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German Pages 221 Year 1979
OTA
WEINBERGER
Logische Analyse in der Jurisprudenz
S c h r i f t e n zur Re c ht s t h e ο r i e Heft 83
Logische Analyse i n der Jurisprudenz
Von
Univ.- Prof. DDr. Ota Weinberger
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Alle Rechte vorbehalten © 1979 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1979 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 04416 9
Vorwort I n diesem Vorwort möchte ich nicht bloß eine sachliche Überlegung über die Rolle der Logik i n der Rechtstheorie vorlegen, sondern gleichzeitig mein wissenschaftliches Kredo ausdrücken, das meinen Lebensweg als Wissenschaftler bestimmt hat. I n einem Vorwort scheint m i r diese persönliche Form der Darlegung zulässig. Sie hat vielleicht auch den Vorteil, eine günstige Verständigungsbasis zwischen Autor und Leser zu schaffen. M i t einer klaren Interessensorientierung an logischen und methodologischen Problemen, die m i r schon als Mittelschüler eigen war, erhielt ich meine juristische Ausbildung an der Brünner Masaryk-Universität, die damals vom Geist der Brünner Schule der Reinen Rechtslehre durchdrungen war. Das Haupt der Schule, Franz Weyr, ein enger Freund Hans Kelsens, vertrat eine Reine Rechtslehre — er nannte sie auch „Normative Rechtstheorie" —, die sich von der Wiener Schule Kelsens vor allem dadurch unterschied, daß Weyr den Rechtssatz nicht i n der Kelsenschen Weise als bedingten Sanktionssatz, sondern allgemein als generellen hypothetischen Normsatz, d.h. als normative Regel, auffaßte. Für die Brünner Schule war es charakteristisch, daß i n allen Bereichen der Rechtstheorie, der Rechtsdogmatik und der juristischen Methodenlehre logisch-analytische Untersuchungen i n den Vordergrund gestellt wurden. Einer Anmerkung Franz Weyrs i n seinem Rechtsphilosophieseminar 1938 verdanke ich die Anregung zu meinen Überlegungen über die Möglichkeit einer Normenlogik. Z u r Zeit, als eine Normenlogik noch nicht existierte — von dem nicht recht gelungenen Versuch Ernst Mallys 1 kann abgesehen werden — und als auf Grund der Arbeiten von Walter Dubislav und Jorgen Jergensen 2 tiefe Zweifel an der Möglichkeit einer Normenlogik bestanden, habe ich mich zu den Grundsätzen einer gnoseologisch differenzierten Semantik durchgearbeitet und für die Entwicklung einer Normenlogik als logischer Disziplin plädiert 3 . 1 Ich kannte die Arbeit Mallys „Grundgesetze des Sollens", Graz 1926, damals noch nicht. 2 Vgl. Dubislav, W.: Zur Unbegründbarkeit der Folgerungssätze, Theoria 3 (1937), S. 330-342; Jergensen, J.: Imperatives and Logic, Erkenntnis 7 (1937/ 38). Auch diese Arbeiten habe ich erst nach dem K r i e g gelesen.
6
Vorwort
Ich war von Anfang an davon überzeugt, daß die Normenlogik als spezifische Disziplin der Logik, nicht als Teil der Rechtstheorie, entwickelt werden muß; gleichzeitig war ich m i r dessen bewußt, daß der Aufbau der Normenlogik m i t Rücksicht auf die methodologischen Erfordernisse der Rechtstheorie und der Ethik gestaltet werden muß. Die Logik selbst habe ich immer als relativ selbständiges Instrument der Methodologie angesehen und meine Logikstudien i n der impliziten Absicht betrieben, der Wissenschaftsmethodologie zu dienen. Als Rechtstheoretiker sehe ich die juristischen Probleme i n erster Instanz immer i n strukturtheoretischer Perspektive, wenn ich auch — zum Unterschied von der Reinen Rechtslehre — das Recht nicht bloß als Idealentität ansehe, die i n rein verstehend-dogmatischer Weise zu erfassen wäre, sondern immer auch als gesellschaftliches Realphänomen. Meine berufliche Laufbahn war zwar weitgehend durch äußere Umstände und politische Entwicklungen bestimmt, sie entsprach aber dennoch i m wesentlichen meinen wissenschaftlichen Einstellungen und Interessen: sie umfaßt zwei Bereiche und deren Beziehungen, die Rechtstheorie und die Logik 4 . Die Grundzüge meiner rechtsphilosophischen Konzeption, die ich Erkenntniskritische Rechtstheorie nennen möchte, lassen sich schlagwortartig in folgenden Punkten ausdrücken: 1. Die Basis der Rechtstheorie bildet eine erkenntnistheoretisch differenzierte Semantik, welche Aussagesätze und Normsätze als kategorial verschieden ansieht 5 . M i t der differenzierten Semantik verbinde ich das analytische Postulat, daß i n jeder Überlegung bei jedem Satz, jedem Teilsatz eines komplexen Satzes, bei jedem Begriff oder Begriffsmerkmal klarzustellen ist, ob dieses Element rein beschreibend, normativ oder wertend zu verstehen ist. Der differenzierten Semantik entspricht eine differenzierte Logik: ich vertrete die Auffassung, daß die Normenlogik nicht auf die Logik 3
Vgl. meine 1958 publizierte A r b e i t „Die Sollsatzproblematik i n der modernen L o g i k " (auch i n : Studien zur Normenlogik u n d Rechtsinformatik, Berlin 1974), deren tschechische Version — bis auf das K a p i t e l über von Wright — schon 1950 als Dissertation eingereicht wurde. 4 Bald nach dem K r i e g sollte ich mich bei Franz Weyr u n d Vladimir Kubes i n B r ü n n aus Rechtsphilosophie habilitieren. Die geplante Habilitation k a m nicht zustande, w e i l die Brünner Fakultät, kurz nachdem ich das Doktorat der Rechte erlangt hatte, geschlossen wurde. Ich habilitierte mich dann für Logik u n d arbeitete als Logiker an der Karlsuniversität i n Prag. Seit 1972 b i n ich Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Graz, betrachte mich aber daneben noch immer als Logiker u n d Wissenschaftstheoretiker. 5 Daneben kommen ggf. andere Satzkategorien i n Frage, insbes. W e r t - und Präferenzsätze.
Vorwort der rein deskriptiven Sprache reduziert werden kann, sondern daß sie als besonderer Formalismus aufgebaut werden muß. 2. Es ist in juristischen Untersuchungen immer zwischen De-legelata- und De-lege-ferenda-Uberlegungen zu unterscheiden, mag es auch juristische Problemsituationen geben (ζ. B. das juristische Entscheiden), in denen beide Erwägungen eng ineinander greifen 6 . Richtig verstanden, schließt aber diese argumentationstheoretische Unterscheidung die Möglichkeit einer juristischen Gesetzgebungslehre nicht aus 7 . 3. Ubereinstimmend m i t Kelsen lehne ich den Methodensynkretismus 8 ab, aber in modifiziertem Sinne: Auf eine Frage bestimmter A r t muß eine der Problemstellung entsprechende Antwort gegeben werden; ζ. B. darf auf die Frage, was i n einem untersuchten Rechtssystem rechtens ist, nicht m i t der soziologischen Feststellung, wie sich die Menschen i n dieser Gesellschaft tatsächlich verhalten, geantwortet werden, denn es geht ja um die Frage, wie sie sich verhalten sollen, nicht wie sie sich verhalten. Ich meine aber, daß es auch andere als strukturelle und dogmatische juristische Betrachtungen über das Recht gibt 9 . 4. Philosophisch gesehen, ist deswegen die Strukturanalyse der Problemsituation das notwendige Framework jeder juristischen Untersuchungen. Deswegen bildet die logische Analyse die Grundlage der Rechtstheorie, sie stellt aber allein noch keine Rechtstheorie dar. 5. Ich gehe von der Uberzeugung aus, daß die juristische Theorie und die allgemeinen Grundbegriffe der Rechtslehre ebenso wie die Grundbegriffe des positiven Rechts nur auf dem Boden philosophischer und erkenntniskritischer Erörterungen dargestellt werden können 1 0 . 6 I n der Normenlogik sollten dementsprechend zwei Forschungsbereiche unterschieden werden: 1. die S t r u k t u r - u n d Folgerungstheorie, die als Elemente zwei aufeinander unreduzierbare Satzkategorien, Normsätze u n d Aussagesätze, enthalten muß; 2. die Theorie der F o r m der inhaltlichen Normbegründung. 7 Vgl. Weinberg er, O.: Z u r Theorie der Gesetzgebung, i n : Rechtsphilosophie und Gesetzgebung; Überlegungen zu den Grundlagen der modernen Gesetzgebung u n d Gesetzesanwendung, Wien—New Y o r k 1976, S. 173 - 198.
» Vgl. Kelsen, H.: Reine Rechtslehre, Wien 19602, S. 1. Die Notwendigkeit, das Recht verstehend und gleichzeitig als soziologisches F a k t u m zu betrachten, t r i t t schon beim Begriff der Geltung des Rechts auf. Dieser Begriff, ohne den auch die Reine Rechtslehre nicht auskommt, basiert notwendigerweise auf soziologischen Faktizitätskriterien. 10 »Handlung', ,Unterlassen', Juristische Kausalität', ,Schuld', ,Person', ,Schaden' sind n u r einige Beispiele von Begriffen, deren allgemeine j u r i stische Analyse ebensowenig wie das Verständnis ihrer Rolle i m untersuchten positiven Rechtssystem oder i n der legislativen Überlegung ohne die erkenntnistheoretische Analyse u n d Theorie der ihnen zugrundeliegenden Sachstrukturen möglich ist. So k a n n man keine adäquate juristische Theorie 9
8
Vorwort
Dies bringt die Jurisprudenz i n eine wesentliche Abhängigkeit von der Philosophie und allgemeinen Wissenschaftstheorie. 6. Die moderne Rechtswissenschaft basiert auf einer ganzen Reihe von grundlegenden Disziplinen wie: Logik, Semantik, Kommunikationstheorie, Axiologie, Entscheidungstheorie, Kybernetik, Soziologie, Politologie usw. Es geht hierbei nicht nur um die Anwendung der Ergebnisse dieser Disziplinen, sondern meist darum, besondere Grundlagendisziplinen für die Zwecke der Rechtswissenschaft zu entwickeln. Die Tatsache, daß alle meine juristischen Arbeiten meinem Kredo entsprechend von logisch-strukturellen Analysen ausgehen, macht es m i r leicht, aus meinen Arbeiten einen Band zum Thema „Logische Analyse in der Jurisprudenz" zusammenzustellen. Der Titel kommt dem Buch m i t Fug und Recht zu; denn die Studien sind sozusagen Illustrationen zur Behauptung, daß logische Analysen den Kern und die Basis der modernen Rechtstheorie und juristischen Methodologie bilden. Zwanglos fügen sich die Arbeiten i n den Rahmen der vier Abschnitte des Buches ein: A. B. C. D.
Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz Zum Problem des juristischen Denkens Wesen und Aufbau des Rechts Recht, Gerechtigkeit, Logik
Die Arbeiten werden, abgesehen von stilistischen Korrekturen, unverändert reproduziert. Einige Ergänzungen werden i n eckigen Klammern oder i n — m i t Kleinbuchstaben bezeichneten — Fußnoten hinzugefügt. Ich danke meinen Assistenten Dr. Peter Koller, Dr. Alfred Schramm, Dr. Manfred Prisching und Dr. Peter Strasser für die Hilfe bei der Vorbereitung dieses Manuskripts und für eine Menge stilistischer Korrekturen, die wesentlich zur Klarheit der Texte beigetragen haben. Frau Hannelore Jüsche sei mein Dank ausgesprochen für die sorgfältige Vorbereitung des Manuskripts. Herrn Prof. Dr. J. Broermann, Senator E. h. Ministerialrat a. D., bin ich für die Aufnahme dieses Bandes i n die Reihe „Schriften zur Rechtstheorie" zu Dank verpflichtet. Allen Mitarbeitern des Verlages Duncker & Humblot, die an der Herausgabe des Buches beteiligt waren, insbesonder Herrn Wolfgang Nitzsche, danke ich herzlichst für die sehr sorgfältige Arbeit. Graz, i m Jänner 1979
Ota Weinberger
der Handlung vorlegen, ohne die S t r u k t u r der Handlung als informationsabhängigen Prozeß zu erfassen u n d ohne die Situationen, i n denen w i r v o m Handeln sprechen, erkenntniskritisch zu analysieren. Ä h n l i c h ist es bei den anderen Grundbegriffen der Jurisprudenz.
Inhaltsverzeichnis Α. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz
AH.
Der Wissenschaftsbegriff
der Rechtswissenschaften
1. Die erkenntnistheoretischen schaft
Grundlagen
der
Rechtswissen-
15
18
2. Rationalität i n den Rechtswissenschaften
22
3. Die Strukturtheorie des Rechts
24
4. Gibt es eine spezifisch juristische Methode — soll die Jurisprudenz methodenmonistisch sein?
25
5. Jurisprudenz als praktische Wissenschaft
27
6. Perspektiven der modernen Rechtswissenschaft
29
7. Zusammenfassende Schlußbemerkungen
29
B. Zum Problem des juristischen Denkens B/I.
Normenlogik
und Rechtstheorie
31
1. Begriffliche Voraussetzungen
31
2. Das Recht als gedankliche Entität u n d als soziale Wirklichkeit
32
3. Normenlogik u n d der juristische Beweis
33
4. Normenlogik und die D y n a m i k der Rechtsordnung
34
5. Normenlogik u n d die juristischen Grundbegriffe
35
6. Normenlogik u n d die formale Gerechtigkeitsregel
36
7. Die Normenlogik als analytisches Instrument des Juristen
36
8. Schlußbemerkung
37
10 Bill.
Inhaltsverzeichnis Jurisprudenz
zwischen Logik und Plausibilitätsargumentation
..
38
1. Wodurch w i r d die Beziehung der Logik zum Recht u n d zur Rechtswissenschaft aktuell?
38
2. Momente, die zur rhetorisch-topischen Konzeption des j u r i s t i schen Denkens führen
40
3. Die logizistischen Konzeptionen des juristischen Denkens
41
4. Rhetorisch-topische Lehrmeinungen v o m juristischen Denken
47
5. Das harmonische Zusammenspiel von Logik u n d Rhetorik i m juristischen Denken 53 B/III.
Grundlagenprobleme
der Theorie des juristischen Denkens
61
1. Vorbemerkung
61
2. Die N o n - K o g n i t i v i t ä t des Sollens u n d der Werte
62
3. Die N o r m als K o m m u n i k a t
70
4. Die Naturrechtsproblematik als logisches u n d gnoseologisches Problem
75
5. Die philosophische Basis des Normenfolgerns
80
6. Das Problem der Offenheit des Normensystems
85
7. Das juristische Denken zwischen L o g i k u n d Rhetorik
90
8. Schlußbemerkungen
94
C. Wesen und Aufbau des Redits ClI.
Die Norm als Gedanke und Realität
95
1. Vorbemerkung
95
2. Basis u n d Ziel der ontologischen Wesensbestimmung der N o r m
96
3. Die Idealität der N o r m
97
4. Die Spezifik des Normgedankens
99
5. Die N o r m als Realität
101
Inhaltsverzeichnis 6. Die Hechtsordnung i n gedanklicher u n d realer Perspektive
105
7. Der Charakter der Rechtswissenschaften
107
8. Die Normenlogik schaften CHI.
Ober die Offenheit
als
Hilfswissenschaft
der
Rechtswissen-
109
des rechtlichen Normensystems
111
1. Der Begriff der Offenheit von Normensystemen
112
2. Die logischen Konsequenzen der Offenheit der Normensysteme 114 3. Übersicht über die m i t der Offenheit rechtsmethodologischen Probleme
zusammenhängenden
4. Rechtsfreier Raum u n d potentielles Willensfeld
116 117
a) Rechtsfreier Raum als Tatsache
117
b) Rechtsfreier Raum als rechtspolitisches Postulat
118
c) Normative Selbstbeschränkung des Rechts
118
5. Offenheit u n d semantische Unbestimmtheit
118
6. Entscheidungsdetermination i m potentiellen Willensfeld
119
7. Bewegliche Determination des Sollens
121
8. Normen v o m Typus des § 7 A B G B u n d das Non-liquet-Problem 122
D. Redit, Gerechtigkeit, Logik DU.
Wahrheit, Recht und Moral. Eine Analyse auf kommunikationstheoretischer Grundlage 127 1. Die Behauptungskonvention als Voraussetzung der Ü b e r m i t t l u n g von Informationen über Tatsachen 129 2. Handlung u n d Wissen
132
3. K o l l e k t i v h a n d l u n g u n d Kooperation
134
4. Das Wahrheitspostulat als Fundamentalprinzip der M o r a l
136
a) Moralische Folgerungen aus der S t r u k t u r der Sprachkommunikation 136
12
Inhaltsverzeichnis b) Das Wahrheitspostulat u n d die Bedingungen des richtigen Handelns 137 5. Abschließende Überlegungen
D/II.
Gleichheitspostulate. tische Betrachtung
Eine strukturtheoretische
143 und
rechtspoli146
1. Logische u n d erkenntnistheoretische Probleme der Gleichheit u n d Identität 147 2. Die Formulierung des Prinzips der formalen Gleichheit u n d seine Abtrennung von inhaltlichen Postulaten 150
D/III.
3. Die Bedeutung der formalen Gleichheit
152
4. Gleichheit v o r dem Gesetz
154
5. Inhaltliche Gleichheitspostulate
155
6. Gleichheit u n d B i l l i g k e i t
160
7. Gerechtigkeit u n d Gleichheit
162
Einzelfallgerechtigkeit. E i n Beitrag zum Studium der logischen Bedingungen der Gerechtigkeit 164 1. Die Problemsituation, die Fragestellung unserer Untersuchung 164 2. Die S t r u k t u r der Rechtsregel
167
3. Generelle Rechtsregel u n d das Prinzip der formalen Gerechtigkeit 172
D/IV.
4. Differenzierende Gerechtigkeit
178
5. Der Begriff der Einzelfallgerechtigkeit
180
6. Die Billigkeitsentscheidung
189
7. Zusammenfassende Thesen
192
Begründung oder Illusion. Erkenntniskritische Gedanken zu John Rawls* Theorie der Gerechtigkeit 195 1. Unser Bedürfnis, M o r a l u n d Recht als wohlbegründet zu verstehen 196
Inhaltsverzeichnis 2. Der Streit u m das Naturrecht. Die aktuelle Tendenz, den Streit durch eine materiale Begründungstheorie zu überwinden 197 3. John Rawls' Gerechtigkeit als Fairneß — die Aufgaben meiner Überlegungen 199 4. Der K o n t r a k t als moraltheoretische Argumentationsform
201
5. Die Urposition, der Schleier des Nichtwissens, die Grundgüter 203 6. Gerechtigkeit als Verteilungsproblem. Probleme der Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze 206 7. Rawls' weltanschauliche Grundüberzeugungen
212
8. Z u m Begriff der Gerechtigkeit
214
9. Die Bedeutung der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie
215
Quellennachweis
217
Bibliographie: Ausgewählte Literatur zum Thema „Logische Analyse in der Jurisprudenz" I. Juristisches Denken u n d Normenlogik I I . Strukturtheorie des Rechts I I I . Gerechtigkeit u n d L o g i k
218 219 220
Α. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz A/I. Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften Dem Rechtsphilosophen erscheinen alle für unser Thema grundlegenden Vorfragen strittig und problembeladen: nicht nur die Fragen „Was ist Wissenschaft?", „Was ist Rechtswissenschaft?", „Gibt es eine Rechtswissenschaft oder sollte man eigentlich von Rechtswissenschaften verschiedener A r t sprechen?", „Was haben die Rechtswissenschaften zu erforschen, m i t welchen Methoden sollen sie es tun?", auch schon die Frage, ob Jurisprudenz überhaupt eine Wissenschaft ist, w i r d als Problem empfunden, und es w i r d zu diesem Problem in sehr verschiedener Weise Stellung genommen. I n einem berühmten — noch heute lesenswerten — Vortrag aus dem Jahre 1848, der den charakteristischen Titel trägt: „Von der Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" 1 , erklärte Julius Hermann von Kirchmann die Jurisprudenz für wertlos, da sie keinen Einfluß auf die Wirklichkeit und auf das Leben der Völker habe; er sprach ihr auch jede theoretische und wissenschaftliche Bedeutung ab. Wenn auch dem heutigen Leser sofort auffällt, daß von Kirchmanns Argumentation teilweise auf fundamentalen Irrtümern beruht — er unterscheidet nicht klar zwischen Naturgesetz und Gesetz des Rechts, zwischen Wahrheit und Sollen und verkennt die eigentliche Rolle der rational-kritischen Analyse —, so werden ihm dennoch die Darlegungen des Herrn Oberstaatsanwalts als brillante Anklage der Jurisprudenz erscheinen. Erwähnt seien die wichtigsten und schlagkräftigsten Argumente dieser Anklage: 1. Der Gegenstand der Jurisprudenz, das Recht, sei — i m Gegensatz zu dem Gegenstand anderer Wissenschaften — veränderlich; das Recht bestehe i n der Regel schon nicht mehr, wenn es die Rechtswissenschaft richtig erfaßt habe. 2. Die Rechtswissenschaft stelle sich dem Fortschritt des Rechts gern feindlich entgegen. 3. Die Rechtswissenschaft sei m i t dem ungeheuren Ballast des Studiums der toten Vergangenheit beladen; sie könnte aber nur dann Wert 1 von Kirchmann, J. H. : Von der Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, B e r l i n 1848.
16
.Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz
haben, wenn sie ein M i t t e l wäre, die Gegenwart zu verstehen und zu beherrschen. 4. I n den Rechtswissenschaften mische sich der Geist der Leidenschaften und Parteiungen i n das reine Wahrheitsstreben, welches sonst die Wissenschaften beherrsche. 5. Die Wissenschaften erforschen objektive Gesetze; das positive Gesetz des Rechts sei aber bare Willkür. Die Rechtswissenschaft sei nicht berufen zu Gesetzgebung, nicht berufen, den Inhalt des Rechts zu formen. 6. Der Rechtswissenschaft bleibe nur das Werk des Erklärens, des Verdeutlichens und des Schulmeisterns. „Die Juristen sind", sagt von Kirchmann, „durch das positive Gesetz zu Würmern geworden, die nur vom faulen Holz leben". Die Aufgabe des Deutens, dieses Herumtüfteln an zufälligen Mängeln des Gesetzes, erscheint von Kirchmann degradierend, einer Wissenschaft unwürdig, denn „drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur". Zweifelt von Kirchmann an der praktischen Bedeutung und an dem Erkenntniswert der Jurisprudenz wegen ihrer gesellschaftlichen W i r kungslosigkeit, ja Schädlichkeit, und wegen der relativen Bedeutungslosigkeit ihrer hermeneutischen Aufgaben, so haben moderne Rechtsdenker entweder eine scharfe Trennung der rein erkennenden Rechtswissenschaft von der zur Anwendung des Rechts anleitenden Lehre und der rechtspolitisch-schöpferischen Tätigkeit gefordert — am schärfsten wohl Hans Kelsen und Franz Weyr —, oder sie erklären die Jurisprudenz zur Nicht-Wissenschaft, wie ζ. B. Ottmar Ballweg 2. Die Jurisprudenz als Handlungs- und Entscheidungslehre, die von rhetorischer — a contrario logischer — Rationalität beherrscht sei, ist für Ballweg keine Wissenschaft, weil sie nicht Wissen über das Recht anstrebe, sondern eine anleitende Weisheitslehre des rationalen rechtlichen Entscheidens sei. Eigentümlicherweise ist für Ballweg Gegenstand der Rechtswissenschaft nicht — wie üblich — das Recht, sondern die Jurisprudenz. Ich habe nichts einzuwenden gegen die begriffliche Abtrennung der zum juristischen Handeln anleitenden Lehre von den erkennenden und explizierenden Rechtswissenschaften, doch sollten diese auf das Recht selbst als Studiengegenstand gerichtet bleiben. Die Trennung von Prudentiellem und Kognitivem i n zwei selbständige Disziplinen wäre jedoch insoweit problematisch, als die Begründung des Prudentiellen auf der Sacherkenntnis fußt und die proponierenden Analysen der Alternativen kognitiv sind 3 . 2
Ballweg, O.: Rechtswissenschaft u n d Jurisprudenz, Basel 1970. Ballweg, O.: op. cit., S. 7. Die nicht sehr übliche terminologische U n t e r scheidung zwischen Jurisprudenz u n d Rechtswissenschaft ist durchaus möglich. Ich lege sie aber meinen heutigen Ausführungen nicht zugrunde. 3
I. Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften
17
Wenn auch die meisten Rechtsdenker ihre Disziplin durchaus als Wissenschaft verstanden wissen wollen, erblicken sie diese Wissenschaftlichkeit i n ganz verschiedenen Momenten: 1. I n der rein objektiv erkennenden Aufgabe der Rechtswissenschaft: Die Rechtswissenschaften haben, ohne zu werten, festzustellen und darzustellen, was positiv Rechtens ist; die Rechtslehre ist ein auf einen spezifischen Erkenntnisgegenstand gerichtetes rein kognitives Unternehmen, eine Wissenschaft wie jede andere, da sie i n rationaler Weise nach objektiver Erkenntnis einer Sphäre der Realität — nämlich des positiven Rechts — strebt. 2. Andere, i n markanter Weise ζ. B. Paul Bockelmann, setzten die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft gerade dort an, wo das als Erkenntnisprozeß aufgefaßte Suchen nach sogenanntem richtigen Recht beginnt. I n seinem Aufsatz „Ist die Rechtswissenschaft wirklich eine Wissenschaft?" aus dem Jahre 1971 sagt der genannte Autor: „Die Jurisprudenz w i r d zur Wissenschaft, falls sie sich dazu aufrafft, das Ringen um die Erkenntnis wahren Rechts auch dann nicht aufzugeben, wenn sie sich von seiner Vergeblichkeit überzeugt hat, falls es i h r also gelingt, die Skepsis nicht zum Skeptizismus werden zu lassen. Dann w i r d ihr Blick frei für Rechtserkenntnisse, die gewiß nicht den Anspruch auf absolute Richtigkeit erheben dürfen, aber doch den, durch die geschichtliche Erfahrung erprobt zu sein 4 ." ,Rechtserkenntnis' w i r d hier offenbar i n naturrechtlichem Sinn verstanden. 3. Die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz kann schließlich damit begründet werden, daß man nicht das Thema und nicht die Ziele (reine Erkenntnisse oder praktische Zwecke, wie bei Medizin oder Jurisprudenz), sondern allein die Tatsache des rationalen, systematischen und methodisch bewußten Vorgehens als Kennzeichen der Wissei*schaftlichkeit ansieht. Wollte ich ein historisches oder aktuelles B i l d davon entwerfen, ob und wie die Rechtsdenker ihre Disziplin als Wissenschaft aufgefaßt haben oder auffassen, müßte ich einen Gesamtabriß der rechtsphilosophischen Lehren skizzieren. I n ähnlicher beschreibender Absicht wäre es sinnvoll, eine Typologie der Meinungen darzustellen und das Feld der Wissenschaftskonzeptionen der Rechtswissenschaftler nach jenen Kriterien zu ordnen, welche die Dimensionen des juristischen Weltbildes bestimmen 5 . 4 Bockelmann, P.: Ist die Rechtswissenschaft w i r k l i c h eine Wissenschaft?, i n : Das Rechtswesen, München 1971, S. 29. 5 Die i m nachfolgenden behandelten Gesichtspunkte meiner programmatischen Darlegung könnten auch als Hinweise gelten, welche Momente für so eine Typologie als differenzierende K r i t e r i e n heranzuziehen sind.
2 Weinberger
18
Α. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz
Meine heutigen Untersuchungen verfolgen ganz andere Ziele: Ich möchte für eine m i r adäquat erscheinende Wissenschaftskonzeption der Rechtswissenschaften plädieren und das Arbeitsprogramm der erkenntniskritischen Jurisprudenz bestimmen. Auch dies jedoch m i t einer Einschränkung: Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung lasse ich außer Betracht — nicht etwa, w e i l ich sie für unbedeutend halte, sondern weil ich mich nicht kompetent fühle, über die Methodologie dieser Wissenschaften zu sprechen. 1. Die erkenntnistheoretischen
Grundlagen der Rechtswissenschaft
Das Recht ist eine gedankliche Entität normativer Natur. Als Idealentität kann es sprachlich ausgedrückt werden. Das heißt aber nicht, daß es immer i n sprachlicher Formulierung vorliegt, sondern bloß, daß es grundsätzlich als sprachlich formulierbar anzusehen ist. Das Recht kann mitgeteilt werden. Durch Vermittlung der Sprache w i r d es zu einem verstehbaren, inter subjektiv zugänglichen Gegenstand. Der semantische Charakter des Rechts kann nicht richtig verstanden werden, wenn man keine klare und scharfe Trennungslinie zwischen rein beschreibenden, normativen und wertenden Sätzen zieht. I n derselben Weise sind auch die Begriffsmerkmale der juristischen Begriffe ihrer Bedeutung nach scharf zu differenzieren. Es entspricht der anthropologischen Situation und dem Gesamtaufbau unserer Gedankenwelt — w i r sind erkennende und aktive, d.h. handelnde, wollende und wertende Wesen —, daß unsere Gedanken von verschiedener A r t sind und daß auch die sprachlichen Ausdrücke der Gedanken als bedeutungsverschieden anzusehen sind — je nach ihrem funktionalen Bezug zur erkennenden oder aktiven Komponente des menschlichen Bewußtseins. Die fundamentale Zäsur liegt zwischen reiner Beschreibung, deskriptiver Sprache und den Aussagesätzen auf der einen Seite, und den stellungnehmenden oder praktischen Sätzen auf der anderen Seite 6 . Diese Zäsur ist keineswegs eine Tatsache der umgangssprachlichen Praxis — hier w i r d i m Gegenteil die semantische Differenzierung oft i m unklaren gelassen und muß erst durch Analyse aufgedeckt werden —, sondern ein Postulat der philosophischen Tiefengrammatik. M i t dieser fundamentalen semantischen Trennung sind wichtige logische und methodologische Konsequenzen verbunden. β Vgl. Hare's Unterscheidung von deskriptiver u n d präskriptiver Sprache, i n : Hare, R. M.: The Language of Morals, Oxford—London—New Y o r k 1970 (1. Ausgabe 1952), S. 2 f. Ich folge nicht ganz Hare's Terminologie, da m. E. der Terminus „präskriptive Sätze" bloß der normativen Sphäre entspricht, aber auf wertende Sätze (Value-Judgements) k a u m paßt.
I. Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften
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Die grundlegende Bedeutungsunterscheidung von deskriptiver und präskriptiver Sprache findet ihren Niederschlag i n den Konstruktionsprinzipien der Logik der praktischen Sphäre. I n Verkürzung w i r d dies gewöhnlich durch die Regeln ausgedrückt „Aus Sein folgt nicht Sollen" und „Aus Sollen folgt nicht Sein". Genauer müßte man sagen: Aus einem System rein beschreibender Prämissen, das also keine praktischen Sätze enthält, ist keine Sollfolgerung ableitbar, und umgekehrt: aus rein normativen, resp. praktischen Prämissen folgt kein rein deskriptiver Schlußsatz7. Das Charakteristikum der praktischen Sätze ist die Abhängigkeit ihrer Geltung und Begründung von Stellungnahmen und die damit verbundene Systemrelativität 8 . I m Feld der praktischen Sätze sollte zwischen normativen und wertenden Sätzen genauer unterschieden werden. Wenn auch zwischen beiden Satzarten manifeste Beziehungen bestehen, sind die als verhaltensregulierend gemeinten Normsätze doch von den Wertungssätzen zu unterscheiden, die nur eine Stellungnahme ausdrücken, nicht aber auch als Lenkungs- und Regelungsinstrumente gemeint sind. Wenn man die angeführte gnoseologisch differenzierte Semantik m i t der Trennung von beschreibenden, normativen und wertenden Sätzen akzeptiert, w i r d man als Grundpostulat der wissenschaftlichen und philosophischen Analyse die reinliche Bestimmung und Trennung der Sätze, Satzteile, der Begriffe und Begriffselemente nach ihrem semantischen Charakter fordern. Dies ist meiner Meinung nach ein grundlegendes Postulat für die gesamte Rechtswissenschaft. Die Rechtswissenschaften sind Normwissenschaften i n dem Sinne, daß alle ihre Behauptungen irgendwie auf Normen Bezug nehmen, nicht aber i n dem Sinne, daß sie sich ausschließlich m i t Normen befassen würden, ohne deren Beziehungen zur Wirklichkeit, zu gesellschaftlichen Faktoren und Tatsachen zu beachten. 7 Näheres über dieses Problem u n d die Konsequenzen für den A u f b a u der Normenlogik siehe: Weinberger, O.: Bemerkungen zur Grundlegung der Theorie des juristischen Denkens, i n : Rechtstheorie, Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, Jahrbuch f ü r Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie, Bd. 2, 1972, S. 134 - 161. 8 Weniger genau wäre es, von der Subjektivität praktischer Sätze zu sprechen, da das stellungnehmende Moment nicht notwendigerweise v o n einer Person getragen sein muß u n d da Systemrelativität weder Intersubjektivität noch übersubjektive Geltung ausschließt. W i r sind gewohnt, m i t dem Begriff der Subjektivität persönliche Unterschiedlichkeit u n d grundsätzliche intersubjektive Unentscheidbarkeiten zu assoziieren, was jedoch m i t der Systemrelativität nicht behauptet w i r d . Vgl. auch Weinberger, O.: Die Pluralität der Normensysteme, i n : ARSP 1971, S. 400 f., u n d ders., Fundamental Problems of the Theory of Legal Reasoning, i n : ARSP 1972, S. 309 f.; B / I I I dieses Buches.
2*
.Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz
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Die Rechtsnorm selbst ist nicht nur eine Idealentität, sondern auch eine gesellschaftliche Realität und ist deswegen von den Rechtswissenschaften nicht nur ihrer Struktur und ihrem Sinn nach, sondern auch i n ihrer gesellschaftlichen Funktion zu erfassen 9. Die Rechtsnorm ist real, nicht nur w e i l sie i n der Zeit besteht, sondern auch, w e i l sie zweifellos als Faktor der gesellschaftlichen Wirklichkeit m i t dem Verhalten der Menschen und den real bestehenden Institutionen funktional gekoppelt ist. Die Rechtswissenschaften befassen sich also sowohl m i t Rechtsnormen i n verstehender Weise als auch m i t allen Beziehungen des Rechts zur sozialen Wirklichkeit, wozu auch der funktionelle Zusammenhang m i t anderen gesellschaftlichen Normensystemen gehört. Die gnoseologisch differenzierte Semantik führt zu einem Umdenken der Auffassung der Logik und der Beziehungen zwischen Erkennen, logischem Operieren (Denken) und Wollen (genauer: der gesamten praktischen Gedankensphäre). War man i m Rahmen der Semantik der rein deskriptiven Sprache davon ausgegangen, die Logik als ein dem Erkennen und nur dem Erkennen dienendes Instrument des formalen Operierens m i t deskriptiven Gedankenstrukturen (resp. m i t rein deskriptiven Sätzen und Termini) aufzufassen, so sieht man sich nun genötigt, die Logik als m i t Sätzen deskriptiver wie auch m i t solchen praktischer, insbesondere normativer Natur befaßt anzusehen 10 . Hier liegt — philosophisch gesehen — die Wurzel der Forderung, eine Normenlogik zu entwickeln, was durch die vorgeschlagenen deontologischen Systeme bei weitem noch nicht geleistet wurde 1 1 . • Vgl. Weinberg er, O.: Die N o r m als Gedanke u n d Realität, i n : ÖZÖR 20/ 1970, S. 203 - 216; A / I I dieses Buches. 10 Z u r ungefähren Verdeutlichung können w i r diesen Wandel der K o n zeption durch folgendes Schema darstellen. Alte
Auffassung
Neue
Auffassung
Es sei angemerkt, daß auch noch andere Gedankentypen ins Blickfeld der logischen Analyse treten, ζ. B. Fragen.
I. Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften
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Daß die Logik vor der Aufgabe steht, das Feld der Argumentationen i m Bereich der Praxis präzise zu erfassen — hierzu gehört nicht nur das Problem der normenlogischen Deduktion, sondern auch die formale Axiologie, die Theorie der teleologischen Beziehungen m i t der Entscheidungslogik —, kann i n der heutigen philosophischen Problemsituation kaum übersehen werden. Die Juristen stellen die Rechtserzeugung und die Rechtserkenntnis einander begrifflich gegenüber. I n erkenntnistheoretischer Sicht kann die Setzung oder Erzeugung einer Norm so verstanden werden, daß auf Grund von Willensakten oder infolge eines gewissen Kreationsprozesses (Gesetzgebung, normative Gewohnheit, Entscheidung eines Individualakte setzenden Staatsorgans) eine Norm zum Bestandteil eines gewissen Systems wird. Was heißt aber Normerkenntnis? Nichts anderes als das Erfassen einer Norm durch Verstehen von Normsätzen oder durch Herauslesen und erfassende Rekonstruktion der Norm aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, etwa einer Norm des Gewohnheitsrechtes aus bestehenden normativen Gewohnheiten. Es geht bei der Erkenntnis der Norm nicht u m die Gewinnung einer Aussage über eine Norm — wie viele meinen 1 2 —, sondern um das Verstehen des Normgedankens, ganz analog wie das Erfassen einer Aussage das Verstehen des Aussagesatzes, das gedankliche Nachvollziehen der Aussage ist, nicht eine Beurteilung des Aussagesatzes. Wer vom Pythagoräischen Lehrsatz Kenntnis erlangt, erfaßt eine Information über die Beziehung der Seiten des rechtwinkligen Dreiecks, nicht eine Aussage über den Pythagoräischen Lehrsatz. Wer eine Norm des Strafgesetzbuches erfaßt, urteilt nicht über den entsprechenden Satz, sondern versteht ihn, erfaßt, daß etwas und was i m Sinne des Normensystems gesollt ist a . Die Norm, insbesondere die Rechtsnorm, steht i n Begründungszusammenhängen von zweierlei A r t : Sie ist Folge gesetzter Normen (gegebenenfalls unter Heranziehung von Tatsachenprämissen) oder sie w i r d begründet durch eine wertende Überlegung, die gegebenenfalls als Basis normsetzender Entscheidungen dienen kann. Dem entspricht die für die gesamte Methodologie der Rechtswissenschaften grund11
Wenn auch andere Typen praktischer Sätze philosophisch u n d wissenschaftlich zweifellos ebenfalls interessant sind, können w i r uns hier einstweilen auf Normsätze beschränken. 12 Vgl. insbesondere: Kelsen, H.: Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, zitiert nach dem unveränderten Nachdruck 1967, S. 73 ff., u n d ders., Recht u n d Logik, i n : F o r u m 1965, zitiert nach: Die Wiener rechtstheoretische Schule, hrsg. von ff. Klecatsky, R. Marcie , ff. Schambeck, S. 1483 ff., 1491 ff.; ferner von von Wright , G. H. : N o r m and Action, London 1963, S. 93 ff. et passim. a Weinberger , Ο.: Intersubjektive Kommunikation, Normenlogik u n d Normendynamik, Rechtstheorie 1977, S. 19 - 40.
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Α. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz
legende Unterscheidung von Überlegungen de lege lata und Uberlegungen de lege ferenda. Der Forderung, diese methodologische Unterscheidung einzuhalten, widerspricht auch keineswegs die Tatsache, daß der Jurist oft m i t Problemsituationen konfrontiert ist, wo beide Überlegungen nebeneinander stehen; man möchte fast sagen: ineinandergreifen; z.B. bei Ermessensentscheidungen. 2. Rationalität
in den Rechtswissenschaften
Als wissenschaftlich w i r d nur das anerkannt, was vernunftmäßig erfaßbar ist. durch rationale Methoden gewonnen wurde und was rational begründet wird. Keineswegs einheitlich sind jedoch die Meinungen darüber, was hier der Terminus „rational" bedeutet. I n einer Richtung wurde durch die moderne Logik Klarheit geschaffen: Die Vorstellung, es könne aus der Vernunft irgendetwas über Tatsachen, irgendetwas inhaltlicher Natur — etwas über „richtiges" Sollen — gewonnen werden, ist als Ding der Unmöglichkeit erkannt worden. Das logische Operieren ist unschöpferisch, es kann nicht mehr bieten, als durch die Prämissen eingegeben wird. Aus der Logik ergeben sich folgende Forderungen: Die Forderungen nach struktureller und semantischer Klarheit, nach Widerspruchsfreiheit des wissenschaftlichen Systems und die Forderung, alle Voraussetzungen explizit zu machen. Dies gilt natürlich auch für die Rechtswissenschaften, bei denen jedoch noch einige Probleme, insbesondere die exakte Definition des logischen Widerspruchs zwischen Normsätzen und die Frage nach der semantisch-philosophischen Grundlegung der normenlogischen Deduktion 1 3 , auftauchen. Gewisse Zweifel r u f t noch immer die Frage hervor, ob die nonkognitivistische Auffassung der Normen verträglich ist m i t der logischen Rationalität der praktischen Sphäre. Wenn man sich des instrumentalen. unschöpferischen und relativen Charakters jedweder Deduktion — auch jener i n der rein deskriptiven Sprache — bewußt wird, dann besteht keinerlei begriffliche Schwierigkeit, formallogische Beziehungen i m Bereich der praktischen Sätze zu konzipieren. Das Moment der Stellungnahme w i r d keineswegs ausgeschaltet, es t r i t t i n der Prämissensetzung und i n der Stellungnahme zum Schlußsatz auf. 13 Vgl. Weinberg er, O.: Ideen zur logischen Normensemantik, i n : Jenseits von Sein u n d Nichtsein. Beiträge zur Meinong-Forschung, Ed. R. Haller, Graz 1972, S. 306 f., w o ich nachzuweisen versuche, daß die normenlogische Ded u k t i o n nicht auf die Idee der deontisch perfekten Welten gestützt werden sollte. Vgl. auch: Weinberg er, Ch. u n d O.: Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1979, S. 103 ff., 134 f.
I. Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften
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Die Stellungnahme zum Schlußsatz kann hier — analog wie die Falsifikation der kognitiven Schlußfolgerung nach der Schlußfigur des modus tollens — zu kritischen Rückschlüssen über die Gültigkeit der Prämissen dienen. Da bei den Deduktionen der praktischen Sphäre neben praktischen Sätzen als Prämissen auch Aussagenprämissen (Tatsachenfeststellungen, nomische Aussagen) auftreten, ist die logische Basis für die Verwertung von Erkenntnissen für die Begründung praktischer Sätze, d. h. für normenlogische und axiologische Argumentationen, gegeben 14 . Nicht n u r i n den für die Jurisprudenz so wichtigen Bereichen der Begründung von Entscheidungen und generellen Normsetzungen, sondern auch auf vielen anderen Feldern der Wissenschaften und des alltäglichen Lebens werden Argumentationen angewendet, welche nicht logisch stringent sind, sondern die Funktion haben, plausibel zu machen, der Optimierung der Meinungen und Stellungnahmen zu dienen. Diese Argumentationen verweisen weder auf bloßen Glauben, noch stützen sie sich auf unkontrollierte Intuition, noch zielen sie auf bloßes Überreden ab. Sie wollen vernunftmäßig vorgehen. Worin aber diese Vernunftmäßigkeit des die logische Deduktion überschreitenden Argumentierens liegt, ist nicht leicht zu bestimmen. Einer der bedeutendsten Theoretiker der Plausibilitätsargumentation, Perelman, erklärt diese rhetorische Rationalität mittels der regulativen Idee des „universellen Auditoriums", welches als k u l t u r - und zeitbedingte Instanz gedacht wird, vor deren Richterstuhl die Plausibilitätsbegründungen überzeugend sein müssen, wenn sie als rationale Argumentation gelten sollen 15 . Die Vorstellungen der ViehwegseScien Schule über das topische Denken sind nicht nur verwandt m i t der Perelmanschen Rhetorik i n der Zielsetzung, eine Theorie des nicht-stringenten, aber vernunftmäßig überzeugenden Denkens zu sein, sondern auch darin, daß sowohl die Topoi als auch die Topoi-Kataloge erfahrungsbewährte Techniken anbieten, die weder gnoseologisch noch strukturtheoretisch, sondern k u l turhistorisch begründet sind 1 6 . Außer der Methodik der konfrontierenden Mehrwegigkeit der Analysen und der wiederholten und stufenweisen Konsenssuche bringen weder die Perelmansche Rhetorik noch die Viehwegsche Topik klare Handlungsanleitungen für das rationale nicht-stringente Argumentie14 Vgl. ζ. B. die Rolle der feststellenden Prämissen i n den logischen Schemen der Subsumption unter Normen u n d die Rolle der Kausalgesetze i n den Schemen zur Bestimmung der M i t t e l für ein gegebenes Ziel. 15 Perelman, Ch. / Olbrechts-Tyteca, L.: Traité de l'Argumentation, Brüssel 19702 (Paris 19581), s. 40 ff. 16 Viehweg, Th.: T o p i k u n d Jurisprudenz, München 19694 (19531), s. 17ff., 26 f.
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Α. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz
ren. I n den angeführten Ergebnissen liegen diese Theorien wohl richtig, soweit sie nicht in ihren Methoden der deduktiven Argumentationsweise konträre Vorgangsweisen erblicken und soweit sie einsehen, daß i m Gegenteil auch die mehrwegigen tentativen Überlegungen auf einer logischen Analyse der Alternativen beruhen — natürlich i n Verbindung m i t Stellungnahmen 17 . Man kann die Rationalität der wissenschaftlichen Einstellung i n einer gewissen kritischen Haltung und Vorgangsweise des Forschers und Denkers erblicken, die i m wesentlichen aus zwei Elementen besteht: 1. aus der gnoseologischen Analyse der Problemsituation, die die Möglichkeit der Erkenntnis hinterfragt, die fragt, ob, wie und inwieweit die Erkenntnisse gesichert sind, die prüft, was strukturbegründet, was erfahrungsfundiert und was willenhaft gesetzt ist, und 2. aus suchenden und überprüfenden Prozessen und Überlegungen, denen unsere Behauptungen und Theorien unterworfen werden, sowie analogen Bewährungsanalysen i n bezug auf praktische Sätze. Wo Rationalität auf Verhalten bezogen wird, versteht man darunter oft die möglichst direkte Realisation gerade jener Verhaltensweise, welche i n der Entscheidungsanalyse als optimal erkannt wurde. Problemlos ist aber diese Konzeption nicht, denn es ist durchaus nicht wider die Vernunft, auf Grund der direkten intuitiven Wertung des Ergebnisses der Entscheidungsanalyse Zweifel an der Adäquatheit ihrer Methode, also an dem System, i n welchem die Optimierung analysiert wurde, und damit an dem Ergebnis, aufkommen zu lassen. 3. Die Strukturtheorie
des Rechts
Der Strukturtheorie des Rechts w i r d von vielen Autoren nicht ohne Gründe eine zentrale Rolle i n den Rechtswissenschaften zugesprochen. Sie betrifft naturgemäß mehr den ideellen Charakter denn die gesellschaftlichen Aspekte des Rechts, doch wäre es ganz verfehlt, die Strukturtheoretiker des Rechts global des Desinteresses an der juristischen Wirklichkeit zu verdächtigen. Diese häufige Beschuldigung ist nicht mehr berechtigt als die Annahme, daß die mathematischen Physiker sich nicht für die physikalische Welt interessieren, oder daß sie die Physik als empirische Wissenschaft negieren wollen. Die Strukturtheorie des Rechts stellt sich folgende Aufgaben: a) Sie w i l l eine Formlehre und eine strukturelle Typologie des Rechtssatzes schaffen 18 ; diese Formen dienen als rationale Schemen, i n denen das 17 Vgl. Weinberger, O.: Topik u n d Plausibilitätsargumentation, i n : ARSP 1973, S. 17 - 36, insbes. 26 ff., 32 ff. 18 Weinberger, O.: Die S t r u k t u r der rechtlichen Normenordnung, i n : Rechtstheorie u n d Rechtsinformatik, Forschungen aus Staat u n d Recht, Bd. 32, Wien—New Y o r k 1975, S. 110 - 132.
I. Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften
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Rechtsmaterial und die gedanklichen Operationen mit ihm adäquat dargestellt werden können. Ebenso wie bei anderen rationalen Rekonstruktionen w i r d Adäquatheit und leichte Anwendbarkeit — meist auf Grund einer Strukturverwandtschaft m i t der Nationalsprache — angestrebt, es w i r d aber nicht behauptet, daß die einzig mögliche logische Schematisierung des Gebiets vorgelegt werde, b) Sie bietet eine Theorie des Aufbaues der Rechtsordnung als eines logisch einheitlichen Systems an. Dies impliziert natürlich keineswegs die Behauptung, die Rechtsordnung sei tatsächlich logisch perfekt oder auch nur i n sich widerspruchsfrei, sondern es w i r d die Widerspruchsfreiheit postuliert und zu zeigen versucht, wie dieses Postulat befriedigt werden kann, c) Durch die Theorie der Rechtsdynamik w i r d eine prinzipiell einheitliche, aber dennoch sachlich differenzierte Auffassung des rechtlichen Geschehens, aller Rechtsakte — von der Gesetzgebung über das Rechtsgeschäft bis zum individuellen A k t der rechtlichen Entscheidung und der Realisation —, gegeben. Die Schemen der Rechtsdynamik bieten einen logischen Rahmen für die Beschreibung des positiv bestehenden Rechtssystems und seines Funktionierens in der Zeit. Ich möchte an einem Beispiel klarstellen, wo die Grenze zwischen allgemeiner Strukturtheorie und der Beschreibung von positiven Systemen verläuft. Die Lehre von den Entscheidungsinstanzen und ihren verschieden gestaltbaren Beziehungen ist ζ. B. ein Stück allgemeiner Strukturtheorie; sie w i r d zur Strukturbeschreibung einer untersuchten Rechtsordnung, wenn der i n dieser Ordnung normierte Instanzenzug mittels der von der Theorie bereitgestellten Begriffsapparatur dargestellt wird. Daß es ζ. B. i n der Ordnung drei Instanzen gibt und unter welchen Bedingungen die höhere Instanz angerufen werden kann, ist ein Teil so einer Beschreibung. 4. Gibt es eine spezifisch juristische Methode — soll die Jurisprudenz methodenmonistisch sein? Hans Kelsen hat für die Jurisprudenz eine spezifische Methode gefordert, die dieser Wissenschaft einen einheitlichen und methodologisch reinen Charakter sichern und sie von anderen Wissenschaften und anderen nicht-juristischen Betrachtungen des Rechts unterscheiden und trennen soll. Diese spezifische Methode besteht darin, daß die Rechtslehre „versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll" 1 9 . Hierzu bietet die Reine Rechtslehre eine Interpretationstheorie an. Man kann m i t Raimund Hauser auch sagen: „Die Juristische' Methode besteht i® Kelsen, H.: Reine Rechtslehre, Wien 19602 (Nachdruck 1967), S. 1.
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Α. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz
darin, eine Betrachtung von Normen und Tatsachen ausschließlich auf Grund normativer Relevanz durchzuführen 2 0 ." Es ist w o h l eine recht verlockende Idee, eine klare Gegenstandsabgrenzung — noch dazu m i t einheitlicher Methodologie — für unsere Disziplin anzunehmen und den Streit über die systematische und methodologische Einreihung der Rechtswissenschaft i n verschiedene Gebiete ein für alle M a l zu überwinden. Außerdem gilt offenbar der Grundsatz „ q u i bene distinguit, bene docet" — zwar nicht als K r i t e r i u m der Adäquatheit der Lehre, doch sicherlich als Moment, welches den Eindruck der Klarheit ihrer Darstellung bedingt. Eine reine Theorie ist klar. Eine beabsichtigte Konsequenz der Reinen Rechtslehre ist die Ausschaltung aller psychologischen, soziologischen, teleologischen, ethischen, politischen und nach irgendwelchen Standards wertenden Betrachtungen über das Recht aus der Jurisprudenz. Diese beschränkende Einstellung ist gerade einer jener Punkte, an denen die Lehre heftig angegriffen wurde, w e i l man darin eine sterilisierende Verarmung der Rechtstheorie und eine Abkehr von der Praxis erblickte, oder w e i l man das Postulat der Reinheit der Rechtsbetrachtung für unrealisierbar hielt. Es entspricht durchaus der modernen Systemkonzeption der Wissenschaften, jede Betrachtung als Ausblick von einem gewissen Gesichtspunkt, als A n t w o r t auf eine gewisse A r t der Fragestellung zu betrachten. I n diesem Sinne ist das Postulat der Methodenreinheit berechtigt. Z u m Beispiel darf auf eine Rechtsfrage, ob diese oder jene Rechtspflicht bestehe, keine soziologische A n t w o r t gegeben werden, welche bloß das tatsächliche Verhalten der Menschen beschreibt, nicht aber das Verhalten als gesollt bestimmt. Ist aber das Programm der Reinen Rechtslehre erfüllbar, wenn sie nicht nur eine abstrakte Strukturtheorie des positiven Rechts, sondern gleichzeitig eine Erkenntnis des positiven Rechts bieten will? Falls sie auch dies w i l l , muß sie Kriterien für die Begründung der Geltung positiver Rechtsordnungen i n Betracht ziehen, ebenso wie alle Momente, welche die Rechtsdynamik bedingen. Nun: Die Positivitätskriterien für die Geltung eines Normensystems sind zweifellos soziologische Tatsachenfeststellungen 21 . 20 Hauser, R.: Norm, Recht u n d Staat, Wien—New Y o r k 1968, S.2. 21 Dies gilt auch dann, w e n n m a n die Kelsensche Grundnormtheorie a k zeptiert, denn dann w i r d die W a h l der Grundnorm begründet durch die Beziehung des auf G r u n d dieser Annahme erfaßbaren Normensystems zur tatsächlichen staatlichen Organisation, deren rechtliche S t r u k t u r dargestellt werden soll.
I. Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften
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Die Begründungszusammenhänge der Rechtsdynamik sind normenlogische Folgerungsbeziehungen m i t sowohl normativen Prämissen (ζ. B. Gesetze) als auch indikativen Prämissen (Tatsachenfeststellungen). I n dem Begründungszusammenhang sind beide Arten von Prämissen gleich wesentlich, man kann also die Frage, was auf Grund der rechtsdynamischen Beziehungen i n concreto Rechtens ist, nicht ohne Seinserkenntnis beantworten 2 2 . Der Kampf gegen den Methodensynkretismus ist nur insoweit berechtigt, als der Blickwinkel und die A r t der Fragestellung die Methode und den Typus der adäquaten A n t w o r t bestimmen; die Rechtswissenschaft darf aber nicht auf Verstehen von Normen und das Studium der Beziehungen zwischen Normen beschränkt werden. Neben dieser immanenten K r i t i k an dem juristischen Methodenmonismus möchte ich auch für die Einbeziehung der de-lege-ferendaUberlegungen i n die Rechtswissenschaft plädieren, obwohl ich die Unterscheidung der Betrachtungsweise de lege lata und de lege ferenda für ganz fundamental erachte. Eine Strukturtheorie des juristischen Denkens müßte auch die Strukturen der Rechtsbegründung de lege ferenda studieren, was die meisten Publikationen zu diesem Thema verabsäumen. Ich meine natürlich nicht, daß hier eine rein kognitive Begründung des Rechts, wie es sein soll, gesucht werden könnte, doch glaube ich, daß der Jurisprudenz Analysen der Alternativen für Gesetzgebung und das Suchen nach akzeptablen Lösungen de lege ferenda genauso zustehen, wie der Medizin das Auffinden von therapeutischen oder Präventivmaßnahmen. 5. Jurisprudenz
als praktische Wissenschaft
Die Rechtswissenschaft kann als rein kognitive Wissenschaft vom Recht aufgefaßt werden — es ist aber ebenso berechtigt, sie als eine der gesellschaftlichen Praxis dienende Disziplin anzusehen. Als solche entwickelt und begründet sie Arbeitsmethoden und Informationssysteme, die ein erfolgreiches juristisches Handeln unterstützen sollen. Dieses nach unserer Wahl verschiedene Doppelantlitz haben auch die rechtsdogmatischen Disziplinen: sie können als rein erkennende Lehren 22 Kelsen sagt: „ D e r Geltungsgrund einer N o r m k a n n n u r die Geltung einer anderen N o r m sein." (Op. cit. S. 196.) Er analysiert zwar das grundlegende Folgerungsschema der Rechtsdynamik richtig u n d f ü h r t dabei auch die feststellende Prämisse an, doch erblickt er die Begründung der N o r m nur i n der normativen Prämisse (vgl. auch den Anhang zur zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre „Das Problem der Gerechtigkeit", S. 363 f.). Ich sehe die Sache anders: N u r w e n n ich auch Tatsachen feststelle, k a n n ich nach einem Folgerungsschema, das sich i m wesentlichen auf feststellende Sätze stützt, eine Begründung des Schlußsatzes erhalten.
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Α. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz
verstanden werden, sie werden aber oft i n sehr praktischer Absicht studiert und sie können auch i n dieser Tendenz gestaltet werden. Sie geben dann nicht nur einen systematischen Überblick über das betreffende Feld des Rechts, sondern auch eine von Grundsätzen zum Detail gehende Darlegung, was den Weg zur Lösung praktischer Probleme wie Lückenfüllung und Ermessensentscheidungen ebnet. Die Rechtsdogmatik stellt wegen dieser praktischen Tendenzen Unbestimmtheit und verschiedene Interpretationsmöglichkeiten nicht nur fest, sondern sie leitet meist auch zur Entscheidung an, wenn sie für ihre Stellungnahme gute Gründe findet 23. Sie geht hier also über die Erkenntnis des Rechtes hinaus, indem sie sagt, wie man entscheiden sollte, oder indem sie andere zweckmäßige Vorgehensweisen i m Rechtsleben anempfiehlt, ζ. B. Taktiken des Rechtsberaters. Der praktische und anleitende Aspekt der Rechtslehre äußert sich noch in einer anderen Richtung: er bringt zum Bewußtsein, daß das Recht und die juristische Tätigkeit ein Gestalten sozialer Beziehungen sind, und lehrt dieses juristische social engineering. Wenn auch klar gesagt werden muß, daß den Rechtswissenschaften keine Rechtsentscheidungen, in welcher Form auch immer, zustehen, so sollte die Rechtswissenschaft dennoch eine Plattform für juristische Wertdiskussionen bieten — natürlich i n der Form, wie dies eine wissenschaftlich analytische Aufgabe ist. Die Rechtstheorie hat hier einerseits die Begründungstheorie — sowohl für das Entscheiden m i t Spielraum wie für die Gesetzgebungserwägung — zu entwickeln, andererseits die Alternativen aufzufinden und durchzuspielen, sowie die für die Stellungnahmen wichtigen gesellschaftlichen Tatsachen zu studieren (Rechtstatsachenforschung). Ich glaube, daß eine Typologie der rechtsbegründenden Argumentationsweisen sehr aufschlußreich sein w i r d (Anwendung von starren Wertstandards, Voraussetzung von Werteinstellungen zur Bewährung, stellungnehmende Folgeanalysen usw.), ebenso wie die empirisch-soziologischen Untersuchungen des Wertens und der Wertmaßstäbe in der Gesellschaft. Die erkenntniskritische Jurisprudenz lehnt die Naturrechtslehre ab, weil sie nicht an ein immanentes Sollen glaubt, das i n irgendeiner Weise kognitiv aufgedeckt werden könnte. Sie v e r t r i t t aber nicht die Meinung, daß es ganz w i l l k ü r l i c h und nur eine Frage der Macht sei, was zum Inhalt des Rechts gemacht wird. Wenn auch die Rechtssetzung Sache von Willensentscheidungen ist, bewegt sie sich i m durch die Natur der Sache gegebenen Rahmen und fußt auf Gerechtigkeitsüber23 Wenn ich der Rechtswissenschaft auch die beratende Rolle zuerkenne, fordere ich aber entschieden, die Grenze zwischen der feststellenden E r k e n n t nis u n d der beratenden A n l e i t u n g ausdrücklich anzugeben.
I. Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften
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legungen nach gewissen Ideen und Idealen und auf Grund von rationalen Wertdiskussionen. 6. Perspektiven
der modernen Rechtswissenschaft
Die Jurisprudenz ist i n ihren Konzeptionen abhängig vom philosophischen Weltbild und von den aktuellen wissenschaftlichen Meinungen, sowie vom vorherrschenden Typus der wissenschaftlichen Betrachtung (Einfluß des Historismus, des Kritizismus, der analytischen Philosophie, der verschiedenen soziologischen Theorien und politischen Lehren). Naturgemäß auch von Elementen des religiösen Glaubens und des herrschenden Ethos. I n unserer heutigen Wissenschaftskultur nimmt die Beziehung der Rechtstheorie zu den verschiedenen Wissenschaftsbereichen einen besonderen Charakter an. Die moderne Rechtswissenschaft basiert auf einer ganzen Reihe von grundlegenden Disziplinen wie: Logik, Semantik, Kommunikationstheorie, Axiologie, Entscheidungstheorie, Kybernetik, Soziologie, Politologie, usw. Es geht hierbei nicht nur um die Anwendung der Ergebnisse dieser Disziplinen, sondern meist darum, besondere Grundlagendisziplinen für die Zwecke der Rechtswissenschaft zu entwickeln. So kann man ζ. B. nicht einfach die bestehende Logik der deskriptiven Sprache heranziehen, sondern es muß erst eine besondere Disziplin, die Logik der präskriptiven Sprache, geschaffen werden. Meiner Meinung nach ist gerade dieses Moment der Fundierung durch theoretische Grundlagenwissenschaften charakteristisch für die moderne Rechtswissenschaft. Sie erlangt ihre Wissenschaftlichkeit und sichert ihre Weiterentwicklung durch die Entfaltung der fundierenden Disziplinen. 7. Zusammenfassende
Schlußbemerkungen
Ich möchte abschließend meine programmatischen Vorstellungen i n einer Kurzformel zusammenfassen: a) Die Rechtswissenschaft studiert das Recht sowohl i n seiner gedanklichen Struktur als auch als Element der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Ersteres auf Grund einer gnoseologisch differenzierten Sedantik m i t dem Ziel, eine Strukturtheorie des Rechts einschließlich der Strukturtheorie der gesetzgebenden Erwägung und ein logisiertes B i l d des Rechtsgeschehens zu geben. b) A u f diesen Fundamenten bauen die rechtsdogmatischen Disziplinen ebenso wie die methodische Anleitung zur juristischen Arbeit auf. c) Die soziologischen Funktionsbeziehungen zwischen dem Rechtssystem und anderen gesellschaftlichen Faktoren sind sowohl i n expli-
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Α. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz
zierender als auch i n proponierender — d. h. hier rechtspolitischer — Weise zu studieren. d) Die moderne Rechtstheorie steht und fällt m i t der philosophischen Diskussion von Grundlagenproblemen und m i t der Entfaltung einer ganzen Reihe von vorangehenden und grundlegenden Disziplinen, die weiterzuentwickeln sind, denn hier ist die Quelle des rechtswissenschaftlichen Fortschritts. Hierdurch w i r d die rechtswissenschaftliche Forschung recht kompliziert und schwierig; die Ergebnisse werden aber auf leicht faßbare Thesen und Konzeptionen hinauslaufen und zu praktisch handhabbaren Anleitungen führen.
Β. Zum Problem des juristischen Denkens B/I. Normenlogik und Rechtstheorie 1. Begriffliche
Voraussetzungen
M i t dem Namen ,NL' (Normenlogik, deontische Logik, Deontik u. ä.) bezeichnen w i r die logische Disziplin, welche von der Struktur der Normsätze und von Folgerungsbeziehungen handelt, welche Normsätze — eventuell neben Aussagesätzen — als Glieder enthalten. Die N L ist also eine Theorie der Deduktion m i t zwei semantisch verschiedenen Satzarten, den Normsätzen und den Aussagesätzen. Für unsere Betrachtungen ist es nicht nötig, den Aufbau der N L zu spezifizieren; unsere Erwägungen gelten für jedes zur Anwendung auf dem Gebiet des Rechts genügend ausdrucksreiche System der N L . Die N L kann als zweites Studiengebiet eine Normbegründungstheorie enthalten, welche die Formen bestimmt, wie Normsätze begründet werden können (im Sinne der De-lege-ferenda-Erwägung der Juristen). W i r lassen hier die Frage offen, inwieweit die Begründungstheorie logisch bündige oder bloß rhetorische Argumentationsschemen liefert 1 . M i t dem Namen ,RT' (Rechtstheorie, Rechtsphilosophie) bezeichnen w i r das allgemeine Studium des Rechtsphänomens als soziologische Realität von normativ-ideellem Charakter. Das Recht t r i t t dem Betrachter als Tatsache des gesellschaftlichen Lebens entgegen, welches m i t dem Staat als Institution oder m i t dem Zusammenleben von staatlichen Gebilden (Völkerrecht) unlöslich verbunden ist. Dieses Phänomen kann nur dann verstanden werden, wenn man es als ideelle — sprachlich ausdrückbare, mitteilbare — Entität erfaßt, welche i m gesellschaftlichen Leben ihre organisierende, motivierende und lenkende Funktion hat. Recht ist gleichzeitig Wirklichkeit und Gedankenstruktur. Der Sinn der das Recht ausdrückenden Ausdrücke — sei es i n einer natürlichen oder i n einer symbolischen Sprache — ist nicht indikativ, seinsbeschreibend (kognitiv), sondern normativ, vorschreibend, sollensbestimmernd. Die RT befaßt sich m i t dem Recht i n philosophischer Absicht, nicht i n der Absicht das hier oder dort geltende Recht 1 I n den nachfolgenden Untersuchungen k o m m t — m i t Ausnahme der Bemerkungen über die gesetzgebende Analyse — n u r die N L als Deduktionstheorie zur Anwendung.
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens
zu studieren. Die so konzipierte RT hat i m wesentlichen folgende Aufgaben: a) Sie hat eine Erklärung des Rechts als sozialer Tatsache zu geben; sie erklärt die Genesis und die Wirkungsweise des Rechts i n der Gesellschaft. b) Sie hat die Instrumente und die Methodologie zum Erfassen des Rechts als ideeller Entität bereitzustellen. c) Sie muß zeigen, wie in der sozialen Wirklichkeit des staatlichen und zwischenstaatlichen Lebens das Recht als ideelle Entität m i t der sozialen Wirklichkeit zusammenspielt, wie hier Sein und Sollen zusammenhängen. d) Sie hat Anweisungen zu geben und sie theoretisch zu fundieren, wie m i t dem Recht gedanklich umzugehen ist, d. h. sie hat die allgemeine Methodik des juristischen Denkens auszuarbeiten. e) Sie unternimmt es, den Rechtsinhalt philosophisch zu begründen; sie studiert die Argumentationsstrukturen, die der inhaltlichen Rechtsbegründung dienen, d. h. sie schafft die Basis für Diskussionen über die Frage, was „richtiges Recht" ist. 2. Das Recht als gedankliche Entität und als soziale Wirklichkeit Das Rechtsphänomen und die Gesamtheit der m i t dem Recht verknüpften Tatsachen ebenso wie die Grundbegriffe der Rechtsmethodologie können nur dann erfaßt werden, wenn man sich den normativideellen und gleichzeitig den sozial-realen Charakter des Rechts vergegenwärtigt. Man kann das gesellschaftliche Geschehen, gewisse gesellschaftliche Beziehungen nur dann als rechtliches Sein auffassen, wenn man die Tatsachen in Beziehung zu Rechtsnormen setzt/Die rechtlich relevanten Tatsachen erlangen ihre rechtliche Bedeutung durch die Beziehung zur ideellen Entität des Normensystems. Das Recht als ideelle Entität ist normativer Natur. Es kann durch Normsätze ausgedrückt werden. Die soziale Gültigkeit des Normensystems ist durch Tatsachen bestimmt (die Faktizitätskriterien sind Tatsachenfeststellungen). Die historische Entstehung des Rechts, der Rechtsbeziehungen, des Rechtsbewußtseins, der Rechtsinstitutionen ist aus Tatsachen des gesellschaftlichen Daseins und aus den tatsächlichen Auswirkungen des Rechts auf das Leben und Zusammenleben der Menschen zu erklären. Der Inhalt eines studierten Rechtssystems kann nur auf der Grundlage der Kenntnis der Struktur der Gesellschaft i n seiner pragmatischen Rolle richtig verstanden werden.
I. Normenlogik und Rechtstheorie
33
Das Recht bestimmt aber auch die Existenz und Funktion der Institutionen, es organisiert und gestaltet die Gesellschaft: Diese ideelle Entität ist also real wirksam. Das individuelle und kollektive menschliche Verhalten w i r d nämlich auch ideell motiviert. Die N L ist für das rechtliche Sein bestimmend: wenn ein Normsatz Ν gilt, dann gelten in dem System auch die logischen Konsequenzen von N. Für das Rechtsleben gilt also „Logique oblige". Insbesondere gilt: a) Die Rechtsregeln und die Tatsachen (in die sprachlich-logische Sphäre versetzt: die Aussagesätze über die Tatsachen) geben konkretes Sollen als logische Konsequenz. b) Die Dynamik der Rechtsordnung des Rechtsstaates kann als normativ geregelter Prozeß erfaßt werden, wobei die Rechtsänderung als Konsequenz der den Bildungsprozeß bestimmenden Regeln und der gesetzgebenden Willensakte erscheint. Dem Rechtsstaat liegt eine logisierte Konzeption des Rechts zugrunde. Die Begründung des Rechts w i r d auf die Rechtsregeln und die Tatsachen gestützt; was gilt, w i r d aus Rechtsregeln und Tatsachenfeststellungen gefolgert. A u f diesen Fundamenten steht die Applikation der N L in der RT. W i r werden sie unter folgenden Titeln charakterisieren: N L und der juristische Beweis N L und die Dynamik der Rechtsordnung N L und die juristischen Grundbegriffe N L und die formale Gerechtigkeitsregel Die N L als analytisches Instrument des Juristen 3. Normenlogik
und der juristische
Beweis
I m Rechtsleben versteht man unter Beweisführung die praktische Tätigkeit, aus überzeugenden Informationsquellen rechtlich relevante Tatsachen festzustellen, resp. i m Rechtsprozeß mittels dieser Informationsquellen („Beweise") die Staatsorgane von gewissen Tatsachen zu überzeugen. Dieser juristischen Beweisführung entsprechen Beweisketten, deren Glieder rein indikativ (d. h. Aussagesätze) sind. Es kommt also hier zwar Logik, doch nicht N L zur Anwendung. Betrachtet man jedoch den juristischen Beweis als Ganzes, als Begründung der Rechtsentscheidung, bekommt man ein anderes Bild: die die Rechtsentscheidung bestimmende Schlußfolgerung ist immer eine normenlogische Schlußfolgerung, die i m wesentlichen folgende Strukt u r hat: 3 Weinberger
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens
(1)
Rechtsregel (ein allgemeiner Bedingungsnormsatz) Tatsachenfeststellung (ein Aussagesatz) Rechtsentscheidung (ein Normsatz) 2
Es ist zwar praktisch zweckmäßig, den Tatsachenbeweis vom normenlogischen Schluß abzusondern, doch muß man wissen, daß der juristische Beweis als Ganzes eine normenlogische Folgerung ist. Die Unselbständigkeit des Tatsachenbeweises ist auch daraus ersichtlich, daß sein Gegenstand — die relevanten Tatsachen — durch die normativen Prämissen (Rechtsregeln) bestimmt ist. 4. Normenlogik
und die Dynamik der Rechtsordnung
Es ist eine historische Tatsache, daß das Recht Veränderungen unterliegt. Wie kann die Dynamik der Rechtsordnung rational erfaßt werden? Der Gesetzgebungsprozeß kann ausdrücklich normiert sein. Dann ist die rechtsgültige Entstehung von Rechtsregeln i m wesentlichen nach folgendem Deduktionsschema 3 begründbar: (2)
Wenn das Staatsorgan Ο eine Rechtsregel Ν beschließt (und die Bedingungen A, B, ... erfüllt sind), dann: Ν (Gesetzgebungsregel) Ο hat Ν ι beschlossen (Feststellung des Normsetzungsaktes) Ni
Auch die Entstehung von Richter recht (judge made law) kann normenlogisch erfaßt werden. Unserer Meinung nach kann dies i n folgender Form geschehen: Die richterliche Entscheidung ist entweder eine Anwendung schon früher gültigen Rechts oder eine Entscheidung über eine neue Situation. I n diesem Falle ist die richterliche Entscheidung schöpferisch: sie setzt neue Rechtsregeln, denn die Begründung der Entscheidung über die Rechtsbeziehung dieses Rechtsfalles beruht auf der Regel über das Sollen unter allgemein formulierten relevanten Bedingungen. Die beurteilte Beziehung ist ein Beispiel (eine Konkretisierung) der Rechtsregel, nach der der Fall entschieden wird. Das normenlogische Erfassen des Richterrechts beruht auf Voraussetzungen :
zwei
1. Der Richter hat die Kompetenz Rechtsfälle, welche neue Situationen sind, zu entscheiden. 2
W i r sind uns natürlich der groben Vereinfachung bewußt, insbes. der Tatsache, daß der I n h a l t der Entscheidung nicht v o l l durch die Rechtsprämissen u n d Tatsachenprämissen bestimmt ist (wertende Subsumtion, rahmenhafte Bestimmungen der Entscheidung, freies Ermessen), s Es ist dem die Rechtsentscheidung begründenden Schema (1) analog.
I. Normenlogik und Rechtstheorie
35
2. I n relevanter Beziehung gleiche Fälle sind gleich zu beurteilen. Die Entscheidung des Einzelfalles ist also regelbildend, da der Einzelfall nur ein Beispiel der generiseli bestimmten Situation ist. 5. Normenlogik
und die juristischen Grundbegriffe
Die RT arbeitet notwendigerweise m i t einer gewissen Begriffsapparatur, die das wissenschaftliche Erfassen des Rechtsphänomens ermöglicht und auf die die Methodologie der juristischen Arbeit gestützt wird. Es ist eine der Hauptaufgaben der RT diese allgemeine Begriffsapparatur systematisch aufzubauen und diese Begriffe zu definieren. Hierher gehören z. B. die Begriffe ,Rechtsnorm', ,Rechtsreger, Rechtsordnung', ,Pflicht', ,Anrecht', Rechtsverhältnis', ,Subjekt', ,Strafe', »Belohnung', ,Rechtsakt' usw. Die exakte Analyse dieser Begriffe fußt unserer Meinung nach i n erster Linie auf der Forderung, die i n diesen Begriffen steckenden normativen und seinsbeschreibenden Elemente klar zu trennen. Es zeigt sich, daß alle diese Begriffe normative Elemente enthalten; sie müssen also auf dem Boden der N L definiert werden. Es zeigt sich hier die innere Bindung der RT an die N L : die RT muß ihre methodologischen Grundbegriffe auf die N L stützen. Die N L erscheint also als die notwendige vorrangehende Wissenschaftsdisziplin der RT. (Es wäre aber nicht richtig, die N L als Bestandteil der RT anzusehen.) W i r können hier die auf die N L gestützte Definition der juristischen Grundbegriffe nicht eingehend behandeln und begnügen uns m i t einem Beispiel. Der Sanktions-(Strafe-)Begriff kann nicht rein beschreibend definiert werden. Es gibt nichts, was an und für sich eine Strafe wäre. Es ist ganz unrichtig die Strafe als etwas Unerwünschtes, Unangenehmes zu definieren, denn es gibt Unangenehmes und Unerwünschtes — z. B. Zahnschmerzen oder Steuerzahlen —, was keine Strafe ist. (Steuerzahlen ist sogar rechtlich geboten, aber keine Strafe.) Außerdem ist das Unangenehmsein Sache der Wertung des Pflichtsubjekts und von seiner Situation abhängig. Die Strafmaßnahme verliert den Strafcharakter nicht, wenn sie zufällig für das Subjekt erwünscht ist. Strafe läßt sich nur als Pflichtverletzungsfolge definieren 4 . Das logische Erfassen der Rechtsordnung als eines geordneten normativen Gedankensystems — genauer gesagt: die rationale Rekonstruktion der Rechtsordnung — ruht auf den von der N L gelieferten 4 Dies hat auch wichtige Konsequenzen f ü r die N L : Es scheint unpassend, die N L auf dem Sanktionsbegriff als p r i m i t i v e n Begriff aufzubauen, da er versteckt normativ ist. [Vgl. Weinberger, O.: Der Begriff der Sanktion u n d seine Rolle i n der Normenlogik u n d Rechtstheorie, i n : Normenlogik. G r u n d probleme der deontischen L o g i k (Hrsg. H. Lenk), München 1974, S. 89 -111.]
3*
36
Β. Zum Problem des juristischen Denkens
Schemen. W i r erinnern an das logische Postulat der Widerspruchslosigkeit des Rechtssystems, das hier zur Geltung kommt 5 . 6. Normenlogik
und die formale Gerechtigkeitsregel
Die formale Gerechtigkeitsregel, die als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit anzusprechen ist, kann durch die These ausgedrückt werden: „Es ist gerecht, Gleiches rechtlich gleich, Verschiedenes verschieden zu beurteilen und zu behandeln." Es gilt logisch, daß Gleiches gleich beurteilt und behandelt werden muß 6 . Die Beurteilung des Einzelfalles erscheint als Konsequenz der Rechtsregeln und der Tatsachen (des Aussagesatzes über die Tatsachen). Sind nun zwei Fälle A und Β i n allen relevanten Stücken gleich, erfüllen sie in gleicher Weise die Subsumtionsbedingungen und ergeben daher gleiche (bis auf die Individualnamen) normative Konsequenzen. Die Regel der (formalen) Gerechtigkeit ist also schon i n der rationalen Rechtskonzeption, daß aus Rechtsprinzipien (Rechtsregeln) rechtlich geurteilt wird, enthalten. Daher kann formale Ungerechtigkeit durch NL-Analyse aufgedeckt werden a . 7. Die Normenlogik
als analytisches Instrument
des Juristen
Die N L liefert dem Juristen klare Schemen für die Rechtsinhaltsdarstellung. Nützlich erscheint insbesondere das Schema der Rechtsregel i n Form eines allgemeinen Bedingungsnormsatzes: ,Für jedes χ gilt: Wenn χ die Bedingungen A erfüllt, soll χ B \ denn es ermöglicht Subsumtionsbedingungen von dem bedingt Gesollten klar gesondert auszudrücken. I n derselben Form kann auch die Strafnorm bei Nicht-Befolgung des Normsatzes ,A soll sein' ausdrücken: ,Wenn nicht A, dann soll S sein/ Umgekehrt kann aus der Strafnorm — wenn man weiß, daß es sich um eine Strafnorm handelt — das Verbot herausgelesen werden. Uberall, wo es gelingt, durch NL-Analyse die formalen Beziehungen aufzuweisen, erlangt man Klarheit und Präzision der juristischen Begriffe und der juristischen Arbeit. 5 Der Pflichtenkonfiikt ist aber nicht ausgeschlossen: A k a n n z. B^ die Pflicht haben, Β zu t u n u n d Β nicht zu t u n (ζ. B. auf G r u n d zweier Verträge). [Vgl. Weinberger, O.: Rechtslogik, Wien—New Y o r k 1970, S. 214-216.] 6 Es g i l t aber nicht, daß Verschiedenes verschieden behandelt werden soll; verschiedene Taten können ζ. B. m i t gleicher Strafe belegt werden. Der Z u satz ,Verschiedens verschieden 4 drückt bloß — sehr ungenau — die Forderung einer gewissen Proportionalität der Gerechtigkeit aus. a Vgl. „Gleichheitspostulate" ( D / I I dieses Bandes) u n d „Einzelfallgerechtigk e i t " ( D / I I I dieses Bandes).
I. Normenlogik und Rechtstheorie
37
Die Versuche, Automation ins Feld des Rechts einzuführen, ruhen auf der NL-Analyse der juristischen Denkarbeit. Die Theorie der Gesetzgebung steht und fällt m i t der Entwicklung der normenlogischen Begründungstheorie. 8. Schlußbemerkung Die Entstehung der N L wurde durch die rechtstheoretische Problematik inspiriert, es ist daher selbstverständlich, daß die N L hier eines ihrer wichtigsten Anwendungsfelder hat. Man darf aber von der N L nicht erwarten, was sie als Logik nicht bieten kann: sie beweist nur relativ zu gegebenen Prämissen, sie kann nie absolut sagen, was „richtiges Recht" ist, ebenso wenig wie Tatsachenerkenntnisse aus der von rein indikativen Strukturen handelnden Logik allein gewonnen werden können. Die N L ist ein Instrument der präzisen Gedankenarbeit des Juristen, insbes. als Grundlage des juristischen Beweises, ferner dient sie als analytisches Instrument beim Aufbau der juristischen Begriffsapparatur und bei der rationalen Erfassung des Rechtsinhalts. Der Rechtsstaat beruht auf der rationalen Konzeption des Rechts, wobei das logische Skelett des juristischen Denkens von der N L geliefert wird.
Β/Π. Jurisprudenz zwischen Logik und Plausibilitätsargumentation Wissenschaftliche Konzeptionen werden geschaffen, u m Sachgebiete der materiellen oder geistigen Wirklichkeit zu erfassen, zu erklären und zu bestimmen. Die von Wissenschaftlern erarbeiteten und vorgelegten Begriffssysteme und theoretischen Konstruktionen sollen es ermöglichen, das Geschehen zu verstehen und den Verlauf der Ereignisse erkennen und prognostizieren zu können. W i l l man Theorien wirklich verstehen, so muß man von der Problemsituation ausgehen, die durch sie bewältigt werden soll. Wenn w i r i n der heutigen Jurisprudenz einen akuten Meinungsstreit vorfinden, der sich i n erster Annäherung schlagwortartig durch die Alternativfrage ausdrücken läßt: „Ist für das juristische Denken und die Jurisprudenz primär die Logik oder primär das rhetorisch-topische Denken relevant?", so können w i r ihn nur dann richtig verstehen und nur dann i n der Problematik einen klaren und fundierten Standpunkt gewinnen, wenn w i r auch hier von der Problemsituation ausgehen. Das bedeutet i n unserem Fall, daß w i r uns vorerst ein B i l d über die Umstände des Rechtslebens und die Momente i n der Rechtstheorie machen müssen, welche diese Fragen aufwerfen und ihre Beantwortung wichtig erscheinen lassen. Die untereinander i n Konflikt stehenden Lehrmeinungen sind als Antworten auf diese Probleme des Rechts, der juristischen Tätigkeit oder (und) der Rechtswissenschaft zu verstehen. Vielleicht w i r d es uns sogar gelingen — wenn w i r die Motive der divergierenden Auffassungen m i t i n Betracht ziehen — eine harmonisierende Konzeption zu finden, die befriedigender ist als die wettstreitenden theoretischen Meinungen. 1. Wodurch wird die Beziehung der Logik zum Recht und zur Rechtswissenschaft aktuell? I n der modernen Rechtstheorie t r i t t eine wichtige Strömung auf, welche man m i t JuliusStone 1 als analytische Rechtstheorien bezeichnen kann. Diese A r t der Fragestellung und Tendenz der Forschungsweise, die i m angelsächsischen Raum hauptsächlich von Austin 2 und 1
Stone, J.: Legal System and Lawyers' Reasonings, London 1964. 2 Austin, J.: Lectures on Jurisprudence, 1832.
II. Jurisprudenz zwischen Logik und Plausibilitätsargumentation
39
Hochfeld 3 geprägt wurde und die i n der kontinentalen Jurisprudenz insbesondere m i t dem Namen Hans Kelsen* verbunden wird, bildet keine rechtsphilosophische Schule i m eigentlichen Sinne des Wortes. Gemeinsam ist diesen Denkern nur die analoge Forschungsaufgabe, die sie sich stellen: die Rechtsordnung als einheitliches Ganzes zu erfassen, das semantische und strukturelle Wesen des Rechts i n voller Allgemeinheit zu erkennen und allgemein anwendbare Deutungsschemen des Rechts und des rechtlichen Geschehens zu geben, die als Instrumente zur Bearbeitung jedes Rechtssystems anwendbar wären. Die rechtsanalytischen Lehren streben eine Strukturtheorie des Rechts an. Sie brauchen zu ihrer Grundlegung eine Logik des Rechtssatzes und der gedanklichen Operationen i m Rechtsleben, denn sie sind ja eigentlich Theorien der formalen Beziehungen i m Recht. Die rechtsanalytischen Untersuchungen haben zum Postulat der scharfen semantischen Unterscheidung aussagender (beschreibender) und normativer Sätze und Begriffselemente geführt. Diese semantische Trennung der Sätze und Gedankenelemente des juristischen Denkens führte i n der Logik selbst zur Herausbildung der Normenlogik als einer formallogischen Theorie, die m i t zwei semantisch verschiedenen Satzarten (Aussagesätzen und Normsätzen) operiert 5 . Die Beziehung der Rechtsregeln vom Typus des Gesetzes zur individuellen Norm, zur Entscheidung und deren Begründung, deutet auf ein logisches Band hin, durch welches die individuelle Norm oder die Entscheidung als bestimmt erscheint. Das Schema, welches diese Beziehung zwischen der allgemeinen Rechtsregel, der Tatsache (resp. ihrer Feststellung in einem Aussagesatz) und der individuellen Norm der Entscheidung ausdrückt, hat ganz den Charakter eines logischen Folgerungsschemas und auch dessen intuitive Evidenz: Für jede Person χ gilt: Wenn die Person χ eine Handlung von der A r t A (Straftat) vollbringt, dann soll χ m i t der Strafe S bestraft werden. (Allgemeine Rechtsregel) Die Person Ν hat eine Handlung von der A r t A vollbracht. (Tatsachenfeststellung) Die Person Ν soll m i t der Strafe S bestraft werden. 3 Hohfeld, W. N.: Fundamental Legal Conceptions (1. Aufl. 1913). Kelsen, H.: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1910. Ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960. Ders., General Theory of L a w and State, 2. Aufl., Cambridge 1946. 5 Vgl. Weinberger, O.: Die Sollsatzproblematik i n der modernen Logik, Prag 1958. [Auch i n : ders.: Studien zur Normenlogik u n d Rechtsinformatik, B e r l i n 1974, S. 59 - 186.] 4
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens
Dieses logische Band zwischen Gesetz und Einzelentscheidung w i r d als Unterpfand der Rechtssicherheit und der formalen Gerechtigkeit aufgefaßt. Deswegen w i r d der Rechtsphilosoph dieser logischen Beziehung seine Aufmerksamkeit schenken müssen; dies ist um so wichtiger, als die Sache nur i m rohen Grundschema so einfach ist, i n W i r k lichkeit aber kompliziert wird. Gegen die simplifizierende Konzeption, daß das richterliche Urteil nichts anderes als ein korrekter Schluß aus Rechtsregel und Tatsachenfeststellung sei, können ernste Einwände geltend gemacht werden. Die Sachlage ist nicht unproblematisch: die logische Verbindung zwischen genereller Rechtsregel und individueller Norm sowie der Rechtsentscheidung muß erklärt werden — ebenso wie bestimmt werden muß, wo diese logische Bindung ihre Grenze hat. 2. Momente, die zur rhetorisch-topischen Konzeption des juristischen Denkens führen Es waren vielleicht gerade i n erster Linie die exakten Methoden der modernen symbolischen Logik, die zur Erkenntnis geführt haben, daß nicht jede Begründung in allen ihren Komponenten logisch-deduktiven Charakter hat. Vieles w i r d in der Denkpraxis als vernunftgemäße Begründung anerkannt, was, streng logisch betrachtet, dazu nicht ausreicht. Dies ist besonders dort manifest, wo normative Entscheidungen getroffen oder Wertungen begründet werden. Die symbolische Arbeitsweise der modernen Logik, die sich auf Kunstsprachen stützt, zur Formalisierung strebt und die streng axiomatische Methode entwickelt hat, erscheint schon wegen dieser Züge dem juristischen Denken fremd. Viele bedeutende Juristen haben die Besonderheit des juristischen Denkens gegenüber dem logisch-deduktiven unterstrichen. Das oben angeführte Strukturschema, welches die logische Verbindung zwischen Rechtsregel und Entscheidung darstellen sollte, wurde als inadäquat angegriffen und die Andersartigkeit der juristischen Uberlegungs- und Begründungstechnik aufgewiesen. Die Subsumtion der Handlung des Ν unter den Begriff A habe oft wesentlich anderen Charakter als die logische Subsumtion; die juristische Entscheidung sei nicht bloß ein formales Deduzieren, sondern eher ein Wählen von möglichen Prämissen und ein Abwägen des Einzelfalles i m Lichte verschiedener Rechtsgrundsätze. Hier w i r d auch das Gewicht des Einzelfalles gegenüber dem logisch-deduktiven Denken aus allgemeinen Sätzen ins Treffen geführt, ebenso wie die Tatsache, daß Recht auch bloß auf der Basis einer Präzedenzienkasuistik bestehen kann. Die Frage des Ermessens, seiner Einschränkung durch Ziele und Richtlinien, die aus dem Ganzen der Rechtsordnung herausgelesen werden, sowie die Begrün-
II. Jurisprudenz zwischen Logik und Plausibilitätsargumentation
41
dungstechnik von Ermessensentscheidungen scheinen von der Technik des logischen Folgerns weitab zu liegen und eine ganz andere Argumentationsweise zu erfordern. Diese kurzen Hinweise zeigen klar, daß 1. die Konzeption des juristischen Denkens eine entscheidende Grundfrage der Rechtsphilosophie und der Methodologie der juristischen A r beit ist, und 2. daß sowohl für die logizistische, als auch für die topisch-rhetorische Konzeption des juristischen Denkens Gründe m i t sachlichem Gewicht vorhanden sind. 3. Die logizistischen Konzeptionen des juristischen
Denkens
Theoretische Konzeptionen lassen sich nicht scharf klassifizieren. Sie unterscheiden sich untereinander i n verschiedenen Richtungen, so daß eine Aufteilung i n Arten ohne Überschneidungen nicht durchführbar ist. Ein Feld theoretischer Auffassungen läßt sich aber durch Typenunterscheidungen charakterisieren und ordnen. Unter den Lehrmeinungen über das juristische Denken können w i r für unsere Zwecke den Typus der logizistischen und den der rhetorisch-topischen Konzeptionen herausheben. Die Logizisten erklären das juristische Denken als Anwendung der von der formalen Logik erarbeiteten Formen und Regeln; die Anhänger der rhetorisch-topischen Auffassung halten das logisch-deduktive Operieren i m Rechtsleben für unwesentlich und nur trivial; den Kern der juristischen Überlegungen sehen sie in Plausibilitätsargumentationen und i n topischen Erörterungen. Die unterschiedlichen Auffassungen des juristischen Denkens finden w i r nicht nur i n Schriften über dieses Problem, sondern sie gehen quer durch die gesamte Rechtswissenschaft hindurch. Wollte man ein vollkommenes Bild der herrschenden Meinung geben, müßte man sozusagen die gesamte Rechtswissenschaft von diesem Standpunkt aus ins Auge fassen. Es würde sich hierbei zeigen, daß bei den Zivilisten und Forschern i m Gebiet des internationalen Privatrechts eine Neigung zur rhetorisch-topischen Konzeption besteht, während Strafrechtler und Theoretiker des öffentlichen Rechts den Logizisten näher stehen. Es scheint auch, daß die Rechtssysteme, welche ihre Fundamente i m Satzungsrecht haben, eher zum Logizismus inspirieren als Systeme, die als Präzedenzrecht zu charakterisieren sind. Unsere Hinweise auf einige markante Lehrmeinungen werden auf Autoren beschränkt bleiben, welche sich ausdrücklich m i t der Problematik des juristischen Denkens befaßt haben und die in der deutschen
42
Β. Zum Problem des juristischen Denkens
Jurisprudenz einen wesentlichen Einfluß ausüben. Auch hier können w i r aber nur eine enge Auswahl treffen, ohne durch sie andeuten zu wollen, daß die nicht erwähnten Konzeptionen weniger bedeutungsvoll wären. Es gilt nur die unterschiedlichen Auffassungen durch typische Vertreter zu illustrieren. I n diesem Abschnitt behandeln w i r einige logizistische Lehren; der nächste w i r d zwei markanten rhetorisch-topischen Konzeptionen gewidmet sein. Eine wesentliche Differenzierung der logizistischen Lehrmeinungen liegt darin, daß die einen die logische Analyse des Rechts auf die Logik der deskriptiven Sprache gründen, während die anderen die Normenlogik als Basis der Theorie des Rechtsdenkens wählen. Diese zwei grundsätzlich verschiedenen Einstellungen lassen sich aus der historischen Entwicklung der Logik verstehen. Diese Wissenschaft hat sich i n ihrer langen Entwicklungsphase sozusagen ausschließlich der Analyse der deskriptiven (rein aussagenden) Sprache gewidmet. Erst in unserem Jahrhundert wurde das Bewußtsein wach, daß eine spezifische Logik für die Arbeit m i t Sätzen der präskriptiven Sprache geschaffen werden muß e . Diese Lehre — w i r können sie Normenlogik nennen — arbeitet m i t zwei semantisch verschiedenen Satzarten: den Normsätzen und den Aussagesätzen. Es ist natürlich, daß der zur Verfügung stehende logische Apparat der präskriptiven Sprache bei weitem noch nicht so eingehend ausgearbeitet ist, wie die Logik der deskriptiven Sprache. Die meisten Logiker und Philosophen erkennen heute die Notwendigkeit der Erstellung spezifischer normenlogischer Systeme an. Theoretiker des juristischen Denkens bemühen sich aber oft, den Schwierigkeiten einer Ausarbeitung einer Normenlogik aus dem Wege zu gehen, indem sie die vorhandenen Formalismen der deskriptiven Sprache als Instrument der rechtslogischen Analysen verwenden. Es ist das große Verdienst von Ulrich Klug, daß die deutsche Jurisprudenz auf die Bedeutung der modernen Logik für die Analyse des Rechtsdenkens aufmerksam gemacht wurde. Dieses Verdienst bleibt bestehen, auch wenn man seinen Auffassungen gegenüber kritisch ist. Wie sieht K l u g das Verhältnis zwischen der modernen Logik und dem Recht? Wie versteht er den Terminus „juristische Logik"? I n seinem nun i n dritter (erweiterter) Auflage vorliegenden Buch „Juristische L o g i k " 7 definiert er die (formale) Logik als Teil der Wissenschaftslehre i n einer Weise, aus der ersichtlich ist, daß er die spezifische Problematik der Normenlogik und deren Rolle i m Rechtsleben β Poincaré, Η . : Letzte Gedanken, Dernières Pensées (deutsche Übersetzung von K . Lichtenecker), Leipzig 1913, ferner: Weinberger, O.: op. cit., S. 8, S. 43 [resp. S. 66]. 7 Klug, U.: Juristische Logik, 3. Aufl., Berlin—Heidelberg—New Y o r k 1966.
II. Jurisprudenz zwischen Logik und Plausibilitätsargumentation
43
nicht erkannt hat, auch wenn er i n der dritten Auflage einige — leider sehr oberflächliche — Bemerkungen über die deontische Logik bringt. Er geht m i t Scholz von dem Oberbegriff einer Wissenschaftslehre aus, unter der die Lehre vom Rüstzeug der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung i m weitesten Sinne zu verstehen ist, und nennt formale Logik denjenigen Teil dieser Wissenschaftslehre, der die zum Aufbau irgendeiner Wissenschaft erforderlichen Schlußregeln formuliert und zugleich alles das liefert, was für eine exakte Formulierung dieser Regeln erforderlich ist. Die formale Logik ist dann derjenige Teil der Wissenschaftslehre, der die Technik wissenschaftlichen Beweisens liefert 8 . Gegenstände der Logik sind für K l u g also nur indikative (Erkenntnisse ausdrückende) Sätze der deskriptiven Sprache; eine besondere Logik der präskriptiven Sprache w i r d von i h m nicht gefordert. K l u g lehnt die Möglichkeit von Speziallogiken für einzelne Wissenschaftsgebiete ab. Dies bestimmt seine Einstellung zur juristischen Logik. „Der Unterschied (zwischen den i n verschiedenen Wissenschaften geltenden Gesetzen) ergibt sich sonach nicht aus der Verschiedenheit hinsichtlich der angewandten Logik, sondern aus der Verschiedenheit der Prämissen, von denen ausgegangen wurde. Und die verschiedenen Prämissen machen gerade den Unterschied der Einzelwissenschaften aus. Wenn folglich von juristischer Logik gesprochen wird, dann ist damit nicht eine Logik bezeichnet, für die besondere Gesetze gelten, sondern es ist damit die Logik besonders insofern gemeint, als sie in der Rechtswissenschaft Anwendung findet." „Die juristische Logik ist die Lehre von dem im Rahmen der Rechtsfindung zur Anwendung gelangenden Regeln der formalen LogikV Recht befremdlich ist es, wenn der Autor dann die juristische Logik als Lehre von den Schlußformen argumentum a simile, e contrario, a maiore ad minus, usw. bestimmt 1 0 . Es handelt sich dabei nämlich um Untersuchungen, die vom logischen und methodologischen Standpunkt aus äußerst problematisch erscheinen und kaum das enthalten, was die Logik dem Juristen zu bieten hat. Wenn K l u g die Existenz einer juristischen Speziallogik leugnet, ist ihm beizupflichten, doch bedeutet das nicht, daß die Logik selbst keine nach den Gedanken-, resp. Satzarten spezifizierte Lehren wie die Normenlogik enthalte. K l u g versteht die Logik i m Geiste der modernen Lehre als kalkülisierte Logik 1 1 . Als Ideal der logischen Perfektion betrachtet er die axiomatische Methode. Sie ist seiner Meinung nach das Ziel der Wis8 Klug, » Klug, io Klug, u Klug,
U.: op. cit., S. 1. U.: op. cit., S. 6. U.: op. cit., S. 7. U.: op. cit., S. 14.
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens
senschaftlichkeit, gültig für alle Wissenschaften. Er sagt: „Strenge Folgerungen aber sind ausschließlich i m axiomatischen System möglich 1 2 ." Dies ist problematisch, kann doch auch die Logik selbst anders als axiomatisch und dabei genauso exakt dargestellt werden (Matrizenmethode, natürliches Schließen, Entscheidungsverfahren durch Normalformen). Er sieht natürlich, daß diese Methode i n den Wissenschaften und i n der Praxis in Wirklichkeit nicht überall angewendet wird. Er erblickt den entscheidenden Unterschied zwischen der aktuellen Wissenschaft und Praxis und der axiomatischen Arbeitsweise i n der Tatsache, daß man nicht i n symbolischer Sprache operiert. „Solange man auf die Verwendung einer Symbolik verzichtet und versucht, die oben erwähnten Prinzipien der axiomatischen Methode i m Rahmen der natürlichen Wortsprachen anzuwenden — wie dies etwa der systematisch arbeitende Jurist weitgehend t u t —, verfährt man, wie man sagen darf, quasi-axiomatisch. Dabei ist aber die Entwicklung einer Fachsprache bereits der erste Schritt zur echten exakten Symbolik." Diese Auffassung, die eine K l u f t zwischen Logizisten und Topikern schuf, halten w i r nicht für richtig. Die axiomatische Methode ist zwar ein wichtiges Ergebnis der modernen Logik. Es ist aber nicht das einzige Ergebnis: von der modernen Logik führt auch ein Weg zur logischen Analyse 1 3 . Die methodologische Anwendungsweise der Logik auf die axiomatische Methode zu beschränken ist unmöglich, denn die Deduktion w i r d i m wissenschaftlichen und praktischen Denken nicht nur auf Deduzieren aus feststehenden Basissätzen (Axiomen) verwendet (s. S. 53 ff.). Die Axiomatisierung des Rechts erscheint K l u g als erstrebenswertes Ideal, wobei uns nicht klar ist, ob er sich dabei der großen Schwierigkeit der Anwendung axiomatischer Systeme bewußt ist. Der rhetorisch-topischen Problematik gegenüber n i m m t er nicht nur eine abweisende Haltung ein, sondern er zeigt für sie kaum Verständnis. „Bei der Auswahl der Axiome spielt die Topik eine wichtige Rolle." . . . „Allerdings ist auch die Topik — das w i r d gelegentlich übersehen — axiomatisch gebunden, insofern sie von logischen und teleologischen Axiomen abhängig ist 1 4 ." I h n beherrscht die Vorstellung, daß Begründung und Rechtfertigung nur auf axiomatische — bei umgangssprachlicher Formulierung — auf quasi-axiomatische Deduktion gestützt sein kann. 12 Klug, U.: op. cit., S. 176. 13 Es ist vielleicht am besten, an der Entwicklung des Denkens L u d w i g Wittgensteins zu demonstrieren, daß die sprachanalytischen Untersuchungen einerseits eine Reaktion auf den Logizismus waren, andererseits aber ohne das Ideengut der modernen L o g i k nicht denkbar wären; vgl. die zwei Phasen seiner Philosophie. 14 Klug, U.: op. cit., S. 174, Anm. 461.
II. Jurisprudenz zwischen Logik und Plausibilitätsargumentation
45
Rupert Schreiber hat i n verdienstlicher Weise das, was K l u g als zentrale Aufgabe der juristischen Logik angesehen hat, nämlich die Interpretationsargumente (Analogieschluß, Umkehrschluß, argumentum a maiore ad minus, argumentum a minore ad maius, argumentum a fortiori) kritisiert. Schreiber hat aber die methodologische Problematik nicht voll erfaßt. Es könnte auf den ersten Blick den Anschein erwecken, als gehöre Schreiber zu den normologisch fundierten Logizisten, da er ausdrücklich indikative und normative Sätze unterscheidet. Er führt sogar eine unterschiedliche Bewertung beider Satzarten (wahr-falsch; rechtensnicht rechtens) ein, doch macht er die semantische Trennung dadurch zunichte, daß er in ganz unklarer Weise schreibt: „ M i t welcher dieser Eigenschaften diese Sätze bewertet sind, ist demnach nicht ausschlaggebend, sondern für die Schlußregeln ist wesentlich nur, daß sich der eine Satz aus dem anderen oder den anderen Sätzen ableiten läßt 1 5 ." Entweder sind die Werte paarweise gleich (rechtens = wahr; nicht rechtens = falsch), oder es sind die für wahr-falsch geltenden Folgerungsregeln für zwei Paare von Bewertungen nicht begründet 16 . Auch der angedeutete Weg über eine Isomorphie zwischen indikativen und normativen Sätzen (S. 42) ist nicht gangbar, denn die Normenlogik muß zwei semantisch verschiedene Satzarten enthalten, was der Struktur der indikativen Sprache nicht entspricht. Das juristische Denken faßt Schreiber als axiomatisch-deduktives Denken auf und lehnt Plausibilitätsargumentationen ab (es scheint, ohne ihr Wesen voll erfaßt zu haben) 17 . Als Vertreter der auf normenlogischer Basis aufgebauten Lehre vom juristischen Denken können w i r Karl Engisch 18, den Autor dieser Studie 1 9 und wohl auch Heinz Wagner und Karl Haag 20 nennen. Engischs Untersuchungen des juristischen Denkens geht eher von der juristischen Tätigkeit aus als von der Logik 2 1 . 15
S. 39. 16
Schreiber, R.: L o g i k des Rechts, Berlin—Göttingen—Heidelberg
1962,
Vgl. auch die K r i t i k an Schreiber von Wagner / Haag i n dem Buch: Die moderne L o g i k i n der Rechtswissenschaft, Bad H o m b u r g — B e r l i n Zürich 1971, S. 82 ff. Schreiber, R.: op. cit., S. 58. !» Engisch, K . : Logische Studien zur Gesetzesanwendung, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, 1941/42; ders., Einführung i n das juristische Denken, Stuttgart 1956. 19 Weinberger, O.: Rechtslogik, Versuch einer Anwendung moderner L o g i k i m Recht, Wien—New Y o r k 1970. 20 Wagner, H./Haag, K . : op. cit. 21 Engisch, Κ.: Einführung i n das juristische Denken, S. 21.
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens
Er definiert die Rechtssätze als hypothetische Sollenssätze. Für den grundlegenden Fall konstruiert er die logische Abhängigkeit der Entscheidung eines Individualsollenssatzes als normenlogische Folge 22 . Er differenziert i n seinen Analysen klar deskriptive, normative und wertende Begriffselemente. Gleichzeitig sieht er auch einen Platz für Dezisionen, die rational analysiert, aber nicht immer letztinstanzlich vernunftmäßig begründet werden können, und Probleme der topischen Erörterung. „Die Deduktion hat i m juristischen Bereich nicht die Stringenz, die ihr etwa i m mathematischen Bereich am Leitfaden der axiomatischen Methode gesichert werden kann. Selbst eine methodengerecht gewonnene juristische Entscheidung steckt nur Grenzen des Richtigen ab." . . . „ W i r denken jetzt noch einmal an die Topik als die Kunst der Argumentation und Diskussion, als die Lehre von den ,Topoi', von den mannigfaltigen und vielfach gegensätzlichen Gesichtspunkten, unter denen man ein juristisches Problem sehen muß, die man i m Gespräch, das auch Viehweg für unentbehrlich erachtet, erörtern muß, i m Gespräch, i n dem sich klärt, was zweifelsfrei und was problematisch, was wesentlich und unwesentlich, was annehmbar und unannehmbar, was vertretbar und unvertretbar ist2®." Z u Viehwegs topischer Konzeption sagt er: „Insbesondere gilt es, nicht nur eine Wertung gegen die andere zu stellen, einen Standpunkt gegen den anderen zu vertreten, was immerhin bereits den Vorteil hat, die Bedingtheit und Relativität der eigenen Auffassung bemerklich zu machen. Es gilt auch, die Wertung, die sich i n einem konkreten Falle vollzieht, auf ihre Tragweite hinsichtlich anderer ähnlicher Fälle abzutasten, es gilt, die Schranken der Wertung m i t Bezug auf eine bestimmte Fallgruppe festzustellen. Es gilt, eine Wertung auf ihre Hintergründe zu beforschen, die allgemeineren Wertgedanken ans Licht zu bringen, auf denen sie beruhen, und diese Wertgedanken zu messen an den Gedanken und Grundsätzen, die unserer Rechtsordnung eigen sind 2 4 ," I n der Rezension von Viehwegs Buch spricht er der Topik nicht das letzte, sondern bloß das vorletzte Wort zu — zugunsten der Logik und Methodologie 25 . Es sei noch eine Arbeit jüngsten Datums erwähnt. I n ihrem Buch „Die moderne Logik i n der Rechtswissenschaft" gehen die Autoren Wagner und Haag von einer ziemlich kritischen Einstellung zu dem. was die Normenlogiksysteme bisher geleistet haben, aus. Diese K r i t i k scheint m i r nicht unberechtigt, trotzdem vertreten die Autoren die A n sicht, daß die Basis der Lehre vom juristischen Denken i n einer adäqua22 Engisch, K . : op. cit., S. 45. 23 Engisch, Κ.: Wahrheit u n d Richtigkeit i m juristischen Denken, München 1963, S. 18, 19 ff. 24 Engisch, K . : i n der Rezension von Viehwegs T o p i k u n d Jurisprudenz, Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft, 1957, S. 596 - 601. 25 Engisch, K . : op. cit., S. 601.
II. Jurisprudenz zwischen Logik und Plausibilitätsargumentation
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ten Normenlogik und Normensemantik zu suchen ist. „Gegenstand der Normenlogik, so wie sie hier verstanden wird, ist die Konstruktion von normativ interpretierten Kalkülen, d.h. von formalisierten Sprachen, i n denen sich normative Systeme, insbesondere Rechtssysteme (Systeme von Rechtsnormen) kalkülmäßig formulieren lassen. Eingeschränkt auf den rechtlichen Bereich heißt das: Die Normenlogik beschäftigt sich m i t der Konstruktion von formalisierten Rechtssprachen (im Sinne von Sprachen, i n denen sich Rechtsnormen ausdrücken lassen, i m Gegensatz zu deskriptiven Sprachen über das Recht) 26 ." Zur Frage, was für eine Rolle die Plausibilitätsargumentation und Topik i m Rechtsleben spielt, nimmt diese vorwiegend kritische Arbeit keine Stellung. 4. Rhetorisch-topische
Lehrmeinungen
vom juristischen
Denken
Diese Richtungen werden w i r durch eine summarische Reproduktion zweier verwandter, aber doch verschiedener Lehren illustrieren: der topischen Auffassung des juristischen Denkens von Viehweg und der argumentationstheoretischen von Perelman. „Die Topik ist eine von der Rhetorik entwickelte Techne des Problemdenkens 27 ." Sie ist vom deduktiv-systematischen Denken wesensverschieden. Die Topik bestimmt die Struktur der Jurisprudenz. „(1) Die Gesamtstruktur der Jurisprudenz kann nur v o m Problem bestimmt werden. (2) Die Bestandteile der Jurisprudenz, ihre Begriffe und Sätze, müssen i n spezifischer Weise an das Problem gebunden bleiben und können daher nur vom Problem her verstanden werden. (3) Die Begriffe und Sätze der Jurisprudenz können deshalb auch nur i n eine Implikation gebracht werden, die an das Problem gebunden bleibt. Eine andersartige ist zu meiden 2 8 ." Die Behauptung, daß die Rechtswissenschaft vom Problem ausgehe und diese Bindung nicht verlieren dürfe, sowie die daraus gezogene Folgerung, daß das juristische Denken problemerörternd, also topisch sei, erfordert eine nähere Erklärung. I n diesem Kontext bedeutet der Terminus „Problem" offenbar den Rechtsfall, die Frage, wie ein bestimmter Fall rechtlich beurteilt werden soll. Die kasuistische Problematik ist sicher ein Hic-Rhodos-Hic-Salta für den Juristen. Die juristische Analyse des Einzelfalls ist aber immer m i t der Suche nach Rechtsprinzipien verbunden. Bei der Beurteilung des Falles werden die 2β Wagner , H ./Haag, K . : op. cit. S. 77. 27 Viehweg, Th. : Topik u n d Jurisprudenz, (1. Aufl. 1953). 28 Viehweg, Th.: op. cit. S. 68.
4. Aufl.,
München
1969, S. 1
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens
relevanten Kriterien herausgestellt und auf deren rechtliche Wertung die Begründung der Entscheidung aufgebaut. Das Auffinden und die Beurteilung der relevanten Momente ist aber der Weg zu Grundsätzen und Regeln, der Weg, wie der Einzelfall zum Rechtlichen im generellen Sinne transzendiert. Uns erscheint i n diesem Prozeß der kasuistischen Analysen ebenso das Herausschälen des rechtlich Wesentlichen und die Bestimmung der Rechtsfolgen dieser Momente als Problem, wie die Lösung des Einzelfalls selbst. Da der Jurist seine Standpunkte und Entscheidungen begründet, überlegt er immer i n genereller Sicht, denn er beurteilt nicht das Hic-et-nunc, sondern ein Quale. Hierbei ist natürlich — wie Viehweg betont — Platz für die ars inviendi, denn der Jurist steht vor einer nicht-systematisierten Vielfalt von möglichen Gesichtspunkten. Da jede Begründung relativ zu der Wahrheit oder Geltung der Gründe (Prämissen) ist, besteht das Problem des Auffindens und der Annahme von passenden Prämissen der Beweise. Es ist eine Aufgabe der Topik, zu lehren, wie man sachlich adäquate und ergiebige Prämissen findet. Dies geschieht durch Diskussion der entscheidenden Gesichtspunkte (Topik erster Stufe). Z u r Topik zweiter Stufe gelangt man, wenn man diese Überlegungen systematisiert, indem man sich auf ein Repertoire von Gesichtspunkten, die in Topoikatalogen festgehalten sind, stützt. Diese Kataloge sind entweder allgemein oder spezifisch für ein bestimmtes Fach angepaßt (ζ. B. für den Bereich der Zivilistik). Von der Vorstellung ausgehend, daß die Deduktion — also auch die Logik — erst i n Aktion treten kann, wenn die Prämissen aufgefunden sind, betrachtet Viehweg die Topik jedenfalls als primär für das j u r i stische Denken, und die Logik nur als eine sekundäre und offenbar auch dem Rang nach nur weniger wichtige Stütze. „ M a n bemerkt, daß zwar die Logik wie überall natürlich auch auf unserem Gebiete ganz unentbehrlich ist, überdies reichliche Erwähnung findet, aber i m entscheidenden Augenblick immer wieder den zweiten Platz angewiesen erhält. Den ersten hat dann die ars inveniendi, so wie es Cicero meinte, wenn er sagte, die Topik ginge der Logik voran 2 9 ." Die Frage, was als Argument in einem Beweis — also als Prämisse — verwendet werden kann, hängt von den zur Verfügung stehenden Folgerungsbeziehungen ab; es ist also unseres Erachtens illusorisch anzunehmen, das Prämissensuchen wäre der Folgerungstheorie gegenüber primär. Es ist natürlich richtig, daß in jeder originellen Denkarbeit ein geistiger Funke, eine intuitive Invention, da ist und daß sie vielleicht sogar das Entscheidende großer denkerischer Leistungen bedeutet. Die 20 Viehweg , Th.: op. cit., S. 64.
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Logik lehrt nun sicher nicht, wie man ein sprühender und fruchtbarer Geist w i r d ; ich glaube aber, daß auch die Topik — trotz des Terminus „ars inveniendi" — dies nicht bietet. Sie deutet zwar auf die Stellen der notwendigen Invention hin, gibt auch brauchbare Beispiele und Muster, aber die Wahl des rechten Schemas und noch mehr das schöpferische Auffinden neuer Wege lehrt sie nicht. Sie ist hierzu nur Vorübung — so wie das Logikstudium eine Vorübung zur logischen Analyse i n der wissenschaftlichen Praxis ist. Die Jurisprudenz ist problemgebunden, sie ist kein von Basissätzen ausgehendes und rein deduktiv vorgehendes Systemdenken. Da die Jurisprudenz zu den unsystematisierbaren Disziplinen gehört, „ w e i l sich auf ihrem Gebiete keine Basissätze finden lassen, die sowohl gesichert als auch sachhaltig ergiebig wären", spielt i n dieser Wissenschaft die logische Problemerörterung eine grundlegende Rolle. Auch das unabweisbare Grundproblem der Jurisprudenz, nämlich: was hier und jetzt gerecht ist, fällt infolge der Unsystematisierbarkeit der Gesichtspunkte nach Viehweg der Topik zu 3 0 . Wenn es auch sicher richtig ist, daß die Hauptaufgabe des Juristen darin besteht, das Gerechte i m Einzelfall zu finden, so muß hier eingewendet werden: 1. Läßt sich Gerechtigkeit nur m i t dem Blick auf den Einzelfall hier und jetzt beurteilen? Ist es nicht ganz i m Gegenteil ein Urteil des Vergleichens und Wägens verschiedener und analoger Fälle? 2. Ist das Streben nach Gerechtigkeit, die Gerechtigkeitsabwägung i m Einzelfall eine rein intuitive Stellungnahme, oder handelt es sich hier um einen schwierigen Prozeß, der die wertende Stellungnahme einer rationalanalytischen Untersuchung unterwirft? Ohne Vergleichen kann es kein Urteil über „gerecht oder ungerecht" geben. Etwas als gerecht (oder ungerecht) zu werten, ist zwar Sache einer Stellungnahme, die aber nicht bloß intuitiv ist, sondern immer auch auf einer rationalen Analyse beruht. Die Fallbewertung ist prinzipienbewußt und prinzipiensuchend. Dennoch ist die Behauptung, daß Gerechtigkeit auch immer hic et nunc zu prüfen sei, berechtigt: Gerechtigkeit ist zwar abhängig von Prinzipien, aber es gibt Prinzipienkonflikte und Gegengründe, die hic et nunc zu beachten sind. Hierher gehört die Billigkeitsproblematik, d. h. die Frage, wie eine logisch einwandfreie Struktur der Billigkeitsentscheidung ohne Verletzung der allgemeinen Rechtsgrundsätze gegeben werden kann a . so Viehweg , Th.: op. cit., S. 67. Vgl. Weinberger , Ο.: Einzelfallgerechtigkeit ( D / I I I dieses Bandes).
a
4 Weinberger
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Die gedankliche Struktur des rechtlichen Entscheidens faßt Viehweg ebenfalls als topische Erwägung auf; es geht hier nicht um ein logisches Folgern aus Gesetz und Tatbestandsfeststellung, sondern um ein A b wägen und Auffinden von relevanten Gesichtspunkten. M i t anderen Worten: die Entscheidung ist ein Ergebnis der Betrachtung des Falls (Problems) i m Lichte verschiedener Topoi. Wenn man das richterliche Entscheiden als Ganzes ein Abwägen nach topischen Gesichtspunkten nennt, verwischt man die Grenze zwischen positivrechtlicher Determination der Entscheidung und den Elementen des topischen Ermessens und Wägens. Von ganz allgemeinen Überlegungen über das Begründen und Überzeugen gelangt Perelman zu einer interessanten Konzeption des juristischen Denkens. Er stellt der aus cartesischer Tradition erwachsenen Einstellung des wissenschaftlichen Denkens, das auf Evidenz und Schärfe gerichtet ist, die Tatsächlichkeit der Denkpraxis und des zwischenmenschlichen geistigen Kontaktes gegenüber, i n denen Plausibelmachen und nicht-stringentes Begründen eine wesentliche Rolle spielen. Unter Berufung auf antike Vorläufer baut er eine Lehre auf, die er moderne Rhetorik oder Argumentationstheorie® 1 nennt. Die Begründung und das, wovon der Mensch sich überzeugen läßt, ist abhängig von dem, was er weiß oder glaubt, woran er nicht zweifelt. Die Argumentation faßt Perelmann als Prozeß auf, der die Anhängerschaft für eine These oder Einstellung zu gewinnen sucht; er deutet also das Argumentieren als Interaktion zwischen dem Redner und dem Auditorium, mag dieses i n gewissen Fällen bloß als Konstruktion vorschweben. Die Struktur der Argumentation führt zur Erkenntnis, daß als Gründe letztlich allgemein anerkannte Thesen oder Elemente, über welche Übereinstimmung herrscht, herangezogen werden. Hier kommt auch die Lehre von den Topoi und sozusagen deren historische Soziologie zur Anwendung. Das Begründen (die rhetorische oder Plausibilitätsargumentation) schafft keine strikte Bindung — wie es die logische Deduktion t u t —, sondern sie macht durch die Gründe (Argumente) das Begründete wahrscheinlich, glaubhaft, läßt es als wahr oder wertvoll, aber akzeptabel erscheinen. Die Perelmansche Argumentationstheorie w i l l eine rational-analytische Lehre sein, die als Stütze einer Methodologie der Wissenschaften und der Philosophie verwertbar sein soll. Dies kann sie nur dann leisten, wenn der rhetorischen Argumentation zwar nicht überhistorische, aber dennoch objektive Geltung zukommt. Es geht aber der Charakter Perelman, Ch. Vgl. „Einzelfallgerechtigkeit" ( D / I I I dieses Bandes) Oibrechts-Tyteca, L.: Traité de l'Argumentation, L a nouvelle rhétorique, 2. Aufl., Brüssel 1970.
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einer Begründung m i t objektivem Gewicht verloren, wenn man die Argumentation bloß von der Meinung der Menschen — bloß von den hic et nunc gerade zufällig bestehenden Einstellungen und Vorstellungen, die doch auch Vorurteile sein können — abhängig macht. Gibt es dann einen Unterschied und eine Grenze zwischen Uberreden und Begründen — zwischen Uberreden und rationalem Plausibelmachen? Perelman sucht die Relativität der Plausibilitätsargumentation m i t ihrer historischen Objektivität und die Vernunftmäßigkeit der Rhetor i k durch den Begriff des „universellen Auditoriums" zu stützen. Die Argumentation ist rational, wenn sie für das universelle Auditorium bestimmt ist, wenn sie darauf angelegt ist, den vernünftig denkenden Menschen unserer Zeit zu überzeugen 32 . Nach Perelman besteht das universelle Auditorium aus der gesamten Menschheit, oder wenigstens aus allen erwachsenen und normalen Menschen. Die Ubereinstimmung des universellen Auditoriums m i t einer These oder Wertung ist keine Tatsachenfrage, sondern eine Frage der Richtigkeit (une question de droit) 3®. Der Begriff des „universellen Auditoriums" ist also offenbar bloß eine regulative Idee, eine erklärende Begriffskonstruktion, nicht aber eine Realität oder eine als Testkriterium effektiv anwendbare Methode. Es ist wohl richtig, daß die rationale Argumentation allgemein gedacht ist und nicht bloß darauf abzielt, den augenblicklichen Gesprächspartner zu überzeugen. Dies drückt der Hinweis auf das universelle Auditorium gut aus. Aber wie noch an späterer Stelle ausgeführt werden soll, erscheint uns die Idee des universellen Auditoriums zur Charakterisierung der Rationalität einer Argumentation nicht als ausreichend (s. S. 58 f.). Die Plausibilitätsbegründung findet i n der Denkpraxis ihre Anwendung sowohl i m alltäglichen Leben als auch i m Bereich der Wissenschaften. I h r wichtigstes Feld sieht Perelman i n den Bereichen des Handelns und Wertens, der Begründung von Entscheidungen, Werthaltungen und Normsetzungen. Daher ist auch das Rechtsleben eines der wichtigsten Gebiete des rhetorischen Argumentierens. Den Begriff des juristischen Denkens präzisiert Perelman durch den Prototyp der Überlegungen des Richters, wie er sich i n dessen Urteil und der Urteilsmotivation äußert 34 . Es handelt sich hierbei u m eine typisch praktische Erwägung, welche dahin abzielt, die Entscheidung zu rechtfertigen. Perelman lehnt es ab, die Entscheidung als einfache Deduktion, die i n einer Anwendung der allgemeinen Regel auf den 32 Perelman, Ch., Olbrechts-Tyteca, L.: op. cit., S. 39 f. 33 Perelman, Ch., Olbrechts-Tyteca, L.: op. cit., S. 41. 34 Perelman , Ch.: Le raisonnement juridique, i n : Droit, morale et philosophie, Paris 1968, S. 85.
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besonderen Fall bestünde, anzusehen. Die richterliche Argumentation w i r d durch Beweistheorien gelenkt, — mögen sie wie i m liberalen bürgerlichen Recht neutral konzipiert sein und nur das Gewicht der vorgelegten Beweise wägen, oder aber, wie i n den sozialistischen Staaten, vom Prinzip der materiellen Wahrheit beherrscht sein —, immer ist die juristische Tatsachenfeststellung verschieden von der naturalistisch-objektiven. Perelman plädiert sogar für Fiktionen bei der tatsachenfeststellenden Entscheidung 35 , weil es darum gehe, sozial erwünschte Entscheidungen zu erhalten und ungerechte Folgen zu vermeiden. Dies ist eine sehr gefährliche Lehrmeinung, denn die Wertung des einzelnen Richters — ist er doch auch nicht unfehlbar i n seinem Denken und Werten — w i r d als über dem Gesetz stehender Maßstab gesetzt. Die Problemsituation, d. h. die Frage von unvorhergesehenen Ausnahmen und die Billigkeitsproblematik kann so kaum befriedigend bewältigt werden, sondern nur durch rechtlich vorgezeichnete Entscheidungsfreiheiten. Es scheint, daß Perelman sowohl die deduktiven Elemente des Rechtsdenkens als auch die rhetorischen anerkennt. Verschiedene Stellen seiner Arbeiten deuten jedoch das Verhältnis dieser Elemente unterschiedlich: das rhetorische Begründen w i r d manchmal als das einzig Wesentliche der juristischen Überlegung hingestellt; andere Stellen lassen sich so verstehen, daß der deduktiv bestimmte Entscheidungsrahmen durch die schwierigere rechtfertigende Plausibilitätsargumentation des Juristen ergänzt werden muß. Man w i r d Perelman zustimmen, daß auch i m Bereich des Sollens rationale Begründungen möglich sind, wie er i n Opposition zur Reinen Rechtslehre behauptet 36 , doch folgert er daraus zu Unrecht eine Widerlegung des Sein-Sollen-Dualismus, Perelman kommt das Verdienst zu, klargemacht zu haben, daß i n der juristischen Begründung auch nicht-stringente und einfach akzeptierte Argumente auftreten; was diese Plausibilitätsargumentationen zu rationalen Vorgängen macht, geht aus seinen Darlegungen nicht überzeugend hervor. I n der Bemühung, die rhetorischen Momente des juristischen Denkens herauszustreichen, verliert der Autor aus den Augen, daß das grundlegende Gerüst des juristischen Denkens die logische Strukturtheorie und die der Rechtsdynamik zugrunde liegenden logischen Beziehungen sind.
35 Perelman , Ch.: op. cit., S. 89. 36 Perelman , Ch.: L a theorie pure du droit et l'argumentation, i n : Droit, moral et philosophie, S. 98.
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5. Das harmonische Zusammenspiel von Logik und Rhetorik im juristischen Denken Logizisten und Rhetoriker gleichen einander darin, daß sie das j u r i stische Denken entweder auf die logische, oder aber auf die rhetorischtopische Denkweise reduzieren, und daß sie, wenn sie die andere Denkweise als subsidiär anerkennen, beide Denkweisen als einander konträr entgegengesetzt ansehen. W i r haben nun gerade die entgegengesetzte Absicht: w i r wollen zeigen, daß i n der Denkpraxis beide Arten der Gedankenführung i n einem Zusammenspiel auftreten, und daß die rhetorisch-topische Überlegung ihrem Wesen nach der logischen Deduktion nicht konträr ist, sondern als logisch-methodologische Analyse i n spezifischen Problemsituationen verstanden werden muß. Zur Begründung unserer Konzeption muß vorerst die Logik und ihre Anwendungsweise in den Wissenschaften erörtert werden, denn die meisten Forscher, welche das Problem des juristischen Denkens studieren, sehen die Rolle der Logik in einer verengenden Perspektive. Es ist die Aufgabe der Logik, eine Theorie des wissenschaftlichen Denkens — inklusive des Denkens i m Bereich der Praxis — zu bieten, wobei hier „Denken" i m nicht-psychologistischen Sinne zu verstehen ist. Die Logik gibt — m i t Carnap gesagt — eine rationale Rekonstruktion der Denkpraxis. Sie ist eine Lehre der Formen, welche die Basis der logischen Folgerungstheorie bildet. Sie zeigt, daß das Folgern als rein formales Operieren durchgeführt werden kann. Die formalen Folgerungsmethoden sind unschöpferisch; es kann durch sie nichts gewonnen werden, was nicht schon i n den Prämissen wenigstens implizite enthalten war. Die Logik selbst bietet keinerlei Sacherkenntnisse. Ihre Sätze und Systeme sind informationsleer. Die Informationsleerheit der logischen Sätze ist nicht bloß dadurch bedingt, daß diese Sätze Variable enthalten, sondern sie ist eine Folge der Struktur dieser Sätze. Der Aussagesatz „Es regnet oder es regnet nicht" ist ebenso informationsleer wie die Aussageformel „p oder nicht-p". M i t Recht sagt Quine, daß i n Sätzen tautologischer Form die Konstanten i n unwesentlicher Funktion (vacuously) auftreten 3 7 . Solche Sätze sagen nichts über die i m Satz genannten Gegenstände aus, die Konstanten deuten hier nur — genauso wie es Variable t u n — die Gleichheit der Strukturelemente an. Die logischen Systeme sind zwar informationsleer, aber wichtig als Instrumente der Gedankenentfaltung und -transformation. Sie sind dazu bestimmt, auf inhaltliches Material angewendet zu werden. Da die Folgerungsrelationen die zentralen Erkenntnisse der Logik 37 Quine, W. Van Orman: Mathematical Logic, 2. Aufl., Cambridge 1955, S. 2.
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sind, meinen viele, daß die Logik dort und nur dort angewendet werden kann, wo man von feststehenden Basissätzen ausgehend zu einem System der ableitbaren Sätze (Erkenntnisse) fortschreitet. Die Vorstellung, daß die axiomatische Methode — und nur sie — die echt logische Vorgangsweise des Denkens sei, ist nur eine Weiterentwicklung dieser Konzeption. Es ist aber nicht richtig, daß die Erkenntnisse und Regeln der Deduktionstheorie methodologisch nur so verwendet werden. Es w i r d nicht nur aus feststehenden Basissätzen oder Axiomen deduziert, sondern oft auch aus Annahmen, Voraussetzungen, Hypothesen, Glaubenssätzen und i n der betreffenden Zeit für selbstverständlich oder überzeugend gehaltenen Sätzen. Die Wissenschaftsmethodologie kann ebensowenig wie die philosophische Analyse jener Anwendungen der Logik, in denen keine eindeutig feststehenden Prämissen da sind, entbehren. Es ist durchaus nicht richtig, wie man manchmal behauptet, daß ein logisch korrektes Vorgehen nur i m axiomatischen System möglich sei und daß die Axiomatisierung das letzte Ziel aller wissenschaftlichen Bestrebungen sein müsse. Die Logik selbst, genauer ihre einzelnen Disziplinen — wie Aussagekalkül, Prädikatenkalkül, Normenlogik — können axiomatisch dargestellt werden; andere Methoden sind aber vollkommen gleichwertig: Matrizenmethode, sog. Regellogiken (wie die Systeme des natürlichen Schließens), oder Entscheidungsverfahren von der A r t der Normalformen. Die axiomatische Methode ist natürlich äußerst wichtig, da sie eine rein formale, alles explizit ausdrückende Darlegung garantiert. Sie bietet die Basis der Formalisierung und ermöglicht ein exaktes Studium formaler Parallelen zwischen ganz verschiedenen Gebieten. Es darf aber nicht übersehen werden, daß die Handhabung der axiomatischen Systeme oft recht schwierig ist, da nur Regeln der zulässigen Transformationen gegeben sind, es aber der Invention (dem Geschick) überlassen bleibt, zielführende Wege der Ableitung aufzufinden. Ein Vergleich m i t dem Schachspiel soll das illustrieren. Die Spielregeln des Schachspiels geben formale Anleitungen, die befolgt werden müssen, wenn man wirklich Schach spielen w i l l . Diese Regeln entsprechen den formalen Transformationsregeln axiomatischer Systeme. Die Spielregeln lehren uns aber nicht, gut, d. h. erfolgreich, Schach zu spielen. Auch bei der Handhabung axiomatischer Systeme gibt es ein der Schachstrategie analoges Problem: die Frage, wie die Transformationsregeln zweckmäßig angewendet werden sollen. Die m i t der axiomatischen Technik verbundenen Schwierigkeiten führen dazu, daß man programmartigen formalen Anleitungen den Vorrang gibt.
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Es scheint uns sehr fraglich, ob die Axiomatisierung für jede Wissenschaftdisziplin und für jede wissenschaftliche Aufgabe die adäquate Methode ist. Für die Jurisprudenz erscheint sie nicht als allgemeine Methode adäquat, mag sie auch für besondere, i m Feld des Rechts auftretende Einzelaufgaben geeignet sein (ζ. B. bei der Anwendung von Computern i m Rechtsleben). Nicht einmal i n der Mathematik w i r d immer axiomatisch gearbeitet; und auch dort, wo die Mathematik auf einer Axiomatik aufbaut, gibt sie oft — statt einer vollkommenen axiomatischen Deduktion — einen Kurzbeweis oder eine Beweisskizze. Die moderne Konzeption der Logik, in der m i t kunstsprachlichen Ausdrücken formal operiert wird, w i r f t das Problem auf, ob (resp. wie) die logischen Erkenntnisse und Regeln auf das nationalsprachlich formulierte Denken angewendet werden können. Hier handelt es sich um ein schwieriges und wichtiges Problem, denn sowohl die alltägliche als auch die wissenschaftliche Denkpraxis verläuft i n der Hauptsache in nationalsprachlicher Formulierung. Die Tatsache, daß die Denkpraxis und ein wesentlicher Teil des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens i n nationalsprachlicher Formulierung vor sich geht, ist unbestritten. Man hat dann zwei Möglichkeiten: entweder man sagt, daß die Logik nur in strengen — gewissen Eindeutigkeits- und Strukturpostulaten entsprechenden — Sprachen richtig angewandt werden kann, nicht aber auf Gedanken i n nationalsprachlicher Formulierung, oder aber man stellt die Aufgabe, die Anwendungs-, resp. Verwertungsbedingungen für die exakte formale Logik auf nationalsprachlich formulierte Gedanken zu bestimmen. Dies ist offenbar die wissenschaftlich ergiebigere Einstellung. Eine befriedigende Lösung dieser Problematik kann hier natürlich nicht gegeben werden. Es seien nur einige Möglichkeiten angedeutet. Man kann die Umgangssprache einer gewissen präzisierenden A n gleichung an die symbolischen Sprachen unterziehen oder die Operationen in der Nationalsprache m i t der einschränkenden Klausel durchführen, daß sie nur so weit gelten, als sich Mängel der Umgangssprache hierbei nicht auswirken. Man kann die präzise symbolische Darlegung als Maßstab der Richtigkeit nehmen, die sozusagen als regulative Instanz i m Hintergrund der Denkpraxis steht und hauptsächlich zwei Funktionen hat: a) sie dient als Grundlage für die Ausarbeitung der theoretischen Konzeptionen und der Methoden,
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b) sie kann i n problematischen Fragen oder i n Streitfällen als Instrument» oder Schiedsrichter angerufen werden. Die semantische Analyse der nationalsprachlichen Ausdrücke kann gegebenenfalls so weit vorangetrieben werden, daß die Mängel der nationalsprachlichen Formulierung überwunden werden. Solche Untersuchungen können m i t sprachanalytischer Tendenz durchgeführt werden und logisch handhabbare Sprachspiele ergeben. Es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, daß die Ergebnisse der modernen logischen Analyse auch i n nationalsprachlich formulierten Gebieten verwertbar sind. Für den Juristen ist hier wichtig, daß die Logik als Basis der Strukturtheorie des Rechts und der Rechtsdynamik angewendet werden kann. Ferner kann er aus der Entwicklung der von der Logik ausgehenden sprachtheoretischen und philosophischen Lehren erkennen, daß auch die Analyse der Umgangssprache, inklusive der Rechtssprache, vielversprechende Perspektiven hat. Eine Theorie des juristischen Denkens muß die semantische Unterscheidung, die in der philosophischen Tradition und i n der Jurisprudenz als Gegenüberstellung von Sein und Sollen ausgedrückt wird, beachten, sowohl i m Bereich der Sätze und Gedankenoperationen, als auch bei der juristischen Begriffsanalyse. Das heißt aber: Die Theorie des juristischen Denkens baut auf der Normenlogik auf. Sie muß sich zwar m i t dem heutigen Stand und den Ergebnissen dieser modernen Logikdisziplin nicht zufrieden geben, doch muß sie einsehen, daß ein nach der A r t der Normenlogik m i t Aussagesätzen u n d m i t Normsätzen arbeitendes System für die rationale Rekonstruktion der juristischen Denkpraxis notwendig ist. Es könnte den Anschein erwecken, daß unser Standpunkt i n der Mitte zwischen den logizistischen und den rhetorisch-topischen A u f fassungen des juristischen Denkens liege. Dies ist insoweit richtig, als w i r logisch-deduktive und rhetorische Elemente i n den Argumentationen des Juristen auffinden. Das halten w i r aber nicht für den wesentlichen Zug unserer Ansicht. Diese liegt vielmehr i n der zum Logizismus weisenden Behauptung, daß die logischen Grundschemen für die Jurisprudenz als Strukturlehre vom Rechtssatz und als Basis der wissenschaftlichen Explikation der Rechtsdynamik fundamental sind. Für unsere Auffassung ist ferner charakteristisch, daß w i r ein harmonisches Zusammenspiel der deduktiven und der rhetorischen Überlegung postulieren und i n der juristischen Denkpraxis auch tatsächlich zu erkennen glauben. Es ist eine grundlegende Erkenntnis der Deduktionstheorie, daß der Beweis relativ ist, d. h. daß das Probandum nur dann i n perfekter Weise begründet ist, wenn alle Prämissen der Deduktion wahr sind,
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sonst aber gar nicht. Die Argumente können logisch wahre Sätze sein (wie dies bei der inneren Entwicklung logischer Systeme der Fall ist), dann w i r d der Beweis in gewissem Sinn absolut — der bewiesene Satz ist aber gleichzeitig nicht-informativ. Bei Beweisen, die informative Thesen begründen, stehen w i r immer vor der Frage, wie die Wahrheit oder Geltung (im normativen Bereich) der Argumente des Beweises sichergestellt sind. Für den Bereich der Naturerkenntnis kommen Beobachtungssätze, konventionelle Festsetzungen — ζ. B. bei Meßvorgängen über die Maßeinheit und Meßvoraussetzungen (etwa der Konstanz der Länge des Meßstabs bei der Verschiebung i m Raum) — oder Hypothesen i n Betracht. Ob es evidente synthetische Erkenntnisse a priori oder durch Wesensschau erfaßbare i n t u i t i v begründbare Basiswahrheiten gibt, w i r d von verschiedenen philosophischen Lehren unterschiedlich beantwortet. W i r müssen diese Frage hier nicht diskutieren; w i r begnügen uns damit, diese Möglichkeit letztinstanzlicher Beweisargumente anzuführen. Dort, wo es um ein Sollen geht, werden immer auch normative Prämissen auftreten, die entweder als gesellschaftlich gegeben erfaßt werden, oder in einer Stellungnahme als gesollt akzeptiert sind. Es ist offensichtlich, daß der Prozeß der Annahme oder Anerkennung der letzten Beweisargumente sich nicht mehr auf deduktive Begründung stützt; er kann aber noch durch rationale Erörterung begründet werden, i n dem ζ. B. verschiedene Grundannahmen einander gegenübergestellt und die Konsequenzen der verschiedenen möglichen A n nahmen verglichen werden. Die Struktur des logischen Denkens selbst, nämlich die Relativität des Beweises, führt zu ergänzenden Überlegungen rationaler rhetorischer (topischer) Natur, zur Suche nach überzeugenden Prämissen. I n jeder wissenschaftlichen Erwägung gilt es, die entscheidenden Momente der untersuchten Realität zu erfassen. Bei der Arbeit des Juristen ist dies aber besonders manifest, weil die Aufgabe, die relevanten Gesichtspunkte aufzufinden, in jedem einzelnen Rechtsfall auftritt. Wenn der Physiker erkennt, daß die Schwingungsdauer des Pendels von seiner Länge abhängt, und nicht von seinem Gewicht, so handelt es sich hier um eine Aufgabe, die ihrem Wesen nach analog dem Auffinden von juristisch relevanten Kriterien bei der Beurteilung von Lebenssituationen ist. Es sind Überlegungen von sachanalytischem Charakter anzustellen (im Gebiet des Rechts verbunden m i t wertenden Stellungnahmen). Das Wesentliche herauszufinden ist in gewissem Grade Sache des Aperçu, des Geschicks und der Invention, nicht bloß Sache der Logik. Es werden dabei aber logische Analysen der einzel-
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nen Möglichkeiten durchgeführt und die Untersuchung zielt dahin ab, die Relationen des Gebietes logisch k l a r zu erfassen. Dieses Suchen ist ein soziologischer Prozeß der Meinungskonfrontationen, der Analyse, Konstruktion und Verifikation. Wenn man die Suche nach entscheidenden Gesichtspunkten und brauchbaren Beweisargumenten als topisches Denken charakterisiert und i n den Komplex der Problemerörterung eingliedert, w i r d auf die Tatsache hingewiesen, daß i m wissenschaftlichen und praktischen Denken eine intellektuelle A k t i v i t ä t entwickelt wird, die durch die Logik allein nicht erklärt werden kann; es w i r d aber der innere Zusammenhang dieser Überlegungen m i t logischen Beziehungen und der logischen Analyse i m Dunkeln gelassen und die Methode dieser Arbeit nicht erklärt. Die Denkpraxis verwendet i n der Argumentation oft anerkannte oder geglaubte Thesen, deren Begründung sich weder auf logische Notwendigkeit noch auf ausreichende empirische Verifikation stützt. Dies gilt für die kognitive Sphäre; für den Bereich der Werte (Stellungnahmen) erscheint es sogar unerläßlich, als Argumente akzeptierte Stellungnahmen zu benützen, denn hier gibt es keine objektive Basis, sondern i n letzter Instanz immer nur Setzung durch Wertungsakte. Man könnte meinen, daß diese nur historisch oder subjektiv fundierten Argumente von Begründungen unwissenschaftlich seien und i m Widerspruch zu einer rationalistischen Weltanschauung stehen. Es wäre nicht rationalistisch, sondern hieße bloß die Wirklichkeit des Erkennens, Denkens und Begründens nicht sehen, wenn man das Dasein bloß tatsächlich anerkannter Elemente der Begründung außer acht lassen würde. Solche als einfach überzeugend genommenen Argumente sind gesellschaftliche Gegebenheiten; i m Bereich der Wissenschaften gibt es dies auch: Hierher gehören methodologische Gewohnheiten, implizite Voraussetzungen gewisser Thesen, Paradigmen der Wissenschaft jeder Epoche 38 . Hier drängt sich die Frage auf, worin denn das Wesen des Rationalen liegt, wenn man es zuläßt und damit rechnet, daß auch solche Argumente i n unseren Begründungen auftreten können, die bloß anerkannt werden, ohne voll begründet zu sein. Ein Moment des Rationalen scheint uns — wie schon oben gesagt (S. 51) — durch Perelmans Begriff des universellen Auditoriums richtig getroffen, das Streben der rationalen Argumentation nach allgemeiner Gültigkeit und Anerkennung, i m Gegensatz zu Argumentationen, welche auf das Uberzeugen bestimmter Personen gerichtet ist. Dies genügt aber unserer Ansicht nach nicht. Es muß eine analytisch-kritische Haltung hinzutreten. Man stützt 38 Vgl. Kuhn, Th. S.: Die S t r u k t u r wissenschaftlicher Revolutionen (deutsche Übersetzung von K . Simon), F r a n k f u r t a. M. 1967.
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sich i n der rationalen Argumentation zwar auf akzeptierte Thesen, ist aber grundsätzlich immer bemüht, auch diese Thesen zu analysieren — i m Sinne einer philosophisch-sprachanalytischen Untersuchung ihre Konsequenzen zu studieren und die Plausibilität i m Komplex der Folgerungen und Erfahrungen kritisch zu prüfen. Es bleibt — auch bei streng rational-kritischer Haltung — der Unterschied zwischen Meinen oder Stellungnehmen und bewiesenem Wissen bestehen, doch vollzieht sich auch i m Bereich des bloß Plausiblen und Einstellungsmäßigen ein rational-analytischer und kritischer Prozeß. Es werden aus den Meinungen Folgerungen abgeleitet, zu denen Stellung genommen wird. Erscheinen sie unplausibel oder wertwidrig, führt dies zu Rückschlüssen auf die Plausibilität der These oder der Werteinstellung, welche analysiert wurde. Die moderne Rhetorik i m Sinne von Perelman behauptet auch, daß i n der Praxis des Begründens nicht nur scharfes logisches Folgern, bei dem die Schlußfolgerung m i t Notwendigkeit aus den Prämissen folgt, sondern auch plausibelmachende nicht-stringente Gedankenketten auftreten. Auch die Logiker haben solche Schlußweisen i n Betracht gezogen und studiert, insbesondere das Problem der Induktion und das sog. reduktive Denken. Es sei unbestritten, daß i n der Begründungspraxis nicht nur strenges deduktives Folgern, sondern auch Plausibilitätsregeln angewendet werden. Es muß jedoch die Uberzeugungskraft dieser Denkweisen selbst studiert werden. Auch die rhetorischen Figuren sind zu begründen; man muß zeigen, warum diese Figuren wahrscheinlich (plausibel) machen, und in welchem Grade sie das tun. W i r fordern, auch i n der modernen Rhetorik rational-kritisch vorzugehen. Wenn man sich aber diese Fragen stellt, und auch die stringenten, d. h. rhetorischen Argumentationen zu begründen sucht, dann erkennt man die inneren Zusammenhänge zwischen dem logischen Folgern, der logischen Analyse und dem Modelldenken auf der einen Seite und der Topik und Plausibilitätsargumentation auf der anderen. Eine zentrale Frage der Meinungsdivergenzen zwischen Topikern und Logizisten betrifft das juristische Denken i n der richterlichen Entscheidung. Die topisch orientierte Jurisprudenz unterstreicht, daß die Entscheidung des zu beurteilenden Falles nicht aus einer Deduktion herausgeholt werden kann, deren Prämissen Rechtssatz und Tatsachenfeststellung sind, sondern nur auf Grund einer juristischen Prämissenkunde i n nicht-deduktiver Weise zustande kommt. Hierzu ist zu sagen: Wenn man die Prämissen der juristischen Beurteilung als Topoi und
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nicht als generelle Rechtssätze ansieht, verwischt man das positiv bestehende Recht m i t Erwägungen über die Begründungsweise von Recht und Rechtsentscheidungen. Die Rechtsentscheidung r u h t auf positivem Recht, nicht auf der Topik, die eine Lehre von Argumentationsweisen, nicht eine Rechtsgrundsatzlehre sein sollte. Die Topiker scheinen auch die Grenze zwischen den Überlegungen de lege lata und de lege ferenda zu mißachten. Die wesentliche Frage, ob oder inwieweit die Entscheidung aus den Rechtsbestimmungen deduziert wird, läßt sich unseres Erachtens erst auf einer differenzierenden Untersuchung des inhaltlichen Charakters von Rechtssätzen klar beantworten. Neben dem Problem der sog. wertenden Subsumtion werden hierbei wenigstens folgende Unterscheidungen i n Betracht gezogen werden müssen: Verhaltensnormen und Aufgabennormen 3 9 ; Rechtssätze von verschiedenem Abstraktheitsgrad (vgl. die Gegenüberstellung von Grundsatz und Norm); ferner Normen, die Wertungsgrundsätze und Ermessensrichtlinien aufstellen. Eine voll befriedigende Antwort auf die Frage nach der logischen Struktur der richterlichen Entscheidung i m Verhältnis zur Rechtsordnung kann einstweilen mangels einer Typologie der inhaltlichen Gestaltung der Rechtsregeln nicht gegeben werden. W i r sind aber davon überzeugt, daß ein Verständnis des Rechts als System und des rechtlichen Geschehens als geordnetem Ganzen nur so eine Theorie geben kann, die erstens die logischen Bindungen bestimmt (also i m Geiste der Logizisten konzipiert ist) und zweitens die Elemente des rhetorischen Denkens i n diesem Rahmen klar herausstellt.
39 Weinberger,
O.: op. cit., S. 244 ff. [Vgl. auch C / I I I dieses Bandes.]
B/III. Grundlagenprobleme der Theorie des juristischen Denkens 1. Vorbemerkung Die Theorie des juristischen Denkens bildet nicht nur die Grundlage der Strukturtheorie des Rechts, sondern auch der Ontologie des Rechts und der Rechtsmethodologie. Die Daseinsweise und das Wesen des Rechts kann man nur dann adäquat erfassen, wenn man seine logische Struktur und Semantik kennt, sowie die gedanklichen Operationen m i t dem Recht versteht, denn das Recht ist eine Idealentität und als solche nur durch Angabe der Struktur-, Bedeutungs- und Operationsregeln bestimmbar. Die Rechtsontologie w i r d dabei das Recht als Gedankenentität und die Beziehungen zwischen dem Recht als einem Element des sozialen Lebens klären. Wie i n jeder wissenschaftlichen Betrachtung bleibt man nicht beim Registrieren von Tatsachen stehen, sondern transzendiert die Tatsachenerkenntnis zum Verstehen der möglichen Rechtsformen. Das heißt, man baut die Rechtstheorie so auf, daß sie nicht nur als Beschreibung der vorliegenden Rechtssysteme gilt, sondern daß sie ein Begriffsnetz zum Erfassen sowohl der daseienden, als auch aller denkbaren Systeme liefert. Dieser generelle Zug der Rechtstheorie, die faktentranszendente Bedeutung ihres begrifflichen Aufbaus, entspricht nicht nur der A r t und Weise, wie man grundsätzlich Theorien aufbaut, er ist auch für die Jurisprudenz praktisch wichtig, insbesondere als Basis der De-lege-ferenda-Uberlegungen. Die juristische Methodologie hat i m wesentlichen drei Aufgaben: a) sie gibt eine Anweisung, wie die Rechtsordnung zu erfassen ist, d.h. sie ist eine Theorie der Rechtserkenntnis; dies leistet sie durch Bereitstellung von Deutungsschemen und durch Erörterung der Arbeitsweise des Juristen beim Verstehen der Rechtsquellen, ihrer Interpretation und doktrinal geklärten Rekonstruktion; b) sie studiert die Frage der Rechtsbegründung, sowohl auf Grund der Ermächtigungszusammenhänge und Tatsachenfeststellung als auch i m Prozeß der Rechtsfindung i m Bereich des Ermessens und der Delege-ferenda-Uberlegung; c) sie gibt dem Juristen Arbeitsanleitung, wie das Recht gedanklich zu handhaben ist.
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Alle Aufgaben der Rechtsmethodologie fußen also offensichtlich auf der Theorie des juristischen Denkens. Die Theorie des juristischen Denkens ist ein i n vielen Richtungen umstrittenes Problemfeld. Ich halte es für zweckmäßig, die Grundpositionen, welche die Quellen der Unklarheiten und Meinungsdivergrenzen sind, zu analysieren. 2. Die Non-Kognitivität
des Sollens und der Werte
Die Semiotik ist zur Gegenüberstellung der präskriptiven Sprache und der deskriptiven Sprache gelangt. Die Herausbildung des Begriffes der präskriptiven oder vorschreibenden Sprache ist durch die Erkenntnis der wesentlichen semantischen und pragmatischen Unterschiedlichkeit dieser Sätze gegenüber den beschreibenden und feststellenden Aussagesätzen motiviert, ferner durch das Bedürfnis der Sprachtheorie, Sollens-, Wollens- und Wertausdrücke i n eine Kategorie zusammenzufassen, da sie alle durch das gemeinsame Merkmal einer gewissen Willenhaftigkeit (im allgemeinen und nicht-psychologistischen Sinne) charakterisiert sind. Die Einführung der Zäsur zwischen deskriptiver und präskriptiver Sprache entspricht auch der Tendenz der modernen Semiotik, Artunterschiede der Gedanken i n der Wissenschaftssprache explizit durch Verschiedenheit der Ausdrücke zu verdeutlichen. Betrachten w i r vorerst die Sein-Sollen-Beziehung, der i m sprachlichen Bereich die Gegenüberstellung von Aussagesätzen und Normsätzen (Sollsätzen) entspricht; m i t den Werten, respektive Wertaussagen, werden w i r uns erst später befassen. I n welchen ontologischen Bereich ist die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen einzuordnen? Ist sie als Unterscheidung der Aussagesätze und Normsätze, oder deren Bedeutung, also als Unterscheidung der Aussagen und der Normen aufzufassen, oder aber als ontologische Unterscheidung von Objektebereichen, nämlich des Bereichs der Sachverhalte und jenes der normativen Entitäten? Nicht sehr wesentlich ist der Unterschied, ob man Ausdrucksarten oder Gedankenarten einander gegenüberstellt, ist doch eines auf das andere überführbar. Grundsätzlich unterschiedliche Konzeptionen erhalten w i r jedoch, wenn w i r Sein und Sollen als ontologisch verschiedene Seinssphären auffassen, oder wenn w i r die semantischen Kategorien der Normsätze und Aussagesätze trennen. Die ontische Auffassung der Sollenssphäre und ihre Gegenüberstellung zur Seinssphäre hat sachliche Gründe: Auch Normen, also dem Sollen, kommen zeitliche Koordinaten zu. Die Norm hat Dasein — w i r können auch sagen Existenz — i n dem Sinne, daß es sinnvoll ist, vom Entstehen und Vergehen der Norm zu sprechen. Das Sollen ist also eine Entität, die da ist oder nicht existiert. Es mag befremdlich erscheinen, daß
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man einerseits das Sollen dem Sein gegenüberstellt, und andererseits vom Dasein des Sollens spricht, dem Sollen also eine ontische Charakteristik zuerkennt. Manche Autoren sprechen sogar von der ontischen Sphäre des Seins und jener des Sollens. (So sprach ζ. B. mein Lehrer Franz Weyr gerne von „der Welt der Normen", was natürlich bildlich gemeint war.) M i t dieser — ich möchte sagen — ontologischen Sprechweise soll zum Ausdruck gebracht werden, daß Normen gesellschaftliches Realsein zukommt, w e i l sie i n beobachtbaren Gesellschaftsprozessen ihre W i r k u n g zeigen und w e i l sie Elemente des realen Geschehens, d. h. i n der Zeit sind. Wenn man sowohl dem Sollen als auch dem Sein Dasein zuspricht, w i r d der fundamentale Wesensunterschied zwischen Sollen und Sein keineswegs eingeschränkt, denn der Sphäre des Sollens und jener des Seins entsprechen grundverschiedene Daseinsweisen 1 . Die ontologische Ausdrucksweise, die, soweit sie das Realsein des Sollens i m Sinne des Daseins i n der Zeit meint, berechtigt ist, w i r d leider oft auch i n platonisierender Weise verstanden. Man deutet das Sollen als an und für sich seiende Entität, also als etwas, das selbständig neben der Welt und der gesellschaftlichen Realität besteht und nicht als etwas, das i n seinem Dasein m i t der gesellschaftlichen Realität funktional zusammenhängt und durch das menschliche Wollen bedingt ist. I m platonisierendem Sinn von der Sphäre des Sollens zu sprechen, scheint m i r verfehlt. Es erscheint daher zweckmäßig, entweder die ontologische Redeweise über Normen und deren Existenz zu vermeiden oder sie nur m i t Kautelen zu verwenden, die eine platonistische Deutung ausschließen, um so mehr als es der Logik und Sprachtheorie primär auf den Unterschied zweier semantischer Kategorien, nämlich Satzarten oder Arten von Satzbedeutungen, ankommt, nicht um Seinsbereiche. Sowohl Normsätze als auch Aussagesätze drücken Gedanken (Idealentitäten) aus, denen beiden Realsein zu- oder abgesprochen werden kann, jedoch i n verschiedener Weise. N u r bei den Aussagesätzen kann dieses Realsein als beschreibende Korrespondenz zwischen Satzbedeutung (Gedanke) und Welt verstanden werden. Die Norm (der Normsatz) ist eine Idealentität (deren sprachliche Darstellung), zeitlos und ortlos wie die Sätze an sich (im Sinne von 1 M a n k a n n — aber muß nicht — m i t der ontischen Sphäre des Sollens die Kantschen Ideen des Noumenalbereichs u n d der Freiheit verbinden. Ontologische Überlegungen über die Sphäre des Sollens i n Verbindung m i t Betrachtungen über Kants praktische Philosophie führen zu einer Reihe weiterer Fragen: Es wäre Kants Begriff der Freiheit, sein „Reich der Zwecke" sowie der Charakter des kategorischen Imperativs i n beiden — w o h l k a u m äquivalenten — Formulierungen zu analysieren. M a n müßte fragen, ob Freiheit als Realität oder als F u n k t i o n i m Sinne von Vaihinger zu verstehen ist u n d wie sich die freie Handlung real auswirken kann. Solche Fragen möchte ich hier jedoch nicht erörtert, da sie f ü r die vorliegende Studie k a u m relevant sind.
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Bolzano), wie die Primzahlen oder wie die geometrischen Figuren. Den Normen kommt Realität zu nicht als diesen Idealentitäten, nicht als Gedanken an sich, sondern nur dann, wenn sie i n Verbindung m i t realen gesellschaftlichen Institutionen, m i t sozialem oder individualpsychischem Sein erfaßt werden. Was bedeutet die Behauptung „Die Rechtsnorm, daß . . . sein soll, ist zur Zeit t entstanden"? Offenbar w i r d hier nicht vom Entstehen des Normgedankens an sich gesprochen, sondern von einer gesellschaftlichen Realität, davon, daß i n dem System der Rechtsinstitutionen des betrachteten Staates das, was i n dem Normgedanken als Norminhalt angegeben ist, seit t verbindlich gilt. Die Notwendigkeit, kognitive und normative Gedanken zu unterscheiden, also Bedeutungsunterschiede sprachlich zum Ausdruck zu bringen, führt dazu, daß in einer logisch korrekten Sprache der Unterschied zwischen Aussagesatz und Normsatz auch syntaktisch zum Ausdruck kommen muß. Da die Denkoperationen zwischen den semantischen Satzkategorien unterscheiden müssen, werden sich auch i m Bereiche der syntaktisch beschriebenen Operationen Unterschiede zwischen Aussagesätzen und Normsätzen zeigen. Man könnte versucht sein, und i n der Literatur finden sich tatsächlich Ansätze hierzu, die Differenz zwischen Sein und Sollen bloß i n das Gebiet der Pragmatik zu verweisen, da sich Aussagesätze und Normsätze nicht inhaltlich unterscheiden (der Normsatz stellt das als gesollt dar, was der Aussagesatz als seiend darstellen kann), sondern bloß i n ihrer Funktion i m Leben der Sprachbenutzer, d. h. i m pragmatischen Bereich. Ich halte diese Auffassung nicht für berechtigt, und sie führt uns auch nicht zu brauchbaren wissenschaftlichen Ergebnissen. Logisch primär ist die semantische Verschiedenheit, sekundär die unterschiedliche pragmatische Rolle der Sätze. (In der Sprachpraxis ist die pragmatische Rolle eines Satzes nicht immer genau die, die seiner Bedeutung entspricht, sondern i n Abhängigkeit von der Situation und der Einstellung der Sprachbenutzer kann ein sprachlicher Ausdruck von bestimmter Bedeutung sehr verschiedene pragmatische Funktionen erfüllen. Ein Aussagesatz kann motivierend wirken, ja Befehlsfunktion annehmen (ζ. B. ist es denkbar, daß die Konstatierung ,Es ist spät* als Befehl ,Geh schlafen!' w i r k t ) ; eine Frage kann Sachinformationen geben oder Befehle ausdrücken (,Möchtest Du nicht schon m i t dem Pfeifen aufhören'). Die Sätze haben pragmatisch gesehen einerseits ihre Normalfunktion, die ihrer Bedeutung entspricht, andererseits spezifische situationsbedingte Funktionen i m Leben der Sprachbenutzer. Für die logische Analyse ist die Bedeutung entscheidend, die pragmatischen Aspekte sind nur Symptome von Bedeutungsunterschieden und Folgen der Semantik der Ausdrücke i m Zusammenhang m i t gesellschaftlichen Situationen. [Sprachgenetisch betrachtet, dürfte es so
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sein, daß sich wegen der verschiedenen pragmatischen Funktionen eine Differenzierung der Satzkategorien herausgebildet hat.] Die Sein-Sollen-Unterscheidung ist gnoseologisch und methodologisch fundiert; dies ist der sachliche Grund der semantischen Unterscheidung. Das Sein ist objektiv; es können objektive Kriterien für die Verifikation oder Falsifikation rein beschreibender Sätze aufgefunden werden. Mag es auch so sein, daß die Verifikations- und Falsifikationsmethoden nur Wahrscheinlichkeitsergebnisse liefern, nur bis auf weiteres die Objektivität der Seinserkenntnis sicherstellen, Seinserkenntnis ist immer objektiv gemeint, d. h. gedacht als Beschreibung dessen, was an und für sich ist 2 . Das Sollen besteht nicht an und für sich, sondern es ist an ein Willenssystem gebunden. Es gibt keine objektive Sollensentität. I n einem Sollenssystem kann das gesollt sein, was i n einem anderen irrelevant oder verboten ist. Es wäre nicht sinnvoll, die Norm, daß ρ sein soll, als Erkenntnis zu deuten und durch Vergleichen m i t dem das Dasein von ρ feststellenden Methoden zu verifizieren oder zu falsifizieren, denn das Gesolltsein von ρ ist unabhängig davon, ob ρ ist oder nicht ist.
ν
K )
2 Dies steht keineswegs i n K o n f l i k t m i t kritizistischen Vorbehalten. Wenn auch die Erkenntnisse keine A b b i l d u n g der Realität an sich sind u n d die Ubereinstimmungsprüfung zwischen Dingen an sich u n d der Erkenntnis nicht möglich ist, so hat die Erkenntnis jedenfalls auch i n kritizistischer Konzeption i h r objektives Pendant i n der Realität an sich.
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Man kann zwar fragen, ob ρ gesollt ist, aber nicht i n dem Sinne, daß nach einer Eigenschaft oder Daseinsweise von ρ gefragt würde, sondern bloß i n dem Sinne, daß nach dem gesellschaftlichen oder psychischen Dasein eines Willenssystems gefragt wird, welches das Sein-Sollen von ρ gebietet. Und auch hierbei gibt es keine objektive A n t w o r t ,p soll sein', sondern die A n wort muß Bezug nehmen auf jenes Willenssystem, das als Basis der normativen Betrachtung genommen wird. Ρι, ρ/, . . . seien irgendwelche objektiven Sachverhalte (ζ. B. das zeiträumliche Dasein eines roten Punktes); pj, . . . zeichnen w i r in einen Kreis, wenn es real daseiend ist, i n einen punktierten Kreis, wenn es bloß gedacht, aber nicht real daseiend ist; der Doppelpfeil deute die Beziehung des eine Erkenntnis ausdrückenden Aussagesatzes zum objektiven Sachverhalt an, und zwar die Informationsaufnahme und den Verifikationsprozeß; W &, Wß seien Willenssysteme (verschiedene Sollen konstituierende Systeme); der einfache durch W« oder Wß hindurchgehende gestrichelte Pfeil deute die normative Einstellung des Systems zum Sachverhalt an. a) Die Beziehung der Erkenntnis (Aussage) zum Sachverhalt — Beziehung (1) — ist objektiv gemeint, durch objektiven Kontakt und objektive Uberprüfungsmethoden konstituiert. b) Ist die Beziehung (1) zwar objektiv gemeint, aber der Sachverhalt objektiv nicht daseiend, dann ist der Aussagesatz (die mitgeteilte Aussage) unwahr: die Aussage hat ein gemeintes, aber kein wirkliches objektives Pendant; ζ. B. ,A(pjY zielt auf das nicht reale pj hin. c) Normen beziehen sich auf Sachverhalte nur vermittels der Normsysteme (z.B. W«, Wß). d) Die Beziehung der Normsätze zu den Sachverhalten — Beziehung (2) — ist systemrelativ. Dies w i r d i m Schaubild dadurch angedeutet, daß der Normsatz hinter den Willenssystemen steht, die Sachverhalte nur durch W a (oder Wß) hindurch betrifft. Infolge der Systemrelativität kann — ohne daß dies ein logischer Widerspruch wäre — Pi gesollt sein i n W« (W* enthält N\pi]) und dasselbe p* verboten sein i n Wß (Wß enthält N[pï]). Es ist für das Sollen irrelevant, ob der Sachverhalt, zu dem Stellung genommen wird, real oder irreal ist — N(pj) ist i m System Wß eine Norm ganz genau so wie N(pì) i n W«, obwohl pj ein nicht bestehender Sachverhalt ist. e) Die Pfeile von den Normsätzen zu den Sachverhalten haben nur eine Richtung; hierdurch soll ausgedrückt werden, daß das Bestehen oder Nicht-Bestehen des Sachverhalts nicht als Verifikation des Normsatzes fungiert.
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f) Nicht jeder tatsächliche oder mögliche Sachverhalt ist Gegenstand einer normativen Stellungnahme (weder zu pk noch zu p j w i r d von W a normativ Stellung genommen). g) Als Bereich der normativen Stellungnahmen muß ein die daseienden Sachverhalte überschreitendes Möglichkeitsfeld genommen werden. So glaube ich denn, daß die wesentlichsten gnoseologischen Differenzen durch Abb. 1 klar angedeutet sind: 1. Systemrelativität und Nicht-Objektivität des Sollens — gegenüber grundsätzlicher Objektivität der Seinserkenntnis. (Objektivität sei hier verstanden i m Sinne von ,objektiv gemeint*, nicht i m Sinne von ,objekt i v zutreffend'.) 2. Irrelevanz des Real-Seins oder Nicht-Real-Seins des Sachverhalts, der Inhalt der Norm ist, für die Geltung der Norm. 3. Die grundsätzliche Möglichkeit der unterschiedlichen normativen Stellungnahme i n verschiedenen Systemen. 4. Dem Normensystem selbst (W a , Wß) und seinen Normen kann selbst Wirklichkeit (Dasein) i n der Gesellschaft zu- oder abgesprochen werden. (Dies ist i n unserem Schaubild nicht dargestellt.) Die Norm kann aber nicht als A b b i l d einer objektiven vom menschlichen Wollen unabhängigen Entität angesehen werden. 5. Die Norm steht nicht i n einer Abbildungsrelation zum Sachverhalt, der den Inhalt des Sollens angibt. 6. Die normenlogischen Beziehungen bestehen i m Feld der Idealentitäten — der Aussagen (ausgedrückt i n Aussagesätzen) und der Normen (ausgedrückt i n Normsätzen), nicht i n Konstatierungen über das Dasein von Normensystemen®. 7. Die sogenannte Erkenntnis der Normen ist ein Erfassen des Sinnes der Ausdrücke vom Typus N(p) t analog wie man Aussagesätze vom Typus A(p) versteht; es ist ein Verstehen, nicht ein Erkennen einer objektiven Tatsache (in dem Sinne, wie die Gewinnung der Erkenntnis 3 Diese These k a n n hier ohne nähere Begründung ausgesprochen werden. Wenigstens seit Edmund Husserl — vgl. seine Logischen Untersuchungen (1900/1901) — ist es k l a r u n d w o h l auch unbestritten, daß die logischen Beziehungen nicht zwischen Denkakten, sondern zwischen Denkinhalten i m objektiven Sinne bestehen. Dies g i l t i m wesentlichen gleichermaßen f ü r den Bereich des Kognitiven, wie f ü r jenen des Normativen. Feststellungen über das Dasein von Normensystemen oder über das V o r handensein einer N o r m i m Normensystem werden i n Sätzen über das Realsein von Normen gegeben u n d sind der Konstatierung von Denkakten analog. Daseinsbehauptungen über Normen sind daher nicht Elemente der logischen Beziehungen, sondern die Normen selbst stehen i n logischen Beziehungen. E i n Beispiel möge dies belegen: Aus der N o r m ,Für jedes χ : w e n n χ stiehlt, soll χ m i t der Strafe y belegt werden' u n d der Feststellung, ,N hat ein A u t o gestohlen 4 folgt logisch ,N soll m i t der Strafe y belegt werden*.
5'
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welche i n der Form A(p) ausgedrückt wird, durch Kontakt m i t Gegenständen, die zum Sachverhalt ρ gehören, erlangt und überprüft werden kann). Die scharfe semantische Unterscheidung zwischen Normsatz und Aussagesatz, die der Gegenüberstellung von Sollen und Sein entspricht, ist nur dann zu gewährleisten, wenn folgende Beschränkungen für das Folgern eingehalten werden: (1) Es gibt keine normative Schlußfolgerung aus Prämissen, unter denen sich nicht wenigstens ein Normsatz befindete (2) Es gibt keine Aussageschlußfolgerung aus Prämissen, unter denen kein Aussagesatz auftritt. Diese Forderung der gegenseitigen Nichtableitbarkeit von Sein und Sollen ist als Konstruktionsprinzip der normenlogischen Systeme anzusehen; nur so kann der semantische Dualismus dieser Systeme, da sie zwei semantisch verschiedene Satzarten enthalten, sichergestellt werden. Wäre ein Sollsatz eine Folgerung bloß aus Aussageprämissen, dann wäre er implizite i n der Klasse der Prämissen enthalten, denn die Schlußfolgerung bringt ex definitione nichts wesentlich Neues, sondern schält nur das heraus, was i n den Prämissen schon implizite enthalten war. Analoges gilt als Begründung der Unableitsbarkeitsforderung für Aussagesätze allein aus normativen Prämissen. Hier erscheint es auch schon prima facie absurd, Sein durch Sollen zu beweisen. Nachdem die semantische Zäsur zwischen Sein und Sollen klargelegt wurde, können w i r zu Überlegungen über die Beziehungen zwischen der gesellschaftlichen Realität und den i n der Gesellschaft bestehenden Normensystemen übergehen. Es ist kaum möglich, die soziale Bedingtheit der Normensysteme nicht zu sehen. Das Sollen, welches i n der Gesellschaft tatsächlich gilt, ist durch die realen gesellschaftlichen Bedingungen, die A r t der Zusammenarbeit, die Struktur des intersubjektiven Kontaktes und die menschliche Natur bedingt. Doch was bedeutet diese Bedingtheit? Eine gewisse Adäquatheit, eine gewisse Zielstrebigkeit, wobei die Ziele durch die Lebensposition der Menschen nahegelegt werden. Es gibt aber keinen deduktiven Weg vom Sein zum Sollen, also keine Beweise, was sein soll, aus der bloßen Erkenntnis, was ist. Auch dann, wenn man noch Zielsetzungen — also willenhafte Prämissen, die nicht als rein deskriptive Feststellung aufgefaßt werden dürften — hinzuzieht, kann man zwar gewisse Begründungsargumentationen für eine normative Regelung gewinnen, doch w i r d dabei nicht eindeutig bestimmt, was für eine Normierung diese Zwecke a Genau genommen, sollte diese Behauptung n u r auf sog. informative Normsätze bezogen werden. Vgl. Weinberger, O.: E x falso quodlibet i n der deskriptiven u n d präskriptiven Sprache, i n : Rechtstheorie, Bd. 6, 1975, Heft 1, S. 17 - 32.
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zu erreichen erlaubt, sondern es werden Möglichkeiten zur Willensentscheidung vorgelegt. Es besteht also eine gewisse Bestimmtheit des Sollens durch die soziale Realität, aber keine rein kognitive Begründung des Sollens durch Seinserkenntnisse, Andererseits darf nicht übersehen werden, daß die gesellschaftliche Auswirkung des Sollens für die gesellschaftlichen Beziehungen konstitutiv ist: es werden durch die Normensysteme, durch die gesellschastliche Akzeptierung dieses Gesolltseins, Institutionen und gesellschaftliche Strukturzustände gegründet, welche Bedingungen des sozialen Lebens sind. Auch die Werte und das Werten sind i n ähnlicher Weise nicht-kognit i v wie das Sollen. Ich sehe keinen Grund und keine wissenschaftliche Berechtigung dafür, Werte als an und für sich seiende Entitäten anzunehmen. Sie sind Idealentitäten ohne absolutes, von Willenssubjekten (Willenssystemen) unabhängiges Dasein. Sie sind also nicht an und für sich da, so daß nur erkannt werden müßten, eventuell i n einem kognitiven Näherungsprozeß, sondern sie bestehen nur als Tatsachen der willenhaften Stellungnahme, als Ergebnis des Wertens. Kognitiv kann erfaßt werden, daß i n einer Gesellschaft, i n gewissen Gruppen oder bei einzelnen Personen gewisse Wertmaßstäbe und Skalen bestehen, d.h. anerkannt werden und die Basis des Wertens und/oder Handelns abgeben. Bei gegebenen Wertmaßstäben ist die Wertaussage über gewisse Objekte, Tatsachen oder nur angenommene Sachverhalte relativ zu diesen Maßstäben kognitiver Natur, denn es w i r d festgestellt, daß die gewerteten Objekte oder Sachverhalte die Kriterien des Maßstabs erfüllen. Die Wertbestimmung oder die relative Wertung verschiedener einander gegenübergestellter Objekte muß nicht immer rein kognitiv determiniert sein; es sind oft i n dem Rahmen der vorgegebenen Werteskalen kognitiv nicht determinierte Dezisionen nötig. Der Wert i m Sinne von Wertungsmaßstab — und folglich auch der Wert i m Sinne des Ergebnisses der Wertung eines Objektes nach Maßgabe der Wertungsmaßstähe — ist systemgebunden und nicht-objektiv; d. h. es können nebeneinander verschiedene Wertsysteme bestehen, zwischen denen keine kognitive Entscheidung als richtig oder unrichtig möglich ist. Werte und Wertungen sind also analog wie das Sollen systemrelativ; sie sind nicht kognitiv, d. h. nicht auf das Erfassen einer an und für sich seienden Entität gerichtet. Der Wert als Entität besteht nämlich nicht absolut, sondern als Ausfluß von Stellungnahmen gewisser Subjekte, wodurch das Wertsystem erst konstituiert wird. Der Wertaussagesatz (das Werturteil, wie man es i n der philosophischen Literatur häufig nennt) ist keine rein kognitive Beschreibung
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von Tatsachen, er drückt keine Erkenntnis an sich bestehender Sachverhalte aus, sondern ist immer eine Funktion der Stellungnahme vom Standpunkt des Systems oder das Ergebnis des Messens nach durch das System festgesetzten Maßstäben. Es scheint aber, daß man dann m i t solchen „Aussagen" logisch analog umgehen kann, wie man m i t rein indikativen Aussagen operiert. Die Tatsache, daß die Werte in bezug auf Non-Kognitivität eine analoge Sachlage aufweisen wie die Normsätze, ist ein Anzeichen für das Bestehen wichtiger und interessanter Beziehungen zwischen diesen beiden Gebieten. Die Problematik dieser Beziehungen werde ich hier aber nicht näher untersuchen. 3. Die Norm als Kommunikat Die Norm t r i t t als Faktor des menschlichen Zusammenlebens auf und hat eine intersubjektive Rolle, oder sie hat eine Rolle i m Bewußtsein des autonom handelnden Menschen. I m ersten Falle ist offenbar eine sprachliche Formulierung notwendig und ein zwischenmenschlicher Normmitteilungsprozeß i m Spiel. Die Beziehung zwischen der normsetzenden Instanz und den Pflichtsubjekten, gegebenenfalls zwischen hierarchisch angeordneten gebietenden Instanzen, ist nicht nur ein Verhältnis der Über- und Unterordnung, sondern immer auch ein Verhältnis der Sprachkommunikation. Aber auch i m Falle der autonomen Funktion der Normen spielt die Formulierung der Normen eine Rolle und auch hier muß die Frage der Normenkommunikation i n Rechnung gezogen werden. Die autonome Norm ist weitgehend rationalisiert; sie ist sprachlich ausgedrückt oder kann, wenigstens grundsätzlich, durch aufdeckende Analyse i n sprachlicher Formulierung herausgearbeitet werden. [Das autonome Wollen und Handeln unterliegt einer systematischen Regulierung, die durch Vorsatz gelenkt ist. Der Vorsatz ist eine normative Grundsatzbestimmung für das autonome Handeln, wodurch unser Handeln eine Ausrichtung bekommt. Dies ist für die Effektivität des Handelns wichtig, denn erfolgreich agieren w i r i n der Regel nur dann, wenn w i r systematisch orientiert handeln. I n dieser Weise werden Vorgangsweisen erprobt und erprobte Methoden beibehalten. Wo Moral ins Spiel kommt, muß auch die Norm des autonomen Handelns als Richtlinie und Vorsatz fungieren und i n der philosophischen Moralreflexion i n Betracht gezogen werden.] Auch die autonom wirkende Norm ist nicht i n gesellschaftlicher Isolation entstanden. Sie ist ein Ergebnis der Erziehung, von Einwirkungen verschiedener A r t , und nur zum Teil individueller Natur; wenn sie auch ein Ergebnis individueller moralischer Dezision ist, steht sie auf gesellschaftlich übernommener Basis. Deswegen werden auch hier Normkommunikationsprozesse eine Rolle spielen. Schließlich ist es auch i m Bereich des
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autonomen Sollens notwendig, dieses i m Gedächtnis zu behalten; w i r d es doch auch i n der autonomen Ethik als allgemein aufgefaßt (vgl. insbes. Kants kategorischen Imperativ); dies ist aber nur dann möglich, wenn das Sollen i m Gewand von Normsätzen im Gedächtnis behalten wird. Gedächtnis ist aber ein besonderer Fall der — sagen w i r — inneren Kommunikation. Es liegt also ganz allgemein gesagt i m Wesen der Norm, daß sie als Gegenstand von Mitteilungen betrachtet werden muß. Für jede Sprachkommunikation müssen gewisse Vorbedingungen erfüllt sein, natürlich auch dann, wenn es sich um eine Normmitteilung handelt. Es muß eine Sprache geben, welche i m wesentlichen konventionell (ev. gewohnheitsmäßig) konstituiert ist; es muß materielle Zeichenträger geben, welche als Mitteilung abgesandt (produziert oder benützt) werden können; i n der Sprachäußerung muß wenigstens eine minimale Varietät bestehen: es muß wenigstens eine Zweiheit von Zeichen (Zeichenzuständen) möglich sein; es muß einen Kommunikationskanal geben, der es ermöglicht, die abgesandten Signale (Zeichen) zum Empfänger der Mitteilung zu bringen; der Empfänger muß fähig sein, die Signale aufzunehmen, die Zeichen sinnlich wahrzunehmen, sie als Zeichen der betreffenden Sprache zu erkennen und auf Grund seiner Sprachkenntnis (durch seine Kenntnis der Zeichenbedeutung) zu verstehen. Die Kommunikation ist dann und nur dann perfekt, wenn der abgesandte Gedanke m i t dem verstandenen identisch ist. Natürlich inhaltlich, als Gedanken i m objektiven Sinne, nicht als reale Denkakte; als Denkakt steht am Anfang und am Ende des Mitteilungsprozesses etwas Verschiedenes, Ereignisse die zwar inhaltlich gleich, aber zeitlich unterschieden sind. [Oft sind es auch Akte verschiedener Personen.] Ob und inwieweit dies erreicht wird, ist eine besondere Problematik, die studiert werden muß, aber nicht zur logisch-methodologischen Analyse der Normen gehört. Dieses Problem fällt also nicht mehr i n den Rahmen unserer Betrachtungen. Für die Normmitteilung müssen ebenso wie für jede intersubjektive Mitteilung über Tatsachen noch weitere Vorbedingungen vorausgesetzt werden. Bezüglich der Informationskommunikation über Tatsachen habe ich an anderem Ort nachzuweisen versucht, daß eine Konvention über den Wahrheitswert der vorgelegten Nachricht vorausgesetzt werden muß, üblicherweise die Behauptungskonvention, welche bestimmt, daß jede Mitteilung als wahr hingestellt w i r d 4 . Die Kenntnis der Bedeutung der Ausdrücke ist offenbar an zwei miteinander zusammen4 Siehe Weinberg er, O.: Rechtslogik. Versuch einer Anwendung moderner Logik i m Recht, Wien—New Y o r k 1970, S. 32; ferner ders.: Wahrheit, Recht und Moral, i n : Rechtstheorie, Bd. 1, 1970, Heft 2, S. 129 - 146.
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hängende Bedingungen gebunden: an die persönlichen Erfahrungen in der Welt, ohne die man die Bedeutung der Wörter nicht verstehen könnte, und nicht wissen könnte, was ,rot', was ,kalt' usw. bedeuten; und an das gesellschaftliche Zusammenleben, aus dem man die Sprachstrukturen und deren Bedeutung erlernt (inklusive der vorausgesetzten Behauptungskonvention). Soweit die aussagende Sachinformationskommunikation. Nun müssen w i r nach den Voraussetzungen der Normmitteilung fragen und untersuchen, wie die Normkommunikation neben der deskriptiven Sprachkommunikation möglich wird, bzw. wie die deskriptive und präskriptive Sprachkommunikation miteinander zusammenhängen. Für die Normkommunikation erscheinen m i r folgende Momente als wesentlich: a) die Bestimmung dessen, was gesollt ist, also des Norminhaltes, b) der Ausdruck des spezifisch normativen Elementes, c) die Abtrennung der Normensphäre von deskriptiven Kommunikaten. Die inhaltliche Bestimmung kann sich i n den wesentlichen Stücken auf die Elemente der deskriptiven Sprache stützen. Die Übermittlung geht also hier i n gleicher Weise vor sich, wie bei der Übermittlung von Sachbeschreibungen zum Zwecke der feststellenden Information. Es muß jedoch bemerkt werden, daß der Bereich der Norminhalte zwar aus erfahrungsgestützten Elementen aufgebaut ist, sich aber nicht auf das Universum des Daseienden beschränken kann, sondern m i t einem die Realwelt überschreitenden Bereich möglicher Sachverhalte arbeitet. Geboten, verboten oder erlaubt ist nämlich nicht nur das, was ist, sondern auch Sachverhalte, welche bloß als seiend gedacht werden b . Es muß eine inhaltliche Koordinationsmöglichkeit zwischen präskriptiver und deskriptiver Sprache sichergestellt werden, denn sonst wäre die Feststellung der Erfüllung, respektive der Verletzung von Normen nicht immer möglich; es gäbe auch keine Möglichkeit, den Sinn von Normen darzustellen und zu prüfen, oder i n der Praxis zu verifizieren, ob der Normsatz richtig verstanden wurde. Es ist unumgänglich notwendig, ein spezifisches Ausdruckselement zu haben, um die Beschreibungen, die als Soll-Inhalt gegeben werden, von den sachinformierenden Mitteilungen abzutrennen. Der semantischen Zäsur zwischen Normsatz und Aussagesatz entspricht die A b b Dies bedeutet keinen wesentlichen Unterschied gegenüber unseren rein deskriptiven Informationen, denn auch die Sphäre der Behauptungen beschränkt sich nicht auf Tatsachenkonstatierung, sondern umfaßt auch Potentielles u n d Kontrafaktisches. (Vgl. Weinberger, O.: Faktentranszendente Argumentation, Zeitschrift f ü r allgemeine Wissenschaftstheorie VI/2 [1975] S. 236 - 251.)
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trennung der Normmitteilung durch besondere die Normativität andeutende Zeichen. Es muß wenigstens ein solches Zeichen des spezifisch Normativen bei der Normkommunikation auftreten. (Es kann natürlich in gegebenen Situationen durch den Kontext suppliert werden.) Es fragt sich nun, wie das intersubjektive Verständnis dieses, oder dieser spezifisch normativen Operatoren, die die normative Mitteilung als solche von den Tatsacheninformationen trennen, zustande kommen kann. Man erfährt wohl primär i m gesellschaftlichen Kontakt, was ein Befehl, dann allgemeiner: was das Normative bedeutet, wenn man die gesellschaftlichen Reaktionen auf Befolgung und Nicht-Befolgung praktisch erfährt. Auch das Zusammentreffen von Anordnung zur Handlung oder Unterlassung m i t direkter materieller Hinführung, respektive Verhinderung der Handlung führt dazu, daß der Mensch i n der Gesellschaft den spezifischen Sinn des Sollens erfährt. Eine gewisse Rolle dürfte auch die beobachtete Reaktion Dritter auf Gebote und Verbote, insbesondere i n Fällen der Handlungsunterbrechung, respektive Inangriffnahme von Handlungen auf Befehl haben. Jedenfalls ist dann der Normoperator — also das Signal, welches bei der Kommunikation anzeigt, daß eine Sollens-, nicht eine Seinsbeschreibung gegeben w i r d — ein Bedeutungselement der Sprache, welches nicht auf äußere Entitäten hinweist, sondern eine semantische Charakteristik ist, also ein bedeutungstragendes Zeichen, aber von nicht-bezeichnender, d. h. nicht auf Gegenstände hinweisender, Natur. Die Korrektheit der Mitteilung i m Felde semantisch differenzierter Inhaltssetzungen — hier bei Nebeneinanderbestehen von indikativen und normativen Informationen — ist davon abhängig, ob die Kommunikation so eingerichtet ist, daß die semantische Zäsur zwischen den Informationen immer klar bleibt. Die Überlegungen über die Normkommunikation geben uns auch einen Einblick i n das Wesen der Normerkenntnis. Wenn w i r davon sprechen, daß w i r einen physikalischen Zustand oder ein Ereignis physikalischer oder gesellschaftlicher Natur erkennen, dann wollen w i r das Dasein eines materiell existierenden Gegenstandes seine Eigenschaften und Beziehungen erfassen. Die Erkenntnis hat hier ihren Bezugspunkt in der materiellen Realität. Wenn w i r aber von der Erkenntnis idealer Gegenstände sprechen, handelt es sich um etwas wesentlich anderes. Wenn ich den Pythagoräischen Lehrsatz erkennen w i l l , oder den Satz vom zureichenden Grund, dann geht es nicht darum, ein B i l d einer äußeren Realität — nämlich der Realität, die man Pythagoräischer Lehrsatz, resp. Satz vom zureichenden Grund nennt — zu entwerfen, sondern man w i l l den Sinn dieser Sätze erfassen, sie verstehen. I m wesentlichen dasselbe gilt für die Erkenntnis von Normen. Auch hier geht es u m Idealentitäten, die nicht beschrieben
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werden sollen — i n der Weise wie man materielle Gegenstände erkennend beschreibt —, sondern die verstanden werden müssen. Man erfaßt (erkennt) eine Norm nicht dadurch, daß man sie beschreibt oder beurteilt, sondern dadurch, daß man den Normsatz versteht 5 . Die Normmitteilung muß jedenfalls so aufgefaßt werden, daß der mitgeteilte Normgedanke — i m Idealfall der perfekten Kommunikation — m i t dem aufgenommenen Normgedanken beim Empfänger identisch ist. Die logischen Operationen — ζ. B. das normenlogische Schließen — knüpfen an diesen bei der Mitteilung gleichbleibenden Normgedanken (resp. seinen sprachlichen Ausdruck) an und sind unabhängig davon, ob sie beim Normschöpfer (Absender der Normnachricht), beim Pflichtsubjekt oder beim unbeteiligten Betrachter durchgeführt werden. Es ist daher ganz abwegig, wenn manche Denker zwischen den Äußerungen des normsetzenden Subjektes und der anderen die Norm erfassenden Subjekten i n der Weise unterscheiden, daß sie die Auffassung der Norm beim Empfänger als Beurteilung ansehen und dann Aussagen über Normen arbeiten 0 . Die normenlogischen Beziehungen sind gleich, und müssen gleich sein, auf beiden Seiten des Informationskanals. Sie sind Beziehungen der Normsätze (oder Normen je nach der Darlegungsweise der Theorie der Folgerungsbeziehungen), nicht Beziehungen zwischen Aussagen (Urteilen) über Normen.
5 I n jenen Fällen, i n denen die N o r m nicht i n sprachlicher Formulierung vorgegeben ist (ζ. B. beim Gewohnheitsrecht), ist das wissenschaftliche E r fassen der N o r m begleitet von der Formulierung des Normsatzes. c Eine Auffassung dieser A r t ist von Karel Engliê i n seiner Kleinen Logik (Mala logika), Prag 1947, vertreten worden. Englis verbindet m i t dieser A u f fassung die Meinung, daß Normen keine Glieder von Folgerungsrelationen sind, da i n den Folgerungsrelationen nicht Normen, sondern Urteile über Normen auftreten. (Zur K r i t i k der Englisschen Lehre vgl.: Weinberger, O.: Die Sollsatzproblematik i n der modernen Logik, Prag 1958, wiederabgedruckt i n : ders.: Studien zur Normenlogik u n d Rechtsinformatik, B e r l i n 1974.) Auch Kelsens Unterscheidung zwischen Rechtsnorm u n d Rechtssatz gerät i n K o n flikt m i t meiner Auffassung der Normenkommunikation, wonach am Anfang und am Ende des Mitteilungskanals ein Gedanke derselben A r t stehen muß, so daß das Erfassen der N o r m ein Verstehen des Normgedankens ist, nicht eine Aussage über eine Norm. E i n ähnliches Problem t r i t t i n der Betrachtung der Normenlogiker auf, w e n n sie Normen als Gedankengebilde auffassen, die nicht wahrheitsfähig sind, u n d diesen den deontischen Satz gegenüberstellen, der als Glied wahrheitsfunktionaler Funktoren auftreten k a n n und den Regeln der deskriptiven Logik folgt. Diese Probleme seien hier n u r am Rande erwähnt; sie wären einer eingehenden Untersuchung wert, durch die viele Grundlagenprobleme der Normenlogik geklärt werden würden. [Vgl. Weinberger, O.: Intersubjektive Kommunikation, Normenlogik u n d Normendynamik, i n : Strukturierungen und Entscheidungen i m Rechtsdenken (Hrsg. J. Tammelo, H. Schreiner), Wien—New Y o r k 1978, S. 235 - 263.]
I I I . Grundlagenprobleme der Theorie des juristischen Denkens
4. Die Naturrechtsproblematik
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als logisches und gnoseologisches Problem
Die Frage nach dem richtigen Recht, das Suchen nach Rechtsregeln und Rechtsentscheidungen, welche richtig, gut, gerecht sind, ist der juristischen Bemühung immanent und kann auch i n den Ausführungen der Rechtsgelehrten und Rechtspraktiker ebenso wie i n den Schriften der Rechtsphilosophen immer wieder vorgefunden werden. Die moderne Geschichte zeigt das traurige Phänomen, daß mächtige Staatsordnungen von der Spitze her systematisch zutiefst widermoralische Maßnahmen getroffen haben — ich habe einerseits die deutsche nationalsozialistische Staatsführung und Justiz i m Sinne, andererseits den Stalinismus, der auf Grund bewußt konstruierter Beschuldigungen und falscher Beweise Schauprozesse durchgeführt und einen m i t menschenunwürdigen Methoden arbeitenden Sicherheitsapparat aufgebaut hat —, die als tiefer Hohn jedes Rechtsempfindens dastehen. Man sieht sich daher genötigt, um sich von dieser schädlichen Realität scharf zu distanzieren, als Recht im juristischen Sinne nur das anzuerkennen, was den Kriterien des Naturrechtes, gewissen immanenten Rechtsprinzipien, entspricht. Ich zweifle nicht an dem Ethos dieser Einstellungen und möchte gegen den politischen Mißbrauch des Rechtslebens nicht weniger entschlossen und eindeutig kämpfen als irgend ein Naturrechtler. Als kritischer Denker und Wissenschaftsmethodologe muß ich aber die Frage der Möglichkeit, immanente Naturrechtsgrundsätze zu erfassen, untersuchen, genauer gesagt, das Wesen der naturrechtlichen Argumentation prüfen, die Möglichkeiten und die logische und erkenntnistheoretische Struktur des Denkens der Naturrechtler analysieren. Kann man i n der Fülle der verschiedenartigen Naturrechtslehren etwas Gemeinsames finden, was sie alle charakterisiert? Ich glaube, das Gemeinsame ist bloß die Tatsache, daß der Naturrechtler dem positiven Recht gegenüber Maßstäbe anlegt, mittels derer er mögliche Inhalte des Rechtssystems i n der Weise filtert, daß nur das, was seine (inhaltlichen) Rechtskriterien befriedigt, als Recht anerkannt wird, das aber, was den naturrechtlichen Wertungsfilter nicht passiert, als Gewalt und Willkür, nicht aber als Recht angesehen wird. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Ausdruck ,Recht', wie er i n der Umgangssprache gebraucht wird, ein werttragender und wertbestimmender Ausdruck ist. Wenn etwas als Recht, als dem Recht entsprechend oder als zum Recht gehörig bezeichnet wird, w i r d implizite eine positive Wertung ausgesprochen. Würde man — ausgehend von dieser Bedeutung des Terminus ,Recht' — alles, was als Bestandteil des Rechtslebens auftritt (inklusive die Rechtsfrevel von den nazisti-
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens
sehen Konzentrationslagern bis zu den stalinistischen Schauprozessen) m i t dem A t t r i b u t Recht belegen, so wäre man nicht bei Sinnen. Es ist aber notwendig, als realistischer Rechtswissenschaftler diese gesellschaftlichen Erscheinungen — ich möchte sagen, diese Geschwüre am Körper des Rechts — zu erkennen, denn auch zur klaren und begründeten Ablehnung muß ich erst sachlich sehen und die Symptome und Elemente der Entartungserscheinung erfassen. W i r müssen (wenigstens vorerst) jedes Staatssystem — dem immer ein System organisierender und das Handeln lenkender Normen entspricht — erkennen, d. h. das dort geltende Normensystem verstehen und seine Tatsächlichkeit i n der sozialen Wirklichkeit rein konstatierend, nicht wertend, erfassen. Es ist wichtig, zwei Begriffe des Rechts zu unterscheiden: 1. den absolut wertfreien, bloß die Sollprinzipien des Staatssystems (wir können uns hier der Einfachheit halber auf staatliches Recht beschränken) erfassenden Rechtsbegriff, und 2. den wertträchtigen Rechtsbegriff, der nur das als Recht hinnimmt, was nicht nur positiv gilt, sondern was auch gleichzeitig wertend als Recht anerkannt w i r d (resp. anzuerkennen ist). Die Behauptung, daß etwas Rechtens ist, hat dann einen ganz verschiedenen Sinn, je nachdem, ob man ,Recht' i m Sinne von Nr. 1 oder Nr. 2 versteht. Die Möglichkeit rein wissenschaftlicher Thesen über das Recht im Sinne von Nr. 2 w i r d von den Rechtspositivisten als Unding hingestellt; die Naturrechtler stellen sich dagegen die Aufgabe, solche wissenschaftliche Thesen aufzustellen. Sie müssen — das gehört zur redlichen Wissenschaft — die logische und gnoseologische Problematik ihrer Aufgabenstellung studieren und auf Grund dieser Erkenntnisse methodologische Prinzipien für ihre Arbeit aufstellen. Die Frage, ob es bleibende und unbedingte (absolute) Rechtsprinzipien gibt, die einfach da sind und nur erfaßt zu werden brauchen, ist i m wesentlichen analog der Frage nach der Existenz absoluter Werte. Wenn die Existenz und Erkennbarkeit absoluter Werte gegeben wäre, dann wäre auch ein Weg denkbar, wie bleibende uiid absolute Rechtsgrundsätze auf zuweisen wären und/oder begründet werden könnten. Gibt es aber absolute Werte oder absolute bleibende Rechtsgrundsätze? Wenn sie auch existieren würden, können w i r uns keine Methode vorstellen, wie sie rational kognitiv erfaßt werden könnten. Die A n nahme ihrer Existenz ist i m Widerspruch m i t den grundlegenden Wesenszügen des voluntaren Gebietes, des Wertens ebenso wie des Normierens. Denn in diesen Gebieten geht es u m Stellungnahmen, u m Schöpfung, nicht um das Erfassen von etwas an und für sich Be-
III. Grundlagenprobleme der Theorie des juristischen Denkens
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stehendem. Die Konstruktion, welche die absoluten Prinzipien als objekt i v daseiende Entität darstellt, die n u r i n einem Klärungsprozeß zu erfassen und deutlich zu machen wären, entwirft ein falsches und täuschendes B i l d der normativen Sphäre. Sie hypostasiert ein Ignotum als daseiend, und verzeichnet den Prozeß der Normsetzung, i n dem sie ihn als kognitiven Prozeß i n bezug auf eine Entität bezieht, die de facto nicht gegeben ist. Die absoluten Prinzipien könnten nur dann als Richtschnur oder Ideal wirken, wenn sie a priori bekannt wären oder wenigstens objektiv erkannt werden könnten. Faßt man die Fundamentalprinzipien allen Rechts als zwar nicht absolut und überhistorisch zeitlos gültig auf, aber dennoch als objektiv erkennbar und begründbar, dann muß man die Frage beantworten, wie diese objektive Begründung gegeben werden kann. Als ausschlaggebende Vorfrage ist zu entscheiden, ob diese fundamentalen Rechtsgrundsätze, die als objektiv notwendig erkannt werden sollen, selbst den Charakter von Seinserkenntnissen haben oder normativer Natur sind. Sind die Seinserkenntnisse nicht normativer Natur, dann ist gar nicht einzusehen, wie sie als naturrechtliche Richtigkeitsfilter für Recht wirken könnten, da sie doch als Seinserkenntnisse m i t Normen gar nicht i n Widerstreit sein können. I m zweiten Falle, d. h. wenn sie normativer Natur wären, dann ist es nicht möglich, sie rein kognitiv zu begründen (siehe Kapitel 2 dieser Abhandlung). Keine der beiden Möglichkeiten ist also gangbar. Jede Möglichkeit, objektive Fundamentalprinzipien des Rechtes zu gewinnen, scheitert an der Non-Kognitivität des Sollens. Die Leugnung der Nicht-Kognitivität des Normativen würde nicht nur sein Wesen vernichten, sondern nähme dem Normativen auch seine Würde. Der Mensch erscheint sozusagen degradiert, er ist nicht gut oder schlecht nach seinem Maßstab, sondern nach ihm von außen vorgegebenen Maßstäben, er könnte nicht mehr nach Wissen und Wahl auf autonomer Verantwortungsbasis handeln. Voll verantwortlich i m moralischen Sinne ist der, der nicht nur für die Befolgung von Geboten und Verboten verantwortlich ist [Gehorsamsverantwortlichkeit], sondern der auch für den Inhalt des gesetzten Sollens einsteht [materiale Verantwortlichkeit]. Man versucht, die Klippe der semantischen Eigentümlichkeit des Sollens, die eine rein kognitive Methode inhaltlich bestimmte Rechtsgrundsätze objektiv zu gewinnen ausschließt, dadurch zu überwinden, daß man die allgemeinen Fundamentalgrundsätze als Formalbestimmungen des richtigen Rechtes hinstellt. Was können aber formale Rechtsprinzipien als Filter des Rechtes bieten? Können sie Unterscheidungskriterien für das, was akzeptables Recht (im Sinne Nr. 2 unserer
Β. Zum Problem des juristischen Denkens
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semantischen Unterscheidung) ist, abgeben? Sie können nur die Forderung der strukturellen Allgemeinheit, wie sie i m formalen Gerechtigkeitsprinzip ausgedrückt ist, aufstellen. Man kann von diesem Standpunkt aus fordern, daß nur das als Recht akzeptiert werden soll, was für jedermann unter denselben Bedingungen dasselbe gebietet. Nun kann aber durch entsprechende Festsetzung der Bedingungen jeder Rechtsinhalt i n dieser Form dargestellt werden. Es w i r d hierdurch keineswegs schon „Richtigkeit" des Rechts oder materiale Gleichheit garantiert 6 . Es gibt also auch keinen Weg über Formprinzipien zu inhaltlichen Richtigkeitskriterien zu gelangen. Noch auf einem anderen Weg kann eine objektive Begründung von Richtigkeitskriterien gesucht werden. Aus der Analyse des Sachgebietes, welches durch den untersuchten Normenkomplex geregelt werden soll, w i r d versucht, richtiges Recht zu begründen. Man kann dies die „Argumentation aus der Natur der Sache" nennen. Ich glaube es kann nicht bezweifelt werden, daß die Analyse der Natur der Sache Einschränkungen für mögliche oder vernünftige Normsetzung erkennen lassen. Es ist wohl klar, daß das, was aus logischen oder empirischen Gründen unmöglich ist (oder aber was notwendigerweise eintritt), nicht als vernünftiger Norminhalt akzeptiert werden kann. Die Sachanalyse bietet uns auch einen Einblick i n die Möglichkeiten des normativen Ordnens und informiert uns über die zu erwartenden gesellschaftlichen Folgen der erwogenen Regelungen. Diese jede vernünftige normative Regelung vom Wesen der Sache aus einschränkende Norminhaltsbestimmung ist jedoch keine eindeutige Bestimmung, was richtigerweise sein soll. Es können nur sachliche Rahmen und Möglichkeiten aufgezeigt werden, zu denen willenhaft Stellung genommen wird. Ich glaube, daß — wenn man nicht durch täuschende Argumentation bei der Sachanalyse wertende Stellungnahmen als Erkenntnisse hereinbringt — keine solchen Kriterien für richtiges Recht aus der Analyse der Natur der Sache gewonnen werden können, die der Naturrechtler sucht. Man kann ζ. B. durch Sachanalyse feststellen, daß Vernichtungslager Tausenden und Millionen Menschen den Tod bringen, doch ist damit nicht entschieden, ob man diese Einrichtung einführt oder nicht, ob man sie einführen soll oder nicht. Das hängt von der Zielsetzung und vom Ethos ab, nicht bloß von der Erkenntnis der Sachzusammenhänge. β
Die Bedeutung des formalen Gerechtigkeitsprinzips liegt bloß darin — u n d das ist natürlich sehr wichtig —, daß durch diese F o r m die differenzierenden Bedingungen k l a r vor Augen geführt werden u n d m a n dann entscheiden kann, ob die statuierte unterschiedliche normative Bestimmung (bei materialer Wertung) nicht eine als ungerecht zu betrachtende Diskrimination bedeutet. Vgl. Gleichheitspostulate, Eine strukturtheoretische u n d Rechtspolitische Betrachtung, i n : ÖZÖR 25/1974, S. 23-38.
III. Grundlagenprobleme der Theorie des juristischen Denkens
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[Als Abart einer naturrechtlichen Argumentation aus der Natur der Sache oder als eigenständiger Begründungstypus naturrechtlicher Konzeptionen kann der Versuch angesehen werden, die überpositive Geltung von Rechtsgrundsätzen aus dem Wesen des Menschen herzuleiten. Es w i r d hierbei vorausgesetzt, daß der Mensch, ähnlich wie er eine physische Konstitution hat, die ihn z.B. zwingt zu essen, zu trinken und zu schlafen, auch eine wesensimmanente moralische Konstitution besitzt, die Richter über Gut und Böse, über Recht und Unrecht ist. Zweifellos haben w i r Wertvorstellungen, und glauben an gewisse Rechtsgrundsätze. Es ist sogar zuzugeben, daß w i r gewisse Wert- und Rechtsprinzipien als unbedingt, als über jeden Zweifel erhaben und als notwendig erachten. Dies drückt sich i n unseren manchmal ganz entschiedenen Stellungnahmen aus, die m i t der Uberzeugung verbunden sein können, daß eine andere Wertung gar nicht möglich ist. Sind aber diese Grundsätze, die w i r als evident erleben, wirklich für den Menschen überhistorisch gültig, weil sie durch sein Wesen bedingt sind? Der kritisch reflektierende Denker w i r d sich dessen bewußt, daß w i r niemals wissen, ob die als evident erlebte Einstellung wirklich wesensimmanent ist und nicht bloß ein historisch und soziologisch bedingter Zustand unserer Werteinstellung. Z u dieser kritischen Reflexion führt uns die Erfahrung, daß zwischen verschiedenen Menschen und zwischen verschiedenen Gruppen auch i m Bereich der als evident erlebten Wertungen wesentliche Divergenzen bestehen. Die ideologiekritische Analyse hat die Tatsache aufgedeckt, daß die verschiedenen Werteinstellungen m i t gewissen sozialen Faktoren korrelieren. Die grundsätzliche Möglichkeit, auch das, was uns als evidenter Wert erscheint, bei tiefgreifend veränderter Sozialstruktur anders zu werten, führt uns dazu, a priori eine Hinterfragung von praktischen Einstellungen niemals i m vorhinein auszuschließen. Wenn es auch Werte und Sollen als anthropologische Konstante geben mag, wissen w i r nicht, wo eine Grenze zwischen dem immanent fixen Wert und der historischen, sozial bedingten Wertung liegt. Eine naturrechtliche Argumentation ist daher kaum möglich, denn anthropologische Argumente sind entweder Kulturbeschreibung, die Wertungen i n sich schließen (ζ. B. solche Thesen wie „Es entspricht der Konstitution des Menschen, in Familien zu leben") oder sie sind reine Beschreibungen, die die historische Veränderlichkeit der bisher beobachteten Einstellungen nicht ausschließen können. I m ersten Fall dient der Hinweis auf die Anthropologie nur zur Verschleierung der Tatsachen, daß Werteinstellungen i m Spiel sind (nämlich jene, welche auch den anthropologischen Thesen zugrunde liegen) oder die anthropologische These ist bloß eine Fakteninformation, die allein — ohne hinzutretende Stellungnahme — keine Normbegründung bieten kann.]
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens
Wenn sich also alle Wege einer naturrechtlichen Rechtsbegründung als ungangbar erweisen, sollten w i r dann nicht die Flinte ins K o r n werfen und unsere Bestrebungen, zum richtigen Recht zu gelangen, aufgeben? Ich glaube, daß diese Konsequenz vieler Positivisten gar nicht begründet ist. Ja es scheint m i r auch grundlos und unzweckmäßig, alle Überlegungen über Gerechtigkeit und richtiges Recht aus der Jurisprudenz auszuschließen und ihnen bloß i n der Rechtssoziologie oder Rechtspolitik einen Platz einzuräumen. Dieses Problem gehört zum Beruf des Juristen, des Theoretikers und Praktikers (natürlich auf verschiedenen Stufen). Es erscheint m i r gnoseologisch nicht möglich, richtiges Recht i m Sinne der Naturrechtslehren zu begründen, es ist aber durchaus möglich — ich glaube auch notwendig, eine Norm- resp. Rechtsbegründungstheorie zu entwickeln, welche gar nicht versucht, die verantwortungsbewußte Stellungnahme und Entscheidung auszuschalten oder durch Erkenntnis zu ersetzen, welche aber die rationale Basis für diese Tätigkeiten schafft und die Struktur dieser Überlegung klar macht, um so zu verantwortungsvolleren, bewußteren und rationalerer Rechtssetzung — sowohl i m Bereich der Legislative als auch i m Feld der Rechtsanwendung — zu gelangen. 5. Die philosophische Basis des Normenfolgerns Die Theorie des Folgerns bildet i n der Normenlogik ebenso wie i n anderen logischen Disziplinen das Kernstück der Lehre. Dies unterliegt wohl keinem Zweifel, es ist nur strittig, wie die normenlogische Folgerung definiert und wie eine Normenfolgerungstheorie aufgebaut und philosophisch begründet werden soll. Die philosophischen Schwierigkeiten sind zum großen Teil dadurch hervorgerufen, daß die Logik früher, d. h. vor der Entstehung der Normenlogik, nur rein indikative Folgerungsbeziehungen studiert hat und daß daher die Grundbegriffe der Logik, wie Folgerung, Beweis, Widerlegung usw. dieser Aufgabe angepaßt wurden, während die A r beit i n der Normenlogik einen allgemeineren als den nur auf Wahrheitsbeziehungen abgestimmten Begriffsapparat nötig hat. Als Glied einer Folgerungsbeziehung bezeichnen w i r einen Satz (resp. die entsprechende Satzformel), welche i n der Folgerung als Prämisse oder (und) Schlußfolgerung auftritt. Da w i r i n der Normenlogik m i t zwei semantisch unterschiedenen Satzarten arbeiten, sind die Glieder der normenlogischen Folgerungsbeziehungen von zweierlei A r t : sie sind Aussagesätze oder Normsätze. Da die Folgerungsbeziehungen, deren sämtliche Glieder Aussagesätze sind, von den Systemen der Aussagen- und Prädikatenlogik behandelt werden, beziehen sich die
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Regeln der Normenlogik nur auf solche Folgerungsbeziehungen, welche normative Glieder — gegebenenfalls neben Aussagesätzen — enthalten. Normenlogische Folgerungsbeziehungen definieren w i r also als Folgerungsbeziehungen, welche wenigstens ein normatives Glied enthalten. Es lassen sich dann rein normative Folgerungsbeziehungen von gemischten unterscheiden, je nachdem, ob als Prämissen nur Normsätze oder neben diesen auch Aussagesätze auftreten. I n der Frühzeit der Normenlogik traten skeptische Betrachtungen über die Möglichkeit von normenlogischen Folgerungen — wohl am schärfsten i n Form des sogenannten Jorgensenschen Dilemmas — auf. Heute ist diese Skepsis kaum mehr aktuell, da die deontische Logik schon besteht und trotz vieler Schwierigkeiten und Unklarheiten als Forschungsfeld blüht; es bleibt aber die Aufgabe, die philosophische Basis der Normenfolgerungstheorie zu diskutieren. Das Jorgensensche Dilemma 7 geht von folgenden Thesen aus: (1) Normsätze können nicht sinnvoll als wahr oder unwahr bezeichnet werden. (2) Der Begriff der Folgerung (Inferenz) ist als Wahrheitsbeziehung definiert 8 . (3) Es gibt Folgerungen m i t normativen Gliedern; denn die Denkpraxis der normativen Gebiete und des alltäglichen Lebens kennt solche Folgerungen, welche als nicht weniger evident erscheinen als die rein indikativen Inferenzen. Diese drei Thesen können offensichtlich nicht alle wahr sein. Es erscheint einleuchtend, daß (2) fallen gelassen werden muß; es w i r d ein allgemeinerer Inferenzbegriff eingeführt, welcher folgende Bedingungen erfüllt: a)
für den Fall der rein aussagenden Folgerungsbeziehungen w i r d er m i t dem eingeführten als Wahrheitsbeziehung definierten Inferenzbegriff zusammenfallen;
b)
für normenlogische Folgerungen muß er eine brauchbare Bestimmung des Folgerns liefern (denn soweit diese begriffliche Basis fehlt, läßt sich die These (3) eigentlich nicht einmal klar aussprechen ; sie setzt schon einen erweiterten Inferenzbegriff voraus, eine geregelte formalbestimmte Gedankenoperation, welche als logische Begründung von Normsätzen auf Grund vorausgesetzter Ausgangssätze gilt).
7 Siehe Jergensen, J.: Imperatives and Logic, Erkenntnis Bd. 7, 1937-38, S.288 - 296. 8 E t w a i n folgender Weise: F ist eine Folgerung aus Pi, P 2 , . . . , P n dann u n d n u r dann, w e n n ein Aussagesatz von der F o r m F nicht u n w a h r sein k a n n (in keinem denkbaren Bereich), w e n n alle Prämissen v o n der F o r m Pi,P2, . . . , Ρ n w a h r sind (in demselben Bereich).
6 Weinberger
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens Dies ist unschwer erreichbar; man braucht bloß festzusetzen:
(i)
ein Aussagesatz ist als Prämisse gesetzt, wenn er als wahr angenommen wird,
(i')
ein Normsatz ist als Prämisse gesetzt, wenn er als gültig angenommen wird,
(ii) ein gefolgerter Aussagesatz w i r d als wahr begründet, (ii') ein gefolgerter Normsatz w i r d als gültig begründet. Der verallgemeinerte Begriff der Folgerungsbeziehung kann dann folgendermaßen definiert werden: Der Satz von der Form F ist eine Folgerung aus den Prämissen von der Form Pi, P2, . . . P n genau dann, wenn (a) für den Fall, daß die Folgerung von der Form F ein Aussagesatz ist, er nicht unwahr sein kann, wenn alle Aussagesätze unter den Prämissen Pi, P2, . . . P n wahr und alle Normsätze unter Pi, P2, . . . P n gültig sind; (b) für den Fall, daß die Folgerung von der Form F ein Normsatz ist, er nicht ungültig sein kann (in jedem beliebigen Normensystem S), wenn alle Aussagesätze unter den Prämissen Pi, P2, . . . P n wahr und alle Normsätze unter Pi, P2, . . . P n (in S) gültig sind. Gedankengeschichtlich kann man folgendes feststellen: Die begriffliche Beschränkung der logischen Untersuchungen auf das Gebiet der Aussagesätze (der Wahrheit) — Aristoteles hat sie klar ausgesprochen — ist eine bloß historisch gegebene Tatsache, keine Wesenscharakteristik der Logik. Die Überschreitung dieser Grenzen wurde durch die innere Entwicklung der Logik selbst vorbereitet, insbesondere durch die rein syntaktische Konzeption des Folgerns, wie sie i n der sogenannten Spieltheorie der Deduktion zum Ausdruck kommt. Die zweite gedankliche Quelle der Normenlogik i m Bereich der Logik selbst war ihre Tendenz zur Bindung an die Sprachanalyse, ich möchte sagen: die semiotische Orientierung der Logik, denn von dieser Position aus erscheint die präskriptive Sprache als Gegenstand logischer Studien, der genauso sinnvoll ist wie die Analyse der deskriptiven Sprache. Der dritte aus der Logik selbst stammende Antrieb zur Schaffung einer Normenlogik waren die sich aufdrängenden Analogien zwischen der Normenlogik und der Modallogik 9 . Wichtige Anregungen für den Aufbau der Normenlogik kamen von den Ethikern und Juristen 1 0 , die auch wesentliche Vorarbeiten leiste» Ich verweise hier n u r auf die Arbeiten von A. Höfler, Menger, G. H. Wright u n d J. Kalinowski.
O.Becker,
K.
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ten. Die Ethiker stießen auf Probleme, die ich als metaethische Fragen bezeichnen möchte: die Frage nach dem Wesen ethischer Grundsätze (sind es Normsätze oder Wertaussagesätze?), das Problem des Charakters der sogenannten ethischen Erkenntnis und der Begründung der ethischen Grundsätze sowie überhaupt des Deduzierens 1 i n diesem Feld. Die analytische Jurisprudenz brauchte eine Strukturtheorie des Rechtssatzes, eine Lehre von den Normenfolgerungen, u m die logischen Beziehungen i m Rechtssystem m i t wissenschaftlicher Klarheit studieren zu können. Folgende Umstände sind die entscheidenden Vorbedingungen dafür, daß eine Theorie der Normenfolgerungen aufgebaut werden kann: a) Die nicht-psychologistische (nicht-soziologistische) Auffassung der Normsätze und der Operationen m i t ihnen. b) Die Auffassung des Normsatzes als Sprachgebilde, das verstanden werden kann und Ausdruck eines Gedankens i m objektiven Sinne ist. (Von Gedanken i m objektiven Sinne kann nur dann gesprochen werden, wenn man von psychischen Akten abstrahiert.) c) Die Auffassung, daß normenlogische Beziehungen Beziehungen zwischen Gedanken i m objektiven Sinne (oder zwischen sprachlichen Ausdrücken), nicht aber Beziehungen zwischen Denkarten sind. d) Die Konzeption der normenlogischen Folgerungen als formaler Operationen i n einem adäquaten Sprachsystem (analog zu den formalen Operationen m i t Aussagesätzen), so daß eine vollkommene Formalisierung der Normenlogik möglich ist. Ganz analog wie i n den üblichen Bereichen der Logik der deskriptiven Sprache, ist auch i n der Normenlogik das Folgern relativ, d. h. keine letztinstanzliche Begründung irgendwelcher informativer Normsätze, sondern bloß relatives Begründen, abhängig von der Wahrheit oder Geltung der Prämissen (der Beweisargumente). Man sagt oft, daß i m normativen Denken angenommen (axiomatisch vorausgesetzt) wird, daß gleichzeitig m i t der Norm Ν immer auch alle ihre logischen Konsequenzen gelten. Ich glaube, daß dies keine A n nahme ist, nicht ein Grundsatz oder Axiom, das w i r auch fallen lassen könnten. 2V> ist nämlich genau dann und gerade deswegen eine logische Folge von N, weil iV> notwendigerweise i n jedem System, i n dem Ν gilt, aus rein logischen Gründen auch NF gelten muß. I m Bereich des Aussagenfolgerns können w i r die Begründung der Folgerungsregeln auf semantische Überlegungen stützen, welche uns 10 ζ. B. von Austin, Hohfeld, Kelsen, Weyr (einem berühmten tschechischen Rechts theoretiker).
β*
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die Notwendigkeit des Wahrseins der Konsequenz auf Grund der gegebenen Prämissen vor Augen führt. Etwas Analoges wäre auch für die Normenlogik zu fordern; dies müßte eine logische Normensemant i k leisten. Einstweilen gibt es zwar einige Versuche i n dieser Richtung, ich glaube aber, daß — soweit ich über die Literatur informiert bin — diese Aufgabe trotz interessanter Ansätze noch als nicht befriedigend gelöst angesehen werden muß. Manche Denker haben Hemmungen, das Normenfolgern als Gedankenoperationen, welche m i t dem Aussagefolgern auf gleicher Stufe stehen, zu akzeptieren, weil sie von der Vorstellung beseelt sind, das Folgern sei etwas objektiv fundiertes, etwas, das einer objektiven Stütze bedürfe, die bei den Aussagen letztlich i n der objektiven Realität gefunden wird, während i m Bereich der Normen keine solche objektive Stütze existiert, denn die Gültigkeit der Norm ist immer systemrelativ, nicht aber durch das objektive Bestehen von Sachverhalten gegeben. Diese Bedenken beruhen auf einem tiefen MißVerständnis. Die Deduktion hat immer relativen Charakter, wenn sie auch an sich eine logisch-notwendige Bindung ist; sie ist ganz unabhängig davon, ob die Prämissen ein objektives Fundament haben, also Erfahrungserkenntnisse sind, oder aber Annahmen, Hypothesen oder Glaubenssätze. Dies gilt gleichermaßen für den indikativen wie normativen Bereich. Es bedeutet also gar kein Hindernis, ja gar keine philosophische Schwierigkeit, daß die Normenprämissen keine absolut oder objektiv fundierte Geltung aufweisen. Eine Schwierigkeit der normativen Konsequenzen besteht i n folgendem Moment: Setzen w i r ein logisch widerspruchsfreies Normensystem S voraus und eine Klasse Τ logisch widerspruchsfreier Tatsachenfeststellungen. Es ist jetzt durchaus nicht nur denkbar, sondern auch tatsächlich praktisch möglich, daß aus den allgemeinen Normen und zwei Tatsachenfeststellungen Ai, Aj aus T, die untereinander nicht i n Widerspruch stehen, normative Konsequenzen folgen, die untereinander logisch unverträglich sind. Es mögen ζ. B. allgemeine Normen gelten, welche die Verbindlichkeit von Verträgen statuieren. Hat sich n u n die Person Ρ vertraglich zu einem Verhalten α verpflichtet (Ai), dann folgt, daß die individuelle Norm „ P soll das Verhalten a realisieren" als logische Folge der Normenordnung und des wahren Satzes A i gilt. Verpflichtet sich aber die Person Ρ durch einen anderen A k t zu dem Verhalten non-α, dann könnte wieder ein gültiger Vertrag entstehen (Aj) und als logische Folge aus der allgemeinen Vertragsrechtsnorm und der Konstatierung A j folgt, daß die individuelle Norm „P soll das Verhalten non-α realisieren" gilt. Diese beiden individuellen Normen sind aber logisch unverträglich.
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Die meisten Anwendungen der Normenlogik betreffenden Systeme, in denen neben Normsätzen auch Aussagesätze auftreten. I n diesem Fall ist die Konsistenz der Klasse der Aussagesätze und der Klasse der Normsätze getrennt zu prüfen. Außerdem ist zu prüfen, ob die Klasse der Normsätze widerspruchsfrei bleibt, wenn die Wahrheit der Aussagesätze vorausgesetzt wird. Es gelten folgende Thesen: (a) Zwischen der Klasse der Normsätze und jener der Aussagesätze gibt es keine Widersprüche. (b) Die Widerspruchsfreiheit der Klasse der Aussagesätze ist unabhängig von der Klasse der Normen, denn was auch immer als Sollen gesetzt wird, kann die Wahrheit der Aussagesätze nicht beeinträchtigen. (c) Die Widerspruchsfreiheit der Klasse der Normen, die zu einem System gehören, welches sowohl Normen als auch Aussagesätze umfaßt, kann auch von der Wahrheit der Aussagesätze des Systems abhängig sein (Erfüllbarkeit der Normen i n Abhängigkeit von Tatsachenvoraussetzungen). Der Umstand, daß auf Grund von Tatsachen (ζ. B. von Delikten) Pflichtenkonflikte entstehen können, ist der Grund, warum Rechtsordnungen oft Normen enthalten, welche diese Konflikte lösen sollen. Diese Konfliktnormen kommen dort zur Geltung, wo logische Widersprüche i n Folge gewisser rechtlich relevanter Tatsachen auftreten, so daß durch diese Bestimmungen das Normensystem trotz auftretender Pflichtenkonflikte erfüllbar wird. Es ist jedoch schwierig, zu erreichen, daß alle sekundären Pflichtenkonflikte i m vorhinein durch die entsprechenden Regeln ausdrücklich gelöst werden. Die Rechtsordnung hat noch eine andere Möglichkeit, Pflichtenkonflikte zu bereinigen: sie verleiht einem Staatsorgan, ζ. B. dem Richter, die Ermächtigung, i n solchen Fällen frei zu entscheiden. Der Mangel des Rechtssystems, welches primäre Widersprüche, d. h. einander widersprechende Normen, enthält, muß von jenem Fall unterschieden werden, wo Widersprüche i n Folge gewisser Handlungen auftreten. Ein Rechtssystem, das primär Kontradiktionen enthält, ist logisch mangelhaft; sekundäre Widersprüche als Folgen von Tatsachenprämissen führen nicht zur Ablehnung des Normensystems selbst wegen logischer Inkonsistenz. Sie machen bloß die Existenz von Normen erforderlich, welche die Konflikte auflösen oder Ermächtigungen zur Lösung dieser Konflikte durch Entscheidungen erteilen. 6. Das Problem der Offenheit des Normensystems Eine der Schlüsselfragen der Normenlogik ist das Problem der Offenheit des Normensystems. I n dieser Frage werden unterschiedliche
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens
Meinungen vertreten; und eine Reihe von Einzelheiten der Problemat i k liegen noch i m Unklaren. Meistens meint man, daß Offenheit oder Geschlossenheit des Normensystems Typen von Systemen darstellen, welche logisch verschieden strukturiert sind. Ich b i n dagegen der Meinung, daß jedes Normensystem grundsätzlich offen ist und nur durch eine besondere positiv (durch Willensakt) gesetzte Norm geschlossen werden kann. Professor Tammelo hat i n einem wichtigen Aufsatz eine gute Darstellung der m i t dieser Frage zusammenhängenden Probleme gegeben und die juristische Bedeutung der Problematik weitgehend geklärt 1 1 . Es geht insbesondere u m das Lückenproblem und die Problematik der Non-Liquet-Entscheidungen. Interessant — wenn auch nicht restlos klar — ist seine logische Analyse, mittels derer er die Offenheit des Rechtssystems begrifflich untermauert 1 2 . M i t der Frage der Offenheit des Normensystems ist offenbar das Problem des Erlaubnisbegriffes verbunden und überhaupt die Frage des Systems der deontischen Operatoren und deren gegenseitiger Definierbarkeit. Von einigen Autoren w i r d die Essersche Unterscheidung von Rechtssystemen, welche axiomatisch orientiert sind, von solchen, welche rhetorisch organisiert sind, m i t der Frage der Offenheit i n Verbindung gebracht 13 , w e i l die axiomatisch-deduktive Denkweise m i t einem geschlossenen System zu korrelieren scheint, die Offenheit aber die Basis für die rhetorische Argumentation liefert. Die Rolle der sogenannten Rechtsgrundsätze i n Gegenüberstellung zu den Rechtssätzen selbst scheint nicht unwesentlich m i t der rhetorischen Argumentation zusammenzuhängen. Auch die Frage, ob auf Grund eines gegebenen Normensystems die normativen Konsequenzen immer entscheidbar sind, hängt m i t den Problemen der Offenheit des Normensystems zusammen. Sowohl das Rechtslückenproblem wie die Frage, ob und wann eine Non-liquet-Entscheidung denkbar ist, w i r d von der Jurisprudenz i m Rahmen der Untersuchungen über die Offenheit des Rechtssystems studiert. 11
Tammelo , I.: On the Logical Openness of Legal Orders, i n : The A m e r i can Journal of Comparative L a w , Vol. 8, No. 2, 1959. 12 Tammelo hat seine Konzeption der deontischen L o g i k ausführlich i n seinem Buch „Outlines of Modern Legal Logic" (Wiesbaden 1969) dargelegt. Tammelos Auffassung der Problematik der Offentheit oder Abgeschlossenheit des Normensystems stimmt i m wesentlichen m i t meinen Ansichten überein, obwohl w i r erst nach Abfassung unserer Texte die Darlegungen des anderen kennengelernt haben. Die Unterschiede liegen n u r i n der Terminologie u n d darin, daß Tammelo den Begriff des Willensfeldes nicht eingeführt hat. Vgl. Esser, J.: Grundsatz u n d N o r m i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 19561, S. 218 ff.
III. Grundlagenprobleme der Theorie des juristischen Denkens
87
Das Normensystem drückt eine Stellungnahme zu möglichen Sachverhalten der Welt aus. I n diesem (abstrakten, nicht psychologistischen) Sinne kann es als Ausdruck eines Willenssystems aufgefaßt werden. Das System nimmt Stellung zu tatsächlichen und zu möglichen Sachverhalten. Immer aber bloß zu einem Ausschnitt aus diesem Universum von Sachverhalten. Man sagt zwar manchmal, daß ein Normensystem (ζ. B. eine Rechtsordnung) ein universelles System ist, doch bedeutet das nicht, daß es zu allem i n der Welt und zu allen nur denkbaren Sachverhalten tatsächlich Stellung nimmt, sondern bloß, daß es grundsätzlich zu allem Stellung nehmen könnte. Nennen w i r die Klasse aller Sachverhalte, zu denen das i n Erwägung stehende Normensystem tatsächlich Stellung nimmt, sein Willensfeld (WF) und die Klasse aller bestehenden und möglichen Sachverhalte Universum (U). Dann ist das Willensfeld ein echter Teilbereich des Universums. Es ist i n Betracht zu ziehen, daß das System auch zu gewissen möglichen Sachverhalten, zu denen es tatsächlich nicht ausdrücklich Stellung nimmt, sehr wohl Stellung nehmen könnte. Den Bereich möglicher Sachverhalte, zu denen das System Stellung nehmen könnte, nennen w i r potentielles Willensfeld (PWF) des Systems. Das potentielle Willensfeld umfaßt nicht das ganze Universum, denn nicht alle möglichen Sachverhalte werden für das System relevant, nicht alle sind m i t den Augen des Systems bewertbar. Die Beziehung zwischen Universum U, Willensfeld WF und potentiellem Willensfeld PWF ist i n Abb. 2 dargestellt. Ein Sachverhalt A ist dann entweder Element von WF, wenn er i m System Gegenstand ausdrücklicher Normierung ist, oder er ist Element von PWF, wenn er zwar i m Blickfeld des Systems liegt, aber seine normative Wertung nicht bestimmt ist. Die Möglichkeit dieser Unbestimmtheit ist eine Folge der Offenheit des Systems.
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(f !
PWF ,
\
V
WF
Λ /
\V \
\
Abb. 2
\
\
\
\ 1 1 J \
/ / /
/
/
Β. Zum Problem des juristischen Denkens
88
Folgende Tafel stellt die Beziehungen zwischen Klassen möglicher Sachverhalte und der Stellungnahmen eines Normensystems zu ihnen dar. I n der Tafel kommen auch die Beziehungen zwischen den resultierenden Normsätzen zum Ausdruck. U
(1) WF
(2)
WF PWF
(3)
j
PWF
(4)
Op
Ip
Fp
unbestimmt
(5)
Fp
Ip
Op
unbestimmt
Pp
Fp
unbestimmt
(6) (7)
Fp
Pp
(8)
Op
P'p
(9)
Fp
P'p
(10)
Op
I'p
unbestimmt
Fp
I'P
(11)
Op
Ip
Fp
unbestimmt
(12)
Fp
Ip
Op
unbestimmt
potentielle Stellungnahme Erklärung der Symbole: ,17' lWF' ,WF' ,PWF * ,PWF' ,p' ,p' ,Op' ,Pp' ,Ip' ,Ρ'ρ* yVP*
bezeichnet das Universum möglicher Sachverhalte bezeichnet das Willensfeld bezeichnet das Komplement von U zum Willensfeld WF bezeichnet das potentielle Willensfeld bezeichnet das Komplement von U zum potentiellen Willensfeld ist eine S ach Verhalts variable die Negation des Sachverhalts ρ (das Unterlassen von p) bedeutet ,p ist geboten* bedeutet ,p ist erlaubt' bedeutet ,p ist indifferent' (»sowohl ρ als auch p ist erlaubt*) bedeutet ,p ist erlaubt (im weiteren Sinne)' bedeutet ,p ist indifferent (im weiteren Sinne) 4
Die Tafel zeigt, daß das Universum der möglichen Sachverhalte (1) ins Willensfeld und sein Komplement zerfällt (2) und daß eine analoge Aufspaltung i n ein potentielles Willensfeld und dessen Komplement gedacht werden kann. Die Grenze zwischen PWF und der Ergänzung PWF ist durch den Wortlaut des Normensystems nicht bestimmbar (3). (4) zeigt, daß die Sachverhalte des Willensfeldes restlos und disjunkt i n gebotene, indifferente und verbotene aufgeteilt werden. I n (5) ist
III. Grundlagenprobleme der Theorie des juristischen Denkens
89
dasselbe ausgedrückt i n Termini der Unterlassung; (6) zeigt, daß i m Bereich des Willensfeldes gerade das erlaubt ist, was geboten oder indifferent ist; man kann diese Zeile auch lesen: was nicht verboten ist, ist erlaubt — und umgekehrt, was nicht erlaubt ist, ist verboten (sc. i m Willensfeld). (7) sagt, daß jeder Sachverhalt des Willensfeldes geboten oder aber seine Unterlassung erlaubt ist. (8) zeigt, daß immer wenn ,p ist geboten' nicht gilt, ρ (im weiteren Sinne) erlaubt ist. Aus der Tafel ist auch ersichtlich, daß dieser Erlaubnisbegriff von jenem der i n den Zeilen (4) bis (7) auftritt, verschieden ist, denn P'p besagt ggf. etwas über potentiell anders bewertbare und über vom System nicht bewertbare Sachverhalte. P'p hat also sozusagen nur einstweiligen Bestand. T r i t t Op zum System hinzu, entsteht kein Widerspruch, sondern P'p w i r d bloß verdrängt. (10) zeigt, daß ρ entweder geboten oder verboten oder i m weiteren Sinne indifferent ist. Die Zeilen (11) und (12) beziehen sich auf die zwar kontrafaktuale aber dennoch potentielle Stellungnahme zu Sachverhalten des potentiellen Willensfeldes (außerhalb des aktuellen Willensfeldes). So zeigt (11), daß ein Sachverhalt ρ dieses Bereichs entweder geboten oder verboten oder indifferent gewertet werden könnte. (12) zeigt das Gleiche für die Unterlassung von ρ (für p). Unsere Analyse führt zur Unterscheidung zweier Erlaubnisbegriffe, die sich logisch verschieden verhalten, weil verschiedene Argumentebereiche i n Rechnung gezogen werden. Die Erklärung des Unterschiedes zwischen einem offenen und einem geschlossenen Normensystem stützt sich auf den Begriff des potentiellen Willensfeldes. Nur wenn das System abgeschlossen ist und wenn die Widerspruchsfreiheit des Systems vorausgesetzt wird, kann von „nicht verboten" auf „erlaubt" (im strikten Sinne) geschlossen werden. Die Offenheit w i r d so aufgefaßt, daß sie einem Normensystem immer dann zukommt, wenn sie nicht durch eine ausdrücklich abschließende Norm ausgeschlossen ist, denn es erscheint sinnvoll, das der Normenordnung zugrundeliegende W i l lenssystem nicht auf die i n den gegebenen Normsätzen ausgedrückten Willenseinstellungen zu beschränken, sondern auch potentielle — aber nicht artikulierte — Stellungnahmen als dem System zugehörig zu betrachten. Die Konzeption bietet eine Basis für die Theorie der Rechtslücken und der Erklärung der Non-liquet-Entscheidungen. Echte Lücken liegen dann und nur dann vor, wenn i n einer Angelegenheit A, die Gegenstand der Normierung ist, gewisse sachlich verbundene Momente eintreten, die eine normative Entscheidung erheischen, welche jedoch nicht vorliegt. I n Abb. 2 habe ich diese Situation durch das Quadrat A dargestellt, welches teils in WF teils i n PWF liegt. Für solche Fälle hat das Recht Einrichtungen, welche die poten-
90
Β. Zum Problem des juristischen Denkens
tielle Stellungnahme realisieren (oder es sollte sie wenigstens haben). Nicht richtig wäre es, hier einfach zu sagen: da keine Regelung vorliegt, ist alles erlaubt. Wenn w i r nicht m i t der potentiellen Stellungnahme rechnen würden, würde der Richter, der i m Feld der Lücken (aber auch i m Feld des freien Ermessens) etwas als geboten ansieht, widerrechtlich entscheiden. Z u m Problem der Non-liquet-Entscheidung läßt sich folgendes sagen: entweder hat der Richter die Kompetenz zur nötigen Entscheidung i m potentiellen Raum oder er hat seine Entscheidungsermächtigung nur i m Räume der durch die generellen Rechtsregeln vorgezeichneten Stellungnahmen. Ist die Kompetenz des Richters auf die ausdrücklichen Rechtsquellen (also auf das Willensfeld des Systems) beschränkt, wäre es falsch i n Fragen, die außerhalb des Willensfeldes fallen, eine meritorische Entscheidung zu fällen. Es bleibt also nur die Möglichkeit einer Non-liquet-Entscheidung, die zwei Momente als Begründung anzuführen hat: a) daß die zur Verfügung stehenden Rechtsquellen für diesen Fall keine Disposition treffen 1 4 ; b) daß der Richter keine Entscheidungsermächtigung hat außerhalb des Rahmens der angeführten Rechtsquellen. Wenn man gegen diese Meinung einwendet, daß die Non-liquet-Entscheidung doch eine Entscheidung ist, so ist dies kein berechtigter Einwand; es ist keine Entscheidung i n der Sache; es entsteht keine res iudicata; es ist eigentlich bloß eine Entscheidung über die richterliche Kompetenz zur Lösung der Sache. 7. Das juristische Denken zwischen Logik und Rhetorik Die präzise Analyse des Rechts und des juristischen Denkens i m Geiste der modernen Logik bringt nicht nur eine wesentliche Klärung der Begriffe und der Arbeit des Juristen, sondern auch die Erkenntnis der Grenzen des rein logischen Operierens in diesem Gebiet. Das erste wesentliche Ergebnis der kritischen Selbstbesinnung der Logik ist die Erkenntnis der grundsätzlichen Relativität des logischen Beweises, welches die Versuche, aus der Ratio allein irgendwelche Theorien über Sachfragen abzuleiten, als unsinnig ausschließt, denn die Vernunft ist nur ein Instrument der Bearbeitung von empirischen oder sonstwie gegebenem Material. Es zeigt sich, daß i m wissenschaftlichen und praktischen Denken neben dem logischen Deduzieren auch sogenannte Wahrscheinlichkeits14 Die Begründung, daß U n k l a r h e i t oder Interpretationsschwierigkeiten bestehen, scheint m i r nicht am Platz zu sein, denn der Richter muß w o h l zur Interpretationsentscheidung immer berechtigt sein.
III. Grundlagenprobleme der Theorie des juristischen Denkens
91
schlüsse vom Typus der Induktion, Reduktion und Analogie auftreten 0 . Aber auch hiermit kommt das rationale Begründen nicht zu seinem begrifflichen Abschluß. Gerade durch die präzise Analyse der logischen Operationen — inklusive der Wahrscheinlichkeitsschlüsse — w i r d manifest, daß noch andere Momente i n den Argumentationen der Wissenschaften und des praktischen Lebens auftreten, denen man kaum den vernunftmäßigen Charakter absprechen kann. Man spricht von rhetorischen Argumentationen und versteht hierunter jene logisch nicht schlüssigen, aber dennoch vernunftmäßig überzeugenden Begründungsweisen, welche die Theorien oder Meinungen, die Wertungen oder Stellungnahmen zwar nicht streng beweisen, aber plausibel machen. Die Wissenschaft von diesen Argumentationsmethoden, welche ihre Wurzeln schon i n der Antike hat, wurde i n das moderne Wissenschaftsdenken insbesondere von Ch. Perelman als modernes Forschungsgebiet wieder eingeführt 1 5 . Die moderne Rhetorik hat eine Reihe von Argumentationsfiguren studiert und deren Rolle i n der Denkpraxis des Begründens — insbesondere von Wertungen und Stellungnahmen — nachgewiesen. Der theoretische Aufbau der modernen Rhetorik ist aber — wie ich unten näher ausführen werde — noch i n einigen Punkten problematisch. Das Bild, welches von dem juristischen Denken entworfen wird, fällt bei den verschiedenen Autoren sehr unterschiedlich aus. Die einen meinen z. B. — u m nur extreme Konzeptionen anzuführen — die Rechtsentscheidung sei ein Schlußsatz eines Syllogismus, andere fordern die relative Ungebundenheit der richterlichen Entscheidung gegegenüber dem Gesetz (Freirechtslehre), ja manche meinen, die richterliche Entscheidung erfolge als Willensdezision, zu der erst ex post eine Begründung aus dem Gesetz gegeben wird. Infolge der Komplexität der Rechtsquellen und wegen der verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten sei es immer möglich, die getroffene Entscheidung rational zu begründen. Für das juristische Denken ist i n erster Linie charakteristisch, daß sozusagen i n allen gedanklichen Aufgaben Normen eine wesentliche Rolle spielen. Das juristische Denken bezieht sich daher zum großen Teil auf normenlogische Beziehungen und arbeitet m i t normenlogischen Folgerungsschemen. d Die sogenannten Wahrscheinlichkeitsschlüsse selbst sind natürlich nicht i m gleichen Sinne formalen Schlußregeln unterworfen w i e die deduktiven Ableitungen. Die Wahrscheinlichkeitsschlüsse haben sozusagen ihre eigene Methodologie. M a n könnte sie auch als Typen rhetorischer Argumentationsweisen ansehen, die f ü r die empirischen Wissenschaften von besonders großer Wichtigkeit sind. 15 Vgl. Perelman, Ch. / Olbrechts-Tyteca, L.: Traité de l'argumentation, 19511 (2 Bde.), 19522 (in 1 Bd.).
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens
Die Tatsachenfeststellungen m i t ihrem rein aussagenden Charakter bilden hierbei einen dem normenlogischen Denken untergeordneten Teil, der aber gewöhnlich — aus praktischen Gründen — herausgelöst wird. Bei den Sachverhaltsbeweisen werden rein indikative Schlußweisen angewendet. Es treten hier jedoch methodologische Besonderheiten auf, welche m i t der den juristischen Beweisverfahren häufig anhaftenden Unsicherheit der Informationsbasis, welche die Prämissen der Argumentation liefern, zusammenhängt 16 . Die logische deduktive Folgerung aus Gesetz und aus der Tatsachenfeststellung gibt keine vollkommene Determination der Entscheidung: diese Deduktion bietet meist nur einen noch zu konkretisierenden Rahmen. Sie ist schon bei der Setzung der Prämissen abhängig von wertender Subsumtion, und fußt nicht selten auf Momenten des freien Ermessens und von Wertentscheidungen. Z u dem juristischen Denken gehört sicherlich auch der Bereich der Gesetzgebungsbegründung. Da die Struktur und der Charakter dieses Gebiets noch wenig durchforscht sind, klammere ich es hier aus meinem Betrachten aus. Wo liegt nun der Schwerpunkt des juristischen Denkens, i n der Logik oder i n der Rhetorik, also i n der Anwendung topischer Figuren? Manche Gelehrte wie ζ. B. Viehweg 17 halten die logischen Beziehungen für banale Selbstverständlichkeiten und glauben, daß das juristische Denken seinem Wesen nach topisch zu orientieren sei. Ich glaube, daß diese Lehrmeinung verfehlt ist. Das Skelett des j u ristischen Denkens ist logisch und w i r d von den logischen Strukturund Operationsregeln beherrscht; wenn diese Beziehungen nicht klar sind, fällt die Jurisprudenz und die juristische Argumentation i n sich zusammen. Die analytische Jurisprudenz, die den begrifflichen Apparat der Rechtsmethodologie bereitstellt, fußt naturgemäß auf der Logik; die logisch-deduktive Argumentation räumt erst der Rhetorik ihr Feld ein. Bei der Anwendung der Logik i m Recht sind — wie i n jedem Sachgebiet — auch besondere methodologische Grundsätze i m Spiel, welche durch den spezifischen Gegenstand bedingt sind (ζ. B. der Grundsatz „Lex posterior derogat legi prior"). Durch die Erkenntnis des Primats der Logik i m juristischen Denken w i r d die wichtige Aufgabe der Rhetorik nicht geschmälert. Interpretationsüberlegungen, wertende Subsumtion, freies Ermessen sowie alle Wertentscheidungen werden immer rhetorische Momente i n ihrer 16 Vgl. Weinberger, O.: Rechtslogik, S. 243. Siehe Viehweg, Th.: T o p i k u n d Jurisprudenz, München 19531, 19694. [Vgl. A / I I dieses Bandes, w o die Probleme der rhetorischen Argumentation ausführlicher untersucht werden.]
III. Grundlagenprobleme der Theorie des juristischen Denkens
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Begründung enthalten. Jeder Praktiker weiß, wie breit das Feld dieser Teile der juristischen Überlegung ist. Statt u m die Primatstellung zu kämpfen, sollte die Rhetorik lieber ihre Grundlagenprobleme lösen. Hierher gehört i n erster Linie die Frage, worin der rationale Charakter der Plausibilitätsargumentation liegt. Perelman stützt sich hier auf den Begriff des „auditoire universel". M i r scheint dies keine adäquate und ausreichende Stütze. Das universelle Auditorium ist historisch-kulturell bedingt, also kein objektiver Garant der Vernunftmäßigkeit, es ist konservativ u n d sanktioniert Vorurteile, soweit sie geglaubt werden, als rationale Argumente. Es ist keine Institution, die tatsächlich zum Testen einer Meinung oder Einstellung herangezogen werden kann, sondern eine begriffliche Konstruktion, welche die vernünftige Argumentation dem subjektiven Plausibelmachen gegenüberzustellen erlauben soll. M i r scheint es jedoch, daß das Ziel vollberechtigt ist, eine vernunftmäßige rhetorische Argumentation i n Gegenüberstellung zum nur persönlich fundierten Plausibelmachen theoretisch zu begründen, doch zweifle ich daran, daß der Begriff des „auditoire universel" die ausreichende Methode hierzu ist. Ich glaube nämlich, daß der Schluß gerade umgekehrt gilt: Wenn die rhetorische Argumentation vernunftmäßige Argumentation ist, dann können w i r uns ein Forum vorstellen, das rational und nicht bloß durch subjektive Meinungen, sondern durch die Vernunft geleitet ist — deswegen kann es als universell bezeichnet werden — und das gerade das Vernünftige akzeptiert. (Bis zu einem gewissen Grad greift das Vernünftige i n jedes, auch das subjektiv fundierte, Überzeugen ein.) Es ist aber kaum möglich zu zeigen: diese Gründe werden universell (von dem auditoire universel) akzeptiert, deswegen sind sie vernünftig. Ich glaube, man müßte hier andere Wege beschreiten. Das Vernunftmäßige sollte man i n der analytischen Einstellung und der Bereitschaft sehen, optimal beweiskräftige Begründung zu erlangen. Die Loci der Rhetorik sind mögliche Argumentationsfiguren; es gilt ihre K r a f t zu messen, resp. i m konkreten Fall zu entscheiden, ob sie Einschlägiges bringen. Die Rhetorik sollte hier möglichst klare A n leitungen geben. Die rhetorischen Figuren sind aus der Praxis des Argumentierens abgeleitet; es verschwimmt einigermaßen die Konstatierung, daß man so i n der Tat argumentiert, m i t der Begründung der Richtigkeit oder Berechtigung der Begründungsmethode; inwieweit können daher die rhetorischen Figuren als regulative Prinzipien gelten und warum? Der „Geist der Zeit" bringt notwendigerweise Momente i n die Argumentation, welche bestimmend wirken. Das ist wohl ein Wesenszug dieser Argumentation. Es scheint aber notwendig, diese Vorüberzeu-
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Β. Zum Problem des juristischen Denkens
gangen unter Umständen selbst einer kritischen Untersuchung zu unterziehen. Wie läßt sich das m i t ihrer Rolle als rhetorisches Argument verbinden? [m. E. eine offene Frage.] 8. Schlußbemerkungen Die vorgelegten Untersuchungen erschöpfen keineswegs den Bereich der aktuellen Grundlagenprobleme des juristischen Denkens. Zum Abschluß der Studie sei daher auf einige offene Probleme aufmerksam gemacht: Es fehlt eine befriedigende logische Normensemantik e . Die normenlogischen Probleme des Widerspruchs i m Normensystem und des Bedingungsnormsatzes sind nicht vollkommen geklärt. Alle bedeutenden Normenlogiksysteme sind einschichtig konstruiert, während die Rechtssysteme ihrem Wesen nach mehrschichtig sind. Die wenigen Versuche einer Theorie des hierarchischen Normensystems sind als nicht geglückt zu betrachten 18 . M i t Recht w i r d die Einheit und Ausschließlichkeit des Normensystems als Grundpfeiler der Normenlogik angesehen; dennoch muß ein theoretisches Instrument zur Erfassung der Pluralität von Normensystemen geschaffen werden, wobei aber die These von der Einheit und Ausschließlichkeit nicht aufgegeben werden soll f . Es muß eine Theorie und anschließend eine Methodik der Normbegründung de lege ferenda geschaffen werden^ Die von Wrightsche Idee einer allgemeinen Quantifikationstheorie, unter der sowohl die Modallogiken wie die deontische Logik untergebracht werden könnten, muß näher geprüft werden, denn dies betrifft jedenfalls i n essentieller Weise die Fundamente des juristischen Denkens 19 . Ausreichende Arbeit für eine Generation von Forschern. e
Vgl. Weinberger, O.: Ideen zur logischen Normensemantik, i n : Jenseits von Sein u n d Nichtsein, Beiträge zur Meinong-Forschung (ed. R. Haller), Graz 1972, S. 295 - 311; ferner Weinberger, Ch. u n d O,: Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1979. !8 z.B. i n Becker, O.: Untersuchungen über den Modalkalkül, Meisenheim am Glan 1952: Goble, L . F.: The Iteration of Deontic Modalities, i n : Logique et analyse, 1966, S. 197 - 209. Vgl. Weinberger, O.: Die S t r u k t u r der rechtlichen Normenordnung, i n : Rechtstheorie u n d Rechtsinformation (Hrsg. G. Winkler), Wien—New Y o r k 1975, S. 110 - 132. f Vgl. Weinberger, O.: Die Pluralität der Normensysteme, i n : ARSP, 1971, S. 399-427; auch i n : ders.: Studien zur Normenlogik u n d Rechtsinformatik, B e r l i n 1974, S. 213 - 237. g Vgl. Weinberger, O.: Z u r Theorie der Gesetzgebung, i n : Rechtsphilosophie u n d Gesetzgebung (Hrsg. J. M o k r e / O . Weinberger), Wien 1971. i · Siehe: von Wright , G. H.: On the Logic and Ontology of Normes, i n : Philosophical Logic, ed. J. W. Davis et al. 1969.
C. Wesen und Aufbau des Rechts CIL Die Norm als Gedanke und Realität 1. Vorbemerkung Das Thema der folgenden Untersuchungen gehört zu den Grundlagenproblemen der Rechtstheorie, der Normenlogik und aller Normenwissenschaften. Warum grübelt man über solche Fragen, sagen w i r über philosophische Grundlagen der Wissenschaften, nach, ist es doch aus der Erfahrung bekannt, daß i n solchen Fragen Meinungsverschiedenheiten und Positionsunterschiede bestehen und trotz aller Bemühungen wohl i n hohem Grade bestehen bleiben? Ist dieses geistige Bemühen nicht i m vorhinein zur Ergebnislosigkeit verurteilt, wenn man kaum erwarten kann, allgemein akzeptierte und ein für allemal unstrittige Erkenntnisse zu gewinnen? Ist es nicht vernünftiger, sich ganz und ausschließlich den Spezialdisziplinen zu widmen, wo handgreifliche und direkt verwertbare Erkenntnisse erzielt werden können? Ich glaube, daß so eine, dem grübelnden Philosophieren feindliche Einstellung ganz verfehlt und auch für die Entwicklung der einzelnen Spezialfachwissenschaften hemmend wäre. Der menschliche Geist ist philosophisch, er w i l l verstehen, erfassen und die Fundamente kennen, sowie die erkenntnistheoretischen und methodologischen Zusammenhänge, i n denen sein Fachgebiet steht, überschauen. Es ist besser, divergente Positionen ausdrücklich zu formulieren, als auf dem ungeklärten Boden der verschiedenen Positionen stehenzubleiben. Die Diskussion der Grundlagenfragen gibt ein B i l d der unterschiedlichen Positionen und liefert zusammen m i t der Analyse der Konsequenzen für die spezialwissenschaftlichen Auffassungen Hinweise für die Berechtigung dieser oder jener Grundeinstellung. Die Lösung der Probleme der Fachdisziplinen und die Meinungsdivergenzen i n Einzelfragen hängen weitgehend m i t den philosophischen Grundlagen der Konzeption zusammen. Es ist unzweifelhaft, daß die Diskussion der Grundlagenfragen neue — manchmal fruchtbare — Aspekte aufdeckt und daß man sich gelegentlich doch i n einigen Fragen einigt. Ich vertrete die These, daß der wissenschaftliche Mechanismus ein Zusammenspiel von philosophischer Grundlagenforschung und spezialwissenschaftlicher Forschung ist.
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C. Wesen und Aufbau des Rechts
Da ich m i r dessen bewußt bin, daß es i m Feld der vorliegenden Betrachtungen darum geht, Positionen zu bestimmen und ihre wissenschaftliche Tragfähigkeit und Tragweite zu erhellen, nicht u m die A u f findung endgültiger und unabrückbarer Wahrheiten, bitte ich den Leser, meine Thesen als Diskussionsthesen aufzufassen, auch dort, wo ich sie der Kürze halber apodiktisch formulieren werde. Sie mögen als Ergebnisse des philosophischen Suchens, als wahrheitsstrebig, nicht als sichere und unstrittige Erkenntnisse verstanden werden. Meine Überlegungen werden das Wesen der Norm, genauer gesagt den ontologischen Status der Norm, betreffen — wie dies schon der Titel des Aufsatzes genügend klar andeutet —, darüber hinaus möchte ich zeigen, w i e meine Auffassung der zwei Aspekte der Norm — ihrer Idealität als Gedankengebilde und ihrer gesellschaftlichen Realität — auch das Wesen und das Feld der Fragestellungen der Rechtswissenschaften bestimmt: die juristische Erkenntnis ist normologische Analyse ebenso wie Erkenntnis der soziologischen Realität des rechtlichen Sollens. Meine Untersuchungen sollen auch klarmachen, welche Rolle ich der Normenlogik und der modernen logischen Analyse im Gebiet der Rechtstheorie und i n den rechtsdogmatischen Disziplinen zuschreibe. 2. Basis und Ziel der ontologischen Wesensbestimmung
der Norm
Die ontologische Wesensbestimmung der Norm stützt sich naturgemäß auf die Betrachtung der Rolle der Normen i n den normativen Gebieten, insbesondere i m Gebiet des Rechts, der Moral, der Sitte und der wissenschaftlichen Ethik. Ich möchte aber eine so allgemeine Auffassung der Norm bringen, welche auch das Gebiet des Befehlens von Person zu Person, z.B. vom Vater zum Sohn, und intrasubjektives Normdenken und -wirken, sagen w i r das Feld des autonomen Sollens, mitumfaßt. Besonderheiten der verschiedenen Fälle und die verschiedenen Eigentümlichkeiten der einzelnen Normgebiete können als hinzutretende Momente oder Modifikationen erfaßt werden. Der Zweck meiner ontologischen Untersuchungen über die Norm liegt i n dem Bestreben zu erklären, wie die normenlogische Analyse m i t dem Erfassen der Rechtswirklichkeit — oder den i m Leben tatsächlich auftretenden Normensystemen — zusammenspielt. Die Klärung dieser Frage bildet nämlich den Ausgangspunkt einer philosophisch und logisch-methodologisch einwandfreien Normenlogik ebenso wie die gedankliche Basis einer wissenschaftlich begründeten und effektiven Anwendung der Normenlogik — und der logischen Analyse überhaupt — i n den Normengebieten der Praxis.
I. Die Norm als Gedanke und Realität 3. Die Idealität
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der Norm
Die Norm ist keine materielle Entität, nichts was direkt oder indirekt, etwa vermittelt durch Instrumente, wahrgenommen werden könnte. Die Norm ist zwar offenbar m i t dem Verhalten von Personen gekoppelt, sie bezieht sich auf das Verhalten von Menschen; das Handeln und Unterlassen der Menschen ist normrelevant; das Dasein der Normen, das Soll-Bewußtsein beeinflußt das menschliche Verhalten; die Regelmäßigkeiten des menschlichen Gebarens sind sicherlich Momente, die für die Entstehung von Normen nicht irrelevant sind 1 . Es ist aber zu unterstreichen, daß bloß aus dem Verhalten der Menschen die Norm niemals erkannt werden kann. Die Norm ist ein Gedanke, in dem Sinne wie dieser Terminus gebraucht wird, wenn man die Logik als Gedankenanalyse bezeichnet. Also ein Gedanke i m objektiven Sinne, unter Abstraktion von seelischen Vorgängen (deren Inhalte Gedanken i m objektiven Sinne sein können). Immer und überall, wo richtige logische Analyse betrieben wurde, geschah dies als Studium der Beziehungen zwischen Gedanken i m objektiven Sinne (oder zwischen sprachlichen Ausdrücken dieser Gedanken), aber wenigstens seit Husserls Logischen Untersuchungen (1900 -1901) ist es klar, daß logische Beziehungen nur unter Abstraktion von psychischen Akten studiert werden können. Dies gilt für alle denkbaren Gebiete der logischen Untersuchungen, für das Feld der Normen ebenso wie für die Aussagen. Gerade dies wurde aber gelegentlich beim Studium der Normen mißachtet. Die Vorstellung, daß das Sollen von der Willenseinstellung und Willensaktivität gewisser Subjekte abhängt, hat einige Denker dazu verführt, die Normen als W i l lensakte oder als Inhalt von Willensakten anzusehen. Die Voluntarität der Normen äußert sich in ihrer Spezifik — insbesondere den Aussagen gegenüber —, sie ändert aber nichts daran, daß diese spezifischen Gedanken logisch als objektive Gedanken, losgelöst von Akten erfaßt werden müssen und daß nur so eine Theorie der normenlogischen Beziehungen Zustandekommen kann. Die Norm ist sprachlich ausdrückbar, in einer natürlichen oder i n einer adäquaten Kunstsprache. Es kann aber sehr wohl ein Sollen (eine Norm) bestehen, welche nicht ausdrücklich formuliert ist (ζ. B. Gewohnheitsrecht, welches i m Rechtsbewußtsein lebt, aber gegebenenfalls niemals und nirgends ausdrücklich formuliert wurde). Sie kann aber grundsätzlich — wenn sie erfaßt w i r d — sprachlich ausgedrückt werden. Der Normgedanke i n sprachlicher Formulierung ist ein Kommunikat, das intersubjektiv übermittelt werden kann. Die praktische 1
heit.
Regelmäßigkeit des Verhaltens bedeutet aber noch keineswegs Gesollt-
7 Weinberger
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C. Wesen und Aufbau des Rechts
Rolle der Normen hängt gewöhnlich — da das Sollen meist heteronom fungiert — m i t der intersubjektiven Normkommunikation zusammen. Das Normmitteilen ist als Prozeß zu verstehen, der — durch Sprachausdrücke vermittelt — zu einem Normverstehen auf seiten des M i t teilungsempfängers führt. Das Verstehen der Norm ist, analog wie bei der Aussagenkommunikation, so zu deuten, daß das Ergebnis der Kommunikation — wenn sie einwandfrei ist und also ihr Ziel voll erfüllt — die Übereinstimmung des abgesandten Normgedankens des normsetzenden Subjekts und des verstandenen Gedankens bei dem Normsatzempfänger ist. Als Kommunikationsempfänger ist hierbei jedermann, der den Normsatz (die sprachliche Äußerung der Norm) aufnimmt und versteht, i n gleicher Weise denkbar. Der Normgedanke i m Geiste des Befehlenden, i m Geiste des Normadressaten, des Pflicht- oder Rechtssubjektes und des bloßen Normbetrachters (ζ. B. Rechtsgelehrten) muß als derselbe Gedanke m i t denselben logischen Beziehungen angesehen werden. Verwirrend und die normenlogische Analyse störend ist jede Unterscheidung zwischen dem Normgedanken (und Normsatz) auf verschiedenen Seiten der Kommunikationskanäle, sei es die Unterscheidung des Befehls i m Munde des Gesetzgebers und auf der Seite der Normadressaten nach der Zweiseitentheorie von Karel Englis 2 oder die Unterscheidung der Rechtssprache und der Juristensprache i m Sinne von Wróblewski 3. Die Norm, bzw. ihr adäquater sprachlicher Ausdruck, ist sinnvoll und an und für sich verstehbar, nicht bloß als Bestandteil anderer Strukturen, z.B. als Bestandteil der Normbegründung i m Sinne von F. Kaufmann 4 oder als verkürzter Ausdruck eines Motivationszusammenhanges i m Sinne von H. G. Bohnert 5 oder i m Sinne ähnlicher Lehren, die leugnen, daß die Normen selbständig sinnvoll sind. I m Bereich der Normen bestehen logische Beziehungen und Zusammenhänge, welche durch formale Regeln bestimmt werden können. Die logischen Konsequenzen aus Normen (gegebenenfalls aus Normen und Tatsachenfeststellungen) gelten immer zusammen m i t der Geltung der als Prämissen gesetzten Normen. Hier zeigt sich eine wichtige Brücke zwischen der Norm i n gedanklich-logischer Betrachtung und der Norm als Realität, wie ich unten noch näher ausführen werde. 2 EngliS, K . : Die Lehre von der Denkordnung, Wien 1961, S. 42 ff. » Wróblewski, B.: Jçzyk p r a w n y i prawniczy (Rechtssprache u n d Juristensprache), K r a k a u 1948. 4 Kaufmann, F.: Juristischer u n d soziologischer Rechtsbegriff, i n Gesellschaft, Staat u n d Recht (herausgegeben von A. Verdroß), Wien 1931. 5 Bohnert, H. G.: The Semiotic Status of Commands, Philosophy of Science, Vol. 12, 1945, S. 302 - 315.
I. Die Norm als Gedanke und Realität
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4. Die Spezifik des Normgedankens Die Eigenart des Normgedankens gegenüber anderen Gedankentypen kann gedankenanalytisch herausgearbeitet werden, indem man sich der einzelnen Momente dieser Spezifik bewußt wird, oder sie kann aus der eigentümlichen pragmatischen Funktion der Normsätze — insbesondere i m Vergleich m i t der pragmatischen Funktion der Aussagesätze — herausgelesen werden. I n der systematischen Darlegung der Normenlogik erscheint die Spezifik der Norm i n der Weise, daß der Normsatz (oder der normsatzbildende Operator) als primitiver Begriff genommen w i r d und solche Grundfestsetzungen eingeführt werden, welche die logische Eigentümlichkeit der Normsätze gegenüber anderen Sätzen des Systems sicherstellen. Ich glaube, daß man diese, die logisch-semantische Spezifik der Norm garantierenden Konstruktionspostulate für die Normenlogik i m wesentlichen folgendermaßen ausdrücken kann: 1. Der Normsatz ist i m System der Normenlogik ein vom Aussagesatz der Bedeutung nach unterschiedener Satz. Er kann nicht gleichbedeutend durch einen Aussagesatz wiedergegeben werden. Daher sind die Leerstellen der normenlogischen Formeln je nach dem semantischen Charakter differenziert, d.h. i m wesentlichen: i m System sind Normleerstellen und Aussageleerstellen (Normsatzvariable, Aussagesatzvariable) w o h l zu unterscheiden. 2. Die Folgerungsbeziehungen und Folgerungsregeln sind so zu bestimmen, daß i m System aus rein aussagenden Prämissen kein Normsatz ableitbar ist (Poincaré sches Postulat 6 oder Kelsens Grundsatz „Aus Sein folgt nicht Sollen" 7 ). 3. Enthalten die Prämissen nur Normsätze, aber keinen Aussagesatz, kann keine Aussagefolgerung abgeleitet werden 8 . Die Postulate 1 bis 3 erscheinen für die logische (syntaktisch-semantische) Unterscheidung der Normsätze notwendig, ob sie auch ausreichend sind, kann ich nicht m i t Sicherheit sagen. Das Studium der Pragmatik der Normen als Begründung der semantischen Spezifik der Normen zeigt, daß das richtige Erfassen der ideellen Natur der Normen m i t ihrer realen Wirkungsweise zusammenhängt. Sie erhellt aus der Rolle der Norm i n der Realität des menschlichen Lebens und Wirkens. β Poincaré , Η . : Letzte Gedanken (deutsche Übersetzung v o n K. Lichtenec/cer), Leipzig 1913. 7 Kelsen, H.: Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 5. [Die Auffassung Kelsens entspricht der Humeschen u n d Kantschen philosophischen Tradition.] 8 Vgl. Weinberger, O.: Philosophische Studien zur Logik, Prag 1964, S. 29. [Vgl. auch: Weinberger, Ch. u n d O.: Logik, Semantik, Hermeneutik, S. 35 f.]
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Diese Überlegungen sind natürlich keine Beweise i m streng technischen Sinne, sondern sie dienen zum Plausibelmachen unserer semantischen Konzeption der Norm. W i r sind uns i n der Praxis der Sinnspezifik des Sollens gegenüber rein beschreibenden Gedanken unmittelbar bewußt. I n der menschlichen Praxis — sowohl i m gesellschaftlichen Kontakt zwischen Menschen, gegebenenfalls zwischen dem einzelnen und verschiedenen Gruppen, als auch i n der individuellen ethischen Erwägung — ist das Bewußtsein, daß Sollgedanken Sinngebilde sind, die von anderen Gedankenarten verschieden sind, ziemlich klar. Die Sprache und ihre Theorie, die Grammatik, unterscheiden entsprechend dem Bewußtsein der semantischen Eigenart der Normen Normsätze (Befehlsätze, Ausdrücke von Normen) von Aussagesätzen. Der Gebrauch von Sprachausdrücken spielt im Leben der Menschen eine unterschiedliche Rolle — verschieden je nach dem Sinne der Ausdrücke und je nach der Situation, i n der sie angewendet werden. Die primäre pragmatische Funktion des Normsatzes ist die Bestimmung der Handlungsweise, die Motivation des Handelnden, die Koordination der Verhaltensweisen der Menschen in der Gesellschaft, die Schaffung von Ordnungen in menschlichen Gruppen; sekundär ist die Norm oder das Normensystem auch Wertungsmaßstab (mit der Orientierung, daß Erfüllen der Norm als gut, Nicht-Erfüllen als schlecht gewertet wird). Es ist zwar unleugbar, daß i n gewissen Situationen bestimmte Aussagen ebenfalls motivierend w i r k e n können. Wenn der Mitfahrer dem Wagenlenker sagt „ D u fährst auf die Hauptstraße", kann dies eine sehr ähnliche motivierende Funktion haben, wie die normative Aufforderung „Gib den Fahrzeugen auf der Straße, auf die du fahren wirst, den Vorrang". Der Unterschied läßt sich aber dennoch behavioristisch feststellen. Die Aussage muß nämlich gar nicht diese Motivationsrolle haben, sie kann auch zu anderem Verhalten motivieren, wenn eine andere Zieleinstellung da ist. Wenn man ζ. B. irgendwo anhalten w i l l , etwa u m Einkäufe zu machen, kann sie dazu motivieren, lieber auf der Nebenstraße zu parken, oder sie kann dazu anregen, nun schneller weiter zu fahren. Sie kann aber auch ohne motivierenden Einfluß bleiben, wenn diese Mitteilung nur besagt, daß die gesuchte Hauptstraße endlich erreicht wurde. Der Normsatz dagegen gibt durch seine Bedeutung direkt an, zu welchem Verhalten er anregen will. Aus der Aussage selbst ist keine Werteinstellung ablesbar, aus dem Normsatz wohl immer.
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Die Verhaltensforschung — sowohl i n individueller als auch i n soziologischer Perspektive — gibt also viele Möglichkeiten, die Spezifik der pragmatischen Funktion der Normen zu studieren. Es bestehen wesentliche gnoseologische Unterschiede, wie die Norm erfaßt w i r d und wie man zu Aussageerkenntnissen kommen kann. Die Norm kann nicht durch bloße Beobachtung der äußeren Realität erkannt werden. Wenn w i r z.B. sehen, daß der A dem Β einen bestimmten Geldbetrag übergibt, kann daraus nicht erkannt werden, ob er dadurch seine Pflicht erfüllt (ζ. B. eine Schuld bezahlt) oder verletzt (ζ. B. eine Bestechung vollbringt) oder ob er pflichtirrelevant handelt. Die Aussage kann direkt als A b b i l d der Wirklichkeit gnoseologisch begründet sein. Die Norm ist nur dann begründet, wenn etwas auf Grund eines Normensystems als gesollt erfaßt wird. I n der Sache selbst steckt nie i h r Gesolltsein oder Nicht-Gesolltsein; dies folgt nur aus dem Normensystem, von dem man ausgeht. 5. Die Norm als Realität Man kann Idealität und Realität i n so einer Weise begrifflich gegenüberstellen, daß es grundsätzlich, gleichsam ex definitione, sinnlos ist, von der Realität irgendwelcher Gedanken, also auch von der Realität der Norm (des Sollens) zu sprechen. Dies ist ζ. B. der Fall, wenn man die Realität m i t materiellem Sein gleichsetzt, d. h. als real das und nur das bezeichnet, was sinnlich wahrnehmbar ist oder m i t Hilfe physikalischer Instrumente wahrnehmbar gemacht werden kann. Da aber auch den sogenannten ideellen Entitäten i n gewissem Sinne Existenz oder Nicht-Existenz zugeschrieben werden kann, scheint es zweckmäßig, auch von der Realität idealer Entitäten zu sprechen, d. h. den Begriff des Realen so weit zu fassen, daß es sinnvoll wird, von der Realität ideeller Entitäten zu sprechen. Daß dies zweckmäßig ist, erhellt daraus, daß das Sein der ideellen Entitäten durchaus nicht ohne Zusammenhang m i t dem materiellen Sein ist. Ich glaube, daß die Anknüpfungspunkte zwischen ideellem Sein und der materiellen Realität i n zwei Momenten zu finden sind: i n den sogenannten Akten, d. h. materiell tatsächlichen Vorgängen m i t ideellem Inhalt (Seelenakten, Erkenntnisakten, Willensakten), und in der Tatsache, daß nicht nur materiellem Sein, sondern ideellen Entitäten zeitliche Koordinaten, d. h. eine zeitliche Bestimmung ihres Daseins, sinnvoll zugesprochen werden können. N i m m t man diese Terminologie an und w i l l man nicht i n phantastische metaphysische Spekulationen verfallen, sondern am Boden des klaren wissenschaftlichen Denkens bleiben, dann muß man das materiell-reale Sein von der ideell-seienden Realität absondern.
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Als real bezeichnen w i r alles, was Dasein i n der Zeit hat, wobei die Erkenntnisgründe und Daseinskriterien i n den einzelnen Sphären der Realität verschieden sein werden. Wenn es um materielles Realsein geht, w i r d sich die Erkenntnis letztlich auf Sinneserfahrung stützen, wenn ideelles Dasein betrachtet wird, w i r d sein Realsein einerseits durch die Bindung zur Sphäre der materiellen Realität begründet erscheinen, andererseits durch die Momente bedingt sein, welche die Idealentität als Bestandteil realen Geschehens, als etwas in der Zeit Daseiendes erfassen lassen. Es w i r d vielleicht auf manche Denker den Eindruck machen, daß diese Konzeption der Realität, welche auch den Idealentitäten reales Dasein zuerkennt, idealistisch sei oder zum Idealismus hinführe; ich glaube, das ist ein Grundirrtum. Erstens ist die Weite des Realitätsbegriffs Konventionssache; zweitens ist die materielle Realität auf dem Boden der hier akzeptierten Terminologie ebenso scharf hervorgehoben und von den Idealentitäten getrennt, wie wenn man nur das Materielle als real bezeichnet; drittens — und das ist wohl das Wichtigste — ermöglicht diese Konzeption die funktionalen Beziehungen zwischen der materiellen Realität und den Idealentitäten zu verstehen, die Einordnung der zum Sein der Menschen und der Gesellschaft gehörenden Idealentitäten in das Ganze des Daseins durchzuführen und Ideales und Materielles nicht auseinanderzureißen, sondern in ihren Wechselbeziehungen zu studieren. Gedankliche Entitäten können i n verschiedenem Sinne betrachtet werden. Ich kann z.B. eine Aussage rein als Gedankenstruktur und Bedeutungsgebilde auffassen und logisch analysieren. I n dieser Betrachtungsebene kann ich ζ. B. Widersprüche zwischen Gedanken (zwischen den sie ausdrückenden Sätzen) feststellen oder Folgerungen aus Prämissen (Annahmen) ziehen. Ich kann die Aussagen oder Aussagesätze als Ausdruck von Erkenntnisakten (als subjektgebundene Erkenntnisse) nehmen oder als Ausdruck von Erkenntnissen (im objektiven Sinne) über gewisse Sachgebiete verstehen. Fassen w i r Aussagesätze als Ausdruck der Erkenntnis gewisser Subjekte oder der Wissenschaft als solcher, dann kann ihnen eine zeitliche Bestimmung zugesprochen werden (unabhängig von den zeitlichen Bestimmungen des erkannten Vorgangs). Analoges gilt bei den Normen. Normsätze können i n der rein logischen Ebene verstanden werden, wenn w i r sie bloß als Ausdrücke von sinnvoller Struktur auffassen. W i r können sie als gesetzt verstehen, als Ausdruck des Wollens gewisser Subjekte (psychophysischer Personen — des Befehls des Vaters z. B. — oder nur begrifflich konstituierter Normsetzungsinstanzen — der staatlichen Rechtsnormen). I n
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diesem Sinne w i r d es dann berechtigt sein, von der Realität der Normen zu sprechen. Da dies eine Zentralfrage meiner Untersuchung ist, werde ich hier etwas mehr i n Details eingehen müssen, um die Arten des Realseins der Norm und die Kriterien, wann man Normen Realität zuerkennt, zu erläutern. Wenn ich vom Realsein und Dasein der Norm spreche, geht es nicht um den A k t , durch den die Norm gesetzt wird, nicht u m das Dasein einer Äußerung, welche die Norm ausdrückt, nicht u m das Wissen und Gebaren der Menschen, welche sich mehr oder weniger nach der Norm richten. Die Setzungsakte, der relevante Wille, der ein Sollen konstituiert, ist wohl unzweifelhaft eine Tatsache, der Grund für die Entstehung der Norm und ein Anzeichen für ihre Existenz, aber nicht identisch m i t der gesetzten Norm selbst. Dies ist schon aus der Tatsache ersichtlich, daß der setzende Willensakt andere zeitliche Koordinaten hat, als die gesetzte Norm. Der Normsetzungsakt hat i n der normologischen Analyse den Charakter eines Zeitpunktes, die gesetzte Norm hat ihr Dasein i n einem Zeitintervall, welches m i t dem Zeitpunkt der Normsetzung beginnt. Noch wichtiger ist die Tatsache, daß der A k t als solcher nicht i n die logischen Beziehungen eintritt, sondern nur die Norm, die durch den A k t konstituiert wurde. Die Norm führt zu Folgerungen, welche immer zusammen m i t der Norm selbst gelten» obwohl die Folgerungen nicht Inhalt des Aktes sind. Ebenso ist das Dasein des Norrnausdrucks nicht m i t der Realität der Norm — ich könnte vielleicht sagen, der Realgeltung der Norm — zu verwechseln, denn die Norm kann real gelten, ohne ausdrücklich formuliert zu sein (Gewohnheitsrecht), und der Ausdruck kann da sein, ohne zu gelten. I n gewissem Faktenkontext kann natürlich eine Normäußerung als Anzeichen des Daseins real geltender Normen verstanden werden. Auch das Verhalten der Normadressaten kann unter gewissen Umständen über das Dasein von Normen, über ihr Wirken oder NichtWirken, Aufschluß geben, doch ist das Verhalten der Subjekte nicht m i t dem Realdasein der Norm gleichzusetzen, kann es doch — wenn die Norm real gilt — normgemäß oder normwidrig sein, ohne daß diese entgegengesetzten Verhaltensalternativen das Dasein der Norm selbst bestimmen würden. Die Realität der Norm erscheint pragmatisch i n folgenden Momenten: Die Norm lebt i n der Sphäre des menschlichen Bewußtseins: Es gibt so etwas, wie ein Sollerlebnis, das Bewußtsein, daß etwas gesollt ist. Die Sitte, das Recht und andere Normensysteme werden von den Trägern dieser Systeme (nicht nur von den normsetzenden Organen) als gesollt erlebt (gewollt). Daneben gibt es Sollwissen, z.B. das Wissen
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über das Sollen nach einer gewissen Ordnung, wobei dieses Sollen nicht notwendigerweise auch vom Subjekt akzeptiert und (oder) gew o l l t werden muß. Das Sollen kann also i n zweierlei Weise einen Inhalt des Bewußtseins bilden: als Soll-Erlebnis, als Wollen des Gesollten, oder als Soll-Wissen, als Wissen, daß ein Sollen i n einer menschlichen Gruppe gilt, wobei das Subjekt dieses Gesollte gegebenenfalls selbst nicht will. Die Norm w i r k t als motivierendes Moment auf das menschliche Verhalten ein. Wie dies vor sich geht, ist durchaus nicht einfach. Es ist ein m i t dem menschlichen Dasein verbundener eigentümlicher Prozeß, der mehrschichtig verläuft. Das Normbewußtsein enthält Schemata von Verhaltensweisen, welche die Tendenz haben, sich i m Verhalten des einzelnen durchzusetzen, teils weil sie willentlich akzeptiert werden, teils auf Grund der Nachahmungstendenz in der menschlichen Gesellschaft, teils infolge Zwangsandrohung bei Normverletzung und wohl noch auf andere Weise. Die Auswirkung real geltender Normen auf das menschliche Verhalten i n der Gesellschaft darf begrifflich nicht auf die Frage der Erfüllung der Norm beschränkt werden. Die normativen Bestimmungen haben weitreichende sekundäre Einwirkungen auf das Verhalten des einzelnen und auf das Verhalten der Gesellschaft. Es sind nicht nur die wirtschaftlichen Bestimmungen, wie etwa die Festsetzung des Zinsfußes, die Einführung von Steuern, normative Eingriffe i n den Markt, welche verzweigte gesellschaftliche Auswirkungen m i t sich führen, die durchaus nicht bloß zwischen den Polen Normerfüllung und Normverletzung betrachtet werden dürfen, wenn man die gesellschaftliche Ausw i r k u n g der Norm i m Ganzen erkennen will. Grundsätzlich muß überall m i t verschiedenartiger Auswirkung der Norm gerechnet werden. Es ist Aufgabe der Rechtssoziologie, diese Auswirkungen zu registrieren. I n vielen Normenbereichen — am deutlichsten wohl i m Gebiet des Rechts — hängt das reale Dasein der Norm eng m i t der Existenz von gesellschaftlichen Institutionen, wie Verwaltungsbehörden, Gerichten, gesetzgebenden Organen usw., zusammen, deren Funktionieren der soziologischen Beobachtung zugänglich ist. Das auch i m materiellen Sinne beobachtbare Funktionieren und Wirken des Staatsapparates ist doch sicherlich ein hinreichender Grund, um durch sie das Realsein des Rechts zu erkennen. Das gesellschaftliche Realsein der Normen — nicht nur der Rechtsnormen, bei denen dieses Moment sehr ausgeprägt ist — zeigt sich auch klar in der Tatsache, daß normgemäßes und normwidriges Verhalten positive oder negative gesellschaftliche Folgen zeitigt. Die Gesellschaft (der Normschöpfer) reagiert auf Uberschreitungen der Norm; es treten
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Unrechtsfolgen auf, die im vornhinein normativ bestimmt sein können (ζ. B. Sanktionen i m juristischen Sinne), oder die nicht normativ geregelt sind. Diese gleichsam diffusen, nicht ausdrücklich bestimmten Folgen der Normübertretung sind die vorherrschenden Unrechtsfolgen i n den Systemen der Moral und der Sitte. Sie kommen aber auch i m Rechtsleben vor. Die Säumigkeit bei der Erfüllung der beruflichen Pflichten eines Beamten pflegt auch dann, wenn es sich nicht um direkt strafbare Fälle handelt, diffuse Sanktionen hervorzurufen, d. h. für den Säumigen Nachteile zur Folge zu haben, wie etwa Ausbleiben der Beförderung im Dienst u. ä. Pflichtgemäßes Handeln hat dagegen meist Folgen, welche als erwünscht angesehen werden. Sie können normativ ausdrücklich bestimmt sein oder nur unbestimmte Vorteilschancen sein 9 . 6. Die Rechtsordnung in gedanklicher und realer Perspektive Die Ontologie der Normen, ihr ideller und realer Aspekt, bestimmt die Betrachtungsweise der Rechtsordnung. Das Verstehen des Rechtsgeschehens als Rechtsdynamik ist eine Verknüpfung der Analyse der gedanklichen Beziehungen i m Rechtssystem m i t der Frage des Realseins der rechtlichen Ordnung. Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, das Rechtsleben dadurch zu erfassen, daß die normenlogischen Zusammenhänge zwischen den Rechtsakten und den Rechtsnormen verschiedener Schichten untersucht werden und diese ideell normenlogischen Beziehungen als gesellschaftlich real, d. h. als positives Recht erkannt werden. Die Theorie der Rechtsdynamik ist ein Versuch, das gesamte Rechtsgeschehen in logisierter Abbildung zu verstehen und darzustellen. I n der rechtsdynamischen Betrachtung w i r d die Geltung des Rechts aus den logischen Zusammenhängen i m Rechtssystem bestimmt und eine Rechtserkenntnis in zeitlichen Koordinaten ermöglicht. Die Geltungsbegründung fußt auf der normenlogischen Beziehung, deren Prämissen die Normen der Rechtsordnung und die relevanten Tatsachenfeststellungen sind. Die Form des logisierten Bildes des Rechtsgeschehens läßt sich in folgendem einfachen Grundschema darstellen, welches aber, je nach der Anwendungsgeschichte, nicht unwesentlich modifiziert werden muß: 9 Viele Juristen sehen n u r die verschiedenen A r t e n von Sanktionen (also die Unrechtsfolgen) als motivierende Kräfte. Ich glaube, dies f ü h r t zu einem sehr bedauerlichen Mißverstehen des Rechts. Das Recht ist durchaus nicht n u r repressiv motivierend. Seine H a u p t f u n k t i o n ist lenkend u n d organisierend u n d hierzu taugt die positive M o t i v a t i o n oft besser als Zwangsmaßnahmen.
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C. Wesen und Aufbau des Rechts Rechtsregel Tatsachenfeststellung Rechtsfolge
Dieses Schema ist — i n der den einzelnen Gebieten entsprechenden Ausgestaltung (siehe z.B. unten) — ein normenlogisches Folgerungsschema. Es dient zur Ableitung der Rechtsfolgen, d. h. i n der Rechtspraxis zur gedanklichen Gewinnung der abgeleiteten Norm (z.B. der richterlichen Entscheidung) ebenso wie zur Begründung der Geltung von generellen Rechtsregeln, welche i n der durch die Verfassung normierten Weise entstehen. Das oben angeführte Schema erfordert wohl i n erster Linie eine Spaltung, je nachdem ob die abgeleitete Norm automatisch aus der Rechtsregel und den relevanten Tatsachenfeststellungen entspringt, oder ob hier normbildende Willensakte m i t i m Spiel sind. Der erste Fall ist der logischen Struktur nach viel einfacher; der zweite ist interessanter, denn er umfaßt so wichtige Fälle wie die Gesetzgebung, das Rechtsgeschäft und die Rechtsentscheidungen. Ich kann mich hier nicht m i t allen Einzelheiten und Problemen der auf Willensakte bezogenen sekundären Normenentstehung befassen. Ich möchte nur auf zwei Besonderheiten dieser logischen Beziehungen hinweisen: a) Der Inhalt der tatsächlich vor sich gegangenen Willensakte w i r d hier i n die normative Folgerung rezipiert, b) Es kommt ein Ineinandergreifen der inhaltlichen Bestimmungen aus verschiedenen Normenschichten zustande, welche zusammen den Inhalt der abgeleiteten Norm determinieren, wenigstens rahmenartig. Die logisierte Betrachtung des Rechtsgeschehens ist i m wesentlichen eine Anwendung der ideellen Analyse des Rechts zur Beschreibung der rechtlichen Wirklichkeit. I n diesem B i l d treten neben Normsätzen, welche die Normenordnung ausdrücken, Tatsachenfeststellungen auf, welche die subsumierbaren Sachverhalte anführen (inklusive die relevanten Willensakte) und den Kontakt der Normendynamik m i t der sozialen Wirklichkeit auf allen Stufen des Rechtsgeschehens vermitteln. Die logisierte Beschreibung braucht noch einen fundamentalen A n knüpfungspunkt für die ganze Gedankeneinheit der Rechtsordnung zum Realen. Es muß diese Ordnung als gesellschaftlich reales positives Recht, d.h. als System m i t Faktizität, erkannt werden. Die Begründung der Faktizität kann wissenschaftlich strittig sein; es kann als Streitfrage betrachtet werden, welches die relevanten Kriterien der Faktizität sind. Ist es das Rechtsbewußtsein i n der Gesellschaft oder der Rechtswille der normsetzenden Instanzen oder der Rechtsgenossen, oder die Wirksamkeit der Rechtsordnung auf das Verhalten der Men-
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sehen i n der Rechtsgemeinschaft, die Anerkennung oder Unterwerfung der Pflichtsubjekte unter die Rechtsordnung, oder die Tatsache, daß Rechts- oder Unrechtsfolgen m i t großer Wahrscheinlichkeit als Folgen der Rechtserfüllung und Rechtsverletzung eintreten, oder ist es das faktische, i m großen und ganzen ordnungsgemäße Funktionieren der Staatsorgane? Jedenfalls sind aber die Momente, welche die Faktizitätsfrage zu beantworten erlauben, Momente des gesellschaftlichen Seins, sozial Tatsächliches, das nicht rein normenlogisch erkannt werden kann, sondern nur der soziologischen Erkenntnis zugänglich ist. A u f Grund dieser Erwägungen kommen w i r zu einer Konzeption der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis, die fordert, daß notwendigerweise zwei Seiten der Normen erfaßt werden müssen, das gedanklich Logische und sozial Wirkliche. 7. Der Charakter der Rechtswissenschaften Ein sachliches und ein pragmatisches Moment bestimmen die Rechtswissenschaften. Sachlich w i r d ihr Charakter bestimmt durch die besprochenen zwei Aspekte des Rechts, dem die Erfassungsweisen des Rechts entsprechen. Die Gestaltung der Rechtswissenschaften als Hochschuldisziplinen ist ferner weitgehend durch die praktische Funktion des Rechtsunterrichts an den Universitäten bedingt: das rechtswissenschaftliche Studium muß vor allem juristische Praktiker heranbilden. Diese praktische Aufgabe, welche die Jurisprudenz für das Rechtsleben zu erfüllen hat, Beamten, Richter, Advokaten usw. zu schulen, sie m i t der Materie des Rechtsinhalts bekannt zu machen, führt dazu, daß an den meisten rechtswissenschaftlichen Fakultäten die Rechtsdogmatik als Aufgabenfeld vorherrscht, und zwar i n der Absicht und Konzeption, die nur diesen pragmatischen Bedürfnissen dienen. Vom Standpunkt dieses Zieles ist das gedankenanalytische Erfassen der Rechtsnorm — die Auslegung der Rechtsquellen — das Wichtigste, während andere Momente etwas zurücktreten. I n rein wissenschaftlicher Absicht geht aber die Betrachtung tiefer und bietet dann auch eine besser begründete Rechtsdogmatik. W i r d die Rechtswissenschaft als Lehre verstanden, welche das Rechtsphänomen erfassen soll, dann w i r d die Analyse des Rechtsinhalts und der logischen Beziehungen i m Rechtssystem zu einem Instrument, welches das Recht und das Rechtsgeschehen gedanklich abbildet; dies leistet die Theorie der Rechtsdynamik, deren K e r n eine Verbindung von Normen und Tatsachen i n deren normologischer Beziehung ist. Die Rechtstheorie, welche das Rechtsphänomen erkennen w i l l — und nicht bei Schemen der logischen Beziehungen i n möglichen Systemen stehen bleiben w i l l 1 0 — muß das Realsein des Normensystems i n der
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sozialen Wirklichkeit studieren. Rechtswissenschaft ist also ohne Betrachtung der sozialen Realität — was dem Daseinsaspekt der Normen entspricht — nicht denkbar. Hauptsächlich unter dem nachhaltigen Einfluß der Reinen Rechtslehre hat i n manchen Kreisen der Rechtstheoretiker — mögen sie auch sonst von Kelsens Konzeptionen weit abgegangen sein — die Meinung festen Fuß gefaßt, daß die juristische Betrachtung des Rechts nur Verstehen und Interpretation des geltenden Rechts ist und daß alle Erwägungen über die sozialen Beziehungen, in denen das Rechtssystem steht, nicht Gegenstand der Jurisprudenz seien, sondern anderen Wissenschaften, wie ζ. B. der Rechtssoziologie oder der Rechtsgeschichte, zustünden, welche i n dieser Auffassung als von der Jurisprudenz scharf abgetrennte Wissenschaften angesehen werden. Die begriffliche Gleichsetzung von „juristisch" m i t „die Interpretation und Dogmatik des positiven Rechts betreffend (unter Ausschluß der Betrachtung der Beziehungen zwischen dem Recht als eines normativen Gedankensystems und der gesellschaftlichen Realität)" erscheint m i r als unzweckmäßig und unhaltbar. Für mich ist jede Betrachtung des Rechts juristisch, welche zum Verständnis des Rechts und zur Erklärung seines Wesens und seiner gesellschaftlichen Rolle führt. Hans Kelsen würde m i r sicherlich Methodensynkretismus vorwerfen — ich glaube jedoch zu Unrecht. Vorerst muß ich betonen, daß meine Grenzziehung zwischen normenlogischer Analyse und soziologischer Rechtsbetrachtung von der Kelsenschen verschieden ist, und ich muß meine Grenzziehung begründen. Die normologische Rechtsanalyse ist eine logisch-semantische Analyse, i n der die Positivitätsfrage des Systems nicht beurteilt werden kann. Positivität ist ein soziologisches, kein normenlogisches A t t r i b u t eines Normensystems. Eine Lehre vom positiven Recht ist also nicht bloße normologische Analyse, sondern auch ein Erfassen des Normensystems i n seinen gesellschaftlich realen Aspekten. Alle Kriterien, nach denen erkannt werden kann, ob ein normatives Gedankensystem eine positiv geltende Rechtsordnung ist, sind soziologischer Natur. N i m m t man eine korrekte Abgrenzung der logisch-semantischen Analyse des Rechts von dem Studium seiner gesellschaftlich realen Momente, zu denen die Positivitätsfrage gehört, vor, dann zeigt es sich, daß eine Theorie des positiven Rechts ohne Studium der Daseinsaspekte der Norm in der Gesellschaft nicht möglich ist. 10
Logische Beziehungen sind n u r jene, die durch das allgemeine formale Schema ausgedrückt werden.
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Die Spezifik der normologischen Analyse bleibt i n der von m i r vertretenen Konzeption erhalten. Ich habe sie i n allen meinen Arbeiten über Normenlogik und Rechtslogik eindringlich unterstrichen. Der Vorwurf des Methodensynkretismus t r i f f t mich aus folgenden Gründen nicht. Ich unterscheide scharf — schärfer als Kelsen, der die ihrem Wesen nach soziologische Frage der Positivität (Faktizität) i n die normologische Analyse einschließt — zwischen den normenlogischen Beziehungen und der Frage des gesellschaftlichen Daseins der Normen und des rechtlichen Geschehens. Ich unterscheide zwischen den Betrachtungsweisen des Rechts, indem ich auf rechtsnormologische Fragen nie soziologisch antworte, und umgekehrt. Ich bin aber davon überzeugt, daß der Jurist auch solche Fragen stellen muß, welche das gesellschaftliche Dasein des Rechts, seine Wirkungsweise in der Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Recht und Gesellschaft betreffen. Es sind dies meiner Meinung nach juristische Fragen. Dieser Standpunkt erscheint auch deswegen notwendig, da die Rechtsdynamik auf allen Stufen m i t dem tatsächlichen Geschehen i n Kontakt steht. Vergleiche das oben angeführte Schema, in dem neben normativen Prämissen immer auch Tatsachenprämissen auftreten. 8. Die Normenlogik
als Hilfswissenschaft
der Rechtswissenschaften
Normenlogische Analysen wurden von verschiedenen formalistisch orientierten Rechtstheorien, insbesondere von der Wiener und Brünner Schule der Reinen Rechtslehre als juristische Theorie par excellence aufgefaßt. Ich sehe die Beziehung zwischen der Normenlogik und den Rechtswissenschaften anders. Die Normenlogik muß als Zweig der Logik i n formaler Allgemeinheit aufgebaut werden, nicht als Teil der Rechtstheorie. Sie bildet die formale Basis der Argumentationen in allen Normenwissenschaften, nicht nur in den Rechtswissenschaften. Vom Standpunkt der Rechtswissenschaft aus gesehen, erscheint die Normenlogik als grundlegende Hilfswissenschaft, in ähnlicher Weise, wie die Mathematik eine grundlegende Hilfswissenschaft für die Physik ist. Die Normenlogik greift tief in die Arbeit des Juristen ein; sie ist vielfach für die Klärung und Lösung rechtswissenschaftlicher Probleme entscheidend. Dies w i r d evident, wenn man bedenkt, was für eine zentrale Rolle ζ. B. die Begriffe des Rechtssatzes, der Rechtsdynamik, des Stufenbaues, der Instanzenbeziehungen und der Begründung von Rechtsakten haben, und daß dies alles Begriffe sind, deren Studium von der logischen Analyse wesentlich abhängt.
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I n der Methode des Aufbaues der Normenlogik gibt es nicht unwesentliche Unterschiede. Die einen versuchen einen rein axiomatischen Aufbau, meist i n Anlehnung an Systeme der Modallogik; andere Forscher versuchen eine Reduktion der normenlogischen Problematik auf die üblichen Formalismen des Aussagengebiets; oder man versucht auf Grund einer kritischen Untersuchung der Denkpraxis i n den normativen Bereichen eine adäquate Normenlogik als rationale Rekonstruktion dieser Denkpraxis zu schaffen. Dies ist i m wesentlichen mein Standpunkt, der auch der Tatsache gerecht wird, daß die Weiterentwicklung der Normenlogik m i t den Problemstellungen der Normenwissenschaften weiter wächst und für diese neuen Aufgaben neue logische Formalismen schaffen muß. Die heutige Fragestellung der Normenlogik halte ich also für durchaus nicht beendet. Es werden neue formal-normenlogische Probleme studiert werden müssen. z.B. die Theorie der De-lege-ferenda-Erwägung, die Logik der gestuften Normensysteme 11 usw. Die exakte Analyse der formal-logischen Beziehungen führt auch zur Abhebung jener Teile des juristischen Denkens, welche man nach Ch. Perelman als rationale rhetorische Argumentation bezeichnen kann. Wenn die formale Logik richtig gehandhabt wird, ist es i h r gar nicht eigen, ihre Kompetenz zu übersteigen, sondern i m Gegenteil, die logische Schärfe weist anderen Momenten ihren gebührenden Platz zu. Abschließend möchte ich meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß es vielleicht i n erster Linie die Fortschritte i m Bereich der Normenlogik und die moderne Ausgestaltung der logischen Analyse des Rechts sein werden, welche die nächsten Schritte und den Charakter der Rechtstheorie bestimmen werden. Die moderne Logik reift langsam zur Bewältigung dieser Aufgabe. Sie w i r d aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie die gedankliche Analyse der Normen rein isoliert darstellen wird, gleichzeitig aber auf die Notwendigkeit hinweisen wird, daß das Realdasein der Rechtsnormen soziologisch betrachtet werden muß.
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Die bisherigen Systeme der Normenlogik betrachten die Normen ohne Relevanzschichtenunterscheidung. V o n den wenigen Versuchen eine Normenhierarchie i n der Normenlogik zu erfassen, können w i r absehen, da sie nicht erfolgreich waren.
C/II. Über die Offenheit des rechtlichen Normensystems* Professor Walter Wilburg ist weithin berühmt als der Schöpfer der die Zivilistik und Rechtstheorie befruchtenden Idee des beweglichen Rechtssystems1. Anstelle absoluter Prinzipien, welche die Rechtsentscheidung durch bloße Subsumtion bestimmen, setzt er i n seiner Konzeption des beweglichen Systems die Bestimmung der Rechtsmeinung für Falltypen und für die Entscheidung des Einzelfalls durch eine offene Mehrheit von Kriterien, welche als Momente und bestimmende Elemente fungieren. Diese Auffassung der normativen Determination des Rechts i n Form von relevanten Beurteilungsmomenten ist primär für die wichtigsten bürgerlich-rechtlichen Normierungen gedacht; sie bezieht sich meines Erachtens ebenso auf eine Reihe anderer analog strukturierter Bereiche. Diese Konzeption ermöglicht nicht nur die gleichzeitige Berücksichtigung einer Pluralität von Gesichtspunkten bei der rechtlichen Wertung, sondern auch, daß das Recht „ohne Verlust seines inneren Haltes die Eignung erlangt, die vielfältigen Kräfte des Lebens i n sich aufzunehmen" 2 . Das Gewicht und die wissenschaftliche Bedeutung dieser Lehre sind unbestritten. Die Deutung und die abgeleiteten Konsequenzen für die juristische Methodologie sind jedoch unterschiedlich. Die einen, für die Theodor Viehweg als der markanteste Vertreter angeführt sei, sehen i n Wilburgs Konzeption eine der topischen Jurisprudenz verwandte Geisteshaltung, welche die Systematisierbarkeit der Jurisprudenz (oder genauer gesagt: der juristischen Argumentation) ablehnt und sich an eine nichtsystematisierte Vielfalt von Gesichtspunkten hält 3 . Diese Thesen verbindet Viehweg m i t der antilogischen Einstellung, die aus der Vorstellung resultiert, logische Beziehungen seien an Axiomatisierung gebunden und nur für Disziplinen von mathematischem Typus, nicht aber für die Jurisprudenz adäquat 4 . Die anderen, vor allem Gerhard Otte versuchen Wilburgs Idee als strukturtheoretisches Problem zu erfassen, das durchaus keine Einschränkung der logischen Rationalität * Dieser Beitrag ist i n der Festschrift f ü r Walter W i l b u r g zum 70. Geburtstag erschienen. ι Wilburg [1], [2]. 2 Wilburg [2], 22. s Viehweg [1], 74 ff. 4 Weinberger [4],
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des juristischen Denkens impliziert, sondern die Aufgabe stellt, einen für die von Wilburg klargelegte methodologische Situation adäquaten logischen (strukturtheoretischen) Apparat zu schaffen 5. Ich glaube, daß Ottes Lehre von den komparativen Normsatzstrukturen i m wesentlichen die adäquate Basis bildet. Ich halte die logisierenden Bestrebungen für fruchtbar und orientiere meine Untersuchung ganz auf diese Zielsetzung hin. Die folgenden Überlegungen werden in Bereiche einzudringen versuchen, die die theoretischen oder, genauer gesagt, die normenlogischen Fundamente einer Reihe von rechtstheoretischen Fragen — unter ihnen auch die Idee des beweglichen Systems — betreffen. Die Frage der Offenheit von Normensystemen, insbesondere der Rechtssysteme, ist in dem Sinn eine theoretische Vorfrage der Konzeption des beweglichen Systems, als in Betrachtungen über die Offenheit des rechtlichen Normensystems allgemein die Determination in geschichteten Normensystemen erörtert wird. Ich bin m i r dessen bewußt, daß meine Überlegungen den Charakter von Diskussionsanregungen haben. Dennoch bitte ich den Jubilanten, dessen Sinn für suchende Analysen ich besonders schätze, diese Festgabe trotz ihres tentativen Charakters wohlwollend entgegenzunehmen. 1. Der Begriff
der Offenheit von Normensystemen
Der Begriff der Offenheit ist in gleichem Maße entscheidend für die Normenlogik 6 wie für die juristische Methodologie. Eine Menge von Normsätzen, die ein System bilden, kann aufgefaßt werden als Ausdruck eines Willenssystems 7 . Als System unterliegt es der logischen Forderung der inneren Widerspruchsfreiheit. Das in der Normsatzmenge ausgedrückte 8 Sollen (gegebenenfalls Dürfen) stellt Stellungnahmen zu gewissen bestehenden oder möglichen Sachverhalten dar und fordert gewisse Verhaltensweisen (Tun oder Unterlassen). Die normativ ausgedrückten Stellungnahmen sind Ausdruck einer Einstellung des Systems (oder des Trägers des Systems, ζ. B. des Staa5 Otte [1], [2]. 6 A u f das Problem der Offenheit von Normensystemen u n d die Bedeutung der Frage f ü r die Normenlogik wurde — zwar i n anderer Terminologie — vielleicht zum erstenmal i n Weinberger [1] hingewiesen. 7 Der Terminus „ W i l l e " ist hier i m nicht-psychologistischen Sinne zu verstehen; er dient n u r zur E r k l ä r u n g des spezifischen Sinnes des Systems: es ist nicht tatsachenbeschreibend, sondern verhaltenslenkend u n d wertend. 8 Unsere strukturtheoretischen Überlegungen betreffen gleichfalls Normen gewohnheitsrechtlicher Natur, denn diese sind — wenn sie auch oft nicht formuliert sind — wenigstens grundsätzlich formulierbar.
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tes, dessen Rechtsordnung das betrachtete Normensystem ist). Die durch die Normsatzmenge ausgedrückten Stellungnahmen sind für die Einstellung des Systems (seines Trägers) charakteristisch, sie repräsentieren aber nicht immer die Gesamtheit der aus der Willens- und Werteinstellung des Systems resultierenden Stellungnahmen. Wenn ein System zu den Sachverhalten pi, p2, . . . pn Stellung nimmt, ist die der Einstellung des Systems entsprechende normative (mögliche) Stellungnahme zu einem Sachverhalt q, der von pi, p2, . . . pn verschieden ist, nicht bestimmt (offen). Es ist aber nicht notwendig der Fall, daß q für das System irrelevant ist. Selbst wenn keine ausdrückliche Stellungnahme vorliegt ( wobei auch Gewohnheitsrecht als ausdrückliche Stellungnahme anzusehen ist), darf nicht geschlossen werden, daß q für das System wertneutral ist. Es muß also unterschieden werden zwischen der Einstellung des Systems und den geäußerten Stellungnahmen. Nicht alles, was (gegebenenfalls latent) Willens- und Werthaltung des Systems ist, w i r d i n der vorliegenden Normsatzmenge (inklusive dem Gewohnheitsrecht) zum Ausdruck gebracht. Man kann zwischen folgenden Sphären von Sachverhalten — je nach den normativen Beziehungen einer normativen Ordnung zu den denkbaren Sachverhalten — unterscheiden: a) dem Feld von möglichen Sachverhalten, zu denen das Normensystem ausdrücklich Stellung nimmt, d. h. die ausdrücklich geboten, verboten oder erlaubt sind (Willensfeld des Systems); b) dem Feld der möglichen Sachverhalte, zu denen zwar keine ausdrückliche Stellungnahme vorliegt, die aber für die Stellungnahme nicht irrelevant sind (potentielles Willensfeld des Systems); c) dem Feld der möglichen Sachverhalte, die für eine Stellungnahme des Systems nicht i n Frage kommen (Irrelevanzfeld des Systems) 9. Die Feststellung und Abgrenzung der Felder b) und c) w i r d i n der Praxis gewöhnlich problematisch sein, grundsätzlich ist aber die begriffliche Unterscheidung dieser Felder berechtigt. Diese Unterscheidung der möglichen Sachverhaltsbereiche ist durchaus keine bloß spekulative Konstruktion, sondern eine Betrachtungsweise, die der Strukt u r des Rechts entspricht. Der Begriff des offenen Normensystems stützt sich auf die Tatsache, daß unterschieden werden kann zwischen der Gesamtheit der Einstellungen des Normensystems und dessen ausdrücklichen Stellungnahmen, die i n den Normsätzen sprachlich formuliert sind. I n offenen Normensystemen gibt es neben den sprachlich ausgedrückten Stellungnahmen ® Weinberger 8 Weinberger
[3], 326 ff.
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auch latente oder potentielle normative Stellungnahmen, die aus der Einstellung des Systems resultieren, die aber nicht formuliert vorliegen. Ein Normensystem SN ist ein offenes Normensystem genau dann, wenn potentielle Stellungnahmen, die aus der Einstellung des Systems SN resultieren, i n Rechnung gezogen werden. M i t anderen Worten: Die Offenheit des Normensystems besteht darin, daß das potentielle W i l lensfeld nicht leer und daß i n bezug auf mögliche Sachverhalte des potentiellen Willensfeldes des Systems SN die normative Bestimmung offen ist. Man darf aus der Tatsache, daß ein Sachverhalt in keinem Normsatz der Normsatzmenge erwähnt ist, weder schließen, daß er für SN normativ irrelevant ist, noch, daß er eine bestimmte normative Qualifikation (geboten, verboten, erlaubt, indifferent) besitzt. Ich muß besonders unterstreichen, daß der Begriff des potentiellen Willensfeldes und die Überlegungen über die grundsätzliche Offenheit des Normensystems nicht das geringste m i t Naturrecht gemein haben. Latente oder potentielle normative Stellungnahmen sind durchaus positiv-rechtlich zu verstehen. Ich glaube, daß Normensysteme grundsätzlich als offen angesehen werden müssen. Die Normsatzmenge drückt bloß einen Teil der aus der Einstellung des Normensystems (oder seines Trägers) resultierenden Stellungnahmen aus. Es kann nur — als besonderer Fall — eine ausdrückliche abschließende Stellungnahme gesetzt werden, die i m wesentlichen den Sinn hat: „ A l l e anderen Sachverhalte sind für SN irrelevant", oder eingeschränkter: „ A l l e anderen Sachverhalte haben keine normativen Folgen der i n Rede stehenden A r t 1 0 . " 2. Die logischen Konsequenzen der Offenheit der Normensysteme M i t der Unterscheidung zwischen Willensfeld und potentiellem W i l lensfeld sowie m i t der Konzeption der Normenordnung als grundsätzlich offenem System sind wichtige logische und methodologische Konsequenzen verbunden. Die Problematik kann vielleicht am besten durch eine Diskussion der These „Was nicht verboten ist, ist erlaubt" aufgerollt werden. Zweifellos erscheint der Satz prima facie plausibel; Zweifel kommen erst bei tieferen Überlegungen auf. V o n dieser S t r u k t u r ist der Abschluß des materiellen Strafrechtes durch den Grundsatz „ n u l l a poena sine lege praevia". Vgl. A r t . I V Kundmachungspatent zum Strafgesetzbuch Nr. 117/1852; A r t . 7 Konvention zum Schutze der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten (BGBl. Nr. 210/1958).
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Sicherlich gilt „Was verboten ist, ist nicht erlaubt". Ein System, welches etwas unter denselben Bedingungen gleichzeitig verbieten und ausdrücklich erlauben würde, enthielte einen logischen Widerspruch. „Nicht erlaubt" w i r d i m Deutschen gelegentlich als Ausdruck eines Verbots verwendet. Wegen der Verschiedenheit des Bezugsgegenstandes — ob er zum Willensfeld oder potentiellen Willensfeld gehört — darf aber „nicht erlaubt" nicht als Synonym von „verboten" angesehen werden. I n einem widerspruchsfreien Normensystem gilt von jedem Sachverhalt ρ des Willensfeldes: a) Wenn ρ geboten ist, ist ρ erlaubt. (Die Umkehrung gilt nicht: ρ kann erlaubt sein, ohne geboten zu sein.) b) Wenn ρ verboten ist, ist ρ nicht erlaubt. (Wegen der Beschränkung der Werte von ρ auf das Willensfeld gilt auch: Wenn ρ nicht erlaubt ist, ist ρ verboten.) c) Wenn ρ erlaubt ist, ist ρ nicht verboten. (Da ρ Element des W i l lensfeldes ist, ist es ausdrücklich erlaubt oder erlaubt, weil es sogar geboten ist.) d) Wenn ρ geboten ist, ist ρ nicht verboten (und umgekehrt: Wenn ρ verboten ist, ist ρ nicht geboten.) W i r d aber nach dem Grundsatz — der dann als logische Regel angewendet w i r d — „Was nicht verboten ist, ist erlaubt" geschlossen, daß ein beliebiger Sachverhalt p, weil er nicht ausdrücklich verboten ist, erlaubt ist, dann übersieht man die oben angeführte Beschränkung der Werte der Variablen ρ auf das Willensfeld. I n Anbetracht der grundsätzlichen Offenheit des Normensystems gilt nicht für jedes Verhalten p, daß es, wenn es nicht ausdrücklich verboten ist, immer erlaubt ist. Die Folgerung der Erlaubtheit aus dem Nichtbestehen eines Verbots ist keine logisch gültige Konsequenz. „Was nicht verboten ist, ist erlaubt" ist kein Grundsatz der Logik — soweit Offenheit des Normensystems angenommen w i r d —, denn das „was" können auch Sachverhalte des Möglichkeitsfeldes sein, deren normative Bewertung offensteht; auch wenn sie nicht ausdrücklich verboten sind, können sie unzulässig sein. Es ist zu unterscheiden: Willensfeld-Erlaubnis (d.h. das, was ausdrücklich durch Erlaubnissätze erlaubt ist, oder was erlaubt ist, weil es sogar geboten ist) und das Nicht-Verbotene, d. h. das Erlaubt-Sein i m Sinne des Nicht-ausdrücklich-verboten-Seins. I m Bereich der Sachverhalte des Willensfeldes gelten gleichzeitig die beiden Grundsätze: 8*
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„Was nicht verboten ist, ist erlaubt" und „Was nicht erlaubt ist, ist verboten", denn i n diesem Bereich ist über jeden Sachverhalt ρ entschieden, ob er erlaubt oder verboten ist. „Erlaubt — verboten" ist i m Willensfeld eine disjunkte und erschöpfende Alternative, denn von jedem Sachverhalt ρ des Willensfeldes gilt genau eines: er ist erlaubt oder aber: er ist verboten. Der Grundsatz „Was nicht verboten ist, ist erlaubt" ist aber für die juristische Methodologie gerade dann interessant, wenn er nicht auf das Willensfeld beschränkt ist, und er w i r d auch i m allgemeinen so verstanden. Er soll eine A n t w o r t auf die Frage geben, was rechtens ist, wenn über ein gewisses mögliches Verhalten nichts bestimmt ist, insbesondere wenn es nicht ausdrücklich verboten ist. Dann kann das Dürfen als präsumtive Annahme gesetzt werden, doch sicherlich nicht absolut. Es bleibt immer die Möglichkeit der latenten (oder potentiellen) Stellungnahme zu diesem Sachverhalt offen, die ihn zu einem verbotenen machen kann. Die präsumtive Einstellung, daß alles erlaubt ist, was nicht verboten wurde, ist Ausdruck einer rechtspolitischen Auffassung, das Recht sei möglichst nur soweit beschränkend, als dies nötig und (oder) explizit geworden ist. Wegen der Offenheit der Normensysteme ist aber „Was nicht verboten ist, ist erlaubt" kein logischer Grundsatz. Könnte nicht auch der umgekehrte Grundsatz, d.h. die Präsumtion „Was nicht erlaubt ist, ist verboten", als über das aktuelle Willensfeld hinausreichender Grundsatz angenommen werden? Da der entgegengesetzte Satz kein logischer Grundsatz ist, könnte dies als möglich erscheinen. Eine einfache Überlegung 1 1 zeigt, daß dies zu einem widersprüchlichen System führen würde, sobald wenigstens ein Sachverhalt existierte, zu dem und zu dessen Negat die Normenmenge des Systems nicht ausdrücklich Stellung genommen hätte. Wäre r so ein Sachverhalt, dann müßte man schließen, daß r verboten ist und daß auch non-r verboten ist (q. e. d.) 12 . 3. Übersicht über die mit der Offenheit zusammenhängenden rechtsmethodologischen Probleme Es gilt nun die juristischen Folgen dieser normenlogischen Betrachtungen zu studieren. Ich werde hier folgende Problemkreise behandeln: 11 Sie stammt von Ziembirtski [1] (zitiert aus dem Gedächtnis, da ich das Buch nicht mehr besitze). 12 Der Schluß auf die Erlaubtheit bei Nicht-Bestehen der Verbote von r u n d non-r f ü h r t deswegen nicht zu analogen Schwierigkeiten, w e i l „ r ist erl a u b t " m i t „ n o n - r ist erlaubt" durchaus verträglich ist.
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Rechtsfreier Raum und potentielles Willensfeld (Abschnitt 4) Offenheit und semantische Unbestimmtheit (Abschnitt 5) Entscheidungsdetermination i m potentiellen Willensfeld (Abschnitt 6) Bewegliche Determination des Sollens (Abschnitt 7) Normen vom Typus des § 7 A B G B und das Non-liquet-Problem (Abschnitt 8) 4. Rechtsfreier
Raum und potentielles Willensfeld
a) Rechtsfreier Raum als Tatsache Zweifellos gibt es zu jeder Zeit und i n jedem Rechtssystem Sachverhalte und menschliche Verhaltensweisen, die rechtlich nicht reguliert sind. I n diesem Sinn ist der rechtsfreie Raum eine Tatsache. Auch wenn man v o l l anerkennt, daß das Recht nicht alles durch seine Normierung regelt, kann man ζ. B. m i t Radbruch das Bestehen eines echten rechtsfreien Raumes i n der Weise leugnen, daß man 1. die rechtliche Ordnung als wesenhaft universal erklärt und 2. das rechtlich nicht Geregelte als vermöge des rechtlichen Willens ungeregelt ansieht 13 . Das Recht ist insoweit universal, als es grundsätzlich selbst bestimmt, was es zum Gegenstand der rechtlichen Regulierung macht und was nicht. Soweit ist Radbruch zuzustimmen. Ist es aber richtig und sachadäquat, alles nicht ausdrücklich Normierte als aus dem Willen des Rechts heraus unnormiert und freigestellt anzusehen? G i l t der Schluß von „nicht geregelt" (es besteht kein gültig kreierter Normsatz, daß ρ sein soll), auf „gewolltermaßen freigestellt" (es besteht willentliche Freistellung von p)? Es erscheint m i r i m Gegenteil für jedes Normensystem zuzutreffen, daß es nur zu einem Ausschnitt aus der Menge aller möglichen Sachverhalte Stellung nimmt, nicht zu allen denkbaren. Das folgt aus der Unbegrenztheit der Menge möglicher Sachverhalte und aus der Begrenztheit jeglichen Wollens und jeglicher normativer Setzung. Es ist also eine Tatsache, daß für jedes (rechtliche) Normensystem jederzeit ein norm- resp. rechtsfreier Raum besteht, mag auch das System keine von außen gesetzten Grenzen dafür haben, was es regeln kann. Zu jedem Rechtssystem gehört ein Irrelevanzfeld als wenigstens zur Zeit absolut rechtsfreier Raum. Die von der Normsatzmenge des SyRadbruch [1], 298. I n ähnlichem Sinne auch Kelsen [1], 251 ff. et passim, dessen Überlegungen sich hauptsächlich auf den als logisch selbstverständlich angesehenen Grundsatz „Was nicht verboten ist, ist erlaubt" berufen.
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stems nicht erwähnten Sachverhalte gehören teils zum potentiellen Willensfeld, teils zum Irrelevanzfeld. Die Grenze ist unbestimmt und veränderlich, ebenso wie die Grenze zwischen ausdrücklichem und potentiellem Willensfeld. b) Rechtsfreier Raum als rechtspolitisches Postulat Es läßt sich nicht ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Situation sagen, was rechtlich geregelt und was grundsätzlich rechtsfrei gehalten werden soll. Immer erscheint aber das Postulat berechtigt, demzufolge der Gesellschaft und dem einzelnen weite Räume zu geben sind, i n die das Recht nicht eingreift und die daher auch keiner rechtlichen Regulierung unterliegen. Wie weit das Recht eingreifen muß, was es der Lenkung durch andere Normensysteme oder der freien Entscheidung der Subjekte überlassen soll, w i r d immer Gegenstand des rechtspolitischen Meinungsstreits bleiben 1 4 . c) Normative Selbstbeschränkung des Rechts Dem Postulat nach rechtsfreiem Raum kann die Rechtsordnung durch Selbstbeschränkung Rechnung tragen, und zwar i n zweierlei Weise: 1. dadurch, daß sie gewisse Beziehungen des Lebens einfach nicht normiert, oder 2. durch normative Selbstbeschränkung, indem sie Freiräume normiert und diese gegebenenfalls durch Verfassungsqualifikation der entsprechenden Normen auch für die Zukunft relativ sichert. Auch Kompetenzschranken und der Rechtlichkeitsgrundsatz, nach dem Gericht und Verwaltung nur auf Grund des Rechts vorgehen dürfen, führen zu Selbstbeschränkungen der Rechtsordnung. 5. Offenheit und semantische
Unbestimmtheit
Ich habe die grundsätzliche Offenheit der rechtlichen Normenordnung aus der begrifflichen Differenz zwischen den i n einer Normsatzmenge ausgedrückten expliziten Stellungnahmen und der dem System zugrunde liegenden Einstellung — man kann sagen: seiner axiologischen und teleologischen Charakteristik — hergeleitet. Hart hat i n dem Buch „Der Begriff des Rechts" gezeigt, daß die Rechtsordnung — sowohl wenn sie auf Präzedenzrecht beruht, als auch wenn sie gesetzesrechtliche Form hat — aus semantischen Gründen als System m i t open texture (mit offener Struktur) anzusehen ist 1 5 . W i r d die Beurteilung eines Falles auf eine Präzedenzentscheidung gestützt, ist insbesondere die Frage der relevanten Momente und deren 14 Z u r Frage der rechtspolitischen Auseinandersetzungen über den rechtsfreien Raum siehe Engisch [1]. is Hart [1], 173 ff., insbes. 178 (englisch: 121 ff.).
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Gleichheit in beiden Fällen — des Präzedenzfalls und des zu beurteilenden Falles — jener Punkt, wo das Recht offen ist. Wertender Beurteilung unterliegen: a) die Frage, was beim Präzedenzfall die entscheidenden Momente sind, d. h. die Kriterien der Beurteilung, die ratio decidendi, b) die Frage der Gleichheit der beiden Fälle i n diesen Punkten, c) die Frage, ob nicht beim zu beurteilenden Fall differenzierende Momente hinzutreten, durch die er sich i n rechtsrelevanter Weise vom Musterfall unterscheidet. Beim Gesetz ist die semantische Unbestimmtheit i n der Sprache verankert; Termini, welche Erfahrungsgegenstände betreffen, haben i n der Regel einen Bedeutungshof und sind umfangsmäßig unscharf. Die vernünftige Bestimmung der Reichweite genereller Normen ist nicht linguistisch ableitbar, sondern abhängig vom Tatsachenkontext, von Umständen, die nicht i n ihrer Gesamtheit vorhersehbar sind. Mag auch i n den Kernfällen der den Rechtsregeln unterliegenden Sachverhalte eindeutige Bestimmbarkeit vorliegen, so gibt es doch an den Grenzen immer offene Felder für juristische Stellungnahmen. Die semantische Unbestimmtheit impliziert eine gewisse Offenheit der Rechtsordnung, die auch ihre Adaptionsfähigkeit bedingt. Die semantisch offene Struktur der Rechtsordnung ist nur ein Teil der Offenheit des Rechtssystems. Daneben resultiert sie aus Ermessensspielräumen verschiedener A r t , aus beweglichen Bestimmungen und aus Entscheidungsermächtigungen vom Typus des § 7 ABGB. Die Hartschen Überlegungen zeigen aber klar, daß nur eine Logik der offenen Normenordnung eine adäquate Basis für die Rechtstheorie und die juristische Methodenlehre bieten kann. 6. Entscheidungsdetermination
im potentiellen Willensfeld
Wenn man die Analyse der rechtlichen Normenordnung nicht auf Betrachtungen über die explizite Normsatzmenge beschränkt, muß man die Argumentationen untersuchen, durch die die latenten und potentiellen Stellungnahmen, die aus der Einstellung des Systems resultieren, determiniert werden. Als die wichtigsten bestimmenden Momente gelten: Interpretation, Analogie, Zweck- und Folgenanalyse. Die Interpretation ist dem Begriff nach rein feststellend: Es w i r d der Sinn der Rechtssätze erklärt, gegebenenfalls duplex interpretatio festgestellt oder Momente der Unbestimmtheit und Entscheidungsspielräume aufgewiesen. Die juristische Interpretation versucht zwar in
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der Praxis oft auch das zu bestimmen, was unbestimmt ist; der Theoretiker fordert aber eine möglichst reinliche Unterscheidung zwischen eigentlicher Deutung (d.h. der Feststellung der durch das Gesetz gegebenen Entscheidungsdetermination und der Ermessensspielräume) und Gründen für entsprechende Ergänzung der Entscheidungsdetermination außerhalb der Bestimmung durch die Rechtsvorschriften oder Präzedenzien (im Präzedenzrecht). Relativ fließend w i r d die Grenze dort sein, wo durch Auslegung festgestellte Zielsetzung und Wertstandards der Rechtsordnung zur ergänzenden Entscheidungsdetermination herangezogen werden. Die Bezeichnung als Analogie ist die gängige Verpackung, i n der unpräzise — die positiv gegebene Determination überschreitende — Begründungen von Rechtsmeinungen gegeben werden. W i r d der Ausdruck nur zur Andeutung der überschreitenden Rechtsanwendung benützt, ist gegen i h n nichts einzuwenden. Man darf bloß nicht der Täuschung unterliegen, daß die Bezeichnung einer Entscheidung als analoger Stellungnahme schon eine Begründung ist. Die Analogie gründet sich angeblich auf Ähnlichkeit. Sie fußt zweifellos auf dem Vergleichen von Fällen, die miteinander etwas Gemeinsames haben, aber auch etwas Verschiedenes. Man kann nicht bei der Ähnlichkeitsfeststellung oder der Diskussion ihres Ausmaßes stehenbleiben, denn aus solchen vergleichenden Feststellungen folgt noch gar nichts über die Berechtigung der analogen Rechtsanwendung. Entscheidend ist, ob die gemeinsamen Eigenschaften rechtlich gleichartige Behandlung rechtfertigen oder ob die Differenzen unterschiedliche Rechtsfolgen begründen 16 . Das ist offenbar eine Wertungsfrage, i n der die Stellungnahme nicht durch die Ähnlichkeiten oder Verschiedenheiten selbst begründet wird, sondern allein davon abhängt, ob die Momente, i n denen der ausdrücklich normierte Fall m i t dem beurteilten übereinstimmt, als Grund der Rechtsfolgen anzuerkennen sind [und die unterschiedlichen Merkmale dies nicht ausschließen]. Da das bei der Analogie verwendete Vergleichen selbst kein I n strument des Entscheidens ist, sondern die Entscheidung aus der Stellungnahme zum Gemeinsamen und Unterschiedlichen resultiert, überträgt sich das Gewicht der Determination außerhalb des explizit Normierten auf die Anwendung von Wertstandards und teleologische Analysen der Folgen rechtlicher Maßnahmen. A n Stelle des bloßen Hinweises auf Vergleichsmomente muß einerseits die Wertung dieser Momente nach den Werteinstellungen des Rechtssystems treten, andererseits die wertende Untersuchung der Folgen der möglichen Maßnahmen. le Zippelius [1], 176 ff., [2], 74.
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Die Bestimmung der rechtlichen Wertestandards und Zielsetzungen der Rechtsordnung durch Interpretation w i r d immer eine Menge von Problemen m i t sich bringen. Es läßt sich beweisen — dies lehrt die Theorie der Zweck-Mittel-Relationen —, daß, auch wenn die Zielsetzungen bestimmt sind, die Entscheidungen i m einzelnen noch logisch unbestimmt sein können und Stellungnahmen erfordern 17 . Sie werden durch die Amtswalter der Staatsorgane geleistet. 7. Bewegliche Determination
des Sollens
Die bewegliche Normierung ist eine Form des Rechts, welche ihrem Wesen nach ergänzende Stellungnahmen bei der Fallentscheidung voraussetzt. Die Theorie der beweglichen Bestimmung des Sollens muß sich notwendigerweise zwei strukturtheoretischen Fragen stellen: 1. Welche Struktur hat die bewegliche Normierung? 2. Wie ist die Determinierung und Begründung der Fallentscheidung i m beweglichen System zu gestalten? Wilburg sagt — und ich glaube, das ist sogar das wichtigste an seiner Lehre —: „Es ist gerade der Sinn meines Vorschlages, zu vermeiden, daß das Gericht nur auf Billigkeit, auf jeweiliges Rechtsempfinden, auf gute Sitten oder ähnliche inhaltslose Begriffe verwiesen wird. Ein Gesetz, das elastisch die maßgebenden Gesichtspunkte bestimmt, kann sogar eine festere Stütze sein, ebenso wie ein elastisches Band oft besser hält als ein starres Gefüge, das nicht die Fähigkeit besitzt, den Bewegungen zu folgen 1 8 ." Es kommen zwei Methoden der Normierung i n Frage: a) Normierung grundlegender Typenfälle, verbunden m i t Analogiebetrachtungen, und b) Maßstabnormierung i n Form komparativer Rechtssätze19. Sicherlich können diese Methoden i n verschiedener Weise kombiniert werden. Das Präzedenzrecht neigt mehr zur Form a), das Gesetzesrecht zur Form b). Daneben muß i m konkreten Fall bedacht werden, was günstiger ist. Wo sich die Fälle um die Grundtypen scharen, dürfte die Falltypennormierung adäquat sein, da dann modifizierende Abweichungen leichtfallen. Wo ein breit gestreutes Feld sich überschneidender Wertungskriterien vorliegt, dürfte der komparativen Normierung der Vorrang gebühren. 17 Weinberger [2], 293 ff., [6], 105 ff. 18 Wilburg [2], 22 f. 19 Das Verdienst, auf diese Strukturen aufmerksam gemacht u n d ihre L o g i k und Methodologie studiert zu haben, gebührt vor allem Otte, G. Vgl. Otte
[1], [2].
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A u f jeden Fall w i r d die bewegliche Determination durch das Zusammenwirken von Gesetz und Judikatur gegeben. Die komparativen Rechtssätze bestimmen die für die rechtliche Beurteilung und die Rechtsfolgen relevanten Kriterien, die Wirkungseinrichtung der festzustellenden Eigenschaft oder ihrer Intensität („je . . . , desto mehr . . . " — „je . . . , desto weniger . . . " ) und das relative Gewicht der verschiedenen Kriterien. Gegebenenfalls kann eine komparative Bestimmung i n eine quantitative übergehen, gegebenenfalls durch Interpretation oder Judikatur übergeführt werden 2 0 . Durch die Judikatur w i r d auch i m Rahmen des Bereichs der komparativen Normen ein Netz von relativen Festpunkten geschaffen, welches die Bestimmtheit der Fallbeurteilung erhöht. Bei der Normierung in Form von grundlegenden Falltypen werden durch Vergleichen komparative Beziehungen manifest, so daß sich im Ergebnis beide Determinationsarten näherkommen. Die bewegliche Determination beruht auf Fallanalysen, dem Herausstellen der rechtlich relevanten Eigenschaften des Falles und der grundsätzlichen Generalisierbarkeit von rechtlichen Stellungnahmen und dem Prinzip der formalen Gerechtigkeit. Für das System der beweglichen Normierung ist es wesentlich, daß nicht nur rechtlich vorgegebene Kriterien, sondern auch neue Momente i n Rechnung gezogen werden können. Es w i r d ein lebendiger Übergang zwischen aktuellem und potentiellem Willensfeld geschaffen. 8. Normen vom Typus des § 7 ABGB und das Non-liquet-Problem Wenn der Richter durch das Gesetz aufgefordert wird, falls ihm die Rechtsquellen keine Richtschnur für die Entscheidung geben, nach so einer Regel zu entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde 2 1 , so bedeutet dies mehr als ein Verbot der denegatio iustitiae. Es ist ein klarer Hinweis auf die Offenheit des Rechtssystems. Denn sonst müßte der Richter bei Fehlen der Norm der gültigen expliziten Rechtsquellen jeden erhobenen Anspruch ablehnen. Hierdurch würde er sich zwar der denegatio iustitiae nicht schuldig machen, er würde aber den Auftrag, als subsidiärer Gesetzgeber aufzutreten, nicht erfüllen. Daß auch nach § 7 A B G B positives Sekundärrecht entsteht, hat K u bes gezeigt 22 . 20 Otte [2], 316 f. Wenn m a n von der naturrechtlichen philosophischen Anschauung der Autoren des A B G B absieht, bedeutet auch § 7 k a u m etwas wesentlich anderes als die angeführte Formulierung des A r t . 1 des Schweizer Bürgerlichen Gesetzbuches. 22 Kubes [1]. 21
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Wenn man von meiner logischen Analyse der Ermächtigung ausgeht 2 3 , kommt man zu einer ziemlich klaren Konstruktion sowohl der rechtsschöpferischen Funktion des Richters als auch der Non-liquetEntscheidungen. I m Gegensatz zu Kelsen 24 , der das Ermächtigen neben dem Gebieten, Erlauben und Derogieren 25 als einen besonderen Normtypus (der Logiker würde sagen: als besondere deontische Modalität) ansieht, betrachte ich die Ermächtigung als aus zwei Normen zusammengesetzt: aus 1. einer Bedingungsnorm, welche die Geltung der sekundären Norm begründet, und 2. einer Norm, welche dem Ermächtigten gestattet oder gebietet, einen normkreierenden A k t zu setzen. I m Bereich der Privatautonomie w i r d dem Ermächtigten gestattet, Normen zu kreieren; dem Staatsorgan w i r d i n der Regel eine Verpflichtung auferlegt, zu entscheiden. Die Gültigkeitsbedingungen für die Entstehung der Sekundärnorm sind a) formaler Natur — und i n der Regel auch b) inhaltlicher Natur, indem sie den Inhalt der Sekundärnorm bestimmen. Die gegebene inhaltliche Bestimmung durch das materiale Recht läßt meist wesentliche Entscheidungsspielräume offen. Was für den Fall gilt, daß keine material-rechtliche Determination der Entscheidung vorliegt, ist Sache der positiven Bestimmung der Ermächtigung. Es können i m wesentlichen drei Anordnungen getroffen werden: a) Es hat keine meritorische Entscheidung gefällt zu werden, nur eine Non-liquet-Feststellung 2 6 ; b) es w i r d dem zur Entscheidung berufenen Organ — nach A r t des § 7 A B G B — rechtsschöpfende Macht verliehen, selbst den passenden Rechtsgrundsatz aufzustellen (mit oder ohne Präzedenzrolle) ; c) es w i r d eine generelle Lösungsweise für alle nicht explizit bestimmten Fälle festgesetzt, wie z. B. durch den strafrechtlichen Grundsatz „ n u l l u m crimen, nulla poena sine lege". I m Falle a) besteht die eigenartige Situation, daß dem Ermächtigten doch wenigstens die Entscheidungsmacht zugesprochen wird, die zur Feststellung nötig ist, daß die meritorische Entscheidung des beurteil23 W einher g er [7]. 24 Kelsen [1], 15. 25 Kelsen [2]. 2β v g l . Taramelo [1], der insbesondere die völkerrechtlichen des „non-liquet" analysiert.
Situationen
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ten Rechtsfalles durch die gültigen Normen nicht bestimmt ist, daß also ein „non-liquet" vorliegt. Einen nicht uninteressanten Einwand gegen meine Konzeption der Offenheit der Rechtsordnung möchte ich noch ablehnend erörtern. Der Einwand lautet: Man kann sich auf die aktuell und explizit gegebene Normsatzmenge beschränken und das potentielle Sollen als späteren Stand des Normensystems ansehen. A n die Stelle der Offenheit sei eine Sukzession von aktuellen Normensystemen zu setzen, wobei i n jedem der aufeinanderfolgenden Systeme nur explizit gegebene Normen bestehen. Dieser Gegenvorschlag ist nicht akzeptabel. 1. Es erscheint m i r natürlich, daß das geäußerte Wollen nur einen Teil des Willenssystems ausdrückt — oder übertragen auf das Rechtssystem: daß die gegebene Normsatzmenge nicht die gesamte Einstellung der Ordnung explizit darstellt. Die Rede vom potentiellen Willensfeld erscheint also als eine ganz natürliche Konzeption. 2. Wollte ein Richter i m Feld des nicht Vordeterminierten etwa auf Grund eines Auftrags vom Typus des A r t . 1 des Schweizer Bürgerlichen Gesetzbuches judizieren, entschiede er nicht nach dem Recht, denn die beurteilten Ereignisse fanden zu einem Zeitpunkt t statt, der vor seiner Entscheidung liegt. Damals war dies jedoch nach dieser Sukzessionskonstruktion noch nicht Recht; es w i r d erst Recht in der Rechtsordnung, die einem Zeitpunkt nach seiner Entscheidung zugeordnet ist. Die Theorie, die anstelle der Offenheit eine Folge geschlossener Normensysteme setzt, bietet also keine plausible Basis für das j u r i stische Denken. Literaturverzeichnis Engisch, K . [1] Der rechtsfreie Raum, i n : Zeitschrift f. d. ges. Staatswissenschaft, Bd. 108/1952, 385 - 430. Hart, H. L. A. [1] Der Begriff des Rechts, übers, von A . v o n Baeyer, F r a n k f u r t am M a i n 1973 (Original: The Concept of L a w , Oxford 1972«; 19611). Kelsen, H. [1] Reine Rechtslehre, Wien I960 2 . — [2] Derogation, i n : California L a w Review 54/1966; wiederveröffentlicht i n : Kelsen, H., Essays i n Legal and M o r a l Philosophy (Ed. O. Weinberger), Dortrecht 1973, 261 - 275. Kubeë, V. [1] „Positivni" prâvo sekundârni ν obcanskych zâkonicich modernich stâtu se zfetelem k osnovë ceskoslovenského obS. zâkonika („Positives" Sekundärrecht i n den Bürgerlichen Gesetzbüchern der modernen Staaten i n Hinblick auf den E n t w u r f des Tschechoslowakischen Bügerlichen Gesetzbuches), i n : Casopis pro p r â v n i a stâtni vëdu XVII/1934, 314 - 322.
Literaturverzeichnis Otte , G. [1] Zwanzig Jahre Topik-Diskussion: Ertrag u n d Aufgaben, Rechtstheorie, Bd. 1/1970, 183 - 197.
125 in:
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik D/I. Wahrheit, Recht und Moral Eine Analyse auf kommunikationstheoretischer Grundlage
Professor Chaim Perelman hat in einem Vortrag am X I V . Internationalen Kongreß für Philosophie i n Wien die anregende These vorgelegt, daß man nicht nur — wie allgemein üblich — die Abhängigkeit des Rechts von der Moral und von der moralisch wertenden Stellungnahme unterstreichen sollte, sondern daß man auch umgekehrt i n der Ethik das Recht, dessen Wertungen und dessen Methoden, Pflichten- oder Interessenkonflikte zu lösen, i n Betracht ziehen sollte 1 . Sicherlich ein interessanter und berechtigter Hinweis, für dessen Richtigkeit auch die Tatsache spricht, daß das Rechtsleben zweifellos einen wesentlichen Bestandteil des Studiengegenstandes der Moralsoziologie bildet. Das Recht und die juristische Stellungnahme sind ein Produkt jahrtausendelanger Bemühungen um gesellschaftliches Werten, welches darauf abzielt, die Beziehungen zwischen den Menschen gerecht und praktisch zu lösen. Das muß den Moralphilosophen interessieren. Wie die juristische Erfahrung und das rechtliche Werten i n der Argumentation des Ethikers verwendet werden können, hat Perelman an dem Beispiel des Grundsatzes „ D u sollst die Wahrheit sprechen" i l l u striert. Er zeigte i n einnehmender Weise, daß die Juristen das Wahrheitspostulat i n verschiedenen Situationen ganz verschieden werten und es nicht immer als Grundsatz akzeptieren. Das Wahrheitspostulat kommt zur Geltung i n der Pflicht des Zeugen, die Wahrheit zu sprechen. Es gilt jedoch auch hier nicht absolut, sondern i n Grenzen. Ausnahmen sind z.B.: das Staatsgeheimnis, die Schweigepflicht des Arztes, des Priesters. Nahe Verwandte haben das Recht, sich der Zeugenschaft zu entschlagen u. dgl. I m Strafprozeß w i r d das Wahrheitspostulat so weit verlassen, daß dem Angeklagten das Recht eingeräumt wird, sich unwahr zu verteidigen. Es kann rechtlich geboten sein, die Unwahrheit zu sprechen, — ζ. B. dem Feind gegenüber. Die so verschiedene Bedeutung der Wahrheit i n verschiedenen Lebenssituationen, die den Juristen zu unterschiedlicher Normierung geführt hat, sollte auch den Moralphilosophen 1 Vgl. Perelman, Ch. : Recht u n d Moral, A k t e n des X I V . I n t . Kongresses für Philosophie, Wien 1968, Band V, S. 153 - 159.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
dazu bewegen, das Wahrheitsprinzip relativiert zu verstehen — und nicht als unbedingtes und starres Grundprinzip der Moral. Diese beunruhigende Hypothese fordert zu weiteren Untersuchungen heraus: Das Beispiel beweist, daß die Betrachtung der rechtlichen Stellungnahmen und der Denkweise des Juristen für den Ethiker anregend und belehrend ist. Ob die juristische Erfahrung für die Ethik direkt Rezipierbares liefert, und ob — resp. wie — die Relativität des Wahrheitspostulates zu verstehen ist, scheint hierdurch noch keineswegs entschieden zu sein. Die aufgeworfene Frage nach dem Wesen und dem Grund des moralischen Wahrheitspostulats sowie die Frage seiner Relativität motivieren eingehendere philosophische Untersuchungen. Für den Ethiker ist das Wahrheitspostulat wesentlich mehr als eine unter vielen moralischen Forderungen. Er sieht i n der Wahrheit eine der grundlegenden Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens und erwartet, daß sich hier ein fester Stützpunkt für eine rationale Moralerkenntnis finden läßt, der sogar Ergebnisse m i t gleichsam formaler Gültigkeit liefern könnte. Die Ethik strebt meistens — wenigstens seit Kant — formale A l l gemeingültigkeit ihrer Erkenntnisse an. Und doch ist dies eigentlich etwas begrifflich Unmögliches. Der Inhalt der moralischen Postulate ist offenbar nicht tautologisch, nicht bloße Form, nicht leeres, m i t Denknotwendigkeit bestimmtes Sollen. Es gilt wohl allgemein — nicht nur für das Gebiet des Kognitiven: was formbestimmt ist, ist inhaltlich leer. I n formal determinierten Sätzen w i r d der Inhalt unwesentlich; er dient nicht der Beschreibung dessen, was ist, oder sein soll, sondern nur als M i t t e l zur Bezeichnung gleichbesetzter Stellen i n der Struktur der logisch bestimmten Sätze. z.B. der tautologische Satz „Wenn 2 + 3 = 5, so 2 + 3 = 5" besagt i m wesentlichen nicht mehr als die Formel „Wenn p, so p " a . Sowohl der Satz, als auch die Formel sind der Form nach wahr, und empirisch unverifizierbar. Das angeführte Beispiel ist zwar der beschreibenden Sprache entnommen; doch gilt zweifellos auch für die vorschreibende Sprache (mutatis mutandis), daß es grundsätzlich unmöglich ist, aus rein formalen Bestimmungen moralische Grundsätze, die doch eine inhaltliche Bestimmung des Sollens erfordern, zu gewinnen. Wenn w i r jedoch die allgemeinen gesellschaftlichen Strukturbedingungen und allgemeinen Züge des interpersonalen Kontaktes — wie a I n tautologisch wahren Sätzen werden die bezeichnenden u n d die beschreibenden Elemente i n unwesentlicher Rolle gebraucht (Quine sagt »vacuously*; vgl. Quine, W. V a n Orman: Mathematical Logic, 2. Aufl., Cambridge 1955, S. 2), denn diese Sätze sind u n i n f o r m a t i v ; sie schließen keine mögliche Welt aus.
I. Wahrheit, Recht und Moral
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z.B. die kommunikationstheoretischen Erwägungen liefern, oder wie sie sich aus den Struktureigenschaften des Handelns ergeben — berücksichtigen, scheinen ganz allgemeine Schlußfolgerungen möglich zu sein, die zwar keine formalen Charakteristiken i m logischen Sinne sind, aber i m sachlich allgemein definierten Rahmen strukturbedingte Allgemeingültigkeit haben. Hier soll das Wahrheitspostulat vom kommunikationstheoretischen Standpunkt aus betrachtet werden, — ebenso wie die Rolle der Information beim Handeln und bei der intersubjektiven Kooperation. Die Ergebnisse werden Kriterien dafür abgeben, ob das Wahrheitsprinzip unter den moralischen Forderungen eine Sonderstellung einnimmt, und inwieweit es ein relatives Postulat ist. Es w i r d sich zeigen, ob das Ideal der Wahrheit als allgemein gültiger Zug des Moralischen gilt, — ferner, ob die so verschiedenartige Behandlung der Wahrheit i m Recht auch vom Standpunkt der Ethik verstanden werden kann. 1. Die Behauptungskonvention als Voraussetzung der Übermittlung von Informationen über Tatsachen Die Informationsübermittlung über Tatsachen zwischen Sprachbenutzern kann nur unter gewissen — der Mitteilung vorangehenden Bedingungen — vor sich gehen: (1) Die Sprachbenutzer müssen die Sprache kennen und i n übereinstimmender Weise verstehen. (2) Es muß eine Konvention über den Wahrheitswert der Mitteilung — eine Wahrheitskonvention — bestehen. (1) ist w o h l ganz selbstverständlich. (2) aber führt zum Kern unserer Überlegungen und muß daher hier besprochen werden: Das Sprachsystem bietet ein Reservoir möglicher Aussagesätze, welche sich auf mögliche Sachverhalte beziehen. Der Informationsabsender wählt aus dem Sprachreservoir einen der möglichen Sätze und übermittelt die entsprechende Zeichenreihe an den Mitteilungsempfänger, welcher sie als Sprachzeichen erkennt — und auf Grund seiner Sprachkenntnis versteht. Der Empfänger erkennt aus der Mitteilung, über welchen Sachverhalt gesprochen wird. Der Empfänger erhält dann und nur dann eine eindeutige Tatsacheninformation, wenn eine Konvention nicht nur über die Bedeutung der Sätze — diese ist durch die vorausgesetzte Sprachkenntnis gegeben —, sondern auch über den Wahrheitswert des mitgeteilten Satzes besteht. Nehmen w i r als Modell eine Klasse von möglichen Sachverhalten (Tu T2, T3) und eine Klasse von — dem Index nach — zugeordneten 9 Weinberger
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
Aussagesätzen (Ai, A:2, A3) an. Nun bringt derselbe Kommunikationsvorgang verschiedene Sachverhaltsinformationen, je nachdem, was für eine vorangestellte Übereinkunft über den Wahrheitswert der Mitteilung als Voraussetzung der Kommunikation zwischen den Partnern angenommen wird. Waren die Gesprächspartner übereingekommen, daß gerade der Sachverhalt Tatsache ist, der durch den zugeordneten Aussagesatz ausgedrückt wird, und spricht der Mitteilungsabsender den Aussagesatz „A2" aus, dann erfährt sein Gesprächspartner durch die übermittelte Zeichenreihe, daß T2 Tatsache ist. Wären die Unterredenden aber von der entgegengesetzten Konvention ausgegangen, daß der übermittelte Satz als unwahr vorgelegt w i r d (d.h. daß die durch den Satz bezeichnete Tatsache nicht besteht), dann würde der Mitteilungsempfänger aus derselben Zeichenreihe „A2" entnehmen, daß der Sachverhalt T2 nicht besteht. Er wäre also, da w i r vorausgesetzt haben, daß T2 tatsächlich besteht, fehlinformiert worden. Die Tatsache, daß derselbe Mitteilungsvorgang unter Benutzung derselben Sprache — wenn man die Wahrheitskonvention nicht zu den Sprachregeln rechnet — zu verschiedenen Informationen führen kann, nötigt uns, die Konvention über den Wahrheitswert der Mitteilung als Vorbedingung des Informierens durch die Sprache, — als nötiges Element der Kommunikation in Rechnung zu ziehen. Diese Notwendigkeit kann anhand der ironischen Sprechweise betrachtet werden: Wenn man ζ. B. ironisch sagt „Das habe ich sehr gern", so heißt das doch „Das habe ich sehr ungern" oder „Es ist nicht wahr, daß ich das gern habe". Die Umgangssprache ist allerdings hier — wie i n vielen anderen Fällen — nicht eindeutig. Das „Gegenteil", welches durch die ironische Sprechweise ausgedrückt ist, kann entweder ein kontradiktorischer oder nur ein konträrer Gegensatz sein. Diese Ungenauigkeit der ironischen Sprechweise ist aber für unsere Überlegung nicht von Belang: Das Wesentliche — die Umkehrung der Sachinformation durch die Änderung der Sprechweise — liegt auf der Hand. Die Verständigung auf Grund der ironischen Sprechweise setzt voraus, daß sich die Gesprächspartner dieser — von der normalen unterschiedlichen — Wahrheitskonvention klar bewußt sind. Andernfalls kann aus der Mitteilung keine eindeutige Sachverhaltsinformation herausgelesen werden. Charakteristisch an der Wahrheitskonvention ist, daß sie der Mitteilung vorausgeht: sie ist kein Bestandteil des Kommunikats, sondern ein Vorwissen über die Anwendungsweise der Sprache als eines Instruments der Sachverhaltsinformation. Die Kommunikation durch die Sprache setzt also nicht nur die Kenntnis der Struktur und Bedeutung der Zeichenreihen der Sprache voraus, sondern auch eine Wahrheits-
I. Wahrheit, Recht und Moral
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konvention als Deutungsschlüssel der Mitteilung, der besagt, ob die Mitteilung als wahr oder als unwahr verstanden werden soll. Die Wahrheitskonvention entsteht gewöhnlich nicht auf Grund einer ausdrücklichen Übereinkunft: sie besteht einfach als soziologisches Fakt u m des zwischenmenschlichen Sprachkontaktes. Sie kann explizit formuliert werden, und zwar i n einem Meta-Aussagesatz über die m i t zuteilenden Sätze und deren Beziehung zur beschriebenen Realität b . Dieser Satz über den Wahrheitswert der mitgeteilten Sätze w i r d aber wieder unter der Voraussetzung einer Wahrheitskonvention gemacht. Die Wahrheitskonvention muß als ein pragmatisches Prinzip der Sprachbenutzung zur Sachinformationsmitteilung angesehen werden, das zwar nicht ausgesprochen werden muß, das aber aus dem Mitteilungsprozeß nicht weggedacht werden kann. Die wissenschaftliche Analyse muß es als Element des Kommunikationsprozesses ausdrücklich hervorheben. Die übliche Konvention, wonach der mitgeteilte Aussagesatz als wahr vorgelegt wird, nenne ich Behauptungskonvention. Für die Durchführung des Mitteilungsprozesses sind die verschiedenen Wahrheitskonventionen i n gleicher Weise möglich; genetisch hat jedoch die Behauptungskonvention offensichtlich eine Vorrangstellung. Die sprachsoziologische Analyse zeigt, daß die Behauptungskonvention ihrer Entstehung nach primär ist, und die entgegengesetzte Konvention nur sekundär eingeführt werden kann. Die Entstehung und Inter Subjektivität der Zuordnung zwischen den Namen und den bezeichneten Gegenständen ist offensichtlich ein notwendiger Bestandteil der Sprache. Diese ist nur dann denkbar, wenn sich die Mitteilungen auf die Behauptungskonvention stützen. Stellen w i r uns eine Sprachkommunikation zwischen den Subjekten Si und S2 vor. Si führt den Namen ,N ( als Bezeichnung für den Gegenstand G ein. St macht Aussagen über den Gegenstand G, welche deYi Namen ,N ( enthalten. W i r d nun die Behauptungskonvention vorausgesetzt, kann S2, der m i t dem Gegenstand in direktem Erfahrungskontakt steht, die Koordination von Ν und G erfassen. Würde aber Si auf Grund der Unwahrheitskonvention den Namen ,N' gebrauchen, könnte S2 kaum zu dem Verständnis kommen, daß der Name ,N* G bezeichnet. Es ist kaum denkbar, durch Anführen von dem bezeichneten Gegenstand nicht zukommenden Eigenschaften klar zu machen, von welchem Gegenstand die Rede ist. Das Verständnis der Namen — und damit der Sprache überhaupt — kann wohl nur auf Grund der Behauptungskonvention entstehen. b Dem Meta-Aussagesatz entspricht eine A n l e i t u n g (eine Regel) über den Gebrauch der Sprache zum Informationengeben. 9*
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
Das Funktionieren und der Fortbestand der auf der Behauptungskonvention aufgebauten Sprachgemeinschaft erfordert, daß i n der Gemeinschaft m i t großer Wahrscheinlichkeit wahre Aussagen gemacht werden. Würden absichtlich ständig Aussagen i n der Weise gemacht, daß annähernd die Hälfte der Behauptungen wahr und die Hälfte unwahr wäre, so würde die Sprache als Kommunikationsinstrument vernichtet werden. Es wäre für den Informationsempfänger unentscheidbar, ob die vorgelegte Nachricht wahr oder unwahr ist; er würde also durch die Nachricht nichts darüber erfahren, was ist — oder was nicht ist. Eine hohe Unwahrheitsrate der Behauptung würde auch zu Zweifel über die Inter Subjektivität der Bedeutung der Ausdrücke führen. Eine hohe Unwahrheitsrate — mag sie auch nicht 50 °/o erreichen — entwertet die sprachliche Information. 2. Handlung und Wissen Unter einer Handlung versteht man gewöhnlich ein Verhalten einer Person, das als A k t i v i t ä t des Subjekts und als dessen Willenstätigkeit aufgefaßt wird. Der Begriff der Handlung w i r d also einem Subjekt, das primär als willens- und vernunftbegabter Mensch gesehen wird, zugerechnet; die Handlung besteht i n einem aktiven Verhalten, welches gegebenenfalls auch ein willenhaftes Nicht-Tun (ζ. B. Fasten) sein kann. Für die Handlung ist es wesentlich, daß sie ein Ergebnis eines vernunftgelenkten Willens ist, Ziele anstrebt, die bewußt sind oder bewußt gemacht werden können; und daß sie durch M i t t e l die gesetzten Ziele realisiert. Die Strukturanalyse des Handelns deckt die einzelnen Elemente des Handelns auf. Sie zeigt, was unter Willenhaftigkeit des Verhaltens zu verstehen ist — und welche Beziehungen zwischen Erkennen und W i l len bestehen. Diese Strukturbeschreibung von Handlungen muß man nicht nur auf Handlungen des Einzelmenschen beziehen, sondern man kann als Subjekt der Handlung menschliche Kollektive oder beliebige Systeme ansehen, i n denen analoge Elemente der Struktur der Handlung vorgefunden werden können. Hierdurch erlangt die Theorie der Handlung viel allgemeineren Charakter. Dies ist wichtig, da i n der sozialen Wirklichkeit tatsächlich Systeme existieren, deren Verhalten nur so adäquat verstanden und beschrieben werden kann. Was Handeln und was Wollen ist, w i r d durch diese allgemeine Strukturbeschreibung bestimmt. Als Zurechnungssubjekt des Willens kann jedes System erscheinen, auf das die Strukturbeschreibung paßt. Auch das Handeln und Wollen des Einzelmenschen w i r d durch die Bestimmung der Struktur seines Willenssystems expliziert.
I. Wahrheit, Recht und Moral
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Den Ausgangspunkt des Handelns bildet die Zielsetzung. Sie ist eine Entscheidung, die nicht auf rein Kognitives reduziert werden kann; dennoch ist sie vom Wissen nicht unabhängig: sie baut auf der Situationskenntnis auf, sie stützt sich auf Erkenntnis und Erfahrung, welche i n wertender Stellungnahme bestehen, und sie ist auch nicht unabhängig von den Vorstellungen über die Realisationsmöglichkeiten. Die zweite Phase der Handlung — sie bewegt sich ebenfalls i n der gedanklichen Sphäre — kann man als das Auffinden der geeigneten M i t t e l zur Erreichung der Ziele bezeichnen. Sie ist i m wesentlichen vom Wissen abhängig — insbesondere von Kausalerkenntnissen. Denn das Handeln verläuft so, daß man das macht, was den gewünschten Effekt hervorruft. Das durch die Handlung realisierte M i t t e l bewirkt die gewünschte Wirkung kausal. Diese Erkenntnisse zeigen die Handlungsmöglichkeiten auf, welche zum Ziel führen bzw. m i t größerer oder kleinerer Wahrscheinlichkeit führen können. Die M i t t e l zur Realisation des gesetzten Zieles sind mehr oder weniger geeignet, es zu erreichen. Oft soll nicht nur ein einzelnes Ziel erreicht werden, sondern es handelt sich darum, i m Rahmen eines Zwecksystems, i n dem viele verschiedene Ziele verfolgt werden, den optimalen Weg zu finden. Dazu bedarf es der Willensentscheidung zu handeln und der Entscheidung, i n welcher Weise vorzugehen ist. Die relative Wertung der M i t t e l ist ein Prozeß, der weitgehend von Erkenntnissen und Erfahrung abhängig ist 2 . Es werden die Möglichkeiten aufgefunden und ihre Charakteristiken erkannt. Z u den Möglichkeiten w i r d Stellung genommen; dies ist eine Willensentscheidung, die kognit i v gestützt ist, aber durch Erkenntnisse nicht ersetzt werden kann. Die nächste Phase des Handelns betrifft den Übergang aus dem geistigen Gebiet ins Materielle: die Entscheidung w i r d realisiert. Hierbei ist — je nach dem Typus des Handelns — die Rolle des Erkennens verschieden®. Es gibt Handlungen nach starrem Programm, wo die Dezision zu handeln den gesamten Vorgang der Handlung bestimmt. Oft jedoch bestimmt die Entscheidung zu handeln nur die Methode des Vorgangs: sie setzt ein Programm fest, das an verschiedenen Punkten Alternativen enthält, deren Auswahl durch Rückkoppelung, d. h. durch die Beobachtung und Erkenntnis der Zwischenergebnisse, bestimmt wird. I n diesen Fällen ist die Handlung wesentlich m i t eingeschalteten Feedback-Erkenntnissen verbunden. Das Entscheiden kann vorangestellt werden, wenn für jede mögliche Rückkoppelungsinformation i m vorhinein festgelegt ist, wie weiter zu verfahren ist; oder die Realisation 2 Vgl. Weinberger, O.: Rechtslogik, Wien 1969, K a p i t e l X I , Teleologie, S.291 - 305. 3 Vgl. Hartmann, N.: Teleologisches Denken, B e r l i n 1951, S. 68 ff.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
der Handlung verläuft auf Grund einer Reihe von der Gesamthandlung untergeordneten Entscheidungen, die sich auf die Zwischenergebnisinformation der Rückkoppelung stützen. Es ist notwendig, m i t Rückkoppelung zu handeln, weil die Ergebnisse der einzelnen Handlungsphasen nicht unwesentlich variieren, — w e i l oft bloß stochastische Kausalbindungen bestehen, und weil man i n einer nicht i m vorhinein allseitig voll erkannten Umgebung handelt, so daß je nach dem erlangten Zustand i n verschiedener Weise die Realisation der Handlung fortgesetzt werden muß. Es ist offensichtlich, daß die Chancen, handelnd Ziele zu erreichen, durch mangelnde Kenntnis und Information verschlechtert werden. Zweckmäßig zu handeln ist also auch eine Frage des Wissens und der Informiertheit. Die Bedeutung des Wissens für das richtige Handeln bezieht sich auch auf die Zielsetzungen selbst, denn auch sie sind abhängig von der Erfahrung, der Situationserkenntnis und der Kenntnis der kausalen Möglichkeiten. 3. Kollektivhandlung
und Kooperation
Der Mensch lebt i n der Gesellschaft. Sein Verhalten und Handeln ist einerseits als Funktion seines Zwecksystems, seiner Situation und seiner Erkenntnis explizierbar, andererseits ist es als Kollektivhandlung oder als Kooperation zu verstehen. Das Handeln der einzelnen Person A läßt sich zwar immer als bloß von A's Willen ausgehend darstellen, wobei alles andere Umgebung ist, inklusive die Tätigkeit der kooperierenden Personen. Oft dürfte es instruktiver sein, die Kooperation als Zusammenspiel einer Menge von Subjekten (wobei jedem von ihnen ein Zwecksystem entspricht) — oder als Kollektivhandlung, bei der die Handlung einem Kollektivsubjekt zugerechnet wird, dem ein — von den Kollektivteilhabern zu unterscheidendes — eigenes Zwecksystem zugeordnet ist, zu erfassen. Die arbeitsteilige Handlung setzt eine Bestimmung der Verhaltensweisen der Zusammenarbeitenden und der Kommunikation zwischen ihnen — sozusagen ein gemeinsames Programm — voraus. Hierbei müssen die Rollen der Kooperierenden bestimmt werden. Das reibungslose Zusammenspiel hängt davon ab, ob die Rollenträger verläßlich ihre übernommenen oder zugeteilten Aufgaben erfüllen. I n vielen Fällen erhält man ein adäquates Bild, wenn man die menschliche kooperative Tätigkeit als Kollektivhandlung erfaßt 4 . 4 I m soziologischen Sinne spricht man gewöhnlich n u r dann von einem K o l l e k t i v , wenn eine relativ beständige S t r u k t u r da ist. M a n k a n n aber oft auch eine Ad-hoc-Kooperation als Handlung eines Kollektivsubjekts v e r -
I. Wahrheit, Recht und Moral
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Die Phasen der einem Kollektiv zugerechneten Handlung können i n verschiedener Weise realisiert sein. Die Bildung des Kollektivwillens kann von oben, von einem Zentrum aus geschehen — oder sie kann vom Wollen der Glieder des Kollektivs abgeleitet werden. Willensfunktionen der Kollektivhandlung, Zielsetzung, Handlungsentscheidung, Auffindung der Mittel und Wege zur Erfüllung der Zwecke, Wahl der Mittel, Programmbestimmung, Lenkung der Handlung auf Grund von Rückkoppelungsinformation, gegebenenfalls Wahlakte auf verschiedenen Stufen der Durchführung der Handlung — können durch Akte einzelner Personen oder i n Kollektiwerfahren vollzogen werden. Es gibt also sehr viele und sehr verschiedene Spielarten von kollektiven Handlungsweisen. Die arbeitsteilig handelnden Systeme oder die Subjekte von Kollektivhandlungen lassen sich danach typisieren, wie die Willensbildung zustandekommt. Den einen Pol der Typisierung bildet die monokratische Entscheidungsweise — eine Person entscheidet, erkennt, wertet, wählt i m Namen des Kollektivs — oder die Willensfunktion w i r d kollektiv realisiert. Reine Typen treten nie auf; d. h. Systeme arbeitsteiliger A k t i v i t ä t sind nie in allen Stücken kollektivistisch. Die Differenzierung nach dieser Typologie ist vielschichtig, da die verschiedenen Phasen der Willensfunktionen i n verschiedenem Maße monokratische oder kollektivistische Formen annehmen können. Die Entscheidungen können nicht nur verschieden zentralisiert oder dezentralisiert sein, es kann auch den einzelnen Stellen ein unterschiedliches Maß an Freiheitsgraden zukommen. Immer muß die entsprechende Informationsbasis vorhanden sein, wenn das System reibungslos und effektiv funktionieren soll. Die Informationen betreffen einerseits die Bestimmung der Rollen, die Kooperationsweise der Elemente, sie sind normative Information für diese Elemente oder Teile, andererseits sind sie Sachinformation über die Bedingungen und die Umwelt des Aktes. Wo Entscheidungen und Wahlakte vorgenommen werden sollen, müssen dem Organ auch alle kognitiven Grundlagen für diese Rollen gegeben werden. Wo Steuerung von oben besteht, w i r d nur normiert — und soweit informiert, als es für die Tätigkeit des Teilsystems oder Elementes nötig ist; wo das demokratische Prinzip herrscht, gleichgestellte Kooperation und kollektive Willensbildung angestrebt wird, muß die allgemein orientierte Situationsinformation universell zugänglich sein. Unsere Untersuchungen der Struktur der Handlung und des arbeitsteiligen Handelns als Kooperation oder Kollektivhandlung zeigen, stehen. Der Unterschied zwischen bloßer Kooperation u n d K o l l e k t i v h a n d l u n g scheint sehr verschwommen zu sein.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
wie die Handlung m i t Informationen, Wissen und Kommunikation gekoppelt ist. Es liegt also auf der Hand, da das Handeln so wesenhaft von Informationen abhängt, die Wissens- und Wahrheitsfrage vom ethischen Standpunkt aus zu betrachten. Diese Untersuchungen bieten eine brauchbare Basis für die Begründung dieses moraltheoretischen Grundsatzes und werfen auf das Wesen des Wahrheitspostulats ein klärendes Licht. Welche Schlußfolgerungen sind aus unseren informationstheoretischen Analysen der zwischenmenschlichen Kommunikation durch die Sprache — und des Handelns zu ziehen? Inwieweit kommt ihnen A l l gemeinheit zu? Hat das Wahrheitspostulat unter den ethischen Grundsätzen eine Sonderstellung oder steht es m i t anderen Grundsätzen i n einer Reihe? Ist das Wahrheitspostulat fundamental und für jede Ethik notwendig? Inwieweit ist es relativ zur Lebenssituation und zur A r t der Beziehungen, i n denen die Menschen zueinander stehen? Kann es m i t anderen ethischen Forderungen i n Konflikt geraten — und wie w i r d dieser Konflikt gelöst? Gibt es Beziehungen zwischen dem Wahrheitspostulat und den Idealen einer demokratischen Gesellschaft? Besteht ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Gerechtigkeitsidee und dem Wahrheitspostulat? Was für eine Beziehung besteht zwischen der moralischen Konzeption des Wahrheitspostulats und seiner Geltung i m Bereich des Rechts? G i l t es i m Recht (vielleicht zum Unterschied gegenüber der Moral) nur relativ: als eine der gesollten Möglichkeiten, wenn es gerade für eine bestimmte Situation zweckmäßig erscheint und deswegen positiv als Recht gesetzt ist? Läßt sich nicht auch i n der juristischen Betrachtung eine Perspektive finden, i n der das Wahrheitspostulat uneingeschränkt, — sozusagen absolut gilt? 4. Das Wahrheitspostulat
als Fundamentalprinzip
der Moral
a) Moralische Folgerungen aus der Struktur der Sprachkommunikation Es dürfte allgemein anerkannt werden, daß das gesellschaftliche Zusammenleben und jede menschliche Gemeinschaft an die sprachliche Kommunikation gebunden ist. Aus unseren Überlegungen über die Behauptungskonvention und über ihre soziologischen Aspekte geht klar hervor, daß das reibungslose Funktionieren der Sprache als eines universellen Kommunikationsinstruments von der Wahrhaftigkeit der M i t teilungen i m gesellschaftlichen Durchschnitt abhängt, und daß eine systematische Tendenz zu unwahren Mitteilungen die Sprache als Informationsinstrument entwertet. Die gesellschaftliche Verbreitung der Unwahrheit verdirbt nicht nur den Wert der gegebenen Informationen, sondern auch die Brauchbarkeit der Sprache selbst.
I. Wahrheit,
echt und Moral
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Insoweit man die sprachliche Kommunikation als notwendiges Element der Gemeinschaft ansieht, muß man das Wahrheitspostulat als moralisches Grundprinzip und als Forderung i n jeder Gemeinschaft des Kulturmenschen anerkennen. Es ist also notwendig, zwar nicht i m logischen Sinne, doch gilt es für jedes System der betrachteten A r t auf entsprechender Entwicklungsstufe. Seine durch die K u l t u r bedingte Allgemeingültigkeit gewinnt es i m wesentlichen aus der grundlegenden Rolle der Sprache i n der Gesellschaft. b) Das Wahrheitspostulat und die Bedingungen des richtigen Handelns Die Strukturanalyse des Handelns deckt die Beziehungen zwischen der zweckstrebigen A k t i v i t ä t und den Informationen auf. Die Wahrscheinlichkeit der erfolgreichen Handlung, d. h. der Handlung, welche ihre Zwecke optimal erreicht, hängt offenbar vom Wissen und der wahren — für die Tätigkeit relevanten — Information ab. Auch die richtige, dem Bedarf des Subjekts entsprechende Zielsetzung w i r d durch Kenntnis der Situation und der i m Gedächtnis festgehaltenen Erfahrung ermöglicht. Für die moralische Beurteilung sind insbesondere zwei Blickrichtungen wichtig: 1. die Frage der Wahrhaftigkeit des zwischenmenschlichen Informierens, und 2. die Frage der Verläßlichkeit der Kooperation. I n soziologischer Sicht t r i t t dann noch die Frage hinzu, unter welchen Bedingungen sich die menschliche Erkenntnis optimal entfalten kann und den handelnden Menschen zur Verfügung stehen wird. Es dürfte wohl keinem Zweifel unterliegen, daß der Wille und die Tätigkeit, welche dem Mitmenschen nützen sollen, moralisch positiv zu werten sind, eine Verhaltensweise, welche dem Mitmenschen zu schaden sucht, aber negativ gewertet w i r d 5 . Wer nun seinen Mitmenschen unwahr informiert, verschlechtert dessen Position, hemmt dessen Chancen, erfolgreich zu handeln. Das dürfte deutlich zeigen, daß der Moralist Wahrheit i m zwischenmenschlichen Kontakt fordern und die Verletzung des Wahrheitspostulats verurteilen muß. Einwände oder Einschränkungen sind aber durchaus denkbar. Es könnte jemand z.B. eine Person i n ihrem eigenen Interesse über gewisse Tatsachen i n Unkenntnis lassen oder unwahre Informationen geben. Ein Motiv hiefür wäre das Wissen um Gefahren, gegen welche der Handelnde 5 Vgl. Schopenhauers „Neminem laede, imo omnes, quantum potes, j u v a " , i n : Schopenhauer , Α.: Sämtliche Werke, hrsg. von E. Grisebach, 3. Bd., L e i p zig o. J., Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 539.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
ohnedies nicht ankämpfen kann, welche bloß seine Ruhe stören und seine Sicherheit hemmen würden. Es soll keineswegs bestritten werden, daß es solche Fälle gibt; sie sind aber einerseits wesentlich seltener, als die Gegner der scharfen Forderung des Wahrheitspostulats vorgeben. Auch läßt sich, so scheint es mir, aus diesen Fällen keine Argumentation gegen das Wahrheitspostulat aufbauen, sondern sie zeugen höchstens davon, daß es i n Grenzfällen seine Berechtigung verliert und anderen Forderungen weichen muß 6 . I n diesem Sinne ist auch das moralische Wahrheitspostulat zwar fundamental, aber nur relativ w i r k sam. I n kleinerem Ausmaß, gleichsam ausnahmsweise, kann es durch andere moralische Postulate übertrumpft werden. Würde jedoch die Information aus irgendwelchen Rücksichten, z.B. u m den Empfänger nicht zu verletzen, sozusagen systematisch i n vielen Fällen unwahr werden, würde i h n das nur beunruhigen und i n einem Zweifelszustand belassen, der das Ziel, i h n zu schützen, nicht mehr erreichen würde; i m Falle der Aufdeckung der Unwahrheit — eine Möglichkeit, die nie ausgeschlossen werden kann — w i r d sein Vertrauen und damit seine Lebensposition noch mehr verschlimmert. Ein zweiter Einwand ist subtiler und insoweit schwieriger zurückzuweisen, als seine Ablehnung sich auf eine Stellungnahme — und nicht auf reine Sacherkenntnis stützt. Man kann einwenden, daß jenes — für das Subjekt A adäquate, seinen „objektiven" Bedürfnissen entsprechende — Verhalten gar nicht das sein muß, welches A i n seiner vielleicht subjektiv verzeichneten Vorstellung vor Augen hat. Es könnte sein, daß ein durch Unwahrheit manipuliertes Handeln besser seinen objektiven Bedürfnissen entspricht, als sein auf Wahrheit aufbauendes autonomes Wollen. Hier w i r d m i t dem „objektiven" Bedürfnis i n Gegenüberstellung zum faktischen, subjektiven Wollen operiert Gibt es aber so etwas wie ein objektives Bedürfnis? Kann es unabhängig vom subjektgebundenen Wollen — sozusagen von außen — festgestellt werden? Man kann wohl behaupten, daß der Mensch seine eigenen Interessen, was für i h n gut und schlecht ist, nicht richtig sehen muß. Illusorisch ist es aber, anzunehmen, sein „echtes" Bedürfnis ließe sich objektiv „von außen" erkennen. Der Moralist müßte das eigene Entscheiden des Handelnden postulieren — nicht aber sein Wollen und 6 Meine persönlichen Erfahrungen aus dem praktischen Leben sagen mir, daß die Fälle, w o man aus Rücksicht lügt, meist eher aus Feigheit, sich u n d anderen die Wahrheit zu gestehen, entspringen, denn aus w i r k l i c h moralischen Motiven. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, daß Wahrheit eine praktische Lebensmethode ist — auch i n K o n f l i k t - u n d Problemsituationen —, daß die Versuche, durch Notlügen Schwierigkeiten zu überbrücken, selten erfolgreich sind. Sie vernichten das Vertrauen u n d stören die Atmosphäre des menschlichen Zusammenlebens. I m Laufe der Zeit kann dies zu schwereren K o n f l i k ten führen oder f ü r alle Beteiligten schwieriger zu bewältigende Situationen hervorrufen.
I. Wahrheit, Recht und Moral
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Wählen nach Kriterien seines „objektiven" Bedarfs manipulieren, da i n Wirklichkeit eine objektive Bestimmung des Bedarfs nicht möglich ist. Es ginge um aufoktroyierte Ziele, welche nicht n u r den moralischen Charakter der Handlung — Moralität der Handlung liegt bloß dann vor, wenn sie Ausfluß des Willens der Person ist — vernichten, sondern auch die Person als moralisches Subjekt negieren. Der Tatsache, daß das eigene Wollen des Menschen desorientiert oder fehlfunktionierend sein kann, kann i n der Moraltheorie dadurch Rechnung getragen werden, daß man das Wollen als i n einem inneren Läuterungsprozeß befindlich ansieht, der durch Erfahrung, richtige Information und Analyse — teils i m eigenen Geist, teils i m zwischenmenschlichen Kontakt — gefördert wird. Ist es überhaupt das moralische Ziel, das persönlich Gewollte zu erreichen? Ist es nicht so, daß das Moralische das gesellschaftlich Adäquate ist, welches dem einzelnen auferlegt ist? Kann dann nicht die richtige Handlungsweise — das Moralische — eventuell auch dadurch erreicht werden, daß man täuschend informiert, um den guten Zweck zu erreichen? Es sind solche Situationen durchaus denkbar, wo die Unwarheit in der geforderten Richtung motiviert, während die wahre Information nicht zur Erreichung des guten Ziels geführt hätte. Dennoch ist der Weg über die Unwahrheit i m Normalfall abzulehnen. W i r müssen den Mitmenschen als Moralsubjekt ansehen, dem es obliegt, seine Wünsche und seinen Willen zu haben — und nicht als bloßen Adressaten für von außen auferlegte Moralpostulate. Die Moralpostulate sind nur so weit allgemein, als sie aus der Struktur des Zusammenlebens i n der Gesellschaft folgen; sie dürften aber keineswegs von der A r t sein, daß an Stelle der moralischen Entscheidung des einzelnen die Manipulation oder Auferlegung der Willensrichtung von außen erfolgt. Die Wertungs- und Handlungsweise der Menschen ist nicht absolut frei schöpferisch; sie geht nicht in gleicher Weise von jedem Individuum aus, sondern w i r d durch die moralischen Einstellungen von starken Persönlichkeiten mehr beeinflußt als vom Durchschnittsmenschen. Doch geschieht dies über die Persönlichkeit und durch die Gestaltung des Willens jedes einzelnen, nicht aber unter Ausschaltung seines Wünschens und Wollens. Das A t t r i b u t des Moralischen kann eine durch Täuschung bewirkte Handlung nicht haben. Gegen eine Moralkonzeption, welche sich anmaßt, für den einzelnen zu bestimmen, was er wollen und was er tun soll, besteht der Einwand, daß niemand a priori zum Schiedsrichter über Gut und Böse berufen ist; wer glaubt, daß es nur darauf ankommt, die Menschen zu einem seinen Idealen entsprechenden Verhalten zu bringen — nicht nur durch Gewinnung ihrer Uberzeugung, sondern durch Täuschung und eigent-
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
lieh gegen ihren Willen —, der mißachtet den Menschen als Subjekt und nimmt jedenfalls grundlos an, daß seine eigene moralische Wertung absolut richtig und unfehlbar sei. Der demokratische Moralist fühlt sich dagegen bloß als Suchender, Ratender und Helfer, der die grundsätzliche moralische Koordination der Menschen postuliert. Er w i r d niemals versuchen, auf dem Weg der Lüge seine gesellschaftlichen und moralischen Vorstellungen oder Ideale zu verwirklichen. Der Großteil der menschlichen Tätigkeit besteht i n einer gewissen Form zwischenmenschlicher Kooperation. Der einzelne ist hierbei darauf angewiesen, daß sein Partner seine Rolle und seine Versprechen erfüllt sowie die für das kooperative Zusammenspiel notwendigen Informationen gibt. Das Wahrheitspostulat erhält hier sein spezifisches Gepräge: es w i r d zur Forderung, Versprechen zu halten und i n der Zusammenarbeit — in allen zwischenmenschlichen Beziehungen — das Prinzip des Handelns auf Treu und Glauben einzuhalten. Das Zusammenleben und die Zusammenarbeit stützen sich nicht nur auf ausdrückliche Übereinkünfte und Versprechen, sondern oft auf konkludentes Verhalten, welches Übereinkunft oder Versprechen der Gewohnheit und Sitte nach i n sich schließt. Die Rollen der Menschen sind vielfach durch die Situationen selbst gegeben, ohne besondere ausdrückliche oder konkludente Willensäußerungen. Es erscheint die Rolle als gesellschaftlich gegebene Bindung, m i t der die Gesellschaft rechnet. Dies sind Verpflichtungen der Sitte 7 . Bei der Verpflichtung, je nach der Rolle wahrheitsgemäß zu informieren, zeigt sich die weitreichende Relativität der Forderung, die Wahrheit zu sprechen und den Mitmenschen zu informieren. Die Typen dieser abgestuften Verbindlichkeiten gelten in ähnlicher Weise i n der Moral wie i m Recht. Perelman hat hier insoweit recht, als Informationspflicht und Wahrheitsgebot von der gegenseitigen Beziehung der Menschen — von ihren Rollen — abhängt. Die juristische Wertung ist hier jedenfalls auch für den Aufbau einer moralischen Typologie interessant, und die Annahme liegt nahe, daß die moralische Wertung von der juristischen nicht weit divergieren wird, wenn sie auch i m einzelnen strenger sein wird. Die je nach der Beziehung zwischen den Partnern geltende Relativierung der Verpflichtung, wahre Information zu geben, scheint durch7 Es kann daran gezweifelt werden, ob diese sittlichen Verpflichtungen i n jedem Falle moralisch ebenso verbindlich sind wie die übernommenen Rollen: man kann eine Auflehnung gegen die Sitte, die gegebenenfalls der geänderten oder sich ändernden sozialen Realität nicht entspricht, nicht immer als moralisch verwerflich betrachten.
I. Wahrheit, Recht und Moral
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aus nicht i n Konflikt m i t dem Wahrheitspostulat zu stehen, sondern sie ist bloß ein Zeichen der Strukturiertheit der gesellschaftlichen Beziehungen und deren Einwirkung auf die Informationsbindungen. Obwohl hier keine Typologie der möglichen interpersonalen Beziehungen i n bezug auf die studierte Frage ausgearbeitet werden soll, folgen einige typische Beispiele, welche die Differenzierung der Informationsverpflichtung illustrieren. Die Gestaltung dieser Verpflichtung ist immer i m wesentlichen durch zwei Faktoren bestimmt: durch die kooperative Bindung, welche eine Sachbeziehung, aber gleichzeitig für das Sollen bestimmend ist — und durch das ausdrückliche oder gewohnheitsmäßige Bewußtsein der Partner, ob und inwieweit sie Informationen erwarten können. Dort, wo eine wesentliche Einschränkung der Wahrheitspflicht besteht, rechnet der Partner damit und w i r d also nicht getäuscht. Wo aber Informationsverpflichtungen bestehen, ist der Mensch auf den Partner angewiesen und i m Falle unwahrer oder ausbleibender Informationen getäuscht und geschädigt. Es gibt also nichtmitteilende Beziehungen, die durch Spielregeln konstituiert sind, die die innere Bindung schützen, aber auch nach außen hin bekannt sind. Bei Mandatsbeziehungen ist es nicht nur Pflicht des Bevollmächtigten, i m Interesse des Mandanten zu handeln, sondern auch den Auftraggeber wahrheitsgemäß zu informieren. Man sollte aber die Informationspflicht nicht nur auf Seite des Mandatars sehen, sondern auch auf Seite des Mandanten. Es ist nicht nur eine Frage seines eigenen Interesses, den Mandatar i n allen relevanten Fragen richtig zu informieren, sondern eine Verpflichtung dem Mandatar gegenüber, der sonst nicht erfolgreich handeln kann. Die verschiedenen Formen der Kooperation bringen verschiedene Informationspflichten m i t sich; dies zeigt ein Vergleich der Beziehungen zwischen ζ. B. Fremden, Kompagnons, wissenschaftlichen Mitarbeitern, Konkurrenten. Es ist zu beachten, daß es auch Informationsverbote gibt, die eine innere Partnerschaft gegenüber äußeren Partnern bewirkt. Hierher gehören die Wahrung des Staatsgeheimnisses, Betriebs- und W i r t schaftsgeheimnisse vor den Augen der Konkurrenz u. ä. Dort, wo die innere Bindung nach außen h i n Schweigen gebietet, gibt es zwischen sozusagen feindlichen oder wenigstens entgegengesetzt interessierten Subjekten Informationskontakte und Übereinkünfte sowie Informationsfluß, die moralisch — ja auch rechtlich — verpflichtend sein können. Regulierungen der Konkurrenzbeziehungen, Kriegsrecht sowie andere normative Formung von Feindschaftsbeziehungen und deren Ablauf sind eine wohl begründete gesellschaftliche K u l t u r t a t sache.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
Einen besonders stark bindenden Charakter haben ganz enge Beziehungen, wie ζ. B. die Ehe. Da sich der Mensch i n einer solchen Beziehung besonders offen und ungeschützt findet, muß die Partnerschaft innerlich i n starken Informationsbindungen bestehen, nach außen h i n aber das, was den Partner entblößen könnte, geheimhalten. Außerdem kommt hier eine analoge Schweigsamkeitsverpflichtung zu ihrem Recht — wie beim Priester, A r z t oder Rechtsberater. Das ungestörte Funktionieren der letztgenannten Beziehungen ist n u r dann möglich, wenn der Mensch vertrauend auf Schweigsamkeit sein Problem eröffnen kann. Die Gesellschaft, die Moral und i n gewissem Maße auch das Recht setzen deswegen Schweigsamkeit — nicht offene Information — zur Pflicht. Da hierbei nicht Unwahrheit, sondern Schweigsamkeit gefordert wird, rechnet die Gesellschaft m i t dieser und w i r d also nicht mißinformiert; ja, sie erhält i m Ganzen vielleicht gar nicht weniger Informationen, als wenn die Schweigepflicht nicht bestünde: es käme nämlich bloß zu einer Einschränkung der erwähnten Funktionen, da man Priester, Arzt oder Rechtsberater weniger informieren würde. Die Schweigepflicht der erwähnten Typen erlischt nie, d. h. auch nach dem Tode des Gatten oder der Scheidung bleibt dem anderen Gatten die Pflicht, gewisse Informationen für sich zu behalten; der Geistliche darf sein Geheimnis auch dann nicht eröffnen, wenn der Gläubige ζ. B. aus der Kirche austritt. Es gibt natürlich eine weite Skala von Grenzgebieten, wo die Entscheidung zwischen Schweigepflicht oder Informationserlaubnis und Informationspflicht zur Entscheidung i n einer moralischen Konfliktsituation wird. Die Moral w i r d i n den Fragen der Schweigepflicht m i t dem Recht nicht konform gehen 8 , sondern meist strengere Forderungen stellen. Wie steht es m i t der Informationspflicht politischer Vertreter? Vom moralischen Standpunkt aus w i r d man m i t ganz wenigen Einschränkungen, die nur zum Schutz gegen den Feind dienen, eine Informationspflicht sehen; i n der politischen Praxis ist die Sachlage meist sehr kompliziert: es gibt viel Gelegenheit für einseitig gefilterte und einseitig wertend geführte Informationen, welche eine Manipulation der Massen bewirken. Diese Erscheinung ist nicht wegzuleugnen und kaum ganz 8 Es scheint m i r nicht richtig, w e n n manche Juristen die rechtliche Möglichkeit, sich der Zeugenschaft zu entschlagen, m i t der Tatsache begründen, daß es f ü r diese Personen unliebsam wäre auszusagen. Es handelt sich meiner Meinung nach vielmehr u m die Berücksichtigung v o n wahrscheinlichen (moralischen) Konfliktsituationen u n d u m eine Bestimmung, welche die Gefahr falscher erzwungener Aussagen vermeiden soll, u n d nicht u m ein Entgegenkommen gegenüber dem m i t dem angeklagten verwandten Zeugen — oder dem Zeugen, der sonst eine Straftat eingestehen müßte.
I. Wahrheit, Recht und Moral
143
abzuschaffen; ich halte sie für gesellschaftlich schädlich. Deshalb sollte man vom politischen und moralischen Standpunkt aus darüber nachdenken, wie die Informationsfilter und die Manipulation durch die angeführten Informationsweiten eingeschränkt werden können. Hier dürften nur eine effektive Entmonopolisierung des Nachrichtendienstes und die Herausbildung eines Objektivitätsbewußtseins des Journalisten M i t t e l gegen die tendenziösen Verzeichnungen sein. Nicht nur i n der Politik, sondern auch i n der Wissenschaft sind Maßnahmen zum Schutz des freien Meinungsaustausches gesellschaftlich notwendig. I n dem gesellschaftlichen Leben unserer Zeit treten viele Filter auf: von der Zensur bis zur Existenzbedrohung bei Meinungsverschiedenheit gegenüber der offiziellen Ideologie und pseudowissenschaftlichen Lehre. Diese Filter unterbinden die Dialektik der Erkenntnis und sind gesellschaftsschädigend. Interessante Beziehungen bestehen zwischen gesellschaftlichen Informationen und der Herrschaftsform. Wenn man fragt, wer herrscht, wer den Staat oder die Gesellschaft lenkt, dann folgt aus der Abhängigkeit des Entscheidens und Lenkens von Informationen, daß nur der herrscht, der Z u t r i t t zu den relevanten Informationen hat. Die demokratische Herrschaftsform ist undenkbar ohne Informationsfreiheit. Zensur und gesellschaftliche Informationsfilter sind untrügliche Zeichen eines undemokratischen politischen Lebens. Hierbei kommt es mehr auf die tatsächliche Lage an als auf die am Papier geltenden Bestimmungen. 5. Abschließende
Überlegungen
Das Wahrheitspostulat ist als ein Fundamentalpostulat der Moral anzusehen. Dem tun auch die Einschränkungen keinen Abbruch. Die grundlegende Allgemeingültigkeit des Wahrheitspostulats ist an gewisse Voraussetzungen gebunden — und an die Frage, ob das entworfene Strukturbild i m wesentlichen adäquat ist. I n diesem Rahmen erscheint es dann als universell gültig, denn seine Begründung stützt sich auf allgemeine informationstheoretische Überlegungen, welche für jede Gemeinschaft auf einer gewissen Stufe gelten — und auf eine Strukturanalyse des Handelns und der Kooperation, die überall dort gilt, wo solche Strukturen auftreten. Das Wahrheitspostulat gilt in weitgehend analoger Weise — aber nicht vollkommen gleich — als moralisches Postulat und als Grundsatz des Rechts. Die Pflicht zur Wahrheit (inklusive Schweigepflicht) ist situationsrelativ — abhängig von der gegenseitigen Beziehung der Partner, von ihren Rollen und den eingegangenen Verpflichtungen (Versprechen).
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
Treue und Glaube gelten sowohl für die Moral als auch fürs Recht. Das Wahrheitspostulat ist zwar fundamental, aber relativ zu dem Typus der Beziehungen zwischen den Menschen und zu den dadurch bestimmten oder ausdrücklich normierten Spielregeln. Dort, wo es die Spielregeln zulassen, bedeutet die Modifizierung der Wahrheitsforderung und auch die Schweigepflicht keine Verletzung des Wahrheitspostulates. Die weitgehende Parallelität der Wahrheitspflicht i n Recht und Moral fußt auf der Tatsache, daß es hier wie dort aus der Gesellschaftsstruktur, dem Wesen des Handelns und der Rolle der Kommunikation fließende Verpflichtungen sind; die Unterschiede lassen sich durch die Verschiedenheit der moralischen und rechtlichen Ordnung begründen. Die Relativität der Wahrheitsforderung hat neben der Situationsgebundenheit noch eine zweite Seite: Die Wahrheitspflicht kann auch als Moment von Pflichtkonflikten auftreten und gegebenenfalls von schärferen Verpflichtungen überstimmt werden. Aber auch hier gilt die Präsumtion: wenn man nicht weiß, was stärker gebietet, dann wähle man lieber den Weg der Wahrheit. Ich bin davon überzeugt, daß der Weg der Wahrheit eine hervorragende Methode zur Lösung von Konfliktsituationen ist und oft dazu dient, durch kleine Konflikte großen und ernsten vorzubeugen. Das Wahrheitspostulat scheint i n der moralischen Betrachtung meist mehr zu fordern und schärfere Pflichten aufzuerlegen als das Recht. Auch i m Bereich des Rechts gibt es aber eine Beziehung, i n der das Wahrheitspostulat sozusagen unbedingt gilt: Die Tatsachenfeststellung, welche die Basis rechtlicher Entscheidungen bildet, muß grundsätzlich — i n jedem Rechtssystem — unbedingt wahrheitsstrebend sein: nicht nur dem Papier nach, sondern als lebendige Tatsache9. Unabhängig von den Wertungsmaßstäben des positiven Rechte ist jede be wußte Verzeichnung der Wahrheit zum Zwecke der Aburteilung eines Angeklagten — mag sie von wem auch immer angeordnet worden sein, mag sie sich m i t „höheren Zielen" oder was immer rechtfertigen — ein Justizverbrechen. I n diesem Sinne ist das Wahrheitspostulat eine Vorbedingung der Gerechtigkeit. I n einer Gesellschaft unbekannte oder aus rechtstechnischen Gründen unverfolgbare Widerrechtlichkeiten w i r d man als ungerecht empfinden. Die Möglichkeit des Nicht-Bekannt-Werdens der Widerrechtlichkeit ist i n jedem System eine soziologische Tatsache, kaum vollkommen vermeidbar und gegebenenfalls besser als der 9 Die tiefste Schande der Rechtsprechung — die stalinistischen Schauprozesse — verletzte i n ganz zynischer Weise das Wahrheitspostulat der Tatsachenfeststellung: relativ wenig auf dem Papier, i n ungeheurem Ausmaß aber i n der Tat.
I. Wahrheit, Recht und Moral
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Justizirrtum, die Verfolgung und Bestrafung Unschuldiger. Wie die Erfahrung zeigt, läßt sich das nicht vollkommen ausschließen, sondern nur sehr unwahrscheinlich machen. Gesellschaftliche Filter, welche die Meinungsdialektik unterbinden, sind ein verläßliches Zeichen eines undemokratischen Systems. Es scheint daher sinnvoll, eine Typologie der Staatsformen (Herrschaftssysteme) zu schaffen, welche als Charakteristikum den gesellschaftlichen Informationsfluß anwendet, denn aus diesem K r i t e r i u m läßt sich erkennen, wer die Entscheidung trifft, d.h.: wer regiert.
10 Weinberger
D/II. Gleichheitspostulate* Eine strukturtheoretische und rechtspolitische Betrachtung
„Gleichheit" ist ein Schlagwort von Revolutionen, eine zentrale Frage politischer Programme und Theorien; Gleichheit ist ein Grundbegriff der philosophischen und der rechtstheoretischen Untersuchungen über die Gerechtigkeit. Die m i t dem Begriff der Gleichheit zusammenhängenden Fragen gehören aber auch zu den wichtigen Grundlagenproblemen der Logik, der Mathematik und der Methodologie der empirischen Wissenschaften: I n der Logik sind es die Fragen der Definierbarkeit der Identität durch universelle Gleichheit (principium identitatis indiscernibilium) und der Rolle der Gleichheitsrelation bei der Begriffsbildung durch Abstraktion; i n der Mathematik handelt es sich u m das Problem, ob die natürlichen Zahlen m i t rein logischen M i t t e l n definiert werden können und ob Zahlenaussagen auf Aussagen ohne spezifisch mathematische Begriffe reduzierbar sind; die Methodologie der empirischen Wissenschaften fragt nach der empirischen Feststellbarkeit von Gleichheit und Verschiedenheit und studiert die Beziehung zwischen idealisierter und empirischer Gleichheit. M i t einigen dieser Fragen habe ich mich i n früheren Arbeiten befaßt 1 ; Gegenstand der folgenden Betrachtungen sind bloß die j u r i stischen Probleme der Gleichheit, und zwar gleichermaßen die strukturtheoretischen wie die hierher gehörenden rechtsphilosophischen Probleme. W i l l man die juristische Problematik der Gleichheit m i t klarer Vernunft, und nicht m i t der Rhetorik des politischen Propagandisten behandeln, muß man vorerst das logische Instrumentarium vorbereiten und eine Analyse der Begriffe „Gleichheit", „Verschiedenheit" und „Identität" geben. Man muß eine scharfe Abtrennung des Postulats der formalen Gleichheit von den inhaltlichen Gleichheitsforderungen durchführen. Erst auf dieser Basis kann eine sachliche Stellungnahme zu * Dieser Aufsatz gibt i m wesentlichen meine Antrittsvorlesung als O r d i narius f ü r Rechtsphilosophie wieder, welche ich a m 23. März 1973 an der Rechts- u n d Staatswissenschaftlichen F a k u l t ä t i n Graz gehalten habe. 1 Weinberger, O.: Philosophische Studien zur Logik, I. Einige Bemerkungen zum Begriff der Identität, Rozpravy CSAV, Prag 1964.
II. Gleichheitspostulate
147
den juristischen und rechtspolitischen Fragen, die hier behandelt werden sollen, erfolgen. 1. Logische und erkenntnistheoretische Probleme der Gleichheit und Identität Gleichheit (Verschiedenheit) des Gegenstandes α m i t dem Gegenstand b w i r d immer nach einem oder mehreren Kriterien beurteilt: Gegenstände sind gleich groß, gleich schwer, gleich gut, gleich teuer, usw. 2 . Je nach dem Gesichtspunkt des Vergleiches gibt es also verschiedene Gleichheiten. Verschiedene Gleichheiten können zusammengefaßt werden: α kann gleich schwer und gleich groß sein wie b (Größe-SchwereGleichheit). Die vektorielle Gleichheit von Kräften ist Größe-Richtungs-Gleichheit. Wenn man ohne nähere Bestimmung von Gleichheit spricht, meint man entweder universelle Gleichheit, d. h. Gleichheit nach allen K r i terien — meist m i t Ausnahme der raum-zeitlichen Bestimmungen 3 —, oder Gleichheit i n allen i m gegebenen Kontext relevanten Eigenschaften. I m Alltagsleben und i m Bereich des Rechts handelt es sich meist um Gleichheit nach allen relevanten Gesichtspunkten. Man muß empirische und begriffliche Gleichheiten unterscheiden. Wo Gleichheit oder Verschiedenheit als empirisches Datum aufgefaßt wird, bestimmt man die Gleichheitsart durch Operationalisierung, d. h. durch eine Handlungs- und Beobachtungsvorschrift, wie Gleichheit und Verschiedenheit empirisch festgestellt werden können. Es w i r d ζ. B. die Gewichtsgleichheit durch die Benützungsanleitung der Waage bestimmt 4 . Die begrifflichen (oder idealisierten) Gleichheiten haben folgende formale Eigenschaften: sie sind reflexiv, symmetrisch und transitiv; die empirischen Gleichheiten sind reflexiv, symmetrisch, aber nur teiltransitiv. Die begriffliche Gleichheit beruht auf gedanklicher Konstruktion — wie i n der Mathematik — oder auf einer Idealisierung, welche von den 2
Husserl , E.: Logische Untersuchungen, Halle 1901, Bd. I I , S. 112: „ W i r können zwei Dinge nicht als gleich bezeichnen, ohne die Hinsicht anzugeben, i n der sie gleich sind." 3 Über die zwei verschiedenen Begriffe der universellen Gleichheit je nachdem, ob raum-zeitliche Bestimmungen als K r i t e r i e n ein- oder ausgeschlossen werden, siehe meine i n Fußnote 1 angeführte Schrift, S. 7 ff. 4 Esigibt zwei Methoden, w i e Gleichheit empirisch festgestellt werden k a n n : den direkten Vergleich, z.B. w e n n m a n die Länge zweier Stäbe durch A n einanderlegen vergleicht, u n d den indirekten Vergleich, der die Ergebnisse der Messung des Gegenstandes α u n d der Messung des Gegenstandes b k o n frontiert. 10*
148
D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
Schwellen und Fehlern der empirischen Gleichheitserkenntnis absieht und m i t der Gleichheit als einem exakten Datum arbeitet. Die von der Erkenntnisschärfe absehende idealisierende Untersuchung erlaubt eine wichtige Vereinfachung der Überlegung u n d bietet ein durchsichtigeres B i l d der Realität, denn in diesem Modell ist die Gleichheit transitiv 5 . I m deutschen Sprachbewußtsein ist leider der Unterschied zwischen den Begriffen der Gleichheit und Identität nicht genügend klar 6 . I n der Sprache der Wissenschaft müssen diese Begriffe scharf auseinandergehalten werden. α ist identisch m i t b genau dann, wenn der Name ,α' und der Name ,b' ein und denselben Gegenstand bezeichnen 7 . Eine Identitätsaussage gibt uns dann und nur dann eine Information, wenn i n ihr verschiedene Namen auftreten; d. h. wenn sie die Struktur ,α ist identisch m i t b* hat; n i m m t sie die Form ,α ist identisch m i t α' an, w i r d sie informationsleer 8 . Nach der oben angeführten Definition ist es offensichtlich, daß die Identität keine Stufen oder Grade haben kann. Es gibt auch keine partielle Identität 9 . Empirische Gleichheit t r i t t aber m i t Genauigkeitsgrenzen auf. Es ist offensichtlich, daß aus der Identität von α und b folgt, daß α m i t b gleich ist, und zwar nach jedem Gleichheitskriterium: « Vgl. Körner, St.: Grundfragen der Philosophie, München 1970, insbes. S. 101 ff. I n gewissen philosophischen u n d gnoseologischen Analysen muß der Unterschied zwischen der transitiven Gleichheit i m idealisierten Modell u n d der teiltransitiven empirischen Gleichheit w o h l beachtet werden. Eine Erkenntnistheorie, welche den aktiv-modellierenden Charakter u n seres Erkennens unterstreicht, rechtfertigt das Arbeiten m i t der begrifflichen (idealisierten) Gleichheit auch auf empirischem Gebiet. 6 M a n verwendet z.B. oft „derselbe" i m Sinne v o n „gleich" („Ich habe denselben Pullover w i e du"). Auch i n der deutschen wissenschaftlichen T e r minologie w i r d Gleichheit u n d Identität vermengt, z . B . spricht m a n i n der L o g i k von „Gleichheit der Klassen", doch geht es eigentlich u m Identität, u n d i n der Biologie von „identischer Reduplikation" der Chromosomen. I n anderen Sprachen (z.B. i m Tschechischen) ist diese wichtige Unterscheidung v i e l mehr i m allgemeinen Bewußtsein der Sprachbenutzer verankert. 7 Frege, G.: Über Sinn u n d Bedeutung (1892), zitiert nach Patzig, G. (Hrsg.), Funktion, Begriff, Bedeutung, Göttingen 1966, S. 40 f. 8 H i e r ist die Frage berechtigt, ob diese Information eine Information über Gegenstände ist, d . h . objektsprachlich zu verstehen ist, oder ob sie metasprachlich als Aussage über Beziehungen i n der Sprache gemeint ist. I d i glaube, es k a n n j e nach der Erkenntnissituation das erste, zweite oder beides der F a l l sein. Vgl. auch Frege, op. cit. 9 Dennoch spricht m a n auch i n Schriften der Logiker gelegentlich von partieller Identität (ζ. B. Pfänder, Α . : Logik, S. 336); es gibt aber n u r Identität von Teilen, die zu verschiedenen Komplexen gehören können, nicht teilweise Identität.
II. Gleichheitspostulate (α I b)
A F [F (α)
F ( b)]
149
(1)
i n Worten: wenn a identisch ist m i t b, dann gilt für jede Eigenschaft F: hat a die Eigenschaft F, dann hat auch b die Eigenschaft F. Es fragt sich aber, ob auch die umgekehrte Implikation gilt: Λ F fF (α)
F (b)]
(alb)
(2)
i n Worten: wenn für jede Eigenschaft F gilt, daß, wenn α die Eigenschaft F hat, auch b die Eigenschaft F hat, dann ist α identisch m i t b. Ferner ist zu fragen, ob die Identität durch universelle Gleichheit definiert und erkannt werden kann. W i r stehen hier vor dem viel diskutierten Problem der Identitas indiscernibilium, auf das ich hier nicht eingehen kann 1 0 . Wenn man α und b als zwei Objekte erkennen soll, muß festgestellt sein, daß es wenigstens eine solche Eigenschaft F gibt, die α, aber nicht b zukommt; es w i r d hier nach dem Satz vorgegangen: V F [F (a) Λ-,
F (b)]
- (al b)
(3)
i n Worten: Wenn es wenigstens eine Eigenschaft F gibt, die α, nicht aber b zukommt, dann ist α nicht identisch m i t b [d. h. α und b sind verschieden]. (3) ist m i t (1) äquivalent 1 1 . Für unsere juristischen Überlegungen müssen w i r festhalten: Identität liegt nur dann vor, wenn es sich um eine Beziehung zwischen ein und demselben Gegenstand handelt. Gleichheit kann auch zwischen zwei oder mehreren Gegenständen bestehen. Es gibt Gleichheit nach einem bestimmten Kriterium, Gleichheit nach allen i m gegebenen Kontext relevanten Kriterien und universelle Gleichheit. Zwei Gegenstände oder Rechtsfälle unterscheiden sich untereinander wenigstens durch ihre raum-zeitlichen Koordinaten. Es ist aber durchaus möglich — auch das Prinzip der Identitas indiscernibilium schließt dies nicht aus —, daß sie i n beliebig vielen oder i n allen relevanten Eigenschaften m i t beliebiger Genauigkeit gleich sind 1 2 . 10 Z u diesem Problem siehe: Weinberger, O.: op. cit. Ich hätte zwar noch einiges hinzuzufügen u n d zu präzisieren, doch ist diese Studie hierzu nicht die passende Stelle. 11 Satz (2) w i r d zur Feststellung der Verschiedenheit nicht herangezogen. Das Prinzip der Identität der ununterscheidbaren Dinge ist daher nicht Voraussetzung des Zählens. — Anders: Russell, B.: A n I n q u i r y into Meaning and T r u t h , 19432, S. 102 f.; vgl. meine K r i t i k i n op. cit., S. 20. Z u m Beweis des Nicht-Einsseins w i r d bloß (3) herangezogen; das Zählen ist also unabhängig davon, ob m a n das Prinzip der Identitas indiscernibilium akzeptiert. 12 Das Prinzip der Identitas indiscernibilium schließt keineswegs aus, daß zwei Objekte i n gewissen Eigenschaften v o l l k o m m e n oder i n beliebig vielen Eigenschaften m i t unbegrenzter Genauigkeit gleich sind; ausgeschlossen w i r d
150
D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
Die philosophischen Analysen der Gleichheit und Verschiedenheit begründen i n keiner Weise die i n der Rechtstheorie immer wieder vertretene These, daß jeder Rechtsfall von jedem anderen verschieden sei. Die These von der Einzigartigkeit jedes Rechtsfalles ist eine unbegründete Phrase. 2. Die Formulierung des Prinzips der formalen Gleichheit und seine Abtrennung von inhaltlichen Postulaten Das Prinzip der formalen Gleichheit können w i r i n folgender Weise formulieren: Unter gleichen, als relevant anerkannten Bedingungen sollen gleiche Rechtsfolgen gesetzt werden.
(4)
Es läßt sich leicht zeigen, daß dieses Prinzip gleichwertig ist m i t der Forderung, juristisch nach generellen Sollensregeln zu urteilen. Lautet nämlich die generelle normative Regel: F ü r jedes χ g i l t : w e n n die Bedingungen A erfüllt sind, dann soll χ ein Verhalten Β an den Tag legen,
(5)
liefern die zwei Untersätze Die Person P 1 erfüllt die Bedingungen A, Die Person P 2 erfüllt die Bedingungen Α ,
(6) (6')
die Konklusionen P 1 soll ein Verhalten Β an den Tag legen P 2 soll ein Verhalten Β an den Tag legen,
(7) (T)
welche genau dem Grundsatz der formalen Gleichheit entsprechen. Umgekehrt kann nach Maßgabe des formalen Gleichheitspostulats die generelle Regel (5) aufgestellt werden, sobald die rechtssetzende Entscheidung getroffen ist, welche Momente als die relevanten Bedingungen gelten und welche Rechtsfolgen sie zeitigen. Das Prinzip t r i t t oft i n der gedrängten Kurzform „Gleiches ist gleich zu beurteilen und zu behandeln" auf. Wenn Klarheit darüber herrscht, daß erst durch die normsetzende Entscheidung bestimmt wird, was für die juristische Wertung relevant ist, also worauf sich die bedingende Gleichheit bezieht, kann diese Kurzform akzeptiert werden. Z u tiefer Verwirrung führt aber die ziemlich verbreitete Formulierung des Prinzips der formalen Gleichheit durch den Satz: Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu beurteilen, respektive zu behandeln 1 3 .
(8)
durch dieses Prinzip bloß, daß zwei Gegenstände i n allen Eigenschaften (inklusive der Raum-Zeit-Koordination) absolut gleich sind. 13 Siehe z.B. Henkel, H.: Einführung i n die Rechtsphilosophie, M ü n c h e n B e r l i n 1964, S. 305.
II. Gleichheitspostulate
151
W i r d versucht, den zweiten Teil von (8) — nämlich: „Ungleiches ist ungleich zu beurteilen" — i n analoger Weise wie den ersten Teil zu deuten, dann zeigt sich, daß solch ein Prinzip ganz unbegründet wäre und daß es jedenfalls nicht gilt. Denn zweifellos können ohne jegliche Schwierigkeiten logischer, philosophischer oder juristischer Natur nebeneinander zwei normative Regeln bestehen, die unter verschiedenen Bedingungen gleiche Sollfolgen setzen: F ü r jedes χ g i l t : w e n n A , soll χ C tun. F ü r jedes χ gilt : w e n n B, soll χ C tun.
(9) (10)
Es kann ζ. B. für sachlich ganz verschiedene Delikte dieselbe Strafe als Rechtsfolge festgesetzt sein. Als formales Prinzip gedeutet, gilt also nicht, daß Ungleiches ungleich behandelt werden soll. W i l l man der These, daß Ungleiches ungleich beurteilt, respektive behandelt werden soll, einen guten Sinn geben, muß man sie als inhaltlichen Wertungsgrundsatz deuten. Es seien F ü r j edes χ g i l t : w e n n A , soll χ C tun. F ü r jedes χ g i l t : w e n n B, soll χ D tun.
(11) (12)
zwei vergleichbare normative Regeln. Schätzt man die Bedingungen A und Β der normativen Regeln (11) und (12) i m Sinne eines Wertungssystems als wertgleich ein, dann kann gefordert werden, daß wertgleiche normative Folgen (C, D) zu setzen sind; werden aber A und Β nach diesem Wertungssystem verschiedene Werte beigemessen, dann sollen auch sachlich und wertmäßig verschiedene Rechtsfolgen gesetzt werden 1 4 . Sind die Subsumtionsbedingungen zweier Rechtssätze wertmäßig gleich, sollen es auch die Rechtsfolgen sein; sind jene wertmäßig verschieden, sollen auch diese wertmäßig verschieden sein. Es läßt sich noch mehr sagen: Die positiver gewerteten Bedingungen sollen wertmäßig proportional höherwertige Rechtsfolgen haben, und umgekehrt; ζ. B.: Wertmäßig gleiche — wenn auch sachlich verschiedene — Delikte sollen gleiche (wenigstens wertmäßig gleiche) Strafen nach sich ziehen; wertmäßig verschiedene Delikte wertmäßig verschiedene Strafen, oder bestimmter: schwerere Delikte schwerere Strafen. Die ersten rechtsphilosophischen Ergebnisse unserer Untersuchung lauten: Formale Gleichheit ist logisch gleichwertig m i t dem Grundsatz, daß die rechtliche Beurteilung nach generellen Regeln erfolgen soll. 14 Ich möchte hier die einleuchtende These der formalen Axiologie i n E r innerung bringen, daß verschiedene Gegenstände wertgleich sein können, daß aber wertverschiedene Gegenstände auch sachlich unterschiedlich sein müssen.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
Das Postulat der formalen Gleichheit kann in der Form ausgedrückt werden: Unter gleichen, als relevant anerkannten Bedingungen sollen gleiche Rechtsfolgen gesetzt werden.
(4)
Man kann auch die Kurzform „Gleiches ist gleich zu beurteilen (zu behandeln)" akzeptieren, muß aber den Zusatz „Verschiedenes verschieden" streichen, da dieser nur als inhaltliches Wertungsprinzip gilt. Nach dieser Präzisierung des Postulates der formalen Gleichheit und seiner scharfen Isolierung vom Prinzip der inhaltlichen Wertung können w i r nun die juristische Bedeutung dieses Postulats ins Auge fassen. 3. Die Bedeutung der formalen
Gleichheit
Eines der philosophisch wichtigsten Ergebnisse der modernen logischen Analyse ist die Erkenntnis, daß jede rein formale Beziehung inhaltsleer ist und daß die formalen Operationsregeln unschöpferisch sind. Die Strukturen sind — bildlich gesagt — leere Behälter für beliebige denkbare Inhalte. Das formale Folgern ist ein Umgestalten von Inhalten (oder von Schemen möglicher Inhalte), welches auf keine Weise Realinformationen ohne vorgegebene inhaltliche Prämissen liefern kann. Ein philosophischer Rationalismus i n dem Sinne, daß aus der Vernunft selbst, aus Strukturerkenntnissen oder formalen Regeln Erkenntnisse über tatsächliches Sein abgeleitet werden können, muß daher als prinzipiell uneinlösbar verworfen werden. Analoges gilt nun aber auch für den Bereich der Normen und Werte. Formale Prinzipien und Regeln liefern keine M i t t e l für eine inhaltliche Bestimmung „wahrer" Werte oder „richtigen" Sollens. Das Prinzip der formalen Gleichheit bildet hiervon naturgemäß keine Ausnahme: Es ist absolut inhaltsleer und wertneutral. Das bedeutet auf der einen Seite, daß aus diesem Prinzip allein i n keiner Weise irgendein Argument für eine rechtspolitsiche Einstellung oder eine inhaltliche Rechtskonzeption gewonnen werden kann; auf der anderen Seite folgt daraus, daß jedes Wertsystem und jede logisch konsistente Sollensordnung m i t ihm i n Einklang gebracht werden können. Endgültig zu begraben ist also die Hoffnung, daß aus reiner Vernunft, aus einem formalen Prinzip — heiße es nun kategorischer I m perativ, Prinzip der formalen Gerechtigkeit oder anders — Begründungen für objektive, also überpositive, Grundsätze abgeleitet werden könnten. Die Tatsache, daß von verschiedenen Seiten gegen die formale Gleichheit angekämpft wird, ist nur dadurch zu erklären, daß das Wesen
II. Gleichheitspostulate
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dieses Prinzips nicht klar gesehen und daß seine scharfe Abtrennung von inhaltlichen Postulaten nicht immer präzise durchgeführt wird. Von marxistischer Seite w i r d behauptet, daß die formale Gleichheit ungerecht sei, weil sie gleiches Recht für sozial ungleiche Menschen setze 15 . Wenn man aber das Prinzip der formalen Gleichheit rein formal versteht, dann ist dieser Einwand hinfällig: Jeder Umstand — also auch jedes Moment der Ungleichheit der Personen — kann als eine das Sollen differenzierende Bedingung i n die Rechtsregel aufgenommen werden. Von der anderen Seite w i r d i n der Tendenz, nicht nur ein differenzierendes Recht zu begründen, sondern die Gleichstellung der Menschen abzulehnen, gegen die Gleichheit plädiert. Ich darf hier als markanten Beleg Wilhelm Sauer zitieren. „Die Gerechtigkeit beruht nicht auf Gleichheit, sondern auf Verschiedenheit wegen der Einmaligkeit der konkreten Fälle, Sachen und Personen." „Ferner liegt der K e r n (sc. der Gerechtigkeit — Anmerkung O. W.) nicht i n der Gleichheit der Behandlung der Personen (Vertauschbarkeit, Umkehrbarkeit), nicht i n dem Absehen von der Verschiedenheit, sondern gerade i n dem Betonen der Verschiedenheit, da kein Fall gleich liegt und keine Person der anderen völlig gleicht 16 ." Die richtige These, daß die rechtlichen Gebote unter Berücksichtigung differenzierender Bedingungen gesetzt werden müssen, w i r d hier umgebogen i n eine Ablehnung der Gleichheit als Bedingung der Gerechtigkeit. Sauers These betrifft drei Probleme: die formale Gleichheit, die Einzelfallgerechtigkeit und die inhaltlichen Gleichheitspostulate. Hier nur zum ersten Problem. Die formale Gleichheit schließt die Differenzierung des rechtlichen Sollens nicht aus, nicht einmal eine Kastengesellschaft oder undemokratische, elitäre Unterscheidung von Rechtspositionen. Sie macht eine Vgl. Marx, K . : K r i t i k des Gothaer Programms, Marx-Engels-Werke, Bd. 19, S. 21 f. „Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht f ü r ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, w e i l jeder n u r Arbeiter ist w i e der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung u n d daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem I n h a l t nach, w i e alles Recht. Das Recht k a n n seiner N a t u r nach n u r i n Anwendung von gleichem Maßstab bestehen; aber die ungleichen I n d i v i d u e n (und sie wären nicht verschiedene Individuen, w e n n sie nicht ungleiche wären) sind n u r an gleióhem Maßstab meßbar, soweit m a n sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie n u r von einer bestimmten Seite faßt, ζ. B. i m gegebenen F a l l sie n u r als Arbeiter betrachtet u n d weiter nichts i n ihnen sieht, v o n allem andern absieht. Ferner: E i n Arbeiter ist verheiratet, der andre niòht; einer hat mehr K i n d e r als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung u n d daher gleichem A n t e i l an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. U m alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein." ™ Sauer, W.: Gerechtigkeit, B e r l i n 1959, S. 11.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
solche Differenzierung jedoch explizit. Und gerade hierin liegt die große methodologische und rechtspolitische Bedeutung des Prinzips. Unsere strikte Behauptung von der Wertneutralität und Leerheit des Prinzips führt zur Frage: „Hat dieses Prinzip überhaupt eine Bedeutung?" Es hat die Rolle eines analytischen Instruments — und als solches eine immense Bedeutung für rechtspolitische Überlegungen. Es schließt zwar selbst als formales Prinzip keinerlei differenzierende Bedingungen und keinerlei Rechtsfolgen aus, es nötigt uns aber, diese Bedingungen und Folgen ausdrücklich anzuführen. Hierdurch werden sie der wertenden K r i t i k vor Augen geführt. Das ist der Weg zur Transparenz und zur demokratischen Diskussion. Es ist daher gar nicht verwunderlich, daß sowohl einige links stehende Denker ebenso wie einige Theoretiker des rechten Lagers das an und für sich leere — aber instrumental effektiven — Prinzip der formalen Gleichheit ablehnen. Über die Bedeutung des Prinzips der formalen Gleichheit können w i r nun folgende Thesen aufstellen: Eine Begründung von Grundsätzen naturrechtlicher A r t aus formalen Prinzipien ist unmöglich. Das Prinzip der formalen Gleichheit ist wertneutral und als formales Prinzip ohne inhaltliche Implikationen; daher ist es m i t jeder konsistenten Wertauffassung verträglich. Es ist ein effektives Intsrument der rechtspolitischen Analyse, denn es zwingt die relevanten Momente der rechtlichen Differenzierung explizit zu machen, und ermöglicht dadurch, sie einer demokratischen, wertenden K r i t i k zu unterziehen. 4. Gleichheit vor dem Gesetz I n enger Beziehung zur formalen Gleichheit steht die Gleichheit vor dem Gesetz. Sie ist formale Gleichheit, bezogen auf eine bestimmte Rechtsordnung, deren Rechtsregeln festsetzen, welche Momente rechtlich relevant sind und welche Rechtsfolgen unter diesen Bedingungen eintreten sollen. Der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz erscheint so gesehen als leer, da er keinerlei Beschränkung für den Gesetzgeber enthält und vom Rechtsanwender nur fordert, daß er nach den generellen Gesetzen entscheiden solle 17 . 17 Kelsen, H.: Reine Rechtslehre, Wien I960 2 , S. 146: „Statuiert die Verfassung nicht ganz bestimmte Unterschiede, die i n den Gesetzen i n bezug auf die I n d i v i d u e n nicht gemacht werden dürfen, u n d enthält die Verfassung eine die Gleichheit der I n d i v i d u e n proklamierende Formel, bedeutet diese v e r fassungsmäßig garantierte Gleichheit k a u m etwas anderes als Gleichheit vor dem Gesetz. M i t der Garantie der Gleichheit vor dem Gesetz w i r d jedoch n u r statuiert, daß die rechtsanwendenden Organe n u r jene Unterschiede
II. Gleichheitspostulate
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Der i n rechtlichen Bestimmungen vom Typus des A r t . 7 (1) erster Satz des B.-VG positivierte Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz hat aber positivrechtliche Bedeutung als Interpretationsmaxime, derzufolge die rechtlich differenzierende Relevanz persönlicher Verschiedenheiten ausdrücklich normiert sein müsse, sonst aber Gleichheit zu präsumieren sei. Durch diese Funktion als Interpretationsmaxime ist die Norm von der Gleichheit vor dem Gesetz mehr als das Postulat der Normgemäßheit der Rechtsanwendung 18 . Die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes versteht diesen Gleichheitsgrundsatz auch i m Sinne einer an den Gesetzgeber gerichteten Metanorm, „die w i l l k ü r liche, unsachliche Differenzierungen auf dem Gebiete der Normsetzung" verbietet 1 9 . Sicherlich sind solche Bestimmungen über die Gleichheit vor dem Gesetz auch als Gesetzgebungsmaximen gemeint, d. h. sie fordern vom Gesetzgeber und vom Richter nur sachlich begründete Differenzierungen der Rechtsstellung von Personen zu setzen. Man spricht hier vom Begründungszwang der Ungleichbehandlung 20 . Was aber als sachlich begründetes Moment der Differenzierung anzuerkennen ist, ist — soweit es nicht ausdrücklich garantierte Diskriminationsverbote betrifft — eine Wertungsfrage und eine Dezision der Normerzeugung. Es bestehen kaum Möglichkeiten für begründete verfassungsgerichtliche Eingriffe außer in Zusammenhang m i t anderen Verfassungsbestimmungen, die gleichzeitig als verletzt erscheinen. 5. Inhaltliche
Gleichheitspostulate
Ich gehe nun zu den inhaltlichen Gleichheitspostulaten über. Es sind drei Arten solcher Postulate zu unterscheiden: Diskriminationsverbote, Gleichheit nach Gerechtigkeitsmaßstäben und Egalitätsforderungen oder Postulate des sozialen Ausgleichs. Diskriminationsverbote. Der Kampf gegen Privilegien und Diskriminationen gesellschaftlicher Gruppen gehört zu den grundlegenden Charakterzügen der demokratischen Weltanschauung. I n der juristischen Sphäre leisten dies die Gleichheitspostulate vom Typus des Art. 7 (1) 2. Satz B.-VG. „Vorrechte der Geburt, des Geschlechts, des berücksichtigen dürfen, die i n den anzuwendenden Gesetzen selbst gemacht sind. D a m i t ist aber n u r das allem Recht immanente Prinzip der Rechtmäßigkeit der Rechtsanwendung i m allgemeinen u n d das allen Gesetzen immanente Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Gesetzesanwendung, also n u r statuiert, daß Normen normgemäß anzuwenden sind. D a m i t ist aber nichts anderes als der den Rechtsnormen immanente Sinn ausgesprochen." 18 Anders Kelsen, H.: i m oben angeführten Zitat. i» Vgl. z. B. VerfGH, Erk. 3197, 1957. 20 Vgl. Podlech , Α.: Gehalt u n d F u n k t i o n des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, B e r l i n 1971.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen." Hier w i r d eine Metanorm für die Zulässigkeit von Gesetzesinhalten aufgestellt, welche verbietet, gewisse Merkmale als Kriterien der Differenzierung von Rechtsfolgen heranzuziehen. I n der politischen Terminologie sagt man, daß durch solche Regeln — sie haben meist als Verfassungsgesetze höhere normative K r a f t — eine rechtliche Diskrimination verboten wird. Es werden positive oder odiose Privilegien des religiösen Bekenntnisses 21 , der Nationalität, der Rasse, des Geschlechts, des Berufs, der Klasse sowie Adelsprärogativen ausgeschlossen. Nicht weniger wichtig erscheint es heute, etwaige Vorrechte aus einer Parteimitgliedschaft auf diese Liste zu setzen. Ich verweise auf die wesentlichen Diskriminationen i m Zugang zu qualifizierten Berufen, zu öffentlichen Funktionen und zur Wisenschaft i n der Praxis der Oststaaten und ζ. B. auf das Lehrerproblem i n Österreich. Durch die Diskriminationsverbote w i r d Gleichheit des Rechts für verschiedene Gruppen gefordert, d. h. — um m i t Kelsen zu sprechen — es w i r d Gleichheit im Gesetz postuliert und geschaffen 22 . Die ideell-moralische Basis des juristischen und politischen Kampfes gegen die Diskriminationen ist die Ablehnung außerverdienstlicher Differenzierungen von Menschen und der sozial-ethische Standpunkt der universellen Menschlichkeit, der zu den wichtigsten Elementen der demokratischen Lebenseinstellung gehört. Gleichheit nach Maßstäben. Als Beispiele inhaltlicher Gerechtigkeitsmaßstäbe können w i r i n Anlehnung an Perelman 23 die Forderungen „Jedem nach seinen Verdiensten", „Jedem nach seinem Wirken", „Jedem nach seinen Bedürfnissen", „Jedem nach seinem Rang" anführen. Es geht hier u m Grundsätze, welche die aristotelische austeilende oder proportionale Gerechtigkeit bestimmen sollen. Aristoteles scheint der Ansicht gewesen zu sein, daß auch die proportionale Gerechtigkeit auf Gleichheit beruhe, nämlich auf Gleichheit der Proportion 2 4 . Dies ist weder klar, noch kann es m i t einer modernen logischen Analyse i n Einklang gebracht werden. Deswegen spreche ich nicht von proportionaler Gerechtigkeit, sondern von Beurteilung nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten oder nach Gerechtigkeitsmaßstäben. Es w i r d ein Vergleich der beurteilten Fälle, resp. Falltypen, nach dem angeführten Gesichtspunkt angestrebt und gefordert: 21
Unter den Begriff des religiösen Bekenntnisses f ä l l t w o h l auch die Konfessionslosigkeit. 22 Kelsen, H.: op. cit. (Adnex: Das Problem der Gerechtigkeit), S. 396. 23 Perelman, Ch. : Über die Gerechtigkeit (Übersetzung v o n U. Blüm), M ü n chen 1967, S. 16. 24 Aristoteles: Nikomachische E t h i k (Ed. E. Rolfes), Leipzig 1921, 5. Buch, S. 95 ff.
II. Gleichheitspostulate
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1. Fälle, die nach dem erwählten K r i t e r i u m als gleichwertig erscheinen, sollen gleiche oder wenigstens gleichwertige Rechtsfolgen haben. 2. Fälle, die nach dem festgesetzten K r i t e r i u m als vorrangig gewertet werden, sollen günstigere Folgen zeitigen als die tieferstehenden. Daraus ist ersichtlich, daß die Anwendung solcher Maßstäbe nicht nur durch die Forderung nach Gleichheit bestimmt ist, denn es handelt sich hier u m ein Reihungssystem, i n dem nicht nur Gleichheit, sondern auch Präferenzrelationen auftreten 2 5 . Die Gerechtigkeitsüberlegung nach Maßstäben bestimmt kaum mehr als den Gesichtspunkt der Wertung, sie macht die Reihung nicht errechenbar. Geht man ζ. B. vom Idealpostulat des Kommunismus „Jedem nach seinen Bedürfnissen" aus, dann w i r d die Verteilung abhängig gemacht von der Dezision, welche Bedürfnisse anzuerkennen sind und welches Gewicht ihnen zusteht. Diese Entscheidung muß von einer übergeordneten Instanz getroffen werden, wie von Perelman m i t großer K l a r heit gezeigt wurde 2 6 . Die Postulate dieser A r t sind nicht, wie man haltsleer, denn sie bezeichnen die als entscheidend mente, wenn sie auch keine Regel zur Bestimmung tung und der von ihr abhängigen Verteilung in die
oft behauptet, inzu wertenden Moder relativen WerHand geben.
Nicht bestreitbar ist auch die zweite von Perelman erwiesene Schwierigkeit, die m i t den Werten nach Gerechtigkeitsmaßstäben verbunden ist. Die Ergebnisse der Wertung nach verschiedenen Gesichtspunkten dieser A r t stehen miteinander oft i n Konflikt. Wenn man nicht sehr dogmatisch zu denken gewohnt ist, w i r d man nicht bereit sein, nur einen einzigen Gesichtspunkt als das entscheidende K r i t e r i u m der Gerechtigkeit anzusehen. Dann w i r d aber eine Abwägung zu entscheiden haben, welcher der Maßstäbe gerade hier ausschlaggebend ist, oder es w i r d aus den gegebenenfalls divergierenden Wertungen nach verschiedenen Gesichtspunkten eine resultierende Dezision zu treffen sein. Die berühmte „Goldene Regel der Gerechtigkeit" steht i n einer wissen Beziehung zur Beurteilung nach Gerechtigkeitsmaßstäben. Regel gebietet, sich bei Gerechtigkeitswertungen immer auch die verse Relation der Personen vorzustellen und etwas nur dann als
geDie inge-
25 Gleichheit besteht n u r i n den Gleichwertigkeitsklassen; auf dem Begriff der Gleichheit allein läßt sich ein Reihungssystem nicht aufbauen. Vgl. Hernpel, C. G., u n d Oppenheim, P.: Der Typusbegriff i m Lichte der neuen Logik, Leiden 1936. 26 Perelman, Ch.: op. cit., S. 17 ff.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
recht anzuerkennen, wenn man auch die inverse Relation nach demselben Prinzip beurteilen würde. Durch die gleichartige Bewertung der Beziehung und ihrer Inversion soll eine objektivierte Wertung erreicht werden. Die Forderung nach sozialem Ausgleich. I n den demokratischen rechtspolitischen Programmen finden w i r immer auch Postulate des sozialen Ausgleichs oder der Egalität. Sie entspringen demokratischhumanitären Vorstellungen, religiösen Uberzeugungen oder nur dem Wunsch, Spannungen i n der Gesellschaft, welche die Gesellschaftsordnung und die ruhige Entwicklung gefährden könnten, einzuschränken. Diese par excellance materialen Gleichheitsforderungen betreffen hauptsächlich die Frage der wirtschaftlichen Stellung des einzelnen, die Fragen seiner Macht i m Bereich des öffentlichen Lebens und seiner Dispositionsmacht in der Wirtschaft, seine Möglichkeiten, Bildung zu erlangen und seine Persönlichkeit zu entfalten, ferner seine Würde und sein Prestige in der Gesellschaft — m i t allen sozialen und moralischen Folgen dieser ideellen Momente. Wenn auch Proklamationen, die einen sozialen Ausgleich oder soziales Gleichgewicht fordern, in sozusagen allen politischen Programmen aufscheinen, heißt dies keineswegs, daß hier Einhelligkeit der Meinungen bestünde. I m Gegenteil: die Fragen der gesellschaftlichen Egalität gehören zu den umstrittensten rechtspolitischen Problemen. Die Gegner der Egalität führen i m wesentlichen drei Argumente ins Treffen: 1. Sie deuten die Gleichheitsforderung als Forderung nach absoluter Egalität, wodurch diese Forderung ad absurdum geführt werden soll: Denn die Menschen sind ungleich, verschieden in ihren Wünschen und Strebungen, i n ihren Fertigkeiten und Fähigkeiten, i n ihren Tätigkeiten und Ansprüchen, in ihrem faktischen und ersehnten Lebensstil. Es wäre daher i n der Tat unrealistisch und nicht erstrebenswert, eine absolute Nivellierung i m Sinne des radikalen Egalitarismus, der jede gesellschaftliche Ungleichheit ausschließen würde, zu postulieren 27 . Solche Vorstellungen leben nur i m Sinne unrealistischer Träumer und hauptsächlich i m Munde der Egalitätsgegner. 2. Man wendet ein, daß zum Nutzen der Gesellschaft nicht Gleichheit der menschlichen Kondition zu fordern sei, sondern Verteilung nach Fähigkeit, Verdienst und Leistung, da nur dies eine effiziente Gesellschaftsordnung schaffe. Dieses Argument t r i f f t nur zu, wenn man die Gleichheitsforderungen i m absurden asoluten Sinne versteht, denn begründete Unterschiede, insbesondere durch Leistungen bedingte Dif27 Vgl. Bedau , Η . Α.: Radical Egalitarianism, i n : Justice and Equality 20, London u. a. 1971, S. 168 ff.
II. Gleichheitspostulate
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ferenzierungen, stehen keineswegs m i t den Postulaten des sozialen Ausgleichs i n Widerspruch. Der Meritismus müßte konsequenterweise Gleichheit der menschlichen Startbedingungen fordern und alle Ungleichheiten der Lebens- und Arbeitsbedingungen ablehnen, welche i n der Gesellschaft die Gelegenheiten zur verdienstlichen Tätigkeit ungleich verteilen. Keinesfalls kann der Meritismus als Argument gegen die Gleichheit der menschlichen Würde ins Treffen geführt werden. Wenn man unterstreicht, daß der soziale Ausgleich anzustreben ist, wenn man Egalitätspostulate als Ideale anerkennt, bedeutet das nicht, daß auf andere Momente — Leistungsdifferenzen und Fragen der gesellschaftlichen Effizienz bei der Bestimmung der Realisation oder Einschränkung des Ausgleichs keine Rücksicht genommen werden solle. 3. Man stellt dem Ideal der Gleichheit nicht nur das Ideal der Freiheit gegenüber, sondern behauptet auch, daß diese Ideale immer m i t einander i n Konflikt stehen, daß ein Mehr an materialer Gleichheit immer auf Kosten der Freiheit gehe. I n der politischen Theorie stehen i n dieser Frage fundamental divergierende Auffassungen einander gegenüber. Die einen weisen darauf hin, daß Freiheit ohne Gleichheit illusorisch ist, die anderen sehen i n jedem Ausgleich eine Freiheitsbeschränkung, einen Eingriff, der die freie Entfaltung des einzelnen hemmt. Man bezieht diesen Streit vor allem auf das ökonomische Gebiet, auf die Unternehmerfreiheit und die uneingeschränkte Vertragsfreiheit. Faßt man das Freiheitspostulat in genereller Perspektive, also als gleiche Freiheit für alle auf, dann w i r d kaum bezweifelt werden können, daß die Ungleichheit der ökonomischen Positionen nicht nur einen verschiedenen Freiheitsspielraum erzeugt, sondern auch — um m i t Werner Maihof er zu sprechen 28 — bewirkt, daß der eine am „ k ü r zeren", der andere am „längeren Hebel" sitzt und sich so der eine „alles leisten kann", der andere „alles bieten lassen muß". Für die Realisation der Idee der Freiheit ist also das Postulat des sozialen Ausgleichs eine notwendige Bedingung. Auch bei den verschiedenen Arten der Rechtsbeziehungen muß das Recht die verschiedene Schutzbedürftigkeit der Partner — ζ. B. Dienstnehmer—Dienstgeber; Mieter—Vermieter u. ä. — i n Betracht ziehen. Der juristische Ausgleich soziologisch unterschiedlich starker Positionen dient gleichzeitig der Freiheit des Menschen und dem sozialen Ausgleich. Wenn man durch egalitäre Gleichheitsbestrebungen die Freiheit für bedroht erachtet, so geschieht dies wohl deswegen, weil eine rechtlich und gesamtgesellschaftlich regulierte Wirtschaft zu einer monistischen Konzentration der Macht führen mag, die erfahrungsgemäß i n nicht28
Siehe Maihof er, W., Anthropologie der Koexistenz, i n : Mensch u n d Recht, Festschrift f ü r E r i k Wolf zum 70. Geburtstag, F r a n k f u r t a m M a i n 1972, S. 199.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
ökonomischen Bereichen freiheitsfeindlich werden kann. Wenn man die menschliche Freiheit nicht nur als ökonomische Freiheit, sondern als Bestandteil der menschlichen Würde ansieht, i n deren Rahmen die wirtschaftliche Freiheit höchstens ein Element ist, dann w i r d man den Forderungen nach sozialem Ausgleich jedenfalls positiv gegenüberstehen, mag man auch die Frage der Unternehmungsfreiheit verschieden beantworten. 6. Gleichheit und Billigkeit Es gibt zwei diametral entgegengesetzte Einstellungen zur Billigkeit oder Einzelfallgerechtigkeit 29 : Die einen weisen auf die Einmaligkeit jedes Rechtsfalles hin und betrachten die Beurteilung nach generellen Maßstäben als bloße Annäherung, als nicht zu vermeidendes Übel, welches durch freie Rechtsfindung zu korrigieren sei. Es wurde auch die extreme Meinung ausgesprochen — ζ. B. von Steininger —, daß sich unser Wertbewußtsein stets primär am konkreten Fall bilde und daß die allgemeine Wertüberzeugung prinzipiell keinem der Einzelfälle vollkommen angemessen sein kann 3 0 . Die anderen suchen — ausgehend von einer rational-analytischen Konzeption der juristischen Gerechtigkeit — eine vernünftige Konstruktion der Billigkeitsentscheidung, welche den praktischen Erfordernissen des Rechtslebens ebenso gerecht werden soll wie dem Postulat der Rechtssicherheit, der Rechtslogik und der formalen Gleichheit. Ich plädiere für diese und kämpfe gegen jene Auffassung. M i t der Einmaligkeit der Fälle zu argumentieren, ist eine schlimme Täuschung. Sicherlich: jedes Ereignis ist einmalig, jeder Fall ist einmalig in dem Sinne, daß er den Zeit-Raum-Koordinaten nach von jedem anderen Fall unterschieden werden kann. Es ist aber einfach nicht wahr, daß jeder Rechtsfall i n den rechts- und wertrelevanten Momenten anders ist als alle anderen Fälle. Es gibt sicherlich eine global-intuitive Wertung des Einzelfalls aus dem Rechtsgefühl. Ich bestreite aber auf das entschiedenste, daß in einer K u l t u r w e l t das Rechtsgefühl rein intuitiv-global und unabhängig von rationalen Analysen wäre. Jede Wertung des Kulturmenschen ist bedingt durch Vorerfahrungen und Vergleiche, Erziehung, Gewohnheit 2 ® Ich verstehe hier unter „ B i l l i g k e i t " dasselbe wie unter „Einzelfallgerechtigkeit", b i n m i r aber dessen bewußt, daß man den Terminus „ B i l l i g k e i t " auch i n anderen Bedeutungen gebraucht. Z u m nachfolgenden vgl.: Weinberger, Ο.: Einzelfallgerechtigkeit. E i n Beitrag zum S t u d i u m der logischen Bedingungen der Gerechtigkeit, i n : Dimensionen des Rechts, Gedächtnisschrift f ü r René Marcie, hrsg. von M. Fischer, R. Jakob, E. Mock, Η . Schreiner, B e r l i n 1974, S. 408-439; s. C / I I I dieses Bandes. 80 Steininger, V. : Die Auslegung i m Zivilrecht u n d i n der gesamten Rechtsordnung, Juristische Blätter, Jg. 93, Heft 9/10, 1972, S. 222.
II. Gleichheitspostulate
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und andere gesellschaftliche Faktoren. Das rechtliche Werten ist immer eine Stellungnahme zu erkannten Tatsachen und Eigenschaften. Es w i r d beherrscht von einem Objektivitätsstreben, welches darin besteht, daß die relevanten Momente herausgehoben und gewertet werden; andere Momente, insbesondere, ob es u m Freund Peter oder u m Feind Paul geht, werden bewußt ausgeklammert. W i r lieben und hassen vielleicht global und intuitiv, doch erst dann, wenn w i r von einem Objektivitätsstreben beseelt sind und wenn w i r Momente des Falls als relevant und irrelevant unterscheiden, werten w i r juristisch. Das j u r i stische Werten des Einzelfalls ist analytisch, ist ein Werten nach Eigenschaften, nach Qualitäten, nicht ein global-undifferenziertes Werterlebnis. Wenn die wertende Stellungnahme Wertung von Eigenschaften des bewerteten Objekts ist, dann ist die These von der geringeren Adäquatheit genereller Wertungen gegenüber der Einzelfallwertung ganz unberechtigt. Knüpft man die juristische Wertung und die Rechtsfolgen an Merkmale des Einzelfalls, dann ist schon der Weg zur Generalisierung beschritten 31 . Denn wenn der Fall wegen seiner Merkmale Rechtsfolgen einer bestimmten A r t zeitigen soll, dann w i r d jeder andere Fall, der genau dieselben Merkmale aufweist, Rechtsfolgen von derselben A r t nach sich zu ziehen haben. Die Fallanalyse nach Merkmalen steht also m i t dem Postulat der formalen Gleichheit i n enger Beziehung. Von der Warte einer rational-analytischen Jurisprudenz besteht die Einzelfallproblematik i n der sekundären Anerkennung der Relevanz von Merkmalen, die bei der Setzung der generellen Rechtsregeln nicht berücksichtigt wurde. Geht man von der gesetzlichen Rechtsregel aus, daß unter den Bedingungen A die Rechtsfolgen Β eintreten sollen, t r i t t durch die Anerkennung eines neuen relevanten Umstandes A\ eine Spaltung der gesetzlichen Norm i n zwei Fälle ein: 1. Es werden die Rechtsfolgen B i für die Bedingungen (A und Ai) festgesetzt, und 2. es werden die Rechtsfolgen B2 für die Bedingungen (A und NichtAi) bestimmt. Die Strukturanalyse zeigt, daß die Billigkeitsentscheidung — d.h. die Heranziehung neuer differenzierender Merkmale — jedenfalls typenbildend und generalisierbar ist. 31 Weinberger, O.: Topik u n d Plausibilitätsargumentation, ARSP 1973, S. 13; [auch i n : ders.: Studien zur Normenlogik u n d Rechtsinformatik, B e r l i n 1974, S. 308-324].
11 Weinberger
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
Es ist nun die rechtspolitische Frage zu stellen, wann Billigkeitsentscheidungen zulässig sein sollen. Praeter legem wohl immer dann, wenn hierzu eine Ermächtigung besteht; contra legem nur dann, wenn nachweisbar ist, daß der neue oder atypische Umstand vom Gesetzgeber nicht bedacht werden konnte oder wenigstens tatsächlich nicht vorausgesehen wurde. Dieser Standpunkt trägt dem Postulat der Rechtssicherheit Rechnung. Die Forderung nach Einzelfallgerechtigkeit, soweit sie nicht aus irrationalistischen Fehlinterpretationen der Einmaligkeit oder einer irrigen Phänomenanalyse des Wertens entspringt, steht i m perfekten Einklang m i t dem typenbildenden Charakter und der Forderung der Generalität des Rechts. Gerade die Beachtung dieses Strukturcharakters des rechtlichen Wertens führt zu einer theoretisch und praktisch befriedigenden Lösung der Billigkeitsproblematik. 7. Gerechtigkeit und Gleichheit Z u m Abschluß meiner Überlegungen möchte ich versuchen, die Beziehungen zwischen Gerechtigkeit und Gleichheit zu bestimmen. Schon seit Piaton 32 und Aristoteles 33 sehen die rational-analytischen Theorien der Gerechtigkeit eine enge Beziehung zwischen den Ideen der Gerechtigkeit und Gleichheit, wenn sie nicht überhaupt Gerechtigkeit auf Gleichheit reduzieren. Das Prinzip der formalen Gerechtigkeit beruht auf dem Postulat der formalen Gleichheit. Formale Gleichheit ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit und gleichzeitig ein Instrument, durch das die rechtliche Auffassung für eine kritische Wertdiskussion transparent gemacht wird. Es ist unbestreitbar, daß die drei besprochenen Typen inhaltlicher Gleichheitspostulate integrierende Bestandteile der demokratischen Gerechtgkeitstheorie sind. Die Diskriminationsverbote schaffen Gleichheit verschiedener Gruppen i m Recht. Die Anwendung von Gerechtigkeitsmaßstäben hängt zwar m i t der Gleichheit nach akzeptierten Wertungsgesichtspunkten zusammen, sie ist aber nicht auf die Erkenntnis von Gleichheiten zurückführbar, sondern beruht auch auf Präferenzentscheidungen. Die Forderungen nach sozialem Ausgleich stellen eher Idealtendenzen dar, denn direkt vollziehbare Entscheidungsanleitungen über ,gerecht 4 und ,ungerecht'. Die Idee der Gerechtigkeit ist komplex. Sie ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Ideals, welches m i t den Gleichheitspostulaten zusam32 Piaton: Gesetze 757. 33 Aristoteles: op. c i t M V . B u c h .
II. Gleichheitspostulate
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menhängt, gleichzeitig aber immer auch m i t einem System von inhaltlichen Wertmaßstäben arbeitet. A u f diese Maßstäbe stützt sich eine rationale Analyse, welche den Wertentscheidungen des Gerechtigkeitsurteils zugrunde liegt. So erscheint die Gerechtigkeit zwar als abhängig von Gleichheiten, sie ist aber keineswegs auf Gleichheiten reduzierbar 0 .
a Z u dem hier behandelten Problemkreis siehe auch m e i n Referat beim Weltkongreß der I V R i n St. Louis 1975 „Gleichheit u n d Freiheit — komplementäre oder widerstreitende Ideale", i n : Equality & Freedom: Comparative Jurisprudence, Vol. I I , New York—Leiden 1977, S. 641 - 654.
u*
D/III. Einzelfallgerechtigkeit Ein Beitrag zum Studium der logischen Bedingungen der Gerechtigkeit Motto: „ S i n n des Hechtes ist, i m individuellen A k t seiner Konkretisierung abermals eher das Typische als das Singulare des Verhaltens eines Individuums zu fassen." René Marcie , Rechtsphilosophie, Freiburg i m Breisgau 1969, S. 185.
1. Die Problemsituation,
die Fragestellung
unserer
Untersuchung
Die heutige Rechtsphilosophie und Rechtsmethodologie zeigt deutlich eine ideelle Spannung zwischen Tendenzen, welche dem Anspruch der Generalität des juristischen Wertens skeptisch gegenüberstehen, und der tief verwurzelten Meinung der Philosophen und Juristen, daß eine rationale Jurisprudenz und ein rationales Gerechtigkeitsstreben gerade im Prinzip der Allgemeinheit der Wertung verankert ist. Von verschiedenen Seiten und aus ganz verschiedenen Gründen werden Mängel der Beurteilung nach generellen Regeln angeführt. U m die Jahrhundertwende und i n den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hat die Freirechtslehre (Eugen Ehrlich, Hermann Kantorowicz, Ernst Fuchs 1) betont, daß es problematisch ist, die Entscheidung über den einzelnen Rechtsfall des Lebens aus generellen Rechtsregeln deduktiv gewinnen zu wollen, und forderte deswegen die Freiheit des Richters, die soziologisch erfaßten Sachverhalte i n freier Entscheidung zu beurteilen. Die generellen Züge der rechtlichen Wertung wurden dabei eigentlich nicht abgestritten. Ernst Fuchs sagt i n „Was w i l l die Freirechtsschule?": „Der Richter soll i n eigenartigen Fällen das Recht nicht von einer abstrakten Regel ableiten, sondern das gerechte Recht suchen, das dem besonderen Fall innewohnt. Und was er so gefunden, gilt dann als Regel für alle wirklich gleichliegenden Fälle." Diese Lehre problematisiert die Anwendung der generellen Rechtsregel, des abstrakten Gesetzes, auf den Einzelfall; die Lösung des Einzel1 Ehrlich, E.: Freie Rechtsfindung u n d freie Rechtswissenschaft, Leipzig 1903; Kantorowicz, H. (Gnaeus Flavius), Der K a m p f u m die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1906; Fuchs, E.: Was w i l l die Freirechtsschule? Rudolf Stadt 1929.
III. Einzelfallgerechtigkeit
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falles kann wegen der Eigenartigkeit des konkreten Falles m i t der Rechtsregel i n Widerstreit stehen. Die Lösung des Problems wurde i n einer Soziologisierung der juristischen Betrachtungsweise und i n einer Naturrechtsintuition gesucht. Die Freirechtslehre hat ein wichtiges Problem aufgezeigt. Der direkte Einfluß der genannten Autoren auf die heutige deutsche Rechtsphilosophie scheint m i r aber relativ gering. Die sich recht tief auf die deutsche Jurisprudenz auswirkende topisch orientierte Lehre Theodor Viehwegs faßt die juristische Beurteilung als Einzelfallanalyse auf, als Einzelfallwertung von gewissen Gesichtspunkten (Topoi) aus, die selbst aus der Menge der Fallwertungen hergeleitet sind. Die Frage, was hier und jetzt jeweils gerecht sei, ist für Viehweg das unabweisbare Grundproblem der Jurisprudenz 1 3 ; durch die etwas einseitige Betonung der Einzelfallanalyse und die Scheu vor der logischen Bindung an die Beurteilung nach Regeln 2 w i r d die Vorstellung geweckt, daß die Gerechtigkeit und die juristische Beurteilung überhaupt ganz auf den Fall, nicht auf den Typus, nicht auf das allgemeine regelhafte Prinzip gerichtet sei. Sprichwörter, sei es das i n der Jurisprudenz oft zitierte römische „Summum ius summa iniura", sei es die allgemeine — kaum überzeugende — These: „Die Ausnahme bestätigt die Regel", unterstützen die Tendenz zu meinen, eine Beurteilung nach allgemeinen Regeln sei nur ein notwendiges Übel, etwas nur Ungefähres, de facto teilweise Inadäquates, oder gar etwas, das besser vermieden wird. Es wurde auch die Meinung ausgesprochen, daß sich unser Wertbewußtsein stets primär am konkreten Fall bilde, und daß die allgemeine Wertüberzeugung prinzipiell keinem der Einzelfälle vollkommen angemessen sein kann 3 . Ernste Einwände werden von marxistischer Seite gegen die A l l gemeinheit als K r i t e r i u m von Recht und Gerechtigkeit erhoben. Das Recht der bürgerlichen Gesellschaft sei formal gleiches Recht für alle, Viehweg, T.: Topik u n d Jurisprudenz, München 19694 (19531), S. 67: „ B e i i h r handelt es sich n u n einfach u m die Frage, was denn hier u n d jetzt jeweils gerecht sei. Sie ist, wie man die Dinge auch wenden mag, i n der Jurisprudenz nicht ausschaltbar. Gäbe es diese ewige Frage nach dem jeweils rechten A u s gleich u n d dem jeweils menschlich Richtigen überhaupt nicht, fehlte das Bedürfnis nach einer Jurisprudenz i m eigentlichen Sinne. Diese Frage ist daher das unabweisbare u n d immer wieder auftauchende Grundproblem unseres Faches. Als Frage beherrscht u n d trägt sie die ganze Disziplin." 2 Viehweg sagt: „Jedes Problemdenken ist bindungsscheu" (op. cit. S. 25); er charakterisiert das juristische Argumentieren als Problemdenken u n d setzt es i n Gegensatz zum deduktiven Denken. (Wenn Viehweg hier von „Problem" spricht, meint er den Einzelfall.) 3 Vgl. Steininger, V.: Die Auslegung i m Zivilrecht u n d i n der gesamten Rechtsordnung, i n : Juristische Blätter, Jg. 93, Heft 9/10, 1971, S.217, 235, I I I A/4 b.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
aber i n Wirklichkeit ungleiches und ungerechtes Recht, denn es ist gleiches Recht für Ungleiche, für Menschen, deren soziale Stellung klassendifferenziert ist, so daß die formale Gleichheit zur tatsächlichen Ungleichheit wird. Diese und ähnliche Meinungen stehen offenbar i n Kontrast zu der seit alters herrschenden Uberzeugung, daß Gerechtigkeit i n der Gleichheit wurzelt, die wieder eng m i t der Allgemeinheit der Regel zusammenhängt. I m einzelnen w i r d die Rolle des Allgemeinheits- und Gleichheitsprinzips zwar verschieden gedeutet, fast immer aber wenigstens als ein notwendiges Fundamentalprinzip der Gerechtigkeit und des Rechts anerkannt, Aristoteles, Kant, Perelman, Hare, Singer, Rawls — u m nur wenige zu nennen — unterstreichen dieses Prinzip und ziehen es als formale Bedingung der Gerechtigkeit oder sogar als letzte Grundlage ihrer ethischen Argumentation heran 4 . Diese eminente Rolle der Allgemeinheit i n der juristischen Argumentation und Gerechtigkeitslehre deutet auf die logischen Beziehungen zwischen dem Recht als System genereller Rechtsregeln und der Beurteilung von Einzelfällen (den Entscheidungen) hin. Neben der Spannung zwischen einer Gerechtigkeitslehre, die die Einzelfallgerechtigkeit i n Gegenstellung zur Beurteilung aus Grundsätzen setzt, und der Vorstellung, daß Gerechtigkeit eine Beurteilung nach generellen Prinzipien unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit ist, fordert auch das praktisch und theoretisch wichtige Problem der Billigkeit zu einer näheren Prüfung der Beziehungen zwischen Regel und Fallbeurteilung auf der einen Seite und der Gerechtigkeit, der Allgemeinheit, des Typushaften i m Recht und dem konkreten Individualfall auf der anderen Seite heraus. Wenn man von Billigkeit spricht, handelt es sich eigentlich um einige unterschiedliche Problemsituationen: a) i n vielen Kontexten w i r d „recht" und „ b i l l i g " synonym oder beinahe synonym gebraucht; b) wenn man von „Recht und Billigkeit" spricht, meint man manchmal unter dem Begriff „Recht" die Sphäre des positiv gesetzten Rechts, während „Billigkeit" das durch Naturrechtsnormen bestimmte Sollen bezeichnet; c) Billigkeitsentscheidungen werden als Ausnahmeentscheidungen gegen die allgemeine Regel aufgefaßt; es können hierbei Rahmen oder ausdrückliche Ermächtigungen gesetzlich gegeben sein, oder es kann sich um ein Judizieren ohne ausdrückliche Ermächtigung bloß aus Billigkeitsgründen, die praeter oder sogar contra legem sind, handeln. 4 Ausdrücklich anders: Sauer, W.: Gerechtigkeit, S . U . A u f dessen Thesen werden w i r noch zu sprechen kommen.
III. Einzelfallgerechtigkeit
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Wenigstens die meisten der angedeuteten Fragen sind echte und tiefgreifende Probleme, die nicht übergangen oder als Scheinprobleme aus der Welt geschafft werden können. Die Begriffe und Positionen scheinen einander zu widersprechen. Daraus ergibt sich die Aufgabe unserer Untersuchung: zweckgerechte Begriffsexplikationen durchzuführen und die sozusagen sachlich fundierte Spannung zwischen Einzelfallgerechtigkeit und dem Prinzip der Allgemeinheit logisch konsistent darzustellen. Es soll dabei nicht die Intuition gegen die Ratio gestellt werden, sondern die rationale Analyse als Grundlage und Stütze der juristischen Wertung dienen. Das praktische Hauptziel ist, eine den Eigentümlichkeiten der juristischen Problemsituation adäquate Methodologie zu erarbeiten. W i r wollen — wie i m Untertitel der Studie angedeutet — die logischen Bedingungen der Gerechtigkeit prüfen und darstellen. Dabei w i r d eben zu dem Problem der Gerechtigkeit aus generellen Regeln und der Einzelfallgerechtigkeit, sowie den hier einschlägigen Fragen der juristischen Billigkeit auf Grund der logischen Analyse Wesentliches herauszufinden sein. Die Ergebnisse werden der i m Motto angeführten These René Marcie' sehr nahe stehen. Naturrechtliche Voraussetzungen oder Annahmen werden nicht zum Instrumentarium unserer Arbeit gehören; wohl aber die These, daß i n jeder Gesellschaft und in jeder historischen Situation Wertüberzeugungen, Wertmaßstäbe bestehen, und daß sie sich i n einem rational-analytischen und stellungnehmenden Prozeß äußern. Die analytische Arbeit bewirkt die Klärung und Entwicklung der Wertüberzeugungen und deren Anpassung an die sich wandelnde soziale Realität. Gerade das meinen w i r , wenn w i r von einem immanenten Gerechtigkeitsstreben des Menschen und der Gesellschaft sprechen. Man gelangt so unseres Erachtens zu einem recht akzeptablen juristischen Ethos eines rationalanalytischen wertsuchenden Gerechtigkeitsstrebens. 2. Die Struktur
der Rechtsregel
Das Recht (das Recht i m objektiven Sinne, wie man i n nicht sehr klarer Weise zu sagen pflegte, die Rechtsordnung) ist ein System von Normen. Der Inhalt des rechtlichen Sollens des Systems w i r d i m allgemeinen primär durch Normen vom Typus des Gesetzes, d.h. durch generelle Rechtsregeln konstituiert. (Die Einschränkung „ i m allgemeinen" schieben w i r hier deswegen ein, weil gelegentlich auch individuelle Einzelnormen als Gesetzesinhalt auftreten können.) Auch dort, wo das Recht nicht in Form von gesatztem Recht auftritt, sondern als Gewohnheitsrecht oder als richterliches Präzedenzienrecht,
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
kann es als System genereller Regeln erfaßt werden. Sie werden bei dem Gewohnheitsrecht nicht durch gesetzgebende Organe, sondern bloß von den Rechtswissenschaftlern formuliert. Auch das Präzedenzienrecht kann als System genereller Normen verstanden werden, da es als Regelungsmuster für die zukünftige Judikatur durch die typenbildende Fallcharakteristik, also als rechtliche Wertung des Typus, als i m Einzelfall mitverstandene Rechtsregel generell zur Geltung kommt®. Die Formen der Rechtsorganisation sind sehr verschiedenartig, ebenso wie der Inhalt der Rechtssätze. Trotz der bunten Verschiedenartigkeit der Normen des Rechts kann eine allgemeine Strukturcharakteristik des Rechts gegeben werden; sie w i r d durch das Strukturschema der Rechtsregel ausgedrückt. Die Verschiedenheit der Regulierungsweise kann i n der Aufstellung verschiedener Untertypen der Rechtsregel nach verschiedenen variierenden Momenten abgebildet werden. Es scheint uns zweckmäßig, als Grundschema der Rechtsregel die generelle hypothetische Norm, den generell adressierten Bedingungsnormsatz, zu nehmen. U m berechtigten Einwänden des subtilen Normenlogikers zu begegnen, merken w i r an, daß dieses grundlegende Schema ein Muster ist, nach dem dann mutatis mutandis analoge Schemen für die verschiedenen Typen von Rechtsregeln gebildet werden können. Die Untertypen sind also nicht immer einfach durch Substitution aus dem Grundschema erstellbar 6 . I n vereinfachter Sprechweise kann man sagen, daß dieses Grundschema die Grundstruktur des Rechtssatzes nur ungefähr darstellt. M i t diesen Kautelen können w i r sagen, daß die Rechtsregel die Form hat: (1) Für jede Person χ gilt: wenn die Bedingungen A erfüllt sind, soll (soll nicht, darf . . . ) χ . . . Für die Überlegungen dieser Studie w i r d dieses ungefähre Schema größtenteils genügen; wo es zum Fortgang der Analysen notwendig sein wird, werden w i r differenziertere Rechtsregelschemen anführen. Die Rechtsregel ist also durch folgende Momente charakterisiert: 1. Sie ist ein Normsatz; 2. sie drückt ein bedingtes Sollen aus; 3. sie ist generell adressiert. Die Rechtsregel als Ganzes ist Ausdruck eines gesetzgebenden W i l lens; sie hat normativen Sinn — zum Unterschied von rein beschrei5
W i r werden über die S t r u k t u r dieses Zusammenhanges noch sprechen. Dieser Umstand w i r d zwar dem Logiker einige Probleme aufgeben, den Juristen aber k a u m beunruhigen. 6
III. Einzelfallgerechtigkeit
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benden Regeln, die Regelmäßigkeiten i n Tatsachenabläufen konstatieren. Wenn sie auch ein bedingtes Sollen statuiert, gilt sie als Norm unabhängig davon, ob die in ihr festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Sie besteht aus zwei Strukturteilen, dem bedingenden Vordersatz und dem bedingten Hintersatz; dieser ist semantisch von normativer Bedeutung, während der bedingende Satz meist indikativer Natur ist, d. h. es handelt sich um solche Bedingungen, die genau dann erfüllt sind, wenn der Aussagesatz des entsprechenden Inhalts wahr ist. Ist die Bedingung des Bedingungsnormsatzes erfüllt, w i r d das bedingte Sollen — es ist i m Hintersatz der Rechtsregel ausgedrückt — aktualisiert: es w i r d zum unbedingten Sollen. Die Aktualisierung des bedingten Normsatzes kann man als logische Konsequenz aus dem Bedingungsnormsatz und der Aussage darstellen, daß das, was als Bedingung gesetzt war, Tatsache ist. Die Aktualisierung des bedingten Sollens t r i t t bei Erfüllung der Bedingung ipso facto ein, d. h. ohne neuen W i l lensakt [außer i n dem Fall, wo so ein Willensakt Bedingung der Entstehung der unbedingten Norm ist — vgl. Schema (2)]. Der Befehl „Wenn es regnet, spann den Regenschirm auf" w i r d automatisch aktualisiert durch die eingetretene Tatsache, daß es regnet. Muß eine Rechtsregel immer i n hypothetischer Form ausgedrückt sein? Ist es nicht möglich, durch einen kategorischen Satz eine generelle Regel auszudrücken? Doch, sprachlich ist dies durchaus möglich, aber die klärende logische Analyse kann einen solchen Normsatz i n die angeführte Standardform überführen und t u t dies aus einem wichtigen Grund: I n der Standardform kann das, was als Bedingung der Anwendung festgestellt werden muß, von der normativen Konsequenz genau getrennt werden. Diese Zäsur ist gleichzeitig die Trennlinie zwischen dem Element des kognitiven Erfassens von Tatsachen und des Normativen i m Rechtsdenken, denn die Vordersatzinhalte sind indikativ, die Nachsatzinhalte (die Inhalte der normativen Konsequenz) sind normat i v zu verstehen. Die Rechtsregel „pacta sunt servanda" läßt sich ζ. B. i n standardisierter Form ausdrücken: (2) Für jedes x, jedes y , jedes α und jedes β gilt: (wenn χ und y übereinkommen, daß χ dem y a und y dem χ β leisten soll), [dann soll χ dem y a und y dem χ β leisten]. Der Ausdruck i n runden Klammern ist die Tatsachenbedingung 7 , der i n eckigen Klammern der normative Bestandteil des Bedingungsnormsatzes8. 7 Es geht u m die Tatsache der übereinstimmenden Willensäußerung, also u m etwas, das konstatiert werden muß, nicht u m etwas Normatives, mag auch der I n h a l t dieser A k t e von Leistungen (also von Sollen) handeln.
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D. Recht, Gerechtigkeit, Logik
Über das Verhältnis von bedingtem und unbedingtem Sollen muß hier noch ein Wort gesagt werden. Bedingtes Sollen ist noch kein Sollen, wenn auch der Satz, der es ausdrückt, als gültige Norm anzusehen ist. Das ist durchaus nichts Paradoxes oder Widersprüchliches. Es kann offenbar ein bedingtes Sollen für verschiedene unverträgliche Tatsachen gesetzt werden. So ist es ζ. B., wenn der Vater dem Sohn befiehlt: „Wenn es um 3 Uhr regnen wird, bleib zu Hause." „Wenn es um 3 U h r nicht regnen wird, geh spazieren." Die befehlssetzenden Willensäußerungen sind vollendet, es gelten zwei Bedingungsnormen, aber kein aktuelles Sollen, nur ein bedingtes Sollen. Durch die Tatsache, daß es um 3 Uhr regnet (resp. nicht regnet), w i r d hier automatisch eines der bedingten Gebote aktualisiert, d. h. als Konsequenz der geltenden Bedingungsnorm und der Tatsachen (ausdrückbar durch den sie feststellenden Aussagesatz) entsteht ein unbedingtes Sollen. Man sagt oft — und gewisse sprachliche Formulierungen verleiten zu dieser Auffassung —, daß die Rechtsregel sich nur an eine gewisse Gruppe von Personen richte. Diese Darstellung gibt aber keine adäquate Analyse der Situation. Die i n Gesetzen häufigen Wendungen vom Typus „Wer . . . , soll . . . " sind i m Sinne von „Jeder, der . . . " , „ F ü r jeden x, der . . . , gilt . . . " zu verstehen. Durch die Subsumtionsbedingungen w i r d dann aus der Klasse der Adressaten die Klasse der Betroffenen abgegrenzt. Man könnte zwar dieselben normativen Folgen ausdrücken, wenn man annehmen würde, daß die Adressaten einer solchen Norm genau die Personen der durch die Subsumtionskriterien umgrenzten Klasse sind. Dennoch ist diese Auffassung abzulehnen: Die i n den Normen enthaltenen Verbote und Gebote richten sich nicht nur an die Betroffenen (ζ. B. die Strafrechtsnormen an die Delinquenten), sondern an alle. Es ist immer möglich, die Rechtsregel so zu formulieren, daß sie ganz allgemein adressiert ist, nicht nur an die Gruppe der Betroffenen, d. h. an die Klasse jener Personen, denen aus der Rechtsregel Rechte oder Pflichten entspringen. Wenn z. B. i m § 144 ABGB gesagt w i r d „Die Eltern haben das Recht, ein ver ständlich die Handlungen ihrer Kinder zu leiten", sieht es wohl so aus, als sei diese Rechtsregel bloß an die Eltern und an deren Kinder gerichtet. Sie statuiert ein bedingtes Recht, aber ganz allgemein für jedes Subjekt; sie gilt für jeden Mann und jede Frau, auch für die Kinderlosen. Sie ist eine Information für jedermann und ist so zu verstehen, daß sie für jedermann Richtschnur des Handelns sein w i l l , ge8 Der Logiker w i r d sofort erkennen, daß Rechtsregeln, die die Entstehung von Normen an Willensakte binden (wie das Schema (2) unseres Beispiels), eine von dem Grundschema der Rechtsregel (1) abweichende S t r u k t u r haben u n d aus (1) durch Substitution nicht gewonnen werden können.
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gebenenfalls i n der Weise, daß jeder durch sein Verhalten die Aktualisierung der Rechtsregel erreichen oder ausschließen kann. Das durch § 171 StG ausgedrückte Verbot zu stehlen ist an alle adressiert, nicht nur an Diebe. Man kann jede für eine Klasse von Personen formulierte Norm i n die generell adressierte Standardform bringen, indem man die Zugehörigkeit zu dieser Klasse als Subsumtionskriterium, d. h. als Bedingung der hypothetischen Norm, setzt 9 . Durch die Bedingung der Rechtsregel w i r d nicht nur der Personenkreis bestimmt, der durch die Regel betroffen ist; es können i n derselben Weise die zeitlichen Grenzen der Rechtsregel ausgedrückt werden, es können Handlungen und verschiedene Verhaltensweisen von Menschen sowie beliebige Umstände als Bedingung der Aktualisierung einer Rechtsregel auftreten. Noch eine Frage, welche die Allgemeinheit der Rechtsregel betrifft, muß hier erwähnt werden. Man nennt allgemein einen Satz, wenn er m i t einem Allquantifikator (,für jedes χ gilt:') beginnt. I n der Jurisprudenz ist es wichtig, zwischen generellen und individuellen Normen möglichst klar unterscheiden zu können, hauptsächlich zum Zweck der Unterscheidung zwischen dem individuellen Verwaltungsakt und dem Rechtsregeln (Verordnungen i m Sinne von A r t . 18 Abs. 2 B-VG) setzenden A k t der Verwaltungsbehörde. Es wäre erwünscht, diese Unterscheidung rein formallogisch durchzuführen. Das ist jedoch nicht möglich, denn ein formal allgemeiner Normsatz kann de facto eine Individualnorm ausdrücken. Dies ist der Fall, wenn die Subsumtionskriterien eindeutig bezeichnend (individualisierend) sind. (3) Für jedes χ gilt: wenn χ der (einzige) Autor dieses Buches ist, soll χ den Staatspreis bekommen. (3) hat zweifellos die Form eines allgemeinen Bedingungssollsatzes; er drückt aber tatsächlich eine individuelle Norm aus. Nur dann, wenn die i m Vordersatz des Bedingungsnormsatzes angegebenen Bedingungen artbildend, nicht aber individualisierend zu verstehen sind, ist der Bedingungsnormsatz eine normative Regel. Es kann wohl der Fall sein, daß eine generelle Bedingung gerade von einem Gegenstand erfüllt w i r d — wie sie gegebenenfalls von keinem, mehreren (endlich oder unendlich vielen) erfüllt werden kann. W i r d die Bedingung als artbildend verstanden, bezeichnen w i r den allgemeinen Bedingungsnormsatz als generellen Normsatz. W i r können also, 9 Der Logiker unterscheidet begrenzte u n d unbegrenzte Q u a l i f i k a t i o n ; er zeigt, w i e die begrenzte i n der beschriebenen Weise i n unbegrenzte u m geformt werden kann. Vgl. Weinberger, O.: Rechtslogik, Wien—New Y o r k 1970, S. 126 f.
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unsere Behauptung präsizierend, sagen, daß die Rechtsregel eine generelle Bedingungsnorm ist, die durch einen artmäßig bedingten Bedingungsnormsatz ausgedrückt wird. (Die Unterscheidung zwischen den allgemeinen Bedingungsnormsätzen und der Unterklasse der generellen Bedingungsnormsätze kann aber nicht rein syntaktisch gezogen werden.) 3. Generelle Rechtsregel und das Prinzip der formalen
Gerechtigkeit
„Der Gerechtigkeitsbegriff suggeriert allen unvermeidlich die Vorstellung einer gewissen Gleichheit. Seit Piaton und Aristoteles über Thomas von Aquin bis zu den zeitgenössischen Juristen, Ethikern und Philosophen sind alle über diesen Punkt einig. Die Gerechtigkeitsidee steckt also i n einer gewissen Anwendung der Gleichheitsidee 10 ." Dieses Moment der Gleichheit kommt i m Prinzip der formalen Gerechtigkeit zum Ausdruck. Die Beziehung zwischen der Allgemeinheit des Gesetzes und der formalen Gerechtigkeit läßt sich auf Grund der Standardform der Rechtsregel gut analysieren. Hierdurch w i r d zugleich Klarheit über die methodologische und philosophische Bedeutung des Prinzips selbst geschaffen. Offenbar inadäquat ist die Vorstellung, gerecht sei überhaupt „Jedem das Gleiche", wenn dieses Gleiche i m absoluten Sinne, nicht relativ zu gleichen Bedingungen verstanden wird. Das absolut verstandene Gleichheitspostulat ist eine inhaltliche Gerechtigkeitskonzeption, die m i t dem Prinzip der formalen Gerechtigkeit kaum etwas gemein hat. Sie ist sehr wirklichkeitsfremd, denn es ist weder möglich, noch erscheint es als richtig, jedem i n allen Fällen das Gleiche zu bieten. Als Standardformulierung des Grundsatzes der formalen Gerechtigkeit kann man den Satz nehmen: „Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandeln 11 ." Wie w i r zeigen werden, sollte aber nur der erste Teil als Ausdruck des Grundsatzes genommen werden, also bloß „Gleiches ist gleich zu behandeln". Der Grundsatz der formalen Gerechtigkeit ist hier als Handlungsmaxime dargestellt. Man könnte ihn explizit auch so aussprechen: „Gleiches ist gleich zu beurteilen (zu bewerten) und zu behandeln." Sicherlich gilt das Prinzip sowohl für das rationale Werten, als auch für das Handeln. Zerlegt man die Forderung i n ein Wertungs- und ein Handlungsprinzip, dann w i r d man dieses als durch jenes begründet finden; der grübelnde Philosoph w i r d sich dann vielleicht fragen, warum man eigentlich wertgerecht handeln soll. Es scheint dies zwar 10
Perelman, C.: Über die Gerechtigkeit, München 1967 (Orig. 1945), S. 22. Henkel, H.: Einführung i n die Rechtsphilosophie, München—Berlin 1964, S. 305. 11
III. Einzelfallgerechtigkeit
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einleuchtend, doch kann das diskutierte Handlungsprinzip nicht als logische Folge des Wertungsprinzips angesehen werden. Betrachtet man — wie w i r es t u n werden — das Prinzip der formalen Gerechtigkeit als Grundsatz, der m i t der Anwendung von normativen Regeln notwendig verbunden ist, dann folgt für die juristische Wertung ebenso wie für das rechtliche Handeln (die Maßnahmen) die Maxime der formalen Gleichheit, und die oben angedeutete philosophische Problematik kommt nicht auf 1 2 . W i r fragen nun, warum dieser Grundsatz gilt, ob er ein logisches Prinzip oder ein durch positive Setzung (gegebenenfalls durch immer oder i n der Regel akzeptierte Setzung) fundiertes Prinzip ist. Doch vorerst: was bedeutet hier ,Gleichheit 4 ? Wenn man von Gleichheit — der Bedingungen, der beurteilten Gegenstände oder der normativen Folgen — spricht, heißt dies notwendigerweise Gleichheit von gewissen Eigenschaften der betrachteten Gegenstände. Es kann sich nicht um Identität der als gleich bezeichneten Gegenstände handeln, denn es geht hier immer um wenigstens zwei Gegenstände, die beurteilt werden und deren Beurteilung verglichen wird. Dies folgt unmittelbar aus dem principium identitatis indiscernibilium, muß aber auch von jenen anerkannt werden, die dieses Prinzip nicht als logischen Grundsatz akzeptieren. Die Behauptung, daß α m i t b identisch sei, ist genau dann wahr, wenn ,α' und ,b' denselben (einen) Gegenstand bezeichnen. Wenn also zwei reale Gegenstände zur Beurteilung vorliegen, können sie nicht identisch sein, sondern sie können nur gleiche Eigenschaften haben. Ob diese Gleichheit absolut erkennbar ist oder nur m i t einer Genauigkeitsschwelle erkannt werden kann, ist für die einzelnen Eigenschaften (die einzelnen Subsumtionskriterien der Rechtsr egei) verschieden. Die Anzahl von Objekten ist eine strikt feststellbare Bedingung, das Gewicht oder die Größe ist ein Parameter, der nur m i t einer gewissen Genauigkeitsbegrenzung erkannt werden kann. Für die juristische Problematik sind diese Umstände kaum relevant, denn für den Juristen geht es immer um soziale Bezüge, i n denen die praktischen Grenzen der Bestimmbarkeit von selbst auch Grenzen der wertenden Unterscheidung sind. Es läßt sich unschwer zeigen, daß das Prinzip der formalen Gerechtigkeit i n der Formulierung „Gleiches gleich behandeln" oder „Gleiche Bedingungen sollen gleiche Rechtsfolgen haben" (PFG) eine logische Folge der Beurteilung von Sachverhalten nach generellen Rechtsregeln ist, also nicht abgelehnt oder eingeschränkt werden kann, wenn man 12
Vgl. die beiden pragmatischen Funktionen der Normsätze, das Handeln zu lenken u n d Wertmaßstab zu sein; vgl. Weinberger, O.: Rechtslogik, Wien— New Y o r k 1970, S. 199.
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eine Beurteilung und ein Vorgehen nach generellen Regeln akzeptiert. Soweit man überhaupt generelle Regeln als die Basis der gerechten juristischen Beurteilung nimmt, ist das PFG logisch notwendig. Setzen w i r zur paradigmatischen Beweisführung die Rechtsregel voraus: (4) Für jede Person χ gilt: wenn χ die Bedingungen A erfüllt, soll χ Β tun. Es sei festgestellt, daß die Person P i die Bedingungen A erfüllt, und daß auch die Person P 2 die Bedingungen A erfüllt. Durch zwei gleichartige Schlüsse (5)
(4)
P t erfüllt A
(5