Lösungskunst: Lehrbuch der kunst- und ressourcenorientierten Arbeit 9783666401596, 9783525401590, 9783647401591


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Lösungskunst: Lehrbuch der kunst- und ressourcenorientierten Arbeit
 9783666401596, 9783525401590, 9783647401591

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401590 — ISBN E-Book: 9783647401591

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Herbert Eberhart / Paolo J. Knill

Lösungskunst Lehrbuch der kunst- und ressourcenorientierten Arbeit

Mit einer Abbildung und zwei Tabellen

2., ergänzte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40159-0

Umschlagabbildung: © Brigitte Wanzenried

© 2010, 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Daniela Weiland, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständiges Papier.

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Inhalt

Vorwort von Jürgen Kriz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Sprache und künstlerisch-spielerischem Tun . . . . Unsere Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiedlicher Einstieg und Querlesen . . . . . . . . . . und zum Schluss … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Die Idee des Zusammengehens . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Vor dreißig Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Das Offensichtliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Der heutige Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Konsequenzen für Professionelle und unterschiedliche Zugänge . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Die außerordentliche Welterfahrung in Beratung und Therapie 3.1. Beratung als Rückbindungsritual – eine anthropologische Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Gemeinsamkeiten aller professionellen Beratungen . . . 3.3. Dezentrieren – ein Schritt aus der Enge der Problematik 3.4. Das Spiel und der künstlerische Prozess . . . . . . . . 3.5. Allgemeine Überlegungen zu unserer Praxis . . . . . . 3.6. Beziehung als Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der konkrete Verlauf einer Sitzung . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Architektur der Beratungssitzung . . . . . . . . . . 4.2. Auftragsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Die Sorge und die Ressourcen . . . . . . . . . . . . . 4.4. Die Vision eines guten Ergebnisses . . . . . . . . . . . 4.5. Brückenbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Dezentrieren: Herausforderung und Motivation . . . . 4.7. Analyse und Feedback in der Dezentrierung . . . . . . 4.8. Ausbeute für den Alltagskontext: die »Ernte« . . . . . . 4.9. Nachhaltiges Weiterführen . . . . . . . . . . . . . . .

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6

Inhalt

5. Grundsätzliche Überlegungen zu Sprache, Kunst und Spiel 5.1. Zum Gebrauch der Sprache . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Kunst und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Künstlerisches und spielerisches Tun in der Dezentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Reden ist Silber, Handeln ist Gold . . . . . . . . . . .

. 163 . 165

6. Metadiskurs zur Methode und ihrer Wirkung . . 6.1. Aufmerksamkeitsfokus . . . . . . . . . . . . 6.2. Wirkung und Nachhaltigkeit . . . . . . . . 6.3. Theoretische Überlegungen zur Wirksamkeit

. . . .

. . . .

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7. Die Anwendung und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . 193 7.1. Anwendungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 7.2. Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 8. Die Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1. Das phänomenologische Denken und die Entwicklung der kunstorientierten Praxis . . . . . . 8.2. Die kunst- und ausdrucksorientierte Praxis und die darin enthaltene Kritik an anderen Verfahren . . . . 8.3. Die lösungsfokussierende Praxis und ihre Denktradition 8.4. Die Lösungsfokussierung und ihre Kritik an anderen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9. Professionelle Anforderungen und Überlegungen zu Weiter- und Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 9.1. Anforderungen an die beratende Person . . . . . . . . . 249 9.2. Überlegungen zu Weiter- und Fortbildung . . . . . . . . 252 10. Der Ernst des Spiels und die Überraschung der Kunst – abschließende Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

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Vorwort

Wir leben in einer Zeit, die – vielleicht als Gegenbewegung zur zunehmenden Globalisierung, Internationalisierung, Informationsschwemme und bürokratischer Hyperkomplexität – von den Menschen Kon-zentrierung fordert. Dies liest sich dann oft so, dass die vielfältigen Reize ausgeblendet werden und nicht von der eigentlichen Aufgabe ablenken sollen. Die Qualität soll auf wenige messbare Parameter hin optimiert und damit kontrolliert werden. Und dies nicht nur bei der Herstellung industrieller Produkte, sondern auch in der medizinischen Versorgung, in der Psychotherapie, im Unterricht oder in der Vielfalt weiterer Dienst­leistungen. Vor allem aber hat man sich mehr und mehr auf eine ökonomische Effizienz hin zu konzentrieren: Was geschieht, muss »profitabel« und »wirtschaftlich« sein. Und was »sich nicht rechnet«, erscheint als überflüssig, wenn nicht gar als hinderlich. Kein Zweifel: Überall dort, wo eine solche Optimierung gelingt, läuft der »Motor der Wirtschaft« tatsächlich schneller, werden die Verweiltage in Krankenhäuser bei Operationen gesenkt, können mehr Beratungsgespräche pro Tag geführt und mehr »empirisch validierte« Psychotherapien pro Therapeut abgerechnet werden. Viele Arbeitsvorgänge können vereinfacht und be­schleunigt werden, wenn man sich auf das »Wesentliche« konzentriert – nämlich alles »Unnötige« weglässt und nicht etwa »vor sich hinträumt«. Aber ganz offensichtlich gelingt eine solche Optimierung eben nicht immer, oder sie funktioniert nur für eine begrenzte Zeitspanne. Besonders dann, wenn sich die Rahmen­bedingungen für die optimierten Vorgänge und Lö­sungen bedeutsam ändern, steigt die Wahrscheinlichkeit für Probleme oder gar für einen Zusammenbruch der bisher so erfolgreichen Vorgehensweise. Denn nun muss sich erweisen, ob und wie die so gut eingespielten Prozesse sich an die neuen Bedingungen adaptieren können. Da jedes System – der einzelne Mensch mit seinen Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Handlungsprozessen, Paare und Familien mit ihrer Interaktionsdynamik oder größere Einheiten mit ihren Organisations­prozessen – bestimmten Entwicklungen unterworfen ist, sind solche Brüche in der Kontinuität bisheriger Lösungen unvermeidbar. Man kann von typischen »Entwicklungsaufgaben« für das System sprechen. So muss beispielsweise eine noch so optimale Interaktionsdynamik zwischen Eltern und ihrem dreijährigen Kind in den folgenden zwanzig Jahren mehre Entwicklungs­aufgaben (u. a. Einschulung, Pubertät, Adoleszenz) bewältigen, die in einer qualitativen Umstrukturierung der jeweils bisher gut funktionierenden Prozesse besteht. Ein Festhalten an

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Vorwort

»Bewährtem« – wenn der nun 23-Jährige immer noch wie ein 3-Jähriger behandelt werden würde oder auch sich so behandeln ließe – stellt offenkundig ein erhebliches Problem dar. Und ein noch »effizienterer« Einsatz bisheriger Prozessmuster und Lösungsstrategien würde das Problem eher weiter vergrößern. In all solchen Fällen einer Neuausrichtung an veränderten Bedingungen ist nicht Kon-zentrierung auf bisherige Sicht- und Vorgehensweisen gefragt, sondern eine De-zentrierung von ihrem faszinierenden (oder in der systemischen Fachsprache: attrahierenden) Einfluss. Schon vor hundert Jahren zeigten beispielsweise Gestaltpsychologen, dass schöpferisches und produktives Denken ein Zurücktreten und Loslassen von verengenden eingefahrenen Sichtweisen voraussetzt, weshalb kreative Einfälle und Lösungen nicht selten unter der Dusche oder beim Einschlafen kommen. Solche Aha-Erlebnisse setzen eben die Lockerung bisheriger Sicht- und Lösungsstrukturen voraus  – also größere Komplexität und Unsicherheit –, damit sich überhaupt etwas neu ordnen kann. Scheinbar Unnötiges und ein »Vor-sich-Hinträumen« werden nun also zu wichtigen fördernden Momenten für adaptive Neuorientierungen. Wenn man nun bedenkt, in wie viele Systeme und Systemebenen ein Mensch eingebunden ist (Wahrnehmender, Denkender, Fühlender, Handelnder, Interagierender als Partner, Mutter, Sekretärin, Vereinsvorsitzende etc.), und in Rechnung stellt, dass alle diese Systeme jeweils von Zeit zu Zeit neuen Entwicklungsaufgaben gegenübergestellt sind, kann man eigentlich nur darüber staunen, wie gut in unserer Welt die notwendigen Wandel funktionieren. Wir als Therapeuten, Berater und Coaches werden ja nur von jenen »Systemen« kontaktiert, wo die Adaptation an neue Bedingungen nicht klappt bzw. die Entwicklungsaufgaben nicht zufriedenstellend gelöst werden. Allerdings ist der oben – vielleicht zu pointiert – beschriebene gesellschaftliche Trend zur Konzentrierung im Dienste oft nur vordergründig ausgerichteter Effizienz nicht gerade ein guter Nährboden zur Förderung und Entwicklung der so wichtigen Dezentrierungen. Die Prinzipien und Metaphern in den ökonomisch dominierten Diskursen unserer Lebenswelt sind mit den oben in Anführungszeichen gesetzten Begrifflichkeiten durchsetzt, die ihrerseits als Sinnattraktoren wirken und Verstehens- wie Lösungsräume kaum erweitern helfen, sondern eher verengen. Menschen verhalten sich dann allzu entsprechend jener Karikatur, bei der zwei Manager in Panik auf den Eisenbahnschienen vor einem herannahenden Zug weglaufen und sich zurufen »Wenn nicht bald eine Weiche kommt, sind wir verloren!« Statt sich nur immer schneller auf eingefahrenen Gleisen zu bewegen oder vermutlich umsonst auf bereits eingebaute Standardalternativen, wie eine Weiche, zu hoffen, müssten die beiden einfach nun innehalten, sich dezentrieren und den Raum links und rechts der Gleise in Augenschein nehmen, wo es viele neue Wege gibt. Doch die sprachlichen Beschreibungen des Problems und seiner Lösungen –

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Vorwort

etwa: Wie können wir noch schneller vor dem Zug weglaufen? – verstellen oft den Blick auf die unkonventionellen Möglichkeiten. Hierzu trägt besonders die Sprache mit ihren Konzepten und Strukturen bei. Seit Jahrzehnten wird von Soziologen herausgearbeitet, wie stark sprachlich vermittelte Konzepte die vitalen und komplexen Lebensprozesse verdinglichen und reduzieren. Dieses Buch über Grundlagen und Anwendungen des Dezentrierens unter Einbeziehung intermodaler künstlerischer Prozesse ist daher ein wichtiger Beitrag in dem Diskurs, wie Menschen mit »Problemen« (im weitesten Sinne) von ihren aus dem Blick geratenen Ressourcen Gebrauch machen können bzw. erst einmal mit diesen in Kontakt kommen. Die beiden Autoren haben über Jahrzehnte in Praxis und Unterricht Erfahrungen mit den in diesem Buch entwickelten Modellen und Vorgehensweisen sammeln können. Sie verbinden in einer fruchtbaren Kooperation psychologische und künstlerische Expertise mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten. Wobei die Botschaft sympathisch ist, dass sich künstlerische und psychologisch-beraterische Tätigkeit – und noch mehr die Wissens­bestände, auf welche beide Perspektiven jeweils rekurrieren – nicht bruchlos ineinander überführbar sind oder gar einfach integriert werden könnten. Es bleibt eine Spannung – die aber fruchtbar genutzt werden kann. Sehr gut gelungen ist in diesem Buch auch die Verbindung von praktischen Problemen, deren theoretische Aufarbeitung, die daraus resultierenden Vorgehensweisen mit praxisorientierten Hinweisen und Handlungsanweisungen und den zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen und methodologischen Wurzeln  – kurz: ein selten so befriedigend gelungenes Ineinandergreifen von praktischen und reflexiven bzw. theoretischen Aspekten, Erwägungen und Diskursen. Diese reichen vom konkreten Verlauf einer Sitzung über Be­sinnungen zu Sprache, Kunst und Spiel, den Erklärungsmodellen für die Wirkung des Dezentrierens bis hin zur Erörterung des besonderen Kontextes einer so angelegten Beratungssituation. Diskutiert werden aber auch die Grenzen der Anwendbarkeit. Und auch der Frage der Vermittlung entsprechender Kompetenzen ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier geht es darum, wie kunstbasierte Dezentrierungsprozesse professionell angeleitet bzw. begleitet werden können. Damit ist das Buch gleichermaßen für Lehrende wie Lernende und für Theoretiker wie für Praktiker eine wertvolle Quelle zur weiteren Entwicklung und deren Reflexion. Ich wünsche diesem Buch seinen verdienten Erfolg. Es kann Menschen in vielerlei unterschiedlichen Situationen – sei es als Lehrende oder Lernende, als Berater, Therapeuten oder Coaches oder auch einfach zur Anregung von Selbsthilfe – wichtige Hinweise und Unterstützung geben, sich den vielfältigen Entwicklungsaufgaben des Lebens kreativ zu stellen. Jürgen Kriz

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1. Zur Einführung

Zwischen Sprache und künstlerisch-spielerischem Tun Was geschieht, wenn sich die Welt der Künste und die Welt der Psychologie treffen und sich keine der anderen unterordnet? Dieses Buch ist die Frucht eines solchen Zusammentreffens und das Ergebnis einer Zusammenarbeit, die nun schon über drei Jahrzehnte dauert. Daraus entstanden ist eine Arbeitsmethode, in der durch den bewussten Umgang mit Sprache und durch künstlerisches Tun produktive Synergien entwickelt werden. Innerhalb von Beratungs- und Therapieprozessen sind dann häufig überraschende Wen­ dungen zu beobachten, die neue Perspektiven eröffnen und zu positiven Ergebnissen führen. Psychologen bewegen sich in Sprache Als Psychologinnen und Psychologen bewegen wir uns in erster Linie in der Sprache. Wir hören auf das, was das Gegenüber uns durch Sprache über­ mittelt, und versuchen selbst, durch Sprechen Wirkung zu erzeugen. Und selbst wenn wir uns dabei bewusst sind, dass wir uns als Sprechende auf einer Art Landkarte bewegen und diese keineswegs mit der »Landschaft«, der konkreten Erfahrung und dem Erleben, gleichgesetzt werden kann (z. B. Simon, 1991), so werden unser Verstehen und unser Handeln doch stark von der Ordnung der Sprache geleitet. Die Ordnungsfunktion der Sprache (u. a. Kriz, 2004) erleichtert den Alltag der Menschen enorm. Die routinemäßige Verwendung von Ausdrücken und Redewendungen ermöglicht eine rasche gegenseitige Orientierung. Dass wir dabei oft eine Art von Sprachschablonen austauschen, stört nicht und fällt uns in vielen Situationen nicht auf. Anders verhält es sich in Beratungs- und Therapiesituationen. Bei der Beschreibung von Problemgebieten (siehe dazu Abschnitt 4.3.), vor allem aber bei der Schilderung von »guten Zukünften« (Abschnitt 4.4.) fällt eine Häufung von stereotypen Wendungen auf.

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Zur Einführung

Sprachliche »Fest-Schreibungen« lassen die Vielfalt von Wahrnehmungen und Erfahrungen schrumpfen (Sprache als Sackgasse) Sprachschablonen, die man auch als »Fest-Schreibungen« bezeichnen kann, sind in der Beratungssituation meist kontraproduktiv. Wir selbst sprechen von einer »armseligen« Sprache (in Anlehnung an White, 1989) und be­ mühen uns, unsere Klienten zu einer »reichen« Sprache zu führen. Wer Beratung oder Therapie beansprucht, möchte Veränderung bewirken. Dabei geht es in der Regel um Situationen, die durch Festhalten an über­ holten oder nicht situationsadäquaten Reaktionsweisen gekennzeichnet sind. Gefragt ist demnach Flexibilisierung oder in der von uns verwendeten Terminologie »Spielraumerweiterung«. Ein Mensch, der in der Lage ist, inhaltsreich zu berichten, achtet auf die Reichhaltigkeit seiner Erfahrungswelt und beachtet auch kleine Unterschiede, die zum Beispiel für Neues genutzt werden können. Er ist auch bereit, Vorstellungen und Visionen zu konkretisieren und sie damit der Verwirklichung zugänglicher zu machen. Bei T. T. gruppieren sich Schwierigkeiten, Leid und viele Einschränkungen um das Wort »können«. Dieses Verb bzw. Substantiv, das bei den meisten Menschen positive Gedanken und Erinnerungen auslöst, wirkt auf ihn äußerst ambivalent und löst Irritation, Zweifel und nicht selten sogar Angst aus. Diesem jungen Erwachsenen, dem im Elternhaus offenbar eingebläut worden ist, dass er, im Gegensatz zu seiner Schwester, »nichts kann«, ist jeder Satz verdächtig, der von seinem derzeitigen Können handelt. Im Lob eines Arbeitskollegen vermutet er Heuchelei oder naive Leichtgläubigkeit, aus einer neutralen Feststellung des Beraters zu seinem Können hört er Oberflächlichkeit oder Unkenntnis heraus. Und kommt er selbst nicht darum herum, dass ihm etwas schon wiederholt gelungen ist, er es also offensichtlich »kann«, dann befürchtet er Selbsttäuschung und ein späteres böses Erwachen mit entsprechenden Enttäuschungen. Es gab Zeiten im Leben von T. T., da konnte selbst eine neutrale, nicht auf ihn persönlich bezogene Bemerkung, in der das Wort »können« vorkam, Irritation auslösen.

In der Alltagssprache jedes Menschen finden sich Ausdrücke oder Sätze, die einen großen Hof von Bedeutungen um sich haben und die Aufmerksamkeit des betreffenden Menschen in starkem Maß binden können. Das wirkt sich, wie im obigen Beispiel, negativ aus, kann allerdings auch im positiven Sinn starke zukunftsgerichtete Kräfte auslösen. Bereicherung durch konkretisierendes Fragen Mit den Mitteln des professionellen Gesprächs kann dieser Situation begegnet werden. Auf der Basis einer Beziehung, die durch »wertschätzende Neugier«

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Zur Einführung

geprägt ist, sind alle Fragen hilfreich, die die Klientin veranlassen, Details zu beschreiben und dadurch Unterschiede im vermeintlich immer Gleichen zu entdecken. Die »immer gleichen Sackgassen« zum Beispiel, von denen jemand berichtet, entpuppen sich dann als immer wieder leicht unterschied­ liche Situationen und es wird möglich, in der einen oder anderen einen Handlungsaspekt zu entdecken, der sich positiv ausgewirkt hat und grundsätzlich auch unter anderen Umständen genutzt werden könnte. Analoges gilt zum Beispiel im Coaching für die Formulierung dessen, was man sich als gutes Ergebnis der Sitzung erhofft, oder der »guten Zukunft«, die man anvisiert. Dazu fällt unseren Kunden oft wenig ein – außer dass das Problem beseitigt sein wird und vielleicht einer allgemeinen, vagen Aussage, man habe es dann »leichter«. Auch hier helfen konkretisierende Fragen und vor allem ein simples, mehrmals gestelltes »Was noch?«, die imaginierte positive Zukunft konkreter und detaillierter zu formulieren. Nur dann kann sie nämlich ihre Motivationskräfte für eine Veränderung in positiver Richtung wirklich entfalten. Künstlerisches Tun eröffnet neue Spielräume Anders und neu stellt sich die Situation dar, wenn künstlerisches Tun ins Spiel kommt. Wir verstehen darunter u. a. kurze, episodenhafte Aktivitäten, wie etwa eine Rhythmusimprovisation mit verschiedenen Takes oder eine Installation mit alltäglichen Gegenständen, in der für die Platzierung der einzelnen Teile ästhetische Gesichtspunkte wegleitend sind. Die Art, wie wir Künstlerisches einsetzen, mit einfachsten Mitteln und gleichzeitig großer Präsenz, begleitet von neugieriger Wertschätzung, ergibt einen Prozess mit ungewohnten und überraschenden Wendungen. Dieser Ablauf, gleichzeitig ausgerichtet auf das, was wir »Werk« nennen, verunmöglicht weitgehend stereotypes Tun. Durch die Art der Einführung in eine solche Aktivität und die Wortwahl der professionellen Person (siehe dazu Abschnitt 4.6.) werden Neugier und Experimentierfreude angeregt. Nicht die Reduktion auf so genanntes Wesentliches ist das Ziel, sondern Anreicherung, Vielfalt und Perspektivenreichtum. Wird künstlerisches Tun innerhalb einer Beratungs- oder Therapie­sequenz als Episode eingesetzt und in einer bestimmten Art in den Gesamtablauf einbezogen, so nennen wir das eine Dezentrierung. Diese Bezeichnung steht für die zeitlich begrenzte Distanzierung von dem im Zentrum stehenden Anliegen (de-zentrieren) und – bei dem hier beschriebenen Vorgehen – die Zuwendung zu einem künstlerisch-spielerischen Tun. Das Verfahren ist unter dem Titel »Intermodales Dezentrieren IDEC®« registriert worden. Das Adjektiv »intermodal« weist darauf hin, dass verschiedene künstlerische Medien

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Zur Einführung

zur Anwendung kommen und etwas mittels mehrerer Disziplinen angereichert und vertieft werden kann. Beispielsweise kann mit einer einfachen Installation begonnen werden, die anschließend poetisch interpretiert und zum Schluss in eine Bewegung übertragen wird. Ein derartiger spezifischer, ressourcenorientierter Einsatz von Kunst und Spiel in einer eigenständigen Abfolge von bestimmten methodischen Teilen eröffnet überraschende Perspektiven, die den Klienten zu nachhaltigen Veränderungsschritten animieren. Norman und Christian bilden das Leitungsteam eines privaten Ausbildungsinstituts. Norman ist Geschäftsleiter, Christian betreut Curriculum und Kursplanung und ­widmet sich der Forschung. Beide sind auch als Dozenten und Supervisoren tätig. Sie bitten den Berater um ein halbtägiges Coaching, da sich ein »schwelender Konflikt zuspitze«. Im Gespräch beschreibt sich Norman als überlastet und unter Druck, »weil einfach die Finanzen nicht ausreichen«. Christian »meine es ja gut«, habe »tausend gute Ideen«, aber verstehe nicht, dass diese in ihrer Situation nichts taugten. Christian seinerzeit versteht nicht, wieso Norman so »zögert« und »bremst«. Er setze sich doch voll ein, möchte jedoch nicht »den Phantasten im Team spielen«. Auf entsprechende Fragen des Beraters berichten sie, dass sie partiell gut zusammenarbeiten. Als Beispiele erwähnen sie die seinerzeitige räumliche Neueinrichtung des Instituts oder seltene Situationen, wo sie gemeinsam unterrichten. Nach den Gründen befragt, meinen sie: »Wir haben beide dasselbe vor Augen und arbeiten methodisch gleich, auch wenn wir verschiedene Stile haben.« Als gutes Ergebnis möchten sie am Schluss der Sitzung entscheiden können, ob sie zusammen als Leitungsteam weitermachen sollen. Wenn ja: Was soll geändert werden in der Zusammenarbeit? Wenn nein: Was für eine Leitungsorganisation ist dem Aufsichtsrat vorzulegen? Der Vorschlag des Beraters, in der Dezentrierungsphase eine Musikimprovisation zu machen, findet sofort Zustimmung. Beide haben privat einen guten Zugang zur Musik und Musikinstrumente sind im Raum vorhanden. Als Musikinstrument wählt Norman das Klavier und Christian das Xylophon und seine Stimme. Der Berater fragt Norman, ob er ebenfalls seine Stimme dazu nehmen möchte, was dieser ablehnt. »Vorläufig nicht«, sagt er. Zur Exploration des Instruments und zur Sensibilisierung bittet der Berater beide, eine kurze Tonfolge zu finden, die durch ihren Spannungsbogen irgendwie fasziniert. Er fordert sie auf, so lange zu experimentieren, bis ein befriedigendes Motiv »eintreffe«. Diese Phase schließt damit ab, dass beide sich gegenseitig das Motiv vorspielen. Die von Norman komponierte Tonfolge wird Motiv A, diejenige von Christian Motiv B genannt. Improvisation und Take I: Die beiden Motive antworten einander zögernd. Das Ganze kommt etwas in Fluss, als Christian seine Stimme einsetzt. Er tut dies, indem er immer wieder für längere Zeit den gleichen Ton hält (Zentralton als Verbindungselement). Die kurze Zwischenevaluation ergibt, dass beide das »Verweben« der beiden Motive als Herausforderung erleben. Der Zentralton sei dabei eine Hilfe. Der Vor-

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Zur Einführung

schlag  von Normann, mit beiden Motiven gleichzeitig zu beginnen, wird ange­ nommen. Improvisation und Take II: Die Motive erklingen jetzt oft gleichzeitig, bleiben aber etwas »steif«. Rhythmus und Dissonanzen scheinen etwas Mühe zu machen. Die Musik gewinnt an Modulierfähigkeit, sobald Norman zum ersten Mal ebenfalls seine Stimme einsetzt. Zwischenevaluation: Beide sind mit dem Beginn nicht zufrieden. Hingegen möchten sie mehr mit der Stimme »musizieren« und die Instrumente lediglich »als Klangfarbenbegleitung« einsetzen. Es folgen zwei weitere Takes mit Zwischenevaluationen. Vor dem letzten, dem fünften Take will Norman üben, damit seine »Klangtupfer« (Quinten und Quarten als offene Akkorde) dem Motiv B von Christian genügend Raum lassen. Improvisation und Take V: Es entsteht eine überraschende Dynamik mit einem durchgehenden Puls, der lebendig bleibt und eine Mehrstimmigkeit organisiert, die in der Tonalität nicht eindeutig fixiert ist und dann klar in einer offenen Oktave endet. Jetzt finden alle Beteiligten, dass »es haut«. Die beiden wollen sofort noch einmal in dieser Art improvisieren, damit das Stück auf Tonband aufgenommen werden kann. Die anschließende Ästhetische Analyse (Abschnitt 4.7.) ergibt, vor allem bei der Prozessanalyse, eine reichhaltige Beschreibung. In der Phase der Ernte (Abschnitt 4.8.) meint Norman spontan: »Ja, wenn unser Leitungsteam funktionieren soll, müssten eigentlich beide aus eigenen Motiven in einer für beide sich klar entwickelnden Struktur führen können.« Und Christian ergänzt: »Und wenn jemand die Führung übernimmt, ist es hilfreich, wenn er dem anderen in der angesetzten Struktur noch Spielraum lässt.« In der abschließenden Gesprächsphase sind sich beide einig, als Team weiterzumachen. Konkret sollen u. a. die Pflichtenhefte bezüglich Verantwortung und Entscheidungsbefugnis überarbeitet werden und Christian durch Norman ein Mentoring in Rechnungsführung und Budgetierung erhalten. L. K. arbeitet seit vielen Jahren in guter Stellung im Gesundheitswesen. Sie befindet sich im zweiten Teil  einer mehrjährigen berufsbegleitenden Weiterbildung, die sie aus ihrem angestammten Berufsfeld hinausführen wird. Sie kommt in die Coachingsitzung, weil sie ganz unsicher ist, wie ein erster Schritt in das neue Gebiet aussehen könnte. Als gutes Ergebnis der Sitzung formuliert sie, dass sie ein »Gefühl« haben möchte, wie ein solcher Schritt aussehen könnte. – L. K. ist sofort bereit, das Gespräch zu unterbrechen und etwas »ganz anderes« zu machen. Der Berater überreicht ihr einen großen Bogen ziemlich dickes, weißes Zeichenpapier und gibt ihr sechs Minuten Zeit, damit respektive daraus »etwas zu machen«. Es steht ihr frei, aus einem offenen Gestell mit vielerlei Material und Figuren einen zweiten Gegenstand zu nehmen (z. B. eine Schere) und in irgendeiner Art und Weise zu verwenden. L. K. ist im ersten Augenblick perplex, dann faltet sie den Bogen mehrmals und versucht ein Loch hineinzureißen. Das will selbst nach mehreren Ver­ suchen kaum gelingen. Das Papier ist zu dick. Aus einem plötzlichen Impuls heraus zerknüllt L. K. das Papier und stampft mit den Füssen darauf herum. Durch dieses

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Zur Einführung

Vorgehen ist das Material »reißbar« geworden und es entsteht ein aufrecht stehendes skulpturartiges Gebilde mit einer großen Öffnung. L. K. erklärt schon vor Ablauf der ihr zur Verfügung stehenden Zeit die Aufgabe als beendet. Der Berater fragt sie, ob das Werk »noch etwas brauche«, was sie verneint. Nun bittet der Berater L. K., für sich und ihr Werk einen Standort zu wählen, wo sich die Skulptur für den Betrachter »in der besten Perspektive« zeige. Von diesem Platz aus soll sie einige Adjektive aufschreiben, die ihr beim Anblick der Skulptur in den Sinn kommen. Im Anschluss daran erhält sie Zeit, eine kurze Geschichte zu schreiben, in welcher diese Adjektive vorkommen. Als Abschluss hat L. K. im Raum zum zweiten Mal einen neuen, »angemessenen Platz« für sich und die Skulptur zu wählen, von dem aus sie einem »Publikum« (hier: der Berater) die Geschichte vorlesen kann.1 Die weitere Bearbeitung (siehe dazu Abschnitt 4.7. und 4.8.) führt zu einer ganzen Reihe verschiedener Assoziationen, aus denen L. K. als momentan am meisten attraktiv den Punkt »dieses Animalische beim Machen« auswählt. Im abschließenden Gespräch nimmt sich L. K. vor, mit ihren Patienten anders umzugehen und nicht mehr »so vorsichtig zu sein«. Sie will wieder mit Malen beginnen, neu Kraftsport treiben und »auch einmal etwas Verrücktes tun«. Gefragt nach dem als »gutes Ergebnis« angestrebten »Gefühl für den Schritt, der zu tun ist«, meint sie gemerkt zu haben, dass es irgendwie mit dem »Grob-sein-Dürfen« zu tun habe. (L. K. wirkt von ihrer Erscheinung her grazil.) Die telefonische Nachfrage ein Jahr später ergibt, dass L. K. ihren Weg gefunden hat.

Attraktiv und niederschwellig Künstlerische Laien – das sind unsere Klienten fast alle – bewegen sich bei künstlerisch-spielerischem Tun auf einem Terrain, in dem noch Neugier und Experimentierlust anzutreffen sind. Da keine ausgebildeten künstlerischen und handwerklichen Fertigkeiten vorausgesetzt sind, wird die Schwelle zum gestalterischen Experimentieren niedrig angesetzt. Die professionelle Person achtet darauf, dass sich der Klient voll und ganz auf dieses andersartige Tun einlassen kann und das Ganze zu einem guten Ergebnis führt. Für diese künstlerisch-spielerische Tätigkeit wird dank der einfachen Aufgabenstellung weder eine Vorerfahrung im Umgang mit Material und Mitteln noch ein großer Anspruch an Geschicklichkeit vorausgesetzt. Trotzdem soll sie attraktiv sein, anregend wirken und unmittelbar zum Handeln einladen. Sie darf nichts Beiläufiges an sich haben.

1 Aus Gründen der zur Verfügung stehenden Zeit wurde hier auf die »werkartige« Weiterbearbeitung eines der entstandenen Elemente verzichtet.

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Kunst ist sinnliches Tun Es sind die körperlich-sinnlichen Qualitäten, die für uns beim künstlerischen Tun im Vordergrund stehen. Nicht Alltagslogik leitet die Aktivitäten, sondern sinnliches Angeregtsein, Imagination, Überraschungen und die Freude, sich zumindest zeitweise dem Prozess hingeben zu können. Dieser Prozess ist meistens werkorientiert und wird durch das bestimmt, was im Entstehen begriffen ist. So beeinflusst beim improvisierten Tanz ein Schritt den nächsten oder beim Malen ein Pinselstrich den folgenden. Das Vorgehen kann aber auch spontan-spielerisch sein, gleichsam wie das Tun eines Kindes, das mit vollem Ernst für einige Minuten »Kunst entstehen lässt«. Die erlebte Befrie­digung liegt meist im Tun selbst und ist weniger vom Ergebnis abhängig. Die unmittelbaren Wirkungen der dezentrierenden Episoden auf Klientinnen und Klienten sind gut beobachtbar, und dabei werden verschiedene Sinne angesprochen. In ihrem Tun wirken sie sehr fokussiert, oft sichtbar gefordert, gleichzeitig aber animiert und entspannt, was sich durch gerötete Wangen und manchmal halb unterdrückte Ausrufe des Erstaunens zeigt. So verstandenes kunstorientiertes Handeln kann auch mit Erfolg anderweitig eingesetzt werden: zum Beispiel in der Einstimmungsphase einer Teamsitzung oder als Experiment oder Aufgabe zur Exploration und Ver­ tiefung einer Thematik zwischen zwei Sitzungen. Kunst und Sprache bereichern sich gegenseitig Mit dem Eintauchen in Kunst und Spiel erfährt der Mensch Wirklichkeit neu und anders. In diesem Buch sprechen wir von der »alternativen Welter­ fahrung« (Abschnitt 3.2.). Künstlerisches Tun wird durch eine andersartige Logik geleitet, einer Logik, die durch Handeln entsteht und weniger durch das Reflektieren vor dem Handeln. Zusammenhänge werden aus der Ge­ staltung heraus entdeckt. Zentral ist zudem, dass die »attrahierenden, stabilisierenden und verdinglichenden Bedeutungen alltagsweltlicher Sprache« (Kriz, 2007, S. 26) völlig wegfallen: Die 55-jährige Musiklehrerin G., die verschiedene langjährige Therapien hinter sich hat und wegen der unveränderten Symptomatik nochmals »den Versuch einer Kurztherapie« unternimmt, sieht sich selbst als »schlecht« und als »Versagerin«. Nach der zweiten Sitzung erhält sie die Aufgabe, zwei oder drei Musikpassagen auszuwählen, die etwas von dem enthalten, was sie aus ihrem Leben machen möchte. Es ist ihr freigestellt, ob sie diese Passagen selbst spielt (nach Noten oder als Improvisation) oder sie aus Tonträgern auswählt. Zur nächsten Sitzung bringt Frau G. auf zwei Disketten

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ein Musikbeispiel von Rossini und eines von Beethoven. Sie berichtet, dass sie sich beim Auswählen der passenden CD oder der verlangten Passagen im Musikgeschäft so glücklich gefühlt habe »wie schon lange nicht mehr«. Immer wieder sei ihr durch den Kopf gegangen: »Das ist mein Leben.« Melodien und Rhythmen scheinen alle Selbstkritik wie weggefegt zu haben.

In der Folge bearbeitet die Klientin diese Musikpassagen wie künstlerische Werke, die in der Dezentrierungsphase entstanden sind (siehe Abschnitt 4.7. und 4.8.). Der zentrale Aspekt, der aus dieser Bearbeitung für Frau G. hervorgeht, dreht sich um das Wort »Freiheitsdrang«. Dieser Begriff wird sowohl Ausgangspunkt wie Zielorientierung für die weitere, gesamthaft erfolgreiche therapeutische Arbeit. Das methodische Vorgehen Frau G. hat sich, in Analogie zu ihrer beruflichen Tätigkeit, bei der Erfüllung der Aufgabe mit klassischer Kunst auseinandergesetzt, und zwar in rezep­ tiver Weise. Sie hätte auch auf ihrem Instrument improvisieren und diese Improvisationen auf einem Tonträger mitbringen können. Die rezeptive Aus­ einandersetzung mit vorgegebenen Kunstwerken ist für unser Vorgehen eine mögliche, aber seltene Ausnahme. Wir konzentrieren uns in der Dezentrie­ rungsphase einer Beratungs- oder Therapiesequenz auf aktives künstlerisches Handeln mit Betonung der imaginativen Elemente. Der meist kurzen zur Verfügung stehenden Zeit und den bisherigen Erfahrungen der Klienten im jeweils benutzten Medium entsprechend muss das entstehende Werk keinen speziellen künstlerischen Kriterien genügen. Es soll aber ansprechend sein. Für sich allein genommen kann künstlerisches Tun nährende und heilende Wirkungen haben. Soll dieses Tun für Veränderungsschritte genutzt werden, die in der Beratung angeregt und im Alltag realisiert werden können, bedarf es einer angemessenen Sprache. Es ist eine wertschätzende, ressourcenorientierte, suchende Sprache, die sich – soweit es um das dezentrierende Tun und das entstandene Werk geht  – an der Terminologie des entsprechenden ge­ stalterischen Mediums orientiert. Eine Sprache, die immer wieder auch Formulierungen und Metaphern aufgreift, die von den Klientinnen und Klienten spontan selbst verwendet wurden (siehe auch Kapitel 5). In den letzten 15 Jahren hat sich mit diesen Elementen das methodische Vorgehen des Intermodalen Dezentrierens entwickelt, das die Sitzung mit Klienten in bestimmter Weise strukturiert (Abschnitt 4.1.): Nach einem Gespräch, das sich der Sorge und den Ressourcen (Abschnitt 4.3.) ebenso wie den Vorstellungen einer »guten Zukunft« (Abschnitt 4.4.) neugierig-wertschätzend annimmt, wird eine Phase künstlerischen oder spielerischen Tuns eingeschoben (Abschnitt 4.6.). Dieses Tun wird mit Sorgfalt wieder in Spra-

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che übergeführt (Abschnitt 4.7.) und anschließend für die weitere Arbeit nutzbar gemacht (Abschnitt 4.8.) und genutzt (Abschnitt 4.9.). Dabei ist anzumerken, dass bei weitem nicht jede Sitzung, die wir durchführen, eine Phase der Dezentrierung enthält. Dezentrierungen in unterschiedlichen Settings haben ganz bestimmte Auswirkungen. Es ist darum von Vorteil, sie gezielt einzusetzen (siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 7). Künstlerisches Tun und Sprache bereichern sich gegenseitig in positiver Weise. Die Möglichkeiten zur Reflexion werden durch das beobachtbare künstlerische Tun und die Betrachtung des Werks erhöht und auf neue Ebenen geführt. Durch den Einbezug des Sinnlichen eröffnen sich neue Dimensionen des Erlebens, die ihrerseits durch das wertschätzende In-Worte-Fassen vertieft und konkretisiert werden. Aus kognitiver Sicht sind oft so etwas wie Aha-Erlebnisse zu beobachten, die auf mögliche neue Perspektiven hinweisen und zu neuen Wegen und Konkretisierungen anregen. Die weniger gut in Worten zu fassenden sinnlichen Erfahrungen, das Erlebnis, eine ungewohnte Aufgabe zu bewältigen, und Gefühle innerer Betroffenheit dürften für den positiven weiteren Fortgang mindestens ebenso bedeutungsvoll sein (siehe dazu unsere Ausführungen in Kapitel 6).

Unsere Adressaten Es war Absicht und Ziel der Autoren, ein Lehrbuch zu verfassen, das nicht nur das konkrete Vorgehen im Detail deutlich macht, sondern auch auf die Wurzeln und die theoretische Einbettung der Arbeitsweise eingeht und die Eigenheiten der Hauptelemente Sprache, Kunst und Spiel beschreibt. Das Buch ist kein Selbsthilfebuch. Es richtet sich an Professionelle und solche, die es werden wollen. Der Kreis dieser Professionellen ist weit zu ziehen. Wir denken an Psychologinnen, Therapeuten, Coaches, Supervisoren, Laufbahnberaterinnen, Erziehungsberater und Sozialarbeiterinnen mit beratender Funktion. Das Buch sollte aber auch Fachleuten nützlich sein, die episodisch Beratungsaufgaben übernehmen: Pflegefachfrauen, Seelsorger, Ernährungsberaterinnen, Ärzte, Lehrerinnen, Sonder- und Sozialpädagoginnen und andere. Und die Art und Weise schließlich, wie wir mit künstlerischem Tun und mit Sprache umgehen dürfte fast überall im direkten Kontakt mit Menschen mit Gewinn anwendbar sein, zumindest dort, wo es (auch) um Persönliches geht. In Kapitel 2 gehen wir auf diejenigen Aspekte unserer Arbeitsweise ein, die Leserinnen und Leser, welche von anderen Grundlagen her kommen, vertraut oder aber neu sein dürften und die zu beachten sind. In den Kapiteln 7 und 9 finden sich Ausführungen über die Anwendungen und die profes­

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sionellen Anforderungen in den Tätigkeitsfeldern, in denen wir bis jetzt Erfahrungen haben sammeln können. Abschließend noch eine Hinweis zur Verwendung der weiblichen und männlichen Form innerhalb des Textes. Die beiden Autoren sind Männer, die Mehrheit im Kollegen- und Studentenkreis ist jedoch weiblich. So haben wir uns entschlossen, beide Sprachformen abwechslungsweise zu verwenden, wobei in einzelnen Abschnitten die weibliche, dann wieder die männ­ liche Form häufiger zur Anwendung kommt. Wir hoffen, damit den Gender­ aspekt in angemessener Weise berücksichtigt zu haben.

Hintergrund der Autoren Beide Autoren haben in ihrer langen beruflichen Laufbahn eine Vielfalt von therapeutischen und beraterischen Ansätzen kennen gelernt. Herbert Eberhart, ursprünglich von der Psychoanalyse herkommend, hat sich im Verlauf seiner professionellen Entwicklung theoretisch und praktisch vertieft mit verschiedenen Ansätzen der Humanistischen Psychologie auseinandergesetzt. Er ist schon Anfang der 1970er Jahre auf die Systemtheorie aufmerksam geworden und hat als Erster beraterische Konsequenzen dieses metatheoretischen Ansatzes in die deutschschweizerische Berufsberatung und Sozialarbeit eingebracht. Er war ebenfalls der Erste, der den lösungsorientierten Beratungsansatz in diesen beiden Berufsfeldern propagierte und unterrichtete. 1998 hat er mit anderen zusammen das »Schweizerische Netzwerk für Lösungsorientiertes Arbeiten« gegründet. Die Lösungsorientierung räumt mit dem paradoxen Anspruch auf, dass man, um in Beratung und Therapie Fortschritte zu erzielen, immer detailliertere Kenntnisse der Pathologie besitzen müsse (siehe dazu auch die Abschnitte 8.3. und 8.4.). Die jahrzehntelange intensive Zusammenarbeit mit Paolo Knill und die Auseinandersetzung mit dem kunstorientierten Arbeitsansatz haben einerseits zur Methode des Intermodalen Dezentrierens geführt, anderseits auch zu einer breiten, sehr grundsätzlichen Sicht auf das, was in Beratung und Therapie geschieht. Herbert Eberhart arbeitet als Ausbilder, Coach, Supervisor und Kurzzeit-Therapeut in privater Praxis. Paolo Knill, der als Naturwissenschaftler und Musiker erst später in Psychologie promoviert hat, war schon immer fasziniert von den Prozessen, die durch den Einbezug von Kunst bei Einzelnen, in Gruppen, Teams und Großgruppen ausgelöst werden. Als Juniorpartner sammelte er in der Unternehmensberatung erste Erfahrungen, als Pionier der Gruppenimprovisation unterrichtete er ab 1970 freie Improvisation an Schweizerischen Konservatorien, Schulen für Soziale Arbeit und in der Lehrerfortbildung. In diesem Zu-

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sammenhang kam es mit Herbert Eberhart zum ersten Erfahrungsaustausch. 1973/74 war er Gastprofessor für Musikpädagogik an der Tufts University, Medford, MA. In diesem Jahrzehnt erweiterte er auch seine Expertise im klinischen Bereich. Er wurde einer der Begründer der Musiktherapie in der Deutschschweiz. Im Zusammenhang mit seinen therapeutischen Erfahrungen in der Psychiatrie und der Privatpraxis wandte er sich einer phänomenologischen Sichtweise des Veränderungsprozesses zu. Auf dieser Grundlage, ergänzt durch die klinische Praxis und den Erfahrungen im Bildungs- und Beratungsbereich, entwickelte er das »Intermediale Konzept der Künste« in Veränderungsprozessen. Dieses wurde 1974 Inhalt des von ihm mitbegründeten Fachbereichs »Expressive Arts Therapy« der Lesley University Cambridge, MA, wo Paolo Knill von 1978 bis 1992 als ordentlicher Professor unterrichtete. Paolo Knill leitet als Rektor das internationale universitäre Institut »European Graduate School« in Saas-Fee, Wallis (Schweiz). Im Fachbereich »Kunst, Gesundheit und Gesellschaft« werden die hier dargestellten Prinzipien nicht nur unterrichtet, sondern gelebt. Paolo Knill ist heute vor allem als Ausbilder, aber auch als Coach und Supervisor tätig. Die zahlreichen Beispiele in unserem Buch sind nicht konstruiert, sondern stammen aus unserer Praxis. Sie sind durch veränderte Details für Außen­ stehende unkenntlich gemacht.

Unterschiedlicher Einstieg und Querlesen Das Buch kann in der präsentierten Reihenfolge gelesen werden. Das ist aber keineswegs zwingend. Wer sich bereits durch diese Einleitung genügend informiert fühlt, kann mit dem Abschnitt einsteigen, der ihn am meisten anspricht. Erfahrene Praktiker werden sich vielleicht zuerst einen Überblick ver­ schaffen wollen über die Herkunft und die Entstehungsgeschichte unserer Arbeitsweise. Wir empfehlen dann, mit Kapitel 2 (»Die Idee des Zusammen­ gehens«) zu beginnen und anschließend (Teile von) Kapitel 8 (»Die Wurzeln«) zu lesen. Hier wird deutlich, wie nah oder wie fern das eigene Denken und die eigene Praxis zu dem vorgestellten Arbeitsansatz zu positionieren sind. Wer systemisch denkt und der Ressourcen- und Lösungsorientierung nahesteht, sich aber nicht genau vorstellen kann, wie er Künstlerisches in seinen Arbeitsalltag einbauen soll, könnte mit Kapiel 4.6. anfangen. Künstlerinnen und Künstler wie auch Kunsttherapeutinnen wollen sich vielleicht zuerst orientieren über unser Verständnis von künstlerischem Tun und beginnen in diesem Fall mit dem 5. Kapitel.

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Zur Einführung

und zum Schluss … Dank Als Erstes möchten wir unseren jetzigen und unseren ehemaligen Studierenden danken. Ihre Fragen, ihr Engagement, ihre Begeisterung und ihre Lebenserfahrung haben uns immer wieder Denkanstöße gegeben und uns ermuntert weiterzumachen. Dann aber ist auch unseren Partnerinnen zu danken, die immer wieder sehr viel Geduld aufbringen mussten, weil ihre Männer in gemeinsamen Retraiten abwesend waren oder sich hinter dem Computer verschanzten. Nicht zuletzt gilt unser Dank Maja Loeliger und Barbara Traber, die sich mit unserer manchmal holperigen Sprache auseinandergesetzt haben. Weiter Dr. Andreas Bürgi, Marie-Louise Ries und lic.phil. Peter Truniger, die sich die Mühe nahmen, den Text fachlich-kritisch zu kommentieren. Und schließlich Günter Presting vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der durch seine Anregungen und Vorschläge dafür gesorgt hat, dass auch Leserinnen und Leser, die mit der Materie weniger vertraut sind, Zugang zu unseren Ausführungen finden können. Was geblieben ist Geblieben sind die zwei unterschiedlichen Welten: jene der Künste und jene einer angewandten, auf den Beratungs- und Therapieprozess fokussierten Psychologie. Diese Unterschiedlichkeit scheint eine sehr grundsätzliche zu sein. Deshalb lässt sich auch die Sprache der einen nicht einfach übersetzen in die Sprache der anderen. Wir erleben diese Verschiedenheit in der Regel nicht als schmerzlich, sondern als bereichernd. Wenn wir ungeduldig sind, erfahren wir sie allerdings gelegentlich als Störung und als hinderlich. Die Unterschiedlichkeit des Weltund Menschenverständnisses zwingt uns, genau hinzuhören, sensibel mitzuerleben und den Kommunikationsprozess zu verlangsamen. Geblieben ist das Faszinosum des Unerwarteten und des Berührenden. Wir erleben es in den Gesprächen mit unseren Klientinnen und Klienten, vor allem aber auch im künstlerischen Tun und dort, wo Kunst und Sprache aufeinandertreffen. Bei der Arbeit mit Klienten und in der Trainingsarbeit wird der Einbezug beider Welten praktisch durchwegs positiv aufgenommen. Ihre Unterschiedlichkeit berührt, macht betroffen, öffnet neue Perspektiven und führt zu überraschenden Wendungen, die sich – doch das merkt man erst später – als positiv und erwünscht und meistens auch als nachhaltig erweisen.

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2. Die Idee des Zusammengehens

2.1. Vor dreißig Jahren Die Szene: ein Kurszentrum in der Schweiz. Eine Gruppe Studienanfänger einer Fachhochschule für Sozialarbeit, begleitet von ihrem Psychologie­ dozenten, und ein Lehrbeauftragter für Musik, Bewegung und Medien, der eine Studienwoche zum Thema Kreativität leiten soll. Was hat aus dieser ersten Begegnung zu einer dreißigjährigen Zusammenarbeit geführt? Der ehemalige Psychologiedozent meint dazu: Wir waren (und sind) beide etwa gleich alt. Beide naturwissenschaftlich interessiert und überzeugt, dass Wirkungen im Bereich der beraterisch-therapeutischen Arbeit nicht nur linear verstanden werden können. Ich selbst hatte damals mit Kunst und Kreativität wissentlich nichts »am Hut«. Ich war ein Ausbilder und Berater, der der Alltagssprache vertraute. Gleichwohl war ich fasziniert von der offensichtlichen Wirkung spielerisch-künstlerischer Aktivitäten. Ich spürte diese Wirkung an mir selbst und an den Studierenden. Wir waren beide zeitweise völlig in den Bann des gemeinsamen Tuns gezogen und hell begeistert.

Der ehemalige Lehrbeauftragte berichtet: Die Begegnung damals zeichnete sich dadurch aus, dass die gemeinsame natur­ wissenschaftliche Denktradition trotz der offensichtlichen Differenz zwischen einer alltagssprachlich fundierten Reflexion und der künstlerischen Gestaltungslogik ein gegenseitiges Verständnis erzeugte. Das Komplexe, Überraschende und Zufällige faszinierte uns beide. Und die Offenheit in der Begegnung erlaubte erste gedankliche Anstöße zu einer möglichen Methode und Theorie, die der Kombination von alltagssprachlicher Konversation und gestalterischem Tun in Veränderungsprozessen eine Chance gibt. Die Herausforderung durch die nicht gestaltungsgewohnten Studierenden und den Psychologiedozenten mussten zu einer Anleitungsmethode führen, die die Möglichkeiten aller Teilnehmer einbezog und zugleich gewohnte Gestalter faszinierte. Zudem musste eine Sprache gefunden werden, die, frei von Jargon, allgemeinverständlich blieb.

Seither sind dreißig Jahre vergangen. Der damalige Diskurs, der vor allem psychoanalytisch und teilweise lerntheoretisch fundiert war, ist mehr und mehr beeinflusst worden durch eine Haltung, die durch die Humanistische Psychologie genährt wurde, ergänzt durch auf der Systemtheorie basierende metatheoretische Überlegungen. Die seinerzeit überwiegend pathologie- und defizitorientierte Sichtweise in den helfenden Berufen erhielt Konkurrenz

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Die Idee des Zusammengehens

von der ressourcen- und lösungsorientierten Perspektive. Gleichzeitig wuchs in Fachkreisen das Interesse an spielerischen, künstlerischen und handlungsfokussierten Arbeitsweisen.

2.2. Das Offensichtliche Künstlerisches Tun ist lösungsorientiert Als Therapie stand die kunst- und ausdrucksorientierte Methode den traditionell defizit- und pathologieorientierten Verfahren nahe. Durch die betont phänomenologische Sichtweise der Kunst als Kulturgut (siehe dazu Abschnitt  8.1) und durch die Nähe zum Gedankengut der Humanistischen Psychologie war jedoch von Anfang an die Öffnung zur Ressourcenorientierung gegeben. Maslow, Rogers und andere haben schon sehr früh Poten­ tiale des Menschen in ihre Überlegungen mit einbezogen. Zudem bewirkte die seit Beginn der kunst- und ausdruckstherapeutischen Richtung bestehende Nähe zur Pädagogik und Sonderpädagogik, dass neben den Defiziten immer auch die Kompetenzen angesprochen wurden: Rogers’ »Lernen in Freiheit« (1974), Gardners »Project 0« (1991), in der Schweiz Mattmüller (1979). Mit der Wende zur Werkorientierung im Jahr 1989 wurde die Aufmerksamkeit auf den ästhetischen Prozess und das Vollenden des Werks gerichtet. Jedes Werk ist in sich eine einmalige Lösung. Dieses Erlebnis ist auch bei einem scheinbar unbegabten Klienten offensichtlich. Wird er von einer Fachperson mit low-skill-high-sensitivity zu einem Werk geführt, bekommt sein Gesicht Farbe, die Augen leuchten, und die Freude am Gelingen ist unübersehbar. Mit »low-skill-high-sensitivity« bezeichnen wir das methodische Konzept, das bewusst verzichtet auf technisch anspruchsvolle Aufgabenstellungen und Verfahren und dies gleichzeitig verbindet mit einem hohen Grad an Sensibilität in Bezug auf den Umgang mit Formen, Farben, Material, Zeit, Raum, Ausdruck etc. (siehe dazu auch den entsprechenden Abschnitt unter 4.6). So weicht jede scheinbare Unfähigkeit der Freude am werkschaffenden Prozess und oft auch der Überraschung und dem Stolz über das, was entstanden ist. Jedes werkorientierte Arbeiten ist somit Arbeiten an einer Lösung. Aus dieser Perspektive sind auch zwischen dem Prozess der Werkgestaltung und dem Prozess der Lösungsfindung, so wie er in der Lösungsorientierten Beratung und Therapie beschrieben wird (siehe dazu Abschnitt 8.3.), Analogien zu erwarten. Erika wählt das Marimbaphon (ein Instrument mit Holzstäben, ähnlich angeordnet wie das Xylophon), als ich sie zu einer Musikimprovisation einlade. Sie versucht so-

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Das Offensichtliche

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fort, eine bekannte Melodie zu spielen, gibt aber wieder auf und bemerkt: »Ich kann das nicht!« Die Frage des Beraters, ob ihr das Instrument gefalle, beantwortet sie mit »Ja«. Darauf schlägt er vor, nicht an eine Melodievorstellung, sondern an eine Gestaltung mit Farbtupfern zu denken und nur einzelnen Klängen nachzuhorchen, die durch verschiedene Schlagarten mit verschiedenen Schlägern einzeln oder zusammen erzeugt werden können. Diese Hörsensibilisierung motiviert exploratorische Neugier und es fällt auf, wie einzelne Klänge wiederholt werden, bis eine Entspannung im Gesicht der Klientin erscheint, als ob da etwas Befriedigendes gelungen sei. »Haben Sie einige Gestaltungsklangfarben gefunden?«, fragt der Berater. Nachdem sie dies bejaht hat, nimmt sie die Einladung zu einer kurzen Klangfarbenimprovisation an. Nach dem ersten Versuch ist sie wohl mit dem Anfang sehr zufrieden, aber den späteren Verlauf findet sie entmutigend, da er »nicht nach meiner Vorstellung« gelungen ist. Der Berater erfährt, dass sie sich am Anfang von den Klängen überraschen ließ und spontan aus dem Hören mit den Schlägern reagierte. Er fordert sie auf, jetzt bei dieser Haltung zu bleiben und den Bogen des Ganzen aus dem Hören und der Interaktion von Instrument und Händen entwickeln zu lassen. Interessanterweise entsteht nun mehr und mehr ein Klangfarbenbogen von zarter Helligkeit bis zu dichtem, dunklem Holzklang, der sich wieder in einzelnen hohen Tönen auflöst, sozusagen eine Klangfarbenmelodie. Je mehr dieser Bogen klar wird, desto mehr kommt Erika »ins Feuer« und sagt schließlich: »Ich hab’s, ich hab so etwas wie eine Melodie!« Das, was sie zu Beginn anstrebte, mit der Vorstellung von Melodie, die sie mitgebracht hatte und in der Sackgasse der Unfähigkeit erstickte, hat so auf einem ganz anderen Weg eine Lösung gefunden.

Auch bei geringen oder eingeschränkten Ressourcen sind Lösungen möglich Der Tradition der Künste können wir entnehmen, dass Kunst immer mit eingeschränkten Ressourcen umgehen muss. Jedes Werk hat räumlich-zeitliche Grenzen und Einschränkungen durch Material, Struktur und anderes mehr. Das kann vom Künstler sehr unterschiedlich erlebt werden: als schmerzlich, als Herausforderung oder als Erleichterung. Beispiele dafür sind die Schwarweiß-Fotografie, das Schattentheater, Einschränkungen in Tonumfang oder Klangfarbe durch das Musikinstrument, die tänzerische Darstellung eines Vogelflugs und die Einschränkungen des menschlichen Körpers. Die lösungsorientierte Beratungs- und Therapiemethode weist ihrerseits darauf hin, dass es kein Problem ohne Lösung gibt und dass grundsätzlich in jeder Situation Ressourcen gefunden werden können. Der Beratungsansatz, der dieser Veröffentlichung zugrunde liegt, ist stark durch die Gesprächsführung in der traditionellen lösungsorientierten Arbeitsmethode beeinflusst. Seit einigen Jahren bevorzugen wir allerdings bei der Beschreibung unseres Vorgehens den Ausdruck Ressourcenorientierung. Er ist umfassender und legt ein besonderes Gewicht auf die Gestaltung der Beziehung.

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Die Idee des Zusammengehens

Veränderungen, Überraschungen, Einmaliges Eine auf Lösungen hin orientierte Arbeit lenkt die Aufmerksamkeit weniger auf Regularitäten und Muster als auf Veränderungen, Ausnahmen und Einmaliges. Genauso stehen in der Kunst Überraschungen, Einmaligkeit und Unterschiedlichkeit im Vordergrund. Auch bei den aufführenden Künsten ist in verschiedenen Interpretationen (Takes) nichts vollständig wieder­ holbar. In der Werkorientierung und in der Ressourcenorientierung wird das Augenmerk auf Veränderungen gelegt. Alles ist im Fluss. Dabei messen beide Ansätze kleinen Veränderungen große Wichtigkeit zu. Die lösungsbzw. ressourcenorientiert arbeitenden Praktiker sind überzeugt, dass kleine Veränderungen große nach sich ziehen können. Auch im künstlerischen Gestalten bringt die kleine Veränderung eines Elementes bedeutende Veränderungen des ganzen Werks mit sich. Der fremde Farbpunkt im Bild, das neue Wort im Gedicht, der Instrumentenwechsel in der Musik kann das ganze Werk grundlegend verändern. Dieser Vorgang ist in der Werkorientierung sinnlich erfahrbar. Die Klientin als Expertin und Gestalterin Eine der schwierigsten Anforderungen an Beraterinnen, die ressourcen­ orientiert arbeiten wollen, ist die Grundhaltung, die Klientin als Expertin für ihr eigenes Leben zu akzeptieren. Nur sie weiß letztlich, was für sie wichtig und bedeutungsvoll ist. Nur sie kennt ihre Bedürfnisse; und zwar auch dann, wenn sie noch nicht in der Lage ist, diese in Worte zu fassen. Das ergibt sich auch aus der Auffassung, dass sich menschliche Systeme in bestimmter Beziehung autonom verhalten (siehe dazu Abschnitt 6.2.). So ist jeder Mensch Experte für seine eigenen Angelegenheiten. Das betrifft besonders seine Wirklichkeitskonstruktionen und die daraus abgeleiteten Verhaltenspläne, Verhaltensweisen und Emotionen. Im künstlerischen Tun wird die Autorenschaft der Gestalterin grundsätzlich nicht angezweifelt. Offene Fragen an die gestaltende Klientin können helfen, das Werk an einen Punkt der Schönheit zu bringen, der für sie und den Moment stimmig ist. Beide Ansätze bewerten demnach die Autonomie der Klientin als hoch und bringen ihr ein unüblich großes Vertrauen entgegen. Mit der Klientin in der Ressourcenorientierung als Expertin, in der Werkorientierung als auto­ nome Gestalterin umzugehen ist für die professionelle Begleiterin Heraus­ forderung und Geschenk zugleich.

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Das Offensichtliche

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Wertschätzende Neugier Für Professionelle setzt dies eine Haltung der Wertschätzung und des Nichtwissens voraus. Die Wertschätzung gilt der Klientin als einer autonomen Persön­lichkeit, das Nichtwissen bezieht sich auf das, was für sie zentral ist. Beides zusammen trifft sich in einer wohlwollenden Neugier, scheinbar Selbstverständliches zu erkunden. Die werkorientierte Beraterin nimmt diese Haltung nicht nur der Klientin, sondern auch dem Gestalteten gegenüber ein. Die Wertschätzung hebt so das Einzigartige des Schaffensprozesses und des entstehenden Werks hervor. Eine Begleiterin weiß nicht, wo der Prozess hinführt oder welche der zur Verfügung gestellten Materialien und Werkzeuge, vorgeschlagenen Strukturen oder Methoden das Werk schließlich ermög­ lichen. Ebenso wenig weiß sie, wann das Werk zu Ende ist und wie es aus­ sehen oder klingen wird. Ihre wohlwollende Neugier, die Aufmerksamkeit für Überraschendes, vielleicht auch einmal gemeinsames Tun und Erkunden unterstützen diese Haltung. Ermächtigung zur Erweiterung des Spielraums Der Fokus des beraterischen und therapeutischen Tuns liegt bei der Ressourcenorientierung auf dem Veränderbaren bzw. auf dem, was der Klient selbst verändern kann. Der Klient wird als aktiv Tätiger und nicht als Opfer an­ gesprochen. Vorhandene oder vorstellbare Handlungs-, Denk- und Gefühlsspielräume stehen im Vordergrund. In der Werkorientierung liegt der Fokus gezwungenermaßen auf dem Gestaltbaren und man arbeitet mit den Ressourcen des Materials und des Gestalters. Der gestaltende Klient ist aber dem Material und den Begrenzungen nicht ausgeliefert, sondern als handelnde Person gefordert, die Spielräume zu nutzen. Die Lösungs- und die Werkorientierung arbeiten also beide schwerpunktmäßig mit dem, was beim Klienten und in der Situation vorhanden ist. Sie ermächtigen ihn, tätig zu werden, indem vorhandene und/oder vorstellbare Erweiterungen des Spielraums genutzt werden. Phänomenologische Haltung Werkorientierung und Ressourcenorientierung haben die phänomenologische Haltung dem Begegnenden gegenüber gemeinsam. Die Person, das Anliegen, die Äußerungen, das Werk, das Gestaltete – all das wird so genommen, wie es sich im Moment der beraterischen Begegnung zeigt. Der Prozess wird als beraterische Situation zu zweit verstanden. Das bedeutet, dass sich

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Die Idee des Zusammengehens

die Beraterin mit ihrem Befinden, ihren Assoziationen und Reflexionen mittendrin befindet, ohne dies allerdings ins Gespräch einbringen zu müssen. Diese Haltung fällt vielen Beratenden schwer, weil sie gewohnt sind, vor allem etwas Auffälliges zu deuten, das heißt, es auf so genannte tiefer liegende Strukturen zurückzuführen. Sie müssen deshalb aufgefordert werden, in ihren Beschreibungen »an der Oberfläche« zu bleiben. Das hat nichts mit Oberflächlichkeit zu tun, jedoch viel mit dem Bemühen, bei den Phänomenen zu bleiben.

2.3. Unterschiede Unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten Im Gegensatz zur lösungs- und ressourcenorientierten Arbeit, die sich tra­ ditionell der Alltagssprache und deren Logik bedient, pflegt künstlerisches Gestalten in der Werkorientierung viele weitere Ausdrucksformen. Beziehungen können in der Musik erklingen, Text kann sich im Bild als Gemälde konkretisieren, Tanz kann Bilder bewegen und Theater kann Szenen zur Handlung führen. Diese Beschreibung macht deutlich, dass das künstlerische Gestalten eine viel reichere Palette an Ausdrucksmöglichkeiten anbietet, als die Alltagssprache zur Verfügung hat. Andere Denktraditionen Diese Unterschiedlichkeit zeigt sich auch im lösungs- und werkorientierten Diskurs. Die Lösungsorientierung bezieht sich auf linguistische Theorien und psychologische Modelle. Die werkorientierte Arbeit lehnt sich weitgehend an die philosophischen Traditionen der Phänomenologie und die künstlerische Terminologie des jeweiligen Mediums an. Unser Verständnis des künstlerischen Prozesses gründet auf der Sichtweise von Heidegger: »Das Wesen der Kunst, worin das Kunstwerk und der Künstler zumal beruhen, ist das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit« (1960, S. 74). Mit »Wahrheit« ist hier die im Werk und im Schaffen erlebbare Wirklichkeit angesprochen. Eine Wirklichkeit, die zwar in den Bereich der Imagination gehört, jedoch im Wachzustand bezeugbar ist und dinglich-wirklich erscheint. Das philosophische Verständnis gründet auch auf der Hermeneutik von Gadamer: »Es geht in der Erfahrung der Kunst darum, dass wir am Kunstwerk eine spezifische Art des Verweilens lernen. Es ist ein Verweilen, das sich

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Unterschiede

offenbar dadurch auszeichnet, dass es nicht langweilig wird. Je mehr wir verweilend uns darauf einlassen, desto sprechender, desto vielfältiger, desto reicher erscheint es« (1977, S. 60). Merleau-Ponty (2001) versteht das künstlerische Tun als eine Art alternative Welterfahrung, die sich durch die Imagination in der künstlerischen Handlung spiegelt. Diese Erfahrung findet im Werk eine schlüssige Logik, welche jedoch erst nach der Handlung reflektiv erfasst wird. Ein weiterer Aspekt unseres Verständnisses gründet auf der Sichtweise, dass Kunst nicht ohne die Gesellschaft gedacht werden kann, so wie das in der Auffassung von Kunst als Subkommunikationssystem (Krieger, 1997, S. 26) zum Ausdruck kommt. In diesem Sinne ist eigentlich Kunst »kommunal« und durchwirkt den Kommunikationsprozess des Alltags. Diese vier Hinweise werfen Licht auf die ganz andere Denktradition auf dem Gebiet der Künste. Die werkorientierte Arbeitsweise ist aus der kunstund ausdruckstherapeutischen Arbeit entstanden. Für die phänomenologische Ausrichtung dieser Therapieform und eine deren Grundlagen, die Daseinsanalyse, steht vor allem die Verdeutlichung des Gehalts des künstlerischen Werks im Zentrum. Das bedeutet, dass Inhalt und Bedeutung zentral werden, auch wenn in der phänomenologischen Tradition Symbole nicht vom Therapeuten gedeutet werden. Die Lösungs- und Ressourcenorientierung hingegen legt ihr Augenmerk vor allem auf Veränderungen, welche als dauernder Lernprozess verstanden werden. Dieser Unterschied zwischen künstlerischen und lösungsfokussierten Therapien erinnert an den klas­ sischen Widerspruch von Psychoanalyse und Lerntheorie. Sobald man jedoch feststellt, dass beide nicht denkbar sind ohne Lernen, findet man eine erklärende Gemeinsamkeit. Bedingungs-Folge-Gefüge Kunsttherapeutisch Arbeitende verstehen sich oft selbst als Künstler. Sie identifizieren sich stark mit dem, was in diesem Buch »kunstanaloge Haltung« genannt wird. Diese hebt hervor, dass ein Kunstwerk letztlich nicht erzwungen werden kann, gleichwohl aber den vollen Einsatz fordert. Dieses Grundwissen widerspricht allen linear-mechanistischen Überlegungen in der Therapie. Die klassische Lösungsorientierung macht im methodischen Vorgehen stellenweise einen mechanistischen Anschein, ohne allerdings Wirkungen linear mit Ursachen zu verbinden. Dieser vermeintliche Widerspruch kann wesentlich entschärft werden, wenn bedacht wird, dass sich sowohl Lösungsorientierung als auch kunstanaloge Kunsttherapien in ihrer Wirkung auf ein Bedingungs-Folge-Gefüge stützen. Das Ursache-Wirkungs-Denken dagegen setzt eine bestimmte Ursache in einen linearen Zusammenhang mit

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einer bestimmten Wirkung. Das zuerst in der Medizin beschriebene Bedingungs-Folge-Denken wiederum betont, dass bei einer vorliegenden Bedingungsstruktur verschiedene Folgen möglich werden (Langen, 1973). Der Zusammenhang zwischen Bedingung und Folge bleibt dadurch komplex und lässt nur Wahrscheinlichkeitsaussagen zu. Unterschiedlicher Aufmerksamkeitsfokus Menschen, die Kunst stets mit etwas »Höherem« verbinden, dürften Mühe haben mit der radikalen Zuwendung der Lösungs- und Ressourcenorientierung zum Alltag. Allerdings zeichnet sich auch das heutige Kunstverständnis insgesamt durch eine Zuwendung zum Dinglichen, Alltäglichen und Erdverbundenen aus, was der lösungsorientierten Haltung nahekommt. Verallgemeinernd könnte man sagen, dass für einige der kunstorientierten Therapeuten die Lösungs- und Ressourcenorientierung nicht spirituell genug ist, für andere zu rational reduzierend, für eine dritte Gruppe dagegen ihrer Haltung in etwa entspricht. Der erste Vorwurf kommt zweifellos von Professionellen, die ihre Arbeit vor allem spirituell verstehen. Sie haben die Tendenz, konkrete Situationen mit generalisierenden, metaphorischen oder abstrakten Begriffen zu beschreiben. Parallel dazu haben sie außerordentlich Mühe, partikulär und konkret zu sprechen. Die Tendenz ist stark, alles Beobachtete auf Ursprünge, Wurzeln und »Natur« zu reduzieren. Dies ist eine Form von Strukturdeterminismus, der zur Lösungs- und Werkorientierung eine entgegengesetzte Position einnimmt. Wir nehmen zwar in unserer Arbeit mit Klienten immer wieder einmal eine spirituelle Dimension wahr, sprechen allerdings selten darüber. Gleichzeitig aber ist es uns wichtig, mit unseren Worten so konkret wie möglich an der »Oberfläche« des künstlerischen Werks und des Spiels zu bleiben.

2.4. Der heutige Stand Die vielen grundlegenden Gemeinsamkeiten der Lösungs- und Werkorientierung haben zu einer Methode geführt, die wir Intermodale Dezentrierung nennen. Das Kapitel 4 orientiert im Detail über das konkrete Vorgehen. Der Beziehungsaufbau wird geleitet durch eine kunstanaloge Haltung, die nach unserem Verständnis in vielen Teilen identisch ist mit dem, was in der Fachliteratur als Haltung innerhalb einer lösungsorientierten resp. lösungsfokussierenden Arbeit beschrieben wird. Wir selbst bevorzugen den Begriff Ressourcenorientierung. Dieser zielt mehr auf eine Ausrichtung auf allgemeine

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Stärken, Möglichkeiten, Chancen und eben Ressourcen als der oft »macherisch« verstandene Begriff Lösung. Auf der Basis dieser durchgehenden Ressourcenorientierung ergibt sich ein prototypischer Arbeitsablauf, der wie folgt zusammengefasst werden kann: Auftragsklärung, Erfassung von Sorge, Ressourcen und Vision eines guten Ergebnisses respektive einer guten Zukunft basieren auf einer res­ sourcenorientierten Didaktik, die eigentliche Dezentrierungsphase entspricht einer alternativen Welterfahrung, und die Analyse dieser Erfahrung stützt sich auf eine werkorientierte Didaktik. Die Ausbeute oder Ernte, die zurückführt zur Alltagssituation, ist wiederum weitgehend der ressourcenorientierten Didaktik verpflichtet. Eine spezielle Aufmerksamkeit liegt auf den Brücken vor und nach der Dezentrierung. Intermodales Dezentrieren – ein Hybrid Wir betrachten unseren methodischen Ansatz als ein Hybrid im Sinne des postmodernen Kulturverständnisses. Das bedeutet, dass die Intermodale Dezentrierung weder ein eklektisches Gemisch aus lösungs- resp. ressourcenorientiertem Ansatz und Werkorientierung noch eine Integration der beiden ist, sondern etwas Neues darstellt. Werkorientiertes Arbeiten kann in einer Klientensituation auch für sich allein angewendet werden. Eine gut angeleitete und begleitete Werkgestaltung hat in der Regel positive Wirkungen, selbst wenn Auftragsklärung, Problemklärung, Erfassung der Zukunftsvision und Ernte nicht oder nur rudimentär durchgeführt oder durch andere Reflexionsmethoden ersetzt wurden. Die lösungsfokussierende Therapie- und Beratungsarbeit ihrerseits ist als eigenständige Methode in der Literatur mehrfach beschrieben worden. Das heißt, dass eine in diesem Sinne durchgeführte, rein alltagssprachliche Klientenarbeit positive Wirkung erzeugt, auch wenn Metaphern, poetische Ausdrücke und Ähnliches unbeachtet bleiben und kein künstlerisches oder spielerisches Tun erfolgt. Die Intermodale Dezentrierung baut auf den Gemeinsamkeiten beider Ansätze auf und kombiniert in einer eigenständigen Abfolge bestimmte methodische Teile. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die positiven Auswirkungen dadurch deutlich verbessert werden können. Weiterentwicklung Die derzeitige Entwicklungsarbeit konzentriert sich auf die Stringenz der sprachlichen Prozessbegleitung. Standen bisher die üblichen Beratungsset-

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tings in der Einzel- und Gruppenarbeit im Vordergrund, werden jetzt auch Erfahrungen in neuen Settings (z. B.: Erwachsenenbildung und Community Work) und bei anderen Auftragssituationen (Coaching) gesammelt. Gleichzeitig wird der Ansatz differenziert und die Beziehungen zu anderen Methoden werden im Vergleich geklärt. Der Ansatz des Intermodalen Dezentrierens wird bereits heute durch verschiedene Berufsgruppen und Ausbildungsstätten gepflegt.

2.5. Konsequenzen für Professionelle und unterschiedliche Zugänge Professionelle, die mit dem in diesem Buch vorgestellten methodischen Vorgehen im Arbeitsalltag Erfahrungen sammeln möchten, müssen bereit sein, mit ihren Klienten prozessorientiert zu arbeiten. Unser Verfahren ist in einer manualgeleiteten Art nicht erfolgreich anwendbar. Es verlangt – immer auf der Basis einer tragenden Beziehung – ein gewisses Maß an Vertrauen in den Prozess, der sich zwischen Klient und professioneller Person entwickelt. Die Erfahrungen als Ausbilder zeigen zudem, dass dieses Verfahren in der Regel auch eine gewisse Fehlerfreundlichkeit bedingt ebenso wie eine freundliche Haltung und Aufmerksamkeit gegenüber Überraschungen. Wir haben uns in den letzten beiden Jahrzehnten sensibilisiert auf die Ressourcen und Stärken der Menschen, mit denen wir arbeiten. Das bedeutet keineswegs, dass wir die Problematiken und Schwierigkeiten, die für unsere Klienten im Vordergrund stehen, gering achten. Sie erhalten unsere wertschätzende und mitfühlende Aufmerksamkeit. Doch mit einer beharrlichen Freundlichkeit erkunden wir ebenso eingehend die Ressourcen, Stärken und Erfolge, die sich in jedem Menschleben und meist auch in jeder Situation finden lassen. Diese ressourcenorientierte Haltung gilt sowohl für die Gesprächsführung wie für die Begleitung des künstlerischen Tuns. Schließlich muss sich die professionelle Person, die Intermodales Dezentrieren einsetzen will, einlassen auf das Abenteuer »künstlerisches Tun« oder – sofern sie damit vertraut ist – auf das Abenteuer »Sprache«. Für viele, die bis jetzt ausschließlich mit dem Medium Sprache gearbeitet haben, kann das anfänglich sehr ungewohnt sein. Es empfiehlt sich deshalb, langsam vorzugehen und sich selbst nicht zu überfordern. Konkret bedeutet dies, Medien zu wählen, die einem aus Kindheit und Jugend oder dem privaten Alltag vertraut sind, und unkomplizierte Instruktionen zu geben. Dabei geht es beim künstlerischen oder spielerischen Tun des Klienten in der Phase der Dezentrierung – und darauf ist immer wieder hinzuweisen – nicht um »richtig« oder »falsch«, »besser« oder »schlechter«, auch wenn das Bemühen um

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Konsequenzen für Professionelle und unterschiedliche Zugänge

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ein ästhetisch ansprechendes Werk dieses Tun leitet. Es geht für den Klienten oder die Klientengruppe darum, sich voll auf das »Andersartige« einzulassen. Die Aufgabe der professionellen Person ist es, dies zu ermöglichen und dazu beizutragen, dass weder das Tun noch das Werk, das dabei entsteht, zu etwas Beiläufigem verkommt. Klienten ihrerseits haben in der Regel mit den Anforderungen, die in der Dezentrierungsphase an sie gestellt werden, keine Mühe. Besonders dann nicht, wenn man diese Phase als »kleines Experiment« darstellt und vorher bei ihnen dafür die Erlaubnis einholt. Professionelle, die bereits mit künstlerischen Medien arbeiten, müssen sich mit unserer Art des Umgangs mit künstlerischem Tun auseinandersetzen und sich auf das Medium Sprache einlassen. Es ist wichtig, dem Umgang mit der Sprache ebensoviel Sorgfalt angedeihen zu lassen wie dem künstlerisch-spielerischen Tun. Das Kapitel 5 fasst die Aspekte zusammen, die uns in der Gesprächsführung wichtig sind. Wir meinen, dass es Zugänge zur Art unseres Arbeitens und unseres Denkens über diese Arbeit gibt, die privilegiert sind. Wer von der systemischen Praxis herkommt … dürfte es in mancher Beziehung leichter haben als andere. Untenstehend sind einige unserer Überlegungen dazu aufgelistet. Vertraut wird sein: –– Das konstruktivistische Denken, das unserem Arbeiten zugrunde liegt. Es hat zur Folge, dass wir unterschiedliche Perspektiven eines »Tatbestandes« nicht als störend, sondern als bereichernd und veränderungsfördernd betrachten. –– Dass es nicht in erster Linie darum gehen kann, durch direkte Interventionen eine Veränderung herbeizuführen, sondern vielmehr um die Gestaltung des Beratungs- und Therapieprozesses, so dass dieser zu einer Umgebungsbedingung wird, die Veränderung fördert. –– Das Wissen darum, dass sich die professionelle Person nicht aus dem Geschehen heraushalten kann. –– Das Wissen um Eigenheiten des Selbstorganisationsprozesses. Dieser verläuft u. a. sprunghaft, beinhaltet Phasen der Instabilität, und Art und Zeitpunkt von Veränderungen können nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden (siehe dazu auch Abschnitt 6.3.). Die praktischen Folgerungen aus diesem Wissen werden allerdings selten gezogen. –– Und nicht zuletzt dürften viele systemisch Arbeitende eine gewisse Nähe und Affinität zu den spielerischen Seiten unseres Vorgehens verspüren.

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Ungewohnt ist vielleicht: –– Der explizite Aufmerksamkeitsfokus auf Überraschendes sowohl in den Aussagen des Klienten als auch im gemeinsamen Prozess. –– Die »phänomenologische« Ausrichtung in der Phase, die wir »ästhetische Analyse« nennen (siehe dazu Abschnitt 4.7.). Hier bemühen wir uns um eine strikte Beschreibung an der Oberfläche von Werk und Prozess, im Wissen darum, dass dies – auf einer konstruktivistischen Basis – letztlich nicht möglich ist. –– Der weitgehende Verzicht auf längere diagnostische Passagen innerhalb des Beratungsablaufs. Neu dürfte sein: –– Das Heraustreten aus dem Beratungsablauf, und zwar nicht als Pause, um sich etwa hinter dem Einwegspiegel mit Kolleginnen beraten zu können, wie es zum Beispiel in der systemischen Familientherapie üblich ist, sondern gemeinsam mit der Klientin. –– Das Sich-Einlassen auf künstlerisches Tun und Spiel als »etwas ganz anderes« und nicht zum Beispiel als eine Inszenierung von Dingen, die vorher zur Sprache gekommen sind. –– Die Auseinandersetzung mit dem Diskurs innerhalb der künstlerischen Medien, zum Beispiel mit einem Begriff wie »ästhetische Verantwortung«. Wer von einer klassisch-lösungsorientierten Arbeit herkommt … Für diese Leserinnen und Leser treffen wohl die meisten der bisher gemachten Aussagen ebenfalls zu. Zusätzlich kann erwähnt werden: Vertraut wird sein: –– Die Art der Gesprächsführung in den Phasen vor der Dezentrierung und in der Phase der Weiterführung (Abschnitt 4.9.) Ungewohnt ist vielleicht: –– Das Sich-Einlassen auf rein assoziative Aussagen der Klientin in der Phase der »Ernte« (Abschnitt 4.8.). Neu dürfte sein: –– Die Art der Gesprächsführung und Begleitung des Klienten während des künstlerischen Tuns oder des Spiels in der Dezentrierungsphase. Sie ist zu vergleichen mit Aspekten der traditionellen Rolle eines Coachs im Sport (»Kunst-Coach«).

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Wer mit künstlerischen Medien arbeitet … und diese bereits in seiner Arbeit einsetzt, dürfte ebenfalls einen privilegierten Zugang zu unserer Art des Arbeitens haben. Vertraut wird sein: –– Die Betrachtungsweise, dass das menschliche Kulturgut nicht ohne Kunst und künstlerisches Tun denkbar ist und somit alle Menschen in irgendeiner Weise Zugang zu gestaltenden Handlungsweisen haben. –– Dass heute das künstlerische Tun, auch wenn es in Einzeldisziplinen praktiziert wird, sowohl im populären wie im eigentlichen Kunstbetrieb, in gemischten Medien auftritt und neue Schwerpunkte bildet, wie Mixed Media, Shows, MTV, Performance Art, Film, Tanztheater etc. Auch wenn sich ein künstlerisch tätiger Mensch sozusagen auf eine Gattung »eingespielt« hat, wird ihm der Zugang zur Gegenwartskultur erleichtert, wenn er Erfahrungen in allen Kunstrichtungen macht. In unserer Arbeit wirkt sich ein interdisziplinäres Training der professionell Tätigen positiv aus, da so auf die Neigung der Klienten und ihre Vorlieben besser eingegangen werden kann. –– Die Tatsache, dass künstlerische Handlungsweisen in begrenzten Rahmen Spielräume schaffen. Gleichzeitig fordern sie innovative Eingriffe, die den Rahmen und die Struktur so modifizieren können, dass ein einma­ liges Werk in einem charakteristischen Stil entsteht. Das komplexe Zu­ sammenspiel von Einschränkungen und innovativen Eingriffen führt auf diese Weise zu einmaligen und überraschenden ästhetischen »Lösungen«. –– Dass auch das in der Kultur eingebundene Werk autonom ist und deshalb vom Kunstschaffenden unterschieden werden soll. Dies führt uns zur Konsequenz, dass wir weder das Werk noch den künstlerischen Prozess im Sinne eines Psychogramms deuten. Wir setzen uns ausschließlich mit dem Werk selbst auseinander und mit dem Weg, wie es zum Werk gekommen ist. Ungewohnt ist vielleicht: –– Auch künstlerisch nicht interessierte Menschen zu gestalterischen Handlungsweisen motivieren zu wollen. Dabei möchten wir sie nicht für den »Kunstbetrieb« interessieren oder ihnen gar Aspekte einer klassisch-formalen Schulästhetik beibringen. Wir wollen ihnen jedoch helfen, etwas zu gestalten, das die Anwesenden im Hier und Jetzt nachvollziehbar befriedigt. (Siehe dazu die Ausführungen zur »ästhetischen Verantwortung« im Abschnitt 4.6.). –– Dass wir zu diesem Zweck nicht versuchen, einen speziellen, für Beratungs- oder Therapiezwecke entwickelten künstlerischen Stil zu verwen-

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den, sondern das ganze Spektrum des heutigen Kunstbetriebs als Vorbild nehmen. Das umschließt sowohl die aus der Kunstethnologie gewonnenen postmodernen Hybridformen mit anderen Kulturen als auch populäre Traditionen wie Schnitzelbänke oder Cartoons etc. –– Zwar keine bewertende Werkkritik vorzunehmen, hingegen den Prozess in der Tradition des Studios oder Ateliers mit ästhetischen Interventionen  so zu motivieren und herauszufordern, dass etwas überraschend entsteht. –– Der verschiedenartige Umgang mit Sprache, welche je adäquat für die Bereiche Beratung und die Anleitung respektive Begleitung in der alternativen Welterfahrung sein soll. Das heißt, die beratende Person spricht und handelt während der Dezentrierung aus der traditionellen Rolle eines »Kunst-Coachs« heraus. Neu dürfte sein: –– Der Sprache und der Art der Formulierungen und Fragen ein ebenso großes Gewicht beizumessen wie dem künstlerischen Tun. –– Dass es in der Arbeit mit Klientengruppen durchaus geschehen kann, dass in Bezug auf die künstlerische Voraussetzung Professionelle und Laien zusammenarbeiten müssen. Diese Herausforderung ist machbar, wenn wir bedenken, dass heute ganze Dörfer in vergleichbarer Zusammensetzung Festspiele gestalten. –– Gemeinsame Werke von Klienten nicht nach der in ihnen möglicherweise sichtbaren Beziehungsdynamik zu analysieren. Auch werden zu diesem Zweck keine gemeinsamen künstlerischen Tätigkeiten von Klient und professioneller Person veranstaltet. –– Dass es unserer Auffassung von Dezentrierung widerspricht, spezifische Materialien oder Strukturen zu verordnen, um ein Problem auf eine »Lösungsschiene« zu bringen. Wir ziehen es vor, das Material und die Struktur selbst als künstlerische Herausforderung wirken zu lassen (siehe Abschnitt 4.6.). Schließlich dürften all jene einen erleichterten Zugang zu dieser Form der Klientenarbeit haben, die als Beratende in der direkten Arbeit mit Menschen neugierig (geblieben) und aufmerksam für Überraschendes sind. Diese Kolleginnen und Kollegen dürften auch einen Sinn haben für die manchmal versteckte Schönheit nicht nur des Werks, das in der Dezentrierungsphase entstanden ist, sondern auch der Schönheit in der sich entfaltenden profes­ sionellen Beziehung und in den innovativen, eigenständigen Aspekten der Lebensgestaltung ihrer Gesprächspartner, von denen diese berichten. Mit den Begriffen »Überraschung« und »Schönheit« nähern wir uns auf einem anderen Weg und in einem übergreifenden Sinn wiederum dem Phä-

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nomen »Kunst«. Das heißt, wir sind der Thematik nahe, die uns in diesem Buch beschäftigt. … und was tun alle anderen, die sich selbst in dieser Aufzählung der pri­vilegierten Zugänge nicht oder nur am Rand finden? Im extremen Fall (aus der Sicht der Autoren!) legen diese Leserinnen und Leser das Buch weg: nichts für mich! Überall da aber, wo etwas aus unseren Beschreibungen und Argumentationen anspricht, empfehlen wir, im Rahmen des eigenen Beratungs- oder Therapiemodells und in geeigneten Situationen mit kleinen Schritten erste Versuche zu machen. Das gilt sowohl für die ressourcenorientierte Gesprächsführung als auch für den Einsatz von künstlerischem Tun und Spiel. Als professionelle Person in der Beratungssituation etwas Neues zu probieren ist je nach Temperament etwas anregend Aufregendes oder etwas eher unangenehm Ungewohntes. Wer in solchen Situationen aufmerksam die Reak­tionen des Klienten beobachtet und entsprechend reagiert, sich vorher vielleicht auch die Erlaubnis einholt, »für eine Viertelstunde im Sinne eines kleinen Experiments etwas anderes zu tun«, und im ganzen Ablauf der Würdigung genügend Aufmerksamkeit schenkt, wird nicht wirklich fehlgehen können. Diese Person wird in den allermeisten Fällen etwas getan haben, das sich in der einen oder anderen Weise förderlich auf den weiteren Verlauf der Arbeit mit diesem Klienten auswirkt. Für alle Professionelle, die erstmals für sie neuartige Interventionen einsetzen, ist es nützlich, sich mit Gleichgesinnten zusammen zu tun. Deshalb seien hier zwei Adressen in der Schweiz angegeben, die weiterhelfen können: Schweiz: www.egsuniversity.org – [email protected].

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3. Die außerordentliche Welterfahrung in Beratung und Therapie

3.1. Beratung als Rückbindungsritual – eine anthropologische Sichtweise Anthropologisch gesehen scheint jede Gesellschaft die notwendigen Ver­ änderungen kulturell eingebunden zu organisieren oder, anders ausgedrückt, zu ritualisieren. Das heißt, sie werden in einem Rahmen von Raum und Zeit begleitet. Man könnte auch sagen, das raum-zeitliche Gefäß und die Be­ gleitung haben eine »Architektur«. Einige Charakteristiken sind von lokalen kulturellen Traditionen bestimmt, andere treten interkulturell auf. Wir können zwischen Einbindungs- und Rückbindungsritualen unterscheiden. Die Einbindungs- oder Übergangsrituale kennen wir in allen Kulturen, in jeder Lebensphase von der Geburt übers Erwachsenwerden bis zum Tod. Mit dem Übergang und dem Bestehen oder Nichtbestehen sind auch Privilegien und Sanktionen verbunden. Einige dieser Rituale sind zum Beispiel: –– Taufe, Beerdigung, –– Diplomierung, Einstieg in den Beruf, Pensionierung, –– Hochzeit, Gründungsfest, Jubiläum. Man kann diese Ereignisse als Einbindungsrituale bezeichnen, da sie die ­Glieder der Gemeinschaft in ihre neue Rolle oder Situation einbinden. Daneben gibt es in allen Gesellschaften auch eine Kategorie von Ritualen, die das Unwohlsein angeht, das durch zwischenmenschliches Ungenügen, Versagen, Entfremden oder Ausgrenzen verursacht wird. Das Eingebundensein ist in diesen Situationen gestört und der Grad des sozialen Bindungsverlustes durch die Schwere des körperlichen oder psychischen Leidens oder den Druck des beruflichen Versagens beeinflusst. Es gibt zwar den Begriff »Heilritual«, der oft für diese Kategorie der begleiteten Veränderungsprozesse angewendet wird. Wir sprechen jedoch lieber von Rückbindungsritualen, da es bei Veränderungsprozessen oft um das Wiederherstellen einer guten beruflichen und gesellschaftlichen Einbindung geht und nicht um eine Heilung oder gar das Eliminieren aller Störungen. Es finden sich universelle Charakteristiken in allen Einbindungsritualen. Eine davon ist die Praxis des temporären Heraustretens aus der alltäglichen Realität in eine raum-zeitlich begrenzte, begleitete Situation. Für diese Begleitung und den Raum ist immer eine »berufene« Person, Gruppe oder

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Orga­nisation verantwortlich. Erst in unserer Kultur wurde das archaische Berufensein zum qualitätsgesicherten Beruf. Für dieses Austreten aus dem Alltag scheint es auch in unserer Kultur einer begleitenden Berufsperson zu bedürfen: –– Konfirmation bzw. Erstkommunion, Bar-Mizwa: Pfarrer, Priester, Rabbi; –– Examen, Matura etc.: Lehrer, Professor; –– Einberufung: Offizier –– Feststellung des Todes: Arzt; –– Therapie- und Beratungsrituale: Supervisorin, Psychotherapeut, Seelsorger, Psychologin, Berufsberater u. a. Bei den Rückbindungsritualen ist die Situation nicht ganz so eindeutig. Doch auch hier lassen sich übergreifende Merkmale finden1, die etwas aussagen über das »wie es geschieht«, zum Beispiel, dass sie begleitet werden. In seiner kulturellen Verquickung steht zwar kein mit einem begleiteten Ver­ änderungsprozess verbundenes Ritual für sich allein da. Auch ist es in seiner Geschichtlichkeit Änderungen unterworfen. Lassen sich jedoch in allen begleiteten Veränderungsprozessen analoge Merkmale beschreiben, so müssen solche »Gesichtszüge«, vor jeder vergleichenden Studie, bei der Beratung und Therapie aus methodischen Gründen untersucht werden. In diesem Buch steht das kunst- und spielorientierte Dezentrieren als Kernstück unserer Beratung im Vordergrund. Es muss nun gezeigt werden, was eigentlich bei der Dezentrierung mit einem generellen Wie – einer solchen Charakteristik aller professionell begleiteten Veränderungsprozesse  – zusammenhängt.

3.2. Gemeinsamkeiten aller professionellen Beratungen Die »Notenge« und der Mangel an Spielraum Die meisten Menschen, die Hilfe suchen, sind irgendwie an eine Grenze geraten. Wenn die Not, das Leiden oder der Schmerz so groß ist, dass man selbst nicht mehr weiter sieht, kommen Formulierungen wie »in die Enge getrieben sein«, »stecken bleiben«, »keinen Ausweg wissen«, »keinen Sinn mehr finden«, »überwältigt sein«, »am Rande sein«, »in einer Sackgasse sein«. Das sind Metaphern für Enge, für Mangel und ein Ausdruck dafür, dass eine 1 In der phänomenologischen Betrachtungsweise weisen Existentiale auf etwas hin, das unabdingbar mit dem Menschsein verknüpft ist. So gesehen, gehören die professionell begleiteten Veränderungsprozesse zu den Existentialen des Menschen.

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Gemeinsamkeiten aller professionellen Beratungen

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Person wenig oder keinen Spielraum mehr hat für Lösendes oder Erlösendes. Aber auch im Zuviel an Verwirrung, Schmerz oder Not ist das Zuwenig, der Mangel an Möglichkeiten enthalten. »Das Wasser steht mir bis zum Hals« oder »ich hab es satt« sind Ausdrücke, die zu solchen Situationen gehören. Die Hilfesuchenden empfinden diesen »Mangel an Spielraum« auch als eine persönliche Unfähigkeit und erleben sich dabei oft als minderwertig. Die Sicht auf noch vorhandene Ressourcen ist eingeschränkt oder verdeckt: »Ich hab alles ausprobiert.« »Es liegt mir eben nicht.« Oft besteht eine Verstrickung zwischen der Empfindung von Unfähigkeit oder Minderwertigkeit und der Annahme, wie die Ressource oder Lösung beschaffen sein müsste: »Wenn es mehr Stellen gäbe, wäre ich nicht so niedergeschlagen«, oder »Wenn der Chef nicht im Team sitzen würde, könnte ich auch meinem Ärger über die schlechte Information mehr Ausdruck geben« oder »Wenn ich nicht solchen Gefühlsschwankungen durch meine Beziehung unterworfen wäre, würde ich schon eine Stelle finden!« Ein weiteres Merkmal dieser Situation ist, dass auch die Sprache »eng« wird und »in Not gerät«. Sie dreht sich immer um dasselbe, wird ebenso »ausweglos« wie das Denken. Wir beschreiben diesen Zustand der Enge oder des Mangels gern mit dem Begriff Notenge oder sprechen auch vom Gebiet der Sorge. Eine Notenge existiert mit allen oder einzelnen der oben genannten Charakteristiken, ganz unabhängig von ihrer Ursache (Ätiologie)  und den Symptomen, die von den Klienten genannt werden. Aus der Sichtweise einer vom Schicksal auferlegten Not hoffen die Hilfesuchenden häufig, dass jemand »einspringt« und wie ein Deus ex Machina die Situation der Notenge für sie auflöst. Wenn Leidende finden, sie seien selbst schuld an ihrer Situation, sehnen sie sich oft nach jemandem, der ihnen »nachspringt« und sie rettend herausholt. Der Wunsch nach dem »Einspringen« von hilfreichen »Geistern« ist aus Notsituationen im Familien- oder Arbeitsalltag gut verständlich. Auch der Wunsch nach dem »Nachspringen« ist, aus Bewunderung der Lebensretter, gut nachvollziehbar. Diese Retter springen ja bei Katastrophen in Windeseile herbei und hinterher, mit Fallschirm, Tauch-, Hitze- und Schutzanzügen. Wir wissen, dass auch Opfer, die ohne eigenes Verschulden in Katastrophen geraten sind, oft Schuldgefühle haben. Die erwähnten Bilder prägen dann die Hoffnungen dieser Menschen, die psychisch unter Druck geraten sind und leiden. Sie sind besonders dann zu hören, wenn Menschen in der Notsituation ihre eigenen Ressourcen nicht mehr wahrnehmen können: »Sprechen Sie doch mit meinem Partner.« Sie sind aber auch dann hörbar, wenn kein Spielraum für Selbstheilungskräfte zur Verfügung steht: »Geben Sie mir doch einfach ein Medikament.« Wer in eine Notenge gerät, befindet sich immer in einer komplexen Situation, wo die Frage nach einer eindeutigen Ursache stets frag-würdig bleibt.

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Die außerordentliche Welterfahrung in Beratung und Therapie

Wirkfaktoren aus dem sozialen Umfeld, physische Zustände, Organisches, Geschichtliches sowie materielle Umstände sind Bedingungen, die bei verschiedenen Personen in ähnlichen Situationen unterschiedliche Folgen zeitigen können. In allen Fällen der sich psychisch äußernden Notenge, selbst in komplexen Bedingungs-Folge- Gefügen, liegt der Schlüssel beim Hilfesuchenden selbst und nicht beim Berater. Dabei ist die Komplexität der schwierigen Situation für den Hilfesuchenden nicht notwendigerweise einsichtig. Gleichwohl ist er sozusagen Experte, der schon länger mit der Notenge Erfahrungen gemacht hat, gleichzeitig aber auch darin gefangen ist und dem es an Weitsicht sowie an Mitteilungsmöglichkeiten fehlt. Eine solche Situation verlangt vom Berater eine andere Art und Weise des Eintretens als »ein-« oder »nachzuspringen«. Es braucht vor allem Be­ gegnungsmut, um sich aus dem Nichtwissen und den Ohnmachtsgefühlen mit dem Hilfesuchenden als »Schlüsselperson« in die komplexe Situation vorzuwagen und Wege zu finden, die eine reichere und andere Sprache der Mitteilung eröffnen. Ein solches Vorgehen könnte »Vorspringen« genannt werden. Notengen haben mit Begrenztheit zu tun. Nun gerät auch der Berater in seinem Unwissen über die Komplexität der Situation an seine Grenze. Das Vorspringen (Boss, 1982, S. 73) ist also sozusagen ein mutiger Sprung in die Öffnung, die sich ergibt, wenn der Klient sich ihm zuwendet. Zusammenfassend kann die Notenge als eine Situation mit mangelndem Spielraum gesehen werden. Die eingeschränkten Möglichkeiten des lösenden Handelns entsprechen auch dem eingeengten Spielraum des Denkens und der damit verbundenen Armut der Sprache. Dieser Spielraummangel ist ebenfalls eine situative Einschränkung, die eine weitere Sicht verhindert. Zusätzlich ist die Sicht auf mögliche Ressourcen verstellt, und es stellt sich die eingangs erwähnte Empfindung der Unfähigkeit ein. Die Logik des Denkens und Handelns innerhalb der Notenge ist zwar alltagsbezogen, kann aber den Alltag nicht mehr befriedigend bewältigen. Sie hat, von außen gesehen, oft Phantasiecharakter, ist eng und geschlossen, in extremen Fällen wahnhaft. Es ist, als ob in Notengen alles festgefahren wäre, die Gedanken sprachlich immer in gleicher Weise um die Sache kreisen und arm würden. Versuche von außen, helfend zu argumentieren, wirken belehrend, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Leidenden sozusagen Experten der problematischen Er­ lebnissituation sind. Die außerordentliche Welterfahrung und die Logik der Imagination Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass alle Beratungsverfahren die Spiel­ raumerweiterung in der einen oder anderen Weise einsetzen. Die meisten

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Gemeinsamkeiten aller professionellen Beratungen

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professionell begleiteten Veränderungsprozesse tun dies durch den Einbezug von Wirklichkeiten, die wir als imaginativ bezeichnen können. Im Tun und Wahrnehmen des »als ob es so oder anders wäre« öffnet sich ein Spielraum zu weiteren Erlebensbereichen und Sichtweisen. Kategorien solcher imagi­ nativer Wirklichkeiten sind: –– Traum, –– Tagtraum, freies Assoziieren, –– (wunschorientierte)  Gesprächspassagen nach dem Muster: »Was wäre (oder würde passieren), wenn?«, –– Köpersprachen und ihr Imaginationspotential, –– kognitive Formen der Exploration (beispielsweise Perspektivenwechsel), –– Wunderfrage, –– musikalisches oder künstlerisches Handeln oder Werk. Wir werden im Folgenden den Begriff des künstlerischen Handelns als alle Kunstdisziplinen übergreifend einsetzen. Ebenso soll sich der Begriff »künstlerisch« vom Modebegriff »kreativ« absetzen, weil beispielsweise auch die Innovation bei der Entwicklung von Waffen »kreativ« genannt werden könnte und weil beim Wort »künstlerisch« immerhin noch ein wenig vom Un­ geplanten, Überraschenden und Zweckfreien des sich zeigenden Werks mitschwingt, ohne dass gleich der große Begriff »Kunst« bemüht wird. Dabei sind wir uns bewusst, dass damit der Diskurs über das Wesen der Künste und der Therapie keinesfalls abgeschlossen ist. Allenfalls ist er hier eröffnet, sicher aber steht er nicht im Zentrum dieses Buchs. Das Eintreten in einen imaginativen Raum bringt Erfahrungen, die nicht schlüssig vorausgesagt werden können. Beim Traum ist das Phänomen am ausgeprägtesten. Es träumt einem sozusagen, und das Plötzliche und Un­ kontrollierte gehören zum Traum wie auch zu den Phänomenen des Tag­ träumens und des imaginativen Vorstellens – beim Letzteren in einem etwas geringeren Ausmaß. Das künstlerische Handeln steht wie eine Brücke zwischen diesen Wirklichkeiten: Es hat Traumweltcharakter, ist aber zugleich dinglich anwesend. Zu dieser Dinglichkeit gehören immer auch ein Rahmen, eine Bühne, ein Umgehen mit den Grenzen des Materials, der Zeit und des Raumes. Im künstlerischen Tun sind diese je nach gewählter Kunstdisziplin anders. Im szenischen Spiel einer Gruppe ist der Umgang mit der Bedingung des Ensembles, mit der Zeitlänge der Improvisation und den Möglichkeiten der Szene anders gefordert als zum Beispiel in der Einzelarbeit mit Ton oder in der Musikimprovisation zu zweit. Wir stehen vor einem Paradox. Das not-wendende Entgrenzen der Notenge geschieht, für Klient und professionelle Begleitung, durch den Umgang mit den »selbstverständlichen« Grenzen des künstle­ rischen Tuns. Selbstverständlich sind diese Grenzen deshalb, weil sich das

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Phänomen der Eingrenzung bei den Künsten im Alltagswissen verankert hat. Wir denken da etwa an das Volkstheater, das Chorsingen, die Schwarzweißfotografie oder das »Waschbrett« (das heißt der Einsatz von Alltagsgegenständen) im volkstümlichen Jazz. Die Begrenzung durch diese Materialien und ihre Gestaltungsmöglichkeiten behindert in keiner Weise den Reichtum des sich Zeigenden und dessen Schönheit. In allen Kategorien der Imagination folgen die Geschehnisse mehr oder weniger einer nachvollziehbaren Logik; aber sie geschehen in einer Art und Weise, die in der Alltagswelt des Klienten nicht üblich ist. Diese Spielraumerweiterung, das heißt die Erfahrung innerhalb der Imagination und ihre speziellen Bedeutungen, werden damit zu einer alternativen Welterfahrung. Wir sprechen bewusst nicht von einer alternativen Welt, denn die Erfahrung bleibt leibseelisch in dieser Welt und muss für diese Welt sprachlich mit­ teilbar und nachvollziehbar bleiben. Ein bleibendes Ausgrenzen, ein ständiges »Verrücken« in eine »andere«, alternative Welt kann zur Vereinsamung führen, so wie sich dies in Wahnstörungen zeigt. Die Frage nach dem, was wir brauchen, um uns aus dem Nichtwissen und der Ohnmacht heraus vorzuwagen und über die komplexe Situation, die sich im Anliegen der Klienten zeigt, »vorspringend« in die kleine Öffnung zu begeben, kann wohl jetzt beantwortet werden: Wir brauchen Wege, die den Spielraum der engen Welterfahrung so erweitern, dass sich in der be­ raterischen Begegnung neue Horizonte auftun. Neue Perspektiven, die nachvollziehbar das Mitsein in der Welt ermöglichen. Der Berater oder Therapeut ist in diesem mutigen Vorspringen dienend. Denn diese Erweiterung des Spielraums geschieht im Begegnungsraum zwischen Klient, sich gestaltendem Werk und Berater  – mit überraschenden Ergebnissen und un­ vorhergesehen Lösungen. Der Berater dient dieser Situation zu dritt mit ­seiner Erfahrungskompetenz im »vorspringenden« Intervenieren, in dem er selbst offen bleibt für überraschende, nicht voraus erdachte Lösungen. Im Vergleich zum Nach- oder Einspringen sind sie nicht strategisch voraus­ bestimmt. Beim Vorspringen geht der Therapeut oder Berater in gewissem Sinn mit dem Klienten hinein in diesen Spielraum und wieder heraus. Dieses Hinein und Heraus bietet bei sorgfältiger Begleitung nicht nur ein anderes Erleben dieser Welt und was sich darin zeigt, sondern es wird auch zu einem Fundus von neuen Sichtweisen und Lernerfahrungen, wenn das Vorher mit dem Nachher in Bezug gesetzt wird.

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3.3. Dezentrieren – ein Schritt aus der Enge der Problematik Die kunstorientierte Beratung spezialisiert sich auf das künstlerische Handeln innerhalb der Imaginationskategorien. Selbstverständlich kann sie auch dem Traum und den Bereichen des Tagtraums (freie Imagination) Raum geben. Wenn das künstlerische Handeln im Zentrum steht, wird immer auch etwas »Werkartiges« (im Folgenden nur »Werk« genannt) entstehen. Dies gilt nicht nur beim Gestalten, sondern auch für Improvisationsprozesse in den aufführenden Kunstformen wie Musikimprovisationen (Jazz, Avantgarde und Folk), Performance-Art, Tanz-, Theaterimprovisationen. Die werkbezogene Methode umschreibt eine Technik, wie im improvisatorischen Spiel durch freies Wiederholen in der Tradition des Jazz und der Avantgarde Werke entstehen, denen eine Charakteristik und Identität abgewonnen werden können, so dass sie auch Namen tragen. Dieses gegenständliche Andere, das dem Klient und Begleiter begegnet, wird Herausforderung und Möglichkeit zugleich. Es ergeben sich Klangbilder, tänzerische Improvisation, ge­ staltete Bilder oder Skulpturen, Lyrik und Lieder, Theaterimprovisationen etc., alle mit ihrer eigenen Charakteristik. Mit dem Sprung in die Herausforderung einer künstlerischen Aufgabe oder eines Spiels distanzieren wir unsere Aufmerksamkeit vom vorgebrachten Problem oder Anliegen und sind  – das gilt für die meisten unserer Klien­ten – bei geeigneter Anleitung sofort von der neuen Herausforderung fasziniert. Selbst wenn wir vorerst vielleicht noch Zweifel an unseren künstlerischen Fähigkeiten haben oder die künstlerischen Rahmenbedingungen und Einschränkungen zu eng finden, sind solche Hürden durch die spezielle Interventionstechnik »low-skill-high-sensitivity« überwindbar (siehe dazu den Abschnitt unter 4.6). Mit Dezentrieren bezeichnen wir die Bewegung weg von der Enge und Armut im Denken der Notenge und oft auch vom festgefahrenen Suchen nach Lösungen in die Herausforderung der überraschenden, nicht voraussehbaren Schlüssigkeit eines künstlerischen Prozesses oder Spiels. Die Dezentrierung öffnet einen Spielraum. Dieser enthält zwar im Kern ebenfalls einschränkende Rahmenbedingungen in Bezug auf Raum, Zeit und Material; aber da das Spiel oder der künstlerische Prozess bewusst mit einer Distanz zum Thema des Anliegens gewählt wird, öffnet er das Tor zu innovativer Experimentierlust und zum Faszinosum der überraschenden Werk­ lösung. Der positive Effekt einer solchen Dezentrierung vom Problemhaften zu einer Herausforderung anderer Art ist in verschiedenen Theorien abge­ handelt worden. –– Watzlawick (Watzlawick et al., 1969) zeigt, dass die Konzentration auf das Problemhafte immer nur noch mehr desselben ist und somit die Situation

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verschlimmert. Es folgt daraus, dass eine Dezentrierung grundsätzlich Türen öffnen könnte, die nicht noch mehr desselben präsentieren. –– Kreativität ist definiert als eine Situation, in der ein Mensch in einer alten Situation eine neue Lösung findet, indem er seine alten Umgangsformen beiseite lässt oder in einer neuen Situation überraschend eine alte Lösung neu anwendet. Beides kann als Dezentrierung verstanden werden. Watzlawick und Kreativitätsüberlegungen  – beide zeigen die positive Wirkung durch eine Bewegung weg vom problemgebundenen Tun und Denken. Beides wird im künstlerischen Tun berücksichtigt. –– Imaginationstheorien beziehen sich eigentlich auf ein Dezentrierungs­ phänomen. Die Imaginationskraft dezentriert von der von mir etablierten Logik der Wirklichkeit. Es ist mit aller Zentrierung nicht möglich, sie ganz zu steuern. Die drei Bereiche Traum, Tagtraum und Kunst sind unterschiedlich. Nur bei der Kunst ist diese Dezentrierung von allen Beteiligten gleichzeitig als Produkt einsehbar, wahrnehmbar. –– Spieltheorien zeigen, dass Spiel ein Phänomen der Dezentrierung von der Wirklichkeit im Alltagskontext ist (Tun-als-ob). Es dezentriert von der Alltagsrealität und vom alltäglichen Zeitgespür. –– Konflikttheorien: Das Kennzeichen von Konflikt ist Enge (»Angst« kommt von »Enge«) sowie die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das Konfliktuöse. Dezentrierung bedeutet deshalb, herauszutreten aus der Konfliktzone und neue Spielräume zu eröffnen. Wenn ich aus der Enge heraustrete und mich in neue Spielräume hineinbegebe, ist die Chance groß, dass Lösungen erscheinen. Wieso neue Lösungen auftreten, wird in der humanistischen Psychologie so erklärt, dass jeder Mensch grundsätzlich immer schon mit dem ganzen Potential seiner Entwicklungsmöglichkeiten ausgerüstet ist.

3.4. Das Spiel und der künstlerische Prozess Es ist aufschlussreich, die Unterschiede der kunst- oder spielorientierten Dezentrierung von anderen Methoden anzuschauen, welche die alternative Welterfahrung in Beratung und Therapie einsetzen. Direkter Zugang zur imaginativen Erfahrungswelt Die Gegenwart des Imaginierten, des Traumhaften, die das Dinghafte des künstlerischen Tuns und Werks auszeichnet, erlaubt den gleichzeitigen di-

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rekten Zugang für Klient und Begleiter. Schon im Prozess des Herstellens ist das Entstehende sicht- und hörbar, ertast- und spürbar. Wir sind beim Intervenieren nicht auf die Beschreibung (Interpretation) des Klienten allein angewiesen, wie dies im Traum oder der freien Assoziation der Fall ist. (Denn bekanntlich ist jede Erzählung, beispielsweise eines Tagtraumes, eine Interpretation des Klienten, die uns Beratenden nicht dessen Imaginationsbild selbst zeigt, sondern unser eigenes, nach der Erzählung rekonstruiertes, inneres Bild aktiviert.) Interventionen beim musikalischen Gestalten können aus dem Spannungsfeld der direkten Wahrnehmung beider, Klientin und Beraterin, entstehen. Man kann dann dieses Spannungsfeld entweder durch antwortende Interpretationen mehr oder weniger an der Musik orientiert exploratorisch ausloten oder durch Umdeutung in erklärende, verbale Interpretationen fassen. Die antwortende Interpretation finden wir in der phänomenologischen Tradition, so zum Beispiel die Morphologie der Musiktherapie (Tüpker, 1988). Die erklärende Interpretation entspringt der tiefenpsychologischen Tradition. Die körperlich-seelische Dimension Künstlerischer Ausdruck gehört zum Menschen wie die Sprache. Wenn wir auf die Spuren von Menschen treffen, finden wir auch ihre schöpferischen Werke. Diese sind von Natur aus kein Symptom einer Störung. Sie sind so­ zusagen die Begleiter jeder Kultur. Bei allen künstlerischen Aktivitäten sind immer alle Sinne engagiert. Dies geschieht mit Selbstverständlichkeit und immer im Zusammenhang mit dem, was sich gerade im Gestalten zeigt. Es muss mehr geatmet werden beim Singen eines Textes als beim Sprechen. Ein Freudentanz oder das Trommeln ist energetisch und leibseelisch besser erfahrbar als der Satz »ich empfinde Freude oder Kraft«. Da das körperlich-seelische Engagement im Dienst einer künstlerischen Formung oder Gestaltung erfolgt, ist es dem Werk und nicht ausschließlich dem Ich zugeordnet, das heißt, es ist in einem gewissen Sinn ich-distanziert. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu therapeutischen Körperübungen, die ausschließlich der Person und dem Ich dienen müssen. Der körperliche Bewegungseinsatz und das sensible »Bei-den-SinnenSein« im künstlerischen Tun zeigt sich in der Wahrnehmung und im Ausdruck immer mit körperlichen Manifestationen. Diese sind in den Kunst­ disziplinen unterschiedlich. Der Gebrauch der Stimme und des Körpers in der Musik ist grundsätzlich anders als beim Schreiben und Lesen eines Textes oder beim Spielen auf der Bühne. Und trotzdem sind sie alle Teil eines körperlich-seelischen Ausdrucks.

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Interdisziplinarität Diese und ähnliche Überlegungen verlangten nach einem interdisziplinären Ansatz in der Beratung und Therapie. Die Interdisziplinarität gehört im Grunde genommen zur künstlerischen Tradition und ist dennoch etwas Eigenständiges, vergleichbar mit dem Phänomen Tanz, das ohne Musik ebenso­ wenig vorstellbar ist wie die Oper ohne Handlung und das Lied ohne Poesie! Was passiert, wenn ein Text gesungen statt gesprochen wird, wenn eine Bewegung im Rhythmus wiederholt, vom Musikinstrument begleitet, in den Tanz führt, oder wenn eine Geschichte, zur Oper improvisiert, »leiblich« wird oder eine vorher gestaltete Maske im Spiel getragen wird? Das sind Fragen, die nur interdisziplinär angegangen werden können. Antworten darauf müssen sowohl die beraterische oder therapeutische Begegnung, die Situation zu zweit, als auch das Anliegen und die Ressourcen berücksichtigen. Bei der Wahl des Gestaltungsmittels muss vom Klienten ausgegangen werden. Vom Begleiter verlangt dies neben den professionellen Qualifikationen eine gewisse Breite an künstlerischen Fähigkeiten, um den Klienten motivierend entgegenkommen zu können. Diese Breite entspricht auch den intermedialen Verknüpfungen unserer Zeit, die sich aus der interkulturellen Vielfalt zu Hybridformen verbinden. Zu denken ist an Performance-Art, Musik­ theater, MTV und vieles andere, das sich in der modernen Kunstszene in Kombinationen aller Art zeigt. Intervention im Gestaltungsprozess Interventionen sind auf zwei Ebenen möglich. Einmal finden sie innerhalb des Beziehungsgeschehens statt, denn die Grundlage jedes künstlerischen Tuns in der Beratung oder Therapie ist eine sorgfältig beachtete Beziehung. Beziehungstrübungen jeglicher Art werden angeschaut: Die auflehnende, laute Wut eines sonst scheuen, stillen Kindes beispielsweise gegen einen Spielvorschlag ist eine Chance, eine therapeutische Ressource. Das mulmige Gefühl in mir, als Musiker, wenn die tanzende Klientin meine Musik scheußlich findet, erfordert genaueres Hinschauen in der nächsten Supervision. Dann ist da aber auch die zweite Ebene der Intervention zu beachten. Sie ergibt sich in der »gegen-ständlichen« Realität des raum-zeitlichen und materiellen Gestaltens. Der Realitätsbezug bietet gerade wegen dieser Komplexität viele Möglichkeiten des Vorspringens. So etwa beim Gestalten die Ermutigung des Klienten, an einem Instrument zu explorieren oder im Tanz mehr Raum zu gebrauchen oder in der Musikimprovisation die Stimme mit einzusetzen. Da war zum Beispiel eine Klientin beim Improvisieren am Balafon und blieb »stecken«, schaute fragend, die Begleiterin sagte: »Hören Sie

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diesem letzten Klang nach, bis er sich selbst beantwortet.« Das wirkte. Als die Improvisation in einer Wiederholung zu einer sinnigen Form gefunden hatte, sagte die Klientin nach dem Feedback: »Das ist es genau, ich will einfach jetzt vermehrt hinhören und spüren, bevor ich mich in die Sackgasse hin­eindiskutiere.« Intervention am Werk Künstlerisches Tun ist immer an das Werden und/oder an das Vollenden eines Werks gebunden. Beratung und Therapie sind auf diese Realität an­ gewiesen, wenn sie nachhaltig wirken wollen. Der Realitätsbezug geschieht in den Differenzierungen zwischen Beratungsraum, Studioraum und Alltagswelt; beispielsweise in der Unterscheidung von der Musik-, Bühnen-, oder Liederwelt und der Alltagsrealität. Die künstlerischen Traditionen bieten hier Hilfen an, um der Imagination einen Spielraum zu gewähren, ohne dass die »theatralische« Handlung buchstäbliche Konsequenzen hat. Ein Feuer in einem Bild verlangt keinen Feuerwehreinsatz, und die Temperatur im Raum steigt nicht. Ein Klagelied »klagt« nicht jemanden buchstäblich beschuldigend an und ein »kontrapunktisches« Duett verlangt nicht Schlichtung eines Widerspruchs zwischen den Mu­ sikern. Ein Mord im Musical lässt den sterbenden Sänger unverletzt. Die Erlebniswirklichkeit jedoch ist reell, ist wirksam im Raum. Diese Unterscheidung der Ebenen lässt sich am Gegenständlichen aus der Alltagstheorie gut herleiten. Im Musical oder Theater haben wir die Bühne als Rahmen, bei der Musikimprovisation die Zeit und/oder die rhythmische und instrumentale Struktur, beim Malen die Leinwand, beim Schreiben das Blatt Papier oder die Textart. Das künstlerische Spiel gibt deshalb Sicherheit und Vertrauen in Bezug auf inhaltlich schwierige Themen. Die künstlerische Spieldisziplin ist sozusagen ein Hoffnungsanker, der die Distanzierung vom eigenen Schicksal zulassen kann. Jedes Werk gehört in eine Familie der Werktraditionen (Lamentation, Hymne, Ballade, Gebet, Blues-Variation, Tanz­ musik, Meditation, Loblied, Stillleben, Porträt, Farbspiel, Märchen, Trauerspiel etc.). Als Gestaltende oder Musikmachende dienen wir dem Werk und sind nicht dessen Aussage, was im Musical oder Theater am offensichtlichsten ist. Als Spieler diene ich auf der Bühne einer Rolle, sie trägt nicht meinen Namen. Al Pacino hat sich nicht als Person von einem Polizeispitzel zum General, zu Richard III. und dann zu einem italienischen »Nonno« entwickelt, er dient diesen Rollen, so wie ein nüchterner Chor Trinklieder singen kann. Das Phänomen der Distanzierung vom rein Persönlichen, das durch die kulturelle Einbindung der Werke geschieht, wird zu einem wesentlichen Be-

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standteil der Interpretation. Das künstlerische Werk ist dann nicht ein Psychogramm des Klienten, das eine Analyse seiner Pathologie oder seines Problems zulässt, sondern sozusagen ein Bote, der in unserer Kultur verankert ist, mit uns in Zwiesprache treten will und sich in einer Reflexion zu Wort meldet. Selbstverständlich ist das Werk ursprünglich bei seinem Erschaffer entstanden und hat sozusagen auch ihm etwas Besonderes zu sagen, aber das Werk hat immer auch noch so viel Anderes, Überraschendes und Verschiedenes zu sagen, wie es verschiedene Betrachterinnen und Zuhörer gibt. Persönliche Befähigung und situative Bewältigung am Werk Wie erwähnt, ist die Notenge gekennzeichnet durch die situative Einschränkung und die Erfahrung individueller Unfähigkeit. Aus der kunstorientierten Arbeit resultiert immer auch eine buchstäblich physische und seelische Be­ fähigungserfahrung, und dies innerhalb einer begrenzten und eingeschränkten Situation. Es gehört zu den grundlegenden Methoden der kunstorientierten Beratungsarbeit und aller künstlerischen Therapien, dass sie Menschen, die sich nicht zum Gestalten befähigt fühlen und sich vorerst gegen Einschränkungen wehren, zum Erfolg befähigen. Ein solches Erleben macht oft betroffen und berührt. Die Person hat etwas erlebt, das ihrer bisherigen Sichtweise (»ich kann nicht musizieren« oder »ich kann nicht malen«) widerspricht, und hat zusätzlich die Situation mit beschränkten Ressourcen bewältigt (z. B. nur mit Klangfarben spielen oder nur mit zwei Farben malen). Und es ist ein stimmiges Werk entstanden. Das Gelingen wird belohnt durch Schönheit, ein Aha einer ästhetischen Resonanz. Der Inhalt ist sehr wohl bedeutend; es darf aber nicht vergessen werden, dass die Lernerfahrung der Befähigung und situativen Bewältigung eine direkt erlebbare, sinnliche ist, die sich meist auch in der Stimmung und dem Tonus des Klienten zeigt. Lerntheoretisch könnte dieser Bewältigungsprozess auch als Übung oder Exerzitium zur Bewältigung der Realität betrachtet werden. Im systemischen Sinne handelt es sich möglicherweise um eine Verstörung. Und die ins Wanken gebrachte, dissonante Überzeugung könnte durch Selbstorganisation zu neuer Einsicht führen. Berater und Therapeuten, die den kognitiven Schulen nahestehen, sehen hier auch die Möglichkeit, gewisse Glaubenssätze des Klienten (wie »ich habe immer Angst« oder »ich kann nichts«) in ihrer Allgemeingültigkeit zu hinterfragen. Die werk- und spielorientierte Beratung beinhaltet allerdings viel mehr Ebenen als nur die logisch-argumentative: –– Sie ist ein repetitives, reichhaltiges Üben mit wiederholtem Erfolgser­ lebnis.

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–– Sie läuft auf der konkreten Erfahrungsebene (physisch und gefühlsmäßig), nicht nur logisch-argumentativ. –– Dazu kommt die sinnliche Erfahrung: Es berührt mich, es gefällt mir, meine Sinne werden angesprochen (übertragen: Es ist sinnvoll), es dient in seiner Schönheit der Sinnfindung. Man könnte metaphorisch von Seelennahrung sprechen. –– Schönheit ist ein Motivationseffekt. Bei der kognitiven Intervention kann man sich nachher dumm oder schuldig fühlen (»Sherlock-Holmes-Überführung«). –– Werkbezogenes Arbeiten ist eine wiederholbare Erfahrung, dass Heraus­ forderungen bewältigt werden können, von denen man ursprünglich überzeugt war, sie seien unüberwindbar. Es besteht die Möglichkeit, etwas zu gestalten, das einem selbst und anderen gefällt, und zudem einen Beitrag zu leisten zur Verschönerung der Welt – was wiederum einem selbst zu Gute kommt. Man kann es deshalb lerntheoretisch auch als Lernprozess mit ästhetischer Belohnung verstehen. –– Der Klient kann in einem geschützten Raum eine Erfahrung machen, welche die Frage zulässt: »Kann das irgendetwas zu tun haben mit der Situation im Leben?« Es ist somit auch ein Spielfeld, in dem fragendes Begleiten die Klientin zu Entdeckungen führt. Entdecken ist eine der fundamentalsten sensomotorisch-kognitiven Lernerfahrungen. Die Spielraumerweiterung Jedes Tun-als-ob hat eine räumliche und zeitliche Dimension. Die damit in Verbindung stehenden »Zauberworte« oder »Zauberhandlungen« vom kindlichen »Du wärest jetzt ein Tiger!« bis zum Ausruf »Klappe!« oder dem Anschlagen einer Glocke durch den Spielleiter geben eine klare Unterscheidung zwischen dem eng durch die buchstäbliche Realität definierten Spielraum im alltäglichen Kontext und dem für die Imagination offenen Spielraum im Spiel. Es ist nicht erstaunlich, dass Erweiterungen durch imaginatives Spiel in vielen Beratungs- und Therapiemethoden zur Anwendung kommen. Die der Systemtheorie nahen Verfahren beispielsweise sehen in der »Verstörung« durch eine Erweiterung des Spielraumes eine »Anreicherung« (neue Wahrnehmungs- und Handlungsfelder), die gleichzeitig eine Labilisierung be­ wirken kann. Betont diese Anreicherung vor allem das problemhafte Thema, kann sie allerdings eine Angstbarriere auslösen, was kontraindikatorisch sein kann. In der Dezentrierung wird das problemhafte Thema nur sorgfältig oder gar nicht in das Spiel eingegeben. Die »Anreicherung« wird deshalb leichter bewältigt und kann in einem »Phasenübergang« zu Lösungen führen (Knill, 2004b, S. 277).

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Spielraumerweiterungen haben die Eigenschaften eines freien Spiels (vom Objektspiel bis zum freien Assoziieren) oder eines Regel- oder Ritualspiels (vom Wettspiel bis zur »Aufstellung« nach gewissen Regeln) und der Spieldisziplin der Künste (mit traditionellen oder neu erfundenen Rahmenbedingungen). Die Frage, warum das handelnde freie Spiel in der Therapie mit Kindern (nicht-direktive Spieltherapie) relativ unbestritten von allen Therapieschulen auf ähnliche Weise praktiziert wird, während das handelnde freie Spiel bei Erwachsenen nicht stark verbreitet ist, verlangt nach einer Antwort. Um die Frage zu erörtern, müssen wir die Charakteristik des Kinderspiels mit dem Spiel der Erwachsenen vergleichen. Kinder haben einen natürlichen Zugang zu Zauber und Magie. Sie können eine Szene oder Rolle mit einem Satz, oft ohne formale Bühne und fast ohne Requisiten, ausführen: »Du wärest jetzt Vater!« »Ich wäre jetzt betrunken!« etc. Erwachsene haben diese Naivität und Unschuld, im Speziellen bei Lebensthemen, verloren. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass Spielraum­ erweiterungen für Erwachsene formal ritualisiert werden. Dazu eignet sich die Spieldisziplin der Kunst und der Objektspiele, da sie klare zeitliche und räumliche Rahmen zur Unterscheidung der Wirklichkeiten geben.

3.5. Allgemeine Überlegungen zu unserer Praxis Erkenntnistheoretische Aspekte Ausgangspunkt unserer beraterischen/therapeutischen Arbeit ist die Annahme, dass es die gemeinsame Welt außerhalb von uns, die eine, objektive Wirklichkeit nicht gibt. Vielmehr entwickelt sich das individuelle Bild der Welt des Menschen in einem konstruktiven Erkenntnisprozess. Was im Alltag selbstverständlich als Wirklichkeit bezeichnet wird, kann demnach nicht losgelöst gesehen werden vom wahrnehmenden, deutenden, sich in verbindlichen Sprachen mitteilenden Individuum. Es gibt nach diesem Verständnis keinen objektiven, vom Betrachter losgelösten Standpunkt. Dies gilt für unsere Alltagserfahrungen, unsere Welt- und Menschenbilder, wie auch für wissenschaftliche Erkenntnisse oder ästhetische Erfahrungen. Wir entdecken nicht eine vorhandene Welt, sondern wir sind in und von dieser Welt und entwickeln Weltbilder im Rahmen unserer kulturellen Einbindung. In diesem Sinne erfinden wir auch uns selbst in unseren Narrativen fortlaufend neu. Diese Ausführungen sind angelehnt an die erkenntnistheoretische Position des sozialen Konstruktionismus (vgl. Gergen, 2002). Mit diesem erkenntnistheoretischen Ansatz kann kein absoluter Wahrheits- oder Geltungsanspruch für eine bestimmte Weltanschauung, Ideolo-

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Allgemeine Überlegungen zu unserer Praxis

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gie, Wissenschaft oder persönliche Sicht der Dinge erhoben werden. Die Idee einer so genannten »Weltenformel« des strengen Strukturalismus kritisieren wir. Wir messen dem menschlichen Existential, das sich in der Schönheit der multiplen Geschichten, welche immer wieder das Chaotische ordnen, große Bedeutung bei (siehe dazu auch Kriz, 1997a). – Im Übrigen ist der juristische Begriff Wahrheit ein Konstrukt, um einen Tatbestand zu umschreiben. In der Praxis hat sich für unsere Arbeit die folgende Unterscheidung von Wirklichkeiten bewährt: –– Buchstäbliche Wirklichkeit. Darunter verstehen wir jene Wirklichkeitskonstruktionen, die ihren Ursprung in Erfahrungen und in der Konversation der Alltagswelt haben. Im üblichen Weltverständnis gilt dieser Begriff als die Wirklichkeit. Sie wird in der Regel als Realität bezeichnet. –– Imaginäre Wirklichkeit. Von imaginären Wirklichkeiten wird dann ge­ sprochen, wenn vorgestellte, fantasierte, imaginierte und geträumte Welten, Ereignisse oder Verhaltensweisen in Erscheinung treten. Diese können spontan auftreten oder aktiv angeregt/angeleitet werden, zum Beispiel mittels Fantasiereisen, Spielen, Ritualen, Bildern etc. Buchstäbliche und imaginäre Anteile durchdringen sich in der Regel in Wirklichkeitskonstruktionen unterschiedlich stark. –– Perspektiven von Wirklichkeiten. Individuelle Wirklichkeiten im konstruk­ tivistischen Sinne können grundsätzlich von verschiedenen Standorten aus konstruiert werden. Nach diesem Verständnis verschwindet die eine Wirklichkeit, und an ihre Stelle treten verschiedene Sichtweisen oder Wirklichkeitsversionen. Keine dieser Perspektiven kann dabei einen Vorrang beanspruchen, jedem Wirklichkeitsverständnis kommt nur relative Gültigkeit zu. Wirklichkeiten haben Wirkungen, sie werden erfahren. Mit Erfahrung bezeichnen wir den individuellen, sich im Kontext zeigenden Erlebnisgehalt. Erfahrung ist unser Sammelbegriff für Denken, Fühlen, Körperempfindung, Wahrnehmen, Erinnern etc., bezogen auf den einzelnen Menschen. Erfahrungen sind kontextabhängig. Vom außerordentlichen Kontext der Beratung in den alternativen Kontext der Dezentrierung Im Ablauf einer Sitzung lassen sich verschiedene Wirklichkeiten unter­ scheiden. Indem sie sich in die professionelle Beratung begeben, kommen die Klienten aus einer Wirklichkeit im Alltag in einen außerordentlichen Kontext von Wirklichkeit. Für die Sitzungsstruktur, welche mit der Intermodalen

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Dezentrierung arbeitet, ist es spezifisch, dass in diesem außerordentlichen Kontext eine spezielle Zone eingerichtet wird, in der künstlerisches Tun und/ oder Spiel vorbereitet, ausgeführt, dargestellt und reflektiert werden kann. Den Erlebnisgehalt dieses Teiles der Sitzung bezeichnen wir als alternative Welterfahrung. Es ist eine Wirklichkeit im alternativen Kontext. Diese Erfahrung im alternativen Kontext wird mit Leib und Seele gemacht. Für Merleau-Ponty (Jacoby, 2003, S. 112) ist diese künstlerische oder spielerische Erfahrung gekennzeichnet von einer ästhetischen Logik. Sie manifestiert sich im künstlerischen Handeln und ist nachvollziehbar und künstlerisch »sinnvoll« (»Sinnen voll«), nämlich voller sinnlicher Erfahrung. Sie unterscheidet sich von der üblichen reflektiven Logik des Alltags. Die ästhetische Logik kann reflektiert werden und das Denken und Handeln im Alltagskontext ergänzen oder verändern. Die Verbindung von Wirklichkeiten verlangt bei den Übergängen von einem Kontext zum anderen nach sorgfältigen Brückenbildungen: zum einen, um das, was im alternativen Kontext an sinnbildenden Erfahrungen und Reflexionen gewonnen wurde, nicht zu verlieren, und zum anderen, um im außer­ordentlichen Kontext der Sitzung nicht die in der Notenge mangelnde Beweglichkeit vordergründig wirken zu lassen. Um dieser Komplexität in der Dynamik der Beziehung zwischen Klient, Berater/Therapeut und künstlerischem Werk oder Spiel theoretisch gerecht zu werden, versuchen wir sie durch drei Teile zu bestimmen. –– Das Mittelbare: Dazu gehört alles, was durch den Berater/Therapeuten im Kontakt mit seinem Klienten als Mittel eingesetzt wird. Beispielsweise das verwendete Kommunikationsmedium (Sprache, Geste, Visualisierung etc.), die zur Verfügung gestellten Materialien und Werkzeuge, der spezifische Aufmerksamkeitsfokus und anderes mehr. Charakteristisch für das Mittelbare ist, dass es weitgehend analysier-, beschreib- und reproduzierbar ist. –– Das Unmittelbare ist das, was dazwischen entsteht, hervortritt, sich sichtbar macht, sich entzieht, verbirgt und anbahnt. Beispielsweise die entstehende und sich verbergende Art der Beziehung, das sich anbahnende und sich entziehende Vertrauen, das Sichtbarwerden eines verborgenen Zusammenhangs. Charakteristisch für das Unmittelbare ist, dass es zwar vorausseh-, analysier-, vergleich- und beschreibbar, aber weitgehend unkontrollierbar ist. Das Unmittelbare ist durch die Interdependenz der Beteiligten Verzerrungen unterworfen und deshalb schwer reproduzierbar. In diesem Dazwischen entsteht jedoch noch etwas, das sich dem Mittelbaren und dem Unmittelbaren entzieht, das sozusagen als Drittes zu den zwei sich Begegnenden hinzutritt. Es ist an sich unvermittelbar.

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Beziehung als Grundlage

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–– Das Unvermittelbare: Alle jene Ereignisse im Dazwischen der beratenden oder therapeutischen Beziehung, welche nicht vorhersehbar, nicht einsetzbar oder machbar, nicht reproduzierbar sind und deshalb auch unvermittelbar bleiben, haben die Charakteristik von etwas überraschend Eintreffendem. Dieses Eintreffende im Zwei der Begegnung nennen wir das »Dritte«. Das Dritte selbst ist kaum definierbar. Im Nachhinein hingegen ist das Ereignis des Dritten beschreibbar und vergleichbar. Gewisse Randbedingungen, welche zum Ereignis führen können, sind ebenfalls bestimmbar, niemals jedoch die Logik des zwingenden Eintretens des Dritten. Ähnliche Phänomene von Unsicherheit und Unschärfe in Bezug auf das Erfassen von erscheinenden und eintretenden Ereignissen kennen wir in den Naturwissenschaften. Heisenberg beschreibt sie als Un­schärferelation und Eddington spricht vom Ereignis-Theorem2 (Knill, 1990a, S. 33).

3.6. Beziehung als Grundlage Die Beziehungsgestaltung spielt im hier beschriebenen methodischen Ansatz eine herausragende Rolle. Die Beachtung der Architektur, das heißt des Aufbaus einer Sitzung, ist uns zwar wichtig, ebenso der Einsatz angemessener methodischer Werkzeuge. Noch wichtiger für den Ausgang einer Beratung oder Therapie scheint uns jedoch die Art und Weise zu sein, wie es der Beraterin unter den jeweiligen spezifischen Umständen gelingt, die Beziehung zu gestalten. Kunstanalogie Unsere grundsätzlichen Überlegungen werden geleitet von der Überzeugung, dass die Gestaltung einer professionellen Beratungsbeziehung analog zu einem künstlerischen Prozess verstanden werden kann. Wir sprechen deshalb von einem kunstanalogen Prozess. Diese Analogiesetzung ist ursprünglich animiert worden durch den Einsatz künstlerischer Mittel innerhalb von Therapie und Beratung. Sie wird theoretisch gestützt von Überlegungen zu Prozessen und Entwicklungsverläufen, wie sie durch die Systemtheorie formuliert worden sind. Diese weist darauf hin, dass eine lineare Beschreibung, die sich auf isolierte Ursache-Wir2 Das Ereignis-Theorem bezieht sich auf das Phänomen, dass Ereignisse nicht unbedingt kausalen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind und auch nicht kausal erzwungen werden können.

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kungs-Vorgänge abstützt, den Entwicklungen in komplexen Systemen nicht gerecht wird. Die zu beobachtenden Verläufe sind im Gegenteil durch wechselnde Dynamiken, Rückkoppelungsvorgänge, qualitative Sprünge und Ähnlichem gekennzeichnet und darum im strengen Sinn auch nicht voraussagbar (siehe dazu Kriz, 1997b). Es kann zum Beispiel vorkommen, dass sich das qualitative Verhalten eines Systems schlagartig ändert. Dies ist selbst bei einer nur geringfügigen Änderung eines (allerdings bedeutungsvollen) Umwelt­ aspektes möglich, nämlich dann, wenn sich das System selbst in einem labilen Zustand befindet (Haken, 2004). Derartige Vorgänge sind bis heute vor allem in der Physik, speziell in der Synergetik (Haken, 1995) beschrieben und theoretisch begründet worden. Doch gibt es gute Gründe dafür – und erste Forschungsergebnisse bestätigen dies  –, die Gültigkeit dieses Modells auch für viele Prozesse zwischen respektive innerhalb von biologischen, psychischen und sozialen Systemen zu postulieren (Tschacher, 2004; Haken und Schiepek, 2006). Wenn wir nun wieder zum Beratungskontext zurückkehren, so besteht kein Zweifel daran, dass die entstehende Beziehung durch die Haltung der professionellen Person geprägt wird. Sie beruht allerdings immer auf Gegenseitigkeit und kann niemals einseitig, zum Beispiel allein von der Beraterin her, definiert, beeinflusst oder gar bestimmt werden. Von der Beraterin erwarten wir, um bei der Metapher zu bleiben, eine kunstanaloge Haltung. Damit ist gemeint, dass das, was zwischen ihr und ihrer Klientin entsteht, sich zu etwas wie einem Kunstwerk entwickeln soll. Beratung wird so als ein gemeinsam zu schaffendes Werk verstanden. Ähnlich wie beim Entstehungsprozess eines Kunstwerks sind dafür Erfahrung, Können, Disziplin und Technik der kunstschaffenden Personen wichtig. Diese allein garantieren das Gelingen aber nicht. Es braucht noch etwas Zusätzliches, etwas Drittes, Unvermittelbares, das nicht im üblichen Sinne machbar ist. Im vorangegangenen Abschnitt sind wir auf die Konzeptualisierung dieses Dritten und dessen Einbettung in eine allgemeine Logik eingegangen. Analog einer Künstlerin, die sich bei der Arbeit in vielen Phasen durch das entstehende Werk führen lässt, folgt die Beraterin in ihrem Handeln dem sich entfaltenden Prozess und lässt sich von diesem leiten. Das bedeutet keineswegs einen Verzicht auf klare Rahmenbedingungen, eine klare Struktur des Sitzungsablaufs, auf Techniken und Methoden oder auf übergreifende Zielsetzungen. Es bedeutet jedoch, dass dem Prozessgeschehen hohe Aufmerksamkeit zuteil wird und dass vorgefasste Überlegungen und Zielsetzungen zugunsten von aktuell Vordringlicherem oder überraschenden Wendungen fallen gelassen werden können. Das erfordert von der Beraterin Offenheit, genaues Beobachten und Hinhören und hohe Präsenz. Wir sehen in diesen drei Kriterien zentrale Aspekte für die Gestaltung des Arbeitsprozesses in Therapie und Beratung.

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Offenheit und genaues Hinhören Als Offenheit bezeichnen wir in erster Linie das Bemühen, den anderen ­Menschen so zu nehmen, wie er sich zeigt. Wir akzeptieren ihn als Experten für seine Lebenserfahrungen. Nicht notwendigerweise verbunden mit Offenheit ist dagegen die Billigung der manifestierten oder berichteten Verhaltensweisen oder das Akzeptieren aller Ideen, die dieser Mensch über sich und sein Leben entwickelt hat. Offen ist die Beraterin hingegen der sich entwickelnden Gesamtsituation und auch sich selbst gegenüber. Genaues Beobachten und Hinhören, das als aktives Wahrnehmen ge­ kennzeichnet werden könnte, weist auf das Bemühen hin, den Gesprächspartner so sorgfältig und differenziert wie möglich zu erfassen und zu beschreiben. Philosophisch stützt sich dieses Bemühen ab auf den phänomenologischen Erkenntniszugang, ohne dass wir allerdings auch die dazuge­ hörende philosophische Methodik übernehmen könnten. Mit »phänomenologischem Zugang« meinen wir das Bemühen um eine möglichst unverzerrte Beschreibung des Wahrgenommenen. Konkret bedeutet das, dass wir sehr aufmerksam sind gegenüber der allgegenwärtigen Tendenz zu interpretieren. Wir bemühen uns, »an der Oberfläche« der Phänomene zu bleiben und sie zu beschreiben und nicht zu interpretieren. Als Konstruktivisten sind wir uns dabei bewusst, dass diese Sorgfalt in der Beschreibung und das Abstinenzbemühen gegenüber allen Formen von Interpretation nicht die »Richtigkeit« des auf diese Weise Beobachteten garantieren kann. Aus der Überfülle von sinnlichen Eindrücken in einer Beratungssituation nehmen die Beratenden ohnehin nur das wahr, was ihre Aufmerksamkeit erregt und was für sie einen Unterschied macht. So wird einzig wahrnehmbar, was aus dem jeweiligen Blickwinkel heraus sichtbar ist und aus der jeweiligen Position hörbar wird. Wahrnehmbar ist zudem meist nur das, was uns das Gegenüber zeigt. Und beschrieben werden kann schließlich lediglich das, was wir mit unserem individuellen kognitiven Vermögen erkennen können und wofür wir Worte haben. Alle diese Beschränkungen sind nicht zu vermeiden. Nun hat genaues Beobachten aber auch zu tun mit Differenzierung – mit dem, was man Wahrnehmen mit einem Weitwinkelobjektiv nennen könnte – und mit Nüchternheit. Wer differenziert beobachtet und zuhört, berücksichtigt Nuancen, beachtet die verschiedenen Ebenen des Präsentierten. Er nimmt wahr, was sich innerhalb einer bestimmten Zeitperiode oft nur leicht verändert, und ist in der Lage, auch scheinbar Widersprüchliches nebeneinander stehen zu lassen. Die Metapher des Weitwinkelobjektivs weist darauf hin, dass es wichtig ist, auch räumliche und zeitliche Kontextbedingungen soweit als möglich zu beobachten und in die Überlegungen mit einzube­ ziehen.

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Die Qualität der Nüchternheit plädiert für ein Bemühen um die Beschreibung von reell wahrnehmbaren Phänomenen und dafür, diese zu trennen von der eigenen Betroffenheit oder der spezifischen Atmosphäre im Beratungs- oder Therapieraum. Präsenz Die Qualität einer hohen Präsenz ist wahrscheinlich das zentralste der drei erwähnten Kriterien für die Arbeitsprozessgestaltung. Sie kann beschrieben werden als ein vorbehaltloses, konzentriertes Dabei- und Anwesend-Sein. Auch dürfte sie viel gemeinsam haben mit der »(gleich)schwebenden Aufmerksamkeit«, die bereits Freud vor hundert Jahren beschrieben hat. Aus unserer Sicht ist dies eine gerichtet-ungerichtete Aufmerksamkeit auf das, was von der Klientin her auf die Beraterin zukommt, gepaart mit der Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf das, was dazwischen passiert. Brodbeck (1999) hat diese Aufmerksamkeit treffend als »Achtsamkeit« beschrieben. Es ist die Bereitschaft, alle Eindrücke aus diesen Sektoren entgegenzunehmen, ohne sie vorschnell zu bewerten und zu sortieren. Es ist eine Haltung, die nicht aufdecken oder gar überführen, sondern in möglichst vielschichtiger und reichhaltiger Weise entdecken will. Es ist die Aufmerksamkeit eines neugierigen, wertschätzend-offenen Menschen und keineswegs die eines Sherlock Holmes. Wertschätzung, Respektlosigkeit und Überraschungsfreundlichkeit Im folgenden Kapitel 4 wird ein detailliertes Ablaufprozedere für die Be­ ratungssitzung vorgestellt. Dabei geht es nicht um einen linearen, schrittweise zu verfolgenden Prozess, der bei genauer Einhaltung der Regeln mit Sicherheit zum gewünschten Ergebnis führt. Es geht vielmehr um einen krea­ tiven Vorgang, der sich inhaltlich und in der Form, nicht aber unbedingt in der Grobstruktur, durch das leiten lässt, was sich in jedem einzelnen Moment ereignet. Die beiden Aspekte der Wertschätzung und der Überraschung spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Wertschätzung, wie sie zum Beispiel Rogers (1977) beschrieben hat, gilt der Person der Klientin. Sie basiert auf der Echtheit und Kongruenz der beratenden Person und dem Bemühen um ein einfühlendes, präzises Verstehen. Wertschätzung zeichnet sich aus durch eine warme, entgegen­ kommende, nicht Besitz ergreifende Zuwendung, die auf jede vorschnelle Be­ urteilung und Bewertung verzichtet. Zusammen mit der kunstanalogen Haltung kann Beratung dann zu dem führen, was Buber (1962) »Begegnung« nennt, das heißt zu Momenten, in

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denen für die Gesprächspartner deutlich wird, »dass sie auf der Ebene des Seins angesprochen [sind] und es, in der Gegenwart des Du, um die Verwirklichung des Ich geht« (Bürgi und Eberhart, 2004, S. 57). Diese Formulierung weist darauf hin, dass in der so verstandenen Begegnung eine andere Seinsform erlebt wird als dies beim Erfahren einer anderen Person im üblichen zwischenmenschlichen Kontakt der Fall ist. Die Unmittelbarkeit der Begegnung schafft eine besondere Form von Präsenz, welche die Verbindung zu etwas erschließt, das man »Seinsgrund« nennen könnte. In den Momenten der Begegnung empfinden die Beteiligten oft eine tiefe Verwandtschaft auf existenzieller Ebene. Begegnungsmomente haben die Potenz, neue Räume zu öffnen, was im Beratungsablauf oft zu überraschenden Wendungen führt. Die Wertschätzung gilt der Person der Klientin und nicht unbedingt deren Meinungen und Überlegungen. Mit Cecchin (Cecchin et al., 1993) plädieren wir dafür, dass Beraterinnen sich erlauben sollten, »respektlos« eine Situation anders anzusehen oder zu bewerten, als es in der Gesellschaft üblich und/oder für die Klientin selbstverständlich ist. Dies geschieht im Sinne eines probeweisen Perspektivenwechsels und keinesfalls im Sinne des Besser-Wissens. Andrea, eine Frau mit längerer Berufserfahrung, ist nach einer Weiterbildung, in der sie vor dem Abschluss steht, neu als Beraterin tätig und kommt in die Super­vision. Sie beschreibt ihre Arbeit mit einer etwas chaotischen Klientin mit vielen Ideen als »Fahrt auf einer Achterbahn«, in der sie sich dem Geschehen ausgeliefert fühlt – immer gewärtig, dass »die Bahn eine neue, unerwartete Kurve nimmt«. Der Super­ visor nimmt diese Beschreibung zur Kenntnis, erkundigt sich dann aber »respektlos«, warum sie nicht »aus der Bahn hinausgeworfen worden sei«. Andrea ist – nach drei weiteren »Was-noch -Fragen«  – in der Lage, vier verschiedene Punkte zu nennen, und nach genauer Betrachtung dieser Punkte selbst höchst erstaunt, was sie alles unternommen hat, um das Gespräch zu strukturieren. Nach einer Dezentrierungsphase differenziert sie zwei grundsätzliche Seiten ihres Vorgehens (und ihrer Persönlichkeit). Es handelt sich in ihren Worten um »das Klare« und »das Strukturierte« auf der einen Seite und »das Spontane« und »das Freie« auf der anderen. Die gleiche Thematik zeigt sich auch in anderen Beratungssituationen und kann in den folgenden Sitzungen gewinnbringend bearbeitet werden.

Eine übertriebene Loyalität zu Ideen verhindert die kreative Entdeckung von Handlungsspielräumen. Fairerweise muss dieselbe Haltung der Respektlosigkeit – und das sei hervorgehoben – auch den eigenen beraterischen Ideen gegenüber eingenommen werden. Das bedeutet, dass die Beraterin in gleicher Weise ihrem eigenen »ersten Eindruck« von der Klientin, ihren anfänglichen Hypothesen und Überlegungen »respektlos« begegnen kann, das heißt immer wieder bereit sein sollte, sie zugunsten einer vorläufig neuen Variante über Bord zu werfen.

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Überraschungen sind erwartungswidrige Ereignisse, die oft als Störung erlebt werden. Das mag auch ein Grund dafür sein, weshalb manche über­ raschende Aspekte innerhalb der Beratung gern übersehen werden. Die Offenheit für Überraschendes, ja eine gewisse Sensibilität und ein spezieller Aufmerksamkeitsfokus dafür spielen in der kunstanalogen Haltung eine wichtige Rolle. Gepaart mit einer wertschätzenden Neugier und einem Klima des Nicht-(besser-)Wissens können Überraschungen zu Wendepunkten im Veränderungsprozess werden. Diese beiden letzteren Aspekte sind zwei weitere Variablen der Beziehungsgestaltung, auf die speziell hingewiesen werden soll. Nicht-Wissen und wertschätzende Neugier Über die Haltung des Nicht-Wissens ist im Bereich des lösungsfokussierenden Arbeitens oft nachgedacht worden. Sie ist durch das Expertentum der Klientin begründet, das in diesem Arbeitsansatz besonders hervorgehoben wird. Wir sind im Abschnitt 2.2. ausführlich darauf eingegangen. Die Haltung des Nicht-Wissens wird im Intermodalen Dezentrieren IDEC® in allen Gesprächsperioden innerhalb der außerordentlichen Welterfahrung beachtet, ebenso in der Phase, die wir »ästhetische Analyse« nennen. Sie wird neben den Begründungen der Lösungsfokussierung zusätzlich gestützt vom Sozialen Konstruktionismus, vom Menschenbild der Humanistischen Psychologie und von der Überzeugung, dass es sich, um mit Heidegger (1960) zu sprechen, bei der künstlerischen Betätigung um ein Existential des Menschen handelt, das grundsätzlich allen zugänglich ist. Mit dem Ausdruck »wertschätzende Neugier« betonen wir die Wünschbarkeit einer unvoreingenommenen, explorativen Grundhaltung, in der die Beraterin es wagt, immer noch eine weitere Frage zu stellen, um das Ge­ schilderte zu konkretisieren oder anzureichern, und so die Klientin anregt, selbst in gleicher Weise mit dem Gegenüber in die Begegnung zu gehen. Und dies alles nicht in der Haltung einer Detektivin, welche die Gesprächspartnerin zu überführen versucht, sondern in einer wertschätzenden, offenen Haltung und darauf achtend, dass die Gesprächspartnerin nie und in keiner Weise »ihr Gesicht verliert«. Knill bezeichnet in einer Metapher das kunstanaloge Beziehungsgeschehen zwischen Therapeutin und Klientin als »Tanz des Auskundschaftens und Entdeckens«. Der andere Mitautor spricht vom »begnadeten Künstler« oder »begnadeten Augenblick« und weist damit auf eine mehr spirituelle Dimension des Beziehungsgeschehens hin, wie es in Ana­logie zur Kunst verstanden werden kann (Eberhart, 2004).

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Die Situation im Erstgespräch Beim Aufbau einer neuen Beziehung stehen im Erstgespräch zwei Aspekte im Vordergrund. Es muss der Beraterin erstens gelingen – und zwar, wenn keine erschwerenden Umstände vorliegen, möglichst in der ersten Viertelstunde der ersten Sitzung  –, dass die Klientin den Eindruck bekommt, gehört zu werden, und sich verstanden fühlt. Mit anderen Worten, die Beraterin muss sich so verhalten, dass die Klientin annehmen kann, ihre Gesprächspartnerin sei sowohl willens als auch fähig, sie in ihrer Eigenart zu verstehen. Die Klientin kann diese Annahme natürlich zu diesem frühen Zeitpunkt nicht wirklich überprüfen; sie ist auf Hoffnung gegründet. Und doch sollte die Beraterin durch ihr Verhalten Anzeichen geliefert haben, die diese Hoffnung nähren. Zweitens ist es für den positiven Ausgang jedes kürzeren oder längeren Beratungs- oder Therapieprozesses wichtig, dass die Klientin bald einmal den Eindruck erhält, dass die Beraterin grundsätzlich ein Mensch ist, der bei Problemen der Art, wie sie die Klientin belasten, zu positiven Veränderungen verhelfen kann. Dieser Eindruck mag zwar schon bei der Anmeldung, das heißt vor dem eigentlichen Beginn des ersten Gesprächs vorhanden gewesen sein, muss sich aber im ersten und in den weiteren Gesprächen bestätigen. Er wird nach unseren Erfahrungen vor allem genährt durch –– eine bestimmte Beraterhaltung, die den Eindruck von Kompetenz vermittelt, –– klar kommunizierte Rahmenbedingungen, –– ein Verhalten der Beraterin, das einladend wirkt, –– eine Haltung, die der Klientin vermittelt, dass die Beraterin an ihrer Arbeit Freude hat, »dass sie Appetit hat«, –– ein bestimmtes Maß an Gelassenheit, die vorzugsweise mit warmherzigem Humor gepaart ist, –– die Überzeugung der Beraterin selbst, dass »etwas Gutes« herauskommen wird. Derartige Haltungen und Verhaltensweisen sind Anfängerinnen schwierig zu vermitteln. Man kann sie – glücklicherweise – schlecht imitieren, und es ist schwierig, einem anderen Menschen in dieser Beziehung etwas vorzu­ machen. Sie stehen unserer Erfahrung nach in engem Zusammenhang mit Haltungen, die man als Professionelle für sich selbst pflegt und allgemein anderen Menschen gegenüber einnimmt. Expertise und Kooperation Wir verstehen die Beraterin als Expertin für einen Prozess, der die Klientin befähigt, sich über ihre Ressourcen und ihre Bedürfnisse klar zu werden und

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dieses Wissen im Alltag umzusetzen. Sie ist Expertin für den Rahmen der Beratung, den Ablauf, die Sicherheit und angemessene Herausforderungen und sie bietet Gewähr, dass die Klientin im Beratungsprozess nicht ihr Gesicht verliert. Hingegen ist sie bei unserer Vorgehensweise weder Expertin für Probleme noch für Lösungen. Dagegen hilft sie der Klientin, ihre vorhandenen Ressourcen und Möglichkeiten zu entdecken und angemessen zu nutzen. Das in diesem Buch beschriebene Arbeitskonzept basiert auf Kooperation. Unsere persönlichen Erfahrungen und die Erfahrung aus unserer supervisorischen Tätigkeit zeigen, dass Menschen, die in irgendeine Form von Be­ ratung oder in eine Therapie kommen, mehrheitlich kooperieren wollen. Mit anderen Worten: Sie möchten, dass für sie etwas Gutes herauskommt. Allerdings kann die Art und Weise, wie sie auf das Beziehungsangebot der Beraterin reagieren, sehr unterschiedlich sein. Dieses Angebot ist nicht immer so, dass eine Klientin ohne weiteres darauf einsteigen kann. Das muss keineswegs bedeuten, dass sie nicht kooperieren will. Jedes Individuum – Kinder, Jugendliche, Paare, Familien – kooperiert je auf seine eigene Weise. Es ist Aufgabe der Beraterin, »das Passen zu entwickeln«, das heißt, Wege der Kooperation zu finden, die zur einzigartigen Weise, in der die Klientin kooperiert, passen. Das mag bei angeordneten Beratungsgesprächen in einem mehr oder weniger ausgeprägten Zwangskontext besonders schwierig sein. Die Erfahrung zeigt aber, dass es sogar in solchen Situationen keineswegs unmöglich ist. Unser Umgang mit dem Phänomen der Übertragung Abschließend sei noch kurz auf ein Beziehungsphänomen eingegangen, das vor allem im therapeutischen Kontext oft erwähnt wird und dort unter dem Begriff »Übertragung« und »Gegenübertragung« abgehandelt wird. Es geht dabei um Verhaltensweisen und Gefühlsreaktionen, die im Vergleich zum übrigen Verhalten der betreffenden Person als übertrieben und unangemessen auffallen. Im psychoanalytischen Denkmodell handelt es sich um Nachbildungen oder Neuauflagen von Regungen und Phantasien aus der Kindheit, die damals einer anderen Bezugsperson gegolten haben. In der psychoana­ lytischen Therapie nehmen Übertragungsphänomene einen zentralen Platz ein und werden speziell gefördert, da sie mächtige Hilfsmittel für die Analyse darstellen. Bei unserem Vorgehen sind diese Phänomene sehr viel seltener. Leichteren Formen schenken wir keine besondere Beachtung. Positive Formen (z. B. Schwärmen für die Beraterin) können während einiger Zeit zugelassen werden, wobei mit Vorteil immer wieder auf die Selbstverantwortung und auch auf die mögliche Enttäuschung hingewiesen wird. Wirken negative Reak­

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tionen störend – wenn sich beispielsweise eine Klientin immer wieder durch die Beraterin kritisiert oder herabgesetzt fühlt –, ist es sinnvoll, in Form von Metakommunikation darüber zu sprechen. Metakommunikation ist im Speziellen empfehlenswert für alle ausgeprägten Formen der so genannten Gegenübertragung, das heißt für übertriebene Reaktionen der Beraterin auf die Klientin. Eine Gegenübertragung kann zum Beispiel vermutet werden, wenn eine Beraterin sich gedrängt fühlt, einer speziellen Klientin unbedingt in dieser einen Sitzung konkret und wirkungsvoll zu helfen, und ihr dabei alle Eigenverantwortung abnimmt. Natürlich können auch bei auffälligen Aversionen gegenüber einer Person oder einer Personengruppe Gegenübertragungsphänomene vermutet werden. Supervisionsgespräche oder Intervisionsgruppen erweisen sich in solchen Situationen als besonders hilfreich. ✳ Zusammenfassend können wir die kunstanaloge Beziehung beschreiben als ein nichtlineares Prozessgeschehen, das gekennzeichnet ist durch Offenheit für Überraschungen und für das Dritte. Das Verhalten der Beraterin zeichnet sich aus durch Präsenz, wertschätzende Neugier und eine Haltung des Nicht(besser-)Wissens. Sie ist Expertin für die Prozessgestaltung, gibt Sicherheit in der künstlerischen Phase und ist ganz allgemein eine diskret arbeitende, animierende »Befähigerin«. Sie arbeitet am »Kunstwerk« der Beziehung und der gemeinsamen Problemlösung im Wissen darum, dass das Gelingen letztlich nicht durch Befolgen von Rezepten machbar ist. Zentral scheint uns hingegen eine disziplinierte Haltung der Offenheit für das, »was ankommt«, was auch als Geschenk verstanden werden kann.

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4. Der konkrete Verlauf einer Sitzung

4.1. Die Architektur der Beratungssitzung Der Aufbau eines Sitzungsverlaufs, der den Unterscheidungen des Kontextes Rechnung trägt und der Intermodalen Dezentrierung den gebührenden Raum gewährt, bedingt ein sorgfältiges Management von Zeit und Raum. Tabelle 1: Schema eines Ablaufs einer Sitzung mit Dezentrierung Klient im Alltag

Notenge Im Alltagskontext vor der Sitzung

außerordentlicher Kontext Anliegen

Aufnahme des Anliegens Situationsbeschreibung Zukunftsvision und gutes Ergebnis der Sitzung

Brücke zur Dezentrierung

Einführung in die Dezentrierung/ Eintritt in den alternativen Kontext

Intermodale Dezentrierung Raum/Zone des alterna­tiven Kontextes

Kunst- oder spielorientierte Gestaltung eines Werks/Spieles

Immer noch im Raum oder in der Zone des alternativen Kontextes

Ästhetische Analyse von Werk und Prozess

Brücke zurück zum außerordent­ lichen Kontext

Verlassen des alternativen Kontextes

Ernte Außerordentlicher Kontext

Zurück zum Anliegen Mögliche Bezüge herstellen zwischen Dezentrierung und Anliegen

Verabschiedung

Bewertung/Auswahl Überlegungen zur Konkretisierung im Alltag und allfällige Aufgaben

Klient im Alltag

Klient im Alltagskontext

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D E Z E N T R I E R E N

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

Es ist vorteilhaft, wenn die Phasen einem zeitlichen Rahmen folgen und bestimmte Zonen des Ablaufs auch räumlich klar auseinandergehalten werden. Oft wird in der ersten Phase bei der Besprechung des Anliegens zuviel Zeit aufgewendet. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, wenn wir Aussagen beherzigen, die darauf hinweisen, dass für Berater und Therapeuten eine kompetente Begleitung des Prozesses der Veränderung wichtiger ist, als sich ausgiebig der inhaltlichen Analyse eines Problems zu widmen. Solche Aussagen werden mit dem Hinweis begründet, dass das Kreisen um Problemgeschichten den Interpretations- und Verstehensraum einenge und kaum mehr Handlungsalternativen ermögliche. Es führe immer wieder »zum Selben«. Die kompetente Begleitung des Veränderungsprozesses hingegen öffnet den Blick für alternative Geschichten, ermöglicht neue Perspektiven, Ideen, Sicht- und Handlungsmöglichkeiten (Kriz, 1997a, S. 56). Diese Blicköffnung wird durch die Intermodale Dezentrierung in erheblichem Maß unterstützt und ausgeweitet. Ähnliches gilt für die Phase, die wir mit dem Begriff »Ernte« bezeichnen, wo im Zurück zum Anliegen wiederum die Gefahr droht, eine inhaltliche Lösung mit großem Zeitaufwand zu synthetisieren, anstatt den Veränderungsprozess der Selbstorganisation, der schon in der Dezentrierung begonnen hat, kompetent zu begleiten. Zum besseren Verständnis des Ablaufschemas und zur Illustration sei hier die ausführliche Beschreibung einer Sitzung mit Dezentrierung angefügt: Coachingsitzung mit Hortense: »nach innen gehen« und »darüber hinaus« Hortense hat den Berater an einer Abendveranstaltung eines Berufsverbandes kennen gelernt, an der er über den Einsatz von künstlerischen und spielerischen Mitteln im Beratungsalltag referierte. Sie ist selbst eine sehr erfahrene Beraterin, die seit vielen Jahren in einer großen schweizerischen Beratungsinstitution arbeitet. Hortense erbittet per E-Mail einen Coachingtermin. Sie begründet diesen Wunsch damit, dass sie seit »längerer Zeit« auf der Suche nach einer »etwas anderen beruf­ lichen Welt« sei, sich dabei aber »immer wieder im Kreis drehe«. Gleichzeitig möchte sie den Berater und das von ihm praktizierte Vorgehen näher kennen lernen. Hortense ist eine zierliche, lebhafte Frau in den Fünfzigern. Sie wirkt aktiv, offen und neugierig. Nach dem Austausch einiger Eindrücke der gemeinsam erlebten Veranstaltung nimmt der Berater Worte des im E-Mail formulierten Anliegens auf (Übergang in den außerordentlichen Kontext der Beratung) und fragt nach Details.

Erfassung von Anliegen, Sorge und Ressourcen Hortense berichtet, dass sie sich seit 10 Jahren »grundsätzlich beruflich umorientieren« wolle. »Und nichts ist passiert!« Sie schildert einige ihrer Bemühungen und »Anläufe«, wobei dem Berater der recht harsche, negative Ton auffällt, mit dem sie

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Die Architektur der Beratungssitzung

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über sich und die erfolglosen Aktivitäten spricht. Er möchte deshalb ein Gegengewicht setzen. Berater: »Sie müssen gute Gründe haben, dass Sie trotz aller Bemühungen nicht weiter gekommen sind!« Hortense: »Ja. Es sind die Menschen, die Klienten, die mich an der jetzigen Stelle zurückhalten.« Berater: »Was genau ist es?« Hortense: »Sie kommen oft ohne innere Vorbehalte. Wollen wirklich etwas von mir und ich kann ihnen etwas geben.« Berater: »Noch etwas?« Hortense: »Ich bin in meiner Arbeit methodisch frei. Niemand redet mir drein.« Berater: »Gibt es noch etwas?« Hortense: »Ja. Ich kann als Teilzeitangestellte arbeiten und finde deshalb genügend Zeit für meine vielen anderen Interessen.« Nachdem Hortense nach weiteren Fragen ihre Angaben konkretisiert hat, erkundigt sich der Berater, was sie in den letzten 10 Jahren bezüglich Weiter- und Fortbildungen alles unternommen habe. Es zeigt sich, dass Hortense sehr aktiv war und ist. Sie hat auf den Gebieten Beratung und Therapie eine Reihe von frei zugänglichen kürzeren Kursen und Workshops besucht. Besonders angetan war sie von Fortbildungen, wo Musik oder Bewegung mit helfendem Tun verbunden wurde. Sie ist seit langem in einer Atemtherapie und besucht seit Jahren ein Tanztraining, wo Mythologie mit Bewegung verknüpft wird. Zudem hat sie vor einigen Jahren begonnen, ein Musikinstrument zu spielen und nimmt regelmäßig Musikstunden.

Vision einer guten Zukunft und »gutes Ergebnis« Nach der Aufzählung dieser Aktivitäten und aufgrund entsprechender Rückfragen des Beraters konkretisiert Hortense verschiedene Details und fügt spontan hinzu: »Am liebsten möchte ich einmal beruflich etwas machen, wo ich ganz konkret etwas von mir persönlich weitergeben kann.« (Vision einer guten Zukunft). Im Gegensatz zum üblichen Vorgehen verzichtet der Berater ausnahmsweise auf konkretisierende Fragen zu diesem Punkt. Das bisherige Gespräch hat gezeigt, dass sich Hortense schon sehr viele Gedanken über Zukünftiges gemacht hat und in ihrer eloquenten Art sehr lange darüber berichten könnte. Es macht an diesem Punkt der Sitzung wenig Sinn, »mehr desselben« zu tun. Berater: »Und heute, was wäre für Sie heute ein gutes Ergebnis? Woran würden Sie merken, dass es sich gelohnt hat zu kommen?« (Frage nach dem guten Ergebnis). Hortense antwortet: »Es wäre schön, wenn sich einige Puzzleteilchen zusammenfügen würden. Ich meine nicht einfach rational, sondern auf einer gefühlsmäßigen Ebene, fast körperlich.« Und nach einer kurzen Pause ergänzt sie: »Und wenn ich von Ihnen eine Rückmeldung bekomme, wie das, was ich da erzähle, wirkt.« Darauf der Berater: »Noch etwas?« Hortense meint: »Schön wäre, wenn ich an die Ängste herankäme.« Berater: »Was meinen Sie damit?« Hortense: »Dass ich mit denen einen anderen Umgang finden könnte.«

Denkpause Hier schaltet der Berater eine kleine Denkpause ein. Beide bleiben ruhig sitzen. Wie soll es weiter gehen? Das Für und Wider einzelner Möglichkeiten zu besprechen ist zu diesem frühen Zeitpunkt nicht angezeigt. Hortense hat sich selbst schon

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

viele durchaus sinnvolle Überlegungen gemacht und dreht sich »im Kreis«. An das Thema Ängste herangehen will der Berater im Moment nicht. Er hat den Verdacht, dass es sich dabei eher um eine Art »psychologischer Schlussfolgerung« handelt im Sinne von »wenn ich schon so lange an dieser Sache herumdoktere, müssen ja wohl Ängste dahinter stehen«. Im Moment ist keinerlei Angst spürbar. – Also eine Dezentrierung. Üblicherweise macht der Berater in der ersten Sitzung keine Dezentrierungen. Er schaut auf die Uhr: Es verbleiben noch 35 Minuten. Das ist knapp, eigentlich zu wenig. Doch eine Dezentrierung ist sinnvoll; sie eröffnet die Chance, dass etwas Grundsätzlicheres ins Spiel kommt. Doch was tun? Der Berater will unbedingt vermeiden, dass sich Hortense veranlasst sieht, eine Probe ihres Könnens abzugeben. Also verbietet sich alles, was mit Bewegung oder Klang zu tun hat. Es muss etwas ganz Einfaches sein für diese sehr differenzierte Klientin: Herausforderung durch Einfachheit! Der Berater hat sich entschieden.

Vorschlag einer Dezentrierung und Durchführung Berater: »Ich möchte Ihnen vorschlagen, dass wir die Sitzung an dieser Stelle unterbrechen und etwas ganz anderes tun. Machen Sie mit?« (Übergang in den alternativen Kontext). Hortense sagt ohne Zögern zu. Sie scheint neugierig zu sein. Berater: »Vorher möchte ich Sie aber noch fragen, ob im bisherigen Gespräch irgend etwas Wichtiges nicht zur Sprache gekommen ist. Ist etwas unter den Tisch gefallen?« Hortense verneint. Berater: »Jetzt müssen wir aufstehen.« (Brücke zwischen den Wirklichkeitsräumen). Der Berater geht nun in den Nebenraum und holt dort einige weiße Zeichenblätter in unterschiedlicher Größe und eine Schachtel mit Ölkreiden. »Ich möchte, dass Sie sich aus diesen Blättern eines auswählen, das Ihnen angemessen erscheint.« Hortense schaut den Berater fragend an. Berater: »Ja, ich weiß, dass ich noch nicht gesagt habe, worum es geht. Trotzdem möchte ich, dass Sie eine Ihnen im Moment angemessene Blattgröße wählen.« Hortense nimmt ein großes Blatt (98 × 69 cm). Berater: »Und jetzt möchte ich, dass Sie zwei verschieden farbige Ölkreiden wählen.« Hortense nimmt ein Kobaltblau und ein Kadmiumgrün, schaut dann den Berater leicht schelmisch an und fragt: »Darf ich mir nicht noch eine dritte Farbe nehmen?« Der Berater lacht und meint: »Gut, dann machen wir einmal eine Ausnahme.« Hortense nimmt noch die zinnoberrote Kreide dazu. Berater: »Ihre Aufgabe besteht darin, mit jeder Farbe eine Linie zu zeichnen. Sie wählen eine Farbe und zeichnen die Linie in einem Zug. Sie kann so lang sein, wie Sie wollen. Doch wenn Sie die Bewegung unterbrechen, ist die Linie fertig, und Sie können damit nicht mehr weiterfahren [die Aufgabe soll zwar sehr einfach, aber doch nicht banal sein]. Sie wählen also die erste Farbe, zeichnen eine Linie, dann die zweite Farbe und so weiter.« Hortense legt das große Blatt auf den Parkettboden und kniet davor, so dass die schmale Seite des Blattes vor ihr liegt. Der Berater kniet neben ihr. Hortense nimmt die blaue Kreide, macht damit Bewegungen in der Luft, setzt dann links oben auf dem Blatt an und zeichnet mit Schwung eine gekrümmte Linie über das ganze Blatt, die rechts unten in immer kleiner werdenden kreisenden Bewegungen endet. Dann nimmt sie die grüne Kreide, setzt ebenfalls links oben an und umfährt einen Teil der Figur, die durch die blaue Linie entstanden ist. Schließlich nimmt

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Die Architektur der Beratungssitzung

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sie das Karminrot, denkt eine Weile nach und zeichnet innerhalb der grünen Linie eine ellipsenförmige Figur und innerhalb dieser ganz schnell nochmals eine Ellipse. Damit hat sie die vom Berater gesetzte Regel durchbrochen. Hortense bemerkt den »Fehler« und sagt: »Oh, jetzt habe ich doch die Linie unterbrochen.« Die beiden sprechen kurz darüber, messen der Sache aber im Moment keine Bedeutung zu.

Ästhetisches Protokoll oder ästhetische Analyse Beide stehen jetzt auf, betrachten das Blatt von oben, und der Berater bittet Hortense, um das Blatt herumzugehen und den Standort zu wählen, wo sich das, was entstanden ist, aus der »besten Perspektive« zeigt. Sie stellen sich nebeneinander an diesen Ort und betrachten würdigend das Blatt. »Spannend, was da entstanden ist!«, meint der Berater. Dann beginnt er Fragen zu

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

stellen und macht sich zu den Antworten ausführliche Notizen. Berater: »Was sehen Sie?« Hortense: »Eine Art Gefäß. Die grüne Linie. Sie umfasst die anderen – mit Ausnahme einer Farbe [gemeint: blau oben].« Berater: »Was noch?« Hortense: »Es sind geschwungene Linien, die sich so organisch ergeben.« Berater: »Noch etwas?« Hortense: »Es sind runde Formen.« Berater: »Hat es eine Bedeutung, dass es sich um drei Farben handelt?« Hortense: »Ja. Dadurch fügen sich die Sachen. Sie schlängeln sich, aber nicht ineinander. Wenn alles in der gleichen Farbe wäre, wäre es chaotischer. Jede Farbe unterscheidet sich stark von der anderen.« Auf weitere Fragen spricht Hortense von »der Tiefe«, der »Dreidimensionalität«, der »Lebendigkeit«. Berater: »Zieht etwas Ihren Blick an? Ist etwas im Moment speziell attraktiv?« Hortense: »Die Spirale des Blau.« Berater: »Was ist daran attraktiv?« Hortense: »Es hat etwas sehr Zentrierendes. Es geht in den Kern.« Berater: »Gibt es noch etwas, das Ihren Blick anzieht?« Hortense: Das Rot. So wie ein Ei. Oder ein Auge.« Berater: »Was ist das Attraktive daran?« Hortense: »Das Geschlossene. Es pulsiert.« Nun kommt der Berater auf den (in diesem Fall kurzen) Entstehungsprozess zu sprechen. Berater: »Hat Sie beim Tun etwas überrascht?« Hortense:» Ja. Dass ich keine Sekunde gezögert oder nachgedacht habe. Einfach gemacht. Ohne irgendeinen Zweifel – habe ja viele! Und jetzt ist es gut. Wenn ich die Sicherheit habe, dann geht’s.« Berater: »Was gab Sicherheit?« Hortense: »Es kam von Ihnen.« Berater: »Was war es, das erleichternd wirkte?« Hortense: »Die Anweisung. Der Druck war dann ganz weg. Ich kann ja überhaupt nicht malen.« Berater: »Noch etwas?« Hortense: »Die Farben. Dass ich die Farben wählen konnte. Jede Farbe führt irgendwie in einen anderen Raum. Und sie macht etwas mit einem.« Berater: »Hat etwas Ihre Aufgabe erschwert?« Hortense: »Nein.« Zum Abschluss dieser Gesprächssequenz fragt der Berater, wo sie das Werk platzieren würde, wenn so etwas in späteren Zeiten einmal berühmt würde. Hortense sieht zwei Möglichkeiten: Sie würde es entweder massiv vergrößern lassen, so dass Menschen das Ganze abschreiten könnten. Oder sie würde einen Raum in einem alten Haus wählen mit pastellfarbenen Wänden, wo die Fenster die Verbindung zum Garten herstellen. Berater: »Ist noch etwas unter den Tisch gefallen?« (Einleitung der zweiten »Brücke«). Hortense: »Es ist faszinierend, dass es auch noch nach außen geht [gemeint ist das Blau oben].« Das bisherige Gespräch nach dem dezentrierenden Tun hat stehend vor dem am Boden liegenden Werk stattgefunden. Der Berater enthält sich jeden Kommentars. Die Stimmung ist intensiv. Hortense ist voll präsent. Bemerkungen des Beraters würden ablenken.

Ernte Nun setzen sich beide wieder auf die Stühle wie zu Beginn der Sitzung. Berater: »Wenn Sie jetzt das, was dort entstanden ist [weist auf das am Boden liegende Blatt] und was Sie dort gesagt haben, in Verbindung setzen zu all dem, was wir vorher besprochen haben, was kommt Ihnen in den Sinn?« (Einleitung der Ernte). Hortense denkt nur kurz nach: »Die Ganzheit, das Umfassende.« Berater: »Was noch? Ich werde zuerst einmal alles auflisten.« In dieser Phase des Gesprächs nimmt der Berater alle Einfälle ohne Kommentar entgegen und schreibt sie wortwörtlich auf.

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Die Architektur der Beratungssitzung

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Allfällige Begründungen oder Kommentare der Klientin hingegen werden auf später verschoben. Hortense: »Die Spirale.« Berater: »Was noch?« Es folgen recht rasch weitere Assoziationen: »Das Ei, das da drin pulsiert. – Das Nach-innen-Gehen. – Dass es aber irgendwo auch darüber hinaus geht; in den Raum. – Diese drei Linien behelligen sich gegenseitig nicht. – Das Organische. – Ein gewisser Schwung. – Der Rhythmus. – Es ist ›rund‹.« An dieser Stelle einigen sich beide, hier vorläufig »einen Punkt zu setzen«. Die Klientin wird nun aufgefordert, einen oder zwei Aspekte, die sie im Augenblick am meisten interessieren, aus der Liste auszuwählen. Um dies tun zu können, lässt sie sich die notierten Einfälle nochmals langsam vorlesen. Sie wählt »nach innen gehen« und »darüber hinaus« und möchte bei der weiteren Bearbeitung mit dem »nach innen gehen« beginnen. Berater: »Wenn dieses ›nach innen gehen‹ tatsächlich einen wirklichen Bezug darstellt, was könnte das heißen?« Hortense: »Ich habe begonnen zu meditieren. – Es ist eine Neigung, die ich habe. Es geht ein wenig auf Kosten von … [stockt]. Nein, eigentlich geht das auf keine Kosten.« Berater: »Was heißt das konkret?« Hortense: »Mir diese Zeit wirklich zu geben.« Berater: »Noch etwas?« Hortense: »Ich könnte vielleicht andere anleiten, auch nach innen zu gehen.« Zum Aspekt »darüber hinaus« meint die Klientin, dass es wichtig sei, nicht einfach in sich zu versinken. Gerade das Anleiten zur Meditation wäre ein Mittel dagegen. – Das »darüber hinaus« mache ihr Mühe, sei angstbeladen. Sie fühle sich unsicher dabei. – Die Zeit reicht nun endgültig nicht mehr, hier konkreter fortzufahren. Der Berater kommt zum Abschluss dieser ersten Sitzung. Er erwähnt nochmals die Rahmenbedingungen eines Coachings (Repetition aus dem E-Mail-Verkehr) und gibt Hortense, ihrem geäußerten Wunsch gemäß, seinen vorläufigen Eindruck über ihre Situation: Hortense vermittelt ihm den Eindruck einer Frau, die sehr viel unternommen hat. Sie wirkt sehr differenziert; scheint beruflich äußerst erfolgreich zu sein. Ihre Fragestellung ist für ihn sehr gut nachvollziehbar. Aus seiner Sicht geht es um so etwas wie »das geglückte Leben«.

Nachhaltiges Weiterführen Da die Arbeit an der Dezentrierung nicht wirklich beendet ist, gibt der Berater Hortense »eine Anregung« mit. Sie soll für die nächste Sitzung auf einem Tonträger »etwas mitbringen, wo das ›nach innen gehen‹ und das ›darüber hinaus‹ miteinander ins Gespräch kommen«. – Hortense bringt drei Wochen später auf einer Diskette eine Folge von Improvisationen, die sie auf ihrem Musikinstrument komponiert hat und »an denen sie lange gearbeitet habe«. Sie hat beide Themen für sich allein auf dem Instrument erarbeitet und sie dann in einem dreiteiligen Durchgang »miteinander ins Gespräch« gebracht und dabei verschiedene Überraschungen erlebt. Berater und Klientin bearbeiten das mitgebrachte Werk erneut mit ästhetischer Analyse und Fragen zur Ernte. Die Metapher von »nach innen gehen« und »darüber hinaus« begleitet auch die dritte Sitzung, an der das Coaching mit einem vorläufigen, guten Ergebnis abgeschlossen werden kann. »Der Druck ist weg« von der Ausgangsfrage. Hortense wird einige Abklärung machen und hat bereits »erste Fäden aufgenommen«. Es ist ihr auch bewusst geworden, dass die Berufswelt nur ein verhältnismäßig kleiner Teil ih-

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res Lebens ist. »Ich werde mit meinem Eigenen hinaustreten. … Aber ich werde mich auch anregen lassen – und ruhige Momente haben.« – »Es hat alles seinen Rhythmus. Es hat alles seine Zeit.«

4.2. Auftragsklärung Schwierige Beratungen scheitern nicht allzu selten daran, dass zu Beginn der Gespräche der Auftrag – oder, wie es manchmal genannt wird, der Arbeitskontrakt – nicht genügend sorgfältig geklärt worden ist. Es handelt sich dabei um einen allgemeinen beraterischen Aspekt, der auch in unserem Vor­gehen seine Wichtigkeit hat. Unterschiedliches Vorgehen Irgendwann in der ersten Sitzung mit einem Klienten muss das weitere Vorgehen besprochen und vereinbart werden. Oft sind gewisse Aspekte einer möglichen Vereinbarung schon beim telefonischen Vorkontakt besprochen worden. In diesem Fall kann und soll der Berater auf dieses Gespräch Bezug nehmen. Was innerhalb der ersten Sitzung als ein günstiger Zeitpunkt für die Auftragsklärung gilt, dürfte individuell verschieden sein. Es gibt Berater, die gern in media res gehen und erst gegen Ende der ersten Sitzung auf die mögliche Weiterarbeit und deren Art und Weise zu sprechen kommen. Andere sprechen zuerst etwas ausführlicher über die bei ihnen praktizierte Arbeitsweise und klären vielleicht zusätzlich den Überweisungskontext. Dritte schließlich gestalten die ganze erste Sitzung als Abklärungssitzung, versuchen eine detaillierte Diagnose zu erstellen, um darauf aufbauend einen möglichen Arbeitskontrakt skizzieren zu können. Der in diesem Buch vorgestellte Arbeitsansatz ist in starkem Maß prozessorientiert, das heißt, die professionelle Person lässt sich durch das leiten, was passiert. So wird sie ihr Vorgehen bezüglich der Auftragsklärung der jeweiligen Situation anpassen und vielleicht auch dazu tendieren, schon in der ersten Sitzung ein Stück Problembearbeitung zu machen. Dies gibt beiden Seiten die Möglichkeit abzutasten, ob eine erfolgversprechende Zusammenarbeit erwartet werden kann oder nicht. In der Supervision und im Coaching von Einzelklienten hat sich in unserer Praxis der folgende Ablauf bewährt: Zu Beginn der ersten Sitzung wird der Überweisungskontext abgeklärt. Nach zwei oder drei Sätzen über die eigene Arbeitsweise versucht der Berater in groben Zügen die Situation des

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Klienten und seine spezifischen Anliegen zu erfassen. Wenn immer möglich beginnt er dann, das Einverständnis des Klienten vorausgesetzt, einen pro­ blematischen (Teil-)Aspekt zu bearbeiten. Ein derartiger Ablauf verschafft dem Klienten einen konkreten Einblick in die Arbeitsweise des Beraters. Im positiven Fall resultiert daraus zusätzlich ein kleines oder auch größeres Erfolgserlebnis, was die Weiterarbeit beflügelt. Erst gegen Ende der ersten Sitzung stellen wir dann unsere Arbeitsweise etwas ausführlicher vor, sprechen über die Rahmenbedingungen (Honorar, Länge und Häufigkeit der Sitzungen, vorläufige Dauer der Zusammenarbeit) und konkretisieren mit dem Klienten zusammen den Inhalt eines möglichen Auftrags. In seltenen Fällen begründet der Berater zu diesem Zeitpunkt, weshalb er nicht bereit ist, einen Auftrag anzunehmen, und hilft bei einer gewünschten Überweisung an Dritte. In der Regel erhält der Klient Bedenkzeit, ob er sich zu den besprochenen Bedingungen auf einen Arbeitskontrakt einlassen will oder nicht. Bei offensichtlichem gegenseitigen Einverständnis wird der Auftrag nochmals mündlich formuliert und bereits ein nächstes Gesprächsdatum fixiert. Bezahlt eine Institution die Beratung, werden die vereinbarten Punkte zusätzlich schriftlich festgehalten. In der schriftlich fixierten Auftragsbestätigung sollte auch etwas über eine allfällige Auskunftspflicht stehen. Das skizzierte Vorgehen eignet sich für Institutionen und die freie Praxis, wo sich Klienten freiwillig für eher kürzere Beratungs- und Therapiesequenzen melden. Die Tradition bei den in der Regel länger dauernden Therapien im klinischen Setting oder mit Kassenpatienten ist jedoch etwas anders. Hier müssen in der Regel als Erstes diejenigen Abklärungsschritte vorgenommen werden, die zur Diagnose führen, welche die Therapie rechtfertigt. Pflichtklienten Bei Pflichtklienten stellt sich die Situation nochmals anders dar. Hier steht eine Instanz im Hintergrund, die eine Beratung, ein Coaching, eine Supervision oder eine Therapie angeordnet oder zumindest dringend empfohlen hat. Das hat meistens zur Folge, dass die beratende Person für den Klienten zumindest anfänglich als verlängerter Arm der Institution erscheint und deshalb vor allem in ihrer kontrollierenden Funktion wahrgenommen wird. Dass ein Berater direkt oder indirekt Kontrolle ausübt, mag in gewissen Situationen sinnvoll sein. So kann er zum Beispiel verpflichtet sein, der überweisenden Instanz unentschuldigte Abwesenheiten des Klienten zu melden. Die Frage der Motivation stellt bei Pflichtklienten oft eine weitere Schwierigkeit dar. Jeder professionell begleitete Veränderungsprozess verlangt vom Klienten ein spezielles Engagement. Das ist beim hier vorgestellten Ansatz

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nicht anders. Bei angeordneten Gesprächen muss die Ausgangslage auf jeden Fall im Erstkontakt geklärt werden. In unserer Praxis hat es sich bewährt, dies sofort nach der Anwärm- oder Einstimmungsphase (manchmal auch gesellschaftliche Phase genannt) zu tun. Wir orientieren den Klienten in kurzen Zügen über das, was wir aus vorangegangenen Kontakten, aus Telefongesprächen oder aus den Akten wissen, und versuchen dann, zu einem Arbeitsbündnis zu kommen. Von diesem Ablauf weichen wir dann ab, wenn sich der Klient in einer akuten Krise befindet oder sonstwie besondere Umstände vorliegen. Es sind drei Aspekte, die uns in der Anfangsphase bei Pflichtklienten wichtig sind. Erstens geht es darum, eine angemessene Transparenz zu schaffen. Wir möchten unter allen Umständen vermeiden, zu »Geheimnisträgern« von wichtigen Fakten zu werden, da uns dies im weiteren Verlauf der Arbeit ungebührlich einschränken könnte. Zweitens möchten wir die verhandelbaren und die nicht verhandelbaren Aspekte der gemeinsamen Arbeit gleich zu Beginn klären. Und schließlich erscheint es uns hilfreich, wenn in solchen Situationen bereits beim ersten Kontakt die Konturen eines Arbeitsbündnisses sichtbar werden, in dem der Entscheidungsspielraum des Klienten und der Bereich der absoluten Diskretion wichtige Teile sind. Dies auch dann, wenn der Berater verpflichtet ist, die überweisende Instanz regelmäßig zu orientieren (siehe dazu auch Kähler, 1991). Kinder und Jugendliche Um eine spezielle Form von angeordneten Gesprächen handelt es sich, wenn die Klienten Kinder oder Jugendliche sind. Kinder suchen eine Beratung oder Therapie fast nie, Jugendliche nur selten aus eigenem Antrieb auf. Es sind entweder Eltern, Lehrer oder Institutionen, die eine solche initiieren oder anordnen. Je nach Ausgangslage stellt sich die Situation im Erstgespräch unterschiedlich dar. In jedem Fall scheint es uns unabdingbar, dass die Zusammenarbeit mit den Eltern respektive dem verantwortlichen Elternteil zur Sprache kommt. Im Übrigen sei auf die zahlreiche Fachliteratur verwiesen (z. B. Steiner und Berg, 2005). Drittaufträge Die Situation bei Drittaufträgen (der Coachingauftrag des Chefs, der Supervisionsauftrag der Institution) stellt sich nochmals anders dar. In der Regel dürfte es so sein, dass die Institution respektive die Firma die Beratung bezahlt. Ist diese angeordnet worden, so ist mit dem Auftraggeber zu klären,

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welche Bedeutung die Beratung für die Institution hat und was für Rück­ meldungen erwartet werden. Mit dem Klienten hingegen ist zu besprechen, ob er willens ist und sich in der Lage fühlt, die Konstellation selbstkritisch zu besprechen, und was er persönlich aus den Gesprächen zu gewinnen hofft. In der Regel wird in solchen Situationen der Auftrag schriftlich festgehalten. Weniger schwierig ist es, wenn der Klient vorwiegend aus eigenem Interesse kommt und Selbstzahler ist oder wenn es sich bei der Inanspruchnahme von Coaching oder Supervision um ein verbrieftes Recht oder ein Gewohnheitsrecht des Arbeitnehmers handelt. Jedenfalls muss in allen derartigen Dreieckssituationen der Auftrag besonders sorgfältig abgeklärt werden. Versteckte Aufträge Bei Drittaufträgen, aber auch ganz allgemein bei der Arbeit mit Teams, werden Berater nicht selten mit versteckten Aufträgen konfrontiert, die gelegentlich selbst dem Auftraggeber oder den betreffenden Teammitgliedern nicht voll bewusst sind. Zu denken ist zum Beispiel an Folgendes: Das Coaching soll den Beweis erbringen, dass der Coachee für die betreffenden Position geeignet – oder umgekehrt: nicht geeignet ist. Die Teamsupervision soll sichtbar machen, dass der Teamleiter in seiner Arbeit überfordert ist. In den Fallbesprechungen mit dem Team sollen die persönlichen Beziehungen zwischen den Teammitgliedern ausgespart bleiben, damit die Animosität oder vielleicht auch ein Liebesverhältnis zwischen zwei Teammitgliedern nicht zur Sprache kommt. Manchmal sind es auch Persönlichkeitsanteile prominenter Teammitglieder, die so etwas wie versteckte Aufträge erteilen. Zum Beispiel »möchte« das große Harmoniebedürfnis der dienstältesten Person, dass in der Beratung alles getan wird, damit die Harmonie gestärkt wird. Es ist immer sinnvoll, das eventuelle Vorhandensein geheimer Aufträge im Auge zu behalten, um gegebenenfalls die Möglichkeit zu haben, darauf zu sprechen zu kommen. Selbstüberprüfung Mit sich selbst oder auch im offenen Gespräch mit den Beteiligten muss der Berater klären, welche Aufträge er annehmen will und kann, welche er klar zurückweist und welche er in einer etwas umformulierten Weise übernimmt. Unserer Erfahrung nach ist unter allen Umständen zu vermeiden, dass der Berater Aufträge übernimmt, die ihn zum Geheimnisträger machen. Träger eines Geheimnisses zu sein ist meist belastend. Kritischer jedoch ist der Umstand, dass der Berater dadurch in seinem Handlungsspielraum einge-

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schränkt wird. Dies kann so weit gehen, dass wichtige Interventionen unmöglich werden und die Beratung scheitert. Grundsätzlich geht es bei der Klärung des Auftrags nicht nur darum, möglichst sorgfältig herauszufinden, was der Klient vom Berater erwartet. Es geht auch darum, dass die professionelle Person die Bedingungen, unter denen sie bzw. ihre Institution arbeitet, in angemessener Weise deutlich macht. Zeigen sich dabei größere Diskrepanzen zu den Erwartungen der Klienten, zwingt dies zu einem Aushandeln der Bedingungen, unter denen weitergearbeitet werden kann. Ziel ist es, zu einem der Situation angemessenen, mehr oder weniger detaillierten Arbeitskontrakt zu kommen. Dieser kann schriftlich, jedoch oft auch nur mündlich vereinbart werden. Der Kontrakt bestimmt den strukturellen Rahmen der Weiterarbeit und macht gleichzeitig auf eine gute Weise die fachliche Autorität des Beraters erfahrbar. Auf einer ganz anderen Ebene sei zum Schluss noch auf einen Satz von de Shazer verwiesen, der uns in der privaten Praxis auch in der Phase der Auftragsklärung leitet: »Beginne jede Sitzung so, dass sie die letzte sein könnte.« Mit diesem Slogan fordert de Shazer Beraterinnen und Berater auf, schon in der allerersten Sitzung an den Abschluss der Beratungs- oder Therapiephase zu denken und es gegebenenfalls mit einer Sitzung bewenden zu lassen, wenn das Ergebnis »gut genug« ist. Es ist klar, dass es institutionelle und andere Gründe gibt, die den ordentlichen Abschluss einer Beratung, zum Beispiel bereits nach der allerersten Sitzung, verunmöglichen. Trotzdem scheint uns die Grundhaltung, die hinter diesem Satz steckt, sehr bedenkenswert zu sein.

4.3. Die Sorge und die Ressourcen Die im Alltagskontext vom Klienten erlebte Notenge, also die Situation des eingeschränkten Handlungs- und Denkspielraums, wird im außerordentlichen Kontext der Beratungssitzung in der Regel als Problem präsentiert. Wir bevorzugen den Ausdruck Sorge. In diesem Wort aus der Alltagssprache steckt sowohl das Problematische (der Kummer, die Angst, die quälenden Gedanken) als auch das Anliegen, das heißt die Seite der Hoffnung (im Sinne von Sorge tragen wollen, sich um Abhilfe bemühen). Um das Letztere zu stärken, ist es wichtig, schon in der allerersten Gesprächsphase, in der die Problematik und damit die Sorge im Mittelpunkt stehen dürften, auch auf die Ressourcen einzugehen. Es geht uns also zu Beginn des Erstgesprächs nicht so sehr um Problemklärung, sondern um Situationsklärung, um die Erfassung des Status hinsichtlich der Sorgen und Probleme und der Ressourcen und Stärken. Die Sorge nimmt am Anfang einer Beratungssequenz einen wichtigen Platz ein. Menschen suchen Beratung, weil sie unzufrieden sind oder mit et-

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Die Sorge und die Ressourcen

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was nicht mehr zurechtkommen. Etwas soll anders werden. Nicht selten betrifft dieses »Etwas« einen bestimmten Lebensumstand oder die Beziehung zu einem nahestehenden Menschen oder einer wichtigen Person des beruf­ lichen Umfelds. Manchmal geht es auch um Aspekte der eigenen Persönlichkeit respektive des eigenen Verhaltens, die als fremd, lästig oder hinderlich empfunden werden. Gelegentlich bezieht sich das Beratungsanliegen auf etwas Zukünftiges. Diese Menschen stehen vor einer Herausforderung, denen sie sich allein nicht gewachsen fühlen, oder es geht um eine drohende Gefahr, die abgewendet werden soll. Oft stehen im Erstgespräch Leid, Sorgen und Schmerzen dermaßen im Vordergrund, dass der Blick auf das, was positiv ist und erfolgreich verläuft, vollkommen verstellt ist. Die Tatsache allerdings, dass dieser Mensch vor dem Berater sitzt, bezeugt klar, dass irgendwo Hoffnung da ist, dass »es« sich ändern kann und ändern wird. Wertschätzende Anteilnahme und Problemtrance Es wird keinem mitfühlenden Berater unserer Kultur einfallen, eine vorgetragene Sorge nicht ernst zu nehmen, vielleicht abgesehen von den wenigen Situationen, wo Klagen massiv übertrieben oder unglaubwürdig anmuten. Die Gefahr besteht allerdings – und sie ist bei wenig erfahrenen Beratungspersonen besonders groß –, dass Klient und Berater gemeinsam sozusagen im Elend ertrinken. Durch einfühlende Fragen werden dann alle möglichen Aspekte der Problematik ausgelotet. Bei einer Problematik aus dem Arbeitsbereich zum Beispiel werden Bezüge zu Erziehungsschwierigkeiten, zu Ungereimtheiten in der Paarbeziehung, zur allgemeinen Genussfähigkeit etc. hergestellt. Möglicherweise werden zusätzlich Zusammenhänge zu Erfahrungen im Jugendalter oder in der Kindheit gesucht und meistens auch gefunden etc. Wenn so vorgegangen wird, mag es durchaus vorkommen, dass der Klient eine schwerere Sorgenbürde aus dem Beratungsraum hinausträgt, als er mitgebracht hat. Das Gespräch hat ihm aufgezeigt, dass das Problem, mit dem er bisher gelebt hat, viel grundsätzlicher und tief greifender ist, als er glaubte. Wir sprechen in solchen Situationen davon, dass Berater und Klient in eine Problemtrance geraten sind; ein Begriff, den wir den hypnotherapeutischen Ansätzen entlehnt haben (z. B. Dolan, 1985). Das Problem am Problem In der Gesprächsphase der Situationserfassung gilt es, in einer wertschätzenden Art die Problematik zur Kenntnis zu nehmen, ohne in eine Problem-

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trance zu fallen. Es geht um eine Bestandsaufnahme. Im gemeinsamen Gespräch versucht der Berater, dem auf die Spur zu kommen, was den Klienten bewegt und beunruhigt, was ihm Sorgen und Angst bereitet. Relevant dabei ist die Bewertung des problematischen Zustandes durch den Klienten. Dieser Satz muss speziell hervorgehoben werden. Fast ebenso groß wie die Gefahr der Problemtrance ist nämlich die Gefahr, dass Aspekte der Problematik nicht ernst genommen oder – seltener und weniger beeinträchtigend – überbetont werden. Weil viele Klienten in vergleichbaren Situationen das oder jenes als besonders problematisch empfunden haben, wird übersehen, dass es für diesen einen speziellen Klienten anders ist. Besonders naheliegend ist eine solche Verkennung der Situation, wenn man als Berater einmal selbst in einer vergleichbaren Situation gesteckt hat. Darum gehört ins Repertoire jedes Beraters eine Frage wie: »Was an dieser schwierigen Situation ist nun für Sie besonders problematisch?« Es ist wichtig herauszufinden, was im Speziellen für diesen einen Menschen an der insgesamt schwierigen Situation problematisch ist. Das, was ­später als positive Veränderung erlebt wird, dürfte vor allem an diesem Aspekt gemessen werden. Konkrete Beschreibungen Grundsätzlich geht es darum, zu einer möglichst konkreten Problembeschreibung zu kommen. Berater begegnen oft Klienten, die sich mit einer mehr oder weniger pauschalen Benennung des Problems begnügen. Sie hören Sätze wie: »Ich traue mir einfach zu wenig zu.« »Ich bin eben depressiv.« »Ich bin in einer Sackgasse.« »Ich weiß nicht mehr weiter.« Solche Aussagen sind in irgendeiner Form Abstraktionen und Verallgemeinerungen, die konkretisiert werden müssen, wenn man später auch kleine Veränderungen in eine positive Richtung oder Ausnahmen erfassen will. Es bewährt sich dabei, nicht nur Gefühlszustände und Befindlichkeiten, sondern auch Verhaltensweisen zu erfragen: »Was ist konkret passiert?« »Was ging in Ihnen vor?« »Wie ging es weiter?« »Was haben Sie in dieser Situation getan?« »Wie muss ich mir das im Detail vorstellen?« Paraphrasieren Eine Problembeschreibung ist kaum je in einem einzigen Satz zu bewerkstelligen. Anfänger geben sich oft zu früh zufrieden. Entweder übernehmen sie zu rasch und unbesehen die Darstellung des Klienten oder versuchen, umgekehrt, diesen von der eigenen, abweichenden Sichtweise zu überzeugen. Er-

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wünscht ist ein wertschätzendes, erkundendes Nachfragen. Gesucht ist eine möglichst konkrete Beschreibung der problematischen Situation. Um diese zu erhalten, ist das so genannte Paraphrasieren sehr nützlich. Dabei fasst der Berater von Zeit zu Zeit das Gehörte in eigenen Worten zusammen. Es bewährt sich, diese Zusammenfassung in eine Frage einzubetten: »Verstehe ich richtig, Sie betonen, dass …?« »Ich möchte gern, das, was ich bis jetzt verstanden habe, in meinen eigenen Worten zusammenfassen: Für Sie ist … Ist das richtig so?« Die Frageform erleichtert es dem Klienten, im Anschluss an die Zusammenfassung Korrekturen anzubringen, wobei es keine Rolle spielt, ob der Berater etwas nicht ganz richtig verstanden hat oder ob dem Klienten nachträglich ein weiterer wichtiger Aspekt in den Sinn gekommen ist. Am Schluss der Phase der Situationserfassung mag es sinnvoll sein, das Wesentliche der Problematik nochmals im Sinne einer Bilanz zusammenzufassen. Hier und da fordern wir Klienten auf, der Problematik eine (vorläufige)  Überschrift zu geben. Noch bessere Erfahrungen machen wir, wenn wir statt des Problems spontanen Lösungen (Ausnahmen) Titel oder Überschriften geben; diese können im späteren Verlauf der Beratung gewissermaßen als Schlüsselwörter wieder benützt werden. Die Kehrseite: problemfreie Zeiten und Situationen In unserem Arbeitsansatz ist es von großer Bedeutung, gleichzeitig auch problemfreie Zeiten zu erfragen oder Situationen, wo sich die Last der Problematik weniger stark bemerkbar macht. Es geht um das Erfassen –– dessen, was trotz allen Schwierigkeiten in der betreffenden Situation immer noch möglich geblieben ist; –– von Lebensbezirken, die von der Problematik bis jetzt nicht beeinträchtigt worden sind; –– von Eigenschaften der Persönlichkeit, die sich nicht unterkriegen lassen, die nicht aufgeben, das heißt von dem, was man als Resilienz bezeichnet. Es ist auffällig, wie wenig Aussagen sich in der Fachliteratur zu diesen Aspekten finden. Auch ist die Resilienz, das heißt die psychische und phy­ sische Stärke, Lebenskrisen und andere schwere Belastungen ohne langfristige Beeinträchtigungen zu überstehen, bis heute nur wenig erforscht worden. Über Risikofaktoren und Vulnerabilität (der Gegenbegriff zu Resilienz) wissen wir dagegen umso mehr. Dieser Wissensmangel zeigt sich auch bei unseren Klienten. Sie sind sich kaum bewusst, wie ihre Widerstandsfähigkeit geartet ist und welche Formen von Bewältigung bestimmter Situationen (in der Fachliteratur unter Coping beschrieben) sich bei ihnen als

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besonders erfolgreich erweisen. Sie sind deshalb selten in der Lage, diese Stärken gezielt einzusetzen. Umso wichtiger ist es, dass der Berater durch seine Fragen und Bemerkungen ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken weiß. Die Fragen, die solches zu erkunden versuchen, können direkt gestellt werden. Hilfreich ist es, wenn sie sich quasi spontan aus der Berichterstattung des Klienten ergeben. Nicht selten können Leerstellen im Gesprächsinhalt Anlass zu einer solchen Frage geben. Immer wieder wird spontan von Aus­ nahmen vom Problemzustand berichtet, ohne dass diese als solche wahrgenommen werden: So berichtet A. über mangelnde Durchsetzungsfähigkeit bei der Arbeit und bringt dies mit Situationen in der Herkunftsfamilie in Zusammenhang, die er detailliert schildert. Auffallend ist, dass er seine jetzige Familie in keiner Weise erwähnt. Die entsprechende Frage zeigt, dass er sich hier ohne irgendwelche Schwierigkeiten durchsetzen kann. B. beklagt sich darüber, dass er berufliche Erfolge kaum genießen kann, und erzählt wenig später über eine Ehrung seiner Verdienste in einem lokalen Verein, die er in vollen Zügen genossen hat.

Wichtig ist, dass der Berater überhaupt auf solche Zusammenhänge aufmerksam wird. Neben direkten Fragen haben sich hier metaphorische Umschreibungen als nützlich erwiesen. H. bezeichnet zum Beispiel eine sehr problematische Arbeitssituation spontan als »Kriegsgebiet«, was für ihn verbunden ist mit Gefühlen der Angst und der Tendenz wegzulaufen. »Gibt es in Ihrem Leben auch andere Gebiete?« H.  bejaht dies und nennt zwei andere schwierige Situationen »Krisengebiete«: »Hier muss man hingehen und helfen.«

Auch wenn in dieser Gesprächssequenz noch nicht von problemfreien Zonen die Rede ist, zeichnet sich durch die gemachte Unterscheidung schon in der Phase der Problembeschreibung eine mögliche Arbeitsrichtung ab. Es geht darum, aus einem »Kriegsgebiet« ein »Krisengebiet« zu machen. In der Arbeit mit H.  konnte dieser Weg denn auch erfolgreich beschritten werden. Ist ein Klient durch die Schilderung der Problematik gefühlsmäßig sehr stark betroffen, kann – nach einer einfühlsamen Kenntnisnahme dieser Betroffenheit – auch einmal argumentativ vorgegangen werden: »Wenn dich diese Situation so sehr betroffen macht, muss es ja in deinem Alltag auch Zeiten geben – Erfahrungen oder Vorstellungen –, wo das ganz anders ist. Wie sehen solche ›Inseln‹ aus?«

Spricht der Klient auf diese Wortwahl an, kann der Berater für eine Weile ganz auf der metaphorischen Ebene bleiben und sich solche »Inseln im Meer

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der Tränen« im Detail schildern lassen. Ist eine phantasievolle Ausgestaltung möglich, kann er sie sich in ihren Farben, Stimmungen, Gerüchen, mit ihren Blumen, Tieren etc. im Einzelnen beschreiben lassen. Diese Fragen sind inspiriert durch Frageformen von Michael White und David Epston (z. B. 1990), die die häufige Identifikation des Problemträgers mit seiner Problematik (»Ich bin ein depressiver Mensch«) durch Exter­ nalisierung des Problems aufzulösen versuchen, indem sie beispielsweise mit Hilfe der Metapher der Landnahme sich dafür interessieren, wie es dem Klienten gelang, Teile des »eigenen Heimatlandes« von der Überflutung durch die Problematik freizuhalten (siehe dazu auch die weiterführenden Publi­ kationen der letzten beiden Jahrzehnte von Dulwich Centre Publications, Adelaide, South Australia). Es ist offensichtlich, dass derartige Gesprächsteile – zwar vorerst nur metaphorisch, aber dennoch gefühlsmäßig sehr wirksam – die relative Begrenztheit sogar einer schweren Problematik deutlich machen können. Gleichzeitig dürfte dadurch die Sehnsucht geweckt werden, die anderen Seiten des Lebens vermehrt zu beachten und zu leben. Die im lösungsfokussierenden Beratungsansatz oft verwendete Wunderfrage (z. B. de Jong und Berg, 1998) zielt in eine gleiche Richtung. Der Klient wird quasi dazu verführt, sich hypothetisch einen Alltag ohne die zur Frage stehende Problematik vorzustellen. Dadurch werden Vorstellungen und Bedürfnisse sichtbar, die für diesen betreffenden Menschen zentral sind, die jedoch unter Umständen nichts oder nur wenig mit den genannten Problemen direkt zu tun haben. Ausnahmen Eine solche Vorgehensweise ist methodisch begründet. Zum Ersten können in den Aussagen zu solchen Fragen Lösungsansätze versteckt sein. Wir sprechen von »Ausnahmen« und räumen ihnen in unserem Arbeitsansatz einen wichtigen Platz ein. Zum Zweiten – und das ist vielleicht noch wichtiger – bringen diese Fragen eine Irritation in die Problemüberzeugungen des Klienten: Obwohl es ihm bisher oft nicht so erschienen ist, sieht er sich durch derartige Fragen veranlasst, sich an Situationen zu erinnern, in denen sich die Problematik nicht in ihrer ganzen Härte zeigte. Selbst wenn er persönlich durch die Problemsituation sehr verunsichert ist, zeigen seine Antworten, dass es die eine oder andere Situation gab und gibt, wo er kompetent, verantwortungsvoll und effektiv handelt. Derartige irritierende Fakten bereiten den Boden vor für die Bearbeitung von positiven Zukunftsvisionen sowie für die Lösungsfindung im Anschluss an die Aufarbeitung der Dezentrierungserfahrungen (siehe dazu die Abschnitte 4.4. und 4.8.).

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Unsere Praxis zeigt, dass die Irritation der bestehenden Problemüberzeugungen durch den Einsatz so genannter nonverbaler Mittel verstärkt werden kann. Schon allein das stichwortartige Aufschreiben der verschiedenen »Ausnahmen« auf je verschiedene kleine Blätter und das Verteilen dieser Zettel auf dem Tisch, auf dem Boden oder das Aufhängen an einer Wand erzeugt einen optischen Eindruck, der nachhaltig wirken kann. Verstärkt wird diese Wirkung, wenn für jede erinnerte Ausnahme ein Gegenstand gewählt wird (Tierfiguren, farbige Murmeln, Alltagsgegenstände etc.). Lässt man diese Figuren oder Gegenstände anschließend zu einer ästhetisch möglichst ansprechenden Installation zusammenstellen und entsteht dadurch ein kleines (Kunst-)Werk, ergibt dies nicht nur ein vorläufiges, sinnlich-ästhetisches Gesamtbild dessen, was »alles auch noch da ist« – es entsteht durch den Prozess und die Betrachtung des Ergebnisses nicht selten auch eine Sehnsucht nach diesen anderen Seiten des eigenen Lebens. Jede Art von geglückter künstlerischer Gestaltung ist verbunden mit einem Sehnen, das selbst dann konkret ist, wenn es nicht in Worte gefasst werden kann. Sich Gutes tun Eine andere Frage, die sich in unserem Beratungsalltag im Zusammenhang mit der Problembeschreibung bewährt, lautet: »Was tun Sie in solchen schwierigen Zeiten, das Ihnen gut tut?« Dabei ist es sinnvoll, sich nicht mit einer Nennung zu begnügen, sondern mit der Anschlussfrage »Was noch?« einige Male nachzuhaken. Die Antworten weisen auf Möglichkeiten hin, die in der Gesprächsphase der »Ernte« wieder aufgenommen werden können. Vor allem aber machen sie dem Problemträger bewusst, dass er selbst in schwierigen oder schwierigsten Situationen etwas unternehmen kann und tatsächlich ja auch unternimmt, das sinnvoll ist und ihm gut tut. Er ist nicht völlig blockiert. Seine Hände sind nicht total gebunden. Erstaunlich, wie leicht dieses Wissen einem Menschen in einer Problemsituation abhanden kommen kann! Die Problemsicht des Beraters Zu Beginn jedes Erstgesprächs steht die Problembeschreibung im Vordergrund, wie sie sich der Klient zurechtgelegt hat. Der Berater bemüht sich, die Situation aus der Perspektive des Klienten zu erfassen, wobei er schon zu diesem Zeitpunkt auf eine möglichst konkrete Beschreibung Wert legt und pauschalisierende Bemerkungen und Generalisierungen hinterfragt. Auch mit

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den Fragen zu problemfreien Zeiten und zur Resilienz wird deutlich, dass sich der Berater ein eigenes Bild der Problematik machen möchte, das nicht identisch sein muss mit der spontanen Situationsbeschreibung des Klienten. Das wird in den allermeisten Fällen ohne weiteres akzeptiert. In gewissen Situationen und vor allem in bestimmten Institutionen bringen Klienten jedoch Problemfokussierungen, Anliegen oder Fragestellungen ein, auf die sich der Berater nicht einengen lassen will. Der Klient dagegen ist überzeugt, dass seine Sicht der Dinge die einzig richtige ist und sich die Beratung deshalb darauf auszurichten hat. Zu denken ist zum Beispiel an Situationen in der Sozialarbeit, der Berufsberatung oder der Schulpsycho­ logie. Hier scheint es uns wichtig, dass der Berater auch seine eigenen Anliegen ernst nimmt und das weitere Vorgehen in einer fairen Art und Weise mit dem Klienten aushandelt. Den Klienten als Experten zu behandeln (siehe z. B. Abschnitt 8.3.) bedeutet nicht, die eigene Expertise über Bord zu werfen. Wenn ein sehr selbstunsicherer junger Mann, der schon verschiedentlich bei Bewerbungen am Vorstellungsgespräch gescheitert ist, vom Laufbahn­ berater eine gründliche Abklärung seiner Interessen wünscht, so ist dagegen nichts einzuwenden. Für den Berater wird hingegen ebenso wichtig sein, die Persönlichkeit dieses Mannes näher zu erfassen und zur Sprache zu bringen. Kommt es deswegen zu einer Uneinigkeit bezüglich des weiteren Vorgehens, muss darüber gesprochen werden. Der Berater muss bereit sein, seine fachlichen Überlegungen in einer nicht verletzenden Art zumindest teilweise offenzulegen, ohne sich einfach auf sein eigenes Expertentum zurückzuziehen. In einer ähnlichen Weise müssen die Überlegungen des Klienten ernst genommen werden. Zeitliche Beschränkung In einer ganz anderen Situation befindet sich ein Berater, wenn die Schilderung des Klienten von den verschiedenartigsten Problemen überquillt. Beansprucht die Problembeschreibung die ganze Zeit der ersten Sitzung, ist dies weder sinnvoll noch hilfreich. Es empfiehlt sich in solchen Situationen, nach einer Anfangsphase vom Klienten das Einverständnis einzuholen, die zur Verfügung stehende Zeit aufzuteilen. Grundsätzlich sollte selbst im allerersten Gespräch Zeit bleiben, einen Problembereich zu bearbeiten. In unserer Arbeit bewährt es sich, nach einer ersten rudimentären Sammlung aller anstehenden Probleme das individuell am meisten belastende inklusive problemfreie Zeiten und Resilienz näher anzuschauen. Dann ziehen wir vor, etwas zu bearbeiten, das schon in der ersten Sitzung erfolgversprechend angegangen werden kann und für den Klienten eine klare Erleichterung bringt. Wenn dies gelingt, unterstützt es die weitere Arbeit.

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

Für all das bisher Dargestellte gilt, dass die Problem- respektive Situationsbeschreibung als Ganzes im Erstgespräch nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen darf. Alle in der Beratung Tätigen wissen, dass sich ein Gespräch während einer ganzen Beratungssitzung allein um die Problematik drehen kann. Dies ist unter allen Umständen zu vermeiden. Wenn die Hälfte der zur Verfügung stehenden Zeit dafür in Anspruch genommen wird, scheint uns dies eine obere Grenze zu sein. Es wird deshalb immer wieder notwendig sein, einen Teil der Problembeschreibung auf eine spätere Sitzung zu verschieben. Dies hat in einer Weise zu geschehen, dass der Klient dabei nicht sein Gesicht verliert. Seine Sorge muss ernst genommen werden. Ebenso ernst wollen wir aber auch sein Anliegen nehmen, an der Situation etwas zu ändern. Das bedingt, dass wir schon in der ersten Sitzung auf gewünschte Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit eingehen und wenn möglich erste Schritte in diese Richtung unternehmen wollen. Unterschiedlicher Schwerpunkt Der Aufmerksamkeitsfokus in der Gesprächsphase, in der es inhaltlich um Sorgen und Ressourcen geht, ist verschieden. Je nach Situation und Person stehen einmal Verhaltensweisen, einmal Bedeutungen oder tief sitzende Überzeugungen und ein anderes Mal Gefühle und Befindlichkeiten im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die erfahrene Ausbilderin und Beraterin N. wünscht Supervision, weil sie in der von uns gepflegten Arbeitsweise, die sie in einem Workshop kennen gelernt hat, sattel­ fester werden möchte. In der ersten Sitzung berichtet sie von einer angeordneten Beratung einer älteren Pädagogin, die zwar sehr pflichtbewusst war, aber mit sehr eingefahrenen Ideen und Haltungen Anstoß bei der Behörde erregt hatte. Nachdem die angeordneten Beratungssitzungen in den Augen von N. mit nur mäßigem Erfolg aber zur Zufriedenheit der Behörde abgeschlossen waren, hat sich die Pädagogin kürzlich von sich aus zu weiteren Beratungen bei ihrer Supervisorin angemeldet. Frau N. möchte in der bevorstehenden zweiten Serie von Beratungs­sitzungen erfolgreicher sein. Die Fragen des Beraters bei der Erfassung der Problemsituation konzentrieren sich auf möglichst konkrete Beschreibungen der bisherigen Vorgehensweise und deren beobachtete oder später berichtete Wirkungen bei der Supervisandin. Dabei richtet er ein besonderes Augenmerk auf Vorkehrungen, die positive Wirkungen zeigten, selbst wenn diese nur klein waren. Da sich Frau N. bezüglich dieses Aspekts nur an wenig erinnert, weitet er die Frage aus. »Was hat sich allgemein in Ihrer Arbeit bisher bewährt, wenn es bei Klienten darum ging, professionelle Haltungen oder Arbeitsweisen, die ›in Fleisch und Blut‹ übergegangen waren, zu verändern?« Hier kann die Supervisandin einiges anführen und entdeckt, dass sie das eine oder andere auch in den kommenden Sitzungen mit dieser Pädagogin einsetzen könnte.

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Man kann sich grundsätzlich fragen, wieweit es sich in dieser Gesprächs­ sequenz tatsächlich um eine Problemsituation gehandelt hat. Der Berater hat sich bei Frau N. auf ihr Verhalten konzentriert. Hätte man nicht viel eher die Ansprüche, die N. an sich selbst stellt, ins Visier nehmen müssen? Bei der anschließenden Besprechung der Zielvisionen wurde dies getan. Dort erwies sich das Anspruchsniveau von Frau N. als durchaus angemessen. Ein späteres Gespräch zeigte, dass sich die Konzentration auf Verhaltensweisen bewährt hatte. Frau N. war in der Lage, ihren Handlungsspielraum in der Arbeit mit der Pädagogin zur erweitern, was positive Folgen zeitigte. Man konnte sich in der Situation von Frau N. also durchaus auf Verhaltensweisen beschränken, da weder spezielle Gefühle noch auffällige Überzeugungen der Super­ visandin im Spiel waren. Das Team einer sozialpädagogischen Einrichtung stand vor der Aufgabe Stellenprozente zu kürzen, mit anderen Worten, die Anstellung von Teammitgliedern zu reduzieren. Die obere Instanz hatte die Konkretisierung und Durchführung dieser Maßnahme »großzügig« dem Team selbst überlassen. Die Aufgabenstellung wurde belastet durch die familiäre Situation eines Teammitglieds und die Tatsache, dass ein weiteres Teammitglied sich in einer weiterführenden Ausbildung befand, wo spezielle Anforderungen an die begleitende berufliche Tätigkeit gestellt werden. Hinzu kam, dass alle Beteiligten unbedingt eine konsensuale und »saubere« Lösung an­ strebten. Obwohl bei der Problembeschreibung viele rationale Argumente angeführt wurden, zeigte sich rasch, dass die emotionale Betroffenheit bei den meisten Anwesenden groß war. Durch seine Fragen und seine Anteilnahme gab der Berater dieser Betroffenheit viel Raum. Günstig für das Finden einer einvernehmlichen Lösung erwies sich auch, dass in der Dezentrierungsphase eine künstlerische Ausdrucksform gewählt wurde, die das Zusammengehörigkeitsgefühl erlebbar machte.

Bei Fragen von Anstellungsprozenten von Teammitgliedern stehen zu Recht rationale Begründungen im Vordergrund. Die emotionale Ebene darf jedoch, vor allem wenn es um Kürzungen geht, nicht außer Acht gelassen werden. In diesem Fall hat es sich als günstig erwiesen, dieser emotionalen Seite genügend Raum zu lassen. Dabei war wichtig, dass nicht nur die negativen Gefühle zur Sprache kommen konnten, sondern dass auch die positive Emotionalität zwischen den Beteiligten fühlbar wurde. Im letzten Beispiel sind es Überzeugungen, die im Zentrum stehen: Andrea, von der in Abschnitt 3.5. die Rede war, möchte die beiden Seiten, die sie in einer der ersten Supervisionssitzungen entdeckt hat, nämlich das Klare/Strukturierte und das Spontane/Freie, näher ausloten, da sie oft beides in konkreten Beratungssituationen nicht auf einen Nenner bringen kann. Diese Ausgangslage legt den Fokus auf innere Bilder, auf Überzeugungen und Glaubenssätze. Um das Gespräch zu dieser Thematik anzureichern und wenn möglich zu weiteren Perspektiven zu kommen, schlägt der Supervisor ein Experiment

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vor: Andrea soll zu Hause in ihrer CD-Sammlung für jede der beiden Seiten ein passendes Musikstück auswählen. In der nächsten Stunde bringt die Supervisandin für das Klare/Strukturierte ein Stück mit vielen Blasinstrumenten, in dem das Rhythmische betont ist. Für das Spontane/Freie wählt sie eine Art von Meditationsmusik mit sehr melodiösen, fließenden Teilen. Auf diesem musikalischen Hintergrund entwickelt sich ein vielschichtiges, differenziertes Gespräch. Dabei erweist es sich als wichtig, dass der Supervisor seiner Supervisandin in der Wortwahl folgt. Die Begriffe, die er selbst für die beiden Seiten wählt, zum Beispiel das Geradlinige versus das Spielerische, werden wiederholt zurückgewiesen.

Es hat sich bewährt, Beratungssequenzen, in denen Überzeugungen im Zentrum stehen, nicht nur wertschätzend-offen, sondern auch vielschichtig-vage mit weitem Horizont zu führen. Metaphern oder künstlerische Ausdrucksformen eignen sich dazu sehr gut.

Abgrenzungen Das Gespräch über die Sorge ist ein zentraler Abschnitt unseres metho­ dischen Vorgehens. Wir versuchen die Sorgen und Nöte auf eine wertschätzende Art so konkret wie möglich zu erfassen und vor allem auch die Bedeutung herauszuschälen, die sie für den Klienten haben. Gleichzeitig versuchen wir mit einzelnen Fragen auch dessen erfolgreiche Anstrengungen, die Problematik in Schach zu halten sowie problemfreie Zeiten sichtbar zu machen. Es geht dabei nicht darum, diese Aspekte im Detail auszuleuchten. Schon gar nicht soll dem Klienten durch solche Fragen indirekt mitgeteilt werden, dass seine Problematik ja gar nicht so schwerwiegend sei. Doch ist es uns wichtig, bereits in diesem ersten Gesprächsabschnitt die »Kehrseite der Medaille« aufleuchten zu lassen und dadurch die oft sehr festgefahrenen Problemüber­ zeugungen etwas zu erschüttern. Aufgrund des geschilderten Umgangs mit der Problematik befinden wir uns zwischen den Positionen der klassischen Lösungsorientierung, die am liebsten überhaupt nicht auf die Problematik eingehen würde (z. B. de ­Shazer, 1989a), und der traditionellen Kunstorientierung, welche die problematische Situation mit allen ihren schmerzlichen und einengenden Aspekten meist sehr eingehend sowohl sprachlich wie künstlerisch zu erfassen versucht (z. B. E. Levine, 1995). Im Gegensatz zur klassischen Lösungsorientierung sind unsere Fragen nicht schwergewichtig auf das Verhalten des Klienten ausgerichtet. Die Bedeutungen, die der Klient seinen Erfahrungen zumisst, die Geschichten, die dahinter stehen, spielen eine ebenso große Rolle. Genauso wichtig sind die oft sehr negativen Gefühle, die mit den Problemen verbunden sind. Wir sind

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aber nicht der Ansicht, dass diesen Gefühlen grundsätzlich ein besonderer Stellenwert zukommen müsste. ✳ Zusammenfassend achten wir darauf, dass bei jeder Problembeschreibung sowohl die individuelle Bedeutung des Schwierigen als auch die gleichzeitig vorhandenen Fähigkeiten, Stärken und Ressourcen zur Sprache kommen. Letztere heben wir durch unsere Fragen und Bemerkungen hervor, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, deswegen die Problematik weniger ernst zu nehmen. Wir sparen sogar in dieser Phase des Gesprächs in der Regel nicht mit Komplimenten, selbst wenn sie vielleicht nur diskret oder indirekt geäußert werden, etwa unser Erstaunen darüber, was alles, trotz der unter Umständen massiven Einschränkungen durch die Problematik, noch möglich ist. Maßstab für die »Richtigkeit« der Beschreibung eines Problems ist immer die Art und Weise, wie der Klient das für ihn Problematische erlebt. Ein Argumentieren oder gar Korrigieren seitens des Beraters ist nicht am Platz. Hingegen ist es sinnvoll, sich einzelne Aspekte der Problematik so konkret wie möglich beschreiben zu lassen. Hilfreich ist eine interessierte Haltung des Nicht-Wissens, auf die schon hingewiesen wurde. Das Der-Sorge-auf-dieSpur-Kommen kann aber durchaus auch kritisches Hinterfragen seitens der beratenden Person beinhalten. Oft erscheint dann das Problem am Schluss des Gesprächsabschnitts in einem etwas anderen Licht. Die Bestandsaufnahme und nicht die möglichen Erklärungen über die Herkunft der Probleme und Schwierigkeiten sind bei der Erfassung der Sorge zentral. Je nach Situation und Person stehen dabei Verhaltensweisen, Gefühle oder Überzeugungen im Vordergrund. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Erklärungen zwar sehr interessant sein mögen, aber wenig zur Erfassung der Gesamtsituation und noch weniger zu Lösungen beitragen. Dies hat damit zu tun, dass in vielen Erklärungen vor allem kulturelle und soziale Komponenten versteckt sind. Der Soziale Konstruktionismus weist auf diese Tatsache hin und betont, dass in jeder Situation immer auch andere, ebenso plausible Erklärungen möglich sind. Im beraterischen Alltag nehmen wir Erklärungen zur Kenntnis, gehen jedoch meistens nicht weiter darauf ein. Wir fühlen uns in diesem Verhalten durch das psychiatrische Diagnosemanual DSM-IV (Saß et al., 1996) unterstützt, wonach es bei einer »Diagnose« um eine Bestandsaufnahme der Störung geht und nicht um eine ätiologische Aussage. Es ist sinnvoll, selbst in der allerersten Sitzung, die Phase der Problemund Situationserfassung zeitlich zu beschränken. Mehr als durch eine um­ fassende Bestandsaufnahme ist ein positiver Verlauf des ganzen Beratungsoder Therapieprozesses dann gewährleistet, wenn in der ersten Sitzung ein Aspekt des Anliegens konkret bearbeitet werden kann.

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4.4. Die Vision eines guten Ergebnisses Im vergangenen Jahrhundert ist die Psychotherapieszene in der westlichen Welt nachhaltig beeinflusst worden, und zwar erstens durch das Pionier­ verfahren moderner Psychotherapie, die Psychoanalyse, und zweitens durch das medizinische Denken. Für beide gilt das Grundverständnis, dass es nicht das Offensichtliche ist, worauf es ankommt. Das, was sich zeigt, wird als Symptom, das heißt als Anzeichen von oder Hinweis auf etwas Tieferliegendes verstanden. Wir sprechen von einer strukturalistischen Weltsicht. Im Gegensatz dazu legen wir hier unserem Vorgehen eine phänomenologische Weltsicht zugrunde. Wir bemühen uns, soweit wie möglich an der Oberfläche des Geschehens zu bleiben. Aus psychoanalytischer bzw. medizinischer Sicht ist es dieses Tiefer­ liegende, sind es die so genannten »wirklichen« Ursachen, die erfasst, verstanden und beseitigt werden müssen, wenn man eine psychische Pro­ blematik nachhaltig lösen will. Die von den Vertreterinnen dieser Richtung vorgeschlagenen Wege zur »Beseitigung« der Probleme sind unterschiedlich. Oft sind sie sehr zeitaufwändig. Das in unserer Publikation beschriebene Vorgehen zielt in eine andere Richtung. Nach der allgemeinen Beschreibung der Situation, in der die Problematik oder Sorge naturgemäß einen größeren Platz eingenommen hat als die Ressourcen, versucht die professionelle Person mit aller Sorgfalt zu ergründen, welche Vorstellungen bei der Klientin bezüglich einer problemfreien Zukunft bestehen. Dies erweist sich häufig als anspruchsvolles und schwieriges Unternehmen. Außer dem Umstand, dass das zuvor beschriebene Problem verschwunden sein wird, kommt der Klientin nicht selten auf Anhieb nichts Weiteres in den Sinn. Über die Beseitigung der Problematik hat sie schon stundenlang nachgedacht. Auch über die möglichen Ursachen, die ihr bis jetzt in den Sinn gekommen sind, wüsste sie viel zu berichten. Hingegen stutzt sie, wird nachdenklich und schweigsam, wenn sie Auskunft darüber geben soll, was sein wird, wenn die Problematik nicht mehr vorhanden ist. Menschen, die Rat suchen, sind oft nicht in der Lage zu benennen, in welche Richtung sie sich verändern wollen. Das Zukünftige liegt im Schatten der Problematik oder ängstigt. Imagination einer guten Zukunft Mit der Aufforderung, eine positive Zukunft zu beschreiben, öffnen wir einen imaginativen Raum. Das ist für viele Menschen ungewohnt und mag ihnen unter Umständen sogar zuwider sein. Manche Männer zum Beispiel halten wenig von derartigen »Träumereien« und »Phantasien«. Strenggläu-

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bige empfinden es als »ungehörig«, sich konkrete Gedanken über Zukünftiges zu machen. Für sie liegt die Zukunft allein in Gottes Hand. Andere Klientinnen sind es nicht gewohnt, sich konkret, ernsthaft und realistisch auf eine imaginierte Zukunft einzulassen. Dann mag es manchmal hilfreich sein, von der Alltagssprache weg zu gehen und stattdessen zu einer Metapher zu greifen (z. B. die Beschreibung der »Landschaften«, durch die der »zukünftige Weg« führen wird, und der »Begegnungen«, die auf diesem Weg passieren könnten), Klienten ein Symbol suchen zu lassen oder eine künstlerische Gestaltung zu wählen. Gegen Ende dieses Abschnitts wird ausführlicher auf diese Möglichkeiten eingegangen. Bewährt hat sich zudem, das Anliegen als Auftrag zur weiteren Konkre­ tisierung einer positiven Zukunft nach Hause mitzugeben. Ein Beispiel dafür ist die Aufgabe, sich auf dem Heimweg, auf einer Wanderung oder zu Hause etwas Gegenständliches »zufallen« zu lassen, das einen Aspekt der positiven Zukunft versinnbildlicht. In abgewandelter Form könnte die Aufforderung auch lauten, einen Lieblingsort aufzusuchen (den Berg mit der Aussicht, die einem besonders gefällt, einen bestimmten Platz am See oder – das eigene Bett) und sich dort die Vision einer guten Zukunft auszumalen. Bei Kindern wird man grundsätzlich solchen Formen der Zukunftsbeschreibung den Vorzug geben. de Shazer und Berg (z. B. de Jong und Berg, 1998) schlagen mit der Wunderfrage eine Art von virtuellem Experiment vor. Sie lautet in unserer eigenen Formulierung in etwa wie folgt: »Jetzt kommt eine etwas ungewöhnliche Frage: Stellen Sie sich einmal vor – Pause –, Sie würden den heutigen Tag so verbringen, wie Sie ihn immer verbringen: Sie gehen von der Arbeit heim, nehmen das Nachtessen ein … irgendwann gehen Sie zu Bett und irgendeinmal schlafen Sie ein. – Pause – Und in der Nacht, während Sie schlafen, geschieht ein Wunder. – Pause – und das Problem (das Sie hieher gebracht hat) ist gelöst. – Pause – Nun, weil dies in der Nacht passiert ist und Sie geschlafen haben, können Sie natürlich nicht wissen, dass ein Wunder passierte. Woran werden Sie am Morgen nach dem Aufwachen oder im Verlauf des Tages oder der Woche merken, dass tatsächlich ein Wunder passiert sein muss?«

Diese Frage, zu einem angemessenen Zeitpunkt und in angemessener Be­ tonung gestellt, entführt die Klientin in die Welt der Vision. Der Zeitraum für das Visionäre ist unmittelbar bevorstehend. Deshalb sind die durch die Frage provozierten Antworten in der Regel sehr konkret und plastisch. Die Antworten werden reichhaltiger, wenn gute Anschlussfragen gestellt werden in der Art von: »Woran hätten Sie es auch noch wissen können? Woran sonst noch? Wie wirkt sich dies aus? Was ändert sich dadurch? Wer wird es zuerst merken, dass bei Ihnen etwas passiert sein muss, ohne dass Sie es ihm oder ihr sagen? Woran wird er/sie es merken

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(wenn etwas nicht mehr da ist)? Was ist an dessen Stelle da? Was werden Sie stattdessen tun?« etc.

Ins Detail gehen Zukunftsbilder entfalten dann ihre Wirkung, wenn sie möglichst konkret sind und in einer sinnlichen Form beschrieben werden. Es sei dabei an die von der psychologischen Fachwelt wenig rezipierten, doch sehr zahlreichen Forschungsergebnisse zum Phänomen der Self-fulfilling-prophecy erinnert (Merton, 1995). Allgemein gilt: Je konkreter und detaillierter die zukünftige Situation beschrieben werden kann, je mehr die Beschreibung mit eigenen Verhaltensweisen, Gefühlen und Überlegungen verbunden ist, desto »wirklicher« wird sie für das Erleben des betreffenden Menschen. Und desto mehr wird sie zur positiven Anziehungskraft für alle Schritte, die in die ent­ sprechende Richtung führen. Es geht deshalb in dieser Phase des Beratungsgesprächs darum, in kurzer Zeit eine möglichst konkrete Beschreibung einer zukünftigen Situation zu erhalten, in der die Problematik entweder nicht mehr existent oder auf irgendeine Art und Weise unbedeutend geworden ist. Erstaunlicherweise zeigt die Erfahrung, dass das in der Beschreibung entstandene Zukunftsbild oft nur indirekt etwas mit der Problemstellung zu tun hat, die zur Bearbeitung ansteht. Sehr deutlich wird das oft bei Antworten auf die Wunderfrage, wie das folgende Beispiel illustriert: I. bearbeitet in einer größeren Organisation mit einem kleinen Team selbständig Projekte und ist auch verantwortlich dafür, dass diese innerhalb der Organisation zum Tragen kommen. Sie wünscht sich Coaching-Sitzungen, weil sie sich ihrer Meinung nach viel zu sehr nach den Interessen anderer ausrichtet und die trotz allem eintretenden und gar nicht so seltenen Erfolge ihrer Projekte nicht recht genießen kann. In ihrer Schilderung der Situation »nach dem Wunder« beschreibt sie eine Frau, die an besonders schönen Tagen nicht zur Arbeit geht (was I. wegen vieler Überzeit durchaus tun könnte), sondern draußen in der freien Natur ihren Körper und das Leben genießt. Sie fühlt sich dabei frei, rund, beweglich, voller Energie und ist im Umgang mit Menschen etwas lauter, frecher und für andere unberechenbarer, als sie sich bis jetzt gewohnt ist.

Die imaginierte Zukunftsvision von I. weist darauf hin, dass für diese Frau eine freie zeitliche Gestaltung ihrer Arbeit offenbar wichtig ist. In ihrer Beschreibung geht es weniger um Veränderung des Verhaltens und der Verhältnisse am Arbeitsplatz als um Lebensgestaltung ganz allgemein. Dazu wird deutlich, dass die Natur für I. eine sehr wichtige Ressource darstellt. Alle diese Aspekte erwiesen sich im späteren Verlauf tatsächlich als wichtig und nachhaltig. Die Gespräche in den nachfolgenden Coaching-Sitzungen drehten sich

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immer wieder um Fragen der persönlichen Lebensgestaltung. I. begann sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, die an sich befriedigende und interessante Arbeitsstelle aufzugeben und selbständig tätig zu sein, nicht zuletzt deshalb, weil sie so ihre Arbeitszeit sehr flexibel gestalten könnte. Auch die Natur wurde vermehrt und vor allem bewusster als Ressource genutzt.

Wenn sich Menschen auf das Imaginieren von guten Zukünften (Plural!) einlassen können, machen sie der Beraterin sichtbar, was für sie im Alltag und im Leben wichtig ist. Sie tun dies nicht in Form von gescheiten oder tiefsinnigen Gedanken, sondern ganz konkret, sinnlich-anschaulich und oft ohne dass ihnen in der vollen Tragweite bewusst ist, was sie imaginierend beschreiben. Die Beziehung des so in Worte gefassten Bedeutungsvollen zum anfänglich geäußerten Anliegen oder Problem ist oft nur eine indirekte. Diese häufig zu beobachtende Tatsache scheint uns bedeutungsvoll. Die Beraterin, die sich ausschließlich dem geäußerten Anliegen oder Problem widmet und auch die Formulierung eines guten Ergebnisses der Beratung ganz auf dieses Anliegen ausrichtet, handelt selbstverständlich vernünftig. Wenn sie dabei Erfolg hat, hat sie etwas Gutes getan. Doch Klientinnen sind mit solchen Ergebnissen oft nur bedingt zufrieden. Dieser Umstand führt Vertreterinnen anderer Beratungsmethoden dazu, die geäußerten Anliegen von Klientinnen systematisch zu hinterfragen. Sie versuchen zum Beispiel die zugrunde liegende Bedürfnissituation zu erfassen und setzen dazu spezielle Strategien oder auch Testverfahren ein. Der hier präsentierte Arbeitsansatz geht anders vor. Er behandelt die Klientin als Expertin für ihr eigenes Leben. Dabei läuft die Beraterin jedoch Gefahr, dass sie die Lebenssituation und auch die Zielvisionen ebenso eng zu sehen beginnt, wie die Klientin es selbst tut. Dieser Gefahr kann auf verschiedene Weise begegnet werden: Konkretisierende Fragen beispielsweise ermuntern die Klientin, genauer hinzuschauen. Ganz offene Fragestellungen oder auskundschaftende Experimente wie die Wunderfrage hingegen lassen Aspekte in den Vordergrund treten, die sonst nicht zur Sprache gekommen wären. Die drei oder vier Mal wiederholte »Was noch?-Frage« zum gleichen Themenkomplex zwingt und ermuntert, sich nicht zu schnell mit einer Antwort zufrieden zu geben. Zukunftsvisionen machen deutlich, was im Leben ansteht und was zur Lebensqualität der betreffenden Person dazugehört. Und das ist etwas, was – falls es berücksichtigt wird – viel zum Erfolg jeder Beratung beiträgt. Zudem geben Zukunftsvisionen oft Hinweise auf Ressourcen, auf die man sonst vielleicht nicht zu sprechen gekommen wäre.

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Unterschiedlicher Zeithorizont Grundsätzlich ist bei Fragen nach Zukünftigem zu beachten, dass der Zeit­ horizont, der für einen Menschen konkret vorstellbar ist, unterschiedlich groß sein kann. Eine Unterstufenschülerin kann sich im Sommer im besten Fall nächste Weihnachten konkret vorstellen. Eine depressive Frau gerade noch den nächsten Morgen oder die nächste Woche. Dagegen sind andere Klientinnen durchaus in der Lage, sich detaillierte und konkrete Vorstellungen zu machen von einer Situation in zwei oder drei Jahren oder der Zeit nach Ausbildungsabschluss oder der Zeit, »wenn die Kinder einmal aus­ geflogen sind«. Die Frage nach dem »guten Ergebnis« Einer Anregung von de Shazer (mündliche Mitteilung, 1997) folgend haben wir es uns zur Gewohnheit gemacht, jedes Mal eine Frage nach dem »guten Ergebnis« dieser einen, gerade ablaufenden Sitzung zu stellen. Diese Frage verkürzt die zeitliche Ausdehnung des erfragten Zukünftigen und verkleinert auch dessen inhaltliches Gewicht massiv. Die Frage kann deshalb von fast allen erwachsenen Klientinnen spontan oder mit einigem Nachdenken ohne weiteres beantwortet werden. »Woran werden Sie am Schluss dieser Sitzung merken, dass es sich für Sie gelohnt hat, hierher zu kommen?« Die Klientin, die erfährt, dass sie diese Frage in jeder Sitzung beantworten muss, beginnt sich in der Regel schon vor der Sitzung konkrete Gedanken über ihre Erwartungen zu machen und übt sich, diese in konkrete Worte zu fassen. Das ist eine Art von Training oder Sensibilisierung sowohl für die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und Erwartungen als auch für das, was in einer bestimmten Zeitspanne erreicht werden kann. Gleichzeitig erlebt die Klientin, dass sie, zwar unter Mithilfe der Beraterin, durchaus in der Lage ist, sich Ziele zu setzen und diese auch zu erreichen – selbst in Situationen, die für sie problematisch sind. Dies wiederum ist etwas, was sich die Wenigsten vor der Beratung zugetraut hätten. Die Frage nach positiven Zukunftsvisionen ist wichtig. Trotzdem stellen wir sie längst nicht in jeder Sitzung. Hingegen kommt die Frage nach einem guten Ergebnis der laufenden Sitzung fast jedes Mal vor. Wer regelmäßig mit dieser Frage arbeitet, wird zuerst einmal mit Erleichterung feststellen, dass das, was die meisten Klientinnen von einer Sitzung erwarten, durchaus nicht so überhöht ist, wie man manchmal meinen könnte. Nicht nur Anfängerinnen, auch erfahrene Beraterinnen lassen sich durch Notsituationen von Klienten immer wieder stark unter Druck setzen. Die Frage nach dem guten Ergebnis der Sitzung erleichtert die Situation in der Regel massiv. Sollten die

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Ansprüche einer Klientin doch einmal übertrieben sein, kann ein realistischeres gutes Ergebnis gemeinsam ausgehandelt werden. Zusätzlich gibt die Formulierung des guten Ergebnisses der Sitzung selbst eine bestimmte Ausrichtung. Alle Parteien wissen, woran gearbeitet werden soll, und am Schluss der Sitzung kann man zurückblicken auf das, was erreicht wurde. So gibt die Formulierung des guten Ergebnisses der Arbeit einen gewissen Drall in Richtung Ergebnis. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass sich die Beraterin zwanghaft an diese Vorgabe halten muss. Unser Vorgehen ist in erster Linie prozessorientiert, das heißt, wir lassen uns durch den Prozess leiten, auch wenn die anfängliche Formulierung des guten Ergebnisses im Raum bleibt. Es passiert des Öfteren, vor allem nach einer Dezentrierungsphase, dass etwas anderes erreicht wird, als anfänglich als Erwartung formuliert wurde. Das Erreichte ist dann meistens besser und umfassender als das ursprünglich Formulierte. Und nicht selten hat sich dabei das anfangs formulierte Anliegen von selbst erledigt; gelegentlich muss seine Bearbeitung jedoch auf eine nächste Sitzung verschoben werden. Sprachlich wohlgeformt Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, möglichst konkrete Beschreibungen dessen zu erhalten, was von der Beratungssitzung bzw. von einer guten Zukunft erwartet wird. Eine konkrete, sinnliche Beschreibung erleichtert nicht nur die spätere Überprüfung; sie macht Zukunftsvorstellungen für das seelische Erleben erst wirklich fassbar. Wir arbeiten deshalb ganz allgemein mit den Klientinnen und Klienten an der sprachlichen Wohlgeformtheit der Zukunftsformulierungen. Die Wohlgeformtheit zeigt sich darin, dass –– Zukünftiges so konkret wie möglich formuliert ist; –– Ziele in einer affirmativen, positiven Weise formuliert sind. Nur dann können sie ihre optimale Wirkung erzeugen. Negationen und Komparative (Steigerungsformen) sind umzuformulieren: »Ich möchte in solchen Situationen nicht mehr diese Angst erleben.« »Was möchten Sie denn anstelle der Angst erleben?« »Ich möchte mehr Mut (Komparativ) haben.« – »Wie sind Sie dann, wenn Sie ›mehr Mut‹ haben?«; –– Ziele so formuliert sind, dass sie im Kontroll- und Kompetenzbereich der Klientin liegen und mit Aktivität verbunden sind; –– zur Formulierung eines erwünschten zukünftigen Verhaltens oder Zustands immer auch Indikatoren und Messgrößen gehören, die es erlauben festzustellen, ob das Erwünschte eingetreten ist oder nicht: »Woran werden Sie merken, dass Sie X klar gegenübertreten?« – »Woran könnte ich

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

dies als außenstehende Beobachterin merken?« – »Was für einen Unterschied wird dies machen gegenüber Ihrem jetzigen Verhalten?« etc. Mit anderen Worten: Es geht um die Formulierung von positiven Zukunftsvorstellungen in einer detaillierten, differenzierten, reichen Sprache. Diese Sprache soll möglichst konkret und handfest sein. Sie verzichtet auf die im Deutschen so häufigen »großen« Substantive (z. B. mehr Selbstsicherheit, Konsequenz zeigen, die Freiheit genießen), auf plakative Ausdrücke und Allgemeinplätze. Das bereits sichtbare »Zipfelchen« einer guten Zukunft Die Chance, dass vorgängig formulierte Ziele und Vorstellungen über eine positive Zukunft erreicht werden, erhöht sich deutlich, wenn es gelingt, im Gespräch Situationen im Leben der Klientin zu finden, wo dieses Zukünftige schon ansatzweise vorhanden ist. Nicht nur bei der Erörterung der Pro­ blematik und des Beratungsanliegens, auch bei der Formulierung der Ziele und der Zukunftsvisionen legen wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit immer auf diesen Punkt. Das bedeutet, dass wir darauf achten, wo überall Stärken, Fähigkeiten und bereits Erreichtes sichtbar wird, und gleichzeitig bemüht sind, zusätzlich entsprechende Fragen zu stellen. Der lösungsfokussierende Beratungsansatz spricht in diesem Zusammenhang von den Fragen nach Ausnahmen. Andere Ausdrucksformen Es ist für viele Klientinnen schwierig, Zukunftsvisionen in Bezug auf die eigene Person zu formulieren. Dies gilt speziell dann, wenn erstrebte Haltungen, Einstellungen und Befindlichkeiten im Vordergrund stehen. Es kann deshalb sowohl erleichternd als auch präzisierend wirken, wenn die Klientinnen gebeten werden, das, was sie anstreben, in einer anderen Form auszudrücken: A. arbeitet erstmals in ihrem Leben in einem größeren Beratungsteam. Sie hat früher einmal ein eigenes Tanzstudio geleitet. A. hat Mühe, sich in der Teamsituation zurechtzufinden, auch wenn dies für Außenstehende nicht ohne weiteres sichtbar sein dürfte. Am schwierigsten sind für sie die Teamsitzungen. Die im Alltag lebhafte und aktive Frau wird hier still und stiller und merkt deutlich, wie sie sich körperlich verkrampft. Von der Beratung erwartet A. Impulse, damit sie im Team »wach werden kann«. Sie unterstreicht ihren Situationsbericht mit viel Gestik und Mimik. Der Berater stellt

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einige konkretisierende Fragen zum erstrebten »Wach-Sein« in kommenden Teamsitzungen und bittet A. dann, für ihn die Situation »sichtbar« zu machen. A. soll ihm zuerst in Haltung und Bewegung konkret vormachen, wie sie zurzeit in der Team­ sitzung drin sitzt. Dann soll sie ohne zu sprechen oder zu viel nachzudenken drei mögliche Haltungs- oder Bewegungsformen finden, die etwas von ihrer Zukunftsvision zum Ausdruck bringen. A. tut dies mit viel Konzentration und innerer Aufmerksamkeit.

In diesem Fall konnte der Berater die bevorzugte (körperliche) Ausdrucksform der Klientin nutzen und im weiteren Verlauf der Sitzung direkt, ohne eine eigentliche Dezentrierungsphase dazwischenzuschalten, an dieser Ausdrucksform weiter arbeiten, um den Weg zu möglichen Lösungen zu öffnen: A. erarbeitet die körperlichen und mentalen Bewegungs- und Haltungsvoraussetzungen für die gezeigten Varianten und überlegt sich, ob diese Formen des körperlichen Ausdrucks allenfalls mit ihrer Person etwas zu tun haben könnten. Am Schluss der Sitzung kommen Berater und Klientin überein, dass sie die gefundenen Körperhaltungen, soweit möglich und passend, in der nächsten Teamsitzung zeitweise einnehmen und dann beobachten wird, was passiert. Vier Wochen später berichtet A. von frappierenden Wirkungen dieses Experiments. Die probeweise eingenommenen anderen Körperhaltungen hatten zur Folge, dass sie sich deutlich mehr zu Wort meldete als in den bisherigen Sitzungen. Dies schien einige der Anwesenden, vor allem die Teamleiterin, zu irritieren, brachte ihr aber auch positive Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen ein. Die Auswirkungen in den folgenden Wochen sind ebenfalls bemerkenswert: Ihre Stellung zu den anderen Mitarbeitenden hat sich in verschiedener Weise geklärt, was A. als positiv empfindet. Am stärksten sind die Auswirkungen bei ihr selbst. Sie meint, sie bewege sich ganz anders im Team als früher. Es friere sie nicht mehr. A. hat zudem entdeckt, dass diese Körperhaltungen auch in ihrem oft recht spannungsreichen privaten Bereich positive Wirkungen haben. Daran will sie in dieser Folgesitzung nun weiter arbeiten.

In diesem Beispiel erwies sich der körperlich-symbolische Ausdruck von Zielvisionen als ein Medium, das direkt für die Lösungsfindung und spätere Konkretisierung der Lösung eingesetzt werden konnte. Dies ist nicht häufig der Fall. Das Beispiel zeigt jedoch, wie ein Berater aus der Haltung des NichtWissens heraus zusammen mit einer körperlich-sinnlichen Ausdrucksform die Klientin als Expertin erfolgreich begleiten und führen kann. In der Regel ist der Einsatz von symbolischen oder metaphorischen Ausdrucksformen zur Konkretisierung von Zielvisionen bescheidener und in der Wirkung weniger spektakulär. Die ausgewählte Farbe, die für die Atmosphäre steht, die die Supervisandin in ihrem Beratungszimmer stärken möchte, oder die zu Hause ausgesuchte CD, die das anvisierte neue Lebensgefühl symbolisiert, respektive der Gegenstand, der an ein bestimmtes Verhalten erinnert, das die Klientin sich aneignen möchte – dies alles sind Bei-

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spiele von möglichen nonverbalen Verdeutlichungen von Angestrebtem oder Ersehntem. In bestimmter Weise wird durch den Einsatz derartiger Mittel die in unseren Ausführungen geforderte sprachliche Präzision der Vision einer positiven Zukunft verunklärt. Gleichzeitig bekommt das Erstrebte durch die sinnliche Konkretisierung einen neuen Stellenwert, was sowohl zur Präzisierung dessen beiträgt, was angestrebt wird, als auch das Erreichen der Vision oder des Imaginierten in einem besonderen Maß unterstützen kann. Ambivalenz Neben der Schwierigkeit, Zielvisionen in Worte zu fassen und zu konkretisieren, ist hier und da auch eine Zielambivalenz zu beobachten. Die Klientin weiß nicht, was sie zuerst anpacken soll oder in welche Richtung sie vor allem Schritte machen möchte. Zwar kann die Beraterin in der Regel darauf zählen, dass eine sorgfältig durchgeführte Dezentrierungsphase Klärung bringt. Die im Gespräch geäußerte Ambivalenz kann jedoch so stark und quälend sein, dass es sinnvoll ist, sofort darauf einzugehen. In einer solchen Situation besteht die Möglichkeit, das in der vorangegangenen Gesprächsphase geäußerte Problem für die Bearbeitung hintanzustellen und vordringlich an der Klärung einer attraktiven Zukunftsvision zu arbeiten. Dafür braucht es das Einverständnis der Klientin. Gute Erfahrungen machen wir mit der bekannten Methode des Tun-alsob. Wir gehen davon aus, dass die verschiedenen in Frage stehenden Ziel­ visionen – eine nach der anderen – erreicht worden sind, und überprüfen gemeinsam die Auswirkungen: »Nehmen wir an, A. sei erreicht worden, und zwar in einem umfassenden Sinn: Was ist dann? Wie fühlen Sie sich? Was freut Sie am meisten? Gibt es auch etwas, was Sie bedauern? Was ist jetzt möglich geworden, das bis jetzt nicht möglich war? Wie reagiert Ihr Partner?« etc. In gleicher Weise gehen wir anschließend mit den weiteren Zielvisionen um. Es gibt Klientinnen, die mit Lust und Phantasie in derartige Zukunftsszenarien einsteigen und sich die verschiedenen Situationen in Gedanken ausmalen. Für andere ist ein solches Vorgehen eher mühsam oder sogar ärgerlich. In diesem Fall sollte die Beraterin keinesfalls einfach fortfahren, sondern zum Beispiel versuchen, bewährte Vorgehensweisen in früheren Entscheidungssituationen der Klientin zu erfassen und gemeinsam mit ihr zu überlegen, inwieweit diese auch in der vorliegenden Situation eingesetzt werden könnten.

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Utopische Zukünfte Schließlich kommen Beraterinnen immer wieder in Schwierigkeiten, wenn sie mit Zielen konfrontiert werden, die sie selbst als utopisch beurteilen. Das geschieht relativ häufig in der Berufs- und Laufbahnberatung, aber auch in der Sozialarbeit, in der Drogenhilfe und anderenorts. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sinnvollerweise nur an Zielen gearbeitet werden kann, die im Aktionsbereich der Klientin liegen. In utopisch anmutenden Zielen, sofern sie ernst gemeint sind, stecken Wünsche und Bedürfnisse, oft aber auch versteckte Ressourcen. Die Aufgabe besteht darin herauszufinden, was das für Bedürfnisse sind und was die Klientin tun kann, um deren Befrie­ digung ein kleines Stück näher zu kommen. Gelingt es, dass die Klientin sich auf den Weg macht, werden sich die Zielvisionen ohne Zutun der Beraterin unter der Hand verändern – und manchmal geschehen auf diesem Weg auch kleine Wunder. ✳ Zusammenfassend ist festzuhalten, dass wir mit der Ausrichtung der profes­ sionellen Arbeit auf erstrebte positive Zukünfte in einen imaginären Raum treten. Dies geschieht auf der Basis einer lösungs- und ressourcenorientierten Grundhaltung. Wir legen Wert darauf, dass die Klienten bei der Beschreibung ihrer Zukunftsvorstellungen ins Detail gehen und sich dabei »sprachlich wohlgeformt« ausdrücken. Gelegentlich allerdings ist es sinnvoll, andere Ausdrucksformen anstelle der sprachlichen zu wählen und mit einer metaphorischen Umschreibung oder sogar mit einem abstrakten Begriff (zum Beispiel: »Freiheit«) zu arbeiten. Inhaltlich sind die Zielvisionen  – das muss betont werden  – durch die Klien­tinnen bestimmt und nicht durch die Beraterinnen. Hat die professionelle Person kraft ihres Amtes, ihrer Funktion oder ihrer Aufgabe Ziele im Auge, die mitberücksichtigt werden müssen, so müssen Beraterin und Klientin das, woran gearbeitet werden soll, miteinander aushandeln. Diese Situation ist in der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik sehr häufig anzutreffen. Wir finden sie auch im Gesundheitswesen, in Ausbildungssituationen und an anderen Orten. Mit Nachdruck sei abschließend darauf hingewiesen, dass es bei unserer Arbeitsweise nicht um die Formulierung von Zielen im traditionellen Sinn geht. Gerade für Leserinnen und Leser, die in der Supervision oder als Coach arbeiten, ist dies wichtig zu wissen. Im Gegensatz zur Arbeitswelt sind die mit den Klientinnen und Klienten erarbeiteten Ziele nicht Vor­ gaben, die unter allen Umständen erreicht werden müssen. Es sind Visionen einer möglichst konkret beschriebenen, positiven Zukunft, die die Richtung vorgeben, wohin der Weg gehen soll, und die sicherstellen sollen, dass

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dieses Ziel tatsächlich attraktiv und erstrebenswert ist. Dabei kann es geschehen, dass sich Ziele beim Gehen verändern. Ja, dies wird sogar üblich sein. Wer wird sich dann noch härmen oder ärgern, wenn sich durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Richtungsänderung bessere Ziele als die ursprünglich geplanten erreichen lassen oder einem Dinge in den Schoß fallen, die auf dem ursprünglich geplanten Weg mühsam hätten erarbeitet werden müssen? Werden Zielvisionen auf die beschriebene Weise erarbeitet und geklärt, entwickeln sie Kräfte, die für das Erreichen des Angestrebten ausschlaggebend sein können. Sie bilden auch die Voraussetzung dafür, dass sinnvollerweise in die alternative Wirklichkeit einer Dezentrierungsphase übergegangen werden kann.

4.5. Brückenbildungen Sind die Situation des Klienten und das Gebiet der Sorge und der Ressourcen genügend erkundet und das gute Ergebnis der Sitzung  – eventuell zusammen mit Zukunftsvisionen  – formuliert, ist der Zeitpunkt gekommen, um in den alternativen Kontext einer Dezentrierung zu treten. Dabei hängt es vom Stil und den Gepflogenheiten der Beratenden und der zur Verfügung stehenden Zeit ab, ob bereits im ersten Drittel der Sitzung oder erst nach der Hälfte der Sitzungszeit damit begonnen wird. Auf jeden Fall ist für das dezentrierende Tun und die nachfolgende Bearbeitung genügend Zeit einzuräumen. Wir führen nicht in jeder Sitzung eine Dezentrierung durch. Immer jedoch ist der Überleitung zur Phase der Dezentrierung genügend Beachtung zu schenken, selbst dort, wo sie nur ganz wenig Zeit in Anspruch nimmt. Wir nennen diese Überleitung »Brücke«. Das Bild einer Brücke ist als Metapher sehr hilfreich. Sie bietet sich an, weil die Dezentrierung buchstäblich an einem anderen Ort, das heißt in einem anderen Teil des Praxisraumes stattfindet. In diesem Sinn muss man von zwei Brücken sprechen: 1. Die erste Brücke führt vom ersten Gesprächsteil über Anliegen und Zielvorstellung in die Intermodale Dezentrierung, das heißt, aus dem außerordentlichen Kontext des Beratungsgespräches in die Zone eines alternativen Kontextes von Wirklichkeit. 2. Die zweite Brücke führt nach der ästhetischen Analyse, die noch im »Studio­teil« des Praxisraumes stattfindet, zurück in den Gesprächsraum bzw. in den außerordentlichen Kontext der Beratung, zur so genannten »Ernte«.

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Brückenbildungen

Die erste Brücke Die Fragen von Anfängern drehen sich hier immer wieder um die Art und Weise, wie in diesen außerordentlichen Kontext einzuführen ist, und um die so genannte korrekte Wahl des künstlerischen Mediums oder Spielansatzes und die Rolle, die der Berater darin einnehmen soll. Eine häufige Hemmung, diese Brücke zu überqueren, besteht in der Angst, dass ich als Berater die Kooperationsbereitschaft nicht treffe. Es hat sich gezeigt, dass die Berücksichtigung folgender Verhaltensweisen hilfreich ist: –– Schon bei der Vertragsverhandlung klar machen, dass man (gelegentlich) auch mit kunstorientierten Mitteln arbeitet und deswegen den Sitzungsablauf gelegentlich unterbricht. Dabei muss klar werden, dass sich die Methode des Intermodalen Dezentrierens an konkrete bekannte Phänomene der Beratung hält, diese jedoch aus dem neuen Verständnis von komplexen Prozessen zeitgemäß angeht. Dadurch unterscheidet sie sich von »exotischen« Heilsverfahren. Es kann manchmal auch hilfreich sein, wenn die Phänomene und Prinzipien aus bekannten anderen Schulen, die unsere Methode nähren, erwähnt werden. Beispielsweise der Lösungs­fokus, die Kraft der Vorstellung (Imagination), das Prinzip »nicht mehr des­ selben«; Ressourcenorientierung, Spielräume zur Entscheidungsfindung, Lernverfahren etc. –– Die Klienten zu Beginn zu einem »Labor« oder »Experiment« einladen, das nachher sorgfältig ausgewertet und in der nächsten Sitzung bezüglich Wirkung überprüft wird. Oft genügt es, die Sitzung zu unterbrechen und anzukündigen, dass man jetzt für eine halbe Stunde »etwas Anderes« tun möchte. Dabei sollte der Klient gefragt werden, ob er damit einverstanden sei. Vielleicht kann beim allerersten Mal dazu angefügt werden, dass es sich dabei um nichts Schwieriges handeln werde und auch um nichts, das irgendwie peinlich werden könnte; –– von Anbeginn an klarstellen, dass das Dezentrieren in verschiedensten Formen möglich ist (künstlerisch, Spielverfahren etc.); –– transparent machen, worauf die Klienten sich einlassen, bevor sie sich dazu bereit erklären. Das heißt zum Beispiel, als Voraussetzung der Bereitschaft kurz den zeitlichen, räumlichen Rahmen, die Gestaltungsart oder das Spiel so skizzieren, dass auch die Offenheit des Prozesses klar wird. Bezüglich der Wahl des richtigen Mediums, hat es sich gezeigt, dass es offenbar wichtiger ist, dass sich der Berater damit wohl fühlt und das gleichzeitig eine große Chance bietet, den Klienten zu motivieren, als theoretisch nach ­etwas zu suchen, das zu dem bisher Gesagten passt. Es handelt sich ja um eine Dezentrierung von dem, was bisher abgelaufen ist.

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Das Ziel ist, dass der Klient einsteigt und sich von der vorgeschlagenen Aktivität packen lässt. Das ist wiederum nur möglich, wenn auch der be­ gleitende Professionelle voll engagiert im Prozess dabei ist und nicht beiläufig in eine Routine gerät, welche für ihn keine Überraschungen mehr zulässt. Alle Aspekte, die in der Wahl des Mediums oder Spielverfahrens mit­ wirken, sind interdependent und komplex, so dass es durchaus statthaft ist, wenn ein Berater oder Therapeut Vorlieben für gewisse Gestaltungstechniken entwickelt. Dies gilt unter der Bedingung, dass eine wirkliche Dezentrierung für beide Teile, Klient und Professionelle, ermöglicht wird. Es ist hilfreich, wenn Berater im Nachhinein die Faktoren, die zum Erfolg der Dezentrierung geführt haben, nach folgenden Gesichtspunkten reflektieren: –– nach dem Thema, das möglicherweise den Dezentierungsprozess be­ einflusst hat; –– nach der Erfahrung, die der Klient bezüglich künstlerisch-spielerischer Aktivitäten mitbringt; –– nach der Vertrautheit von Berater und Klienten mit dem vorgeschlagenen Medium; –– nach der Vertrautheit der Beraterin mit der im ersten Gesprächsteil an­ gesprochenen Situation. (Ist diese Situation mit einer Problematik des Beraters verwandt, sollte in einem vertrauten Medium, das beide »packt«, dezentriert werden. Es ist in diesem Fall von einer themennahen Dezentrierung abzuraten, da die Beraterin sonst Gefahr läuft, sich selbst für die Zeit der Dezentrierung nicht von der problematischen Thematik distanzieren zu können.); –– nach dem Verhältnis von Material, Raum und Akustik als Ressource oder Beschränkung; –– nach dem Zeitbedarf eines Spiels oder einer speziellen künstlerischen ­Praxis; –– nach Wahrnehmungen und Auffälligkeiten während des Gesprächs im sensomotorischen oder sprachlichen Bereich, zum Beispiel Metaphern. (Beispielsweise könnten sehr starke oder kaum Bewegungen in Gestik oder Metaphorik der Sprache – »es ist wie ein Stillstand!« – beim Berater die Neugier nach einer Bewegungsimprovisation wecken); –– nach der Bedeutung des Settings (Einzel, Gruppe oder Team) und der Vertrautheit mit der Klientel oder dem Fachbereich; –– nach Kontrakt und Abmachungen sowie Einführung der Methode; –– etc. Solche Reflexionen schärfen die Wahrnehmung der beratenden Person und steigern die für die Wahl der kunst- oder spielorientierten Gestaltung notwendige Sensibilität.

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Die zweite Brücke Nachdem die beratende Person und ihre Klientel wieder im ursprünglichen Gesprächsraum Platz genommen haben und sozusagen in den außerordentlichen Kontext des Beratungsgesprächs zurückgekehrt sind, beginnt die Ausbeute im Hinblick auf das Anliegen und dessen Lösung. Wir bezeichnen diese Phase metaphorisch als Ernte. Sie dient dem Zweck, die Erfahrungen der Dezentrierung und ihrer ästhetischen Analyse in ihrem ganzen Reichtum auf das Anliegen wirken zu lassen. Es ist von Vorteil, weder diesen Reichtum noch das Anliegen vorgängig zu reduzieren. Eine Reduktion würde auch die Möglichkeiten von den zu ent­ deckenden Zusammenhängen beschränken.

4.6. Dezentrieren: Herausforderung und Motivation Die Herausforderung, innerhalb des außerordentlichen Kontexts der Beratung in den alternativen Kontext einer kunst- oder spielorientierten Dezentrierung zu treten, hat nur dann eine Chance, von den Klientinnen aufgenommen zu werden, wenn wir fähig sind, auch Menschen zu motivieren und zu einem »sinnen-vollen« Ergebnis zu begleiten, die künstlerisch nur wenig oder gar nicht gebildet und spielgehemmt sind. Nicht nur bei diesen Klienten, sondern auch bei künstlerisch tätigen Menschen ist es hilfreich, dort anzuschließen, wo ihre exploratorische Neugierde als Ressource vorhanden ist. Das ist meist der Fall in gestalterischen Tätigkeiten, die nicht durch handwerkliche Fähigkeitsansprüche entmutigt wurden, Tätigkeiten wie zum Beispiel Bauen/Konstruieren, Gestalten mit Ton, Papier, Vorgefundenem, das Tun-als-ob oder Klangerkundigungen an Gegenständen u. a.m. Andererseits sollen Gestaltungsvorschläge in der gemeinsamen Kultur von Klient und Begleiter interessant verankert sein, so dass sie vom Klienten nicht als »Kinderei« abgetan werden können und die Begleitung nicht zu einer interesselosen Beiläufigkeit verkommt. Zentral für die Wirkung der Dezentrierung ist, dass Klient und Berater voll dabei sind und »einsteigen«. Das Dezentrieren soll deshalb in einer angeregten Atmosphäre erlebt werden, ohne ungebührliche Unfähigkeitsangst, sondern mit neugieriger Be­ geisterung am Tun. Nur so kann das ursprüngliche Problem im Anliegen des Klienten für diese Zeit in den Hintergrund treten. Üblicherweise wird die Atmo­sphäre dann optimal, wenn Klient und Begleiter in eine ästhetische Resonanz kommen. Das bedeutet, dass sie auch Äußerungen zum entstehenden Werk zulassen, die aus dem Sinnlichen kommen: berührt, begeistert, bewegt, gespannt sein etc. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von der

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ästhe­tischen Verantwortung des Therapeuten oder Beraters. Wir verstehen darunter die Verantwortung des professionellen Begleiters gegenüber dem entstehenden Werk. Sie bestimmt die Interventionen, welche den Klienten befähigen, mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen die künst­lerische Herausforderung zu bewältigen. Die künstlerischen Tätigkeiten innerhalb unserer Dezentrierungen, die durch exploratorische Neugierde motiviert sind und zugleich das kulturelle Interesse aller Beteiligten wach halten, können sich auf diese Weise aus der »Art Brut«, »Minimal Music«, Alltagspoesie, dem »Armen Theater« (Grotowski, 1968), der Collagetechnik sowie aus Formen der gegenwärtigen Performance-Art oder Installationskunst entwickeln. Manchmal nähern sie sich auch der Volkskunst, der Volksmusik, Singtraditionen, dem Rap, Free Style Jazz oder westlichen Fusionen ethnischer Musik-, Trommel- oder Tanz­ formen. Immer aber soll es für alle Beteiligten eine nachvollziehbare Beziehung dazu geben, und wenn es auch nur eine Neugierde ist, dieser »Sache einmal auf den Pelz zu rücken«. Das Ästhetikverständnis hinter dieser Didaktik ist kulturell »polyphon« und steht im Widerspruch zu einer simplizistischen Unterscheidung von »hoher« und »niedriger« Kunst. Es ist auch eine Ästhetik, die das weite Spektrum von Formen und Stilen aufnimmt, die uns durch die Kulturanthropologie zugänglich sind. Stige (2001) nennt dieses ästhetische Verständnis »karnevalistisch«. Es ermöglicht Kombinationen, die das Tragische, das Erhabene und das Vulgäre einschließen. Ein solches Verständnis ist trotz der multiplen Aspekte klar auf die Sinne bezogen. In unserem Verständnis ist Ästhetik die Logik der Sinne; durch die Sinne soll Sinn erfahren, erlebt und wahrgenommen werden. Wir leiten den Begriff Ästhetik aus dem griechischen Stamm: aisthesis ab. Er wird aus dem Altgriechischen mit Atem, aus dem Neugriechischen mit über die Sinne übersetzt. Im sprachlichen Ausdruck einer ästhe­ tischen Erfahrung werden Hinweise auf die entsprechenden Sinne erkennbar: »Ich bin berührt«, »ich bin bewegt«, und in Bezug auf Atem: »Es ist atemberaubend«. Dieses Verständnis von Ästhetik ist die Grundlage für Struktur und Prozess in der Dezentrierung und lässt einen weiten Spielraum für die Moti­ vation der Klienten offen. Wir nennen die daraus resultierende Methode »low-skill-high-sensitivity«. Low-skill-high-sensitivity In den verschiedenen Kulturen gibt es unterschiedliche Gestaltungskonzepte und -materialien, die zu Formen führen, die für uns ungewohnt sind. Trotzdem berühren sie uns oft gerade in ihrer Einfachheit. In der westlichen Kul-

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tur haben manche gelernt, dass die Qualität der Kunst in der Perfektion der Handfertigkeit liegt, welche erlaubt, das Material perfekt zur Form, in Zeit und Raum, zu strukturieren. Wenn wir näher hinschauen und vor allem wenn wir fremde Kulturen ins Auge fassen, können wir immer wieder feststellen, dass es nicht immer die virtuose Handfertigkeit ist, die das Meisterhafte am Werk ausmacht, sondern oft eine Sensitivität dem Gestaltungsmaterial und seinen Qualitäten gegenüber. So begeistern uns zum Beispiel die perfekten Rechenspuren um die in Größe, Form und Textur abgestimmten Steine im Zen-Garten oder die arrangierten Blumen nach japanischer Art, auch wenn die handwerkliche Geschicklichkeit dem Sinn für Farbe, Form, Textur und Formbarkeit des Materials untergeordnet ist. Ähnlich sind wir beeindruckt durch die außer­ ordentlich sinnvoll aneinandergefügten, ametrisch-rhythmisch durch Stille unterbrochenen Geräusche und Klänge in exquisiten Klangfarben und Dynamiken eines japanischen Kabuki-Orchesters. Die dazu notwendige Ex­ pertise liegt in der Fähigkeit, diese Klang- und Geräuschqualitäten und strukturellen Kontraste zu unterscheiden und einzusetzen. Diese Kompetenz wiederum unterscheidet sich von der Art der Virtuosität, wie wir sie von einem klassischen Violinisten kennen. Ähnliches gilt für die aus dem Gehschritt und ihrem Puls entwickelten Tänze und einfachen Melodien der amerikanischen Urbevölkerung. Sie gestalten das Vor, Zurück, Seitwärts und »am Ort« in einer Choreographie, die sich auf die Architektur des Dorfplatzes und ihre Geometrie in der Form eines bewegten Kristalls bezieht. Eine Schönheit, die diese Form des Tanzes neben der »Akrobatik« des klassischen Tanzes bestehen lässt. Das einfache Theater, wie es von den Senoi zur Improvisation der Träume gebraucht wird (Jennings, 1995), und die Haiku-Tradition, eine Volkspoesie in Japan, sind weitere Beispiele aus den Reichtümern der »low-skill-high-sensitivity«-Gestaltung. Man könnte zusammenfassend sagen, analog zur handwerklichen Ausbildung werden in diesen Gestaltungsformen die Sinne in kompetenter Weise geschult (Knill et al., 1993). Mit dieser Darstellung aus vorwiegend anderen Kulturen soll keinesfalls gesagt werden, dass wir beim Dezentrieren diese Traditionen imitieren sollen. Zudem ist festzuhalten, dass auch in den oben genannten Kulturen andere Traditionen von künstlerischer Gestaltung mit sehr hohem Anspruch an handwerkliche Geschicklichkeit und Virtuosität existieren (klassische indische Musik, chinesische Oper, polyrhythmisches Trommeln in Afrika und vieles andere mehr). Das »low-skill-high-sensitivity«-Konzept seinerseits ist ein sehr einflussreiches Gestaltungsprinzip der gegenwärtigen Kunstszene, der »Art Brut« und der Volkskunst. Die oben erwähnte »Minimal Music«, Installationskunst, Performance-Art, Collagen etc. gehören dazu. Es wäre ein Missverständnis, wenn mit dieser Betrachtungsweise einer der beiden

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Richtungen des Kunstschaffens mehr Wert zugesprochen würde. Wir finden heute in der Kunst, Musik und Bühnenwelt beides nebeneinander. Wichtig in unserem Kontext ist, dass dieses Prinzip, das die sinnliche Kompetenz vor das geschulte Handwerk stellt, in allen Kulturen eine Tradition hat und sich sehr gut eignet, um ein Spiel oder künstlerisches Werk anzugehen, das eine ästhetische Erfahrung ermöglicht, die sich wiederum nicht außerhalb unserer kulturellen Einbindung und außerhalb dessen befindet, was wir schön bzw. ansprechend nennen könnten. Abschließend sei zusammengefasst, dass das Prinzip »low-skill-high-sensitivity« in der Beratungs- oder Therapiesituation unter anderem Qualität und Anspruchsfokus gestalterisch-künstlerischer Arbeit erfasst, um gestaltungsferne oder spielgehemmte Menschen für die Dezentrierung zu motivieren. In der Regel werden niederschwellige und gleichzeitig ästhetisch ansprechende Impulse gegeben. »Low skill« betont den bewussten Verzicht auf technisch anspruchsvolle Aufgabenstellungen und Verfahren. Demgegen­ über steht ein hoher Grad an Sensibilität in Bezug auf den Umgang mit Form, Farbe, Material, Bewegung, Zeit, Raum, Ausdruck etc. und in Bezug auf die detaillierte und sorgfältige Reflexion des Gestaltungsprozesses. Schritte zur Sensibilisierung und Motivierung Nachdem der Berater die Entscheidung für einen bestimmten spiel- oder kunstorientierten Prozess getroffen hat, soll der Klient Schritt für Schritt für die Gestaltungselemente sensibilisiert werden. Für unsere Methodik haben wir die Gestaltungselemente in Kategorien eingeteilt: –– Räumlicher und zeitlicher Rahmen (Leinwand, Bühne, Länge der Improvisation etc.); –– Materialquellen (verschiedene Musikinstrumente, Malutensilien, Requisiten etc.); –– Material- und/oder Struktureigenschaften (Farbqualitäten, Klangfarben, Textur etc.); –– Werkzeuge (Malwerkzeuge, Schlagzeugschläger, Bühnenlicht etc.); –– Gestaltungsspielraum (Grenzen setzen, z. B. aus dem Gehschreiten in den Tanz, blind modellieren, nur zwei Farben wählen, mit zwei Requisiten etc.). Wie wir später in einer Tabelle zeigen, sind diese Kategorien in jeder Spieloder Kunstdisziplin von anderer Ausprägung. Das Ziel einer sorgfältigen Einführung, Begleitung und Vollendung des Dezentrierungsprozesses ist es, den Klienten mit allen Sinnen zu beteiligen und neugierig zu machen. Es soll vermieden werden, dass das Geschehen zur Beiläufigkeit verkommt,

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selbst wenn einige der Elemente in einem anderen Kontext trivial sein mögen. Wir denken da an den Gebrauch alltäglicher Gegenstände in einem Installationsgebilde, die Verwendung von Geräuschen in einer Stimmimprovisation, an Zeitungspapier in einem Mobile oder Steine in einem Wurfspiel etc. Es ergibt sich üblicherweise die folgende Reihe von Schritten (wobei die Beispiele zeigen, dass die Reihenfolge je nach Situation unterschiedlich ist und mit fließenden Übergängen stattfindet): –– Abstecken und Erkunden des Rahmens: Der Gestaltungsraum (Bühne, Studio, Leinwand etc.) mit seinen Möglichkeiten soll bewusst gemacht und der Zeitablauf geklärt werden. –– Ein Einstimmen der beteiligten Sinne (beispielsweise können vor dem Plastizieren/Modellieren die Hände durch Aneinanderreiben gewärmt werden, dann die Wärme der Hände mit kleiner Distanz von der Wange gefühlt werden etc.). –– Exploratives Auswählen: Die Gestaltungsmaterialien und Werkzeuge, die wahlweise zur Verfügung gestellt werden, bedürfen einer Erkundung und sinnlicher Exploration (physisches Anwärmen, meditatives Aufmerksamwerden etc.). Dazu gehören beim Tanz das Warm-up, das Strecken und das sensomotorische Wahrnehmen. Bei der Musik ist es die Wahl eines Musikinstruments oder beim Gestalten die Auswahl der Bilder für eine Collage. –– Ausprobierendes Gestalten: Die Gestaltungsvorschläge sollen Routine vermeiden. Dies kann erreicht werden, indem man Ungewöhnliches aus­ probieren lässt (für eine gewisse Zeit mit verbundenen Augen modellieren, auf der Bühne eine Phantasiesprache brauchen, auf dem Piano die Saiten anstelle der Tasten spielen etc.). Es hilft auch, wenn die Sinneswahrnehmung durch eine ungewöhnliche Perspektive bereichert wird (beim Gestalten vordergründig den Raum zwischen sich und dem Tanzpartner anstelle der Körper selbst beachten; körperlich die »tänzerische« Bewegung beim Malen spüren; hören, was die Mitspieler auf ihren Instrumenten spielen, während man selbst spielt etc.). –– Das entstehende Werk spürbar machen als Partner im Prozess: In der Begleitung soll immer wieder auf die Zirkularität zwischen Führen und Folgen, in der Begegnung mit dem Werk, sensibilisiert werden. Das Dem-WerkFolgen wird bewusst, indem man die Wahrnehmung bereichert (Zwischen-Feedback) und Fragen oder Aufforderungen in den Raum stellt, die den »Tanz zwischen Gestaltendem und Gestaltetem« betonen (»Lass dich führen vom Werk!«, »Wie führt das Werk?«, »Mit welcher Form, welcher Farbe, welchem Rhythmus führt es?«, »Wohin führt das Werk?«, »Was braucht es noch?« etc.) Andererseits kann das Engagement inten­ siviert werden, wenn wir zum Ausprobieren ermutigen und das Weiter-

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führen im Werkprozess durch den Gestaltenden betonen. Dabei hilft es, wenn wir uns auf die Tradition des »mutigen« Probierens in den Künsten und im Spiel beziehen. Wir berufen uns dann auf den Mut, den Kunstschaffende brauchen, um die Hemmung zu überwinden, die an jedem Anfang steht. So beispielsweise vor dem risikoreichen Eingreifen mit dem Pinsel in die Leere der weißen Leinwand; oder mit dem ersten Klang, der in die Stille fällt, oder während dem Prozess vor jedem nächsten Akt, sei es im Tanz, Theater, auf der Leinwand oder im Schreiben auf dem Papier. Ob dieses Probieren »hinhaut« oder nicht, zeigt sich immer erst im Nachhinein. Probieren wir nichts oder folgen wir dem Prozess nicht, gestaltet sich auch nichts. Wichtig bleiben das intensive Bei-den-Sinnen-Sein in der Wahrnehmung dessen, was geschieht, und die freundlich-offene Haltung gegenüber Überraschungen. Diese Reihe von Schritten kann mit dem Akronym SERA als Gedankenstütze erfasst werden. Es gibt die Schlüsselwörter zu den Schritten, die auf das Abstecken des Rahmens in fließenden Übergängen folgen sollten: –– S für Sensibilisieren; dies im Erkunden des Rahmens und in der Einstimmung, –– E für explorierendes und entdeckendes Auswählen, –– R für das Repetitive und Zirkuläre beim Ausprobieren, –– A für das Anerkennen des entstehenden Werks. Offensichtlich können nicht alle Schritte in jeder Sitzung in gleicher Weise Zeit beanspruchen. Es ist notwendig, den Lerneffekt in Bezug auf das spielund kunstorientierte Gestalten vorgängiger Sitzungen in der laufenden Sitzung zu berücksichtigen. Es gibt auch Situationen, wo eine ganze Dezentrierung durch einen oder zwei dieser Schritte bestimmt wird. Dazu ein Beispiel: Ein Team (in einem Teamentwicklungsauftrag) ist einverstanden, in der Dezentrierung eine Tanzimprovisation zu machen. Der Coach verwendet bei diesem ersten Mal, wo getanzt wird, die ganze verfügbare Zeit für die Raum- und Körperbewusstheit des Tanzensembles zum Thema Nähe und Distanz. Das Thema wird zuerst zwischen Tanzenden und Studiobegrenzung erkundet. Dann als Nähe und Distanz zwischen den Tanzenden selbst. Selbstverständlich ergibt sich daraus, relativ nahe am Thema des Teams: Bewegungsraum, Nähe, Distanz, eine reiche Ernte, auch ohne dass weitere Schritte zur Werkgestaltung durchgeführt werden. Auf dieser Lernerfahrung des Teams als Tanzensemble kann in einer nächsten Tanzimprovisation aufgebaut werden.

Um eine Vorstellung zu bekommen, wie eine Dezentrierung aussieht, die alle Schritte einbezieht, werden hier zwei Abläufe im Telegrammstil dargestellt:

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Eine Musikimprovisation (konkrete Musik) in einer individuellen Coachingsitzung: –– »Einstimmung«: (Das Zeitbewusstsein als Rahmen, eigentlich der 2. Schritt, kommt in der Musik oft schon innerhalb des ersten Schrittes.) –– Mit verbundenen Augen auf den Schall der Umwelt achten, dann auf das, was von innen tönt, beides in Stille. Dann beachten, was für Geräusche, Klänge, Töne stören, was gefällt und nach was für Klängen ein Sehnen entsteht. –– Exploratives Auswählen: Das Auswählen unter den vorhandenen Klangquellen (evt. Musikinstrumenten), die Klänge, Geräusche erzeugen können, die gefallen. Es kann ein fremder, ein sehnender oder gar störender Klang sein, aber nicht etwas, das gleichgültig lässt. –– Ausprobierendes Gestalten: Mit den gewählten Instrumenten oder Klangerzeugern werden verschiedene Motive (kleine Klangskulpturen) ausprobiert. Sie müssen keinen metrischen Puls (Beat) haben. Das Ausprobieren dauert zwei bis drei Minuten. Es sollen mindestens zwei Motive gewählt werden. Es soll bewusst auch »Stille« oder Pausen zwischen den Klängen oder Geräuschen geben. –– Das entstehende Werk spürbar machen als Partner im Prozess: Eine Im­ provisation mit den gewählten Motiven von drei bis fünf Minuten soll versuchen, aus der Beziehung der Motive einen musikalischen Fluss zu erzeugen, eine Art Klangteppich. Die Improvisation wird wiederholt, mit kurzen Rückmeldungen dazwischen, bis sich ein befriedigender Klang­ teppich ergibt. Eine Schuh-Installation mit einem Team in einer Supervisionssitzung: –– Einstimmung: Sich in meditativer Weise besinnen auf das, was man im Moment auf der Haut trägt; wie es sich anfühlt, wo es drückt etc. Einander anschauen, ohne zu sprechen. Sich später auf die Füße konzentrieren, bewusst werden, was für Schuhe wir tragen in verschiedenen Situationen im Jetzt und wie wir uns darin fühlen. –– Abstecken und Erkundigen des Rahmens: Einen Teil des Arbeitsraumes ausräumen und diesen gemeinsam markieren als Ausstellungsraum für eine kollektive Installation mit Schuhen, wie das in einer Galerie geschehen könnte (als Beispiele könnte man z. B. Beuys oder Tinguely erwähnen). Etwas von diesem Raum zurücktreten und aus verschiedenen Perspektiven sehen, ob die Größe und das Licht stimmen. Dann vielleicht noch irgendetwas (Stuhl oder Tisch oder Fahrrad) in einer »denaturierten« Position hineinstellen. –– Exploratives Auswählen: Den Raum verlassen, um allein nochmals dem nachzuspüren, was jetzt an den Füßen die größte Aufmerksamkeit verlangt (Schuh, Hausschuh oder Socken). Mit der getroffenen Auswahl in

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der Hand und dem erhöhten Bewusstsein der Geschichte dieses Gegenstands und der persönlichen Attraktion oder Ablehnung wieder in den Raum eintreten. Ausprobierendes Gestalten: Mit dem Gegenstand nun in der Hand und nicht am Fuß und dem Blick möglicherweise auf die Sohle und nicht auf das Oberleder individuell, ohne zu sprechen, ungewohnte Begegnungen gestalten. Dem Schuh oder Socken seine Selbständigkeit geben, indem man ihn verschieden aufstellt und ihm wie ein Fotograf als Objekt-Stillleben begegnet. Wichtig ist das Finden von überraschenden und interessanten Bildern. Das entstehende Werk spürbar machen als Partner im Prozess: Nun wird das Team gemeinsam im Ausstellungsrahmen die Schuhe in verschiedenen Anläufen zu einer kollektiven Installation zusammenfügen. Erste Exploration: Nur die eigenen Objekte verschieben, bis Ruhe eintritt. Zweite Exploration: Alle Objekte können von allen verschoben werden, nur das Eigene darf man nicht bewegen (»Beobachten Sie, was Ihr Schuh oder Socken alles auch noch kann, wenn er selbständig wird, Sie dürfen ihn später schon wieder ›in die Hand nehmen‹, wenn es nötig ist.«) Dritte Exploration: Die letzten Bewegungen sind jetzt nur noch am eigenen Objekt möglich, und das auch bloß, wenn es absolut nötig ist.

Schritte zur Verstärkung einer begeisternden Studioatmosphäre Manchmal wird die Studio- oder Atelierstimmung noch verstärkt, wenn es zu einer ästhetischen Antwort des Therapeuten oder Beraters kommt, das heißt, wenn der Klient eine Rückmeldung in einer künstlerischen Form bekommt (ein Gedicht als Antwort auf eine Installation oder eine Tonskulptur auf einen Tanz etc.). Vor allem eignet sich diese Möglichkeit für Situationen, in welcher der Klient gestaltet und die begleitende Person in der Beobachtungsrolle ist. Bitte beachten: –– Berater können durch eigene Tätigkeit zu stark absorbiert werden und wichtige Beobachtungen oder Interventionen verpassen. –– In der ästhetischen Antwort können erklärende Interpretationen versteckt sein, die am Geist der Dezentrierung vorbeigehen. Hilfreich dagegen ist eine ästhetische Antwort in Situationen, in denen durch die Beobachtungsrolle des Beraters belastender Leistungs- oder Bewertungsdruck aus schulischer Umgebung wachgerufen wird. Bei Medien, die ein Mitmachen anbieten, kann in solchen Situationen der Berater die begleitende

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Rolle übernehmen. Beispielsweise kann der Berater die Musikimprovisation zum Tanzensemble beitragen. Es ist auch möglich, bei der Theaterimprovisation die Bühnen-, Licht- und Requisitenberatung und -Verantwortung zu übernehmen. Bei vielen Aktivitäten wie beim Malen, Gestalten oder Schreiben kann die Atelieratmosphäre natürlicher werden, wenn sich der Berater auch beschäftigt, zum Beispiel etwas Gestaltendes tut. Dabei soll beachtet werden, dass bei all diesen Aktivitäten die Aufmerksamkeit dennoch so auf den Prozess gerichtet ist, dass sie die Leitungsverantwortung gewährleistet. Bei den meisten dieser Dezentrierungen handelt es sich um zeitlich längere Episoden, die eine halbe Stunde oder mehr dauern. Dazu fehlt in der Arbeit mit Einzelklienten oft die Zeit. Die ausführlich beschriebene Sitzung mit Hortense und weitere in dieser Veröffentlichung beschriebene Beispiele zeigen, wie auch in kurzen Dezentrierungsphasen von fünf, zehn oder fünfzehn Minuten so etwas wie eine Studioatmosphäre geschaffen werden kann. Die Haltung (inkl. Körperhaltung) der professionellen Person spielt dabei eine wichtige Rolle. Auch wenn sie sich nicht aktiv beteiligt, ist es wichtig, dass sie äußerlich und innerlich dabei ist. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Art der Anleitung zu einer begeisternden Studioatmosphäre beitragen und die Motivation verstärken kann. Dabei hilft: –– selbst an dieser Art des Gestaltens und an den verwendeten künstlerischen Medien interessiert sein; –– eine animierende Art der Instruktion wählen; –– Impulse aufnehmen von Klienten, aus der Gruppe bzw. vom Team; –– den experimentellen Charakter betonen und den Verlauf transparent machen. Die Klienten müssen wissen, wozu sie ihre Einwilligung geben. –– Anleitungen zu den Explorationen und deren Auswahl an Möglichkeiten sollen einen verlockenden, optimalen Umfang haben. Weitläufigkeit von Angeboten kann erdrücken und zu große Einschränkung kann zu Blockierungen und Langeweile führen. Die Überlegungen von Jean Piaget zur Intelligenzentwicklung im Abschnitt über »Less is more« helfen hier etwas weiter (Knill et al., 2004a). Wir haben für unsere Praxis daraus das Leitprinzip »Less is more« geprägt. »Less is more« – ein Leitprinzip für Anleitungen zum Spiel oder zur künstlerischen Gestaltung Die Theorie von Jean Piaget erklärt, dass die Differenzierung von neuen Mustern (auf die Handlung und/oder Intelligenz bezogen) in einem Akkommodierungs- und Assimilationsprozess durch spielerische Exploration ge-

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schieht und weniger durch eine »Musterübertragung«. Dieses entdeckende Differenzieren ist motiviert durch die Neugier und hat eine Entwicklungsrichtung vom eher Diffusen zum mehr und mehr Differenzierten. Für die Motivation ist es wichtig, ein optimales Spielfeld zu gewähren, das diese Differenzierung neuer Muster zulässt. Ist es zu begrenzt, sind eigentlich nur gewohnte, beschränkte Muster möglich, die Chancen für Entdeckungen sind minimal und die Herausforderung bleibt uninteressant. Ist das Spielfeld dagegen zu weit, kann die Situation so überwältigend sein, dass der Klient aufgibt oder Zuflucht bei alten Mustern sucht. Die Anleitungen für ein Gestaltungs- oder Spielfeld in einer Dezentrierung muss deshalb verschiedene Faktoren sorgfältig berücksichtigen: –– Fähigkeiten des Klienten, –– kultureller Hintergrund des Klienten, –– die Vorerfahrungen des Klienten mit derartigen Verfahren und Prozessen, –– die vorhandenen Gestaltungsmaterialien und die Ausstattung des Praxisraums. Das Leitprinzip »Less is more« hilft bei der Anleitung. Es baut auf der Erfahrung auf, dass ein »Weniger« des Spiel- oder Gestaltungsfeldes sowie des Rahmens und der Materialquellen mehr Entdeckungen und Differenzierungen zulassen als ein »Mehr«. Es hat sich jedoch auch gezeigt, dass für das explorative Auswählen und das experimentierende Gestalten mehr als eine Richtung angeboten werden müssen, um die Neugier der Klienten zu be­ wahren. MORE ist zugleich ein Akronym, das die Regeln zusammenfasst, die den Rahmen setzen: –– Material: dem Klienten zugänglich, dem Berater (etwas) vertraut (Quell­ material, Werkzeuge etc.); –– Organisation: eher einfach als komplex, dafür ungewohnte Explorationsrichtungen; –– Raum und Zeit: eher begrenzt als ausufernd (Rahmen); –– Einschränkungen: eher einfach als komplex. So kann zum Beispiel die Beschränkung des Rahmens auf ein Papierformat, des Quellmaterials ausschließlich auf Aquarell oder der Materialeigen­ schaften nur auf zwei Farben eine große Entdeckungsneugier wecken und Freiheit geben, wenn die Gestaltungsart und der Gebrauch des Wassers in ungewohnte Richtungen gelenkt werden. Interessanterweise warnt das Leitprinzip »Less is more« auch vor einer übermäßigen oder ausschließlichen Zuwendung zur kreativen Exploration im Differenzieren neuer Gestaltungsmuster. Die Differenzierung neuer Muster entsteht zwar durch exploratorisches Spiel und ist motiviert durch die

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Neugier, die Meisterung des Neuerworbenen geschieht jedoch durch die Repetition. Die dazugehörige Motivationskraft wird mit dem pädagogischen Begriff Funktionslust von Karl Bühler (Mogel, 1990, S. 23 f.) erfasst. Diese Lust am Wiederholen dessen, was gelingt, muss auch Raum erhalten; das kann heißen, dass wir innehalten ohne weitere Explorationsanregungen oder zusätzliche Vorgaben und einfach etwas wieder­holen mit der Anregung, es sinnlich vollständiger wahrzunehmen. Der Spiel- oder künstlerische Prozess bezieht sein Faszinosum also aus drei Quellen: –– Das Explorieren aus Neugier, das neue Formen und Gestalten in Erscheinung bringt. –– Das Wiederholen aus Funktionslust, um das Neue zu fassen und zu meistern. –– Das Sich-herausfordern-Lassen aus Freude, sich zu bewähren. Alle drei Arten sind von großer Wichtigkeit und in den verschiedenen Künsten jeweils von anderer Ausprägung. So leben die Gestaltungen mit »flüch­ tigen« Mitteln wie die darstellenden oder performativen Künste (Musik, Tanz, Theater, Performance und alle freien Spiele) aus ihrem Wesen heraus von der Wiederholung. Sie sind zeitlich und nur in der wiederholten Aufführung wahrnehmbar. Gestaltungen dagegen mit materialisierbaren Werken und Objekten, wie die bildenden Künste, sind auch ohne Wiederholung wahrnehmbar. Oft ist bei Professionellen eine Scheu festzustellen vor dem Einsatz flüchtiger Mittel im Dezentrieren. Damit im Zusammenhang steht die Hilflosigkeit gegenüber dem Wiederholen, das Bedingung ist, um das Fortschreiten des Prozesses erfassen zu können. Die Aufforderung, ein improvisatorisches Werk (Theaterszene, Rap, Jazztanzchorus etc.) nochmals anzugehen, ruft negativ belegte Erinnerungen wach an »stures Proben« und schwierige Erfahrungen damit, an Proben, in denen das Auswendiglernen und indoktrinierendes Kopieren von formalästhetischen Mustern im Vordergrund standen. Im folgenden Abschnitt wird eine werkbezogene Didaktik vorgestellt, die das Anleiten beim Dezentrieren mit aufführenden Künsten und mit freiem Spiel erleichtert. Diese Didaktik kommt aus der Erfahrung mit der Tradition improvisatorisch erarbeiteter Werke, wie zum Beispiel im Jazz, Blues, Steg­reiftheater, in der Performance, im Geschichtenerzählen, im Tanztheater. Diese Tradition versteht unter »Proben« einen fortlaufenden Gestaltungs­ prozess, der bis zum Eintreffen einer sinnvollen Form weitergeht. Eine sich auf diese Weise zeigende Form kann auch wieder aufgenommen werden, bleibt aber in einer Weise lebendig, dass sie wohl als Werk erkennbar ist (wie zum Beispiel »Take Five« von Brubeck) und dennoch jedes Mal auch vom Moment geprägt wird. Dieses Prinzip gilt ganz besonders auch beim

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spielorientierten Dezentrieren, wo das Wiederholen des Spiels aus der Funktionslust heraus neue Elemente des Meisterns eines Gestaltungsprozesses hervorbringt, die später in der ästhetischen Analyse und bei der Ernte wichtig werden. Werkbezogene Didaktik Als werkbezogene Didaktik bezeichnen wir die Art und Weise, wie eine werkorientierte Dezentrierung angeleitet wird. Sie gibt Hinweise, wie die Ge­ staltungsmöglichkeiten des Werkprozesses optimal genutzt werden können. Eigentlich ist die werkbezogene Didaktik eine Bedingung jeder werkorientierten Dezentrierung. Sie betont, dass ein Gestaltungsprozess nicht denkbar ist ohne das Werk, auch wenn es unvollendet bleibt. Wenn ein Bild nicht »fertig« wurde, stehen wir dennoch vor einer Leinwand, die nicht leer ist, einem »work in process«. Prozess und Werk bedingen einander offensichtlich bei jedem künstlerischen Gestalten, aber auch das Spiel und das Spielen bedingen sich im weitesten Sinne. Nach einem freien Spiel in einer Dezentrierung kann ich immer auch fragen: »Und was war das für ein Spiel?« oder »Wie heißt das Spiel?« oder »Was war entscheidend, dass das Spiel schließlich funktionierte beziehungsweise spannend wurde?« Die werkbezogene Didaktik setzt auch bei der Dezentrierung als Methode einen wichtigen Schwerpunkt. Haben wir doch beim Meistern einer Gestaltung (auch wenn das Werk noch nicht vollendet ist) ein sinnliches Erfolgserlebnis, und zwar in einer Situation, die durch Einschränkungen herausfordert. Das steht dem ursprünglichen Unfähigkeitsgefühl in der situativen Einschränkung der Notenge entgegen. Aus »ästhetischer Verpflichtung« gegenüber dem entstehenden Werk befähigt der Berater den Klienten, mit den ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen die künstlerische Herausforderung anzunehmen und so das Werk zur Vollendung zu bringen. Bei den bildenden Künsten und dem Schreiben ist es selbstverständlicher, vom »Werk« zu sprechen, da das Gestaltete, die Zeichnung, das Gedicht, die Skulptur, die Kurzgeschichte, die Installation oder anderes, unabhängig vom Gestaltenden und der Zeit und ohne zwingend einen weiteren Gestaltungsbeitrag zu verlangen, eingesehen werden kann. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass viele Richtungen von künstlerischen Therapien mit diesen materiellen Mitteln schon immer das Werk und den Prozess in ihre Methode einbezogen haben (McNiff, 1988). Dies ist bei den Therapieformen, welche mit Tanz, Musik oder Theater arbeiten, viel weniger der Fall. Der Prozess tritt da in den Vordergrund, auch weil für jede Aufführung wieder ein Prozess in Gang kommt. Es wurde jedoch schon bald erkannt, dass deshalb dem Tanz, der Musik, der Perfor-

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mance oder der Theaterszene ebenfalls Werkcharakter zukommen. Auch diese Art Werke (Lieder, Tänze, Geschichten, Theater, Ritualspiele etc.) gehören zu allen Kulturen. Wesentliche Aspekte der werkbezogenen Didaktik Wir müssen uns vorerst darauf besinnen, dass traditionelle Volks-, Rockund Popmusik, Jazz, Volkstanz, Geschichtenerzählen, Slapsticks etc. meist improvisatorisch gestaltet sind. Das heißt, sie sind erstens nicht zuerst aufgeschrieben worden, und zweitens werden sie jedes Mal aus dem Moment heraus neu, oft wesentlich anders interpretiert. Es ist heute auch die Postmoderne, die improvisatorisch Angegangenes als Performancewerk wieder aufführt. Diesen Werken gibt man dann auch Namen, wie wir sie zum Beispiel beim Living Theatre (»Paradise Now«) kennen gelernt haben. Diese improvisatorischen Wege zum Werk gleichen einem Sich-vertraut-Machen mit einer Person. Jede Begegnung zeigt neue Seiten, vielleicht auch Über­ raschendes. Manchmal entdecke ich so viel anderes, dass ich mich frage, ob es dieselbe Person ist. Und trotzdem werde ich mir, wenn ich über die nächste Abmachung nachdenke, bewusst sein, dass ich mit dieser und keiner anderen Person etwas vereinbart habe. Bin ich mit dieser Person ohne Vorein­ genommenheit befreundet, dann gibt es für mich eine Identität zwischen dem (gleichbleibenden) Namen und der Person, und trotzdem bleibt die Beziehung lebendig, lässt Änderungen zu. Dieser Zustand illustriert als Metapher die Vollendung des improvisatorischen Werks. Nun gibt es in der Tradition dieser Art der Werkerarbeitung eine klassische Form, wir nennen sie Stegreifspielen. Sie bezeichnet die Art und Weise, wie man zum Beispiel einen Naturjodel, einen »12 Bar Blues« oder eine Schnitzelbank improvisiert. Die Gesetze des Zusammenspiels sind im Stegreifspiel eng an einen Stil gebunden. Für unsere Zwecke eignen sich diese Quellen gut, wenn man auf eine gewisse Erfahrung bei den Klienten bauen kann, und das ist gar nicht so selten, wenn man sich mit dem Volksgut vertraut macht. Wir widmen uns im Folgenden den wesentlichen Aspekten, die für alle Formen (klassische wie moderne) gelten: Der wichtigste Rahmenaspekt in der Improvisation ist die Zeit. Gewiss hat der Raum vor allem beim Tanz, Theater, beim Spiel und in der Per­ formance Art eine grundlegende Bedeutung. In jeder Improvisation sind wir jedoch ebenfalls in einer Art Zeitfenster, das sich der imaginären Wirklichkeit öffnet und Raum und Zeit verwandelt. Deshalb sollten während dieser Zeit keine Anweisungen gegeben werden. Wer vor allem Malen, Modellieren oder Schreiben angeleitet hat, wo die Anleitungssprache durchaus dem Prozess adäquat sein kann, muss sich sehr daran gewöhnen, dass An­

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leitungen in einer Improvisation, die selbst Klang und Sprache umfasst, ungeheuer stören. Aus diesem Grund müssen alle Angaben, die für eine Improvisation nötig sind, bevor ein Zeitfenster geöffnet wird, angekündigt werden. Ganz besondere Aufmerksamkeit braucht die Angabe der Dauer und wie das Ende angegeben wird. Wir nennen diese Zeitfenster in der Tradition der Studios »Takes« (Take one, Take two etc). Verbale Ankündigungen über das nahende Ende eines Takes (»Es ist Zeit aufzuhören« etc.) werden innerhalb der imaginären Wirklichkeit des Spiels als störend empfunden. Auch hier eignet sich der »Zauber« des Studios – je nach Gattung Glocke, Lichtsignal, »Cut«, Handzeichen etc. Auch der Beginn eines Takes sollte diese Art Spannung der Stille und Konzentration fordern, das kann mit den gleichen oder ähnlichen Signalen erreicht werden. Berücksichtigen wir erstens, dass in einer Sitzung mehr als ein Take hilfreich ist, um Veränderungen zu erfassen, und zweitens, dass zwischen den Takes Zeit für Studioreflexion sein muss, sowie drittens, dass im Weiteren das Gestaltete erfasst werden will, dann ist die optimale Zeit für ein Take, wie wir später noch zeigen werden, 3 bis 4 Minuten. Die Anleitungen vor einem Take sollten im Prinzip alle Gestaltungselemente und Motivationsschritte berücksichtigen, so wie sie in der »low-skillhigh-sensitivity«-Praxis vorgestellt wurden. Dabei gilt besonders das »Less is more«-Prinzip. Wenn man beachtet, dass ein Zuviel an Information eine Improvisation eher hemmt und ohnehin gleich wieder vergessen wird, ist es empfehlenswert, vor der Einführung des Improvisationsmodells eine vorbereitende Phase, die verbal begleitet werden kann, einzuschalten. Nachdem in dieser sinnlichen Einstimmung der Rahmen erkundet und die Explorationsrichtung des Gestaltungsmaterials motiviert ist, kann das Improvisations­ modell gegeben oder mit den Klienten entwickelt werden. Zur Illustration die folgenden Beispiele: In einer sensibilisierenden Einstimmung zu einer Tanzimprovisation kann das Aufwärmen des Körpers beispielsweise durch Atem-, Streck- und Dehnübungen auf allen Ebenen (stehend, auf allen Vieren und am Boden) mit gleichzeitigem Bewusstmachen der verschiedenen Perspektiven erreicht werden. Die darauf folgende Anleitung wird dazu auffordern, den Studioraum als Rahmen zu explorieren, indem die Tänzer sich in diesen drei Ebenen fortbewegen. Als Gestaltungsexploration kann nun jeder Tänzer und jede Tänzerin eine Ebene und Tanzart ausprobieren und eine Wahl treffen. All dies kann beobachtend verbal begleitet und zur Motivation jederzeit kommentiert werden. Nun kann das Improvisationsmodell aus den erkundeten Elementen mit den Klienten entwickelt werden. Dabei könnten die Charakteristik der Bewegungen, die Tänzer und ihre Ebenen, sowie die Wahl der Musik und der Rhythmus diskutiert werden. Dann wird der erste Take als Versuch unternommen – ohne jede verbale Begleitung.

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Ähnlich sieht es aus bei einem Spielverfahren: Zur Einstimmung exploriert der Klient alle bereitgestellten Spielobjekte (Steine, Schrauben, Holz­ stücke, Murmeln etc.), betastet, berührt und »begreift« sie, wägt ab und probiert aus, was mit ihnen möglich ist. Dann bereitet und erkundigt er den Rahmen des Spielfeldes und schließlich wählt er exploratorisch das Material und die Spielart. All dies kann die Beraterin beobachtend verbal begleiten, sie kann auch und zur Motivation intervenieren. Jetzt kommt der erste Spielansatz, der es wie ein Take in der Improvisation, ohne unterbrechendes Kommentieren des Beraters, dem Klienten für eine Zeit lang ermöglichen soll, sich ganz ins Spiel zu versenken. Die Praxis zeigt uns immer wieder, dass es wirksam ist, mit einem kurz gefassten ersten Entwurf eines Improvisationsmodells oder Spielansatzes zu beginnen. Auch die Zeit für den ersten Take oder die erste Spielphase soll eher kurz sein (2 bis 3 Minuten). Es hilft, wenn man darauf hinweist, dass wir, statt lange diskutierend das Perfekte entscheiden zu wollen, es erst einmal handelnd versuchen, um dann vor dem zweiten Take aus der Erfahrung heraus Änderungen vornehmen zu können. Diese Haltung senkt auch die zu hohen Erwartungen. Immer wieder muss zudem bei den Besprechungen zwischen den Takes oder Spielansätzen darauf aufmerksam gemacht werden, dass noch mehr Versuche folgen und wir aus dem Handeln Entscheidungen treffen werden. Wenn das Werk oder Spiel dann »auf dem Weg« ist oder »hinhaut«, kann die Zeit verlängert werden, meistens jedoch hat sich schon vorher eine Zeit eingespielt, die nicht mehr eines Endzeichens bedarf. Jeder Take braucht eine Nachbesprechung, die in die Vorbesprechung des nächsten Takes überleitet. Sie soll auch deshalb kurz sein, weil beim Dezen­ trieren das Spiel und das Gestalten Vorrang haben. Der folgende Leitfaden listet die Punkte auf, die in einem solchen Zwischengespräch tangiert werden können. Dabei sollen bei jedem Gespräch andere Schwerpunkte gesetzt werden. Es ist nicht empfehlenswert, jedes Mal alle Schwerpunkte ausführlich zu behandeln, jedoch sinnvoll, im Laufe der Dezentrierung alle Möglichkeiten zu erkunden, so zum Beispiel: –– Rückmeldung der gestaltenden Person/en über die Improvisation und/ oder Rückmeldung der Zeugen durch die Leitung oder eventuelle Mit­ spieler; –– Rückmeldungsfragen: »Was haut hin?«/»Was überrascht?«/»Was ist die größte Herausforderung?« etc. –– Wünsche erfragen zu dem, was auch noch passieren könnte oder aus­ probiert werden will: »Was möchtest du verändern? Kommt etwas Neues hinzu?« –– Nach dem zweiten und den folgenden Takes oder Spielansätzen: »Ist es auf dem Weg?«, »Zeigt sich schon was?«, »Was braucht es, um auf den Weg zu kommen?«, »Was könnte ausgelassen werden oder wieder auf-

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genommen werden?«, »Wie weit sind Sie mit dem Spiel?«, »Ist das Werk jetzt schon erkennbar?«, »Wie merken Sie das?«, »Was hat geholfen?«, »Was war letztes Mal noch im Weg?«, »Wie haben Sie es überwunden?« etc. –– Braucht es eine Änderung im Improvisationsmodell oder Spielansatz oder sollen wir es einfach noch einmal probieren? Änderungen können vom Klienten oder Spielleiter vorgeschlagen werden. –– Anleitungen und Rückmeldungen müssen so konkret sein wie nur möglich. Sie müssen sozusagen an der Oberfläche bleiben. Dies gilt nicht nur später in der ästhetischen Analyse, sondern auch hier in den Zwischenbesprechungen, zwischen den Takes und Spielansätzen. Wann und wo in einer Improvisation etwas geschehen ist, ist wichtig, aber ebenso, was genau wann geschehen ist. Wie konnte es gesehen oder gehört werden? Keine Rückmeldung darf beginnen, ohne dass der Adressat bestätigt, dass er weiß, worauf sie sich genau bezieht. Die Sprache soll bei der Studiosprache bleiben. Genaue Bezeichnungen aus den Kategorien der Gestaltungselemente helfen dabei. Wer vorwiegend Erfahrungen im Anleiten der bildenden Künste hat, ist daran gewöhnt, dass der Rahmen – beispielsweise durch die Papiergröße  – fast selbstverständlich gegeben ist. Überhaupt müssen viele dieser Einzelheiten in den festen Gestaltungsmedien und ihren Gestaltungselementen kaum erwähnt werden, da sie implizit schon so vorbereitet sind. Dies gilt u. a. für die Rahmenbedingungen, das Papierformat, die Wahl des Quellmaterials, die Ölkreiden und die Zeit, die fortlaufend verbal gesteuert werden kann. Der Berater wird sich daran gewöhnen müssen, dass in den aufführenden Künsten die Angaben über den zeitliche Rahmen, die Materialquellen, Werkzeuge oder die Explorationsrichtung schon am Anfang und in den Zwischenbesprechungen sehr präzise, konkret und explizit erwähnt werden müssen. Vom Klienten wird vor einem zweiten Take oft die Bemerkung kommen, dass es ihm nicht mehr gelinge, dieselbe Improvisation zu gestalten. Hier hilft der Vergleich, den wir oben im Zusammenhang mit dem Living Theatre gebraucht haben, nämlich den improvisatorischen Weg zum Werk mit dem Bekanntwerden mit einer Person zu vergleichen. In unserem Zusammenhang hier wird die Begegnung und das Sich-Anfreunden mit einem neuen Bekannten das Verständnis dafür wecken, dass es um ein und denselben Entdeckungsprozess geht und dass da Überraschungen auftreten. Auch der Vergleich mit dem Malen kann verdeutlichen, dass es sich immer um dieselbe Leinwand handelt, wenn wir an einem Bild arbeiten; und auch dort wird sich das Bild vor allem zu Beginn des Malprozesses von Besuch zu Besuch erstaunlich ändern, und erst von einem gewissen Zeitpunkt an wird sich das Werk klar entpuppen.

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Die Gestaltungselemente und ihre Merkmale Wie wir gezeigt haben, hängt die Motivation zur Gestaltung von der Fähigkeit  des Anleitenden ab, die Gestaltungselemente so einzuführen, dass sie sinnlich erfassbar und ansprechend sind. Anleitungen sind wirksamer, wenn wir für jedes Gestaltungselement über einen entsprechenden Wortschatz verfügen. Als Hilfestellung für die Anleitenden haben wir eine Tabelle entwickelt, die auf den im Abschnitt »Low-skill-high-sensitivity« eingeführten Kategorien aufbaut (Rahmen, Materialquellen, Material- und/oder Struktureigenschaften, Werkzeuge und Gestaltungsspielraum). Die schematische Darstellung versucht, die Begriffe für einige ausgewählte künstlerische Gestaltungsdisziplinen exemplarisch darzustellen. Die Darstellung ist weit davon entfernt, eine Definition in der Tradition der formalen Ästhetik zu sein oder einem Anspruch auf Vollständigkeit zu genügen. Sie will jedoch mit den aufgelisteten Beispielen den Beratern und Therapeuten eine Basis geben, die Gestaltungselemente so zu fassen, dass sie selbst das Voka­bular in den Anleitungen entwickeln können. Wir werden sehen, dass die Vielfalt der Unterscheidungen jeweils ab­ hängig ist von der Kunstdisziplin und deren stilistischer Ausprägung. In der Musik beispielsweise ist die Wahl der Materialquelle, des Musikinstruments, des Klangobjekts oder der eigenen Stimme von größter Bedeutung und bedingt Aufmerksamkeit und Zeit. Im Tanz wiederum gibt es keine Wahl des Werkzeugs, es gibt kein anderes Werkzeug als den leiblichen Körper der Tänzerin, der den Raum durch Bewegung gestaltet. Das Einstimmen des Körpers als Werkzeug ist hier von großer Bedeutung. Die Unterscheidung in der Kategorie Rahmen sind in den verschiedenen Gestaltungstraditionen unterschiedlich bestimmend. Sie sind hauptsächlich definiert durch die Tradition in den Kunstrichtungen. Es ist aber ebenso eine Tradition der Künste, den Rahmen mit einer neuen Disziplin zu durchbrechen, was dann zu einem neuen Stil führt. Die Rahmenbedingung »Einheit von Zeit, Raum und Handlung« im Theater und ihre Kontinuität wurde durch das Kino durchbrochen. Mit dem »Flashback« hat der Film auch für die Literatur ein neues Stilelement eingeführt. Die Tradition, welche in der Malerei (der Zeichnung, dem Stich usw.) einen zweidimensionalen Rahmen vorgesehen hat, wurde durch zeitgenössische Maler, die dreidimensionale Objekte mit Farbe oder Leim ins Bild einkleistern, durchbrochen. Diese und andere Beispiele zeigen, dass diese Art des disziplinierten Rahmendurchbrechens immer ein Mehr an Imagination bedeutet und nicht unbedingt ein Mehr an handwerklichem Geschick. Für Dezentrierungen im »low-skill-high-sensitivity«-Stil eignen sich deshalb die Übernahme solcher oder ähnlicher Stilelemente sehr gut. Eine Performance-Improvisation könnte zum Beispiel im Treppenhaus auf und ab bewegt werden, statt auf einer festen Bühne. Eine Skulptur könnte auf

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

Tabelle 2: Unterscheidungsmerkmale im Vergleich von Kunstdisziplinen Beispiel

Unterscheidungsmöglichkeiten

Kunstarten und Stile

Rahmen: räumlich, zeitlich

Bildende Kunst: Malen, Zeichnen, Digital-Fotografie oder Bildarbeit

Leinwand, Papier, Karton, Sperrholz etc. und deren Größe

Wasserfarbe, Acryl, Farbstifte, Wachskreiden, Kohle, Fingerfarbe etc.; Digitalkamera, Computer

Installationen

bühnenähnlicher Rahmen, Größe markieren

schon geformte Gegenstände aus der Natur, Gefundenes, Persönliches (Kleider, Schmuck etc.)

Holzschnitzen

der »innere Raum« im gewählten Block

Baumstämme, Holzblöcke etc. und ihr Charakter, ihre Form und Größe etc.

Materialquellen

Musik: Aktionsmusik, geformt in einem Raum z. B. Kabuki- Musik von Zeit, sozusagen in die Stille; Dauer

Musikinstrumente oder Gegenstände, die »schallen«

Freie Vokal­ improvisation

menschliche Stimme, Frauen-/ Männerstimmen, gesprochene/ gesungene Stimme etc.

geformt in einem Raum von Zeit, sozusagen in die Stille; Dauer

Traditionelle Formen geformt in einem Raum (Volkslieder, Rap, von Zeit, sozusagen in die Stille; Blues, etc). Dauer

menschliche Stimmen oder Musik­ instrumente

Tanz

Studio oder Bühne, drei­ dimensionaler Raum und Zeit

Raum und Bewegung, Gegenstände (z. B. Stühle, Ball), wenn sie als Architektur fest im Raum sind

Dichtung, Poesie, Wortimprovisation

Schreibstube, Lesebühne, »Schreibleinwand« etc.

Sprachelemente, Mundart, Buchstaben, Konsonanten, Vokale, Silben, Wörter

Theater: Das arme Theater

Bühnenraum und Zeit

Situation, Szene, Skript

Puppenspiel

Puppenbühne und Zeit

Puppen, Geschichten und Szenen etc.

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Dezentrieren: Herausforderung und Motivation

Unterscheidungsmöglichkeiten Material- und/oder Struktureigenschaften

Werkzeuge

Gestaltungsspielraum

Farben, Textur, Formen, Linien, Pinselführung etc.

Pinsel, Messer, Roller, Spachtel etc. und deren Eigen­schaften: breit, schmal, weich, spitz, hart etc.

mit geschlossenen Augen oder mit Bewegung der Hände beginnen, dem folgen, was ins Auge springt, etc.Frei, abstrakt, ungegenständlich, gegenständlich etc.

räumliche Bezüge, Grad der Verfremdung etc.: nah, fern, verbunden, separat etc.

Hände oder Werkzeuge etc.

Platziere die Gegenstände sensibel im Hinblick auf das Ganze: stapeln, ordnen, serielle Anordnung etc.

Holzmaserung, gewachMesser, Meißel, Hammer, Schnitzen mit der Maserung, sene und geformte Struktu- Säge, Axt etc.; die Schneide- dem Gewachsenen folgend etc. ren, Härte, Farbe etc. charakteristik etc. Schalleigenschaften; Klang- Hände, Schlegel, Bögen, Anzahl Instrumente, Zusammenspiel, farbe, Höhe, Länge, LautBesen; schwer, leicht, weich, Dichte, Motive, Figuren, Entwicklung, stärke, Artikulation etc. hart etc. Fortspinnung (?) etc. Geräusche, Töne, Konsonanten, Vokale etc.; Klangfarbe, Höhe, Länge, Lautstärke, Artikulation etc.

der Körper der Musizierenden, das Stimmorgan, der Atem etc.; stehend oder sitzend, sotto voce, Flüstern etc.

metrischer oder ametrischer Rhythmus, Tempo, Motive, Figuren, Entwicklung etc.; Stimmbeziehung (?): unisono, Harmonie, kontrapunktisch, dissonant etc.

Töne oder Sprechstimme, Klangfarbe, Höhe, Länge, Lautstärke,

Stimmorgan. Atem/Hände, Schlegel, Bögen, Artikulation, Textphrasierung etc.

Ein- oder Mehrstimmigkeits regeln, Stimmhierarchie, Traditionelle Muster wie 12 bar oder simple Blues etc.

geformter Raum, »effort and shape«, Kraftfluss, Formungsart, Bewegungsrichtung, Energie etc.

der Körper der Tanzenden, Ball, Stäbe, Kissen (wenn aktiv in die Bewegung einbezogen)

choreographische Angaben, die Art und Weise der gestalteten Muster

Alltagssprache; metaphorisch, symbolisch, reflexiv, konkret, neologisch (?) etc.

Stimme, Feder, Stifte, Kreiden, Papier Größe/ Form; Computer; rechte oder linke Hand

freies Schreiben mit dem Klang der Sprache, Gegenständen Stimme geben (Persona od. Animieren), Wörter sammeln, recherchieren etc. Formen wie Haiku, Sonett etc.

Handlung, Rollen, Rollencharakteristiken, Requisiten, Szenenbild, Charakteristiken

Körper, Stimme, Sprache und Bewegung etc.

»Plot«, Thema, Handlung, Improvisa­ tionsstruktur, Entwicklung der Charaktere und der Handlung etc.

Handlungen, Puppen­ charaktere, Requisiten und Kulissen

Hände und Stimme

»Plot«, Thema, Handlung, Improvisa­ tionsstruktur, Entwicklung der Charaktere und der Handlung etc.

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

Räder montiert und mit Windsegeln versehen werden. Durch Pusten der Akteure entsteht eine Choreographie. Die obigen Begriffe sollten nicht als Ausgangspunkt für eine werkorientierte Anleitung von Dezentrierung genommen werden. Der Berater muss sich zuerst überlegen, was für eine Art von Werk er angehen will. Dann können die obigen Unterscheidungsmerkmale helfen, die Anleitung konkret und die anschließende ästhetische Analyse differenziert zu gestalten. Die Aufteilung darf deshalb nicht buchstäblich genommen werden. Manchmal ist ein Gestaltungsmaterial eher Materialquelle, manchmal ist es eher als Werkzeug verstehbar. Wenn wir beispielsweise mit Ölkreiden malen, werden wir je nach Gestaltungsaufgabe diese als Werkzeug oder als Materialquelle differen­ zieren. Wird die Technik des Verreibens der Ölkreide vorgeschlagen, dann ist die Kreide eher Materialquelle und die Finger sind das Werkzeug, sozusagen Pinsel. Ohne Reib- oder Kratztechniken sind alle Kreiden sowohl Materialquelle wie Werkzeug. Selbstverständlich gibt es Kombinationen. In einer Vokalimprovisation mit gesprochener Sprache könnte das Sprechen als Materialquelle zur Exploration von Struktureigenschaften wie Vokalklängen und Konsonantengeräuschen angeboten werden, die dann nach den Eigenschaften Klangfarben, Dauer und Lautstärke gestaltet werden kann. Andererseits kann die menschliche Stimme als Materialquelle genommen werden und die Struktureigenschaften von Singstimme bis Sprechstimme als Differenzierung von Tönen und Geräuschen zu einer Improvisation mit langen und kurzen Klangereignissen vorgeschlagen werden. In beiden Fällen ist der Begriff Werkzeug nicht im Vordergrund. Kompositionen dieser Art kennen wir von Dieter Schnebel (1930). Themennahe und themenferne Dezentrierung Im Laufe unserer Ausführungen ist immer wieder gezeigt worden, wie das Dezentrieren durch ein »Weg-vom-Problem« (das heißt weg aus dem An­ liegen des Klienten) in einem alternativen Kontext Erfahrungen ermöglicht, die eine Lösung begünstigen. Das im Gespräch aus dem Anliegen der Klienten eruierte Problem beinhaltet meistens verschiedene Bereiche. Es ist dann durchaus möglich, dass einer der Themenbereiche bewusst oder unbewusst in der Dezentrierung auftritt, ohne dass das Problem selbst thematisiert wird. Wir könnten beispielsweise fragen, wieweit das Thema »Kommunikation«, das in einem Führungsproblem angesprochen wurde, in ein Theater eingebracht werden kann. In diesem Fall geht die Dezentrierung mehr oder weniger offensichtlich vom Anliegen des Klienten aus. Dies wird als themennahe Dezentrierung ver­standen.

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Dezentrieren: Herausforderung und Motivation

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Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass auch bei einem gut gelungenen Dezentrieren ein mit dem Problem in Verbindung stehendes Thema explizit auftreten kann. Das Wesen der Dezentrierung besteht jedoch darin, den Aufmerksamkeitsfokus auf etwas anderes zu lenken. Die im Problem ­steckenden Themen sind in der alternativen Welterfahrung im Hintergrund. Dasselbe sollte auch für den Berater und Therapeuten gelten. Es widerspricht dem Prinzip der Dezentrierung, wenn die Anleitung aus der Vorstellung der Lösung heraus gewählt wird. Das »vorspringende« Vorgehen des Beratenden soll auch ihn so dezentrieren, dass er sich, kompetent und präsent, vorrangig der Herausforderung einer Begleitung widmen kann. Als Erstes kann festgehalten werden, dass ein Thema keinesfalls so im Spiel oder der Gestaltung auftreten sollte, dass es den Klienten in die Hilf­ losigkeit der Notenge zurückholt oder den Begleiter so beschäftigt, dass er nur noch an die Lösung des Problems denkt. Als Zweites können wir bei einer gelungenen Dezentrierung oft feststellen, dass ein Thema auch ungeplant in der Struktur eines Spiels oder einer künstlerischen Gestaltung vorhanden ist, ohne dass dabei das Problemhafte  die Handlungsmöglichkeiten einschränkt. Ein Beispiel soll das illus­trieren: Coaching im Zusammenhang mit Prüfungsangst Als Dezentrierung wird spontan eine Theaterimprovisation vorgeschlagen. Als Szene ein Bürotisch mit einem Chef und einem Besucher. Der Klient will den Chef spielen. Zur Improvisation wird ein Vorstellungsgespräch gewählt. In den verschiedenen Takes gerät das Spiel mehr und mehr zu einem Schwank, nachdem der Klient als Chef sich hinter einer feudalen Büroeinrichtung verbaut und das Gespräch mit einer deutlichen Lust zu arroganten Unterbrechungen mit Telefonaten und unanständigem Zigarettenrauchen führt. Dem Klienten wird während des Erarbeitens diese »Schwanks« das Problem (Prüfungsängste) nicht bewusst, obwohl das Spiel thematisch einem Perspektivenwechsel aus der Sicht des Prüflings nahekommt.

Dezentrierungen, die das Anliegen oder die Sorge des Klienten nicht oder nur ungeplant in die Struktur der Anleitung hineinnehmen, nennen wir themen­ ferne De­zentrierungen. Wenn ein Aspekt eines Themas auf Anweisungen der Beraterin in die Dezentrierung hinein-genommen wird, nennen wir sie eine themennahe Dezentrierung. Dies kann auf zwei Weisen geschehen: –– Es werden inhaltliche Aspekte in die Dezentrierung übernommen. –– Es wird etwas aus der Struktur des Themas übernommen. Methoden wie spielerischer Perspektivenwechsel, Rollenspiel, geführte Imagination, kreative Aufstellung einer Situation, Installation sind oft inhaltlich nahe an einem Thema und können überraschende Öffnungen bewirken, sie

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

sind deshalb auch als kurze Sequenzen zur Klärung des Anliegens zu Beginn der Sitzung einsetzbar. Die Struktur einer bestehenden Problematik zu übernehmen ist nur dann sinnvoll, wenn sich diese spontan aus einem Thema so erkennen lässt, dass dem Berater sofort eine Kunstdisziplin in den Sinn kommt. Um solche Ähnlichkeit der Strukturen zu entdecken, kann man Gesichtspunkte der inter­ modalen Theorie berücksichtigen. Zum Beispiel kann die interpersonale Struktur des Anliegens einen Hinweis auf die Kunstdisziplin geben, die diesem interpersonalen Gesichtspunkt am meisten entspricht. So ist bei einem Team mit einem Anliegen, das mit Kommunikation zwischen den Mitgliedern zu tun hat, eine ähnliche interpersonale Struktur angesprochen, wie bei einem Free-Jazz-Ensemble. Eine »low-skill-high-sensitivity«-Musikimprovisation könnte hier gewählt werden. Die Art und Weise, wie sich ein Anliegen manifestiert, kann auch Hinweise auf die Explorationsrichtung geben. Hier ist in der Wahl der Gestaltungsart das Kristallisationsprinzip (Knill, 1990b) hilfreich. Ist ein Anliegen gekennzeichnet durch eine Verwirrung aufgrund einer nie zur Ruhe kommenden Situation, so kann die Strukturähnlichkeit der »Bewegung als Modalität« im Tanzen, Modellieren oder Malen genutzt werden, ohne das Problem in die Gestaltung zu nehmen. Tanz selbst ist kristallisierte Bewegung, denn Bewegung ist die Substanz des Tanzes, ohne die er nicht denkbar ist. Im Tanz wird die Bewegung hautnah erlebt und aus dem Erleben reflektiert werden kann. Im Modellieren/Plastizieren und Malen steht zwar das Bild im Vordergrund, aber auch die Bewegung lässt sich festhalten, dafür – und das ist wichtig – lässt sich die Bewegung beim Bild aus der Distanz wahrnehmen. Diese Differenz kann den Ausschlag für die Entscheidung bezüglich der Gestaltungsart geben. Es gibt auch die Möglichkeit, sehr themennah zu beginnen und zu­ nehmend in die Themenferne zu dezentrieren. Dies ist dann möglich, wenn man eine Anliegenssituation vorerst zu einem Spiel verfremdet (beispielsweise durch Stellen oder Bewegen von Objekten, Figuren oder Gegenständen) und dann das, was als Bild, als Bewegung, als Handlung oder als Klang erscheint, als Ausgangspunkt zu einer künstlerischen Gestaltung nimmt. Man stellt beispielsweise eine Situation mit Steinen verschiedener Farbe, Form und Größe. Anstatt dass man hier auf die Lösung losgeht, dezen­ triert man weiter und lässt dieses Gebilde durch eine weitere Materialzugabe (z. B. farbigen Sand) als künstlerisches Mosaik vollenden. Solche gemischten Formen können helfen, das »Exotische« einer Dezentrierung etwas abzuschwächen.

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Analyse und Feedback in der Dezentrierung

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4.7. Analyse und Feedback in der Dezentrierung Wir müssen uns vor Augen halten, dass Klienten im ganzen außerordent­ lichen Kontext der Sitzung, auch während der Dezentrierung, wach, bewusst und ansprechbar in der Begegnung mit der Begleitung sind. Es ist dann einleuchtend, dass die Erfahrung während der Dezentrierung, die zu einem substantiellen, sicht- und/oder hörbaren Ergebnis geführt hat, genau angeschaut werden muss. Dies insbesondere, da es sich bei diesem Prozess um Handlungsweisen und Auseinandersetzungen desselben Menschen handelt, der im Alltagskontext mit Herausforderungen an Grenzen gestoßen ist. Nun ist der gleiche Mensch, zuerst einmal im Gespräch, bei der Aufnahme des Anliegens und dann wiederum jetzt, in der Herausforderung der Dezentrierung, in einer bewusst machenden Begleitung. Diese durchgehende Bewusstheit und Ansprechbarkeit muss hier, am Ende der Dezentrierung im Studio, genutzt werden, indem die Analyse vom Klienten her erarbeitet wird. Das Werk bildet dazu die Oberfläche der Beobachtung, von der aus auch Prozessfragen beantwortet werden können. Diese Beobachtung ist Repräsentation, eine Art ästhetisches Protokoll des aus dem Spiel und der Gestaltung gewonnenen Spielraumes. Diese Ober­ fläche des Werks kann auch aus der Sicht der Selbstorganisationstheorie zunächst einmal als Feld betrachtet werden, in dem Attraktoren für neue Perspektiven, Ideen, Sicht- und Handlungsmöglichkeiten entstehen können. Kernprinzipien des selbstorganisatorischen Verständnisses sind auch auf den künstlerischen Prozess anwendbar. Die attrahierende Dynamik innerhalb der Selbstorganisation zum künstlerischen Werk kann als analog zur Dynamik eines Veränderungsprozesses gesehen werden. Diese muss in der Analyse sprachlich mitteilbar und nachvollziehbar werden, um im Alltagskontext Folgen zu haben. Eine solche Betrachtung bewirkt auch eine Ich-Distanzierung. Das be­ deutet, dass der künstlerisch-spielerische Ausdruck zum einen nicht ohne den handelnden Schaffenden denkbar ist und diesen leibseelisch beteiligt, dass aber zum anderen das jetzt in der Welt sichtbare Werk als kulturelles Phänomen jeweils etwas Neues und Anderes erschließt und so kulturabhängig multiple Perspektiven und Bedeutungen ermöglicht. Auch dieser Aspekt ist in der Analyse wichtig, wenn wir systemisch reflektieren wollen (Knill, 2004b). Wenn wir alle diese Aspekte ins Auge fassen, staunen wir über den ungeheuren Reichtum an wahrzunehmender Substanz, der sich am Schluss einer Dezentrierung präsentiert. Es hat sich gezeigt, dass wir nur allzu oft einen großen Teil an »Daten« verlieren. Das kann passieren, wenn wir nicht ganz sorgfältig vorgehen. Oft lässt man sich beispielsweise von einem auffälligen Vordergrund verleiten und drängt auf die Ernte hin, ahnungslos gegenüber

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

der Fülle wichtiger Erfahrungen, die vom Klienten her hätten wahrgenommen werden können. Es ist uns aufgefallen, dass schon im Laufe einer Dezentrierung vom Klienten Beobachtungen über die schwierigen respektive erfolgreichen Handlungsweisen und Äußerungen zum Werk gemacht werden. Diese erhielten dann später bei der Ernte nur deshalb ihre Wertschätzung, weil die beratende Person oder ein außenstehender Beobachter Notizen gemacht hatte. Wir haben gelegentlich den Eindruck, dass das, was nicht in der Analyse festgehalten wird, nach dem Verlassen des Studioraums wie weggeblasen ist. Aus all diesen Gründen haben wir ein Akronym als Leitfaden entwickelt, der uns hilft, den Reichtum der »Oberfläche« ganz nah am Konkreten zu erfassen. Damit soll die »Oberflächlichkeit« der vorschnellen Reduktion auf eine einzige Interpretation hin vermieden werden. Weil wir das ganz konkret immer nahe an der sinnlichen Wahrnehmung der Sache selbst meinen, so wie es sich durch das werkartige Ergebnis manifestiert, sprechen wir von der »­ästhetischen Analyse«. Im griechischen Wortstamm aisthesis ist der Bezug zu den Sinnen gegeben. Hier möchten wir noch vor einer sturen Handhabung des im Folgenden vorgestellten Akronyms warnen. Es soll erinnert werden, dass wir eigentlich die Absicht haben, ein Gespräch zu führen. Üblicherweise beginnen die Gespräche in Gegenwart eines künstlerischen Werks ganz selbstverständlich mit einer ersten spontanen Äußerung, meist in Form einer Art Gratulation: »Ich staune über die Intensität dieser Farben!« oder »Dieser Text hat mich von A bis Z gepackt!« oder »Ich weiß gar nicht, wo beginnen. Da waren so viele Überraschungen in der Improvisation. Also zum Beispiel, der plötzliche Einfall der Sprechstimmen etc.« oder »Oh, das ging rasch, nicht wahr? Und von wo sollen wir schauen?« etc. Wir raten den begleitenden Personen, authentisch zu bleiben und sensibel darauf zu achten, dass sie nicht in Muster verfallen, die hemmende Geister aus einer negativen biographischen künstlerischen Erfahrung hervorrufen. Das Akronym »OPER« Wir werden sehen, dass die Reihenfolge der Analyseebenen, die durch diesen Leitfaden vorgeschlagen wird, von Bedeutung ist. Es folgt hier vorerst eine Kurzfassung. 1. O für Oberfläche. Damit ist die eigentliche dingliche bzw. phänomenolo­ gische Manifestation des Ergebnisses gemeint. Das, was sichtbar wird beim Gestalteten, hörbar bei der Musik, lesbar beim Geschriebenen, hör- und sichtbar beim Theater etc.

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Analyse und Feedback in der Dezentrierung

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2. P für Prozess. Alle Maßnahmen, Handlungsweisen, eingeschlagenen Strategien, Interventionen, Hilfestellungen etc., bezogen auf das Weiterkommen, die Hindernisse, die Erfolge, das Befriedigende oder Unbefriedigende etc. 3. E für Erleben. Die Art und Weise, wie die Prozessphasen und Ereignisse erlebt wurden, beispielsweise Überraschungen und emotionale Komponenten. 4. R für Richtungweisendes. Fragen und Anmerkungen bezüglich einer Weiterbearbeitung oder Vollendung des Werks: Was braucht das Werk noch? Ist es fertig? Wenn nicht, wie würde ich fortfahren? Was hat mir das Werk zu sagen, was mag ich an ihm? Was ist bedeutend? Möchte ich ihm einen Namen geben? etc. Oberfläche Sie ist das eigentliche ästhetische Protokoll der ganzen Dezentrierung. An ihr kann in den nächsten Schritten auch die ästhetische Analyse des Prozesses, der Erlebnisse und des Richtungweisenden, durch Aufzeigen, Anbinden und Hinweisen, erfolgen. Es ist wichtig, von der Analyse des Erschaffenen, sozu­sagen von allen Einsicht- und Hörbaren auszugehen. Dies ist der grundlegende Unterschied zu den anderen Phänomenen der Imagination. Das Gegenständliche, Dinghafte des künstlerischen Tuns und Spiels erlaubt den gleichzeitigen, direkten Zugang für Klient und Begleiter. Schon im Prozess des Herstellens ist das Entstehende sicht- und hörbar, ertast- und spürbar. Wir sind beim Intervenieren nicht allein auf die Beschreibung oder Interpretation angewiesen, wir erleben uns einer überprüfbaren Oberfläche gegenüber, auf die direkt hingewiesen werden kann. An dieser Oberfläche kann die Eigenwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung überprüft werden. Oft werden die Werke durch gewohnte Beurteilungsvorurteile vereinnahmt. Hier ist es dann, wo im klärenden Gespräch der ästhetischen Analyse bezogen auf die Oberfläche, der Blick für Unbeachtetes geöffnet wird und blinde Flecken bewusst werden. Solche Korrekturen der Wahrnehmung gegenüber dem Geschaffenen und seiner Wirkung auf die Umwelt sind wohl etwas vom Wichtigsten. Erst wenn das substantiell Anwesende, das Werk, umfassend wahrgenommen wurde, soll eine erweiterte Reflexion der Handlungsweisen und der Verhaltensweisen angegangen werden. Es passiert sonst leicht, dass wesentliche Aspekte im Prozess oder Erlebnis des Klienten, die mit wichtigen Manifestationen im Werk verbunden sind, wegen blinden Flecken oder rigiden Wahrnehmungsmustern des Beraters übergangen werden. Aus diesem Grund soll die Analyse der Oberfläche am Anfang stehen.

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

Das Vorgehen bei der Analyse der Oberfläche Der Gegenstand der Analyse ist das sinnlich Wahrnehmbare in der Art und Weise, wie wir es weiter oben für ein paar ausgewählte, künstlerische Ge­ staltungsdisziplinen exemplarisch im Abschnitt »Die Gestaltungselemente und ihre Merkmale« beschrieben haben. Das dort angeführte Schema »Unterscheidungsmerkmale im Vergleich von Kunstdisziplinen« (Tabelle 2) gibt die Kategorien, nach denen vorgegangen werden kann. Es ist zu beachten, dass nicht in jedem Gestaltungsmedium alle Kategorien gleich große Bedeutung haben. Material und Struktureigenschaften sind immer von vordergründiger Bedeutung, die anderen Elemente sind oft vernachlässigbar. Einige Beispiele sollen das skizzieren: Fragen nach Material- und/oder Struktureigenschaften –– Beim Malen: Farben, Textur, Formen, Linien etc. –– Beim Theater: Handlung, Rollen, Rollencharakteristiken, Requisiten, Szenenbild etc. –– Bei freier Musikimprovisation: Schallcharakteristiken, ihr Zeitpunkt und wie sie auftreten in Klangfarbe, Höhe, Länge, Lautstärke; rhythmische Muster etc. –– Beim Tanz: Raumnutzung, Formungsart, Bewegungsrichtung, Kraftfluss (Effort and Shape) etc. –– Beim Schreiben: Sprachart, alltägliche, metaphorische, symbolische, reflektive, konkrete, neologische, poetisch verdichtete Sprache etc. –– Und so weiter bei anderen Gestaltungsmitteln. Fragen zu Materialquellen –– Bei der Musik: Klangquellen oder Instrumente; auf welche Art, wann? etc. –– Beim Theater: Situation, Szene, Skript etc. –– Und so weiter bei anderen Gestaltungsmitteln. Fragen zum Gestaltungsspielraum –– Beim Schreiben: Aspekte der Form, wie Rhythmus, Verse, Abschnitte, Bezüge, Rückblenden etc. –– Bei der Musik: Anzahl Instrumente, Zusammenspiel, Dichte, Motive, Figuren, Entwicklung, Fortspinnung etc. –– Und so weiter bei anderen Gestaltungsmitteln. Fragen zum Rahmen –– Beim Theater: Bühnenraum und Zeit-Handlungs-Rahmen –– Beim Schreiben: Rahmen einer Kurzgeschichte, Essay, Komödie, Krimi etc. –– Und so weiter bei anderen Gestaltungsmitteln.

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Analyse und Feedback in der Dezentrierung

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Fragen zu den Werkzeugen –– Beim Theater: Stimm- und Körpergebrauch, Einsatz von Sprache, Bewegung etc. –– Bei der Musik: Mit Schlägeln (weich, hart), Bogen, Händen, Besen etc. –– Und so weiter bei anderen Gestaltungsmitteln. Es dient der Vervollständigung der Wahrnehmung der Dezentrierung am besten, wenn in der Analyse ein offenes Gespräch entsteht, das nicht nur aus Fragen des Begleiters und Antworten der Klienten besteht. Es ist von Vorteil, wenn Berater und Therapeut auch Beobachtungen mitteilen. Diese sollen sich an Kriterien der Oberfläche halten und reduzierende oder generalisierende Interpretationen vermeiden. Die Wirksamkeit solcher Interventionen ist dann am ehesten gewährleistet, wenn zu einer solchen Beobachtung der Ort, die Zeit und die Grundlage der Manifestation für alle sichtbar und in der Haltung der ästhetischen Verantwortung beobachtet werden. Das könnte dann so verlaufen: Beraterin: »Ihr zweiter Gongschlag hat die dichte, eher forte gehaltene Schlagzeug­ interaktion zu einem Ende geführt, und im Ausklang erschienen dann die Saiteninstrumente in einem teppichähnlichen Gewebe. Wissen Sie, wo das war?« Klient A: »Nein, ich erinnere mich nur an meinen Schlag innerhalb der Schlag­ zeugimprovisation; aber ja da war ein Wechsel, wie war das nur?« Klient B: »Ich habe zu dir aufgeschaut, du hast zu diesem Zeitpunkt zum weichen, großen Schlägel gewechselt.« Klient A: »Ja, jetzt kommt mir was, war das der Moment, als es so still wurde?« Beraterin: »Ja, alle pausierten und man hörte nur das wunderbare Ausklingen des Gongs, dann ging es weiter, erinnern Sie sich?« Klient C platzt rein: »Jetzt bin ich dran! Dachte ich beim Ausklingen des Gongs, das ist der Zeitpunkt für mein Streichpsalter, das passt!« Klient A: »Jetzt weiß ich auch wieder, wo das war, etwa in der Hälfte der Improvisation, nicht war? Ja, das ist wichtig, ich hatte nämlich beim Wechsel zum weichen Schlägel nicht mit einem solchen musikalischen Effekt für das ganze Ensemble gerechnet.«

Prozess Die künstlerische oder spielorientierte Herausforderung in der Dezentrierung hat nicht nur ein Loslösen vom Problemdenken gebracht, sondern in diesem gelösten Klima auch zu einer künstlerischen Lösung geführt. Nachdem dieses Ergebnis, »Werk« genannt, nun in der Wahrnehmung vervollständigt und in seiner Schönheit gewürdigt wurde, müssen auch die Bedingungen, die zum ästhetischen Ergebnis geführt haben, erfasst werden. Diese Analyse muss ressourcenorientiert durchgeführt werden. Das setzt voraus, dass der erste Schritt der Analyse im Geist der Würdigung des Werks gesche-

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

hen ist und nun ermittelt werden kann, was für Ressourcen zum Zug kamen. Die Prozessanalyse soll zur Sprache bringen: –– Was hilfreich war, wie die Idee entstand und vom wem sie kam (Klient oder Begleiter). –– Was sich als überflüssig erwies und welche Funktion dies für das Weiterkommen hatte. Wurde es zur Entscheidungshilfe, oder entstand ein wichtiger Umweg? etc. –– Was hinderlich war und was den Klienten dazu brachte, trotzdem weiterzumachen. In diese Reflexion werden folgende Aspekte integriert: –– Alles, was an Rahmen, Materialquellen und Werkzeugen zur Verfügung gestellt wurde oder was Klienten zusätzlich verlangten oder nicht gebrauchten. –– Die Gestaltungs- und Spielanweisung der Prozessbegleitung am Anfang und während des Prozesses. –– Alle Fragen, Vorschläge, Maßnahmen, spontanen, geplanten und ungeplanten Ereignisse aus der Klientenperspektive während des Prozesses und in den Improvisationen zwischen den »Takes«. Es ist durchaus möglich, diese Analyse mit einer Mobilisierung der Resi­ lienz gleichzusetzen. Nach Schiffer versteht man unter Resilienz die Fähigkeit, Ressourcen zu aktivieren (Schiffer, 2001, S. 11). Hier in dieser Analyse werden Situationen erfasst, die mit Auswahl und Einschränkung, Umgang mit hinderlichen und hilfreichen Maßnahmen, mit Spontaneität und Miss­ geschick, Zufall und Planung, Selbständigkeit und Hilfe-Annehmen zu tun haben. Dabei wird alles im Hinblick auf das im Gestalten und im Spiel Erreichte reflektiert; es wird aufgezeigt, wie beides, »Positives« und »Negatives«, für Lösungen handhabbar werden. Aus dieser Perspektive lässt sich auch erklären, weshalb diese Prozessanalyse oft Sätze hervorbringt, die in ihrer poetischen Qualität wie Lebensweisheiten klingen. Beispielsweise antwortete eine Klientin, die beim Malen nicht weiterwusste, später in der Prozessanalyse auf die Frage, was sie dann schließlich weitergebracht habe: »Man muss einfach ein paar Schritte zurücktreten, dann gewinnt man wieder die Übersicht.« Eine Klientin aus dem Team führt Regie in einer Theaterimprovisation und bemerkt nach dem zweiten Take in der Planungsbesprechung zum dritten Take: »Wenn ich nicht alle gleichzeitig auftreten lasse, kann man den Witz besser erkennen und es wird humorvoll.« Es empfiehlt sich, schon während dem Prozess Notizen zu machen. Bei Improvisationen kann das auf dem Flipchart in Form von Regieanweisungen geschehen. Das Blatt kann dann bei der Analyse des Prozesses weiter aus­ gefüllt werden.

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Analyse und Feedback in der Dezentrierung

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Erleben Selbstverständlich werden Erlebnisgehalte bereits innerhalb der Oberflächenund Prozessanalyse einfließen. In dieser Phase der ästhetischen Analyse soll das Erleben ins Zentrum rücken. Vorteilhafterweise merkt man sich die Momente, wo bereits vorher im Analysegespräch Zeichen von Emotion oder Erregung wahrgenommen wurden. Hier soll nun darauf eingegangen werden. Es sind zwei wichtige Gründe, die uns veranlassen, nur bei intensiven Gefühlsreaktionen schon früher auf Erlebensgehalte einzugehen: –– Die Wahrnehmung des Erreichten ist jetzt erst vervollständigt. Vorher besteht die Gefahr einer durch Überzeugungen eingeschränkten Wahrnehmung. Bei starken Emotionen zum entstandenen Werk ist es hilfreich, diesen kurz Raum zu geben, so dass die Wahrnehmung für die ästhetische Analyse frei wird. –– Die Ressourcen sind jetzt aktiviert und wir können auf eine Resilienz bauen. Das Gespräch konzentriert sich in dieser Phase auf Ereignisse wie: –– Was war überraschend, wo waren Sie erfreut, schockiert oder verärgert? –– Wie war Ihr Zustand körperlich und psychisch vor der Dezentrierung und jetzt im Vergleich? Ist Ihnen zwischendurch etwas an diesem Zustand aufgefallen? –– Wie haben Sie Ihre Mitspieler erlebt – vorher, nachher, zwischendurch? –– Wie haben Sie unsere Beziehung in der Dezentrierung erlebt? Man kann sich leicht verführen lassen, schon in dieser Phase der Analyse Bezüge zum Anliegen im Alltagskontext zu machen. Damit sollten wir bis zur Ernte warten. Es kann sonst vorkommen, dass all die Daten, die vorher gesammelt wurden, voreilig unter diesem einen Aspekt subsumiert werden. Besonders in dieser Phase der Analyse ist die ressourcenorientierte Haltung zu pflegen. Bei positiven Erlebnisinhalten soll die Frage »Was noch?« zu Erweiterungen führen. Bei negativen Erlebnisinhalten ist die Frage wichtig nach dem, was geholfen hat, trotzdem dabei zu bleiben. Die Aufforderung an den Klienten darzustellen, was stattdessen hätte geschehen können, hat hier oft auch Platz. Richtungweisendes Hier geht es am Schluss der ästhetischen Analyse um das Werk oder das Spiel, so wie es jetzt als kulturelles Phänomen in der Welt einsichtbar ist und im Zusammenhang mit den anderen Werken des Klienten steht. Jedes Werk er-

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

schließt jeweils etwas Neues und Anderes und ermöglicht so kulturabhängig multiple Perspektiven und Bedeutungen. Erst im nachfolgenden Schritt, der Ernte, geht es um die Bedeutungssuche in Bezug auf das Anliegen des Klienten und des Alltagskontextes. Hier geht es um das Bewusstmachen, dass das, was da in der Dezentrierung entstanden ist, bedeutungsvoll ist. Wir erinnern uns auch an das, »was sich außerhalb unserer Kontrolle befindet«, »was sich im Traum wie in der Kunst ereignet«. Diesem Überraschenden, ja auch Schönen gebührt Staunen und Wertschätzung. Seinetwegen soll auch einer Art Dankbarkeit Raum gegeben werden. Folgende Themen können hier angegangen werden: –– Das Werk, die Improvisation und ihre Vollendung. »Was braucht es noch?« – Wie würden Sie weiterfahren?« – »Muss da noch etwas dazu?« etc. –– Das Werk, die Improvisation im Verbund mit anderen. »Diese improvisierte Melodie ist in volkstümlichem Moll, sie erinnert mich an ein altes Liebeslied!« – »Es liest sich wie ein Spottgedicht der Basler Fasnacht!« – »Das ist wie der 2. Akt des Theaters, das wir vor zwei Wochen gespielt haben!« –– Sagt mir das Werk etwas, spricht es mich an? »Wenn es Ihnen etwas sagt, was sagt es bitte?« – »Es spricht Sie an, wie spricht es bitte?« – »Hat es einen Titel?« –– Was ist jetzt, am Schluss dieser Besprechung/Werkanalyse, im Werk besonders bedeutungsvoll für Sie? Hier können auch symbolische Aspekte zur Sprache kommen. Es ist wichtig, alle Aussagen an der Oberfläche zu verankern und nach phänomenologischer Tradition möglichst offen zu halten. Schlussbemerkung zur ästhetischen Analyse Selbstverständlich kann die ästhetische Analyse nicht immer genau nach diesem Muster von »OPER« ablaufen. Häufig besteht die Tendenz, dass eine sehr abstrakte Ebene, beispielsweise »Richtungweisendes« oder Bedeutungen, spontan eingebracht wird. Es ist nicht sinnvoll, solches abrupt zu unterbinden. Hingegen ist eine Gesprächsführung hilfreich, die immer, wenn ein Vorspringen in eine weiterführende Ebene passiert, an die konkrete Ober­ fläche zurückführt und das Gespräch dort verankert. So kann man zum Beispiel sagen: »Ja, und wo wird das sichtbar, hier in der Skulptur aus Ton?« Oder: »War dies, als Sie zum Xylophon gingen und die Melodie entwickelten?« etc. Wenn man dann wieder bei der Oberfläche ist, kann man von hier aus die Wahrnehmung ergänzen und auch Prozessfragen angehen, die mit dieser Ergänzung zu tun haben. Man bemerkt dann etwa: »Ich sehe jedoch in dieser Skulptur auch diesen runden Vorsprung ­neben dem Einschnitt, den Sie erwähnen; war das aus einem anderen Im-

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Ausbeute für den Alltagskontext: die »Ernte«

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puls heraus?« Oder: »Dann summten Sie die Melodie später noch einmal, beim Monochord, war es Ihnen bewusst, dass es die gleiche, eine Art Reprise, war?« »OPER« ist als Leitfaden gedacht, der uns beim Vorgehen in der ästhe­ tischen Analyse daran erinnern soll, dass wir möglichst konkret an der Oberfläche eine reiche Sprache suchen und es uns bewusst wird, wenn wir in den Bereich der deutenden Interpretation geraten. Für die Ernte, wo Bedeutungen für das Anliegen Raum haben, ist es von Vorteil, eine möglichst reiche Palette von »handfesten« Aussagen zu haben.

4.8. Ausbeute für den Alltagskontext: die »Ernte« Die künstlerische oder spielerische Dezentrierung samt ihrer ästhetischen Analyse ist abgeschlossen. Beraterin und Klientin sitzen wieder auf den Stühlen, auf denen die Sitzung begonnen und das Gespräch über die Sorge und die Zukunftsvisionen stattgefunden hat. Sie haben also wieder im ursprünglichen Gesprächsraum Platz genommen und sind quasi aus dem alternativen in den außerordentlichen Kontext der Beratung zurückgekehrt. Es geht jetzt darum, die Verbindung zu schaffen zwischen dem, was hier ursprünglich besprochen wurde, und dem, was während der Dezentrierung und ihrer Analyse passierte. Als Ausgangspunkt für diesen Gesprächsabschnitt dient eine erste, möglichst offen formulierte Frage. Sie bezweckt, die während der Dezentrierung und der ästhetischen Analyse gemachten Er­ fahrungen in ihrer ganzen Vielfalt in Beziehung zu setzen zu dem, was zu Beginn der Beratung besprochen wurde. Das Suchen nach möglichen Beziehungen zwischen Dezentrierungsgeschehen und Realsituation nennen wir »Ernten«. Der Begriff ist spontan entstanden. Er drückt aus, dass das, was geerntet werden kann, zwar etwas zu tun hat mit den Bemühungen des Klienten und der professionellen Person, dass das Erntegut aber nicht einfach produziert werden kann. Es gibt keine irgendwie geartete Prozedur, die das, was sich bei der Ernte zeigt, inhaltlich bestimmt. Es geht nicht um möglichst geschicktes assoziatives oder rationales Schlussfolgern. Das Geerntete fällt dem Klienten zu, wirkt oft überraschend und hat meist den Charakter eines (plötzlichen) Einfalls. Offene Formulierung der Eingangsfrage Wohlverstanden: Wir würden gegenüber einem Klienten nie behaupten, dass hier eine bestimmte Verbindung/Beziehung bestehen müsse, die es heraus-

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

zufinden gelte. Wir sprechen immer von mehreren Verbindungen und von möglichen, das heißt hypothetischen Beziehungen. Kontraproduktiv ist es darum, die Erfahrungen während der Dezentrierungsphase zuerst zu bündeln oder die »bedeutungsvollste« Erfahrung oder gar die Essenz der gemachten Erfahrungen erfragen zu wollen. Die Beraterin würde durch solches Bemühen die Suchrichtung nicht nur ungebührlich einengen, sondern auch suggerieren, dass es wichtige und unwichtige oder gar »richtige« und »falsche« Beziehungen gibt. Es sind im Gegenteil längst nicht immer die allerersten Assoziationen, die sich in der späteren Bearbeitung als ergiebig und nützlich erweisen. Oft sind Verbindungen, die erst nach einigem Nachdenken als »weitere Möglichkeit« auftauchen, in besonderem Maß anregend und fruchtbar. Nicht nur kontraproduktiv, sondern geradezu falsch ist es dagegen, das, was im alternativen Kontext passiert ist, direkt mit dem Wortlaut des konkreten Anliegens oder gar mit dem formulierten »guten Ergebnis« der laufenden Sitzung in Verbindung zu bringen. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass das, was als Ernte »eingefahren« werden kann, sich fast immer auf etwas Grundsätzlicheres, Allgemeineres bezieht und recht oft nur einen indirekten Bezug zum Wortlaut des zu Beginn der Sitzung formulierten Anliegens hat. Es ist deshalb wichtig, die Frage, die die Gesprächsphase der Ernte einleitet, sehr offen zu stellen und sowohl das eigentliche Geschehen während der Dezentrierung als auch die ästhetische Analyse mit einzube­ ziehen. Die folgenden Beispiele geben einen Hinweis, an welche Art von Formulierung dabei zu denken ist. »Wenn Sie jetzt von hier aus auf die Erfahrungen, die Sie dort gemacht haben, und auf alles, was dort gesprochen wurde, zurückschauen (wir schauen von unseren Stühlen auf den Ort der Dezentrierung), was könnte das zu tun haben mit dem, was Sie mir zu Beginn unseres Gesprächs erzählt haben?« »Und wenn wir jetzt alles, was in der letzten Viertelstunde passiert ist und was besprochen wurde, in Beziehung setzen zu dem, was zu Beginn der Sitzung zur Sprache kam, was kommt Ihnen da in den Sinn?« »Angenommen, das, was dort drüben (gemeint ist im Spiel, beim Werk und der ästhetische Analyse) passiert ist, hätte etwas zu tun mit dem, was wir am Anfang der Sitzung besprochen haben: Was könnte das sein?«

Ist diese erste Frage gestellt, gilt es für die Beraterin zu warten, einfach abzuwarten, denn die Frage ist schwierig. Von der Alltagslogik her ist sie eigentlich unmöglich, irgendwie »verrückt«, erwarten wir doch eine Antwort über eine Beziehung, wo es für ein lineares Alltagsdenken gar keine Beziehung geben kann. Umso erstaunlicher ist es, dass die Frage bis jetzt von allen unseren Klienten und Klientinnen in der Regel ohne jegliche Hilfestellung beant­

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Ausbeute für den Alltagskontext: die »Ernte«

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wortet werden konnte. Manchmal sehr rasch und spontan, manchmal nur zögernd und nach einer längeren Pause. Hilfestellungen Eine mögliche Hilfe besteht in der einfachen Wiederholung der gestellten Frage, entweder wörtlich oder als Variante formuliert. Hilfestellung könnte auch sein, die Aussage der Klientin während der ästhetischen Analyse möglichst wörtlich zu wiederholen. Dabei sollte der Berater vermeiden, persönliche Zusätze zu machen oder bestimmte Bemerkungen der Klientin speziell zu betonen. Es mag zwar verständlich sein, dass vor allem Berater, die mit dem Verfahren noch wenig vertraut sind, dem Klienten zu helfen versuchen, vor allem dann, wenn sie selbst solche mögliche Beziehungen sehen. Es schon an dieser Stelle im Gespräch zu tun, widerspricht jedoch der Grundausrichtung unserer Arbeitsweise völlig. Ein einziges Mal haben wir in den vergangenen Jahren die Antwort erhalten: »Gar nichts.« (gemeint ist: Ich sehe gar keine Beziehung). Spontan reagierte der Berater in etwa so: »Natürlich. Das ist ja im Grunde auch eine völlig abwegige Frage. Da berichtest du mir zu Beginn der Sitzung von dieser Schwierigkeit in deiner Institution. Dann arbeitest du an dieser Plastik und setzst alles daran, sie ästhetisch möglichst schön zu gestalten. Und nun frage ich nach der Beziehung zwischen beidem. (Pause) – Angenommen, es würde nun aber doch Beziehungen geben: Was für welche könnten das sein? Ich kann dir gern nochmals vorlesen, was du zu deinem Werk und zum Prozess, der dazu führte, gesagt hast.«

Soweit kam es gar nicht. Die Klientin unterbrach den Berater und war in der Lage, ohne irgendwelches Drängen seinerseits, eine ganze Reihe von möglichen Beziehungen anzugeben. Die Zeit reichte, um zwei davon weiter zu bearbeiten. Dadurch wurde es möglich, konkrete Lösungswege zu skizzieren. Bei einem Telefongespräch in der darauf folgenden Woche berichtete die Klientin, dass sie eine der Varianten in der Teamsitzung eingesetzt hatte, was schon am gleichen Tag zu ersten positiven Wirkungen führte. Das Beispiel zeigt, dass es als Erstes darum geht, assoziativ Verbindungen herzustellen zwischen der alternativen Wirklichkeit der Dezentrierung und den Anliegen und Zielvisionen, welche die Klientin in die Sitzung mitgebracht hat, das heißt zwischen Dezentrierungsgeschehen und ordentlicher Welterfahrung.

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Assoziationen sammeln An diesem Punkt ist hervorzuheben, dass es für das weitere Vorgehen sehr nützlich ist, alle von der Klientin vermuteten Beziehungen möglichst wörtlich festzuhalten. Die Betonung liegt auf den Worten »alle« und auf »fest­ halten«. Erstens lassen wir es nie bei einer einzigen hypothetischen Beziehung bewenden. Und zweitens schreiben wir die Äußerungen auf, um zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage zu sein, sie, sofern nötig, möglichst wörtlich zitieren zu können. Es ist deshalb wenig hilfreich, bei einem einzelnen Punkt detaillierter nachzufragen oder dem Klienten zu gestatten, in aller Ausführlichkeit eine Idee zu begründen und zu detaillieren. Andere Einfälle, möglicherweise solche, die sich von den bisher geäußerten Assoziationen markant unterscheiden, könnten verloren gehen. Nur wenn ein Wort oder ein Satzteil überhaupt nicht verständlich ist, ist eine Nachfrage angemessen. Alles andere kann auf später verschoben werden. Jegliches Argumentieren ist in dieser Phase und auch später kontraproduktiv! Die beste Anschlussfrage lautet: »Was noch?« Nützlich ist, diese »Was-noch?«-Frage wiederholt zu stellen. Es macht sich nämlich für das weitere Vorgehen bezahlt, wenn unterschiedliche Hypo­ thesen zur Verfügung stehen. Wird dieses wiederholte »Was noch?« der fragenden Beraterin (selten der Klientin) leicht unangenehm oder gar peinlich, kann man wechseln zu »Gibt es noch etwas?« oder gar zu »Kommt Ihnen noch ein weiterer möglicher Zusammenhang in den Sinn oder im Moment nichts mehr?« Sind die Nennungen von Beziehungen einmal etwas rasch erschöpft, kann man Klienten fragen, ob sie sich in einer Art Meditation die notierten Äußerungen nochmals anhören möchten. Wird dies bejaht, liest man die Notizen langsam vor. Manchmal ergibt sich daraus so etwas wie ein kleiner poetischer Text, der neue Assoziationen weckt. Wurden die gefundenen Beziehungen auf ein Flipchart-Blatt notiert, kann man den Klienten bitten, seine Augen noch einmal von oben bis unten langsam über das Geschriebene schweifen zu lassen. Auch dies ruft Kommentare und Ergänzungen hervor. Es ist an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, dass sich die Gesprächsteilnehmer in diesem Teil der Beratung ganz im Bereich des Hypothetischen bewegen. Es geht um mögliche Beziehungen. Wir befinden uns in einer Phase der Sammlung, einer Art Brainstorming. Die genannten Beziehungen mögen für die eine Person sehr überzeugend wirken, für eine andere Person aber weit hergeholt erscheinen. Einer dritten Person schließlich könnten bestimmte Antworten sogar abwegig und unverständlich vorkommen. Jedes Argumentieren ist darum fehl am Platz. Erst bei möglichen Konkretisierungen für das weitere Vorgehen im Alltag (»nächster Schritt«) kön-

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Ausbeute für den Alltagskontext: die »Ernte«

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nen Argumente und Überlegungen wieder hilfreich sein. Hier geht es vorerst darum, in einem Meer von Möglichkeiten Einfälle zu fischen. Aktive Beteiligung der beratenden Person Ist eine Anzahl von möglichen Verbindungen notiert und sind die Einfälle des Klienten vorläufig ausgeschöpft, so besteht grundsätzlich die Möglichkeit, einzelne der genannten Beziehungen mit Hilfe von Fragen anzureichern und zu detaillieren. Falls man dies tun will, ist darauf zu achten, möglichst offene Fragen zu stellen. »Sie haben an dritter Stelle XYZ genannt. Können Sie mir noch etwas mehr dazu sagen?« Auch kann der Berater, wenn es ihm wichtig erscheint, an dieser Stelle eine oder zwei weitere Beziehungen ins Gespräch bringen, die ihm selbst im Verlauf der Sitzung in den Sinn gekommen sind. Wir leiten eine solche Intervention immer mit der Frage ein: »Wollen Sie hören, was mir selbst in den Sinn gekommen ist?« Die meisten Klienten werden dies bejahen. Eine solche vom Berater hinzugefügte Beziehung ist ausdrücklich als »mögliche Beziehung« darzustellen. Einfälle des Beraters haben keinerlei Vorrang vor solchen des Klienten. Wir sind mit dieser letzten Intervention sehr zurückhaltend. Sie scheint meistens unnötig. Auch sollte vermieden werden, dass implizit eine Botschaft in der Art von »Ich, der Berater, sehe eben mehr oder Wichtigeres als du« empfangen wird. Der eine Autor (H. E.) hat allerdings auch schon positive Auswirkungen einer solchen Intervention erlebt. So nahm eine Klientin aus einer ganzen Reihe von formulierten Beziehungen lediglich die von ihm genannte spontan auf, was sich im weiteren Verlauf als sehr fruchtbar erwies. Ein nächster Schritt Ist eine Liste möglicher Beziehungen erstellt und allenfalls zusätzlich de­ tailliert und ergänzt worden, geht es darum, einen ersten und später vielleicht auch einen zweiten Punkt der Liste auszuwählen und ihn auf seine möglichen Bedeutungen näher abzuklopfen: »Die Raumoffenheit bewahren« H. W. arbeitet in einer Institution, die hauptsächlich präventiv, aber auch kurativ tätig ist. Er hat ein vielfältiges Arbeitspensum, das u. a. Beratungen, Informationsarbeit, Projektleitung, Animation, Führung von Gruppen und Verhandlungen mit Behörden und Institutionen umfasst. In seiner offenen, sensitiven und gleichzeitig handfesten Art wird er von Mitarbeitern und Klienten gut akzeptiert und ist in der Arbeit insgesamt sehr erfolgreich.

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Zum Zeitpunkt der Beratung ist H. W. durch außerordentliche Aufgaben besonders stark belastet und fühlt sich unter großem Zeitdruck. Zusätzlich liegt ihm ein Referat auf dem Magen, das er noch ausarbeiten und in einem für ihn schwierigen Kontext halten muss. Gleichzeitig beschreibt er eine vage, langsam stärker werdende Verstimmung und leichte, bisher für ihn unbekannte Versagensängste. H. W. formuliert als gutes Ergebnis für die Beratungssitzung, dass er »klarer« mit dem Zeitdruck umgehen könne und entsprechende Strategien kennen lerne. Er hat für seine berufliche Zukunft die Vision eines Mannes, der gelöst und in guter Stimmung mit allem umgehen kann, was beruflich an ihn herangetragen wird. Dieser Mann hat in seinem Zeitmanagement eine gute Balance gefunden zwischen den Ansprüchen des Berufs, denjenigen der Familie und seinen eigenen Interessen. In der Dezentrierungsphase bittet der Berater H. W., mit Klebstreifen auf dem Fußboden einen »angemessenen Raum« abzugrenzen, ohne ihm zu sagen, wofür dieser Raum gebraucht werden soll. Dann erhält er die Aufgabe, mit vielen verschieden großen und -farbigen, rechteckigen Papieren – vom großen Zeichnungsblatt bis zum kleinen Post-it-Zettel – innerhalb von acht Minuten ein Mosaik zu legen. Der Raum ist für eine solche Aufgabe deutlich zu groß geraten, was für den Klienten eine spe­ zielle Herausforderung darstellt.

Das ist eine besondere Form der Aufgabenstellung. H. W. ist mit Dezentrierungen bereits recht gut vertraut. Er ist ein ziemlich ehrgeiziger Mann, der Herausforderungen liebt. Der Berater wollte es dem Zufall und H. W. über­ lassen, das Maß der Herausforderung zu bestimmen. Während es bei vielen Klienten wichtig ist, ein liebevolles, geschütztes und sicheres Arrangement für die Dezentrierung zu schaffen, können sich herausfordernde Aufgabenstellungen bei bestimmten Klienten sehr günstig auswirken. Nach kurzem Zögern macht sich H. W. an die Arbeit und legt in einem Teil  des Raums sorgfältig eine kleine Figur. Als diese beendet ist und es offensichtlich wird, dass er in der zur Verfügung stehenden Zeit so nicht fortfahren kann, beginnt er unter Zeitdruck in großzügiger Art mit den kleineren Post-it-Zetteln geschwungene, unterbrochene Linien zu legen. Auf diese Weise kann er die Dimensionen des Raumes bewältigen und es gelingt ihm auch, die vorgegebene Zeitlimite einigermaßen einzuhalten. Am Schluss ist die kleine Figur eingebunden in frei platzierte, weite, geschwungene Linien, was Innenräume, kleine Ballungen und großzügige Öffnungen nach außen entstehen lässt. Die ästhetische Analyse (Abschnitt 4.7.) bringt in kurzer Zeit viele Details zum entstandenen Werk und zum Prozess, der zu dieser Gestaltung geführt hat. Nach insgesamt etwa 25 Minuten sitzen beide wieder auf den Beratungsstühlen und der Berater fragt nach möglichen Beziehungen zwischen dem, was in der Dezentrierungsphase entstanden ist und was darüber gesagt wurde, sowie all dem, worüber zu Beginn der Sitzung die Rede war. H. W. kennt diese Frage, mit der die Erntephase eingeleitet wird, von früheren Sitzungen und legt gleich los: »Die Offenheit; die Möglichkeit zu haben, einen Raum zu verlassen, ohne Angst zu haben.« »Die Kurve muss man nehmen.« »Sobald man die großen Blätter verlässt, kommt etwas anderes.

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Ausbeute für den Alltagskontext: die »Ernte«

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Dass diese (zeigt auf die kleinen Post-it-Zettel) so etwas Leichtes, Bewegendes, Offenes verkörpern.« »Der Blick auf das Ganze lässt den Anfang (gemeint ist die kleine Figur, mit der er begonnen und für die er sich relativ viel Zeit genommen hat) als banal erscheinen. Das, was zu Beginn im Fokus war, ist nicht mehr von Bedeutung.« Es ist offensichtlich, dass diese Äußerungen von H. W. keinen direkten Bezug haben zum Wortlaut des Anliegens, wie es zu Beginn der Sitzung ausgedrückt worden war. Auch ist es wie gesagt an dieser Stelle für die Bezugnahme zum Anliegen noch zu früh. Da die zur Verfügung stehende Zeit in der Regel nicht reicht, um auf alle ge­ nannten Beziehungen näher einzugehen, lassen wir üblicherweise eine oder zwei auswählen, um sie – vorerst weiterhin auf der assoziativen Ebene – zu vertiefen. Die Art und Weise, wie die Auswahl der zu bearbeitenden Beziehungen erfolgt, ist unterschiedlich. Oft lassen wir den Klienten auswählen, indem wir ihn etwa fragen: »Welche von diesen verschiedenen möglichen Beziehungen, die Ihnen in den Sinn ge­ kommen sind, interessiert Sie am meisten?« Gelegentlich wählt der Berater selbst eine der genannten Beziehungen aus: »Ist es okay, wenn wir diesen Punkt etwas genauer anschauen?« Auch eine Kombination der beiden Vorgehensweisen ist möglich: »Dich interessiert am meisten diese mögliche Beziehung. Mich würde noch diejenige interessieren, die du an letzter Stelle genannt hast. Lass uns beide etwas genauer anschauen!« H. W. kann frei wählen und nennt als Erstes die zweitgenannte Beziehung (»die Kurve nehmen«) und dann noch die erstgenannte (»Offenheit«). Wir beginnen mit dem Aspekt »Kurve nehmen«: »Wenn sich dieser Aspekt als eine wichtige Beziehung erweisen würde zwischen dem, was im Atelierraum passiert ist, und dem, was Sie zu Beginn der Sitzung gesagt haben: Was könnte das alles sein?« H. W. bezieht seine Gedanken auf die gewünschte Balance im Zeitmanagement: »… dass man diese (die Kurve zur Balance) nehmen kann … es ist Bewegung drin … aber es gibt Fliehkräfte, das heißt, es wirken neue Kräfte. Man muss achtsam sein, wenn man die Kurve gut nehmen will.« Beim Aspekt »Offenheit« erwähnt H. W., dass sich die Öffnungen gegen außen, die man in seinen Linien sehen kann, genau an den beiden Stellen befinden, wo sich im Arbeitsraum tatsächlich Türen befinden. »Die Türen sind vorhanden – und sie sind offen.«

Die Rolle des Beraters ist in diesem Teil der Beratung vorzugsweise passiv. Er hört zu, versucht, den Gedankengang des Klienten zu verstehen, fragt vielleicht einmal nach und macht sich Notizen. Nur ganz selten kann es sinnvoll sein, auf ein Detail in der künstlerischen Gestaltung fragend hinzuweisen. Es geht darum, dass der Klient unbehelligt seinen Gedanken nachgehen und die aufsteigenden Hypothesen, Assoziationen und Spekulationen frei ­äußern kann. In dieser Phase des Gesprächs drücken allerdings die meisten Klienten ihre Gedanken nicht so sehr spekulativ und hypothetisch, sondern in einer Art und Weise aus, die es wahrscheinlich erscheinen lässt, dass sie selbst von deren Schlüssigkeit überzeugt sind. Ab und zu allerdings äußert

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ein Klient Selbstzweifel und meint, er sei unsicher, ob es sich beim Gesagten um eine »wirkliche Beziehung« handle. Unsere fast stereotype Antwort auf eine solche Bemerkung lautet, dass dies zu diesem Zeitpunkt niemand wissen könne. Wieweit es sich bei einer Nennung um eine »wirkliche« und wichtige Beziehung handle oder nicht, werde sich erst später erweisen. Lösungen zweiter Ordnung Das, was geerntet wird, erweist sich im weiteren Verlauf der Arbeit mit einem Klienten meist als »Lösung zweiter Ordnung«. Diese metaphorische Bezeichnung soll darauf hinweisen, dass das, was während der Ernte gefunden wird, in der Regel keine direkte Handlungsanweisung enthält für das zu Beginn der Sitzung formulierte Anliegen, was man als »Lösung erster Ordnung« bezeichnen könnte. Das Geerntete hat eine andere Qualität, ist grundsätzlicher, allgemeiner. Manchmal hat man sogar den Eindruck, dass Klienten in einer mehr oder weniger verschlüsselten, metaphorischen Sprache Lebensweisheiten formulieren. Dies scheint ihnen jedoch keineswegs bewusst zu sein. Sie bemühen sich lediglich, mögliche Beziehungen zu finden zwischen dem, was in der Dezentrierung vor sich ging, und der Situation, wie sie im vorangegangenen Gesprächsteil zur Sprache gekommen war. Da es zwischen diesen beiden Dingen logisch keinerlei Beziehungen geben kann, sind sie frei, ihren Einfällen Raum zu geben. H. W. wählte zur Vertiefung den Aspekt »die Kurve nehmen«. Das ist ein Ausdruck, der in der Schweiz vor allem unter Jugendlichen beliebt ist. Er stammt wahrscheinlich aus dem Motorradsport und meint so viel wie »sich in einer schwierigen, aber zu bewältigenden Situation geschickt verhalten«. Für H. W., der in jungen Jahren selbst Motorrad gefahren ist, dürfte demnach im Vordergrund gestanden haben, dass es sich bei der von ihm gewünschten Balance im Zeitmanagement um ein schwieriges Unternehmen handelt, das nicht unbedingt voraussehbare Fliehkräfte entfalten könnte. Bei der Weiterbearbeitung ist sein Schluss daraus: »Man muss achtsam sein, wenn man die Kurve gut nehmen will.« Weiter spricht er auch davon, dass man manchmal »das Tempo drosseln« und sich bewusst sein müsse, »dass jetzt eine Kurve kommt«. Die Einfälle zum Aspekt »Offenheit« scheinen darauf hinzuweisen, dass H. W. die Chancen und Möglichkeiten, die sich in seiner Situation und aus seinen Aufgaben ergeben, noch vermehrt beachten könnte. Aufgrund dieser und weiterer Überlegungen zu den beiden Aspekten »die Kurve nehmen« und »Offenheit« besprechen Berater und Klient einige konkrete Folgerungen für den Arbeitsalltag von H. W. Abschließend stellt der Berater die Frage, wieweit das zu Beginn der Sitzung formulierte »gute Ergebnis« erreicht sei. H. W. meint dazu: »Es ist nicht direkt erreicht. Dafür etwas Anderes: Das Ganze lockerer zu nehmen. Diese Raumoffenheit zu bewahren.«

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Ausbeute für den Alltagskontext: die »Ernte«

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Wenn das, was in der Gesprächsphase der Ernte in Sprache gefasst wird, so etwas wie Lösungen zweiter Ordnung im oben genannten Sinn sind, also eine grundsätzlichere, allgemeine Qualität aufweisen, folgt daraus die Notwendigkeit, die entsprechenden Aussagen mit dem Lebensalltag des Klienten in Verbindung zu bringen. Erst dann können konkrete Lösungsschritte formuliert werden. Integration Im abschließenden Gesprächsabschnitt der Integration kann die Hilfestellung der beratenden Person nötig sein und wichtig werden. Recht häufig aller­dings sind Klienten mühelos selbst in der Lage, konkrete Schritte zu formulieren, die sich von ihren Aussagen zur Ernte ableiten lassen. Dies zeigt das nächste Beispiel: »Im Leeren treten« M. ist eine junge Berufsberaterin, die vor wenigen Wochen ihre erste Arbeitsstelle in diesem Beruf angetreten hat. Im Vordergrund einer der ersten Coaching-Sitzungen stehen Ratsuchende, die bei M. das Gefühl hinterlassen, »im Leeren zu treten«. Als Beispiel berichtet sie von Claude, einem 30-jährigen Mann, der nach dem Abitur ein Erststudium nach 4 Jahren ohne Abschluss abbrach, was sich anschließend in einer anderen Studienrichtung nach 2 Jahren nochmals wiederholte. Nach einer Zeit, während der er im elterlichen Geschäft arbeitete, gründete er eine eigene Firma, die nach relativ kurzer Zeit Konkurs machte. Zurzeit befindet sich Claude in einem NachdiplomStudiengang, der ihn wenig befriedigt. Als besonders schwierig erweist sich für M., dass der Mann sehr gewandt und sicher auftritt und sich als »Herr von Welt« präsentiert. M. hat den Eindruck, nicht an diesen Klienten heranzukommen, was ihr das erwähnte Gefühl des »im Leeren Tretens« gibt. In der Coaching-Sitzung möchte M. Inputs erhalten, worauf sie bei Claude in den kommenden Besprechungen achten sollte. Die Ernte aus der Dezentrierungsphase ergibt zwei Resultate, die M. wichtig sind: A) »eine neue Dimension ist dazu gekommen«, B) ein auffälliger Gegensatz zwischen »weich« und »hart«. Dabei verbindet M. »weich« bezüglich Claude mit »aufnehmen, zuhören« und »hart« mit »klare Positionen beziehen und diese zurückspiegeln, auch wenn sie unangenehm sind«. Aus Zeitgründen kann nur eine dieser Lösungen zweiten Grades in der Integrationsphase weiter bearbeitet werden. M. wählt den Punkt A. Der Coach fragt M., was denn diese »neue Dimension« in der nächsten Besprechung mit Claude konkret bedeuten könnte. Ihr ist sofort klar, dass damit gemeint sei, »tiefer zu gehen«. Gemeinsam werden nun verschiedene Möglichkeiten des »Tiefer-Gehens« diskutiert. Dabei trägt der Coach auch eigene fachliche Überlegungen bei. Es geht um verschiedene Formen des diagnostischen Erfassens der Situation von Claude, um Formen der Gesprächsführung und um Gesprächsinhalte, die bis jetzt nicht oder kaum zur Diskussion gestanden hatten. Aus den verschiedenen Mög-

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lichkeiten wählt M. diejenigen Punkte aus, die ihr wichtig, vordringlich und für sich selbst als machbar erscheinen. Am Schluss der Gesprächsphase ist ein kleiner Vorgehensplan erstellt, der der nächsten Besprechung mit Claude zugrunde gelegt werden soll.

Eigenaktivität der Klientin Man kann sich fragen, ob in diesem Beispiel die Dezentrierung und ihre Aufarbeitung überhaupt sinnvoll und nötig gewesen sind. Hätte der Coach bei dieser Berufsanfängerin nicht im Sinne einer Fachberatung durch gezielte Fragen abklären können, was M. bei Claude bis jetzt alles unternommen hat, und dann Fehlendes hervorheben und bewerten und mit ihr das weitere Vorgehen skizzieren können? Wir meinen, dass dies durchaus ein möglicher Weg gewesen wäre. Allerdings ist zu bedenken, dass der Coach bei einem derartigen Vorgehen sehr leicht in die Lehrer- und Dozentenrolle gerät, die M. in den letzten Jahren während ihrer Ausbildung zur Genüge kennen gelernt hat. Zumindet implizit wird M. bei einem solchen Vorgehen mitgeteilt, dass der Coach derjenige ist, der »es« weiß, der herausfindet, was unbeachtet geblieben ist, und einem dann sagt, was zu tun ist. Die Coachee wird in die Rolle der Schülerin gedrängt. Das ist grundsätzlich nicht schlecht, trägt aber wenig zur beruflichen Verselbständigung und Sicherheit bei. Unser eigenes Vorgehen vermittelt andere implizite Botschaften: Das dezentrierende Tun lässt M. die selbständige Bewältigung einer unerwarteten, vorher nicht geübten Aufgabenstellung erleben. Im vorliegenden Beispiel (es handelte sich um eine einfache Installationsaufgabe) äußerte M. während der ästhetischen Analyse spontan ihr Erstaunen darüber, in welch kurzer Zeit ihr ein ansprechendes Ergebnis gelungen war, »obwohl mir solche Aufgaben nicht liegen«. Aus diesem Erfolgserlebnis heraus formulierte sie dann hypothetische Beziehungen zur Ausgangslage und wählte eine davon aus, die ihr im Moment sinnvoll erschien oder sie sonstwie speziell interessierte. Mit Hilfe des Coachs formulierte sie schließlich einen Plan für das weitere Vorgehen. In allen Teilen des geschilderten Ablaufs war M. selbst aktiv. Die gewonnenen Erkenntnisse stammen von ihr, auch wenn sie vielleicht nicht im Detail hätte angeben können, wie sie darauf gekommen war. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass sie – im vorgegebenen Rahmen und unter Führung des Coachs  – die geschilderte Problematik selbst angehen kann. Die implizite Botschaft des Vorgehens hätte in dieser Sitzung lauten können: Auch als Anfängerin bin ich selbst in der Lage, gangbare Lösungswege zu finden. Vielleicht sogar: Ich bin zu mehr fähig, als ich bis jetzt gedacht habe. Ich darf mir selbst mehr zutrauen.

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Ausbeute für den Alltagskontext: die »Ernte«

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Unser Vorgehen stärkt demnach nicht nur das (professionelle) Selbstvertrauen, sondern weckt auch Neugier und Entdeckerfreude. Die Mischung zwischen kreativ-überraschenden Gesprächsphasen und solchen, die klar strukturiert sind, ist für viele Berufsanfängerinnen Training und Vorbild, wie sie selbst an ihre Aufgaben herangehen könnten, ohne unbedingt die Methode des Intermodalen Dezentrierens übernehmen zu müssen. Das wurde im weiteren Verlauf der Arbeit mit M. sehr deutlich. Ausnahmsweise: den »nächsten Schritt« offen lassen Die Integrationsphase ist zweifellos ein wichtiger Teil. Nun gibt es aber gar nicht so selten Situationen, wo nach der Ernte mit ihren manchmal fast sibyllinischen Lösungen zweiten Grades eine detaillierte Integrationsarbeit mit sorgfältiger Formulierung der nächsten Vorgehensschritte nicht angezeigt ist. Manchmal haben wir den Eindruck, dass es für die erfolgreiche Bearbeitung der Problematik sogar hinderlich ist, »nächste Schritte« konkret zu besprechen. »Freiheit« oder »Morgendämmerung an der Ostsee« Frau E. kommt wegen beruflichen Fragen zu Coaching-Sitzungen. Einmal bittet sie, eine Ausnahme machen zu dürfen. Die alleinerziehende Mutter möchte die Pro­ blematik mit ihrem 21-jährigen Sohn zur Sprache bringen, die sie schon sehr lange belastet. Der Sohn wohnt noch im Elternhaus. Gefragt nach einem möglichen Titel für ihre Problemgeschichte sagt sie »Immer dasselbe«. Es ist die Geschichte des älteren von zwei Söhnen, der die Mutter als Kleinkind mit seiner Phantasie und seiner Selbstsicherheit begeisterte, im Kindergarten und in den ersten Schuljahren durch sein intensives Theaterspiel berührte, in der Pubertät aber für die alleinerziehende Frau immer schwieriger wurde. Schulschwierigkeiten, fortgesetzte Diebstähle im Elternhaus, später Drogenkonsum, der heute zusammenfällt mit Arbeitslosigkeit und einem Lebensstil, der mit dem zu Hause gepflegten in vielerlei Hinsicht kontrastiert, all das bereitet Frau E. große Mühe. Sie berichtet, dass sie sich jahrelang enorm für dieses Kind eingesetzt habe. Sie habe sich dadurch aber auch immer stärker verstrickt in das Ganze. Ein Versuch, sich deutlicher abzugrenzen, verbunden mit dem Festhalten an einigen wenigen Hausregeln, sei mehr oder weniger gescheitert. Immer wieder lasse sie sich in lange Diskussionen ein. Immer wieder lasse sie sich auch auf Kompromisse ein. Nachträglich stelle sich dann oft heraus, dass sie angelogen worden war. Als gutes Ergebnis des Gesprächs erwartet Frau E. »eine Idee zu haben, um etwas anderes probieren zu können«. Die Dezentrierung besteht aus einer Installation auf einem kleinen Tisch mit einer beschränkten Zahl von Gegenständen. Die Installation wird anschließend intermodal mit einem Haiku (der einfachen Form eines kleinen Gedichts) ergänzt. Dem ganzen Werk gibt Frau E. den Titel »Freiheit«. Die kurz gehaltene ästhetische Analyse

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

ergibt einige klare Aussagen und in der Phase der Ernte ist Frau E. in der Lage, eine ganze Liste von möglichen Beziehungen zum Ausgangsgespräch zu nennen. Näher anschauen und vertiefen möchte Frau E. den möglichen Bezug zwischen dem gefundenen Titel für ihr Werk »Freiheit« und ihrer Situation. Sie erlebt diesen Bezug als ein Gefühl. Es ist ihr im Moment nicht möglich, das Gefühl mit Worten zu beschreiben, doch kommt ihr ein Bild dazu in den Sinn: Es ist früher Morgen lange vor Sonnenaufgang. Sie steht am Ufer eines Meeres im Norden. Langsam beginnt es über dem Meer zu tagen. Es ist ein diesiger Tag, so dass die Trennlinie zwischen Himmel und Wasser verschwimmt. Das langsam aufsteigende Licht, keineswegs strahlend, aber doch wahrnehmbar stärker werdend, ergibt vielfältige Farbeffekte. Von vorne, eher von rechts, entsteht etwas Bewegung im Meer. Es ist so, wie wenn das Licht und das Wasser miteinander spielen würden … Frau E. ist offensichtlich vom Bild fasziniert. Der Coach lässt sie deshalb das Bild in allen Details und dann auch in seiner Wirkung auf die Betrachterin beschreiben. Zusätzliche Fragen, die sich alle auf die Oberfläche des Bildes beziehungsweise der Szene beziehen (Unterschiede im Farbenspiel in der rechten Bildhälfte im Vergleich zur linken, sich verändernde Bewegungen im Meer u. Ä.) bringen weitere Einzel­ heiten zum Vorschein. Die abschließende Intervention der Sitzung besteht lediglich im Hinweis des Coachs, dass das Bild und seine Atmosphäre so etwas wie einen Gradmesser dafür darstellen könnten, was für Frau E. in ihrer jetzigen Lebenssituation wichtig sei.

Aus einer ganzen Liste von möglichen Beziehungen zwischen dem Dezen­ trierungsgeschehen und ihrer Alltagssituation wählte Frau E. das Wort »Freiheit«. Sie war nicht in der Lage, die Beziehung in Worten auszuformulieren. Sie wollte auch das Gefühl, um das es ihr letztlich ging, nicht in Alltags­ sprache übersetzen, sondern beschrieb, quasi metaphorisch, eine Szene am Meer. Durch seine Fragen verhalf der Berater der Klientin zu einer sehr detaillierten Beschreibung dieser Szene, wodurch im Raum eine sehr innige› gefüllte Atmosphäre entstand. Der Berater beschloss darauf, die Sitzung auf diesem gefühlsmäßigen Höhepunkt abzuschließen. Seine Schlussintervention mit der indirekten Aufgabestellung sollte es Frau E. erleichtern, das Atmosphärische dessen, was für sie »Freiheit« bedeutete, zu Hause wieder zu erinnern und allenfalls zu nutzen. Die »regelkonforme« Fortführung des Gesprächs durch die detaillierte Erörterung eines »nächsten konkreten Schrittes« hätte den Zauber, der im Besprechungszimmer durch die Schilderung der Szene am Meer entstanden war, wahrscheinlich zerstört. Deshalb wurde die Sitzung an dieser Stelle beendigt und das Datum für die nächste vereinbart. In der nächsten Sitzung, nach einer sechswöchigen Sommerpause, berichtet Frau E. von einer grundlegenden Veränderung ihres Verhaltens gegenüber dem Sohn, was wiederum dessen Verhalten beeinflusste. Ihre Beziehung zu ihm sei eindeutig besser geworden. Ihr übliches Mahnverhalten sei verschwunden. Stattdessen ergäben sich öfters kurze, gute Gespräche. »Meine Ohren sind nicht mehr so gespannt weit offen.

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Ausbeute für den Alltagskontext: die »Ernte«

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Das Verhältnis zu ihm ist so gewöhnlich geworden. Ich bin einfach da.« Kürzlich kam vom Sohn sogar der Vorschlag, zusammen essen zu gehen. Dieses Essen fand dann auch statt, »und ich habe ihm mit wachsendem Interesse zugehört«. Auf die entsprechende Frage des Beraters bemerkt Frau E., dass das Bild vom Tages­anfang am Meer sie während der ganzen Zeit begleitet habe. »Das Bild kam mir immer wieder in den Sinn. Es war wie ein Prüfstein für das, was ich suchte.« Sie konnte daran messen, wie nahe sie dem war, was ihr im Verhalten gegenüber dem Sohn wichtig war. (Alles das, was wichtig war, war in der letzten Sitzung offenbar im Ausdruck »Freiheit« zusammengefasst gewesen.) – Die Nachfrage zwei Monate später ergab, dass sich die Beziehung zum Sohn zeitweise wieder verschlechtert hatte, doch könne sie sich nun selbst viel besser aus der Sache heraushalten.

Das Beispiel macht es deutlich: Wir schlagen zwar für die Gesprächsphase der Ernte einen bestimmten Ablauf vor. Dieser bewährt sich auch. In un­ serem prozessorientierten Vorgehen hat jedoch der Prozess, der sich bei der Klientin abspielt, Vorrang. Wenn deutlich wird, dass bei ihr etwas Wich­ tiges vor sich geht, ist es sinnvoll, sich davon leiten zu lassen. Dies gilt auch dann, wenn die professionelle Person, wie im Beispiel von Frau M., inhaltlich nur eine sehr vage Ahnung davon hat, worum es konkret beim angestrebten neuen Verhalten gehen könnte. Allgemein gilt: Je vertrauter jemand mit dem üblichen Gesprächsablauf ist, desto freier kann er mit dessen einzelnen Teilen umgehen. Offene Fragen und neugierig-abwartende Haltung Die Gestaltung der Phase der Ernte ist für Anfängerinnen und Anfänger nicht einfach: Gefordert ist eine wertschätzende, neugierig-offene Grund­ haltung. Das beinhaltet, dass man warten und die inhaltlichen Formulierungen ganz dem Klienten überlassen kann. Das bedeutet aber auch, in einer freundlich-bestimmten Art die Gesprächsführung zu übernehmen, wenn die Klientin zum Beispiel zu einer weitschweifigen Begründung einer gefundenen Beziehung ausholen oder die Suche nach weiteren Assoziationen vorschnell abbrechen will. Die geforderte Grundhaltung manifestiert sich auch in möglichst offenen Frageformen, die sich an die Wortwahl der Klientin anlehnen: P. wählt für die Detailbearbeitung die »zupackende Aggression«, die für ihn in der Dezentrierung sichtbar geworden ist. Offene Fragen dazu könnten sein: »Können Sie mir etwas mehr dazu sagen?« – »Was haben Sie im Speziellen als »aggressiv« empfunden? – »Und wie sehen Sie den Zusammenhang zu Ihrer Alltagssituation?« – »Gilt das für beides: das Aggressive und das Zupacken?« etc.

Im Gegensatz dazu begegnen wir bei Anfängern in der Ausbildungssituation oft Fragen wie: »Haben Sie sich während der ganzen Zeit aggressiv erlebt?« –

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

»Wann fühlten Sie sich mehr aggressiv: am Anfang oder am Schluss?« – »Erleben Sie solche zerstörerische Seiten (P. hat bei seiner Papierplastik etwas zerrissen, hat selbst aber das Wort »zerstören« oder »zerstörerisch« nie verwendet) bei sich auch bei anderen Gelegenheiten?« So formulierte, geschlossene Fragen lenken die Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung und schließen andere Möglichkeiten aus. Oft könnten sie mit einem einfachen Ja oder Nein beantwortet werden. Sie schmälern allein schon durch ihre Formulierung die Reichhaltigkeit der Ernte. Selbstverständlich wird eine Fragestellung dadurch nicht offener, dass die Beraterin verschiedene Antwortmöglichkeiten selbst vorgibt: »Haben Sie sich dabei als sehr aggressiv oder nur als mäßig aggressiv empfunden?« Der Typ der offenen Frage zwingt den Klienten dagegen zu eigenständigen Überlegungen und animiert ihn, selbst suchend und entdeckend vorzugehen. Damit wird ein Gesprächsklima der Neugierde und der Offenheit für Überraschendes gefördert. Und genau das ist in dieser Gesprächsphase speziell gefordert. In die gleiche Richtung wie die geschlossenen oder zu stark fokussierten Fragen zielt die Tendenz, schon die Ausgangsfrage für die Ernte einzuschränken. Da wird zum Beispiel das Geschehen und das Entstandene in der Dezentrierungsphase verglichen mit dem anfänglich formulierten Anliegen und dieses Anliegen womöglich noch wortwörtlich wiederholt. Oder es wird nur auf das »Endprodukt« der Dezentrierung fokussiert, etwa auf den letzten Take einer Musikimprovisation, und der ganze Prozess, der dazu führte, und die »Zwischenprodukte« werden außer Acht gelassen. Wir meinen, dass es für das Finden von nachhaltigen Lösungen wichtig ist, die ganze Situation auf den Besprechungsstühlen, das heißt alles, was zu Beginn der Sitzung abgelaufen ist, zu vergleichen mit allem, was während der Dezentrierung passiert und entstanden ist. Es scheint uns auch wichtig, während der Phase des Sammelns und Konkre­tisierens von hypothetischen Beziehungen die Wortwahl der Klientin beizubehalten. Oft geschieht dagegen Folgendes: Supervisandin: »Dass ich es das nächste Mal anspreche und nicht warte, bis …« Supervisorin: »Du meinst, dass du Mut bekommen hast, konkret das nächste Mal …« Eine solche leichte Umformulierung durch die professionelle Person mag später in der Integrationsphase hilfreich oder sogar wichtig sein. Während des Sammelns, Konkretisierens und Vertiefens von möglichen Beziehungen versuchen wir sie jedoch zu vermeiden. Hier sollen die Gewichtungen und Nuancen voll und ganz durch die Klientin bestimmt werden. Konkret bedeutet das, dass wir für unsere Fragen und Kommentare weitgehend den Wortlaut der Klienten übernehmen. ✳

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Nachhaltiges Weiterführen

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Gesprächsphase der Ernte hohe Anforderungen an die Beraterin stellt. Sie muss in dieser Phase klar strukturieren und führen und gleichzeitig inhaltlich die ganze Führung der Klientin überlassen. Das geht so weit, dass in diesem Gesprächsabschnitt auf jegliche Umformulierungen verzichtet werden sollte. Das, was geerntet werden kann, erscheint in der Form von Assoziationen, vagen Vermutungen, Hypothesen, schwer verständlichen Einfällen, gelegentlich allerdings auch in Formulierungen von relativ plausiblen Zusammenhängen. Wir sprechen von »Lösungen zweiter Ordnung« und meinen damit, dass sich in diesen Aussagen Hinweise auf Hintergründiges, bisher Übersehenes, Grundsätzliches finden lassen. Es ist deshalb wichtig, zuerst einmal eine größere Zahl solcher Vermutungen zu sammeln. Für die Erfassung der möglichen Bedeutungen und die Integration in die Alltagswirklichkeit sind dann eine oder zwei dieser Vermutungen auszuwählen. Erstaunen mag, dass Klienten für die Weiterbearbeitung oft den unverständlichsten, abstrusesten Einfall wählen. Das Gespräch während der Ernte bewegt sich, zumindest in der Phase des Sammelns, in der luftigen, »bodenlosen« Höhe freier Assoziationen. Das ist ungewohnt und verlangt von den Beteiligten eine Toleranz gegenüber dem, was sich zeigt. Ernten braucht seine Zeit. Man kann nicht nach einer längeren Phase der Dezentrierung in den letzten fünf Minuten der zur Verfügung stehenden Zeit damit beginnen. Wer einmal in einen solchen Zeitnotstand kommt, dem ist zu empfehlen, das Ernten mit einer »Hausaufgabe« zu kombinieren oder sie auf die nächste Sitzung zu verschieben. Die Assoziationen aus der Ernte werden die im formulierten Anliegen verpackten Fragen kaum je direkt beantworten. Eine Weiterbearbeitung ist erforderlich. Dies geschieht im Gesprächsabschnitt, der »Integration« genannt wird, wo Folgerungen für den Alltag gezogen werden können. Meistens jedoch ist es sinnvoll, als Berater noch etwas Zusätzliches beizutragen, was die nachhaltige Weiterführung des Erarbeiteten unterstützen kann.

4.9. Nachhaltiges Weiterführen Eine Einzelsitzung dauert in der Regel nicht mehr als eineinhalb Stunden. Handelt es sich um eine Beratung oder eine Therapie, vergehen bis zur nächsten Sitzung vielleicht drei bis sieben Tage. Handelt es sich um eine Super­ vision oder ein Coaching, ist die nächste Sitzung meist später angesetzt. Die Zeit außerhalb der Therapie- oder Beratungssitzung ist in jedem Fall um ein Mehrfaches größer als die Sitzungszeit selbst. Da ist es oft angebracht, im

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

Sinne einer Weiterführung der begonnenen Arbeit, etwas aus der Sitzung nach Hause mit­zugeben. Anweisungen, Aufträge, Anregungen Dieses Etwas kann konkret sein. Klienten, die in der Dezentrierungsphase gemalt, gezeichnet oder geschrieben haben, wünschen immer wieder, ihr Werk oder Dokument nach Hause zu nehmen. Eine Installation kann fotografiert und dann mitgenommen werden. Wie im Kapitel 3 gezeigt wurde, hat das künstlerische Werk, so wie es erfahren wird und in seiner substantiellen Gegenwart, die Qualität von etwas Existentiellem. Das gilt nicht nur in der Phase der außerordentlichen Wirklichkeit innerhalb der Sitzung, es kann diese Qualität auch im Alltag der Klienten behalten. Das ermöglicht es, Werke oder Teile eines Werks, die während einer Dezentrierungsphase entstanden sind, als eine Art von helfenden Geistern zu betrachten, die im Leben der Klienten ihre Wirkung entfalten können. Z. wird aufgefordert, die kleine Figur, die während einer Installationsarbeit für sie besonders bedeutungsvoll geworden ist, nach Hause zu nehmen und dort bis zur nächsten Sitzung an einem »angemessenen Ort« aufzustellen. In einer ähnlichen Weise regt der Berater M. an, einen kleinen Stein aus der Steinskulptur, die während der Dezentrierung entstanden ist, bis zur nächsten Sitzung bei sich zu tragen. Er ist klein genug, dass er ohne weiteres in der Hosentasche oder in einer kleinen Handtasche Platz hat.

Die schöpferische Tätigkeit kann wie Traum und Tagtraum einem metabolischen Bereich der Seele zugeordnet und metaphorisch als Seelennahrung bezeichnet werden. Wie die Nahrungssubstanz im physischen Bereich, kann Seelennahrung als eine Art Medikament eingesetzt werden respektive als Mittel eines psychischen Diätetikums Verwendung finden. Diätetik (griechisch diaita) reguliert die Art und Weise, gesund zu leben. Im Beratungsprozess könnten diese Überlegungen beispielsweise wie folgt konkretisiert werden: »Singen Sie täglich ein oder mehrere Male, wenn Sie allein sind bei der Arbeit, anstatt das Radio anzuschalten!« Oder: »Vielleicht stellen Sie dieses selbst gemachte Instrument an einem günstigen Ort so auf, dass Ihr Blick darauf fällt, wenn Sie wieder an sich zweifeln!« Dazu ein konkretes Beispiel: A. (von der später noch die Rede sein wird) ist in der Erntephase eines Dezentrierungsprozesses auf das Phänomen der Leichtigkeit gestoßen. Auf die Frage nach Quellen von Leichtigkeit in ihrem Alltag, nennt A. den eigenen Partner. Der Berater ermuntert sie, ein Objekt, das sie an ihn erinnert, im Beratungsraum aufzustellen. Gemeinsam werden daraufhin möglichst günstige Orte zum Aufstellen dieses Objekt erwogen.

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Solche Anweisungen können je nach Situation in einer direkten oder indirekten Form gegeben werden. Oder es ist sinnvoll, sie als Aufgabe respektive Hausaufgabe zu gestalten. Das Unerwünschte einbetten C. ist beim Aufbau einer eigenen Beratungspraxis, nachdem sie viele Jahre als An­ gestellte gearbeitet hat. Sie berichtet, dass sie sich durch Klienten unter Zeitdruck setzen lasse, und die Tendenz habe, während der Sitzung nicht ganz alltägliche eigene Interventionen oder Vorschläge speziell zu begründen und zu legitimieren oder  – umgekehrt – diese bei Anzeichen von Zögern oder Widerwillen seitens der Klienten rasch zurückzunehmen. Sie ärgert sich sehr über dieses Verhalten, das sie als Ab­ wertung des sich ausbildenden eigenen Beratungsstils empfindet. Sie wünscht sich in Zukunft, einen »Boden von Gelassenheit und Zutrauen in sich zu spüren und während einer Beratungssitzung in diesem Grundgefühl bleiben« zu können. In der Erntephase nach der Dezentrierung ist C. am meisten überrascht von einem recht gewichtigen Stein. Bei der Auswahl der Gegenstände für die vom Berater vorgeschlagene Installation hatte sie diesen Stein mit dem Gefühl assoziiert, das in ihrer Praxis jeweils zum unerwünschten Verhalten führte. Jetzt am Schluss der Ge­ staltungsarbeit erscheint er lediglich am Rand der Installation, eingebettet in weichen Stoff. Gefragt nach einem möglichen Bezug zum Arbeitsalltag, meint sie: »… ich könnte dieses Gefühl als eingebettet spüren … es ist nicht mehr so allein … ich sollte allen meinen Gefühlen Sorge tragen … fast wie zärtlich.« Und abschließend: »Dieser Sichtweise möchte ich noch etwas nachgehen, dass sie sich wie ausbreiten kann.«

Es ist naheliegend, dass der Berater in einer solchen Situation den spontan geäußerten Vorsatz der Klientin wieder aufnimmt. Er tat dies in diesem Fall in folgender Weise: »Ich schlage Ihnen vor, dass Sie dieser Erfahrung und den damit verbundenen Gedanken bis zum nächsten Mal im Rahmen einer halben Stunde etwas nachgehen. Überlegen Sie sich dabei auch, was bei Ihnen die ›Einbettung‹ der unerwünschten Gefühle unterstützt. Und (mit einem Augenzwinkern) wenn Sie dieses Unterstützende im Sinne eines Experiments auch noch künstlerisch konkretisieren wollen (C. arbeitet mit ihren Klienten zum Teil kunstorientiert), dann ist dies selbstverständlich auch okay.« Zehn Tage später bringt C. zwei selbst gemalte Bilder in die Sitzung, mit denen gewinnbringend weitergearbeitet werden kann.

Die gute Wirkung einer Hausaufgabe wird unterstützt, wenn die Beraterin wie bei C. Ausdrücke oder Metaphern, die die Klientin in der Sitzung selbst spontan geäußert hat, in der Instruktion für die Aufgabe wieder aufnimmt. Im Beispiel von C. wurde ein Teil des Auftrags im Sinne einer Aufgabe formuliert. Geht es um die Vertiefung oder Anreicherung von Zielen, neu entdeckten Verhaltensweisen oder Gefühlen, ist statt »Aufgabe« der Ausdruck

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

»Experiment« vorzuziehen. Das gestaltet die Situation offener und gibt den Klienten Möglichkeiten zu Eigeninitiative und Neuentdeckungen. Aufgaben, speziell solche, die als »Hausaufgabe« bezeichnet werden, haben für Klienten und Klientinnen oft einen schlechten Beigeschmack. Zu stark sind die Erinnerungen an die Schulzeit und die ungeliebten Hausaufgaben. Schon aus diesem Grund sollte mit dem Erteilen von »Hausaufgaben« sparsam umgegangen werden. Ein Experiment, um Wünschenswertes zu erkunden Sehr gute Erfahrungen machen wir, wenn etwas Neues oder Wünschenswertes, das in der Sitzung erstmals entdeckt wurde, zu Hause im Sinne eines Experiments durch ein neues Medium angereichert werden kann. Das Eckige und das Weiche A. ist eine Berufsanfängerin. In der zweiten Supervisionsstunde kommt das Gespräch auf zwei sehr unterschiedliche Vorgehensweisen der jungen Beraterin. Die eine ist sehr zielstrebig und will rasch ein konkretes Ergebnis erreichen. A. kennt dieses Verhalten von ihrem früheren Beruf her sehr gut. Die zweite, die sich anzubahnen beginnt, ist zögerlicher, offenbar mehr prozessorientiert. A. kann diese zweite Seite schlecht beschreiben, weshalb der Berater vorschlägt, die beiden Seiten zeichnerisch/ malerisch zu explorieren. A. betont, dass sie »überhaupt nicht zeichnen« könne, versucht es dann aber doch. Es entsteht für die vertraute Verhaltensweise ein eckiges Gebilde, das A. »Der Doppelpfeil« nennt. Für das noch wenig bekannte Verhalten entsteht ein rundes, recht schwungvolles, nach oben offenes Gebilde mit dem Titel »Die Elektrokabel«. A. ist überrascht, dass Bild 1 sich im Gegensatz zu ihrer Absicht viel weniger weit zum oberen Bildrand hinauf erstreckt als Bild 2.  Ihre Assoziationen zu Bild 1 lauten: »eckig, gerade, klar, eng«. Bei Bild 2 heißen sie: »rund, weich, frei, offen«. Um die beiden Seiten weiter zu explorieren und ihre Bedeutung und Reichweite auszuloten, schlägt der Berater ein Experiment vor. A. soll in die nächste Sitzung für jede dieser beiden Seiten ein Musikstück oder einen Teil eines Musikstückes mitbringen, das ihr gut gefällt und sie anspricht. Beim nächsten Mal bringt A. keine Tonträger mit, meint jedoch, sie habe die Musik »klar im Kopf«. Sie kann dem Berater dann auch im Detail die beiden Musikstücke beschreiben. Für Bild 1 ist es der Marsch einer Blasmusik, für Bild 2 eine melodiös fließende Meditationsmusik. Die ästhetische Analyse dieser phantasierten Musik gelingt nur ansatzweise. Hingegen kann A. die beiden Stücke mit einigen für sie wichtigen Erfahrungen verbinden. Die Thematik der zwei unterschiedlichen Beratungsstile, die letztlich für A. auch unterschiedliche Lebensstile verkörpern, begleitet die ganze Supervisionsarbeit mit dieser Klientin über eineinhalb Jahre hinweg.

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Anreicherung Die lösungs- und ressourcenorientierte Arbeit stößt immer wieder auf die Tatsache, dass Berater und Klienten in der Regel sehr viel detaillierter und nuancenreicher über Probleme und Konflikte sprechen können als über Stärken und Fähigkeiten. Die bekannten Fragestellungen des klassisch-lösungsorientierten Vorgehens erhöhen die Aufmerksamkeit für die Bedingungen des Gelingens. De Shazer und Berg (z. B. in: de Jong und Berg, 1998) haben zusätzlich die Bedeutung detaillierter Beschreibungen einer guten Zukunft hervorgehoben. Sie sprechen von »Zielen« und »Merken, was die Klienten wollen«. Unser Vorgehen versucht mit einigem Erfolg, diese Seiten des Lebens unserer Klienten durch spezielle Fragestellungen zu erfassen. Der Einbezug von künstlerischen Ausdrucksformen eröffnet hier weitere, vom psychischen Erleben her gesehen erweiternde und vertiefende Möglichkeiten. Wir selbst sprechen in diesem Zusammenhang von »Anreicherung«. Eine positive Zukunftsvision, ein geglücktes Ausnahmeverhalten, eine gute Erfahrung anzureichern bedeutet, sie reichhaltiger in den verschiedenen Nuancen und aus unterschiedlichen Perspektiven heraus erfahrbar zu machen. Das ist durch entsprechende Fragen innerhalb der Alltagssprache durchaus möglich. Künstlerische Medien entfalten auf diesem Gebiet jedoch ein besonderes Potential. Wer, wie im Beispiel von A., den gewünschten neuen Beratungsstil (auch) musikalisch oder in Form eines selbst gemalten ungegenständlichen Bildes ausdrücken kann, erfasst damit auch Seiten des Seelischen, die sich mög­ licherweise der Alltagssprache entziehen. Hinzu kommt der bereits erwähnte nährende Aspekt des künstlerischen Ausdrucks. Dabei gehen wir von der Vermutung aus, dass ein selbst geschaffenes Werk mit ästhetischem Anspruch wirkungsvoller, das heißt »nährender« ist als der konsumierende Umgang mit dem künstlerischen Werk anderer. Auch mitgebrachte künstlerische Werke einer ästhetischen Analyse unterziehen Schlägt der Berater derartige Experimente und Aufgaben vor oder führt sie in der Sitzung selbst durch, gelten die Vorgehensweisen und Grundsätze, die schon bei der Intermodalen Dezentrierung (Abschnitte 4.6. und 4.7.) beschrieben worden sind. Es geht um das Künstlerische respektive das Werk und keineswegs um eine illustrative oder symbolische Darstellung von Erfahrungen. Je mehr es gelingt, sich ganz dem gestaltenden Prozess hinzugeben, je mehr die Instruktion des Beraters diese Hinwendung erleichtert, desto reichhaltiger wird nachher die Ernte sein. Wir haben uns angewöhnt, analog

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

zum Vorgehen beim Intermodalen Dezentrieren, bei jedem Werk, das von zu Hause mitgebracht wird – sei es ein selbst gemachtes oder ein ausgewähltes –, eine ästhetische Analyse durchzuführen, das heißt, eine sorgfältige Beschreibung »an der Oberfläche« zu erarbeiten. Das verlangt von Seiten des Beraters ein gewisses Repertoire an adäquaten Fragen, von Seiten des Klienten oftmals ein gewisses Training im Erzeugen eines bestimmten Wortschatzes und von beiden ein gutes Quantum an Geduld. Anschließend an eine solche ästhetische Analyse von Hausaufgaben ist es sinnvoll, die momentane Bedeutung des Gestalteten oder Erlebten in Alltagssprache zu fassen und sie gegebenenfalls mit bestimmten Aspekten der Fragestellung, respektive des eigenen Lebens, in Beziehung zu setzen. Eine künstlerische Gestaltung allein oder die Vertiefung in das Kunstwerk eines anderen mag zwar nährende Auswirkungen im Sinne von Seelennahrung haben, ihre Wirkung zur Förderung und Unterstützung von konkreten Schritten in Richtung einer Lösung dürfte in der Regel aber ungenügend sein. Beide zusammen jedoch, die künstlerische Erfahrung und ihre Versprachlichung, haben die erwünschten positiven Auswirkungen. Aufmerksame Leserinnen und Leser vermuten richtig: Derartige Weiterführungen der im Beratungs- und Therapiezimmer begonnenen Arbeit auszuprobieren wurde stark durch de Shazer und Berg (in: de Jong und Berg, 1998) animiert. Ähnlich wie diese beiden Pioniere des lösungsorientierten Arbeitsansatzes (Berg: mündliche Mitteilung, 2003) setzen wir meistens Formen von Beobachtungsaufgaben ein. In den seltenen Fällen, wo wir eine Verhaltensaufgabe vorschlagen, stellen wir sie in einer ganz offenen Form und kombinieren sie gern mit einer spielerischen Anleitung. Ein Beispiel für eine solche Anleitung in einer Kombination von Beobachtungs- und Verhaltensaufgabe könnte sein: »Bis wir uns in zwei Wochen wieder sehen, werfen Sie fünf Mal am Abend eine Münze. Erscheint ›Kopf‹, dann verbringen Sie den folgenden Arbeitstag so, wie Sie es immer tun. Erscheint jedoch ›Zahl‹, dann machen Sie am folgenden Tag etwas anderes. Das nächste Mal berichten Sie mir, wie es Ihnen dabei ergangen ist. – Und sollten Sie das Pech haben, dass immer nur ›Kopf‹ erscheint, dann erlaube ich Ihnen, die Münze an einem Abend oder sogar an zweien so oft zu werfen, bis sich ›Zahl‹ zeigt.«

Im Gegensatz zu de Shazer und Berg bauen wir sehr häufig gestalterische Elemente in die Aufgaben und Experimente ein. Einige der in den vorhergehenden Abschnitten und Kapitel beschriebenen Beispiele illustrieren dies. Ebenfalls geben wir längst nicht nach jeder Sitzung eine Aufgabe, wie es der klassische lösungsorientierte Arbeitsansatz nahelegt. In bestimmten Situationen scheint es uns sogar kontraproduktiv zu sein, die Sitzung mit einer Aufgabe abzuschließen. Der Dezentrierungsprozess von Frau E., der im Abschnitt 4.8. beschrieben worden ist, zeigt eine solche Situation. Der Zauber und die Intensität der Imagination zum Thema Freiheit wären vermutlich so-

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wohl durch eine Diskussion konkreter Schritte als auch durch eine Hausaufgabe zerstört oder zumindest beeinträchtigt worden. Dem Berater schien es wichtiger, Frau E. in ihrer damaligen Gefühlsstimmung aus der Sitzung zu verabschieden, damit diese möglichst lange weiterwirken konnte. Dass dieses Vorgehen angemessen war, zeigte das nachfolgende Gespräch nach der Sommerpause, bei dem Frau E. erwähnte, dass das imaginierte Bild sie während der ganzen Zeit begleitet habe und – so können wir folgern – die erstaunlich positiven Verhaltensänderungen wirksam unterstützte. Nicht erledigte Aufträge Grundsätzlich wichtig scheint uns die Art des Umgangs mit nicht erledigten Aufgaben zu sein, auf die schon de Shazer (mündliche Mitteilung, ca. 1999) aufmerksam gemacht hat. Eine nicht gemachte Aufgabe oder eine Aufgabe, die falsch verstanden wurde oder aus sonstigen Gründen auf eine andere als die suggerierte Art erledigt wird, ist keinesfalls ein Zeichen von »non-compliance« oder gar von Widerstand. Es ist nichts mehr und nichts weniger als ein Feedback an den Berater. Die Aufgabenstellung passte nicht. Vielleicht wurde die Aufgabe zu früh gestellt, vielleicht konnte oder wollte der Klient aus einem anderen Grund nicht darauf einsteigen. Es ist nicht unbedingt nötig, die Bedeutung dieses Feedbacks im Detail zu verstehen. Aber es ist wichtig, es im weiteren Verlauf der Arbeit ernst zu nehmen. Hier und da kann eine nicht gemachte Aufgabe sogar gewinnbringend genutzt werden: Das »Kreisen« bricht aus V., ein Coach und Teamberater, der freiberuflich recht erfolgreich ist, wird seit Jahren immer wieder von Perioden der Niedergeschlagenheit und des Zweifels heimgesucht. V. nennt diesen Zustand »Kreisen«. Das Kreisen nimmt ihn nicht nur gedanklich in Beschlag. Es wirkt sich auch körperlich aus, macht eng, nimmt ihm den Atem und gefühlsmäßig jeden Mut. In den Gesprächen wird deutlich, dass V. viele Ausnahmesituationen kennt und teilweise erfolgreiche Strategien zur Überwindung des Zustands entwickelt hat. In der vierten Sitzung zeigen sich erstmals Ansätze einer nicht ausschließlich negativen Beschreibung des »Kreisens«. Der Berater regt deshalb an, dass V., der sich in seiner Freizeit gelegentlich musikalisch und als Aquarellmaler betätigt, dem »Kreisen« zu Hause eine künstlerische Form geben und diese in geeigneter Form in die nächste Sitzung mitbringen könne. In der nächsten Sitzung meint V., dass ihm die Aufgabe »aus dem Sinn gefallen« sei, dass er das Kreisen aber schon malen könnte, und bemerkt spontan: »Ich sehe das Bild ganz genau vor mir.« Dieser Satz bringt den Berater dazu, mit dem nicht vorhandenen Bild in der Art einer virtuellen Dezentrierung zu arbeiten, das heißt »das Bild«

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Der konkrete Verlauf einer Sitzung

so zu behandeln, wie wenn es da läge, und damit eine ästhetische Analyse und eine Phase der Ernte durchzuführen. Dieses Vorgehen gelingt ausgesprochen gut. V. findet im virtuellen Bild bisher nicht geahnte Ressourcen und in der Folge auch eine Reihe möglicher Bezüge zu seinem Arbeitsalltag. Er nimmt sich vor, bis zur nächsten Sitzung »das Bild, respektive eine Reproduktion davon« tatsächlich zu malen. Diese nächste Sitzung findet erst nach längerer Unterbrechung statt, da V. sich in der Zwischenzeit eine schon vorher geplante, mehrwöchige Auszeit genommen hat. An diese Sitzung bringt V. Fotografien von zwei selbst gemalten Aquarellen mit. Das eine zeigt das besprochene Bild, das zweite stellt dar, wie sich das Kreisen inzwischen verwandelt hat. V. berichtet, dass die letzte Sitzung für ihn sehr wichtig geworden sei. Beim Malen sei die Haupterkenntnis für ihn gewesen: »He, das Kreisen ist ja bunt!« Und zum zweiten Bild meint er: »Hier ist das Bunte ausgebrochen und es ist nicht mehr zu zähmen.« An eben dieser Sitzung berichtet V. von so vielen positiven Veränderungen, dass Berater und Klient gemeinsam zum Schluss kommen, die Coachingarbeit an diesem Punkt zu beenden. Der Abschluss kommt für beide unerwartet, fühlt sich aber stimmig an.

Natürlich ist ein solcher Verlauf nicht typisch für unser Vorgehen. Er zeigt jedoch deutlich, dass sich sogar eine nicht gemachte Aufgabe ausgesprochen positiv auswirken kann. Eine Bedingung dafür ist vermutlich, dass man die vergessene oder anders erledigte Aufgabe nicht behandelt wie eine falsch erledigte Schulaufgabe, sondern dass man sie als Feedback ernst nimmt und in der Lage ist, prozessorientiert fortzufahren. In der Regel konstruieren wir weiterführende Aufgaben und Experimente immer wieder neu, unabhängig davon, was in früheren Sitzungen einmal vorgeschlagen wurde. Bei bestimmten Fragestellungen kann es jedoch sinnvoll sein, eine nächstfolgende Aufgabe mit einer früheren in Verbindung zu setzen. Ein Grund dafür wäre, ein Erfolgserlebnis ein weiteres Mal auszukosten. Etwas anders gelagert war die weiter oben in diesem Abschnitt beschriebene Situation von C. Ihre Problematik erwies sich als grundsätzliche Einstellung gegenüber der eigenen Person und gegenüber anderen. Ihre große Bereitschaft, am Thema zu arbeiten, machte es sinnvoll, die Hausaufgaben über mehrere Sitzungen hinweg aufeinander abzustimmen. So konnte parallel zur Bearbeitung von aktuellen Fragestellungen in einer Art Erkundungs- und Trainingsprogramm an der aufgeworfenen, grundsätzlichen Thematik gearbeitet werden. ✳ Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Experimente und weiterführende Aufgaben, die zu Hause ausgeführt werden, nicht nur eine Brückenfunktion zwischen den Beratungs- und Therapiesitzungen haben, sondern in der Lage sind, den im Praxisraum begonnenen Prozess im Alltagskontext der Klienten fortzusetzen. Zusätzlich erlauben sie, die Fortschritte der gemeinsamen Arbeit in einer gut überprüfbaren Art sichtbar zu machen.

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5. Grundsätzliche Überlegungen zu Sprache, Kunst und Spiel

Dieses Kapitel fasst einige grundsätzliche Aspekte des Sprachgebrauchs und des Umgangs mit Kunst und Spiel zusammen, die für unser Vorgehen typisch und uns selbst wichtig sind. Dabei beschränken wir uns nicht auf die Aufzählung und Darstellung dieser Aspekte, sondern setzen sie in Beziehung zu den theoretischen, philosophischen und künstlerischen Grundlagen, die unser Tun leiten.

5.1. Zum Gebrauch der Sprache Beraterinnen und Berater begegnen der Wirklichkeit ihrer Klienten vor allem durch Sprache. In der sprachlichen Botschaft versuchen Hilfe suchende Menschen, dem Gegenüber die Fakten ihrer Welt verständlich zu machen. Wir alle wissen, dass dies nur ansatzweise gelingen kann. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass ein Faktum, das in Sprache gefasst und jemand anderem mitgeteilt wird, zu einer sozialen Konstruktion wird. An dieser Konstruktion sind die anwesenden, möglicherweise aber auch nichtanwesende Akteure beteiligt: die Klientin als Sprecherin, die Beraterin als Zuhörerin und Fragende, außerdem wichtige Bezugspersonen und  – nicht zuletzt  – kulturelle Hintergründe, welche für die zur Sprache gebrachte Situation wichtig sind. In einer gegebenen Gesprächssituation wird dies leicht übersehen. Ist die Gesprächspartnerin glaubwürdig, nehmen wir üblicherweise das, was uns berichtet wird, »für bare Münze«. Für die beratende Person ist es unerlässlich, daran zu denken, dass sie selbst immer die Wirklichkeit mit beeinflusst, mit der sie es in der Beratung zu tun hat. Diese Wirklichkeit, so wie sie in der Beratung erscheint, ist das Produkt eines  – vor allem sprachlich geführten  – Aushandlungsprozesses. Mit anderen Worten: Die Geschichte, die erzählt wird und im Verlauf des Gesprächs neu entsteht, wird im Ton und ihrer allgemeinen Ausrichtung mit­ bestimmt durch die konkret und virtuell Anwesenden (siehe dazu auch Bürgi und Eberhart, 2004, Kapitel 6). Das mag auf den ersten Blick als ärgerlich, irritierend und störend erscheinen. Beschäftigt man sich damit jedoch etwas näher, so erweist sich dies als Chance:

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Grundsätzliche Überlegungen zu Sprache, Kunst und Spiel

Die Sprache im Beratungs- oder Therapieraum kann Wirklichkeit neu konstruieren In der Beratungs- und Therapiesituation  – natürlich auch in anderen Gesprächssituationen  – erscheint Wirklichkeit als durch Sprache vermittelte, sozial konstruierte Wirklichkeit. Nicht das Ereignis an sich, von dem berichtet wird, ist zentral, sondern die Bedeutung, die diesem Ereignis zugeschrieben wird. Dieser Umstand eröffnet dem beraterischen und therapeutischen Gespräch große Möglichkeiten. Dadurch, dass im geschützten Rahmen des Sprechzimmers in einer besondern Art und Weise miteinander gesprochen wird, besteht die Möglichkeit, neue, zusätzliche Bedeutungen zu finden, welche die Wirklichkeit in einem neuen Licht erscheinen lassen. Präziser und pointierter ausgedrückt: Die Andersartigkeit der im Beratungs- und Therapieraum benutzten Sprache konstruiert Wirklichkeit neu. Im Gegensatz zur logisch-argumentativen Sprache (Bruner, 1986), wie sie in den Wissenschaften gepflegt wird, sind im Gespräch Bedeutungen meist in Geschichten eingebunden. Hier sind nicht in erster Linie präzise definierte Begriffe, stringente Logik und Widerspruchsfreiheit gefordert, sondern Plausibilitäten  – wie emotionale Logik, emotionale Betroffenheit und Sinn­zusammenhang. Sind diese Eigenschaften vorhanden, überzeugt die Geschichte. Das heißt, dass jede Geschichte als System verstanden werden kann. Die einzelnen Teile stehen miteinander in Beziehung und beeinflussen sich gegenseitig. Die Geschichte als Ganzes macht Sinn, der sich als Wahrheit präsentieren kann. Geschichten organisieren die Erfahrungen des Erzählers und verleihen ihnen Bedeutung (z. B. Anderson und Goolishian, 1990). Wenn eine Geschichte erzählt wird, wird sie auch von den Zuhörenden, das heißt vom Kontext, mit beeinflusst. Menschen leben in Geschichten. Die narrative Sprache ist sozusagen die natürliche Sprache der Menschen. Geschichten liefern uns die Struktur, mit deren Hilfe wir die Komplexität der Welt angemessen reduzieren und sie so lebbar und vermittelbar machen. Menschen identifizieren sich mit ihren Geschichten Geschichten von Klienten sind häufig problemgesättigt, das heißt, das Berichtete wird immer wieder mit der im Zentrum stehenden Problematik in Beziehung gebracht. In diesem Sinne sind sie repetitiv und inhaltlich vergleichsweise armselig. Überraschungen finden sich selten. Erfahrungen, die der Problemsicht nicht entsprechen, werden in der Regel ausgeblendet und nicht in die erzählte Geschichte aufgenommen. Menschen sind jedoch grund-

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Zum Gebrauch der Sprache

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sätzlich »vielgeschichtig«, das heißt sie sind meistens in der Lage, ein bestimmtes Ereignis aus verschiedenen Perspektiven heraus zu erzählen. Im Gegensatz zu diesem üblichen Verhalten eigenen Geschichten gegenüber haben Problemgeschichten die Tendenz zu erstarren. Dieser Umstand wirkt sich verhängnisvoll aus, denn die Geschichten, die ein Mensch von sich selbst erzählt, wirken auf ihn zurück. Menschen iden­tifizieren sich mit ihren Geschichten, vor allem mit solchen, die sie immer und immer wieder erzählen. So kann man sagen, dass eine Krankheits­ geschichte, die immer wieder erzählt wird, den betreffenden Menschen letztlich in seinem Kranksein festschreibt. Denn eine Krankheit, über die man mit sich selbst und mit anderen spricht, wird zu einem sozialen Phänomen. Man reagiert dann nicht mehr nur auf das naturwissenschaftliche Faktum Krankheit, sondern vor allem auf das soziale Phänomen. Das kann zum Beispiel bei chronischen Erkrankungen verhängnisvoll sein, da Versprachlichung in der Regel als Verobjektivierung wirkt (von Schlippe und Lob-Corzilius, 1993; Stierlin, 1990). Letzteres kann sich allerdings auch positiv auf die Befindlichkeit der Betroffenen auswirken. Wenn sie etwa analog zu den Anonymen Alko­holikern (AA) ihre Situation immer wieder öffentlich bekennen und sich in Selbsthilfegruppen gegenseitig unterstützen, wirkt dies als eine Art Aussöhnung mit dem als irreversibel deklarierten Zustand, was unter Umständen sehr entlastend sein kann. In umgekehrter Weise ist dieser Vorgang auch bei Lösungs- und Erfolgs­ geschichten zu beobachten. Diese betonen die gesunden und erfolgreichen Erfahrungen. Klienten beginnen diese Seiten stärker zu beachten und machen sie schließlich zu Teilen des eigenen Selbstbildes. Geschichten, die ein Mensch von sich erzählt, haben demnach reale Auswirkungen auf sein Leben. Sie verändern seine Wirklichkeit. Aus einer solchen Sicht kann menschliches Leben aufgefasst werden als ein Prozess des Erzählens und Neu-Erzählens von Geschichten. Die Be-Deutungen, welche die eigenen Handlungen für einen Menschen erhalten, und die Ideen, Gedanken und Bilder, die er von sich selbst hat, sind in seinen Geschichten eingebunden. Körperliche Gegebenheiten, Kultur, Sozialstruktur und die konkreten Effekte des eigenen Handelns setzen den Effekten der erzählten Geschichten jedoch auch Grenzen. Es wurde dargelegt, dass Bedeutungen gesellschaftlich und zwischenmenschlich konstruiert werden. Im zwischenmenschlichen Bereich entstehen Bedeutungen, wenn zwei oder mehr Personen die gleiche Begebenheit auf gleiche Weise verstehen. Sie beginnen dann, wie wir im Alltag sagen, »die gleiche Sprache« zu sprechen und bestätigen sich gegenseitig deren Bedeutung. So gesehen ist Bedeutung identisch mit (gleichem) Verstehen. Dieses Verständnis ist kontextgebunden und nie über alle Zeiten hinweg gültig. Nach Anderson und Goolishian ist »Verständnis immer ›unterwegs‹, vorläu-

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fig und nie voll erreichbar« (1990, S. 222). Dabei verstehen die Gesprächspartner letztlich nur die Beschreibungen und Erklärungen, nicht aber die Ereignisse selbst. Neu gefundene Bedeutungen sind etwas Zerbrechliches. Sie müssen immer wieder neu im Gespräch erworben werden. Sollen sie verhaltenswirksam werden und dies auch bleiben, müssen sie zudem von den relevanten Personen des Umfelds stillschweigend oder explizit akzeptiert werden. Michael White (1997) spricht davon, dass neu gefundene Bedeutungen – er nennt sie »alternative Geschichten« – nicht nur verknüpft werden müssten mit dem bisherigen Leben der Klienten, ihren Absichten und Zielen, sondern auch weitererzählt werden sollten. Es kann sein, dass Letzteres nur sehr beschränkt möglich ist, da die bisherigen Bezugspersonen von dem, was sich neu anbahnt, nichts wissen wollen. Sie haben sich an den bisherigen (leidenden) Zustand des Klienten gewöhnt und sich entsprechend arrangiert. Systemisch gesprochen hat sich im sozialen Umfeld ein überstabiles Gleichgewicht eingespielt, das nur schwer aus den Angeln zu heben ist. In dieser Situation bleibt oft nichts anderes übrig, als dass der Klient aus seiner bisherigen Umwelt »auswandern« muss. Menschen müssen bestimmen lernen, wer zu ihrem (Lebens-) Verein gehören soll und wem sie die Mitgliedschaft entziehen müssen. Die Darstellung unseres methodischen Vorgehens in Kapitel 4 zeigt, dass wir diesen Überlegungen in vielen Teilen Rechnung tragen, ohne das Vorgehen des »narrativen Systemansatzes« von White im Detail zu übernehmen. Schon bei der Auftragsklärung, vor allem aber bei der Formulierung von Zielvisionen und einem guten Ergebnis für die laufende Sitzung, erfassen wir sorgfältig, wonach der Klient strebt, was ihm wichtig ist und wonach er sich sehnt. Bei der Problemerfassung sind uns die problemfreien Zeiten ebenfalls wichtig. Hier zeigen sich bereits erste Ansätze zu alternativen Geschichten. Die ressourcenorientierte Fragetechnik und Gesprächsführung trägt weiter dazu bei, Seiten des Lebens sichtbar zu machen, welche die problemgesättigte Geschichte relativieren. Einen zentralen Beitrag liefert in der Regel auch die sinnliche Erfahrung des künstlerischen Werks in der Dezentrierungsphase. Diese sinnlich-körperliche Erfahrung des künstlerischen Tuns, aber auch die Schönheit oder ein überraschender Aspekt eines entstandenen Werks berühren die Klienten ganz unmittelbar und können Seiten seines eigenen Wesens und entsprechende Sehnsüchte in die Gegenwart einbringen, die längst verschwunden schienen. Schließlich fördert die Begleitung von neu- und wiederentdeckten Gefühlen und Verhaltensweisen im Alltag das, was White unter »Weitersagen« versteht. ✳ Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Sprachgestaltung, das heißt der Art des Dialogs, innerhalb von Therapie und Beratung eine zentrale Be-

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deutung zukommt. Die in den vorangegangenen Kapiteln, vor allem im Kapitel 4, erörterten Fallbeispiele haben in mannigfaltiger Weise sichtbar gemacht, wie wir mit Sprache umgehen. Im Folgenden werden die uns leitenden Grundsätze und Richtlinien thesenartig vorgestellt: –– In der Therapie, Beratung, Supervision und im Coaching werden neue Geschichten gesucht, die im Gegensatz zu den Problemgeschichten die Handlungsmöglichkeiten und Freiheiten des Klienten nicht vermindern und einengen, sondern erweitern und anreichern. Der Dialog oder Diskurs, der zu solchen Geschichten führt, soll die Verbindung zu dem öffnen, was Anderson und Goolishian (1990, S. 226) »die unendlichen Ressourcen des Noch-nicht-Gesagten« nennen. In diesem ko-kreativen Prozess ist der Berater immer auch Ko-Autor der neuen Geschichte. –– Berater sind Gesprächskünstler. Sie sind Experten im Schaffen eines Raumes, in dem ungeschützt gesprochen und etwas probeweise formuliert werden kann. Sie sind Förderer eines Diskurses, in dem durch Fragen das Staunen artikuliert wird und der Antwortende nicht immer und überall den Beweis für die Wahrheit seiner Aussagen erbringen muss. Berater sprechen und fragen aus einer Position des Nicht-Wissens heraus. Das bedeutet, sie bemühen sich darum, dass ihre Vorerfahrungen und ihr Vorwissen ihnen die volle Bedeutung der Beschreibungen der Erfahrungen der Klienten nicht verschließen. Die Position des Nicht-Wissens wird möglich durch eine Haltung der wertschätzenden Neugier. Diese Haltung kann u. a. durch häufiges Paraphrasieren, das Wiederholen des Gehörten mit eigenen Worten, konkretisiert werden. –– Wir empfehlen unseren Studentinnen und Studenten, den Klienten »auf den Mund zu schauen«. Wer in der Sprache des Klienten bleibt, fördert das Verstehen. Ein ungewöhnlicher, klientenspezifischer Ausdruck zum Beispiel kann als Metapher oder Chiffre erfolgreich in späteren Gesprächs­ sequenzen weiter verwendet werden, ohne dass man dessen Bedeutung in allen Einzelheiten kennen und verstehen müsste. –– Umgekehrt sind Äußerungen von Klienten bewusst umzuformulieren, wenn zum Beispiel für positive Leistungen negative, manchmal sogar selbstbestrafende Ausdrücke verwendet werden. In solchen Situationen geht es unserer Ansicht nach um ein eigentliches Sprachtraining, das neuoder wiederentdeckte Haltungen oder Verhaltensweisen wirkungsvoll unterstützen kann. –– Ebenso lassen wir die Beschreibung von erwünschten Verhaltensweisen oder Eigenschaften durch die Klienten umformulieren, falls sie konsequent verneinend dargestellt wurden. Zum Beispiel eine 50-jährige Klientin: »Ich möchte nicht mehr so höflich und überkorrekt sein.« – »Wie möchten Sie dann sein?« – »Ich möchte mich interessiert zeigen. Möchte mir bewusst sein, dass ich ihm ›mein Wesen‹ schenke.«

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–– Grundsätzlich geht es uns um die Förderung einer reichhaltigen Alltagssprache, vor allem auch auf den Gebieten der Fähigkeiten, Stärken und Ressourcen. Oft liegt der Aufmerksamkeitsfokus von Klientinnen und Klienten auf der Problematik. Das, was gelingt, wird als selbstverständlich angesehen und ist somit uninteressant. Unsere Fragen sollen helfen, besonders auch diese Aspekte des Alltags im Detail zu beschreiben: die unterstützenden Umstände, die beteiligten Motive, der konkrete Verhaltensablauf, die begleitenden Gefühle, die Art der Befriedigung, die Reaktionen von Bezugspersonen etc. Die geforderte detaillierte Beschreibung schärft die Wahrnehmung des Gelingenden und animiert zu weiteren Beobachtungen auf diesem Feld. Damit verändern sich nach und nach, oft längere Zeit unbemerkt, auch die eigene Geschichte und das Bild, das sich die betreffende Person von sich macht. –– Konkret und spezifisch beschreiben statt generalisieren: Die ganz konkrete und spezifische Beschreibung – einer erfolgreichen Aktion zum Beispiel – hat psychisch eine völlig andere Wirkung als eine generalisierende Bemerkung über die gleiche Aktion. Manchmal ist es Fachjargon, manchmal sind es Alltagssprüche (»Ich hatte eben einmal einen guten Tag«) oder Killersätze (»Ja, ja, da habe ich halt wieder einmal meinen doofen Charme wirken lassen«), mit denen Klienten über etwas hinweggehen wollen. Freundliches, geduldiges, zugleich hartnäckiges Nachfragen hilft ihnen, sich genauer zu erinnern. Dabei können Aspekte entdeckt werden, die bisher – manchmal systematisch – übersehen wurden, die sich aber im Fortgang des Gesprächs oft als sehr nützlich erweisen. Diese konkrete Beschreibung »an der Oberfläche« hat nichts zu tun mit einem Ermittlungsverfahren, in dem alle Details zur Sprache kommen müssen, um allenfalls durch ein scheinbar unwesentliches Detail der »Lösung« auf die Spur zu kommen. Noch weniger hat es zu tun mit Rechtssprechung, in der Fakten zusammengetragen werden, um feststellen zu können, »wie es nun wirklich war«. Manchmal wird dies von Teilnehmenden in Aus- und Fortbildungen so missverstanden. –– Mit der in diesem Buch immer wieder hervorgehobenen Bedeutung einer konkreten Beschreibung soll die Reichhaltigkeit und die Perspektivenvielfalt von Situationen – vor allem von erfolgreich erlebten – sichtbar gemacht werden. Eine solche Beschreibung erweist sich immer wieder als Fundgrube für Lösungen und sie trainiert gleichzeitig die Klienten, Erfahrungen offener und vielfältiger wahrzunehmen. –– Konkret beschreiben statt abstrakt darüber sprechen: Akademiker, Manager, junge Ärzte und Psychologen haben sich manchmal ein abstraktes Ausdrucksrepertoire angewöhnt, das sie in einer Beratungssituation auch auf sich selbst anwenden. Die abstrakte Formulierung hilft ihnen, eine Sache auf Distanz zu halten. Das kann im Berufsalltag nützlich oder sogar

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notwendig sein; in der Beratungs- und Therapiesituation ist es kontraproduktiv. Für einzelne Berufsangehörige ist es allerdings sehr schwierig und mühsam, über sich und die eigenen Erfahrungen einfach und konkret zu berichten. Da kann das künstlerische oder spielerische Tun in der Dezentrierungsphase und die fast rituell strenge, phänomenologisch-beschreibende Ausdrucksweise bei der ästhetischen Analyse Erholung und Übungsfeld zugleich sein. –– In unseren Gesprächen wird immer wieder die Imagination angesprochen. Unter anderem geht es um die detaillierte Beschreibung erwünschter Zukünfte. Deshalb spielt formal der Konjunktiv im Gegensatz zum Indikativ eine wichtige Rolle. Zum Beispiel: »Ich möchte ›einen Punkt machen‹ können und nicht immer diese negativen Gedanken wälzen, zum Beispiel ob der Wein gut genug ist, den ich anbieten werde.« –» Was wäre dann anders, wenn Sie ›einen Punkt‹ gemacht haben?« – »Ich würde daran denken, was für ein gutes Leben ich eigentlich habe.« – »Was für einen Unterschied würde das für Sie machen?« oder: »Was könnte ein außenstehender Mensch an Ihnen beobachten, das neu für ihn ist?« etc. –– Ebenso werden in einem Gespräch, das für Imaginatives offen ist, normalerweise Metaphern, Bilder, unter Umständen auch poetische Formen häufiger verwendet. Menschen sind unterschiedlich offen für diese Formen. Ausgehend vom Grundsatz, dass in einer Beratungssituation »das Passen einer Intervention entwickelt« werden muss, entscheidet der Beratungsprozess darüber, ob und in welchem Ausmaß diese Sprachformen zum Zug kommen oder nicht. Auch in der künstlerischen oder spielerischen Phase der Dezentrierung wird gesprochen. Bei der Anleitung zum dezentrierenden Tun bedient sich die professionelle Person der Logik der Alltagssprache. In der Wortwahl und den Formulierungen bewegt sie sich innerhalb des sinnlichen Vokabulars der entsprechenden Kunstform. Sofern während des künstlerischen Tuns ebenfalls gesprochen wird, hält sich die Konversation an die Sprache der jeweiligen künstlerischen Disziplin. Dies gilt grundsätzlich auch für die ästhetische Analyse, die sich um eine reine Beschreibung des sinnlich Wahrnehmbaren respektive des Erlebten bemüht.

5.2. Kunst und Spiel Wie in Kapitel 8 noch näher ausgeführt werden soll, ist der künstlerische Ausdruck anthropologisch gesehen wie auch die Sprache ein Existential. Wesentliche Unterschiede betreffen den körperlich-sinnlichen Aspekt der

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Kunst, die starke imaginative Komponente und die andersartige Logik. Man könnte diese Logik anderer Art dadurch kennzeichnen, dass sie von den Sinnen bestimmt und »sinn-voll« ist, weil die Logik im Handeln geschieht (Handlungslogik) und weniger aus einer Reflexion vor dem Handeln. Im künstlerischen Tun entdeckt man die Zusammenhänge aus der Gestaltung heraus, sozusagen ästhetisch, und weniger vor der Gestaltung, aus einer Idee heraus. In den bisherigen Ausführungen stand der künstlerische Ausdruck im Zentrum. Nur gelegentlich wurde auf die Möglichkeit des Spiels als Form der Dezentrierung hingewiesen. In unserem Text wurde hingegen wiederholt erwähnt, dass Spielverfahren das Dezentrieren in gleicher Weise ermöglichen können wie das künstlerische Tun. Wenn wir die bisherige Praxis des Dezentrierens betrachten, steht der künstlerische Ausdruck tatsächlich im Zentrum, und nur selten werden Spielverfahren angewendet. Es mag zwar sein, dass es für manche Menschen in gewissen Situationen einfacher ist, in ein mehr oder weniger freies Spiel einzutreten als in das künstlerische Tun, das noch zu sehr belastet sein könnte vom Bild des »Hohen und Hehren« der Künste respektive vom »Richtig« und »Falsch« des Kunstunterrichts in der Schule. Wir dürfen uns aber hier nicht täuschen lassen, denn oft ist das Spiel für Klienten zu nah am »Kindischen«, und es ist dann einfacher, über die Volkskunst einzutreten, welche das »Hohe und Hehre« in breiten Volksschichten ersetzt hat, und zwar nicht nur in Bezug auf die Musik. Um die Möglichkeiten des freien Spiels in seinen Unterschieden zu und Überschneidungen mit dem künstlerischen Tun besser verstehen zu können und auch um damit zum Experimentieren zu ermutigen, werden wir uns im Folgenden diesen Zusammenhängen etwas gründlicher widmen. Dabei ist es hilfreich, die zwei Schlüsselwörter »Spiel« und »Imagination« näher zu untersuchen. Spiel In unserer Sprache sind wir es gewohnt, das Wort Spiel auch zu gebrauchen, wenn wir über die Künste reden. Ich spiele zum Beispiel Musik oder ein Musikinstrument, ich freue mich am Bewegungs- oder Farbspiel eines Mobile, oder ich wohne einem Schauspiel bei. Die Wurzel des Wortes spielen kann im alten slawischen plesati oder im gotischen plinsjan gefunden werden. Beides bedeutet »tanzen«. Spielen bezieht sich im Deutschen zurück auf die Wurzel spil, welche wir auch im dänischen spille und im schwedischen spel vorfinden. Auch hier bedeutet die etymologische Wurzel »tanzen«, »das vorwärts, rückwärts und zur Seite Schreiten« und »in einem Kreis tanzen« (Kluge, 1975, S. 725). Das Spiel ist dem Tanz nahe verwandt, ebenso

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dem Bild des Kreises. Diese Verwandtschaft hilft, das Spiel (play) vom Regelspiel (game) zu unterscheiden. Letzteres ist im Englischen mit »jagen« verwandt. Der Ausdruck »jagen«, suggeriert einen gerichteten, linearen, zielorientierten »Weg« in Richtung auf die Beute hin. Der Unterschied zwischen der zielorientierten Aktion des Jagens und dem kreisenden Tanz des Spielens kann in der verschiedenen Strukturierung der Zeit gesehen werden. Diese ist in gezielten Aktivitäten wie dem Jagen linear, im Spiel jedoch zirkulär (Lorenz, 1987, S. 395). Im Zusammenhang mit der Lösungssuche entspricht das Prinzip der Anreicherung oder der mehrperspektivischen Sichtweise und des zirkulären Fragens eher der Auffassung des zirkulären Spielraumgebrauchs; das Li­neare dagegen eher dem linearen Fokusiert-Sein auf das Problem, das zu lösen ist. Für Spielende liegt die Befriedigung im Spielen selbst. Im Gegensatz dazu steht das Ergebnis, welches das Ziel eines Regelspieles ist. Darüber hinaus gibt es viele Mischformen; eine wichtige Form in unserer Arbeit ist das Spiel zur Entwicklung eines Regelspiels. Im Zusammenhang mit der Spielraumerweiterung haben wir Kategorien des Spiels vorgeschlagen, die sich auf die folgenden drei reduzieren lassen (Knill, 1982): –– freies Spiel, –– Regelspiel, –– künstlerisches Tun oder Spiel. Bevor wir diese in Bezug auf die Praxis näher beleuchten, wollen wir uns kurz dem Begriff der Imagination widmen, denn es gibt weder Kunst noch Spiel, in denen nicht in irgendeiner Weise das Tun-als-ob eine Rolle spielen würde. Imagination Wenn wir die Wurzeln des Wortes Imagination untersuchen, finden wir im Lateinischen imaginatio und seine Wurzel imago. Imago, das mit Bild übersetzt werden könnte, hat eine erweiterte Bedeutung. Nach Meier (1988, S. 210) ist die ursprüngliche sprachliche Bedeutung »im Wasser« oder »das gespiegelte Ding im Wasser«. Das Wort für Imagination, im Schwedischen inbilla und im Althochdeutschen inbilden, bedeutete so etwas wie in die Seele hinein­projizieren. Wir sind es in unserer visuell orientierten Gesellschaft gewohnt, Imagination auf visuelle Bilder zu reduzieren. Weil wir den Ausdruck imago bild-

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haft verstehen, vernachlässigen wir oft die anderen sinnenhaften Aspekte der Imagination. In der Tat ist es nicht so, dass Menschen nur in Bildern imaginieren, sondern auch in Klängen, Rhythmen, Bewegungen, Handlungsabläufen (Szenen), gesprochenen Botschaften (Dialogen) und inneren bewegten Bildern (»ein innerer Film lief ab«), ja sogar in Gerüchen und Geschmäcken (»und da roch ich wieder den Duft des Hauses, in dem ich im Urlaub war«). Dieser intermodale, verschiedene Kommunikationsarten betreffende As­ pekt der Imagination kann bei der Anreicherung im Ablauf einer Sitzung wichtig werden, gleich, ob es nun um eine Zielformulierung oder um die ­ästhetische Analyse oder um einen Aspekt in der Phase der Ernte geht. Wir fragen dann nicht nur nach Bildlichem. Aufforderungen nach anderen Imaginationsmodalitäten lauten dann zum Beispiel: »Wenn du mir das so schilderst, gehört da auch ein Klang dazu?« – »Hat es auch einen Geruch in der Luft?« – »Was für eine Musik kam dir dabei in den Sinn?« – In der ästhetischen Analyse, wo der Beratende bei der Besprechung des Prozesses auf die Erinnerung an eine Bewegung oder eine Klangfolge angewiesen ist, hilft es, wenn man Brücken aus einer anderen Modalität bauen kann: »Als du die Richtung deines Tanzes abrupt nach vorn geändert hast, konntest du da noch die Art der Musik hören, die hervortrat? Wie war es mit dem Rhythmus? Mit deinem Schritt?« Verschiedene Spielformen und Dezentrierung Jedes »Tun, als ob es so oder anders wäre« hat eine räumliche und zeitliche Dimension, deren Handlung jeweils zu einem Spiel werden kann. –– Das eigentliche freie Spiel finden wir vor allem bei Kindern im Spielen mit Objekten bis hin zum Spielen von Szenischem ohne vorgängige Regeln oder ohne vorgegebenen Rahmen (wie z. B. eine Bühne). Das freie Spiel kann in der Dezentrierung auch eingesetzt werden, wenn es als Ausgangspunkt für ein Regelspiel angewendet wird. –– Das Regelspiel und das künstlerische Tun haben gemeinsam, dass sie den Spielraum durch Regeln raum-zeitlicher und materieller Art bestimmen. Das Spiel bekommt dann eine Richtung auf ein Ergebnis hin, was wiederum einen eher linearen Zeitcharakter ergibt. –– Das künstlerische Tun kann verstanden werden als ein diszipliniertes Spiel mit der Imagination, das in seinen traditionellen Einschränkungen von Rahmen und Material (MORE) einem »schlüssigen Werk« zustrebt. Das Werk (Ergebnis) ist offen und kann in seinem imaginativen Charakter überraschen. Dieses »Spiel« bietet gleichzeitig eine große Palette von Herausforderungen, deren Bewältigung immer wieder neu erfunden werden muss.

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Künstlerisches und spielerisches Tun in der Dezentrierung

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–– Das traditionelle Regelspiel ist ein völlig von Regeln kontrolliertes Spiel, dessen Ziel im Voraus bekannt ist. Das Ergebnis ist nur insofern noch offen, als wir das Ziel durch unterschiedliche Geschicklichkeit mehr oder weniger effizient erreichen können. Das Spiel bietet dadurch eine allen bekannte Herausforderung, deren Bewältigung von geschickter Strategie und Spielgewandtheit abhängt. Es gibt hier keine ästhetische Analyse, sondern ausschließlich eine Analyse der Strategie und Geschicklichkeit. Diese Art Spiel eignet sich sehr wohl für gewisse Bildungsaufträge, wir sehen sie jedoch nicht im Zusammenhang mit einer Dezentrierung. –– Das freie Erfinden eines Spiels ist eine Möglichkeit, den Reichtum des freien Spiels so zu nutzen, dass dieses in einer Dezentrierung gebraucht werden kann. Der Auftrag beginnt dann ebenfalls mit einem Rahmen (Zeit, Raum) und eingeschränktem Material. Der Auftrag lautet, mit dem Material frei zu spielen, bis sich eine spannende Spielregel ergibt, die so befriedigt, dass man die Zeit vergisst (zirkuläre Zeit). Das Spiel (das heißt hier: das Ergebnis) ist offen wie beim künstlerischen Tun das Werk. Dieses Spiel bietet eine Herausforderung, die innovativ gelöst werden muss, und lässt eine Art ästhetische Analyse zu. Die Analyse kann aus verschiedenen Perspektiven heraus erfolgen und der Spielprozess bietet ähnliche Möglichkeiten der Reflexion wie der künstlerische Werkprozess, wie wir im nächsten Abschnitt zeigen werden.

5.3. Künstlerisches und spielerisches Tun in der Dezentrierung Immer wieder hört man von Klienten und Klientinnen, dass sie es außer­ ordentlich schätzen, eine Phase ohne große Diskussion und sprachliche Auseinandersetzung zu haben. Es sei eine Entspannung, sich spielend zu fokussieren, und wenn es dann doch zur Sprache komme, sei etwas Neues da, auf das man unbeschwert zusammen eingehen könne. In der Praxis hat es sich gezeigt, dass in der Dezentrierung mehrheitlich das künstlerische Tun eingesetzt wird. Dies gilt auch für die Gruppenarbeit. Wir vermuten, dass das künstlerische Tun in seinem Wesen irgendwie das Werk als Resultat im Auge hat, auch wenn der Prozess ebenso wichtig ist. Das freie Spiel hingegen ist schon in seinem Ursprung dem Prozess selbst zugewendet und wenig ziel- oder werkorientiert. Es eignet sich vor allem für die Einzelarbeit. Die ästhetische Analyse muss sich in diesem Fall auf den Prozess konzentrieren, da sich der Werkcharakter eigentlich im Erreichen eines befriedigenden Spielzustands äußert. Es werden Fragen gestellt, die sich auf die im Verlauf des Spiels getroffenen Maßnahmen und die Arrange-

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ments beziehen und die damit verbundenen Herausforderungen des oder der Spielenden sowie auf alles, was unternommen wurde, jene Zeitlosigkeit und Faszination zu erreichen, die wir vom Spiel her kennen: »Was hat dich am Spiel besonders interessiert?« – »Was hat dich veranlasst, den Spielablauf zu verändern?« – »Als du aufgeben wolltest, was hat dich wieder reingeholt?« – »Welche Regeln, die du dir gesetzt hast, würdest du nächstes Mal beibehalten?« etc. Man könnte sagen, dass in der Phase des Dezentrierens das freie Spiel zu einer Art von Performance an Objekten wird, in der laufend Regeln aus­ probiert werden, bis es »hinhaut« oder »klappt«. In Gruppen ist das Dezentrieren auf diese Art schwierig, weil ständig Regeln in Diskussionen ausgehandelt werden müssen. In solchen Diskussionen rückt leicht das Problematische in den Vordergrund. Wir sind dann mitten in der Alltagsproblematik durch die Diskussion um Vorteile, Sanktionen, Macht und Gewinn. Beim Einsatz des künstlerischen Tuns wird oft die Frage aufgeworfen, ob die kurze Zeit der Dezentrierung einem vernünftigen Kunstanspruch genüge. Wir sind im Abschnitt »low-skill-high-sensitivity« (siehe Abschnitt 4.6.) auf diese Fragestellung eingegangen. Hier gilt es noch auf einen Effekt hinzuweisen, der mit den Ausführungen zum Spiel im Zusammenhang steht: Wir beobachten immer wieder, dass schon nach wenigen Minuten ein volles dezentrierendes Engagement erreicht wird, wenn der künstlerische Auftrag spielerischen Charakter hat und sich auf einfache Mittel beschränkt, wie beispielsweise Schuhe in der früher beschriebenen Schuhinstallation. Das erzeugt gleichzeitig eine Niederschwelligkeit der Aufgabenstellung. Auch ist zu bedenken, dass wir in der Beratungssituation neben der kurzen Zeit selten große Ateliers oder Studios mit reicher Ausstattung zur Verfügung haben. Daraus ergibt sich, dass wir im Grunde genommen ein Studiosetting, eine Theaterproduktion, ein Atelier, einen TV-Spot oder eine Performance Company »spielen«. Wir sind in diesen Momenten keine werkschaffenden Künstler, sondern Menschen, die Künstler spielen. Das ist ein ernstes Spiel, das keine Beiläufigkeit duldet und gerade deshalb begeistert. Wir pflegen das Spiel im Blick auf die reale Kunstszene, und das ist lustvoll und spannend, ohne zu einer Komödie zu geraten. Es ist ein werkschaffendes Spiel, das ernsthafte Werke hervorbringen kann, die manchmal sogar öffentlich gezeigt werden.

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Reden ist Silber, Handeln ist Gold

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5.4. Reden ist Silber, Handeln ist Gold In der Beratung, beim therapeutischen Tun, in der Supervision und im Coaching steht das Reden im Vordergrund. Und das ist sicher sinnvoll. Auffällig aber ist, dass unsere Erfahrungen speziell auch in Beratungs-, Supervisions-, und Coachingsituationen zeigen, dass sich eine Situation erst dann mit großer Sicherheit zum Guten wendet, wenn der Klient zum Handeln kommt. Konkret: wenn er in seinem Alltag Neues probiert und sich anders verhält. Pointiert könnte man das so formulieren: Die wichtigste Aufgabe der professionellen Person ist es, Klienten zum Handeln zu bringen, das heißt sie zu unterstützen, neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Das ist in vielerlei Hinsicht plausibel: Wer in seinem Alltag etwas neu oder anders tut, kommt nicht darum herum, neue Erfahrungen zu machen. Er erlebt die Auswirkungen dieses Tuns auf sich selbst und auf andere. Er erhält Feedback. Und vor allem: Klientinnen und Klienten erleben, dass selbst ein befürchteter Misserfolg, sofern er denn eintritt, oder die erwartete negative Reaktion von Beteiligten sie nicht »am Boden zerstört«. Sie erfahren, dass auch negative Ergebnisse und Folgen zu bewältigen sind, so dass sie gar nicht so selten letztlich gestärkt aus der entsprechenden Situation hervorgehen. Auf diese Weise ermuntert und verstärkt konkretes Handeln neues Handeln und ermöglicht es Klienten, aus der Position des Opfers in jene des Täters und Akteurs zu wechseln. Für die Kunst ist Handeln in dem Sinne trivial, als es keine Kunst ohne Handeln gibt. Und so gibt es auch kein Intermodales Dezentrieren ohne Handeln. Dieses Handeln geschieht nicht wegen des Problems oder im Hinblick auf seine Lösung. Es geschieht auf die Kunst hin. Die Wirkung des künstlerischen Handelns ist ebenfalls trivial: Es gibt etwas oder es gibt nichts. Diese Wirkung ist sofort feststellbar und lässt sich nicht wegdiskutieren. Jede Person, die sich wirklich auf den künstlerischen Prozess einlässt, wird zu diesem »etwas« kommen, denn das künstlerische Werk hat eine Tendenz zur Selbstorganisation. In diesem Sinne erweist sich künstlerisches oder spielerisches Tun als eine Art Schonraum, in dem exploriert werden kann. Kunst und Spiel ermöglichen nicht nur, sie erzwingen sogar Handeln, ein Handeln, das immer zum Ziel führt. Das zeigt die Bedeutung der Dezentrierungsphase innerhalb einer Beratungssitzung aus einer neuen Perspektive. Die Dezentrierung erweist sich zusätzlich auch als Trainingsort, in dem Handeln quasi probeweise und gleichzeitig verbindlich geübt wird. Die Wirkung dieses Handelns ist eindeutig, sofort ersichtlich und sinnlich erfahrbar. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass fast alle Klientinnen und Klienten nach einer Sitzung mit Dezentrierung spontan oder durch eine Aufforderung bereit sind, in ihrem Alltag ganz konkret etwas Neues auszuprobieren.

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6. Metadiskurs zur Methode und ihrer Wirkung

In Kapitel 8 werden wir die Wurzeln unseres methodischen Vorgehens und die Denktraditionen, denen sie entstammen, ausführlich darstellen. Bereits im 4. Kapitel sind wir bei der Detailbeschreibung unserer Arbeitsweise immer wieder auf allgemeine Beobachtungen und grundsätzliche Überlegungen zu sprechen gekommen, während sich das 5. Kapitel auf unser grund­ legendes Verständnis von Sprache, Kunst und Spiel bezieht. Es geht nun im folgenden Metadiskurs nicht darum, diese Überlegungen zu wiederholen oder vorwegzunehmen. Vielmehr fasst der erste Abschnitt unseren spezifischen Aufmerksamkeitsfokus während der Arbeit mit Klienten zusammen. Anschließend beschreiben wir die Wirkungen unserer Vorgehensweise, die wir bisher in einzelnen Sitzungen und im weiteren Verlauf der Arbeit mit Klienten beobachten konnten. Mit anderen Worten: Wir machen uns Gedanken über Wirkungen, Effizienz und Nachhaltigkeit des Intermodalen Dezentrierens. Der letzte und umfangreichste Abschnitt widmet sich der theoretischen Einbettung unseres methodischen Vorgehens. Dort gehen wir ausführlich auf das innerhalb der Systemtheorie entstandene Konzept der Selbstorganisation ein, wie es von Kriz (z. B. 2006), Tschacher (2004), Haken und Schiepek (2006) und anderen beschrieben wurde. Durch die Experimente, Forschungsergebnisse und theoretischen Überlegungen zur Selbstorganisation lässt sich unseres Erachtens gut nachvollziehen, was in einer Beratungs- oder Therapiesitzung in einer Dezentrierungsphase vor sich geht und wie die zum Teil erstaunlich positiven Wirkungen zu erklären sind. Bei der Nutzung von Überlegungen zur Selbstorganisation für die theo­ retische Erklärung der Wirkungskraft des hier vorgestellten methodischen Ansatzes des Intermodalen Dezentrierens schließen wir uns einem wachsenden Strom wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung an, um komplexe Vorgänge in Natur und Gesellschaft zu verstehen. Mit dem hier erstmals formulierten Substitutionsmodell und der Perspektive der Salutogenese bewegen wir uns dann wieder auf eigenem Terrain. Es handelt sich um zusätzliche Versuche, die Wirkung unseres methodischen Vorgehens plausibel zu machen.

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Metadiskurs zur Methode und ihrer Wirkung

6.1. Aufmerksamkeitsfokus Phänomenologischer Zugang Die vorherrschende Denkweise bei Berufstätigen in den Arbeitsfeldern der Therapie und der Beratung hat auch in den ersten Jahren des dritten Jahr­ tausends eine Ausrichtung, die wir als strukturalistisch bezeichnen. Beob­ achtetes wird als Teil  oder als Hinweis auf einen größeren strukturierten Zusammenhang verstanden. Wichtig ist nicht so sehr, wie sich etwas zeigt, sondern das, was dahinter liegt. Beobachtetes weist auf etwas Grundsätz­ licheres, Tieferes oder Übergeordnetes hin, und das ist es, was als das Zentrale verstanden wird. Damit verbunden ist bei vielen Berufsangehörigen eine gewisse Angst vor der Unbeständigkeit, Flüchtigkeit oder der Verführungskraft des Offensichtlichen. Eine ausgeprägt strukturalistische Haltung versteht das, was jemandem begegnet, als Symptom, das heißt als Zeichen oder Hinweis auf eine Ursache. Allein der oder den Ursachen kommt eine verbindliche Qualität von Realität zu. Die Art und Weise, wie sich etwas zeigt, steht im Verdacht, lediglich Schein zu sein. An der Oberfläche bleiben In unserer Arbeit folgen wir einer anderen Tradition, die auch in der Kunst und in der Lösungsorientierung eine Heimat gefunden hat. Beim konkreten Vorgehen bemühen wir uns, an der Oberfläche des Gestalteten und Ausgesprochenen zu bleiben. Wir nennen diesen Zugang »phänomenologisch«, ohne jedoch zum Beispiel die verschiedenen Reduktionen des Begründers der entsprechenden philosophischen Richtung (Husserl, 1952) nachvollziehen zu wollen. Die Phänomenologie, die Lehre von den Erscheinungen, von dem, wie sich etwas zeigt, will sich an den Sachen selbst orientieren. Sie ist am Eigent­ lichen der betrachteten Inhalte interessiert und bemüht sich ebenso um die genaue Beschreibung des Einzelfalls. Dabei ist sie sich bewusst, dass der Mensch zu keinem konkreten Zeitpunkt die Gesamtheit aller möglichen Perspektiven auf eine bestimmte Sache im Blickpunkt behalten kann. Diese phänomenologische Einstellung gegenüber dem, was einem begegnet, ist uns wichtig. Sie verlangt unter anderem eine breite Aufmerksamkeit allem Seelischen gegenüber und eine Form von Enthaltsamkeit, die sich im Bemühen zeigt, von voreiligen Wertungen, Kritik, Deutungen, von theoretischen Interpretationen und Ähnlichem abzusehen. Wir sprechen deshalb davon, dass wir »an der Oberfläche« bleiben wollen, und zwar sowohl im Gespräch mit dem Klienten als auch im Kontakt

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Aufmerksamkeitsfokus

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mit seinem künstlerischen Werk oder seinem spielerischen Tun. Mit anderen Worten: Mit diesem Stil, den wir pflegen, vermeiden wir es, das, was sich uns zeigt, voreilig auf irgendwelche Kategorien zu reduzieren. Von der Beziehungsgestaltung her verlangt eine solche Einstellung Offenheit und eine ausgeprägte Präsenz. Es gilt, die Ganzheit der Situation im Auge zu behalten und gleichzeitig das Detail zu würdigen. Im Weiteren bedingt unser Aufmerksamkeitsfokus eine sorgfältige Beachtung des sprachlichen Ausdrucks. Wir nehmen das Gegenüber »beim Wort«. Das bedeutet, dass wir die Gesprächspartner in ihrer individuellen Ausdrucksweise ernst nehmen, auf ungewöhnliche Wortwahl achten und diese Aus­ drücke unter Umständen als gemeinsamen Code weiterverwenden. Das künstlerische Werk als »das Dritte« Diese Grundhaltung dem uns Begegnenden gegenüber schlägt sich auch im Umgang mit dem künstlerischen Werk nieder. Ein konkretes Werk wird von jedem Menschen sprachlich in unterschiedlichster Weise erfasst. Die Begegnung mit dem künstlerischen Werk entspricht der Begegnung mit einem Gegenüber, das sich entwickelt, sich dem Betrachter verschiedenartig zeigt und Überraschungen birgt, das also sozusagen Charakteristiken eines lebendigen Gegenübers besitzt. Selbstverständlich sprechen die Menschen die Worte selbst aus. Das Werk legt sie ihnen jedoch gewissermaßen in den Mund. Ein Gespräch zwischen Beraterin und Klientin würde sicherlich einen anderen Verlauf nehmen ohne die Anwesenheit des künstlerischen Werks. Das Gespräch dreht sich zeitweise stark um das »Dritte im Bund«, um den »angekommenen Gast«, um den sich beide bemühen. Dieses Dritte ist in seiner Unvorhersehbarkeit ernst zu nehmen. Wir sind aufgefordert, uns dem, was da »angekommen« ist, was sich zeigt, zu stellen. Die Versuchung ist groß, das herausfordernd Fremdartige des Dritten rasch auf bekannte Interpretationsmuster zu reduzieren, wobei man im Gewohnten verharren würde. Die ästhetische Analyse, die im vorgestellten methodischen Vorgehen einen wichtigen Platz einnimmt, macht das Gegenteil. Sie setzt sich nicht nur mit den Details des Werks, sondern auch mit dessen Entstehungsprozess auseinander. Sie tut dies in einer beschreibenden, möglichst konkreten und detaillierten Sprache. Klientin und Begleiterin gehen zum Beispiel um das Werk herum, so dass die Verschiedenheit der Perspektiven zur Geltung kommt. Die verwendeten Worte, die gestellten Fragen, die gemachten Aussagen heben diese Verschiedenartigkeit hervor. Es sind die Unterschiede in der Wahrnehmung, die es dem Werk ermöglichen, sich in seiner Einmaligkeit zu zeigen. Und damit ist der Boden für Überraschungen vorbereitet.

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Das alles bedeutet nun aber keineswegs, dass wir uns nicht unseres eigenen Einflusses auf das von uns Beobachtete bewusst wären. Wie in Abschnitt 8.3. noch näher ausgeführt wird, stehen wir auf dem Boden des Sozialen Kon­ struk­tionismus (Gergen, 2002) und verstehen von daher auch eine konkrete Beobachtung als gemeinsame Konstruktion der Beteiligten. Unserem Verständnis nach ist es letztlich nicht möglich, zu »den Sachen selbst« zu gelangen. So ist es streng genommen gar nicht möglich, beim Beschreiben lediglich »an der Oberfläche zu bleiben«. Wir können uns aber darum bemühen. Und wir können dies tun im Bewusstsein der mannigfaltigen Einflüsse individueller, si­tuativer, sozialer und kultureller Art. Das Bemühen, an der Oberfläche zu bleiben, bedeutet ebenfalls nicht, dass wir keine (Verhaltens)Muster beachten würden. Auch wenn jede Aussage und jede Handlung grundsätzlich etwas Einmaliges ist, kann es sehr sinnvoll sein, auf Regularitäten oder eben auf Muster zu achten. Die Konfrontation eines Klienten mit einem beobachteten Muster kommt dabei einem Perspektivenwechsel gleich. Sie erweitert dessen Sicht und kann nicht nur für das Verstehen, sondern auch in Hinsicht auf zukünftiges Verhalten bereichernd und anregend sein. Wichtig ist uns dabei, dass jedes beobachtete Muster zwar im Vergleich zu einer einfachen Verhaltensbeschreibung eine abstraktere Aussage, jedoch keine irgendwie höher geartete Wahrheit darstellt. Und beide bleiben Konstruktionen. Der phänomenologische Zugang hat ebenfalls einen starken Einfluss auf unseren Umgang mit der Sprache, dem wir uns im folgenden Abschnitt zuwenden. Sprachlich-inhaltlicher Fokus Auch wenn es natürlich der Klient ist, der mit seinen Anliegen die Inhalte vorgibt, so setzt doch die Gesprächsleiterin innerhalb der im Kapitel 4 beschriebenen Ablaufstruktur durch die Art ihrer Fragen wichtige Akzente. Daneben bestimmt der phänomenologische Zugang über alle Gesprächsphasen hinweg die Art und Weise, wie etwas in Sprache gefasst wird. Wir fokussieren auf eine konkret-beschreibende Sprache, die Abstraktionen und Generalisierungen so weit wie möglich zu vermeiden sucht. Adjektive und Verben werden dabei gegenüber Substantiven bevorzugt. Es geht also um einen Verbalstil anstelle eines Nominalstils. Das fällt im Deutschen sehr viel schwerer als im Englischen und stellt für manche Menschen eine echte Herausforderung dar. Durch die Art und die Formulierung ihrer Fragen und die Art und Weise, wie die Beraterin ihre eigenen Beobachtungen in Worte fasst, wird ihr Sprachstil den Klienten nahegebracht. Bei vielen Klienten lässt sich über mehrere

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Sitzungen hinweg beobachten, dass der Erzählstil der Beratenden allmählich übernommen wird. Das Vorgehen der Beraterin wirkt sich also wie ein indirektes Trainingsprogramm aus. Inhaltlich richtet sich der Fokus auf die Gegenwart respektive die unmittelbare Vergangenheit und auf erstrebte Zukünfte. Ersteres hat unser Vorgehen mit allen Ansätzen der Humanistischen Psychologie gemeinsam. Letzteres erklärt sich aus der Bedeutung, die wir konkret formulierten Zielen respektive Imaginationen von erwünschten Zukünften zumessen. Konkret in Worten beschriebene »gute Zukünfte« haben eine positive Sogwirkung und können zum Beispiel zusammen mit einer entsprechenden künstlerischen Darstellung oder einer selbst gefundenen Metapher eine stark motivierende Kraft entwickeln. Der beschriebene zeitliche Aufmerksamkeitsfokus darf nicht restriktiv gehandhabt werden. Auch längst Zurückliegendes kann in einer Phase der Arbeit mit einer Klientin wichtig werden. In solchen Situationen sind wir allerdings bestrebt, auch das Stärkende dieser in der Regel belastenden Erfahrungen herauszuarbeiten und den Bezug zur Gegenwart herzustellen.

6.2. Wirkung und Nachhaltigkeit Effekte in der ersten Gesprächsphase Die im Folgenden beschriebenen Effekte sind beim dezentrierenden Arbeiten beobachtet worden, das mit einer Gesprächsphase nach lösungsorientierter Tradition begonnen hat. Das bedeutet, dass die dem Dezentrieren vor­angegangene Phase sich nicht auf die Beschreibung von Problemen und Schwierigkeiten beschränkt hat. Man hat zusätzlich von Zielen und »guten Ergebnissen« gesprochen und es sind Ausnahmen vom Problemzustand zur Sprache gekommen. In der ersten Gesprächsphase fällt immer wieder auf, dass trotz des Ernstes der geschilderten Situation oft gelacht wird. Es wird eine Erleichterung spürbar, wenn durch die lösungsorientierten Fragen etwas bis jetzt Unbeachtetes in neuem Licht dasteht. Die Stimmung wirkt aufgeräumt, wenn eine neue Perspektive Ressourcen zu Tage fördert und nach weiteren Fragen (»Was sonst noch?«) bisher nicht Beachtetes sichtbar wird. Es gibt viele erste Gesprächsphasen, wo Überraschungen dieser Art für Staunen sorgen. Manchmal geschieht es schon in dieser Gesprächsphase, dass sich das ursprüngliche Problem entspannt und etwas Grundsätzlicheres in den Vordergrund tritt. Durch die Erweiterung darauf, »was auch noch anwesend ist«, öffnet sich der Blick für persönliche Qualitäten und neue Perspektiven zur

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Situation. Damit verändert sich die Grundhaltung zu einer Haltung, die körperlich und mental eine Art Wachheit oder gar Verblüfftheit zulässt und damit einer engagierten Neugier die Tore öffnet. Dieser Zustand ist eine gute Voraussetzung für die Dezentrierung. Klienten, die Fragestellungen der ersten Phase zum ersten Mal erleben, sind erstaunt über sich selbst und über die Ressourcen, die sie im Zusammenhang mit dem Problem entdecken. Erkundigt sich der Berater beispielsweise nach dem Umstand, der die Angelegenheit am problematischsten macht, wird oft etwas Erstaunliches genannt. Manche Klienten beginnen ganz erregt, für ihre Sicht des Problems zu kämpfen. Dadurch sind sie bereits aus einer Opferhaltung oder Leidensstimmung herausgetreten und kämpferisch motiviert. Indirekt zeigen sie damit auch, dass sie mögliche andere Sicht­ weisen ernst nehmen. In diesem Fall bereitet die Frage nach dem, was für den Klienten im Zusammenhang mit dem Problem wichtig ist, bereits den Weg zur Lösungssuche vor. Manche Klienten verlangen eine deutliche Wertschätzung ihres Leidens. Effekte in der Dezentrierungsphase Der erwähnte Stimmungswandel, das damit zusammenhängende Staunen, die Bereitschaft für Überraschungen und das wache, neugierige Engagement, das Verblüffung zulässt, bilden eine ideale Voraussetzung für die Heraus­ forderung eines dezentrierenden Spiels oder künstlerischen Werks. In diesem Sinne ist das lösungsorientierte Gespräch in der ersten Phase eine Bedingung zum Gelingen der Dezentrierung. Die Art der Präsenz von Berater und Klient in der Dezentrierung zeigt sich anders als im Gespräch. Dies vor allem, weil sie handlungsorientiert ist und damit auch den Körper einbezieht. Die wache Neugier und die engagierte Entdeckungslust äußern sich hier im Handeln als Eifer und Ehrgeiz. Beides sind Antriebsmomente einer Schaffenskraft, die sich ganz ins Tun vertieft. Die übliche Reflexionstendenz wird oft ganz selbstverständlich hintangestellt und die Interpretationstendenz weicht dem Erlebnisbericht und dem Staunen über das geschaffene Werk oder Spiel. Effekte während der Ernte Die Phase der Ernte zeigt sich als ein spekulativer und assoziativer Ge­ sprächsraum. Ernten hat mit dem Sammeln von Gereiftem zu tun. Das Wort »Ernte« scheint uns eine hilfreiche Metapher für diesen Gesprächsabschnitt zu sein, weil es auch darauf hinweist, dass hier nichts mehr erzwungen wer-

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den kann und es nur darum geht, das auszuwählen und zusammenzubringen, was im Moment von Bedeutung ist. Die Beraterin hört in dieser Gesprächsphase oft erstaunliche sprachliche Formulierungen, gelegentlich in poetischer Form, manchmal eigentliche Weisheitssätze. »Das, was jetzt ansteht, kann in ganz verschiedene Richtungen gehen – aber ich muss den Anstoß dazu geben.« – »Es geht um beides: um das Eckige und das Runde.« – »Es geht darum, hie und da auch etwas aus der Grauzone einzubeziehen.« – »So wie ein Adler: frei übers Zeug f­ liegen!« Wenn die Beraterin solche Formulierungen als Rückmeldungen oder Tipps in der ersten Gesprächsphase äußern würde, käme ihr wahrscheinlich oft Skepsis entgegen und die Wirkung der Aussage würde verpuffen. Da die Sätze jedoch, wie im Abschnitt 4.8. dargelegt, von den Klienten selbst for­ muliert werden, bekommen sie einen ganz anderen Stellenwert. Denn sie werden durch die betroffene Person selbst interpretiert und konkretisiert. Man könnte die Atmosphäre in der Phase der Ernte als sehr offen und die Sprache als beflügelt bezeichnen. Diese Atmosphäre der Offenheit macht empfänglich für die Welt, für das, was jetzt gerade anwesend ist. Viele Sätze der Klienten sind in ihrem poetischen Stil mehrdeutig. Dabei ist das Erlebnis, das zu den Aussagen geführt hat, immer noch präsent. Bei der anschließenden Konkretisierung ergibt sich dadurch eine große Ausbeute an möglichen Bedeutungen und Folgerungen. Das wiederum lässt den Klienten die Freiheit, sorgfältig zu wählen – vorausgesetzt, der Berater bleibt der Prämisse treu, dass die Klienten Experten sind für das, was im Moment wichtig ist, und sie bei der Erarbeitung von angemessenen Lösungen nur ermunternde Unterstützungen brauchen. Effekte nach Abschluss der Sitzung Eine geglückte Dezentrierung mit einer einigermaßen reichhaltigen Ernte entlässt meistens eine nachdenkliche oder angeregte Klientin. Das Vorgehen mit der erarbeiteten ästhetischen Analyse und den selbst gefundenen, möglichen Bezügen zur eigenen Situation macht betroffen. Und sehr oft werden die Klientinnen auch neugierig auf die Auswirkungen der skizzierten nächsten Schritte. Es ist erstaunlich, wie selten beim Abschluss einer Sitzung mit Dezentrierung Bedenken oder Zweifel an der Durchführbarkeit des geplanten weiteren Vorgehens geäußert werden. Bereits früher (Abschnitt 4.9.) wurde erwähnt, dass künstlerisches Tun metaphorisch als »Seelennahrung« verstanden werden kann. Liegt der Schwerpunkt einer Dezentrierung vorwiegend in der Bewältigung einer ungewohnten Aufgabenstellung, die innerhalb kurzer Zeit einer ästhetischen Lösung bedarf, dürfte eher die positive Coping-Erfahrung

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im Vordergrund stehen. Bei einer spielerischen Form von Dezentrierung hingegen wird neben dem Angeregt-Sein oft etwas wie die »Leichtigkeit des Seins« erlebt. In jedem Fall fühlen sich Klientinnen und Klienten fit oder jedenfalls gestärkt. Der in der neueren Literatur oft erwähnte Faktor der Selbstwirksamkeit ebenso wie die Zuversicht, dass sich etwas in einem positiven Sinn ändern wird, dürften durch unser Vorgehen deutlich erhöht werden. Wie im 4. Kapitel beschrieben, ist der Gesprächsleiter dafür verantwortlich,  dass das künstlerische oder spielerische Tun zu einem guten Ende kommt. Das Werk muss so weit gedeihen, dass es irgendwie anspricht und anfängt zu gefallen. Und es muss angemessen gewürdigt werden. Dies dürfte eine der Grundbedingungen dafür sein, dass sich die Klientin unmittelbar nach der Dezentrierung in hohem Maß bestätigt und sicher fühlt und so in der Lage ist, sich Neuem, Ungewohntem und Unbekanntem zuzuwenden. Diese Bestätigung wird manchmal explizit geäußert: »Ich bin schon überrascht, dass ich mit dieser Aufgabe einfach so begonnen habe. Und ich muss sagen: Mir gefällt das noch!« Die Bestätigung kann sich auch auf etwas beziehen, was man zwar schon immer gewusst und gekannt hat, dem man aber oft nicht wirklich vertraute: »Es läuft, wenn ich nicht zu viel studiere und mich nicht unter Druck setzen lasse. Eigentlich weiß ich das schon lange.« Die Körpersprache dieser Klientin bestätigte und vervollständigte die obige Aussage: Sie saß verschmitzt lächelnd da und wirkte im Vergleich zum Beginn der Sitzung wie »ein umgekehrter Handschuh«. Gelegentlich geht die unmittelbare Wirkung der dezentrierenden Arbeit weit über eine einfache Bestätigung hinaus: In einer Demonstrationssitzung innerhalb einer Coaching-Ausbildung durchläuft Dora eine Intermodale Dezentrierung, die sie aufgrund der Instruktionen des Coachs von einer kleinen Installation über ein Haiku (einfache Versform) zu einem melo­ diösen Ausdruck führt. Dora endet mit einem lang ausgehaltenen, strahlend ge­ sungenen Ton. Für einen kurzen Moment ist es ganz still im Raum. Alle Anwesenden sind berührt. In der Auswertung nach der Sitzung spricht Dora von einer »beglückenden Erfahrung«: »Dieser lange Ton, die Kraft des Ortes, wo ich stand … dieses Bild (Installation) vor mir zu haben.« Noch ein halbes Jahr später ist diese Erfahrung bei ihr sehr lebendig und präsent.

In einer ähnlichen Stimmung, fast wie in einer kleinen Trance, hatte Frau E. (s. Abschnitt 4.8.) nach der Dezentrierung die Sitzung verlassen. In allen Situationen, in denen sich die Klientin nach der Dezentrierungsarbeit in einer speziellen Art angeregt oder betroffen fühlt – und das geschieht in der großen Mehrzahl –, scheint es uns nützlich, zur Fortsetzung dieses guten Zustands am Ende der Sitzung eine Art Brücke in den Alltag hineinzubauen (vgl. dazu Abschnitt 4.9.). Die Rückmeldungen der Klientinnen in der

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darauf folgenden Sitzung zeigen, dass solche Hilfestellungen meistens sinnvoll genutzt werden können.

Beobachtungen und Überlegungen zur Nachhaltigkeit Die unmittelbaren Ergebnisse der Dezentrierungsarbeit sind auf der einen Seite sinnliche Erfahrungen und auf der anderen Seite in Sprache gefasste »Lösungen zweiten Grades«, das heißt grundsätzliche, manchmal meta­ phorische Aussagen über die Lösungsrichtung. Vermutlich hilft diese Mischung mit, dass die gemachten Erfahrungen und Überlegungen erstaunlich gut haften bleiben. Damit auch konkrete Schritte in der gewünschten Richtung ins Auge gefasst werden können, ist es meist sinnvoll, solche mit Hilfe der Beraterin gemeinsam im Gespräch zu skizzieren. Wird zusätzlich etwa noch eine Beobachtungsaufgabe nach Hause mitgegeben, so hören wir selbst nach mehrwöchigem Unterbruch in der nächsten Sitzung häufig Aussagen zur Dezentrierungserfahrung wie: »… hat mich immer begleitet«, »… blieb als glückliche Erfahrung in Erinnerung«, »… war in speziellen Situationen wie ein Gradmesser für das, was mir eigentlich wichtig ist.« »Die Art, wie ich im Leben stehe« Der Gedanke, in ein persönliches Coaching zu gehen, wäre noch vor drei Jahren für den Chef einer größeren Restaurationskette »undenkbar gewesen«. So drückt er sich selbst in der Evaluationssitzung aus, die den Schluss der acht vereinbarten Zu­ sammenkünfte bildet. F. hat sich durch Disziplin, Können und Tatkraft aus einfachen Verhältnissen in die jetzige, leitende Position emporgearbeitet, in der ihm ungefähr 100 Manager unterstellt sind. Im Laufe der Jahre hatte er sich einige Vorgehensweisen und Umgangsformen angewöhnt, die sich als effektiv und zeitsparend erwiesen. Sie sind ihm inzwischen »in Fleisch und Blut übergegangen«. Seit einiger Zeit stößt er damit jedoch an Grenzen. Am stärksten und nervenaufreibendsten zeigt sich dies im Umgang mit einem seiner Stiefsöhne. Aber auch im eigenen Betrieb gibt es erste Schwierigkeiten. Aufgrund des Berichts eines Geschäftsmannes aus dem Bekanntenkreis meldet er sich für ein persönliches Coaching. Gewohnt, Dinge rasch und speditiv zu erledigen, ist F. erfreut darüber, dass in den Coaching-Sitzungen ebenfalls zielgerichtet und konkret gearbeitet wird. In den Gesprächen versucht der Berater aber auch grundsätzliche Aspekte anzusprechen, was nur ansatzweise möglich ist. Erst die einzige, in der vierten Sitzung durchgeführte Dezentrierung gibt dafür dann den entscheidenden Anstoß. F. wird angewiesen, eine für ihn völlig ungewohnte gestalterische Aufgabe unter einem gewissen Zeitdruck zu einem guten Ende zu bringen. Er ist erleichtert und

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überrascht, dass ihm dies gelingt und das entstandene Werk ihm zudem noch gefällt. Seine Einfälle in der Phase der Ernte heben die positiven Aspekte der Haltung hervor, die den Verhaltensweisen zugrunde liegen, mit denen F. sonst an verschiedenen Orten anstößt. Gleichzeitig zeigen sich auf metaphorischer Ebene Möglichkeiten der Öffnung und Flexibilisierung dieser Haltung. Der Coach gibt deshalb für die Zeit bis zur nächsten Sitzung eine weitere Gestaltungsaufgabe, die mögliche Erweiterungen beinhaltet. F. widmet sich dieser Aufgabe mit Sorgfalt und Ausdauer. Die nachfolgende Besprechung der »Hausaufgabe« und die weiteren Gespräche zeigen, dass sich F. immer mehr bewusst wird, dass neben anstehenden Verhaltensänderungen in bestimmten Situationen »die Art, wie ich im Leben stehe« zur Debatte steht. Er stellt sich diesem Thema. Das Coaching kann, wie vorgesehen, nach 8 Sitzungen abgeschlossen werden. In der Abschlusssitzung berichtet F. von verschiedenen Erfolgen und eigentlichen Highlights auf unterschiedlicher Ebene und hebt wiederholt hervor, dass er sich seiner selbst »sehr viel bewusster« geworden sei. Er habe nicht den Eindruck, dass »die Sache erledigt« sei. Er sei »auf dem Weg«. Es seien sichtbare Schritte erfolgt, über die er bereits von Außenstehenden positive Rückmeldungen erhalten habe. Aus Sicht des Coachs ist es gelungen, eine allgemeine Bewegung in Gang zu bringen. F. begegnet sich selbst und anderen mit einer breiteren und toleranteren Achtsamkeit.

Dezentrierung gibt Anstöße Das Beispiel zeigt auf prototypische Weise, dass es mit einer Dezentrierung allein in der Regel noch nicht getan ist. Vor allem dann nicht, wenn grundsätzliche Einstellungen und langjährige Verhaltensmuster mit im Spiel sind. Hier ist es nötig, durch Bearbeitung konkreter Situationen, durch eine Art Aufmerksamkeitstraining bezüglich eigener Ressourcen und Stärken, durch Stützung, durch Sensibilisierung, durch Hausaufgaben und Anregungen für Experimente und vieles andere mehr den Klärungs- oder Veränderungsprozess anzuregen, zu unterstützen und zu festigen. Eine erste Dezentrierung gibt dabei in der Regel wichtige Anstöße, und sie vermittelt sinnliche Erfahrungen, die im späteren Verlauf vom Klienten als eine Art Anker genutzt werden können. Weitere Dezentrierungen innerhalb eines solchen Prozesses verhelfen zu weiteren Klärungen, unterstützen konkrete Schritte und machen auf zusätzliche Dimensionen aufmerksam, die beachtet werden wollen. Dezentrierung ermöglicht nachhaltige Konfliktlösung Ein derartiger Verlauf kann in Therapien und Beratungen, aber auch in vielen Coachingsitzungen beobachtet werden. In Supervisionssitzungen dagegen sowie in bestimmten Beratungssituationen kommt es immer wieder

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vor, dass nach einer einzigen Sitzung mit Dezentrierung eine konkrete Pro­ blematik so weit bearbeitet ist, dass sie in der Folge von der Klientin ohne größere Unterstützung selbst gehandhabt werden kann. Dies ist sogar bei beruflichen Konfliktsituationen von Berufsanfängerinnen eher die Regel als die Ausnahme. Wenn es nicht um eine Ausbildungssituation geht, wo eine bestimmte Anzahl von Supervisionssitzungen vorgeschrieben ist, können solche Beratungen deshalb oft schon nach drei oder vier Sitzungen erfolgreich abgeschlossen werden. Wünschen diese Klientinnen weiter in die Beratung zu kommen, ist meistens ein Wechsel in der Thematik zu beobachten. Es stehen dann nicht mehr konkrete Probleme oder Konfliktsituationen aus dem Arbeitsalltag im Vordergrund, sondern das Gespräch beginnt sich Fragen der Lebensgestaltung und der Lebensqualität zuzuwenden. Unerwartete konkrete Schritte der Klienten Beobachtet man etwas systematischer die konkreten Schritte, die Klienten nach einer Sitzung mit Dezentrierung zur Veränderung ihrer Situation tun, so stellt man fest, dass es gar nicht selten Schritte sind, die in der Sitzung überhaupt nicht skizziert worden sind. Zwar stimmen sie durchaus mit der allgemeinen Richtung überein, die sich in den »Lösungen zweiten Grades« abzeichnete. Die konkrete Ausführung jedoch ist für die Beraterin oft unerwartet. Manchmal haben sich konkrete Maßnahmen offensichtlich er­übrigt, weil sich die Situation »wie von selbst« in die gewünschte Richtung veränderte. Oder der Klientin ist etwas Einfacheres, gelegentlich auch etwas »Verrückteres« eingefallen, was zu tun ist. Hie und da entschließt sich die Klientin zuerst zu einem Veränderungsschritt auf einem anderen Lebensgebiet, wodurch sich die Situation auf dem Problemgebiet ebenfalls entschärft. Derartige Beobachtungen mahnen die beratende Person zur Bescheidenheit. Sie sind für uns ein Zeichen für die Kraft der Selbstorganisation – etwas pathetischer: für die Selbstheilungskraft – des Personsystems respektive der involvierten sozialen Systeme. Zwar können in der Beratungssitzung erarbeitete Überlegungen für konkrete Schritte durchaus nützlich sein und von der Klientin auch aufgenommen werden. Wichtiger aber scheinen die wertschätzenden, unterstützenden, neugierig machenden, überraschenden und kreativ-lustvollen Momente der Dezentrierungsarbeit zu sein. Nachhaltige Langzeitwirkungen Die bisher beobachteten Langzeitwirkungen der Arbeit mit Dezentrierungen sind gut. Unsere Beobachtungen erstrecken sich mittlerweile über sechs bis zehn Jahre. Die durch Dezentrierungen angeregten und unterstützten Veränderungsschritte scheinen nachhaltig zu sein und können in die entsprechen-

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den Lebenskonzepte der Klientinnen und Klienten, welche ihrerseits häufig auch Veränderungen erfahren, integriert werden. Bei Rückfragen nach ein bis zwei Jahren wird eine einzelne Dezentrierungserfahrung nur ganz selten erwähnt. Öfters jedoch hört man die Aussage, dass die Sitzungen, »wo wir etwas anderes gemacht haben«, besonders wertvoll waren (gemeint: etwas anderes gemacht als nur gesprochen haben). Kritisch anzumerken ist, dass im Praxisalltag die Wirkung der Dezen­ trierung nicht von der Wirkung des gesamten Beratungs- oder Therapieprozesses unterschieden werden kann. Aus unserer Sicht hat die professionelle Person eine doppelte Verantwortung: Sie muss dem Klienten im dezen­ trierenden Tun eine sinnliche Erfahrung ermöglichen, und sie hat die sprachlichen Teile so zu gestalten, dass die Sprache in der Dezentrierungsphase ganz »an der Oberfläche« bleibt und in den übrigen Phasen ressourcenorientierte Beschreibungen gepflegt werden. Bis zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Kapitels sind noch keine systematischen Studien über die Wirkung der Dezentrierungsarbeit durchgeführt worden. Zudem muss angemerkt werden, dass bei der beobachteten Klientel keine schweren psychischen Störungen vorkommen. Dezentrierungen ohne erkennbare Auswirkungen? Gibt es Dezentrierungen ohne erkennbare Auswirkungen auf die Klienten oder den beraterisch-therapeutischen Prozess? Grundsätzlich muss dies erwartet werden. Konkret wurde es jedoch bis jetzt sehr selten beobachtet: Ein hochintelligenter, junger Akademiker mit stark rationalisierendem Sprachverhalten und großen Selbstzweifeln lässt sich nur zum Teil auf die Aufgabenstellung der Dezentrierung ein und beschränkt sich auf eine konventionelle Lösung. Trotzdem ergeben sich in der »Ernte« einige interessante Assoziationen, deren Konkretisierung im Alltag aber sehr rasch versanden.

Das Beispiel gibt einen ersten Hinweis auf die Grenzen der Anwendung des Intermodalen Dezentrierens. Wir werden darauf im Abschnitt 7.2. näher eingehen.

6.3. Theoretische Überlegungen zur Wirksamkeit Im Kapitel 8 werden wir ausführlich die Wurzeln und Denktraditionen beschreiben, die der Entwicklung unserer Vorgehensweise Pate gestanden haben. Es ist dies eine spezifische, auf der Phänomenologie beruhende Auffassung von Kunst, in der die sinnliche Seite des künstlerischen Tuns und die

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ästhetische Verpflichtung speziell hervorgehoben werden. Und es ist der ressourcenorientierte Gesprächsansatz, der die Mündigkeit des Klienten mit seinen systemtheoretischen, humanistischen und konstruktionistischen Wurzeln hervorhebt. In Kapitel 3 wurde auf einige Theoriegruppen verwiesen, die unserem Denken nahestehen. Dort wurde unter anderen das Konzept des »Mehr desselben« von Watzlawick (z. B. Watzlawick et al., 1969) erwähnt, das darauf verweist, dass vermeintliche Konfliktlösungen oft die Problematik verschärfen. Alles, was weg vom »Mehr desselben« führt, dürfte von diesem Denken her potentiell hilfreich sein. Im Weiteren waren es Überlegungen zur Kreativität, weil sie sich definitorisch dadurch auszeichnet, dass in einer bekannten Situation neuartig vorgegangen beziehungsweise in einer neuen Situation überraschend eine alte Lösung neu angewendet wird. Kunst verwirklicht Kreativität. Die Überlegungen zur Imagination wiesen nach, dass größere Spielräume zur Verfügung stehen, wenn Imaginatives akzentuiert wird. Analoges zeigen bestimmte Spieltheorien für das Feld des Handelns. Konflikttheorien schließlich weisen darauf hin, dass man mit Vorteil aus dem Feld des Konflikthaften hinaustreten muss, wenn Lösungen gefunden werden sollen. Dieser Grundsatz gilt zusammenfassend für alle dort erwähnten theoretischen Ansätze. In diesem letzten Hauptabschnitt des Metadiskurses über unser Vorgehen und dessen Wirkung gehen wir auf drei theoretische Ansätze ein, welche aus unterschiedlichen Perspektiven die Prozesse ordnen, die beim Inter­modalen Dezentrieren ablaufen. Sie stehen unserem eigenen Denken nahe und sind in der Lage, für die beobachteten Wirkungen Erklärungsalternativen anzubieten. Es sind dies die Synergetik respektive die Selbstorganisationstheorien, das von Knill entworfene Substitutionsmodell und die Perspektive der Salutogenese. Systemischer Ansatz, Selbstorganisation, Synergetik Die Systemtheorie ist ein Grundpfeiler unseres Denkens. Sie lenkt den Blick auf das Ganze einer Situation und versucht, in der Komplexität des Gege­ benen sowohl flüchtige Prozesse als auch beständigere Strukturen (Muster) zu erfassen. Angeregt vor allem durch Arbeiten von Jürgen Kriz (z. B. 1997a, 1997b, 2002) haben wir uns im letzten Jahrzehnt vermehrt mit dem Phänomen der Selbstorganisation auseinandergesetzt. Dabei sind wir auf das Gedankengut der Synergetik gestoßen, die durch die theoretische Erfassung der beim Laserstrahl zu beobachtenden Phänomene durch Hermann Haken (z. B. 1995) begründet worden ist.

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Die Synergetik erklärt die Bildung und Selbstorganisation von Mustern und Strukturen in offenen Systemen, die fern vom thermodynamischen Gleichgewicht existieren. Sie ist inzwischen nicht nur in den Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie), sondern auch in der Mathematik, der Soziologie und der Psychologie breit abgestützt und entspricht dadurch unserem eigenen interdisziplinären Ansatz. Der synergetische Ansatz fasziniert uns, weil hier versucht wird, Komplexität ohne vorzeitige Reduktion zu erfassen. In fast unzulässiger Art und Weise zusammengefasst und popularisiert, geht es um Folgendes: Das Problem mit der Ordnung Menschliches Leben erscheint in der Spannung zwischen Chaos und einengender Ordnung. Chaos allein ist tödlich. Ohne Ordnung ist Leben nicht denkbar. Jede Ordnung bedeutet jedoch gleichzeitig potentiell eine massive Einschränkung von Freiheitsgraden oder – aus einer anderen Perspektive formuliert – eine Reduktion der Komplexität. Das Letztere macht Ordnung(en) für den Menschen so attraktiv. Solche Ordnungen sind innerhalb der Psychologie schon vor langer Zeit, etwa durch Piaget (z. B. 1937) als Schemata oder durch Metzger (z. B. 1962) und andere Gestalttheoretiker als Gestaltgesetze beschrieben worden. Riedl (nach Kriz, 1997a) spricht von angeborenen Mustern der Komplexitätsreduktion, die sich im Laufe der Evolution als über­ lebensfähig erwiesen hätten. Kriz (2004) hat darauf aufmerksam gemacht, dass parallel zur Kom­ plexitätsreduktion oft eine Komplettierungsdynamik zu beobachten ist. Das menschliche kognitive System komplettiert schwach erkennbare Ordnungen  zu einem Gesamtbild (Beispiel: Bilderkennung des menschlichen Gesichts). Ordnung entsteht demnach durch Reduktion von Komplexität. Wenn wir jedoch alles auf einige wenige, vertraute Kategorien reduzieren, verpassen wir die Einmaligkeit von Erfahrungen. Individuen, Gruppierungen und Gesellschaften der westlichen Welt scheinen zu einem Übermaß an Ordnung zu tendieren. Das erzeugt zwar vorerst ein gewisses Sicherheitsgefühl, auf die Dauer aber können daraus Stress, Probleme, Konflikte und auch psychische und physische Erkrankungen resultieren. Die Folgerung aus dieser beschriebenen Abfolge scheint offensichtlich: Kreativität im Handeln und Denken, die Freude an und das Genießen von einmaligen Erfahrungen und Flexibilität in der Begegnung mit neuen Situationen  – all dies setzt eine gewisse Offenheit gegenüber dem Chaotischen voraus. Oder umgekehrt: In Beratungssituationen haben wir es bei unseren Klienten in der Regel mit einem Zuviel an Ordnung zu tun. Genauer aus­

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gedrückt: Menschen, die Beratung oder Therapie aufsuchen, befinden sich in einem gestörten Gleichgewicht zwischen den Polen von Chaos und erstarrter Ordnung. Wie es zu Veränderungen kommt Die Systemtheorie hat gezeigt, dass Systeme die Tendenz haben, in einem einmal gefundenen dynamischen Gleichgewicht zu bleiben. In der Fachsprache spricht man vom Verharren in einem »Attraktor« (siehe weiter unten). Dieses Verhalten hat den großen Vorteil, dass kleinere Fluktuationen in den Umgebungsbedingungen immer wieder ausgeglichen werden können. Eine kontinuierliche Veränderung dieser Bedingungen jedoch  – zum Beispiel eine fortgesetzte Steigerung des Zeitdrucks am Arbeitsort oder der stetig alternde Körper eines Menschen – kann das Gleichgewicht nachhaltig verändern. Das Verhaltensmuster, das vielleicht über längere Zeit gut bis sehr gut funktioniert hat, wird immer unangemessener. Die (alte) Ordnung wird zum Problem (siehe dazu das obige Beispiel von F.: »Die Art, wie ich im Leben stehe«). Durch Experimente in nichthumanen Systemen, beispielsweise im Bereich von Physik und Chemie, konnte dabei eine »kritische Verlangsamung« beobachtet werden. Das heißt, dass die Anpassungsfähigkeit des Systems an das alte Gleichgewicht (den alten Attraktor) in auffälliger Weise verlangsamt wird. Setzt sich die Veränderung der Umgebungsbedingungen, in der Fach­ sprache als Kontrollparameter bezeichnet, fort, gerät das System in den Zustand eines instabilen Gleichgewichts, bei dem schon geringe Fluktuationen genügen, um es auf den Weg zu einem neuen Attraktor, das heißt einem neuen Gleichgewicht, anzustoßen. Eine solche Neuordnung erfolgt nie linear, sondern sprunghaft, oft un­ erwartet und plötzlich. Sie kann als sehr dramatischer Wandel erlebt werden. Sehr viele Neuordnungen allerdings sind unspektakulär und man bemerkt sie oft erst im Nachhinein. In der Alltagssprache spricht man davon, dass man »etwas gelernt« habe. Geht es dabei jedoch um eigentliche Lebensmuster, so können derartige Lernprozesse früher einmal entwickelte Ordnungszustände praktisch nie vollständig eliminieren. In Stresssituationen kann das alte Muster wieder reaktiviert werden: Wir sprechen von einem »Rückfall« (Haken und Schiepek, 2006). Selbstorganisation Die Fähigkeit von Systemen, ihre Struktur auch unter sich verändernden Umweltbedingungen aufrechtzuerhalten und diese  – bei weiteren Umweltveränderungen – ohne direkte Einwirkung von außen auch selbst zu verän-

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dern, kann als Selbstorganisation verstanden werden. Der Begriff »Selbstorganisation« umfasst demnach einfache Gleichgewichtsprozesse, die mit Regelkreisstrukturen (Rückkoppelungen) aufrechterhalten werden, wie auch eigentliche Strukturveränderungen, die mit dem Wort »Lernen« umschrieben werden können. In der Literatur wird »Selbstorganisation« als Oberbegriff für Ausdrücke wie »selbstreparierendes System«, »selbsterzeugendes System«, »lernendes System« etc. verwendet. Der Begriff wurde zuerst in den Naturwissenschaften verwendet, um das eigenständige Herausbilden von geordneten Strukturen gegenüber einer von außen determinierten Ordnung abzugrenzen. Für das Verständnis von Selbstorganisationsprozessen spielt der Begriff des Attraktors eine wichtige Rolle. Der Attraktor ist ein mathematisch de­ finiertes Phänomen, genauer: ein abstraktes mathematisches Prinzip. Innerhalb des systemischen Denkens spricht man von einer geordneten dynamischen Struktur, die eine bemerkenswerte Resistenz gegen Verstörungen besitzt (Beispiel: Kerzenflamme). Attraktoren tragen im Alltag massiv zur Komplexitätsreduktion bei. Wir könnten nicht ohne sie funktionieren. Je länger und stärker aber ein solcher Attraktor wirkt, je eingeschliffener ein Muster ist, desto größer wird die Gefahr, dass es bei neuen Anforderungen nicht anpassungsfähig genug ist. Der Attraktor wird dann selbst zum Problem. In menschlichen Systemen stehen Interaktionssysteme, aber auch Muster der Sinndeutung (»Sinnattraktoren«, Kriz, 1997b)  im Vordergrund. Interaktionsdynamiken, ebenso wie Sinnfindungs- und Deutungsdynamiken, können als attrahierende Prozesse verstanden werden. Auch die Imagination und die Phantasie sind eine bedeutende attrahierende Kraft. Das ist einer der Gründe dafür, weshalb erstrebenswerte zukünftige Zustände große Kräfte zur Ordnung von Lebensvorgängen entfalten können. Die Frage, wieweit und auf welche Art Umweltgegebenheiten das psy­ chische System beeinflussen können, ist für das Verständnis der Vorgänge in der Beratungssituation von großer Bedeutung. Die Beratung stellt ja selbst eine Form von Umweltbeeinflussung dar. Es erscheint als gesichert, dass der Zusammenhang zwischen der Veränderung von Umgebungsbedingungen und der Veränderung eines Systems nicht linear ist, das heißt kleine Ursachen können durchaus eine große Wirkung haben. Ebenso können beobachtbare Veränderungen bei Menschen nicht allein auf Einflüsse von außen zurückgeführt werden. Im Gegenteil: Schon vor Jahrzehnten haben Untersuchungen bei anderen, relativ einfachen, lebenden Systemen, zum Beispiel bei der Zelle (vgl. Maturana und Varela, 1987), gezeigt, dass eine direkte Beeinflussung der Vorgänge im Innern des Systems gar nicht möglich ist. Auf die Beratungssituation übertragen heißt das: Die Möglichkeit einer direkten inhaltlichen beraterischen Einwirkung (»instruk-

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tive Interaktion«) in das psychische System eines Menschen ist nach unserem heutigen Verständnis auszuschließen. Bei ständigen Umweltveränderungen, die in die gleiche Richtung zielen, verändert sich das betroffene System diskontinuierlich. Andauernde berate­ rische Verunsicherung von eingefleischten, einschränkenden Überzeugun­ gen zum Beispiel, die über längere Zeit scheinbar wirkungslos scheinen, könnten plötzlich Erfolge zeitigen. Der Übergang von einer dynamischen Struktur in eine andere In einer ungeordneten Situation eine Ordnung herzustellen, geschieht meist unauffällig. Uneindeutige Signale oder unzureichende Informationen werden bewertet, ergänzt und in der Regel mit Material aus dem Gedächtnis angereichert. Dies alles geschieht auf eine selbstverständliche Art rasch, oft sprunghaft. Die bekannten Kippfiguren aus der Wahrnehmungslehre sind dafür ein eindrückliches Beispiel. Etwas anders wird die Situation, wenn zum Beispiel ein bestehendes, nicht mehr adäquates Verhaltensmuster in ein neues umgewandelt werden soll. Das fällt den meisten von uns sehr viel schwerer. Da zögert man oft lange, selbst wenn die Einsicht der Notwendigkeit einer solchen Veränderung schon lange vorhanden ist. Alte Ordnungen, das heißt bestehende Attraktoren, haben oft eine große Persistenz. Und das ist dann manchmal die Ausgangslage, wofür die professionelle Kompetenz eines Beraters in Anspruch genommen wird. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass der Übergang von einer alten Ordnung zu einer neuen immer mit einem destabilisierten Zustand verbunden ist. Das bedeutet, dass ohne verstörende Erfahrungen, ohne ein mehr oder weniger sanftes Infragestellen, ohne Widerspruch, wenig oder gar nichts passiert. Gleichzeitig müssen Beratende und Klienten auf diese Zeit der Instabilität gefasst sein. Wird die Instabilität nämlich zu groß, besteht die Gefahr von destruktiven oder sonstwie dysfunktionalen »Lösungen«. In einer solchen Phase des Übergangs kann das Beratungsgeschehen selbst Halt geben. Ein gewisses Maß an Ichstärke beim Klienten, die Aktivierung von Ressourcen, Kontrollerfahrungen sowie Selbstwirksamkeitserfahrungen sind weitere wichtige Faktoren dafür, dass kritische Übergänge auf eine gute Art durchgestanden und gemeistert werden. Die in den Synergie-Experimenten beobachtete kritische Verlangsamung, die auf die steigende Labilisierung des Systemgleichgewichts (des alten Attraktors) aufmerksam macht, dürfte beraterisch ebenfalls von Bedeutung sein. Es könnte sich dabei um die oft zu beobachtende Verwirrtheit handeln, die zu beobachten ist, wenn für Klienten ahnungsweise Neues sichtbar wird.

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Was heißt das alles für die Beratung? Grundsätzlich geht es darum, Bedingungen für den Selbstorganisationsprozess zu schaffen, die vom Klienten und seiner Umwelt als nützlich erlebt werden. Das heißt, dass vom Berater weniger eine Kompetenz in der inhaltlichen Analyse eines Problems oder bestehenden Musters erwartet wird, sondern eine Kompetenz in der Gestaltung des Veränderungsprozesses. Wie bereits mehrmals betont, ist eine direkte inhaltliche Einwirkung von außen nicht möglich. Möglich aber sind Methoden der Kontextsteuerung, die im günstigen Fall »das System in die Lage versetzen, sich selbst zu organisieren und einen weniger leidvollen, gesünderen Attraktor einzunehmen« (Strunk und Schiepek, 2006, S. 271). Der neue Attraktor kann inhaltlich nicht vorbestimmt werden. Damit er nicht ganz dem Zufall überlassen wird, ist es wichtig, vorher an positiven Zukunftsvisionen zu arbeiten. Ebenso wenig kann das Auftreten des Neuen zeitlich genau fixiert werden. Speziell in psychotherapeutischen Settings, aber auch bei anderen eingefleischten Pro­ blemsituationen, wäre es hilfreich, den Zeitpunkt des Übergangs frühzeitig zu identifizieren. In diesen Zeiten sind Systeme sehr sensibel und offen für Verstörungen, so dass angemessene Interventionen einen hohen Wirkungsgrad erreichen können. In sehr aufwändigen Zeitreihenanalysen versucht eine Forschungsgruppe um den Münchner Psychologen Günter Schiepek her­um, solche inputsensible Phasen zu erkennen (z. B. Schiepek et al., 2005). Innerhalb eines Beratungsprozesses besteht die Aufgabe der professionellen Person unter anderem darin, das bisher Selbstverständliche, wie es sich in dem im Vordergrund stehenden Attraktor ausdrückt, zu »ent-automatisieren« (Kriz, 2002). Anders ausgedrückt geht es darum, herauszutreten aus der Notsituation oder aus der Enge eines bisherigen Fokus und neue Perspektiven einzuführen und einzunehmen. Es sind nicht »richtigere« neue Perspektiven, sondern andere; und zwar wenn möglich eine Vielzahl von anderen, wodurch das Verständnis der Situation angereichert wird. Sorgt die beratende Person dafür, dass eine solche Multi-Perspektivität auszuhalten ist, kann dies sowohl als Energetisierung als auch als kognitive Verstörung erlebt und verstanden werden. Beides trägt dazu bei, das Aufsuchen eines neuen ­Attraktors zu erleichtern. Wie ist die Dezentrierungsphase aus dieser Sicht heraus zu verstehen? Der Einschub einer Phase der Dezentrierung und der Einsatz von künstle­ rischen und spielerischen Mitteln nehmen den Klienten sozusagen aus seiner alltäglichen Welt heraus. Wir sprechen vom Übertritt von einer alltäglichen

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in eine alternative Wirklichkeit. Das kann als Heraustreten aus dem Strom des Selbstverständlichen und ein Sich-davon-Distanzieren verstanden werden. Mit der dem Klienten gegenüber gepflegten Haltung wird dieser zudem wieder viel stärker zum Gestaltenden, zum »Täter« des eigenen Lebens, und eine allfällige Opferrolle tritt in den Hintergrund. In der Phase der Ernte werden Klientinnen und Klienten aufgefordert, die Dinge einmal ganz anders, spielerischer zu sehen, das heißt Verbindungen zu sehen, wo es aus der Alltagslogik heraus kaum Verbindungen gibt. Man kann dies mit Kriz als »Ent-Automatisieren des Selbstverständlichen« verstehen. Bei der Ernte werden feste Zusammenhänge und Überzeugungen probeweise zu vieldeutigen, vagen, vorerst völlig unbestimmten und doch irgendwie ­attraktiven Möglichkeiten und Hypothesen. In der Phase der Ernte wird die Komplexität der Deutung markant vergrößert. Dadurch wird die Situation zusätzlich labilisiert und gleichzeitig durch die vielen neuen Informationen »energetisiert«. Kriz (2007) weist darauf hin, dass der Erhöhung der Energie in physikalischen Systemen die Anreicherung durch Informationen in kommunikativen, sinngenerierenden Systemen entspricht. Beides beschleunigt den Prozess im Bereich eines »Phasenübergangs«, wie solche qualitative Zustandsänderungen in der Fachliteratur genannt werden. Da grundsätzlich davon ausgegangen werden muss, dass normalerweise in einer Attraktorenlandschaft in Zeiten von Phasenübergängen zahlreiche Alternativen vorhanden sind, ist die Chance groß, dass eine davon zum Zug kommt. Die Offenheit der Gesprächsführung in dieser Phase, die Vielzahl der erarbeiteten Hypothesen bei der Ernte, die oft vorgeschlagenen Beobachtungsaufgaben im Anschluss an eine Sitzung, das probeweise Erkunden neuer Verhaltensweisen, die ressourcenorientierte Atmosphäre während der Gespräche und anderes mehr sind Vorkehrungen, damit sich der Klient weder vorschnell auf eine bestimmte Variante versteift noch längere Zeit unschlüssig verharrt. Der künstlerische Prozess als selbstorganisatorische Erfahrung Jedes künstlerische Werk entsteht aus einem Chaos. Die weiße Leinwand, die Stille, der leere Raum und das unbeschriebene Blatt entsprechen in ihrer Leere oder Fülle chaotischen Zuständen. Sie werden selbst von schöpferischen Menschen oft als beängstigend bezeichnet. Jede schöpferische Handlung innerhalb dieses Chaos hat ordnenden Charakter. Nur wenn das Werk als etwas Überraschendes entsteht, das nicht genau vorausgesagt werden kann, gilt es im Allgemeinen als künstlerisches Werk. Es geht demnach in diesem Prozess nicht darum, eine vorausgeplante Ordnung abzubilden, durchzuführen oder gar durchzusetzen. Wohl aber können

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Regeln, Methoden oder eine Vorgehensweise vorgegeben werden. Es muss jedoch noch soviel Chaos vorhanden sein, dass sich überraschende Entwicklungen ergeben können. Im künstlerischen Prozess resultieren durch die Handlungen Anreicherungen, die eine attrahierende Dynamik entwickeln und Phasenübergänge ermöglichen, welche immer mehr das Werk erscheinen lassen. Es sind rhythmische, strukturelle, symmetrische, geometrische, motivische, figürliche und ähnliche Attraktoren, die in die eine oder andere Richtung gewisse Gestaltungen ermöglichen. Das Werk organisiert sich sozusagen selbst und die Gestaltenden dienen oder folgen dem sich Zeigenden oder sich »Entbergenden«, bis das Phänomen eintritt, dass der Gestaltende sagt: »Es ist fertig.« Im Anschluss daran lässt sich der Prozess nachvollziehen, im Voraus ist er nicht erkennbar. Diese attrahierende Dynamik, die sozusagen in die Zukunft des Werks zieht, versteht Kriz (2002) als teleologisch. Dieses Phänomen gilt für das Dezentrieren im Allgemeinen. Wir über­ legen uns im Folgenden, welchen Einfluss dieser Reichtum beim Erleben der Selbstorganisation eines Werks auf den Selbstorganisationsprozess von Lösungen haben kann. Der Einbezug des Werks in das Beratungssystem Werk, Klient und Therapeut stehen sozusagen in einer Auseinandersetzung zu dritt. Sie sind Teil  eines Systems und interagieren in einer Kybernetik zweiter Ordnung (Kriz, 1997a, S.  56). Da die Interventionen beim künst­ lerischen Gestalten exploratorisch auf ihren Effekt hin ausgelotet werden, reichern sich die Möglichkeiten sozusagen greifbar an und damit auch die zu Lösungen benötigten Sinn- und Bedeutungsfelder. Diese Anreicherung ist immer für alle sinnlich einsichtig, tastbar, spürbar und somit auch sprachlich fassbar und reflektierbar. Da während der Dezentrierung die üblichen Denkordnungen aus dem Alltagskontext zurücktreten, können sich auf allen Ebenen überraschende neue Sinn- und Bedeutungsfelder zeigen. Solche Felder betreffen beispielsweise: –– Die Differenzierung und Erweiterung der Wahrnehmung an der sich überraschend einstellenden Werkoberfläche. Sie steht beispielhaft für die Differenzierung und Erweiterungs der Wahrnehmung im Alltag. –– Die Reflexion der wirkungsvollen Interventionen im Werkprozesses. Sie steht beispielhaft für überraschende Möglichkeiten zum Handeln. –– Der Erlebnisreichtum während des Schaffensprozesses. Er kann den emotionalen Spielraum erweitern. Diese Bereicherung wird noch vergrößert durch eine multiple Perspektive aus den verschiedenen Ebenen der Betrachtung, zu der die Klienten bei der

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ästhetischen Analyse am Werk aufgefordert werden. Diese doppelte Anreicherung durch neue Sinn- und Bedeutungsfelder und durch multiple Perspektiven ist, wie bereits gezeigt wurde, systemtheoretisch interessant, da sie einen Phasenübergang begünstigt. Wenn Anreicherungen allerdings vor allem das problembeladene Thema betonen, können sie möglicherweise eine Angstbarriere aufbauen. Da in der Dezentrierung das problembeladene Thema nicht in den künstlerischen Prozess eingebracht wird und die Herausforderung in der Dezentrierung primär durch das künstlerische Tun im Zusammenhang mit der Selbstorganisation des Werks erfolgt, kann diese Art doppelter Anreicherung bewältigt werden. Das Substitutionsmodell Wenn wir, wie eingangs gezeigt, die Dezentrierung als eine dem Lösungsprozess analoge Veränderung betrachten, die in ihrer Spielraumerweiterung das ins Auge gefasste Problem »vergessen« lässt, dann könnte man etwas salopp sagen, dass das ursprüngliche Anliegen durch ein alternatives spielerischkünstlerisches Anliegen mit überraschenden Lösungen substituiert wird. Mit diesem Modell, das wir »Substitutionsmodell« nennen, können wir einen möglichen Klärungsansatz erbringen. Wir tun das, indem wir in beiden Lösungsprozessen, nämlich innerhalb des Anliegens und im Angehen der Dezentrierungsaufgabe, zeigen, dass dieselben Kategorien von Lösungserfahrungen möglich sind, aber jeweils in anderer Art.  Wir haben vorläufig sechs Kategorien isoliert und in der Situation der Enge oder des Mangels (Notenge)  geprüft. Anschließend haben wir untersucht, ob die ästhetische Analyse Veränderungen dieser Kategorien im Dezentrierungsprozess sichtbar machen kann. Diese Kategorien widmen sich folgenden Phänomenen und sie zeigen sich im Anliegen wie hier kurz zusammengefasst: –– Phänomene des Unvermögens, des Nichtkönnens: Am Anfang jeder Beratung steht eine Unfähigkeit, die Suche nach Hilfe. –– Phänomene des Ressourcenmangels: Es ist eine der Grundannahmen unseres Konzepts, dass Ressourcen verdeckt sind. –– Phänomene der Sichtweise und Perspektiven: Der Blickwinkel ist eng und einseitig, es bestehen blinde Flecken. –– Phänomene der Handlungsfähigkeit: Spielraummangel und das scheinbar Unlösbare lähmen die Handlungsfähigkeit. –– Phänomene der Sprache und Kommunikation: die arme Sprache, der rigide Denkprozess, das Sich-im-Kreis-Drehen. –– Phänomene im Körper-Geist-Kontinuum: irrationale Denk- oder Handlungsweisen, eingeschränkte emotionale Kompetenzen.

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Wenn wir nun bei der ästhetischen Analyse auf diese Kategorien achten und herausarbeiten, wie diese Phänomene sich im Werk- oder Spielprozess ver­ ändert haben, dann lassen sich die Veränderungen folgendermaßen umschreiben: Phänomene des Unvermögens, des Nichtkönnens und des Ressourcenmangels werden positiv verändert Der Klient hat die Sichtweise der Unfähigkeit im »ich kann nicht gestalten« anders erlebt und zusätzlich die Situation mit beschränkten Ressourcen bewältigt, sofern ein stimmiges Werk entstanden ist. Das Gelingen wird belohnt durch Schönheit, ein Aha-Erlebnis, eine ästhetische Resonanz. Phänomene der Sichtweise und Perspektiven werden angereichert Da das Werk in seiner Entstehung und seiner Präsenz immer verschiedene Wahrnehmungsperspektiven bietet, ist eine Differenzierung der Wahrnehmung und eine Anreicherung der Sichtweisen mit dem Konkreten des Werks oder, wie man sagt, an der Oberfläche möglich. Eine effektive Wahrnehmungserweiterung verlangt natürlich, dass der Therapeut in dieser Reflexion an der Werkoberfläche als wertschätzender Betrachter auch mitmacht. In diesem Zusammenhang üben sich die Klienten in der multiperspektivischen Wahrnehmung, die dann für den Alltag das Einnehmen eines weiteren Blickwinkels erleichtert. Phänomene der Handlungsfähigkeit werden erweitert Das handelnde Ans-Werk-Gehen und wieder Herauskommen gehören immer zum Werden eines Werks. Die ästhetische Prozessanalyse widmet sich den Handlungen und Maßnahmen, den Erfolgen und Schwierigkeiten und dem, was geholfen hat, dabei zu bleiben. Solche Maßnahmen und Überwindungen von Schwierigkeiten im künstlerischen Handeln können in der Ernte­phase Hinweise auf Handlungen im Alltag geben. Phänomene der Sprache und Kommunikation werden bereichert Die Sprache des Werks kann nur durch sich selbst verstanden werden, das heißt, Metaphern, Bilder, Handlungen, Bewegungen, Klänge und Worte öffnen zu vielen Möglichkeiten des Gesprächs und können nicht auf ein einzig Richtiges festgelegt werden. Im »Studio« ist deshalb eine intensive Kommunikation mit und über das Werk und die damit zusammenhängenden Fragen der Technik im Gange, welche die alltägliche Konversationssprache erweitert.

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Diese Bereicherung der Kommunikation findet an der Werkoberfläche statt, wenn wir nach Unterschieden im Erleben der Studiophase und nach Überraschungen fragen. Die Reflexion des Werks ist auch auf angenehme Weise vom rein Persönlichen distanziert. Die auf das Werk und den Gestaltungsprozess bezogene Anreicherung der Konversation im Zusammenhang mit einer Distanzierung vom rein Persönlichen führt bei der Ernte zu einem objektiveren und erweiterten Verständnis der Alltagssituation und zu Lösungsansätzen. Phänomene im Körper-Geist-Kontinuum werden durchlässiger Künstlerischer Ausdruck gehört zum Menschen wie die Sprache. Sie ist jedoch eine Sprache anderer Art.  Die Poesie in ihrem innovativen Wortgebrauch wird zu einem »Denken anderer Art« (Fuchs, 2002, S. 162). Gleichzeitig ist man beim künstlerischen Tun sinnlich und körperlich engagiert, auch wenn dieses Engagement in den verschiedenen Kunstdisziplinen unterschiedlich ist. Jedenfalls sind in künstlerischen Aktivitäten immer alle Sinne engagiert. Dies geschieht mit Selbstverständlichkeit und immer im Zusammenhang mit dem, was sich gerade im Gestalten zeigt. Die Erfahrung des leibseelischen Engagements im Dezentrieren ist auch deshalb ergiebig, weil sie nicht nur dem Ich, sondern ebenfalls dem Werk zugeordnet werden kann, da der imaginäre Raum der Kunst (Bühne oder Leinwand) Handlungs­ weisen und Möglichkeiten zulässt, die dem Gestaltenden nicht unbedingt zugeordnet werden können. Es sind sozusagen Probehandlungen ohne Konsequenzen. Das sinnliche Engagiert-Sein und gleichzeitige Distanzieren des Gestaltenden vom Werk ermöglicht die Erweiterung der emotionalen Kompetenzen. Eine Perspektive der Salutogenese Wenn der künstlerische Ausdruck als menschliches Existential und nicht als symptomatisch für eine pathologische Entwicklung betrachtet wird, gehört auch die Hinwendung zur Salutogenese (Bengel et al., 1998) und die Be­ deutung von Ressourcen zur theoretischen Basis. Da die schöpferische Tätigkeit als Existential mit ihren überraschenden Erfahrungen verwandt ist mit dem Traum und Tagtraum, gehört sie wie diese in den Bereich dessen, was man »Seele« nennt. Man könnte sie metaphorisch als »Seelennahrung« bezeichnen. Die Erfahrungen rechtfertigen eine solche Bezeichnung. Viele Klienten erinnern sich gern an ihre Werkprozesse und nicht selten wird das Werk einer Gruppe oder eines Teams am Arbeitsort aufgestellt oder zu einem speziellen

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Anlass wieder aufgeführt. Die dadurch zu erwartende positive Beeinflussung der entsprechenden Gruppen- oder Teamkultur kann im Zusammenhang mit der Resilienz verstanden werden, der Fähigkeit, eigene Ressourcen zu aktivieren (Schiffer, 2001, S.  11). So gesehen gehört künstlerisches Tun nicht nur zur Leidensbewältigung des Menschen, sondern ebensosehr zur Befähigung für soziale Kompetenz. In der Dezentrieurung werden eigene Kräfte mobilisiert, um aus Situationen der Not, der Enge oder des Mangels herauszufinden. Schiffer meint dazu, dass »derjenige trotz Belastung gute Aussichten auf Gesundheit hat, der mit allen Sinnen spielen und diese leibhaftigen Spielerfahrungen dann auch zur Sprache bringen kann« (2001, S. 11). Diese Sichtweise steht der Theorie der Salutogenese nahe. Der Medizinsoziologe Antonovsky hat diesen Begriff als Gegenbegriff zur Pathogenese kreiert. Man kann ihn mit »Gesundheitsentstehung« übersetzen. Er weist darauf hin, dass Gesundheit nach Antonovsky kein Zustand, sondern ein Prozess ist. Schiffer (2001, S. 49) zeigt auch, dass die »affektu-sensomotorischen« Erfahrungen (so wie sie im Spiel und im künstlerischen Tun erlebt werden) von grundlegender Bedeutung sind, um die Resilienz zu mobilisieren. Nachstehend soll an den gleichen Kriterien, wie sie im Substitutionsmodell bearbeitet wurden, gezeigt werden, wie in der Dezentrieung die Resilienz und der Zugang zu den Ressourcen ermöglicht werden. –– Symptom: Unvermögen (Ich kann es nicht) Angesichts des Problems wächst das Symptom. Sollte der Berater einspringend Lösungen geben, verstärkt es sich, weil damit die Unfähigkeit des eigenen Suchens demonstriert wird. »Es ist ja so einfach, siehe so löst man das!« In der künstlerischen Aufgabe tritt das Symptom neu gegenüber der Aufgabe auf (»ich bin nicht begabt«), wird aber innerhalb der Dezentrierungsmethode vom Klienten aus eigenen Ressourcen bewältigt, und diese Bewältigung, wenn sie erkannt ist, wird in der Erntephase bedeutend. –– Symptom: Es mangelt an Ressourcen Angesichts des Problems ist das Symptom so stark, dass es blind macht für eigene Ressourcen. In jedem künstlerischen Gestalten oder Spiel ist das Symptom in den Einschränkungen von Ressourcen (Rahmen und Material) präsent, denn diese Einschränkung gehört zum Wesen des Spiels. In Distanz zum Problem werden sie in spielerischer, lustvoller Herausforderung überraschend bewältigt. Auch diese Bewältigung wird eine existen­ tielle Erfahrung, die in der Erntephase zur Verfügung steht. –– Symptom: Handlungsschwäche Angesichts des Problems steigert sich dieses Symptom in der Ausweglosigkeit der Situation.In der künstlerischen Aufgabe: Anfänglich ist das Symptom als Hemmung präsent, wird aber dank dem im Spiel und künstle-

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rischen Tun vorhandenen Experimentieren und Probieren mit offenem Ausgang bald bewältigt. –– Symptom: Rigidität im Kognitiven und niedriger Impetus Angesichts des Problems verstärkt sich das Symptom im hoffnungslosen Kreisen um immer dasselbe. In der künstlerischen Aufgabe: Vorerst erscheint ein ähnliches Symptom in der Tendenz, die Aufgabe planerisch rational lösen zu wollen. Das körper­lich und geistig gesteigerte Engagement jedes künstlerischen Tuns, fernab vom Problem, wird jedoch bald ein Faszinosum mit Überraschungen, so dass diese hemmende Tendenz einem Engagement in Selbstvergessenheit weicht. Die Ernte beginnt dann in einer begeisterten Stimmung, welche der Bewältigung des Problems dienlich ist. In diesem Zusammenhang kann auch noch auf die Erfahrungen bei Kriseninterventionen in Katastrophengebieten hingewiesen werden. Es sind jene Situationen, in denen das Mobilisieren der Resilienz existentiell ist. Erfahrungsberichte zeigen, dass sich das Einsetzen von kultureigenen künstle­ rischen Ressourcen als sehr hilfreich herausstellt (Lahad, 1992).

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7. Die Anwendung und ihre Grenzen

7.1. Anwendungsfelder Therapie Entstanden ist die Methode des Intermodalen Dezentrierens im Feld der Thera­pie. Im Detail entwickelt und anfänglich in breiterem Ausmaß angewandt wurde sie jedoch in den Arbeitsfeldern von Supervision und Coaching. Das ist zum Teil  historisch begründet, zum Teil  bedingt durch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den verschiedenen Berufsfeldern. Das ressourcen- und zielorientierte Verständnis von Settings und Rollen in der Intermodalen Dezentrierung war ursprünglich dem Beratungsberuf näher als dem klinischen Berufsfeld. Wie im Kapitel 8 ausgeführt, wird im Feld der Expressive Arts Therapy der künstlerische Ausdruck verstanden als natürliches, kulturell verankertes, körperlich-sinnliches Phänomen mit einem starken imaginativen Gehalt. Der Fokus liegt auf dem sinnlich Ge­gebenen. Das reduktionistische Umdeuten respektive Interpretieren des künstlerischen Werks als Abbild von etwas »Tieferliegendem«, zum Beispiel im Sinne einer Psychodiagnostik, wurde nicht gepflegt und abgelehnt. Innerhalb des therapeutischen Settings wurde ursprünglich die positive Wirkung des künstlerischen Tuns hauptsächlich in der kathartischen Wirkung gesehen und/oder in der Sinnfindung beziehungsweise im phänomenologischen Dialog mit dem Werk. Heute tritt dagegen der Aspekt der Bereicherung und Stärkung in den Vordergrund, zusammen mit dem Lern- und Coping-Effekt und vor allem der Unterstützung der Selbstorganisation, das heißt der Aktualisierung der Selbstheilungskräfte. Damit ist die Wende zu einer ressourcenorientierten Vorgehensweise eingetreten. Im Feld der Therapie muss sich kunstorientiertes Arbeiten meistens auf einen längeren Zeitraum einrichten und im klinischen Bereich sich oft mit einer stark behinderten Kommunikation auseinandersetzen. Dies kann das Einhalten des vorgestellten formalen Ablaufs stören. Wir müssen uns dann auf eine Arbeit am Werk einrichten, die über mehrere Sitzungen geht, wie das in der Beratung zum Beispiel beim Malen eines Bildes der Fall sein kann. Bei flüchtigen Medien wie etwa bei der Musik wird dann mit dem weitergemacht, was in der nächsten Sitzung noch gegenwärtig ist. Die Störung kann so stark vom Symptomatischen durchdrungen sein, dass es uns nicht möglich ist, vollständig vom Problematischen wegzutreten, und wir gefordert sind,

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eine Krisenintervention vorzunehmen. Dabei kann es dazu kommen, dass der künstlerische Prozess vorübergehend in den Hintergrund tritt. Das heißt, dass sich der Therapeut oder die Therapeutin während des künstlerischen Prozesses nicht nur auf die Rolle der Atelierleitung konzentrieren kann, sondern bereit sein muss, aus der therapeutischen Verantwortung heraus direkt mit einer Störung der Beziehung umzugehen. Wie das konkret gemacht wird, hängt von der Therapierichtung ab, die den Interventionsstil des jeweiligen Therapeuten mitgeformt hat. Das bedeutet aber nicht, dass dabei die ästhetische Verantwortung für Interventionen zugunsten des sich entbergenden Werks aufgegeben werden soll. Ein solcher Verzicht würde das Überraschende und Unvermittelbare (siehe Abschnitt 3.5.) des Werkprozesses einschränken. Im therapeutischen Einsatz ist man deshalb doppelt gefordert. Einerseits muss die klinische Erfahrung und therapeutische Verantwortung im Sinne der kunstanalogen Haltung immer bereit sein, und gleichzeitig soll das entstehende Werk durch die Interventionen aus ästhetischer Verant­ wortung in den Vordergrund rücken (vgl. Lempert, 2007, S. 106). Ähnliche Abweichungen vom formalen Ablauf ergeben sich beim therapeutischen Einsatz der ästhetischen Analyse zum Werk oder Werkfortschritt (bei Prozessen über mehrere Sitzungen). Die emotionale Komponente des künstlerischen Schaffens und die Wirkung des Werks auf die Stimmungslage der Klienten stehen vielfach derart im Vordergrund, dass wir sie ansprechen müssen, und zwar bevor wir den Prozess oder die Werkoberfläche ansprechen. Bedeutungsinhalte können dabei zur Sprache kommen, und nicht selten wird direkt auf das Leiden oder Problem Bezug genommen. Auch hier zeigt sich jedoch, dass es außerordentlich wertvoll ist, auf den Prozess und das Werk hinzuleiten. An einem exemplarischen Fall (Tanz als künstlerisches Werk) wird von Lempert (2007, S. 117) der Ablauf einer ästhetischen Werkreflexion in der Therapie dargestellt. Er zeigt, wie über mehrere Sitzungen eine ästhetische Verantwortung gegenüber dem Werk in der ästhetischen Analyse eines Werks vollzogen wird und die Klientin immer wieder vom Emotionalen weg zur Reflexion über das Werk und den Prozess geführt werden kann. Selbst das, was wir als »Ernte« beschrieben haben (siehe Abschnitt 4.8.), kann ein wichtiger Bestandteil einer ressourcenorientierten Therapie sein, insbesondere wenn mit Zielsetzungen gearbeitet wird. Auch wenn der formale Ablauf des Intermodalen Dezentrierens nicht immer als solcher in der Therapie angewendet wird, so haben die Methode und ihre Herleitung, wie im Kapitel 4 gezeigt, einen wichtigen Wirkungsaspekt in die künstlerischen Therapien gebracht. Das Beachten des Bild- oder Werkinhalts als wichtige Triangulation in der therapeutischen Beziehung erhält zusätzlich eine wesentliche Erweiterung durch die Analyse der ästhetischen Wirklichkeit des Schaffensprozesses.

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Anwendungsfelder

Das Intermodale Dezentrieren bedeutet somit eine alternative Welterfahrung, die im konkreten Erschaffen des Werks in der Therapie Ressourcen mobilisiert und Herausforderungen bewältigt. Supervision und Coaching Deutlich anders als im therapeutischen Kontext ist die Situation hingegen im Feld von Supervision und Coaching. Hier erwarten Klienten Einsichten in für sie schwer durchschaubare Zusammenhänge oder suchen nach Lösungen in persönlich schwierigen oder an sich komplexen Berufs- und Lebenssitua­tionen. Diese Klienten fühlen sich keineswegs krank oder behindert. Aus ihrer Sicht sind sie in einer verzwickten Situation, aus der sie mit Hilfe eines Professionellen herausfinden wollen. Mit einer einfachen Erklärung oder einem Tipp ist ihnen in der Regel jedoch nicht geholfen, denn sie haben selbst schon ohne Erfolg Verschiedenes versucht, und nicht einmal die Ratschläge von Berufskollegen und Freunden haben etwas genützt. In einer Coaching- oder Supervisionssituation geht es darum, innerhalb relativ kurzer Zeit neue Perspektiven zu erschließen und dabei die Stärken und Möglichkeiten zu nutzen, die im Klienten und seiner Situation liegen. Der lösungs- und ressourcenorientierte Gesprächsansatz leistet dazu bereits sehr gute Dienste. Durch den zusätzlichen Einsatz von kunst- oder spiel­ orientierten Methoden in Form einer Dezentrierung kommt eine weitere Dimension dazu. Der Einschub einer Dezentrierungsphase wird manchmal bei der erst­ maligen Durchführung vom Klienten oder der Klientin nur zögerlich begrüßt und als Wagnis oder kleines Abenteuer empfunden. War jedoch die aufgebaute Beziehung tragfähig genug und wurde die Phase als »Experiment« bezeichnet, dann konnten sich nach unserer Erfahrung bis jetzt ausnahmslos alle darauf einlassen. Wird dann erlebt, dass das in der Dezentrierung Erarbeitete ganz neue Perspektiven eröffnet und gewinnbringend genutzt werden kann, ist der Klient oder die Klientin später gern bereit, sich wieder darauf einzulassen. Manche zeigen sich sogar leicht enttäuscht, wenn spätere Sitzungen keine Dezentrierungen enthalten. Aufgrund der beschriebenen Ausgangslage haben sich bisher sowohl Coa­ ching- als auch Supervisionssituationen für Intermodales Dezentrieren als sehr geeignet erwiesen. Doch auch hier gilt es, gewisse Voraussetzungen zu beachten. Dass sich jemand in einer Dezentrierungsphase wirklich auf künstlerisches oder spielerisches Tun einlässt, setzt etwas wie spielerische Ernsthaftigkeit voraus. Das verlangt einen geschützten Rahmen. Zwar gibt es Menschen – die weiblichen sind dabei in der Überzahl –, die sich innerhalb einer

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Beratung gern und rasch einmal auf einen »kleinen Exkurs« einlassen. Doch auch sie müssen sicher sein, dass die beratende Person sich wirklich um ihr Anliegen bemüht und alles daran setzt, die Klientin nicht bloßzustellen. Die meisten Kunden und Kundinnen sind jedoch anfänglich unsicher, leicht ängstlich oder skeptisch und brauchen die Gewissheit, nicht lächerlich gemacht zu werden, um sich auf das meist völlig unerwartete und oft sehr ungewohnte Tun wirklich einlassen zu können. Das ist für den einen Verfasser (H. E.) ein Grund dafür, dass er in einem Erstgespräch nur selten Dezentrierungen durchführt. Gewisse Coaching-Klienten haben in Führungskursen zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass Experimente und überraschende Arrangements als »Gags« verwendet wurden. Wollte man nun in diesem Kontext eine künstlerische oder spielerische Dezentrierungsepisode in diesem Sinn einsetzen – als angenehme Unterbrechung des Gesprächs etwa oder als etwas, »das man zur Abwechslung auch noch machen könnte« –, dürfte sie für den weiteren Beratungsprozess wertlos, wenn nicht gar kontraproduktiv sein. Wir vermuten, dass Beiläufigkeit im dezentrierenden Tun für das Ergebnis fatal ist: Sich einzulassen auf ein künstlerisches Werk verlangt zwar eine gewisse Leichtigkeit, gleichzeitig jedoch auch volle Präsenz. Diese wird unterstützt durch Neugier und unter Umständen auch ein wenig Wagemut. Sie erträgt aber auf keinen Fall Beiläufigkeit. Bei einem nur beiläufig entstandenen Werk kann die ästhetische Analyse zur Farce werden und die Ernte dürfte mager bis nichtssagend ausfallen. Nun gibt es allerdings Klienten, die sich eine künstlerische Gestaltung im Grunde gar nicht recht zutrauen und sich deshalb beispielsweise bei einer Installationsaufgabe sehr rasch mit einer einmal gefundenen Form zufrieden geben. In einer solchen Situation ist eine bedächtige, verständnisvolle Führung des Beraters nötig, die hilft, die ästhetischen Qualitäten des Gestalteten stärker zu beachten und zu würdigen und sie allenfalls in Form einer Nachbearbeitung zu verbessern. K. V. ist mit seiner Installation rasch fertig geworden und sieht auch keine Möglichkeiten mehr, sein Werk zu verändern. Der Berater stellt ihm deshalb die Aufgabe, zwei Gegenstände aus dem Raum auszuwählen und sie innerhalb der Installation aufzustellen, so dass die ästhetische Qualität grundlegend verändert wird, aber trotzdem noch ansprechend bleibt.

Auf diese Weise kann das entstandene Werk in den Augen seines Schöpfers einen ganz neuen künstlerischen Wert erlangen, was die betreffende Person oft erstaunt. Die Auswertungen von Dezentrierungen in Coaching- und Supervisionssituationen haben sich bis jetzt für den weiteren Fortgang der Beratung fast durchweg als wertvoll erwiesen. Manchmal waren sie sogar der entscheidende

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Wendepunkt für die Lösungsfindung, vor allem dann, wenn die Problem­ stellung persönlichkeitsnahe Aspekte enthielt. Nähert sich die zu bearbeitende Fragestellung jedoch einer Fach- oder Projektberatung, sind Dezen­ trierungen nicht unbedingt die geeignete Methode. Arbeit mit Gruppen Klienten, die sich in Gruppen um ein Anliegen zusammenfinden oder speziell zusammengestellt werden, finden wir in der Therapie, der Ausbildung, der Beratung und in der Supervision. Auch sammeln sich Kleingruppen um Kulturbedürfnisse, Bildungsbedürfnisse und Gemeinwesenanliegen wie beispielsweise politische Anliegen (Fussgängerzone einrichten), kirchliche Anlie­gen (Kohäsionsbedürfnis) oder Vereinsanliegen (Konfliktbewältigung) etc. Wir begegnen heute auch vermehrt Großgruppen mit Kulturanliegen, die sich vor allem für »Community Work« und in unserem Fall für »Community Art« zusammenfinden. Auch wenn Teams, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, oft ein Mythos sind, gibt es auf zwei Ebenen Unterschiede zwischen der Gruppe und dem Team. –– Die lose Struktur der Gruppe: Die einzelnen Gruppenmitglieder kommen meist aufgrund eines bestimmten Interesses zusammen, sie sind also vor allem interessegebunden und teilen kaum ihren Arbeitsalltag einer gemeinsamen Aufgabe wegen. Aus diesem Grund muss häufig eine bestimmte Zeitspanne der jeweiligen Gruppensitzung der Gruppenbildung und Gruppenkultur gewidmet werden. –– Die individuelle Ausprägung des Anliegens: Zwar kann sich eine Gruppe aus einem gemeinsamen Interesse an Fallsupervision oder Therapie treffen. Jedes Gruppenmitglied hingegen bringt einen anderen Fall oder ein anderes Anliegen ein. Auch bei Bildungsbedürfnissen ist der Bildungsprozess für die Teilnehmer verschieden. Der individuelle Lernprozess kann jedoch durch die gemeinsame Gruppenarbeit gewinnen. Bei der Arbeit mit Intermodalem Dezentrieren in Gruppen ist darauf zu achten, dass die Struktur der Dezentrierungsphase dem Anliegen der einzelnen Gruppenmitglieder entspricht. Dafür bieten sich grundsätzlich drei Formen von Anleitungen an: Für ein Einzelanliegen (z. B. Fallsupervision): –– Einzelarbeit (die persönliche Situation steht im Zentrum): Die Gruppe hat Beobachtungsaufgaben und gibt Feedback.

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–– Protagonistenarbeit (das Anliegen betrifft z. B. den Klienten eines Gruppenmitglieds): Die ganze Gruppe macht mit (ein Teil kann Beobachtungsaufgaben übernehmen). Das künstlerische Angebot verlangt eine Ensemble-Struktur mit einer besonderen Position, welche die Person mit dem Einzelanliegen einnimmt (vgl. weiter unten). Für ein gemeinsames Anliegen (z. B. Bildungsauftrag): –– Die ganze Gruppe arbeitet an einem Werk oder Spiel und die Einzelnen holen sich ihre individuelle Ernte aus einer gemeinsamen ästhetischen Analyse. Das künstlerische Angebot für Gruppen soll immer der Art des Anliegens des im Zentrum stehenden Gruppenmitglieds gerecht werden. Dabei ist es hilfreich, wenn die Ressourcen der Gruppe voll genutzt werden. In unserer Arbeit beziehen wir uns auch auf Ressourcen, die mit dem Künstlerischen und der Spielfähigkeit zu tun haben. Diese kommen nicht nur beim aktiven Mitmachen in der Dezentrierung zum Zuge, sondern auch bei der ästhe­ tischen Analyse und bei der Ernte, wo ein Einbezug der Gruppe sehr be­ reichernd sein kann. Folgende Überlegungen können bei der Auswahl des Angebots helfen, Ressourcen optimal zu nutzen: –– Einzelarbeit innerhalb einer großen Gruppe hat die Tendenz zu einer klassischen Demonstration und ist außerhalb des Ausbildungs- oder Vortragssettings zu vermeiden. Stattdessen ist eine Aufteilung der Gruppe in ein Ensemble mit Protagonisten, Rollen und einem Publikum mit Beobachtungsaufgaben ins Auge zu fassen. –– Bei der Protagonistenarbeit kann die Anleitung aus der Tradition der Künste gewonnen werden. Hier ein paar Beispiele dafür: –– Bei einer Ensemble-Tanzperformance kann die Protagonistin als Choreographin mitwirken und dann bei fortgeschrittener Werkfindung selbst in der Company mittanzen oder den Part der Solistin einnehmen. Solche Entscheidungen ergeben sich oft aus dem Anliegen. –– Bei einem Wandbild kann sie die Rolle der Koordinatorin für die Platzaufteilung oder Ähnliches aufnehmen. –– In einer der Jazztradition nahen Improvisation kann sie die Rolle des Arrangeurs oder den Solopart übernehmen. –– Im Theater ist sie zum Beispiel die Regieassistentin, oder sie kann den Ort, die Szene und den Handlungsbeginn der Improvisation festlegen. –– Es soll bei den verschiedenen Takes oder Fassungen immer die Entscheidung der Protagonistenperson – in der Rolle des Arrangeurs oder der Choreographin  – angenommen werden. Die Mitspieler werden dann

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gefragt, wieweit sie die Anweisungen übernehmen können. In einem gewissen Sinne erhält die Protagonistenperson ein Kunstcoaching und steht im Zentrum der Sitzung. –– Bei Gruppenanliegen wird die klassische Ensemble-Form eingehalten, alle sind in gleicher Weise verantwortlich, dem Werk eine Gestalt zu verleihen.  Um lange Diskussionen zu vermeiden, empfiehlt es sich, dass die ­Leitung den Vorschlag macht, durch handelnde Versuche eine Entscheidung zu finden, anstatt durch Diskussion künstlerische Lösungen zu erzwingen. Bei der Arbeit mit Gemeinwesen und sehr großen Gruppen kommt bei Kulturaufgaben die »Community Art« zum Zuge. Sie gründet auf der Methode des Intermodalen Dezentrierens und ist vor allem für den Einsatz in Settings gedacht, wo die Gruppe als System verstanden werden kann, das ein gemeinsames Anliegen hat (vgl. Knill, 2007, S. 165). Dieser Einsatz kann im Zusammenhang mit Beratungs- oder Bildungsaufträgen bestehen. Das System mag temporär zur Zusammenarbeit verpflichtet sein, wie in einer Ausbildung oder einem Auftrag im Zusammenhang mit einem Projektmanagement, oder es kann einen dauerhaften Charakter haben, wie zum Beispiel ein Unternehmen oder eine politische Gemeinde. Ein derartiger Einsatz von Community Art beinhaltet immer auch eine Stärkung der Resilienz, das heißt der Widerstandsfähigkeit auch in Be­ lastungssituationen, und fördert den Sinn für Kohärenz (Schiffer, 2001, S. 11). Community Art ist einem salutogenetischen Ansatz verpflichtet (Bengel et al., 1998). Man könnte metaphorisch sagen, Community Art stärke das Immunsystem eines Gemeinwesens, so dass Glieder oder Gruppierungen des Gemeinwesens frühzeitig auf Konflikte reagieren können, bevor sie eskalieren. Die Anleitungen für die Dezentrierung in einer solchen Situation können kunstorientierten Events entlehnt werden, da sie von einer großen Zahl von Leuten gestalterische Arbeit verlangt und zugleich eine alternative Welt­ erfahrung für das Gemeinwesen werden kann. Als Möglichkeiten seien einige Formen aufgezeigt: –– Ein Wandbild oder ein Mosaik aus gebrannten Kacheln, mit Vernis‑ sage. –– Ein Tanztheater mit eigener Musikimprovisationsgruppe zu einem Jubiläum. –– Eine Performance zum Frühjahrsbeginn oder zu ähnlichen Jahreszeit­ festen, wie Neujahr, Ostern etc. Die Performance kann sämtliche Kunstarten umfassen. –– Ein Umzug mit Sujets, Kostümen und Masken zur Karnevalszeit. –– Eine Garten- oder Parkgestaltung mit Installationen.

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Der Unterschied zwischen einem als Dezentrierung veranstalteten Event und einem Unterhaltungsevent besteht in der Vorgehensweise, die bei der Dezentrierung immer ein Anliegen ins Auge fasst, den Event mit einer ästhetischen Analyse würdigt und eine Ernte beinhaltet. Teamberatung Die Arbeit mit Teams unterscheidet sich von derjenigen mit Gruppen in mancherlei Hinsicht. Gemeinsam ist beiden, dass sich die beratende Person nicht nur einzelnen anwesenden Personen zuwendet, sondern auch dem Team als Ganzem und möglicherweise noch zusätzlich einzelnen Untergruppen, die sich aus der Organisationsstruktur ergeben oder im Verlauf der ersten Kontakte sichtbar wurden. Daneben muss immer auch das übergreifende, die einzelnen Teammitglieder verbindende System, zum Beispiel die Ab­teilung, das Departement oder die Gesamtinstitution, im Auge behalten und mitbedacht werden. Im Gegensatz zur Gruppe, die erstmals zu einer Sitzung zusammenkommt, begegnet der Berater im ersten Teamgespräch einer »eingespielten Mannschaft«  – und er begegnet möglicherweise gleichzeitig einem Mythos. Das Team kann als »eingespielt« bezeichnet werden, weil die einzelnen Mitglieder durch eine mehr oder weniger lange gemeinsame Geschichte miteinander verbunden sind. Im Verlauf dieser Geschichte haben sich neben den offiziellen auch inoffizielle Hierarchien herausgebildet. Es sind Arbeitsgemeinschaften, Freundschaften, gelegentlich Liebschaften, aber auch mehr oder weniger ausgeprägte Feindschaften entstanden. Es gibt Allianzen und Koalitionen. Nur ein Teil  dieser Strukturen und Muster sind allgemein bekannt, wobei über einige offen gesprochen wird, andere aber nie erwähnt werden, obwohl alle Teammitglieder davon wissen. »Das Team« als gut funktionierende, eng verbundene Arbeitsgemeinschaft ist jedoch leider oft weitgehend ein Mythos, der zum Beispiel vor allem im Kopf des Teamleiters existiert. Es kann als Mythos bezeichnet werden, weil sich das Team als Ganzes zum Beispiel kaum je sieht oder einzelne Teammitglieder aus individuellen, organisatorischen oder aufgabenbezogenen Gründen kaum oder höchst selten mit bestimmten anderen Teammitgliedern zusammenarbeiten. Es ist von Vorteil, wenn sich die beratende Person der allgemeinen Spe­ zifika eines Teams bewusst ist, bevor sie mit ihm zu arbeiten beginnt. Hingegen spielt es nach unserer Erfahrung nur eine geringfügige Rolle, ob diese Arbeit als »Teamsupervision«, »Teamberatung« oder »Teamentwicklung« bezeichnet wird. Entscheidend ist die Spezifizierung des konkreten Auftrags.

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Was steht bei der Arbeit mit Teams grundsätzlich zur Diskussion? Es sind die teaminternen Beziehungen, die persönlichen und gegebenen Spielräume der Rollengestaltung, bestimmte teaminterne Regelungen wie Pausen, Arbeitsverteilung und Ähnliches; zusätzlich auch gewisse Arbeitsabläufe, Sitzungen, Funktionen, Ressorts, eventuell sogar Leitbilder und Ziele oder Teile davon. Zur Verfügung stehen grundsätzlich auch teaminterne Regeln (offene und versteckte, z. B. »Wer nicht dafür ist, ist dagegen«), formelle und in­ formelle Strukturen (z. B. der Umgang der »Alten« mit den »Jungen« oder der Umgang mit den Gründerfiguren) und weitere Aspekte der Teamkultur. Dabei ist immer der Zusammenhang mit den in der Arbeit mit dem Team nicht direkt beeinflussbaren Gegebenheiten in den übergreifenden Systemteilen zu beachten. Teams suchen die Hilfe einer außenstehenden Fachperson für konkrete Problemlösungen, in grundsätzlich schwierigen Situationen (z. B. nach Neustrukturierungen oder wenn viele neue Mitarbeitende zu integrieren sind) oder zur Verbesserung der Teamatmosphäre. Eine Unterstützung wird oft auch gesucht zur besseren Bewältigung von wiederkehrenden, schwierigen Arbeitssituationen und damit zur weiteren Professionalisierung und Qualifizierung der geleisteten Arbeit. Auf der Basis unserer Grundhaltung in der Arbeit mit Menschen und der ressourcenorientierten Ausrichtung haben sich einige Prinzipien in der Arbeit mit Teams als speziell nützlich erwiesen: –– Es ist darauf zu achten, dass immer wieder alle Anwesenden zu Wort kommen, so dass nicht ganze Gesprächsphasen durch »Sprecher« oder »Sprecherinnen« beherrscht werden. –– Hilfreich ist es, implizite Gesprächsregeln zu beachten oder explizit solche einzuführen. –– Zu Beginn der gemeinsamen Arbeit ist oft eine relativ breite Bestands­ aufnahme sinnvoll. Dabei sind auch die Leistungen, Stärken, gemeinsamen Freuden des Teams mit einzubeziehen. Es scheint nützlich zu sein, dass Teamstärken zur Sprache kommen, bevor eine anstehende Problematik in allen Details erörtert wird. –– Die verbalisierte oder sonstwie sichtbar gemachte Wertschätzung durch Supervisor oder Coach ist auch in der Arbeit mit Teams etwas Wertvolles. Diese Wertschätzung gilt es, in erster Linie dem ganzen Team gegenüber zu äußern, aber auch gegenüber dem allenfalls anwesenden Team­leiter und in ausgewogener Form gegenüber einzelnen Teammitgliedern. –– Formulierte und konkretisierte Ziele und Zielvisionen geben der gemeinsamen Arbeit eine Richtung und stärken die Motivation der Beteiligten. Parallel dazu ist es wichtig, auch die bereits erreichten Ziele zu erfassen und gemeinsam alles zu sammeln, was sich im Hinblick auf diese Ziel­ erreichung als hilfreich erwiesen hat.

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–– Beim lösungs- und ressourcenorientierten Vorgehen werden Interpreta­ tionen von Problemverhalten freundlich unterbrochen, besonders wenn sie zu einem Sündenbock-Denken führen könnten. Sie können allenfalls als eine mögliche Hypothese unter vielen stehengelassen werden. Das Augenmerk der gemeinsamen Arbeit ist vor allem auf die Schritte in eine erwünschte Zukunft gerichtet und auf das, was solche Schritte stärkt und unterstützt. –– Auch in der Arbeit mit Teams unterstützen Humor und die Zulassung von Humor die Arbeit. Künstlerische und spielerische Mittel bringen die Teammitglieder aus ihren Stühlen heraus und erzeugen schon allein deswegen »Bewegung«. Das kann einen Perspektivenwechsel erleichtern. Zudem werden in einer nonverbalen Darstellungsform oft zusätzliche Aspekte sichtbar, auf die man im voran­ gegangenen Gespräch nicht gestoßen ist. In unserer Arbeit mit Teams verwenden wir zu Beginn einer Sitzung unter anderem Formen von einfachen Bewegungsabläufen oder von Klängen und Rhythmen zur gemeinsamen Einstimmung. Soziometrische Aufstellungen geben die Möglichkeit, einander auf eine ganz andere Art kennen zu lernen, und machen Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Gruppierungen sichtbar. Post-it-Zettel an der Wand, mit Worten oder Symbolen beschriftet, machen die Unterschiedlichkeit von Standpunkten oder die Vielzahl von möglichen Situationen sichtbar und lassen sich bei der Bearbeitung auch einfach und anschaulich ordnen, gruppieren und umgruppieren. Auf symbolische Gegenstände, zum Beispiel Symbole zu Teamstärken, die zu Beginn der Sitzung im Raum aufgestellt werden, kann im Verlauf der Arbeit auf metaphorische Art zurückgegriffen werden. Die damit verbundene Wertschätzung wird sehr viel besser akzeptiert als ein verbal geäußertes Lob. Eine künstlerisch gestaltete Installationsarbeit mit den gegenseitigen guten Wünschen zu Jahres­beginn, ein gemeinsames künstlerisches Werk bei einem festlichen Anlass oder als Ausdruck eines gemeinsamen Trauerprozesses stärken den Zusammenhalt und die gegenseitige Verbundenheit und können Wesentliches zur Neu- und Umgestaltung der Teamkultur beitragen. Die Arbeitsweise der Intermodalen Dezentrierung hat in der Arbeit mit Teams keinen leichten Stand und wird noch nicht sehr häufig angewandt (Stand 2008). Von Praktikern wird angeführt, dass für eine in allen Teilen sorgfältig durchgeführte Dezentrierung mit anschließender ästhetischer Analyse, Phase der Ernte und Transfer in den Teamalltag in der Regel zu wenig Zeit zur Verfügung stehe, da ja in jeder Teilphase alle Anwesenden in die Arbeit miteinbezogen werden müssten. Dies trifft sicher zu, wenn für Teams mit acht oder mehr Personen nur zwei oder zweieinhalb Stunden zur Verfügung

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stehen. Wir tendieren deshalb dazu, mit mittleren oder größeren Teams nur Halbtages- oder Ganztages-Sitzungen zu vereinbaren und sie dafür seltener zu sehen. Denn Intermodales Dezentrieren kann sich nach unseren Beobachtungen auch in Teams sehr segensreich auswirken. An einem gemeinsamen künstlerischen Werk zu arbeiten verändert die Atmo­sphäre in einem Team zum Beispiel innerhalb einer schleppenden, schwierigen Gesprächsphase deutlich und nachhaltig: Die anwesenden Teammitglieder werden aufgefordert, etwas zusammen zu machen, das sie auf diese Weise noch nie gemacht haben, und lernen so bei sich selbst und den anderen oft ganz neue Seiten kennen. Dabei muss allerdings die professionelle Person das Anspruchsniveau der Aufgabenstellung gut dosieren. Das, was innerhalb der Dezentrierung zu bearbeiten ist, darf niemanden über­ fordern und muss gleichwohl ein befriedigendes und ansprechendes Werk ermöglichen. Die Aufgabe darf auch nicht zu einfach sein, da sonst das Mitwirken für einige der Beteiligten rasch zu etwas Beiläufigem wird und allen Reiz verliert. Für die Intermodale Dezentrierung mit einem Team ist es besonders wichtig, dass das Werk gelingt. Denn auch in der Dezentrierung bleibt ein Team sich selbst, nämlich ein Mehrpersonensystem, das im Alltag nach seiner Leistung beurteilt wird und sich selbst ebenfalls danach beurteilt. Nicht selten löst ein gelungenes Werk bei den Beteiligten offenkundiges Erstaunen aus: »Phantastisch, was wir da zustande gebracht haben!«, »Wir sind ja gar nicht so schlecht!« Viele sind stolz auf das, was in ganz kurzer Zeit durch gemeinsame Anstrengung gelungen ist. So erzeugt allein schon die neuartige gemeinsame Erfahrung eine Stimmung des Gelingens und der Zuversicht. Am Ende einer Sitzung mit Dezentrierung gehen die Teammitglieder sehr oft in einer ganz anderen Stimmung aus dem Raum heraus, sie lachen, wirken beschwingt – und dies selbst dann, wenn aus Zeitmangel die bei einem Team besonders wichtige Transferphase nicht in allen Teilen beendet werden konnte. Zum Erfolg am Ende einer Sitzung dürfte die bei Teams in der Regel sehr reichhaltige Ernte beitragen, die – wenn auch noch nicht im Detail – die Vielfalt der Perspektiven und damit der vielen grundsätzlich möglichen Lösungswege aufzeigt. Selbst wenn die konkrete Lösung im Einzelnen noch nicht erarbeitet ist, ist die Erleichterung im Team oft förmlich mit Händen zu greifen. Einmal »erledigten« Teammitglieder beim Weg­gehen noch im Treppenhaus durch bilaterale, zeitlich begrenzte Vereinbarungen die besprochene Problematik und berichteten dann bei der nächsten Zusammenkunft fast beiläufig darüber. Der Einsatz einer Dezentrierung bei der Arbeit mit Teams bedarf besonderer Sorgfalt. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass man sich von der Teamstruktur als solcher nicht dezentrieren kann. Auch in der Dezentrierungsphase bleibt sie erhalten.

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Deshalb ist es wichtig, die Aufgabe angemessen zu konstruieren und speziell zu formulieren: Innerhalb der Dezentrierung sollen in der Aufgabe ausschließlich die Begriffe der entsprechenden künstlerischen Tradition gebraucht werden. So wird beispielsweise in der Anleitung immer vom »Ensemble« oder von der »Company« gesprochen. Es empfiehlt sich, vorwiegend Improvisationen oder Konstruktionen vorzuschlagen, die eine EnsembleLeistung verlangen. Dabei muss ein besonderes Augenmerk auf die Aufgabenverteilung gerichtet werden. Schon die Verteilung der Aufgaben – beispielsweise im Theater von Bühnenmanagement, Script, Kostümen, Licht und Rollen  – soll so vorgegeben oder geleitet werden, dass sie nicht die im Anliegen formulierte Problematik hervorruft. Die verschiedenen zur Verfügung stehenden künstlerischen Medien sind in unterschiedlicher Weise geeignet, die Aufgabe so zu stellen, dass diese Gefahr vermieden werden kann. So wird eine Musikimprovisation im Ensemble eine völlig andersartige Leistung der Beteiligten verlangen als die Konstruktion einer Waldhütte. Bei der Ersteren geschieht die Erarbeitung durch das Musizieren und verlangt ungewohnte Absprachen während des musikalischen Prozesses. Die »Baucompany« braucht dagegen vorgängig eine Verteilung der Aufgaben, die von der Architektur bis zur Materialbeschaffung reicht. Wieder anders sieht es bei der Tanzimprovisation oder einem Wandbild aus. Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass solche Entscheidungen umso dezentrierender wirken, je mehr sie im Verlauf der jeweiligen Improvisation selbst geschehen. Trotzdem können die vorangehenden Diskurse oder Anleitungen zur Verteilung der Aufgaben auf der Bühne oder im Atelier aus­ gesprochen gut als Brücken aus dem Alltag in die Kunstwelt dienen. Wenn das gewählte Medium für einige der anwesenden Personen besonders ungewohnt ist, kann eine anregende Einführung in das Medium sinnvoll sein. Wir empfehlen der professionellen Person, Anleitungen und Konstruktionen zu verwenden, die die eigenen Vorlieben im entsprechenden Kunst­ bereich widerspiegeln. Es ist dann einfacher, die eigene Begeisterung in die Einführung einfließen zu lassen. Sind im Team bestimmte Positionen vertreten  – ist beispielsweise der Teamleiter dabei  –, sollte auch dies angemessen berücksichtigt werden. Es ist durchaus möglich, eine der Struktur des Teams analoge Ensemble- oder Company-Struktur zu wählen. Diese Anlage birgt jedoch die Gefahr, dass die im vorangegangen Gespräch formulierte Problematik sich in der Dezentrierung wieder breit macht. Für spezielle Positionen im Team ist es sehr lehrreich, wenn sie während der alternativen Welterfahrung und innerhalb des Spiels in ungewohnten Positionen neue Erfahrungen machen und Überraschungen erleben. Das gilt auch, wenn eine dem Team ähnliche Struktur zwar eingeplant

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wird, aber dann nicht die üblichen Personen diese speziellen Rollen über‑ nehmen. Es ist jedoch stets darauf zu achten, dass alle Anwesenden zum Zug respektive zu Wort kommen. Das gilt für alle Teile der gemeinsamen Arbeit, speziell auch für die Bearbeitung der Dezentrierungsaufgabe, für die ästhe­ tische Analyse und die Phase der Ernte. Das Votum jeder anwesenden Person ist wichtig, sofern sie sich bei der Sache engagiert. Jede muss vor der Dezentrierungsphase explizit ihre Bereitschaft, »etwas anderes zu tun«, bekunden und dann Gelegenheit erhalten, etwas Sinnvolles zum gemeinsamen Werk beizutragen, selbst wenn sie – zum Beispiel aus körperlichen Gründen – nicht in der Lage ist, in allen Teilen mitzumachen. Ein besonderes Augenmerk ist auf den Transfer von Aspekten aus der Ernte­phase in den Teamalltag zu richten. Es braucht Zeit, konkrete, realisierbare Schlüsse zu formulieren aus einer Assoziation der Erntephase, die besonders angesprochen hat. Hinzu kommt, dass in der Regel nicht die gleiche Assoziation für alle Teammitglieder im Vordergrund steht. Wenn in der Sitzung nicht ausreichend Zeit für diesen Prozess vorhanden ist, könnte eine Möglichkeit darin bestehen, als Hausaufgabe von jeder an­ wesenden Person für die nächste Sitzung eine Liste von möglichen konkreten Schlüssen zu verlangen. Dadurch wird zwar formell die Bearbeitung der problematischen Situation hinausgeschoben. Doch bereits die Beschäftigung mit »Schlussfolgerungen« dürfte das individuelle Verhalten in der entsprechenden Situation verändern. Im Vergleich zu dieser Vorgehensmöglichkeit machen wir bei Zeitmangel eher bessere Erfahrungen, wenn wir die Ergebnisse der Erntephase und ihre unterschiedliche Gewichtung durch einzelne Teammitglieder gar nicht weiter bearbeiten, sondern in der Schlussphase der Sitzung die Selbstwirksamkeitskräfte des Teams stärken. Das kann zum Beispiel getan werden, indem man Potentiale des Teams, die im künstlerischen Werk sichtbar geworden sind, nochmals in spezieller Weise hervorhebt. ✳ Zusammenfassend kann festgehalten werden: Eine Dezentrierung in der Arbeit mit Teams hat nicht nur positive Wirkungen auf die Lösungsfindung, sie beeinflusst auch die Teamatmosphäre und die Teamidentität positiv und unterstützt dadurch die weitere Entwicklung einer anregenden und sich gegenseitig unterstützenden Teamkultur. Die Durchführung einer Dezentrierung braucht jedoch genügend Zeit. Dieser Faktor ist nicht zu unterschätzen. Können die Sitzungen nicht über zweieinhalb Stunden hinaus ausgedehnt werden, besteht eine zusätzliche Möglichkeit darin, gelegentlich mit vorangekündigten Dezentrierungen zu arbeiten. Das bedeutet, dass für die nächste

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Sitzung eine Dezentrierung angekündigt beziehungsweise vereinbart wird. Am Sitzungstag selbst können und sollten dann Einfindungsrunden und Klärung des Anliegens möglichst kurz gehalten werden, so dass – mit dem ex­ pliziten Einverständnis aller Anwesenden – zum Beispiel schon nach einer halben Stunde mit der Dezentrierung begonnen werden kann.

7.2. Grenzen Grenzen ergeben sich grundsätzlich, wenn damit Gefahren für jemanden oder etwas verbunden sind oder wenn das Vorgehen als nicht durchführbar oder nicht wirksam erscheint. Das gilt auch für die Arbeit mit dem Inter­ modalen Dezentrieren. An dieser Stelle muss zu den folgenden Ausführungen jedoch einschränkend hervorgehoben werden, dass wir bis zur Fertigstellung dieses Manuskripts noch längst nicht mit allen potentiellen Klientengruppen konkrete Erfahrungen mit unserer Methode und dem Dezentrieren gemacht haben. So können wir weder über deren Anwendung im Kindes- und frühen Jugendalter etwas aussagen noch über die Anwendung bei schweren psychischen oder geistigen Beeinträchtigungen. Psychische Gefährdung als Grenze Im Prinzip ist die Situation beim Intermodalen Dezentrieren gleich wie bei allen Methoden, bei denen vornehmlich durch die Beziehung zwischen der professionellen Person und dem Klienten gearbeitet wird. Das bedeutet, dass jeder therapeutisch Arbeitende eine therapeutische Schulung haben muss, damit er in kritischen Momenten in der Lage ist, angemessen zu intervenieren. Dies gilt speziell für den klinischen Bereich. Im Gegensatz zu Methoden, die zumindest zeitweise konfrontieren, hebt unsere Gesprächsführung die Stärken und Erfolge des Klienten hervor. Gleichzeitig nehmen wir jedoch auch das Leiden und das Ungenügen in einer wertschätzenden Art ernst. Im künstlerischen Tun wird nach dem Grundsatz »low-skill-high-sensitivity« darauf hingearbeitet, dass ein Erfolgserlebnis zustande kommt. Unsere Erfahrung zeigt, dass sich die große Mehrheit unserer Klienten durch dieses methodische Vorgehen nicht nur verstanden, sondern allgemein gestärkt und gestützt fühlt. Nicht selten beobachten wir in den Sitzungen körperliche Reaktionen einer freudigen Überraschung. Die professionelle Person muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass die Wirkung einer solch überaus positiven Reaktion außerhalb des Bera-

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tungsraums rasch wieder abflachen kann. Es scheint deshalb wichtig zu sein, in geeigneter Weise auf eine mögliche »Abkühlung« hinzuweisen oder eine entsprechende Hausaufgabe zu geben, damit die Enttäuschung nicht doppelt schmerzlich erlebt wird. (Angeblich) begrenzte Einsatzmöglichkeit Von Berufskollegen, die mit dem hier vorgestellten Arbeitsansatz erst seit kurzem vertraut sind, hört man immer wieder einmal die Aussage: »Nicht durchführbar …«, »mit diesen Leuten (in diesen Situationen) kann ich doch nicht …« Sie denken an das Verlassen des üblichen Beratungssettings durch künstlerische oder spielerische Betätigung und die Arbeit mit Respektspersonen, mit Klienten, die viel älter sind als die beratende Person; oder sie denken an die Arbeit mit Klienten mit besonderen Behinderungen und Einschränkungen. Unsere bisherigen Erfahrungen bestätigen diese Befürchtungen nicht. Es dürfte sich dabei meistens um innere Barrieren bei der beratenden Person selbst handeln. Sie fühlt sich bei bestimmten Klienten zu wenig sicher, um mit einer für das berufliche Umfeld sehr ungewohnten Methode zu arbeiten. Es ist grundsätzlich sinnvoll, auf solche Barrieren zu achten und sie ernst zu nehmen. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass es immer Mut braucht, wenn man etwas Neues und Ungewohntes in die Arbeit einbringen will. Von einem professionellen Standpunkt aus kann festgehalten werden, dass die beschriebene Vorgehensweise keine wirklich negativen Auswirkungen erwarten lässt, sofern zwischen Klient und professioneller Person eine offene, sensitive und einigermaßen tragfähige Beziehungsbasis besteht. Es mag zwar Situationen geben, in denen ein Gespräch mit einer vollständigen Dezentrierungsphase nicht möglich ist. Doch auch da dürften Elemente von ressourcenorientiertem Vorgehen und Kunst und Spiel mit gutem und nachhaltigem Erfolg eingesetzt werden können. Ungeeignete Situationen Auch an dieser Stelle ist nochmals hervorzuheben, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt noch zu wenig Erfahrungen haben, um zu diesem Punkt eine umfassende Stellungnahme abgeben zu können. Es gibt hingegen drei unterschiedliche Ausgangssituationen, bei denen der Einsatz einer Dezentrierung nicht oder nur ausnahmsweise angezeigt ist. An erster Stelle sind Anliegen von Klienten zu nennen, die schwergewichtig eine Fachberatung erfordern, das heißt solche, wo der Austausch von Know-how und Information im Vordergrund steht. Sobald allerdings persönliche Fakto-

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ren der ratsuchenden Person hineinspielen, kann eine Phase der Dezentrierung auch in dieser Situation sehr hilfreich sein. In der allerersten Sitzung mit einem bisher völlig unbekannten Klienten sind wir mit dem Einsatz der Dezentrierung sehr zurückhaltend. Dies gilt vor allem dann, wenn im betreffenden Berufsfeld das Arbeiten mit künstlerischen oder spielerischen Mitteln ungewohnt ist. Eine ganze andere Grenze liegt in der Person der Beraterin oder des Beraters selbst. Wer in der Beratung immer alle Fäden in der Hand behalten  will, wer vor jedem nächsten Schritt alle möglichen Konsequenzen kennen möchte und schlecht mit Unvorhergesehenem und Überraschungen umgehen kann, der wird sich mit der in diesem Buch beschriebenen Arbeitsweise schwer tun. Auch eine derartige Grenze muss ernst genommen werden  – immer im Wissen, dass sie grundsätzlich erweitert werden kann. Unwirksamkeit der Methode als Grenze Obwohl wir nun schon mehr als zehn Jahre mit diesem Ansatz arbeiten, können wir bei Abschluss bislang vergleichsweise wenig sagen zu diesem Punkt. Wie bereits erwähnt, konzentriert sich unsere Arbeit und diejenige von ehemaligen Studierenden, von denen wir Rückmeldungen erhalten, auf das Erwachsenenalter unter Ausschluss von Personen mit schweren psychischen oder geistigen Beeinträchtigungen. In dieser Klientel sind praktisch immer positive Wirkungen der Dezentrierungsarbeit zu beobachten, häufig sogar solche, die als eigentliche Wendepunkte im Prozess bezeichnet werden ­können. Zur Würdigung des bisherigen Erfahrungshorizonts muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass wir längst nicht in jede Sitzung eine Dezentrierungsphase einbauen. Aus grundsätzlichen Überlegungen muss es auch Situationen geben, in denen das Intermodale Dezentrieren nicht wirksam ist. Wundermittel sind bekanntlich unglaubwürdig. Deshalb finden sich im Folgenden noch einige weitere Situationen, wo sich die Intermodale Dezentrierung zwar nicht als unwirksam, aber als beschränkt wirksam gezeigt hat und ihre Anwendung deshalb gut überlegt sein will. Schwierig ist es, wenn es den Klienten nur mühsam gelingt, aus dem gewohnten problembeladenen Muster herauszufinden, um sich auf eine neugierig-entdeckende und forschende Art auf das einzulassen, was gerade passiert. Wir bleiben dann in der Regel länger beim ressourcenorientierten Gespräch und gestalten die Dezentrierungsphase auf eine sehr einfache, unprätentiöse Art. Grenzen erreichen wir auch dann, wenn sich das zu bearbeitende Problem in der Dezentrierungsphase selbst installiert und in den Vordergrund gerät.

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Grenzen

Eine Situation dieser Art hat sich in einem Ausbildungssetting einmal folgendermaßen manifestiert: In der Ausbildungsgruppe beschreibt die Studentin, die sich als Klientin zur Ver­ fügung gestellt hat, in ihrem Anliegen, wie sie bei Herausforderungen, die sie gern und mit Lust annehme (Bildungsaufträge, Moderationen etc.), immer wieder blockiert sei und nichts mehr zu sagen habe. Als Vision formuliert sie: »Die Durchführung ist das Dessert der vorbereitenden Arbeit.« Ein gutes Ergebnis innerhalb der laufenden Sitzung wäre, wenn sie über sich selbst lachen kann. Versehentlich sprechen wir nicht über Ausnahmen und auch Stärken werden im Gesprächsteil vor der Dezentrierungsphase keine erwähnt. Berater und Klientin einigen sich für die Dezentrierung auf die Kunstform des Theaters. Die Klientin möchte an einer Komödie arbeiten. Während der Dezentrierung sagt sie plötzlich, als sie die Bühne wieder be­treten will, dass sie nun genau in der Situation sei wo »es« blockiere. Damit hat sich das Problem selbst in der Dezentrierungphase installiert. Wir versuchen es mit einem Wechsel in die Regie und mit der Rolle des »Drehbuchautors«. Das Resultat: Es wird schlimmer. Die Klientin wird zum »Theaterfall«! (Eine Schauspielerin mit Spiel­ blockade in der Aufführung.)

Die Vermutung liegt nahe, dass das Anliegen in der Vorbereitung zu dieser Dezentrierung zu wenig angereichert wurde, das heißt zum Beispiel keine Erfahrungen von positiver oder annähernd positiver Bewältigung zur Sprache gekommen sind. Vielleicht wäre auch eine andere künstlerische Ausdrucksform, die der geschilderten Problemsituation weniger ähnlich ist, günstiger gewesen. Schließlich ist zu bedenken, dass bei dieser Problemlage jede Dezentrierung, die als Demonstration innerhalb einer Ausbildungsgruppe gestaltet wird, grundsätzlich »themennah« ist und besondere Sorgfalt verlangt, wie das im Kapitel 4 dargestellt wurde. Andere Grenzen und Einschränkungen Unsere Art von Dezentrierung stellt Anforderungen an den Praxisraum und dessen Ausstattung. Es versteht sich von selbst, dass jemand, der mit einer Klientin etwas gestalten will, entsprechendes Material zur Verfügung hat, und jemand, der mit Bewegung gestalten will, entsprechende Räumlichkeiten braucht. Schwierig dürfte es ebenfalls werden bei kulturell begründeten Restriktionen des künstlerischen Ausdrucks, wie zum Beispiel bei Abbildungs­tabus in einer speziellen religiösen Umgebung. Dies ist auch zu berücksichtigen bei eingeschränktem Affekt wie zum Beispiel bei schwer traumatisierten Menschen oder bei Menschen, die in einer akuten Trauerphase sind. In solchen

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Die Anwendung und ihre Grenzen

Situationen sind wir als Prozessleitende gefordert, selbst mit minimalem Ausdruck Sinnvolles zu gestalten (Minimal Art). Dezentrierungen bauen auf die entspannte, neugierig-offene Haltung der Beraterin. Fühlt sich diese dazu nicht in der Lage, ist es angemessener, in einer Weise zu arbeiten, in der sie sich sicher fühlt. Auf der anderen Seite zeigen unsere Erfahrungen, dass die meisten Menschen der westlichen Welt als Klienten bereit sind einzusteigen, sich einzulassen und dann in einem erstaunlichen Maß mitmachen. Hilfreich ist auch, die Menschen beim ganz Alltäglichen und in ihrer je eigenen Welt abzuholen. Das Selbstverständliche in neue Bezüge zu bringen und dadurch innovativ zu gestalten, so dass es in Alltagstheorien reflektiert werden kann und jeder Fachjargon vermieden wird, ist fast immer ein wirkungsvolles Vorgehen. Beispiel: Eine Stuhlinstallation, die mit den allgemein bekannten Instruktionen der Rheumaliga zum Sitzen und Aufstehen ausprobiert wird, fordert zur Bewegungsgestaltung auf und kann dann zu einer Stuhlszene mit mimischem Tanztheater führen.

Es zeigt sich interessanterweise immer wieder, dass Klienten schon weit­ gehend gewonnen sind, wenn Alltägliches in einer überraschenden, ungewohnten Perspektive präsentiert wird.

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8. Die Wurzeln

8.1. Das phänomenologische Denken und die Entwicklung der kunstorientierten Praxis Phänomenoo lgsichesDenkenundkunstoreinteirtePraxsi Die werkorientierte Methode im Feld der künstlerischen Therapien Der werkorientierte Ansatz in der kunstorientierten Therapie und Beratung ist eine Weiterentwicklung der interdisziplinären künstlerischen Therapien, so wie sie in den frühen 1970er Jahren an der Lesley University in Cambridge/USA eingeführt wurden. Dieser Ansatz versteht den künstlerischen Prozess immer als ein Hin-zum-Werk, wobei jedes Werk seine eigene Art hat, vollendet oder, wie Kinder sagen würden, »fertig« zu werden. Auch wenn ein Werk faktisch nicht vollendet wird, gehört es dennoch zum Wesen dieses künstlerischen Prozesses, dass da etwas vollendet werden will, etwas, das uns »anspricht« oder uns »etwas sagt«. Unterdessen sind aus diesen An­fängen heraus unterschiedliche Ausprägungen in verschiedenen Arbeitsfeldern ent­ standen. Sie sind in der englischsprachigen Literatur als »Expressive Arts« (EXA) in Consulting, Counselling, Psychotherapie, Supervision und Coaching zusammengefasst und in Verbänden organisiert. Im Deutschen finden wir für »Expressive Arts (EXA)« auch den Begriff »kunst- und ausdrucksorientierte Psychotherapie, Bildung, Beratung und Therapie«.1 Das vorliegende Buch gründet auf der in den 1990er Jahren entwickelten Methode, welche die strukturelle Verwandtschaft der einzelnen Künste im Gestaltungsprozess mit Klienten nutzt. Dieses Intermodale Strukturprinzip und die Herausforderungen, die es an die gestaltende Person stellt, wurden zusehends in einem Zusammenhang gesehen mit den Herausforderungen, die eine Problematik an den Klienten stellt. Im Gestalten einer Form aus Ungeformtem und dem darin erfahrenen psychischen Prozess des Wandels und der Veränderung kann eine Analogie gesehen werden zur Aufgabe, die 1 Beispielsweise im Internationalen Fachverband »International Expressive Arts Therapy Association« (IEATA) sowie in einem Ausbildungsnetzwerk, dem »Inter­ national Network of Expressive Arts Therapy Training Centers«. National sind die entsprechenden Gruppierungen oft als Fachrichtung in einen der Verbände für künstlerische Therapien oder Psychotherapie eingebunden. In der Schweiz z. B. im »Schweizer Fachverband für Gestaltende Psychotherapie und Kunsttherapie« (GPK) und in der »Schweizer Charta für Psycho­therapie«.

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Die Wurzeln

der Klient zu lösen hat. Damit wird die Zentrierung auf das Ungeformte im künstlerischen Prozess zur Dezentrierung vom »Verformten« im An­ liegen des Klienten und, so wurde angenommen, dürfte darauf einen positiven Einfluss ausüben. Das »Centering/De-Centering« wurde dann erstmals von Margo Fuchs (1994, S. 4)2 aus der Struktur des intermodalen Gruppenprozesses begründet. Die werkorientierte Methode andererseits ist aus der »ästhetischen Verpflichtung« (Knill, 1995, 1999) heraus entwickelt worden. Wir verstehen darunter die Verantwortung des Therapeuten oder Beraters gegenüber dem Werk und seinem Entstehungsprozess. Es sind diese Ansätze, die dann durch die beiden Verfasser um das Verfahren der Intermodalen Dezentrierung bereichert und ausgeweitet worden sind. Während das werkorientierte Arbeiten aus verschiedenen metatheoretischen Positionen heraus möglich ist, setzt die Dezentrierung ein bestimmtes Menschenbild und eine entsprechende Metatheorie voraus. Wir verwenden für die grundlegenden Ansätze der interdisziplinären Methode der künst­ lerischen Therapie und Beratung die Kurzbezeichnung »kunstorientierte Methoden«. Die ganzheitliche Betrachtungsweise Es ist noch nicht so lange her, dass beispielsweise Kopfweh entweder ur­ sächlich einem chemischen Prozess oder ausschließlich einem psychischen Ungleichgewicht zugeordnet wurde. Erst nach der Mitte des letzten Jahr­ hunderts besann man sich vermehrt auf mögliche Zusammenhänge zwischen körperlichen und psychischen Störungen, sogar genetische, umwelt­ bezogene, gesellschaftliche und familienbezogene Faktoren wurden vermehrt als Einfluss berücksichtigt. Das Ursache-Wirkungs-Prinzip, das jede Wirkung kontrollierbar einer Ursache zuordnet, wich nun einer Vorstellung von voneinander abhängigen Wirkfaktoren, die je nach Bedingungen verschiedene Folgen auslösten. Diese so genannte ganzheitliche, integrative Betrachtungsweise war ein wesentlicher Anstoß zur Bildung einer interdisziplinären Richtung in den künstlerischen Therapien. Während der Körpertherapie-Ansatz aus Gründen, die noch auszuführen sind, einen starken Einfluss auf die Entwicklung des integrativen Ansatzes der »Expressive Arts« (EXA) hatte, spielten der Einbezug des sozialen Umfelds und des systemtheoretischen Gedankenguts anfangs nur eine unter­ geordnete Rolle. 2 »De-Centering: Experimental learning, the intermodal laboratory, forming, unforming de-forming through artistic mediums and expression« (Fuchs, 1994).

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Die damals bereits organisierten künstlerischen Therapierichtungen umfassten Musiktherapie, gestaltende Therapie, Tanz- und Bewegungstherapie, Dramatherapie, Psychodrama und Poesietherapie. Sie richteten sich vorwiegend nach den bekannten psychotherapeutischen Schulen. So gab es beispielsweise die psychoanalytische Tanztherapie, die Jung’sche Kunsttherapie, die humanistische Kreativitätstherapie und die verhaltenstherapeutische Musiktherapie. Mit der Annahme, dass im ganzheitlichen Ansatz jede Handlung auch den Körper voraussetzt, gewann der körperliche Ausdruck an Bedeutung. Auch die künstlerische Handlung bedingt in besonderem Maß das Körperliche. Künstlerischer Ausdruck ist in der gestaltenden Handlung kaum denkbar ohne körperlichen Bewegungseinsatz und hochsensibles Bei-denSinnen-Sein. Künstlerisches Tun beschäftigt sich in der Wahrnehmung und im Ausdruck immer auch mit den körperlichen Dingen, wobei je nach Kunstdisziplin dieses Dinglich-Körperliche differenziert in den Vordergrund tritt. Hier bot sich für den beraterischen und therapeutischen Ansatz ein weites Spektrum an indikatorischen Überlegungen. Unter welchen Behandlungsumständen ist es indiziert, den tänzerischen Einsatz des Körpers als Gestaltungsobjekt zu erwägen, und wann ist das eher haptisch-optisch orientierte Modellieren mit Ton angebracht, das sich vom Gestaltenden körperlich distanziert? In den körperorientierten Therapien wurde damals unter anderem der Zugang zum Nichtgelebten über den körperlichen Ausdruck gesucht. Als Intervention wurden übungsmäßige Verfahren und Settings bevorzugt, die Atem, Stimme und Bewegung aktivierten und direkte körperliche Äußerungen hervorriefen (Lachen, Weinen, Schreien, Zittern etc.). Diese wurden wiederum im Gespräch auf Einsichten hin untersucht und dann integriert. Viele davon nahmen Bezug auf W. Reich und theoretisch auf die frühen Publikationen von Breuer und Freud. Die Katharsis stand im Zentrum. Die Bioenergetik nach Lowen beispielsweise entwickelte unter anderem eine eigene Körperanalyse, und die Primärtherapie nach Janov eine Analyse und Rückführungstheorie, die sich auf die frühkindliche Phase des Klienten bezog und als Methode das szenische Wiedererleben einsetzte. Eine Ausnahme bildete das Psychodrama von Moreno, das eine eigene Theorie entwickelte und im Theater eine an der eigentlichen Lebenssituation orientierte, kulturell verankerte Ausdrucksform pflegte, um dann ebenfalls eine katharsisorientierte Integration zu ermöglichen. Bei der Entwicklung der kunst- und ausdrucksorientierten Methoden hatte das Psychodrama eine Art Brückenfunktion (an der Lesley University z. B. mit Peter Rowen und Zerka Moreno). In Norwegen und Israel integrierten Psychodramazentren den EXA-Ansatz und einige EXA-Ausbildner sind auch heute noch bekannte Psychodramatiker. Von Anfang an führten grundsätzliche Überlegungen dazu, dass die kunstund ausdrucksorientierte Methode den Ausdruck des Klienten als leibsee-

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lisches Phänomen im anthropologischen Zusammenhang verstehen wollte. Dadurch grenzte sie sich von den rein körperorientierten Therapien in folgenden Punkten ab: –– Künstlerischer Ausdruck gehört als Existential zum Menschen. Er ist kein Symptom einer Störung, sondern eine natürliche, ganzheitliche Ausdrucksweise. Zweckgerichtete Übungen, um bestimmte sinnlich geäußerte Effekte zu erreichen, wurden als mechanistisch verworfen. Dabei wurde aber anfänglich die Katharsis, das heißt die »Reinigung« durch eine adäquate »Abfuhr« des Krankmachenden begrüßt, etwas, was beim Psychodrama ähnlich ist. Im Gegensatz zu den ausschließlich körperorientierten Therapien zeichnete sich eine im Wesen der Kunst liegende Selbstverständlichkeit des Ausdrucks ab. Es muss mehr geatmet werden beim Singen eines Textes als beim Sprechen, ein Freudentanz ist energetisch und körperlich-seelisch besser erfahrbar als der Satz: »Ich empfinde Freude«. –– Da künstlerischer Ausdruck als menschliches Existential und nicht symptomatisch für eine pathologische Entwicklung betrachtet wurde, gehörten zur Basis auch eine Zuwendung zur Gesundheit und zur Bedeutung von Ressourcen. Die entstehenden Werke wurden schon sehr früh als eine Art helfende Geister betrachtet, die vom Klienten auch außerhalb der Sitzungen angeschaut, aufgesagt, gesungen, gepfiffen oder ausgeübt werden konnten; vielleicht als eine Art seelische Leibesübungen. –– Der künstlerische Ausdruck ist körperlich-sinnlich, immer aber auch imaginativ zu verstehen. Der symbolische Gehalt des künstlerischen Ausdrucks ist deshalb ebenso wichtig wie das körperlich-seelische Ausdruckserleben Dadurch wird es kulturell verankert und nachvollziehbar für andere, insbesondere für die Beobachter, Therapeuten und Gruppenmitglieder. Der Inhalt steht in Bezug zum kulturellen Gut, zu unseren Geschichten, Bildern, Liedern, zu Musik, Filmen und Poesie. Mit Vehemenz wurde schon früh die reduktionistische Umdeutung des symbolischen Gehalts durch psychologische oder spirituelle Metatheorien abgelehnt (Knill, 1986). Das »antwortende Gespräch« zum und mit dem künstlerischen Werk stand im Vordergrund und wurde in den frühen Publikationen als »Dialog mit dem ankommenden« Bild bezeichnet (McNiff, 1988). Eine große Rolle spielte Blake, welcher als Poet, Denker und Maler die »Eindimensionalität« der »singulären Erklärungsmythen« geißelte und sozusagen die Postmoderne mit der These der »multiplen Narrative« geschichtlich vorausnahm (vgl. Callahan, 1992). –– Die Tatsache, dass es sich beim künstlerischen Gestalten um ein dis­ zipliniertes Spiel in kulturellen Traditionen handelt (Musik oder Theater, Trauer- und Lustspiel etc.), führte zum Studium der Spieltheorien und in die Nähe zur Spieltherapie für Kinder.

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Die grundlegenden Überlegungen, welche bei der kunst- und ausdrucks­ orientierten Methode die leibseelische Sichtweise in einen anthropologischen Zusammenhang stellten, führten aus verschiedenen Gründen zu einem interdisziplinären Ansatz: –– Künstlerischer Ausdruck gehört zum Menschen wie die Sprache. Er ist jedoch eine Sprache anderer Art.  Die Poesie in ihrem innovativen Wort­ gebrauch kann so als »Denken anderer Art« gesehen werden (Fuchs, 2002, S. 162). Bei allen spontanen künstlerischen Aktivitäten sind stets nicht nur alle Sinne engagiert, sondern auch verschiedene Reflexionsweisen gefordert. Dies geschieht immer im Zusammenhang mit dem, was sich gerade im Gestalten zeigt. Dabei erscheint möglicherweise ein Text, wenn er musikalisch umgesetzt wird, im Zusammenhang mit der Melodie in einem anderen Kulturbezug. Ein Tanz »sagt« über den Rhythmus der dazu gewählten Musik Zusätzliches aus. Das sensible Bei-den-Sinnen-Sein im künstlerischen Tun, oder in der künstlerischen »Sprache«, mani­festiert sich in den verschiedenen Kunstdisziplinen unterschiedlich. Der Gebrauch der Stimme und des Körpers in der Musik ist grundsätzlich anders als beim Schreiben und Lesen eines Textes, beim Formen einer Skulptur oder Spielen auf der Bühne, und trotzdem sind sie alle Teil eines leibseelischen Ausdrucks. –– Diese Überlegungen verlangten nach einem interdisziplinären Verständnis in der Beratung und Therapie. Im Grunde genommen gehört eine interdisziplinäre Haltung zur künstlerischen Tradition. So ist der Tanz, auch wenn er meist als eine eigenständige Disziplin angesehen wird, nicht ohne ein Verständnis für Musik oder Szenisches denkbar, so wie Poesie zwar in den Bereich der Sprache gehört, aber nicht ohne Rhythmus und Bilder gedacht werden kann. –– Die interdisziplinären Überlegungen bezogen sich auch auf die Idee des Gesamtkunstwerks, dessen philosophische Grundlagen Richard Wagner auf Feuerbach und Schopenhauer bezog. Wagner verstand das Gesamtkunstwerk als totalen Kunstausdruck unter der Führung der Poesie. Er komponierte die Musik, schrieb den Text, entwarf das Bühnenbild, sogar das Opernhaus, choreographierte das Werk und dirigierte es dann auch selbst (Szeemann, 1983). Was geschieht, wenn ein Text zu einem Bild kommt oder eine Maske die Sprache findet? Unter welchen Umständen oder Bedingungen soll welche Kunstdisziplin gewählt werden und in welcher Form? Solche Fragen tangieren nicht nur alle Kunstdisziplinen, sondern auch kulturanthropologische, physiologische und psychologische Aspekte sowie erkenntnistheoretische Überlegungen. Die anthropologische Sichtweise widmete sich auch dem volkstümlich Rituellen sowie sprachlichen Formulierungen. So half beispielsweise im deut-

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schen Sprachbereich der Begriff »künstlerische Ader« das Bewusstsein für das Kreative, unabhängig vom schulischen künstlerischen Können, zu wecken. Auch ist in allen diesen Vorstellungen, genauso wie in den volkstümlichen Festlichkeiten, die Grenze zwischen den Kunstdisziplinen und allgemeinem gestalterischem Tun verwischt. So werden zum Beispiel das Schmücken der Bühne beim Dorfjubiläum und die Musik zum gymnastischen Reigen auf dieser Bühne ganz von Laien geschaffen, sozusagen »interdisziplinär«, in Zusammenarbeit. Zu den alltäglichen Erfahrungen der Verwischung von Grenzen zwischen den klassischen Kunstdisziplinen und ihren interdisziplinären Vernetzungen gehört auch die intermediale Verknüpfung von Bild, Text, Musik und Bewegung in den heute vorherrschenden visuellen Medien Video und Film. Die intermodale Kunst- und Ausdruckstherapie hat sich deshalb von Beginn an intensiv mit diesen interdisziplinären Medien beschäftigt, hat sie im Kontext studiert und produktiv eingesetzt. So folgte die interdisziplinäre Richtung der künstlerischen Therapien der Maxime, dass wir bei der Wahl des Gestaltungsmittels vom Klienten ausgehen müssen. Dies verlangt vom Therapeuten neben den therapeutischen Qualifikationen eine gewisse Breite an künstlerischen Fähigkeiten, um den Klienten motivierend entgegenkommen zu können. Es hat sich gezeigt, dass die Performance Art ein hervorragendes Übungsfeld zum Erwerb dieser Breite sein kann. Performance-Künstler sind von Anfang an mit der interdisziplinären Natur ihrer Kunst vertraut. Diese ihre Kunst hat meist einen Schwerpunkt. Oft kommen die Künstler aus der bildenden Kunst, aber auch aus der Musik, dem Film, Theater, Tanz und vermehrt aus der Poesie. In ihrem Bemühen um persönlichen Ausdruck beschränken sie sich nicht auf bloße Techniken; Performance-Künstler wollen immer den aktuellen Stand der Künste und die Vielfalt aller künstlerischen Möglichkeiten berücksichtigen. Die Qualität einer Performance ist daher ein Balanceakt zwischen interdisziplinärer Virtuosität und authentischem Ausdruck. Das Spiel zwischen Musik, darstellender Kunst, Tanz, Theater, Körperausdruck und wieder zurück unterliegt einem beständigen Prozess der Evaluation. Um dieses Spiel zu meistern, bedarf der Künstler einer außergewöhnlichen Einfühlungsgabe und einer ständigen Präsenz, während er die Interaktionen zwischen den einzelnen Kunstdiszi­ plinen und Materialien im Auge behält. Das explorative Suchen nach dem wirkungsvollsten Material beschränkt sich nicht auf eine einzige Kunstdisziplin. Wenn ein Material, etwa ein Theaterrequisit, ein Kleidungsstück, aus einer Kunstdisziplin gefunden ist, so wird es einer eingehenden Prüfung durch Elemente einer anderen Disziplin unterzogen, zum Beispiel dem tänzerischen Bewegungsablauf zu verschiedenen Musikentwürfen, bis es zu Form, Inhalt und Ausdruck der ganzen Performance passt.

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Ein dergestalt an der Performance Art ausgerichtetes, therapeutisches Setting wurde verständlicherweise bald als sehr komplex angesehen, ging es doch dabei nicht nur um die Beziehungsgestaltung zwischen Therapeut und Klient, sondern zudem um die Ermöglichung eines gestalterischen Prozesses, der immer auch etwas Werkartiges zum Ausdruck bringen soll, das seinerseits mit allen Beteiligten in Beziehung tritt. Dieses Werkartige wurde von Anfang an als wesentlich betrachtet, da das Gestaltete als Objekt anwesend ist – ein gestaltetes »Etwas«, das in seiner Wirklichkeit von allen Beteiligten einsehbar und einhörbar ist, eine sinnlich erfahrbare Manifestation, die zudem immer auch auf andere Werke verweist. Ein Klagelied ist kulturell verankert in den Klageliedern der Kultur des Klienten. Bilder haben immer Bezüge zu anderen Bildern. Das gilt für alle gestalteten Objekte. So geschieht immer ein Zweifaches, ein Bezug zum eigenen Erleben und ein Bezug zur Welt – und damit auch eine Art Distanzierung vom ausschließlichen Ich-Bezug. Für wissenschaftshistorisch interessierte Leser seien hier stichwortartig die wesentlichen Anstöße erwähnt, die zu einer theoretisch begründeten Methode führten: –– Wesentliche Impulse im Zusammenhang mit der Hinwendung zum Phänomen der Imagination im künstlerischen Ausdruck erhielt die inter­ modale Methode von James Hillmann, dem Begründer der archetypischen Psychologie, der an der Theoriebildung als Gastprofessor an der Lesley University mitwirkte (Knill, 1995). Das Kristallisationsprinzip (siehe die nachfolgenden Ausführungen unter dem Abschnitt »Die Theorien und Prinzipien der Intermodalen Methode«), welches auf den Imaginationsmodalitäten Bild, Bewegung, Wort, Handlung und Klang/Rhythmus aufbaut, ist aus dieser Zusammenarbeit entstanden. –– Einen starken Einfluss auf die Theoriebildung hatten die durch Knill eingebrachten entwicklungspsychologischen Überlegungen von Piaget, welche eine theoretische Brücke zwischen den verschiedenen Disziplinen des künstlerischen Tuns sowie dem Körper, der Bewegung und dem Denken anboten. Die kunstorientierten Methoden zur Anleitung und Begleitung der künstlerischen Prozesse gründen auf der Erkenntnis, dass Bewegungsintelligenz die Grundlage zu jedem komplexeren Denken bildet und dass das entdeckende Experimentieren in motivierenden Spielräumen über­ raschende Einsichten bringen kann. Ein Resultat dieser Überlegungen findet sich in der Theorie zur »low-skill-high-sensitivity«-Anleitungs­ methode, die es ermöglicht, mit künstlerisch nicht Vorgebildeten künst­ lerisch zu arbeiten. –– Von Anfang an übten Musikpädagogen und -therapeuten einen bedeutenden Einfluss aus, was sich aus dem Verständnis der Musik als »Gesamtkunstwerk« erklären mag. Zu den führenden Theoretikern dieser Richtung gehören Hans-Helmut Decker-Voigt (1983), Paolo Knill (1979) und

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Wolfgang Roscher. Decker-Voigt hat mit seinem »Lesley Institut für Medien und Ausdruckstherapie« in Hösseringen (Niedersachsen) grund­ legende Prinzipien einer intermedialen Berufsausbildung entwickelt und später an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg umgesetzt. –– Von besonderem Interesse war die Polyästhetik, wie sie durch Wolfgang Roscher (Mozarteum Salzburg) vertreten wurde (Schwarzbauer, 2001). Dabei handelt es sich um den Ansatz einer multimedialen Kunstausübung, der sich vorerst in der integralen Musikpädagogik bewährte. Er reflektiert die interdisziplinäre, interkulturelle sowie geschichtliche und gesellschaftliche Ausübung und Wahrnehmung von Kunst. Der Ansatz wurde erweitert in die therapeutische Richtung (Mastnak, 1993). Die Polyästhetik hat sich vor allem verdient gemacht um die Differenzierung des sinnlichen Ausdrucks und der sinnlichen Wahrnehmung unter Berücksichtigung der multimedialen Kunstausübung und hat archaische Aspekte im Ausüben der verschiedenen künstlerischen Medien erhellt. Sie hat einen wesentlichen Einfluss auf die Intermodale Theorie ausgeübt. –– Die Theorie und Praxis der interdisziplinären Richtung lehnte sich an­ fänglich auch stark an die im Studio oder Atelier ausgeübte körperorientierte Therapie an. Vom Theater und Tanz her war es Alec Rubin (Therapeut und Regisseur in New York, »Theater of the Encounter«), der als Lehrbeauftragter an der Lesley University wirkte und eine dem Theater­ laboratorium von Jerzy Grotowski angelehnte, intermediale und stark körperorientierte Drama- und Tanztherapie vermittelte. Studio, Atelier und Bühne standen für Shaun NcNiff (von der Bildenden Kunst her) und Paolo Knill (von der Musik und Performance-Art her) im Zentrum der transformierenden Erfahrung. Sie sollten auch im therapeutischen Setting nicht kompromittiert werden. Es wird eine »Theorie, die der Kunst gerecht wird«, postuliert, »Theory Indigenous to Art« (Knill, 1986). ­McNiff formulierte mit Fuchs im Thesis-Seminar der Lesley University eine auf Kunst basierende Theorie und Forschung, was später zum Konzept der »Art-Based Research« führte (McNiff, 1998). –– In diesem Zusammenhang ist auch der Einfluss von Rudolf Arnheim wichtig (Levine, 2002, S. 266–282) mit seiner aus der Gestaltpsychologie (Köhler, Koffka, Wertheimer) entwickelten Wahrnehmungsästhetik. Arnheim war verschiedentlich an der Lesley University eingeladen und am theoretischen Diskurs der Fakultät beteiligt. Seine Stellungnahme gegenüber den künstlerischen Therapien war sehr positiv, aber pointiert: Kunst ist der Welt zugerichtet und nicht dem Selbst, künstlerisches Tun ist vorerst einer Formung gewidmet, die universell von anderen miterlebt werden soll und nicht so sehr dem Selbstausdruck. Arnheim wertet die Sinne hoch, das Werk zeigt sich ästhetisch durch die Sinne. Bedeutung oder Sinnfindung ergibt sich durch das Zusammenspiel der Struktur und Form

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im Werk. Dieser Diskurs war wesentlich an der Formulierung der Theorie um die »Ästhetische Verpflichtung« und »Ästhetische Resonanz« beteiligt (Knill, 1995) – also an Grundlagen, welche für die werkbezogene Methode notwendig waren. –– Die Gründer-Fakultät der Lesley University wandte sich zudem in der Bemühung um eine kunstgerechte Interpretation dem phänomenologischen Denkmodell von Binswanger und Boss zu. Medard Boss (1982) war Ehrenmitglied der damals gegründeten »Artist Therapist Association« (später in einen internationalen Verband aufgelöst). In den 1980er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der phänomenologischen Forschung und Theoriebildung nach Europa, vorwiegend in die Schweiz. Es hat sich dabei eine differenzierte, eigenständige Psychotherapieschule entwickelt (Kunstund ausdrucksorientierte Psychotherapie  – ISIS), die sich innerhalb der »Schweizer Charta für Psychotherapie« mit ihrer phänomenologischen Ausrichtung profiliert hat. Gleichzeitig ist auch ein Beratungsmodell entstanden (»Supervision als Kunst« – EGIS). In Bezug auf die kunstorientierte Ausrichtung war Letzteres von Anfang an der werkbezogenen Praxis verpflichtet und entwickelte sich im Zusammenhang mit der lösungs­ orientierten Hinwendung zum Intermodalen Dezentrieren (IDEC®).

Die Theorien und Prinzipien der Intermodalen Methode Das Kristallisationsprinzip Das Kristallisationsprinzip (Knill, 1990b/2002) betrifft den Kern der einzelnen Künste und besagt, dass die Künste in ihrem Wesen intermodal sind, jedoch in je spezifischer Ausprägung. In jedem Kunstmedium tritt ein bestimmter Aspekt in den Vordergrund: So kristallisieren sich in der Musik in erster Linie Klang und Rhythmus, das heißt, Musik kann nicht gedacht werden ohne Klang und Rhythmus, auch wenn sie bewegen kann, Texte einbezieht und innere Bilder heraufbeschwört. In allen Kunstdisziplinen finden wir eine Reihe von sensorischen und kommunikativen Modalitäten. Von den visuellen Künsten zum Beispiel weiß man, dass die sensomotorischen und taktilen Sinne beteiligt sind. Man weiß, dass sich ein Gemälde nicht allein durch Visuelles mitteilt, sondern auch durch die Rhythmen der Farben. Ein Bild mag auch eine Story evozieren oder eine Handlung beschreiben. An der Musik wiederum sind, wie bereits darauf hingewiesen, nicht nur die auditiven Sinne beteiligt, sondern auch die sensomotorischen, kine­ tischen, taktilen und visuellen. Musik teilt sich durch Rhythmus und Klang mit, durch Worte und Reime, welche innere Bilder hervorrufen können.

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Trotz der interdisziplinären Natur aller Künste ist es lehrreich, die verschiedenen Kunstdisziplinen zu unterscheiden nach den vorherrschenden Modalitäten, die sie jeweils zu bevorzugen scheinen. Das Kristallisationsprinzip hilft außerdem beim Differenzieren von Imaginationsmodalitäten. Jede einzelne Kunstdisziplin hat eigene Gefäße für Klärung und Sinnfindung, indem sie den kreativen Akt als Vehikel für die Imagination innerhalb ihrer eigenen Tradition in einer spezifischen, einzigartigen Weise einsetzt. Zum Beispiel: –– Es ist möglich, ohne Bilder zu sprechen, zu träumen oder zu reden, aber Bilder kristallisieren sich am deutlichsten in einem Gemälde oder in einer Skulptur. Es gibt keine visuelle Kunst ohne Bilder. –– Man kann durch Musik bewegt werden, ebenso durch eine Geschichte oder eine Szene; oder man kann eine Handlung mit einer Bewegung beschreiben; aber Bewegung wird am besten durch ihre Kristallisation im Tanz erfahren. Es gibt keinen Tanz ohne Bewegung. –– Man mag von Handlungen erzählen, schreiben, singen oder sie malen, aber das eindrucksvollste Format, um eine Handlung zu demonstrieren, ist eine Szene auf der Bühne im Theater. Es gibt kein Theater ohne Handlung. –– Man kann rhythmisch gehen, sich bewegen oder sprechen, oder man kann mit Tönen kommunizieren, durch Pfeifen oder durch Grunzen; aber am intensivsten erleben wir Klang und Rhythmus, wenn sie sich in der Musik kristallisieren. Es gibt keine Musik ohne Klang und Rhythmus. –– Man kann Worte gebrauchen, um visuelle Bilder mitzuteilen oder um eine Szene oder dramatische Momente zu beschreiben, aber Worte akzen­ tuieren die poetische Komponente der Kommunikation am besten beim Geschichten-Erzählen oder in einem Gedicht. Es gibt keine Poesie ohne Worte. Die intermodale Theorie Diese im Zusammenhang mit der intermodalen Methode im künstlerischen Ausdruck entwickelte Theorie formuliert den Einfluss der einzelnen Kunstdisziplinen und ihrer spezifischen Ausübungspraxis auf verschiedene Gesichtspunkte einer beratenden oder therapeutischen Beziehung. Sie unterscheidet zwischen interpersonalen, intrapersonalen und transpersonalen Gesichtspunkten (Knill, 1990b, S. 90–95). Interpersonale Gesichtspunkte Die künstlerischen Disziplinen regulieren die Kommunikation unter den ­Mitgliedern einer Gruppe. Wir finden nicht nur Einschränkungen durch

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Struktur und Form, sondern auch Erleichterungen bestimmter Interaktionen, die außerhalb der künstlerischen Form schwierig wären. Daher kann der Prozess einer Gruppe sichtbar oder hörbar gemacht werden und durch Inszenierung oder Choreographie entwickelt und ermutigt werden. Einiges davon wurde von Moreno (1967) in der psychodramatischen Praxis der Soziometrie gewürdigt. Wenn wir in unserer intermodalen Praxis die verschiedenen Disziplinen des künstlerischen Ausdrucks vergleichen, können die Unterschiede herausgearbeitet werden. Malen und Bildhauern in Gruppen erleichtert den Prozess der Individuation wegen ihrer immanenten Hinführung zu privatem, isoliertem Schaffen. (Eine Ausnahme von dieser Regel wäre aber die Kreation eines Gruppenbildes oder einer Installation, bei dem/der alle mitwirken können.) Musik mit ihrer tönenden, klingenden Präsenz, der niemand ausweichen kann, führt eher zur Sozialisation hin. Tanz und Bewegung dagegen eröffnen Möglichkeiten, die Be­ ziehungen und Koa­litionen innerhalb der Gruppe zu explorieren. Beim Einsatz verschiedener Disziplinen kann der intermodale Transfer gut beobachtet werden. Richtig eingesetzt, wird dadurch der Ausdruck vertieft oder erweitert, die Identifikation mit der Gruppe oder – im Gegenteil – die Individuation intensiviert. Wir offerieren so Möglichkeiten, die weniger Angst machen, Worte zu finden, die jenseits der gewöhnlichen Alltagskonversationen liegen. Intermedialer Transfer (auch Medienwechsel) Mit intermedialem Transfer wird der Wechsel von einem gestalterisch-künstlerischen Medium in ein anderes bzw. die Anreicherung durch zusätzliche künstlerische Ausdrucksarten (Musik zu einem Gedicht) innerhalb desselben Mediums bezeichnet. Die Wahl hängt, nebst den Ressourcen der involvierten Person/en davon ab, was sich durch eine ganzheitliche, sinnesumfassende Betrachtung aufdrängt, was intensiviert werden will, was auch noch da ist und was verdeutlicht werden will oder soll: Ist es das, was bewegt, ist es das, was anklingt, ist es das, was sich ausgebildet hat oder was in Worten spricht? Intrapersonale Gesichtspunkte Die wichtigsten intrapersonalen Gesichtspunkte beziehen sich auf die erworbene emotionale Haltung eines Individuums oder eines Kollektivs zu einer besonderen Disziplin des künstlerischen Ausdrucks. Einige Menschen haben zum Beispiel starke Widerstände gegenüber dem spontanen Ausdruck durch Musik, vielleicht durch (erinnertes) Lampenfieber von früherem Musikunterricht her. Einige Kulturen ermutigen spontanes Handeln

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nicht, weil es vielleicht die soziale Ordnung stören könnte. Manche von uns fühlen sich mit einigen Formen des künstlerischen Ausdrucks wohler als mit anderen, und diese Vorlieben können sich mit den Umständen verändern. Zur Illustration seien hier ein paar persönliche Beobachtungen angeführt: –– Wenn ich mich und meine Gewohnheiten untersuche, sehe ich, dass ich gewohnt bin, dann ein Bild zu malen, wenn ich eine Idee mit Klarheit und Genauigkeit mitteilen möchte. –– Wenn ich eine Szene ohne langatmige Kommentare und Erklärungen demons­trieren möchte, dann nehme ich die Magie des Theaters in Anspruch. Vielleicht spiele ich meine Großmutter, verkörpere sie mit meiner Stimme und mit charakteristischen Gesten, imitiere ihren Ton, wenn sie den Hühnern rief: eine Art Rabenschrei, der morgens jedermann auf dem Bauernhof weckte. –– Wenn ich mich durch Poesie ausdrücke, fühle ich mich sehr verletzlich. Meine intimsten Notizen oder Briefe schreibe ich in poetischer Form. Transpersonale Gesichtspunkte Sie leiten sich von den religiösen und rituellen Anwendungen der Künste ab. Bilder, Skulpturen und symbolische Objekte bezeichnen den Ort der An­ betung und sind wie Tore zum Ort der heiligen Wesenheiten, der Götter. Anstatt ein Gemälde eines Klienten beiläufig abzulegen, kann man es als einen totemähnlichen Gegenstand für einen fortgesetzten Dialog nehmen. Beispielsweise kann ein Bild wie ein Altarbild aufgehängt werden oder eine Skulptur einer Klientin »will« vielleicht am Eingang ihres Hauses aufgestellt werden und gibt dort den Eindruck von Schutz oder erinnert sie bei jedem Heimkommen, dass sie einige von des Tages Mühen draußen lassen kann. Gebete sind traditionell lyrische Texte, und sie verlieren durch Repetition nichts von ihrer Kraft. In der Tat, es ist gerade die Repetition, die das Wesen dieser Erfahrung ausmacht, so dass sie vom Herzen gelernt werden (known by heart). Solche Kraft liegt in jedem berührenden Gedicht. Wer hat sich nicht schon die Zeit genommen, das Liebesgedicht eines Freundes wieder und wieder zu lesen, mit jedem weiteren Lesen eine emotionale Erfahrung erneuernd? Es ist daher eine gute Praxis in Veränderungsprozessen, die Wiederholung von Geschriebenem zu ermutigen (z. B. als Hausaufgabe das täg­ liche Lesen eines Gedichts oder einer Geschichte vorzuschlagen, die in der Sitzung auftauchten). Tanz und Musik sind in vielen rituellen Handlungen vereint. Gewöhnlich bildet der Tanz eine Brücke zu theaterartigen Inszenierungen, oft mit Kostümen oder Masken, während die Musik eine Verbindung zum Inhalt der Hymnen und Mythen bildet. Die wiederholte Inszenierung eines wich-

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tigen Ereignisses (z. B. Initiation, Segnung, Bindung, Ermächtigung, Wandlung, Geburt und Tod) erfolgt in tänzerischen und theatralischen künstlerischen Gefäßen. Es kann daher sinnvoll sein, in einer späteren Sitzung etwas vom Erreichten  – zum Beispiel durch das Wiederaufnehmen oder Weiterführen einer Musik, eines Liedes, Tanzes oder einer Szene – in Erinnerung zu rufen. Manchmal wird ein solches Werk jedes Mal als Abschluss, zur Ver­ abschiedung, quasi als Segen, oder am Anfang zur Begrüßung verwendet. Als eine innere Stimme kann die Musik uns wie ein positiver Ohrwurm« be­ gleiten und dabei in spezifischen Situationen hilfreich aufsteigen; manchmal beginnt man auch das zu summen, pfeifen oder zu singen, was in einem Veränderungsprozess als Werk da war. Erstaunlicherweise ändert durch solches Singen oft die Stimmung. Kunst in Veränderungsprozessen zu gebrauchen, ohne die Gestaltungspraxis und die kulturellen Traditionen zu differenzieren, die damit verbunden sind, würde heißen, eine der Ursprungskräfte auf dem Weg zum Lösenden außer Acht zu lassen.

8.2. Die kunst- und ausdrucksorientierte Praxis und die darin enthaltene Kritik an anderen Verfahren Die oben beschriebene interdisziplinäre theoretische Ausrichtung und der intermodale Ansatz sind grundsätzlich einem multiplen Bedeutungsverständ­ nis verpflichtet. Das heißt, wir messen aufgrund unseres konstruktivistischen Denkens einem Phänomen verschiedene Bedeutungen zu. Diese Praxis widerspricht deshalb einer reduktiven metatheoretischen Festlegung oder Deutung von Ausdruck, wie wir sie in vielen psychodynamisch orientierten künstlerischen Therapien finden. Zeichen, Symbole und Metaphern verweisen auf sich selbst und nicht auf »Tieferliegendes«. Das Eigentliche entbirgt sich aus dem Zur-Sprache-Kommen der Sache selbst. Durch das Vermeiden von erklärenden Deutungen und durch die Intensivierung der antwortenden Haltung geschieht eine Bereicherung. Das Ergebnis des Ausdrucks wird geschätzt und im Hier und Jetzt, in seinem Reichtum, an der sinn­ lichen Oberfläche erkundet. Damit wendet sich die Kritik der kunst- und ausdrucksorientierten Praxis auch gegen mechanistische Deutungstendenzen in künstlerischen Therapien der New-Age-Bewegung, welche den Klienten Symbolbedeutungen aus mehr oder weniger ethnologisch begründeten Deutungskategorien liefern. In der ganzheitlichen Betrachtungsweise der kunst- und ausdrucksorien­ tierten Praxis finden wir einerseits eine Kritik an Verfahren, die sich in einer singulären Betrachtungsweise verlieren (nur defizitbezogen, nur verhaltens­

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orientiert, nur traumabezogen etc.). Andererseits gibt es eine Kritik am Holistik-Verständnis der New-Age-Bewegung. Ganzheit als Begriff muss letztlich unfassbar und unvollkommen bleiben, da wir selbst in unserer Unvollkommenheit in der angenommenen Ganzheit immer mitgemeint sind. Der intermodale Ansatz ist kein Postulat zur Integration aller Künste mit ihren existentiellen Manifestationen. Er betont durch seine interdisziplinäre und intermodale Ausrichtung sowohl die Sensibilität für das Gemeinsame als auch die Differenzen, selbst wenn es dabei zu Widersprüchen kommt. In gleichem Maß wendet sich die Kritik gegen eine ungebührliche Eklektik in den künstlerischen Therapien, die aus einer oberflächlichen Integra­ tionstendenz heraus Differenzen und Widersprüche überspielt. So kommt es bei dieser Art Eklektik vor, dass frisch-fröhlich nach verschiedenen Meta­ theorien drauflos gedeutet wird. Man spricht zum Beispiel bei einem Bild von »der Energie«, die in diesem Rot stecke; einer Energie, die sich nicht recht entfalten könne, weil dieses Braun und Schwarz, links oben, es irgendwie in Schach hielten; wobei eventuell auch einmal beigefügt wird, dass es aussehe, wie wenn das Es durch starke Über-Ich-Kräfte unterdrückt würde. Innerhalb der Expressive Arts jedoch soll sich das Gespräch um Farbe und Struktur handeln. Es könnte also von diesem Rot gesprochen werden als sich ausdehnendes Band, von oben ausgehend in gesättigtem Purpur bis in Karmin aufhellend, wie es sich nach unten ergießt; und wie die scharfen Kanten, gebildet durch das Rot und den fast schwarzen Hintergrund, durch die sepiabraunen, ornamentalen Ranken aufgeweicht werden, die wie stilisierte Traubenranken nach dem Schneiden aussehen; und davon, was sich da noch alles überraschend im Werk entbirgt und im Prozess sichtbar wurde. Der durch die kunst- und ausdrucksorientierte Praxis gegebene körperlich-sinnliche Ansatz kritisiert Ansätze, die ausschließlich kognitiv sind, wie beispielsweise die rational-emotive Therapie (Ellis und Grieger, 1979). Sie legt jedoch besonderen Wert auf die kognitive Lernerfahrung innerhalb der künstlerischen Bewältigung der gestellten Aufgabe. Diese ist eine direkt erlebbare, sinnliche, was sich meist auch in der Stimmung und dem Körpertonus des Klienten zeigt. Die kunstorientierte Spielraumerweiterung lässt Sinn-, Handlungs- und Denkstrukturen entstehen, die genutzt werden können. Wir erfahren auch, dass Klienten aus dem künstlerischen Prozess so ­etwas wie Hoffnung gewinnen können. Ein Hoffnung-Schöpfen aus der Erfahrung, dass im Hin-zum-Werk stets etwas hin zur Vollendung zieht. Man kann das teleologisch verstehen als ein Sinnfinden in der Schönheit des fer­ tigen Werks (Knill, 2004b, S. 269–284). Künstlerisches Gestalten wird als ein Existential angenommen. Damit ist eine Ressourcenorientierung angebahnt, weil Existentiale implizit dem Gesunden zuzuordnen sind. Die kunst- und ausdrucksorientierte Methode kritisiert deshalb eine Praxis, die sich einseitig an der Pathologie orientiert. Die

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kunstorientierte Methode hat in ihrer Entwicklung auch bei der Bearbeitung der Pathologie Anwendung gefunden, wobei allerdings schon in frühen Publikationen vom »Ansteckenden« der Gesundheit im künstlerischen Tun gesprochen wurde (McNiff, 1988, S. 31–40; 1981, S. 29–45). Beim Schritt zur Lösungsorientierung (siehe Kapitel 2) wurde dann dieser ressourcenorientierte Aspekt hervorgehoben. Die bildnerische oder szenische Darstellung des Schmerzes beispielsweise mutet nicht nur schmerzlich und leidvoll an, sondern berührt auch durch die Schönheit des Werks (Picassos »Guernica«, Käthe Kollwitz, die Passionsspiele und Oratorien). Historisch gesehen war diese Einsicht, die zur Formulierung der »nährenden« Schönheit führte, ein Schritt hin zur Ressourcenorientierung. Später ist dann die Hinwendung zur Lösungsorientierung geschehen. Die klassische, tiefenpsychologische Kunsttherapie hat Kunst ebenso wie alle anderen Imaginationsphänomene ausschließlich vom Symbolgehalt her gedeutet, und zwar auf dem Hintergrund einer auf Pathologie bezogenen Narration. Die werkbezogene Richtung der künstlerischen Therapien nimmt die künstlerische Produktion als kreative Leistung, unabhängig vom Inhalt, und würdigt diese Tatsache. Die kunst- und ausdrucksorientierte Praxis betrachtet das künstlerische Handeln als diszipliniertes Spiel in kulturellen Traditionen. Dieser Ansatz ­öffnet sich damit kulturanthropologischen Überlegungen. Kulturell verankerte Lebenszyklen und Seinsweisen nehmen meist rituelle künstlerische Formen an, wie beispielsweise Taufe, Vermählung, Totenfeier. Die kulturelle Öffnung ist in der Kunsttherapie auf diese Weise angelegt. Die Beachtung dieser Traditionen ermöglicht dem Individuum, sich im Kontext des Gemeinsamen zu sehen. Der Klient ist damit nicht ausschließlich seinem Selbstausdruck ausgeliefert. Er begegnet dem anderen und distanziert sich damit im kulturellen Rahmen von der einseitigen Ich-Sicht. Daraus ergibt sich eine Kritik an Ansätzen, die losgelöst vom kulturellen Zusammenhang arbeiten oder die rituelle Muster aus klientenfremden Kulturen unsensibel einsetzen wie beispielsweise der Einsatz eines japanischen Geisterrituals aus der ­Shinto-Tradition zur Bannung »negativer Energien« in einem Team­entwicklungsauftrag einer Organisation, die einer europäisch-christlichen Tradition verpflichtet ist. In der kunst- und ausdrucksorientierten Praxis gehen wir bei der Wahl der Gestaltungsmittel vom Klienten aus. Wir berücksichtigen dabei, dass er zu gewissen Mitteln mehr Zugang hat als zu anderen, und man nimmt diese Tatsache ernst. Man traut dem Klienten zu, dass er mit seinen eigenen Ressourcen zu einer Gestaltung Zugang findet, und betont damit sein Ex­ pertentum. So wird zum Beispiel einer Klientin, die mit Musik nur negative schulische Erfahrungen gemacht hat, der Zugang dazu ermöglicht durch das Herstellen von Installationen oder Skulpturen, die auch klingen können.

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Aus dieser Haltung heraus nimmt die kunst- und ausdrucksorientierte Praxis aber auch eine kritische Position gegenüber den Methoden ein, die sich nach den Defiziten der Klienten richten. Mit der Tatsache, dass das entstehende Werk eine dritte Größe darstellt, eröffnet sich grundsätzlich ein erweiterter Handlungsspielraum. Die Situation zu zweit wird in ihrem geschlossenen Dialog aufgebrochen durch das als Drittes in Erscheinung tretende Werk. Damit werden Formen kritisch hinter­ fragt, die sich ausschließlich auf die Intimität der Zweier-Begegnung in der Therapie abstützen. Das sich zeigende Werk ist letztlich in seinem Entstehen nicht im Detail kontrollierbar, das heißt, wir lassen uns auf einen Prozess ein, wo Über­raschendes nicht nur möglich wird, sondern auch erwünscht ist. Eine solche Haltung wiederum widerspricht allen therapeutischen Vorgehensweisen, die auf einen machbaren (herstellbaren) therapeutischen Erfolg tendieren, so wie es in kognitiven oder rein verhaltensorientierten Ansätzen oft der Fall ist.

8.3. Die lösungsfokussierende Praxis und ihre Denktradition Die lösungsfokussierende Beratung ist ein markanter Schritt in Richtung Mündigkeit des Klienten. Er wird als Experte für sein eigenes Leben angesehen. Wird eine solche Aussage nicht nur deklariert, sondern auch praktiziert, hat das Auswirkungen auf die Position des Beraters. Bevor wir uns jedoch diesem Thema und damit der Praxis der Lösungsorientierung zu­ wenden, eine kurze historische Rückblende auf die Anfänge der Psychoanalyse und deren Verständnis der Arzt-Patient-Beziehung, die für die damalige Zeit grundsätzlich neu war. Lorenzer (1984) beschreibt die Situation in der Wiener Psychiatrie, als Breuer und Freud mit Aufsehen erregenden Fallberichten und Thesen an die Öffentlichkeit traten. Es ist das Wien am Ende des 19. Jahrhunderts, eine Zeit, die u. a. durch eine starke Hierarchisierung gekennzeichnet war. Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten werden die so genannten »nervenkranken« Menschen nun fast durchgehend als krank angesehen. Die ganze Autorität liegt somit beim Arzt, der zwar noch sehr wenig weiß über die Krankheitsbilder, mit denen er konfrontiert ist, sich aber dennoch mit einer Aura von Wissenschaftlichkeit umgibt. Er ist die Person, die spricht, vielleicht einige Fragen stellt und dann Anweisungen erteilt. Der Patient redet nur, wenn er gefragt wird. Im Übrigen schweigt er. Freuds »analytische Redekur«, die sich später zur Psychoanalyse entwickelte, bringt in dieser Hinsicht eine markante Wende. Hier ist es vor allem der Patient, der spricht. Der Analytiker sitzt hinter ihm, hört zu und schweigt

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mehrheitlich. Lorenzer vermutet, dass die Umkehrung dieser Machtverhältnisse viel mehr zur Ächtung von Freud und seiner Methode in der Wiener Psychiatrie beigetragen hat als die Behauptung der Existenz einer frühkindlichen Sexualität. Kritisch anzumerken wäre, dass die »Umkehrung der Machtverhältnisse« aus heutiger Sicht wohl nur als eine vordergründige beschrieben werden müsste. Der Analytiker dieser Generation schweigt zwar, doch weiß er, dass er es besser weiß als sein Patient. Dies ist in der lösungsorientierten Therapie nicht mehr der Fall. Sie geht damit einige Schritte weiter, als Freud damals gegangen ist. Der lösungs­ orientierte Beratungsansatz betrachtet den Klienten in einem bestimmten Sinn als Experte innerhalb seiner Situation. Sie macht diese Expertise sichtbar und unterstützt sie zur Lösung der anstehenden Probleme und Schwierigkeiten.

Das verhaltensorientierte Vorgehen nach Steve de Shazer Erste Anfänge Mitte der 1970er Jahre begann ein kleines Team von Familientherapeutinnen und -therapeuten um Steve de Shazer in Milwaukee/USA, sein Engagement und seine Innovationsfreude auf wirkungsvolle therapeutische Interventionen auszurichten. Das Vorgehen war pragmatisch. Die Gruppe nahm Anmeldungen zur Therapie entgegen von Patienten aus verschiedenen Kulturen (Einzelne, Paare, Familien) mit Problemen aus dem klinischen, sozialen, päd­agogischen oder dem Suchtbereich. Ein Teammitglied arbeitete jeweils mit den Klienten, während andere hinter dem Einwegspiegel saßen. Viele Sit­ zungen wurden mit Video aufgezeichnet. Nach der Kontaktaufnahme und einer ersten Gesprächsphase wurde die Sitzung jeweils unterbrochen. In der Pause tauschten die beteiligten Fachpersonen ihre Ein­drücke aus und erarbeiteten eine möglichst wirkungsvolle Intervention. Das als Therapeut funktionierende Teammitglied führte die Intervention durch und beendete die Sitzung. Beim nächsten Mal wurde die Wirkung der Intervention überprüft. Wenn eine Intervention nützliche Ergebnisse zeigte, wurde sie auch bei anderen Klienten eingesetzt. Ergab sich daraus so etwas wie ein Muster einer effektiven Interventionsart, versuchte das Team dies theoretisch zu erklären. Daraus ergaben sich theoretische Aussagen und mit der Zeit ein Theorie­ gebäude, das sich langsam von den damals vorherrschenden anderen Modellen entfernte und in der Folge verfeinert und weiterentwickelt wurde.

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Praxisforschung Aus dieser Vorgehensweise heraus ergab sich folgerichtig, dass Zeit für die spezielle Praxisforschung reserviert wurde. Diese konzentrierte sich ab 1982 auf Beobachtungen, wonach sich Aufgaben, die den Klienten verschrieben wurden, unter bestimmten Umständen als sehr hilfreich und nützlich er­ wiesen, auch wenn sie sich überhaupt nicht auf das berichtete Problem be­ zogen (z. B. Gingerich und de Shazer, 1991). In einem anderen Forschungsprojekt zeigte sich, dass sich bei über einem Drittel aller Angemeldeten zwischen dem Zeitpunkt der (meist telefonischen) Anmeldung und der ersten Sitzung spontane Verbesserungen in der Problematik ergaben. Das Resultat erstaunte. Es konnte in Erstgesprächen in Interventionen einfließen, die genau auf diesen spontanen Verbesserungen aufbauten. Systemtheoretische Basis Die Mitglieder des Milwaukee-Teams kamen aus der systemisch orientierten Arbeit mit Familien. Sie waren zu Beginn stark beeinflusst durch die Arbeitsweise des Mental Research Instituts (MRI) in Palo Alto, Kalifornien, und seine Exponenten Bateson (z. B. 1981), Satir (z. B. 1975), Watzlawick (z. B. Watzlawick, Beavin und Jackson, 1969) u. a. In einem Interview berichtet Insoo Kim Berg, die Partnerin von de Shazer, dass ursprünglich beabsichtigt war, im Mittleren Westen der USA ein zweites Palo-Alto-Institut aufzubauen. Diese Idee zerschlug sich recht bald, da die minutiösen Beobachtungen des Teams zeigten, dass die damals vorherrschenden Theorien des MRI sich längst nicht in allen Fällen bestätigten. Diese weit­gehend vorurteilsfreie Beobachtungspraxis im Team wurde durch die Tatsache ge­fördert, dass die Mitglieder aus sehr unterschiedlichen Erstberufen stammten. Insoo Kim Berg war ursprünglich Apothekerin, Steve de ­Shazer Musiker und Maler. Die anderen Teammitglieder der ersten Stunde kamen aus der Linguistik, der Soziologie und der Pädagogik. Alle hatten später therapeu­tische Grundausbildungen gemacht; viele mit einem psychoanalytischen Hintergrund. Sehr beeindruckt waren sie alle von der Arbeitsweise und den Therapieerfolgen von Milton Erickson (z. B. Rosen, 1985). Auch die in diesem Buch beschriebenen ressourcen- und lösungsorientierten Vorgehensweisen sind in ein systemisches Grundverständnis eingebettet. Abschnitt 6.3. gibt Einblick in die entsprechenden Zusammenhänge. Erste Veröffentlichungen der gemachten Erfahrungen und Beobachtungen erregten in der Fachwelt rasch Aufsehen (z. B. de Shazer, 1982). Die detaillierte Beschreibung des Vorgehens erzeugte aber bald auch Missverständnisse. Die sich zum Teil wiederholenden Interventionen wurden zusammen mit der hohen Erfolgsquote als Rezepte verstanden und die Vorgehensweise

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in der Folge teilweise als rigid oder sogar mechanistisch qualifiziert. Im erwähnten Interview distanziert sich Insoo Kim Berg mit aller Deutlichkeit von einem solchen Verständnis. Die Beschreibungen des Vorgehens und die gemachten Überlegungen mögen zwar auf den Leser einfach wirken, das Vorgehen selbst jedoch ist dies keineswegs. Das therapeutische respektive be­ raterische Gespräch ist eine derart komplexe Aktivität, dass diese niemals auf einzelne Schritte reduziert werden kann. Um Leserinnen und Lesern, die mit dem lösungsfokussierenden Beratungsansatz nicht vertraut sind, einen Einblick in diese Arbeitsweise zu geben, werden im Folgenden einige grundsätzliche Annahmen und Haltungen vorgestellt. Es wird dabei nicht eine Vollständigkeit der Beschreibung oder gar Würdigung der Arbeit des Milwaukee-Teams angestrebt. Wir greifen heraus, was uns zentral scheint, sich in unserer praktischen Arbeit bewährt hat und was für die Entwicklung des Intermodalen Dezentrierens von Be­ deutung war. Wer an der klassischen lösungsorientierten Beratungs­methode interessiert ist, sei auf die zahlreiche Fachliteratur verwiesen (z. B. de Jong und Berg, 1998; Bamberger, 1999).

Annahmen, Grundhaltung und ein Missverständnis Zentral ist alles, was funktioniert Der lösungsfokussierende Ansatz ist gekennzeichnet durch eine fast kompromisslose Hinwendung zu dem, was funktioniert, und – im Gegenzug – eine mehr oder weniger starke Abwendung von allem, was problematisch und schwierig ist. Sprachlogisch weisen die Begründer dieses Arbeitsansatzes darauf hin, dass bei der Benützung des Wortes »Problem« die Möglichkeit einer Lösung beziehungsweise die Existenz einer »problemfreien Zone« immer mitgedacht ist. Die Bedeutung dieser Art von Fokussierung der Aufmerksamkeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie widerstrebt sowohl den Gewohnheiten im Alltag als auch sehr vielem, was die westliche Beratungstradition bisher auszeichnete. Im Alltag und in der professionellen Arbeit sind wir hellhörig gegenüber Schwierigkeiten und Problemen, mit denen wir konfrontiert werden. Das gilt für den Umgang mit uns selbst und den Menschen unserer näheren Umgebung ebenso wie für die professionelle Praxis. Leidende und Menschen, die sich uns problembeladen präsentieren, verdienen unsere Aufmerksamkeit. Sowohl die westliche Kultur als auch die professionelle Tradition gebieten, sich als Helfer dem Leiden respektvoll zu nähern, es kennen zu lernen und es in seiner ganzen Verflochtenheit, seiner Tiefe, seinem Ursprung

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und seinen Auswirkungen zu ergründen. Das führt so weit, dass sich manche Menschen auf der so genannten Schattenseite des Lebens weitgehend oder fast ausschließlich durch ihr Leiden definieren und sich dadurch in einer gewissen Weise auch profilieren. Nicht ihre vielleicht bescheidenen Fähigkeiten und Begabungen sind für sie wichtig, nicht das, was sie trotz Problemen und Schwierigkeiten noch zu leisten imstande sind, und schon gar nicht die Freuden, die sie erleben, geben ihnen Bedeutung, sondern ihre Problematik mit ihren mannigfaltigen Auswirkungen, ihr Leiden und ihre Schmerzen. Es scheint plausibel, dass in unserer westlichen Welt das Christentum ­seinen Teil zu dieser Kultivierung des Leidens beigetragen hat. Es ist auch plausibel, dass sich Menschen im Allgemeinen intensiver mit ihrem Leiden, ihren Schwierigkeiten, Problemen und Störungen auseinandersetzen als mit ihren Stärken und Fähigkeiten oder mit dem, was oft in einer fast selbstverständlichen Art und manchmal völlig unbeachtet in ihrem Leben gelingt. Diese kulturell bedingte und in vielen Teilen scheinbar natürliche Tendenz ist durch das traditionelle naturwissenschaftliche Denken innerhalb von Beratung und Therapie unterstützt worden. Aufbauend auf dem westlichen strukturalistischen Denken, welches das, was begegnet und sichtbar oder hörbar ist, lediglich als oft trügerische Oberfläche betrachtet und »das Eigentliche« und »das Wahre« hinter der Oberfläche, »in der Tiefe« ver­ mutet, muss ein Leiden tiefgründig erfasst und verstanden werden, wenn man es behandeln will. Es gilt, zum »Kern« vorzustoßen, zur »Ursache« dessen, was man »Symptom« (Anzeichen, Kennzeichen, Vorbote) nennt, wenn man wirksam eingreifen will. Dies alles hat bei uns und bei unseren Klienten Wirkungen hinterlassen. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass die meisten von uns sehr viel ausführ­ licher, detaillierter und differenzierter über ihre Schwierigkeiten und Probleme sprechen können als über Stärken, Fähigkeiten und das, was gelingt. Daraus kann man wohl schließen, dass die meisten Menschen unserer Kultur recht unwissend sind über die Ressourcen, die sie zur Verfügung haben. Das zeigt sich fast durchgehend in der täglichen Beratungspraxis. Nicht nur psychologisch Uninteressierte – auch psychologisch sensiblisierte Menschen sind sich ihrer Stärken wenig bewusst und wissen wenig über die Hintergründe dessen, was in ihrem Leben in selbstverständlicher Weise funk­ tioniert. Wenn nun ein Arbeitsansatz daherkommt, der sich fast ausschließlich auf Ressourcen und Stärken konzentriert und vor allem an dem interessiert ist, was gelingt, löst dies Überraschung aus und kann unter Umständen als Affront verstanden werden: »Wird hier der Ernst meiner Situation übersehen?«, könnte ein Klient denken. »Wird die Komplexität der Pro­blemsituation in oberflächlicher Weise negiert?«, könnten Fachleute vermuten. Aus unserer

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Sicht ist hervorzuheben, dass der Beziehungspflege in der lösungsfokussierenden Praxis große Beachtung geschenkt werden muss und dass die Fokussierung auf Lösungen nicht einfach ein methodisches Vor­gehen neben anderen, sondern für die Fachperson mit einer sehr grundsätzlichen Umstellung der therapeutischen Haltung und Arbeitsweise verbunden ist. Die Ausrichtung des beruflichen Handelns auf Ressourcen und Lösungen hat folglich in verschiedenen Arbeitsbereichen große Auswirkungen auf das Berufsverständnis des Beraters. Die therapeutisch tätige Fachperson zum Beispiel wird neu Experte für die Aktivierung von Ressourcen und die Moderation von Heilungsprozessen. Sie bleibt zwar professioneller Therapeut oder Supervisor etc. Doch der Anspruch, Experte für Störungen und Pathologie zu sein, entfällt. Das ist besonders ungewohnt für Professionelle, die im Feld der Medizin arbeiten, und auch schwierig für viele Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die zum Beispiel in Multi-Problem-Situationen gewohnt sind, selbst Verantwortung zu übernehmen und Probleme für ihre Klienten zu lösen. Alle professionellen Berater stehen neu vor der Aufgabe, »Experten der anderen Art« zu werden, die Menschen befähigen können, eigene Lösungen zu finden. Der Klient ist Experte seines Lebens Dieser Satz ist eine logische Folgerung aus dem oben Ausgeführten. Wenn ich als Fachmann auf das fokussiere, was funktioniert, so ist das, was ich suche, beim Klienten und in seiner Umgebung zu finden. Die Ressourcen sind dort zu entdecken. Sie sind nicht in der Fachperson, in deren Wissen oder in Fachbüchern zu finden. Auf diese Weise wird der Klient zum Experten, selbst wenn er persönlich davon nichts weiß und schon gar nicht sein Expertentum zu nutzen versteht. Er ist Experte für das, was ihm wichtig und bedeutsam ist. Er weiß oder er muss herausfinden, was für ihn Sinn ergibt. Er hat erlebt, was sich bei ihm bewährt, was funktioniert und was sich nicht bewährt, selbst wenn er sich nicht mehr daran erinnert oder gar nicht besonders darauf geachtet hat. Diese Art von Expertentum wird ihm zugemutet. Eine solche Grundhaltung kann für Klientinnen und Klienten sehr be­ freiend wirken. Nicht selten begegnet ihr der Klient jedoch mit Ungläubigkeit und Verwirrung.3 Er ist als vermeintlich Hilfloser in die Praxis gekommen, als einer, der sich der Problematik ausgeliefert fühlt. Er erlebt sich als leidend, als ausgegrenzt, als unwissend und unfähig. Und jetzt wird er als Experte be3 Das ist ein weiteres Merkmal, wieso Lösungsorientierung und Kunstorientierung einander gut ergänzen: Im künstlerischen Werk erlebt der Klient hautnah sein Expertentum.

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handelt. Das ist in jedem Fall überraschend. Darauf war er nicht gefasst, als er sich zur Konsultation meldete oder die Einladung zum Beratungsgespräch erhielt. Sich in einer Beratungssituation erstmals mit dem eigenen Expertentum konfrontiert zu sehen, ist in jedem Fall gewöhnungsbedürftig. So besteht ein Teil der beraterischen Arbeit darin, dass der Klient lernt, seine Kompetenzen wahrzunehmen und wertzuschätzen. Wenn eine Ratsuchende, die eine Problemsituation zur Sprache gebracht hat, sich zum Beispiel aufgrund einer Ausnahme-Frage daran erinnert, eine ähnliche Situation früher einmal erfolgreich bewältigt zu haben, reagiert sie oft mit Erstaunen und Erleichterung. Die Gesichtszüge entspannen sich, ein Strahlen erhellt vielleicht das Gesicht, die Körperhaltung wird lockerer. Nicht selten ist diesem Erstaunen aber Ungläubigkeit oder gar eine Dosis Abwehr beigemischt: Damals war die Situation doch deutlich anders, die beteiligten Personen waren wohlwollender oder sie hatte eben einfach Glück gehabt etc. Mit Milton Erickson (in Bamberger, 1999/2005, S.  22) darf davon aus­ gegangen werden, »dass es keine Person gibt, die ihre wahren Fähigkeiten je kennt«. Experte für sein eigenes Leben zu sein ist deshalb immer ein Stück weit eine Zumutung. Klienten werden aus dieser Haltung heraus als Mündige angesprochen. Und selbst wenn sie dies im Grunde genommen suchen, ist es in vielen Situationen nicht einfach zu ertragen. Die eigene Mündigkeit bedeutet in jedem Fall Verantwortung im Sinne der Selbstverantwortung. Sie kann oft nicht in ihrem ganzen Ausmaß ohne weiteres übernommen werden, so dass während einiger Zeit Begleitung und Stützung notwendig sind. Grundsätzlich behandelt der lösungsfokussierende Ansatz Klienten demnach als Täter und nicht als Opfer, auch wenn eine solche Formulierung unter bestimmten Umständen an ihre Grenzen stoßen mag. Der Gedanke, Täter und Gestalter seines Lebens zu sein, kann für bestimmte Menschen aus kulturellen, sozialen und individuellen Gründen schwer zu ertragen sein. Dem muss in der Beratung Beachtung geschenkt werden. In unserem Kulturkreis ist etwa an bestimmte Formen von Religiosität zu denken, in denen Leiden und Probleme als gottgewollt verstanden werden. An Grenzen stößt die postulierte Selbstverantwortung in jedem Fall bei Kindern, bei Hochbetagten sowie bei bestimmten Behinderungen etc. Auch für den Berater ist eine Haltung, die den Klienten zum Experten macht, nicht einfach zu leben. Er steht nicht nur vor der Aufgabe, dieses Expertentum immer wieder zu beachten, sondern muss auch die Art seines eigenen Expertentums neu definieren. Die traditionelle Auffassung, wonach der Berater als Experte für Problemlösungen nach einer fachkundigen Pro­ blemanalyse Lösungen zu finden und zu implementieren hat, die logisch mit dem Problem verknüpft sind, ist nicht mehr haltbar. In der neuen Sichtweise ist er weder Experte für Probleme noch für Lösungen. Er wird Experte für den Prozess, der Menschen befähigt, sich über ihre Ziele, Bedürfnisse,

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Ressourcen und Fähig­keiten klar zu werden und dieses Wissen4 konkret umzusetzen. Metaphorisch gesprochen werden Lösungen nicht im Beratungsprozess erzeugt oder gar durch den Berater geliefert, sondern sind vorher schon im Klientensystem vorhanden. Es geht also in der professionellen Beratungs- und Therapie­situation darum, Lösungen zum Durchbruch zu verhelfen. Umgekehrt werden auch Probleme nicht einfach als Hindernisse verstanden, sondern als Bedürfnis nach Veränderung oder Notwendigkeit dafür. Relativ einfach dürfte diese neue Form des beraterischen Expertentums in einer Situation zu konkretisieren sein, die als Supervision oder Coaching definiert ist. Hier wird in der Regel nicht erwartet, dass der Berater in allen bedeutungsvollen Aspekten mehr weiß oder mehr kann als sein Klient. Hin­ gegen wird erwartet, dass er die vorhandenen Möglichkeiten und Ressourcen nutzen und fördern kann und in der Lage ist, den Prozess in einer Weise zu unterstützen, dass der erwartete Erfolg eintritt. Sehr viel ungewohnter und darum wohl auch schwieriger ist es, das Expertentum des Klienten in Beratungssituationen umzusetzen, die traditionel­ler­ weise sehr hierarchisch strukturiert sind – wie man sie teilweise in der Medizin, in der Seelsorge und in Führungsgesprächen findet – oder wo der Klient in einer Situation ist, die den Berater indirekt auffordert, selbst »das Heft in die Hand zu nehmen«. Dies betrifft besonders junge oder besonders alte Klien­ten, Schwerbehinderte und Abhängige. Gelingt es Fachleuten, auch hier angemessene Formen zu finden, wird oft über erstaunliche Erfolge berichtet. Wir stoßen hier an die Grenzen einer beraterischen Grundhaltung, die auf einem Expertentum des Klienten basiert. Im einen Fall sind es Grenzen kultureller und institutioneller Art, die unter Umständen mit Vorteil für alle Beteiligten aufzuweichen wären. Im zweiten Fall stehen Grenzen der körper­ lichen, psychischen und geistigen Kapazität des Klienten im Vordergrund, die vom Berater entsprechende Adaptionen verlangen. Probleme sind nicht starr mit Lösungen gekoppelt In den ersten Veröffentlichungen von de Shazer und seinem Team, die ins Deutsche übersetzt worden sind, hat diese Grundannahme viel Aufsehen erregt. Sie widerspricht der traditionellen Meinung, wonach nur Vorgehenswei­ sen, die speziell auf das Problem zugeschnitten sind, nachhaltigen Erfolg brin4 Der Einbezug des künstlerischen Ausdrucks und des Spiels – wie es für das Intermodale Dezentrieren IDEC® typisch ist – macht deutlich, dass es dabei nicht einfach um rationales, kognitives »Wissen« in der traditionellen, Auffassung geht, sondern um andere Formen des Wissens (körperliches Wissen, sinnliches Wissen etc.), deren Wahrnehmung und Einbezug ebenso wichtig oder in bestimmten Situationen und bei bestimmten Menschen sogar wichtiger sind.

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gen können. Aus diesem Grund wird in einzelnen Beratungsbranchen ein großer diagnostischer Aufwand betrieben. Es herrscht dort die Meinung vor, dass erst nach einer detaillierten Erfassung der Problemsituation ein angemessener, sozusagen maßgeschneiderter Lösungsweg erarbeitet werden könne. De Shazer hat dagegen gezeigt, dass Lösungen oft viel einfacher strukturiert sind als das Problem. Die tägliche Beratungserfahrung bestätigt dies. Allerdings kann de Shazers Formulierung missverstanden werden. Der lösungsfokussierende Arbeitsansatz sucht nicht nach einer bestimmten, einfachen Lösung, die das Problem ein für alle Mal beseitigt. Es geht vielmehr um Interventionen, die den Klienten anregen, erste Schritte zu unternehmen, die in Richtung einer Lösung führen und schlussendlich zu einer Situation, in der die Problematik nicht mehr existiert. Es geht um das Anstoßen eines nachhaltigen Lösungsprozesses. Gelingt dies, das heißt, ist durch einen ersten Schritt ein erster – vielleicht kleiner, vielleicht überraschend großer – Erfolg erzielt, geht der Prozess oft selbsttätig weiter und muss nur noch begleitet und bestätigend unterstützt werden. So lange, bis die Problematik gegenstandslos geworden oder so ist, dass sie gut ertragen werden kann. Sind die Bedingungen im Umfeld jedoch ungünstig oder ist das Selbstwertgefühl stark beeinträchtigt, so erfordert der Lösungsprozess eine intensivere, unter Umständen lang andauernde Unterstützung von professioneller Seite. Die lösungsfokussierenden Anfangsinterventionen der Fachperson mögen auf Außenstehende unüblich und einfach wirken, sind aber in der konkreten Situation keineswegs einfach zu realisieren. Auch die Verhaltens- oder Einstellungsänderung des Klienten, die den ersten, nachhaltigen Schritt in Richtung Lösung markiert, wirkt oft überraschend einfach. Manchmal ist dann zu beobachten, dass die Erleichterung und der Erfolg dieses ersten Schrittes eine Reihe von weiteren Verhaltens- und Einstellungsänderungen nach sich zieht, die man anfänglich kaum für möglich gehalten hätte. Es ist, als wäre ein »Engelskreis« – die Umkehrung des altbekannten »Teufelskreises« – in Gang gekommen. Die Therapie oder Beratung kann in solchen Fällen meist nach zwei oder drei Sitzungen bereits abgeschlossen werden und die Nachkontrollen zeigen, dass die Veränderungen nachhaltig sind. Wegen derartiger Verläufe ist der lösungsfokussierende Arbeitsansatz in den ersten Jahrzehnten oft als »Kurztherapie« bezeichnet worden. Auf die Zukunft ausgerichtet Die lösungsfokussierende Arbeitsweise betont die Zukunftsausrichtung des Menschen, wobei eine erwünschte, positiv imaginierte Zukunft im Vordergrund steht. Das heißt nicht, dass die Bedeutung des Vergangenen oder die Wichtigkeit dessen, was im Moment gerade passiert, negiert würde. Doch wird auch hier auf die Ressourcen fokussiert. Die Erfolge oder Teilerfolge der

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Vergangenheit werden erfragt und hervorgehoben. Es sind einmalige oder seltene Ausnahmen innerhalb von Problemzuständen, bisher wenig beachtete oder soeben in der Beratungssituation sichtbar gewordene Stärken und Fähigkeiten. Das Zukünftige wird betont, weil eine möglichst konkret beschriebene, erstrebenswerte Zukunft eine starke Antriebskraft dafür ist, dass jemand bewusst Schritte in etwas Neues hinein wagt. Das Gespräch selbst nimmt eine andere Wendung. Es bewegt sich heraus aus dem Gebiet der Pathologie, des Leidens, der Probleme und hinein in das Gebiet möglicher Lösungen. Die Zukunftsvorstellungen vieler Klienten sind vage, allgemein und ungenau. In schwierigen Lebenssituationen verbieten sich Menschen manchmal, überhaupt an eine erstrebenswerte Zukunft zu denken. Für andere Klienten ist es sehr ungewohnt, etwas zu phantasieren, von dem man nicht weiß, ob es je eintreffen wird. In der Beratung gilt es darum, animierend, aber vorsichtig und wertschätzend, Schritte in eine imaginierte Zukunft anzuregen. Und vor allem, diese Imaginationen so konkret wie nur möglich zu formulieren oder künstlerisch auszudrücken. Mit dem Gespräch über Zukünftiges bewegen wir uns in der Welt der Imagination oder, wie es im Zeitalter des Computers heißt, des Virtuellen. Das kann lustvoll, doch auch beängstigend sein. Der Berater, der selbst Freude am Imaginativen hat und sich gleichzeitig sehr genau und wertschätzend den Reaktionsmöglichkeiten des Klienten anpasst, dürfte die besten Chancen haben, seinem Gegenüber die Kraft positiver Visionen zu erschließen. Der de Shazer’sche Ansatz ist stark am konkreten Verhalten interessiert aus der Beobachtung heraus, dass eine konkrete Verhaltensänderung eine große wirklichkeitsgestaltende Kraft ist; dies aber nur, sofern sie mit einer entsprechenden Bedeutungsänderung verbunden ist. Diese Aufmerksamkeit aufs Verhalten geht mit einer Vorliebe für Experimente einher, welche probeweise Schritte in eine neue Zukunft darstellen. »Wären sie bereit, auf ein kleines Experiment einzusteigen?« Diese oder eine ähnliche Anfrage wird im Hauptteil einer Beratungssitzung gestellt, worauf das in Aussicht gestellte Experiment gleich durchgeführt wird. Die Frage kann auch am Schluss einer Beratungssitzung gestellt und dem Klienten das Finden der Antwort als eine Art Hausaufgabe mitgegeben werden. Sich auf Experimente einzulassen ist auch für kunstorientiertes Arbeiten typisch, was ein weiteres Mal auf eine gewisse innere Verwandtschaft dieser beiden Ansätze hinweist. Klienten wollen kooperieren – Widerstand existiert nicht Als de Shazer 1984 nach zweijährigem Hin und Her seinen Aufsatz über den »Tod des Widerstands« in der bekannten amerikanischen Fachzeitschrift

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»Family Process« (de Shazer, 1984) veröffentlichen konnte, wirbelte er mit dieser Behauptung mächtig Staub auf. Er führte aus, dass das Konzept Widerstand, das einen spezifischen Platz innerhalb des psychoanalytischen Theoriemodells hat, eine schlechte Idee ist, die die Wirksamkeit therapeutischen Tuns nicht fördert, sondern beeinträchtigt. »Widerstand« sei dem Hirn von Therapeuten entsprungen, werde nun aber in der Praxis als Realität und Faktum behandelt. Es gehe nicht an, die Schuld für nicht passende Interventionen einseitig auf den Klienten zu schieben. Therapie sei innerhalb des systemischen Denkens immer ein wechselseitiges Geschehen. Wenn Familienmitglieder zum Beispiel eine therapeutische Aufgabe nicht erledigten, so seien sie nicht einfach widerspenstig, sondern sie würden damit auf etwas reagieren, was der Therapeut getan oder unterlassen habe. Die Milwaukee-Gruppe setzt an Stelle des Konzepts Widerstand das Konzept Kooperation: »Jede Familie, Einzelperson oder jedes Paar zeigt eine einzigartige Weise des Kooperierens, und die Aufgabe des Therapeuten besteht zuerst darin, sich selbst diese spezifische Weise, die die Familie zeigt, zu beschreiben und dann mit dieser zu kooperieren und auf diese Weise Ände­ rungen zu fördern« (de Shazer, 1989b, S. 105). Es ist demnach Aufgabe der professionellen Beratungsperson, neu mit jedem Klientensystem das Passen zu entwickeln. Der lösungsfokussierende Arbeitsansatz plädiert entsprechend dafür, den Wunsch der Klienten, sich zu ändern, für bare Münze zu nehmen. Dabei wird Veränderung als kontinuierlicher Prozess jedes menschlichen Lebens verstanden und nicht als (einmaliges oder mehrmaliges) Ereignis. Lösungsfokussierendes Arbeiten setzt auch, wie bereits hervorgehoben, einen Schwerpunkt auf die Beziehungsgestaltung. Sie wird getragen von einer grundlegenden Wertschätzung der anderen Person, verlangt Echtheit vom Berater und muss offen und klar sein. Darüber hinaus verlangt sie aus un­ serer Sicht die Bereitschaft, sich vom anderen »treffen« zu lassen. Eine solche Betroffenheit erschließt nach Buber (1962) die Dimension der Begegnung. Begegnung ist nichts Zweckgerichtetes. Sie hat viel zu tun mit dem Phänomen des unmittelbar Berührt-Werdens, das öffnet und Raum schafft, und zwar immer bei beiden, bei Klient und Berater. Der Stellenwert und die Konkretisierung dieser Form von professioneller Beziehungsgestaltung werden im Lehrbuch von Bürgi und Eberhart (2004) ausführlich dar­gestellt. Ein mögliches Missverständnis: Lösung ist nicht gleich Lösung In den Jahren vor der Jahrtausendwende und den ersten Jahren danach hatte und hat das Wort »Lösung« Hochkonjunktur. Vor allem in der Politik und im Management kommt der Ausdruck sehr häufig zur Anwendung. »Wir brauchen Lösungen!«, wird betont. »Wir müssen diese Angelegenheit einer Lö-

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sung zuführen!« Die »Lösungsorientierung« wird gelegentlich in einer Art und Weise beschworen, als würde schon allein die Verwendung des Ausdrucks garantieren, dass sich alles zum Bessern wendet. Hinter diesem Wortgebrauch steht in der Regel ein Denken, das dem in dieser Veröffentlichung vorgestellten Denken in vielen Teilen widerspricht. Oft wird »Lösung« verwendet, wenn man schon genaue Vorannahmen hat, wie diese Lösung gestaltet sein muss: Sie soll diesen Kriterien genügen oder jenen Interessen dienen. Gelegentlich scheint auch die Meinung vorzuherrschen, dass es nur eine Lösung für die Problematik gebe, oder es wird nach der »idealen« Lösung gesucht. Und fast immer überwiegt die Meinung, dass man Lösungen durch ein zielgerichtetes, rationales und lineares Verfahren erarbeiten könne. Wenn wir hier von einer Lösung sprechen, so haben wir andere Vorstellungen. Erstens verwenden wir das Wort »Lösung« in einer naiven, unvor­ eingenommenen Art. Wir brauchen den Ausdruck dann, wenn die Problematik, die in die Beratung gebracht wurde, nicht mehr existiert oder so nebensächlich, unbedeutend oder alltäglich geworden ist, dass sie von den Betroffenen höchstens als Erschwernis oder als Eigenheit, aber nicht mehr als Problem wahrgenommen wird. Zweitens gehen wir nie von der Annahme aus, wir müssten nach einer einzigen Lösung suchen, als gäbe es die ideale Lösung. Die Erfahrung zeigt, dass verschiedenartigste Veränderungen auf sehr unterschiedlichen Ebenen eine Problematik zum Verschwinden bringen können. Und drittens – und das ist wohl das Wichtigste und für viele Beraterinnen und Berater Ungewohnteste – haben wir gelernt, dass sich viele Lösungen überraschend einstellen. Das, was sich als Lösung erweist, ist oft für den Berater oder den Klienten oder für beide unerwartet, nicht vorausgeahnt und schon gar nicht schrittweise hergeleitet oder erarbeitet. Das bedeutet keineswegs, dass in einer Beratungssituation nicht auch eine Lösung erarbeitet und quasi folgerichtig aus bestimmten Daten hergeleitet werden könnte. Ein solcher Weg ist durchaus gangbar. Allerdings ist dies oft schon vergeblich vom Klienten selbst oder in der Zusammenarbeit mit anderen beratenden Personen versucht worden. Überraschend erweist sich dann in der lösungsfokussierenden Beratungsarbeit und speziell im Intermodalen Dezentrieren etwas als lösend, woran bisher überhaupt nicht gedacht wurde. Der narrative Ansatz nach Michael White Wenn Menschen über sich und ihre Probleme berichten, so geschieht dies in der Regel in Form von Geschichten. Für das narrative Vorgehen, das uns durch die Arbeiten von White und Epston (z. B. 1990) nahegebracht wor-

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den ist, stehen diese Geschichten und damit die zeitliche und kontextuelle Dimension der präsentierten Problematik im Vordergrund. Ausgehend von den Überlegungen und Untersuchungen von Bateson (1981), des wohl einflussreichsten frühen Denkers der systemtheoretischen Richtungen innerhalb der Psychotherapie, begann Michael White in den späten 1980er Jahren den Geschichten, die ihm seine Klienten berichteten, stärkere Aufmerksamkeit zu widmen. Rasch fiel auf, dass Klientengeschichten durch jeweils unterschiedliche Themen charakterisiert sind. In einer Geschichte mag das Thema »Verlust« vorherrschen, in einer anderen das Thema »Unsicherheit« oder »Angst«, eine dritte ist als Tragödie ausgestaltet etc. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Art des Themas sehr stark das beeinflusst, was der entsprechende Klient als aktuell problematisch bezeichnet. White begann dieses Phänomen sowie andere Elemente der präsentierten Narrative zu erforschen. »Gute« Klientengeschichten, die den Zuhörer gefangen nehmen, enthalten nicht nur die Ereignisse respektive die Handlungen in ihrem jeweiligen Kontext, sondern sie gehen auch auf die Bedeutungen (Be-Deutungen!) ein, die den Ereignissen und Handlungen zugesprochen werden, und sie breiten die Ideen, Gedanken und Bilder aus, die der Erzähler von sich selbst und der Welt hat. Whites Beobachtungen zeigten nun, dass Menschen, die therapeutische oder beraterische Hilfe aufsuchen, oft nur über eingeschränkte, armselige Geschichten verfügen. Im Extremfall ist eine solche Klientengeschichte mehr oder weniger auf eine einzelne, internalisierte Diagnose reduziert. »Ich bin depressiv.« »Ich bin eben eine Alkoholikerin.« – Der Umstand, dass der betreffende Mensch zum Beispiel neben seiner Depression umsichtig und sorgfältig einen Gemüsegarten besorgt oder als Alkoholikerin liebevoll und treu für ein Enkelkind sorgt, wird »vergessen«, wird nicht erwähnt, ist nicht im Blickfeld der Berichterstatter. Das gilt nicht nur für Menschen, die mit einer Diagnose abgestempelt sind, sondern auch für Bewohner von Armenhäusern und Altenheimen, für Insassen von Gefängnissen und Psychiatrischen Kliniken und teilweise ihre Angehörigen ebenso wie für Angehörige von sozialen Gruppierungen, die in der Gesellschaft keine Stimme haben wie Aids-Kranke, Behinderte, soziale Randgruppen etc. Inhaltlich zeigte es sich ebenfalls, dass sich Menschen mit psychischen Problemen in ihren Geschichten meist als sehr negativ beschreiben: Sie sind wertlos, vielleicht dumm und haben es »verdient«, dass es ihnen schlecht geht. Positiv bewertete Fähig­ keiten und Eigenschaften fehlen fast vollständig. White geht es in seiner therapeutischen und beraterischen Arbeit darum, Klienten in Gespräche zu verwickeln, die positive, verschüttete oder vernachlässigte Aspekte ihres Lebens zum Vorschein bringen, und ihnen zu helfen, diese in eine neue, weniger problemgesättigte Lebensgeschichte einzu-

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bauen. Der Berater wird auf diese Weise zum Ko-Autor einer alternativen Geschichte, die wesentlich reichhaltiger ist als die ursprüngliche und auch positive Aspekte enthält und damit neue Möglichkeiten eröffnet. Durch seine Fragen will der Therapeut dem Klienten helfen, Inhalte zu finden, die ein Rüstzeug bilden können für den Aufbau einer neuen Geschichte. Gelingt dies, geht es darum, die neue Geschichte einerseits im Selbstbild des Klienten zu verankern und andererseits in seiner menschlichen Umgebung bekannt zu machen und zu verbreiten. Der narrative Ansatz ist demnach weniger auf Zielvisionen und konkretes Verhalten der Klienten ausgerichtet als vielmehr auf die Bedeutungen, welche die Erfahrungen und das eigene Verhalten für diese Menschen haben. Die Bedeutungs- und Sinngebung stehen im Vordergrund. Bedeutungen, die Menschen ihren Erfahrungen zumessen, sind in der Regel ihrerseits in Geschichten eingepackt. In Beratung und Therapie geht es darum, Klienten zu alternativen Geschichten zu verhelfen und sie zu unterstützen, dass diese auch in ihrer unmittelbaren Umgebung gehört werden. Mit einem solchen Vorgehen steht die narrative Arbeitsweise eindeutig auf dem Boden des Sozialen Konstruktionismus. Menschen leben in einer Welt von Bedeutungen. Im philosophischen Sinn handelt es sich bei dieser Welt um eine konstruierte Welt. Sie wird sichtbar in den verschiedenartigsten menschlichen Ausdrucksformen, vornehmlich aber in der Sprache. Im Alltag steht die erzählende Sprache – im Gegensatz etwa zur wissenschaft­ lichen – im Vordergrund. Damit öffnet sich ein Fenster zur mitmensch­lichen Umwelt, zu Kultur und Gesellschaft, aber auch zur Kunst im Allgemeinen und zur Poesie im Speziellen. Der narrative Ansatz kann deshalb auch als litera­rischer Ansatz verstanden werden. Später betonte White (z. B. 2000) mehr und mehr auch soziale und gesellschaftliche Anliegen. Es war ihm wichtig, den Menschen, die in der jeweiligen Gesellschaft nicht gehört werden, wieder eine Stimme zu geben. Er sprach von »re-membering« (Wieder-zum-Mitglied-Machen) als Gegensatz zur vorher erfolgten gesellschaftlichen Ausgrenzung dieses Mitglieds (»dismembering of  a person’s life«). Mit der Metapher des Vereins oder Klubs (»a club of life«) animierte er seine Klienten, die Mitgliedschaften in »ihrem eigenen Lebensverein« zu überdenken. Wie in anderen Vereinen können neue Mitglieder aufgenommen werden, alte Mitgliedschaften aufgelöst, Ehrenmitglieder ernannt oder die bisherige Mitgliedschaft bestimmter Personen für einige Zeit suspendiert werden. Whites Fallberichte zeigen, dass diese Metapher sehr nützlich ist, damit Menschen in ihrem Selbstbild und im konkreten Leben wieder mehr das Sagen haben (White, 1997, S. 22 ff.).

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Ein Blick auf das methodische Vorgehen der Lösungsfokussierung Wenn im Sinn einer Zusammenfassung ein Blick auf die verhaltensorientierte oder narrative, lösungsfokussierende Arbeit geworfen werden soll, so ergibt sich folgendes Bild: Der Fokus im beraterisch-therapeutischen Tun –– liegt auf dem Beobachtbaren und konkret Berichtbaren: Generalisierende, abstrakte Aussagen des Klienten werden durch Fragen auf konkrete Er­ fahrungen zurückgeführt. Alles, was in der Sitzung konkret beobachtet werden kann, wird genutzt; –– liegt auf dem Jetzt und dem Zukünftigen; –– liegt auf dem Veränderbaren, das heißt Handlungsspielräume, Denkspielräume, Gefühlsspielräume stehen im Vordergrund; –– liegt auf dem, was der Klient selbst verändern kann. Der Klient wird als ­aktiv Tätiger angesprochen; –– liegt auf den Stärken und Ressourcen und auf dem, was gelungen ist. –– liegt auf den Potenzen und Möglichkeiten, die in einer Situation entdeckt werden können.

Theoretische Hintergründe Systemtheorie Die lösungsfokussierenden Vorgehensweisen sind auf dem Boden der Systemtheorie entstanden. Diese Metatheorie, die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts innerhalb der Psychologie und der klinischen Praxis immer stärker beachtet wurde, setzt den Schwerpunkt nicht auf die Erforschung einzelner Teile oder Aspekte, sondern auf die Erforschung der Beziehungen ­zwischen den Teilen und die Beschreibung und Erforschung der daraus entstehenden Strukturen und Prozesse. Sie pflegt deshalb innerhalb des Mög­ lichen einen ganzheitlichen Zugang zu den Phänomenen, wobei sie den Beobachter selbst ebenfalls einbezieht. Vor allem der letzte Aspekt hatte für die therapeutisch-beraterische Praxis weit reichende Konsequenzen. Begreift man das Beratungssetting nämlich als System, so kann man als Berater nicht mehr aus der Distanz heraus scheinbar objektive Aussagen über den Klienten oder das Geschehen machen oder unabhängig intervenieren. Alle Beziehungen, auch die zwischen Beobachter und beobachteter Person, müssen als Wechselbeziehungen mit Rück­ koppelungsprozessen verstanden werden. Diese Rekursivität in allem, was geschieht, betont beim Handeln das Prozesshafte und bei der Beobachtung die Perspektivität jeder Aussage.

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Auf der Basis der Systemtheorie ist ein linearer Ursache-Wirkungs-Zusammenhang nicht denkbar. Es geht immer und in jedem Fall um ein wechselseitiges Geschehen, auch wenn eine Seite der Beeinflussung ungleich stärker sein mag als die andere. Das ist ein Grund dafür, dass Ursachenforschung in systemtheoretisch fundierten Therapieformen einen relativ kleinen Stellenwert hat. Es wird wenig nach Ursachen respektive nach Schuldigen gesucht. Stattdessen rücken die Art, die Organisation der Beziehungen und deren Auswirkungen in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Kriz (z. B. 1997a, 1997b, 2006) und andere haben systemische Überlegungen mit Forschungsergebnissen aus der Chaostheorie und der Synergetik verknüpft. Dadurch sind u. a. Phänomene der Ordnung und der Selbstorgani­sa­ tion ins Blickfeld gerückt. Wir sind auf diese Gedanken bereits früher näher eingegangen (siehe Abschnitt 6.3.), da sie für das Verständnis der Prozesse, die wir beim Intermodalen Dezentrieren beobachten, als nützlich erscheinen. Humanistische Psychologie In unserem Verständnis der lösungsfokussierenden Praxis spielt das Gedankengut der Humanistischen Psychologie eine bedeutsame Rolle. In deutschsprachigen Gebieten ist dieses Gedankengut zum Beispiel durch das Gesamtwerk von Carl Rogers (z. B. 1977) und dasjenige von Virginia Satir (z. B. 1975) verbreitet worden. Beide Autoren betonen, dass die Ressourcen für Lösungen im Menschen respektive im entsprechenden sozialen System selbst liegen. Ausgehend von Humanismus und Existentialphilosophie wird in den Vorgehensweisen der Humanistischen Psychologie vor allem die professionelle Haltung und die Beziehung zwischen professioneller Person und Klient betont. Rogers und seine Personzentrierte Psychotherapie stellte den Prozess der Personwerdung ins Zentrum. Dieser verlangt von der professionellen Person sowohl ein prozessorientiertes Vorgehen als auch einen Begegnungseinsatz, die der von Buber beschriebenen »Ich-Du-Beziehung« nahekommt (Buber, 1994; Bürgi und Eberhart, 2004). Aufgrund seines Menschenbildes und der Ergebnisse seiner Forschungsarbeiten zum Therapieprozess legt Rogers ein besonderes Gewicht auf die in der Gesprächssituation beobachtbaren Haltung der professionellen Person und hier wiederum auf Aspekte wie Echtheit, Kongruenz, Empathie, Wärme und (bedingungslose) Zuwendung. Virginia Satir, die vor allem mit Familien und Paaren gearbeitet hat, betont ihrerseits die Bedeutung der Unterstützung von Faktoren wie Ganzheit, Wachstum und Selbstwert. Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie und deren Überlegungen zu professioneller Haltung und Beziehung sind eine wichtige Basis unseres eigenen Arbeitens und – aus unserer Sicht – ganz allgemein für lösungsfokussierendes Vorgehen zentral.

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Sozialer Konstruktionismus Erkenntnistheoretisch basiert die Lösungsfokussierung auf einer konstruktivistischen Sicht des menschlichen Lebens: Aussagen über die Objekte, die uns in der Welt draußen begegnen, sind nicht nur vom Standort des Beobachters abhängig, sondern die neurophysiologischen Prozesse, die wir Wahrnehmung nennen, konstruieren sie im wahrsten Sinne des Wortes und bilden sie nicht einfach ab, wie wir normalerweise irrtümlich annehmen. Diese Aussage gilt für Wahrnehmungen, aber auch für die Produkte des Denkens oder für ein Gefühl als Reaktion auf eine Erfahrung. Anders ausgedrückt: Es gibt theoretisch für jeden Sachverhalt eine unbegrenzte Zahl von Beschreibungen und Erklärungen. Heinz von Foerster (z. B. Foerster und Pörsken, 2004) postuliert darum: »Die Welt wird nicht gefunden, sondern erfunden« (1981 in Böse und Schiepek, 1989). Das menschliche Wissen von der Welt und von uns selbst ist das Resultat von Konstruktionsprozessen. Im Gegensatz zu Aussagen des Radikalen Konstruktivismus sind die Möglichkeiten für Beschreibungen und Erklärungen nicht unbegrenzt. Die Art, wie wir beschreiben, erklären und darstellen wird beeinflusst von unserer familiären Herkunft, unserer Kultur, vom Kontext, in dem wir leben, und leitet sich damit letztlich von unseren Beziehungen ab. Wissen und Erfahrung, auch wissenschaftliches Wissen, sind sozial eingebunden, das heißt kulturabhängig. Das ist in etwa die Position des Sozialen Konstruktionismus. Für ihn sind die Beziehungen die Grundlage für alles, was verstehbar ist. Dabei gilt natürlich, dass jedes Verständnis von Beziehung seinerseits wieder durch Kultur und Geschichte geprägt ist. Eine Formulierung erhält das Prädikat »wahr« oder »wirklich«, wenn sie von der Gruppe der bedeutsamen Menschen der Umgebung geteilt wird. Diese Gruppe ist ihrerseits eingebettet in die größeren Einheiten von Gesellschaft und Kultur und deren »Wahrheiten«. Wahres, ebenso wie Gutes, ist auf einen kontinuierlichen Prozess der gemeinsamen Herstellung von Sinn und Bedeutung an­ gewiesen (Gergen, 2002). Damit kommt dem Dialog bei der Konstruktion unserer Welt eine zentrale Bedeutung zu. Der Soziale Konstruktionismus ist »ontologisch stumm« (Gergen, 2002), das heißt, er macht keine Aussagen über das Wesen der Dinge. Er zerstört auch nicht die Ideen von Wahrheit, Objektivität, Wissenschaft, Moral etc. In Frage gestellt wird die Art, in der diese Begriffe bisher verstanden und in die Praxis umgesetzt wurden (Gergen, S. 49). Wenn wir dieses Verständnis von Welt und Wirklichkeit auf die Situation von Beratung und Therapie übertragen, wird rasch klar, wie bedeutsam dies ist. Im Setting von Beratung oder Therapie, eingebettet in eine tragende Beziehung, besteht die Chance, eine (neue) Wirklichkeit zu schaffen. Die Formen des beraterischen Diskurses und die Art, wie wir Ereignisse beschreiben,

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erklären und interpretieren, verändert nicht nur unsere Sicht, sondern auch unsere Handlungsmuster. »So, wie wir miteinander in Beziehung treten, konstruieren wir auch unsere Zukunft« (Gergen, S. 10). Es ist offensichtlich, dass dabei die Sprache, ebenso wie andere Formen der Kommunikation, eine zentrale Rolle spielt. Der moderne westliche Mensch hat so etwas wie eine Korrespondenztheorie der Sprache entwickelt, indem er annimmt, dass Wörter mit erlebten Wirklichkeiten korrespondieren. Im Gegensatz dazu weist der Soziale Konstruktionismus darauf hin, dass Sprache weniger Wirklichkeit abbildet als Wirklichkeit schafft. Wenn wir deshalb zum Beispiel im therapeutischen Dialog beginnen, die Dinge sprachlich einmal anders auszudrücken, liegt darin eine große Kraft. »Durch die Macht der Sprache können neue und andere Dinge ermöglicht und mit Bedeutung versehen werden. Zu dieser Erkenntnis gelangen wir jedoch erst, wenn wir unser Repertoire an alternativen Beschreibungen er­ weitern und nicht länger nach der einen, einzig wahren Beschreibung suchen« (Rorty, 1992, in Gergen, 2002, S. 84). Sprache wird in diesem Sinne zu etwas wie sozialer Aktion oder – anders ausgedrückt – zu einer Performance, die das Konstruieren einer (gemeinsamen) Welt miteinschließt. Das dürfte auch uneingeschränkt für gemeinsames künstlerisches oder spielerisches Tun Geltung haben. Damit wird der Fokus auf das In-Beziehung-Treten, das Miteinander-Sein und Miteinander-Tun, kurz: auf den Prozess gelegt. Die Atmosphäre des Dialogs, die Macht der Bedeutungsgebung, die vor allem in der gegenseitigen Bestätigung liegt, der unerschütterliche Glaube an die nicht oder wenig genutzten Fähigkeiten des Klienten und ein Aufmerksamkeitsfokus, der auf alternativen Stimmen, Möglichkeiten und Sichtweisen liegt, machen den Sozialen Konstruktionismus zu einer ausgezeichneten philosophischen Basis für therapeutisches oder beraterisches Tun, das nachhaltige Wirkungen erzeugt. Die Bedeutung der Imagination Bei fast allen uns bekannten Psychotherapien spielt der Umgang mit Imaginationen eine bedeutende Rolle. Luc Ciompi (1982) hat darauf hingewiesen, dass der Freiheitsgrad für einen Menschen im Handeln kleiner ist als im emotionalen Erleben und dieser wiederum kleiner als im abstrakt-logischen Denken. Ein Philosoph zum Beispiel, der abstrakte Gedanken ent­ wickelt, besitzt demnach den größten Freiheitsgrad, die größten Spielmöglichkeiten. Die Imagination, das gedankliche Tun-als-ob, aber auch bildliche oder akustische Vorstellungen, die alle auch die Emotionaliät einbeziehen, hat Ciompi nicht erwähnt. Es ist zu vermuten, dass deren Freiheitsgrad irgendwo zwischen Emotionalität und abstraktem Denken einzureihen wäre.

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Ein großer Freiheitsgrad erleichtert es den Menschen, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Er unterstützt den Fluss von Ideen und das Auftreten neuer Inhalte. Kritischer ist es um die nachhaltige Wirkung der imaginierten »Produkte« bestellt. Sie sind irgendwie »luftig« und können leicht »vom Wind verweht« werden. Wir können uns dessen sehr rasch bewusst werden, wenn wir an die vielen Vorsätze denken, die wir schon gefasst, aber nicht oder lange nicht verwirklicht haben. Trotzdem gilt, dass viele Veränderungen im Kopf beginnen, das heißt mit der Imagination der gewünschten Zukunft oder, wie man heute vielleicht sagen müsste, zuerst im Bereich des Virtuellen entstehen. Die nachhaltige Wirkung solcher Imaginationen kann verstärkt werden, wenn es gelingt, sie mit sinnlichen Erfahrungen, mit starken Gefühlen oder mit der Motorik, das heißt mit verändertem Verhalten zu verbinden. Sozialkonstruktionistische Überlegungen weisen darauf hin, dass Veränderungen stets mit neuer Bedeutung, neuer Sinngebung verbunden sind, ja, dass die Sinngebung vielleicht überhaupt die Nachhaltigkeit einer Ver­ änderung begründet. Michael White würde wohl anfügen, dass das Neue im Selbstbild des betreffenden Menschen verankert und zusätzlich in der näheren sozialen Umgebung des betreffenden Menschen weitergesagt, verbreitet werden müsse, wenn Gewähr bestehen solle, dass es tatsächlich Teil des betreffenden Lebens werde. In der lösungsfokussierenden Arbeit spielt Imaginatives eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich in der starken Betonung von Vorstellungen, Über­ legungen und Phantasien über eine Zukunft, in der das Problematische nicht mehr existiert. Es zeigt sich auch im allgemeinen Sprachgebrauch, in dem sehr häufig die Konditionalform verwendet wird (»Was wäre, wenn du diese neue Haltung stärker sichtbar machen würdest?«). Einige weitere, für die lösungsfokussierende Beratung typische Frageformen bedienen sich ebenfalls der Imagination. Zu denken ist an Skalierungsfragen oder an Fragen, die die Außenperspektive mit einbeziehen (»Wenn Ihre Frau da wäre, was würde sie dazu sagen?«).

8.4. Die Lösungsfokussierung und ihre Kritik an anderen Verfahren Menschen brauchen Ordnungsmuster, um mit der Welt und der großen Menge von Eindrücken umgehen zu können. Es handelt sich um Handlungsmuster, um Denkmuster und Muster von gefühlsmäßigen Reaktionen. Diese Aussage gilt für den einzelnen Menschen im Alltag und für seinen Umgang mit Problemen. Sie gilt auch für Wissenschaft und Religion.

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Die Lösungsfokussierung und ihre Kritik an anderen Verfahren

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Jedes Muster läuft Gefahr, verabsolutiert und starr zu werden. Verabso­ lutierte Muster erzeugen Tyrannei, starre »Law and Order«-Situationen oder Fundamentalismus. Erstarrte Muster sind eine Basis, auf der Pathologie und Zerstörung gedeihen. Mit ihrer Überzeugung, dass in jeder Situation auch andere als die üb­ lichen Perspektiven möglich sind, relativiert und kritisiert die Lösungsfokussierung explizit oder implizit Verfahren, die eine nicht hinterfragbare »Wissenschaftlichkeit« ihres Vorgehens in den Vordergrund stellen. Die theoretische Basis von Systemtheorie und Konstruktionismus öffnet den lösungsfokussierenden Ansatz für die Perspektivenvielfalt. Die Systemtheorie bewahrt auch davor, so genannte »typische« lösungsfokussierende Fragen als Methode rezeptartig anzuwenden. Dagegen sind die Grundhaltung der professionellen Person und ihre Flexibilität in der Prozessgestaltung umso wichtiger. Dadurch kritisiert die Lösungsfokussierung stark standardisierte, ingenieurhafte Vorgehensweisen. Sie betont im Gegenteil die Be­ deutung von Überraschungen und bemüht sich, auf solche aufmerksam zu sein. Der in der westlichen Welt bis vor kurzem in den Sozialwissenschaften und der Medizin vorherrschende Strukturalismus sucht das »Eigentliche« unter oder hinter der Oberfläche der Dinge. Berater und Therapeuten werden deshalb angehalten, sich nicht durch das Präsentierte verleiten zu lassen, sondern »tiefer« zu suchen. Der lösungsfokussierende Arbeitsansatz kritisiert diese strukturalistische Position, wie sie zum Beispiel in vielen tiefenpsychologischen Ansätzen vorherrschend ist. Er orientiert sich stark an dem, was Klienten selbst präsentieren, das heißt, er nimmt Klienten »beim Wort«. Er bewegt sich an der »Oberfläche« und bemüht sich, dass das, was sich zeigt, in einer phänomenologischen Art so konkret und reichhaltig wie möglich präsentiert werden kann. Dadurch wird die lösungsfokussierende Arbeit sehr sprachsensibel. Im sprachlichen Ausdruck offenbart sich der Denkrahmen des Menschen oder allgemeiner und philosophischer ausgedrückt: die Art seines In-der-WeltSeins. Damit wird die alltägliche, behavioristisch geprägte Auffassung kritisiert, wonach es bei einem Problem in erster Linie um Fakten gehe. Aus lösungsfokussierender Sicht geht es gerade nicht um die Fakten, sondern um die Bedeutungen, die diese Fakten für einen speziellen Menschen haben. In der Art und Weise, wie sich ein Mensch ausdrückt, manifestieren sich die Bedeutungen, die er einer Sache, einer Person oder einem Umstand zumisst. In der Beratungssituation spielt neben Mimik und Gestik der sprachliche Ausdruck eine herausragende Rolle. Spricht man in einer anderen Art über einen bekannten Gegenstand, kann nun der Zusammenhang von Bedeutung und Ausdruck in umgekehrter Weise verwendet werden: Wenn

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Die Wurzeln

ich den (sprachlichen) Ausdruck verändere, wird sich auch die Bedeutung ändern. Dieser Zusammenhang wird in der lösungsfokussierenden Arbeitsweise ausgenutzt. Indem der Berater einen Klienten nach neuen, ungewohnten Aspekten einer Situation befragt, erhält er entsprechende Antworten des Klienten. Dadurch verändert sich für diesen die Bedeutung der in Frage stehenden Situation. Damit werden indirekt Verfahren kritisiert, die das ganzheitliche Erleben von Situationen im Hier und Jetzt in den Vordergrund stellen. Die Lösungsfokussierung hält dieser Auffassung entgegen, dass durch eine veränderte sprachliche Formulierung oder allgemeiner durch ein anderes Verhalten sich auch das Erleben verändert, wodurch sich schließlich auch das, was als Faktum erlebt worden ist, ändert. Das gilt sowohl für Gegenwärtiges und Zukünftiges als auch für Vergangenes. Der Zusammenhang ist allerdings nicht ein mechanischer oder linearer. Die veränderte Formulierung löst eine Irritation aus, die die Potenz hat, die Erlebnisqualität der Erinnerung respektive das konkrete Erleben zu verändern. Die Art der Veränderung allerdings kann nicht direkt beeinflusst werden. Hat sich die Erlebnisqualität eines erinnerten, aktuellen oder sogar erwarteten Ereignisses verändert, ändert sich de facto auch dieses Ereignis selbst. Die offensichtlichste und wohl auch wichtigste Kritik gilt jedoch der Auffassung, dass in einer problematischen, schwierigen oder auch patholo­ gischen Situation das Problem, die Schwierigkeit respektive die Pathologie direkt bearbeitet werden müsse. Dass diese Haltung so dominant und fast überall anzutreffen ist, dürfte nicht nur an der zugrunde liegenden linear-mechanistischen Behandlungslogik liegen (Problem erfassen und bewerten; Ursache/n feststellen; entsprechendes Gegenmittel finden; Gegenmittel einsetzen und Problem »erledigen«, abschließen), sondern auch in der Faszination, die etwas Problematisches auf fast alle Menschen ausübt. Probleme sind ärgerlich, unangenehm oder störend. Was liegt also näher, als sie so schnell wie möglich zu beseitigen? Probleme können aber auch so drückend und belastend sein, dass sie den Menschen zwingen, sich mit ihnen intensiv zu beschäftigen. Und manchmal sind Probleme so bizarr, fremdartig und unverständlich, dass es sehr naheliegt, den Umgang mit ihnen einem Experten zu überlassen. Dies alles macht Probleme interessant und attraktiv, vor allem für Personen, die nicht direkt von ihnen betroffen sind. Die Grundprämisse der Lösungsfokussierung ist, dass die Lösung, besser: Lösendes, unabhängig ist vom Problem, so dass nicht beim Problem selbst angesetzt werden muss, sondern bei den Ausnahmen und bei den Stärken des Klienten ganz allgemein. Dies wirkt gegenüber dem oben Gesagten für viele auf den ersten Blick fremdartig. Und die Folgerung daraus, dass der Klient

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Die Lösungsfokussierung und ihre Kritik an anderen Verfahren

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selbst in gewisser Beziehung der Experte in der Problembearbeitung ist, ist gerade für Betroffene ungewohnt und keineswegs nur attraktiv. Mit dieser Folgerung kritisiert die Lösungsfokussierung den traditionellen medizinischen Ansatz. Traditionell sitzt der Berater (Mediziner) auf dem Expertenstuhl. »Er hat das ja studiert«, ist die landläufige Meinung. Im klassischen medizinischen Modell, das durchaus nicht nur in der Medizin vorherrscht, wird die Lösung außerhalb des Klienten und außerhalb der Beziehung gesucht, die zwischen Fachperson und Klient aufgebaut worden ist. Entweder sitzt die Lösung im Kopf des Beraters (z. B. in seinen Erfahrungen, seinen Kenntnisse) oder sie sitzt in einem abstrakten, übergeordneten System, z. B. in der Wissenschaft des entsprechenden Feldes. Der Bruch, den die Lösungsfokussierung in dieser Hinsicht vollzieht, ist radikal. Sie sucht die Lösung beim Klienten, in seinen Erfahrungen, seinem Erleben und in seinem (mitmenschlichen) Umfeld. Und sie gestaltet die beraterische Beziehung in einer Art und Weise, dass sich Lösungen zeigen können. In diesem Zusammenhang erhält das diagnostische Bemühen der beratenden Person einen neuen Stellenwert. An die Stelle einer fest-stellenden und damit oft fixierenden und etikettierenden Diagnose tritt die vorläufige, prozess- und kontextbezogene Diagnose. Man könnte solche Diagnosen in vielen Situationen eher als Rückmeldungen bezeichnen. Rückmeldungen können hilfreich sein, besonders wenn sie in der Form von Komplimenten gegeben werden. Diese werden im lösungsfokussierenden Vorgehen bevorzugt ein­ gesetzt. Wichtiger als alle Formen von Diagnosen und Rückmeldungen ist für die Lösungsfokussierung jedoch, dass etwas Neues in Gang kommt. Hierauf richtet sich das Bemühen der professionellen Person.

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9. Professionelle Anforderungen und Überlegungen zu Weiter- und Fortbildung

9.1. Anforderungen an die beratende Person Professioneller Umgang mit Kunst und Spiel Unsere Kultur ist nicht denkbar ohne Manifestationen des Künstlerischen. Der einzelne Mensch ist heute stärker damit in Berührung, als wir oft glauben. Um das jedoch zu realisieren, muss man Abschied nehmen von einem klassischen Bildungsideal, das die kreative Produktivität ins Zentrum stellt, und darf die heute stark zu Tage tretende rezeptive Haltung, beispielsweise im Musik- und Videobereich, nicht gleich als Konsumsucht disqualifizieren. Wer heute mit Menschen künstlerisch arbeitet, stellt immer wieder fest, dass sich auch durch Rezeption eine überraschende Fähigkeit zur Differenzierung von Struktur und Inhalt eines Kunstwerks entwickeln kann. Die Menschen sprechen von ihren Lieblingstexten, wunderschönen Filmszenen und spannenden Entwicklungen im Rap. Sie können diese nicht nur benennen, sondern auch beschreiben. Das gilt für alle Generationen, denn sie haben alle vermehrt diesen Zugriff aufs Kunstwerk. Sie unterscheiden sich nur in den Vorlieben bezüglich Stil und Gattung des Künstlerischen. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen von sich aus produktiv künstlerisch tätig werden, ohne einen professionellen Anspruch zu haben. Der Jugendliche, der die Computer-Software Photoshop braucht, um Bilder zu gestalten, ist ähnlich engagiert wie die pensionierte Person, die noch anfängt, das Jodeln zu lernen. Wir finden in allen Schichten und Generationen kaum Menschen, die sich grundsätzlich gegen diese Art der entspannenden oder aufmunternden Freude wehren. Wenn doch, sind es meist Menschen, die diese den Sinnen zugewandten Tätigkeiten aus fundamentalistischen Überzeugungen verbannen. Die Aufforderung, künstlerisch etwas an die Hand zu nehmen, stößt bei Ausbildungsteilnehmern meistens nicht auf Ablehnung. Es kommen jedoch oft Zweifel darüber auf, ob für eine bestimmte Kunstdisziplin genügend Fähigkeiten vorhanden sind. Ein Zweifel, der aus einer Schulsituation stammen kann, wo eine klar umrissene Vorstellung von Form und Struktur des künstlerischen Produkts die Ästhetik bestimmte und somit auch das Richtig oder Falsch. Aus diesem Grund gilt es hier, als Beratende konsequent die lösungsund ressourcenorientierte Haltung einzunehmen, wie wir sie im Kapitel 4 in

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Professionelle Anforderungen

Bezug auf Performance und Ästhetik erläutert haben. Wir schließen an positive Erlebnisse im täglichen Umgang mit dem Künstlerischen an, finden die individuellen Vorlieben und betonen das Spielerische. Die ersten Schritte ins künstlerische Tun, die der Laie für sich aus Begeisterung macht, sind spielerisch unbelastet vom Druck des Kunstbetriebs. Es geht also darum, das künstlerische Tun so anzusetzen, dass es gelingt. Dafür eignen sich Angebote, die in Bezug auf die manuelle Geschicklichkeit niederschwellig sind, gleichzeitig jedoch eine hohe Ausdruckskraft haben, so wie wir das unter »lowskill-high-sensitivity« eingeführt haben (siehe Abschnitt 4.6.). Wie wir gesehen haben, ist es nicht notwendig, dass die Beraterin oder Therapeutin alle Kunstdisziplinen beherrscht. Sie muss die Prinzipien kennen, welche einen künstlerischen Prozess bestimmen. Die vorgestellte intermodale Theorie und der Grundsatz »low-skill-high-sensitivity« sind eine große Hilfe, um aus der eigenen künstlerischen Erfahrung, dem sinnlich motivierten Gestalten und der Wahrnehmung des Werkprozesses heraus einen künstlerischen Prozess in einem anderen Medium zu begleiten. Voraussetzung dazu sind Workshops zum künstlerischen Handwerk, die sich diesem Thema widmen und die Teilnehmer zu eigenen Experimenten künstlerischen Schaffens in unserer Gegenwart anregen. Eigentlich üben sich die professionellen Begleiter von Veränderungsprozessen nicht nur ständig im Be­ ratungsgespräch, sondern auch in der künstlerischen Erfahrung – so wie sie in unserer Alltagskultur Raum finden kann. Sie erhöhen dadurch das Verständnis für unsere Gegenwartskunst und hoffentlich auch für deren Genuss, und sie schaffen eine engere Beziehung zum Kulturleben. Umgang mit lösungsorientierter Sprache und ressourcenorientierter Haltung Die Prinzipien einer lösungsorientierten Sprache, insbesondere die typischen Frageformen, sind nicht schwierig zu erlernen. Auch die Logik, die hinter dem lösungsorientierten Vorgehen steckt, ist leicht zu verstehen. Und doch tun sich immer wieder Angehörige von helfenden Berufen schwer damit, und zwar sowohl mit der Lösungsorientierung als auch mit der Ressourcenorientierung. Es trifft zu, was de Shazer in seinen Workshops immer wieder gesagt hat, »it’s simple but not easy«, das heißt, es ist zwar einfach, aber es ist nicht leicht, damit umzugehen. Es dürften sowohl kulturelle wie individuelle Gründe sein, die sich der Aneignung des auf Ressourcen ausgerichteten Vorgehens widersetzen: Zum einen widerspricht die Fokussierung auf Gelingendes respektive Gelungenes sowohl dem Alltagsverhalten wie auch westlicher Beratungstradition. In weiten Kreisen der Bevölkerung gilt es immer noch als unanständig, sich mit

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Anforderungen an die beratende Person

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eigenen Erfolgen zu brüsten (eigenes Leid dagegen darf in den meisten Fällen ohne weiteres weitererzählt werden). Eltern erziehen Kinder und Jugendliche in diesem Sinn. Verschiedene geflügelte Worte zeugen davon: »Hochmut kommt vor dem Fall«, »Nach em Lächli chunnt ds Bächli« (schweizerdeutsch für: »Wenn du dein Lachen zu offen zur Schau trägst, werden Tränen folgen«). Man fürchtet den Neid der Mitmenschen oder – wie es von den Chinesen gesagt wird  – den Neid der Götter. Mit den Problemen jedoch, den eigenen und vor allem denjenigen der anderen, beschäftigt man sich gern, ausgiebig und in aller Öffentlichkeit. Die westliche Beratungstradition ist zum überwiegenden Teil auf das Problematische, das Leiden fokussiert. Wenn etwas nicht gut läuft, muss man sich damit, sowie mit den Auswirkungen und Hintergründen, eingehend beschäftigen. Man darf es nicht »verdrängen«. Der gleichen Ansicht sind auch die meisten Ratsuchenden. In der ersten Sitzung einer Beratung oder Therapie erwarten sie, ausführlich über ihr Leiden oder ihr Ungenügen befragt zu werden. Oft ist zudem die Hoffnung da, dass in der Beratung vielleicht bisher unbekannte Gründe für die Problematik gefunden werden könnten – offenbar in der Annahme, man könne dann an der schwierigen Situation eher oder mit weniger Aufwand etwas verändern. Diese Haltung und die dahinter stehenden Annahmen sind nicht einfach falsch. Doch laufen Beraterinnen und Klienten bei zu intensiver Beschäftigung mit dem Leiden Gefahr, gemeinsam in eine Form von Problemtrance zu geraten. Und genauso wie die »Lösungssprache« eine Lösungsatmosphäre schafft, kann die »Problemsprache« eine Problematmosphäre schaffen, in der alles noch schlimmer und schwieriger aussieht, als es ohnehin schon ist. Im Weiteren dürfte ein lösungs- und ressourcenorientiertes Vorgehen auch etablierte Machtpositionen bedrohen und in Frage stellen. Wer Hilfe sucht oder um Rat nachfragt, geht zum Fachexperten als einer Autoritäts­ person, von der man annehmen darf, dass sie mehr weiß als man selbst. Wer  – umgekehrt  – im Beraterinnen- oder Therapeutenstuhl sitzt, vertritt und repräsentiert diese Autorität, die zudem an vielen Orten gepaart ist mit der Autorität des Staates. Zu denken ist dabei an Institutionen der Psychia­ trie, der Sozialarbeit oder der Sozialpädagogik, der Schulpsychologie etc. Die Arbeit in diesen Institutionen verschafft den Inhaberinnen und Inhabern der entsprechenden Position außer Autorität auch Sicherheit und Rückhalt, was mit einer gewissen, fast selbstverständlichen Macht verbunden ist. Die Idee der Kundigkeit oder der Mündigkeit des Klienten, der als »Kunde« betrachtet wird, widerspricht dem. Sie ist für Berufsleute an diesen Arbeitsstellen entsprechend schwierig zu realisieren; und dies besonders auch, weil viele Klienten sich selbst, zumindest im Umkreis der Problematik, keineswegs als mündig oder kundig empfinden.

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Professionelle Anforderungen

Es ist offensichtlich: Menschen, die in eine lösungs- und ressourcen­ orientierte Arbeitsweise einsteigen wollen, müssen umlernen. Dieses Umund Neu-Lernen betrifft stärker das Gebiet der Haltung als das Gebiet des konkreten methodischen Vorgehens. Der Alltag von Aus-, Weiter- oder Fortbildungen, die den lösungs- und ressourcenorientierten Ansatz ins Zentrum stellen, wird z. B dadurch erschwert, dass viele Studierende schon jahrelange Erfahrungen in traditionellen Helferberufen haben. Die Konzentration auf Pathologie, Leiden, Probleme oder Ungenügen ist ihnen sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen. Selbst wenn sie sich von der neuen Sichtweise und der neuen Grundhaltung angesprochen fühlen, braucht es längere Zeit, bis das Neue zu etwas Selbstverständlichem geworden ist und dann zur Gewohnheit werden kann.

9.2. Überlegungen zu Weiter- und Fortbildung Grundsätzlich kann und muss bei allen professionellen Begleiterinnen und Begleitern von Veränderungsprozessen eine Grundausbildung im entsprechenden Beruf vorausgesetzt werden. Zu denken ist an Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen, an Angehörige von Lehrberufen und Berufen des Gesundheitswesens, an Pfarrer und an weitere Berufe, bei denen die persönliche Beratung oder Begleitung wichtig ist. In den entsprechenden Grundausbildungen, in der Regel als Studium an Universitäten und Fachhochschulen konzipiert, werden neben berufs- und disziplinspezifischen Inhalten auch Basiskenntnisse in Psychologie, Psychopathologie und Soziologie und ein mehr oder weniger rudimentäres Training in Gesprächsführung und Beratung vermittelt. In Weiter- und Fortbildungen gibt es aber immer wieder Quereinsteigende, die sich in der beratenden oder begleitenden Arbeit mit Menschen profes­ sionalisieren wollen. Sie verfügen nicht selten über viel Erfahrung in einem spezifischen Arbeitsfeld, zum Beispiel als freiwillige Helferin, und haben sich in kürzeren oder längeren Workshops und Kursen ein gewisses Know-how angeeignet. Wenn wir nachstehend von »Weiterbildungen« sprechen, denken wir nicht an die genannten Grundausbildungen, sondern an Nachdiplom-Stu­ diengänge und vergleichbare, meist mehrjährige und in der Regel berufsbegleitende Lehrgänge, in denen die Studierenden Angehörige der oben genannten Berufe sind und zusätzlich zu einer mehr oder weniger langen Berufserfahrung die entsprechenden Kenntnisse mitbringen. Fehlen zum Beispiel Basiskenntnisse in Gesprächsführung, dann sollten diese vor Beginn der Weiterbildung nachgeholt werden.

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Überlegungen zu Weiter- und Fortbildung

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Fortbildungen sind in der hier verwendeten Terminologie kürzere Ver­ anstaltungen, angefangen vom zweitägigen Workshop bis zu einer Reihe von zwei bis drei Wochenkursen. Die Einführung in Intermodales Dezentrieren innerhalb von Nachdiplom-Studiengängen Die Schwierigkeiten, denen sich Berufsleute gegenübersehen, die sich in einem mehrjährigen berufsbegleitenden Nachdiplom-Studium in eine lösungs- und ressourcenorientierte Arbeitsweise einarbeiten wollen, haben wir bereits in Kapitel 8 beschrieben. Um diese Schwierigkeiten erfolgreich zu überwinden, müssen sie im Zu­sammenhang mit der künstlerischen Befähigung angegangen werden. Das Zusammengehen von kunst- und lösungs­ orientiertem Arbeiten ist durchweg in allen Lehrveranstaltungen zu praktizieren. Die kunstanaloge Haltung, welche für das Überraschende, sich in der professionellen Begleitung Ent­wickelnde sensibilisiert, hat ihre Entsprechung in der ressourcenorientierten Haltung. Bei dieser Haltung wird dem, was ist, immer noch ein »was auch noch ist« entlockt. Damit werden Ressourcen ins Licht gerückt, die sehr ermutigend wirken können. In einer seriösen/umfassenden Weiterbildung müssen die künstlerischen Kompetenzen von Anfang an ressourcenorientiert und die lösungsorientierten Kompetenzen kunstanalog angegangen werden. Wenn künstlerische Kompetenzen defizitorientiert angegangen werden, steht nicht nur der päd­ agogische Ansatz im Gegensatz zur Ausrichtung der lösungsorientierten Praxis, auch der Stil des künstlerischen Ansatzes widerspricht der Praxis des Dezentrierens. Bei einem solchen Vorgehen würden sich die Studierenden beim künstlerischen Handeln bewusst, was sie alles nicht können, was völlig im Widerspruch zu der von uns beschriebenen Dezentrierung als Ressource stünde. Ähnlich steht es mit den lösungsorientierten Übungsfeldern in der Weiterbildung. Hier muss immer wieder die Gelegenheit wahrgenommen werden, Lernschwierigkeiten oder Herausforderungen durch Dezentrierungen anzugehen. Auch hier entsteht ein Widerspruch, wenn ausgerechnet in der Ausbildung bei Schwierigkeiten von der grundsätzlichen Haltung, die vermittelt wird, abgewichen wird und dadurch Schwierigkeiten betont und problematisiert werden. Die Zielsetzung der gegenseitigen Durchdringung der Kompetenzen aus dem Gebiet der Lösungsorientierung und der Kunstorientierung ist ein hoher Anspruch an die Ausbildenden. Sie verlangt nicht nur eine Didaktik, die den Lerngegenstand selbst innovativ angeht und in einem »Learning by doing«-Stil praktiziert wird, sondern es soll bei der künstlerischen Ausbil-

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Professionelle Anforderungen

dung von Beginn an lösungsorientiert dort angefangen werden, wo die Teilnehmer gegenwärtig im Leben mit dem Künstlerischen in Berührung kommen und in ihrer Arbeit mit Kompetenzerwartungen konfrontiert sind. Im Gespräch werden die daraus entstehenden Anliegen angereichert. Unter den Visionen, die sich im Zusammenhang mit den Künsten zeigen, fällt die Häufigkeit des »Sich Sehnens nach der Schönheit« auf. Die Ergebnisfrage leitet in der Folge jeweils eine Trainingsstruktur als Dezentrierung ein, welche dann in der ästhetischen Analyse die Wahrnehmung für Werk und Prozess stärkt. Die Ernte schließlich ist sozusagen das Lernergebnis. Im Tanz kann das zum Beispiel folgendermaßen aussehen: –– Wir stehen am Anfang des Kurses. Wir haben im Gespräch festgestellt, dass erstaunlich viele Teilnehmer entweder zu Hause allein gelegentlich zu Musik tanzen oder gern in der Ballroom- (z. B. Tango) oder Diskoszene mitmachen. Andere gehen gern wandern oder joggen, sie alle aber haben miteinander den Schritt gemeinsam, der den Raum gestaltet oder sich durch den Raum oder die Musik als Weg (oder Choreographie) gestalten lässt. Ich spreche vom zeitgenössischen Tanztheater, erzähle von Pina Bausch (Wuppertaler Tanztheater) und ihrer Aufführung »Café Müller«1. Dies ist ein Beispiel, wie mit Schreiten und einer mit Stühlen besetzten Bühne ein »Tanzmobile« ganz spezieller Art entsteht, insbesondere da die Tänzerin (Pina Bausch) nachtwandelt und ein Tänzer die Stühle ständig neu arrangiert. Ich schlage vor, nur mit dem einfachsten Element, dem Gehen und Schreiten, eine Improvisation zu machen und auf diese Weise dem Gedanken nachzugehen, dass man sich Tanz schwerlich ohne Schritt vorstellen kann. Das Lehrstück, an dem wir arbeiten, heißt: »Eintreten, Begegnen«. Es schließt an unsere Situation an. Wir treten in die Ausbildung ein, wir gehen auf die Begegnung beim Tanz ein mit »low-skill-high-­ sensitivity«. –– Darauf folgt bereits als Lehrstück ein Sensibilisieren (SERA; vgl. Abschnitt 4.6). Wir sind am Rand des Studios und nehmen den Bewegungsraum visuell wahr, sensibilisieren den Körper und Atem im Stehen und versuchen den ersten Schritt dann zu machen, wenn er sich aus der Gewichtsverlagerung ergibt. Es soll so aussehen, wie wenn sich Blätter vom Baum lösen, nicht regelmäßig, sondern für den Zuschauer Spannung erzeugend (»Wann kommt das nächste Blatt? Da ist doch noch eines!«). Die Improvisation umfasst verschiedene Raumgestaltungen aus dem Schritt. Wie geht’s? (Kraft, Geschwindigkeit), Wo geht’s durch? (Choreographie), Wie steht’s? (Stille); Möglichkeiten der Begegnung, des Mitgehens, des

1 Im Vorspann des Filmes »Hable con ella« (»Sprich mit ihr«) 2002 von Pedro Almo­ dóvar.

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Überlegungen zu Weiter- und Fortbildung

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Abprallens, des Dazwischenseins, dessen, was sich ergibt, der Chorbildung etc. –– Schließlich wird über verschiedene Takes (das heißt neue Versuche) eine Improvisation erarbeitet. Die ästhetische Analyse schult die Sprache der Wahrnehmung und das Prozessverständnis für den Tanz, die in jeder künstlerischen Disziplin anders sind, auch wenn sie grundsätzlich in ähnliche Kategorien gefasst werden können (siehe Kapitel 4). Die Situation in Fort- und Weiterbildungen Periodische Fortbildungen haben sich in den letzten Jahrzehnten bei Angehörigen von psychosozialen, medizinischen und pädagogische Berufen eingebürgert. Innerhalb des Qualitätsmanagements von Institutionen und Berufsverbänden sind sie ein zentrales Anliegen. Für Berufsangehörige, in deren Berufsalltag beratende, anleitende oder therapeutische Gespräche einen wichtigen Platz einnehmen, sind methodische Fort- und Weiterbildungen in der Regel recht attraktiv, und um solche geht es, wenn sich jemand mit der kunst- und lösungsorientierten Vorgehensweise auseinandersetzen will. Im Folgenden fassen wir unsere Erfahrungen in der Arbeit mit Angehörigen der genannten Berufe zusammen, für die das Intermodale Dezentrieren IDEC® neu ist. In den entsprechenden Kursen und Workshops stellt sich die Situation unterschiedlich dar, je nachdem, ob eher der Umgang mit Kunst oder die Ressourcenorientierung und Gesprächsführung im Vordergrund stehen. Es sollen deshalb die Situationen, denen sich Ausbilderinnen und Ausbilder gegenübersehen, und die Anforderungen, die an sie gestellt werden, zuerst einmal getrennt beschrieben werden. Im Anschluss daran gehen wir dann auf einige gemeinsame Aspekte ein. Die (Wieder-)Entdeckung des Künstlerischen Für die allermeisten Teilnehmenden an Fort- und Weiterbildungen ist der künstlerische Zugang in einer Beratungssituation völlig ungewohnt. Wie wir jedoch oben beim professionellen Umgang mit Kunst und Spiel dargelegt haben, gibt es nur sehr selten Teilnehmer, die den Künsten ganz fremd oder gar abgeneigt sind, sofern wir das ganze Spektrum der zeitgenössischen Kunst inklusive Musik, Print- und elektronische Medien berücksichtigen. Auch haben wir gezeigt, dass relativ viele Teilnehmer von Weiterbildungen irgendwo selbst künstlerisch produktiv mitmachen, sei es beim Tangotanzen, mit Photo­shop oder gar in einer Band. Bei den Zweiflern unter den Studierenden, die wohl Zugang haben, aber sich keine eigene Gestaltung zutrauen, empfehlen wir zu beachten, dass die

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Professionelle Anforderungen

Aufgabenstellung sorgfältig unter Berücksichtigung von »low-skill-high-sensitivity« gestaltet wird. Die Eintrittsschwelle darf weder zu hoch sein noch alte Geister aus negativer Kunstschulung und daraus erwachsene Vorstellungen wecken. Konfrontation mit der Prozess- und Ressourcenorientierung Dass die Beziehungsgestaltung für den Erfolg in Beratung und Therapie eine zentrale Rolle spielt, gehört zum Grundwissen der hier in Frage stehenden Berufsgruppen (siehe dazu auch Bürgi und Eberhart, 2004, S. 55 ff.). Für die meisten Teilnehmerinnen an unseren Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen ist dies denn auch eine Selbstverständlichkeit. Die Spezifika des konkreten Vorgehens dagegen und vor allem die Art von Beziehung und Haltung, die in der prozess- und ressourcenorientierten Arbeit gepflegt wird, können trotzdem Mühe bereiten. Schwierig ist für viele die Umstellung auf eine lösungs- und ressourcen­ orientierte Haltung. In kurzen, wenige Tage umfassenden Fortbildungen ist diesem Umstand stark Rechnung zu tragen. Unsere langjährigen Erfahrungen in der Durchführung von Fort- und Weiterbildungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: –– Wer sich über viele Jahre eingehend mit den Problematiken seiner Klientinnen und Klienten auseinandergesetzt hat und diese im Detail und mit ihren Hintergründen und Verläufen zu erfassen versuchte, kann nicht damit rechnen, nach einigen Tagen oder Wochen in der Lage zu sein, auf ein lösungsorientiertes Vorgehen und eine ressourcenorientierte Haltung umstellen zu können. Aus persönlicher Erfahrung und der Erfahrung mit Teilnehmerinnen in Fort- und Weiterbildungskursen ist eine Umstellungszeit von ein bis zwei Jahren zu erwarten. –– Eine Umstellung wird natürlich unterstützt, wenn das bisher gepflegte Vorgehen entweder sehr mühsam und zeitaufwändig war oder oft zu Miss­ erfolgen führte. Um aber wirklich für eine Umstellung bereit zu sein, braucht es neben konkreten methodischen Anweisungen und plausiblen theoretischen Begründungen genügend konkrete Beispiele, bei denen die positiven Auswirkungen des lösungsorientierten Vorgehens sichtbar werden. –– Beispiele wirken dann motivierend, wenn sie sehr konkret und gut nachvollziehbar gestaltet werden. Deshalb wirken Videoaufnahmen von Beratungssitzungen in Teilen oder als Ganzes in der Regel besser als geschriebene Texte. Noch stärker wirken Live-Demonstrationen, bei denen im Anschluss an das Beratungsgespräch sowohl der Klient als auch die professionelle Person zu Wort kommen. Es ist für uns selbstverständlich, dass dies nur in Situationen von Coaching und Supervision in Frage kommt und nicht in einer therapeutischen Situation.

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Überlegungen zu Weiter- und Fortbildung

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–– Sehr gute Erfahrungen machen wir mit Übungsanlagen, in denen Kursteilnehmer die Wirkung eines lösungs- und ressourcenorientierten Vorgehens am eigenen Leib erfahren können. Dabei geht es nicht um ein Rollenspiel, sondern um die Bearbeitung eines persönlichen Anliegens auf lösungsorientierte Art. –– Allgemein gilt, dass eingefleischten Gesprächsmustern nicht erfolgreich mit Argumenten begegnet werden kann. Es sind  – auf der Basis einer grundsätzlichen Wertschätzung des bisherigen Vorgehens, soweit es sich bewährt hat – vor allem die Erfahrungen an sich selbst und bei anderen, welche die Menschen dazu bewegen, sich auf etwas Neues einzulassen und dies ernsthaft zu trainieren. Ist eine erste Begeisterung für das neuartige und ungewohnte Vorgehen entstanden und sind die Grundsteine für das methodische Vorgehen gelegt, so geht es darum, das Neue im eigenen Praxisalltag selbst auch anzuwenden; und zwar nicht nur quasi probeweise ein- oder zweimal, sondern öfters und immer wieder. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies passiert, ist einigermaßen gesichert, wenn die Institution oder das Team, in dem die entsprechende Person arbeitet, den gleichen Weg gehen. Ist dies nicht der Fall, so ist sehr zu empfehlen, dass sich eine neu begeisterte Person mit einer oder zwei Gleichgesinnten mit ähnlichem Kenntnisstand aus anderen Institutionen zusammentut und regelmäßig Erfahrungen austauscht wie auch die kleinen und größeren Erfolge feiert. Für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen ebenfalls schwierig ist das Erlernen eines Beraterverhaltens, das im Gespräch und im Umgang mit dem künstlerischen Tun und Spiel an der Oberfläche bleibt. In der Literatur über das lösungsorientierte Gespräch wird dies als Haltung des Nicht-Wissens beschrieben. Erkenntnistheoretisch befinden wir uns auf dem Gebiet der Phänomenologie. Diese Haltung der wertschätzend-neugierigen Offenheit, die bereit ist, vorerst alle Aussagen der ratsuchenden Person zum Nennwert zu nehmen, ist ein Grundelement der lösungs- und ressourcenorientierten Haltung. Methodisch muss sowohl in Ausbildungsgängen als auch in Fort- und Weiterbildungen das prozessorientierte Vorgehen geübt werden, ein Vorgehen, das wir als »kunstanalog« gekennzeichnet haben. Das ist für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer ebenfalls sehr ungewohnt und löst zum Teil Befürchtungen, Ängste und Verunsicherung aus. Unsere Ausführungen speziell im 4.  Kapitel haben gezeigt, dass eine Sitzung mit einer intermodalen Dezentrierungsphase relativ einfach und klar strukturiert wird. Innerhalb dieser Struktur ist es jedoch wichtig, dass die professionelle Person durch ihre Fragen und die Gestaltung der Beziehung einen Prozess in Gang bringt und sich dann diesem Prozess überlassen kann.

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Professionelle Anforderungen

Die professionelle Person muss lernen, sich dem Prozess anzuvertrauen. Das ist nicht einfach und bleibt für viele von uns möglicherweise eine lebenslange Aufgabe. Es geht in erster Linie um das Loslassen eigener Vorstellungen, was in der Sitzung inhaltlich passieren müsste respektive was für den Klienten wichtig sein müsste. Dem Prozess am besten trauen können deshalb Menschen, die selbst solche Prozesse erlebt, reflektiert und ihre guten Ergebnisse erfahren haben. Ein gutes Ausbildungsgefäß für solche Erfahrungen sind die Lehrsupervision, das Lehr-Coaching und die Lehrtherapie. ✳ Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Zugang zur Kunst und zum Spiel durch die ressourcen- und lösungsorientierte Haltung erleichtert wird. Es geschieht dies im gleichen Maße, wie das künstlerische Tun einerseits zu einer Fundgrube wird für neue Aspekte und anderseits ein Training darstellt für offenes, neugieriges Entdecken. Damit sind die Voraussetzungen gegeben zur Synergie der zwei Prinzipien, wodurch wiederum Prozesse der Selbst­ organisation angeregt und verstärkt werden. Aus- und Weiterbildungen müssen aus dieser Synergie schöpfen und möglichst ein Aneinanderreihen von Spezialthemen vermeiden.

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10. Der Ernst des Spiels und die Überraschung der Kunst – abschließende Gedanken AbscheilßendeGedanken

Wir haben für unsere Schlussgedanken einen philosophischen Titel gewählt. Er hat etwas Paradoxes an sich. Der Ernst ist dem Spiel zugeordnet und die Überraschung der Kunst beziehungsweise dem künstlerischen Werk. Die Überschrift führt uns noch einmal zu grundsätzlichen Fragen der menschlichen Begegnung. Wer mit anderen Menschen lösungsorientiert arbeitet und sie von Zeit zu Zeit ermuntert und anleitet, sich auf ein künstle­ risches Werk oder ein Spiel einzulassen, bleibt in seinem Tun sehr stark dem Konkreten verpflichtet und ist im Beratungsverlauf kaum versucht, mit Klienten auf einer abstrakten Ebene zu reflektieren. Der Ablauf einer Sitzung zeichnet sich aus durch eine Ausrichtung auf das Konkrete, auf die »Oberfläche« von Aussagen und Werk. Trotzdem geschieht es in unserem beraterischen Alltag, dass immer wieder philosophische Fragen des Menschseins ganz natürlich einfließen. Das dürfte zum einen damit zu tun haben, dass wir für Metaphern, die von den Klienten formuliert werden, offen sind und mit ihnen arbeiten trotz ihrer Unkonkretheit und rationalen Unbestimmtheit. Zum zweiten ist daran zu erinnern, dass in der Phase der Ernte, oft auch »Lösungen zweiten Grades« anfallen, die man – aus anderer Perspektive – als so etwas wie Lebensweisheiten umschreiben könnte (siehe dazu Abschnitt 4.8.). Es ist also nicht unbedingt erstaunlich, dass sich Gespräche immer wieder einmal auf einer philosophischen Ebene bewegen. Durch die Art unserer Präsenz sind wir im Beratungsverlauf als Zuhörende und Sprechende mit vollem Ernst dabei. Das Gleiche gilt, wenn wir einen künstlerischen Prozess begleiten und Beobachtende oder Mitspielende in einem Spiel sind. Auf die Bedeutung dieser Präsenz haben wir im Verlauf unserer Ausführungen wiederholt hingewiesen. Sie verlangt volles Engagement und ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit ist nicht auf spezielle Inhalte oder Verhaltensweisen gerichtet. Sie ist aber verbunden mit einer Offenheit für das sich in der Begegnung Zeigende, sozu­ sagen mit einem Weitwinkelblick, der bereit ist, alles aufzunehmen, was beim Gegenüber, bei einem selbst oder beim entstehenden Werk, im Spiel und im Dazwischen passiert. Mit dieser Offenheit und der Aufmerksamkeit auf den gemeinsamen Prozess und auf das, was sich darin als Überraschung zeigt, verwandeln sich Engagement, Präsenz und Ernst. Der von der professionellen Person verlangte persönliche Einsatz ist gleichzeitig verbindlich und entspannt. Die geforderte

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Abschließende Gedanken

Präsenz wird zu einer heiteren Präsenz. Und der Ernst wird spielerisch, vergleichbar der konzentrierten Präsenz eines Jongleurs oder dem Ernst eines spielenden Kleinkindes. Beide geben sich voll ihrem Spiel hin, immer bereit, auf Überraschendes zu reagieren. So sind in unserer Vorgehensweise Spiel und Ernst in einer besonderen Art miteinander verschränkt. Eine solche Haltung hat nicht nur mit Leichtigkeit und einer gewissen kindlichen Unvoreingenommenheit zu tun, auch wenn diese Beschreibungen durchaus zutreffen mögen. Wir versuchen tatsächlich dem, was uns in der Berichterstattung und in den Werken von Klienten entgegenkommt, mit einer gewissen Leichtigkeit zu begegnen. In gleichem Maß nehmen wir das Gesagte und Gezeigte aber auch zu seinem vollen Nennwert und lassen uns davon berühren und ergreifen. Doch nehmen wir das uns vom Klienten Präsentierte nicht als einzige oder letzte Wahrheit. Wir bemühen uns im Gegenteil darum, dass andere Perspektiven ebenfalls erscheinen können, und muten uns und unserem Gegenüber die Reichhaltigkeit der Perspektiven zu. Wir suchen nach den Ausnahmen hinter oder innerhalb der Regel, selbst wenn dies manchmal verwirrend wirken kann. Merkwürdigerweise öffnen genau diese Haltung und das daraus resultierende Vorgehen sehr oft die Tür zu grundsätzlichen Aspekten des Menschseins und führen zu Gesprächen mit philosophischem oder spirituellem Inhalt. Auch auf diese Weise ist der Ernst mit im Spiel, einem Spiel, das wir als »play« verstehen und nicht als »game«. In früheren Ausführungen wurde darauf hingewiesen, dass dies viel zu tun hat mit der Art, wie wir im Inter­ modalen Dezentrieren mit der Kunst umgehen. Der Zusammenhang zwischen Kunst und freiem Spiel ist eng. Bei beiden spielt die Imagination eine große Rolle. Im künstlerischen Tun richtet sich in unserer Arbeit die Aufmerksamkeit auf das Unvorhergesehene und Überraschende. Es ist am Werk und im künstlerischen Prozess zu beobachten. Hinzu kommt beim künstlerischen Werk das, was – einfach ausgedrückt – uns als Schönheit entgegentritt. Es geht hier um einen weiten, zeitgenössischen und nicht um einen engen, formalen Schönheitsbegriff. Es geht um ein in der Begegnung auftretendes sinnliches Phänomen, das bewegt, berührt, ergreift und staunen lässt. Es ist etwas, das uns in der Arbeit mit den Menschen und ihrem Werk das Herz öffnet. Und es kann »unter die Haut gehen«. So geschieht es dann, dass auch bei unseren Klientinnen und Klienten in der Gegenwart des sich entpuppenden Werks ein Hauch von Schönheit erscheint, im Gesicht, in einer Bewegung oder in einer sprachlichen Äußerung. Methodisch stehen in unserer Vorgehensweise zwei Aspekte im Vordergrund: Zum einen ist es das, was wir wertschätzende Neugier nennen. Das ist eine Haltung, die Anteilnahme mit Forschergeist und Experimentierfreude

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Abschließende Gedanken

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verbindet. Sie wirkt fast durchweg auf alle Beteiligten ansteckend und führt weg vom »Richtig und Falsch« hin zum »Lasst uns sehen, was es bringt«. Hinzu kommt die ästhetische Verantwortung. Darunter verstehen wir, dass wir im Atelier- oder Studioraum ganz bei der Sache sind und alles, was wir in diesem Bereich unternehmen oder anordnen, im Interesse des künstle­ rischen Prozesses oder auf das entstehende Werk hin tun. Das schließt aus, ein Medium oder eine Vorgehensweise zu wählen, weil sie dem Klienten wahrscheinlich gut tun wird oder diagnostische Hinweise liefern könnte. Und schließlich ein Letztes: Beim Schreiben dieses Buches ist uns immer klarer geworden, dass ein Kern unserer Vorgehensweise in einer spezifischen Art der Verflechtung von Sprache und Kunst besteht. Die kunstanaloge Haltung in der Begegnung öffnet den Beziehungsraum und gibt Sicherheit. Die lösungsorientierte Gesprächsführung und die dazu gehörende Haltung geben Hoffnung und bringen überraschende Anreicherungen. Und die ressourcenorientierte Begleitung beim künstlerischen Tun lässt Werke spielerisch zur Schönheit gedeihen. Damit rühren wir an etwas, das über uns hinausreicht, das vorher nicht da war und uns »anspricht« oder uns »etwas sagt«. Es ist denkbar, dass auch aus diesem Grund manche Menschen im Verlauf der Arbeit von sich aus auf Sinnfragen zu sprechen kommen oder Spirituelles ansprechen. Die Pioniere der lösungsorientierten Gesprächsführung haben so etwas nie angestrebt. Und auch im traditionellen Umgang mit Kunst in den Praxisfeldern von Therapie und Beratung, mit ihren kathartischen, bildenden, entspannenden oder gar diagnostischen Anliegen, war so etwas nicht vorgesehen. Ressourcenorientierte Haltung, lösungsorientierte Gesprächsführung und die Offenheit und Überraschungen des künstlerischen Tuns wirken anregend und unterstützend auf die Kräfte der Selbstorganisation und Selbst­ heilung; und dies wiederum macht frei, sich den jeweils aktuellen und zentralen Aspekten der individuellen Lebensgestaltung zuzuwenden.

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Stichwortregister

Anleitung, anleiten 23, 36, 45, 109 ff., 116, 117, 120 f., 150, 159, 197 ff., 204, 217 Anreicherung (Bereicherung, Reichhaltigkeit) 12 f., 51, 144, 147, 149, 158, 161 f., 185 ff., 189, 193, 221, 223, 260 f. Architektur (der Beratungssitzung) 39, 55, 65 f. Ästhetik 35, 102, 117, 218, 249 f. – ästhetische Analyse (ästhetisches Protokoll) 15, 34, 60, 65, 69 f., 123, 125 ff., 132, 150, 159, 163, 169, 187, 196, 255 – ästhetische Antwort 108 – ästhetische Verantwortung 34, 102, 194, 261 – Polyästhetik 218 Atelier (Studio) 36, 49, 94, 98, 106, 108 f., 114, 116, 118, 123 f., 137, 164, 188 f., 194, 204, 218, 254, 261 Attraktor 123, 181 ff. – Sinnattraktor 8,182 Aufgabe 16 f., 19, 24, 45, 62, 68, 97, 104, 120, 136, 140 f., 164, 165, 173 ff., 178, 184, 187, 190f, 196, 197 ff., 200, 203 ff., 211 f., 224 – Aufgaben der »Experten« 231 f., 258 – Entwicklungsaufgabe 7 ff. – (Haus-)Aufgaben (Experiment zu Hause) 17, 65, 89, 142, 145, 147 f., 149, 150 ff., 176, 185, 205, 207, 222, 228, 235, 236 Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeitsfokus 12, 24, 26, 27, 30 ff., 34, 45, 56, 58, 60, 80, 84, 94, 109, 114, 121, 149, 158, 168 ff., 176, 229, 235, 241, 243, 259 f. Auftragsklärung 31, 72 ff., 156

Ausdruck, Ausdrucksform 95, 211, 216, 218, 225, 239 – sprachlich 25, 29, 76, 94, 97, 102, 147, 157, 158 f., 161, 169, 245 – körperlich 94 f., 213, 215 – künstlerisch 28, 24, 47, 85, 94, 123, 149, 159, 189, 193, 209, 213, 214, 215, 217, 221, 223 ff. Ausnahme (Frage nach Ausnahmen) 26, 78 ff., 81 f., 94, 149, 151, 171, 177, 209, 221, 232, 235, 246, 260 Begegnung, begegnen 27, 42, 44, 54 f., 58 f., 60, 105, 116, 153, 169, 226, 236, 241, 259 f. Beiläufigkeit, beiläufig 16, 33, 100 f., 104 f., 164, 196, 203 Beratung 11, 12, 18, 20, 25, 33, 39 ff., 50 f., 53 f., 55 ff., 61 f., 65, 72, 76 f., 84, 91, 137, 145, 146, 153 f., 157 ff., 165, 177, 182, 184, 196, 200 ff., 207 f., 215, 226 f., 229 f., 233, 236, 240, 242, 251, 256, 259 Beschreibung, beschreiben 8 f., 13, 28, 34, 47, 55 f., 57, 65, 78 f., 81, 82 ff., 87, 89, 90 f., 93, 125, 142, 148, 157, 158 f., 168 ff., 220, 238, 242 f. Bewertung, bewerten 36, 58, 59, 65, 78 Beziehung 12, 30, 36, 55 ff., 60 f., 169, 194, 206, 231, 236, 243, 247, 256 – Beziehungsangebot 62 – im sozialen Konstruktionismus 242 f. – in Beziehung setzen (innerhalb der »Ernte«) 131 f., 133 ff., 140, 142 f., 144, 150 – in der Humanistischen Psychologie 241 – in Systemen 240 f.

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Stichwortregister

– und künstlerisches Tun (interpersonal, intrapersonal, transpersonal) 28, 48, 54, 217, 220 ff. – zu/innerhalb Kunstformen 102, 119 Brücke 31, 43, 54, 65, 98 ff., 162, 174, 204, 217, 222 Coaching 13, 66 ff., 72, 74 f., 107, 121, 145, 157, 165, 193, 195 ff., 199, 233 Community Art 197, 199 das Dritte, (die dritte Größe) 55, 63, 169 f., 226 Dezentrierung, dezentrieren 13, 17, 18 f., 30 ff., 36, 45 f., 53 f., 60, 65, 98, 101 ff., 104 ff., 109 f., 112, 115, 117, 123 ff., 131, 140, 144, 146, 159, 160, 162 ff., 165, 171, 172 ff., 175 ff., 178, 184 f., 187 ff., 195 f., 197 ff., 202 ff., 207 ff., 212, 253 – Beispiele 14 f., 59, 68 ff., 85, 106 ff., 121, 136, 141 f., 151 f., 174, 209 – themennah, themenfern 100, 120 ff. – und Konzentrierung 8 Didaktik 31, 102, 253 – werkbezogen 31, 111 ff. Dinglichkeit, dinglich 9, 17, 28, 30, 43, 124, 213 Einschränkung, eingeschränkt 25, 35, 41 f., 45, 50, 76, 109 f., 112, 162 f., 190, 209 f., 238 – von Freiheitsgraden 180 Einstimmung, Einstimmungsphase, einstimmen 17, 74, 105, 106 f., 114 f., 117, 202 Ermächtigung 27, 223 »Ernte« 15, 31, 65, 66, 70 f., 82, 101, 123 f., 131 ff., 151 f., 172 f., 185, 194, 203, 205, 254 Existential 40, 53, 60, 159, 214, 224 Experiment, experimentieren 14, 16, 33, 37, 45, 89, 91, 99, 109 f., 160, 191, 195 f., 212, 217, 235, 250, 260

Experte 26, 232, 246 – Klient als Experte 42, 57, 60, 83, 173, 225, 226 f., 231 ff., 247 – Expertise der Professionellen 83, 157, 231 ff., 247, 251 explorieren, entdecken, exploratorisch 13, 47, 48, 51, 52, 58, 60, 106, 110 f., 116, 114, 144, 148, 172, 186, 217, 221, 255, 258 – exploratorische Neugier 25, 101 f., 111 Expressive Arts (Therapy) 21, 193, 211 f., 22 Geschichten 53, 66, 86, 111, 113, 118, 154 ff., 220, 237 ff. Gestaltung, gestalten 26, 27, 28, 44, 47, 49, 65, 82, 89, 99, 100 ff., 105, 107 f., 109 ff., 114, 121 f., 126, 137, 150, 160, 186, 190, 196, 209 f., 213, 214 f., 217, 223, 224, 249 f. – Gestaltungselement, Gestaltungsmittel, Gestaltungsmaterial 48, 102 f., 104 f., 110, 114, 116, 117 ff., 213, 216, 225, 254 – Gestaltungsprozess, Gestaltung des (Gesamt-)Prozesses 33, 48, 55, 56, 58, 104 f., 111 f., 149, 184, 245 – Gestaltungsspielraum 24, 25, 31, 104, 110, 117, 119, 126 – Lebensgestaltung 36, 90 f., 177, 185, 261 – Werkgestaltung 65, 106, 186 Gruppe 20, 32, 36, 43, 163 f., 189 f., 197 ff., 212, 220 f., 242 gutes Ergebnis (Frage nach dem guten Ergebnis) 13, 14 ff., 65, 67, 93 Hybrid 31, 36, 48 Ich-Distanzierung 123 Imagination, imaginativ 17 f., 28, 29, 42 ff., 46 f., 51, 88 ff., 117, 121, 159, 161 f., 179, 193, 214, 217, 220, 235, 243 f.

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Stichwortregister

Improvisation 13, 14 f., 20, 24 f., 43, 45, 48 f., 71, 103, 106 f., 109, 113 ff., 121, 126, 128, 130, 204, 254 f. Installation 13 f., 82, 102 f., 105, 107 f., 118, 121 f., 140 f., 146 f., 196, 221, 225 Interdisziplinarität, interdisziplinär 35, 48, 180, 211 f., 215 f., 218, 220, 224 intermodal 13, 122, 162, 211 f., 216 ff., 220 ff., 250 – Intermodales Dezentrieren 13 f., 31 f., 60, 65 f., 98 f., 122, 141, 167, 193 ff., 219 ff. Interpretation, interpretieren 47, 50, 57, 66, 108, 124 f., 127, 168 f., 193, 202, 219, 243 konkretisieren, konkret 12 f., 19, 28, 30, 51, 60, 65 ff., 78, 82, 86, 89 ff., 96, 116, 126, 144, 158 f., 165, 170, 177, 240, 259 Konstrukt, Konstruktivismus, (sozialer) Konstruktionismus 26, 33, 34, 52 f., 57, 87, 153, 170, 179, 223, 239, 242 f., 244 Kreativität 8 f., 23, 43, 46, 58 f., 110, 141, 157, 179 f., 216, 220, 225, 249 Kristallisationsprinzip 122, 217, 219 f. Kunst, künstlerisch 9, 11, 13 f., 16 ff., 22, 24 ff., 28 f., 30, 32 ff., 35 ff. 43 f., 45, 46 ff., 54, 60, 86, 99 f., 102 ff., 111, 116, 117 ff. 122, 123, 146, 149, 153 ff., 159 ff., 165, 169, 185 f., 187 f.; 189 f., 193 f., 196, 198 f., 207 f., 211 ff., 219 ff., 223 ff., 231, 249 f., 253, 255 f., 259 ff. kunstanalog 29, 30, 55 f. 60, 63, 194, 253, 261 Lösung 7 f., 21, 24 ff., 28 ff., 34 f., 41, 44 f., 60, 81, 85 f., 95, 121 f., 128, 144, 149, 168, 183, 187, 226 ff., 250 f., 253, 256, 257 – zweiter Ordnung 138, 141, 145, 175, 177, 259 Low-skill-high-sensitivity 24, 45, 102 ff., 164, 206, 250

Malen (Bild) 17, 26, 28, 45, 49, 50, 70, 105, 109, 112, 116, 118, 120, 122, 126, 142, 148, 151 f., 214 f., 217, 219, 220, 221, 222, 224 Material 16, 25, 27, 36, 43 f., 54, 100, 103 ff., 110, 114 ff., 118 ff., 122, 126, 128, 163, 209, 216 Metapher, metaphorisch 8, 18, 30, 31, 51, 80 f., 86, 89, 95, 97, 100, 101, 126, 138, 147, 157, 159, 171, 175, 188, 199, 202, 223, 259 mittelbar (das Mittelbare); unmittelbar (das Unmittelbare) 17, 54, 59, 156, 236 M-O-R-E (Akronym), »less is more« 109 f., 114, 162 Musik 14 f., 17 f., 21, 24 f., 26, 28, 43, 45, 47, 48, 49, 71, 86, 102, 104, 105, 107, 109, 112, 113 f., 117 f., 126 f., 148 f., 213, 215 f., 217 f., 219 ff., 225, 254, 255 Nachhaltigkeit, nachhaltig 14, 22, 49, 71 f., 82, 88, 90, 144, 145 ff., 171 ff., 181, 203, 233 f., 244 Narrativ 52, 154, 156, 214, 237 ff. Neugier, wertschätzende Neugier 12 f., 16, 25, 27, 36, 58, 60, 100, 101 f., 104, 110 f., 141, 143 f., 157, 172, 196, 208, 257, 260 Nicht-Wissen 60, 87, 95, 157, 257 Notenge 40 ff., 45, 50, 54, 65, 76, 112, 121, 187 Oberfläche 28, 30, 34, 57, 116, 123, 124 ff., 130 f., 142, 158, 168, 170, 186, 230, 245 O-P-E-R (Akronym) 124 ff., 130 f. Paraphrasieren 78 f., 157 Performance 35, 45, 48, 102 f., 111, 113, 117, 164, 198 f., 216 ff., 243 Perspektive, Perspektivenwechsel, Perspektivenreichtum 9, 11, 13, 19, 33, 53, 59, 69, 82, 105, 107, 114, 121, 149 158 168, 184, 188, 195, 202, 244 f., 260

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Stichwortregister

Phänomenologie, phänomenologisch 21, 24, 27 ff., 34, 40, 47, 57, 88, 124, 159, 168 ff., 178, 193, 211 ff., 245, 257 Phasenübergang 51, 185 ff. Poesie, poetisch 14, 48, 102 f., 118, 126, 128, 134, 159, 173, 189, 213 f., 215 f., 220, 222, 239 Präsenz 13, 56, 58 f., 172, 188, 196, 221, 259 f. Problem, Problematik 7 f., 13, 25, 32, 36, 51, 61 f., 66, 72 f., 76, 77 f., 81 ff., 86 f., 88, 91, 96, 120 ff., 140 f., 149, 154, 161, 164, 171 f., 177, 179, 180 ff., 187, 190 f., 194, 201 f., 204, 208 f., 228, 229 ff., 232 ff., 237 ff., 245 ff., 251 f., 256 – sich vom Problem distanzieren 45 f., 91, 96, 100, 120 – problemfreie Zeiten 79 ff., 83, 86, 88, 229 – Problemgeschichte 66, 141, 155 ff. – Problembeschreibung 78 f., 80, 82 ff., 87 – Problemtrance 77 f., 251 – Problemüberzeugung 81 f., 86 Prozess, prozessorientiert 7 f., 9, 21 f., 24, 27, 29, 34, 40, 55 f., 58, 63, 72, 87, 99 f., 143, 152, 153, 155, 157, 162 f., 176, 178, 182, 189, 197, 208, 211, 221, 236, 240 f., 242 f., 247, 256 ff. – Prozessanalyse 15, 128 ff., 162 f., 188 – Prozess begleiten, gestalten 31, 33, 58, 61 f., 63, 66, 128, 184, 231 ff., 245, 257, 259 – Kommunikationsprozess 29, 157 – künstlerischer Prozess 13, 17, 24, 27, 28, 35, 36, 45, 46 ff., 50, 65, 82, 104 ff., 111 f., 116, 123, 125, 127 f., 144, 149, 165, 185 f., 187, 188 f., 194, 204, 211 f., 216, 217, 224, 226, 250, 260 f. – Lebensprozess 9 – Selbstorganisationsprozess 33, 182, 184, 258 – dem Prozess vertrauen 32, 56, 93, 258

Rahmen 35, 39, 43, 52, 62, 76, 106, 110, 114, 116, 117, 118, 126, 128, 154, 162 f., 195 – Rahmenbedingung 45, 52, 56, 61, 73, 116, 117, 193 – Rahmen durchbrechen 117 – räumlich 49, 99, 104 f., 107, 114 f. – zeitlich 49, 66, 99, 104, 107, 113, 116 Reduktion, reduzieren 9, 13, 30, 101, 124, 127, 154, 161 f., 168 f., 180, 193, 214 Resilienz 79, 83, 128 f., 190, 199 Respektlosigkeit 58 f. Ressource, ressourcenorientiert 9, 14, 18, 24 ff., 41, 50, 62, 66, 76 ff., 97, 102, 127f, 157, 171, 187 f., 190 f., 198, 214, 224 f., 230 f., 250 ff., 256 f. Rückbindungsritual 39 f. Rückmeldung (Feedback) 75, 105, 107, 108, 115 f., 123 ff., 151 f., 173, 197, 208, 247 Salutogenese 167, 189 f., 199 Schönheit 26, 36, 44, 50 f., 127, 188, 224 f., 254, 260 »Seelennahrung« 51, 146, 150, 173, 189 Selbstorganisation 33, 66, 123, 165, 167, 177, 179 ff., 241, 261 Sensibilität 24, 60, 104, 224 S-E-R-A (Akronym) 106 254 Sinne, sinnlich 17, 19, 26, 47, 50 f., 54, 82, 90 f., 101, 104 ff., 112, 114, 117, 124, 126, 159, 160, 176, 178, 186, 189, 190, 213 ff., 218, 223 f., 244, 249, 250, 260 Sorge 18, 31, 41, 66, 76 ff., 98, 121 Spiel, spielerisch 9, 11 ff., 16 f., 23, 32 f., 43, 45, 46 ff., 51 f., 65, 100, 101, 105, 109 ff., 118, 121 ff., 150, 153 ff., 159 ff., 174, 179, 185, 190, 195, 198, 202, 204, 214 f., 225, 249 f., 259 ff. – Spielraum 12, 13 ff., 27 f., 35, 40 ff., 45, 49, 51 f., 59, 74, 75, 102, 104, 119 f., 126, 161, 179, 187, 217, 224, 226, 240 – Spielansatz 99, 115 f. – spielgehemmt 101, 104

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Stichwortregister

Sprache 9, 11 f., 17 ff., 22, 32 ff., 36, 41 f., 94, 105, 113, 116, 118 f., 120, 126 f., 131, 138, 153 ff., 157, 158, 165, 170, 178, 185, 187 ff., 215, 239, 243, 250 f., 261 Supervision 63, 72, 73 ff., 97, 107, 145, 157, 176 f., 195 ff., 219, 233, 258 Synergetik 56, 179 ff. System, systemisch, Systemtheorie 7 f., 20, 21, 23, 26, 33 f., 50, 51, 55 f., 123, 154, 156, 167, 179 ff., 199, 201, 203, 228, 236, 238, 240 f., 245 Take 13, 14 f., 26, 114 ff., 128, 144, 198 f., 255 Tanz 17, 25, 28, 45, 48, 103, 104 ff., 109, 111, 112 ff., 117 ff., 122, 126, 160 f., 198 f., 213, 215, 218, 220 ff., 254 f. Team 14 f., 17, 75, 85, 94 f., 106, 107 f., 122, 189 f., 197, 200 ff., 257 Theater 25, 28, 35, 44, 45, 49, 102 f., 109, 111, 113, 117, 118, 120, 121, 126 f., 164, 198, 204, 213, 218, 220, 222, 254 Therapie 7, 11, 18, 20, 24, 25, 29, 33 ff., 39 ff., 50, 52, 73, 88, 112, 145, 168, 178, 193 f., 211 f., 213 f., 219, 223 ff., 236, 241 ff. Traum, Tagtraum, träumen 8, 43, 45 ff., 53, 103, 130, 146 Tun-als-ob 46, 51, 101, 161, 243 Überraschung 17, 24, 26, 36, 58, 60, 106, 116, 125, 169, 171, 204, 208, 230, 259 ff.

Übertragung 62 f., 110 unvermittelbar (das Unvermittelbare) 55 f., 194 »Was noch?« 13, 70 f., 82, 91, 129, 134 Welterfahrung (im alternativen/ außerordentlichen/ordentlichen Kontext) 17, 29, 31, 39 ff., 44, 53 f., 60, 65, 68, 98, 101, 120 f., 131, 132 f., 184 f., 187, 195, 199, 239 Werk, werkorientiert 13, 16, 17, 18 f., 24, 25 ff., 28 f., 30 f., 33, 35 f., 43, 45, 47, 49 ff., 54, 56, 101 f., 105 ff., 111, 112 ff., 120, 123 ff., 141 f., 146, 149 f., 156, 162 ff., 169, 174, 185 ff., 188 f., 193 ff., 196, 198 f., 203, 211 f., 214, 217, 219, 224, 226, 259 ff. – Werkanalyse 130 Wertschätzung, wertschätzend 12, 18 f., 27, 32, 58 ff., 77, 124, 130, 143, 177, 188, 201 f., 235 f., 257 Wiederholung (Repetition) 49, 111, 133, 222 Wirklichkeit 17, 26, 28, 43, 46, 52 ff., 68, 98, 133, 145, 153 ff., 185, 217, 235, 242 f. Zeit, Zeitfenster 13, 18, 24 f., 33, 39, 43, 46, 49, 57, 62, 65 f., 72, 79, 82 ff., 87, 89, 90, 92, 98, 100, 104 ff., 110, 113 ff., 118, 126 f., 136, 145, 161, 162 f., 177 f., 184, 202, 205, 256 Zukunft, Zukunftsvision 11, 12, 13, 31, 65, 67, 81, 88 ff., 149, 171, 182, 184, 186, 201, 234 f., 243 f., 254

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