonio Machado für Singstimme und Klavier; 4959 Quaderno musicale di Annalibera für Klavier; 4927 Goethe-Lieder, für weibliche Stimme und 3 Klarinetten; 5300 An Mathilde, Kantate für Sopran und Orchester, auf Gedichte von H. Heine, Klavierauszug. In Vorbereitung; 4041 Fünf Fragmente aus Sappho, für weibliche Stimme und Kammerorchester | Partitur und Klavierauszug in einem Heft; 4179 Zwei Lieder von Anakreon für wbl. Stimme und Kl. Klarinette, Klarinette, Viola und Klavier Partitur; 4181 Sechs Gedichte von Alkaios für Singstimme und Instrumente, Klavierauszug; 4464 Der Gefangene. Oper in einem Akt. Klavierauszug; 4464l Der Gefangene Deutsches Textbuch; 4765 HIOB. Eine ,sacra rappresentazione‘. Klavierauszug; 4832 Tartiniana. Divertimento für Violine und Orchester | Solostimme und Klavierauszug | 4803 Taschenpartitur | Tartiniana seconda für Violine und Klavier. In Vorbereitung; 5116 Canti di liberazione für gem. Chor und Orchester. Klavierauszug“. Sie umfaßt von Berio und Dallapiccola lediglich „BERIO Luciano | Variationen für Kammerorchester | NONES für Orchester | Mimusique No. 2, Ballett“ bzw. „DALLAPICCOLA, Luigi | Zwei Orchesterstücke | Tartiniana seconda für Violine und Orchester“.
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Werke, die uns interessieren könnten). Ich hoffe, dass Sie damit einverstanden sind, wenn wir diesen Vorschlag nicht akzeptieren und Ihre Werke bei uns behalten.
Dallapiccola antwortet am 1. Juni 1968 (typ., frz.) aus Berlin, wo er bis Ende Juli unter der Adresse „Akademie der Künste, Hanseatenweg, 10“ zu erreichen war (er hielt sich in Berlin im Zuge der Vorbereitungen zur Berliner Premiere seines Ulysse vom 29. September 1968 auf), daß er bezüglich dieses „merkwürdigen Angebotes“ nie von Suvini Zerboni „befragt“ worden sei. Und weiter lesen wir: „Und ich möchte Ihnen sagen, daß ich keinen Grund habe, unzufrieden zu sein, weder mit Ihnen noch mit der Universal Edition, und daß ich nie das Freundschaftszeichen vergesse, mit dem Sie mich am Tag nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geehrt haben, indem Sie Volo di notte aufgenommen haben. [...] Die Partitur von ‚Ulysse‘ wurde Anfang April fertiggestellt, alle Interpreten sind im Besitz eines Klavierauszuges von Prolog und erstem Akt, und wir erwarten den zweiten Akt mit dem Epilog nächsten Dienstag. Der Maler Farulli, der die exzellenten Bühnenbilder [dieses Wort ist im Original deutsch] gemacht hat, war auch in Berlin.... Alles zusammen: man arbeitet daran. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihren lieben Brief vom 9. Mai einschließlich der Neuigkeiten betreffend der Sowjetunion. Aber da meine Musik in diesem Land nicht aufgeführt wird, gibt es für meinen Teil keinen Grund, eine Reise ohne einen definitiven Zweck zu unternehmen. Nachdem ich 406 Seiten Partitur geschrieben habe, brauche ich eine Urlaubszeit, was in meinem Fall bedeutet, für Suivini Zerboni einen Band mit mir sehr wichtigen Essays über Musik vorzubereiten, mit Auszügen aus meinem ‚Journal‘ etc etc.. Ich habe diesen Band schon so lange versprochen, aber dieses Projekt immer mit der Begründung verschoben, es wäre lächerlich, einen Band ohne einen Beitrag über ‚Ulysse‘ zu publizieren. Also, in diesem Band wird es einen langen Essay ‚Entstehung eines Operntextes‘ geben (das heißt den Vortrag, den ich Oktober 1967 auf englisch in Ann Arbor gehalten habe, als ich von der Université du Michigan zum Doktor der Musik ernannt wurde), und Sie werden ihn in der Doppel-Nummer von ‚Melos‘ (Juli–August) lesen können.“
Am 26. Juni 1968 (typ., dt.) zeigt sich Schlee in seinem Antwortbrief an Dallapiccola „freudig bewegt“ und hofft, „dass wir uns in Berlin anlässlich der Uraufführung Ihrer Oper sehen werden“. – Schlee und Hartmann wünschten Dallapiccola dann allerdings nur per Telegramm viel Erfolg für die Uraufführung des Ulysse, wofür sich der Komponist am 2. Oktober auf einer Postkarte (hs., frz.) bedankte: Das Telegramm sei ihm „ein Glücksbringer“ gewesen. „Wir bleiben in Berlin für die Aufführungen vom 6. und 9. Oktober, immer unter der Leitung des wunderbaren Maazel.“
Und er gibt seiner Hoffnung Ausdruck, Schlee und Hartmann an einem der Tage zu sehen. Dies war aber nicht der Fall, wie Dallapiccolas nächstem Brief vom 1. November (typ., frz.) an Hartmann zu entnehmen ist, u. a., weil dieser sich in Italien aufhielt:
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„Es tut mir leid, daß ich Ihnen gefehlt habe, als Sie durch Florenz reisten; aber wir waren in Berlin bei allen drei Vorstellungen des ‚Ulysse‘, die M. Maazel bewundernswert geleitet hat, und haben unsere Reise in den Süden erst am 10. Oktober angetreten. Es tut mir aber nicht leid, daß wir die Reise ein paar Tage zurückverschoben haben, denn während der dritten Vorstellung ist etwas passiert, das, soviel ich weiß, in deutschen Theatern sehr selten ist: eine Ovation bei offener Szene nach der Szene von Circe. Das Klatschen hat gut 20 Takte des Interludiums zerstört: anfangs war ich etwas schockiert, später, die Sache überdenkend, habe ich mich gefreut...... Was Ihren netten Vorschlag angeht, so muß ich Ihnen sagen, daß ich in Italien üblicherweise keine Konferenzen gebe (es ist zu langweilig, hier die Gründe zu erzählen). Und vor allem wäre mein Erscheinen in Mailand etwas deplaciert, denn in Mailand ist Luigi Rognoni, der schon immer das Werk der Wiener Schule bearbeitet hat und ohne Zweifel der größte Experte in diesem Bereich ist, den wir in Italien haben. Die Konferenz gehört ohne Zweifel Hr. Rognoni. (Sie wissen wahrscheinlich, daß er in der Öffentlichkeit sehr brillant ist). Was Ihr P.S. betrifft, ist es unnötig zu erklären, wie sehr ich mich darüber gefreut habe, was Sie mir über das Opernhaus Graz geschrieben haben. Ich wußte schon, daß die Aufführung von Milhaud an erster Stelle war, und außerdem wissen Sie, daß mich alles, was Graz betrifft, besonders interessiert. Vergessen Sie nicht, daß ich ein alter Proust-Verehrer bin und daß in meinem Alter die ‚verlorene Zeit‘163 eine wichtige Rolle spielt. Informieren Sie mich so schnell wie möglich über Ihrer Unterredungen mit der Stadt meiner Jugend. [...] P.S. Es scheint, daß die Pariser Opéra-Comique wieder Vol de nuit aufnehmen, will: eine Nachricht, die ich gestern abend von einer Freundin bekommen habe.....“
Nach einer längeren Pause dankt Dallapiccola am 4. Februar 1969 seinen „chèrs amis“ von der UE mit einer Postkarte (hs., frz.) „für das nette Telegramm, das mich sehr berührt hat“, und berichtet, daß er und seine Frau „heute abend nach Salzburg fahren“ und er am 7. „eine Vorlesung in Graz (Betrachtungen über die KomthurSzene [!] in ,Don Giovanni‘) halten“ werde. „Graz: die Stadt meiner ,temps perdu‘ [verlorenen Zeit], die ich meiner Frau vorstellen möchte. Leider ist meine Jugend nicht mehr dort.“ In einem P.S. berichtet Dallapiccola noch von einem Gerücht und frägt, ob es eine Wiederaufnahme von Volo di notte in Buenos Aires gebe.164 Dieses Gerücht wird von Schlee am 13. Februar 1969 (typ., dt.) bestätigt; es habe aber lange Verhandlungen gegeben, „weil die Herrschaften nichts zahlen wollten“. Darüber hinaus bedauert er, zu spät vom Vortrag Dallapiccolas in Graz erfahren zu haben, da er gerne zu diesem gekommen wäre.
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Dallapiccola schreibt: „[...] et que, à mon âge, le ,temps perdu‘ joue un rôle considérable“, womit er auf Prousts Roman A la recherche du temps perdu („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) anspielt. Vgl. den Brief Dallapiccolas an Miltiades Caridis vom 5. Juni 1954. Auf die Postkarte hat jemand (wohl ein Mitarbeiter der UE) mit Bleistift „Herbst 69“ geschrieben.
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„Wenn Sie wieder einmal in die Nähe kommen, lassen Sie es uns doch bitte früher wissen und rechnen Sie damit, daß die Post zwischen Österreich und Italien ca. solange braucht, wie ein Flug von der Erde um den Mond.“
Dallapiccola nahm sich diese Ermahnung zu Herzen und berichtete Hartmann am 11. Mai 1969 (hs., dt.) von einem neuerlichen Vortrag:
Abbildung 7: Luigi Dallapiccola an Ernst Hartmann, 11. Mai 1969.
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Firenze, den 11. Mai 1969 Lieber Dr. Hartmann, Sie haben mich gebeten Sie zu benachrichtigen wenn ich wieder in [!] Österreich kommen sollte. Es ist jetzt der Fall: ich werde am 27. Mai in Dr. Kaufmanns Institut für Wertungsforschung meinen Vortrag über „Wort u. Ton in der italienischen Oper im XIX. Jahrhundert“ halten; am nächsten Tag werde ich das Diplom der Ehrenmitgliedschaft in der Grazer Akademie für Musik und darstellende Kunst entgegen nehmen. Am 29. werde ich von Graz abreisen und in Wien um 12.46 ankommen, um dann von Wien nach Mailand um 16.45 abzufliegen. Es würde mich äusserst freuen Sie (und womöglich Herr Schlee) in dieser Gelegenheit treffen zu können. Wäre es Ihnen vielleicht möglich mich (u. Laura) in Wien am Bahnhof abhohlen [!] zu kommen ? Wir könnten nachher zusammen zu Mittag essen und ein Paar [!] Stunden zusammen verbringen. Da ich schon Donnerstag (den 15. V.) von Florenz abfahre (ich habe ein Konzert in Leipzig), könnten sie so freundlich sein mir eine Antwort in Graz, bei Dr. Kaufmann (Schillerstraße, 47; Tel. 32.4.26) finden zu lassen ? In der Hoffnung Sie diesmal treffen zu können, sende ich Ihnen meine besten Grüsse. | Ihr | Luigi Dallapiccola
Einen Tag später, am 12. Mai (typ., ital.), berichtet Dallapiccola dem „egregio e caro Signor Spitzmüller“ von der UE, daß er dem Generaldirektor der italienischen Gesellschaft der Autoren und Verleger schriftlich das Problem dargelegt habe, „von dem Sie mir schrieben“.165 „Die Sache ist in Arbeit und braucht Zeit. Die Genehmigung bedarf einiger Ministerien, nicht nur des Außen-, sondern mindestens auch des Innenministeriums“, denn in Argentinien sei „die Bürokratie souveräner Herrscher“. Es würde aber jemand „wichtiger“ die Sache verfolgen, und wenn er das Dokument habe, würde er es sofort schicken. Das Problem sei, daß es in Florenz kein Konsulat einer südamerikanischen Republik gebe. – Doch bereits am 31. Mai (typ., ital.) kann Dallapiccola, von Graz zurückgekehrt, Spitzmüller melden, das Dokument erhalten zu haben und gleich zu senden. Nach einer längeren Pause meldet sich Dallapiccola am 25. August 1970 (typ., frz.) und berichtet Schlee, von „M.me Cassadò“ [!] erfahren zu haben, daß für die zweite Runde des im nächsten April stattfindenden „Concours international de violoncelle Gaspar Cassadò“ Ciaccona Intermezzo e Adagio als Pflichtstück ausgewählt worden sei. Er frägt, ob die UE noch mehrere Kopien besäße, könne „für den Fall einer Neuauflage“ aber eine Kopie der „Ausführungsanweisungen des großen amerikanischen Cellisten Lawrence Lesser, die ich gerade bekommen habe“, senden. Selbstverständlich seien die Anweisungen von Cassadó immer noch fundamental, aber es sei 165
Hier geht es – im Zusammenhang mit den Aufführungen von Volo di notte Ende November 1969 in Buenos Aires – offensichtlich um eine urheberrechtliche Frage. (Als ein Aufführungsdatum – wohl das zweite – konnte im Archiv der UE der 21. November eruiert werden.)
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auch nichts Außergewöhnliches, „wenn man die vor 25 Jahren gegebenen Anweisungen auffrischte“. Die UE („h“) antwortet Dallapiccola daraufhin am 28. August (typ., dt.), von Ciaccona Intermezzo e Adagio „genügend Exemplare auf Lager“ zu haben (über 200 Stück). „Trotzdem wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns Spielanweisungen, die Ihnen zweckmässig erscheinen, zukommen lassen wollten, damit wir sie bei einem Nachdruck berücksichtigen können.“
Daraufhin bittet Dallapiccola am 4. September (typ., frz.) um eine Kopie des Werkes, da er nur mehr ein Exemplar besitze. Er würde Lessers Anweisungen in diese Kopie eintragen (Abbildung 8).166 Dallapiccola meldet sich dann wieder am 16. Juni 1971 (hs., frz.), und zwar aus Bad Wildungen. Er berichtet, einen mit 4. Juni datierten Brief von Edison Denisov aus Moskau erhalten zu haben: Radio Moskau habe die Übertragung der Oper „Le Prisonnier“ (1h, 40 min.) „abgesegnet“, was die erste Übertragung eines Werkes von Dallapiccola in der UdSSR gewesen sei. Denisov hatte dafür einen Einführungstext mit Analysen und Musikbeispielen von 40 Minuten Dauer verfaßt, der in alle Sprachen der UdSSR übersetzt und in allen Städten gesendet worden war. Weiters hätte Denisov ein Angebot von Radio Moskau, die Oper Vol de nuit zu präsentieren, doch gebe es der UdSSR weder eine Aufnahme noch eine Partitur, weshalb er Dallapiccola um Hilfe gebeten habe. Dallapiccola antwortete Denisov daraufhin, daß die Aufnahme der Oper, die 1951 von RAI gemacht wurde, in jeder Hinsicht unbrauchbar sei, daß aber eine exzellente Aufnahme von TV Stockholm existiere. Und er bittet Schlee sowohl, Denisov Partitur und Klavierauszug zu senden, als auch um Intervention beim schwedischen Fernsehen. Am 28. Juli (typ., frz.) bedankt er sich dann aus Florenz für die Übersendung der Partitur an Denisov, am 4. Oktober (typ., frz.) fleht er Schlee an, bezüglich der schwedischen Aufnahme zu helfen. In Moskau warte man dringend auf das Band, da die Übertragung im November oder Dezember stattfinden solle. (Zudem wolle man auch den „Ulyssé“ [!] senden.) Schlee beruhigt dann am 13. Oktober (typ., dt.): Die UE hätte in Schweden „eine Vertrauensperson“, die man mit der Angelegenheit des Volo di notte betrauen werde. In seinem Brief vom 28. Juli 1971 hatte Dallapiccola Schlee auch zahlreiche Aufführungen seiner Werke aufgelistet: André Gonnet führte in Paris am 8. und 10. Juni Ciaccona Intermezzo & Adagio auf; Amedeo Baldovino („unser großer Cellist“) würde diese Komposition am 11. September in Venedig („in einem meiner Musik gewidmeten Concert“) und am 13. November in Mailand (Teatro Nuovo) spielen. Und am 26. August sei in Siena die europäische Premiere von „sicut umbra....“ (1970) sowie die Weltpremiere von Tempus destruendi / Tempus aedificandi für Chor a
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Das Exemplar mit den von Dallapiccola eingetragenen Lesserschen Ausführungsanweisungen befindet sich im Archiv der UE, wurde aber bislang nicht ausgewertet.
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cappella (1970–1971).167 – Schließlich bat er um die Zusendung eines italienischen und deutschen Librettos von Volo di notte an Dr. Anton Böhm, Hadikgasse 20, 1140 Wien.168
Abbildung 8: Beginn der von Dallapiccola an die UE gesandten „suggestions by Laurence Lesser“ für Ciaccona, Intermezzo e Adagio. 167
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In Wien waren übrigens am 1. Februar 1971 im Mozart-Saal Dallapiccolas Due liriche di Anacreonte sowie die Sex Carmina Alcaei erklungen, ausgeführt von Margaret Baker und dem „Ensemble Kontrapunkte“ unter Peter Keuschnig; eine Studio-Aufnahme der Sex carmina Alcaei für den Rundfunk fand am 2. Februar statt (Ausstrahlungen: 17. Mai 1971 sowie 19. September 1972 im Ersten Programm). Dr. Anton Böhm (1904–1998), österreichischer Journalist, war 1963–1973 Chefredakteur der Wochenzeitung Rheinischer Merkur.
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Am 4. Oktober hatte Dallapiccola Schlee auch berichtet, „gestern viel mit Mrs. Maggie Kalmus über Sie gesprochen“ zu haben, und er zweifle nicht, „daß sie Ihnen anläßlich Ihres Treffens in Mantua unsere Freundschaft weitergeben wird“. Übrigens werde er am 15. Oktober 1971 in Treviso sein, um einen für Oktober 72 geplanten Opernabend mit Volo di notte und Il Prigioniero zu besprechen; er werde davon berichten. In Schlees Antwort vom 13. Oktober findet sich dann der Hinweis, daß ihm „Maggie“ ebenfalls erzählt habe, „wie angenehm und anregend sich ihre streikbrecherische Tätigkeit ausgewirkt hat“.169 Am 18. Dezember 1971 (hs. frz. Postkarte) teilt Dallapiccola Schlee aus Trento mit, daß gestern das erste Konzert des Bozener Haydn-Orchesters stattgefunden habe und das zweite Konzert bevorstehe. Anfang Jänner werde dann M. [Armando] Gatto nach Florenz kommen, „um seinem Projekt betreffend die Eröffnung der Saison in der Oper von Treviso (Oktober 1972) Gestalt zu geben. Die ,Doppelaufführung‘ von ,Vol de Nuit‘ und ,Le Prisonnier‘ ist beinahe fix.“
Bereits am 3. Jänner 1972 (typ., frz.) konnte Dallapiccola von diesem Treffen berichten: Man habe über alle Details (Sänger, Orchesterformation) gesprochen, das Theater sei schön, aber klein (es fasse 800 Personen), sodaß man beide Opern in der reduzierten Fassung spielen werde; Gatto werde sich an die italienischen Repräsentanten der UE wegen des Notenmaterials wenden. Ende Februar würde man den Besuch von Regisseur sowie Bühnenmaler erwarten. Insgesamt scheine es sich um ernsthafte und gute Vorbereitungen zu diesem Eröffnungsabend der Saison 1972 zu handeln, wobei es gut sei, daß viele junge Interpreten mitwirkten.170 (In einem P. S. bittet der Komponist um Zusendung von Noten Edison Denisovs, z. B. von „Le Soleil des Incas“ oder des Bläserquintetts.) Ende Oktober 1974 befand sich Dallapiccola wieder in Wien, wo er am 28. Oktober171 um 20 Uhr in der „Österreichischen Gesellschaft für Musik“ einen Vortrag „Arnold Schönberg“ hielt, in dem er nach einer kurzen Würdigung des Komponisten sowie einem Blick auf dessen häufige prekäre finanzielle Verhältnisse vor allem auf seine frühen Begegnungen mit der Musik der Wiener Schule, auf das Pierrot lunaire-Konzert vom 1. April 1924, auf das IGNM-Festival 1934 in Florenz sowie auf die frühe Rezeption der Musik der Wiener Schule in Italien zu sprechen kam. Weiters zitierte er Teile seines Artikels über den „13. September“ (vgl. Anm. 84) und schloß mit einem Bekenntnis seiner Liebe und Bewunderung, die er immer für Schönberg empfunden habe.172
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Um welche „streikbrecherische Tätigkeit“ es sich hier handelte, konnte in Wien nicht eruiert werden. Die in Treviso geplante „Doppelaufführung“ fand am 5. Oktober statt. Der Vortrag war zunächst am 29. Oktober, 20.30 Uhr, angesetzt, wurde dann jedoch um einen Tag vorverlegt. Der Vortrag wurde umgehend publiziert: Luigi Dallapiccola, Über Arnold Schönberg, in: Beiträge 1974/75, hrsg. von der Österreichischen Gesellschaft für Musik, Kassel etc. 1974, S. 9–19.
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Um diesen Vortrag herum absolvierte Dallapiccola ein dichtes Programm, das wir einem Brief an Alfred Schlee entnehmen können (siehe unten), mit dem er am 28. Oktober – (wohl) nach längerer Pause173 – kurz zusammentraf. Auf diese Begegnung nahm der Verlagsleiter dann in einem Brief vom 21. November (typ., dt.) Bezug: Verehrter, lieber Freund, es war schön, Sie in Wien wiederzusehen, aber traurig, dass es nur Minuten waren. Mir wurde erzählt, dass Sie über lange Zeitstrecken ein Tagebuch geführt haben. Denken Sie daran, es zu veröffentlichen? Falls ja, besteht eine Möglichkeit, dass wir es herausgeben könnten – falls Ihre Bindung an Suvini Zerboni es verlangt, eventuell in Zusammenarbeit mit diesen? Wir haben für die nächste Zeit mehr Buchproduktionen in Aussicht genommen und es würde mich natürlich ganz besonders beglücken, wenn unter diesen auch Ihr Tagebuch figurieren könnte.
Auch Dallapiccola bedauert in seinem Antwortschreiben vom 26. November (typ., ital.) das allzu kurze Wiedersehen (nicht ahnend, daß es das letzte gewesen sein sollte) und gibt als Grund seinen überaus dichten Terminplan an: Stimatissimo amico Schlee, [...]. Da ich am Samstag [26. Oktober] aus London kam, wollte ich Sie am Sonntag nicht stören. Montag hatte ich ein Interview im TV, dann die einzige Technik-Probe im Saal. Abends war die Konferenz, Dienstag wollten wir das Schönberg-Haus in Mödling besichtigen – das mußte ein Ritual der Verehrung für den großen Meister sein. Und von Mödling bin ich direkt zum Flughafen, um nach Mailand zu reisen. Es ist wahr, daß ich ein Tagebuch geschrieben habe, erst wenig, dann mehr und unübersichtlich, und zwar schon ab der Epoche in Graz (1918 !). Es ist nicht veröffentlichbar, Teile von ihm sind aber eingefügt in [die Aufsatzsammlung] „Appunti, Incontri, Meditazioni“, die Ihnen Suvini Zerboni geschickt hat. Wenn Sie eine Übersetzung machen wollen, schreiben Sie an Suvini Zerboni; die werden sehr erfreut sein (derzeit überprüfe ich gerade die englische Übersetzung, die 1975 erscheinen wird). In die neue Edition werden einige neue Prosa-Seiten eingefügt (z. B. Der 13. September), die ich in Wien gelesen habe und die mir passend zum Druck erscheinen. Zudem etwas über Malipiero etc. Wenn Sie einverstanden sind, schreiben Sie mir bitte. In Wien könnte Dr. Wolfgang Schreiber, „grande italianista“, die Übersetzung machen; ansonsten Signora
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Am 15. Oktober 1972 fand im Festsaal von Murau im Rahmen des „Steirischen Herbstes“ die Uraufführung des über Auftrag des Österreichischen Rundfunks (Studio Steiermark) im Frühjahr und Sommer 1972 geschriebenen Werkes Commiato (Abschied) für Sopran und Kammerensemble über den Text der (Brunetto Latini zugeschriebenen) Lauda statt, welches Werk dem Andenken an Harald Kaufmann gewidmet wurde. Ausführende waren Marjorie Wright und das Ensemble Kontrapunkte unter Peter Keuschnig.
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Gudrun Sthüff-Mazzoni, die für mich schon mehrere Male zu meiner Zufriedenheit gearbeitet hat. [...].
Als Dallapiccolas Vortrag vom 28. Oktober 1974 zusammen mit anderen Artikeln (u. a. von Witold Lutosławski, Olivier Messiaen, Othmar Wessely und Kurt von Fischer) in der Schriftenreihe der Gesellschaft für Musik erschien (siehe oben), sandte deren Leiter Harald Goertz den Band umgehend an den Komponisten. Zwei Tage vor seinem Tod, am 17. Februar 1975, bedankte sich Dallapiccola (hs., dt.) aus Florenz bei Goertz – der Brief erreichte den Adressaten dann angesichts der bekannten Säumigkeit der italienischen Post erst einige Tage nach der Nachricht von dessen Tod.
Abbildung 9: Luigi Dallapiccola an Harald Goertz, 17. Februar 1975.
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Sehr geehrter Doktor Goertz, vor einiger Zeit habe ich einen kurzen Brief von Ihnen erhalten, der eine Kritik meiner Vorlesung beigefügt war und in dem Sie mir die Zusendung einer zweiten meldeten.174 Ich habe Ihnen nicht geantwortet, weil ich auf diese zweite Kritik gewartet habe, die noch nicht angekommen ist. Unterdessen sind die zwei Exemplare der „Beiträge“ angekommen, und ich danke Ihnen herzlichst für die Sendung dieser Zeitschrift, die einige hochinteressante Artikel enthält, und für die Publikation meines Vortrags. Mit meinen besten Grüßen Ihr Luigi Dallapiccola
Am 19. Februar 1975 gab der Verlag Edizioni Suvini Zerboni um 17.09 Uhr ein Telegramm an die UE auf: „wir muessen sie mit erschuetterten herzen vom heutigen ploetzlichen ableben von luigi dallapiccola unterrichten. suzedi“. Umgehend erging die Antwort an „suzedi milano“: „wir waren ebenso entsetzt ueber das ableben unseres geliebten und verehrten freundes dallapiccola und dankbar beruehrt dass sie uns benachrichtigt haben | schlee universal edition“.
Und an Laura Dallapiccola wurde telegraphiert: „zutiefst erschuettert ueber das unerwartete vorzeitige dahinscheiden ihres gatten trauern wir mit ihnen | schlee und universal edition“.
Alfred Schlee verfaßte dann für den „Notiziario“ delle Edizioni Suvini Zerboni den folgenden Nachruf: „Ich weiss nicht, wann ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Wie ein jüngerer Bruder ist er in mein Bewusstsein eingetreten; und ein Leben lang war er mir nah, obwohl wir einander nur selten sahen. In der Erinnerung wird immer bleiben: Zusammenkünfte in schlimmen Zeiten, bei denen Gedanken und Pläne über den Ausgang im Mittelpunkt der Gespräche standen. Geheime Stützpunkte unseres Glaubens während des Krieges: die ‚Wozzeck‘-Aufführung in Rom und ein Gespräch mit Webern in Wien. Man sprach an diesem Abend über die Entwicklung der europäischen Musik. Die Sicherheit, die Webern für die Zukunft des Schönberg-Kreises bekundete, war ebenso frappierend wie die bescheidene Einfachheit, mit der er sie als nicht diskutierbare Selbstverständlichkeit zum Ausdruck brachte. Wir dachten an dieses Gespräch, als ich Dallapiccola nach dem Krieg im Landhaus Peragallos traf, wo er beratend den Proben für eine ‚Pierrot lunaire‘174
Unmittelbar nach dem Vortrag waren in der Kronen-Zeitung (30. Oktober: R. E. [Rüdiger Engerth], Dallapiccola über Schönbergs Einfluß. Impulse aus Wien) und in der Wiener Zeitung (Walter Pass, Zweimal im Zeichen Arnold Schönbergs. Erfolgreiches Konzert der „reihe“ und ein Vortrag Luigi Dallapiccolas) sehr gute ausführliche Kritiken erschienen. Wahrscheinlich hat Harald Goertz Dallapiccola die früher erschienene zugesandt und die zweite wegen ihrer grundsätzlichen Ähnlichkeit nicht mehr. Sowohl diese beiden Kritiken als auch alle Zeitungsankündigungen befinden sich im Archiv der von Goertz ins Leben gerufenen und noch bis vor kurzem geleiteten Österreichischen Gesellschaft für Musik.
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Hartmut Krones
Tournée beiwohnte, die dann zu einem gewaltigen Durchbruch der zeitgenössischen Musik in Italien beitrug. Dallapiccola freute sich über diesen Erfolg, als handle es sich um sein eigenes Werk. Dass zwischen Dallapiccola und der UE keine dauernde Verlagsverbindung entstand, war durch seinen Charakter bedingt. Die Treue zu seinem Verleger, dessen Grosszügigkeit er nie vergessen hat, schlossen jeden Versuch, diese Beziehung anzutasten, als unfair und aussichtslos aus. Aber ich hatte das Glück, aus dritter Hand die Oper ‚Volo di notte‘ erwerben zu können, deren Material durch Kriegseinwirkung zerstört worden war; und sozusagen als ‚Draufgabe‘ erhielt ich das herrliche Solostück für Cello ‚Ciaconna, Intermezzo e Adagio‘. (Übrigens fanden sich doch noch unversehrte Stichplatten, die ich in einem Zeitpunkt, als es noch keine legalen Versendungsmöglichkeiten gab, in einem kleinen Auto über die Grenze schmuggelte, wobei ein Dackel mir behilflich war, indem er die Aufmerksamkeit der Zollbeamten ablenkte.) Diskussionen über die deutsche Übersetzung von ‚Volo di notte‘ liessen erkennen, mit welcher Einfühlung Dallapiccola die deutsche Sprache beherrschte, wie ja auch seine Kenntnis der Weltliteratur immer wieder Bewunderung hervorrufen musste. Wir waren keineswegs immer der gleichen Meinung. In der Beurteilung junger Komponisten unterschieden sich oft die Blickwinkel. Was aber meine Verehrung und Liebe zu ihm immer wieder erneuerte, war die Strenge, mit der er Qualität forderte und gab.“175
Und auch Otto Tomek (geb. 1928), damals (1971–1977) Musikchef beim Südwestdeutschen Rundfunk Baden-Baden sowie künstlerischer Leiter der Donaueschinger Musiktage, in den 1950er Jahren Mitarbeiter der Universal-Edition, danach (1957– 1971) Leiter der Abteilung für Neue Musik am Westdeutschen Rundfunk Köln, später (1977–1988) Programmchef Musik am Süddeutschen Rundfunk sowie immer wieder beratend für die UE tätig, schrieb für den „Notiziario“ delle Edizioni Suvini Zerboni liebevolle Worte der Erinnerung: „Luigi Dallapiccola war für mich immer der stärkste Beweis für die Möglichkeit, Geistiges durch strenge musikalische Ordnungen erfassbar zu machen. Schönberg und Webern konnte ich nicht mehr persönlich erleben, aber in Dallapiccola setzte sich deren Tradition überzeugend fort, angereichert durch das ganz persönliche Melos seiner musikalischen Sprache. Ich hatte die Freude, Luigi Dallapiccola immer wieder zu begegnen, meist bei Aufführungen seiner Werke. Erstaunlich war für mich immer die Präzision, mit der er während der Vorbereitungszeit auf alle Anfragen antwortete. Eine Reihe ausführlicher Briefe belegt diese bewundernswerte Eigenschaft, die sehr viel von der unerhörten Disziplin seines Lebens und seiner Arbeit ahnen lässt. Bei der Einstudierung seiner Werke war Dallapiccola immer unbestechlich hinsichtlich
175
Typoskript-Durchschlag im Archiv der UE. In deutscher Sprache gedruckt in: In ricordo di LUIGI DALLAPICCOLA. Numero speziale del „Notiziario“ delle Edizioni Suvini Zerboni, Milano (ottobre 1975), S. 41f.
Zu Luigi Dallapiccola und seinen „Wiener“ Beziehungen
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seiner künstlerischen Forderungen an die Mitwirkenden, dabei aber alles andere als ein ‚schwieriger‘ Komponist. Im Gegenteil: Seine Liebenswürdigkeit war schon fast sprichwörtlich, ein Balsam in allen Probensituationen, sein geistreicher Humor eine Würze aller Gespräche. Wer erlebt hat wie Dallapiccola seine Dankbarkeit für jeden Dienst an seiner Musik auszudrücken wusste, wird wohl zeitlebens die menschliche Grösse und Wärme dieses zutiefst humanen Komponisten nicht vergessen.“176
Abbildung 10: Kondolenz-Telegramm von Luigi Dallapiccola an Gertrud Schönberg, 15. Juli 1951.
176
Ebenda S. 44.
MANFRED PERMOSER (Wien)
„... In dieser ausgestorbenen Stadt ...“ Anmerkungen zur Wiener Dallapiccola-Rezeption „Wien, 9. März 1942. Ein Aufenthalt von zwölf oder vierzehn Stunden in dieser ausgestorbenen Stadt ist unvermeidlich, wenn man aus Ungarn nach Italien zurückfährt (zwei polizeiliche Kontrollen sind obligatorisch). Doch ich freue mich, denn heute abend habe ich im Hause Schlee Gelegenheit gehabt, Anton Webern die Hand zu drücken. Ein Mystiker, ein kleines Männchen, das mit etwas österreichischem Tonfall spricht, sanft, aber zu Zornausbrüchen fähig und so herzlich, daß er mich wie seinesgleichen behandelte (‚unsere gemeinsame Verantwortung‘, sagte er).“1
So beginnt eine Tagebucheintragung Dallapiccolas, notiert am Ende einer gemeinsam mit dem Geiger Sandro Materassi unternommenen Konzertreise durch Ungarn und die Schweiz zu Beginn des Jahres 1942. Daß Dallapiccola den Wien-Aufenthalt „in dieser ausgestorbenen Stadt“ als „unvermeidlich“ bezeichnet, kann wohl als doppeldeutige Anspielung auf eine meteorologisch wie geopolitisch trübe Wetterlage verstanden werden: ein von Nationalsozialismus und Krieg bestimmtes spätwinterliches Wien-Bild in Braun- und Grau-Tönen mußte dem mediterranen Besucher auch alles andere als einladend erscheinen. – Im Gegensatz dazu steht die freundliche Aufnahme im Hause Schlee. Alfred Schlee, seit 1938 Verlagsleiter der Wiener Universal-Edition und schon damals unermüdlich in seinem Einsatz für die Moderne, lernt Dallapiccola anläßlich des Festivals di Musica Contemporanea der Biennale in Venedig 1938 kennen. Das seit damals vorbehaltlose Einstehen Schlees für Dallapiccolas Schaffen, insbesondere vor dem Hintergrund schroffer Ablehnung einer „derartigen Musik, die zu stark ins Atonale geht“2, so das Urteil der Reichstheaterkammer über den Operneinakter Volo di notte, ließ zwischen dem Komponisten und dem Verlagsleiter bald eine innige Freundschaft entstehen. In Schlees Erinnerungen findet dies auch entsprechende Erwähnung:
1
2
Luigi Dallpiccola, Incontro con Webern, in: Il Mondo: lettere scienzi arti musica 1/15 (3 novembre 1945), S. 12; autorisierte deutsche Teilübersetzung: Begegnung mit Anton Webern, in: Melos 32/4 (April 1965), S. 115– 117, hier S. 116. Luigi Dallapiccola, Sehen, was anderen verborgen bleibt, in: Programmheft des Staatstheaters Braunschweig 27 (1964/65), S. 296–299; zit. nach Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit. Leben und Werk des Komponisten Luigi Dallapiccola, Köln 1984, S. 39.
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Manfred Permoser
„Ich weiß nicht, wann ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Wie ein jüngerer Bruder ist er in mein Bewußtsein eingetreten; und ein Leben lang war er mir nah, obwohl wir einander nur selten sahen.“3
Von herausragender Bedeutung aber wird jenes bereits eingangs zitierte Treffen mit Webern im März 1942 von Dallapiccola geschildert, welches auf persönliche Vermittlung von Schlee zustande kam. Dieses einzige persönliche Gespräch dokumentiert die tiefe geistig-künstlerische Verwandtschaft zwischen den beiden Komponisten. Dallapiccola vermerkt dazu in seinem Tagebuch: „Ohne alle Scheu, rückhaltlos redet man vom Krieg. Das ist jetzt in allen Ländern das vordringlichste Thema. Und wir verstehen uns leicht. Auf welcher Seite der Barrikade wir uns befinden, steht uns auf der Stirn geschrieben. [...] Aber wir sprechen auch über Musik. Da Webern den immensen Erfolg von Das Augenlicht in London4 nicht selbst miterlebt hat, erzähle ich ihm von dem Eindruck, den das Werk damals auf mich gemacht hat. [...] Webern hat mir großen Eindruck gemacht, auch als Mensch.“5
Auch Schlee erinnert sich an dieses Treffen als moralischen Rückhalt in schweren Zeiten: „In der Erinnerung wird immer bleiben: Zusammenkünfte in schlimmen Zeiten, bei denen Gedanken und Pläne über den Ausgang im Mittelpunkt der Gespräche standen. Geheime Stützpunkte unseres Glaubens während des Krieges: die Wozzeck-Aufführung in Rom und ein Gespräch mit Webern in Wien.“6
Noch unter dem Eindruck dieses Treffens mit Webern schlägt Dallapiccola gleich nach seiner Rückkehr nach Italien dessen Passacaglia, op. 1, für das Programm der Biennale in Venedig im September 1942 vor, worüber Webern am 31. Juli desselben Jahres Willi Reich berichtet: „Meine Passacaglia sollte schon diesen Sept. (zu[r] ‚Biennale‘) in Venedig sein unter meiner Leitung. Nun wurde das auf nächstes Jahr verschoben, als Sicheres! Wäre nicht unwichtig! Dieser Dallapiccola hat mir außerordentlich lieb geschrieben.“7
Nimmt der Wien-Aufenthalt vom März 1942 im Leben und Schaffen Dallapiccolas auch eine herausragende Stelle ein (Dallapiccola widmete schließlich seine Carmina Alcaei „in Demut und Ehrfurcht“ dem Andenken Weberns8), so war dies nicht die erste Begegnung des Italieners mit dem Wiener Musikleben. – Bereits 1930 bereist der junge Komponist als Klavierbegleiter der amerikanischen Tänzerin La Meri die 3 4 5 6 7 8
In ricordo di LUIGI DALLAPICCOLA. Numero speziale del „Notiziario“ delle Edizioni Suvini Zerboni, Milano (ottobre 1975), S. 41f. Gemeint ist das IGNM-Fest in London, auf welchem Weberns Kantate Das Augenlicht, op. 26, am 17. Juni 1938 erfolgreich ihre Uraufführung unter Hermann Scherchen erlebte. Luigi Dallapiccola, Begegnung mit Webern (Anm. 1), S. 116f. In ricordo di LUIGI DALLAPICCOLA (Anm. 3), S. 41. Brief von Anton Webern an Willi Reich vom 31. Juli 1942; zit. nach Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes, Zürich 1980, S. 489. Luigi Dallapiccola, Begegnung mit Webern, Florenz, 22. Oktober 1945 (Anm. 1), S. 117.
„... In dieser ausgestorbenen Stadt ...“
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ehemalige Habsburger-Metropole. Die freie Zeit nützt er für Opern- und Konzertbesuche, im Zuge derer eine Aufführung der I. Symphonie Gustav Mahlers unter Oswald Kabasta nachhaltigen Eindruck hinterläßt. Dallapiccola merkt dies in seinen Tagebucheintragungen an, wenn er diese Aufführung als „la gioia della scoperta, una gioia così grande come da molto tempo non mi avveniva di provare“9 in Erinnerung habe, also als eine Freude der Entdeckung, Offenbarung, als eine derart große Freude, wie sie ihm schon seit langem nicht widerfahren sei. Was Dallapiccola an Mahlers Klangsprache so faszinierend findet, ist in erster Linie dessen Gefühl für differenzierte Klangqualitäten und feine Farbnuancen in der Instrumentation – ein Charakteristikum, welches sich ab nun auch im Œuvre des Italieners finden wird. (Wie Dietrich Kämper anmerkt, spannt sich dabei der Bogen vom Frühwerk, wie der Partita, über den Prigioniero bis hin zum Ulisse10). Eine weitere interessante Facette der Wiener Dallapiccola-Rezeption führt uns wieder zurück in die frühen 1940er Jahre. Dallapiccolas Name taucht hier im Zusammenhang mit Baldur von Schirachs kulturpolitischen Initiativen rund um die „Festliche Woche der Staatsoper Wien“ (30. März bis 6. April 1941) auf. Wie Andrea Seebohm in einem Essay anmerkt, plante der Wiener Reichsstatthalter Schirach, „Komponisten befreundeter Länder – so etwa Dallapiccola, Casella, Honegger“ zur „Feierlichen Woche“ nach Wien einzuladen.11 Aus dem Plan – sofern er tatsächlich existierte – dürfte allerdings nichts geworden sein, denn im offiziellen Programm der Woche wird keiner der drei Genannten erwähnt.12 Auch in den erhaltenen Listen der geladenen Ehrengäste findet sich kein Hinweis.13 So muß es bloße Vermutung bleiben, ob Schirach vielleicht sogar an eine Erstaufführung des Volo di notte im deutschen Sprachraum dachte (nach der Uraufführung 1940 in Florenz wäre dies die zweite gewesen. Tatsächlich erfolgte die Wiederaufnahme dann 1942 in Rom im Rahmen jener „Stagione di opere contemporanee“, in welcher auch die italienische Erstaufführung des Wozzeck erklang). Mag die Annahme auf den ersten Blick auch gewagt erscheinen – die Aufführung von Dallapiccolas Operneinakter wird, wie bereits erwähnt, 1941 von der Reichstheaterkammer mit dem Hinweis untersagt, daß „nach den bisherigen Erfahrungen das deutsche Theaterpublikum eine derartige Musik, die zu stark ins Atonale geht, ablehnt“ –, so läßt sich bei genauerer Betrachtung des Sujets jedoch dessen Nähe zu faschistischem Gedankengut unschwer erkennen; und man braucht dabei keineswegs soweit wie 9 10 11
12 13
Luigi Dallapiccola, Primi Incontri con Gustav Mahler, in: Appunti, Incontri, Meditazioni, Milano 1970, S. 101. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2). S. 13f., 74f. und 151ff. Andrea Seebohm, Unbewältigte Musikalische Vergangenheit. Ein Kapitel österreichische Musikgeschichte, das bis heute ungeschrieben ist, in: Wien 1945: davor/danach, hrsg. von Liesbeth Waechter-Böhm, Wien 1985, S. 141ff. Tatsächlich finden sich dann im Programm neben Mozart, Verdi, Borodin und Wagner auch Strauss und Rudolf Wagner-Régeny, letzterer mit der Uraufführung von Johanna Balk. In den diesbezüglichen Akten (Staatsoper, Unterrichtsministerium, Statthalterei) des österreichischen Staatsarchivs konnten keinerlei Quellenhinweise gefunden werden. Ein Telephonat des Autors mit der Verfasserin des oben genannten Artikels ergab ebenfalls keine weiterführenden Erkenntnisse.
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Goffredo Petrassi zu gehen, wonach „Dallapiccola zuerst ein glühender Faschist“14 gewesen sei, um die Ambiguität dieser Zeitoper zwischen inhaltlichem Heroismus und musikalisch-avanciertem Bewußtsein zu erkennen. (Eine in dieser Hinsicht genauere Analyse des Volo di notte würde allerdings den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Verwiesen sei hier aber auf Jürg Stenzls interessante Relativierung des teilweise auch selbststilisierten Dallapiccola-Bildes unter dem vielsagenden Titel „Luigi Dallapiccola oder vom Saulus zum Paulus“.15) Vor diesem Hintergrund mag eine Aufnahme des Volo di notte ins Programm der ‚Festlichen Woche der Staatsoper‘ plausibel erscheinen, muß aber letzten Endes Spekulation bleiben. Jedenfalls hätte es für Schirach zweifellos einen Paukenschlag hinsichtlich seiner politisch motivierten Kulturoffensive in Richtung des angestrebten „Wiener Kunstliberalismus“16 bedeuten können. Nun zur Rezeption nach 1945. Analog zu Dallapiccolas internationaler Karriere und der damit verbundenen wachsenden Reputation als Komponist, Interpret und Lehrer nach dem Krieg stieg auch die Frequenz der aufgeführten Werke. Aber während in Deutschland, der Schweiz oder den USA bald eine rege Rezeption einsetzt, bleibt Wien vorerst – um mit Dallapiccolas eingangs zitierten Worten zu sprechen – diesbezüglich eine „ausgestorbene Stadt“. Immerhin nimmt man in der Österreichischen Musikzeitschrift aber schon 1946 knapp Notiz vom Schaffen des Italieners, wenn in der Rubrik „Aus der Zeit“ zu lesen steht: „Der berühmte italienische Komponist Dallapiccola hat ein Casals [sic!] gewidmetes Werk für Cellosolo fertiggestellt, das demnächst im Verlag der UniversalEdition erscheinen wird.“17
Die irrtümliche Nennung Casals’ als Widmungsträger mag auf einem Mißverständnis beruhen (tatsächlich entstand die hier angesprochene Ciaccona, Intermezzo e Adagio im Auftrag des spanischen Cellisten Gaspar Cassadó), verweist aber doch auch auf Informationsdefizite und ein prinzipielles Nachholbedürfnis in Sachen musikalischer Moderne, wie dies für das Wiener Musikleben unmittelbar nach 1945 zu konstatieren ist. Daß die Notiz über die Fertigstellung dieser Komposition überhaupt den Weg in die Blätter der Österreichischen Musikzeitschrift gefunden hat, verdankt sie dem schon genannten Verlagsleiter der Universal-Edition, Alfred Schlee. Die Übergabe der Ciaccona an den Wiener Verlag (und nicht an Dallapiccolas Hausverlag Edizioni Suvini Zerboni) versteht sich demnach als Dank für Schlees Vermittlungen in Sachen des Volo di notte.18 – Abgesehen von den Aktivitäten rund um 14
15 16 17 18
Interview mit Harvey Sachs in: Ders., Music in Fascist Italy, London 1987, S. 146; zit. nach Jürg Stenzl, Von Giacomo Puccini bis Luigi Nono. Italienische Musik 1922–1952: Faschismus – Resistenza – Republik, Buren 1990, S. 154. Ebenda S. 151ff. Zu Schirachs ambivalenter Kulturpolitik vgl. insbesondere Oliver Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich, Wien 1991, S. 68ff. Österreichische Musikzeitschrift 1/6 (Juni 1946), S. 218. Vgl. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 82, weiters In ricordo di LUIGI DALLAPICCOLA (Anm. 3), S. 41, sowie den Beitrag von Hartmut Krones im vorliegenden Band, S. 41–44.
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die Universal-Edition bewegte sich die Rezeption zeitgenössischer Musik hierzulande in vergleichsweise vorsichtigen Bahnen. Peter Lafite, Herausgeber der Österreichischen Musikzeitschrift, rät, sich „am besten in jeweils geringer Dosierung, aber mit Beharrlichkeit“ dem Fortschritt zu nähern. „Bei jedem Konzert ein kleineres Werk von Schönberg, Strawinsky, de Falla, Messiaen, Hindemith, Berg, Wellesz, Bartok oder Prokofieff [zu spielen], dies würde auch auf den traditionsgebundenen Musikfreund, der einen ganzen Abend moderner Musik wie einen Aussätzigen meidet, jenen psychologischen Zwang ausüben, der notwendig ist, um ihm allmählich sein Herz für die Konturen und Farben neuer Musik zu erschließen.“19
Die Konturen und Farben neuer Musik zu erschließen, dazu hatte der Interessierte am besten in den Veranstaltungen der Konzerthausgesellschaft unter ihrem Generalsekretär Egon Seefehlner die Möglichkeit. In seiner Antrittsrede vom Juli 1946 betont Seefehlner auch sogleich die programmatische Absicht, sich in „stärkstem Maße allem Interessanten, Neuen und Lebendigen zu öffnen [und speziell] die stärkere Betonung der Musik des 20. Jahrhunderts bzw. der zeitgenössischen Musik zu verfolgen.“20
In diesem Zusammenhang taucht der Name Dallapiccola erstmals in der Saison 1948/49 in den Programmen der Wiener Konzerthausgesellschaft auf. Am 25. Oktober 1948 gastierte die Accademia Filarmonica Romana im Konzerthaus (MozartSaal). Neben Werken von Ferruccio Busoni, Wladimir Vogel und Arnold Schönberg stehen Luigi Dallapiccolas Due Studi für Violine und Klavier am Programm.21 Dieser, bereits ein Jahr nach der Baseler Uraufführung (am 9. Februar 1947) vorgestellten Zwölftonkomposition (Violine: Sandro Materassi, Klavier: Pietro Scarpini) folgte im Dezember 1949 ein erster Höhepunkt in der Wiener DallapiccolaRezeption: die Uraufführung der Orchesterfassung der eben genannten Due Studi, die Due Pezzi per Orchestra. Das Orchesterwerk erklang erstmals am 7. Dezember 1949 im Großen Musikvereinssaal.22 Die Wiener Symphoniker dirigierte der eben 19 20 21 22
Peter Lafite, Die Demarkationslinie in der Musik, in: Österreichische Musikzeitschrift 1/5 (Mai 1946), S. 174f. Direktionssitzung vom 19. Juni 1946; zit. nach Friedrich C. Heller/Peter Revers, Das Wiener Konzerthaus 1913–1983, Wien 1983, S. 111. Archiv im Wiener Konzerthaus. Zu den Wiener Konzerten mit Werken Dallapiccolas siehe auch den Beitrag von Hartmut Krones. Der Grund für diese Wahl liegt im für die Saison 1949/1950 und 1950/1951 abgeschlossenen Kooperationsvertrag zwischen der Konzerthausgesellschaft und der Gesellschaft der Musikfreunde, wonach die KHG ihre Orchester- und Solistenkonzerte ab nun im Großen Musikvereinssaal in eigener Regie abhalten wollte. Vgl. dazu Friedrich C. Heller/Peter Revers, Das Wiener Konzerthaus (Anm. 20), S. 113f. Abgesehen von diesem oben erwähnten Orchesterkonzert unter Kleiber findet sich in den Veranstaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde lediglich drei Mal der Name Dallapiccolas – eine Tatsache, die allerdings nicht wirklich überrascht: So steht am 20. Juni 1970 Il Prigioniero (Leitung: Carl Melles, ORF-Symphonieorchester, ORF-Chor, Wiener Staatsopernchor, Solisten: u. a. Liliana Poli, Eberhard Wächter, Werner Krenn, Christian Boesch) am Programm; am 12. März 1976 (Leitung: Bernard Rubenstein, ORF-Symphonieorchester, ORF-Chor) und 20. Mai 1981 (Leitung: Erwin Ortner, ORFSymphonieorchester, Arnold Schoenberg Chor) erklangen die Canti di prigionia. (Archiv der Gesellschaft
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aus dem südamerikanischen Exil zurückgekehrte Erich Kleiber23 – wie Dallapiccola seinem Verleger mitteilt, in „modo superiore“.24 Mit der Uraufführung dieser strengen Zwölftonkomposition unter dem Dirigat Kleibers, einem ausgewiesenen Vorkämpfer der Musik des Schönberg-Kreises (Kleiber leitete unter anderem die Uraufführung des Wozzeck 1926 und der Lulu-Suite 1934), erhält die Ankündigung Seefehlners, sich „in stärkstem Maße allem Interessanten, Neuen und Lebendigen zu öffnen“, eine überzeugende Umsetzung. Einen weiteren Schritt auf diesem Weg setzt die Konzerthausgesellschaft mit der Erstaufführung der bereits erwähnten Ciaccona. Der Widmungsträger Gaspar Cassadó bringt sie dem Wiener Publikum erstmals am 6. Jänner 1950 im Mozart-Saal zu Gehör.25 Zur Österreichischen Erstaufführung gelangen am 18. März 1953 auch die Cinque frammenti di Saffo aus den Liriche greche (Uraufführung am 3. Jänner 1949 in Rom) unter Michael Gielen und dem Kammerorchester der Wiener Konzerthausgesellschaft.26 – Von besonderer Bedeutung sollten auch die seit 1947 jährlich stattfindenden Internationalen Musikfeste werden. Gedacht als Forum für zeitgenössisches Musikschaffen unter dem Tradition und Moderne verbindenden Motto „Anschluß an die Gegenwart“27 finden sich Dallapiccolas Werke wiederholt in den Programmen: so erstmals 1954 im Rahmen des 6. Internationalen Musikfestes. Am 15. Juni bringt Ferdinand Grossmann mit dem Akademie-Kammerchor die 1932/33 geschriebene erste Folge der Sei Cori di Michelangelo Buonarroti il Giovane (Il Coro delle Malmaritate und Il Coro dei Malammogliati) für gemischten Chor a cappella im Mozart-Saal zur Erstaufführung in Wien.28 Im darauf folgenden Jahr präsentiert der Wiener Kammerchor unter Hans Gillesberger die Canti di prigionia (21. Juni 1955, Mozart-Saal); und nochmals findet sich Dallapiccolas Name im Programm des Nederlands Kamerkoor, der im Rahmen des 10. Internationalen Musikfestes am 29. Mai 1961 erneut mit den Sei Cori di Michelangelo Buonarroti il Giovane im Mozart-Saal gastiert. Neben dieser Programmschiene werden in den diversen Zyklen moderner Musik wiederholt Kompositionen Dallapiccolas geboten: in den seit 1951 eingerichteten „Music Viva“-Konzerten nach Münchner Vorbild etwa bringt Hans Kann gemeinsam mit dem Kammerorchester der Wiener Konzerthausgesellschaft (unter Michael Gielen) das 1939–1941 entstandene Piccolo Concerto per Muriel Couvreux zur österreichischen Erstaufführung (12. März 1954, Mozart-Saal); im Zyklus „Neue Musik“ leitet am 17. Dezember 1957 der damals noch am Beginn seiner Karriere stehende Lorin Maazel die Erstaufführung der Variazioni per Orchestra (Wiener Symphoniker,
23 24 25 26 27 28
der Musikfreunde, Wien). – Verglichen mit der Anzahl der Veranstaltungen der Konzerthausgesellschaft eine mehr als dürftige Bilanz. Archiv im Wiener Konzerthaus. Brief an Edizioni Suvini Zerboni vom 26. März 1950; zit. nach Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 89. Archiv im Wiener Konzerthaus. Ebenda. Peter Lafite, Anschluß an die Gegenwart, in: Österreichische Musikzeitschrift 2/7–8 (Juli–August 1947), S. 202. Hier und im folgenden: Archiv im Wiener Konzerthaus.
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Großer Saal); am 18. Dezember 1959 kommt erstmals Il Prigioniero konzertant auf die Bühne des Großen Saales (die Wiener Symphoniker leitet Hans Swarowsky, Hilde Konetzni singt die Mutter, Anton Dermota den Kerkermeister/Großinquisitor, den Gefangenen gibt Kostas Paskalis); schließlich erklingen 1971 noch die Webern gewidmeten Sex Carmina Alcaei, interpretiert vom Ensemble Kontrapunkte unter Peter Keuschnig (1. Februar 1971, Mozart-Saal). Erwähnt sei auch noch der Zyklus „Moderne Musik“, im Rahmen dessen die Tre Laudi (1936– 1937) und die Tre Poemi von 1949 zur Erstaufführung gelangten (Mitwirkende waren die Wiener Symphoniker und der Chor des Österreichischen Rundfunks unter der Leitung von Piero Bellugi, Großer Saal). Auch Friedrich Cerhas „die reihe“ findet sich unter den Interpreten; im Zyklus „Wege in unsere Zeit“ nimmt das Ensemble die Tre Laudi ins Programm (15. Dezember 1980, Mozart-Saal). Ebenso setzte sich das 1985 von Beat Furrer gegründete „Klangforum Wien“ wiederholt mit Werken des Italieners auseinander. In seinem eigenen Zyklus präsentierte Furrer 1992 die Sex Carmina Alcaei (15. Juni 1992, Schubert-Saal), und im Zyklus „Hundert Jahre Neue Musik“ nahm man 2001 unter dem bezeichnenden Titel „Die gute alte Zukunft“ die Piccola musica notturna (die 1960/61 erstellte Kammerensemblefassung) ins Programm (11. Jänner 2001, Leitung: Rick Stengards, MozartSaal). Werke Dallapiccolas wurden vom „Klangforum“ auch im Rahmen der Festivals „Wien modern“ geboten: so 1992 Sicut umbra… (21. November 1992, Furrer, Mozart-Saal)29 und 1997 der Commiato, Dallapiccolas letztes vollendetes Werk, 1971/72 für den „steirischen herbst“ und zugleich im Andenken an seinen Freund Harald Kaufmann geschrieben.30 Wie damit schon angesprochen, bot vor allem aber das Festival „Wien modern“ die Gelegenheit, das Œuvre Dallapiccolas in einem bis dahin noch nicht da gewesenen Ausmaß kennenzulernen. Die auf Initiative von Claudio Abbado 1988 ins Leben gerufene mehrwöchige Veranstaltungsreihe setzte sich anfänglich zum Ziel, Neue Musik in ihrer musikhistorischen Dimension einem größeren Publikumskreis zugänglich zu machen. Dabei konzentrierte man sich in den ersten Jahren (bis 1992) auf die Präsentation ausgewählter Komponistenportraits, um auf diesem Wege „primär die musikalischen Innovationen von entwicklungsgeschichtlich überregionaler Bedeutung“ zu erfassen, „die Dank ihrer kompositorischen Qualität die Chance des Bleibenden in sich tragen“31. So steht 1992, neben den Personalien von Xenakis, Henze und Schwertsik, Dallapiccola im Mittelpunkt des Interesses. Eingeleitet von einem ausführlichen Essay Ulrich Dibelius’ im Almanach „Wien modern“ über den „enthusiastischen Humanisten“32 (so der Titel dieser Lebens- und Werkbeschreibung), werden in der Folge nicht weniger als zwanzig Werke, die im Laufe des mehr als vierwöchigen Festivals zur Aufführung gelangten, genannt – davon 29 30 31 32
[Almanach] Wien modern ’92, Wien 1992, S. 224. [Almanach] Wien modern ’97, Wien 1997, S. 189f. Lothar Knessl, [Vorwort], in: [Almanach] Wien modern ’88, Wien 1988, S. 2. Ulrich Dibelius, Der enthusiastische Humanist: Luigi Dallapiccola. Lebensbahn und Schaffensentwicklung vernetzt, in: [Almanach] Wien modern ’92 (Anm. 29), S. 7ff.
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zehn, die bis dahin in Wien noch nie zu hören waren, wie: Cinque Canti33, Commiato34, die sacra rappresentazione Job35, Piccola musica notturna (Orchesterfassung und Fassung für Kammerensemble)36, Preghiere37, Quattro Liriche di Antonio Machado und Rencesvals38, Sicut umbra…39, Tempus destruendi – Tempus aedificandi40, und Tre Episodi dal balletto ‚Marsia‘41. Als zentrales Schlüsselwerk stand außerdem Il Prigioniero42 auf dem Programm des Festivals, von Wolfgang Fuhrmann im Standard als „ZwölftonTosca“ apostrophiert, damit auf die ausdifferenzierte Klangqualität des Werkes anspielend.43 Stellt dieses Festival 1992 den absoluten Höhepunkt bezüglich der Wiener Dallapiccola-Rezeption dar, so kommt der Komponist auch noch beim 8. Festival „Wien modern“ 1995 im Rahmen des Länderschwerpunktes Italien als Vertreter der „Vätergeneration“ mit zwei Werken zu Wort: den Due liriche di Anacreonte44 und dem Quaderno musicale di Annalibera45 (letzteres erklang dabei erstmals in Wien). Kurz sei noch auf zwei jüngere Opernproduktionen aus den Jahren 1998 und 2003 hingewiesen, die den „trotz einer Retrospektive bei ‚Wien modern‘ […] noch immer relativ ungeläufigen italienischen Zwölftonmeister“46, wie Wolfgang Fuhrmann treffend feststellt, dem Wiener Publikum näherbringen wollten. Unter dem Titel „Hörbarer Glanz, sichtbares Elend“ verweist der eben genannte Kritiker auf eine musikalisch gelungene, szenisch aber offenbar wenig überzeugende Inszenierung der beiden Operneinakter Volo di notte und Il Prigioniero durch die Neue Oper Wien im Semper-Depot vom April 1998.47 – In jüngster Zeit (März 2003) versuchte man 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
43 44 45 46 47
[Almanach] Wien modern ’92 (Anm. 29), S. 60, 24. Oktober 1992, London Sinfonietta, Elgar Howarth (Leitung), David Wilson-Johnson (Bariton), Musikverein – Brahms-Saal. Ebenda S. 70, 27. Oktober 1992, Asko Ensemble, Reinbert de Leeuw (Leitung), Angela Tunstall (Sopran), Konzerthaus – Mozart-Saal. Ebenda S. 168, 21. November 1992, Slowakische Philharmonie, Zoltán Peskó (Leitung), Konzerthaus – Großer Saal. Ebenda S. 78, 31. Oktober 1992, Gustav Mahler Jugendorchester, Claudio Abbado (Leitung); 9. November 1992, Ensemble InterContemporain, Peter Eötvös (Leitung), Konzerthaus – Großer Saal. Ebenda S. 112, 6. November 1992, Österreichische Kammersymphonie, Ernst Theis (Leitung), Georg Lehner (Bariton), Konzerthaus – Mozart-Saal. Ebenda S. 94, 3. November 1992, Pierre-Laurent Aimard (Klavier), Phyllis Bryn-Julson (Sopran), Konzerthaus – Schubert-Saal. Ebenda S. 174, 21. November 1992, Klangforum Wien, Beat Furrer (Leitung), Nadja Klintscharowa (Mezzosopran), Konzerthaus – Mozart-Saal. Ebenda S. 158, 20. November 1992, Arnold Schoenberg Chor, Erwin Ortner (Leitung), Konzerthaus – Mozart-Saal. Ebenda S. 74, 29. Oktober 1992, Homero Francesch (Klavier), Konzerthaus – Mozart-Saal. Ebenda S. 103, 6. November 1992, ORF-Symphonieorchester, ORF-Chor, Arnold Schoenberg Chor, Ingo Metzmacher/Erwin Ortner (Leitung), Phyllis Bryn-Julson (Mutter), John Bröcheler (Der Gefangene), Helmut Wildhaber (Kerkermeister/Großinquisitor), Konzerthaus – Mozart-Saal. Wolfgang Fuhrmann, Die Zwölfton-Tosca und der Uhu, in: Der Standard vom 9. November 1992, S. 10. 29. Oktober 1995, Tactus Ensemble der Civia Scuola di Musica di Milano, Renato Rivolta (Leitung), Sopran Patrizia Macelli. 10. November 1995, Markus Hinterhäuser (Klavier). Wolfgang Fuhrmann, Hörbarer Glanz, sichtbares Elend, in: Der Standard vom 24. April 1998, S. 11. In ähnlicher Weise fallen die Kritiken von Markus Siber, Nur Requisiten-Attrappen für grandiose Musik, in: Die Presse vom 20. April 1998, und Christian Baier, Der ‚Gefangene‘ und ‚Nachtflug‘, in: Österreichische Musikzeitschrift 53/6 (1998), S. 62f., aus. Unter der musikalischen Leitung von Bernhard Schneider musizierten
„... In dieser ausgestorbenen Stadt ...“
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sich noch einmal in der Volksoper am Einakter Il Prigioniero. Auch diesmal steht Dallapiccolas Werk, „dieses flammende Plädoyer für Freiheit und Menschlichkeit, [welches] zu den Meisterwerken des Musiktheaters im 20. Jahrhundert zählt, außer Streit“48,
wie Gerhard Kramer in der Presse meint. Während die musikalische Umsetzung durch Thomas Hengelbrock positives Echo findet, steht der Kritiker der Inszenierung von Tatjana Gürbaca reserviert gegenüber, wenn er schreibt: „Wieder einmal hatte eine Adeptin des Regietheaters gemeint, ihre Ideen von ‚Gesellschaft‘ und ‚Utopie‘ an die Stelle des Werkes setzen zu müssen“, um schließlich doch einzuräumen „atmosphärisch immerhin recht eindrucksvoll“.49 Abschließend seien noch die wenigen Wien-Besuche Dallapiccolas festgehalten, die uns den Komponisten als Interpreten, aber in gleichem Maße als reflektierenden Theoretiker und unbedingten Vertreter der Wiener Schule zeigen. Abgesehen vom eingangs erwähnten, quasi inoffiziell-privaten Besuch bei Schlee und Webern 1942 gastiert Dallapiccola wieder 1956 im Rahmen einer großen Konzert- und Vortragsreise durch Österreich, Deutschland und England am 6. März in Wien. Gemeinsam mit Sandro Materassi bringt er hier die Tartiniana seconda für Violine und Klavier zur Uraufführung.50 Neun Jahre später weilt der Komponist abermals in Wien. Auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Musik hält Dallapiccola am 9. März 1965 im Palais Palffy einen Vortrag, in dem er unter dem Titel „Versuch einer Selbstkritik“ Entwicklungsphasen seines Komponierens erläutert.51 Und letztmalig besucht Dallapiccola im November 1974 Wien, um, einer erneuten Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Musik Folge leistend, einen Vortrag anläßlich von Schönbergs 100. Geburtstag zu halten.52 Mag diese summarische Aufzählung auch den Anschein einer regen Rezeption erwecken, so darf doch nicht übersehen werden, daß in wesentlichen MusikInstitutionen dieser Stadt dem Werk Dallapiccolas keinerlei Beachtung geschenkt wurde und wird. In den Programmen der Wiener Philharmoniker etwa wird man den Namen Dallapiccola bis heute vergeblich suchen, auch seine Opern fanden noch nie den Weg auf die Bühne der Wiener Staatsoper53… Also doch eine, wie eingangs von Dallapiccola selbst formuliert, „ausgestorbene Stadt“? – Wohl nicht
48 49 50 51 52 53
das Savaria Symphony Orchestra und der Chor der Neuen Oper Wien. Die umstrittene Dramaturgie besorgte Ches Themann-Urich. Gerhard Kramer, Gefangener des Regietheaters, in: Die Presse vom 3. März 2003. Ebenda. Vgl. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 2), S. 128. Vgl. Österreichische Musikzeitschrift 20/3 (März 1965), S. 179, sowie Franz Endler, Die Tradition ist stärker als wir, in: Die Presse vom 20./21. März 1965. Veröffentlicht in: Luigi Dallapiccola, Über Arnold Schönberg, in: [Österreichische Gesellschaft für Musik] Beiträge 5 (1974/75), S. 9–19. Die einzige Ausnahme bildet das 1962 unter Aurel von Miloss einstudierte Ballett Marsia, mit dem das Staatsopernballett noch im selben Jahr in Mexiko gastierte (vgl. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit [Anm. 2], S. 56).
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Manfred Permoser
ganz, aber wie Franz Endler in seinem Nachruf auf den am 19. Februar 1975 Verstorbenen feststellt: „Als Komponist war er in Wien, wie viele seiner Generation, zu selten, jedoch immerhin mit einigen seiner wichtigsten Werke vertreten.“54
Und Jürg Stenzl formuliert wohl am treffendsten die Problematik einer Rezeption des Œuvres: „Dallapiccolas unverwechselbare Verbindung von Ethik, Geschichte und Kunst hat sicherlich wesentlich dazu beigetragen, daß er 1975 sozusagen einen doppelten Tod starb: Nicht bloß seine Person, auch seine Werke, die nach dem Krieg weltweit erfolgreich waren, schienen zu verstummen, mit ihrer Entstehungszeit zu entschwinden und zu geschichtlichen Dokumenten zu erstarren.“55
54 55
Franz Endler, Er war unbestechlich, in: Die Presse vom 21. Februar 1975. Jürg Stenzl, Strenge und Klangsinnlichkeit, in: Die Bühne vom 1. Oktober 1992, S. 80ff.
MARIO RUFFINI (Florenz)
Dallapiccolas „unvollendeter“ Ulisse als Hommage an Schönberg1 Ich widme diesen Beitrag Max Seidel im Namen von Bach, Schönberg und Dallapiccolas Vater.
Vorbemerkung „Man kann Dallapiccola unmöglich kennen, wenn man seinen Ulisse nicht kennt“, so pflegte Romano Pezzati seinen Studenten stets in Erinnerung zu rufen. Diesen treffenden Gedanken äußerte er bereits vor sehr langer Zeit, und so hat er den Entschluß gefaßt, der Analyse dieser Opernkomposition ein ausführliches Seminar zu widmen und die Ergebnisse seiner Forschungen in einer Publikation festzuhalten.2 Unter anderem wird darin die lange „dodekaphonische Überfahrt“ nachgezeichnet, die in Dallapiccolas letztem Bühnenwerk ihre vollkommenste Gestalt erfährt und darin so umfassend ausgeprägt ist, daß sie sich der banalen und allzu oft wiederholten seriellen Klassifikation entzieht. Ihre Serialität ist tatsächlich nicht auf eine oder mehrere Reihen zurückführbar, da alles, sowohl in musikalischer als auch in theologischer Hinsicht, in eine zusammengesetzte Spiegel-Vision einmündet und auch aus dieser entsteht: Eine Vision, in der jede Serie einer jeden weiteren Serie vorgängig ist und sich zugleich aus ihr ableiten läßt. Ein solches Vorgehen gleicht der Funktionsweise eines Spiegelkabinetts, in dem der ursprüngliche Spiegel kaum mehr zu erkennen und als solcher zu identifizieren ist. Hierzu bedenke man, was gerade Dallapiccola mit Blick auf Schönbergs biblische Werke zu unterstreichen pflegte:
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2
Mario Ruffini, L’Ulisse „incompiuto“ come omaggio a Schoenberg, in: Luigi Dallapiccola nel suo secolo, Atti del convegno internazionale, Firenze, 10–12 dicembre 2004, a cura di Fiamma Nicolodi, Firenze 2007, S. 337–365. Aus dem Italienischen übersetzt von Antonio Staude. Der Autor dankt dem Übersetzer für seine kritischen Anmerkungen und Ergänzungsvorschläge sowie Samuel Vitali vom Kunsthistorischen Institut in Florenz (Max-Planck-Institut) für die Schlußredaktion der vorliegenden Fassung und die Übersetzung des letzten, neu hinzugekommenen Abschnitts ‚Das Geheimnis von Moses und Aron‘, der eine musikhistorische Ergänzung zur Interpretation von Schönbergs Meisterwerk liefert. Romano Pezzati, La memoria di Ulisse. Studi sull’ Ulisse di Luigi Dallapiccola, prefazione e edizione a cura di Mario Ruffini, Milano 2008.
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Mario Ruffini
„Der Gedanke, aus Freude ersonnen, im Schmerz geboren, unter Entbehrungen gereift, erlaubt es nicht, materiell umgesetzt zu werden, genau wie es Gott nicht erlaubt, dargestellt zu werden.“3
Mit seinem Hauptwerk gelangt Dallapiccola zu den äußersten Konsequenzen der seriellen Undarstellbarkeit. Darüber hinaus bin ich der Ansicht, daß eine umfassende Kenntnis des Ulisse nur mittels einer mit Moses und Aron korrelierenden Lesart zu erreichen ist, gleichsam als äußerste Projektion einer Gegenüberstellung, die das gesamte Œuvre Schönbergs und Dallapiccolas ebenso wie ihre Lebenswege parallelisiert.4 Diese Überzeugungen waren schon vor vielen Jahren während meiner Kompositionsstudien bei Carlo Prosperi herangereift. Entscheidende Impulse erhielt ich damals auch durch Laura Dallapiccola, die mir mehrfach bestätigte, daß Dallapiccolas Werk gerade in Auseinandersetzung mit jenem des Wiener Komponisten vielfältig entscheidende Anregung und Bestätigung erfahren hat.5 Zunächst einmal ist es angebracht, die biographischen Beweggründe des Komponisten in Erinnerung zu rufen, die stets – ganz gleich, ob offen ausgesprochen oder verborgen – mit seinen menschlichen und musikalischen Erlebnissen verwoben sind und gleichsam die Keimzelle dessen bilden, was in Ulisse schließlich als konkrete künstlerische Gestalt erscheint. Allen voran die „Gabe des Leids“: Diesen Ausdruck prägte Papst Johannes Paul II., als er nach einem längeren Krankenhausaufenthalt im berühmten Angelus-Gebet des Jahres 1991 von einem „Leid nicht als Schuld, Sünde, Verdammnis und Sühne, sondern als Gabe“ sprach. Diese erschütternde Vision läßt sich aufs beste mit einem Komponisten wie Dallapiccola vereinbaren. Als Emigrantenkind hatte er selbst eine starke emotionale Bindung an das Land seiner Geburt und hielt in der Kirche von San Felice in Piazza tagaus tagein vor dem Kruzifix aus der Giotto-Schule inne, um dieses Bildnis als „Symbol menschlichen Leids“ zu betrachten: Ein erlebtes Leid, sowohl für das Istrien der vergangenen Jahrhunderte, wo sich dem Gradeser Dichter Biagio Marin zufolge ein „ewiges Drama“ zugetragen habe,6 als auch für den Komponisten selbst, im Zuge 3
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Luigi Dallapiccola, The Dramatic Aspects of Schoenberg’s Work (Schoenberg compositore di teatro), Vortragsmanuskript, gehalten an der Leeds University (23. Oktober 1974). „Fondo Dallapiccola“, Archivio contemporaneo „A. Bonsanti“, Gabinetto G. P. Vieusseux, Firenze (nachfolgend zit. als: ACGV: LD), LVIII.7–8. Der vorliegende Text beruht auf dem Vortrag des Autors: Schönberg’s „Moses und Aron“ and Dallapiccola’s „Ulisse“: The Lost Word, the Found Word, gehalten im Arnold Schönberg Center Wien, im Rahmen des Symposions „Zum 100. Geburtstag von Luigi Dallapiccola“ (18./19. Oktober 2004). Die Studie ist Laura Dallapiccola und Carlo Prosperi gewidmet, denn ohne ihrer beider Ratschläge, Zuspruch und Hilfsbereitschaft bei der Beschaffung der Quellen wäre sie in dieser Form niemals zustande gekommen. Biagio Marin, Pisino e la sua Scuola – Ricordi di uno scolaro. „Discorso celebrativo“ (Festrede), gehalten anläßlich des Ehemaligentreffens des Ginnasio-Liceo Scientifico von Pisino, Trieste (Famiglia Pisinota), 1959; neu aufgelegt in Il Ginnasio Liceo „Gian Rinaldo Carli“ di Pisino d’Istria, Trieste (Famiglia Pisinota), 2000. Falls nicht anders vermerkt, handelt es sich bei den im gesamten Artikel zitierten Quellen um Erstübersetzungen aus dem Italienischen. Englische und gegebenenfalls auch französische Quellen werden in der Originalsprache zitiert.
Dallapiccolas „unvollendeter“ Ulisse
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seiner uns bekannten persönlichen Erlebnisse. In emblematischer Weise vereint Dallapiccola in seiner Person die höchsten zivilen, moralischen und kulturellen Werte des 20. Jahrhunderts, und das vor allem aufgrund seiner hervorstechenden Fähigkeit, Leid in eine Gabe zu verwandeln und sein individuelles Schicksal auf das Universelle in der Kunst zu übertragen. Sein gesamter Werdegang als Musiker erscheint als eine fortwährende, ununterbrochene Gedächtnisübung, die sich in jener ständigen Unruhe niederschlägt, die so vielen Grenzgängern beschieden ist.7 Das Werk Dallapiccolas entstand vor dem Hintergrund der Ereignisse, die im guten wie im schlechten für den Verlauf seiner Kindheit ausschlaggebend waren. Zu Recht schreibt der Musikkritiker Massimo Mila: „Die Sujets waren seit langer Zeit in ihm und trachteten danach, vertont zu werden.“8 Denn wer die Orte von Dallapiccolas Kindheit kennt, wird sein Geburtshaus, das sich in Pisino (Mitterburg, kroatisch Pazin) unweit des Schlosses der Montecuccoli an einem Abgrund oberhalb einer Karsthöhle befindet, mit Nietzsches berühmten Aphorismus assoziieren können: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“9; ein Satz, den Dallapiccola mit Vorliebe zitierte, als Ausgangspunkt für „das Problem der Wechselbeziehungen zwischen dem Autor und seiner Arbeit“10. Dieser Bezug zwischen der Karsthöhle der Kindheit und dem Nietzsche-Zitat wird hier, soweit mir bekannt ist, erstmals hervorgehoben. Eine weitere Beziehung zu jener spezifischen Kindheitserinnerung kann gerade in der grenzenlosen Liebe des Komponisten für Thomas Manns großes Romanepos Joseph und seine Brüder gesucht werden, dessen Anfangssätze lauten: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“11 Dallapiccolas gesamter Schaffensweg ist von diesem Roman beeinflußt, er ist stets auf das Licht hin ausgerichtet, in dem beständigen Versuch, Böses in Gutes zu verwandeln, genau wie es im Mannschen Roman vorkommt und wie Dallapiccola selbst angesichts des erbitterten Streits zwischen Arnold Schönberg und Thomas Mann um Doktor Faustus geschrieben hat: „Von den Menschen gilt es, das Gute heranzuziehen und das Schlechte zu ignorieren“12. Es handelt sich hierbei keinesfalls nur um Worte, denn in einem ausdauernden Kampf des Menschen „gegen 7
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Ebenda S. 47 (hier dt. übers.): „Auch wenn das Drama, das uns seit Jahrtausenden quält, in einer jener Ruhephasen begriffen scheint, die Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte lang anhalten können, sodaß unsere Worte und unser Gedenken womöglich unbegründet und wirkungslos erscheinen: wir verspüren dennoch die Notwendigkeit dieser Erinnerungen“. Massimo Mila, Valori di poesia e di linguaggio sul tema eterno della libertà, Programmheft zum Prigioniero, Teatro alla Scala di Milano, 1962, S. 267–279, hier S. 268. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. 4. Hauptstück, Aphorismus 146, in Werke, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1967ff., VI/2, S. 98. Luigi Dallapiccola, Nascita di un libretto d’opera, in: ders., Parole e Musica, hrsg. von Fiamma Nicolodi (= La Cultura. Saggi di arte e di letteratura, Bd. 53), Milano 1980, S. 511–525, hier S. 511 [nachfolgend PM]; hier zit. nach: ders., Geburt eines Librettos, deutsch von Clelia Noulian, in: Melos 35/7–8 (1968), S. 265–278, hier S. 265. Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, Frankfurt am Main 1983, Bd. 1 (Vorspiel: Höllenfahrt), S. 7. Luigi Dallapiccola, Brief an Lavinia Mazzucchetti Jollos, 22. Jänner 1949 (ACGV: LD, Briefwechsel Dallapiccola-Mann).
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Mario Ruffini
etwas, das größer ist als er“ gelingt es Dallapiccola, das Drama seines Grazer Exils, ebenso wie das der italienischen Rassengesetze, in Musik umzuwandeln. So scheint sein ganzer Lebensweg dem Schutz jener Heiligenmedaille unterstellt, die ihm ein Freund bei der zwangsweisen Übersiedlung nach Graz geschenkt hatte, und die mit einem Bildnis des Heiligen Georg als Drachentöter sowie mit der Aufschrift In tempestate securitas geschmückt war. In dieser lange zurückliegenden Vergangenheit offenbart sich ihm das Leid zum ersten Mal als Gabe, und auch die Vertrautheit mit der Mannschen Thematik von Gut und Böse wurzelt bereits in der frühen Kindheit des Komponisten.13 Nicht anders verhält es sich mit der OdysseusGestalt, die ihn seit 1912, nach dem Besuch einer Vorführung des nach dem homerischen Epos benannten Schwarzweißfilms14 auf dem Marktplatz von Ala (Ahl am Etsch) während der Sommerferien im Heimatort der Mutter, nicht mehr loslassen sollte. Dies alles findet seine musikalische Vollendung in der Entscheidung für die Zwölftonmusik, die ihn auf die Spuren Arnold Schönbergs führt, und damit zu seinem musikalischen und spirituellen Leitstern, den er selbst als „Meister derer, die da wissen“ bezeichnet hat. Zwischen Luigi Dallapiccola und dem Wiener Meister stellt sich eine moralische Kongenialität ein. Frei nach Hölderlins Vers „Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles“15 wird im folgenden versucht, die parallelen, von der Unruhe ihres Forschungsdrangs geprägten Wege der beiden Komponisten in ihren wichtigsten Stationen nachzuzeichnen. Luigi Dallapiccola ist inzwischen ins kollektive europäische Kulturerbe eingegangen. Mit seinem musikalischen Werk sowie auch aufgrund seines persönlichen Werdegangs als Musiker erweist er sich immer mehr als einer von Arnold Schönbergs vollkommensten Erben. Es gibt bedeutende Ähnlichkeiten in der parallelen Entwicklung der dodekaphonen sowie der spirituellen Suche, die sich sowohl bei Schönberg als auch bei Dallapiccola im Zeichen der Unruhe, des Zweifels und der ethischen Disziplin vollziehen. Meines Erachtens nach muß Dallapiccolas Name strukturell unter die kanonischen Namen von Schönberg, Webern und Berg mit aufgenommen werden, was in diesem Kontext eine Erweiterung des Begriffes der 13
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Es sei hier erwähnt, daß sich Dallapiccola immer wieder auf Joseph und seine Brüder stützt, um komplexere biblische Bedeutungsebenen zu verstehen, so etwa den Kampf zwischen Gut und Böse; er selbst ruft zur Veranschaulichung dieses Verstehensprozesses folgenden Passus des Romans in Erinnerung: „Der Kampf zwischen Licht und Finsternis, dem Guten und Bösen, dem Schrecknis und der Wohltat auf Erden, war nicht, wie Nimrods Leute glaubten, die Fortsetzung jenes Mardug-Kampfes gegen Tiamat; auch die Finsternis, das Böse und das unberechenbar Schreckliche, auch das Erdbeben, der knisternde Blitz, der Heuschreckenschwarm, der die Sonne verdunkelte, die sieben bösen Winde, der Staub-Abubu, die Hornissen und Schlangen waren von Gott, und hieß er der Herr der Seuchen, so darum, weil er zugleich ihr Sender war und ihr Arzt.“; in: Mann, Joseph und seine Brüder (Anm. 11), Bd. 2 (Der junge Joseph. Zweites Hauptstück: Abraham/Wie Abraham Gott entdeckte), S. 45. L’Odissea di Omero, Milano Films 1911, Regie: Francesco Bertolini, Adolfo Padovan, Giuseppe De Liguoro. Friedrich Hölderlin, Fragment von Hyperion, in: ders., Werke und Briefe, hrsg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt, Frankfurt am Main 1969, S. 459. Diesen Vers zitiert Dallapiccola in seinem Essay Musicisti del nostro tempo: Vito Frazzi, in: PM, S. 262–263; er bezieht ihn jedoch vor allem, im Sinne eines Mottos, auf Leben und Werk von Ferruccio Busoni; siehe Luigi Dallapiccola, Prefazione alle lettere di F. Busoni alla moglie (1955), in: PM, S. 304.
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Trinität auf eine neuartige Quadrinität zur Folge hätte.16 Dallapiccola kann durchaus zu den Gründungsvätern der dodekaphonen Methode gezählt werden, zu der er einen grundlegenden, eigenständigen Beitrag geleistet hat. Arnold Schönberg ist der wichtigste Anhaltspunkt in der gesamten Existenz Dallapiccolas, der es wie sein Meister versteht, die Zukunft auf das Wissen um die Vergangenheit zu stützen, also Revolution und Tradition miteinander in Einklang zu bringen. „I belong to the Middle Ages. My culture was based on the culture of Middle Ages, above all on the mystics of thirteenth century Italy. […] In music there is an active tradition and Webern was the follower of an active tradition. On the other hand we have ‚traditionalism‘ and I don’t like traditionalism because this is only the habit of being traditional. But active tradition was living in the whole Schoenbergian school of Vienna.“17
Um die zwischen Dallapiccola und Schönberg bestehende Verbindung zu verstehen, ist eine differenzierte Untersuchung dreier unterschiedlicher Ebenen erforderlich: Erstens der Chronologie der Beziehung zwischen Dallapiccola und Schönberg, zweitens des Einflusses der Schönbergschen Werke auf jene Dallapiccolas, und drittens der kulturellen Bedeutung des Judentums. Diese drei Themenkreise helfen uns, die Komplexität und die Tiefe der einzigartigen Beziehung zwischen Schönberg und Dallapiccola sowie insbesondere zwischen ihren Werken Moses und Aron und Ulisse zu durchschauen. 1. Chronologie Vorangestellt sei eine chronologische Übersicht: Gerade erst siebzehnjährig, studiert Dallapiccola 1921 auf Anregung seines Lehrers Antonio Illersberg die Harmonielehre in der deutschen Originalausgabe (der Kauf des Bandes erfolgt am 30. August 1921 in Triest, in der berühmten Buchhandlung Schmidl)18 und beginnt vom Standpunkt der Schönbergschen Rationalität aus über die Quartenakkorde (die eine konsequente Chromatik ermöglichen) nachzudenken. Vierzig Jahre später sollte er im Rückblick auf diese prägende Erfahrung in Großbuchstaben notieren: „HOW LIFE BEGINS“19. 16 17 18 19
Diesen Begriff prägte Dallapiccola bei seinen Reihenstudien zur Vorbereitung des Materials für Tre Poemi; ein Blatt mit entsprechenden Aufzeichnungen ist mit Quadrinità di Annalibera überschrieben. Luigi Dallapiccola, Schoenberg and the Viennese School: Three Points of View, in: The New England Conservatory Bulletin 1/2 (1968), S. 26 und 28. Maria Girardi, Tracce di Dallapiccola a Trieste e qualche inedito, in: Lungo il Novecento. La musica a Trieste e le interconnessioni tra le arti, hrsg. von M. G., Venezia (Marsilio) 2003, S. 299–305. Luigi Dallapiccola, Presentazione della „Harmonielehre“, in: PM, S. 239–246, hier S. 240. Die hier geschilderte Anekdote enthält den aus Joyces Ulysses zitierten Ausspruch „HOW LIFE BEGINS“, der im Roman nicht den Anfang eines bestimmten Lebens, sondern vielmehr den Ursprung bzw. die Zeugung von Leben im allgemeinen bezeichnet. Vgl. James Joyce, Ulysses, Part II: The Odyssey, Episode 6: Hades, Paris (Shakespeare and Company) 1922, S. 86.
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Unmittelbar nach seiner Ankunft in Florenz hört Dallapiccola Pierrot lunaire und sieht Arnold Schönberg persönlich an jenem denkwürdigen 1. April 1924 in der Sala Bianca des Palazzo Pitti. Unter anderem ist er nachhaltig von der außerordentlichen Begegnung zwischen Schönberg und Puccini beeindruckt, an die er sich folgendermaßen erinnert: „You cannot imagine two more different personalities than Schoenberg and Puccini [...] but why were they able to find contact? [...] Because both had a love for music and not for their own music.“20
Hierin besteht also eine der Wurzeln für die humanistische Weltoffenheit Dallapiccolas.21 1925 ereignet sich die erste, problematische Begegnung mit der Welt der Zwölftöner: „Mein Vorwärtsschreiten auf dem Weg der Dodekaphonie war alles andere als einfach: die beiden in Wien in den ‚Musikblättern des Anbruchs‘ 1925 erschienenen Artikel, die aufzufinden mir gelang, kamen mir so schematisch vor, daß sie ans Unverständliche rührten.“
Wenige Jahre später gelingt ihm auf dem Weg zur Erkenntnis jedenfalls ein kleiner Schritt nach vorne: „Ich glaube, zum ersten Mal 1933 dem Wort Dodekaphonie begegnet zu sein, und bin sicher, davon in sehr vager und ungewisser Weise sprechen gehört zu haben.“22
1935 liest Dallapiccola den Beitrag von Herbert Fleischer, Das Problem Schönberg, der eine tiefgreifende Wirkung auf ihn ausübt, so daß er seinen ersten öffentlichen Vortrag vor der Akademie des Regio Conservatorio „Cherubini“ hauptsächlich dem Wiener Komponisten widmet. In dem 1936 gehaltenen Vortrag Di un aspetto della musica contemporanea (Über einen Aspekt der zeitgenössischen Musik)23 stellt er den Schönbergschen Aphorismus „Kunst kommt nicht von können, sondern vom Müssen“ ins Zentrum seiner Überlegungen. Das rückständige Umfeld, in dem dieser Vortrag stattfindet, verleiht Dallapiccola (er spricht über Schönberg mit Bezug auf sein Verhältnis zur Atonalität und zum Publikum, und schließlich über Alban Berg) eine revolutionäre Aura und spiegelt seinen Mut und zugleich die Fähigkeit 20 21
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Dallapiccola, Schoenberg and the Viennese School (Anm. 17), S. 26. Die Bedeutung des Pierrot lunaire für Dallapiccola ergibt sich aus der Menge an Schriften und Zitaten, die der Komponist dem Werk Schönbergs widmet, darunter Ascoltare la musica (1945), PM, S. 125–139; Di un aspetto della musica contemporanea (1936), PM, S. 207–224; Sulla strada della dodecafonia (1950), PM, S. 448–463. Ferner ist zu bedenken, daß Dallapiccola sich von 1972 bis 1975 mit der italienischen Übertragung des gesamten von Schönberg vertonten Gedichtzyklus Trois fois sept poèmes von Albert Giraud befaßt (Il Dandy; ACGV: LD, LVIII.11). Luigi Dallapiccola, Über Arnold Schönberg, in: Beiträge 1974/75, hrsg. von der Österreichischen Gesellschaft für Musik, Kassel etc. 1974, S. 9–19, hier S. 15 und 14. Überschrift des italienischen Manuskripts: Di Arnold Schoenberg; ACGV: LD, LVIII.9. Ders., Di un aspetto della musica contemporanea (Anm. 21).
Dallapiccolas „unvollendeter“ Ulisse
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wider, die Zeichen der Zeit weit im voraus zu erkennen. Es ist kein Zufall, daß sich der Komponist kurz vor seinem Tod noch folgendermaßen an diesen Anlaß erinnert hat: „Zwei Jahre nach meiner Ernennung wünschte die dem Konservatorium angeschlossene Akademie, ich solle zur Jahresversammlung der Mitglieder einen Vortrag über ein von mir frei gewähltes Thema halten. Und so hielt ich am 8. März 1936 zum ersten Mal in meinem Leben einen öffentlichen Vortrag. Das von mir gewählte Thema ‚Über einen Aspekt der zeitgenössischen Musik‘ behandelte die Zweite Wiener Schule. Es war das erste Mal, daß in Florenz über die Zwölftonmusik gesprochen wurde, und ich glaube auch das erste Mal, daß jemand den Mut hatte, mit Liebe von Arnold Schönberg zu sprechen. Außerdem hatte ich eine kurze formale Beschreibung von ‚Wozzeck‘ gegeben und mir erlaubt, Alban Bergs, der wenige Monate zuvor gestorben war, mit bewegten Worten zu gedenken. Wenn ich heute meinen damaligen Vortrag betrachte (er wurde 1938 in den ‚Atti dell’Accademia‘ veröffentlicht), so muß ich eingestehen, daß mein Stil unverschämt war; zum Teil wegen meines jugendlichen Alters, zum Teil, weil ich die Notwendigkeit spürte, einige unbequeme Wahrheiten zu proklamieren, denn im Konservatorium hatte ich sehr viel mehr Feinde als Freunde. Ich erinnere mich noch heute an das heftige, ja aufgebrachte Streitgespräch, das ich nach dem Vortrag mit einem der Professoren des ‚Cherubini‘ hatte, der mit gezogenem Schwert einen italienischen Komponisten, mit dem er befreundet war, verteidigte und die Unverfrorenheit besaß, als Schlußfolgerung zu behaupten, dieser ‚sei tausendmal größer als Schönberg‘. Ob er ihn nun für tausendmal oder für millionenfach größer hielt, ich hatte jedenfalls die Genugtuung gehabt, meine Karten aufzudecken, um sie nie wieder einzustecken.“24
Von diesem Moment an tritt der junge Komponist seinen Weg als Zwölftöner an, und er tut dies im Schönbergschen Geiste einer radikalen ethischen Verantwortung des Künstlers. Mit dem durch Heidegger angesichts der dramatischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts aufgeworfenen Problem der Verantwortung stimmt Dallapiccola in vollem Umfang überein. Sowohl als Mensch wie in der Rolle des Künstlers hat er sich stets auch der schwersten Verantwortung zu stellen gewußt. Er nimmt das Partiturstudium der Wiener Komponisten auf, was während der langen Zäsur des Krieges beträchtlich erschwert ist. Unmittelbar nach dem Krieg wird er, zusammen mit Mario Peragallo, zum Wegbereiter einer Rückkehr der Schönbergschen Musik nach Italien, indem er 1947 eine Tournée mit Pierrot lunaire und Ode to Napoleon Buonaparte organisiert. Im Programmheft, das die Tournée begleitet, beurteilt er den Wiener Musiker als „den größten und wertvollsten Einzelfall unserer Zeit“25 und schätzt seinen Einzug auf die musikalische Bühne des 20. Jahrhunderts als eine 24 25
Ders., Über Arnold Schönberg (Anm. 22), S. 15f. Ders., Nota su Arnold Schoenberg (Anmerkung zu Arnold Schönberg), Programmheft der Accademia Filarmonica Romana (Teatro Eliseo), 19. April 1947, anläßlich eines Schönberg-Abends: Pierrot Lunaire – Ode a Napoleone Buonaparte.
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unvermeidliche Verabredung mit der Geschichte ein, ähnlich dem großen Auftritt des Komturs im zweiten Finale von Mozarts Don Giovanni. Dallapiccola erinnert sich: „Kurz nach meiner Londoner Reise [Juli 1946] besuchte mich mein Freund und Kollege Mario Peragallo, der mir sagte, es müsse nun etwas für die Musik unseres Jahrhunderts geschehen, und der darüber mit mir zu sprechen wünschte. Der erste Name, ja der einzige, der an jenem Tage fiel, war der von Arnold Schönberg, welcher nach unserem Gefühl mit allen Ehren wieder in unserem Lande eingeführt werden mußte, wo er für allzu lange Zeit vernachlässigt und aus viel zu vielen Gründen befeindet worden war, vor allem auch aus rassischen. Wir dachten sofort an ‚Pierrot Lunaire‘, und Peragallo machte sich an die Arbeit, engagierte Künstler wie Pietro Scarpini, Sandro Materassi, Pietro Grossi usw. Mit seinem seltenen organisatorischen Talent setzte er eine Unzahl von Proben an; und schließlich entschloß er sich, um das Programm abzurunden, auch die ‚Ode an Napoleon‘ aufzuführen. 1947 wurde dieses außergewöhnliche Konzert unter der Schirmherrschaft der Accademia Filarmonica Romana neunmal gegeben. Es war die erste europäische Reprise des ‚Pierrot‘ und die italienische Erstaufführung der ‚Ode‘. Der Ausgang dieser Initiative war besonders ermutigend. Wie man weiß, beschleunigen Kriege den Lebensrhythmus. Nichts Besonderes also, wenn das Publikum sich gezwungen sah, Kunstwerken gegenüber Urteile und geistige Positionen neu zu durchdenken – genau so wie neuen Problemen des Lebens gegenüber. Die Zeit war nicht umsonst vergangen. Hatte das italienische Publikum 1924 protestiert (und manchmal in vulgärer Weise), so wurden die Konzerte 1947 mit der größten Aufmerksamkeit angehört und hatten Erfolg. Massimo Mila hatte recht, als er bemerkte, daß das Publikum 1939 neuklassizistisch eingeschlafen war, um einige Jahre nach dem Konflikt expressionistisch wieder aufzuwachen.“26
Dallapiccola hat seine Entscheidungen nun gefällt, und seine radikale geistige Nähe zum Wiener Meister tut sich in einem polemischen Artikel kund, der in Mondo erscheint, als Entgegnung auf einen mit Initialen anonymisierten Verriß von Schönbergs Zweiter Kammersymphonie, op. 38 (V. N., Feuilletonist für den Nuovo Corriere, schreibt: „Arnold Schönberg verkennt das Motiv seines gesamten Lebens“). Nachdem er den Ertrag der „musikalischen Revolution des zwischen beiden Zeitpunkten liegenden Vierteljahrhunderts“ (1914 und 1939) in Erinnerung gerufen hat, die Beginn und Fertigstellung der Komposition markieren, argumentiert Dallapiccola: „Angesichts einer derart willkürlichen Behauptung möchten wir uns darauf beschränken, den Journalisten darauf hinzuweisen, daß der Wiener Meister uns, unmittelbar vor Beendigung der Zweiten [Kammer-]Symphonie, das Violinkonzert und das Vierte Quartett geschenkt hatte; gleich darauf Kol Nidre für Sprecher, Chor und kleines Orchester, sowie Thema mit Variationen für Orchester. Welche Werke er nach 1943 fertiggestellt hat, ist uns nicht bekannt. Jedenfalls versetzt 26
Dallapiccola, Über Arnold Schönberg (Anm. 22), S. 17.
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uns die Kenntnis der sechs genannten umfangreichen Werke in die Lage, ohne einen Widerspruch fürchten zu müssen, behaupten zu können, daß Arnold Schönberg das Motiv seines gesamten Lebens verfolgt und weiterentwickelt, mit jenem Glauben, jener Kohärenz und jener höheren Moral, die ihm gestern nur wenige zuerkannten, die aber heute einer immer größeren Zahl von Menschen offensichtlich sind.“27
Für Radio France realisiert Dallapiccola eine Sendung über jene Kompositionen, die Gegenstand der italienischen Tournee waren. Dabei bietet er eine ausführliche Analyse von Pierrot lunaire und Ode to Napoleon Buonaparte: „Ich wollte, indem ich es Wort für Wort lese und kommentiere, die Titelseite des Pierrot lunaire erläutern. […] Der Pierrot lunaire ist seiner ersten Interpretin, der Schauspielerin Albertine Zehme, gewidmet und besteht aus Drei mal sieben Gedichten des belgischen, post-parnassischen Dichters Albert Giraud, in der deutschen Übertragung durch Otto Erich Hartleben. Drei mal sieben Gedichte: Mit diesem Hinweis gibt uns Schönberg darüber Aufschluß, in welcher Beziehung die verschiedenen Teile seines Werkes zueinander stehen sollen. Das Instrumentalensemble setzt sich wie folgt zusammen: Querflöte und Piccoloflöte; Klarinette und Baßklarinette; Violine und Viola; Violoncello; Klavier. Dazu eine Sprechstimme. […] In den achtzig Jahren vor der Entstehung des Pierrot lunaire hatten die Komponisten die Tendenz an den Tag gelegt, sich mit immer größeren Mitteln auszudrücken. […] Als Kinder der Zeit des Großorchesters wären weder Wagner noch Mahler dazu imstande gewesen, sich ein Ensemble aus fünf Solisten auszudenken, wie es Schönberg konzipiert hat, ein Ensemble, das wohlgemerkt nicht als Kammermusik einzustufen ist. Schönberg kommt der Verdienst zu, den einzelnen Klang wiederentdeckt zu haben […] und aus dem einzelnen Klang all seine Poesie gepreßt zu haben. Ich möchte hinzufügen, daß nur bei sechs der 21 Stücke des Pierrot lunaire das gesamte Ensemble mitwirkt. […] Mit dem Pierrot lunaire beginnt die Epoche des Kleinensembles, eine Rückeroberung, auf die unser Zeitalter vermutlich einmal stolz sein wird. […] Wer die Bühnenspiele der jüdischen Theatertradition verfolgt hat (ich beziehe mich in erster Linie auf Zweigs Jeremias), wird nicht umhin kommen, sich von der Analogie zwischen traditioneller jüdischer Rezitation und der von Schönberg vorgesehenen Deklamation beeindruckt zu fühlen.“28
In derselben Radiosendung untersucht Dallapiccola auch Ode to Napoleon Buonaparte: „Es handelt sich um protest music. Wie sich unschwer erkennen läßt, hat Schönberg Lord Byrons Text im Sinne einer historischen Perspektive ausgewählt: Wenn man den Namen Napoleons austauscht wird klar, daß jedes Wort wunderbar auf einen anderen Despoten paßt, der in diesem zweiten Jahrhundertviertel vermutlich in weitaus stärkerem Maße verflucht wurde, als dies bei Napoleon der Fall war.“
27 28
Luigi Dallapiccola, Precisazione (Klarstellung), in: Il Mondo (5 ottobre 1946), S. 10. Ders., Conversazione su „Pierrot lunaire“ e „Ode to Napoleon Buonaparte“, Radio France, 30. April 1947.
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Es liegt nahe, in den von Dallapiccola nach der tragischen Nachricht vom Erlaß der italienischen Rassengesetze am 1. September 1938 komponierten Proteststücken einen unmittelbaren und bewußten Widerschein der sozialpolitisch engagierten Musik Schönbergs zu erkennen. Ein emblematischer Satz, der uns zu unserer anfänglichen Annahme vom Leid als Gabe zurückführt, beschließt die Sendung für Radio France: „Der Künstler bedarf dieser Dinge, so wie der Mensch des Leidens bedarf, um gegenüber dem Leben Kraft zu schöpfen.“29
Noch 1947 widmet Dallapiccola dem Buch Schönberg et son école von René Leibowitz eine ausführliche Rezension30 und erkennt darin die „außerordentliche Bedeutung“ des Werkes, obwohl zwischen Dallapiccola und dem französischen Musikschriftsteller und Komponisten ein erbitterter Schlagabtausch um das in Dallapiccolas Kompositionen verbliebene tonale Erbe im Gange ist.31 1948 nimmt Dallapiccola jedoch ein Zeichen in seine Partitur auf, das über den musikalischen Aspekt hinausweist: In diesem Jahr komponiert er Quattro liriche di Antonio Machado, und am Schluß taucht erstmals ein Datum auf, das ihm heilig ist: „13. September“ (Arnold Schönbergs Geburtstag), ohne jede Erklärung an das Ende der Partitur gesetzt, was einer vorerst versteckten Art und Weise entspricht, dem Begründer der Zwölftontechnik Ehrerbietung zu zollen. 1949 ist ein besonderes Jahr. Zum Streit zwischen Arnold Schönberg und Thomas Mann um Doktor Faustus schreibt Dallapiccola: „Ich meine […], daß es um so besser sein wird, je weniger von dieser bedauerlichen Polemik an die Öffentlichkeit dringt. […] Ich denke, von den Menschen gilt es soweit als möglich das Gute heranzuziehen und das Schlechte zu ignorieren. (Von solchen Menschen, versteht sich, die der Welt so viel geschenkt haben).“32
„Das Gute heranziehen und das Schlechte ignorieren“: Hierin besteht also die entscheidende Wegmarke seines Denkens, die im Ulisse ihre höchste Entfaltung erfahren wird. Über den Streit ist Dallapiccola aufrichtig betrübt, da er sich einerseits Mann tief verbunden fühlt, dessen Schriften ihn so nachhaltig beeinflußt haben, daß er ihm „zum 6. Juni 1955“ das zweite Stück der Canti di liberazione widmet, andererseits aber auch radikal und unumstößlich in der Welt Schönbergs verwurzelt 29 30 31
32
Ebenda. Luigi Dallapiccola, Schoenberg et son école, in: Le Tre Venezie 21/7–8–9 (1947), S. 287–290. Auf diese Vorwürfe, die nach Sex carmina Alcaei ergingen, antwortet Dallapiccola pikiert und bezeichnet den französischen Kritiker dabei als fanatisch. Daraufhin schlägt er jedoch einen Weg streng eingehaltener Dodekaphonie ein, der ihn zu Beginn der fünfziger Jahre dazu bewegt, jegliche Spuren von Tonalität hinter sich zu lassen, für die er zu Recht kritisiert worden war. Siehe dazu Mario Ruffini, Un ponte verso il centenario, in: L’opera di Luigi Dallapiccola. Catalogo ragionato. Vorwort von Dietrich Kämper, Milano 2002, S. 41–57, hier S. 53–54, sowie Ulrich Mosch, Luigi Dallapiccola e la Scuola di Vienna, in: Dallapiccola. Letture e prospettive. Atti del Convegno Internazionale di Studi (Empoli-Firenze 16–19 febbraio 1995), hrsg. von Mila De Santis, Milano-Lucca 1997, S. 119–129. Luigi Dallapiccola, Brief an Lavinia Mazzucchetti Jollos (Anm. 12).
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ist. Der Dreiecksbriefwechsel von Dallapiccola, Lavinia Jollos Mazzucchetti und Thomas Mann bezeugt, wie sehr dem italienischen Komponisten daran gelegen war, ein unverzügliches Ende des Streits zu erwirken.33 1949 ist auch deshalb ein besonderes Jahr, weil zwischen Dallapiccola und Schönberg von diesem Zeitpunkt an eine persönliche Bekanntschaft geschlossen wird, die sich zwar intensiv, allerdings nur sehr kurz gestaltet, weil der Wiener Komponist nur noch zwei Jahre zu leben hat. In seinem ersten Brief an Schönberg erinnert Dallapiccola an jenen historischen 1. April in der Sala Bianca des Palazzo Pitti34 und an das lange, darauf folgende Schweigen, was in ihm die Frage aufwirft: „Welches Werk beschäftigt Schoenberg wohl gerade? (Fragen, die ohne Antwort blieben…)“.
Überdies vergleicht er ihn mit den „Helden der Freiheit“. Ein bedeutungsvoller Vergleich, da im selben Jahr Il Prigioniero uraufgeführt wird, und so klingt die (durch Unterstreichung hervorgehobene) Bezeichnung beinahe wie eine ideelle Widmung. Erst der Schluß dieses ersten Briefes schafft endgültige Klarheit über Dallapiccolas Gefühle, wenn er Schönberg mit den Worten „Meister derer, die da wissen“ verabschiedet, denselben Worten, die Dante über Aristoteles äußert, wenn er ihn in Begleitung seines Führers Vergil antrifft.35 Hier erweist sich Schönbergs Bedeutung für Dallapiccola: Er gilt ihm als „Meister derer, die da wissen“. Schönberg antwortet: „Erst nach dem Tode anerkannt werden…!“. In Bezug auf die „unnötigen Härten“ in der Zwölftonmusik schreibt er außerdem: „Es ist das auch mein Bestreben“36. Im selben Jahr widmet Dallapiccola Schönberg zum 13. September Tre poemi, worüber bereits umfangreiche Sekundärliteratur vorliegt,37 sowie auch den Text Der 13. September. In dem französisch geschriebenen Brief, in dem er seine Absicht verkündet, ihm die Komposition anläßlich von dessen 75. Geburtstag zuzueignen, schreibt Dallapiccola: „J’ai montré à M. Scherchen ma dernière partition: Variations, pour chant et 14 instruments […]. J’ose espérer que vous daignerez d’accepter cet humble hom33
34
35 36 37
R. B., New York. Angriff Arnold Schönbergs gegen Thomas Mann. Ein Nachspiel zum „Doktor Faustus“-Roman, in: Der Bund (6. Januar 1949). Es folgt der lange Brief Dallapiccolas an Lavinia Jollos Mazzucchetti (22. Jänner 1949), auf den Thomas Mann mit einem originellen Brief reagiert, wiederum an Jollos Mazzucchetti (14. März 1949). Diesen läßt die namhafte Übersetzerin am 21. März 1949 Dallapiccola zukommen, wobei sie die Bedeutung der schmeichelhaften Aussagen Manns über Dallapiccola unterstreicht und diesen dazu anhält, über „die hohe Fürsprache des weisen Thomas!“ erfreut zu sein; ACGV: LD, Briefwechsel Dallapiccola-Mann. Luigi Dallapiccola, Brief an Arnold Schönberg, 9. September 1949. Luigi Dallapiccolas Briefe an Arnold Schönberg befinden sich in der Library of Congress, Washington D.C. (Arnold Schoenberg Collection); die Briefe Schönbergs an Dallapiccola sind ebendort in Durchschlägen verwahrt, die Originale im „Fondo Dallapiccola“, ACGV: LD. Kopien der Originale hat Laura Dallapiccola dem Arnold Schoenberg Institute in Los Angeles (seit 1998: Arnold Schönberg Center, Wien) zur Verfügung gestellt. Dante Alighieri, Die Göttliche Kommödie, hrsg. und übersetzt von Hermann Gmelin, Stuttgart 1955, Bd. 1, Inferno, IV, 131, nach dem italienischen Wortlaut: „Maestro di color che sanno“. Arnold Schönberg an Luigi Dallapiccola, Los Angeles, 16. September 1949. Mario Ruffini, L’opera di Luigi Dallapiccola (Anm. 31), S. 200–204.
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mage, en témoignage de vingt-cinq années d’admiration pour votre art et pour votre vie.“38
Schönberg antwortet mit der Anrede „Lieber Freund“, nimmt die Zueignung des Stückes mit Begeisterung an und spricht seine Bewunderung für die Idee aus, die der Komposition zugrunde liegt: „Die Idee Variationen für eine Singstimme zu schreiben ist äusserst originell un[d] vielversprechend. Ich beneide Sie darum, dass Sie das getan haben. Schade, dass mir das nicht eingefallen ist.“39
In seinem nächsten Brief gibt Dallapiccola darüber Auskunft, im „Küstenland, entre Trieste et Pola“ geboren zu sein, er bedauert, nicht Weberns Schüler gewesen zu sein und erklärt, er fühle sich wie ein „Anfänger“, wobei er hinzufügt: „Mon seul soutien est une grande foi et la certitude que votre route, Maître, est la seule qui puisse garantir la continuité de la musique.“40
Noch im selben Monat, im Jänner 1950, verfaßt Dallapiccola den Aufsatz Sulla strada della dodecafonia, eine Rekonstruktion der zahlreichen Phasen seiner Aneignung der Zwölftontechnik: „Ist Dodekaphonie eine Sprache oder eine Technik? […] (Sie ist meiner Ansicht nach auch ein Gemütszustand)“41.
Der Briefwechsel mit Schönberg wird ab August fortgesetzt, mit einem Antwortbrief auf eine Ausgabe der Zeitschrift TIME, die er im Juli von Schönberg, nebst „votre très spirituel commentaire“42 erhalten hatte, und wird um einen weiteren, bald darauf gesendeten Brief bereichert, mit dem er sich für die Zusendung des Bandes Style and Idea bedankt.43 Abermals schreibt Dallapiccola am 10. September im Hinblick auf den neuerlichen Geburtstag, und mit bedeutungsschwangeren Worten: „Dieu veuille que la prochaine année, en nous envoyant nos vœux, nous puissions vous féliciter pour l’achèvement de ‚Moses und Aron‘. Il y a besoin de votre opéra.“44
Dieser letzte Satz ist unterstrichen. Dallapiccola kann nicht vorhersehen, daß er ein Jahr später bereits den Tod Schönbergs wird beklagen müssen, dem er sich so sehr verbunden fühlt, daß er das Ende der Partitur von Job mit dem Datum des 13. Sep38
39 40 41 42 43 44
Luigi Dallapiccola, Brief an Arnold Schönberg, 2. Dezember 1949; s. ferner Luigi Dallapiccola, 13 settembre (1949), in PM, S. 237–238; zuerst in dt. Übersetzung erschienen: Ders., Der 13. September, in: Stimmen (Zum 75. Geburtstag Arnold Schönbergs) 16 (1949), S. 455f. Arnold Schönberg an Luigi Dallapiccola, 10. Dezember 1949. Zum vollständigen Briefwechsel zwischen Luigi Dallapiccola und Arnold Schönberg vgl. den Beitrag von Hartmut Krones in diesem Band. Luigi Dallapiccola an Arnold Schönberg, 9. Jänner 1950. Luigi Dallapiccola, Sulla strada della dodecafonia (1950), PM, S. 459. Luigi Dallapiccola an Arnold Schönberg, 13. August 1950. Luigi Dallapiccola an Arnold Schönberg, 22. August 1950. Luigi Dallapiccola an Arnold Schönberg, 10. September 1950.
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tember versieht, welches so innerhalb von drei Jahren zum dritten Mal am Ende eines Werkes erscheint. In einem weiteren, vom 27. Dezember datierten Brief Dallapiccolas ist der Beginn eines Engagements bezeugt, das die große Schönbergsche Komposition nach Italien führen soll. „Il y a un an, je vous écrivais en exprimant le désir d’apprendre quelque chose sur ‚Moses und Aron‘; depuis quelque temps je suis au courant des pour-parlers entre Vous, Maître, et M. Francesco Siciliani, directeur artistique du ‚Mai Musical Florentin.‘ [...] Cette année je veux [...] exprimer le désir, l’espoir que vous [recte: votre] pour-parler [!] avec la direction du Mai Musical arrivent, dès que possible, à la solution désirée par tous ce qui attendent, de votre ‚Moses und Aron‘ une nouvelle révélation.“45
Die Erwartung und das Interesse an Schönbergs biblischem Werk werden nach und nach größer, und zugleich stellt sich das Stadium ein, in dem der alte Keim der Odysseus-Gestalt im Denken Dallapiccolas erste konkrete Formen annimmt. So kommen die beiden für das gesamte Musiktheater des 20. Jahrhunderts grundlegenden Werke in dieser Phase erstmals miteinander in Berührung, und das Bühnenoratorium (sacra rappresentazione) Job ist, was das Musiktheater betrifft, in jeder Hinsicht als Dallapiccolas letzter Versuch vor Ulisse anzusehen. Schönberg sieht in Dallapiccola nun einen wahren Freund und dankt ihm für die Glückwünsche zum Jahreswechsel, wobei er ihm gegenüber auch die Verbindungen zu Siciliani und Scherchen erwähnt. Moses und Aron übergeht er und bekundet statt dessen seine Hoffnung, in Italien „Erwartung, Glückliche Hand und Von Heute auf Morgen, welche einen Opernabend füllen“ aufgeführt zu sehen.46 Bald darauf schickt er einen langen, vertraulichen Brief, in dem er seine Urheberschaft der „Klangfarbenmelodie“ bereits für die Zeit der Harmonielehre vehement geltend macht. Diese Klarstellung folgt einer mißverständlichen Zuschreibung des Begriffes an Webern, die durch Fritz-Dorian Deutsch aufgekommen war und beim Wiener Komponisten den schwerwiegenden Verdacht einer antijüdischen Verschwörung schürt: „Wenn ich Ihnen nun aber doch darüber schreibe, so geschieht es wegen der in der Welt vorherrschenden Sucht, den Juden, zu Gunsten des Ariers, herabzusetzen.“47
In dem zunehmend vertraulichen Austausch geht es jetzt vornehmlich um Moses und Aron sowie um Probleme, die eine Aufführung der Oper in Italien mit sich bringt; letzteres insbesondere im ausführlichen Antwortbrief, den Dallapiccola nach einem Treffen mit Siciliani aufsetzt. Zudem dankt er Schönberg in dem Brief für das Vertrauen, das dieser ihm mit den offenherzigen Mitteilungen zur Klangfarbenmelodie entgegengebracht hat, und hofft, darüber so bald wie möglich persön45 46 47
Luigi Dallapiccola an Arnold Schönberg, 27. Dezember 1950. Arnold Schönberg an Luigi Dallapiccola, 8. Jänner 1951. Arnold Schönberg an Luigi Dallapiccola, 19. Jänner 1951.
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lich sprechen zu können, nämlich sobald es ihm möglich wird, sich nach Kalifornien zu begeben: „Au mois du juin, je compte me rendre aux Etats-Unis. Et je voudrais faire tout mon possible pour ne pas vous manquer encore une fois.“48
Die Begegnung der beiden Komponisten sollte nur noch auf Grund ihrer Werke stattfinden, da Schönberg am 13. Juli stirbt. Als Möglichkeit, den Dialog mit Moses und Aron und seinem Autor fortzusetzen, bleibt Dallapiccola nur mehr seine Arbeit an Ulisse. Am 27. September gibt Dallapiccola im italienischen Rundfunk ein schmerzerfülltes Statement ab: „Am Morgen des vergangenen 14. Juli gab der US-amerikanische Rundfunk bekannt, daß am Vorabend, zu später Stunde, in Los Angeles Arnold Schönberg verstorben war. Fassungslosigkeit (smarrimento) und Einsamkeit (solitudine) ergriffen mich. […] Schönberg war ein Märtyrer, ein Heiliger!“49
Dallapiccola bedient sich derselben Worte, die Schönberg in Bezug auf Gustav Mahler gewählt hatte, und ist verzweifelt über die ausgebliebene Fertigstellung von Moses und Aron, wobei er seinen Gemütszustand unterstreicht: Fassungslosigkeit und Einsamkeit. 1952 kommt Dallapiccola erneut auf Schönberg und sein System zurück und schreibt, wie mehrere andere zeitgenössische Komponisten auch, auf Anfrage einen Text „Über meine Art mit zwölf Tönen zu komponieren“, der als Anhang eines Buches von Josef Rufer erscheint.50 Einige Jahre später widmet er der Ehefrau Laura die innigste unter seinen Kompositionen: An Mathilde, nach Texten von Heinrich Heine (Mathilde war bekanntlich der Vorname von Schönbergs erster Ehefrau). Bald darauf komponiert Dallapiccola Cinque canti, wo die emblematische Kreuzgestalt als Symbol menschlichen Leidens musikalisch verarbeitet wird, und erneut erscheint hier – wie schon in Liriche di Machado, Tre poemi und Job – der 13. September als Fertigstellungsdatum am Partiturende. Was nachdenklich anmutet, ist die gleichzeitige Anwesenheit des Kreuzes (oder besser der fünf Kreuze) und des Datums.51 Dieses Datum lag Dallapiccola so sehr am Herzen, daß er es auch bei privaten Anlässen hervorzuheben pflegte. Mir liegen beispielsweise die Tageskarten des Bordrestaurants von seiner Schiffsreise in die Vereinigten Staaten im Jahr 1959 vor; auf keiner von diesen erscheint irgendein Schrifteintrag, mit einer einzigen Ausnahme: Auf der Karte vom 13. September hat Dallapiccola sein eigenes Kürzel neben das sinnbildliche Datum gesetzt. 48 49 50
51
Luigi Dallapiccola an Arnold Schönberg, 16. März 1950. Ders., Omaggio a Arnold Schoenberg (Hommage an A. S.), Sendemanuskript für RAI, 19. September 1951. Ders., „Über meine Art mit zwölf Tönen zu komponieren“ (Testimonianza sulla dodecafonia), in: Josef Rufer, Die Komposition mit zwölf Tönen, Berlin-Wunsiedel 1952, S. 162–165. Abgedruckt in vorliegendem Band, S. 239–242. Für eine Übersicht zu Quattro liriche di Antonio Machado, Tre poemi und Cinque canti, siehe Ruffini, L’opera di Luigi Dallapiccola (Anm. 31), S. 189–191, 200–204 und 259–263.
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1963 bietet sich ihm beim Verfassen des Einleitungstextes Presentazione della „Harmonielehre“ Gelegenheit, in Erinnerung zu rufen „HOW LIFE BEGINS“. Die von Luigi Rognoni herausgegebene italienische Ausgabe betitelt Schönbergs Buch mit Manuale di armonia, obwohl die treffendere Wiedergabe laut Dallapiccola Trattato di armonia lauten müßte. Dies ist eine willkommene Chance, an jene berühmt gewordene vernichtende Besprechung des grundlegenden Schönbergschen Theoriewerks durch Ildebrando Pizzetti zu erinnern, die ihn einst zum Kauf des Buches angeregt hatte (ganz ähnlich war es auch dem polnischen Zwölftöner Józef Koffler ergangen), durch das er eine weitere Eigenschaft des Wiener Komponisten kennen und schätzen lernen sollte, nämlich sein „Wissen und Gewissen“52. Anfang der siebziger Jahre, rund fünfzig Jahre nach jenem 1. April des Jahres 1924, war der Einfluß dieser alten Erinnerung und vor allem des Pierrot lunaire für Dallapiccola noch nicht erloschen. Es ist durchaus bekannt, wie sehr ihn diese Komposition bei seinem ideellen Erstlingswerk, dem Divertimento in quattro esercizi, beeinflußt hat;53 ferner hat sie jene besondere Aufmerksamkeit gegenüber Äußerungsformen der jüdischen Kultur mit geprägt, die für seine gesamte Produktion dauerhaft und nachhaltig bestimmend wurde. Um so erstaunlicher ist die Feststellung, daß Dallapiccola sich ein weiteres Mal mit Pierrot lunaire auseinandergesetzt hat, als er sich zwischen 1972 und 1975 an der Übersetzung der von Schönberg vertonten Gedichte Albert Girauds ins Italienische versuchte.54 Ein bedeutendes Faktum, das die Bindung des Komponisten an jenes Werk dokumentiert, noch ein halbes Jahrhundert nachdem er, selbst gerade erst in Florenz eingetroffen, der besagten Aufführung im Palazzo Pitti beigewohnt hatte. Im Jahr 1973 widmet Dallapiccola Arnold Schönberg den Eröffnungsvortrag der XXX. Settimana Musicale Senese: Premessa a un centenario (Vorbemerkung zu einer Hundertjahrfeier). Der Titel kündigt bereits eine Art allgemeine Rekapitulation von Leben und Werk des Wieners an.55 Das Thema liegt ihm so sehr am Herzen, daß er es in zwei Abschnitte unterteilt: Eine Rede über den Menschen Schönberg, und eine weitere über Schönberg als Komponisten. In Siena wendet er sich dem Menschen zu, während er seine Ausführungen über den Komponisten im darauffolgenden Jahr (23. Oktober 1974) an der Leeds University anschließt. Es sind grundlegende Texte, die in ihrer Gesamtheit gelesen und reflektiert werden müssen, denn es handelt sich dabei um wahrhaftige Vermächtnisse von Dallapiccolas Denken: „Der Meister, den ich geliebt habe, vielleicht mehr als jeden anderen aus unserem Jahrhundert, zweifellos derjenige, den ich am meisten bewundert habe, für 52 53
54
55
Luigi Dallapiccola, Presentazione della „Harmonielehre“ (1963), in: PM, S. 239–246. Mario Ruffini, L’opera di Luigi Dallapiccola (Anm. 31), S. 110–112, sowie Mario Ruffini, Il Divertimento in quattro esercizi di Luigi Dallapiccola, in: Feier der Überleitung des Kunsthistorischen Instituts in Florenz in die MaxPlanck-Gesellschaft (3. Juni 2002, Aula Magna der Univ. Florenz), Firenze (KHI – MPI) 2003. Luigi Dallapiccola, Il Dandy, Manuskript, ACGV: LD, LVIII.11; Fondo Luigi Dallapiccola, hrsg. von Mila De Santis, Firenze 1995, S. 107; hier findet sich die vorschnelle Datierung „ca. 1947–1949“. Dabei stehen die Übertragungen auf wiederverwendetem Schmierpapier, und aufgrund eindeutiger Hinweise auf den Blattrückseiten läßt sich als zuverlässiger terminus post quem das Jahr 1972 festlegen. Ders., Arnold Schoenberg, Premessa a un centenario (1973), in: PM, S. 247–256.
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sein Genie, für seinen Mut, für seinen Charakter. Liebe und Bewunderung, die auch dann, als ich alte oder neue Verrisse über sein Werk lesen mußte, keinen Moment lang ins Wanken geraten sind. Die Verrisse gehen vorüber, aber die Werke bleiben.“56
Den berühmten, eben erwähnten Vortrag an der Leeds University eröffnet Dallapiccola mit der folgenden Überlegung: „Schönberg muß als Bühnenkomponist betrachtet werden, […] für mein Empfinden ist die Tatsache zu wenig untersucht worden, daß bei vielen anderen seiner Arbeiten das dramatische Element im Vordergrund steht. […] Man bedenke, welchen Mut Schönberg beweisen mußte, als er eine Singstimme in die beinahe heilige Form des deutschen Quartetts einführte!“
Weite Teile des Vortrags sind dem Bühnenwerk Moses und Aron gewidmet, das in der Lesart Dallapiccolas den Rang einer Entdeckung erhält: „Das Libretto jener Oper ist, so meine ich, 1927 niedergeschrieben worden; vielleicht aber auch früher. Ein unvollendetes Werk, wie gesagt, weil die Musik des dritten Aktes fehlt. Die Ehefrau Gertrud Schönberg ließ einige Auszüge aus Briefen des Meisters ans Ende der Partitur des Moses und Aron setzen. 1931 schrieb er: ‚I would like to do everything necessary in order to have the opera complete before I return to Berlin‘. Und 1949: ‚But I have already conceived to a great extent the music for the third act, and believe that I would be able to write it in only a few months ...‘. 1950 dann: ‚... but since then I have found neither time nor mood for the composing of the third act. In fact, the third act consists of a single scene ...‘. Und ebenfalls 1950 schreibt er: ‚It is not entirely impossible that I should finish the third act within the year‘. 1951 folgen schließlich zwei isolierte Zeilen: ‚Agreed that it is possible for the third act simply to be spoken, in case I cannot complete the composition.‘ Schönberg starb, ohne die Oper je vollendet zu haben. Das Schicksal des Meisters war dem des Moses nicht unähnlich, und ebensowenig dem von ihm selbst in Der biblische Weg beschriebenen seines Protagonisten Max Aruns. Das Opernwerk kam trotz allem zur Aufführung und wird bis heute regelmäßig gespielt. Man darf nicht vergessen, daß Schönberg, wahrscheinlich in einem Augenblick der Frustration, den Zweifel geäußert hatte, ob die Oper überhaupt aufführbar sei, ohne daß auf elektronisch produzierte, synthetische Klänge zurückgegriffen werden müßte. Dabei hatte er die Überlegung außer acht gelassen, nach der jede wertvolle Neuerung über kurz oder lang die zu ihrer praktischen Umsetzung erforderlichen Mittel nach sich zieht. […] Meiner Ansicht nach ist die Oper mit dem Ende des zweiten Aktes bereits abgeschlossen: Die verzweifelte Anrufung Moses: ‚O Wort, du Wort, das mir fehlt!‘ ist von solcher Durchschlagskraft, daß es – nach56
Gemeint sind in erster Linie Ildebrando Pizzetti, aufgrund einer giftigen Bemerkung gegen die Harmonielehre (Di Arnold Schoenberg e di altre cose, in: Il Marzocco, 17. Dezember 1916; später in: Intermezzi critici, Firenze [Vallecchi] 1921, S. 173–190), sowie auch Pierre Boulez als Verfasser des Artikels Schoenberg est mort (The Score, Mai 1952, sowie in ders., Relevés d’apprenti, Paris [Seuil], 1966; dt. Übersetzung: Schönberg ist tot, in: ders., Anhaltspunkte. Essays, aus dem Französischen von Josef Häusler, Stuttgart–Zürich 1975, S. 288–296).
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dem Aron von der Bühne abgetreten ist – so scheinen will, als solle er in Vergessenheit geraten. Einmal mehr ist Moses allein geblieben, wie schon in den vorhergehenden Opern. […] Wenn ich eine Hypothese vorbringen darf, so will ich behaupten, daß Schönberg unbewußt gespürt hat, daß die Oper ihrem dramatischen Aufbau nach bereits mit dem zweiten Akt abgeschlossen war. Hiermit soll die äußerste Wichtigkeit des Texts im überaus knappen dritten Akt (beinahe ein Epilog) keineswegs verneint werden, zumal darin Schönbergs Credo sowie seine Prophetie über das jüdische Volk enthalten sind. […] Zehn Jahre später, ganz genau am 24. Juli 1933, kehrt Schönberg in die jüdische Glaubensgemeinschaft zurück. Hierzu schreibt er am 4. August desselben Jahres an Webern: ,Ich bin seit ,14 Jahren‘ vorbereitet auf das, was jetzt gekommen ist. Ich habe mich in dieser langen Zeit gründlich darauf vorbereiten können und mich, wenn auch schwer und mit vielen Schwankungen schliesslich definitiv von dem gelöst, was mich an den Okzident gebunden hat. Ich bin seit Langem entschlossen, Jude zu sein und du wirst mich auch manchesmal von einem Stück sprechen haben hören, über welches ich noch nichts näheres sagen konnte, in welchem ich aber die Wege für eine Aktivität des nationalen Judentums gezeigt habe. Nunmehr bin ich vor einer Woche auch officiell wieder in die jüdische Religionsgemeinschaft zurückgekehrt, obwohl mich davon nicht die Religion trennt (wie ja mein Moses und Aron zeigen wird), wohl aber meine Auffassung über die Notwendigkeit der Anpassung der Kirche an die Forderungen der modernen Lebensführung. Es ist meine Absicht, mich aktiv an solchen Bestrebungen zu beteiligen. Ich halte das für mich für wichtiger, als meine Kunst und ich bin entschlossen – wenn ich für solche Tätigkeit geeignet bin, nichts anderes mehr zu machen, als für die nationale Sache des Judentums zu arbeiten. […] Aus diesen Gründen weiss ich nun nicht, wie lange ich hier werde arbeiten können und ob ich Moses und Aron fertigbringen und mein Drama ,Der biblische Weg‘ werde umarbeiten können.‘ […] Offenkundig geht es dabei um ein Glaubensproblem. Er arbeitete bis in seine letzten Lebensjahre hinein und hinterließ ein unvollendetes erstes Stück für Moderne Psalmen, das nur bis Takt 86 ausgeschrieben ist – eine würdige, großartige Fortsetzung der religiös inspirierten Werke, die für seine letzte Schaffenszeit kennzeichnend waren (Dreimal Tausend Jahre, De Profundis) – und genau an der Stelle abbricht, wo der Chor eindringlich wiederholt: ‚Und trotzdem bete ich‘: Dieses ist das einzig würdige Ende für einen so großen Mann.“57
Kurz vor seinem Tod schreibt Dallapiccola: „Die Musikgeschichte muß der Tatsache Rechnung tragen, daß es eine Periode vor Schönberg und eine Periode nach Schönberg gibt [...]. Daß Schönberg ein großer Komponist ist, darüber kann es weder Zweifel noch Diskussion geben. Es liegt mir daran, zum Ausdruck zu bringen, daß seine menschliche Größe auf
57
Luigi Dallapiccola, The Dramatic Aspects of Schoenbergs Work (Schoenberg compositore di teatro) (Anm. 3). Der Text stimmt teilweise überein mit Arnold Schoenberg, Premessa a un centenario (Anm. 55). Die vorliegende Übersetzung beruht auf dem italienischen Wortlaut des Originalmanuskripts. Der Brief Schönbergs an Webern wird gemäß dem Original (The Library of Congress, Washington D.C., Arnold Schoenberg Collection) wiedergegeben.
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gleicher Höhe stand. Ein Mann des Glaubens! [...] der Meister, den ich mehr als alle anderen unseres Jahrhunderts geliebt habe.“58
Soweit zur Chronologie des Verhältnisses zu Schönberg, das für Dallapiccola ein Leben lang andauert und nach und nach zum Rückgrat seines gesamten Denkens wird. 2. Einflüsse und wechselseitige Bezüge Ebenso aussagekräftig ist die Feststellung, daß zahlreiche Kompositionen Dallapiccolas eine ideelle Beeinflussung durch das Schönbergsche Œuvre erfahren, wie der zweite Teil der vorliegenden Untersuchung veranschaulicht. Die auftretenden Wechselbeziehungen lassen sich in der Regel durch eine Partituranalyse nachweisen, und sind nicht explizit dokumentiert. Dabei verläuft der gewählte Ansatz im Zeichen einer Produktion, die sich über die gesamte Schaffenszeit des Komponisten erstreckt. Dem vor-dodekaphonen chorischen Charakter der Gurrelieder entspricht bei Dallapiccola der vor-dodekaphone chorische Charakter der Cori di Michelangelo Buonarroti il Giovane; der Kammersymphonie in E-Dur entsprechen Tre laudi, mit einem Anfangsakkord in H-Dur; der Einsamkeit der „Frau“ in Erwartung entspricht die Einsamkeit des „Uomo“ in Volo di notte.59 Drittes und Viertes Quartett Schönbergs verbinden sich mit dem Namen Elizabeth Sprague Coolidge, und mit demselben Namen verbinden sich gleich drei von Dallapiccolas Werken: Cinque canti, Parole di San Paolo, Sicut umbra. Setzen wir den Vergleich zwischen Werken der beiden Komponisten fort, so wird deutlich, daß Schönbergs Orchestervariationen aus einem Thema, neun Variationen und einem Finale, insgesamt also aus elf Stücken, bestehen. Auch Dallapiccolas Variazioni per Orchestra, die Orchesterfassung des Quaderno musicale di Annalibera, bestehen aus elf Stücken, und in beiden Werken erscheint der Name B-A-C-H in struktureller Funktion. Dallapiccola zeigt sich von der dramatischen Kraft in Begleitungsmusik zu einer Lichtspielszene beeindruckt, und schreibt seinerseits die Musik zu drei Kunst-Dokumentarfilmen, wobei er dem Film gegenüber ein höheres Maß an Flexibilität an den Tag legt als Schönberg.60 Eindrucksvoll ist ferner die ideelle Ent58 59
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Ders., Über Arnold Schönberg (Anm. 22), S. 9 und 19. Ders., The Dramatic Aspects of Schoenbergs Work (Anm. 3): „Man kommt nicht darum herum, diese Bemerkung von Anton Webern anzuführen: ‚In den 426 Takten, aus denen die Oper [Erwartung] besteht (von etwa einer halben Stunde Dauer), wiederholt sich niemals ein und dieselbe Figur, niemals gibt es etwas, das beim Hörer das Gefühl einer ‚Reprise‘ bewirken könnte, was ein einzigartiges Moment in der Musikgeschichte bedeutet. Von hier entsteht eine zuvor ungeahnte Vielfalt: Jedes Wort der Frau, jeder Satz bei ihrer Suche nach dem Geliebten, jede Handlung, jede Geste; alles erscheint vergrößert durch die Musik.‘ “ Ders., Arnold Schoenberg, Premessa a un centenario (1973), in: PM, S. 248: „Die Begleitungsmusik zu einer Lichtspielszene op. 34 trägt eine solche dramatische Kraft in sich, daß es im Jahre 1968, rund 38 Jahre nach seiner Entstehung, in der ‚Maison de la Culture‘ in Grenoble zu einer filmischen Umsetzung des Werkes kam“. Gemeint ist der 1972 erschienene Film Einleitung zu Arnold Schoenbergs Begleitmusik zu einer
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sprechung zwischen den Werken, die beide Komponisten in ihrem sozialpolitischen Engagement aus Protest und als Ausdruck ihres unbändigen Hasses gegen die Diktatur geschrieben haben. Werke wie die Ode to Napoleon Buonaparte oder A Survivor from Warsaw lassen sich durchaus mit den Werken der „Trilogia“ vergleichen, also mit den Canti di prigionia, Il prigioniero oder Canti di liberazione. In Canti di liberazione stammt einer der verarbeiteten Texte aus dem Buch Exodus, das auch die Textgrundlage für Moses und Aron bildet. Ein weiteres gemeinsames Thema ist Jerusalem: Die Sehnsucht nach der Stadt, die sich bei Schönberg erstmals in Dreimal Tausend Jahre niederschlägt und später in De Profundis, findet ihre Entsprechung in Dallapiccolas Tempus destruendi – Tempus aedificandi und in Commiato, die beide die mystische Erleuchtung in Ulisse ergänzen, zumal sie beide auf demselben Ton (Gis) einsetzen, den das Orchester im Augenblick der göttlichen Erleuchtung des Helden unisono spielt. Beide Komponisten arbeiten bis zu ihrem Tod an spirituell inspirierten Werken, die letztlich unvollendet bleiben müssen: Moderner Psalm und Lux. Vor dem entscheidenden Beispiel der beiden großen Bühnenwerke finden sich Gemeinsamkeiten am stärksten im Bühnenoratorium Job ausgeprägt, das 1950, also im Jahr der größten Intensität im Briefwechsel zwischen beiden Komponisten entstanden ist und das, aufgrund seines der Form eines „Gewölbes“ nachempfundenen Aufbaus, eine grundlegende Vorwegnahme von Ulisse darstellt.
Abbildung 1: Mario Ruffini, Die Gewölbestruktur des Job.61
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Lichtspielszene, nach Arnold Schönberg und Bertolt Brecht: ein 15-minütiger Kurzfilm des linkskritischen, dem „Neuen Deutschen Film“ zuzurechnenden Filmemacherpaares Danièle Huillet und JeanMarie Straub. Geht man von der Richtigkeit der von Dallapiccola für die Grenobler Veranstaltung angegebenen Jahreszahl aus, ist anzunehmen, daß 1968 eine Art Preview des Films gezeigt wurde. Bald darauf präsentierten Huillet und Straub auch einen durch das Opernwerk des Wiener Komponisten inspirierten Langfilm: Moses und Aron, 1974, nach Arnold Schönberg, 105 Minuten. Das vom Autor entworfene Strukturschema erschien erstmalig in Mario Ruffini, Giobbe furioso: premonizioni di Ulisse. Il poema del pessimismo e della rivolta. Job e la spiritualità di Luigi Dallapiccola, in: Luigi Dallapicco-
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In diesem Stück wendet sich Dallapiccola, vermittelt durch die Figur des Hiob, Gott zu, und zwar „mit der schwierigsten und anspruchsvollsten Frage, die je ein Mensch an die Gottheit zu richten gewagt hat“.
Erstmals kann er ihn, mit einer Vorahnung, die am Ende von Ulisse bestätigt wird, die Worte ausrufen lassen: „Herr, o Herr… heute hat Dich mein Auge endlich erschaut.“ Die Einsamkeit des Hiob, der bei Gott Rechenschaft für die Ungerechtigkeit fordert, ist dieselbe Einsamkeit, die der Komponist als Person erdulden muß, sowohl aufgrund des Krieges und der Rassenverfolgungen, als auch wegen seines „dodekaphonen“ Wesens (noch Jahre später gedenkt er der Verhöhnung seiner Person durch gewisse florentinische Kreise, zu Zeiten, als der Begriff „Dodekaphonie“ beinahe einem Lästerwort gleichkam). In diesem Zusammenhang ist bekannt, wie sehr Dallapiccola alle Figuren, die er im Zuge seines Schaffens auf die Bühne bringt, selbst zutiefst nachempfindet, von Rivière über Marsyas, den Gefangenen oder Hiob, bis hin zur letzten und paradigmatischen Odysseus-Gestalt, in der sich alle nur erdenklichen Formen der Einsamkeit zueinander fügen. Der Komponist offenbart, daß „ich mit meiner Musik versucht habe, eine Stimmung zu erschaffen, die für mich derjenigen des Alten Testaments entspricht; ich war darauf bedacht, einen kleinen Lichtspalt zu öffnen […], der auch Hoffnung bedeutet.“62
Diese Selbstauskunft gibt in bedeutsamer Weise Aufschluß über Dallapiccolas Vorstellungen zu der von ihm behandelten Bibelgestalt, und zugleich über seine christlich geprägte Lebensauffassung. Der in Job verarbeitete biblische Stoff geht auf die sumerisch-babylonische Überlieferung zurück und bietet Dallapiccola Gelegenheit, seinem besonderen Hang zum Zahlenspiel uneingeschränkt nachzugehen. Das Stück ist mit Symbolen und versteckten Andeutungen gespickt (darin steht er Berg näher als die anderen „Neuen Wiener“) und durchsetzt von Zahlenfolgen, deren Quersumme zehn ergibt, sowie von Spiegelformen (die Gesamtstruktur des Werkes entspricht einem Kreis) oder von Wörtern wie „Sterne“ und „Himmel“, denen bei Dallapiccola eine paradigmatische Bedeutung zukommt. Mit Job steht die Behandlung des Themas Gerechtigkeit unmittelbar im Vordergrund, sowie insbesondere die Notwendigkeit des Bösen und seine Vereinbarkeit mit dem Guten. Der
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la: „Il Prigioniero“ – „Job“, Programmheft der Fondazione Teatro Massimo Bellini in Catania, 4. Mai 2004, S. 57–111, hier S. 77f. Die graphische Übersicht stützt sich auf Erläuterungen, die Dallapiccola selbst zu seinem Bühnenoratorium hinterlassen hat (vgl. Luigi Dallapiccola, Dichiarazioni sul mio „Job“, Typoskript von 1950, Firenze, Fondo Luigi Dallapiccola, ACGV: LD, LVIII.7-8, später veröffentlicht in: ESZ News, Milano, Suvini Zerboni, 11 (1992), S. 5). In der neueren Forschung hat es einen Plagiatsversuch dieser Übersicht gegeben: Ciolfi, La creazione di „Job“, in: Luigi Dallapiccola nel suo secolo (Anm. 1), S. 292. Luigi Dallapiccola, Dichiarazioni sul mio Job, Manuskript vom 30. Oktober 1950 (Tag der Erstaufführung), später in: ESZ News (Anm. 61), S. 5.
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Komponist selbst erklärt, Job erweise sich eindeutig als „a kind of reply, a first step that will lead to the reply“63. So ist der Weg mit Job vorgezeichnet, und es sind bereits erste Lichtblicke erkennbar. Mit Canti di liberazione und Requiescant folgen weitere Antworten. Diese Werke sind gleichsam Zwischenschritte einer Entwicklung, die in Ulisse eine äußerste Leuchtkraft erreicht, um schließlich die höchste und letztgültige Antwort im unbedingten Drang nach Erkenntnis ausfindig zu machen.64 Von Job aus schlagen die kompositorische ebenso wie die spirituelle Suche erneut jenen doppelten Weg ein, dem Dallapiccola ein Leben lang nachgegangen ist. Aus diesem Grund stellt das Bühnenoratorium eine Vorwegnahme von Ulisse dar, vergleichbar einer möglichen Lesart des Alten Testaments, nach der Hiob als Präfiguration Christi aufzufassen wäre.65 Die biblische Fragestellung „Invenitque eum via errantem in agro, et interrogavit quid quaereret“ (Genesis, XXXVII, 15) wandelt sich in „Wen suchst Du?“ (Thomas Mann, Joseph und seine Brüder)66 sowie in „Wer ist der, der den Rat verklärt?“ (Dallapiccola, Job, Nr. 6), und in Ulisse schließlich in „Wer bist Du? Was suchst Du?“ (Dallapiccola, Ulisse, I. Akt, vierte Szene). Dazu notiert Dallapiccola: „Ich begebe mich in die Kirche von San Felice. Und beim Beten ‚sehe‘ ich, wie das ‚Wer bist Du?‘ andere Dimensionen annehmen kann. Die grundlegende Frage unseres Lebens lautet: ‚Ist’s möglich?‘, ganz gleich ob die Frage an uns gerichtet wird oder an andere, es bleibt stets die Grund-Frage.“67
Zwei bedeutsame Verbindungen zwischen Moses und Aron und Job scheinen mir bisher unbeachtet geblieben zu sein: Einerseits beginnt die Zwölftonreihe in Schönbergs Werk mit einem aufsteigenden Halbton (a-b, kleine Sekunde), also demselben, den Dallapiccola für Job verwendet, andererseits erweist sich, wenn man die beiden ersten (a-b) und die beiden letzten (h-c) Töne der von Schönberg umgesetzten Reihe rückwärts liest, daß diese den vier emblematischen Tönen des Namens B-A-C-H entsprechen, der bald darauf auch in Quaderno musicale di Annalibera durch Dallapiccola ins Gedächtnis gerufen wird.68 Dallapiccola führt also für die Ableitung der Tonreihe grundlegende, neue Prinzipien ein: Er verwendet sowohl eine Ableitung, die von einem Segment der Hauptreihe ausgeht (wobei eine deutliche Übereinstimmung mit der Hauptreihe weiterhin zu erkennen ist), als auch die selektive Ableitung (die schon bei Berg vorkommt und sich naturgemäß deutlich von der Grundreihe unterscheidet). Allerdings macht 63 64 65 66 67 68
Luigi Dallapiccola, What is the answer to the Prisoner, in: San Francisco Sunday Chronicle (December 2, 1962), S. 27. Mario Ruffini, Giobbe furioso (Anm. 61), S. 55–111. Vgl. ferner Luigi Dallapiccola, Intorno a Ulisse, RAIInterview vom September 1968, entstanden anläßlich der Uraufführung in Berlin. Frederick P. Pickering, Literatur und darstellende Kunst, Berlin 1966, S. 67–81. Thomas Mann, Joseph und seine Brüder (Anm. 11), Bd. 2 (Der junge Joseph. Fünftes Hauptstück: Die Fahrt zu den Brüdern / Der Mann auf dem Felde), S. 151. Luigi Dallapiccola, Tagebucheintrag vom 21. März 1962, zit. nach Fiamma Niccolodi, Ulisse, Teatro Regio Torino 1986/87, S. 46–54, hier S. 51f. Für diese Thesen erhielt ich die vielsagende Zustimmung durch Remo Pezzati, dem an dieser Stelle für die wertvolle Hilfe gedankt sei.
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Dallapiccola in keinem der späteren Werke von letztgenanntem Verfahren Gebrauch.69 Indem er, auch unter Berücksichtigung der Intervalleigenschaften und damit der emotionalen Charakteristika, jede aus drei bis vier Noten bestehende Teilreihe der einen oder anderen Bühnenfigur bzw. Situation zuordnet, bereitet Dallapiccola die Ausgestaltung der verschiedenen Figuren von vornherein vor. Ein solches Verfahren erlaubt ihm, die einzelnen Reihen an ein bestimmtes szenisches und dramaturgisches Umfeld zu binden und eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, ähnlichen Figuren abgeleitete Tonreihen mit weitgehend übereinstimmenden Eigenschaften zuzuordnen, weil sie entweder auf sehr ähnliche, oder auf genau umgekehrte Weise gebildet wurden. Dabei wird mit ausschließlich dodekaphonen Mitteln eine äußerst differenzierte Ausgestaltung des Bühnenstoffes erreicht, was seitens Dallapiccolas zugleich eine besonders vielsagende Antwort auf die mehrfach aufgeworfene, zweifelnde Frage bedeutet, ob Zwölftonmusik für Musiktheater überhaupt geeignet sei. Dieses in Job erstmals erprobte kompositorische und zugleich dramaturgische Verfahren kommt in Ulisse in vollendeter Form zur Geltung. Wie hier nur angedeutet werden konnte, finden sich also zwischen den Stücken von Schönberg und Dallapiccola durchgängig ideelle Entsprechungen, und auch die Unvollendetheit ihrer letzten Werke bietet durchaus Raum für weitere Vergleiche. Der Aspekt der Unvollendetheit wird auch bei der Analyse von Ulisse eine tragende Rolle spielen. 3. Jüdisches Erbe Ein dritter Punkt, der beide Komponisten eng miteinander verbindet, ist das jüdische Erbe, das mit dazu beitragen kann, Dallapiccolas außerordentliches Interesse für Schönberg und sein Werk Moses und Aron aufzuklären. Bei Dallapiccola wirkt sich das Jüdische keineswegs zum Nachteil des Christlichen aus, sondern trägt vielmehr zu seiner Problematisierung bei, indem die christliche Haltung mit dem jüdischen Sinnspruch in Einklang gebracht wird, der besagt: „Es ist nicht wichtig, ob es Gott gibt oder ob es ihn nicht gibt. Wichtig ist, daß die Menschen so leben, als gäbe es Gott!“
Der radikale Sinn für Verantwortung ist bei beiden Komponisten so stark ausgeprägt, daß er in ihren jeweiligen Werken und Lebenswegen als höchstes spirituelles Bindemittel dient. Wie der Komponist selbst zu bedenken gibt, ist die mystische Erleuchtung des Helden in Ulisse gerade nicht im konfessionellen Sinne aufzufassen: „Ich habe einen Blick auf einige Kritiken geworfen: Es überrascht mich, daß nicht ein einziger begriffen hat, daß die Gottesfindung meines Odysseus keines69
Rosemary Brown, Continuity and Recurrence in the Creative Developement of Luigi Dallapiccola, PhD thesis, University of Wales, 1977, in: ACGV: LD, Cr.74.
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wegs bedeuten soll, er wäre auf einmal christlich, römisch-katholisch und apostolisch geworden.“70
Es gibt bei Dallapiccola zahlreiche Berührungspunkte mit der jüdischen Kultur, die sich am ehesten an der starken, fast hieratischen Beeinflussung durch Schönberg festmachen lassen, sowie an der innigen Nähe zur Ehefrau Laura. Die Verwendung der Singstimme zieht sich wie ein roter Faden durch Dallapiccolas Produktion und ist als erstes Anzeichen einer instinktiven Hinwendung zu jenen Kulturen zu verstehen, in denen das Verhältnis von „Ton und Wort“ mit der Idee des Heiligen wesenhaft übereinstimmt. Einen weiteren Aspekt bildet die starke, von der biblischen Welt ausgehende Anziehungskraft, die sich nicht nur am Reichtum an sakralen Texten in der Privatbibliothek Laura und Luigi Dallapiccolas ermessen läßt, sondern auch an verschiedenen thematisch relevanten Werken. Gleich drei Kompositionen basieren auf einer biblischen Textvorlage: Job, Canti di liberazione und Parole di San Paolo, zudem werden in Ulisse die Verse 4, 5 und 7 von Psalm 84 vertont. Immer wieder finden sich auch liturgische Texte verarbeitet, wie das Dies Irae in Canti di prigionia oder das Te Deum laudamus in Job. Bemerkenswert ist außerdem die besondere Aufmerksamkeit und Bewunderung für große, biblisch inspirierte Literatur, und besonders für Thomas Manns Joseph und seine Brüder. Laut einer ironischen Äußerung der Ehefrau Laura führte die Beschäftigung mit dem Roman, der auch das Libretto von Ulisse beeinflußt hat, zur Herausbildung zweier Kategorien von Personen: Die Leser des Buches, und alle übrigen. Die Kenntnis der Bibelstoffe bildet jedenfalls den Grundstock der humanistischen Bildung Dallapiccolas und dient ihm als Wertmaßstab für seinen künstlerischen Weg als Musiker. Berühmt geworden ist eine amerikanische Episode aus Tanglewood: Als ihn einige Schüler fragten, warum er für den zweiten der insgesamt sieben Sätze im Bühnenoratorium Job die Quartettform gewählt habe, gab er ihnen zur Antwort „Ein Quartett deshalb, weil ich lesen kann“; sofort ließ er eine Bibel herbeiholen und las mit ihnen daraus.71 Um Vorurteilen über eine katholische Prägung des Librettos von Job vorzubeugen, verarbeitet Dallapiccola im siebten und letzten Satz des Bühnenoratoriums einen Sinnspruch aus der jüdischen Überlieferung, der über Giovanni Battista Martini in den Traktat über den Kontrapunkt eingegangen war: „Cancrizat, vel canit more Hebraeorum“72. Dieses Motto soll unzweifelhaft hervorheben, daß die rückwärts notierte Grundreihe, die somit als Krebsform eine wichtige Grundtechnik des Zwölftonsystems darstellt, eine Eigenschaft des Hebräischen nachahmt, nämlich daß von rechts nach links geschrieben wird. Im Schlußsatz nimmt Dallapiccola dieselbe Melodie wieder auf, die im Anfangssatz als psalmodierendes Oboensolo 70 71 72
Luigi Dallapiccola, Tagebucheintrag vom 3. Oktober 1968; in: Saggi, testimonianze, carteggio, biografia e bibliografia, hrsg. von Fiamma Nicolodi, Milano 1975, S. 136. Piero Santi, Pseudo-intervista a Luigi Dallapiccola: La sacra rappresentazione di Job, conferenza tenuta per l’Associazione „Amici del Teatro alla Scala“, 29. Mai 1967, S. 7, Manuskript in ACGV: LD, LIII.33. Luigi Dallapiccola, Job, Partitur; Milano, Suvini Zerboni, 1950; siehe auch: Ruffini, Giobbe furioso (Anm. 61), S. 85.
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vorgestellt wird, hier nun zweistimmig ausgeführt, zunächst von zwei Flöten, dann von zwei Klarinetten. Dieses Verfahren steht sinnbildlich für die Verdopplung der Güter Hiobs durch Jahwe und stellt eine zyklische Verbindung zum Anfang des Bühnenoratoriums her, das folglich kein eigentliches Ende hat. Einmal mehr zeigt sich hierin, wie ein dodekaphones Kompositionsverfahren zur Gestaltung der dramaturgischen Struktur beitragen kann. Zu einer emblematischen Episode im Zusammenhang mit Job kommt es, als Reginald Smith Brindle, bei seiner Arbeit an der englischen Übersetzung des Librettos von Job, auf die Passage „Selig der Mann, den Gott zurechtweist. Kein Tod ohne Sünde, kein Leid ohne Schuld“ stößt, die so nicht im Buch Hiob steht. Dallapiccola eröffnet ihm, das Zitat aus einem Autor der Patristik übernommen zu haben, woraufhin die Reaktion folgt, die Libretto-Bearbeitung müsse gewiß ein Katholik verantwortet haben: Eine nicht ganz abwegige Behauptung, wenn man bedenkt, daß das Libretto Sätze enthält wie „Kein Tod ohne Sünde, kein Leid ohne Schuld“, zusammengesetzt aus vier Substantiven, die zum einen zwar „ein magisches lexikalisches Viereck bilden, das an typische Symmetrien des dodekaphonen Aufbaus erinnert“,
zum anderen jedoch auf eine katholische Auffassung von Schuld gestützt sind. „Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich unter den vielen möglichen Formen des Krebs-Kanons, also eines rückläufigen Kanons – von den zahlreichen alten Sprüchen finden sich zwölf in Padre Martinis Traktat über den Kontrapunkt –, ausgerechnet jenes ‚Cancrizat, vel canit more Hebraeorum‘ gewählt habe, gleichsam als Antwort auf jene Freunde, die überzeugt waren, man sähe dem Libretto an, daß es von einem Katholiken konzipiert worden sei.“73
Es ist wichtig zu wissen, daß sich dies im Jahr 1950 ereignet, während der Briefwechsel zwischen Schönberg und Dallapiccola besonders rege ist und Moses und Aron darin fraglos im Mittelpunkt steht. Die Wahl eines biblischen Themas wie die Hiobgeschichte trifft daher auf äußerst fruchtbaren Boden.74 Auch im Privatleben der Dallapiccolas sind „jüdische Anlässe“ keine Seltenheit und werden mit besonderer Hingabe begangen. Der Komponist zitiert in Flushing bei New York den bewegenden Brief über Weihnachten, den Webern am 21. Dezember 1911 an Berg gerichtet hatte, mit dem Bild der zu Channukkah beleuchteten Häuser. Diese Anekdote bezieht sich auf das Werk Concerto per la notte di Natale dell’anno 1956, das ebenfalls in Flushing entstand.75 Mehrfach protestiert Dallapiccola bei anderer Gelegenheit gegen eine israelfeindliche Resolution der UNESCO.76 73 74
75 76
Piero Santi, Pseudo-intervista a Luigi Dallapiccola (Anm. 71), S. 10. Weitere Elemente der Beziehung Dallapiccolas zum jüdischen kulturellen Erbe werden in meinem derzeit im Druck befindlichen Buch untersucht: Mario Ruffini, Luigi Dallapiccola e le Arti figurative, KHIMPI Florenz–Venezia (Marsilio) 2013 (in Druck). Luigi Dallapiccola, Note sul Concerto per la notte di Natale dell’anno 1956. CBS Italia 61474, 1969, Leitung: Frederick Prausnitz, Sopran: Elisabeth Söderström. Vgl. Yehudi Menuhin, Testimonianza su Dallapiccola, in: In ricordo di Luigi Dallapiccola, Milano 1975, S. 27.
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4. Dodekaphonie und Theologie Eine Verbindung zwischen Schönberg und Dallapiccola läßt sich auch anhand bestimmter schicksalhafter Parallelen aufzeigen. Beide sehen sich einer absoluten Isolation, zeitweise gar der Verhöhnung ausgesetzt, beide haben unter finanzieller Not und politischer Verfolgung zu leiden. Die bis hierher dargelegten Punkte laufen allesamt im weiten Flußbett der Zwölftonmusik zusammen, das für beide Komponisten ein musikalisches, aber auch theologisches Bekenntnis bedeutet, denn für beide ist die Hinwendung zum anspruchsvollsten aller kompositorischen Verfahren eine Metapher der biblischen Lehren, weil erst die Regelstrenge ihnen den Schlüssel zum Eintritt ins Gelobte Land liefert. Die Zwölftonmusik besitzt für beide noch vor dem ästhetischen oder technischen vor allem einen ethischen Wert (Für Dallapiccola ist sie: „auch ein Gemütszustand“). Genau wie die biblischen Lehren mit interpretationsbedürftigen Metaphern gespickt sind, ist die Zwölftonmusik von Symbolen durchwirkt, und das Zahlenspiel ist einer der verborgensten Aspekte der dodekaphonen Schule. Die Dreidimensionalität, die Schönberg in der Genialität eines Michelangelo oder des Architekten Adolf Loos erkennt, überträgt sich bei Dallapiccola auf eine in seinem gesamten Werk wiederkehrende Präsenz der Zahl drei: Diese Zahl ist allgegenwärtig und dient als Chiffre für jenes Zeichen, das mehr als alles andere die Gottheit und den Schaffensakt repräsentiert. Dabei ist zu bedenken, daß sich etwa in Thomas Manns Bibelroman alles nach dem Zahlenverhältnis von drei und sieben abspielt. Ganz entsprechend verhält es sich in Alban Bergs Kammerkonzert, das Schönberg zum fünfzigsten Geburtstag zugeeignet wurde. Dieses Stück enthält die ausgefeilteste verschlüsselte Namensnennung der Musikgeschichte, und gilt als spektakulärstes Beispiel für das Zahlenspiel, in dem sich alles mittels der Zahl drei messen und ausdrücken läßt, angefangen bei den drei Themen: Klavier = A(rnol)D- Es(S)-C-H-(oen)B-E-(r)G; Violine = A(nton)-(W)-E-B-E(rn); Horn = A(l)-BA(n)-B-E(r)-G. Im Unterschied zu Webern, der – wie Michelangelo in seinen Skulpturen – mittels „Wegnehmen“ arbeitet, und zu Berg, der – wie Donatello bei seinen Arbeiten in Terrakotta – mittels „Hinzufügung“ vorgeht, achten Schönberg und Dallapiccola gleichermaßen auf Vergangenheit und Zukunft und arbeiten in ihrem kompositorischen Schaffen sowohl durch Wegnehmen als auch durch Hinzufügen. Das Wesen des Zahlenspiels liegt nicht nur bestimmten technischen Fragen innerhalb des Zwölftonsystems zugrunde, sondern auch dem verschlüsselten Verfahren dieser Eingeweihten, denn das müssen jene gewesen sein, die sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf das offene Meer der Zwölftonmusik wagten. Es ist kein Zufall, daß Schönberg den Titel seiner Oper korrigiert, indem er das doppelte „Aa“ aus „Aaron“ herausnimmt, das die deutsche Schreibweise eigentlich vorsieht, und letztlich den Namen „Aron“ bevorzugt, denn mit der gängigen Schreibweise wäre er insgesamt unmöglich auf zwölf Buchstaben gekommen. Ebensowenig ist es Zufall, daß Dallapiccola seine Oper Ulisse genannt hat, und
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nicht Odissèo oder Odýsseus. Denn so wie das gesamte System der Tonreihen stets in Segmente aus sechs Tönen aufgeteilt ist, besteht auch der gewählte Titel aus sechs Buchstaben. So verwundert es nicht, daß auch die 1000 Takte in Volo di notte beabsichtigt sind, ebenso wie in Ulisse die Übereinstimmung der Taktzahl von Prolog + erstem Akt (Szenen I–VI = 1071 Takte) mit der von zweitem Akt + Epilog (Szenen VIII–XIII = 1122 Takte). Es genügt, die Taktzahl vom Tanz der Melanto und der Einführung des Eumaios (insgesamt 51 Takte) abzuziehen, und die Übereinstimmung ist perfekt: 1071 Takte. Auffällig ist, daß die VII. Szene, für die dramaturgisch keine Parallelstelle vorgesehen ist, nicht mit einberechnet wird, während die proportionale Übereinstimmung der Taktanzahl zwischen den Spiegel-Episoden im berühmten „Gewölbe“ von Ulisse (I-XIII, II-XII, III-XI usw.) streng eingehalten wird. Hinzu kommen ferner authentische numerische Rückwärtsbewegungen (die ausgedehnteste Episode, „Das Reich der Kimmerer“, weist eine numerische diminutio auf: 3-2-1, dementsprechend 321 Takte). Die Gesamtanzahl der Takte im Ulisse (2514) setzt sich ihrerseits aus vier Ziffern zusammen, deren Quersumme 12 ergibt, wobei die Ziffern bei paarweiser Addition (außen und innen) jeweils 6 ergeben. Für jemanden, der ohne Glauben lebt, sind das alles Zufälle, genauso wie die insgesamt 6000 Schritte bei Dallapiccolas täglichem Spaziergang. Aber die Vertrautheit mit dem Zwölftonsystem ist glaubensstarken Menschen und Liebhabern der Exaktheit vorbehalten. Was spezifische Fragen der Zwölftontechnik betrifft, setzt mit den Goethe-Liedern eine Aufspaltung des seriellen Materials ein. Die Einführung der aus drei Noten gebildeten Teilreihe bringt nach und nach eine konstruktive und strukturelle Rationalität mit sich, einschließlich einer allgemeinen Erweiterung und einer Tendenz zur Serialisierung des Rhythmus, der Klangfarben und aller übrigen Parameter. Es gelingt Dallapiccola mehr und mehr, spezifische Bestandteile des gesamten Stücks in die Reihe einzugliedern, darunter auch den Halbton, der durch das paradigmatische e-f-es in Goethe-Lieder reglementiert wird. Mit diesen Liedern bringt der Komponist, von der technischen Neuerung abgesehen, eine sehr starke dramatische Interpretation des Fragens und Zweifelns zum Ausdruck. Daß diese ganz und gar im theologischen Sinne aufzufassen ist, verrät schon der Wortlaut des Textes: „Ist’s möglich?“ Mit den Teilreihen und den entsprechenden abgeleiteten Reihen beginnt der Weg der „Frage“, der (mittels der für Dallapiccola typischen, antithetischen Phasen von „Raserei und Sammlung“) dieses Zweifeln in das Gebet An Mathilde eindringen läßt, sowie in das symbolische Kreuz der Cinque Canti, den Natale aus Flushing, das Requiescant für die verstorbene Mutter (wo Quarten und Quinten, die auch schon in Job kaum mehr vorkommen, endgültig zugunsten der seriellen Struktur verschwinden) und in Preghiere nach Texten von Murilo Mendes. Dieses Zweifeln wird später auf weitere Antworten aus sein, so in Three Questions with Two Answers, in Parole di San Paolo und schließlich in Ulisse (dessen grundlegende serielle Struktur mit derselben Teilreihe beginnt wie in Goethe-Lieder, wo eine Reihe des
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ersten Akts von der Hauptreihe des Job abgeleitet ist)77, und wo alle Fragen die „Antwort“ finden, während der Zweifel letztlich in der Gewißheit des Glaubens aufgehoben wird. „Es ist möglich!“ 5. Moses und Aron und Ulisse Dies alles – und sicher noch einiges mehr – bildet die Grundlage der weitreichenden Nähe zwischen Moses und Aron und Ulisse: Zwei großartige Opernwerke, die für das gesamte musikalische und spirituelle Leben ihres jeweiligen Komponisten charakteristisch sind. Moses und Aron gründet sich bekanntlich in der Struktur des dodekaphonen Materials auf die zweifach gespiegelte Serialität, was die einzige Möglichkeit ist, die Undarstellbarkeit Gottes zum Ausdruck zu bringen (siehe Beispiel 1). Dallapiccola treibt diese Schönbergsche Vorgabe bis zur äußersten Konsequenz, indem er alle Parameter seines opus magnum nach seinem Vorbild abstimmt; so kommt es, daß im Ulisse alles seine gespiegelte Entsprechung hat: Der dramaturgische Aufbau, der musikalische Aufbau, der numerologische Aufbau, die Notation, usw. Den Ausgangspunkt für dies alles bildet die Organisation des seriellen Materials, aus dem die Gesamtkonstruktion der Oper hervorgegangen ist. Damit wäre die eingangs getroffene Annahme bewiesen, daß die Serialität von Ulisse nicht wie die der vorausgehenden Kompositionen auf eine oder mehrere Tonreihen zurückzuführen ist. Denn in Ulisse folgt alles einer differenzierten Spiegelstruktur, nach der jede Reihe zugleich aus einer Reihe hervorgeht und eine weitere nach sich zieht. Die Festlegung einer einzigen Reihe oder mehrerer Reihen, wie sie in den bisherigen Analysen hierzu versucht worden ist, erweist sich also musiktheoretisch betrachtet als unstimmig. Letztlich wird die Reihe zur göttlichen Metapher, sie ist „unabbildbar“. Alles spricht dafür, die beiden Opern miteinander in Beziehung zu setzen, denn so wie Moses und Aron nicht vollständig mit der jüdischen Orthodoxie übereinstimmt, offenbart sich in Ulisse ein christliches Ideal, das sich nicht unbedingt mit einer strengen katholischen Weltsicht vereinbaren läßt. (Beispiel 1) Nach einem ganzen Leben in völliger Eintracht und Übereinstimmung mit Schönberg setzt sich Dallapiccola im entscheidenden Augenblick deutlich von ihm ab. In Ulisse ist es der Glaube, der auf alle Fragen Antwort geben kann (sozusagen: Three Questions with Three Answers, endlich!), denn Odysseus findet das „Wort“: „Signore!“ („O Herr!“). So wie mit den Canti di liberazione, nach dem Dunkel von Canti di prigionia und von Il prigioniero, das Licht erreicht wird, führt auch der komplexe und dramatische Prozeß, der mit Volo di notte, Marsia und Il prigioniero beginnt, schließlich auf den Weg des Lichts und des Guten, zuerst mit Job, dann mit Ulisse. Die gesamte Entwicklung, auch das Dunkel des Anfangs, vollzieht sich im unausbleiblichen Licht der Sterne. 77
Ebenda.
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Beispiel 1: Arnold Schönberg, Moses und Aron, doppelte Spiegelreihe.
Ulisse, so meine These, muß als christliche Antwort auf das Jüdische in Moses und Aron verstanden werden, und zieht dabei eine theologische Trennungslinie. In dieser Absetzung von seinem Vorbild liegt vielleicht der einzige Hinweis auf einen bedeutenden Unterschied im Leben von Dallapiccola und Schönberg. Eine Frage muß an dieser Stelle unausweichlich gestellt werden: Warum hat Schönberg keines seiner wichtigsten geistlichen Werke vollenden wollen? 1928 schreibt er den Text für Moses und Aron, genau 24 Jahre vor seinem Tod (übrigens eine erstaunliche Übereinstimmung mit den 24 Jahren, die Thomas Mann seinem Adrian Leverkühn zugebilligt hat). Zwischen 1930 und 1932 beendet er die ersten beiden Akte, weitere 19 Jahre sollten für den dritten nicht ausreichen. Für Schönberg ist Gott ein unverzichtbares, aber zugleich unerreichbares Ziel; er kann das „Wort“ nicht finden, nicht anders als Moses, der das Gelobte Land niemals betreten hat. Moses und Aron verarbeitet die ewige Trauer des jüdischen Volkes. Das Unvollendete bei Schönberg ist zugleich ein bestimmendes Element des Judentums. Man denke an außerordentliche architektonische Formen wie das Endless House (Abbildung 2) oder das Endless Theatre (Abbildungen 3a-b) des amerikanischen Architekten Friedrich Kiesler78, die ihrerseits durch dasselbe Problem inspiriert sind. Übrigens realisierte Kiesler 1951 auch das Bühnenbild für die amerikanische Erstaufführung von Il prigioniero am New Yorker Juilliard Theatre. Trotz der zahlreichen Affinitäten zur jüdischen Kultur verleiht Dallapiccola der christlichen Kultur vollauf Ausdruck, mit seiner Suche nach dem Licht, mit den von Dante ererbten Sternen, die den Fortgang aller seiner Werke erleuchten: Es ist ein Weg zum Licht, der in theologischer Absicht beschritten wird. Anders als bei seinem „Meister“ ist Gott für Dallapiccola als Ziel zugleich unverzichtbar und auch erreichbar. Dallapiccola gelangt zu dem „Wort“, das jeden Zweifel beseitigt, jenen ontologischen Zweifel, der sich durch alle seine Werke zieht, von Goethe-Lieder bis Ulisse: „Ist’s möglich?“; und schließlich findet er die letztgültige Antwort in der mystischen Erleuchtung des Ulisse: „Es ist möglich!“. 78
Friedrich Kiesler, engl. auch Frederick Kiesler, geb. 1890 im österreich-ungarischen Czernowitz (heute Ukraine), gest. 1965 in New York, war ein österreichisch-amerikanischer Architekt jüdischer Abstammung und wirkte überdies auch als bildender Künstler, Designer, Bühnenbildner und Essayist.
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Abbildung 2: Friedrich Kiesler, Endless House, in der Fassung 1959–1960, Modell aus Metallnetz und Zement.
Abbildung 3a: Friedrich Kiesler, Endless Theatre, 1925–1926, Modell.
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Mario Ruffini
Abbildung 3b: Friedrich Kiesler, Endless Theatre, 1925–1926.
An dieser Stelle sind zwei Entdeckungen hervorzuheben, die aus der Partituranalyse von Ulisse hervorgehen. Ungeachtet der besagten theologischen Trennungslinie versäumt es Dallapiccola nicht, dem „Meister“, den er in seinem Leben mehr als alle anderen geliebt hat, noch einmal Ehre zu erweisen, und zwar auf die versteckteste Art – in der initiatorischen Geheimsprache der Zahlen und Tonreihen. Moses und Aron endet bekanntlich mit einem Finale im „Marschtempo“: Die Violinen spielen in ihrer unsicheren Bewegung lange unisono – es mutet fast wie ein theologisches Zögern an – und kommen auf dem Fis zum Stillstand, wenn Moses spricht: „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“. Der Schluß von Ulisse enthält dagegen ein ruhendes Gis des gesamten Orchesters – die einzige Stelle innerhalb der ganzen Oper, in der das Orchester geschlossen unisono spielt, gleichsam ein entschiedenes Glaubensbekenntnis: In diesem Augenblick spricht Ulisse das Wort „Signore!“ („O Herr!“). Dieser Ton im Unisono entspricht einer theologischen Entschlossenheit, die einen bewußten Kontrast zum unsicheren Schweifen der Violinen am Schluß von Moses und Aron bildet. Doch gerade hier findet sich Dallapiccolas überraschende musikalische Hommage an Schönberg, die bisher, soweit mir bekannt, noch unbeachtet blieb79: In den letzten beiden Takten realisieren Holz- und Blasinstrumente eine vollständige Zwölftonreihe, rhythmisch ausgeglichen, ohne jede Unruhe, wie Akkorde eines Chorals (Beispiel 2, unteres System). Dieser ruhigen Linie steht ein differenziertes Gemurmel von Celesta, Violinen und Xylophon gegenüber, die eine unvollständige Reihe aus elf Noten bilden, eine serielle Unvollendetheit, die als letztes, geheimes und äußerstes Zeichen der Ehrerbietung gegenüber Schönberg zu deuten ist (Beispiel 2, 79
Beispiel 2 ist dem Klavierauszug, nicht der Partitur entnommen und somit unmittelbar nachvollziehbar.
Dallapiccolas „unvollendeter“ Ulisse
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oberes System). Dallapiccola hat es nicht versäumt, dafür einen klaren Hinweis zu geben, der jede Zufälligkeit ausschließt. Denn die unvollständige, aus elf Tönen zusammengesetzte Reihe endet auf einem hohen, verlorenen und kaum vernehmbaren Fis, derselben Note, die auch Moses und Aron beschließt. Bei diesem Fis handelt es sich, einer analytischen Intuition Romano Pezzatis zufolge, neben dem Gis und dem Cis um eine der drei „Polarnoten“ des gesamten Ulisse, wobei das Fis die „wiederkehrende“ Note ist. Der unvollendete Charakter läßt sich von zwei Gesichtspunkten aus interpretieren: Der numerologische Aspekt (der eindeutig ist, da die Reihe unbestritten aus elf Noten besteht) und derjenige der Spiegelreihe, bei welchem, weiter nach Pezzati, eine der Noten aus der Reihe als Doppelnote aufzufassen ist, also als Begegnungspunkt einer seriellen Zyklizität. Auch in diesem zweiten Fall wäre die Hommage an die doppelte Spiegelreihe in Moses und Aron offensichtlich. Was die zweite Entdeckung betrifft, stehen wir vor einem neuerlichen Beispiel für Dallapiccolas uneingeschränkte Verehrung Schönbergs, unscheinbar umgesetzt in eine serielle Unvollendetheit, die Anhaltspunkte für bisher nie vermutete Interpretationen bieten kann, zum Beispiel die Annahme eines insgesamt unvollendeten Charakters der Oper. Es ist hinlänglich bekannt, daß das Gis in den Takten 1023–1025 von Ulisse sich dadurch auszeichnet, daß es einerseits vom Orchester unisono gespielt wird und andererseits gerade an der Stelle steht, an der Ulisse, „wie durch eine plötzliche Erleuchtung“80, „Signore!“ ausruft, „O Herr!“.
Beispiel 2: Luigi Dallapiccola, Ulisse, Milano, Suvini Zerboni, 1968. Die beiden Schlußtakte der Oper (Epilogo, Takte 1033–1034) aus dem Handexemplar der ersten Druckausgabe, mit handschriftlichen Korrekturen Dallapiccolas. 80
„come per una improvvisa illuminazione“ lautet die Angabe zu den Takten 1023–1125 des „Epilogo“ in der Orchesterpartitur; siehe Luigi Dallapiccola, Ulisse, Milano, Suvini Zerboni, 1968, S. 405.
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Ebenfalls bekannt ist, daß das musikalische Tempo des Orchesters dank des Unisono in Takt 1023 „aufgehoben“ wird, dort wo Dallapiccola die Partitur um eine besonders lange erklärende Anmerkung ergänzt: „In diesem und im folgenden Takt mögen die Instrumentalisten ihre jeweiligen Tondauern mit äußerster Genauigkeit befolgen und den Klang plötzlich zurücknehmen, also ohne das geringste diminuendo, d. h. wenn dann eher mit einem ‚sff ‘. So sollte offensichtlich werden, daß mit Ende des Dramas der ‚grundlegende Rhythmus‘ der Oper den Pausen anvertraut wird.“81
Zu dieser Aufhebung tragen auch das „trattenuto molto“ und der reduzierte Orchesterumfang bei, der nach nur drei Takten auf die Melodiestimme der Klarinette begrenzt wird. Hier, auf diesem beinahe göttlichen „Hauch“ der Klarinette, findet Ulisse das „Wort“, aus dem das Gemurmel einer kaum vernehmbaren Note der Streicher hervorgeht (angesichts der ungewohnten, vertikalen, dynamischen Anweisung bringen die Bratschen, welchen die am wenigsten vernehmbare Note anvertraut wird, das Murmeln mit Hilfe eines Trillers hervor). Hervorhebung verdient an dieser Stelle die Bezeichnung „Drama“, die Dallapiccola für sein Opernwerk verwendet. Bekannt ist, wie jener Ton (Gis) zunächst mit dem Einsatz von Tempus destruendi – Tempus aedificandi (ein hohes As für die Tenöre, „ff, urlando“, auf der Silbe „Ah!“) und ferner mit dem Einsatz von Commiato (ein hohes Gis für die Solostimme, „ff, gridando“, auf derselben Silbe „Ah!“) wieder aufgenommen wird. Es handelt sich offensichtlich um die Fortsetzung des Gis in Takt 1023 des Ulisse, das im fff des gesamten Orchesters enthalten ist. Doch einmal mehr geht aus der seriellen Analyse der wichtigsten und emblematischsten Passage in Dallapiccolas gesamtem Œuvre eine erschütternde Wahrheit hervor, die der Komponist in den Windungen der seriellen Technik zu verbergen wußte: Das Gis erweist sich als elftes Glied der Reihe (gleichfalls eine der drei „Polarnoten“). Eine Reihe, die an dieser Stelle abbricht und deren Vervollständigung lediglich aufgrund der beiden Kompositionen nach Ulisse erreicht werden kann. Eindeutig ist daher die musikalische Bedeutung derselben Note als Einsatz von Tempus destruendi – Tempus aedificandi, sowie in Commiato. Dem elften Ton ein so bedeutendes Unisono anzuvertrauen, und daß sich daraus eschatologische Konsequenzen ergeben, geschieht offensichtlich nicht zufällig (tatsächlich ist im gesamten Werk Dallapiccolas nicht ein einziger Zufall zu finden). Die Reihe erfährt also keine Vervollständigung und verleiht Ulisse die Form einer „theologisch und dodekaphon unvollendeten“ Opernkomposition, eine gleichsam transzendentale Unvollendetheit. Darin liegt der letzte und verborgene Wille Dallapiccolas: Auch in der theologischen Trennung zwischen „jüdischem“ und „christlichem“ Werk bleibt Schönberg 81
Ebenda.
Dallapiccolas „unvollendeter“ Ulisse
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bis zuletzt der ausschließliche Leitstern Dallapiccolas, er ist gewissermaßen sein Vergil, und mit aristotelischer Hochachtung grüßt ihn Dallapiccola als den „Meister derer, die da wissen“. Nach Commiato bleibt es Dallapiccola versagt, die für eine neue kreative Leistung erforderliche Kraft und Konzentration aufzubringen. Was zurückbleibt ist Lux82, das bei seinem Tod als Entwurf auf dem Klavier aufgestellt war. Diese letzte Komposition setzt mit einem Akkord aus drei Tönen (es-cis-d) ein, über dem die Solostimme eine melodische Phrase anstimmt, die durch die Reihe (g-fis-e-f-b-h-[b-b]c-as-a) mit den Worten „O lux, quam non videt alia lux“ vervollständigt wird. Wie schon bei anderer Gelegenheit erkennen wir auch hier einen paradigmatischen vertikalen Akkord aus drei Tönen, vom vierten bis zum zwölften Ton vervollständigt durch die horizontale, der Singstimme anvertraute Melodie. Nach dem dramatischen ff auf Gis zum Schluß von Ulisse und den beiden Kompositionen, die die Oper ergänzen, beginnt Lux wie eine erkennbare innere Befriedung, und der Ton, mit dem die Vokalstimme einsetzt, ist in diesem Fall ein natürliches G. Die Dissonanz ist zur Ruhe gekommen. Das ersehnte Licht ist, nach langer Suche, endlich erreicht. 6. Das Geheimnis von Moses und Aron Abschließend möchte ich eine neue Hypothese zum Problem der Unvollendetheit des Moses und Aron vorbringen, die hier vielleicht zum ersten Mal in schriftlicher Form kundgetan wird. War jenes Werk wirklich unfertig? Seit Jahren hege ich den Verdacht, daß seine Unvollendetheit womöglich nur formeller Art ist. Tatsächlich stellt Schönberg 1947 A Survivor From Warsaw fertig, und die Dramatik dieser Komposition, die einem wahrhaften „Theater ohne Bühne“ entspricht, erscheint gleichsam als Ersatz für jenen dritten Akt von Moses und Aron, der seit vielen Jahren in Arbeit war. Jenes Werk unvollendet zu hinterlassen, das ihn am meisten repräsentierte, als Musiker, als Mensch und vor allem als Jude, war vielleicht unausweichlich, gerade aufgrund der theologischen Prinzipien, auf denen das Judentum basiert. Schon Luigi Dallapiccola, der Schönbergs Musiktheater gründlich studiert hat, schreibt: „In den Arbeiten aus Schönbergs letzter Periode […] steht das theatralische Element im Vordergrund, sie bilden gleichsam eine beißende Invektive gegen die Diktatur. Und es braucht nicht vieler Worte, um den unvergleichlichen dra-
82
„In Gedenken an Luigi Dallapiccola übermitteln Laura und Annalibera: ‚Fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te‘. (Sancti Aurelii Augustini, ‚Confessionum‘, Liber I, Caput I). Achtzehn Anfangstakte des Werks für Stimmen und Instrumente. Auf dem Klavier Luigi Dallapiccolas am Abend des 18. Februar 1975 zurückgelassene Kompositionsskizze.“ Zu Lux siehe: Ruffini, L’opera di Luigi Dallapiccola. Catalogo Ragionato (Anm. 31), S. 333–335.
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matischen Wert von A Survivor from Warsaw zu unterstreichen, einem Theater ohne Bühne.“83
Ein Stück, das Dallapiccola der Gattung der Protestmusik zuordnet und in engen Bezug zu seinen eigenen Werken stellt, die aus dem Protest gegen die Rassengesetze in Italien entstanden sind. Kürzlich erhielt ich in meinem Briefwechsel mit Giuliano Scabia, dem Librettisten von Luigi Nonos Oper Diario italiano, handfeste Belege für jenen alten Verdacht. Im Verlaufe der Korrespondenz schrieb ich: „Lieber Giuliano, hier melde ich mich wieder bei Dir, im Kopf noch den erhellenden Geistesblitz, den Luigi Nonos Vermutung eröffnet hat, daß der Survivor from Warsaw eigentlich als dritter Akt des Moses anzusehen ist. Eine bestürzende Intuition!“84
Postwendend bekam ich zur Antwort: „Lieber Mario, eines Tages, als wir am Diario italiano arbeiteten, es war 1962 oder 1963, kam Nono auf Schönberg zu sprechen. Es ging ihm um die Form der Oper, nach der wir gerade suchten. Schließlich sagte er: ‚Moses und Aron ist eigentlich gar nicht unvollendet, der dritte Akt ist der Survivor from Warsaw.‘ Schlagartig sahen wir alles in einem anderen, bestürzenden Licht. Ja, wirklich bestürzend.“85
Mit dieser Enthüllung beschließe ich meine Untersuchung über Ulisse von Luigi Dallapiccola und Moses und Aron von Arnold Schönberg, die aller Voraussicht nach Anlaß zu weiteren Überlegungen und musikwissenschaftlichen Analysen geben wird. Aus dem Italienischen von Antonio Staude
83 84 85
Luigi Dallapiccola, Arnold Schoenberg, premessa a un centenario, in PM, S. 247–256, hier S. 248. Mario Ruffini, Brief an Giuliano Scabia, Florenz, 17. Juni 2011. Giuliano Scabia, Brief an Mario Ruffini, Florenz, 20. Juni 2011.
PETER ANDRASCHKE (Perchtoldsdorf)
Über die Musik Luigi Dallapiccolas Webern-Nähe und Widerstand gegen Gewalt und Faschismus Helmut Loos zum 60. Geburtstag Begegnungen mit Anton Webern Während des Musikfestes der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik 1935 in Prag fand am 4. September die Uraufführung von Anton Weberns Konzert für neun Instrumente, op. 24, unter der Leitung von Heinrich Jalowetz mit Eduard Steuermann am Klavier statt. Ursprünglich sollte Webern dirigieren, sagte aber ab, u. a. weil er die Arbeit an seiner Kantate Das Augenlicht, op. 26, nicht unterbrechen wollte. Unter den Zuhörern war der 31-jährige italienische Komponist Luigi Dallapiccola. In seinem Tagebuch notierte er noch am Abend der Aufführung: „[...] ein Werk von unwahrscheinlicher Kürze (sechs Minuten Musik) und von einzigartiger Konzentration. Jedes dekorative Element ist ausgeschaltet.[...] Ich war nicht imstande, mir ein genaues Bild von dieser Arbeit zu machen; sie war für mich zu schwierig, doch daß sie trotzdem eine Welt bedeutet, scheint mir außer Zweifel. Wir sehen uns einem Künstler gegenüber, der ein Höchstmaß an Ideen mit einem Mindestmaß an Worten ausdrückt. Obwohl ich das Werk nicht gut verstanden hatte, glaubte ich darin eine ästhetische und stilistische Einheitlichkeit wahrzunehmen, wie ich sie größer nicht hätte wünschen können.[...] Ich habe nicht das ganze Programm dieses Abends gehört. Webern zwingt mich zum Nachdenken.“1
Und noch Jahre später bekannte er: „[…] Das Konzert op. 24 von Webern hatte mir durch jene Besonderheit Eindruck gemacht, die ich nicht anders als durch das Wort Konzentration kennzeichnen konnte.“2
Das Prager Webern-Erlebnis und die Begeisterung für die dort auch aufgeführten Variationen für Orchester, op. 31 (1926–28), von Arnold Schönberg und Alban Bergs Symphonische Stücke aus der Oper „Lulu“ (1934) bedeuteten die endgültige Hinwendung Dallapiccolas zur Zwölftontechnik. 1
2
Luigi Dallpiccola, Incontro con Webern, in: Il Mondo: lettere scienzi arti musica 1/15 (3 novembre 1945), S. 12; autorisierte deutsche Teilübersetzung: Begegnung mit Anton Webern, in: Melos 32/4 (April 1965), S. 115– 117, hier S. 115, Tagebucheintrag Prag, 5. September 1935. Die Übersetzung bei Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes, Zürich 1980, S. 408f., unterscheidet sich davon sehr stark. Luigi Dallapiccola, Begegnung mit Anton Webern (Anm. 1), S. 117, Tagebucheintrag Florenz, 5. April 1943.
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Peter Andraschke
Am 17. Juni 1938 erlebte er beim IGNM-Fest in London die Uraufführung von Das Augenlicht, op. 26, mit Orchester und Chor der BBC unter Hermann Scherchen in der Queen’s Hall. Es war ein großer Erfolg. Der Kritiker der Times beurteilte das Werk als das „wirklich modernste und überzeugendste“ des Programms, das sich nach seiner Ansicht abhob „von der Unverbindlichkeit jener Komponisten, die jetzt das sogenannte ‚Zwölftonsystem‘ für sich beanspruchen“; es „hinterließ einen bemerkenswerten Eindruck.“3 Und Dallapiccola hielt in seinem Tagebuch fest: „[…] Im Augenblick stellt der Klang die größte Bereicherung dar, die diese Arbeit mir gegeben hat. Ein Klang, der allein genügen würde, um mich in Das Augenlicht eines der grundlegenden Werke unserer Zeit sehen zu lassen.“4
Und er empfiehlt im Zusammenhang mit seinen ausführlichen Beobachtungen an Weberns Komposition Studierenden „das demütige und aufmerksame SichVertiefen in die Canones diversi des Musikalischen Opfers und der Kunst der Fuge.“5 Am 9. März 1942 bot sich Dallapiccola die Möglichkeit, bei Alfred Schlee in Wien, einem der Direktoren der Universal-Edition, Webern kennenzulernen. Dallapiccola, der mit einer Jüdin verheiratet und deshalb damals in Italien politisch diskriminiert war, haßte den Faschismus und seine Kunstideologie. Auch dies war ein Thema im gemeinsamen Gespräch. Im Tagebuch kann man lesen: „Ein Aufenthalt von zwölf oder vierzehn Stunden in dieser ausgestorbenen Stadt ist unvermeidlich, wenn man aus Ungarn nach Italien zurückfährt (zwei polizeiliche Kontrollen sind obligatorisch). Doch ich freue mich darüber, denn heute abend habe ich im Hause Schlee Gelegenheit gehabt, Anton Webern die Hand zu drücken. Ein Mystiker, ein kleines Männchen, das mit etwas österreichischem Tonfall spricht, sanft, aber zu Zornausbrüchen fähig und so herzlich, daß er mich wie seinesgleichen behandelte (‚unsere gemeinsame Verantwortung‘, sagte er). Ohne alle Scheu, rückhaltlos redet man vom Krieg. Das ist jetzt in allen Ländern das vordringlichste Thema. Und wir verstehen uns leicht. Auf welcher Seite der Barrikade wir uns befinden, steht uns auf der Stirn geschrieben. [...] Aber wir sprechen auch über Musik. Da Webern den immensen Erfolg von Das Augenlicht in London nicht selbst miterlebt hat, erzähle ich ihm von dem Eindruck, den das Werk damals auf mich gemacht hat. Und er fragt gleich: ‚Auch einen Klangeindruck?‘ (Der Klang! Ich hatte richtig verstanden). Wir erörtern Probleme des Orchesterklangs, und der feine Sucher (den die Geschichte schon wegen seiner machtvollen Beiträge zur Bildung einer neuen Tonsprache nicht wird ignorieren können) erklärt: ‚Ein Akkord von drei Trompeten oder vier Hörnern ist für mich nunmehr unvorstellbar.‘ 3 4
5
Zit. nach Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton von Webern (Anm. 1), S. 456. Luigi Dallapiccola, Begegnung mit Anton Webern (Anm. 1), S. 116 (siehe auch die Beiträge von Hartmut Krones und Manfred Permoser im vorliegenden Band). Der Tagebucheintrag London, 17. Juni 1938, enthält eine ausführliche Analyse des Augenlichts. Ebenda S. 115.
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Gelegentlich fällt der Name von Kurt Weill. Und Webern explodiert plötzlich. Er streckt den Zeigefinger gegen mich aus (aber ich war es nicht, der den Namen eines ihm nicht genehmen Komponisten vor ihm genannt hat) und stellt mir die unumwundene Frage: ‚Was finden Sie in einem solchen Musiker noch von unserer großen mitteleuropäischen Tradition, der Tradition, die Namen wie (und hier zählt er sie an den Fingern auf) Schubert, Brahms, Wolf, Mahler, Schönberg, Berg und den meinen umfaßt?‘ Ich bin verlegen. Nicht daß eine Antwort nicht möglich gewesen wäre; doch was mich verwirrt, ist, daß Webern das Wort ‚Tradition‘ gebraucht hat, ein Ausdruck, von dem ich – nach meiner Kenntnis der Variationen op. 27, der Kantate Das Augenlicht und, wenn auch nur ein einziges Mal gehört, des Konzerts op. 24 – angenommen hätte, daß er keinen Platz in Weberns Wortschatz fände. Aber nicht nur das – daß er sich als Sohn der Tradition betrachtet, d. h., daß er an die Kontinuität der Ausdrucksweise glaubt!* Und daß er endlich verrät, was ihn von Kurt Weill trenne, seien keine ästhetischen oder Geschmacksfragen, sondern allein die Tatsache, daß Weill die mitteleuropäische Tradition verworfen habe. Webern hat mir großen Eindruck gemacht, auch als Mensch. Und ich denke an das, was Theodor W. Adorno vor Jahren über ihn geschrieben hat – daß der Angriff, den Schönbergs Konstruktivismus wider die vermauerten Tore der musikalischen Objektivität begann, in Weberns Liedern op. 14 und op. 15 nur noch ein Zittern ist, das aus weiter Ferne zu uns dringt. Es ist eine einsame Seele, die vor den vermauerten Toren zittert und am Glauben sich hält: nichts sonst blieb ihr. *(Was mir 1942 unverständlich erschien, ist heute allen klar, die mit Anton Weberns Werk vertraut sind. Ohne alle Anstrengungen sehen wir, wieviel er der Tradition, dem ‚Ländler‘ verdankt; und wenn man die erste Seite der Symphonie op. 21 als ‚Transparenz‘ hören will, wird es nicht zu schwer sein zu bemerken, daß sie trotz aller Verschiedenheit als eine letzte Erinnerung an den Anfang der vierten Brahms-Symphonie betrachtet werden kann.)“6
Der Weg Dallapiccolas zu Webern führte über die Beschäftigung mit Arnold Schönberg und Alban Berg. 1921, mit 17 Jahren, entdeckte er Schönberg für sich. Der einflußreiche Komponist und Kritiker Ildebrando Pizzetti hatte in seinen damals gerade erschienenen Intermezzi critici 7 Schönbergs Harmonielehre und seine Musik abfällig bewertet: „[...] ein Lehrbuch wie hundert andere, genauso respektabel, genau so langweilig, genauso pedantisch.“ – „Seltene oder neue Akkorde sind noch keine Kunst; auch die Verbindung seltsamer und unerhörter Rhythmen, das Gemisch seltener Instrumentalfarben sind noch keine Kunst [...]“.8 6 7 8
Ebenda S. 116f., Tagebucheintrag Wien, 9. März 1942. Ildebrando Pizzetti, Di Arnold Schoenberg e di altre cose, in: Il Marzocco, Firenze (17 dicembre 1916); Wiederabdruck in: Intermezzi critici, Firenze 1921, S. 143ff. Ebenda S. 143ff., zitiert nach Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit. Leben und Werk des Komponisten Luigi Dallapiccola, Köln 1984, S. 3; ausführlicher dazu: Ders., Dallapiccola und der Schönberg-Kreis, in: Bericht über den 2. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft. „Die Wiener Schule in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Wien, 12. bis 15. Juni 1984, hrsg. von Rudolf Stephan und Sigrid Wiesmann (= Publikatio-
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Als Reaktion auf diese harsche Kritik begann sich Dallapiccola für Schönberg zu interessieren und kaufte sich die Harmonielehre. Noch in seinen letzten Lebensjahren bestätigte er, daß ihn dieses Buch ständig begleitet hat: „auf meinen Reisen, bei meinen Umzügen (auch den unfreiwilligen während des Krieges)“9. Drei Jahre später, am 1. April 1924, kurz vor seinem Klavierdiplom im November dieses Jahres, hörte er den Pierrot lunaire unter Schönbergs Leitung in Florenz. Unter dem Eindruck der Musik entschloß er sich, Komponist zu werden, und begann ein Studium der Musiktheorie und Komposition bei Vito Frazzi in Florenz, das er 1931 mit dem Kompositionsdiplom abschloß. Im Divertimento in quattro exercizi (1934) für Sopran, Flöte, Klarinette, Bratsche und Violoncello auf Gedichte des 13. Jahrhunderts erkennt Dietrich Kämper in Textwahl, Besetzung und kompositorischer Struktur das Vorbild des Pierrot lunaire.10 Die Tre Poemi (1949) für Singstimme und Kammerorchester auf Texte von James Joyce, Michelangelo und Manuel Machado hat Dallapiccola Schönberg gewidmet. Im folgenden sei an einigen Kompositionen von Dallapiccola die strenge kontrapunktische Strukturierung dargestellt, mit der er sich u. a. auf Webern bezieht, zudem soll auf die politische Semantik in seiner Musik hingewiesen werden.
Sonatina canonica (1942–43) In der Sonatina canonica in Mi bemolle maggiore su „Capricci“ di Niccolò Paganini per pianoforte wendet Dallapiccola Kanontechniken auf ein tonales Material an und bindet ausgewählte Themen aus den 24 Capricen, op. 1, für Violine Solo von Paganini mit kontrapunktischer Strenge. Die Bezeichnung Sonatina für dieses spieltechnisch und kompositorisch anspruchsvolle Werk ist eine Untertreibung, in der Art von Weberns (wohl in Anlehnung an Ludwig van Beethoven) gewählter Bezeichnung Sechs Bagatellen für Streichquartett, op. 9 (1911–13). Anlaß für die Komposition war die Anregung von Paolo Giordani, Leiter der Edizioni Suvini Zerboni, einen Beitrag zu einer Anthologie mit zeitgenössischer italienischer Klaviermusik zu komponieren, die für fortgeschrittene Musikstudenten gedacht war.11 Dallapiccola begann im Juni 1942 mit der Bearbeitung der Caprice Nr. 14. Sie wird der Schlußsatz der späteren Sonatina. Dallapiccola sah sich mit seiner Bezugnahme auf Paganini in der Tradition von Robert Schumann, Franz Liszt und Johannes Brahms,12 wollte aber gegenüber
9
10 11
12
nen der Internationalen Schönberg-Gesellschaft, Bd. 2), Wien 1986, S. 83–92; vgl. auch Wolfgang Schreiber, Schönberg und Dallapiccola, in: Österreichische Musikzeitschrift 29/6 (1974), S. 304–309. Luigi Dallapiccola, Presentazione della Harmonielehre, in: Ders., Parole e Musica, hrsg. von Fiamma Nicolodi (= La Cultura. Saggi di arte e di letteratura, Bd. 53), Milano 1980, S. 240; deutsche Übersetzung von Dietrich Kämper, Dallapiccola und der Schönberg-Kreis (Anm. 8), S. 90. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 8), S. 18. Eine ausführliche Darstellung der Entstehungsgeschichte findet sich bei Raymond Fearn, Luigi Dallapiccola’s „Sonatina Canonica“: Neoclassicism ... or?, in: Musikkonzepte – Konzepte der Musikwissenschaft. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Halle (Saale) 1998, hrsg. von Kathrin Eberl und Wolfgang Ruf, Bd. 2: Freie Referate, Kassel etc. 2000, S. 605–610. Auch der von Dallapiccola verehrte Alfredo Casella hat in der zeitlichen Umgebung der Sonatina canonica eine Paganiniana, Divertimento über Themen von N. Paganini für Orchester, op. 65 (1942), komponiert, die
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seinen Vorgängern einen ganz eigenen Weg gehen. Bald fügte er seiner Bearbeitung drei weitere hinzu. Erst nach mehrfacher Revision übergab er die Stücke im November 1945 als viersätzige Sonatina canonica dem Verlag. Die Uraufführung am 3. März 1946 in Perugia spielte Pietro Scarpini, ein anerkannter Interpret für zeitgenössische Musik. Der Verzicht auf die Zwölftontechnik in diesem Opus bedeutete keine prinzipielle Abkehr davon, ebensowenig ist dies der Fall bei den beiden Tartini-Bearbeitungen der 1950er Jahre: dem Divertimento für Violine und Kammerorchester Tartiniana (1951/52) und der Tartiniana seconda/a für Violine und Klavier (1955/56). Für Dallapiccola waren diese Werke wichtige Episoden, nach denen – wie er es empfand – seine dodekaphonischen Verfahrensweisen zunehmend an Strenge gewonnen hätten: „After each tonal episode my dodecaphonic procedures have gained in severity.“13 In den Sätzen der Sonatina canonica ist jeweils Material aus bis zu drei der Caprices von Paganini verarbeitet: I. Nr. 13 und 20, II. Nr. 19, III. Nr. 11, IV. Nr. 9, 14 und 17. Der dritte Satz bringt die aufwendigsten kontrapunktischen Verfahren. Zugrunde liegt das erste Thema der Caprice Nr. 11 (Beispiel 1).
Beispiel 1: Niccolò Paganini, Caprice Nr. 11.
13
Webern im gleichen Jahr für Klavier gesetzt hat; vgl. Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton von Webern (Anm. 1), Werkverzeichnis Nr. 340, S. 666. Hans Nathan, Luigi Dallapiccola: Fragments from Conversation, in: The Music Review 27 (1966), S. 296.
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Dallapiccola versucht, möglichst viel von der Musik Paganinis zu bewahren, dabei aber Eigenes einzubringen. Er übernimmt die dreiteilige Anlage. Allerdings hat sein mittlerer Teil kein neues Thema wie bei Paganini, sondern hebt sich durch seine neue Kompositionsstruktur ab. Die Nähe zur Vorlage ist an den Takten 1–4 gut zu beobachten (siehe Beispiel 2).
Beispiel 2: Luigi Dallapiccola, Sonatina canonica, Nr. 3.
Sie haben das gleiche Tempo Andante, das Dallapiccola jedoch als Andante sostenuto mit der Metronomangabe Viertel = 36–38 differenziert. Wie bei Paganini ist der Satz dreistimmig, bei Dallapiccola jedoch kontrapunktisch als Engführung des Themas gestaltet. Die Phrasierung ist weitgehend beibehalten, die Artikulation nuancierter. Die dynamische Gestaltung ist neu, und es finden sich auffallende,
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zum Teil semantisch bedeutsame Vortragsanweisungen. Das Thema ist nicht transponiert, aber klanglich tiefer gelegt. Oscuro (dunkel) und pp geben ihm eine veränderte Klangfarbe und Semantik. Die Harmonik ist weitgehend übernommen, vgl. das untere System. Da aber hier der dreistimmige Satz auf zwei Stimmen reduziert ist, fehlt im Takt 3 das fis, und damit ist das as nicht mehr Teil des ursprünglichen Dominantseptakkordes. Der zweite Teil beginnt nach dem Doppelstrich vier Takte lang mit einem Bezug auf die nur unwesentlich veränderten Takte 19–22 der Caprice und ist wie bei Paganini homophon gehalten. Gegenüber dem dunklen Anfang erklingt das Thema aufgehellt (più chiaro). Die zuvor ausgelassenen Takte 5–8 der Vorlage werden erst im Anschluß daran den Takten 9–12 zugrunde gelegt. Der homophone Satz Paganinis ist hier ohne wesentliche Veränderungen, sogar in der gleichen Oktavlage übernommen. Zugefügt sind lediglich die Arpeggien und die Verlängerung der unteren Akkordtöne am Taktbeginn zu halben Noten, wodurch der tanzartige Dreierrhythmus fortgeführt wird. Die Viertelbewegung des c2 im Takt 11 bereitet den Abschluß im Takt 12 vor, der durch die nachfolgende Pause bekräftigt wird. Durch die Doppelstriche vor den Takten 5 und 21 will Dallapiccola den Anfang von neuen Teilen anzeigen. Die beiden äußeren sind zudem durch ihren Bezug auf die gemeinsame Vorlage des Beginns und die Gestaltung mit Engführungen aufeinander bezogen. Doch setzt der gehaltene Akkord mit der anschließenden Pause im Takt 12 einen zusätzlichen Gliederungspunkt in diesem Stück. Die Takte 13–20 sind als Krebskanon zwischen den beiden unteren Systemen und dem oberen System gestaltet. Im dreistimmig homophonen Satz des zweiten und dritten Notensystems wurden nur zwei Töne gegenüber den Takten 1–8 der Caprice geändert: B (T. 14) und f (T. 15). Der Krebs des Themas (T. 20–13) unterscheidet sich klanglich durch seine hohe Lage. Damit dieses kontrapunktische Kunststück nicht übersehen wird, hat Dallapiccola es mit langgezogenen Pfeilen gekennzeichnet. Die Verzierungen sind hier, anders als in den Takten 8–12 der Vorlage, ausgeschrieben, so daß deutlich wird, daß sie in den Kanonverlauf einbezogen wurden. Dieser Krebskanon ist durch die Satzfülle und die f-Dynamik als Höhepunkt herausgehoben. Der Schlußteil ab Takt 21 ist gegenüber dem Satzbeginn um eine Quarte höher transponiert und suggeriert eine Modulation nach F-Dur, hält aber auf der Dominante als Quintklang c1–g1 inne und verklingt im ppp. Er wirkt mit seiner hohen Klanglage, dem leisen dolce-Vortrag und den glockenhellen Oktaven wie eine Verwandlung des dunkel gehaltenen Satzbeginns.
Quaderno musicale di Annalibera (1952/53) Das Quaderno musicale di Annalibera per pianoforte ist ein Kompositionsauftrag des Pittsburgh International Contemporary Music Festivals und wurde dort am 29. November 1952 von Vincent Persichetti uraufgeführt. Ausdrücklich steht in der Vorbemerkung, daß die Stücke nicht einzeln aufgeführt werden sollen:
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„Non è consentia, per nessuna ragione, l’esecuzione dei singoli pezzi: l’opera potrà essere eseguita soltanto nella sua compiutezza.“
Der Zyklus hat nämlich einen stringenten Aufbau, den Dallapiccola wie folgt gliedert:14 Simbolo
Quartina
Accenti - Contrapunctus primus Linee - Contrapunctus secundus (Canon contrario motu) Fregi - Andantino amoroso e Contrapunctus tertius (Canon cancrizans) Ritmi - Colore - Ombre
Den Stücken liegt eine einzige Allintervallreihe zugrunde, die in der Nr. 6, Fregi, visuell und auch hörfällig deutlich dargestellt ist (siehe Beispiel 3).
Beispiel 3: Luigi Dallapiccola, Quaderno musicale di Annalibera, Nr. 6.
Dallapiccola hat die Reihe in seinen Canti di liberazione per coro misto e grande orchestra (1951–55) nochmals verwendet. Beide Werke hängen musikalisch zusammen. In weiten Bereichen bezieht sich der Orchesterpart auf die Klavierstücke, die die „Grundlage des Orchestersatzes bilden, über dem der Komponist ein ganz neues, völlig eigenständiges Gebäude des Chores errichtet“15.
So steht der Beginn des mittleren Satzes in Verbindung mit dem Contrapunctus secundus (Beispiel 4). 14 15
Luigi Dallapicola, Quaderno musicale di Annalibera, Milano 1953 (Edizioni Suvini Zerboni), S. [2]. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 8), S. 120.
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Beispiel 4: Luigi Dallapiccola, Quaderno musicale di Annalibera, Nr. 5.
Der Chorsatz (siehe Beispiel 5) wird von der Rhythmusproportion 3:1:2 bestimmt. Es sind Zahlen der Fibonaccireihe, mit der bereits die Nr. 8, Ritmi, im Quaderno musicale komponiert wurde. Diese Proportion prägt die vier Stimmen in unterschiedlicher Augmentation: Sopran 9:3:6 Achtel, Alt: 3:1:2 Halbe, Tenor 9:3:6 Viertel, Baß 9:3:6 Halbe. Auch der Instrumentalsatz ist teilweise davon bestimmt. Der Kanon unterscheidet sich daher im Rhythmus von seiner Vorlage im Quaderno musicale. Die Bedeutung des Quaderno musicale im Schaffen belegt zudem, daß Dallapiccola die Klavierstücke instrumentiert hat. Diese Variazioni für Orchester (1954) boten ihm die Möglichkeit, Strukturen klangfarblich zu verdeutlichen. Rudy Shackelford hat eine Orgeltranskription in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten erarbeitet.16 Der Titel Quaderno musicale di Annalibera enthält eine Anspielung auf Johann Sebastian Bachs Clavierbüchlein für Anna Magdalena Bach.17 Dallapiccolas Notenbüchlein der Annalibera ist ein Geschenk zum achten Geburtstag seiner Tochter Annalibera, die am 1. Dezember 1944 geboren worden war. Ihr Vorname bezieht sich auf die Befreiung von Florenz von den deutschen Besatzungstruppen am 11. August dieses Jahres, eines der für Dallapiccola wichtigsten Ereignisse seines Lebens. Die Klavierstücke eignen sich, anders als die von Bach, nicht für Anfänger. Sie haben einen spieltechnisch und kompositorisch hohen Anspruch und nähern sich in eigenständiger Weise einem seriellen Denken, das damals in den 1950er Jahren aktuell war.18 16 17
18
Ebenda S. 109. Das Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach ist zweiteilig. Die beiden Büchlein heißen im Autograph: Clavier-Büchlein vor Anna Magdalena Bachin Anno 1722 und A.M.B. 1725. Die Jahreszahlen geben den Beginn der Eintragungen an. Der Serialität deutlicher verpflichtete Werke sind Requiescant für Chor und Orchester (1957–58) und Dialoghi für Violoncello und Orchester (1959–60). Siehe dazu Dietrich Kämper, „Ricerca ritmica e metrica“. Beobachtungen am Spätwerk Dallapiccolas, in: Neue Zeitschrift für Musik 135/2 (Februar 1974), S. 94–99.
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Beispiel 5: Luigi Dallapiccola, Canti di liberazione, Nr. 2.
Der Bezug des Quaderno musicale zu Bach wird gleich im ersten Stück vertieft, das bezeichnend mit Simbolo überschrieben ist. Hier zitiert Dallapiccola das B-A-C-HMotiv mehrfach in transponierter Form (siehe Beispiel 6).
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Beispiel 6: Luigi Dallapiccola, Quaderno musicale di Annalibera, Nr. 1.
Über einem Ostinato der beiden Anfangstöne der Zwölftonreihe erklingt das Motiv das erste Mal in den Takten 2 bis 5 der Oberstimme. Im weiteren Verlauf erscheint es als Umkehrung bzw. Krebs und ist auch bei veränderter Intervallfolge dem Hörer präsent. Die tonidentische Wiederkehr der Takte 2–6 am Ende faßt das Stück zu einer gerundeten dreiteiligen Form und bestärkt den Eindruck der Musik als Hommage an Bach. Das B-A-C-H-Zitat, das Dallapiccola in seinen Canti di liberazione mehrfach einblendet und auch in anderen Werken einsetzt, ist ein deutliches Bekenntnis zum barocken Meister des Kontrapunkts, der in dieser Hinsicht auch Vorbild für die Schönberg-Schule war und dessen Name in Kompositionen eingearbeitet wurde. So reiht die Zwölftonreihe von Weberns Streichquartett, op. 28 (1936–38), drei B-AC-H-Motive aneinander: zwei transponierte Grundgestalten umschließen eine Um-
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kehrung. Und in Schönbergs Variationen für Orchester, op. 31 (1926–28), sind im Finale, wie der Komponist schreibt, „als Hommage an Bach die Töne B, A, C, H eingeführt [...] als Kontrapunkt zu den hauptsächlichen thematischen Entwicklungen“19.
Auch in der zeitgenössischen Musik Italiens äußert sich diese musikalische Art der Verehrung, z. B. in Alfredo Casellas Due ricercari sul nome B-A-C-H, op. 52, für Klavier (1932). Im Quaderno musicale wechseln kontrapunktisch streng gefügte und eher frei wirkende, jedoch auch zwölftönig organisierte Stücke unregelmäßig ab, ähnlich wie es in Bachs Wohltemperiertem Klavier (BWV 846–893) konsequent im Wechsel zwischen Präludien und Fugen oder, daran anknüpfend, in Paul Hindemiths Ludus tonalis (1942) in der Folge von Fugen und Interludien geschieht. Beide Werke könnten als Anregung gedient haben. Bereits die Titel der Stücke Dallapiccolas weisen auf die Kompositionsart und ihren Charakter hin und sind zum Teil bildhaft-poetisch. Sie geben zugleich Auskunft darüber, daß hier nicht allein kontrapunktische Formen einbezogen sind, sondern prinzipiell Parameter und Ausdrucksmöglichkeiten von Musik dargestellt werden. Dazu einige Beispiele. Die Nr. 2, Accenti, ist ein vom Rhythmus im Tempo Allegro; con fuoco und von unterschiedlichen Anschlagsarten geprägtes Stück und mit der Nr. 8, Ritmi, verwandt. Die Nr. 4, Linee, im Vortrag tranquillamente mosso, ist in der Art eines Präludiums gehalten, mit zwei metrisch unterschiedlich gestalteten Stimmen und häufigen Wiederholungen von Reihensegmenten. Die Bezeichnungen Contrapunctus erinnern an Bachs Kunst der Fuge (BWV 1080). Contrapunctus primus ist ein Kanon im unisono, zunächst zwei-, dann dreistimmig (siehe Beispiel 7).
Beispiel 7: Luigi Dallapiccola, Quaderno musicale di Annalibera, Nr. 3. 19
Arnold Schönberg, Komposition mit zwölf Tönen, in: Ders., Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtěch (= Gesammelte Schriften, Bd. 1), Frankfurt am Main 1976, S. 96.
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Interessant ist seine rhythmische Gestaltung. Sie verläuft in den beiden Reihenhälften des zwölftönigen Themas krebsläufig. Die Stimmen selbst stehen nicht im Verhältnis einfacher Proportionen, sondern in der komplizierteren Rhythmusrelation 4:3, was eine Art von schwebender Bewegung ergibt. Der Contrapunctus secundus ist ein Spiegelkanon (siehe Beispiel 4). Der Hinweis „alla Serenata“ charakterisiert die heiter-gelöste Haltung dieser kontrapunktisch streng gearbeiteten Musik. Mit seiner Kürze erinnert das Stück, wie auch andere des Zyklus, an Weberns Bagatellen, op. 9. Und es ist Weberns Musik nahe, wie Dallapiccola versucht, den Ausdruck vielfältig zu nuancieren, siehe die zahlreichen Anweisungen für Vortrag, Dynamik und Artikulation. Sie können bis zu einer Augenmusik reichen, siehe etwa die am Klavier nicht zu verwirklichende dynamische Veränderung beim Anfangsklang der Resolutio in der Nr. 7 (Beispiel 8).
Beispiel 8: Luigi Dallapiccola, Quaderno musicale di Annalibera, Nr. 7.
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Das zweiteilige Stück ist ein Rätselkanon in der Tradition der alten niederländischen Polyphonie. In der Edition ist das zugrundegelegte Andantino amoroso mit quadratischen Noten in roter Farbe notiert. Die Resolutio bringt, wie der Titel sagt, die Auflösung. Ab dem Takt 9 spielen die rechte Hand die Wiederholung der Takte 1–8 und die linke deren Krebs. Dieses Stück verdeutlicht auch die enge Beziehung der musikalischen Struktur zu der entsprechenden Passage im ersten Teil der Canti di liberazione, zeigt aber zugleich, wie stark sich der Ausdruck in der textbezogenen Musik verändern kann. So verwandelt er sich in den Takten 85–91 von der im Klavierstück dolce, ppp und leggerissimo zu spielenden Stelle zu einem più ff, con violenza.
Liriche greche (1942–45) Kontrapunktische Strukturen hat Dallapiccola auch in seine Vokalmusik eingearbeitet. Vorbilder hierfür waren die Kunst der Niederländer und Bachs Musikalisches Opfer (BWV 1079). Vermutlich hat ihn auch Alban Berg angeregt, der etwa in seinem Wozzeck (1914–21) die Szenen mit instrumentalen Formen gebunden hat. In Dallapiccolas Opernerstling Volo di notte (1937–39) ist die fünfte Szene in Form von Choralvariationen gearbeitet. Die niederländische Polyphonie war auch für die Wiener Schule als Tradition wichtig, was man beispielsweise in Weberns Vorträgen nachlesen kann. Voll Stolz erklärt er dort den zweiten Satz seiner Symphonie, op. 21, und resümiert: „Mehr Zusammenhang ist nicht möglich. Das haben auch die Niederländer nicht zusammengebracht. [...] Was sie hier sehen – Krebs, Kanon, etc. – es ist immer dasselbe –, ist nicht in dem Sinne zu nehmen, daß es ,Kunststückerln‘ sind – das wäre lächerlich! – Möglichst viele Zusammenhänge sollen geschaffen werden, und daß es viele Zusammenhänge sind, werden Sie zugeben müssen!“20
Und die Nr. 2 aus Bachs Musikalischem Opfer, das sechsstimmige Ricercar, hat Webern 1934–35 für Orchester bearbeitet. Ein Beispiel für kontrapunktische Verfahren Dallapiccolas in der Vokalmusik ist die Werkgruppe der Liriche greche. Sie besteht aus drei Kompositionen, die gedanklich aufgrund der Texte und auch musikalisch zusammengehören, aber eine unterschiedliche Besetzung haben: Cinque frammenti di Saffo für Singstimme und fünfzehn Instrumente (1942), Due liriche di Anacreonte für Singstimme und vier Instrumente (1944–45) und Sex Carmina Alcaei für Singstimme und elf Instrumente (1943). Die Texte entnahm er der Sammlung Lirici greci21, in der, wie Raymond Fearn urteilt, Salvatore Quasimodo griechische Lyrik sehr frei nachgestaltet hat:
20 21
Anton Webern, Der Weg zur Komposition in zwölf Tönen, in: Ders., Der Weg zur Neuen Musik, hrsg. von Willi Reich, Wien 1960, S. 60. Salvatore Quasimodo, Lirici greci, Firenze 1940.
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„Quasimodo adapted the original Greek texts with too much licence for us to call them simply ,translations‘ “.22
Aus dieser Anthologie hat auch Bruno Maderna die Texte für seine Tre liriche greche für Sopran, Chor und Instrumente (1948) gewählt.23 Als Beispiel seien die Sex carmina Alcaei una voce canenda, nonnullis comitantibus musicis (Canones diversi, motu recto contrarioque, simplices ac duplices, cancrizantes, etc., super seriem unam tonorum duodecim) – so ihr vollständiger Titel – genommen. Bereits die Bezeichnungen der Sätze bzw. Überschriften in der Partitur geben Auskunft über die angewandten Kanonkünste. I. II. III. IV. V. VI.
Expositio Canon perpetuus Canones diversi Canon contrario motu Canon duplex contrario motu Conclusio
Dallapiccola hat die Komposition dem Andenken Weberns gewidmet: „Quest’opera, dedicata ad ANTON WEBERN nel giorno del suo sessantesimo compleanno (3 dicembre 1943), offro oggi, con umiltà e devozione, alla di Lui memoria. 15 settembre 1945. L. D.“
Ursprünglich wollte er Webern das Werk zum 60. Geburtstag überreichen, aber die Drucklegung verzögerte sich durch den Krieg. Am 3. Dezember 1943 notierte er in Florenz in sein Tagebuch: „Heute wird Anton Webern sechzig Jahre alt. ‚Eine arme Seele, die sich am Glauben hält ...‘24 In Florenz, wie übrigens nunmehr in allen italienischen Städten, nimmt die Verfolgung ein beängstigendes Tempo an. Auch ich fühle mich heute mehr denn je als eine einsame Seele... Ich sagte, ich würde dem Meister meiner [sic!] Carmina Alcaei, die ich nach dem Kriegsende übergeben will, mit dem Zagen widmen, das wohl kennt, wer ein eigenes Werk dem Urteil eines Mannes unterbreitet, der so viel mehr ist als er.“25
Von Weberns Tod erfuhr er im Oktober 1945. Am 22. Oktober hielt er in seinem Tagebuch fest: „Aus Wien schreibt mir ein Freund am 8. d. M.: ‚...leider muß ich Ihnen auch eine recht schmerzliche Nachricht geben. Webern ist durch einen tragischen Unfall gestorben, gerade da sein Werk sich auch bei uns endlich durchzusetzen begann...‘ “ 22 23 24 25
Raymond Fearn, The Music of Luigi Dallapiccola, Suffolk 2003, S. 85. Siehe dazu Horst Weber, Dallapiccola – Maderna – Nono. Traditionen in der italienischen Moderne, in: Bericht über den 2. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft (Anm. 8), S. 93–98. Luigi Dallapiccola, Begegnung mit Anton Webern (Anm. 1), S. 117, Eigenzitat aus dem Tagebucheintrag Wien, 9. März 1942. Ebenda.
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Vom gleichen Tag stammt ein weiterer Eintrag: „Die Carmina Alcaei werden, in Demut und Ehrfurcht, seinem Andenken gewidmet sein.“26
Diese Worte sind in die Widmung eingegangen. Die Widmung ist datiert mit 15. September 1945, dem Tag, an dem Webern in Mittersill durch die Kugel eines amerikanischen Besatzungssoldaten starb. Wie sehr Dallapiccola in den Liriche greche neben dem strengen Strukturieren mit kontrapunktischen Formen auch in anderer Weise Webern musikalisch nah ist, kann man gleich am Beginn der Nr. 1 der Due liriche di Anacreonte beobachten (siehe Beispiel 9), einem zwölftönigen Kanon, in den der Sopran einbezogen ist.
Beispiel 9: Luigi Dallapiccola, Due liriche di Anacreonte, Nr. 1. 26
Ebenda, Tagebucheintrag Florenz, 22. Oktober 1945.
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Der Notentext zeigt im weiteren Verlauf eine unglaubliche Differenzierung von Rhythmus, Dynamik (die Dynamik am Beginn fehlt, sie wird wohl p sein), Vortrag, Tongebung und Spielanweisungen. Und es sind in der Singstimme Textausdeutungen zu finden: z. B. die Verbindung von „eros“ und „desidero“ durch die Triolen und das Melisma zu „cantare“. Der Beginn der Expositio aus den Sex Carmina Alcaei (siehe Beispiel 10) zeigt die aus Grundgestalt und Krebs gebildete, ausdrucksstark modulierende unbegleitete Melodik des Soprans. Zum Wort „Saffo“ setzt das Klavier mit einem Zitat des zwölftönigen Themas aus dem Schlußstück der Cinque frammenti di Saffo ein, das hier gleichzeitig augmentiert wie ein ferner Nachhall erklingt: „ppp; soave. ‚Come un’eco lontanissima‘ “. Die Auffächerung der Reihe in weitgespannte Intervalle erinnert an den Beginn von Alban Bergs Violinkonzert (1935).
Beispiel 10: Luigi Dallapiccola, Sex Carmina Alcaei, Nr. 1.
In einem Interview mit Everett Helm sagte Dallapiccola: „Ich schreibe keine abstrakte Musik. In allem, was ich komponiere – sogar in einem scheinbar unpersönlichen Kanon –, versuche ich etwas auszudrücken, was ich zu sagen habe. [...] Es hat den Anschein, daß ich sehr langsam komponiere. Der Grund dafür ist, daß ich mich für jede Note, die ich zu Papier bringe, verantwortlich fühle. Auch wenn ich in der 12-Ton-Technik komponiere, versuche ich Künstler, nicht Theoretiker zu sein, und oft schreibe ich eine einzelne Seite
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mehrmals um. Wie Proust arbeite ich das Material so lange um, bis es spontan klingt. Seit 1951 schreibe ich seriell – nicht wegen der Technik als solcher, sondern weil sie für mich eine Form von Disziplin bedeutet.“27
Canti di prigionia (1938–41) Dallapiccola reagierte sehr sensibel auf politische Ereignisse und war der Auffassung, daß dies mit Erlebnissen aus seiner Kindheit zu tun habe. Er hatte sie in gut bürgerlicher Geborgenheit in Istrien verlebt, wo nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Italiener in dieser gemischtsprachigen Bevölkerung in Gefängnisse und Lager deportiert wurden. Seine Familie mußte zwanzig Monate im Exil in Graz leben: „[...] und obwohl wir nicht mißhandelt wurden, hinterließ diese Erfahrung einen unauslöschlichen Eindruck. Es war mein erster Eindruck von Ungerechtigkeit.“28
Die Zeit des Faschismus war für Dallapiccola insofern besonders hart, als seine langjährige Lebensgefährtin Laura Coen Luzzatto Jüdin war. Er heiratete sie am 30. April 1938, zu einer Zeit, als in Italien bereits Gerüchte über antisemitische Maßnahmen der Regierung aufkamen. Am 1. September 1938 verkündete dann Mussolini die Rassengesetze. Politische Situationen hatten häufig unmittelbaren Einfluß auf seine schöpferische Tätigkeit, wie Dallapiccola in einem Interview bekannte: „Rückblickend finde ich, daß meine künstlerische Evolution eine direkte Parallele mit politischen Ereignissen aufweist. Ich kann genaue Daten, ja sogar Stunden nennen, die sich direkt in meiner Musik niederschlugen. [...] Der 20. Oktober 1935 bedeutete das Ende meiner Jugend; an diesem Tag begann Mussolini den schändlichen äthiopischen Krieg. Die sechs Chöre auf Texte von Michelangelo Buonarotti29 waren meine letzten ‚unbekümmerten‘ (und ausgesprochen tonalen) Werke. Nie mehr konnte ich so fühlen und komponieren wie zuvor. Während einiger Monate konnte ich überhaupt nicht komponieren. Dann entstanden plötzlich die ‚Tre Laudi‘ für Sopran und Kammerorchester30 – ein Protest in Form von religiösem Glauben. Es war die erste Komposition, in der ich 12Ton-Melodien verwendete, wenngleich nicht systematisch. Der zweite politische Schock kam am 1. September 1938, als Mussolini den offiziellen Antisemitismus ansagte. Genau an diesem Tag begann ich, an die ‚Canti di prigionia‘ zu denken. Dieses Werk, dessen Zusammenhang mit den politischen Ereignissen der damaligen Zeit nicht erläutert zu werden braucht, beschäftigte mich von 1938 bis 1941. Der dritte Schock, Hitlers Bombardement von Warschau am 1. September 27 28 29
30
Everett Helm, Luigi Dallapiccola in einem unveröffentlichten Gespräch, in: Melos/NZ 2/6 (November– Dezember 1976), S. 469ff. Ebenda S. 471. Sei Cori di Michelangelo Buonarroti il Giovane (1. Folge für gemischte Stimmen a cappella, 1932–33; 2. Folge für 2 Sopran- und 2 Alt-Soli und 17 Instrumente, 1934–35; 3. Folge für gemischten Chor und großes Orchester, 1935–36). Tre laudi (Text: Laudario di Battuti di Modena) für hohe Stimme und Kammerorchester (1936–37).
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1939, intensivierte nur meine Auseinandersetzung mit der Frage der menschlichen Freiheit. 1944–48 arbeitete ich an ‚Il Prigioniero‘.31 Obwohl ich während dieser Periode auch Werke ganz anderen Charakters schrieb, lebte ich doch im Geiste zehn Jahre lang mit Gefangenen. Ich konnte in diesen schrecklichen Jahren an nichts anderes denken. Es war ein sardonischer Zufall, daß die Premiere der ‚Canti di Prigionia‘ am 11. Dezember 1941 stattfand: an dem Tag, als Mussolini den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg erklärte. In der Fortsetzung, den ‚Canti di Liberazione‘ (1951–1955), habe ich mich mit den Problemen der streng seriellen Technik auseinandergesetzt und diese Methode habe ich seither immer angewendet. Ich bin davon überzeugt, daß das Werk eines Künstlers nicht weniger eine Suche nach der Wahrheit ist wie das eines Wissenschaftlers.“32
Die Auseinandersetzung mit Gewalt und Faschismus prägt auch das Musiktheater Dallapiccolas. So bildet die Oper Il Prigioniero (1943–48), die zeitlich zwischen den Chorwerken Canti di prigionia (1938–41) und Canti di liberazione (1951–55) entstanden ist, „den Mittelpunkt einer Art Triptychon, in dem der Komponist seine Erfahrungen mit Faschismus und Krieg reflektiert. Die Belastungen, die die Kriegsereignisse für Dallapiccola mit sich brachten, führten zu mehrfachen Unterbrechungen der Arbeit“33. Die politische Bedeutung der Canti di prigionia liegt in der Textwahl. Die Verse stammen von bekannten politischen Gefangenen aus der Geschichte. Der erste Chor, Preghiera di Maria Stuarda, der ursprünglich als Einzelstück geplant war, basiert auf dem lateinischen Gebet der schottischen Königin Maria Stuart, das sie in den letzten Lebensjahren im Kerker gedichtet hat. Dallapiccola fand es im biographischen Roman Maria Stuart (1935) von Stefan Zweig:
Abbildung 1: Luigi Dallapiccola, Canti di prigionia, Nr. 1.
In seiner Musik zitiert Dallapiccola gleich zu Beginn den Anfang der Sequenz Dies irae und fügt die Worte in Klammern hinzu. Für den mittleren Chor Invocazione di Boezio wählte er drei Zeilen aus De Consolatio philosophiae des Boethius: 31 32 33
Il Prigioniero, Oper mit einem Prolog und einem Akt (1943–48). Everett Helm, Luigi Dallapiccola in einem unveröffentlichten Gespräch (Anm. 27), S. 471. Horst Weber, Luigi Dallapiccola. Il prigioniero, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters 1, München–Zürich 1986, S. 661.
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Abbildung 2: Luigi Dallapiccola, Canti di prigionia, Nr. 2.
Der mit seiner De [istitutione] musica libri quinque auch als Musiktheoretiker hervorgetretene Anicius Manlius Severinus Boethius (um 480–525/26)34 kam durch Theoderich d. Gr. (471–526) ins Gefängnis von Pavia und wurde dort hingerichtet. Die Musik dieses Stückes charakterisierte der Komponist als „apokalyptisches Scherzo“35. Bei der Textwahl für das dritte Stück Congedo di Girolamo Savonarola zeigte sich Dallapiccola lange Zeit unentschlossen. Erst unter dem Eindruck der berühmt gewordenen Rundfunkansprache des englischen Luftfahrtministers Samuel Hoare hatte er den Einfall, ein Gebet zu nehmen. Er wählte die Meditation des Girolamo Savonarola (1452–1498) über den Psalm In te Domine speravi. Auf Hitlers Drohung hin, im August 1940 England zu bombardieren, hatte Hoare seine Landsleute zum Gebet aufgerufen. Den Text Savonarolas zitiert Dallapiccola vor der Partitur:
Abbildung 3: Luigi Dallapiccola, Canti di prigionia, Nr. 3.
Der Dominikaner, Ordensreformer und vor allem einflußreiche Bußprediger Girolamo Savonarola36, der sich Papst Alexander VI. zum Feind gemacht hatte, da er 34
35 36
John Caldwell, Boethius, Anicius Manlius Severinus, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil 3, Basel etc. und Stuttgart–Weimar 2000, Sp. 220–228. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 8), S. 40. Peter Segl, Girolamo Savonarola, in: Lexikon für Theologie und Kirche 9, Freiburg i. Br. etc. 2000, Sp. 92–96.
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ihn als Antichrist attackierte, wurde auf dessen Betreiben am 8. April 1498 von der Regierung in Florenz verhaftet, durch Folter zu Geständnissen gezwungen und am 23. Mai 1498 als Häretiker und Schismatiker zum Tod durch Erhängen verurteilt. Danach wurden seine Leiche verbrannt und die Asche in den Arno gestreut. Im Kerker des Signorinapalasts in Florenz schrieb er seine ergreifenden Meditationen über die Psalmen 50 (Miserere) und 30 (In te, Domine, speravi). Dallapiccola verstand seine drei Kompositionen als „La mia protest-music“37. Damit stellte er sie in eine Reihe von Werken anderer Komponisten in diesen Jahren, die sich gegen Krieg und Gewalt richten: z. B. Darius Milhauds La Mort d’un tyran (1933), Michael Tippetts A Child of Our Time (1939–41), Wladimir R. Vogels Thyl Claes (1937–45), Arnold Schönbergs Ode to Napoleon Bonaparte, op. 41 (1942), und Ein Überlebender aus Warschau, op. 46 (1947), sowie Bohuslav Martinůs zahlreichen im Exil entstandenen Kompositionen, z. B. dem Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken (1938) und Memorial to Lidice (1943).38 Es existieren nach Dallapiccolas Aussage Verbindungen zwischen den hier besprochenen Werken. Durch die engen musikalischen Zusammenhänge erscheinen das Quaderno musicale und seine Orchesterfassung rückblickend wie Vorstudien zu den Canti di liberazione. Dallapiccola hat in einem Brief an René Leibowitz39 darauf hingewiesen, daß in beiden Titeln „...libera...“ auftaucht: im Namen der Tochter Annalibera und in „liberazione“. Die Bezüge zwischen den Canti di prigionia und den Canti di liberazione hat Dallapiccola bewußt gesetzt. Schon während der Arbeit am ersten Chorwerk plante er ein zweites mit einer „construzione analoga“40. Die Titel, die Besetzung, Texte in lateinischer Sprache, die dreiteilige zyklische Anlage mit einem raschen kurzen Mittelsatz und zwei langen Außensätzen sind Belege hierfür, die in zahlreichen musikalischen Details vertieft werden. Auf die symmetrische Proportion der Sätze in den Canti di liberazione, die er vorab geplant hat, hat Dallapiccola ausdrücklich hingewiesen und ihre Aufführungsdauern von 12:6:12 Minuten in der Partitur angegeben. Der erste Text41 stammt aus einem Brief des reformatorischen Theologen Sebastiano Castellio aus Basel vom 1. Juli 1555:
Abbildung 4: Luigi Dallapiccola, Canti di liberazione, Nr. 1. 37 38 39 40 41
Luigi Nono, L’esperienza della guerra e dell’impegno sociale nella musica e nelle arte, in: Florence: Maggio Musicale Fiorentino 1971; zit. nach: Raymond Fearn, The Music of Luigi Dallapiccola (Anm. 22), S. 281, Anm. 12. Peter Andraschke, Bohuslav Martinů: Musik gegen Krieg und Zerstörung, in: Music and Society in the 20th Century. Slovenian Musical Days 1998. International Symposium, hrsg. von Primož Kuret, Ljubljana 1999, S. 128–140. Brief vom 4. März 1955; Fondo Dallapiccola (Archivio Contemporaneo del Gabinetto G.P. Vieusseux, Firenze); vgl. dazu Raymond Fearn, The Music of Dallapiccola (Anm. 22), S. 185f. Siehe dazu ausführlich Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit (Anm. 8), S. 118f. Die Texte werden nach Dallapiccolas Niederschrift vor den einzelnen Sätzen der Partitur zitiert.
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Der zweite Text ist aus dem Alten Testament (Exodus XV, 3–5):
Abbildung 5: Luigi Dallapiccola, Canti di liberazione, Nr. 2.
Der dritte Text ist den Confessiones des Augustinus (Buch X, Cap. XXVII) entnommen:
Abbildung 6: Luigi Dallapiccola, Canti di liberazione, Nr. 3.
Die Canti di liberazione sind auf Grund der Textwahl nicht so eindeutig politisch wie die Canti di prigionia. Das Wort „liberazione“ hat hier eine mehrschichtige Bedeutung, in der vor allem die religiöse und eine politische Komponente hervortreten.
THEO HIRSBRUNNER (Bern) †
Luigi Dallapiccola: Liriche Greche Als Luigi Dallapiccola am 3. Februar 1904 zur Welt kam, hatte das Wirken der drei Wiener Meister Schönberg, Berg und Webern schon begonnen und führte gegen das Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts zur Aufhebung der Tonalität. In Istrien und Graz, wo der Komponist seine Kindheit und die Gymnasialzeit verbrachte, konnten die revolutionären Umwälzungen, die ganz Europa erfaßten, nicht lange unbemerkt bleiben, um so mehr, als die habsburgische Doppelmonarchie den Austausch zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen förderte und ermöglichte. Nach dem Ersten Weltkrieg zu Studienzwecken in Florenz, das Dallapiccolas zweite Heimat wurde, entdeckte er Schönbergs Harmonielehre, die ihn von da an nicht mehr verlassen sollte. Noch 1963 erinnerte er sich an das entscheidende Datum, den 30. August 1921, das er in sein Exemplar des Buches eintrug; es sollte ihn während der folgenden 42 Jahre immer begleiten. Nicht Manuale di armonia, sondern Trattato di armonia sollte dieses Werk heißen, betonte Dallapiccola, da es seit seiner ersten Publikation im Jahr 1911 nichts von seiner Aktualität eingebüßt habe und weit mehr als eine Sammlung von Regeln enthalte.1 Über die spätere Entwicklung hin zur Zwölftontechnik war der 20-jährige Musikstudent jedoch weniger gut informiert. Was 1924 in der Wiener Zeitschrift Musikblätter des Anbruch 2 über Schönbergs Methode zu lesen war, schien ihm zu schematisch und rudimentär. Später verhinderte die politische Entwicklung sowohl in Deutschland wie auch in Italien den freien Zugang zu diesen neuen Erkenntnissen. Jeder blieb auf sich selbst gestellt und leicht das Opfer von Irrtümern. Um 1930 schien die Dodekaphonie überwunden, und überall triumphierte der Neoklassizismus. Luigi Dallapiccola machte darauf aufmerksam, daß er in den 1930er Jahren die Gelegenheit hatte, Werke der Wiener Schule zu hören. Erwähnt werden das 12. Fest der IGNM in Florenz, wo am 3. April 1934 Bergs Lyrische Suite vom Kolisch-Quartett aufgeführt wurde, sowie Hermann Scherchens Dirigat von Bergs Konzertarie Der Wein vom 11. September desselben Jahres. Schließlich kommt die Rede auf das 13. Fest der IGNM in Prag, wo verschiedene, für Dallapiccola entscheidende neue Eindrücke zu erleben waren: das Konzert, op. 24, von Anton Webern, dessen Strukturen für die unvorbereiteten Zuhörenden fast zu konzentriert waren, die Variationen für Orchester, op. 31, von Arnold Schönberg, die eine begeisterte Aufnahme fanden, sowie Bergs 1 2
Vgl. Luigi Dallapiccola, Presentazione della Harmonielehre, in: Ders., Parole e Musica, hrsg. von Fiamma Nicolodi (= La Cultura. Saggi di arte e di letteratura, Bd. 53), Milano 1980, S. 239–246. Erwin Stein, Neue Formprinzipien, in: Arnold Schönberg zum fünfzigsten Geburtstage, 13. September 1924. Sonderheft der Musikblätter des Anbruch 6/7–8 (August–September 1924), S. 286–303.
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Symphonische Stücke aus der Oper „Lulu“, deren Schluß mit dem Gesang der Geschwitz nur mit den Finali von Verdis Otello und Wagners Tristan und Isolde zu vergleichen sei.3 Dennoch schien Dallapiccola lange auf verlorenem Posten für die neue Musik zu kämpfen und litt an Gefängnis-Visionen, die sich in der Komposition der Canti di prigionia und der Oper Il Prigioniero niederschlugen. Die Entdeckung der 1940 in den „Edizioni di Corrente“ von Mailand erschienenen Übersetzungen altgriechischer Lyrik durch Salvatore Quasimodo wirkte aber befreiend. In seiner Jugend wurde Dallapiccola zwar humanistisch ausgebildet, mit Griechisch und Latein, fand aber die „archäologisch“ korrekten Übersetzungen von Professoren zu trocken und akademisch. Quasimodo, der „profondamente permeato di spirito greco“4 gewesen sei, verstand es aber, diese tote Sprache wieder zum Leben zu erwecken. Ob er den Inhalt jener Gedichte, oder besser: Lieder, korrekt wieder gegeben hat, bleibe dahingestellt; entscheidend bleibt, daß diese kurzen Texte den Musiker zwischen 1942 und 1945 zur Komposition von drei kleinen, zusammengehörenden Zyklen inspirierten: den Cinque frammenti di Saffo von 1942, den Due liriche di Anacreonte von 1944/45 und den Sex Carmina Alcaei von 1943. In allen drei Fällen handelt es sich im Grunde um Fragmente, nicht nur bei Sappho, von der – neben einer Unmenge von Bruchstücken, die Herausgeber und Übersetzer immer wieder zu Ergänzung und Komplettierung angeregt haben – nur ein einziges Lied vollständig überliefert ist. Sich aus einzelnen Worten und Silben wieder ein Ganzes zu konstruieren, sich durch die vagen Hinweise auf Götter und Menschen einer grauen Vorzeit zu einem oder zwei Versen inspirieren zu lassen, mußte auch auf den gewissenhaftesten Altphilologen verführerisch wirken. So wird der Forscher unversehens zum Künstler und kann vom Nimbus der frühen Lyrik Griechenlands profitieren, gerade weil sie nur fragmentarisch auf uns gekommen ist. Meine Suche nach den griechischen Originalen in der Gesamtausgabe der Lieder von Sappho und einer Anthologie von antiken Versen blieb erfolglos.5 Ob Quasimodo auch zu diesen geheimen Dichtern gehört, weiß ich nicht. Jedenfalls hätte er es nicht nötig gehabt, sich mit den Namen von Sappho, Alkaios und Anakreon zu schmücken, denn er war selber ein großer Lyriker, was ihm 1959 mit dem Nobelpreis vergolten wurde. Nur kurz sei aber darauf hingewiesen, daß im 20. Jahrhundert das Fragment oder das Unvollendete eine große Faszination auszuüben begann. Was vorher nur am Rande der abgeschlossenen Werke kurze Erwähnung fand, wurde nun eine Kunst3 4 5
Vgl. Luigi Dallapiccola, Parole e musica (Anm. 1), S. 13 und 174. Luigi Dallapiccola, Parole e musica (Anm. 1), S. 490. Ergänzung der Herausgeber: Bei den Texten der fünf Kompositionen handelt es sich um Übersetzungen folgender Fragmente: Die Nr. 1 („Vespro, tutto riporti“) stammt aus dem Buch der Epithalamien (Nr. 120 D.), die Nr. 2 („O mia Gongila, ti prego“) aus dem 1. Buch der Lieder (Nr. 36 D.; freie Nachdichtung), die Nr. 3 („Muore il tenero, Adone“) aus dem 5. Buch der Lieder (Nr. 107 D.), die Nr. 4 („Piena splendeva la luna“) aus dem 5. Buch der Lieder (88 D. und 93 D.), die Nr. 5 („Io lungamente ho parlato in sogno con Afrodite“) ebenfalls aus dem 5. Buch der Lieder (87 D.; freie Nachdichtung). Sappho. Griechisch und deutsch, hrsg. von Max Treu [Tusculum-Bücherei], München 1968, Darmstadt 51976, S. 88f., 42–45, 82f., 70–73 sowie 70f.
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form eigenen Rechts. So konnten die Hymnen Friedrich Hölderlins oder die Gedichte Georg Trakls mit ihren unzähligen Varianten sorgfältig neu ediert werden. Michelangelos Pietà Rondanini in Mailand fand gerade wegen ihrer mißglückten Form viele Bewunderer, und Gustav Mahlers 10. Symphonie wird heute in Konzerten aufgeführt, ohne daß sich das Publikum an den ausgezehrten, letzten Resten einer einstimmigen Melodie ohne akkordische Begleitung störte. Ich wage aber noch weiter zu gehen und die Webernschen Miniaturen auch zu den Fragmenten zu zählen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens fehlt diesen atonalen Stücken ein – auch dem gebildeten Publikum – einleuchtender Schluß; sie brechen ganz einfach ab. Zweitens hat Webern selbst die einzelnen Sätze aus einer Vielzahl von ähnlichen Gebilden ausgewählt, die ebenso aufgeführt werden könnten – ein plausibler Grund für ihre Elimination läßt sich oft mit dem besten Willen nicht finden. Aber nicht nur die frei atonalen Werke mit ihren verhauchenden Schlüssen wirken fragmentarisch, sondern auch die Symphonie, op. 21, mit ihrer minutiösen Konstruktion von Symmetrien und Spiegelbildern, die in einem dritten Satz erst recht zur formalen Abrundung hätten gebracht werden können – Skizzen zu einem Finale existieren, wurden aber nicht ausgeführt. Man könnte meinen, daß Dallapiccola gerade durch die lyrischen Fragmente zu einer ebensolchen Musik angeregt worden wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Die Komposition der Liriche Greche fällt zusammen mit der Aneignung der Zwölftontechnik, zwar in sehr freier Form, aber doch als Zeichen des Widerstands gegen die unter dem Faschismus herrschende Ästhetik. Freilich wurde in Italien das Verbot der atonalen Musik nie so streng befolgt wie in Deutschland – während des Krieges fand in Rom sogar eine Aufführung von Alban Bergs Wozzeck statt. Doch als Zeichen des Nonkonformismus in einer barbarischen Zeit wollte diese neue Kompositionstechnik auf jeden Fall gewertet werden. Wie die griechischen Texte dem Musiker die Existenz eines besseren, menschlicheren Europas bewiesen, so war auch die Musik der drei Wiener Meister für ihn die einzig legitime Fortsetzung der großen Klassiker und Romantiker der Vergangenheit, deren Errungenschaften auf dem Gebiet der Harmonik gerade in Schönbergs Harmonielehre kodifiziert wurden, um den Ausblick auf kommende Entwicklungen zu öffnen und nicht zu verbauen. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß Dallapiccola nur über dürftige Informationen zu Schönbergs „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ verfügte. Er war in jenen düsteren Jahren ganz auf sich allein gestellt und sah in Schönbergs Kompositionstechnik vor allem die melodischen Möglichkeiten, die er schon in Tre Laudi von 1937 auszuschöpfen begann. Aber nicht die hochexpressiven Gesangslinien mit ihren großen Intervallsprüngen (mit großer Septime, kleiner None und Tritonus) suchte er von Webern zu übernehmen. Sein Ziel war eine Melodik in relativ kleinem Ambitus, wobei er auf die Prosodie und Textverständlichkeit Rücksicht nahm. Dabei unterliefen ihm Oktavrelationen und tonale Wendungen, die er bei besserer Kenntnis der Webernschen Technik später vermeiden sollte. Doch die „cantabilità“ der vokalen Linien gab er auch später nie auf. In
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den Liriche Greche übernehmen auch die Instrumente diesen kantablen Duktus und bilden zusammen mit dem Gesang sehr oft Kanons, die schon beim bloßen Hören leicht wahrzunehmen sind. Die Möglichkeit, daß die Reihen durch Oktavversetzungen einzelner Töne und individuelle rhythmische Gestaltung kaum mehr zu identifizieren sein könnten, wird nicht ausgeschöpft. Auch auf Wiederholungen verzichtet Dallapiccola nicht, ungeachtet der Tatsache, daß laut Schönberg „Wiederholung ohne Variation leicht eintönig wirken kann“.6 Vielmehr gliedern gut erkennbare Wiederholungen die Formen, und der Gedanke, die Reihen auch vertikal zu verwenden und so die von Schönberg angestrebte Einheit von Zeit und Raum zu erreichen, nimmt der Komponist nur ganz am Rande auf. Dallapiccola ist hier noch frei von jenem religiösen Pathos, das ihn später in den Cinque Canti zu esoterischen Konstruktionen beflügeln wird. Die schon erwähnten Kanons sind sicher Webernschen Einflüssen zuzuschreiben – und Kanonkompositionen stehen zu einem guten Teil am Anfang der Reihenkompositionen strenger Observanz (man denke an Weberns Opus 16). Dennoch halten sie sich in einem maßvollen Rahmen und zollen dem Text ihren Respekt. Dallapiccola wollte, daß die drei Teile des Werkes nicht einzeln aufgeführt, sondern nur durch kurze Pausen unterbrochen werden, obwohl die 17 Instrumente nicht überall mitwirken; ihre Zahl schwankt zwischen 15 im ersten und 4 im zweiten Teil. Der Komponist macht dazu weiter keine Bemerkung, aber der Einfluß von Arnold Schönbergs Pierrot lunaire, den der junge Dallapiccola am 1. April 19247 in Florenz hörte, darf vermutet werden. Auch dort wirken nicht alle Instrumente in jeder Nummer mit; sie sind zwar nicht so häufig kanonisch geführt wie in den Liriche Greche, zeigen aber dieselbe ganz aus dem Melodischen konzipierte Selbständigkeit. Vielleicht kannte Dallapiccola auch Strawinskys Trois poésies de la lyrique japonaise und Ravels Trois poèmes de Stéphane Mallarmé, doch fehlen mir dazu biographische Hinweise. Werke für Sologesang mit Begleitung eines Ensembles waren allerdings im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sehr beliebt und haben noch bis hin zu Pierre Boulez’ Le marteau sans maître und Pli selon pli als Vorbilder weitergewirkt. Im folgenden8 seien einige Ausschnitte der Partitur vorgestellt, die zeigen können, wie weit sich Dallapiccola die Technik der Wiener Meister Schönberg, Berg und Webern aneignete, wobei er einen ganz persönlichen Beitrag zur Komposition mit zwölf Tönen leistete. Nicht nur aus Unkenntnis der genauen Regeln, sondern aus den Bedingungen der italienischen Musik heraus kam der Komponist zu von der Norm abweichenden Lösungen. 6 7 8
Arnold Schönberg, Die Grundlagen der musikalischen Komposition. Ins Deutsche übertragen von Rudolf Kolisch, hrsg. von Rudolf Stephan. Text. Wien 1967, S. 20. Vgl. Luigi Dallapiccola, Parole e musica (Anm. 1), S. 448. Ergänzung der Herausgeber: Die hier besprochenen Werke sind sämtlich in Schönbergs Nachlaß vorhanden: Luigi Dallapiccola, Cinque frammenti di Saffo per una voce e orchestra da camera, Milano 1946 (Edizioni Suvini Zerboni); Due liriche di Anacreonte per Canto, Clarinetto piccolo in Mi bem., Clarinetto in La, Viola e Pianoforte, Milano 1946 (Edizioni Suvini Zerboni); Sex Carmina Alcaei, una voce canenda, nonnullis comitantibus musicis, Milano 1946 (Edizioni Suvini Zerboni). Arnold Schönberg Center, Wien (PM/med 5).
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Das erste Stück der Cinque frammenti di Saffo beginnt gleich mit einem zweitaktigen Ritornell, das in der Folge die Musik gliedern wird (T. 8f., 17f. bzw. 17–20):
Beispiel 1: Luigi Dallapiccola, Cinque frammenti di Saffo, Nr. I, T. 1–3.
Über einem Bordunbaß der Quinte cis-gis erscheinen andere Quinten in Parallelbewegung, die an die Quinten der Gräfin Geschwitz im letzten Satz von Symphonische Stücke aus der Oper „Lulu“ erinnern; sie wurden, wie hier schon erwähnt, von Dallapiccola 1935 begeistert aufgenommen. Zugleich ist die Tonalität der Stelle, obwohl das chromatische Total exponiert wird, nur leicht verschleiert und deutlich auf Cis zentriert, was widerum von Alban Berg angeregt sein könnte. Das e’ des Fagotts, das leicht betont werden sollte, wäre nichts anderes als ein Vorhalt zu dem folgenden eis’, der Dur-Terz über dem Cis, während das dis die neuvième ajoutée und das ais
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die sixte ajoutée des Akkords darstellen. Auf jeden Fall wirkt der Abschluß dieses Ritornells wie eine Auflösung der vorher aufgebauten Spannung und könnte auch als eine pentatonische Quintenschichtung (Cis-Gis-dis-ais-eis’; = cis-dis-eis-gis-ais) interpretiert werden, was erneut auf die Musik der Geschwitz hinweist; dies auch unter dem Aspekt, daß sich die Gesangsstimme zunächst ebenfalls der Halbtöne enthält: c-es-ges-h-a-e-g-b-des. Im fünften Stück der Cinque frammenti di Saffo erscheint wieder ein (diesmal dreitaktiges) Ritornell; es ist mit dem ersten verwandt und tritt dann auch im zweiten Gedicht von Anakreon (T. 37f., T. 44ff. und 47f., wobei es die hier ausgearbeiteten Variationen motivisch insgesamt grundlegend bestimmt) sowie im ersten von Alkaios (T. 1f.) in variierter Form wieder auf.
Beispiel 2: Luigi Dallapiccola, Cinque frammenti di Saffo, Nr. V, T. 82–84.
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Die Zwölftonreihe (cis-gis-d-a-g-c-fis-h-es-b-f-e) enthält Isomorphien: Die zweiten 4 Töne (g-c-fis-h) können leicht als Umkehrungen und zugleich Krebsformen der ersten 4 wahrgenommen werden, worauf die Reihe transponiert in der Umkehrung wiederholt wird (e-a-es-as-b-f-h-fis-d-g-c-cis). Wieder handelt es sich um Quinten wie im ersten Beispiel, die im Abstand einer kleinen None (cis-gis /d-a) oder einer großen Sekunde (g-c /fis-h) wiederholt werden. Die Spiegelungen und Symmetrien innerhalb der Reihen verweisen nun deutlich auf den Einfluß Anton Weberns, der oft mit solchen Strukturen arbeitete. Ganz anders gestaltet ist das erste Gedicht von Anakreon:
Beispiel 3: Luigi Dallapiccola, Due liriche di Anacreonte, T. 1–8.
Man spricht hier besser von Zwölftonmelodien als von Zwölftonreihen, die in ausgesprochen sangbarer Form einen dreistimmigen Kanon bilden. Die Grundreihe,
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deren erster Einsatz der Klarinette anvertraut ist, lautet dis-e-d-g-eis-fis-h-gis-a-c-b-des, doch entwickelt Dallapiccola aus ihr durch einige Tonwiederholungen eine kantable Melodie, die sowohl kurzzeitig Zentren andeutet als auch immer wieder tonale Felder anklingen läßt: dis-e-dis-d-d-g-eis-fis-h-gis-a-a-c-b-c-b-des[-f-d-e-cis]. Zunächst wirkt das dis leittönig (zum e), dann erscheint die Folge d-g-eis[=f] als tonale Insel, der sogleich eine zweite sowie eine dritte folgen: fis-h-gis-a bzw. a-c-b-des, doch auch die abschließende Folge des [=cis]-f-d-e-cis wirkt tonal, insbesondere angesichts der dort gleichzeitig erklingenden Sopran-Linie des [=cis]-h-cis-h-d[-fis]. Den Kanon komplettierten Sopran (Einsatzton e) sowie Clarinetto piccolo (Einsatzton f ), sodaß sich insgesamt ein chromatisches Aufwärts-Streben ergibt, das im (die Sopran-Melodie weiterführenden) fis der Viola kulminiert. Und dieses fis begründet nun den Beginn des als schnelle Figuration eingebrachten transponierten Krebses (fis-dis-f-d-cis-e-h-aisc-g-a-gis) der Reihe, der dann sofort noch einmal in augmentierter und um einen Ton nach oben transponierter Form erklingt (T. 8 mit Auftakt). Der Schlußton des zunächst erklingenden Krebses (T. 6), das gis, wird interessanterweise nur als Verzierung eingebracht, sodaß das danach als tatsächlicher Abschluß der Linie erklingende a (T. 7) wie ein tonales Zentrum einer in diesen Ton strebenden Linie wirkt, was durch das gleichzeitig von der Klarinette eingebrachte (liegende) cis noch verdeutlicht erscheint. Der tatsächliche strukturelle Schlußton gis wird jedoch nachträglich bedeutungsvoll unterstrichen: in drei Oktaven erklingt es als as im Klavier. – Später werden auch Umkehrungen auftreten, die aber ebenfalls immer gut erkennbar bleiben. Einen Sonderfall ganz ungewohnter Verdichtung des Materials stellen die Variazioni, das zweite Stück auf einen Text von Anakreon, dar (Beispiel 4). Die Singstimme exponiert die transponierte Reihe von Beispiel 2 (cis-gis-d-a-g-c-fis-hes-b-f-e, hier h-fis-c-g-f-b-e-a-cis-gis-es-d) mit anderen Oktavlagen, und die Instrumente bringen dieselbe Reihe akkordisch in der Krebsform (d-es-as usw.). Das Verfahren mutet eher summarisch an, ist aber eine der seltenen Passagen, in welcher Horizontale und Vertikale vereinheitlicht sind. Im fünften Stück der Alkaeischen Verse tauchen nun weit komplexere Kanonstrukturen auf, die wie in Johann Sebastian Bachs Musikalischem Opfer oder der Kunst der Fuge mit lateinischen Titeln angezeigt werden: „Canon duplex contrario motu“, gefolgt von der „Conclusio“ der Nr. VI (Beispiel 5). Der zierlich tänzerische Rhythmus („ritmato con grazia“ sowie „ritmo di tre battute“) verschleiert souverän die Tatsache, daß es sich um satztechnische Kunststücke von der schwierigsten Art handelt. Auch hier mag Webern Pate gestanden haben, aber die Musik weist weit hinter Johann Sebastian Bach auf die Niederländer zurück, die aus dem Norden nach Italien kamen und einen kunstvoll verschnörkelten, an die zeitgleiche Gotik erinnernden Stil pflegten. Auch Webern kannte diese Musik, hatte er doch mit einer Arbeit über den Choralis Constantinus von Heinrich Isaac promoviert. Es kann deshalb nicht erstaunen, daß ihm die Sex Carmina Alcaei gewidmet wurden.
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Beispiel 4: Luigi Dallapiccola, Due liriche di Anacreonte, T. 37–44.
Trotz all der Parforce-Touren klingt Dallapiccolas Musik aber sehr angenehm, und die kontrapunktischen Verflechtungen sind leicht durchhörbar, womit das mediterrane Erbe bewahrt bleibt. Die lateinischen Nationen berufen sich immer wieder auf die Gesetze der Wahrnehmung, die man nicht zugunsten von abstrakten Zusammenhängen vernachlässigen dürfe. Und gerade im 20. Jahrhundert grenzten sich Franzosen und Italiener immer wieder gegen die deutsche Musik ab, indem sie Strukturen forderten, die eine adäquate Perzeption ermöglichen (so in jüngster Zeit Spektralisten gegen Serialisten).
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Beispiel 5: Luigi Dallapiccola, Sex Carmina Alcaei, Nr. V, T. 19f. (1–4 bzw. 1–12).
Wie gezeigt wurde, findet Dallapiccola eine höchst persönliche Form der reihentechnischen Musik. Er fühlte sich den drei Wiener Meistern verpflichtet, verteidigte aber seine Eigenständigkeit. Wenn er Schönberg mit Columbus9 verglich, der glaubte, den Seeweg nach Indien gefunden zu haben, aber einen ganzen neuen Kontinent, Amerika, entdeckte, so gehört auch Dallapiccola zu den von Schönberg nicht gewollten Entdeckungen, die aber historisch relevant sind, gerade weil sie zu neuen Resultaten führten. Künstlerische Entwicklungen pflanzen sich oft durch Mißverständnisse fort, während die getreue Befolgung von Schulregeln nur epigonale Leistungen hervorbringt. 9
Luigi Dallapiccola, Der 13. September, in: Stimmen (Zum 75. Geburtstag Arnold Schönbergs) 16 (1949), S. 455f.
PIERLUIGI PETROBELLI (Rom) †
Luigi Dallapiccola: Tre poemi
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Luigi Dallapiccola hat in seinen Schriften mehrfach hervorgehoben, daß seine Hinwendung zur Zwölftonmethode auf einer bewußten Haltung beruhe und nicht ausschließlich musikalisch motiviert sei. Er verortete diese Hinwendung für sich in einer unabdingbaren „Notwendigkeit“ sich „auszudrücken“1 – eine Formulierung, die über seine grundlegende Haltung der Musik gegenüber beredte Rückschlüsse erlaubt. Für Dallapiccola stellte Musik, und insbesondere die Komposition, eine gründlich reflektierte und verantwortungsvolle Interpretation der Lebensgrundsätze im allgemeinen sowie der universellen und geschichtlichen Stellung des Menschen im speziellen dar. – Ein ethischer Ansatz, der zugleich auf jenen Vorgang abzielt, in dem der Komponist, als Individuum, mit einer genuin künstlerischen Sensitivität eine Schau der Welt zu repräsentieren vermag. Ein Künstler von derart ernsthaftem und bekennendem Anspruch mußte von der durch Schönberg formulierten Kompositionsmethode geradezu fasziniert sein, folgerichtig aufgrund deren intellektueller Strenge und inhärenten „neuen Dialektik“2. Zwei Ereignisse hatten einen wesentlichen Einfluß auf diese Hinwendung: zunächst eine Aufführung von Schönbergs Pierrot lunaire unter der Leitung des Komponisten selbst, die in Florenz am 1. April 1924 stattfand3 und dem 20jährigen Dallapiccola eine gänzlich neuartige musikalische Welt erschließen sollte. Es folgte eine Aufführung mit Anton Weberns Konzert, op. 24, und Schönbergs Variationen für Orchester, op. 31, die Dallapiccola 1935 in Prag beim IGNM-Fest hören konnte. Über Webern schrieb er danach: „Ich war nicht imstande, mir ein genaues Bild von dieser Arbeit zu machen; sie war für mich zu schwierig, doch daß sie trotzdem eine Welt bedeutet, scheint mir außer Zweifel. Wir sehen uns einem Künstler gegenüber, der ein Höchstmaß an Ideen mit einem Mindestmaß an Worten ausdrückt. Obwohl ich das Werk nicht gut verstanden hatte, glaubte ich darin eine ästhetische und stilisti-
* Aus dem Englischen durch die Herausgeber übersetzt. 1
2 3
Luigi Dallapiccola, [ohne Titel]; zit. nach Josef Rufer, Die Komposition mit zwölf Tönen (= Stimmen des 20. Jahrhunderts, Bd. 2), Berlin und Wunsiedel 1952, S. 162–165, hier S. 162. Dallapiccolas Antwort auf eine durch Rufer an verschiedene Komponisten (darunter Boris Blacher, Wolfgang Fortner, Hans Werner Henze, Ernst Krenek) gerichtete Rundfrage über deren Erfahrungen mit der Zwölftonkomposition. Luigi Dallapiccola, Sulla strada della dodecafonia, in: Appunti, Incontri, Meditazioni, Milano 1970, S. 160. Vgl. Luigi Dallapiccola, Parole e Musica, hrsg. von Fiamma Nicolodi (= La Cultura. Saggi di arte e di letteratura, Bd. 53), Milano 1980, S. 448.
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sche Einheitlichkeit wahrzunehmen, wie ich sie größer nicht hätte wünschen können.“4
Italien war in jener Zeit faschistisch dominiert und sollte bald ein Verbündeter des nationalsozialistischen Deutschland werden. Die Werke Schönbergs und seiner Schüler waren weitgehend nicht zugänglich, geschweige denn aufgeführt, und galten als „entartet“ sowie anti-national. Das Studium dieser Werke und das Erlernen ihrer Kompositionstechnik gestaltete sich dadurch als äußerst schwierig. Naturgemäß konnte sich die Zwölftonmethode erst nach und nach zu einem integralen Bestandteil von Dallapiccolas Stil entwickeln und wurde in systematischer Weise erst dann angewandt, als sich der Komponist darin sicher bewegen konnte. Es ist bezeichnend, daß die Zwölftonmethode systematisch erstmals in jenen Kompositionen Dallapiccolas Anwendung findet, die einen Bekenntnischarakter erkennen lassen bzw. einen direkten Reflex auf die tragischen Ereignisse jener Jahre darstellen; jene Werke, die eine offene Protesthaltung gegen die Greuel des Krieges widerspiegeln, oder – als extremste Reaktion auf dessen Horror – diesen mittels einer rein poetischen Betrachtung über Schönheit überformen. Ich denke, es ist kein Zufall, daß Zwölftonreihen erstmals in der Oper Volo di notte von 1937–39 eingesetzt werden, danach weit deutlicher und formbildend in Canti di prigionia (komponiert zwischen 1938 und 1941), und daß schließlich die Liriche greche (1942–45) die ersten durchwegs zwölftönig komponierten Stücke darstellen. Persönliche Begegnungen mit den Wiener Meistern sollten zu herausragenden Momenten in Dallapiccolas Biographie zählen. Berg und Webern traf er jeweils nur einmal; Berg bei einem Festival zeitgenössischer Musik in Venedig 1934, und Webern am 9. März 1942 in Wien. Nach dieser Zusammenkunft schrieb Webern an den italienischen Komponisten: „Nun möchte ich sagen: seien Sie versichert, daß mir im ersten Augenblick unserer Begegnung klar geworden war, welche Welt sich mir hier eröffnen würde. Mag auch Ihre Art der Darstellung von der meinen recht verschieden sein, die Gedankenkreise liegen doch, so fühle ich es, ganz nahe beisammen. In diesem Sinne haben wir wohl einen gemeinsamen Weg. Es beglückt mich, dies aussprechen zu können.“5
Schönberg indes war 1933 gezwungen, Europa zu verlassen. Allein aus diesem Grunde konnte Dallapiccola keinen persönlichen Kontakt mehr zu ihm knüpfen. Erst im Jahr 1949 fand er – nach eigenen Worten – „zum erstenmal den Mut“,
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5
Luigi Dallapiccola, Incontro con Webern, in: Il Mondo: lettere scienzi arti musica 1/15 (3 novembre 1945); autorisierte deutsche Teilübersetzung: Begegnung mit Anton Webern, in: Melos 32/4 (April 1965), S. 115–117, hier S. 115. Fondo Dallapiccola (Archivio Contemporaneo del Gabinetto G. P. Vieusseux, Firenze); faksimiliert in: Mila De Santis (Hg.), Ricercare. Parole, musica e immagini dalla vita e dall’opera di Luigi Dallapiccola, Firenze 2005, S. 83.
Luigi Dallapiccola: Tre poemi
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Schönberg in einem Brief anzusprechen6 und ihn zu fragen, ob er die Widmung eines Werkes annehmen wolle, das Dallapiccola anläßlich von dessen 75. Geburtstag komponiert hatte. Es handelte sich hierbei um die Tre poemi, deren Partitur im letzten Takt des dritten Gedichts die Inschrift „13. September 1949“ (= Schönbergs Geburtstag) trägt. Die Tre poemi stellen insofern eine sehr spezifische Hommage-Komposition dar, als sie die persönliche Huldigung an einen Künstler widerspiegeln, der für Dallapiccola einen „Columbus“7 neuer Musik verkörperte, Entdecker einer neuen Welt, die auch seine eigene musikalische Heimat geworden sei. Verbunden mit dem Dank für eine erwiesene Geburtstagsgratulation richtete Schönberg am 16. September 1949 aus Los Angeles sein erstes Schreiben an Luigi Dallapiccola: „Mon cher Mr Dallapiccola: Je ne peux pas écrire assez bien en français et il y aura un trop grand nombre de fautes, c’est pourquoi je vais écrire en allemand. Man hat mir nämlich erzählt, dass Sie in Wien gelebt und bei Webern studiert haben. Wenn das richtig ist, so wissen Sie vielleicht einiges über sein Leben und seinen Tod. Es wäre mir lieb, wenn Sie mir etwas darüber schreiben wollten. Ich möchte auch gerne Ihre Musik sehen. Ich habe von Leibowitz und Stein darüber gehört und das hat mich sehr interessiert. Soviel ich verstanden habe, ist es Ihr Bestreben, unnötigen Härten, die scheinbar durch 12-Tonreihen bedingt sind auszuweichen. Es ist das auch mein Bestreben und sofern es mir nicht völlig gelingt, muss ich hoffen, dass die Zukunft darin Härten so wenig sehen wird, als wir heute Härten in Wagner sehen. Oder dass sie sie in Kauf nimmt. Es ist schade, dass Sie in Florenz nicht zu mir gekommen sind. Ich habe mich immer gefreut junge Leute zu sehen, insbesondere, wenn sie wie junge fühlen. So alt ich heute bin, so habe ich für die Jugend noch immer soviel Sympathie, als wenn ich noch Einer der ihren wäre. Das ist aber leider vorbei! Auf Puccini’s Besuch der Pierrotaufführung war ich immer stolz. Es war sicherlich ein Zeichen menschlicher Größe, dass er da zu mir gekommen ist – und eine große Freundlichkeit. Ich hoffe bald von Ihnen zu hören Herzlichen Dank für Ihren Brief. Ihr Arnold Schönberg“8
Die Schönberg gewidmeten Tre poemi 9 beruhen auf Texten von James Joyce, Michelangelo und Manuel Machado. Das erste Gedicht, Eine Blume meiner Tochter (in 6 7 8 9
Luigi Dallapiccola an Arnold Schönberg, 9. September 1949 (The Library of Congress, Washington D.C., Arnold Schoenberg Collection). Luigi Dallapiccola, Der 13. September, in: Stimmen (Zum 75. Geburtstag Arnold Schönbergs) 16 (1949), S. 455f. Nachschrift auf einem Rundschreiben („Erst nach dem Tode anerkannt werden“); zit. nach einer am Arnold Schönberg Center, Wien (Laura Dallapiccola Collection) aufbewahrten Kopie. Zwei Exemplare der Komposition, verlegt von Hermann Scherchen in Zürich, sind in Schönbergs Nachlaß vorhanden: Luigi Dallapiccola, Tre poemi per una voce e orchestra da camera (Variazioni sopra una serie di dodici note). Partitura e riduzione per pianoforte, Zürich 1949 (Ars Viva). Arnold Schönberg Center, Wien (PM/med 5).
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einer wunderbaren italienischen Übersetzung von Eugenio Montale), entstammt Joyces Pomes Penyeach.
Abbildung 1: Luigi Dallapiccola, Tre poemi, Widmung; Nr. 1, Textvorlage.
Es folgt das Fragment einer „Ballata“ von Michelangelo, einer düsteren Betrachtung über den Tod in einem an die Predigten Savonarolas erinnernden Stil; ein „coro di morti“ (Chor der Toten) gemahnt die Lebenden an das Fliehen der Zeit und jenes Ende, das jeden Geborenen erwarte, da „die Sonne nichts am Leben“ lasse.
Abbildung 2: Luigi Dallapiccola, Tre poemi, Nr. 2, Textvorlage.
Luigi Dallapiccola: Tre poemi
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Das dritte Gedicht ist der Ars moriendi des Manuel Machado entnommen, von Dallapiccola selbst aus dem Spanischen ins Italienische übersetzt.
Abbildung 3: Luigi Dallapiccola, Tre poemi, Nr. 3, Textvorlage.
Trotz erheblicher Unterschiede in Entstehungszeit, Sprache und Stil werden die drei Gedichte von einem gemeinsamen Thema getragen; es sind Reflexionen über die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens. Das Fragile einer Rose bei Joyce, dargereicht durch die Tochter, Vergänglichkeit von Lebensdauer und Lebensfreude in der Ballade des Michelangelo, und schließlich die Endlichkeit des Lebens, die in Machados Dialog zwischen Mutter und Sohn als jene Ruhe beschworen wird, in der es keine Gedanken, keine Gefühle und keine Träume mehr gibt. Die drei Gedichte sind somit Variationen über das uralte Thema der Kürze unseres Lebens, das stets im Blick auf den Tod als höchstem Ziel gerichtet ist. In dieser Stofflichkeit der gewählten Texte begründet sich auch die musikalische Form der Tre poemi, es sind dies „Variationen über eine Reihe von zwölf Tönen“. Über Schönbergs eigene Variationen für Orchester, op. 31, die auf Dallapiccola 1935 in Prag großen Eindruck gemacht hatten, schrieb er später: „In der klassischen Musik ist das Thema nahezu immer einer melodischen Umgestaltung unterworfen, indes der Rhythmus weitgehend unverändert bleibt. In einer auf Reihen basierenden Musik muß die Gestaltung auf eine Anordnung von Tönen abzielen, die von Fragen des Rhythmus unabhängig ist.“10
Mit einem Schreiben vom 10. Dezember 1949 nahm Schönberg die Widmung der Tre poemi erfreut an: „Lieber Freund: Ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief, der mich ausserordentlich gefreut hat. Selbstverständlich nehme ich mit grossem Vergnügen die Widmung ihrer Komposition an. Es ist mir ein grosses Vergnügen, durch die Widmung Ihres höchstinteressanten neu[e]n Werkes zu erfahren, dass Sie ein wirklicher Freund sind[,] und das ist auch[,] warum ich Sie am Beginn dieses Briefes als ,Lieber Freund‘ anspreche. Die Idee[,] Variationen für eine Singstimme zu schreiben[,] ist äusserst originell un[d] vielversprechend. Ich beneide Sie darum, dass Sie das getan haben. Scha10
Luigi Dallapiccola, On the Twelve-Tone Road, in: Music Survey 4/1 (October 1951), S. 318–332, hier S. 323.
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de, dass mir das nicht eingefallen ist. Was sind die 14 Instrumente? Ich bin schon sehr neugierig diese Partitur zu sehen. Hoffentlich ist Scherchen auch rasch genug mit Druck bei der Hand, so dass ich es bald bei mir habe. Ich bin mit vielen herzlichen Grüssen und dem Bedauern, dass ich Ihnen nicht Französisch oder Italienisch schreiben kann, Ihr, Arnold Schoenberg“
Die Variationen in den Tre poemi sind – wie Dallapiccola in anderem Zusammenhang reklamierte – „auf die Durchdringung aller Möglichkeiten des Systems“11 einer zwölftönigen Partitur gerichtet, realisiert durch oktavierte Transpositionen von Intervallen, also der Formulierung linear verlaufenden Materials in verschiedenen Lagen, aber auch mittels Verwendung kanonischer Elemente in unterschiedlichen zeitlichen Abständen und rhythmischen Alterationen. Die drei Sätze des Werkes basieren auf derselben Reihe, die am Beginn des ersten Gedichts vom Sopran vorgestellt wird:
Beispiel 1: Luigi Dallapiccola, Tre poemi, Nr. 1, T. 1–3.
Das erste Gedicht ist beinahe ausschließlich auf die Singstimme hin konstruiert, auf melodischer Ebene eine vollständige Ausschöpfung reihentechnischer Möglichkeiten. In einem Essay, der im zeitlichen Umfeld der Tre poemi entstand, bekannte Dallapiccola: „Für mich persönlich war das Gebiet, das mich bisher am Zwölftonsystem am meisten anzog, das m e l o d i s c h e .“12
Im zweiten Gedicht beginnt die Reihe tiefer transponiert, hat einen gänzlich anderen klanglichen Charakter und ist zudem auf die verschiedenen Instrumente verteilt. Der ganze Satz ist nach den Prinzipien des Kanons konstruiert, wie etwa am Mittelteil ablesbar ist (Beispiel 2). Im dritten und letzten Gedicht kehrt die Reihe in der Originalgestalt des ersten Stückes wieder, hier jedoch rhythmisch variiert.
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Ders., [ohne Titel] (Anm. 1), S. 164. Ebenda.
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Beispiel 2: Luigi Dallapiccola, Tre poemi, Nr. 2, T. 41–45.
Die neue „Aussprache“ der Melodie, angereichert durch eine polyphone Artikulation des Orchestersatzes, wird zum wiederholten Male kanonisch entwickelt. Folglich vereint der letzte Abschnitt der Tre poemi jene Elemente, die jeweils die ersten beiden Sätze dominiert hatten (Beispiel 3).
Beispiel 3: Luigi Dallapiccola, Tre poemi, Nr. 3, T. 85ff.
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Durch Klarheit und Prägnanz der Organisation entsteht ein musikalischer Diskurs von ausgesuchter Schönheit, in dem eine düstere Betrachtung menschlichen Lebens einen lyrischen Niederschlag findet, vergleichbar den stilistischen Ansätzen in Dallapiccolas Liriche greche und insbesondere in den Due liriche di Anacreonte, in welchen die Organisationsprinzipien von Kanon und Variation ebenso Anwendung finden. In dieser Huldigung an Schönberg erreichte Dallapiccola eine Klarheit und Ökonomie der Sprache, die durchaus jener Weberns vergleichbar ist; indem diese Sprache die Zwölftontechnik hier melodisch und in einer extremen rhythmischen Flexibilität ausschöpft, knüpft Dallapiccola an einer der Hauptströmungen italienischer Musiktradition an.
DIETRICH KÄMPER (Köln)
„Spazio immenso e infiniti mondi“ Zur Frage der Beziehungen zwischen Nono und Dallapiccola*
Die Frage nach den Beziehungen Nonos zu Dallapiccola hat erstaunlicherweise bisher nur geringes Interesse gefunden. Die Untersuchungen Horst Webers und Gianmario Borios zu diesem Thema erstrecken sich über Nono hinaus auch auf Maderna und Berio; überdies beschränken sie sich auf den kurzen Zeitraum der Jahre 1946–54.1 Einzig Livio Aragona hat den Wechselbeziehungen zwischen den beiden Komponisten eine längere Studie gewidmet und ist dabei zur Hypothese einer „ricezione incrociata“ gelangt.2 Dieses so auffallend geringe Interesse der Musikforschung überrascht umso mehr, als Nono selbst mehrfach deutliche Hinweise zu diesem Thema gegeben hat. In der Autobiographie seiner Studienjahre, die sich aus den Gesprächen des Jahres 1987 mit Enzo Restagno herausdestillieren läßt, spricht Nono von seiner „grenzenlosen Bewunderung Dallapiccolas“, die vor allem aus dem eingehenden Studium von dessen Liriche greche resultiere;3 und schon acht Jahre früher, in einer Programmnotiz zur Mailänder Uraufführung von Con Luigi Dallapiccola 1979, rühmt er an Dallapiccola die „spazi molteplici del suo pensiero musicale“, die er einer „nuova lettura“ empfehlen wolle.4 Es erscheint also dringend geboten, den hier aufgeworfenen Fragen einmal ausführlicher nachzugehen und dabei auch Nonos spätere Werke – über den Canto sospeso und die Intolleranza 1960 bis zum Prometeo – in die Betrachtung einzubeziehen. Daß ausgerechnet der Autor eines Dallapiccola-Buches sich dieser Aufgabe unterzieht, scheint die Gefahr einer allzu einseitigen Perspektivierung in sich zu bergen. Deshalb sei hier vorausgeschickt, daß keineswegs die Absicht besteht, „auf Biegen und Brechen“ Einflüsse * Der am 19. Oktober 2004 beim Symposion „Zum 100. Geburtstag von Luigi Dallapiccola“ am Arnold Schönberg Center in Wien referierte Beitrag wurde erstmals veröffentlicht in: MusikTexte. Zeitschrift für Neue Musik 124 (Februar 2010), S. 45–56. 1 Horst Weber, Dallapiccola–Maderna–Nono. Tradition in der italienischen Moderne, in: Bericht über den 2. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft. „Die Wiener Schule in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Wien, 12. bis 15. Juni 1984, hrsg. von Rudolf Stephan und Sigrid Wiesmann (= Publikationen der Internationalen Schönberg-Gesellschaft, Bd. 2), Wien 1986, S. 93–98; Gianmario Borio, L’influenza di Dallapiccola sui compositori italiani nel secondo dopoguerra, in: Dallapiccola. Letture e prospettive. Atti del Convegno Internazionale di Studi (Empoli-Firenze 16–19 febbraio 1995), hrsg. von Mila De Santis, Milano-Lucca 1997, S. 357–387. 2 Livio Aragona, Strategie seriali in Requiescant, in: Dallapiccola. Letture e prospettive (Anm. 1), S. 203–232. 3 Luigi Nono, Dokumente. Materialien, hrsg. von Andreas Wagner (= Netzwerk Musik Saar, Bd. 1), Saarbrücken 2003, S. 115. 4 Ders., Einführungstext zu Con Luigi Dallapiccola, in: Programm der Uraufführung Mailand, Teatro alla Scala, 4. November 1979; jetzt auch in: Ders., Scritti e colloqui, hrsg. von Angela Ida de Benedictis und Veniero Rizzardi, Bd. 1, Milano-Lucca 2001, S. 483–484.
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Dietrich Kämper
oder gar Abhängigkeiten buchhalterisch zu konstatieren. Nono selbst hat mit Bezug auf Con Luigi Dallapiccola eindringlich vor einem allzu vordergründigen, oberflächlichen Verständnis des „fratello“-Motivs in dieser Komposition gewarnt. Es wird also darum gehen, die „Bruderschaft“ zwischen diesen beiden Komponisten in ihrer ganzen Weite und Tiefe auszuloten. Nono lernte Dallapiccola im Jahre 1946 kennen. Sein Lehrer Malipiero hatte beide miteinander bekannt gemacht. Mit großer Wahrscheinlichkeit kannte Nono damals bereits einige Kompositionen Dallapiccolas, denn Malipiero hatte ihn – als Gaststudenten des venezianischen Konservatoriums – bei dem Dallapiccola-Schüler Raffaele Cumar studieren lassen. Geradezu ein Schlüsselerlebnis für Nonos weitere Entwicklung wurde die Begegnung mit Dallapiccolas Zyklus der Liriche greche. Angeregt durch eine Wiedergabe dieser Kompositionen im Radiosender Turin hatte Nono sogleich den brieflichen Kontakt gesucht. In seiner Antwort hob Dallapiccola die zyklische Konzeption der Liriche greche hervor, die durch die bruchstückhafte Rundfunk-Aufführung unverständlich bleiben mußte. Er schrieb: „L’esecuzione di Radio-Torino ebbe anche una grave manchevolezza: cioè l’omissione delle Due liriche di Anacreonte, che devono fare da centro fra Saffo e Alceo. Ritengo sia questa una delle ragioni per cui Ella non si è reso conto esattamente di ciò che volli fare (che ci sia riuscito o no, è un altro discorso); ma non ho inteso scrivere la musica in contraddizione al testo. Anzi: ho scelto un testo assai ‚vago’ appunto perchè volevo poter scrivere una cosa ‚vaghissima’ pur adottando contorni fra i più precisi (canoni, ecc.) che si possano immaginare.“5
Nono und sein älterer Mitstudent Bruno Maderna waren von Malipiero damals auf die Kanonkünste der alten Niederländer hingewiesen worden. Seither betrieben sie einen intensiven Austausch von Rätselkanons. Auch aus diesem Grunde mußten die Liriche greche Dallapiccolas eine große Faszination auf beide ausüben – insbesondere das Schlußstück mit dem barockisierenden Titel Sex Carmina Alcaei una voce canenda, nonnullis comitantibus musicis (canones diversi, motu recto contrarioque, simplices ac duplices, cancrizantes, etc., super seriem unam tonorum duodecim). Einige Wendungen dieses lateinischen Titels geben einen unmißverständlichen Hinweis auf ein – neben den alten Niederländern – weiteres Vorbild Dallapiccolas: die Kanons in Johann Sebastian Bachs Spätwerk. Von entscheidender Bedeutung aber waren letztlich die Kanonstrukturen im Spätwerk Weberns; sie bildeten das für Dallapiccola wohl wichtigste Modell. Seit den frühen 1930er Jahren hatten die Webern-Aufführungen der IGNM-Festivals tiefe Eindrücke hinterlassen. 1938 war Dallapiccola zum Londoner Festival gereist, um die von Hermann Scherchen geleitete Uraufführung der Kantate Das Augenlicht zu erleben. (Der Name Scherchens wird im folgenden noch eine wichtige Rolle spielen.) Die erste und einzige persönliche Begegnung zwischen
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Lugi Dallapiccola an Luigi Nono, 16. November 1947 (Archivio Luigi Nono, Venedig).
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Dallapiccola und Webern erfolgte im Frühjahr 1942 in Wien.6 Sie gab den unmittelbaren Anstoß zur Komposition der Liriche greche, die im April 1942 begonnen wurden. Der Plan, die Sex Carmina Alcaei Anton Webern zum 60. Geburtstag (Dezember 1943) zu dedizieren, scheiterte an den widrigen zeitgeschichtlichen Verhältnissen der letzten Weltkriegsjahre. So wurde das Werk unmittelbar nach Kriegsende dem Andenken des inzwischen verstorbenen Komponisten gewidmet: „Quest’ opera, dedicata ad Anton Webern nel giorno del suo sessantesimo compleanno (3 dicembre 1943), offro oggi, con umiltà e devozione, alla di lui memoria. 15 settembre 1945“. Seit langem ist bekannt, daß der Einfluß der Liriche greche Dallapiccolas auch in das kompositorische Schaffen der jüngeren Italiener hineingewirkt hat. Schon 1948 entstanden, unter dem unmittelbaren Eindruck des Dallapiccola-Zyklus, die Tre liriche greche Madernas, die aus den gleichen Textquellen schöpfen: aus Fragmenten altgriechischer Lyrik in der neuen Übersetzung durch Salvatore Quasimodo. Horst Weber hat den Vergleich dieser beiden Kompositionen Dallapiccolas und Madernas auch auf Luigi Nono ausgedehnt, allerdings auf dessen Lorca-Epitaph von 1952.7 Er konnte damals, beim zweiten Schönberg-Kongreß 1984, noch nicht wissen, daß auch Nono bereits 1948 in der Nachfolge Dallapiccolas zwei dieser altgriechischen Fragmente vertont hatte. Ein erst vor wenigen Jahren aufgefundenes Manuskript des Nono-Archivs vereint zwei Gesänge unterschiedlicher Besetzung auf Texte des Ion von Chios und des Alkaios, deren ersten Dallapiccola später in seinen Cinque canti (1956) ebenfalls vertonte. Sie tragen keine Überschrift, sind aber vor kurzem unter dem durchaus legitimen Titel Due liriche greche (in Analogie zum Werktitel Madernas) auf der Kölner MusikTriennale 2004 uraufgeführt worden. Gianmario Borio hat einen Vergleich mit Dallapiccolas Sex Carmina Alcaei durchgeführt und dabei sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten entdeckt.8 Einerseits ersetzt Nono die Technik von Vergrößerungs-, Verkleinerungs- und Umkehrungskanons durch eine Technik der Permutation rhythmischer Zellen, andererseits übernimmt er beinahe zitathaft Dallapiccolas Methode der Reihenexposition. So wie Dallapiccola in der einleitenden Expositio seiner Carmina Alcaei die Vorstellung der Zwölftonreihe der unbegleiteten Singstimme zuweist, so Nono in seinen Gesängen der unbegleiteten Bratsche. Bei allen Unterschieden ist also die Bezugnahme des Jüngeren auf den Älteren – vielleicht darf man sagen: die Reverenz des Jüngeren vor dem Älteren – sehr deutlich und ganz unübersehbar. Was machte – über diesen so faszinierenden Einzelfall der Liriche greche hinaus – die besondere Anziehungskraft Dallapiccolas auf Nono aus? Die Antwort auf diese Frage kann nur lauten: Dallapiccola vermochte den jungen italienischen Komponi6
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Luigi Dallpiccola, Incontro con Webern, in: Il Mondo: lettere scienzi arti musica 1/15 (3 novembre 1945), S. 12; sowie in: Ders., Parole e Musica, hrsg. von Fiamma Nicolodi (= La Cultura. Saggi di arte e di letteratura, Bd. 53), Milano 1980, S. 230–235. Horst Weber, Dallapiccola–Maderna–Nono (Anm. 1), S. 96. Gianmario Borio, L’influenza di Dallapiccola sui compositori italiani nel secondo dopoguerra, in: Dallapiccola. Letture e prospettive (Anm. 1), S. 366–369.
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sten in der Stunde Null des Jahres 1945 eine Orientierung in doppelter Hinsicht zu bieten: 1. Seine Kompositionen zeigten eine unmißverständlich antifaschistische politische Haltung. Schon mit seiner Preghiera di Maria Stuarda von 1938, dem späteren Eröffnungssatz der Canti di prigionia, hatte er mutig Protest erhoben gegen Mussolinis Rassenkampagne. Sein 1944 begonnener Operneinakter Il Prigioniero, den viele für Dallapiccolas „musikgeschichtliche Sternstunde“9 halten, gilt zu Recht als die bedeutendste Auseinandersetzung des europäischen Musiktheaters mit Naziterror und politischer Verfolgung. Luigi Nono, der schon früh Sympathie für die Überzeugungen und Ideale der italienischen Resistenza bekundet hatte, mußte sich von einem solchen Komponisten unmittelbar angesprochen fühlen. Aus diesem Grunde hat er neben der kompositorisch-ästhetischen Affinität auch stets seine Verbundenheit mit den „anderen moralischen und menschlichen Aspekten“ der Persönlichkeit Dallapiccolas hervorgehoben.10 2. Dallapiccola bekannte sich ausdrücklich zu der Musik des vom Hitler- und Mussolini-Regime verfemten Schönberg-Kreises. In der jüngeren Komponistengeneration setzte sich nach 1945 mehr und mehr die Überzeugung durch, daß nur die vom Schönberg-Kreis entwickelte Zwölftontechnik aus der Sackgasse des Neoklassizismus herausführen konnte. Nach Nonos eigenem Eingeständnis waren Dallapiccolas Sex Carmina Alcaei die erste Zwölftonkomposition, die er überhaupt kennenlernte.11 Auf besondere Sympathie stieß Nono bei Dallapiccola durch die Tatsache, daß er mehrere Jahre lang ein Schüler Malipieros gewesen war. Von allen italienischen Komponisten der 1880er Generation hatte Dallapiccola von jeher Malipiero am meisten geschätzt und verehrt.12 Diese Verehrung kommt auch in den an Nono gerichteten Zeilen deutlich zum Ausdruck: „Ha ragione di ritenersi fortunato di essere allievo di Malipiero, uomo questo che possiamo considerare il solo che non chiuda la porta in faccia ai più scottanti problemi, per tacere dei suoi moltissimi altri meriti e della sua grandezza di musicista.“13
Doch geht die Bedeutung dieses ersten erhaltenenen Briefes an Nono weit über die Frage der ersten Musikausbildung hinaus. Dallapiccola artikuliert bereits in diesem frühen Zeitpunkt seine hohe Wertschätzung für den jüngeren Kollegen auch in menschlicher und moralischer Hinsicht: „Studi molto e con molto rigore e, per il resto, mi pare che nella Sua lettera ci sia un tono di fede tale che non mancherà di portare a qualche risultato artistica9 10 11
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Jacques Wildberger, Luigi Dallapiccolas musikgeschichtliche Sternstunde, in: Schweizerische Musikzeitung 115 (1975), S. 171–179. Luigi Nono, Dokumente (Anm. 3), S. 115. Zit. nach Horst Weber, Dallapiccola–Maderna–Nono (Anm. 1), S. 94; vgl. Auch Luigi Nono, Intervista di Philippe Albéra, in: Ders., Scritti e colloqui, Bd. 1 (Anm. 4), S. 415: „In realtà io ho studiato la musica di Dallapiccola prima di quella di Schönberg e Webern“. Luigi Dallapiccola, Qualche nota in memoria di Gian Francesco Malipiero, in: Ders., Parole e Musica (Anm. 6), S. 365–371. Luigi Dallapiccola an Luigi Nono, 16. November 1947 (Archivio Luigi Nono, Venedig).
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mente apprezzabile. In fondo è soltanto questione di fede. E creda che la Sua lettera mi fece piacere sopra tutto per tale ragione. In questo mondo in cui il ‚ventennio‘ e la guerra insegnarono soltanto l’arrivismo … considero la Sua lettera come un documento raro. Quindi: coraggio. Ella sa che la strada è molto difficile e che gli anni non fanno che rendere più difficile. I primi passi sono i più faticosi ‚verso gli altri‘; i passi seguenti sono i più difficili ‚verso se stessi‘. Mi auguro che di ciò, costi quello che costi, Ella possa rendersi conto un giorno.“14
Ein wichtiges Bindeglied in den Beziehungen Nonos zu Dallapiccola war der Dirigent Hermann Scherchen, der aufgrund seines exemplarischen Emigrantenschicksals und seines lebenslangen Eintretens für die Musik des Schönberg-Kreises in die Rolle einer weiteren Leitfigur rückte. Malipiero hatte Nono und Maderna empfohlen, an dem Dirigierkurs Scherchens teilzunehmen, der 1948 im Rahmen der venezianischen Musik-Biennale durchgeführt wurde. Aus der Teilnahme an diesem Dirigierkurs entwickelte sich bald eine Art persönlicher Lehrer-Schüler-Beziehung. Scherchen ließ Nono, der seine Bewunderung für Dallapiccola deutlich artikuliert hatte, eine analytische Studie zu den Sex Carmina Alcaei anfertigen.15 Sie eröffnet die Gesamtausgabe der Schriften Nonos. Mit großem musikgeschichtlichem Weitblick stellte Nono darin die Komposition Dallapiccolas in eine Traditionslinie, die von den alten Niederländern über Bach zu Anton Webern führte. Die dodekaphone Analyse dieser Carmina bedeutete für Nono eine wichtige Station in der Aneignung der Zwölftontechnik. Es muß als eine besondere musikgeschichtliche Fügung erscheinen, daß Dallapiccola in eben jenem Herbst 1948, in dem Nono den venezianischen Dirigierkurs besuchte, Scherchen die soeben vollendete Partitur seines Prigioniero zur Uraufführung übergab. Der mit Nono eng befreundete Maderna übernahm hierfür zeitweise das Korrekturlesen des Orchestermaterials.16 Es kann demnach als sicher gelten, daß Nono die Vorbereitungen zur Prigioniero-Premiere (1949 konzertant, 1950 szenisch) aus nächster Nähe miterlebte und viele Informationen darüber aus erster Hand erhielt. Zu Beginn der 1950er Jahre schienen sich die Wege Nonos und Dallapiccolas zu trennen. Der ältere Komponist war nicht bereit, den Weg des rigorosen Serialismus, den auch Nono damals einschlug (wenn auch auf ganz persönliche Art und Weise),17 auch für sein eigenes kompositorisches Schaffen uneingeschränkt zu übernehmen. Gleichwohl sollte nicht übersehen werden, daß auch Dallapiccola in den fünfziger Jahren vom seriellen Denken durchaus nicht unbeeinflußt blieb. Es ist nicht zuletzt die Einbeziehung des Rhythmus in die für Dallapiccola so charakteristischen Kanonstrukturen, die auf eine Nähe zum Serialismus und auf ein Denken 14 15 16 17
Ebenda. Luigi Nono, Luigi Dallapiccola e i Sex Carmina Alcaei, in: Ders., Scritti e colloqui, Bd. 1 (Anm. 4), S. 3–5. Luigi Dallapiccola an Bruno Maderna, 11. August 1949 (Maderna-Nachlaß, Darmstadt); vgl. Horst Weber, Dallapiccola–Maderna–Nono (Anm. 1), S. 93. Erika Schaller, Klang und Zahl. Luigi Nono: Serielles Komponieren zwischen 1955 und 1959, Saarbrücken 1997, S. 34–44.
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in „Parametern“ hindeutet.18 Ihren Höhepunkt fand diese „sperimentazione ritmica“ in Requiescant (1957/58) – jenem Werk, dem Livio Aragona eine Schlüsselrolle in den kompositorischen Wechselbeziehungen zwischen Nono und Dallapiccola zuweist. Es kann kein Zweifel bestehen, daß Nono von allen Komponisten seiner Generation derjenige war, der Dallapiccola am nächsten stand. Nono hatte sich Stockhausens Forderung nach vollkommener „Reinheit“ des Komponierens widersetzt und sich statt dessen einer politischen Bekenntnismusik zugewandt – einer „musique engagée“, für die Dallapiccola mit den Canti di prigionia und dem Prigioniero die Modelle geschaffen hatte. Ein Blick auf zwei Schlüsselwerke des Jahres 1952 macht die Polarisierung deutlich: auf der einen Seite Stockhausens Kreuzspiel, das als ein frühes Beispiel integraler Durchstrukturierung aller Parameter dem Reinheitsideal seines Komponisten vollkommen entsprach, auf der anderen Seite Nonos Lorca-Epitaph, in den durch die Lorca- und Neruda-Texte nach Auffassung Stockhausens ein Moment der „Unreinheit“ eindrang, der aber gerade dadurch – und nur dadurch – seine Aufgabe als politisch engagierte Musik erfüllen konnte. Mit ihren beiden großen Chorwerken aus der Mitte der 1950er Jahre, den Canti di liberazione (1955) und dem Canto sospeso (1956), kamen sich Dallapiccola und Nono, wie ich zu zeigen hoffe, wieder besonders nahe. Von Anfang an hatte Dallapiccola den Plan verfolgt, seine Canti di prigionia und seinen Prigioniero zu einem Triptychon zu erweitern: einem Triptychon, dessen Außenflügel zwei gleich besetzte, analog strukturierte Chorwerke bilden sollten – als Rahmen um das Mittelstück, den Operneinakter. Auch wenn der Begriff „liberazione“ im Titel der neuen Komposition zweifellos auch religiöse und künstlerisch-ästhetische Momente beinhaltete, so darf doch die politisch-zeitgeschichtliche Bedeutungskomponente des Wortes nicht übersehen werden. Besonders deutlich wird gerade dieser Aspekt am Mittelteil der Canti di liberazione, der Thomas Mann zum 80. Geburtstag gewidmet ist. Der biblische Lobgesang des Moses nach dem Durchzug des Volkes Israel durch das Rote Meer wird von Dallapiccola hier in eine symbolische Beziehung gebracht zum persönlichen Schicksal Thomas Manns während der Nazizeit. Noch nach über zwei Jahrzehnten erinnerte sich Nono lebhaft daran, daß Scherchen, der 1955 die Kölner Uraufführung der Canti di liberazione geleitet hatte, ihn auf die „estrema intelligenza specifica musicale“ der Dallapiccola-Komposition hingewiesen habe; diese resultiere aus einer „sapienza com-positiva“, aus „conflittuali con-temporaneità di segnali e di pensieri“.19 Diese wichtigen Bemerkungen Nonos sind bisher nicht in ihrer vollen Bedeutung und Tragweite ausgeschöpft worden. „Estrema intelligenza specifica musicale“: zuallererst kommt uns dabei die ungewöhnlich lange Entstehungsgeschichte der Canti di liberazione in Erinnerung. Zwar ist auch bei vielen anderen Dallapiccola-Kompositionen ein sehr langwieriger, skrupulös sorgfältiger Entstehungsprozeß zu konstatieren; dennoch stellen die Canti 18
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Dietrich Kämper, „Ricerca ritmica e metrica“. Beobachtungen am Spätwerk Luigi Dallapiccolas, in: Neue Zeitschrift für Musik 135 (1974), S. 94–99; Rosemary Brown, La sperimentazione ritmica in Dallapiccola tra libertà e determinazione, in: Nuova rivista musicale italiana 12 (1978), S. 142–173. Luigi Nono, Con Luigi Dallapiccola, in: Ders., Scritti e colloqui, Bd. 1 (Anm. 4), S. 483f.
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di liberazione mit ihren zahlreichen Vorarbeiten und Zwischenstadien – vom Quaderno musicale di Annalibera über die Musik zum Dokumentarfilm Il cenacolo bis zu den Variazioni für Orchester – einen Sonderfall dar, der im Œuvre des Komponisten ganz einzigartig ist. Dafür gibt es im wesentlichen zwei Gründe: 1. Mit den Canti di liberazione wollte Dallapiccola erstmals die vollständige Durchdringung aller Strukturprobleme der Dodekaphonie erreichen, wie sie René Leibowitz in einem kritischen Artikel über Dallapiccolas Liriche greche angemahnt hatte.20 2. Die Canti di liberazione waren als Gegenstück zu den Canti di prigionia geplant – im Sinne eines Triptychon-Konzepts, dessen Mitte der Operneinakter Il Prigioniero bilden sollte. Der erstgenannte Punkt – Strukturprobleme der Dodekaphonie – führt zu einer integralen Einheit des kompositionstechnischen Materials auf der Basis jener Allintervallreihe, die Dallapiccola bereits 1952 in Josef Rufers Buch Die Komposition mit zwölf Tönen präsentiert hatte. Daß auch die Rhythmik in die höchst kunstvollen Kanonbildungen einbezogen wird, rückt die Canti di liberazione in die Nähe des damals auf seinem Höhepunkt stehenden seriellen Denkens. Der zweitgenannte Punkt – Triptychon-Konzept – löst eine Fülle intertextueller Bezüge und Querverbindungen aus. Es sind die Zitate, Allusionen, Reminiszenzen, die diese „unitas in trinitate“ bewirken. Am Schluß hören wir eine versteckte Anspielung auf den Anfang der Canti di prigionia – ein großer Bogen, der die drei Werke des Triptychons zu einer Einheit zusammenfaßt. Mit den „fratello“-Zitaten, diesmal nicht in tonalem, sondern in streng dodekaphonem Kontext, wird auch der Prigioniero in diese Einheit einbezogen. Die zahllosen BACH-Konstellationen der Partitur verweisen zurück auf das Quaderno musicale: mit Dallapiccolas eigenen Worten „quasi una citazione, o meglio una sottolineatura“. Von hier aus erschließt sich wohl am besten die Bemerkung Nonos von der „estrema intelligenza musicale“ des Dallapiccola-Werks. Spätestens vom Bühnenwerk Intolleranza 1960 an sind auch Nonos Kompositionen durchzogen von einem dichten intertextuellen Beziehungsgeflecht, von einer Fülle selbstreferentieller Verweisungen – angefangen von den Zitaten des 4. Satzes des Canto sospeso in den Szenen von Verhör und Folterung in der Intolleranza.21 Daß Nono in dieser Hinsicht von Dallapiccola Anregungen empfangen hat, erscheint auch deshalb besonders plausibel, weil Intertextualität dem seriellen Reinheitsideal der fünfziger Jahre zutiefst widersprach. Eine zumindest unterschwellige Weiterwirkung der Canti di liberazione in Nonos eigenem Canto sospeso, der gerade damals entstand und der ja schon in seiner Titelgebung unverhohlen auf Dallapiccola Bezug nimmt, darf also als sehr wahrscheinlich gelten. Das antifaschistische politische Engagement verbirgt sich in Nonos Komposition allerdings nicht – wie bei Dallapiccola – in einer Auswahl geistlicher Texte aus einer fernen Vergangenheit, sondern tritt dem Hörer ganz offen und in bedrückender zeitgeschichtlicher Aktualität entgegen: in den Briefen von zum Tode 20 21
René Leibowitz, Luigi Dallapiccola, in: L’Arche 3 (1947), S. 118–124. Harry Vogt, Al gran sole carico d’autocitazione – oder: Zwischen Patchwork und Pasticcio, in: Neuland. Ansätze zur Musik der Gegenwart 5 (1984/85); Wolfgang Motz, Konstruktion und Ausdruck. Analytische Betrachtungen zu Il canto sospeso von Luigi Nono, Saarbrücken 1996, S. 72.
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verurteilten Widerstandskämpfern der NS-Zeit, geschrieben unmittelbar vor ihrer Ermordung. Zur deutschen Ausgabe dieser Briefe, die 1955 unter dem Titel Und die Flamme soll euch nicht versengen erschien, hatte niemand anderer als Thomas Mann ein Geleitwort geschrieben. (Und wieder schließt sich ein Kreis.) Aus dieser Perspektive ist es denn auch weit mehr als bloße Chronistenpflicht, die höchst beziehungsreichen Parallelen in der Aufführungsgeschichte der beiden Chorwerke aufmerksam zu registrieren. Beide kamen im Abstand von nur einem Jahr im Rahmen der Kölner Reihe „Musik der Zeit“ zur Uraufführung; die Ausführenden waren in beiden Fällen der Kölner Rundfunkchor und das Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester unter der Leitung von Hermann Scherchen. Nono lernte das Werk Dallapiccolas erst durch die italienische Erstaufführung (Rom, Jänner 1957) kennen. In seinem Dankesbrief an Dallapiccola hob er die große „forza morale“ dieser Musik hervor und wies ihr einen hohen musikgeschichtlichen Stellenwert zu. Für Nono, dessen Canto sospeso wenige Wochen zuvor uraufgeführt worden war, bedeuteten die Canti di liberazione „un avvenimento molto importante nella storia della musica contemporanea, italiana e no…“22. Umgekehrt hatte auch Dallapiccola von Beginn an lebhaften Anteil an der Entstehung und den ersten Aufführungen des Canto sospeso genommen. Da die Uraufführung in der Kölner Reihe „Musik der Zeit“ vorgesehen war (wie schon ein Jahr zuvor die der eigenen Canti di liberazione), verfolgte er die Berichte der deutschen Musikzeitschriften mit größtem Interesse und erwartete mit Spannung das Erscheinen der Partitur des Chorwerks: „Sono stato felicissimo nel leggere le Sue così buone notizie; confermate ancora una volta da Melos e La assicuro che anche mia moglie se ne è rallegrata di tutto cuore. Grazie per la promessa partitura, che studierò con interesse e vivo amore.“23
Schon einige Wochen zuvor hatte ihm Nono voller Begeisterung über die Kölner Uraufführung seines Chorwerks berichtet und dabei insbesondere die Leitung des Kölner Rundfunkchors und seines Leiters Bernhard Zimmermann hervorgehoben: „Siamo stati a Köln, in ottobre, per la prima esecuzione del mio Canto sospeso, alla radio, con H. Scherchen. che esecuzione! e quella si, si chiama saper cantare, del coro di Zimmermann! fin’oggi, è stato il momento più vivo nella mia vita.“24
Nachdem Dallapiccola die Partitur empfangen hatte, unterzog er sie einer sehr gründlichen Lektüre:
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Luigi Nono an Luigi Dallapiccola, 1. Februar 1957 (Archivio Contemporaneo del Gabinetto Vieusseux, fondo Dallapiccola, Florenz). Luigi Dallapiccola an Lugi Nono, 12. Februar 1957 (Archivio Luigi Nono, Venedig). Luigi Nono an Luigi Dallapiccola, undatiert, Jahreswende 1956/57 (Archivio Contemporaneo del Gabinetto Vieusseux, fondo Dallapiccola, Florenz).
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„Circa il Canto sospeso, che ho letto e riletto (ma che non ho ancora sentito, purtroppo) Le dico soltanto grazie. Opera ‚consolante’, artisticamente parlando.“25
Dallapiccola lernte den Canto sospeso während der Arbeit an seiner „Dirge-Music“ Requiescant kennen, und zwar unmittelbar vor der Vollendung von dessen Anfangssatz „Come unto me“. Es ist nicht zuletzt diese Chronologie der Werkentstehung, auf die sich Livio Aragonas Hypothese von einer „ricezione incrociata“ stützt, nach der die erheblich gesteigerte „sperimentazione ritmica“ der DallapiccolaKomposition wesentliche Anregungen durch Nonos Canto sospeso empfangen habe. Nono wäre also in diesem Fall aus der Rolle des Nehmenden in die des Gebenden gewechselt. Im Jahre 1960 vollendete Nono seine erste Oper: die „azione scenica“ mit dem Titel Intolleranza 1960. Es ist wichtig festzuhalten, daß es sich hier nicht allein um Nonos erstes Werk für Musiktheater handelt, sondern um das erste musikalische Bühnenwerk dieser gesamten Komponistengeneration überhaupt. Die 1950er Jahre waren im Hinblick auf das Musiktheater ein Jahrzehnt der Abstinenz gewesen – wohl ebenfalls infolge des erwähnten „Reinheitsideals“, denn die Oper ist das „genus impurum“ der Musik schlechthin. Es ist nun alles andere als Zufall, daß es gerade Nono war, der diese Abstinenz beendete und sich dem Musiktheater zuwandte. Ermutigung kam ihm durch Dallapiccolas Prigioniero, dessen Entstehungsund frühe Aufführungsgeschichte er durch Scherchen und Maderna aus nächster Nähe miterlebt hatte. Auf den ersten Blick erscheinen beide Werke durch Welten getrennt. Dallapiccola siedelt die Handlung seines Dramas im fernen Spanien an, in der Zeit der Gegenreformation und Inquisition des 16. Jahrhunderts. Nono dagegen greift Geschehnisse seiner unmittelbaren Gegenwart auf: Folterungen im algerischen Bürgerkrieg, Bergwerksunglücke in Belgien, verheerende Überschwemmungen in der Po-Ebene. Nicht ohne Grund ist die Jahreszahl 1960 integrierender Bestandteil des Werktitels. Und dennoch: es gibt unübersehbare Gemeinsamkeiten zwischen beiden Werken. Sowohl Dallapiccolas Gefangener wie auch Nonos „emigrante“, die Hauptfigur der Intolleranza 1960, verkörpern den geschundenen Menschen des 20. Jahrhunderts, der mit immer neuer Unterdrückung, Verfolgung und Gewalt konfrontiert wird. Aus dieser Perspektive darf man Nonos „emigrante“ mit Fug und Recht als den jüngeren Bruder („fratello“) des Gefangenen ansehen. Ein weiterer „gemeinsamer Nenner“ beider Bühnenwerke ist Arnold Schönberg. Immer wieder hat Nono betont, wie sehr er in der musikdramatischen Konzeption seiner Intolleranza 1960 dem Musiktheater Schönbergs verpflichtet sei, insbesondere dessen Drama mit Musik Die glückliche Hand.26 Andererseits habe er für die Raumklangexperimente seiner „azione scenica“ wichtige Anregungen aus Schönbergs Jakobsleiter und Moses und Aron empfangen. Seiner Dankbarkeit hat er durch die 25 26
Luigi Dallapiccola an Luigi Nono, 13. Dezember 1957 (Archivio Luigi Nono, Venedig). Luigi Nono, Möglichkeit und Notwendigkeit eines neuen Musiktheaters, in: Ders., Texte. Studien zu seiner Musik, hrsg. von Jürg Stenzl, Zürich-Freiburg i. Br. 1975, S. 92.
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Widmung der Partitur an Arnold Schönberg sichtbaren Ausdruck gegeben. Was Luigi Dallapiccolas Verehrung für Schönberg angeht, so müssen nicht viele Worte gemacht werden. Seit seiner Studienzeit war die Harmonielehre Schönbergs sein ständiger Begleiter gewesen. Eines ihrer Schlußkapitel über Quartenakkorde hatte wertvolle Hilfestellung bei der persönlichen Aneignung der Zwölftontechnik geleistet.27 Noch in seinen letzten Lebensjahren, in einer Rede zur Schönberg-Zentenarfeier 1974, bekannte Dallapiccola, Schönberg sei für ihn der Musiker, den er „mehr als alle anderen in unserem Jahrhundert geliebt [und] ... bewundert habe wegen seines Genies, seines Mutes, seines Charakters.“28
Was den Operneinakter Il Prigioniero im besonderen betrifft, so hat kein geringerer als Hermann Scherchen aus seiner profunden Kenntnis der Partitur eine aufschlußreiche Verbindungslinie zu Schönberg gezogen. In der Form des „Seelenmonologs“ des Monodramas – so Scherchen – ähnele Dallapiccolas Bühnenwerk der Erwartung von Arnold Schönberg – trotz der weitaus längeren Spieldauer und trotz der Mehrzahl von Personen, die als „staffagenhafte Gegenspieler“ in die Handlung einbezogen seien.29 So wird für beide – Dallapiccola und Nono – das Theater Schönbergs zum wichtigsten Bezugspunkt. Und noch ein weiteres Werk Schönbergs muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Es erscheint mir höchst bedeutsam, daß Nono seinen Darmstädter Vortrag Text-Musik-Gesang, der den Wandlungen der Text-Musik-Beziehungen in der Geschichte der wortgebundenen Musik ausführlich nachgeht, in eine Betrachtung über Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau einmünden läßt. Nono hielt diesen Vortrag im Sommer 1960, also im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Intolleranza. Für Nono ist der Überlebende aus Warschau „das ästhetische musikalische Manifest unserer Epoche“30. Was den dramatischen Gesangsstil betrifft, so hebt er besonders die von Schönberg erprobte Verbindung von Sprechgesang und Gesang hervor. Beide Bühnenwerke – Prigioniero und Intolleranza – machen ebenfalls von dieser Verbindung ausgiebig Gebrauch, der Prigioniero z. B. in den Ricercaren der Scena terza, die den Fluchtweg des Gefangenen durch die unterirdischen Gänge des Gefängnisses begleiten (T. 655: „Buio. Silenzio. Come fra le tombe“). Genau wie Nono hat auch Dallapiccola den Überlebenden aus Warschau außerordentlich hoch geschätzt. Er nennt ihn „un teatro senza scena“, dessen „valore drammatico senza pari“ ausser Frage stehe.31 Und auch unter dem Aspekt einer „Protestmusik“ hat Dallapiccola den Überlebenden immer als eines seiner wichtigsten Vorbilder bezeichnet. 27
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Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien 31922, S. 478–507 („Quarten-Akkorde“ und „Ästhetische Bewertung sechs- und mehrtöniger Klänge“); Luigi Dallapiccola, Presentazione della Harmonielehre, in: Ders., Parole e Musica (Anm. 6), S. 239–246. Luigi Dallapiccola, Arnold Schönberg. Premessa a un centenario, ebenda S. 254. Hermann Scherchen, Ein Savonarola der Musik: Luigi Dallapiccola und seine Oper Der Gefangene, in: Der Mittag, Düsseldorf (5. Mai 1950); auch in: Schweizerische Musikzeitung 115 (1975), S. 205. Luigi Nono, Text-Musik-Gesang, in: Ders: Texte (Anm. 26), S. 47. Luigi Dallapiccola, Arnold Schönberg. Premessa a un centenario, in: Ders., Parole e Musica (Anm. 6), S. 248.
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Nonos Intolleranza 1960 fand im April 1961 im venezianischen Teatro La Fenice im Rahmen des Festival Internazionale di Musica Contemporanea ihre Uraufführung. Der Theaterabend endete in einem der größten Bühnenskandale des 20. Jahrhunderts. „Seit der Berliner Wozzeck-Premiere von 1925 hat keine neuere Oper einen solchen Tumult der Ablehnung und Zustimmung ausgelöst“, schrieb der Berichterstatter der Zeitschrift Melos.32 Proteste des konservativen bürgerlichen Publikums, das eine Entweihung des altehrwürdigen venezianischen Opernhauses zu erkennen glaubte, mischten sich mit den Schmährufen der Anhänger des rechtsradikalen „Ordine nuovo“, denen Nonos Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Italiens ein Dorn im Auge war. Die Gegner Nonos machten in ihrem blinden Fanatismus sogar den Versuch, das große Ansehen Dallapiccolas für ihre Zwecke zu mißbrauchen. Sie verbreiteten das Gerücht, Dallapiccola habe nach der Generalprobe der Intolleranza 1960 unter Protest Venedig verlassen und es abgelehnt, der Premiere beizuwohnen. Dallapiccola ist diesem Gerücht sogleich mit Entschiedenheit entgegengetreten. Offizieller Anlaß seiner Venedig-Reise sei der „Congresso elettronico“ gewesen, der gleichfalls im Rahmen des venezianischen Musikfestes veranstaltet wurde. Wegen anderweitiger Verpflichtungen habe er daneben nur die Generalprobe der Nono-Oper besuchen können – diese aber sei der Hauptgrund seiner Reise nach Venedig gewesen: „… accettando l’invito per il Congresso elettronico avevo domandato subito la data della prova generale della Sua Opera, essendo questa la principale ragione del mio viaggio.“33
Politische Meinungsunterschiede zwischen Dallapiccola und Nono werden an keiner Stelle des Briefwechsels offen angesprochen, sind aber zwischen den Zeilen manchmal durchaus erkennbar. So sind etwa die Versuche des Jahres 1962, Nono für eine Dozentur in Tanglewood (Berkshire Music Festival) zu gewinnen, stark überschattet von dem alles beherrschenden Ost-West-Konflikt jener Jahre, der sich durch den Berliner Mauerbau noch zusätzlich verschärft hatte. Alle Initiativen der amerikanischen Kollegen, vor allem des einflußreichen Lukas Foss, waren zum Scheitern verurteilt, da man Nono ein Visum zum Besuch der USA verweigerte. Wiederholte Nachfragen beim State Department in Washington und beim amerikanischen Konsulat in Rom blieben ohne Ergebnis. Mit unverhohlenem Antiamerikanismus richtete Nono an Dallapiccola die ironische Frage: „Le risulta che tale era la prassi, per invitare, a Tanglewood?“34 Dallapiccola, der selbst 1951/52 als Dozent in Tanglewood tätig gewesen war und seither enge Beziehungen zum Musikleben der USA unterhielt, reagierte mit Verwunderung auf den Bericht Nonos, obwohl auch er in den ersten Nachkriegsjahren nicht unerhebliche Schwierigkeiten mit 32 33 34
Wolfgang Steinecke, Applause, Trillerpfeifen, Bravos, Flugblätter in Venedig, in: Melos 28 (1961), S. 197. Luigi Dallapiccola an Luigi Nono, 23. April 1961 (Archivio Luigi Nono, Venedig). Luigi Nono an Luigi Dallapiccola, 26. März 1962 [im Original irrtümlich: 1961] (Archivio Contemporaneo del Gabinetto Vieusseux, fondo Dallapiccola, Florenz).
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amerikanischen Behören gehabt hatte. Insgesamt aber waren seine Erfahrungen eher positiv: „Quanto mi scrive circa Tanglewood mi stupisce assai. Quando fui invitato per la prima volta, Aaron Copland venne a portarmi l’invito verbale di Koussevitzky. Non solo. Fui abbastanza validamente appoggiato da Boston, dato che in quel tempo (1951) il maccartismo [McCarthyismus] si trovava nel suo momento più sconcio.“35
Ob der Plan zu einer Einladung Nonos nach Tanglewood auf eine Anregung Dallapiccolas zurückgeht, ist dem Briefwechsel nicht zu entnehmen. Mit Sicherheit war Dallapiccola aber der „spiritus rector“ bei dem 1966 unterbreiteten Vorschlag, Nono die Mitgliedschaft in der (West-)Berliner Akademie der Künste anzutragen. Dallapiccola, seit 1958 selbst Mitglied dieser Institution, hatte seit Beginn der 1960er Jahre, im Vorfeld der Berliner Ulisse-Premiere, immer engere Kontakte zur Akademie geknüpft. Ein großes Dallapiccola-Portraitkonzert, das im November 1966 in Berlin stattfand, gab den letzten und entscheidenden Anstoß, die Aufnahme Nonos ins Auge zu fassen – ein Vorschlag, den auch Bernd Alois Zimmermann (seit 1965 Mitglied der Akademie) nachdrücklich befürwortete. Und so trat Dallapiccola Ende 1966 an Nono mit der Frage heran, ob er zu einer Mitgliedschaft bereit sei.36 Nonos ablehnende Antwort trägt einen unmißverständlich politischen Akzent. Mit großer Offenheit bringt er gegenüber seinem Briefpartner zum Ausdruck, daß ihm die östliche „Deutsche Demokratische Republik“ näher stehe als die westliche „Bundesrepublik Deutschland“: „per quanto Lei mi chiede (Akademie der Kuenste), sono contrario. Le credo pienamente quando Lei dice, che è una cosa pulita, ma proprio in novembre l’Akademie della DDR mi ha eletto membro. l’accettazione mia è stata da me motivata, poiché ritengo che una Akademie di un paese socialista dovrebbe e debba esser altra cosa di una Akademie di qui: cioè un vero rapporto di lavoro, sopratutto [sic] data la situazione culturale e musicale estremamente bisognosa di sviluppo, e di intervento attivo, e non meramente ‚onorifico’. e il rapporto con l’Akademie della DDR è di tal modo – di lavoro e di intervento attivo.“37
In ganz ähnlichem Sinne hatte sich Nono schon in einem Gespräch anläßlich seiner Aufnahme in die (Ost-)Berliner Akademie geäußert. Er sei der festen Überzeugung, „daß gerade das Bekenntnis zum Kommunismus dem Musiker größere Verpflichtungen auferlegt“38. In der Fortsetzung seines Briefes an Dallapiccola spart Nono nicht mit Kritik an der westdeutschen Bundesrepublik, zu der er deutlich auf Distanz geht: 35 36 37 38
Luigi Dallapiccola an Luigi Nono, 11. April 1962 (Archivio Luigi Nono, Venedig). Luigi Dallapiccola an Luigi Nono, 30. November 1966 (Archivio Luigi Nono, Venedig). Luigi Nono an Luigi Dallapiccola, 2. Jänner 1967 (Archivio Contemporaneo del Gabinetto Vieusseux, fondo Dallapiccola, Florenz). Musik und Gesellschaft 17 (1967), S. 144.
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„inoltre ora, a mio parere la Germania di Bonn sta sviluppandosi in modo troppo nostalgico e ancor meno mi sento, personalmente, di poter in qualche modo far parte di un suo organismo.“39
Über die Reaktion Dallapiccolas auf diese Zeilen ist nichts bekannt, doch konnte er als Mitglied der (West-)Berliner Akademie der so überaus kritischen Auffassung Nonos sicher nicht zustimmen, zumal er gerade damals dank einer (West-)Berliner Institution einem der Höhepunkte seiner kompositorischen Laufbahn entgegensah: der Ulisse-Premiere an der Deutschen Oper in Berlin-Charlottenburg. Auch hatte er schon in den Jahren zuvor im Rahmen der großen Konzertreihen der Bundesrepublik Deutschland – Hamburg: „Das neue Werk“, Köln: „Musik der Zeit“, München: „Musica viva“ – wichtige Aufführungsmöglichkeiten verbuchen können, die allesamt Meilensteine in seiner Entwicklung markieren.40 Meinungsverschiedenheiten dieser Art haben jedoch das freundschaftlich-kollegiale Verhältnis der beiden Musiker nicht ernsthaft gefährden können. In den Kernfragen der Entwicklung der Neuen Musik herrschte völlige Übereinstimmung der Ansichten. Diese enge Wechselbeziehung im „pensiero musicale“ Nonos und Dallapiccolas, die hier nur anhand einer begrenzten Auswahl von Werken flüchtig angedeutet werden konnte, legt die Frage nahe, ob nicht auch die beiden großen Spätwerke beider Komponisten in einem Verhältnis zueinander stehen, das dialogische Elemente, Elemente eines imaginären oder tatsächlichen Gedankenaustauschs aufweist: der Ulisse des Älteren und der Prometeo des Jüngeren. Nono gehörte zu den ersten Freunden und Kollegen, denen Dallapiccola von der begonnenen Arbeit am Ulisse Mitteilung machte. In einem Brief Dallapiccolas aus Amerika heißt es, er hoffe noch vor der Rückkehr nach Europa Ende Juni 1957 „di essere avanti colla stesura del libretto per la futura opera … (alla quale vorrei poter cominciare a metter mano nell’estate).“41
Nono zeigte von Anfang an großes Interesse am Fortgang der Arbeit, und so schrieb ihm Dallapiccola 1962 (wieder stand ein längerer Amerikaaufenthalt bevor): „Molto sensibile ai Suoi voti per l’Ulisse, Le posso comunicare che ci lavorerò ancora circa due mesi … mi preme di arrivare a una specie di ‚punto fermo’, onde poter interrompere il lavoro (e dedicarmi aux travaux alimentaires) senza troppo preoccuparmi; voglio dire con la sicurezza di poter riprenderne il filo sei mesi più tardi.“42
Welche Bedeutung hatte der Ulisse, den Dallapiccola seine „summa vitae“ nannte, für den jüngeren Komponistenkollegen? Wir befinden uns bei dieser Frage – das sei 39 40 41 42
Luigi Nono an Luigi Dallapiccola, 2. Jänner 1967 (Archivio Contemporaneo del Gabinetto Vieusseux, fondo Dallapiccola, Florenz). Dietrich Kämper, La musica di Dallapiccola nella Germania del secondo dopoguerra (1945–1955), in: Dallapiccola. Letture e prospettive (Anm. 1), S. 345–355. Luigi Dallapiccola an Luigi Nono, 12. Februar 1957 (Archivio Luigi Nono, Venedig). Luigi Dallapiccola an Luigi Nono, 10. Jänner 1962 (Archivio Luigi Nono, Venedig).
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hier in aller Offenheit ausgesprochen – zunächst im Bereich reiner Spekulation. Nono besaß in seiner Bibliothek eine Partitur des Ulisse, aber sie enthält keinerlei Eintragungen oder Anmerkungen. In der Gesamtausgabe der Schriften und Gespräche Nonos wird der Ulisse nur ein einziges Mal erwähnt, und nicht einmal von Nono selbst, sondern von seinem Gesprächspartner; die Unterhaltung verbleibt auch nicht lange bei diesem Thema, sondern nimmt sogleich einen anderen Verlauf. Das sind die nüchternen Fakten. Warum also Zeit an diese Frage verschwenden? Es wird sich zeigen, daß auch das Unausgesprochene Bedeutung hat und große Aussagekraft besitzen kann. Denn unter der Oberfläche der eben genannten nüchternen Fakten gibt es ein Beziehungsgeflecht, das zu untersuchen durchaus lohnt. Der wohl wichtigste Text Nonos über Dallapiccola findet sich – wie schon erwähnt – im Programmheft der Uraufführung von Con Luigi Dallapiccola.43 Zwar bilden die drei Tonhöhen f–e–cis des „fratello“-Motivs aus dem Prigioniero die Basis dieser Komposition, aber Nono hat ausdrücklich vor der „pigrizia percettiva e mentale“ gewarnt, die mit dem Erfassen dieser dreitönigen Konstellation bereits alles verstanden zu haben glaubt. In der Tat geht die Ehrung Dallapiccolas, die mit dieser Komposition beabsichtigt ist, weit über diese rein äußerliche Bezugnahme auf den Prigioniero hinaus. So gibt Nono etwa in der Wahl der Schlaginstrumente einen deutlichen Hinweis auf den Congedo di Girolamo Savonarola aus den Canti di prigionia.44 Vor allem aber ist die besondere Stellung der Komposition im Gesamtschaffen Nonos zu berücksichtigen. Con Luigi Dallapiccola gehört einerseits zu den zahlreichen In-memoriam-Kompositionen auf den Tod Dallapiccolas, die in den Jahren 1975–80 entstanden. Andererseits gehört das Werk zur engeren Vorgeschichte des Prometeo; der Komponist zählt es sogar ausdrücklich zur Gruppe der „opere preparatorie“45. Wenn Nono also in diesem Einführungstext von den „spazi molteplici“ im „pensiero musicale“ Dallapiccolas spricht, wenn er (mit einem Giordano-BrunoZitat) den „spazio immenso“ und die „infiniti mondi“ Dallapiccolas beschwört, dann erscheint es völlig ausgeschlossen, daß er dabei nicht vor allem auch dessen letztes großes Bühnenwerk, die einzige abendfüllende Oper, den Ulisse, vor Augen hatte. Wie kann man die Bedeutung des Ulisse in einigen wenigen Sätzen resümieren? Dallapiccola erzählt uns nicht den bunten Bilderbogen, die unterhaltsame Abenteuergeschichte des homerischen Epos, wie wir sie in Deutschland aus Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums kennen; auch nicht jene rührende Geschichte eines Spätheimkehrers, auf die viele Opern und Oratorien des 19. Jahrhunderts den homerischen Stoff reduzieren. Dallapiccolas Odysseusbild – und das hat ein Verständnis seiner Oper außerhalb Italiens wesentlich erschwert – ist entscheidend durch den 26. Gesang des Danteschen Inferno beeinflußt. Dantes Odysseus ist ein 43 44 45
Luigi Nono, Con Luigi Dallapiccola, in: Ders., Scritti e colloqui, Bd. 1 (Anm. 4), S. 483f. Ders., Un’autobiografia dell’autore raccontata da Enzo Restagno, in: Ders., Scritti e colloqui, Bd. 2 (Anm. 4), S. 544. Ders., „Parte la nave di Prometeo“. Intervista di Renato Garavaglia, in: Ders., Scritti e colloqui, Bd. 2 (Anm. 4), S. 332.
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Suchender, Fragender; sein ganzes Streben ist darauf gerichtet „di divenir del mondo esperto“46 – zu wissen, „was die Welt im innersten zusammenhält“ (so möchte man faustisch übersetzen). Zwar schließt Odysseus keinen Pakt mit dem Teufel, aber auch er frevelt gegen Gott. Nach dem Ende seiner Irrfahrten bleibt er nicht in Ithaka, sondern fährt erneut hinaus aufs Meer und überschreitet die von den Göttern gesetzte Grenze: das „non plus ultra“, die Säulen des Herkules, wo er in der Weite des Ozeans den Tod findet. Dies ist auch der Grund, weshalb Dante auf seiner Jenseitswanderung den homerischen Helden im Inferno antrifft – eine Tatsache, der viele Leser der Divina commedia bis heute mit Verständnislosigkeit begegnen. Dieses Thema des Suchens und Fragens, aber auch des Frevels gegen Gott rückt Dallapiccolas Odysseus in größte Nähe zu Prometheus. Beide – Prometheus und Odysseus – sind Bilder des Menschen schlechthin.47 Schon die Antike hat beide in engster Verbindung zueinander gesehen. Der klassische Philologe Kerényi hat darauf hingewiesen, daß als andere Namen für Prometheus auch „Ithas“ oder „Ithax“ vorkommen, eine Tatsache, die auch Massimo Cacciari in seiner Textzusammenstellung für Nonos Prometeo aufgreift: „Prometheus scaltro Ithax“48. Damit tritt die mythologische Gestalt ins Blickfeld, die mit dem Namen der Insel Ithaka untrennbar verbunden ist: Odysseus. Sowohl Hesiod wie auch Aischylos sehen Listigkeit als die Ureigenschaft des Prometheus an, eine weitere Gemeinsamkeit mit Odysseus, dessen Name selten ohne das Epitheton „der Listenreiche“ („polytropos“) auftritt. So kann es auch nicht überraschen, daß die antiken Münzpräger den Kopf dieser beiden Gestalten auffallend ähnlich bilden: beide „mit der spitzen Mütze der Künstler-Handwerker“49. Doch bevor wir uns im Dschungel der Rezeption antiker Mythen verlieren, wollen wir zu den beiden Werken zurückkehren, die hier vergleichend betrachtet werden sollen. Dallapiccola hat einmal über den 3. Akt des Tristan, den Nono übrigens immer unter den Vorbildern seines Prometeo genannt hat, die folgende Aussage getroffen: „... cominciai a pensare che protagonista del terzo atto di Tristan sia il mare“50. Diese Aussage kann zweifellos auch für seinen eigenen Ulisse übernommen werden. Nicht zufällig erhält die Grundreihe, zu der alle übrigen Reihen des Werks im Verhältnis der Ableitung stehen, den Namen „mare“. Dies führt uns zu einer der wichtigsten Gemeinsamkeiten von Ulisse und Prometeo. Odysseus ist der Seefahrer schlechthin, und auch Nono und Cacciari siedeln ihr Prometheus-Drama in einem Archipelagus an, der auf einer Fahrt von Insel zu Insel durchmessen wird. In 46 47 48 49 50
Dante Alighieri, La divina commedia, Inferno XXVI, 98. August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil (= Kritische Schriften und Briefe, Bd. 5), Stuttgart–Berlin–Köln–Mainz 1966, S. 86. Prometeo, Prologo; vgl. Luigi Nono, Verso Prometeo, hrsg. v. Massimo Cacciari, Milano 1984, S. 65; Karl Kerényi, Prometheus. Das griechische Mythologem von der menschlichen Existenz, Zürich 1946, S. 32. Ebenda S. 33 und 56. Luigi Nono, Verso Prometeo. Conversazione tra Luigi Nono e Massimo Cacciari raccolta da Michele Bertaggia, in: Ders., Scritti e colloqui, Bd. 2 (Anm. 4), S. 353; Luigi Dallapiccola an Wolfgang Wagner, 15. April 1968, in: Ders., Saggi, testimonianze, carteggio, biografia e bibliografia, hrsg. von Fiamma Nicolodi, Milano 1975, S. 104.
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der Textzusammenstellung zur Quarta isola wird der Seeheld Prometheus beschworen: „Se ti è dato essere eroe solo del Mare lo puoi ... Le stelle ti serran la mano al timone“. Es ist nicht zuletzt dieses Motiv der „stelle“, das so eindringlich auf Dallapiccolas Ulisse (und damit zugleich auf Dante) zurückverweist. Für Nono steht das Meer auch in engem Zusammenhang mit dem „neuen Hören“, das ja ein zentrales Thema des Prometeo ist. Immer wieder hat er vom „ascolto pluridirezionale“ gesprochen, der über der Lagune von Venedig möglich sei.51 Das Motiv des Meeres habe seine Musik, ja sein ganzes Leben begleitet, spätestens seit der Vertonung von Antonio Machados Guiomar (1962); dieses Gedicht sei „tutto un testo sul mare“52. Als Renzo Piano 1984 für die Prometeo-Uraufführung in der venezianischen Kirche S. Lorenzo den bekannten hölzernen „spazio musicale“ schuf, da drängte sich sogleich der Gedanke an das Korpus eines Musikinstruments auf: „qualcosa di simile a un violino o meglio, a un liuto o a una mandola: uno strumento musicale costruito talmente in grande ... da contenere dentro di sé l’intero spettacolo, pubblico compreso“.53
Das Archipelagus-Konzept Cacciaris und Nonos legte aber zugleich eine andere, nicht minder beziehungsreiche Konnotation nahe: die eines Schiffsrumpfs. Und in der Tat gestand Renzo Piano ein, daß er durch den Bau antiker Holzschiffe wichtige Anregungen empfangen habe. Allerdings habe er kein fertiges Schiff bauen wollen, sondern ein gleichsam noch in der Werft liegendes, im Bau befindliches Schiff; denn genau das entspreche einem der Grundprinzipien der Musik Nonos: „il rapporto tra ordine e disordine, tra regola e trasgressione, tra interezza e frammentarietà“.54
Zu den Gemeinsamkeiten, die schon bei flüchtiger Lektüre der beiden Partituren ins Auge springen, gehört die große Fülle intertextueller Bezüge sowohl auf der textlichen wie auf der musikalischen Ebene. Das Ulisse-Libretto Dallapiccolas liest sich wie das Kompendium einer 3000jährigen Rezeption des Odysseus-Mythos. Homer, Dante und Joyce bilden den Rahmen, aber viele weitere literaturgeschichtliche Stationen treten hinzu: Tennysons Lotophagen, Hauptmanns Bogen des Odysseus, Kavafis’ Ithaka. (Eine vollständige Aufzählung aller literarischen Quellen ist an dieser Stelle nicht möglich.) Die musikalische Intertextualität Dallapiccolas beschränkt sich auf ein Netz von Selbstzitaten, das sich im Epilog, d. h. in der Todesstunde des Odysseus, erheblich verdichtet. Die dramaturgische Funktion dieser Selbstzitate ist die eines Lebensrückblicks und steht in direktem Zusammenhang mit dem Charakter einer „summa vitae“, den Dallapiccola seinem Ulisse zugesprochen hat, und der diesem Werk einen unmißverständlich autobiographischen Zug verleiht. 51 52 53 54
Luigi Nono, Verso Prometeo (Anm. 48), Milano 1984, S. 30. Ders., Un’autobiografia (Anm. 44), S. 520. Renzo Piano, Prometeo: uno spazio per la musica, in: Luigi Nono, Verso Prometeo (Anm. 48), S. 59. Ebenda S. 62.
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Um das intertextuelle Bezugssystem des Prometeo zu verstehen, muß man sich zunächst die Doppelautorschaft dieses Werks vergegenwärtigen. Doch war die Zusammenarbeit zwischen Cacciari und Nono so eng, das wechselseitige Verständnis so vollkommen, daß ein „Nebeneinander“ von vornherein ausgeschlossen war. Cacciari nennt seinen Text „una rete indistricabile di citazioni“. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu Dallapiccolas Ulisse, in dessen Text Eigenes und Fremdes – trotz hohen Verschmelzungsgrades – doch letztlich unterscheidbar bleiben. Zitieren bedeutet für Cacciari „tradurre“: „überführen“ (in etwas Anderes), „dislocare“ (aus seinem ursprünglichen Ort entfernen), „in-quietare“ (aus der Ruhe bringen).55 Die Quellen, aus denen dieses Zitatennetz schöpft, umspannen gleichfalls einen Zeitraum von fast 3000 Jahren: von Hesiod und Aischylos bis Hölderlin und Walter Benjamin. Das „indistricabile“ der Textmontagen Cacciaris findet seine Entsprechung in der Musik Nonos. Es erweist sich als unmöglich, den Begriff der Intertextualität auf das Einfügen isolierter, deutlich unterscheidbarer musikalischer Zitate zu reduzieren. Von jeher hatte sich Nono gegen eine bloße „pasticcioartige“ Aufnahme von Zitaten ausgesprochen.56 Neben der flüchtigen Anspielung auf konkrete Werke der Musikgeschichte (Josquins Missa Di dadi, Schumanns Manfred-Ouvertüre, Mahlers 1. Symphonie) tritt Nono in einen Dialog mit zeitlich wie räumlich weit entfernten Musikstilen: mit der mehrchörigen venezianischen Kanzone des 16. Jahrhunderts, der Mikrointervallik des jüdischen Synagogengesangs, dem „suono tibetano“.57 Auch wenn im Prometeo die „Caminantes“-Thematik, die der letzten Werkgruppe Nonos zugrunde liegt, noch nicht expressis verbis angesprochen wird, so dürfte doch deutlich geworden sein, daß der Gedanke des ständigen Unterwegsseins – „mit Augen, mit Füßen – und auch mit den Ohren“58 – auch im Prometeo prägende Bedeutung hat. Ausgangspunkt des Projekts war ja ursprünglich die Tragödie des Aischylos Der gefesselte Prometheus gewesen, aber die Gespräche mit Massimo Cacciari hatten sich bald in eine ganz andere Richtung entwickelt; am Ende stand die Entdeckung eines „Prometeo-Wanderer“, der ständig auf der Suche nach neuen Gesetzen, nach neuen Wegen war.59 Der Gedanke des ständigen Unterwegsseins manifestiert sich textlich im Archipelagus-Konzept Cacciaris, musikalisch in Nonos Idee des „suono mobile“. Keine Gestalt der abendländischen Dichtung aber verkörpert diesen Gedanken des ständigen Unterwegsseins in einer so exemplarischen Weise wie Odysseus. Nono hatte die Inschrift „Caminantes, no hay caminos, hay que caminar“ an der Mauer eines Franziskanerklosters in Toledo entdeckt. Der von ihm hoch geschätzte und mehrfach vertonte spanische Dichter Antonio Machado hat 55 56 57 58
59
Massimo Cacciari, Verso Prometeo (Anm. 48), S. 21. Luigi Nono, Intervista di Hansjörg Pauli, in: Ders., Scritti e colloqui, Bd. 2 (Anm. 4), S. 29. Lydia Jeschke, Prometeo. Geschichtskonzeptionen in Luigi Nonos Hörtragödie (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 42), Stuttgart 1997, S. 43–46. Klaus Kropfinger, Luigi Nono: Wege – nicht Werke, in: Ders., Über Musik im Bilde. Schriften zu Analyse, Ästhetik und Rezeption in Musik und Bildender Kunst, hrsg. von Bodo Bischoff, Andreas Eichhorn und Ulrich Siebert, Bd. 2, Köln 1995, S. 592. Luigi Nono, Un’autobiografia (Anm. 44), S. 559.
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diesen Ausspruch zur Grundlage eines seiner Gedichte gemacht; es schließt mit den Versen: „Caminante, no hay camino, sino estelas en la mar“ (Wanderer, es gibt keinen Weg, nur eine Kielspur im Meer)60. In diesem poetischen Bild von der „Kielspur im Meer“ scheinen Prometheus und Odysseus zu einer einzigen Person zu verschmelzen. Auch Dallapiccola hat zahlreiche Machado-Gedichte vertont, und es kann nicht ausgeschlossen werden, daß Nono erst durch diese Kompositionen Dallapiccolas auf den spanischen Dichter aufmerksam wurde. Entscheidend aber ist etwas anderes: Auch für Dallapiccola wurde der Vers eines Machado-Gedichts zum zentralen Leitgedanken, und zwar für alle seine Bühnenwerke seit dem Prigioniero. Es ist der Gedanke der Einsamkeit des suchenden und fragenden Menschen, den Machado in folgende Worte fasst: „Senor, ya estámos solos mi corazón y el mar“. Sogleich fällt auf, daß auch hier, ebenso wie in den oben zitierten, auf Nono bezogenen Machado-Versen, das Motiv des Meeres zentrale Bedeutung hat. Dallapiccolas Gefangener paraphrasiert diesen Machado-Vers am Anfang der II. Szene: „Solo. Son solo un’altra volta ...“ Und am Beginn des Ulisse redet Kalypso den Helden mit Worten an, die den Machado-Vers wörtlich wiedergeben: „Son soli, un’altra volta, il tuo cuore e il mare“. Ulisse und Prometeo: nach allem bisher Gesagten kann uns nicht überraschen, daß Massimo Cacciari in einem seiner (vermutlich frühen) Entwürfe zum Prometeo eine der Episoden mit „Ulisse“ betitelt.61 (Noch ist in den Entwürfen nicht von Inseln, sondern von Episoden die Rede.) Auf meine briefliche Anfrage teilte mir Cacciari mit, ihm sei durch bestimmte Bemerkungen Hesiods eine solche „sinapsi“ nahegelegt worden: „Ulisse (indagatore-Ermete e grande ‚macchinatore‘, anche nel senso della Machenschaft …) mi è apparso della stessa stirpe di Prometeo“.
Doch sei diese „sinapsi“ der beiden Helden natürlich eine reine „invenzione“: „ein Spiel der Einbildungskraft“.62 Und dennoch zog Cacciari in einem Textentwurf, der im Nono-Archiv überliefert ist, eine direkte und höchst aufschlußreiche Verbindungslinie zwischen Prometheus und Odysseus: „Ulisse il Prometeo ‚ormai‘ totalmente ‚caduto‘ nella dimensione umana.“63 Dallapiccolas Ulisse und Nonos Prometeo sind Schwesterwerke – trotz aller Unterschiede des musikalischen Stils und des kompositionsgeschichtlichen Entwicklungsstandes. Allerdings haben die intertextuellen Rückbezüge, die „Zitate“, in beiden Werken eine ganz unterschiedliche Funktion. In Dallapiccolas Ulisse sind sie Teil jenes „summa vitae“-Charakters, von dem der Komponist immer wieder ge60 61 62 63
Antonio Machado, Poesia y Prosa. Tomo II: Poesías completas, hrsg. v. Oreste Macrì, Madrid 1989, S. 575. Lydia Jeschke, Prometeo (Anm. 57), S. 210, Abb. 32; Jürg Stenzl, Luigi Nono (= rororo-Monographien), Reinbek 1998, S. 110. Brief Massimo Cacciaris an den Verfasser, 24. Februar 2004. Archivio Luigi Nono, Venedig, 51.01.01/9, zit. nach: Lydia Jeschke, Prometeo (Anm. 57), S. 205, Anm. 86.
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sprochen hat; sie konstituieren somit vor allem ein Bezugssystem autobiographischer Selbstreflexivität. In Nonos Prometeo dagegen stehen die Zitate im Zusammenhang mit der Konzeption von Geschichte – entsprechend der zentralen Bedeutung, die Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen im Text Massimo Cacciaris zukommt. An dieser Stelle erhebt sich die Frage: Wenn tatsächlich diese geistige Nähe des Prometeo zu Dallapiccolas Ulisse besteht, warum ist dann keine einzige Äußerung Nonos überliefert, in der er sich zu dem Vorbildcharakter des Dallapiccola-Werks offen bekennt? Nur ein einziges Mal – es wurde bereits darauf hingewiesen – wird der Ulisse Dallapiccolas in der Gesamtausgabe der Schriften und Gespräche erwähnt, und zwar in dem 1970 geführten Gespräch mit Leonardo Pinzauti. 1970: das war das Jahr der italienischen Erstaufführung der Dallapiccola-Oper an der Mailänder Scala, und so lag es nahe, auch diese wichtige Premiere in das Gespräch einzubeziehen. Überraschenderweise aber geht Nono auf den von Pinzauti ins Gespräch gebrachten Ulisse nicht ein, sondern antwortet ausweichend – so scheint es auf den ersten Blick – mit einigen eher allgemeinen Bemerkungen. Liest man den Text allerdings genauer, d. h. liest man auch „zwischen den Zeilen“, so wird man feststellen, daß sich das Gespräch nicht so weit vom Ulisse fortbewegt, wie es zunächst scheinen mag. Nono spricht nämlich von Dallapiccolas Katholizität. „Ma vede: Dallapiccola è cattolico.“64 Diese Äußerung steht durchaus, wenn auch unausgesprochen, im Zusammenhang mit dem Ulisse, insbesondere mit dessen eigenwilligem Schluß. Denn Dallapiccolas Odysseus findet in seiner Todesstunde, in der Weite des Ozeans, seinen Gott. Und so wie der erwähnte Machado-Vers den Ulisse eröffnet hatte, so beschließt er ihn auch, diesmal allerdings im umgekehrten Sinne: „Signore! Non più soli sono il mio cuore e il mare.“65 Wir dürfen annehmen, daß Nono diesem Schluß des Odysseus-Dramas seine Zustimmung verweigert hat, auch wenn sich dafür bisher kein Beleg finden ließ. Hier trennen sich die Wege beider Komponisten. Doch beläßt es Nono nicht bei dieser Feststellung des Trennenden. Trotz seiner Katholizität – so hebt Nono ausdrücklich hervor – habe Dallapiccola fast immer Texte von Häretikern vertont, Texte des Protests gegen eine allzu dogmatisch-starre Amtskirche. Diese Form der „Rebellion“ habe er von Dallapiccola übernommen, wenn er in einem seiner letzten Werke, Caminantes ... Ayacucho, einen Text von Giordano Bruno vertont habe.66 Und so steht denn am Ende dieses Beitrags noch einmal der Hinweis auf das Gemeinsame im Denken und Schaffen der beiden Komponisten.
64 65 66
Leonardo Pinzauti, A colloquio con Luigi Nono, in: Luigi Nono, Scritti e colloqui, Bd. 2 (Anm. 4), S. 92. Ulisse, II. Akt, T. 1025–1032. Leonardo Pinzauti, A colloquio con Luigi Nono (Anm. 64); vgl. auch Luigi Nono, Intervista di Philippe Albéra (Anm. 11), S. 422.
LUIGI DALLAPICCOLA
Der Weg zu zwölf Tönen* Zunächst muß ich vorausschicken: das Folgende ist keine Studie über die Zwölftonmethode und erhebt auch nicht den Anspruch darauf. Diese Erklärung wird für den nachhaltigen und unvermeidlich autobiographischen Charakter meiner Ausführungen hoffentlich ausreichend sein. Unvermeidlich wohl deshalb, weil meine Erfahrung mit der Zwölftonmusik eine lange, lange Zeit vor die Veröffentlichung der höchst wertvollen Bücher von René Leibowitz1 zurückreicht. Ich nenne sie höchst wertvoll, selbst wenn dieser Aspekt auch seine unglückliche Seite hat, insofern als selbst die besonders inkompetenten Leser mit dem Wissen um die Möglichkeiten eines Themas versorgt werden, das weit davon entfernt ist, festgeschrieben zu sein. Man sollte sich bewußtmachen, daß Arnold Schönberg selbst niemals „Zwölftontechnik“ unterrichtet hat und Ernst Krenek noch 1936 schrieb, daß jeder, der damals mit der Kompositionsmethode zu tun hatte, sich auf eigene Erfahrungen stützen mußte.2 Eine einzige Begegnung kann maßgebend für ein ganzes Leben werden. Mein Schicksal hat sich am 1. April 1924 entschieden, als ich einer Aufführung von Arnold Schönbergs Pierrot lunaire unter dessen Leitung in der Sala Bianca des Palazzo Pitti [in Florenz] beiwohnen durfte. An diesem Abend lieferten sich Studenten vor Beginn der Aufführung in typisch südländischem Übermut ein Pfeifkonzert, das Publikum trampelte mit den Füßen und lachte. Giacomo Puccini indes lachte nicht. Er folgte der Aufführung höchst aufmerksam mit der Partitur und erbat im Anschluß daran, Schönberg vorgestellt zu werden. Noch zwanzig Jahre danach hat sich Schönberg dieser Begegnung entsonnen. In einem an mich gerichteten Brief vom 16. September 1949 erinnerte sich der Schöpfer der Zwölftonmethode dieser Geste unseres großen beliebten Komponisten mit folgenden Worten:
*
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2
Nach dem – hier gekürzt wiedergegebenen – Aufsatz von Luigi Dallapiccola, Sulla Strada della dodecafonia, in: Aut-Aut 1/1 (Jänner 1951), S. 30ff.; Nachdruck in: Parole e Musica, hrsg. von Fiamma Nicolodi (= La Cultura. Saggi di arte e di letteratura, Bd. 53), Milano 1980, S. 448ff.; autorisierte englische Übersetzung: On the Twelve-Note Road, in: Music Survey 4/1 (October 1951), S. 318–332; Übersetzung aus dem Englischen durch die Herausgeber. René Leibowitz, Schoenberg et son école. L’étape contemporaine du language musical, Paris 1947 [Rezension von Luigi Dallapiccola in: Le Tre Venezie 21 (Juli–September 1947), S. 287ff.]; sowie René Leibowitz, Introduction à la musique de douze sons. Les Variations pour orchestre op. 31 d’Arnold Schoenberg, Paris 1949. Ernst Krenek, Die Musikalischen Systeme der Nachkriegszeit, I. Das Zwölftonsystem, b: Thesen, in: Musica Viva 1/2 (Juli 1936), S. 4–7.
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Luigi Dallapiccola
„Auf Puccini’s Besuch der Pierrotaufführung war ich immer stolz. Es war sicherlich ein Zeichen menschlicher Größe, dass er da zu mir gekommen ist – und eine große Freundlichkeit.“3
Daß Schönberg mich bei dieser Gelegenheit tadelte, mich selbst damals nicht vorstellig gemacht zu haben, ist eine andere Geschichte. Welche Berechtigung, welche Reputation, namentlich oder im Werk, hätte ich damals auch vorweisen können, um es zu wagen, mich dem Meister vorzustellen? Selbst sechs Jahre später in Berlin habe ich mir diesen Schritt noch nicht zugetraut. [...] An jenem Abend, an dem ich Arnold Schönberg sah, hatte ich das Gefühl, vor einer Entscheidung zu stehen. Natürlich ging es nicht darum, sich der Atonalität zu „verschreiben“, sondern vielmehr den Beruf als solchen zu ergreifen. Wenn man heute meinen Namen nennt, spricht man von mir als einem ZwölftonKomponisten; ein Experte hat sogar einmal meine Ausnahmestellung unterstrichen. Eine Ausnahmestellung, die davon herrührt, daß ich mir die Zwölftontechnik zu einer Zeit erarbeiten mußte, als ich keinerlei Kontakt zu den Meistern der Wiener Schule (Schönberg, Berg, Webern) und ihren Schülern pflegte. Vielleicht bin ich nicht der einzige Komponist meiner Generation, dem es so ergangen ist, aber ich gebe schon zu, daß meine Situation ein wenig kurios war. [...] Die Atonalität schien eine Zeit lang überwunden oder in Vergessenheit geraten zu sein (wenn sie auch zur großen Verwunderung ihrer Kritiker nach dem Krieg wieder in Erscheinung getreten ist). In den ersten zehn Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hat man in Europa von nichts anderem gesprochen als vom Neoklassizismus. Um 1930 wurde in Italien und auch außerhalb in den Medien ohne Zögern behauptet, Deutschland habe nur einen großen Musiker, und das sei Paul Hindemith. Die politischen Umstände haben dazu geführt, daß man atonale oder dodekaphone Musik weniger und weniger hören konnte. Der Aufstieg von Adolf Hitler (einem großen Kunstkenner, wie alle selbstbezogenen Diktatoren) hat das Ende von öffentlichen Aufführungen solcher Musik in Deutschland eingeleitet. In Italien waren Aufführungen nicht im eigentlichen Sinne verboten, es verging jedoch kaum ein Tag, an dem ein Ästhetiker (ein Kritiker-Komponist natürlich) nicht den einen oder anderen Komponisten in der Öffentlichkeit seines Internationalismus bezichtigte, was in der Sprache dieser Tage auch Antifaschismus oder noch präziser Kommunismus bedeuten konnte. Was eine wie immer geartete Haltung in der hier geschilderten Art mit ästhetischen Fragen generell zu tun habe, ist mir ein Rätsel. Auch die Kritik unterliegt Systemen, das sei an dieser Stelle gesagt. Sogenannte atonale Musik wurde schon vor dem Faschismus selten aufgeführt, und dies auch während des Faschismus, das hat kaum je einen Unterschied gemacht. Gerade in dieser Zeit, als sich jeder gehütet hat, atonale Musik oder Zwölftonmusik überhaupt nur zu erwähnen, habe ich begonnen, mich brennend für diese Themen zu interessieren. (An dieser Stelle sei Guido M. Gatti gedankt, der 1937 in einer 3
Den vollständigen Briefwechsel zwischen Luigi Dallapiccola und Arnold Schönberg siehe im Beitrag von Hartmut Krones in diesem Band, S. 53–70.
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Rezension beim Festival in Venedig auf meine „unrealistische“ Haltung hingewiesen hat.) Bereits in der ersten Periode meiner kompositorischen Laufbahn zwischen 1934 und 1939, vom Divertimento in quattro esercizi bis zu Volo di notte, scheinen – wenn auch zunächst nur behutsam eingesetzt – in meinen Werken Zwölftonreihen auf; in einigen Fällen zu farblichen, in anderen ausschließlich zu melodischen Zwecken. Damals wäre ich über eine unterstützende Unterweisung dankbar gewesen, oder zumindest über ein paar fanatische Gegner. Ich konnte nur niemanden finden. Jede Erstaufführung eines Werkes von Strawinsky war das Ereignis des Jahres; Hindemith war Mode; Bartók hatte noch zehn Jahre, also bis nach seinem Tod, zu warten, ehe er langsam entdeckt wurde. (Sie kommen immer zum rechten Zeitpunkt, diese Entdecker!) Wann immer ich mich mit jemandem über die Zwölftontechnik besprechen wollte, habe ich zur Antwort erhalten, „die Zeiten sind vorbei“. Jemand hat mir freundlich geraten, meine Zeit nicht mit „unrealistischem“ Kram zu vergeuden. In Italien verstand man damals Barockmusik als „realistisch“ und versuchte eine Musik zu schreiben, die der Architektur eines Bernini vergleichbar sein sollte. (Ach! In zu vielen Fällen hat diese Musik eher der Architektur des Piacentini geähnelt ...). So habe ich mich also praktisch allein befunden. Mit dem Einmarsch der HitlerTruppen in Österreich wurde es immer schwieriger, an Werke der Meister der Wiener Schule heranzukommen. Die wenigen Beiträge darüber, die um 1925 erschienen sind, waren nicht zugänglich, und das wenige Greifbare war mir zu schematisch und keinerlei Hilfe. Von Zeit zu Zeit habe ich mich daran versucht, atonale Werke zu analysieren, und bin in vielen Fällen gescheitert, in einigen war ich erfolgreicher. Ich habe erkannt, daß eine Analysemethode einem Werk entsprach, einem anderen wiederum nicht. Weit davon entfernt, mich von den verhältnismäßig dürftigen Resultaten entmutigen zu lassen, habe ich mich eines Ausspruchs von Ferruccio Busoni entsonnen: „Meidet die Routine, beginnt jedesmal, als ob ihr nie begonnen hättet [...]!“4 Mit dem Kriegsausbruch gestaltete sich die Informationsbeschaffung noch schwieriger als zuvor. Auch die geschilderte Einsamkeit war nahezu unumgänglich. Mein Zugang zur Zwölftontechnik mag heute wenig geistreich erscheinen, dessen bin ich mir voll bewußt. Heute deshalb, weil nunmehr jeder sich die Partituren der Wiener Schule beschaffen kann und René Leibowitz in seinem Buch5 jedes Detail der Methode, die mich so interessiert hat, bis ins kleinste erklärt und dabei genaue Analysen mit Hilfe von reihentechnisch bezeichneten Tönen liefert. Aber 1940 hat das alles noch gar nicht existiert. Wer auch immer sich auf den Weg zu zwölf Tönen begeben wollte, hat sich allein auf seine eigene Erkundungsgabe verlassen müssen. Aus der Distanz von einigen Jahren heraus betrachtet, kann ich mich darüber 4 5
Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Mit Anmerkungen von Arnold Schönberg und einem Nachwort von H. H. Stuckenschmidt, Frankfurt am Main 1974, S. 41. René Leibowitz, Introduction à la musique de douze sons (Anm. 1).
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nur glücklich schätzen, so viel aus mir selbst heraus erreicht zu haben, trotz aller dabei begangener Fehler. Ich habe bereits vor einiger Zeit darauf hingewiesen, daß die Verständnisschwierigkeit der Zwölftonmusik nicht auf der Zahl ihrer inhärenten Dissonanzen beruhe. Ich habe das spätestens 1935 beim Festival der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Prag erkannt, als ich Anton Weberns Konzert, op. 24, hörte, ein Werk, das ich deshalb bewunderte, weil es mir über das reine Verstehen als Musik hinaus das höchste Ideal des Komponisten auszudrücken schien. Es war mir bereits klar, daß die Verständnisschwierigkeit von Musik dieser Art anderen Faktoren zuzuschreiben sei, darunter ihrer neuartigen Dialektik. Bei demselben Festival, als ich zum ersten Mal Schönbergs Variationen für Orchester, op. 31, hörte, fiel mir etwas auf, das mir am Konservatorium noch keiner beigebracht hatte. Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen klassischer Musik (ich spreche von der Sonatenform als ihrer vielleicht höchsten Errungenschaft) und Musik, die auf Reihen beruht, kann wie folgt formuliert werden: In der klassischen Musik ist das Thema nahezu immer einer melodischen Umgestaltung unterworfen, indes der Rhythmus weitgehend unverändert bleibt. In einer auf Reihen basierenden Musik muß die Gestaltung auf eine Anordnung von Tönen abzielen, die von Fragen des Rhythmus unabhängig ist. Meine erste Begegnung mit zwei großen Schriftstellern, James Joyce und Marcel Proust, geht auf diese Zeit zurück. In Ermangelung von Lehrbüchern über Zwölftonmusik und den Partituren, die ich gebraucht hätte, fand ich bei diesen Schriftstellern Bestätigung darüber, was ich nach dem Hören von Schönberg und Webern bereits schemenhaft erahnt hatte. In den Werken von James Joyce, insbesondere Ulysses, wurde ich unmittelbar durch deren Assonanzen angezogen. Bereits vor einigen Jahren hatte ich Gelegenheit, auf einige musikalische Assonanzen bei Webern hinzuweisen und diese mit bestimmten Passagen aus dem Ulysses zu vergleichen.6 Die Art und Weise, wie Joyce den Namen von Lynch, dem jungen Freund von Stephen Daedalus, ausschöpft, ist beispielgebend und weit mehr als nur ein Wortspiel. In der Bordellszene (korrespondierend mit der Circe-Episode aus der Odyssee) habe ich folgende Passage gefunden: STEPHEN: Hm. (He strikes a match and proceeds to light the cigarette with enigmatic melancholy). LYNCH: (Watching him). You would have a better chance lighting it if you held the match nearer. STEPHEN: (Brings the match nearer his eye). Lynx eye.
Ein weiteres Beispiel aus dieser Szene: 6
Luigi Dallpiccola, Incontro con Webern, in: Il Mondo: lettere scienzi arti musica 1/15 (3 novembre 1945), S. 12ff.; autorisierte deutsche Teilübersetzung: Begegnung mit Anton Webern, in: Melos 32/4 (April 1965), S. 115–117.
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Stephen: .... Married. ZOE: It was a commercial traveller married her and took her away with him. FLORRY: (Nods). Mr. Lambe from London. STEPHEN: Lamb of London, who takest away the sins of our world. LYNCH: (Embracing Kitty on the sofa, chants deeply). Dona nobis pacem.
Die Liebe zum Wort bei Joyce, so nahe der Liebe zum Ton (wiedererstanden in der Musik unserer Zeit), könnte in diesem Fall sogar auf die berühmte, texttreue französische Übersetzung übertragen werden. Stephen: .... Mariée. Zoe: C’est un voyageur de commerce qui l’a épousée et qui l’a emmenée avec lui. FLORA: (Appuie). C’est M. Lagneau, de Londres. STEPHEN: Agneau de Londres, qui envelez les pechés du pauvre monde. LYNCH: (Qui enlace Kitty sur le sopha, psalmodie). Dona nobis pacem.
An anderer Stelle hingegen – der Unmöglichkeit geschuldet, Assonanzen einwandfrei zu übersetzen – waren die Übersetzer (vom Autor bekanntlich unterstützt) dazu gezwungen, einen ganzen Abschnitt neu zu formulieren, um dieser Liebe zum Wort zu entsprechen. Und so begegnen wir folgendem Fall aus der MusikzimmerSzene, die mit der Episode der Sirenen in der Odyssee korrespondiert. He heard Joe Maas sing that one night. Ah, what M’Guckin! Yes. In his way. Choirboy style. Maas was the boy Massboy.
Was in der französischen Übersetzung folgendermaßen umgeschrieben wurde: Il avait entendu Joe Coeur chanter ça un soir. Ah, oui, M’Guckin! Oui. Dans sa manière. Style d’enfant de choeur. Mais Coeur c’était l’as. L’as de coeur.
Daraus glaubte ich gelernt zu haben, bis zu welchem Punkt eine identische Folge von Tönen eine unterschiedliche Bedeutung annehmen kann, indem diese neu angeordnet werden. Ich war auch von Joyces gelegentlicher Verwendung eines identischen Wortes gefangen – zunächst in seiner originalen Gestalt und danach in umgekehrter Form, mit dem letzten Buchstaben beginnend und dem ersten endend (wie der Krebs in der Musik). Damals hatte ich noch keine Ahnung (Vladimir Vogel hat mir erst später davon erzählt), daß in einigen alten Sprachen die Wurzeln einzelner Wörter entgegengesetzter Bedeutung (Dio – il Demonio! la luce – l’oscurità) dieselben sind und einzelne Wörter, auch wenn man sie krebsgängig liest, immer noch einen Sinn ergeben. Meine Beobachtungen an der Prosa von Joyce ermutigten mich und zeigten mir auf, daß im Grunde genommen alle Problemstellungen in den Künsten eigentlich eine einzige Problemstellung sind. Die Assonanzen, die ich bei Joyce fand, lehrten mich die Notwendigkeit, vor allem in der Vorordnung einer Zwölftonreihe gewissenhaft und sorgfältig vorzugehen. [...]
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Ich habe irgendwo gelesen (ohne zu wissen, ob der Autor kompetent oder unbedeutend war), in einem Zwölftonsystem seien alle zwölf Töne von gleicher Bedeutung. Offensichtlich waren damals noch viele Probleme gar nicht gelöst. Für mich lag auf der Hand: selbst wenn, vom quantitativen Standpunkt aus, die Töne gleich an Anzahl wären, sollte doch ein Aspekt von enormer Wichtigkeit nicht übersehen werden: der Moment, oder der konkrete Punkt innerhalb eines Taktes, an dem der Ton erklingt. Infolgedessen sehen wir, wie der Faktor Zeit hinzukommt, der eine vierte Dimension der Musik repräsentiert. Selbstverständlich wird ein Ton, der auf den schwachen Taktteil fällt, kaum jene Bedeutung haben wie ein Ton, der auf den starken Taktteil fällt. Dasselbe kann über Töne in einer schnellen Passage gesagt werden, verglichen mit jenen in einer langsamen. Unterschiede dieser Art finden sich genauso in der klassischen Musik wieder, das weiß ich genau. Aber um wieviel subtiler und delikater sind solche Verhältnisse in der Zwölftonmusik! Folglich kam ich zum Schluß: wenn im Zwölftonsystem die Tonika wegfiele, und mit ihr das Tonika-Dominant-Verhältnis, und sich in der Konsequenz die Sonatenform gänzlich auflöste, gäbe es dennoch eine Art Anziehungskraft, die ich schließlich mit Polarität bezeichnete (ich weiß nicht, ob eine solche Definition zuvor Verwendung fand oder ob es bereits eine Alternative dazu gibt). Ich meine mit diesem Begriff extrem subtile Verhältnisse, die zwischen einzelnen Tönen bestehen. Diese Verhältnisse sind nicht immer leicht wahrzunehmen, da sie weit weniger offensichtlich als jene zwischen Tonika und Dominante sind, aber sie meinen letztlich alle dasselbe. Das Interessante an der Polarität sind die Wandlungen von einem Werk zum nächsten. Eine Reihe kann uns die Polarität zwischen erstem und zwölftem Ton deutlich machen, eine andere jene zwischen zweitem und neuntem, usw. Hier kommt nun der erwähnte Zeitfaktor hinzu und verdeutlicht seine wahre Funktion: auf diese Weise können wir charakteristische Intervalle nachhaltiger als andere einsetzen, um unsere musikalischen Gedanken verstehbar zu machen. (Ich kann nicht für jene sprechen, die weder verstehen können noch wollen, noch für das unzählige Gefolge von Luigi Cherubini, der sich dagegen verwehrte, die Symphonie fantastique von Hector Berlioz anzuhören, mit der Begründung, es gäbe keine Notwendigkeit zu hören, wie Musik nicht geschrieben werden solle.) [...] Ehe wir eine rhythmische und melodische Ausgestaltung einer Reihe erreichen, finden wir diese möglicherweise auf einen einzelnen Akkord von zwölf Tönen komprimiert, zwei Akkorde von je sechs Tönen, drei zu vier oder sogar sechs Akkorden zu je zwei Tönen ... um nur die elementarsten Möglichkeiten zu nennen. Man muß sich vor Augen halten, daß in jeder dieser Kombinationen der Sinn für die Polarität lebendig und präsent bleiben muß, um dem Zuhörer den musikalischen Gehalt nachvollziehbar zu machen. [...] Man hört oft die Frage: ist die Zwölftonmusik eine Sprache oder eine Technik? Für meinen Begriff ist sie sogar eine Geisteshaltung. Mir erscheint sie jedenfalls als
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natürliche Entwicklung in der Musik, und Schönbergs jüngste Definition von der „neuen Logik“ wird eines Tages vielleicht so aussagekräftig sein wie die „Seconda practica“, die Monteverdi drei Jahrhunderte zuvor eingeführt hatte. Für lange Zeit zeigte die Tonalität Anzeichen, unzureichend für alles zu sein, das Musiker unbedingt ausdrücken wollten. Wir können bis zu Wagner und Debussy zurückgehen, um selbst auf große Komponisten zu treffen, die nach neuen Regeln gesucht haben, auf deren Basis sie ihre poetische Welt greifbar machen konnten. Diese Bewegung in Richtung Aufhebung der Tonalität ging immer schneller voran. Es entstanden in rascher Folge Polytonalität, Atonalität, ungewöhnlichste Skalen, es gab Viertel- und Sechsteltonsysteme, ehe die Zwölftonmusik entwickelt wurde, welche die umfassendste Antwort auf methodische Fragestellungen der Komposition gibt, insofern sie eine Basis anbietet, auf der gebaut werden kann. Ich persönlich wende diese Methode an, weil sie mir auszudrücken erlaubt, was ich ausdrücken muß. Die Reihentechnik ist indes nur ein Mittel für den Komponisten, Zusammenhang in seinen musikalischen Aussagen zu stiften. Wenn jemand behauptet, die Reihentechnik stifte diesen Zusammenhang automatisch, irrt er gewaltig, da noch keine künstliche Technik je etwas garantiert hat, und die Einheit eines solchen Werkes würde – zusammen mit seiner Melodik, Rhythmik und Harmonik – ein minderes Ergebnis zeitigen. Es ist nicht irrelevant, daß die Wagnersche Leitmotivtechnik in erster Linie ein Mittel zur Erleichterung des musikalischen Zusammenhangs war. Während diese Technik in Tannhäuser und Lohengrin nur sporadisch eingesetzt wird, ist sie im Tristan, jenem Werk, in dem das (einst als Mittel zur Bildung von Einheit eingesetzte) Dominant-Tonika-Verhältnis weitgehend abgebaut ist, bereits voll entwickelt. Die Tonalität besteht nach wie vor und wird vermutlich noch eine lange Zeit bestehen. Es erstaunt mich immer wieder, wenn ich gefragt werde, ob ein bestimmtes Werk strikt zwölftönig sei oder nicht. Genauso erstaunt war ich, während des Festivals in Venedig 1949 zu erfahren, Schönberg habe sich des Verrats schuldig gemacht, weil er mit der Zweiten Kammersymphonie noch einmal ein tonales Werk vorgelegt habe. (Hat nicht auch Dante in den Jahren, als er an der Divina Commedia arbeitete, weiterhin auch in Latein geschrieben?) Wir befinden uns wieder einmal am Beginn einer Epoche. Wir sehen, daß jedes Zwölftonwerk neue Problemstellungen aufwirft und im Erfolgsfall neue Lösungen bereit hält. Wenn es Erfolg hat, sage ich deshalb, weil in der Kunst Erfolg zu den Ausnahmefällen zählt. (Ich wage die Behauptung, daß sogar in den drei Jahrhunderten tonaler Musik alberne Werke entstanden sein mögen, einige davon sogar von heute noch lebenden tonalen Komponisten, zumindest je eines von ihnen.) In den letzten Jahren hat die Praxis die Strenge bestimmter früherer Theorien relativiert. Wir sehen auch, wie Stücke, die bis vor ein paar Jahren im allgemeinen noch als unaufführbar und unverständlich galten, nicht länger problematisch erscheinen.
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Was man auch sagen mag, keine Methode (oder sogenannte Methode), die in diesem Jahrhundert hervorgebracht wurde, hat mehr in Bewegung setzen können als die Dodekaphonie. Keine andere Methode wurde so beharrlich und erbittert bekämpft; andere hingegen sind, einmal in Vergessenheit geraten, nie mehr wieder in Gebrauch gekommen, wohingegen diese sehr wohl wieder in Erscheinung getreten ist – nach den Jahren der Isolation während des Krieges unabhängig voneinander in sämtlichen Ländern. Heute werden so manche Zwölftonwerke vom Publikum bejubelt. Der Erfolg des Survivor from Warsaw, op. 46, beim Festival von Venedig verdient besondere Beachtung, trotz der teilweise grotesken Versuche einiger Presseleute, dessen Bedeutung herabzuspielen. [...] Wenn wir auch heute noch viel zu nah an den Ereignissen sind, um eine Geschichte der Dodekaphonie schreiben zu können, ist es doch sicher, daß etwa innerhalb des nächsten Jahrzehnts die Zwölftonbewegung ihre vollständige Rechtfertigung gefunden haben wird, selbst in den Augen ihrer heutigen Gegner. [...]
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Erfahrungen mit der Zwölftonmethode* Ich habe anfangs lange geschwankt, ob ich dem an mich gerichteten Ansuchen meines Freundes Rufer nachkommen sollte, etwas über meine persönlichen Erfahrungen auf dem Gebiet des Zwölftonsystems zu schreiben. Wie ich schrittweise zur Zwölftonmusik gekommen bin, ist von mir (mit einer Aufrichtigkeit, die manchen verwirrend erscheinen wird) in einem Artikel der italienischen Zeitschrift Aut Aut (Jänner 1951) dargelegt worden, der in englischer Übersetzung in Music Survey (Oktober 1951) nachgedruckt wurde.1 Wer den betreffenden Aufsatz gelesen hat, wird sich darüber klar sein, daß meine Mentalität nicht die eines Theoretikers ist oder sein kann; daß ich zum Zwölftonsystem aus der Notwendigkeit gelangt bin, mich auszudrücken, in einem Zeitpunkt, in dem keine Bücher existierten, welche die Entdeckung Schönbergs erklärt hätten und in dem seine Werke nicht erhältlich waren; daß ich offen meine zahlreichen „technischen Irrtümer“ bekannt habe. Schönberg hinterließ der Nachwelt ein ungeheures Gebiet zur Auswertung; ein Gebiet, so weit, daß vielleicht erst künftige Generationen es in seiner ganzen Ausdehnung werden ermessen können. Nicht eines der Probleme, die ein Musiker in Zukunft sich stellen und entwickeln kann, hat Schönberg nicht wenigstens flüchtig vorausgeahnt. Jedes Werk des Meisters hat das ausgedrückt, was er ausdrücken m u ß t e , und dem verdankt es jenes Merkmal der Authentizität, das jede seiner Schöpfungen von den Werken unterscheidet, die von der Mode abhängig sind. Der Vorwurf, den mancher Kritiker Schönberg macht, er habe nicht a l l e s vorausgesehen, was das Zwölftonsystem an Möglichkeiten enthält, ist eine Meinung, die ich nicht im geringsten erörtern will, zumal meine Schrift eine Polemik weder enthalten noch herausfordern will. Ein solcher Vorwurf käme der Absicht gleich, das Genie von Columbus zu verkleinern, weil er Amerika entdeckt habe, obwohl er glaubte Indien zu entdecken, und ihm vorzuwerfen, daß er uns nicht auch die exakte Ausdehnung Amerikas in Quadratkilometern gegeben habe. *
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Unbetitelte Antwort auf eine Rundfrage von Josef Rufer an „eine Reihe zeitgenössischer Komponisten […], sich im Rahmen“ seines Buches über Die Komposition mit zwölf Tönen, Berlin und Wunsiedel 1952 [Dallapiccolas Beitrag S. 162–165], „über ihre kompositorischen Erfahrungen mit der Erfindung beziehungsweise der Methode Schönbergs zu äußern und wenn möglich an konkreten Beispielen ihre individuelle Handhabung, eventuelle Modifikationen dieser ,klassischen‘ Methode zu demonstrieren.“ Rufer führte in seiner Vorrede zu dem Anhang ferner aus: „Was sie zu sagen haben, dokumentiert aufs eindrucksvollste die umfassende Bedeutung, die Schönbergs Idee für die Entwicklung der Musik hat, sowie die geistige und künstlerische Weite, die in ihrem ganz undogmatischen und zutiefst musikalischen Charakter beschlossen liegt. Denn sie stand stets unter der höheren Idee, der dieser Meister alles unterordnete: M u s i k zu machen.“ (Die Titel von Artikeln bzw. Kompositionen, die Dallapiccola ohne Anführungszeichen schrieb, wurden von d. Hrsg. kursiviert.) Deutsche Teilübersetzung dieses Beitrags S. 231–238 in diesem Band.
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Irgendein Kommentator meinte, daß Schönberg sich wenig damit beschäftigt habe, den rhythmischen Faktor zu erneuern. Ein solcher Vorwurf ist leicht zu widerlegen, wenn man nur ein einziges seiner Werke anführt, die Suite für Klavier, op. 25. Daß das rhythmische Gebiet für das Genie Schönbergs vielleicht nicht ein Hauptanziehungspunkt war, mag von vielen anderen Faktoren abhängen, darunter dem, daß vielleicht Musikern des germanischen Kulturkreises der Faktor der r h y t h m i s c h e n A b w e c h s l u n g weniger angeboren, weniger wichtig ist, als beispielsweise den Musikern slawischen Ursprungs. Man übersehe nicht, daß Wagner – und das sei gewissen Anti-Wagnerianern von heute ganz friedfertig gesagt –, einen [!] der größten Neuerer, den die Musikgeschichte kennt, dem rhythmischen Faktor keineswegs besondere Sorge zuwendete. In seinem ganzen gigantischen Werk verwendete er ein einziges Mal den 5/4 Takt und vermerkte es obendrein mit sonderbarer Vorsicht. Bei Schönberg die Varietät der rhythmischen Artikulation eines Strawinsky zu suchen, wäre ebenso unsinnig, wie von Beethoven die Biegsamkeit der Artikulation eines Chopin zu erwarten. In Schönbergs Schrift „Die Komposition mit zwölf Tönen“ (Style and Idea) findet sich ein [mit] Chicago 1946 datierter Nachtrag, in dem der Meister feststellt, daß in den „letzten zehn Jahren“ bestimmte Regeln, die die Verdopplung der Oktav und den Gebrauch gewisser Fundamentakkorde betreffen, etwas von ihrer ursprünglichen Schärfe verloren haben. Dieses brennende Problem, wie auch das der „falschen Oktavbeziehungen“ wird uns zu einer Prüfung und noch strengeren Kontrolle unseres Tonmaterials zwingen, und zu einer besonders genauen Präzision der Artikulation. Denn es versteht sich von selbst, daß zwei Töne, die im Intervall der Oktav relativ benachbart sind, beispielsweise weniger auffallen werden, wenn sie sich in Mittelstimmen befinden, als in Außenstimmen; oder wenn sie die betonten Taktteile umgehen (wenigstens dort, wo man von starken und schwachen Taktteilen sprechen kann). Selbst Anton Webern, unbestritten der radikalste unter den Schülern Schönbergs, stellt uns – unbeschadet seiner Meisterschaft der Artikulation – vor gewisse falsche Oktavbeziehungen (z. B. in „Das Augenlicht“), selbst Webern vermittelt uns auch – in den äußerst radikalen Variationen op. 27 – auf diese Weise einen Eindruck (Takte 6–7), der keine astronomische Entfernung vom T o n i k a - D o m i n a n t verhältnis hat. Meine persönliche Bemühung ist heute mehr als je (soweit es meine Kräfte gestatten) auf die Durchdringung aller Möglichkeiten des Systems gerichtet, auf seine geduldige Klärung, auf Sensibilität, nicht auf Theorie. Die e n d g ü l t i g e n Regeln (vergessen wir nicht, daß Schönberg mahnte „… die andere Schönheit, die man besitzen kann in festen Regeln und festen Formeln, diese Schönheit ist die Sehnsucht der Unproduktiven“) dieser neuen Sprache, die – wie jede andere Sprache – eine lebende Sache ist, wird man n a c h t r ä g l i c h feststellen; sie werden von den Theoretikern künftig auf Grund dessen kodifiziert werden, was die schöpferischen Künstler in ihren Werken realisiert haben werden.
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Zahlreich sind also die Gebiete, auf welchen die kommenden Generationen wertvolle Arbeit leisten können und sollen. Für mich persönlich war das Gebiet, das mich bisher am Zwölftonsystem am meisten anzog, das m e l o d i s c h e . Man weiß, wie verschieden die Vorstellung von Melodie in den Jahrhunderten war: ein Beweis für die Vielfalt dieser Vorstellung ist die Tatsache, daß jedem musikalischen Neuerer von seinen Zeitgenossen als erstes der Mangel an Melodie vorgeworfen wurde. Ferruccio Busoni war, soviel ich weiß, einer der ersten, wenn nicht der erste, der in unserer Zeit prophezeite, daß der Melodie die Zukunft gehöre (Briefe an seine Frau, Zürich 1935, S. 230). Und gegen Ende 1920 schrieb er zu diesem Thema (Aufzeichnungen in „Von der Einheit der Musik“, S. 287, Berlin, 1922): „Versuch einer Definition der Melodie: eine Reihe von wiederholten (1), steigenden und fallenden (2) Intervallen, welche rhythmisch (3) gegliedert und bewegt, eine latente Harmonie (4) in sich enthält und eine Gemütsstimmung (5) wiedergibt; die unabhängig von Textworten als Ausdruck (6) unabhängig von Begleitstimmen als Form (7) bestehen kann und besteht; und bei deren Ausführung die Wahl der Tonhöhe (8) und des Instrumentes (9) keine Veränderung auf ihr Wesen ausübt. (Die als eingeklammerte Ziffern angezeichneten neun Argumente müßten erklärend kommentiert werden.)“ Busoni hat uns leider zu dem so interessanten Versuch einer Definition der Melodie keine Kommentare hinterlassen. Doch ist das, was er schrieb, meinem Geiste immer gegenwärtig geblieben, und es sei mir erlaubt, hier drei Beispiele von M e l o d i e n aus meinen Arbeiten zu geben. Das erste ist der Anfang der „Sex Carmina Alcaei“ (1943; Ed. Suvini-Zerboni, Milano) und ist auf der Grundreihe und ihrer krebsläufigen Form aufgebaut. Das zweite, den „Tre Poemi“ (1949, Ars Viva – Hermann Scherchen, Zürich) entnommen, enthält die V i e r f ä l t i g k e i t durch krebsläufige Bewegung (die Originalform dieser Vierfältigkeit wurde in den Takten 1–8 herausgestellt). (Tab. XXIV). [Abbildung nächste Seite] Das dritte, das Teil eines „Work in progress“ ist (ich entlieh den provisorischen Titel, den James Joyce jahrelang für sein letztes Werk beibehielt), ist aus der Grundreihe und ihrer transponierten Krebsform entwickelt. Diese Melodie umfaßt alle im temperierten chromatischen System möglichen Intervalle, also von der kleinen Sekund bis zur großen Septime, und eignet sich besonders gut für unregelmäßige Kanons, sei es in der zitierten Form, sei es in der einer Gegenbewegung.
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Abbildung: Luigi Dallapiccola, Notenbeispiel aus: Josef Rufer, Die Komposition mit zwölf Tönen, Tab. XXIV.
Personenregister Abbado, Claudio 133 Abraham, Gerald 79 Adorno, Theodor W. 48, 173 Aischylos 225, 227 Aldrovandi-Gatti, Clelia 21 Alexander VI. [Papst] 190 Alkaios von Lesbos 113, 194, 198, 200, 213 Anakreon 194, 199f. Andraschke, Peter 46, 48, 51, 171– 192 Apostel, Hans Erich 18, 29 Aragona, Livio 211, 216, 219 Aristoteles 55, 147 Arun, Max 152 Augustinus 192 Bach, Anna Magdalena 179 Bach, Johann Sebastian 108, 137, 179–182, 184, 200, 212, 215, 217 Bachmann, Claus-Henning 110 Badings, Henk 18 Badura-Skoda, Paul 85 Baier, Christian 134 Baldovino, Amedeo 118 Balk, Johanna 129 Ballo, Ferdinando 50 Barilli, Bruno 20 Bartók, Béla 21, 79, 131, 233 Baumgarten, Ulrich 84 Bautista, Julian 14 Beethoven, Ludwig van 55, 174, 240 Bellugi, Piero 106, 133 Benjamin, Walter 227, 229 Berg, Alban 11ff., 18, 20, 29, 46, 106, 108, 131, 140, 142f., 157, 161, 171f., 184, 187, 193, 195ff., 204, 232 Berg, Helene 37f., 74 Berio, Luciano 112f., 211 Berlioz, Hector 236
Bernini, Gian Lorenzo 233 Bertolini, Francesco 140 Bittner, Julius 13, 45 Blacher, Boris 203 Blaukopf, Herta 104f. Blazhkov, Igor 101 Bleier, Katharina 9 Bliss, Arthur 80 Bloomfield, Theodore 111 Boccherini, Luigi 85 Boesch, Christian 97, 131 Boethius, Anicius Manlius Severinus 34, 190 Böhm, Anton 119 Borio, Gianmario 211, 213 Bormann, Erich 26 Borodin, Alexander 129 Bossi, Marco Enrico 36 Boulez, Pierre 152, 196 Bourgeois, Jacques 29, 33, 96–99, 102 Brahms, Johannes 36, 48, 173f. Brecht, Bertolt 154 Britten, Benjamin 110 Bruck, Charles 98f. Bruno, Giordano 224, 229 Bungardt, Julia 50 Buonarotti, Michelangelo 188 Burkhard, Willy 19 Bush, Alan 18 Busoni, Ferruccio 67, 69f., 106, 131, 140, 233, 241 Byron, George Gordon 145 Cacciari, Massimo 225–229 Caridis [geb. Dengel], Sonja 87, 89f. Caridis, Aristea 82, 86f., 90 Caridis, Miltiades 8, 80, 82–92, 96, 100, 115
244
Personenregister
Carisch [Verlag] 22, 24, 26, 30, 33, 36, 38–41, 99, 101 Casals, Pablo [Pau] 42f., 130 Casella, Alfredo 15, 21, 33, 42, 108f., 129, 174, 182 Cassadó, Gaspar 41–44, 75, 83, 86f., 97, 100, 103, 117, 130, 132 Castellio, Sebastiano 191 Cerha, Friedrich 133 Cerny, Gustav 83 Chatschaturian, Aram 91 Cherubini, Luigi 236 Chopin, Frédéric 240 Clark, Eduard 60f. Coen Luzzatto, Laura 188 Cohen, Elsa 74 Colacicchi, Luigi 18 Collaer, Paul 43 Colonna di Stigliano, Luigi 22 Columbus, Christoph 202, 205, 239 Copland, Aaron 80, 222 Corelli, Arcangelo 36 Corti, Mario 34f., 48 Couvreux, Muriel 32f., 41 Croce, Benedetto 53, 55 Crosten, William 101ff. Cumar, Raffaele 212 Dallapiccola, Annalibera 62f., 89ff., 169, 179, 191 Dallapiccola, Laura 89f, 105, 111, 117, 138, 147, 150, 159, 169 Dante Alighieri 55, 81f., 147, 224ff., 237 De Falla, Manuel 21 De Liguoro, Giuseppe 140 De Santis, Mila 54, 151 Debussy, Claude 69f., 237 Della Corte, Andrea 49 Denisov, Edison 118, 120 Dermota, Anton 97, 133 Désormières, Roger 15, 77 Dessau, Paul 14, 110
Deutsch, Karl Alfred 13 Dibelius, Ulrich 133 Donatello 161 Dorian-Deutsch, Fritz 66f., 149 Dressel, Heinz 79 Dugardin, Hervé 97f. Duval, Denise 99 Endler, Franz 136 Engerth, Rüdiger 123 Englisch, Gerald 97 Farulli, Fernando 114 Fearn, Raymond 174, 184 Feß, Eike 50 Fischer (UE) 39 Fischer, Kurt von 122 Fleischer, Herbert 142 Fortner, Wolfgang 203 Foss, Lukas 221 Fournier, Pierre 43 Frazzi, Vito 18, 174 Froberger, Johann Jacob 107 Fuhrmann, Wolfgang 134 Furrer, Beat 133 Gallimard [Verlag] 105 Gatti, Guido M. 232 Gatto, Armando 120 Georg [Heiliger] 140 Gerhard, Robert 12 Gerigk, Herbert 22 Geutebrück, Ernst 22 Ghedini, Federico 33, 78 Gielen, Michael 75, 87, 100, 132 Gillesberger, Hans 38, 95, 132 Ginsburg, Lev 112f. Giordani, Paolo 174, 224 Giraud, Albert 145, 151 Goebbels, Josef 32, 42 Goehr, Alexander 74 Goertz, Harald 107, 122f. Goethe, Johann Wolfgang von 79, 97, 113
245
Personenregister
Gonnet, André 118 Gorini, Gino 21 Goth, Trudy 100 Gras, Leonce 77 Greissle, Jacqueline 72 Greissle, Felix 72ff. Grillparzer, Franz 55 Grossi, Pietro 144 Grossmann, Ferdinand 86, 132 Gui, Vittorio 104 Gürbaca, Tatjana 135 Gutheim, Karl Heinz 23f., 27 Gutheim, Karlheinz 29, 76f., 95 Haken, Boris van 28, 32 Halpern, Dino 84 Handt, Herbert 100 Hannenheim, Norbert von 12 Harpner, Stefan 77 Hartmann, Ernst 72, 76, 79, 100, 104, 107, 110f., 114ff. Hartmann, Karl Amadeus 27 Haubenstock-Ramati, Roman 103, 110 Hauer, Josef Matthias 13 Hauptmann, Gerhart 226 Häusler, Josef 152 Haydn, Joseph 86, 93 Heher, Hannes 42 Heidegger, Martin 143 Heine, Heinrich 113, 150 Heller, Adolf 27 Helm, Everett 187f. Hencl, Roman 97 Hengelbrock, Thomas 135 Henius, Carla 95 Henze, Hans Werner 107, 133, 203 Hermann, Dagmar 75 Hermann, Kurt 39 Hertzka, Emil 12, 14, 22 Hesiod 225, 227f. Hift, Elena 112
Hindemith, Paul 18, 79, 91, 131, 182, 232f. Hirsbrunner, Theo 193–202 Hitler, Adolf 33, 188, 190, 214, 232f. Hoare, Samuel 190 Hoffmann, Karl Ernst 88 Hoffmann, Richard 59 Hölderlin, Friedrich 140, 195, 227 Homer 226 Honegger, Arthur 129 Hopf, Gertraud 84 Horvath, Erika 23 Hübner, Wolfgang 71 Huillet, Danièle 154f. Humplik, Joserf 97 Ibert, Jacques 22 Illersberg, Antonio 141 Ion von Chios 213 Isaac, Heinrich 200 Jalowetz, Heinrich 13, 19, 45, 171 Janácek, Leoš 79 Johannes Paul II. [Papst] 138 Jokl, Otto 13 Jone, Hildegard 52, 97 Josquin, Desprez 227 Joyce, James 10, 57f., 81f., 141, 174, 205ff., 226, 234f., 241 Julien, A. M. 102 Juranek, Johann 76 Kabasta, Oswald 11, 129 Kadosa, Pál 11 Kaiser, Katja 9 Kalmus, Alfred A. 76 Kalmus, Maggie (Margherita) 77, 120 Kämper, Dietrich 9ff., 42, 47, 54, 57, 72, 77, 127, 129f., 174, 179, 211–229 Kann, Hans 132 Karajan, Herbert von 97 Kaufmann, Harald 84, 110, 117, 121, 133 Kavafis, Konstantinos 226
246
Personenregister
Kerényi, Karl 225 Keuschnig, Peter 119, 121, 133 Kiesler, Friedrich [Frederick] 164ff. Kleiber, Erich 75, 131f. Koblanck, Astrid 9 Kodály, Zoltán 18, 21 Koffler, Józef 151 Köhler-Helffrich, Heinrich 76 Kolisko, Marianne 30 Konetzni, Hilde 97, 133 Koussevitzky, Natalie 76 Kralik, Heinrich 42 Kramer, Gerhard 135 Krauss, Clemens 11f. Krebs, Helmut 100 Krenek, Ernst 12f., 18f., 45, 91, 110, 203, 231 Krenn, Werner 97, 131 Krones, Hartmut 8–125, 130f., 148, 172, 232 La Meri 10, 128 Labroca, Mario 18, 21, 32, 35, 74 Lafite, Peter 131 Lanfranco Gandolfi, Celeste 88f., 100f., 103 Larsson, Lars-Erik 21 Laszlò, Magda 100 Latini, Brunetto 81f., 121 Lederer, Felix 26, 44f., 77, 95, 97 Leibowitz, René 57, 59ff., 67, 146, 191, 205, 217, 231, 233 Lesser, Lawrence 117ff. Leverkühn, Adrian 164 Liszt, Franz 174 Loos, Adolf 161, 171 Lorca, Federico García 216 Lotichius, Dietrich 72 Ludwig, Leopold 72 Lutoslawski, Witold 122 Maazel, Lorin 95, 115, 132 Machado, Antonio 95, 113, 226–229 Machado, Manuel 57f., 174, 205, 207
Machado, Michelangelo 57f., 95, 174, 205 Maderna, Bruno 107, 185, 211ff., 215, 219 Maglioni, Gioacchino 18 Mahler, Gustav 11, 48, 56, 63f., 103, 107–110, 129f., 145, 150, 173, 195, 227 Malipiero, Gian Francesco 18, 33, 44, 106, 108, 121, 212, 214f. Mann, Thomas 83, 139, 146f., 157, 159, 161, 164, 216, 218 Manzoni, Giacomo 10 Maria Stuart I. 34, 189 Marie Therese [Kaisersgattin] 86 Marin, Biagio 138 Markevitch, Igor 36 Martini, Giovanni Battisti 159f. Martinů, Bohuslav 22, 191 Martirano, Salvatore 111 Märzendorfer, Ernst 87, 101 Materassi, Sandro 36, 84, 91ff., 100f., 127, 131, 135, 144 Mayer, Ludwig Karl 27 Mazzucchetti Jollos, Lavinia 139, 147 Melles, Carl 87, 97, 131 Mendes, Murilo 162 Mercure, Jean 100, 102 Messiaen, Olivier 122 Michelangelo Buonarroti 161, 195, 206f. Mila, Massimo 139, 144 Milhaud, Darius 80, 93f., 115, 191 Milloss, Aurel von 36, 38, 41, 87, 135 Moldenhauer, Hans 128, 171f. Moldenhauer, Rosaleen 128, 171f. Montale, Eugenio 206 Monteverdi, Claudio 33, 237 Mortari, Virgilio 11, 22 Moser, Rudolf 13
247
Personenregister
Mozart, Wolfgang Amadeus 55, 85, 93, 96, 104, 129, 144 Mussolini, Benito 188f., 214 Muxeneder, Therese 8, 50 Napoleon I. 145 Neruda, Pablo 216 Nielsen, Riccardo 11 Nietzsche, Friedrich 139 Nono, Luigi 110, 170, 211–229 Orff, Carl 83 Ortner, Erwin 131 Padovan, Adolfo 140 Paganini, Nic[c]olò 174, 176, 177 Pannain, Guido 49 Paris, Massimo 107 Paskalis, Kostas 97, 133 Pass, Walter 123 Peragallo, Mario 101, 123, 143f. Permoser, Manfred 48, 75, 93, 127– 136, 172 Persichetti, Vincent 177 Peter, Reinhard 107 Petrassi, Goffredo 33, 41, 78, 108, 112, 130 Petrobelli, Pierluigi 203–210 Petschull, Johannes 38f. Pezzati, Romano 137, 157 Piacentini, Marcello 233 Piano, Renzo 226 Piatigorsky, Gregor 43 Pilz (UE) 99 Pinzauti, Leonardo 229 Pizzetti, Ildebrando 9f., 33, 151f., 173 Poli, Liliana 97, 131 Polnauer, Josef 97 Posa, Oscar C. 81f. Pousseur, Henri 110 Prausnitz, Frederick 160 Preinfalk, Gottfried 84, 87 Presser [Manhattan School] 110
Prêtre, Georges 99 Previtali, Fernando 17, 29, 33, 36, 77 Profeta 107 Prohaska, Felix 52 Prokofieff, Sergej 131 Prosperi, Carlo 138 Proust, Marcel 80, 82, 115, 188, 234 Puccini, Giacomo 10, 53, 57, 62f., 142, 205, 231f. Quasimodo, Salvatore 184f., 194 Rathkolb, Oliver 130 Ravel, Maurice 36, 196 Ravizza, Calisto 22, 38, 99 Rawsthorne, Alan 80 Reden, Luise 77 Redlich, Hans Ferdinand 78 Rehfuss, Heinz 100 Reich, Willi 37, 39, 50, 128 Reiner, Fritz 19 Reinhar[d]t, Werner 41 Reinking, Wilhelm 29, 77 Rennert, Günther 100 Respighi, Ottorino 94, 96 Restagno, Enzo 211 Richter, Kurt 91 Rieti, Vittorio 108 Rocca, Ludovico 11 Rognoni, Luigi 20, 110, 115, 151 Rosbaud, Hans 85, 88 Rossi, Mario 22 Rota, Nino 78, 93f. Roussel, Albert 80 Rubbra, Edmund 80 Rubenstein, Bernard 131 Rufer, Josef 77, 150, 203, 217, 239, 242 Ruffini, Mario 137–169 Ruzicska, Paolo 100 Saathen, Friedrich 108 Sacher, Paul 22, 41f., 75f. Sachs, Hans 81f.
248
Personenregister
Sachs, Harvey 130 Saint-Exupéry, Antoine de 29, 45, 78 Sanzogno, Nino 22, 87 Sappho 194 Satie, Erik 80 Savonarola, Girolamo 34, 190, 206, 224 Scabia, Giuliano 170 Scarpini, Pietro 36, 131, 144, 175 Schembera-Teufenbach, Werner 9 Scherchen, Hermann 11, 46, 57–60, 64, 66–69, 107, 128, 149, 172, 193, 205, 208, 212, 215f., 218ff., 241 Scheu, Gustav 12 Schirach, Baldur von 129f. Schlee, Alfred 22–31, 33–37, 39–42, 44f., 47f., 50ff., 74ff., 78, 83, 95f., 97–100, 102ff., 106, 111–115, 117f., 120f., 123, 127f., 130, 135, 172 Schloß[ss], Julius 12 Schmidt, Franz 12f., 45 Schnabel, Artur 91 Schneider, Bernhard 134 Schönberg, Arnold 8–13, 18, 20f., 29, 46, 48, 50, 53–59, 62, 64, 66–72, 74, 77, 79, 88, 91, 93, 106, 108, 110, 120, 124, 131, 135, 137–171, 173f., 182, 191, 193, 195f., 202–205, 207f., 210, 213ff., 219f., 231ff., 237, 239f. Schönberg, Georg 29 Schönberg, Gertrud 71f., 125, 152 Schönberg, Mathilde 150 Schostakowitsch, Dmitrij D. 80, 110 Schreiber, Wolfgang 10, 54, 121 Schubert, Franz 48, 55, 173 Schuh, Oscar Fritz 85 Schüler, Johannes 29 Schumann, Robert 174, 227 Schwab, Gustav 224 Schwarz, Hanna 11 Schwertsik, Kurt 133 Seebohm, Andrea 129 Seefehlner, Egon 75f., 131f.
Seidel, Max 137 Sellner, Gustav Rudolf 110 Shackelford, Rudy 179 Siber, Markus 134 Siciliani, Francesco 65f., 68f., 149 Sima, Martin 39 Slonimsky, Nicolas 19 Smith, Eric 102, 111 Söderström, Elisabeth 160 Soederstroem, Elisabeth 97 Spinner, Leopold 12 Spitzmüller, Octavian 117 Sprague, Elizabeth 154 Spring, Alexander 27 Stadeler, Walter 33 Staude, Antonio 137, 170 Stein, Elvira 22 Stein, Erwin 12ff., 19f., 22, 45, 55, 57, 59ff., 205 Steingruber, Ilona 52 Stengards, Rick 133 Stenzl, Jürg 130, 136 Steuermann, Clara 74 Steuermann, Eduard 171 Sthüff-Mazzoni, Gudrun 122 Stix, Lydia 42 Stockhausen, Karlheinz 216 Straub, Jean-Marie 154f. Strauß, Manuel 50 Strauss, Richard 22, 80, 129 Strawinsky, Igor 18, 24, 79, 91, 93f., 110, 131, 196, 233, 240 Strobel, Heinrich 33 Stuckenschmidt, Hans Heinz 18, 33, 110 Summereder, Rebecca 17, 82 Sü[u]sskind, Hans (Jan) Walter 18 Swarowsky, Hans 80, 97, 133 Szinetar, Miklos 104 Szmolyan, Walter 106 Tansman, Alexandre 87 Tartini, Giuseppe 76, 175
249
Personenregister
Tedesco, Castelnuovo Mario 18, 78 Tennyson, Alfred 226 Themann-Urich, Ches 135 Theoderich der Große 190 Thomasberger, Konrad 44 Thomson, Virgil 110 Tippetts, Michael 191 Toch, Ernst 91 Tomek, Otto 124 Tommassini, Vincenzo 33 Toscanini, Arturo 53ff. Trakl, Georg 195 Treu, Max 194 Tuercke, Berthold 73 Ullmann, Viktor 13 Urbanek, Nikolaus 50 Usigli, G. 11 Verdi, Giuseppe 10, 62f., 104, 129, 194 Veress, Sandor 35f. Vitali, Giovanni Battista 36 Vivante, Ginevra 21, 42 Vogel, Karl 97 Vogel, Wladimir R. 28f., 69f., 131, 191, [Vladimir] 235 Vondenhoff, Bruno 30 Wächter, Eberhard 84, 97, 100, 103, 131 Wagner, Richard 55, 57, 106, 129, 145, 194, 237, 240 Wagner, Wolfgang 225 Wagner-Régeny, Rudolf 129 Wallenstein 66 Weber, Horst 211, 213 Webern, Anton 8f., 12f., 34ff., 39f., 45–53, 57, 59ff., 66f., 69f., 79, 95, 97, 101, 106, 123f., 127f., 133, 135, 140f., 148, 153f., 160f., 171–175, 181, 183– 186, 193, 195f., 199f., 203ff., 210, 212f., 215, 232, 234, 240 Weishappel, Rudolf 94
Weill, Kurt 48, 110, 173 Wellesz, Egon 12f., 45, 79f., 131 Werfel, Franz 11 Wessely, Othmar 122 Wetzler, Hermann Hans 11 Wolf, Hugo 48, 173 Wörner, Karl H. 78 Woytowicz, Bolesław 18 Wright, Anna 18 Wright, Kennet 22 Wright, Marjorie 121 Xenakis, Iannis 133 Zecchi, Adone 36 Zehme, Albertine 145 Zelka, Charlotte 91 Zenk, Ludwig 12 Zillig, Winfried 24f. Zimmermann, Bernd Alois 110, 222 Zimmermann, Bernhard 218 Zweig, Stefan 189
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ARNOLD SCHÖNBERG IN SEINEN SCHRIFTEN VERZEICHNIS – FRAGEN – EDITORISCHES SCHRIFTEN DES WISSENSCHAFTSZENTRUMS ARNOLD SCHÖNBERG, BAND 3
Arnold Schönbergs Schriften, äußerst wertvolle Dokumente für die Musik-, Geistes- und Kulturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, geben uns überaus wichtige Hinweise auf das Schaffen und Denken des Komponisten, beinhalten darüber hinaus aber auch wesentliche Zeugnisse für die „Wiener Schule“ und die Wiener Moderne insgesamt, weiterhin für die musikästhetischen Auseinandersetzungen jener Zeit sowie schließlich für Zeitgeschichte, Exilforschung und für die Kämpfe der europäischen Juden um ihre Zukunft. Da der Gesamtcorpus dieser Schriften nach wie vor nur zum Teil und zudem in überaus verstreuten Editionen gedruckt vorliegt, wird derzeit an einer Kritischen Gesamtausgabe gearbeitet, als deren erstes Ergebnis der vorliegende Band ein systematisches Verzeichnis sämtlicher Schriften (mit Incipits, Quellenbeschreibungen und Register) bietet. 2011. 620 S. 74 S/W-ABB, GRAFIKEN UND TAB. GB. 170 X 240 MM ISBN 978-3-205-78331-2
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HANNS EISLER - EIN KOMPONIST OHNE HEIMAT? SCHRIFTEN DES WISSENSCHAFTSZENTRUMS ARNOLD SCHÖNBERG, BAND 6
Hanns Eisler, (u. a.) Komponist der DDR-Nationalhymne, 1898 in Leipzig geboren und 1962 in Berlin gestorben, war weder Leipziger noch Berliner, sondern Wiener. Eisler, der zweijährig nach Wien zog und dort u. a. bei Arnold Schönberg studierte, ging 1925 nach Berlin, emigrierte 1933 über Wien und viele andere Stationen in die USA, wurde dort 1948 ausgewiesen, erhielt dann in Wien keine Anstellung und übersiedelte schließlich 1949 nach Ostberlin. Dort konnte er zwar Fuß fassen, fühlte sich aber nie „zu Hause“. Die Beiträge aus der Feder führender Eisler-Forscher befassen sich sowohl mit diesen biographischen Umständen als auch mit Kompositionen, die Eislers Sehnsucht nach einer „Heimat“ dokumentieren. 2012. 480 S. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-77503-4
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
HARTMUT KRONES (HG.)
MULTIKULTURELLE UND INTERNATIONALE KONZEPTE IN DER NEUEN MUSIK WIENER SCHRIFTEN ZUR STILKUNDE UND AUFFÜHRUNGSPRAXIS – WIEN MODERN BAND 4
Der Band versammelt die Vorträge aus jenen Begleitsymposien (der Jahre 1994–2005) zum Festival WIEN MODERN, die (u. a. unter den Titeln „Neue Klänge und Neue Welten“, „Multikulturelle Aspekte“, „Neue Musik an den Rändern Europas“ sowie „Musikströme Ost-West – West-Ost“) die vielfachen gegenseitigen Beeinflussungen und Befruchtungen unterschiedlicher Stile und Stilsphären in den Blick genommen haben, von denen die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts so wesentliche Bereicherungen erfahren konnte. Dabei geht es weniger um das Vorstellen rein äußerlich wirksamer oder lediglich aufgesetzter Exotismen, sondern um die Begegnung mit tatsächlich gelungenen Verschmelzungen von Stilelementen unterschiedlichster Provenienz, wobei der Rahmen auch die immer noch „moderne“ Beschäftigung mit der Antike sowie die „Aneignung des musikalisch Fremden“ in populärer Musik umfaßt. Allgemeine kulturgeschichtliche, kultursoziologische und zeitgeschichtliche Betrachtungen runden das Themenspektrum ab. 2008. 591 S. 50 NOTENBSP. 4 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-77501-0
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ANTONIA TEIBLER-VONDRAK
SILVESTRE REVUELTAS – MUSIK FÜR BÜHNE UND FILM (WIENER SCHRIFTEN ZUR STILKUNDE UND AUFFÜHRUNGSPRAXIS, SONDERBAND 6)
Silvestre Revueltas (1899–1940) ist einer der bedeutendsten Komponisten Mexikos in der ersten Häfte des 20. Jahrhunderts, dessen musikalisches Schaffen einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Identität des Landes leistete. Seine musikalische Sprache, die durch die Synthese von avantgardistischen Kompositionstechniken mit ländlichen und städtischen Ausdrucksformen seines Landes eine hohe stilistische Komplexität aufweist, ist ein lebendiges Zeugnis für die sozialen, politischen und kulturellen Strömungen, die Mexiko am Beginn des vergangenen Jahrhunderts prägten. Silvestre Revueltas – Musik für Bühne und Film, die erste wissenschaftliche Publikation über den Komponisten im deutschsprachigen Raum, bietet nach einer einführenden Biographie und einem Gesamtüberblick über das Werk des Komponisten eine ausführliche Aufarbeitung seines weniger bekannten Œuvres auf dem Gebiet der Bühnen- und Filmmusik, das den Bogen von der frühen Ära des Tonfilms bis zum »goldenen Zeitalter des mexikanischen Kinos« spannt. 2011. 384 S. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-78767-9
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ELISABETH HAAS
EINÜBUNG IN ÄSTHETISCHE R ÄUME ZU ANTON WEBERNS KINDERSTÜCK, GYÖRGY KURTÁGS JÁTÉKOK UND H ELMUT LACHENMANNS KINDERSPIEL (WIENER SCHRIFTEN ZUR STILKUNDE UND AUFFÜHRUNGSPRAXIS, BAND 7)
Musikwerke für die Anfänge musikalischen Lernens stehen in einem besonderen Spannungsverhältnis: der musikalisch-ästhetische Anspruch, der vom Komponisten erhoben wird, und die Bedürfnisse des noch ungeübten Lernenden scheinen fürs erste inkompatibel. Dieser Unvereinbarkeit entgegenzuwirken, wird zur anspruchsvollen Aufgabe kunstorientierten Lehrens; Erschließungsangebote sind bereitzustellen, die neben pädagogischen auch ästhetischen Kriterien Rechnung tragen. Um sich den mehrdimensionalen, möglicherweise unabschließbaren Prozessen der Wahrnehmung von Kunstwerken anzunähern, schien es fruchtbar, der Verortung jener Vorgänge nachzugehen, die sich bei einem Hören in einer Sphäre konzentrierter Sinnlichkeit ereignen. Ausgehend von Peter Sloterdijks Innenraumerforschung, betrieben in seinem großangelegten Sphären-Projekt, wird eine Beschreibung eines ä sthetischen Raums unternommen, der Rahmen sein kann für physisches wie geistiges Hören. Dessen Auslotung wird anhand dreier ‚Lehrstücke ohne didaktischen Vorsatz‘ (Peter Härtling) vorgenommen: an Anton Weberns Kinderstück, György Kurtágs Játékok und Helmut Lachenmanns Kinderspiel. 2011. 228 S. MIT ZAHLR. NOTENBSP. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78697-9
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