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German Pages 200 [216] Year 1977
de Gruyter Studienbuch
Armin Paul Frank
Literaturwissenschaft zwischen Extremen Aufsätze und Ansätze zu aktuellen Fragen einer unsicher gemachten Disziplin
W DE G 1977
Walter de Gruyter • Berlin • New York
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen Bibliothek
Frank, Armin Paul [Sammlung] Literaturwissenschaft zwischen Extremen : Aufsätze u. Ansätze zu aktuellen Fragen e. unsicher gemachten Disziplin. — l.Aufl. Berlin, New York : de Gruyter, 1977. (De-Gruyter-Studienbuch) ISBN 3-11-007025-1
© 1977 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin
Meiner Frau Ohne viel Worte
Wehe dem Kenner, der sein System mehr liebt als die Schönheit, wehe dem Theoristen, dessen System so unvollständig und schlecht ist, daß er die Geschichte zerstören muß, um es aufrecht zu erhalten. Friedrich Schlegel
Nachweise Das Bild in imagistischer Theorie und Praxis. Jahrbuch für Amerikastudien 13 (1968), 174 — 95. Unter Einbeziehung neuer Literatur überarbeitet. Literaturwissenschaft als Literaturwissenschaft. Vortrag, Anglistentag, Münster 1973. Wider den voreiligen Soziologismus. Vortrag, Anglistentag, Hamburg 1975. Überarbeitet und erweitert. Marxismus und Literatur: eine anhaltende Kontroverse. Teil von „Recent Publications on Concepts of Literary Criticism". Amerikastudien 19:1 (1974), 161 — 68. Aus dem Englischen übersetzt und überarbeitet. T. S. Eliots konkrete Kritik: Ideogramm statt Theorie. Die Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein: Motive und Motivation in der Literaturkritik T. S. Eliots (München 1973), insbes. pp. 71 — 84. Überarbeitet und gekürzt. Vgl. Zur Aktualität T. S. Eliots. Ed. H . Viebrock und A. P. Frank (Frankfurt 1975), pp. 237-57. Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht. Antrittsvorlesung, Georg-AugustUniversität, Göttingen, 1976. Überarbeitet und erweitert.
Abdruckgenehmigungen „A Dog Sleeping on My Feet," copyright 1962 by James Dickey, first appeared in Poetry; reprinted from Poems 1957—1967 by permission of Wesleyan University Press. „Oread," from The Collected Poems of H. D. (Hilda Doolittle); copyright 1925, 1953 by Norman Holmes Pearson; reprinted by permission of New Directions Publishing Corporation, for the Estate of Norman Holmes Pearson. „The Thought-Fox," reprinted by permission of Faber and Faber, Ltd., from The Hawk in the Rain by Ted Hughes. „Above the Dock" by T. E. Hulme, reprinted by permission of Victor Gollancz, Ltd. „Ars Poetica," reprinted by permission of Houghton Mifflin Company from New and Collected Poems, 1917-1976 by Archibald MacLeish. „In a Station of the Metro" and „Fan-Piece, for Her Imperial Lord," reprinted by permission of Faber and Faber Ltd. from Collected Shorter Poems by Ezra Pound. Für das Recht auf Abdruck von Rilkes Übertragung von Paul Valérys „Les Pas" danke ich dem Insel-Verlag. „Les Pas," tiré du recueil Poésies par Paul Valéry, reproduction autorisé par Editions Gallimard.
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Anlässe, Themen, Zusammenhänge 1 Das Bild in imagistischer Theorie und Praxis 15 Literaturwissenschaft als Literaturwissenschaft 49 Wider den voreiligen Soziologismus: die Grenzen der Inhaltsanalyse 63 Marxismus und Literatur: eine anhaltende Kontroverse 89 T. S. Eliots konkrete Kritik: Ideogramm statt Theorie 113 Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht 131 Anmerkungen 171 Register 195
Einleitung: Anlässe, Themen, Zusammenhänge I. ZWISCHEN LITERATURLESEN UND LITERATURWISSENSCHAFT
Wasser, so hat es mal geheißen, sei zum Waschen da — und Literatur, so möchte man hoffen, zum Lesen. Romane und Gedichte sind auf der Suche nach Lesern, Schauspiele und Filme nach einem Publikum, und Hörspiele und Fernsehspiele kommen sogar ins Haus. Zur Orientierung beitragen soll dabei die (Literatur-) Kritik, die Besprechung, die Beurteilung: Der prospektiven Leserschaft, dem potentiellen Publikum werden Hinweise darauf gegeben, was nach Ansicht des Kritikers Zeit und Aufmerksamkeit wert ist und was nicht. Neben dieser richterlichen Kritik gehört zur Literatur über Literatur seit jeher auch die präskriptive Kritik, die dem hoffnungsvollen Autor Hinweise oder gar Anweisungen geben will, „wie man die Erzählung aufbauen muß, wenn die Dichtung schön werden soll . . ." 1 . Die präskriptive Kritik, die während der Renaissance und insbesondere dem Klassizismus in hohem Ansehen stand und viel geübt wurde, überlebte das romantische Aufbegehren gegen alles, was nach Regelfuchserei aussah, nur im Bereich der Bühnendichtung und der verwandten aufführenden Medien: Gustav Freytags Technik des Dramas (1863) kommt dabei für den deutschen Raum eine vergleichbare Bedeutung zu wie G. P. Bakers Dramatic Technique (1919) für den amerikanischen; und James Whipples How to Write for Radio (Wie man für den Rundfunk schreiben muß, 1938) verrät schon im Titel denselben Gestus des Vorschreibens wie die Poetik des Aristoteles in ihrem Einleitungssatz. Präskriptive Kritik wendet sich an den prospektiven Autor, richterliche an das geneigte Publikum. Im Verlauf des 19. Jhs. er-
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Einleitung: Anlässe, Themen, Zusammenhänge
reichte eine dritte Sparte der Literatur über Literatur, die sich wissenschaftlich verstand und sich in erster Linie an Gelehrte und Studenten wandte, ihren ersten Höhepunkt. Ihre für die damalige Phase kennzeichnenden Dokumente sind die monumentalen Historiographien: wenn man so will, Hippolyte Taine, Ferdinand Brunetiere und die Folgen.2 In Deutschland geht mit dieser Entwicklung der Aufbau der Philologie als Wissenschaft Hand in Hand. Zwar denkt man heute bei diesem Wort wohl meist an eine als veraltet geltende Form der Sprachgeschichte („Der Philologe sattelt sein Pferd mit den Grimmschen Gesetzen und verfolgt die allerkleinste Silbe bis in die entferntesten Täler des Himalaja"); doch braucht man sich nicht einmal an August Boeckhs fundamentale Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (1877) zu erinnern, um sich zu vergegenwärtigen, daß die philologischen Bemühungen ursprünglich in Studium und Forschung der Sprache, Literatur und Kultur eines Volkes in ihrem selbstverständlichen Zusammenwirken galten. Dieser Anspruch lebt heute durchaus noch in der Person einzelner Gelehrter und in einzelnen Institutionen fort; es fällt nur immer schwerer, ihn zu verwirklichen, weil die zentrifugale Wissenschaftsentwicklung den einzelnen in der Philologie verbundenen Disziplinen inzwischen so viel Eigengewicht gegeben hat, daß sie kaum noch in einer Hand zu vereinigen sind. Der Kultur haben sich die Kulturanthropologie und die Kunstwissenschaften angenommen — je nachdem, wie Kultur verstanden wird. Die jüngste Abspringerin ist die Linguistik, die sich entweder nach szientifischen Grundsätzen zu orientieren oder an die philosophische Logik anzulehnen begonnen hat und die in jedem Fall die historische Fülle zugunsten einer Entfaltung im Systematischen und Theoretischen hintanstellt.3 Was von der Philologie übriggeblieben ist, nachdem die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kultur und die Linguistik ihre eigenen Wege gegangen waren, läßt sich mit einiger Berechtigung als Literaturwissenschaft bezeichnen. Die Auflösung des philologischen Verbundes hatte und hat für die nunmehr isolierte Literaturwissenschaft zwei wichtige Konsequenzen: Sie muß sich ihrerseits um
Zwischen Literaturlesen und Literaturwissenschaft
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eigene epistemologische Fundierung im Theoretischen bemühen, und der Verlust der zuvor selbstverständlichen Bindung an die Sprache und Kultur eines Landes führt zur Suche nach Anlehnung an andere Disziplinen, die vielleicht sogar eine noch größere theoretische und methodologische Sicherheit versprechen. Für denjenigen, der den integrativen Anspruch der Philologie aufgegeben hat, sind diese Bemühungen sachlich durchaus geboten, so daß von daher die Hypostasierung des Theorieanspruchs und die Ideologisierung des zumeist zur Soziologie drängenden Interdisziplinären wenn nicht verständlich, so doch zumindest erklärbar erscheinen: Der unsicher gewordene Literaturwissenschafder stand vor der Versuchung, sich der einseitigen Theoriegewißheit oder dem selbstsicheren Soziologismus der letzten Jahre zu öffnen. 4 Die seriösen Bemühungen um neue theoretische Fundamente der Literaturwissenschaft in der für die Wissenschaftsorientierung des 20. Jhs. eher wieder kennzeichnenden Form des Systematisierens nahmen in den letzten Jahren ihren Hauptweg über den Strukturalismus, dessen geographische Bestimmungen „Moskau — Prag — Paris" zugleich historische Stationen angeben.5 Eine unabhängige Parallelentwicklung in Amerika fußt auf Northrop Frye, der mit seiner Anatomy of Criticism (1957) die Literaturwissenschaft von der Geschichte und der Philosophie lösen und ihr „eine eigene Wissensstruktur" zur Verfügung stellen wollte, „wie es in den anderen exakten Wissenschaften (sciences) auch geschieht". 6 Unabhängig davon und keineswegs unumstritten findet gegenwärtig ein erheblicher Import an französischem strukturalistischen Gedankengut in die USA statt.7 Angereichert werden diese strukturalistischen Bemühungen um eine Fundierung der Literaturwissenschaft durch eine hermeneu tische Orientierung — oder besser: durch eine metahermeneutische —, die sich zuerst resdose Gewißheit über die eigenen Voraussetzungen zu schaffen versucht, bevor sie sich überhaupt an literarische Werke heranwagt. Bei diesen Bemühungen um ein „Verstehen des Verstehens" spielt immer wieder Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode (1960) zumindest als Ausgangspunkt eine Rolle. 8
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In ihrer Konsequenz führt die strukturalistische Begründung der Literaturwissenschaft jedoch zur Auflösung eines jeden historischen Gegenstandes — sei es nun Werk oder Autor — in dem Entwurf eines absoluten Systems allseitiger Bezüge, in dem alles mit allem „objektiv" zusammenhängt, wiewohl nichts verifiziert werden kann: Das Ergebnis ist reine, absolute Theorie, Mystik der écriture. Insoweit er sich der Empirie entzieht, ist der Strukturalismus — so sorgfältig er sich auch hermeneutisch absichern mag — nur die differenzierteste Form einer recht breiten internationalen Strömung der Literaturfeindlichkeit, die bereits als großangelegter und aus vielen Richtungen geführter „Angriff auf die Literatur" beschrieben worden ist; René Wellek zählt (in der Reihung von krude bis subtil) auf: 1. die „antikapitalistische" Agitation im Dienste der Weltrevolution, die die „Literatur des Klassenfeinds" mit ihren eigenen Pamphleten verdrängen will; 2. radikalere gleichmacherische Bestrebungen, die in jeder Unterscheidung gleich eine „Diskriminierung" und schon im Alphabet eine obrigkeitliche Schikane sehen; 3. eine demgegenüber viel pragmatischere Nivellierungstendenz, die lediglich den ästhetischen Bereich ununterscheidbar ins Alltägliche absorbieren will, sei es, um Alltäglichkeiten („objets trouvés") zu Kunstwerken zu erhöhen oder der Kunst überhaupt die Fähigkeit abzusprechen, etwas Brauchbares zum Geschäft des Lebens beizutragen; 4. eine damit über lange Strecken parallel verlaufende Bestrebung, Kunst und Literatur im Namen der szientifischen Objektivität von ihrer werthaltigen Sonderstellung herabzuziehen und wie alles andere zu Komputerfutter zu verschroten; 5. ein zivilisationsoptimistisches Mißtrauen der Literatur gegenüber, weil sie angeblich die dem elektronischen Zeitalter angemessene Bewußtseinsentwicklung arretiere und altertümlicherweise auf dem besteht, was sie schwarz auf weiß besitzt; 6. und als wohl radikalsten Angriff ein kulturpessimistisches Mißtrauen dei1 Literatur wie jedem sprachlichen Ausdruck gegen-
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über, das in der Sprache selbst eine unüberwindliche Barriere zwischen den Menschen und ihrer Umwelt sieht: Schweigen, so heißt es, ist das einzig Sagbare. 9
II. BRENNPUNKTE
Auf diese Ereignisse, die alle noch Gegenwart sind, auf diese geistigen und ungeistigen Herausforderungen, die ihren Ursprung in den meisten Fällen außerhalb der Literaturwissenschaft haben, muß die Literaturwissenschaft über kurz oder lang ihre Aufmerksamkeit lenken, einmal, um sich dessen zu vergewissern, was sie für sich selbst und ihren Umgang mit Literatur aus diesen Ansprüchen gewinnen kann, und zum andern, um der Gefahr entgegenzutreten, daß bei unbefangenen Dritten falsche Vorstellungen über die Literatur und ihr Verständnis geweckt und verfestigt werden. Eine allseits fundierte Erörterung des gesamten Spektrums dieser Stimmungen, Haltungen, Forderungen und Uberzeugungen ist hier nicht möglich: Sie sind uns noch zu nah. Es müssen also Schwerpunkte gesetzt werden. So kann eine Auswahl wenigstens in einzelnen Bereichen jene Gründlichkeit der Durchdringung erreichen oder doch zumindest an sie heranführen, die auch einer Auseinandersetzung weiterführende Erkenntnisse abgewinnen kann. Im folgenden sollen daher zunächst einige der bisher genannten Aspekte aufgenommen, präzisiert und so entwickelt werden, daß die vorgenommene Auswahl erkennbar und begründbar wird; daß dabei in erster Linie Ereignisse in Deutschland gemeint sind, versteht sich aus der Situation, aus der heraus die hier gesammelten Beiträge geschrieben worden sind. 10 Vor etwa 100 Jahren gab das Schlagwort „l'art pour l'art" seinen Benutzern ein Mittel an die Hand, den Bürgerschreck zu spielen; heute dient Theoriebewußtsein (besser: Theoriebeflissenheit — gewissermaßen „la théorie pour la théorie") manchmal sehr ähnlichen Zwecken: Beider Verfechter wollten bzw. wollen bestehenden Verhältnissen recht gründlich an die Wurzel — wobei die Epateure des
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19. Jhs. ihre Radikalität auf ihre Weise und für ihre Ziele in Kaffeehäusern und Ausstellungen entfalteten, während die heutigen dafür Hörsäle und die Straße benutzen; beide verstehen sich als „emanzipatorisch" — wobei freilich der Wortsinn „revolutionär im Sinne des Marxismus-Leninismus" eine „Errungenschaft" der letzten Jahre ist; und beide bildeten oder bilden Subkulturen, doch die der Lartpourlartisten war weitaus umfassender angelegt und gründlicher ausgestaltet und erwies sich auf die Dauer als eine Kultur nicht nur im anthropologischen Sinne des Wortes. Wenn sich solche Theoretisierer unserer Tage die „bürgerliche Wissenschaft" als Gegner aussuchen, so ist ihr Ziel nur scheinbar beschränkt, da nach ihrem Selbstverständnis Wissenschaft die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist und fugenlos in Staat und Gesellschaft übergeht. Beschränkt, ja kärglich ist freilich meist das Material, das von den Neotheoretikern verbaut wird, kümmerlich das Fundament, auf dem die Ansichten künftiger Wissenschaftszweige wie Potemkinsche Dörfer errichtet werden. Meist fehlt jede Überprüfung der Theorie an ihrem Gegenstand. Vielmehr errichten diese Nachläufer des heruntergekommenen Deutschen Idealismus — Karikaturen der Scholastik, die sie sind — ihre globalen Konzepte, indem sie fleißig ihre „Autoritäten" zitieren; die Autoren aber, über die sie vorgeblich handeln, lassen sie selten auch nur am Rande und nie umfassend und ausgewogen zu Wort kommen. Ein junger Theoriebeflissener nahm für sich in Anspruch, es genüge ihm, das Entstehungsdatum eines literarischen Textes zu kennen, um diesen zu verstehen; den Text selbst brauche er dann gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ein angesehener Anglist, der sich auch als Komparatist versteht, schloß einen Fachvortrag mit der freudigen Feststellung, er habe kein einziges literarisches Werk erwähnt. Solche Beispiele erscheinen nur so lange befremdend, als man sich nicht vergegenwärtigt, daß Theorie um ihrer selbst willen tatsächlich per definitionem den Sachbezug ausschließt, die wissenschaftliche Kategorie der Verifizierbarkeit/Falsifizierbarkeit abstreift, ihren Urteilscharakter aufgibt und sich damit begnügt, ein Vorurteilsgespinst auszuwickeln. Sie geht zielsicher und geradewegs an der
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geistigen, geschichtlichen, politischen und kulturellen Wirklichkeit vorbei, die sie, statt diszipliniert zu analysieren, unbekümmert überbaut; denn wissenschafdiche Disziplin empfindet sie nur noch als Disziplinierung. Gerade deshalb aber kann sie die Entfremdung, die Vereinzelung der Wissenschaften, um deren Aufhebung sie sich angeblich bemüht, nicht überwinden, da ihr zur geistigen, geistvollen Arbeit der dialektischen Vermitdung die sachlichen und logischen Grundlagen fehlen. In dem Maße, in dem sich so die „neue" Theorie — die freilich meist nur Ansichten und Entwürfe des 19. Jhs. übernommen hat — gegenstandsblind macht, wird sie auch in mehr als einem Sinn des Wortes gegenstandslos. Insoweit die hier skizzierte Position gegen die „bürgerliche Gesellschaft" Partei ergreift, verwendet sie Literatur nur noch als Kampfstoff: Denn alle, die mit Literatur Interessen durchsetzen wollen, alle Parteigänger betrachten sie lediglich als Propagandamittel, und vieles in Wort (und Bild) ist das ja auch. Aber nicht alles — und dieser Rest (so läßt sich heute nicht anders als mit leichtem Pathos sagen), dieser weder quantitativ noch qualitativ unbedeutende Rest, der sich den menschlichen Parteiungen entzieht und Partei für den Menschen ergreift, darf um seiner humanisierenden Wirkung willen nicht aufgegeben werden. Doch auch außerhalb der sich als gesellschaftsbewußt und deshalb „links" verstehenden oder gerierenden Kreise gibt es Tendenzen, die Beschäftigung mit der Literatur zu beeinträchtigen, nämlich überall dort, wo Literatur instrumental verwendet wird. Das geschieht, wenn Literatur „verarbeitet" wird, nicht primär, um sie zu verstehen, sondern beispielsweise um einen akademischen Grad zu erwerben; denn ein solches Unternehmen quetscht sich oft gequält in eine Forschungslücke und verengt sich so das Blickfeld, oder es artet in eine bloße Methodologie- oder Terminologiegymnastik aus. Ebenfalls der Literatur abträglich ist das sowohl in akademischer als auch in außerakademischer Literaturkritik zu beobachtende Bemühen, einem nur teilweise richtig verstandenen szientifischen Ideal nachzustreben, nämlich dem, ein Problem „ein für allemal zu erledigen", ein Werk „endgültig" zu enträtseln und seine „wahre"
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und einzige Motivation — endlich! — bloßzulegen: „Eigentlich", so heißt es dann oft, sei es ja nur der Ausdruck verdrängter oder verschleierter oder verschreckter homosexueller oder antisemitischer oder antidemokratischer oder sonstwie suspekter Motive und deshalb — so impliziert man — keiner weiteren Beschäftigung wert. Große Werke imaginativer Literatur sind freilich sehr wohl in der Lage, aus solchen Endarvungsversuchen unversehrt hervorzugehen; aber der Umgang mit ihnen wird dadurch eine Zeidang sicher nicht leichter. Eine Entlarvungskritik besonderer Art reduziert heute die Literatur gemäß der Forderung nach „gesellschaftlicher Relevanz" auf ihren „gesellschaftlichen Gehalt".11 Dementsprechend wird von der Literaturwissenschaft verlangt, sie müsse die Literatur in ihrer gegenwärtigen „gesellschaftlichen Situation" insbesondere im Hinblick auf deren systematische „Veränderung" oder „Uberwindung" rechtfertigen: Die Literaturwissenschaft soll in eine sich als „emanzipatorisch" verstehende „Gesellschaftswissenschaft" aufgesogen werden. Nun ist „gesellschaftliche Relevanz" eine jener Globalformeln, die geeignet sind, einen Strudel von Emotionen aufzurühren, weil sie einem jeden alles Beliebige bedeuten können — und das heißt: nichts Verbindliches. Wer zudem beobachtet hat, wie sich Ziele höchster „gesellschaftlicher Relevanz" innerhalb von einem Dutzend Jahren in ihr Gegenteil verkehren, wird diese Emotiervokabel nur zu gern denjenigen überlassen, die abwägendes Urteilen und geschichtliche Kenntnisse zu den Widerständen gegen die Befreiung des Menschen zählen. Aus diesen Überlegungen lassen sich, auf zwei Sätze gebracht, die beiden Brennpunkte gewinnen, um die die hier vorgelegten Aufsätze und Ansätze angeordnet sind; eine kategorische Trennung der Aspekte ist nach Lage der Dinge weder möglich noch beabsichtigt: 1. Die Beiträge sind gegen den Theorieüberschwang gerichtet und setzen sich für eine gegenstandsbezogene Theorie auch beim Studium der Literatur ein; 2. sie wenden sich gegen die voreilige Ausschließlichkeit von Ansprüchen, die im Namen des „Gesellschaftlichen" erhoben werden, und befürworten eine literaturgerechte Berücksichtigung auch
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soziologischer Belange (als eines Aspekts unter mehreren) beim Studium der Literatur.
III. S A M M L U N G
In welcher Verbindung stehen nun die hier gesammelten Beiträge zu dieser doppelten Thematik? Thema des ersten Aufsatzes, „Das Bild in imagistischer Theorie und Praxis" (1968), ist ausdrücklich die Wechselwirkung von dichterischer Theorie und Programmatik einerseits und dichterischer Praxis andererseits am Beispiel einer Dichtergruppe, die für die Entwicklung der modernen englischsprachigen Lyrik richtungweisende Impulse gegeben hat. Eine Theorie fördert ohne Zweifel das Verständnis derjenigen Gedichte, als deren konzeptioneller Rahmen sie vorgesehen war; doch hieße es, die Theorie mißzuverstehen, wenn man — wie es immer wieder geschieht — sie als primär ansetzt und nur bei ihren eigenen Worten nimmt, das heißt, wenn man nicht die Gedichte als Ergänzungen und Korrektive der auf sie bezogenen Theorie gelten läßt. Was diese Vermittlung von dichterischer Theorie und Praxis schwierig macht, ist die Tatsache, daß sich Theorie und (moderne) Dichtung in zwei verschiedenen, ja inkommensurablen Modi von Sprache abspielen. Theorie bleibt nämlich dort, wo sie sich kryptisch gibt, diskursive, abstrahierende Rede, während die der Dichtung eigene Luzidität gerade an deren scheinbar dunkelsten, kompaktesten Stellen aufscheint. Eine zusätzliche Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß die Kritik ihrerseits — soll sie nicht ein rhapsodisches Anderes werden — dem diskursiven Sprachgebrauch verpflichtet bleiben muß und deshalb immer eine größere Affinität zur theoretischen Aussage als zu dichterischer Sprachgebung haben wird. Deshalb ist insbesondere an der Kontaktstelle von Dichtung und Theorie äußerste Behutsamkeit erforderlich, damit der Kritiker Heteromeres nicht heteronomisiert. Damit ist eine der größten Schwierigkeiten für das Verständnis (moderner) Dichtung und eines der entscheidenden theoretischen und
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praktischen Probleme der Literaturkritik im 20. Jh. umrissen; es wird in den Aufsätzen dieses Bändchens als eines der Hauptmotive wiederkehren. Die beiden nächsten Texte, „Literaturwissenschaft als Literaturwissenschaft" (1973) und „Wider den voreiligen Soziologismus" (1975) liegen besonders dicht am soziologischen Brennpunkt dieser Auswahl und lassen sich am besten als zwei Stränge ein und desselben Arguments verstehen. Das hilft zu erklären, warum beide denselben gedanklichen und historischen Ausgangspunkt nehmen. Das Argument richtet sich an all diejenigen, die sich der Literatur mit im weitesten Sinne soziologischen Interessen nähern. Entsprechende Fragen können so vage wie wichtig sein wie: Was gibt (mir) Literatur „fürs Leben"? Was läßt sich über die Stellung eines Werks im sozio-kulturellen Umfeld seiner Entstehungszeit sagen? Wie läßt sich die Wirkung von Literatur im weitesten Sinne auf „die Gesellschaft" bestimmen? Es geht also wiederum um einen Grenzbereich, um Kontaktstellen, diesmal um die Verknüpfung literaturkritischer und soziologischer Fragen im Umgang mit Literatur. Wiederum handelt es sich um die grundsätzliche Gefahr, daß bei einer solchen Begegnung die eine Seite die andere unterwirft. „Gesellschaftlich" gesehen hat gegenwärtig eindeutig die Soziologie die weitaus günstigere Position — oder das, was sich im Namen der „gesellschaftlichen Relevanz" eine sozialwissenschaftliche Rechtfertigung herausnimmt; deshalb braucht es sie nicht zu sehr zu inkommodieren, wenn sie im folgenden auf den ihr gewidmeten Seiten stellenweise ein wenig respektlos behandelt wird. Die beiden Stränge des Arguments verlaufen so, daß der stark zusammenfassende theorieorientierte Bericht „Literaturwissenschaft als Literaturwissenschaft" (der wegen seiner engen Verknüpfung mit einem 1973 aktuellen Anlaß in seiner ursprünglichen Vortragsform belassen und nicht durch Beispiele erweitert worden ist) im wesentlichen zwei Modelle vorstellt, die in den USA von literaturkritischliteraturwissenschaftlicher Seite entwickelt worden sind, um soziologische Fragen an die Literatur auf eine literaturgerechte Weise
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aufzunehmen; „Wider den voreiligen Soziologismus" zeigt demgegenüber auf, wie innerhalb der empirischen Sozialwissenschaften das erheblich angewachsene Interesse an dem zusammenfassenden Auswerten großer Textmengen im Hinblick auf soziologisch Bedeutsames dazu geführt hat, daß die anfangs sehr kruden numerischen Untersuchungsmethoden so subtilisiert worden sind, daß sie in ihren besten Ausprägungsformen schon recht nahe an das herankommen, was für einen adäquaten Umgang mit Literatur unabdingbar ist. Wer also heute soziologische Fragen an die Literatur richten möchte, braucht sich nicht mehr mit dem plumpen Instrumentarium der soziologischen Pionierzeit herumzuplagen oder eigene Platitüden zu erfinden. Ebenfalls ein wenig den Charakter einer Streitschrift hat der Beitrag „Marxismus und Literatur" (1974). Er ist im wesentlichen eine Auseinandersetzung mit Robert Weimanns gewichtigem Beitrag zur allgemeinen Literaturwissenschaft, Literaturgeschichte und Mythologie. Weimann, ohne Zweifel der belesenste und eindringlichste Literaturtheoretiker, der heute in der DDR schreibt, hat trotz dieser Qualitäten bestimmte schon zu Beginn des Parteimarxismus längst nicht mehr taufrische dogmatische Positionen der Literaturtheorie eingenommen, die er dank seiner Fähigkeiten zur dialektischen Sophistik nunmehr auf die Nadelspitze treibt. In der notwendigen Auseinandersetzung mit Weimann läßt sich jedoch als sachlicher Gewinn die theoretische Seite eines Problems herausarbeiten, das sich heute in der Literaturwissenschaft mit unaufschiebbarer Dringlichkeit stellt: die Vermittlung von literaturhistorischer Forschung, die sich um die vergangene Bedeutung der Literatur kümmert, mit literaturkritischer Wertung, die die Literatur in ihrer Bedeutung für die Gegenwart zu fassen versucht. Eine Auseinandersetzung mit Weimann zeigt Möglichkeiten auf, wie eine Literaturgeschichtsschreibung aussehen könnte, die bei aller historischen Treue nicht hinter dem zurückbleibt, was die werkimmanente Interpretation, der amerikanische „New Criticism", die britischen „Scrutinisten", die „explication de texte" und bis zu einem gewissen Grade der russische Formalismus und der Prager Strukturalismus in-
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zwischen zwar nicht als einheitliche, aber in wichtigen Punkten eben doch unaufgebbare Normen literaturgerechten Arbeitens gesetzt haben. Der Aufsatz „T. S. Eliots konkrete Kritik: Ideogramm statt Theorie" (1973/75) wendet sich wieder stärker dem „Brennpunkt Theorie" zu. Der englische Dichterkritiker war nämlich der erste, der von seiner philosophischen Ausbildung her die Diskrepanz zwischen der diskursiven Abstraktion in Literaturkritik und -theorie einerseits und der konkreten Dichte des literarischen Werks — insbesondere der Lyrik — andererseits so deutlich empfand und so klar erkannte, daß er eine Form der Dichtungskritik zu erproben begann, die nicht Urteile über Urteile über Dichtung aufhäuft, sondern der Wahrnehmung der Werke selbst kritische Struktur zu geben trachtet. Ob es Literaturwissenschaftlern, die in aller Regel ja keine Dichter sind, möglich sein wird, dieses Experiment in ihrer eigenen Arbeit zu wiederholen und weiterzutreiben, ist nicht ausgemacht, da es bisher noch nicht in größerem Maße versucht worden ist. Mit dem letzten Beitrag, „Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht" (1976) bleibt der Theorieaspekt voll im Blick, allerdings auf eine neue Weise und auf einem Gebiet, dem bisher noch sehr wenig literaturhistorische Aufmerksamkeit geschenkt worden ist: der Dichtung, die Dichtung reflektiert. Sowohl detaillierte Gedichtinterpretationen als auch raumgreifende Skizzen literaturhistorischer Linien lassen erkennen, daß Dichtung durchaus in der Lage ist, auf ihre Weise mit dem Theorie/Praxis-Dilemma fertig zu werden. Während Eliot in der Absicht zu vermeiden, daß Dichtung im kritischen Urteilssatz zu diskursiver Rede denaturiert wird, zumindest zeitweilig versuchte, das kritische Urteil der Struktur von Dichtung wenigstens anzunähern, zeigen moderne poetologische Gedichte, daß sie literaturkritische und -theoretische Momente so in sich aufnehmen können, daß sie sie in Dichtung umwandeln. Wiewohl also die Beiträge deutliche thematische Zusammenhänge erkennen lassen, sind sie nicht so angelegt, daß sie alle zusammen in einer bestimmten Reihenfolge gelesen werden müssen, um verständlich zu sein; damit jeder von ihnen auch für sich allein stehen und
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einstehen kann, wurde gelegentlich — an ganz wenigen Stellen — darauf verzichtet, eine Angabe, eine Überlegung, eine Formulierung nur deshalb zu tilgen, weil sie auch in einem anderen Beitrag zu finden ist, sofern sie Teil des Arguments und nicht nur rhetorisches Mittel ist. Im übrigen sind diejenigen drei Texte, die bereits veröffentlicht vorliegen, für diese Sammlung überarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht worden. Göttingen—New Haven, Sommer 1976
Das Bild in imagistischer Theorie und Praxis I. PROBLEMSTELLUNG
„Als point de repère für den Durchbruch der Moderne in der Dichtung gilt in aller Regel die Bildung der Imagistengruppe, die etwa 1910 in London zusammenfand." 1 So beurteilte Eliot 1953 aus der Rückschau jene lose Gruppierung von Dichtern, Kunsttheoretikern und Kritikern, die sich in leicht wechselnder personeller Zusammensetzung vor dem Ersten Weltkrieg zunächst um T. E. Hulme, dann um Ezra Pound und in den späteren Kriegsjahren um Amy Lowell sammelte, und mit der Eliot selbst nur indirekt verbunden war. Das literaturhistorische Problem der Beziehungen zwischen dem Imagismus und späterer Dichtung wird hier allerdings nur insofern berührt, als es die zentrale Fragestellung dieser Überlegungen tangiert, nämlich die literaturtheoretische Frage nach dem Bild als Begriff in der Theorie und als Funktion in der Dichtung der Imagisten. Auch die literaturhistorische Frage nach Dichtungsformen und -theorien, die den Imagismus unmittelbar vorbereitet haben, bleibt im Hintergrund. 2 Ebenfalls nicht begangen, sondern nur angedeutet wird die noch weiter gespannte Brücke zu Bildtechniken der Metaphysical Poets. Hinter diesen Beschränkungen steht die Überlegung, daß, wie etwa das Beispiel Frank Kermodes zeigt, bei Untersuchungen wie der vorliegenden der historische Ansatz leicht die Ergebnisse vorprägen und so das Erkennen entscheidender Nuancen verstellen kann, 3 während ein nachträgliches Inbeziehungsetzen des zunächst aus sich selbst und seinem engeren Umkreis heraus erarbeiteten Neuen mit historischen Phänomenen zwar ebenfalls methodische Beschränkungen — freilich anderer Art — mit sich bringt, aber sowohl Gemein-
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samkeiten als auch Unterschiede der verglichenen Gegenstände besser zur Geltung kommen läßt. Solche weitergehenden Vergleiche fallen aber ebensowenig unter die Zielsetzung dieses Beitrags wie die Erarbeitung anderer zentraler Punkte imagistischer Theorie und Praxis wie z. B. dem der poetischen Kadenz und ihrer Beziehung zum Image.* Eine grundsätzliche literaturtheoretische Erörterung des imagistischen „Bildes" erscheint schon deswegen nicht müßig, weil nicht nur College-Lehrbücher, sondern auch Fachenzyklopädien und SpezialStudien den Imagismus immer noch mit einem nicht angemessenen Bildbegriff darstellen. So findet sich z. B. in einem Einführungsbuch in das Studium der Literatur die Angabe, in der imagistischen Dichtung gehe es um nichts weiter als die Darstellung kleiner scharfer Bildchen, 5 und selbst Stanley K. Coffman hebt in seinem Artikel „Imagism" in der Encyclopedia of Poetry and Poetics unter Berufung auf Amy Lowell die Werte der Klarheit, Genauigkeit und Konkretheit als die kennzeichnende Leistung des Imagismus hervor — ein Urteil, das nach seiner früheren umsichtigeren Studie des Imagismus einigermaßen überrascht. 6 Eine solche Unzulänglichkeit in der Theorie kann auch verschiedentlich bei Einzelanalysen an terminologischen Widersprüchen festgestellt werden. 7 Im Gegensatz zur zitierten Ansicht Coffmans beruht die folgende Erörterung auf der Auffassung, daß das Prinzip klarer visueller Darstellung eigentlich nur im Zusammenhang mit Pounds Vorstellung vom Image als Darstellung eines Komplexes, die teilweise von Hulmes Theorien vorbereitet worden ist, Bedeutung für den Imagismus als Dichtungsform der Interferenz mehrerer Eindrücke besitzt. Anregungen für die Behandlung dieser Frage gingen vor allem von Wolfgang Isers Essay „Image und Montage: Zur Bildkonzeption in der imagistischen Lyrik und in T. S. Eliots Waste Land" aus. 8 Der hier gewählte Ansatz unterscheidet sich von dem seinen jedoch auf folgende Weise: Iser gründet seine Überlegungen auf die erkenntnistheoretischen Absichten Hulmes und gelangt so zu der Ansicht, das imagistische Gedicht sei ein Fragment einer möglichen Weltsicht, das als „Programmierung der Phantasie" die
Historische Orientierung
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Vorstellung „anderer ,Segmente' des gleichen Gegenstands" auslösen solle; im Image sei die Anweisung angelegt, „das ,Bild' nur als Basis zur Imaginierung anderer Bildfolgen oder Vorstellungsreihen zu verstehen". 9 Demgegenüber beginnt der hier eingeschlagene Weg bei Pounds poetologischem Imagismus. Dabei sollen immer wieder als typisch imagistisch angesprochene Gedichte nicht als Anwendung einer Theorie, sondern — freilich unter ständiger Reflexion auf theoretische Äußerungen der Imagisten — aus sich selbst heraus untersucht werden. Ziel ist es, die imagistischen Theorien an diesen Befunden zu testen. — Als Hilfsmittel der Disposition kann folgende kurze Geschichte des Imagismus dienen.
II. HISTORISCHE ORIENTIERUNG
Die Forschung unterscheidet ziemlich übereinstimmend drei Phasen des Imagismus. 10 Die früheste, die noch nicht unter diesem Namen firmierte, stand unter der Führung Hulmes, der 1908 als dessen erster Sekretär den von Henry Simpson gegründeten Londoner Poet's Club organisierte und sich außerdem 1909—1910 mit avantgardistisch eingestellten Freunden und Bekannten zu regelmäßigen, aber weniger formellen Literaturgesprächen in einem Restaurant in Soho traf. 11 Uber die zweite Phase, die des Imagisme mit dem charakteristischen Schnörkel des e muet, regierte Pound von 1912 bis 1914. Nachdem Pound schließlich seine Ideen unter das neue Schlagwort des Vorticism gestellt hatte, 12 verhalf Amy Lowell in einer dritten dem Imagismus zu neuen, insbesondere verstechnischen Impulsen und zu weiter Publizität in den USA. 13 Es entstand der Amygism, wobei Pounds Wortspiel hier nicht abwertend, sondern differenzierend gebraucht wird. Die drei Phasen lassen sich kurz folgendermaßen charakterisieren: Die erste unter Hulme war durch dessen theoretisches Interesse gekennzeichnet, durch sein Bemühen um eine moderne Ästhetik, in der die Architektur und die bildenden Künste einen zentralen Platz einnehmen. Zwar übte man sich in seinem Kreis nach Flint durchaus
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auch poetisch, insbesondere in japanischen Haiku- und TankaFormen, 1 4 an denen man, wie Miner in einem etwas anderen Zusammenhang ausführt, fast ausschließlich die visuelle Momentaufnahme schätzte, weil man damals in Europa und Amerika, was japanische Kunst angeht, vor allem unter dem Eindruck japanischer Farbdrucke stand. 1 5 Diese Bevorzugung visueller Detaildarstellungen in den poetischen Miniaturen des Hulme-Kreises mag damit zusammenhängen, daß auch die japanische Haiku-Kunst des späten 19. Jhs. unter der Geschmacksdiktatur des Herausgebers der HaikuZeitschrift Hotogisu, Matsuoko Shiki, deutlich Tendenzen zur bloßen sprachlichen Wiedergabe eines einfachen visuellen Kleinbildes gezeigt hatte. 1 6 Die unter diesen Voraussetzungen entstandenen Gedichte des Hulme-Kreises wirken vom heutigen Standpunkt aus gesehen recht viktorianisch. Hulmes eigene Texte nehmen eine Zwischenstellung ein, weil sie in ihrem Aufbau deutlich Elemente enthalten, die auf eine modernistische Poetologie verweisen; sie gelten trotz des hohen Lobs, das ihnen gelegentlich zuteil wurde, als Anschauungsmaterial für seine Theorie. 1 7 In dieser Dichtungs- und Sprachtheorie steht das lebendige und originelle image als Ausdruck poetischer Potenz („faculty of mind") im Mittelpunkt, da es eine intellektuell aufrichtige Weltbewältigung garantieren soll. Das große Ziel, so meint er, „the great aim is accurate, precise and definite description" — eben weil nach Hulme dadurch die verwaschenen Bedeutungen, die die Worte in der prosaischen Funktion der Sprache als eines alltäglichen Kommunikationsmittels haben, aufgefrischt werden. 1 8 Konventionelle Seh- und Ausdrucksweisen werden als ungenau, unehrlich und prosaisch abgelehnt, und alle Prosa ist als Umschlagplatz abgegriffener Bilder verpönt. Von ihr sei Poesie qualitativ unterschieden. Der Unterschied liegt nach Hulmes Vorstellungen, die er unmittelbar von Bergson übernommen hat, darin, daß in einem poetischen Moment zwei separate, aber präzis gefaßte visuelle Bilder auf Grund einer intuitiv erkannten Analogie zum Konvergieren gebracht werden, wodurch die Intuition des Dichters sozusagen in körperlicher Form vermittelt wird. 1 9 Ein zentraler Satz aus Hulmes „Lecture on Modern Poetry" lautet: „Zwei optische
Historische Orientierung
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Bilder \images\ bilden zusammen soetwas wie einen .optischen Akkord*. Ihr .Zusammenklingen' suggeriert ein Bild, das von beiden verschieden ist." 20 Das Wort image hat hier zwei deutlich unterschiedene Bedeutungen: primär eine impressionistische oder wahrnehmungspsychologische („Sinneseindruck", „Vorstellungsbild" bzw. sprachliche Wiedergabe eines solchen), sekundär eine, die an dieser Stelle provisorisch „strukturell" genannt werden soll, weil diese Art des image durch das Zusammenwirken zweier Elemente der ersten Art konstituiert wird, was in der Dichtung einem Aufbauprinzip entspricht. Für Hulme ist das Verhältnis zwischen den beiden Strukturelementen dynamisch, energiegeladen; er spricht von Funken — „fire Struck between stones".21 Im Zusammenhang mit Pounds Poetologie wird dieses Bild und insbesondere der strukturelle Bildbegriff schärfere Konturen annehmen. Im übrigen ist es für ein Verständnis des Imagismus wichtig, diese beiden Bedeutungen des Wortes image, die bei Hulme freilich unmittelbar voneinander ableitbar sind, auseinanderzuhalten und auch die rhetorische Bedeutung von „Bild" als Tropos nicht mit ihnen zu verwechseln.22 Gegen Ende 1910, Anfang 1911 begann Hulme, immer ausschließlicher seinen philosophischen Interessen nachzugehen, so daß es Pound überlassen blieb, nach etwa zweijähriger Pause mit der Namensgebung Imagisme Ende 1912 die zweite Phase, die der Dichterschule, einzuleiten. In der Zwischenzeit hatte er die Anregungen aus Hulmes Kreis verarbeitet und selbst u. a. japanische Dichtung und symbolistische Theorie, insbesondere die des späten de Gourmont studiert. Auch für ihn ist das Image der Hauptbegriff, und zwar in der bekannten Definition als Momentaufnahme eines intellektuellen und emotionellen Komplexes.23 Die Eigenschaften Klarheit, Konkretheit, Präzision und Einfachheit, die auch wesentlich zu den Prinzipien des Imagismus Poundscher Prägung gehören, werden aber nicht mehr als mit dem spezifischen Wesen des Bildes als der Wiedergabe eines Komplexes verbunden gesehen, sondern im Gegensatz zu Hulme von Qualitäten der Prosa abgeleitet;24 ihre Verbindung mit dem Image ist sekundär. Bildlich gesprochen wird die Prosa (und die Prosatradition in der Dichtung)
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Das Bild in imagistischer Theorie und Praxis
zum zweiten Brennpunkt der imagistischen Theorie Pounds, worin die Forschung einen Einfluß der von Hueffer vermittelten Tradition Flauberts erblickt.25 Für Pound besteht zwischen Prosa und Dichtung nur ein gradueller Unterschied der Intensität, ja, Prosa wird zum Maßstab des poetischen Stils. Zustimmend sagt er: „Die Verständigen lassen gelegentlich durchblicken, daß sich die Dichter um die Eleganz der Prosa bemühen sollten." 26 Im gleichen Sinne beruft er sich auf Hueffers Ansicht: „Dichtung sollte mindestens so gut geschrieben sein wie Prosa." 2 7 Auch seine Zielsetzung ist ganz anders als die Hulmes. Pound ging es damals um kein weltanschauliches, nicht einmal um ein ästhetisches System, sondern in erster Linie darum, einen Leitfaden für das Schreiben guter und gültiger Dichtung zu erarbeiten. Besonders deutlich zeigt sich dieser Unterschied darin, daß Hulme Originalität in der Dichtung aus erkenntnis- und sprachtheoretischen Erwägungen fordert, um nämlich durch neue, präzise Bilder die konventionellen Seh- und Ausdrucksweisen inhärente Ungenauigkeit zu überwinden, während Pound sie für nötig hält, um sich einen Platz in der poetischen Tradition zu erobern. 28 Eine solche pragmatische Werkstattorientierung kennzeichnet auch die dritte Phase des Imagismus, die Amy Lowell auf ihre Weise prägte und insbesondere zu einem Publikationskonsortium machte.29 Was ihre Dichtungstheorie anbelangt, so blieb das image wohl weiterhin ein wichtiger Bestandteil, aber nicht mehr im Sinne der Darstellung eines Komplexes, sondern in dem auch bei Hulme im Vordergrund stehenden Sinn der konkreten Darstellung des Details,30 ja, der präzisen Darstellung überhaupt, ob sinnlich-konkret oder nicht: „der klaren Darstellung all dessen, was der Dichter auszudrücken wünscht". 31 Der Bildbegriff in dieser Bedeutung ist problemlos; so verlagert sich auch das Hauptinteresse von spezifisch imagistischen Gesichtspunkten auf Methodenfragen der Verifikation, speziell auf das mit der Frage der Prosadichtung verbundene Problem des vers libre. Der Amygism hat seinen Mittelpunkt nicht mehr im image, sondern in der „reimlosen Kadenz" und steht voll in der Prosatradition.
Pounds Metro-Gedicht als „Form der Uberlagerung" oder Collage III. P O U N D S M E T R O - G E D I C H T ALS „ F O R M D E R ODER COLLAGE
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ÜBERLAGERUNG"
Pounds bekannter Zweizeiler „In a Station of the Metro" kann als ideal typisches Gedicht seiner Art des Imagismus gelten. The apparition of these faces in the crowd: Petals, on a wet, black bough. 3 2 Auf einem U-Bahnhof Die Erscheinung dieser Gesichter in der Menge: Blütenblätter, auf einem nassen, schwarzen Zweig.
Der Titel gibt den Schauplatz an, freilich nicht genau lokalisiert, sondern generell, typisch. Dadurch wird auch die in der ersten Zeile genannte Menschenmenge näher bestimmt. Im Ablauf des Lesens folgt allerdings auf den Titel gewissermaßen als erregendes Moment zunächst ein in dieser Alltagssituation unerwartetes Wort, „apparition" — unerwartet deswegen, weil es suggeriert, daß sich in dieser alltäglichen Umwelt etwas Uberraschendes, Ungewöhnliches ereignen wird; „apparition" kommentiert die Situation, indem es die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Kommende hin spannt. Aber im Zusammenhang der ersten Zeile hat „apparition" auch noch eine zweite Bedeutung: Das Wort bezeichnet ganz geheimnislos den Vorgang des Auftauchens („act of appearing", RHD, apparition 3) der Gesichter der auf dem Bahnsteig Stehenden in den Gesichtskreis desjenigen, der in den Bahnhof einfährt oder aus dem Zug steigt. Während die erste Zeile diesen Sinneseindruck in die Vorstellung hebt, gibt die zweite eine andere Impression wieder, evoziert ein anderes Vorstellungsbild.33 Beide sind formal in eine Beziehung zueinander gesetzt: Der Doppelpunkt nimmt die vorausdeutende Funktion des Wortes „apparition", soweit es einen Kommentar impliziert, wieder auf und kündet an, daß das zweite Vorstellungsbild gewissermaßen das Fazit aus dem ersten ziehen, es pointieren wird. Inhaltlich ist nichts über diese Beziehung ausgesagt, auch nicht über das zeitliche Verhältnis der beiden zueinander, weil das nähe-
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schaffende „these" keinen eindeutigen zeitlichen Bezug angibt. Der Leser mag annehmen, daß die zweite Vorstellung „vom Dichter" erinnert ist; deutlich wäre dies aber nur, wenn an Stelle des Doppelpunktes eine Wendung wie etwa „erinnert mich an" stünde. So läßt sich mit Sicherheit nur sagen, daß der Text aus zwei aufeinander bezogenen sinnlich-konkreten Vorstellungen besteht, aus zwei „Bildchen", wenn man das image in der Dichtung werkimmanent und wahrnehmungspsychologisch faßt und es z. B. mit Blair-Gerber als „ein konkretes Detail, das die Sinne anspricht" oder mit Brooks-Warren als „die Wiedergabe jeglichen Sinneseindrucks" bezeichnet.34 So hätte es auf jeden Fall Amy Lowell gesehen, denn für sie beinhaltet, wie schon gesagt, image einfach die Forderung, „Dichtung soll das Partikuläre präzise wiedergeben." Hulme hätte von zwei visuellen Bildern gesprochen, deren Zusammenklingen („visual chord") ein drittes „Bild" suggeriert, das von den beiden anderen unterschieden ist. Für Pound ist jedoch nur ein einziges „Bild" im Spiele: In seiner nachträglichen Darstellung der Genese des Metro-Gedichts bezeichnet er es 1914 ausdrücklich als „one image poem", als Einbildgedicht, das in dieser nach langer Überlegung und Umarbeitung erreichten kompakten Form ein sehr tief empfundenes Erlebnis unerwarteter Schönheit auf den Gesichtern von Menschen wiedergibt, die ihm auf einem Pariser U-Bahnhof begegneten.35 So gesehen ist dieses Gedicht ein Image im Sinne der schon zitierten Definition aus dem Manifest von 1913, „A Few Don'ts by an Imagiste": „Ein ,Bild' ist die Wiedergabe eines geistigen und emotionalen Komplexes in einem einzigen Augenblick." Ein „Bild" dieser Art unterscheidet sich natürlich wesentlich vom Bild als einfacher Wiedergabe eines Sinneseindrucks, als Evokation einer sinnlichen Vorstellung durch Sprache. Der Unterschied wird bei Pound immer dann greifbar, wenn er, wie in den „Don'ts", aber auch sonst gelegentlich, einen typographischen Unterschied macht und das „imagistische" Image mit einem großen Anfangsbuchstaben, das image im wahrnehmungspsychologischen Sinn aber klein schreibt. Daß Pound während seiner imagistisch-vortizistischen Periode unter Image etwas anderes als nur
Pounds Metro-Gedicht als „Form der Uberlagerung" oder Collage
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die exakte Darstellung eines visuellen Details versteht, geht auch daraus hervor, daß für ihn damals Dantes Paradiso als das wunderbarste Bild, „the most wonderful image" (nicht „die wunderbarste Bilderreihe") gilt, ein Bild allerdings, das nicht rein imagistisch durchgehalten, sondern durch die Einlagerung von diskursivem Material gestört ist. 36 Diese Ansicht kann später als Hinweis auf Möglichkeiten und Beschränkungen des imagistischen Aufbauprinzips in längeren Gedichten dienen. Aus dem Gesagten ergibt sich für die Analyse des MetroGedichts, daß in ihm zwei Vorstellungsbilder zu einem Image zusammengefügt sind. Dieser Befund deckt sich insofern mit Pounds Selbstinterpretation, als ein Aufbauprinzip dieser Art auch in gewisser Weise in den Haikus aufzuweisen ist, mit denen Pound sein Kurzgedicht unmittelbar in Verbindung bringt, The fallen blossom flies back to its branch: A butterfly Die abgefallene Blüte fliegt auf ihren Zweig zurück: Ein Schmetterling
und The footsteps of the cat upon the snow: (are like) plum blossoms. Die Stapfen einer Katze im Schnee (sind wie) Pflaumenblüten.
Eine Schwierigkeit scheint sich einzustellen, wenn man Pounds begriffliche Darstellung dieses Aufbauprinzips heranzieht: „Das ,Einbildgedicht' ist eine Form der Uberlagerung, das heißt, in ihm ist eine Vorstellung [an idea] einer zweiten aufgesetzt"; in dieser Form, sagt Pound, ist es „haikuähnlich". 37 Einem idealistischen Denken ist das Verständnis dieses Satzes verstellt. Aber Pound selbst dachte nicht idealistisch im philosophischen Sinn. Er lehnte die aristotelische Logik, die mit Begriffen und ihrer Abstrahierung operiert, ab und dachte in den Formen einer nichtaristotelischen Korrelationslogik, wie er sie hinter dem System der chinesischen Schriftzeichen vor-
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fand. 3 8 „Idea" wäre demnach nicht als „Idee", sondern als „Vorstellung", als ein im Geist vorhandenes oder auch dort entstandenes „Bild" zu verstehen, wie es auch der sensualistischen Terminologie de Gourmonts entspricht, die Pound gut kannte. 39 Hinter diesem Wortgebrauch steht die Tradition des englischen Empirismus. 40 So waren für David Hume die mittelbaren Inhalte der Sinnesempfindungen „Ideas", und dieser psychologistische Wortsinn prägte gegen Ende des 19. Jhs. sogar noch den Sprachgebrauch des kämpferisch antipsychologistischen F. H. Bradley. 41 In diesem Sinne definierte James Baldwin noch 1901 in dem für die damalige Zeit maßgeblichen Dictionary of Philosophy and Psychology „idea" als Wiedergabe eines den Sinnen nicht unmittelbar gegenwärtigen Gegenstands mit Hilfe einer bildlichen Entsprechung: „ . . . the reproduction with a more or less adequate IMAGE . . . of an object not actually present to the senses." 42 Diese Bedeutung gilt heute als obsolet (OED, idea 8 a; RHD, idea, 10). Auch dieser wortgeschichtliche Ausblick bestätigt, daß das Metro-Gedicht aus der Uberlagerung zweier Vorstellungsbilder besteht. Die Art dieser Uberlagerung kann näher bestimmt werden, wenn man die beiden Bestandteile auf den Bereich hin untersucht, dem sie entstammen: Sie gehören nicht dem gleichen Wirklichkeitszusammenhang an, sondern entstammen zwei Bereichen, die unmittelbar nichts miteinander zu tun haben, so daß die Vorstellungen eigentlich inkompatibel, disparat sind. Wegen dieser Kontraststellung seiner Komponenten entspricht das Metro-Gedicht eher dem Haiku von den Spuren im Schnee und den Pflaumenblüten als dem Blüten-Schmetterlings-Haiku von Moritake, in dem ein Ausschnitt aus einem einzigen Wirklichkeitsbereich wiedergegeben wird. So gesehen ist das Gedicht also nur bedingt haikuähnlich.43 Die Ähnlichkeit mit dem Haiku hört in dem Augenblick völlig auf, in dem die dahinterstehende Tradition berücksichtigt wird. Wie Miner ausführt, stehen hinter dem zitierten Haiku von Moritake ganz entschieden buddhistische Vorstellungen vom richtigen Verhältnis der Jahreszeiten und ihrer religiösen Bedeutung, und Entsprechendes gilt für alle traditionellen Haikus. 44
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Im Gegensatz dazu ist die Einsicht, die das Metro-Gedicht vermittelt, keineswegs konventionell, sondern gerade überraschend, neu, vielleicht sogar erregend, entsprechend dem Doppelsinn des Wortes „apparition": Zu einem Zeitpunkt, da Wordsworths Blick von Westminster Bridge angesichts der Steinwüsten der Millionenstädte zu einem Anachronismus geworden ist und die naturalistische Literatur Städte fast nur noch als Orte der Denaturierung des Menschen zeigen konnte, läßt Pound erkennen, daß an Großstadtmenschen selbst in ihrer alltäglichen Routine etwas naturhaft Schönes aufscheinen kann. Diese Einsicht kommt dadurch zustande, daß zwei „Bildchen", zwei sinnlich-konkrete Vorstellungen aus zwei Wirklichkeitsbereichen, übereinandergelagert werden. Das eine, überraschende Image entsteht somit aus der direkten Fügung zweier disparater, inkongruenter Vorstellungsbilder, deren ganz entfernte Ähnlichkeit im Normalfall wegen der zugleich bestehenden deutlicheren Unterschiede übersehen wird. 45 Im Gedicht sind die beiden Vorstellungsbilder aus ihrem „natürlichen" Zusammenhang herausgebrochen und auf neuer Ebene in eine Beziehung zueinander gebracht, ohne daß diese Beziehung explizit ausgesprochen wird. Sie zu erkennen und damit der komplexen Erfahrung gewahr zu werden, die in der collageartigen Struktur des imagistischen Kleingedichts aufgehoben ist, liegt in der Freiheit und den Fähigkeiten des Lesers; im Metro-Gedicht ist der im Wort „apparition" mit enthaltene Autorenkommentar freilich ein „redaktioneller" Hinweis an den Leser, auf Außergewöhnliches gefaßt zu sein.46
IV. C O L L A G E ALS LITERATURKRITISCHER BEGRIFF
Der Begriff der Collage, wie er hier zur Kennzeichnung der Struktur des imagistischen Kleingedichts herangezogen wird, unterscheidet sich von dem allgemein gebräuchlichen insofern, als hier Collage nicht einschränkend im Sinne der frühen kubistischen Experimente etwa Picassos oder Braques als die Eingliederung von greifbaren Wirklichkeitsausschnitten, das Einkleben von Fremd-
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körpern in ein Gemälde verstanden, 47 sondern strukturell, d. h. als Aufbauprinzip solcher Gebilde in ihrer Ganzheit aufgefaßt wird. D a zudem der verwandte Begriff der Montage in die Diskussion um das Wesen des imagistischen Bildes eingeführt worden ist, erscheint es geboten, generell die Frage anzuschneiden, inwiefern und auf welche Weise ein Uberblick über Schnitt- und Zusammensetztechniken zu einem besseren Verständnis des imagistischen Einbildgedichts beitragen kann, und durch eine behutsame Dissoziierung der Vorstellungen eine angemessene Terminologie zu erarbeiten. Iser analysiert das imagistische Gedicht als Vorform der lyrischen Montage, die er — durchaus unter Anerkennung der mit dem Medium gegebenen Differenzen — mit der filmischen Montage in Verbindung bringt. Er beruft sich dabei auf Serge Eisenstein, und da dessen Vorstellung von der Montage von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Sachverhalts ist, seien die von Iser zitierten Passagen hier in ihrem vollen Umfang wiedergegeben, um dann einer genauen Prüfung unterzogen zu werden. Iser schreibt: [Eisenstein] beschreibt die Montage als „eine Idee, die aus der Kollision von unabhängigen Aufnahmen entsteht. Aufnahmen, die einander sogar widersprechen." Daraus entsteht die filmische Bewegung. „Denn in Wirklichkeit wird jedes folgende Element nicht neben, sondern über dem anderen wahrgenommen. Denn die Idee (oder Wahrnehmung) der Bewegung entsteht dadurch, daß dem Eindruck der ersten Position des Objektes, den man behalten hat, eine neu sichtbare weitere Position des Objektes überlagert wird. Das ist nebenbei der Grund für das Phänomen der räumlichen Tiefe in der optischen Uberlagerung zweier Ebenen im Stereoskop. Aus der Uberlagerung zweier Elemente der gleichen Dimension ergibt sich immer eine neue, höhere Dimension." 4 8
Dadurch, daß Iser die beiden Eisensteinzitate in dieser Form miteinander in Verbindung bringt, vergrößert er eine Unklarheit, die die Eisensteinsche Argumentation an dieser Stelle aufweist. Ein Indiz für die mangelnde Klarheit liegt in dem Widerspruch zwischen der Definition der Montage als einer Kollision unabhängiger, ja einander widersprechender Aufnahmen und dem erläuternden Beispiel der Stereoskopie (das er hier möglicherweise nur aus metaphorischen Gründen einführt, um nämlich ein photographisches Beispiel für die Illusion der Entstehung einer höheren Dimension aus der Uberlagerung zweier
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Elemente gleicher Dimension zu haben); denn sowohl die Stereowirkung als auch die Illusion der Bewegung im Film kommt nicht durch die Kontrastierung unabhängiger und inkongruenter Aufnahmen zustande, sondern durch das Nebeneinander von Aufnahmen, die ein und dasselbe Objekt entweder unter zwei geringfügig voneinander unterschiedenen Aufnahmewinkeln (Stereoskop) oder in mehreren jeweils nur geringfügig voneinander verschiedenen Stellungen (Film) zeigen. Wenn Eisenstein daher von der „Idee der Bewegung" spricht, bezieht er sich streng genommen gar nicht auf die Montage, sondern in erster Linie auf die filmische Aufnahme. Die „Idee der Bewegung" hängt insofern sekundär mit der Montage zusammen, als Eisenstein gern als Beispiel Montagen analysiert, in denen surrealistisch eine Bewegung suggeriert wird. So beschreibt er z. B., wie er in einem ehemals der Zarenfamilie gehörenden Schloßpark drei Skulpturen aufnehmen ließ, von denen jede einen Löwen in einer anderen Phase des Aufstehens zeigte; die drei Filmstreifen, richtig montiert, erweckten den Eindruck, als stünde ein steinerner Löwe auf („Idee der Bewegung" durch Montage erzeugt). Sobald nun diese Montagesequenz ihrerseits in die Szene eines Volksaufstands in Panzerkreuzer Potemkin einmontiert wird (wo sie ja eigentlich nichts zu suchen hat), entsteht „aus der Kollision" dieser „unabhängigen Aufnahmen" (bzw. Montagesequenzen) eine neue Idee: So elementar ist offenbar dieser Volksaufstand, daß sich sogar steinerne Löwen erheben!49 In einem anderen Fall soll die Montage des eiförmigen Kopfes einer kaukasischen Gottheit mit einem Christus im Strahlenkranz die Explosion einer Bombe andeuten und zugleich die These von der Verflechtung der Religionen mit dem Militarismus ausdrücken.50 Daß also Eisenstein selbst in solchen surrealistischen Passagen die Montagetechnik dazu verwendet, die Illusion zu erwecken, unbewegliche Gegenstände stünden in einer Bewegung, darf den entscheidenden Unterschied zwischen der filmischen Bewegung (in Aufnahme und gegebenenfalls surrealistischer Bewegungsmontage) und der kompositorischen Technik der Montage als Ausdrucksmittel nicht verwischen, den Eisenstein an anderer Stelle im selben Essay und auch in späteren Schriften ganz deutlich macht. Denn in dem Aufsatz
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„Ein dialektischer Zugang zur Filmform" (1929), aus dem Iser zitiert, postuliert Eisenstein eine „dualistische Teilung" in „Untertitel und Aufnahme" einerseits und — worauf es in diesem Zusammenhang ankommt — in „Aufnahme und Montage" andererseits.51 Dieselbe Zweiteilung wiederholt er in dem vorwiegend autobiographischen Bericht „Vom Theater zum Film" (1934) und bezeichnet die „Aufnahme [oder die Einstellung] und die Montage" als die zwei „Grundzüge" des Films. 52 Die Aufnahme liefert das Material für die Montage, ist aber nicht ihr Element, sondern in einer biologistischen Metapher „Zelle" der Montage. 53 Was aus dieser vielleicht etwas mißverständlichen Terminologie mit hinreichender Klarheit hervorgeht, ist jedoch die Tatsache, daß für Eisenstein die Fügung durch Montage einem anderen Gesetz gehorcht als die Aufnahme: Die Aufnahme ist durch die mechanische Aneinanderreihung von Ansichten eines Gegenstandes, die sich jeweils minimal voneinander unterscheiden, gekennzeichnet. Das Prinzip der Eisensteinschen Montage dagegen ist der Konflikt einander widersprechender (oder zumindest die Kollision unabhängiger) Aufnahmen. Eisenstein nennt das auch den „visuellen Kontrapunkt". 54 Dies sei, methodologisch betrachtet, das „dramatische Prinzip" der Fügung von Aufnahmen, und Eisenstein benutzt diese Formel, um eine andere Vorstellung vom Wesen der Montage zurückzuweisen, wonach diese ein „episches" Mittel ist, das dazu dient, „eine Idee mit Hilfe einzelner Aufnahmen aufzurollen". 55 Ganz deutlich wird der Unterschied, auf den es hier ankommt, in der Gleichung, auf die Eisenstein seine Auseinandersetzung mit Wsewolod I. Pudowkin, einem anderen russischen Filmregisseur der zwanziger Jahre, über das Wesen der Montage bringt: Pfudowkin] = Verbindung, E[isenstein] = Kollision.56 Pudowkin hatte beispielsweise in dem Film Die Mutter „verbindende" Montagen zur erzählenden Schilderung eines Einzelschicksals aus der Revolutionszeit in Rußland verwendet; Eisenstein dagegen kam es darauf an, durch seine Montagen Konflikte aufzuzeigen, durch die Volksmassen seiner Meinung nach in revolutionäre Bewegung gebracht werden. Dieser Unterschied ist nicht nur einer zwischen verschiedenen künst-
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lerischen Temperamenten; mit der speziellen Ausformung seiner Montagetheorie befindet sich Eisenstein auch in Ubereinstimmung mit der offiziellen marxistisch-leninistischen Doktrin der proletarischen Revolution. 57 Sieht man von der politischen Zielsetzung ab, so besteht zwischen dem Poundschen Image und der Eisensteinschen Montage neben der strukturellen Ubereinstimmung auch eine bemerkenswerte genetische Ähnlichkeit: Für Pound war die lakonische Dichtungsform des japanischen Haiku eine der Inspirationen bei der Entstehung seiner imagistischen Dichtung und ein wichtiger Bezugspunkt für ihre Erläuterung; Bestätigung und Präzisierung seiner Position fand er in den Schriften des Ostasien-Philologen Ernest Fenollosa, dessen wissenschaftlichen Nachlaß er zwischen „A Few Don'ts by an Imagiste" und „Vorticism" erhielt und zu studieren begann und aus dem er später ausdrücklich als eine „ars poetica" The Chinese Written Character as a Medium for Poetry herausgab : 5 8 Damit wurde das chinesische Schriftzeichen, das Pound als Ideogramm deutete, der Idealtypus seiner Dichtungsvorstellung. Eisenstein dagegen ging gedanklich vom Ideogramm aus, dessen Aufbauprinzip er später, 1929, mit dem seiner Montage identifizierte. 59 In demselben Aufsatz, „The Cinematographic Principle and the Ideogram", beschreibt er das Haiku und die ältere verwandte Form des Tanka als auf Satzteile ausgedehnte Schriftzeichen und die Bestandteile eines Tanka als „montage phrases". Ideogramm, Tanka und Haiku haben nach Eisenstein denselben Aufbau wie seine Montage; an den japanischen Gedichtformen hebt er eine Eigenschaft hervor, die in der amerikanischen Ubersetzung wiederholt mit dem Wort „imagistisch" wiedergegeben wird. 60 Während hier Ubereinstimmungen der Inspiration und vielleicht sogar Einflüsse vorliegen, die es angemessen erscheinen lassen, die Eisensteinsche Vorstellung der Filmmontage als Kollision inkompatibler beziehungsweise gegensätzlicher Bildsequenzen zur Erläuterung und Abrundung der Poundschen /wwge-Vorstellung heranzuziehen, zeigt ein Uberblick über Film und Hörspiel sowie über verwandte Kunstarten, daß Montagen aus kongruenten Bausteinen
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weitaus häufiger sind als Montagen aus kontrastierendem Material. Selbst unter den Beispielen, die Eisenstein aus seinem eigenen Werk anführt, finden sich m. E. einige der von ihm episch genannten verbindenden Montagen. 61 Diese Art der Montage bewirkt die Raffung, Intensivierung oder Pointierung eines Ereignisses: Indem Ausschnitte aus einem einzigen Wirklichkeitsbereich impressionistisch z. B. zu einer Reisesequenz zusammengestellt werden, wird eine längere Entwicklung gedrängt und in groben Strichen skizziert. Die eigentliche Eisenstein-Montage dagegen schafft neue, durch die Imagination des Künstlers Bild gewordene Zusammenhänge von Momenten, die inkongruent sind, und läßt dadurch Wahrnehmungen und Erlebnisse aufblitzen, die die Ausschnitte in ihrem „natürlichen" raumzeitlichen Zusammenhang bildlich und filmisch nicht vermitteln können. Diese Art von Zusammenstellung war Eisensteins Beitrag zur Filmkunst, so daß Pound, der seine Bildvorstellung schon zuvor entwickelt hatte, zurecht sagen konnte, daß der Cinematograph eine wesentlich impressionistische Kunst sei, von der sich der Imagismus deutlich abhebe.62 Pound konnte damals, was den Film angeht, nur die Aufnahme und die Montage des ersten Typs kennen, während die später entstandene Eisenstein-Montage auf dem gleichen Prinzip wie das imagistische Gedicht beruht. Um die Sachverhalte begrifflich klar auseinanderzuhalten, wird hier der Begriff der Montage im üblichen Sinn auf die impressionistische Sequenz aus kongruenten Bausteinen beschränkt, während die Ubertragung der Bezeichnung Collage auf die Eisensteinsche (und die imagistische) „Montage" aus heterogenem Material mit folgender Begründung vorgeschlagen wird: „Si ce sont les plumes qui font le plumage, ce n'est pas la colle qui fait le collage" — Leim ist nicht die Voraussetzung für eine Collage : Mit dieser entetymologisierenden Feststellung begründet Max Ernst in seiner programmatischen Schrift „La Mise sous Whisky Marin" die Technik der Collage. 63 Vielmehr gilt es, in der Collage die „Zufallsbegegnung zweier Gegenstände auf einer ihnen nicht angemessenen Ebene" künstlerisch auszuwerten, mit anderen Worten: „die Wirkungen einer konsequenten Entwurzelung [dépaysement]" zu
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pflegen. 6 4 Ernst bezieht sich in seiner Theorie der Collage auf Lautreamonts berühmten Vergleich „beau . . . comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d'une machine ä coudre et d'un parapluie" („schön . . . wie die Zufallsbegegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch"), in dem zwei inkongruente Elemente an einem ihnen gänzlich unangemessenen Ort zusammengebracht werden. 65 Ferner weist Ernst auf Rimbauds Überlegungen zur systematischen Halluzination und zur Wortalchemie hin. Er prägt auch den Begriff der Wortcollage („collage verbal"), der ebenfalls an Rimbauds Vorstellungen von Wortalchemie und an den poetischen Gebrauch von Wortspielen erinnert. Dabei steht in der Tradition, die zu Ernst führt, insbesondere Laforgue mit seinen Wortprägungen wie „eternullite", „sangsuel", etc. Alle diese Beispiele zeigen, daß Ernst seine graphischen Collagen ganz bewußt in die Tradition des poetischen Surrealismus hineinstellt, daß seine Collagen nichts wesentlich anderes sind als die Übertragung bestimmter dichterischer Techniken auf die bildende Kunst. In diesem Sinn kann Louis Aragon Emsts Collagenmethode als ein Verfahren bezeichnen, das „voll und ganz dem der poetischen Bildersprache entspricht", das ein homogenisiertes Bild entstehen läßt, und das zu ganz anderen Ergebnissen führt als die plastischen Collagen der frühen Kubisten: „Bei Max Ernst wird die Collage zur Metapher." 66 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Ernst und sein Kreis die Collage in der Hauptsache als Übertragung der ursprünglich poetischen Technik der Metapher auf die bildende Kunst ansahen. Eine solche Übertragung in andere Medien führt notwendigerweise zu technischen Änderungen, deren in diesem Zusammenhang wichtigste der „harte Schnitt" ist, das abrupte Nebeneinandersetzen von Bildausschnitten, die „von Natur aus" nicht zusammengehören. Die Collage kann also in diesem Sinne als die Überlagerung von heterogenen Elementen zur Erstellung eines einheitlichen Bildes definiert werden, eines graphischen Bildes im Falle Emsts, das eine überraschende Einsicht aus dem Zusammenwirken seiner inkongruenten Komponenten aufblitzen läßt. Die hier vorgeschlagene Rückübertragung des Collagenbegriffs auf die Dichtung erscheint gerade zur
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Erläuterung des imagistischen Gedichts aus zwei Gründen besonders nützlich: (1) Im imagistischen Kleingedicht ä la Pound ist die Beziehung zwischen den beiden kontrastierenden Vorstellungsbildern zwar von gleicher Art wie in einer Metapher, doch wird sie nicht, wie in der üblichen Metapher, deutlich ausgesprochen („We are Tapers too, [and at our own cost die]" 67 ), noch wird sie in ein einziges Wort hineingelegt („flammender Zorn" oder „light thickens"), dessen Metaphernfunktion sich aus dem Ko-Text erschließt; vielmehr wird ihre Beziehung rein formal gesetzt. 68 (2) Die konstituierenden Bestandteile sind immer Aufzeichnungen von Vorstellungsbildern, die manchmal eindeutig als Sinneseindrücke gekennzeichnet sind; für den Leser sind es sprachliche Ausdrücke, die eine sinnlich-konkrete Vorstellung anregen. Nur wenn er sich diese Vorstellungsbilder sorgfältig veranschaulicht, erschließt sich ihm die Beziehung zwischen den beiden Komponenten und damit die Einsicht, die im Gedicht angelegt ist. Und insofern als die Collage in der Dichtung (wie sie im imagistischen Kleingedicht exemplarisch vorliegt) derart stark auf der Anschaulichkeit (bzw. der Wirksamkeit auf andere Sinne, vgl. z. B. Pounds „Gentildonna") der beiden Komponenten beruht, unterscheidet sie sich von einer ähnlich inkongruenten Form poetischer Metaphorik, dem metaphysischen conceit, in dem die Relation nicht primär aus der sinnlichen Konkretheit der Bausteine erschlossen werden muß. 6 9 Donnes Liebende sind nicht deswegen Kerzen, weil sie deren Gestalt haben, sondern weil beide, die Kerzen und diese Liebenden, durch einen seinerseits metaphorisch zu verstehenden Vorgang gekennzeichnet sind: Sie „verzehren" sich. Im Rahmen dieses prinzipiellen Exkurses ist es abschließend noch notwendig, die Collage in diesem Sinne von der kubistischen Collage und ihren unmittelbaren Nachfolgeerscheinungen terminologisch abzugrenzen. Als Ansatzpunkt kann das Urteil eines Kunsthistorikers über die Collagenromane Emsts dienen. William Seitz schreibt: „Diese Collagen behalten auf der Ebene der Darstellung irrationale Gegenüberstellungen bei, doch da sie zu homogenen erotischen Illustrationen oder Traumbildern geworden sind, stehen sie nicht mehr auf dem physikalischen und strukturellen Boden der Collage." 70
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Da nun Seitz mit Jean Dubuffet die Bezeichnung „Assemblage" für alle diejenigen Werke einführt, deren heterogene Komponenten auch in ihrer Fügung letztlich heterogen bleiben, besteht die Möglichkeit einer terminologischen Unterscheidung, wonach unter „Collage" metaphernartige Kollationen in den verschiedenen Medien verstanden werden, während die „Assemblage" Gebilde bezeichnet, die durch keine kompositorische Einheit gekennzeichnet sind. Wer z . B . Tristan Tzaras Rezept zur Herstellung eines dadaistischen Gedichts völlig ernst nähme und aus einem Zeitungsartikel ausgeschnittene Worte vermischte und in zufälliger Reihenfolge wieder zusammensetzte, der würde eine literarische Assemblage herstellen. 71 Aufgrund dieser Überlegungen lassen sich — wenn man einmal von den sekundären Unterschieden absieht, die die verschiedenen Medien mit sich bringen — in dem Spektrum der Schnitt- und Zusammensetztechniken für alle Medien drei Hauptmöglichkeiten unterscheiden: 1. die Montage, die durch das Zusammensetzen von kompatiblen, d. h. ihrer Natur nach zusammengehörigen Elementen einen äußerlich vorgegebenen Vorgang durch Raffung und Wechsel des Blickwinkels impressionistisch intensiviert oder pointiert; 2. die Collage, die inkompatible bzw. inkongruente Elemente in ein außergewöhnliches Verhältnis zueinander bringt und gerade durch diese Kontrastierung einen „innerlichen" Zusammenhang erkennbar und ein neues Erlebnis oder eine neue Einsicht dynamisch gestaltet und zugänglich macht; 72 3. die Assemblage, bei der aus den zusammengefügten inkongruenten Elementen keine neue „Einheit" entsteht. Durch diese terminologische Operation wird zugleich die das Verständnis des Imagismus erschwerende Ambiguität im Wort „image" aufgelöst: Seine strukturelle Bedeutung übernimmt die Bezeichnung „Collage", so daß „image" zur Bezeichnung des sprachlichen Ausdrucks eines einzelnen Vorstellungsbildes (im wahrnehmungspsychologischen Sinn) frei wird. Natürlich existieren Ubergangsformen, und manche Fügungen mögen für verschiedene Beobachter eher dem einen als dem anderen
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Typus angehören. Andere Kritiker würden möglicherweise auch eine andere Zuordnung der Bezeichnungen vorziehen. Es kommt aber nicht darauf an, sich auf die hier vorgeschlagene Terminologie zu versteifen. Wichtig ist allein die Unterscheidung der verschiedenen Schnitt- und Zusammensetztechniken, d. h. verschiedener auch in der Dichtung verwendeter Fügungsmethoden, ihres Wesens und ihrer Anwendung. Der terminologische Exkurs mit seiner analogen Rückentlehnung von herkömmlicherweise nicht auf die Literatur angewandten Bezeichnungen und der Bemühung um ihre säuberliche Trennung sollte allein der Schärfung des Verständnisses dieser Erscheinungen, ihrer Vielfalt und jeweils besonderen Leistung dienen, da, wie es sich gezeigt hat, der Aufbau imagistischer Kleingedichte leicht mißverstanden wird, wenn man die gewohnte Terminologie verwendet, und weil, wie noch gezeigt werden soll, „Collage" sich besonders gut für die Beschreibung gewisser Merkmale längerer Gedichte im imagistischen Stil eignet.
V. ANDERE IMAGISTISCHE KURZGEDICHTE
Als Ergebnis dieser Überlegungen zu Schnitt- und Zusammensetztechniken sowie der damit geschärften Analyse des Metro-Gedichts kann festgehalten werden: In einem imagistischen Gedicht dieser Art wird gewissermaßen eine doppelbelichtete Fotografie oder eine „Fotocollage" gezeigt; collageartig werden inkongruente Vorstellungsbilder zusammengezwungen, wobei durch Interferenz eine wechselseitige Verfremdung der verwendeten poetischen Materialien und dadurch auch des Ganzen im Bewußtsein des Lesers zustande kommt. Als Folge davon zündet eine Einsicht durch Inkongruenz. Diese Einsicht hängt mit einem subjektiven Moment, einer bestimmten Perspektive zusammen, die im Metro-Gedicht im impliziten Autorenkommentar greifbar wurde. Funktionieren nun alle imagistischen Gedichte nach diesem Modell, oder hat es vielleicht mit dem subjektiven Moment eine besondere Bewandtnis? Diese Leitfrage führt in das Verständnis von H.D.s Kurzgedicht „Oread" ein:
Andere imagistische Kurzgedichte
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Whirl up, sea — Whirl your pointed pines, Splash your great pines On our rocks, Hurl your green over us, Cover us with your pools of fir. 7 3 Oreade Wirble auf, Meer — wirble deine spitzen Fichten, spritze deine großen Fichten auf unsre Felsen, schleudre dein Grün über uns, bedecke uns mit deinen Tannenteichen.
Im Gegensatz zum Métro-Gedicht fällt die Bewegtheit der Ausdrucksweise auf. Fünf der sechs Zeilen beginnen mit Verben der Tätigkeit in der Form heftiger Aufforderungen. Die Sprecherin ist dem Titel nach eine Bergnymphe, die diese Aufforderungen an ein ihr fremdes Element richtet, auf das sie Anschauungsformen des ihr angemessenen Erfahrungsbereichs überträgt, also z. B. „pointed pines" für Wellen. Die Analogie beruht unausgesprochen auf Ähnlichkeiten der Form und ausgesprochen auf einer Ubereinstimmung der Farbe. Die Bewegung im Gedicht ist eine im Wunschdenken der Nymphe vorgenommene Annäherung der beiden inkompatiblen Bereiche, genauer: das allmähliche Heranziehen und Auf-sich-selbstHerabziehen des fremden Elements, die Geste „Whirl up, . . . I Splash . . . on our rocks / H u r l . . . over us / Cover us." Dabei ergibt sich die Frage, wer mit dem „us" gemeint ist. Es kann sich eigentlich nicht um mehrere Oreaden handeln, deren Faszination von einem Naturschauspiel die Sprecherin ausdrückt, da sonst im Titel der Plural zu erwarten wäre; vielmehr schließt das Pronomen jemanden ein, der der Oreade zunächst so fremd ist wie das Meer ihrem Berge, mit dem sie sich aber von Anfang an unbewußt verbunden fühlt. Die endgültige Verbindung der beiden disparaten Bereiche — nicht ihre Identifikation oder Fusionierung — erfolgt in der abschließenden, überraschenden, wenn auch vorbereiteten Metapher „pools of fir", die für dieses Gedicht das gleiche leistet wie die Collage der
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Das Bild in imagistischer Theorie und Praxis
disparaten Wirklichkeitsbereiche im Métro-Gedicht. Die besondere Perspektive, die in beiden Gedichten zu der überraschenden Einsicht führt und die bei Pound in dem doppelsinnigen Wort „apparition" angedeutet wird, geht hier insofern deutlich in die Struktur ein, als „Oread" ein Rollengedicht ist. Ein weiteres instruktives Beispiel ist ein Rollengedicht Pounds, die Adaptation ,,Fan-piece, for Her Imperial Lord": O fan of white silk, clear as frost on the grass-blade, You also are laid aside. Fächerstück, für ihren kaiserlichen Herrn O Fächer aus weißer Seide, klar wie Frost auf dem Grashalm, auch du bist abgelegt.
Wie in „Oread" wird hier die Beziehung zwischen Menschen (im Falle der „Oread" zwischen als menschlich fühlend vorgestellten Wesen) durch Apostrophe eines Gegenstands indirekt angedeutet, aber im Vergleich zu H.D.s Gedicht ist auf der Sprecherseite eine zusätzliche Komplikation zu verzeichnen: Es spricht ein einfühlender Dritter — ob Autor oder supponierte Rollenfigur ist unbestimmt und unwesentlich — für die in Ungnade gefallene Frau, nicht sie selbst, weil sonst im Titel ja „for My Imperial Lord" stehen müßte. In Zeile 1 und 3 dieses in der Silbenzahl haikunahen Gedichts wird in der Apostrophe des Fächers schon die ganze Situation deutlich diskursiv ausgesprochen. So gesehen ist der Vergleich in der zweiten Zeile nur Ausschmückung. Er beruht auf einer leicht einzusehenden doppelten Analogie, und es ist entgegen Isers Annahme ganz und gar nicht unerklärlich, „warum das image gerade diese und keine andere Wahrnehmungsmöglichkeit aufgedeckt hat". 7 4 Im Falle des Fächergedichts ist einerseits der weiße Seidenfächer mit rauhreifbedecktem Gras über die visuelle Ähnlichkeit verbunden und auf der anderen Seite die Frostigkeit des Reifs mit dem Gefühl des Verstoßenseins, des Abgelegtseins assoziiert. Aber gerade dieser zweiten Korrespondenz wegen wirkt das emphatische „also" der letzten Zeile als ein pein-
Andere imagistische Kurzgedichte
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liches Relikt sentimentaler Rhetorik. „Fan-piece" ist eigentlich mißglückt, ja, es ist nicht einmal ein imagistisches Gedicht Poundscher Prägung, weil in ihm alles ausgesprochen wird und keine Interferenz zweier disparater Eindrücke vorliegt. „Clear as frost . . ist ein erläuternder und ausschmückender Vergleich, den Pound in der Theorie entschieden ablehnt, obwohl er einräumt, daß es schwer sei, funktionale und erläuternde Details klar auseinanderzuhalten. 75 Gerade dieses Mißglücken zeigt vielleicht am deutlichsten ein Merkmal der imagistischen Gedichte, das die Theorie nicht beachtet. N a c h Pound soll der imagistische Komplex eine Momentaufnahme sein; doch als sprachliche Gebilde sind Gedichte — und seien sie noch so kurz — mit Notwendigkeit Zeitgestalten. Darin liegt einer der Faktoren, die die Collage in der Dichtung von der Collage in der bildenden Kunst unterscheiden. Insbesondere bei Pound ist nun innerhalb seiner Gedichte — ob mißglückten oder gelungenen — eine Bewegung zu einem abschließenden pathetischen Moment hin feststellbar. Bildlich gesprochen liegt ein Hinaufgreifen zu einer Qualität intensiver Einfühlung, oft des Mitleidens mit einem Abschiednehmenden vor (beinahe „eine zugleich weise und traurige Schlußk a d e n z " , wie Frost über sein eigenes Dichten sagte 7 6 ). In „Fanpiece" gleitet diese Geste der Anspannung ins Sentimentale zurück. Vergleichsweise besser gelungen erscheint sie in anderen typischen Schlußzeilen Poundscher Kurzgedichte, z. B. „ G r e y olive leaves beneath a rain-cold s k y " („Graue Olivenblätter unter regenkaltem H i m m e l " , „Gentildonna") oder „ A wet leaf clings to the threshold" ( „ E i n nasses Blatt klammert sich an die Schwelle", „ L i u Ch'e"), in denen die später auch in den Cantos geübte Methode der Zusammenfassung eines Abschnittes durch ein Uberlagerungsbild vorbereitet wird. Bildlich ausdrücken könnte man diese Bewegung mit den Schlußworten eines anderen Abschiedsgedichts aus dem Band Cathay, die Kokakuro nach ihrem Abschied von Ko-jin spricht: „ A n d now I see only the river, the long Kiang, reaching heaven" ( „ U n d jetzt sehe ich nur noch den Fluß, den langen Kiang, der zum Himmel hinaufreicht"). Zum Himmel hinaufreichen — diese Geste, auf den Stil des Gedichtschlusses übertragen, kann als repräsentativ
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Das Bild in imagistischer Theorie und Praxis
für Pounds Bemühen um reine, erhabene Dichtung gelten. So zitiert er einmal mit Zustimmung Yeats, der gesagt hat, die höchste Dichtung sei so kostbar, daß es sich lohne, viele langweilige Bände zu wälzen, um die verstreuten Bruchstücke zusammenzutragen. 77 Ähnlich drückt es Pound in „E.P. Ode pour l'Election de son Sepulchre" aus, w o freilich der poetische Kontext die aus der Mauberley-Seqaenz Direktheit der Aussage etwas relativiert: For three years, out of key with his time, He strove to resuscitate the dead art Of poetry; to maintain „the sublime" In the old sense. Wrong from the start — No, hardly, but seeing he had been born In a half savage country, out of date . . . Drei Jahre lang, in Dissonanz zu seiner Zeit, trachtete er, die tote Kunst der Dichtung wiederzubeleben, das „Erhabene" im alten Sinne zu bewahren. Von Anfang an verkehrt — Nein, kaum, doch da er eben in einem halbwilden Land zur Unzeit geboren war . . .
Es gibt aber in vielen imagistischen Gedichten auch eine genau gegenläufige Bewegung, verbildlicht in den Schlußzeilen von Hulmes „Embankment", Oh, God, make small The old star-eaten blanket of the sky, That I may fold it round me and in comfort lie. 78 Auf der Uferstraße O Gott, mach klein die alte sternzerfreßne Himmelsdecke, damit ich mich in sie wickeln und angenehm ruhen kann.
Diese absteigende Bewegung, eine Form der Meiosis, des understatement, ist kennzeichnend für Hulmes Gedichte, z. B. auch für „ A b o v e the Dock":
Andere imagistische Kurzgedichte
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Above the quiet dock in midnight, Tangled in the tall mast's corded height, Hangs the moon. What seemed so far away Is but a child's balloon, forgotten after play. 7 9 Überm Dock Oberm stillen Dock um Mitternacht hat sich der Mond hoch in der Takelage verheddert. Was zunächst so fern erschien, ist doch nichts weiter als ein Kinderballon, vergessen nach dem Spiel.
Ein beinahe imagistisches Gedicht. Eindrücke aus zwei inkompatiblen Bereichen werden einander überlagert. Allerdings bleibt die Schiene, auf der diese Verschiebung vorgenommen wurde, überdeutlich: „What seemed so far away / Is but . . Diese Offenbarung des Mechanismus ist an diesem Gedicht Hulmes die absichtliche Illustration seiner poetischen Theorie. Dadurch wirkt es allerdings nicht als zündende Einsicht, sondern eher als Korrektur eines Sehfehlers. Immerhin wäre ein solcher Sehfehler (und seine Korrektur) das subjektive Moment an diesem Gedicht. Entscheidend ist aber in diesem Zusammenhang der innere Ablauf: Das romantische Motiv der ersten Hälfte, das in Wortwahl, Syntax und Orchestration der Laute einigermaßen anspruchsvoll gestaltet ist, wird ins Alltägliche aufgelöst. Dieser Stilzug, in dem in diesem Gedicht das von Hulme vertretene Moment der „klassischen" Beschränkung greifbar wird, ist ironischerweise der romantischen Ironie sehr ähnlich. Es ist in jedem Fall ein Merkmal der „impurity", die R. P. Warren als poetisches Qualitätsmerkmal herausgearbeitet hat 80 und um die sich die moderne Dichtung ganz besonders bemüht. Dieses Moment mag Eliot zu seiner schon erwähnten hohen Einschätzung der Gedichte Hulmes bewogen haben; daß Hulme andererseits vor allem in der Diktion immer noch stark am viktorianischen Geschmack orientiert ist und daß die „impurity" hier eine anthropomorphe Verniedlichung des Mondes bewirkt, so daß das Bemühen um Modernität eigentlich mißglückt, zeigt erneut die Brüchigkeit der Hulmeschen Versuche.
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VI. D A S IMAGISTISCHE AUFBAUPRINZIP IN LÄNGEREN GEDICHTEN
Die bisher besprochenen imagistischen Gedichte sind Miniaturen. Es stellt sich die Frage, ob das Fügungsprinzip der Collage eine tragfähige Grundlage auch für längere Gedichte bilden kann. Bei der Ausschau nach solchen Gedichten fällt die Aufmerksamkeit bald auf Eliots kurzen Zyklus „Preludes", den viele Kommentatoren eng mit dem Imagismus in Verbindung gebracht haben. Für Pratt z. B. ist „Preludes" „das bedeutendste Beispiel jener Art Dichtung, die zur Zeit der imagistischen Experimente von vielen Dichtern geschrieben wurde, ob sie sich nun bewußt an ihnen orientierten oder nicht". 81 Sicher war Eliot bestenfalls ein in diesem Sinne „unbewußter" Imagist, denn er gehörte nie fest einem der imagistischen Kreise an, hatte wohl auch einige Bedenken gegenüber imagistischen Grundsätzen, insbesondere dem des vers libre; „Preludes" stammt zudem aus der Zeit vor den imagistischen Manifesten.82 So steht zu erwarten, daß sich in der Analyse des Gedichts auch Züge abzeichnen werden, die nicht eindeutig imagistisch, möglicherweise sogar eindeutig nichtimagistisch sind. Als Ansatzpunkt der Analyse bietet sich ein Vorschlag von Rudolf Haas an, in den frühen Gedichten Eliots imagistische Kristallisationskerne zu isolieren;83 zusätzlich müßte man darauf achten, auf welche Weise von diesen Kernen Bindekräfte ausgehen, die das Ganze zusammenhalten. Nach den vorausgegangenen detaillierten Analysen mag jetzt eine nach Hauptmerkmalen geordnete Zusammenfassung der Befunde an „Preludes" genügen. 1. Imagistische Kristallisationskerne könnten möglicherweise in den Zeilenpaaren vorliegen, die die Abschnitte I, II und IV einleiten, z. B. The winter evening settles down With smells of steaks in passageways. 84 Präludien Der Winterabend senkt sich mit Steakgerüchen in Durchgängen
Das imagistische Aufbauprinzip in längeren Gedichten
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Eine Analyse im Hinblick auf die Unterscheidung von imagistischen und nicht-imagistischen Momenten könnte mit der Beobachtung einsetzen, daß jede Zeile für sich ein Bild im wahrnehmungspsychologischen Sinn vermittelt. Zwischen beiden herrscht insofern ein Kontrast, als nach der ersten Zeile ein Umschlag erfolgt, wie es Rudolf Germer nennt, 85 ein Moment absichtlichen Bathos. Denn aus der poetischen Tradition (Stand 1910) heraus ließe die erste Zeile eine ganz andere Fortsetzung erwarten als die, die tatsächlich folgt. Durch diese Wendung kommt ähnlich wie bei Hulme ein Moment der „impurity" ins Gedicht, das sich im Falle Eliots vom Vorbild Laforgues herleiten läßt. Andererseits sind die beiden Bilder syntaktisch miteinander verbunden. Dieser Zug entspricht dem Wesen der imagistischen Collage nicht. Allerdings gibt es Zweizeiler aus Pounds imagistischer Zeit (z. B. „Alba"), in denen die beiden Komponenten ausführlich syntaktisch miteinander verbunden sind. Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich daraus, daß in der ersten Zeile der Träger („vehicle", Metaphernspender) einer gesunkenen Metapher, „settles down", insbesondere unter dem Druck der parallel konstruierten Anfangszeile des zweiten Abschnitts („The morning comes to consciousness") gehoben wird und eine Personifikation des Abends bewirkt. Tropen der Personifikation kommen in imagistischer Dichtung recht häufig vor, ohne natürlich ein distinktives Merkmal zu sein. In diesem Fall bewirkt aber die Personifikation eine innere Verbindung der zwei Zeilen, so daß von der vermuteten Collage nur die bathetische Wendung übrig bleibt. Als imagistischer Kristallisationskern im Sinne einer imagistischen Collage kommen diese zwei Zeilen also nicht in Frage, sondern nur in der unspezifischen Art etwa des genannten Zweizeilers „Alba". An die Anfangszeilen knüpfen sich im ersten Abschnitt impressionistische Vorstellungsbilder an, die parataktisch lose gefügt sind. Ähnlich ist die Fügung der Details in Abschnitt II. Dort verstärkt sich der Eindruck einer impressionistischen Bestandsaufnahme dadurch, daß die Aneinanderreihung von Präpositionalbestimmungen die Syntax des ersten Satzes nahezu auseinanderfallen läßt. Abschnitt III
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Das Bild in imagistischer Theorie und Praxis
schließt gewissermaßen als Nahaufnahme eines der tausend möblierten Zimmer an, die am Schluß von Abschnitt II genannt werden. In dieser Nahaufnahme sind Gebärden, Körperteile, konkrete Eindrücke aus der Umwelt und ausdrücklich als Wachträume bezeichnete Vorstellungen montage artig gefügt. 2. Collage artige Fügungen: Der Schluß von Abschnitt III und der ganze Abschnitt IV lauten: You curled the papers from your hair, Or clasped the yellow soles of feet In the palms of both soiled hands. IV His soul stretched tight across the skies That fade behind the city block, Or trampled by insistent feet At four and five and six o'clock; And short square fingers stuffing pipes, And evening newspapers, and eyes Assured of certain certainties, The conscience of a blackened street Impatient to assume the world. Du hast die Lockenwickler aus dem Haar gedreht oder die gelben Fußsohlen mit den Flächen deiner beiden beschmutzten Hände umspannt. IV Seine Seele war straff über den Himmel gespannt, der hinter den Stadthäusern verblaßt, oder um vier und fünf und sechs Uhr von beharrlichen Füßen betrampelt. Und kurze, klobige Finger stopften Pfeifen, und Abendzeitungen, und Augen, die sich gewisser Gewißheiten sicher waren, das Gewissen einer eingeschwärzten Straße, begierig, die Welt auf sich zu nehmen.
Zwischen Abschnitt III und IV besteht ein viel größerer Sprung als in dem montageartig motivierten Ubergang zwischen dem zweiten und dem dritten. Das einleitende Bild der Folter ist inhaltlich mit dem
D a s imagistische Aufbauprinzip in längeren Gedichten
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Vorhergehenden nur insofern verbunden, als die Qualen des Gefolterten als Reaktion auf die niederdrückenden Visionen der Stadt verstanden werden können. Aber es wirkt auch ein feiner sprachlicher „ L e i m " , nämlich die über ein ablautendes Mittelglied laufende punKette soles-soiled-soul. Als seelische Reaktion auf die im Gedicht erstellte Situation ist Abschnitt IV das Zentrum des Zyklus. Seine Konstruktion unterscheidet sich von der der übrigen, zwar nicht so entscheidend im elliptischen Satzbau der ersten vier Zeilen, sondern in der Fügung der nächsten Elemente. Diese Details stehen in einem vergleichsweise weniger bestimmbaren äußeren Zusammenhang; durch die Art ihrer besonderen Zusammenstellung stützen sie sich gegenseitig und machen so Modalitäten der eingangs genannten Folterung erkennbar: Obwohl weder inhaltlich noch syntaktisch miteinander verbunden, schattet die Bedeutung von „trampled" auf „stuffing pipes" und wohl mit Hilfe der Brücken feet-fingers-eyes und trampled-assured auch auf „assured of certain certainties" ab. Stilistische und gestische Parallelen dienen also als „ L e i m " dieser Collage, und die Bruchstücke fügen sich so zu einer komplexen Evokation des groben materialistischen Druckes auf die empfindsame Seele, die wohl in den letzten beiden Zeilen wiederum angesprochen wird, obwohl diese Schlußzeilen des Abschnitts der Zeichensetzung nach Apposition zu „eyes" sind, was keinen rechten Sinn ergäbe. 86 Das Fehlen eines erkennbaren äußeren Zusammenhangs der einzelnen Komponenten und syntaktische Brüche (z. B. die deplazierte Apposition) bei einer inneren Logik des Bildablaufs sind nun Kennzeichen der literarischen Collage im hier vom imagistischen Gedicht abgeleiteten Sinn. 3. Schlußbild als Mittel der Zusammenfassung: Der Gedichtzyklus endet mit einem Autorenkommentar in der Form eines angedeuteten „inneren" Dialogs — ähnlich dem in „Prufrock" —, der zugleich Höhepunkt der Ironie im Gedicht ist: I am moved by . . . The notion of some infinitely gentle Infinitely suffering thing.
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D a s Bild in imagistischer Theorie und Praxis Wipe y o u r hand across your mouth, and laugh; T h e worlds revolve like ancient women Gathering fuel in vacant lots. Mich bewegt . . . die Vorstellung von etwas unendlich Sanftem, unendlich Leidendem. Wisch dir mit der Hand über den Mund und lache; die Welten bewegen sich umeinander wie alte Frauen, die auf leeren Grundstücken Brennbares sammeln.
Die empfindsame Reaktion wird ganz vage und abstrakt umschrieben, die Antwort aus Laforgueschem Lebensgefühl heraus erfolgt durch eine konkrete Geste und einen abschließenden Vergleich, der seine Details der im Gedicht erstellten Welt entnimmt. Diese Art Schluß ähnelt der Verwendung des Bildes als Mittel der Zusammenfassung, wie es Pound in seinen kurzen Gedichten und in den Cantos verwendet. Eliots Schluß unterscheidet sich aber von Pounds Uberlagerungsbild darin, daß er in sich selbst ein Vergleich ist und in einen diskursiven Kontext eingebettet ist. 87 4. Nicht-imagistische Elemente: Teilweise in Anknüpfung an bisherige Befunde läßt sich sagen: (a) In den ersten Abschnitten liegen keine Collagen, sondern Montagen vor. (b) Die zusammenfassenden Schlußzeilen entsprechen der Technik des Uberlagerungsbildes nicht ganz. Außerdem ist (c) der explizite Autorenkommentar insbesondere im persönlich gehaltenen Schlußteil, aber auch im zweiten Abschnitt („One thinks of . . .") weitaus aufdringlicher, als es in imagistischen Gedichten üblich oder zulässig ist; und (d) werden besonders im ersten Abschnitt viele Epitheta verwendet, die nicht nur Details evozieren, sondern auch stark ihren jeweiligen emotiven Beiwert hervorkehren (insbesondere „lonely cab-horse"). „Preludes" weist also in den emotiven Epitheta insbesondere des ersten Abschnitts, in der impressionistisch-pointillistischen Montagestruktur der ersten drei Abschnitte, in verschiedenen expliziten Autorenkommentaren und in der speziellen Form der Schlußzusammenfassung Stilzüge auf, die dem Imagismus weniger ent-
Zusammenfassung
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sprechen. Andererseits bilden die ersten zwei Zeilen der Abschnitte und mit starken Einschränkungen auch die beiden Schlußzeilen imagistische Kristallisationskerne, allerdings nicht im strengen Sinn einer Collage, sondern in der unspezifischen Form anderer Gedichte aus Pounds imagistischer Periode; trotz aller Unterschiede ähnelt die Schlußzusammenfassung der imagistischen Technik Pounds; und Abschnitt IV zeigt in seinem Aufbau und in seiner Fügung mit dem vorhergehenden collageartige Techniken, die in einfacher Form auch imagistischen Kurzgedichten eigentümlich sind. Und da in den „Preludes" noch nicht wie im Waste Land ein deutliches mythisches Muster als Sinnbezug und Ordnungsprinzip herangezogen wird — auch nicht, wie in „Prufrock" und „Portrait of a Lady", ein implizierter Handlungszusammenhang —, zeigt dieser Text besonders klar die Möglichkeiten und Beschränkungen der imagistischen Technik im Aufbau längerer Gedichte.
VII. ZUSAMMENFASSUNG
1. Die verschiedenen imagistischen Theorien sind ihrer ausdrücklichen Absicht nach Rahmenprogramme, die individuell variierte Dichtweisen zulassen, ja, ermutigen. Aber gerade die in den meisten Darstellungen als typisch genannten imagistischen Gedichte weisen bestimmte gemeinsame Merkmale auf, die diese Rahmentheorien überhaupt nicht oder nicht scharf genug fassen: a) einmal das prinzipiell vorliegende subjektive Moment des Perspektivismus, das in implizierten Autorenkommentaren und in Hulmes pädagogischen Tricks erkennbar ist und sich im Rollengedicht gerade dadurch ausprägt, daß ostentativ vom „Ich" weggedeutet wird; b) zum andern den Verfremdungseffekt, den diese besondere Perspektive bewirkt, wobei diese Art Verfremdung von dem Agitpropeffekt zu unterscheiden ist, der durch Brechts Verfremdungstheorie hindurchschimmert. Auf Verfremdung, „make it new", weist Pound in anderem Zusammenhang hin;
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Das Bild in imagistischer Theorie und Praxis
c) und schließlich wird das Wesen des Gedichts als Zeitgestalt überhaupt nicht gesehen. Doch gerade die Berücksichtigung dieses Aspekts ermöglicht es, strukturelle Unterschiede zwischen der Manier einzelner Imagisten zu erkennen, die für die Einschätzung wichtig sind. 2. Diese Feststellung betrifft natürlich Unterschiede, die die imagistischen Theorien gar nicht fassen wollen. Diese Beobachtung kann als Indiz dafür dienen, daß imagistische Gedichte Momente einschließen, die nicht ihrer Theorie, sondern anderen, nicht ausformulierten Impulsen entspringen, so daß zwischen imagistischer Theorie und Praxis kein notwendiger und ausschließlicher Zusammenhang besteht. 88 3. Die nicht immer poetisch eingelöste anti-rhetorische, aufs konkrete, scharf umrissene Detail und auf präzisen Ausdruck abzielende Wendung, die mit dem Imagismus verbunden ist und die in Lowells Version allein übrigbleibt, kann unter drei Gesichtspunkten gesehen werden: a) Sie ist einmal einfach Reaktion auf den Zeitgeschmack; b) zum andern könnte sie für sich allein dichtungstechnisch nur diejenige Richtung der modernen englischen und amerikanischen Dichtung angeregt haben, die Marcus Cunliffe „Dichtung über und für die Massen" nennt; 89 c) und drittens trägt sie wesentlich dazu bei, daß im imagistischen Gedicht im Sinne Hulmes und Pounds die Assoziierung disparater Vorstellungsbilder aufgrund einer imaginativ erkannten Analogie, auf der die Metaphernbildung allgemein beruht, als Modell erkennbar wird. 4. Diese Befunde lassen sich in der Feststellung zusammenfassen, daß das imagistische Gedicht collageartig gefügt ist und daß auf ihm aufbauende größere Formen teilweise auch nach dem Prinzip der Collage strukturiert sind. Mit der Bezeichnung „Collage" wird deutlich gemacht, daß das imagistische Gedicht kein image im wahrnehmungspsychologischen Sinn ist, sondern eine aus heterogenen Elementen zu einer komplexen Einheit gefügte Gestalt, ein Image in Pounds Terminologie. In dieser Form stellt es ein Aufbauprinzip der-
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jenigen intellektuellen Richtung der modernen amerikanischen Dichtung dar, die sich selbst als metaphysisch versteht. 5. Daß die Art Dichtung, die Louis Zukovsky als „objektivistisch" zusammengestellt hat, ebenso in dieser Tradition steht wie diejenige, für die Charles Olson unter Berufung auf Pound (und Williams, daneben auch Cummings) die Theorie des „projektiven Verses" entwickelt hat, gehört inzwischen zum gesicherten Bestand des literaturhistorischen Wissens. 90 Das wohl Wichtigste, was sich für die moderne englischsprachige Dichtung anhand eines französischen Beispiels aus dem Imagismus ergeben hat, ist Eliots Vorstellung einer Logik der Imagination; sie gibt den eindeutigsten Hinweis darauf, wie nach-imagistische lange Gedichte strukturiert sein können und deshalb am besten gelesen werden: „Der Leser muß die Bilder in sein Gedächtnis einsinken lassen, ohne jeweils nach ihrer rationalen Funktion zu fragen; das Ergebnis ist die Gesamtwirkung des Gedichts. An einer ausgewählten Bilder- und Ideenfolge, wie St.-John Perses Anabase eine ist, gibt es nichts Chaotisches. Denn wir kennen nicht nur eine Logik der Begriffe, sondern auch eine Logik der Imagination." 91 Eliots einleitend wiedergegebene Apostrophierung des Imagismus als Wegbereiter moderner Dichtung müßte dahingehend differenziert werden, daß die verschiedenen Elemente, die im Imagismus miteinander verbunden sind, verschiedene Richtungen der modernen amerikanischen Dichtung auf verschiedene Weise vorbereitet haben. Mit dieser einigermaßen summarischen Feststellung können die literaturtheoretischen Überlegungen zum Bild in imagistischer Theorie und Praxis schließen; ihre Entfaltung in der Zeit ist nach wie vor eine unbewältigte Aufgabe der Literaturgeschichtsschreibung.
Literaturwissenschaft als Literaturwissenschaft The best lack all conviction, while the worst Are füll of passionate intensity. W . B. Yeats I. ZUR AUSGANGSLAGE
Wir haben es heute, kunstbezogen formuliert, mit einer neuen „Bilderstürmerei" zu tun, die im Namen des „Anti-Imperialismus" die „Poesie, die Sinnlichkeit der Sprache, ihre Verkörperung und die Vorstellungskraft . . . zu denunzieren [versucht]", mit einem „blinden Eiferertum", das „nicht einmal das Badewasser einlaufen läßt, bevor es das Kind ausschüttet", das, „um einen asketischen Weg der Veränderung zu wählen, auf Kunst und Literatur verzichteft]" und zudem auch den andern die Bücher verbrennen und die Bilder zerschlagen möchte. Diese Gedanken und Formulierungen stammen aus der Rede des Nobelpreisträgers für Literatur 1972. Ich habe sie an den Anfang der vorliegenden Überlegungen gestellt, nicht, weil sie an sich irgend etwas Neues sagten, sondern weil ich ihren andersartigen Neuigkeitswert darin sehe, daß diese Mißstände, mit denen wir vielerorts mittlerweile zu leben gewohnt sind, bei einer solchen Gelegenheit von Heinrich Boll in einem — sagen wir — weltweiten Rahmen sichtbar gemacht worden sind. 1 Allenthalben wird in unserem Land die Literatur, ihr Unterricht und die Wissenschaft von ihr zu Paaren getrieben. Nach den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz soll auf der Oberstufe im Deutschunterricht Literatur in Zukunft nur noch fakultativ vorkommen. Die Hessischen Rahmenrichtlinien für den Deutschunterricht haben ihr ohnehin schon einen neuen Stellenwert zugewiesen: im Papierkorb. Daran richten sich auch die Curriculumforscher und
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Literaturwissenschaft als Literaturwissenschaft
-reformer für die integrierte Gesamthochschule auf. In den sechziger Jahren hieß die Zauberformel Linguistik statt Literaturwissenschaft. Seitdem haben auch die Didaktik, die Landeskunde und die „Sozialwissenschaft für Lehrer" ihre alten Hüte in den Ring geworfen — sie möchten es nun sein, die bestimmen, was in der Literaturwissenschaft gelehrt und geforscht wird. Hinter solchen Ansprüchen steht für manche als Endlösung der kurze Draht zum Weltgeist, und Marxengelsleninmao ist sein Prophet. Viele mögen sich bereits darauf eingestellt haben, denn mancherorts scheint es, als gäbe es kaum noch einen Literaturwissenschaftler, der nicht zur Beglaubigung seiner Zuverlässigkeit mit größter Selbstverständlichkeit die Literaturwissenschaft als Sozialwissenschaft deklarierte. In hoc signo vinces. In einer solchen Situation hat die Formel „Literaturwissenschaft als Literaturwissenschaft" zwar den Charakter einer Tautologie verloren, kann aber wohl nur noch polemisch, wenn nicht gar häretisch verstanden werden. Aber sei's drum: Wenn man sich an den Ansichten (oder Neuen Ansichten) einer zukünftigen Germanistik orientieren wollte, wären die Aussichten fast nur noch trübe bis bewölkt. 2 Das Wort von der „Literaturdämmerung" ist bereits im Umlauf. Aber sind wir mit dieser Unterbewertung der Literatur durch die sich selbst so nennenden „fortschrittlichen Kräfte" nicht eigentlich nur zum Normalzustand zurückgekehrt? Ist nicht das Hauptwort der Literaturkritik seit eh und je Deffence gewesen, apologia, defense — wenn auch nicht immer ausdrücklich im Titel, so doch meist unverkennbar im Duktus der Argumentation? War nicht eigentlich bereits die erste überlieferte Poetik des Abendlandes eine dezidierte, wenn auch implizierte Verteidigung der Literatur gegen den Vorwurf, sie habe polisverderbenden Charakter? Alles beim alten also im Bereich der Literaturkritik? Ich bin weder Sanguiniker noch Zyniker genug, angesichts der Zeitläufte auch in anderen Belangen eine Rückkehr zur Normalität zu erkennen. Gerade deshalb finde ich aber einen kurzen orientierenden Rückblick auf die „pink decade", die amerikanischen dreißiger Jahre, sehr lehrreich. Ich möchte im folgenden paradigmatisch zwei Modelle vor-
Situationsbezogene Literaturkritik
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stellen, die amerikanische Kritiker entwickelt haben, um jeweils in einer Situation, in der die Literatur und die Beschäftigung mit ihr mit sozialen, soziologischen und sozialistischen Ansprüchen, Fragen und Forderungen bestürmt wurden, diesen auf eine Weise gerecht zu werden, die der Literaturhaftigkeit ihres Gegenstandes nicht zuwiderläuft. Das erste stammt aus der Konsolidierungszeit des „New Criticism" in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren, das zweite aus der Entstehungszeit des „New Historicism" in den Fünfzigern. II. SITUATIONSBEZOGENE LITERATURKRITIK: VOM „NEW CRITICISM" ZUM „DRAMATISM" KENNETH BURKES
Am „New Criticism" ist für unsere Frage das Spannungsfeld zwischen „Humanities" und „Sciences", den Geistes- und Naturwissenschaften wichtig, in dem er entstanden ist. Das Verhalten und die persönliche Entwicklung vieler seiner Vertreter haben ihm den Vorwurf der Wissenschaftsfeindlichkeit eingetragen. Aber sein Verhältnis zu den Wissenschaften ist komplexer als das der einfachen Opposition. Zwar ist es einerseits richtig, daß insbesondere seit dem späten 19. Jh., als die Natur bereits so weitgehend zu Daten reduziert war, daß man mit dem bekannten Erfolg darangehen konnte, sie in Fertigteile für den Aufbau der technologischen Welt zu denaturieren, die Gefahr, unter den szientifischen Datenbergen verschüttet zu werden, für die imaginative Literatur wie für die Geisteswissenschaften unübersehbar geworden ist. Andererseits ist es wiederum klar, daß in einer Welt, die auf ihre szientifischen und technologischen Erfolge nicht ganz zu Unrecht stolz war, eine erfolgreiche Verteidigung der Literatur und der Beschäftigung mit ihr gegenüber den auswuchernden Wissenschaften nur auf wissenschaftlicher Grundlage sinnvoll und möglich sein konnte: I . A . Richards versuchte deshalb, die Ästhetik und Kritik in der empirischen Psychologie zu begründen; der heute wohl etwas in Vergessenheit geratene Edwin Berry Burgum wollte einen „New Criticism" bereits 1930 auf die Grundlage der „pragmatischen Philo-
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Literaturwissenschaft als Literaturwissenschaft
sophie und empirischen Methode" stellen; und John Crowe Ransom konstatierte 1938, daß nur noch eine „nachszientifische Poesie" (und — so läßt sich in seinem Sinn hinzufügen — Poetik) heutzutage möglich sei. 3 Das ist eines der Kriterien, an denen die Distanz der Moderne zum Symbolismus ermessen werden kann: Walter Pater beispielsweise stand noch so nah im Umkreis des Symbolismus, daß ihm eine sich der Rationalität entziehende und auf die Befindlichkeit der Musik zustrebende poésie pure vorschwebte; Ransom ist so modern, daß es ihm und seinem Kreis nur um eine die Rationalität entschlossen umfassende impure poetry gehen konnte. Die literaturgerechte Hinwendung zur Wissenschaftlichkeit war jedoch — und das ist der dritte Gesichtspunkt — nur möglich in der Abwendung vom literaturhistorischen Positivismus, von der damals auch an den amerikanischen Universitäten vorherrschenden hintergrundorientierten Art des Literaturstudiums. Sie kann man ganz grob dahingehend charakterisieren, daß Literatur auf eine Art und Weise präsentiert wurde, die von der Literatur wegführte: in die Literaturgeschichte, in die Sozialgeschichte, in die Ideengeschichte, in die Autorenbiographie. Denn für den positivistischen Historismus in der Nachfolge Taines war das literarische Werk gewissermaßen substanzlos, ein bloßer Durchblick auf die Verhältnisse, in denen es entstanden war. Die positive Wendung zu einer literaturgerechten Wissenschaftlichkeit liegt in der vom „New Criticism" zentral geübten Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Erkenntnis der besonderen Struktur literarischer Werke. In diesem Zusammenhang gewinnt die oft angefeindete Autonomieforderung für das sprachliche Kunstwerk ihren ganz präzisen Sinn: Autonomie des Gegenstands ist eine erkenntnistheoretische Voraussetzung einer jeden Wissenschaft. Eine Wissenschaft kommt erst an dem ihr eigenen Gegenstand zu sich selbst, den sie findet, indem sie sich in dem Chaos der Erscheinungen auf einen Objektbereich konzentriert, ihn isoliert betrachtet und so zu einem Objektbereich macht: die physischen Qualitäten der Materie in der Physik, die Psyche in der Psychologie, das sprachliche Werk in der Literaturwissenschaft. Dabei wird ein Modell des
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jeweiligen Gegenstandes entworfen, das nachgängig in interdisziplinären Verfahren mit entsprechenden Modellen anderer Wissenschaften in die rational durchdrungene Erkenntniswelt eingeordnet werden kann. Der Autonomieforderung in der Poetik sind oft eskapistische Motive zugeschrieben worden. Möglicherweise haben solche Motive bei ihrer Formulierung gelegentlich sogar eine Rolle gespielt. Damit läßt sich aber nicht die Tatsache wegdiskutieren, daß ohne Autonomiepostulat eine Wissenschaft unmöglich ist. Der „ N e w Criticism" definierte sich an seinem Gegenstand — dem literarischen Werk — als wissenschaftliche Verfahrensweise, indem er es durch die den Textzusammenhang berücksichtigende Analyse als eine sprachliche Struktur erkannte, in der antithetische Momente in einer spannungsvollen Befindlichkeit aufgehoben sind. Nun ist es eine der Besonderheiten der Literaturwissenschaft, daß ihr Gegenstand die Bestimmung hat, sich erst in der ästhetischen Anschauung zu erfüllen. Das bedeutet nicht, daß ein sprachliches Werk auf eine intendierte Wirkung angelegt sein muß, aber doch, daß es Wirkung zeigt. Es bedarf zwar nicht des Einverständnisses des Publikums, aber doch dessen Verständnisses. Deshalb stellt das Publikum auch oft Fragen, die vom Standpunkt der Literaturwissenschaft aus gesehen naiv, unzeitgemäß oder gar falsch sein mögen. Dennoch ist der Literaturwissenschaftler auch solchen Fragen gegenüber auskunftspflichtig. Die Literaturwissenschaft ist daher vielleicht mehr als jede andere Wissenschaft darauf angewiesen, mehr zu tun, als immer nur ihre eigenen Fäden weiterzuspinnen; sie kann sich nicht ausschließlich auf eine fachimmanente Diskussion zurückziehen, sondern muß auf dieser Grundlage je und je Anregungen aus zeitgenössischen Entwicklungen anderer Wissenschaften und aus den Fragen der Amateure, Dilettanten und Laien aufnehmen — auch wenn diese auf den ersten Blick abwegig erscheinen. Zur Zeit der Konsolidierung des „New Criticism" in den dreißiger Jahren kam ein gehöriger Schub solcher externer Fragen aus dem Bereich der marxistischen Ideologie, die man, mit Marshall Van Deusen, in ihrer Stellung zur Literatur als Gegenposition zum „ N e w Criticism" auffassen kann. 4 Bei der Beurteilung des amerikanischen
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Marxismus, der einen harten Kern in der stalinistischen Gruppe um Michael Gold hatte, gilt es zu berücksichtigen, daß er sich immer wieder mit starken eigenständigen radikaldemokratischen und im amerikanischen Sinn liberalen Traditionen konfrontiert sah, die ihm scheinbar entgegenkamen, aber sich letzten Endes als nicht integrierbar erwiesen. Mit diesen Strömungen teilte der amerikanische Marxismus der dreißiger Jahre eine rigorose moralische Einstellung. Er lehnte literarische Experimente ab und forderte eine verständliche, kommunikative Literatur, die die Wahrheit deutlich aussprechen sollte. Diese Wahrheit wurde als normativ und sozioökonomisch determiniert angesehen. In einer solchen Auffassung liegt ein weiterer Berührungspunkt mit eigenständigen amerikanischen Traditionen, etwa dem agrarischen Liberalismus Vernon Louis Parringtons, der ebenfalls genetisch-situationsbezogen argumentierte.5 Die marxistische Position unterscheidet sich von der Parringtons dadurch, daß sie die „gesellschaftliche Wirklichkeit" ausschließlich als Klassenkampfsituation auffaßte. In einem programmatischen Aufsatz, „The Crisis in American Criticism", sagte Granville Hicks 1933, das proletarische Werk müsse dreierlei Bedingungen erfüllen: Es müsse den Klassenkampf in den Mittelpunkt stellen, denn dort stünde er laut Marx, es müsse ein intensives Klassenbewußtsein verraten, und der Autor müsse sich auf die Seite der Vorhut des Proletariats schlagen.6 (Für den orthodoxen Marxisten galt schon damals, daß die Wahrheit Parteilichkeit heißt und in der Prawda steht.) Doch die Gefahr, daß eine solche Literatur zum bloßen Abklatsch der Parteidoktrin wird, sahen selbst Parteigänger. Joseph Freeman erläuterte, daß der Künstler die Doktrin nicht zu wiederholen brauche, wohl aber die Erfahrung wiedergeben müsse, aus der heraus die Doktrin entstanden sei, denn keine Erfahrung sei so umfassend oder so bedeutsam wie die revolutionäre. V. F. Calverton sah ein, daß „Erfahrung" und „Kunst" nicht dasselbe ist, daß aber weder er noch andere Marxisten mehr getan hätten, als das Problem zu erkennen.7 Während Hicks, 8 Calverton und Bernard Smith9 die amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte auf revolutionäres Potential im marxistisch-leninistischen Sinn durchforschten, versuchte
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Kenneth Burke — und damit komme ich gewissermaßen zur Synthese dieses ersten Modells — eben diese Fragestellung nach dem Verhältnis von sozialer Erfahrung und literarischer Gestaltung auf eine Weise zu lösen, die der Literatur keine revolutionäre Gewalt antat. 10 Deshalb scheinen mir die Arbeiten Burkes, eines jener eher bohemehaften amerikanischen Radikalen in der Nachfolge Henry David Thoreaus, gerade heute wieder Aufmerksamkeit zu verdienen. Burke bemühte sich in den 30er und 40er Jahren um eine soziologische Kritik, die das Werk aus seinem Entstehungszusammenhang heraus begreift — aber keineswegs als ein Uberbauprodukt, das von irgendeiner Basis determiniert ist. Es ist für ihn nur in dem Maße bedingt, in dem eine Antwort durch die Frage bedingt ist, auf die sie gegeben wird. Jede sprachliche Äußerung, vom einfachen Sprichwort bis hin zum involviertesten Kunstwerk, ist für ihn eine, wie er sagt, strategische, d. h. eine Einstellung verratende Antwort auf eine Situation. Man könnte Karl Mannheims Formulierung auf Burke übertragen und sagen: Für ihn besteht zwischen der Situation und dem in ihr entstandenen Werk kein kausaler, prädeterminierter, sondern ein funktionaler, jeweils nur interpretatorisch ermittelbarer Zusammenhang. 11 Wie Caroline Spurgeon 12 und letzdich Freud geht er davon aus, daß ein Autor in der Metaphorik seiner Werke seine Einstellung und seine Situation verrät. Burke entwickelte aber die rein quantitative, statisch-statistische und in ihren Analogieschlüssen oft übereilte Methode der englischen Literaturhistorikerin in mehrfacher Hinsicht weiter: Neben der einfachen Summierung einzelner Bilder Zu Bildbündeln beachtet er ganz besonders das Moment des Konflikts in der Form einer dramatischen Gegenüberstellung hervorgehobener Bilder; er beachtet die konsekutive Entfaltung und Transformation von Bildern im zeitlichen Nacheinander innerhalb eines Werkes ebenso wie die Tatsache, daß auch Einzelbilder ein besonderes Gewicht gewinnen können, wenn sie an Schlüsselstellen solcher Transformationsketten, an sogenannten „qualitativen Punkten" stehen. Burkes analytisches Verfahren läßt sich adäquat als die Weiterentwicklung der in den Sozialwissenschaften damals noch in den
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Kinderschuhen steckenden Methode der quantitativen Inhaltsanalyse hin zu einer soziologisch orientierten Literaturanalyse beschreiben, lange, bevor in den Sozialwissenschaften selbst das Unzureichende der quantitativen Methoden empfunden und der Vorteil „qualitativer" Analysen entdeckt wurde. 13 Ich sehe Burkes Methode durchaus als eine Verfahrensweise an, die dem größten Teil der Literatur angemessen ist, weil sie dem Strukturcharakter sprachlicher Werke in ihrem Situationszusammenhang gerecht zu werden versucht, anders ausgedrückt: weil sie sowohl der Determiniertheit als auch der Freiheit des sprachlichen Ausdrucksakts Rechnung trägt, weil ihr in diesem Sinne eine Philosophie des Aktes zugrunde liegt. In der späteren Entwicklung der amerikanischen Literaturkritik erhielt Burke nicht das Gewicht, das er als integrativer Kritiker hätte gewinnen können, obwohl die Forderung nach einer Vermittlung zwischen einer werkorientierten Kritik und einer Betrachtungsweise, die das Werk in seinem sozialen und historischen Kontext sieht, immer wieder erhoben wurde. Vielmehr zeigte sich in der Folgezeit der „New Criticism" so konsolidiert, daß er den Hauptbezugspunkt für alle Neuerer abgab: Wer eine „neuere Kritik" anbieten wollte, mußte sich jeweils zunächst mit ihm auseinandersetzen.
III. GESCHICHTSBEZOGENE LITERATURKRITIK: VON DEN „AMERIKASTUDIEN" ZUM „NEUEN HISTORIZISMUS"
Mit dieser Beobachtung komme ich zu dem zweiten Modell einer integrativen Kritik, das ich hier vorstellen möchte. Seine Entwicklung begann in den fünfziger Jahren mit einer Reihe von Werken, die inhaltlich insofern miteinander zusammenhängen, als sie gemeinsam von der Ansicht ausgehen, die Verlockungen und Schwierigkeiten des offenen, zu besiedelnden Kontinents Nordamerika seien wesentliche Faktoren nicht nur der ökonomischen und politischen Entwicklung der USA, sondern auch ganz entscheidende imaginative Zentren des Selbstverständnisses und der Literatur der Amerikaner gewesen. Aber nicht um diese inhaltliche Ubereinstimmung der sogenannten
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„Amerikastudien" im engeren Sinne, die die Arbeiten vor allem von Henry Nash Smith, Roy Harvey Pearce und Leo Marx kennzeichnet, geht es hier, sondern um ihre methodischen Gemeinsamkeiten, die zumindest diesen Zweig der Amerikastudien als kennzeichnend für die neueren Entwicklungen hin zum „Neuen Historizismus" erscheinen lassen. 14 Gemeinsam ist diesen drei Autoren, daß sie an dem Ergebnis des „ N e w Criticism" festhalten, wonach sprachliche Werke kotextualistisch ermittelte autonome Strukturen sind, daß sie diese Werke aber gleichzeitig dezidiert in den Kontext einer sozialen oder geistesgeschichtlichen Situation einordnen wollen. In ihren theoretischen Überlegungen bemühen sie sich daher, die Vorstellung einer nur interpretatorisch erfaßbaren Textgestalt, einer Konfiguration, und das Modell objektiv erhebbarer Daten, seien es informationstheoretische „bits" oder Einzelideen, miteinander zu vermitteln. Auch bei Smith und Leo Marx steht dabei der Bezug zur sozialwissenschaftlichen Inhaltsanalyse im Vordergrund. Wie Kenneth Burke und der Inhaltsanalytiker Bernard Berelson geht Smith von einem Textkontinuum aus, das auf der einen Seite die einfachen, relativ homogenen und daher — so die Annahme — den zuverlässigen, faktengetreuen und objektiven, weil quantitativen Auswertungsmethoden der Inhaltsanalyse zugänglichen populären und für die Kulturanalyse aussagekräftigen Werke umfaßt und auf der anderen Seite die komplexen, jeweils singulären und daher nur durch interpretative, wertende und deshalb subjektive Strukturanalyse erschließbaren Werke hoher Literatur. 15 Pearce akzeptiert einen ähnlichen Dualismus; im Unterschied zu dem von Smith stehen dabei auf der einen Seite die Prämissen der Ideengeschichte — also auch analytische, atomisierende Verfahren, einzelne Ideen herauszupräparieren und in ihrer historischen Wanderschaft zu verfolgen. Den eigenständigen Wirkungszusammenhang des Werkganzen auf der anderen Seite bezeichnet Pearce, den neukritischen Strukturbegriff dynamisierend, als Mythos, womit er sich freilich ein Stück Weges in die Nähe der im übrigen anthropologisch oder tiefenpsychologisch orientierten Mythokritik begibt.
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Insoweit Literatur Ideen ausstrahlt, die den Leser in ihren Bann schlagen, sagt Pearce, partizipiert sie am Mythos, und diese Strahlkraft gewinnen die Ideen durch die (ideengeschichtlich unbestimmbare) ästhetische Qualität des Kunstwerks. 16 Der wichtige Schritt, den Pearce sowohl über Smith als auch den „New Criticism" hinaus in Richtung auf den „Neuen Historizismus" vollzieht, liegt darin, daß er die historische Dimension bei der ko-textualistischen Strukturanalyse explizit zum Ansatz bringt. Anders als die „New Critics", die ihre Strukturanalysen oft ziemlich unbekümmert aus ihrer eigenen gegenwärtigen Sensibilität entwarfen, setzt Pearce als Bezugsrahmen ausdrücklich den „historisch definierbaren soziokulturellen Kontext" an, das „spezifische Segment der kulturellen Tradition", 1 7 und versucht, bei der Strukturanalyse als künstlerische Qualität die Abweichung von der historischen Norm zu ermessen. Er beruft sich so nicht auf die Freiheit von der Geschichte, sondern auf die Freiheit des jeweils geschichtlich Möglichen. Wie in E. D . Hirschs Überlegungen zur „Gültigkeit bei der Interpretation" 1 8 wird bei Pearce allerdings die Frage des historischen Bedeutungszuwachses, den ein Werk in der Regel erfährt, nicht zufriedenstellend berücksichtigt; Eliseo Vivas hat sie zumindest in eine griffige Formel gebracht: Man kann im Anschluß an ihn von der „Subsistenz" des Werks in den sprachlichen und ideologischen Möglichkeiten seiner Entstehufigszeit, seiner „Insistenz" in der ästhetischen Transaktion und schließlich von seiner „Existenz" außerhalb des ästhetischen Ko-Texts in der nachpoetischen Begrifflichkeit sprechen. 19 Die nicht unumstrittene, aber m. E. bisher doch vollkommenste Entfaltung des hier skizzierten Ansatzes findet sich bei Leo Marx in der leider gegen Schluß sich in ihren eigenen Voraussetzungen verheddernden Studie The Machine in the Garden (1964). Marx geht ausdrücklich auf die auch für Smith bestimmende Dichotomie von Literatur- und Sozialwissenschaft zurück, behält dabei aber auch die dezidiert historische Orientierung Pearces und dessen anthropologienahen Mythosbegriff bei („ein Mythos ist ein Verbund von Symbolen, die in eine Erzählung eingebettet sind und in dieser
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erzählten Form die so gut wie allumfassende Wirklichkeitsauffassung — die Weltanschauung — einer Gruppe verkörpern"), stützt sich aber noch konsequenter als seine beiden Vorgänger auf das neukritische Modell der Analyse komplexer Werkstrukturen. 20 Das Emblem von Leo Marx' Studie ist genau eine solche Konfiguration, das „sleepy hollow"-Motiv, das Motiv also des schläfrigen, abgeschiedenen Tals. Er spricht bezeichnenderweise von einem Muster (pattern, design) und bezieht sich als repräsentative Anekdote auf einen in Hawthornes American Notebooks geschilderten Vorfall, nämlich auf das Erlebnis des störenden Eindringens des Lokomotivpfiffs in die beschauliche Ruhe eines in die Natur eingebetteten locus amoenus — störend nicht so sehr als Lärm denn als Symbol, das die städtische, kommerzielle, hektische Lebensform des heraufsteigenden Großindustriezeitalters der Imagination beunruhigend vorstellt. Dieses gespannte Verhältnis zwischen Beschaulichkeit und Beunruhigung, ja Bedrohung zeichnet Marx als das Grundmuster der komplexen Pastorale nach, das in seiner Interpretation der amerikanischen Kultur und Literatur Gestalt und Zusammenhalt gibt. Es ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend, daß Marx wohl zu Unrecht in der Maschine-Garten-Konfiguration das Emblem der kennzeichnend amerikanischen Qualität der amerikanischen Literatur gesehen hat. Nicolaus G. Mills hat an Material, das Herbert L. SUssman zusammengetragen hat, Vergleiche angestellt und dasselbe Leitmotiv in englischen Romanen des 19. Jhs. aufgewiesen.21 Davon unberührt bleibt auch die Frage, ob Marx' Grundannahme richtig ist, daß nämlich eine literarische Strukturanalyse — und nur eine solche — kultur-, und gesellschaftsbezogene Fragen an die Literatur auf eine Weise aufnehmen kann, die der Literatur nicht abträglich ist. Das ist bestritten worden mit der Begründung, dadurch, daß Marx seinen Analysen einen literaturimmanenten Strukturbegriff zugrunde legt, verfälsche er die Wirklichkeit. So hat beispielsweise Winfried Fluck darauf hingewiesen, daß Marx in seiner Interpretation von Mark Twains Huckteberry Finn den Fehler begeht, in dem
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bekanntermaßen ausufernden Roman eine Szene als die strukturelle Mitte, die alles andere zusammenhält, herauszustellen, nur weil in dieser Szene eine Variante des „sleepy hollow"-Motivs erkennbar ist. 2 2 Gemeint ist der Zwischenfall, in dem das Floß, auf dem Huck und Nigger Jim in friedlicher, quasi pastoraler Beschaulichkeit den Mississippi hinuntertreiben, im Nebel von einem Dampfschiff gerammt wird, die Idylle also durch den Einbruch „der Technik" zerstört wird. Man kann nun Fluck einräumen, daß diese Szene in der Tat nicht strukturell zentral, sondern ephemer ist, daß Leo Marx sie also nur zur strukturellen Mitte hochstilisiert hat — und trotzdem braucht man seine Schlußfolgerung nicht zu akzeptieren, dieser Fehler sei eine Folge der strukturalistischen Orientierung Marx', die sich somit prinzipiell als falsch erwiesen hätte. Im Gegenteil: Dieser Fehler wäre die Folge einer ungenügenden Strukturanalyse, weil sich Marx zu sehr von seiner apriorischen Annahme hat leiten lassen, das „sleepy hollow"-Motiv müsse nun aber auch in allen wichtigen Werken der amerikanischen Literatur aufzudecken sein. Nicht die Bemühung um eine strukturanalytische Auffassung literarischer Werke, also das neukritische Erbe, führt Marx demnach zu Fehldeutungen; der Systemzwang einer These verstellt ihm den Blick für vorliegende Werkstrukturen und verleitet ihn zur nichtstrukturellen isolierenden Hervorhebung von Details. So zeigt der „ N e u e Historizismus" durchaus Symptome der alten Literaturgeschichtsschreibung: Anstatt, wie es seinem Programm entspricht, behutsam Strukturanalyse an Strukturanalyse zu reihen, um die größere Struktur beispielsweise einer Epoche oder einer Nationalliteratur induktiv zu ermitteln, greift auch er zum abkürzenden Verfahren eines vorgängigen Globalkonzepts, auf das dann nur zu leicht einzelne Werke zurechtgestutzt werden. Ein ähnlicher Irrtum liegt in noch deutlicherer Form bei all denjenigen vor, die im Namen des „Neuen Historizismus" entweder, wie Robert Weimann, marxistische oder, wie Jost Hermand, allgemeiner gefaßte emanzipatorische Literaturgeschichte vertreten. 23 Der Marxist muß nämlich, wie Hicks es formulierte, eine „geistige Sperre" überwinden, will er sich ins schöne Feindesland der
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Vergangenheit begeben, weil für ihn die Größe literarischer Werke von der Deutlichkeit abhängt, mit der sie auf die sozialistische Revolution vorausweisen. 24 Diese teleologische Bestimmung impliziert, daß die Chance eines Werks, in diesem Sinne groß zu sein, proportional zu seiner Nähe zur Weltrevolution wächst. Und das bedeutet zugleich die relative Entwertung der älteren Phasen der Literaturgeschichte. Auch wer, wie Hermand, weniger dogmatisch, unter der Perspektive des „Fortschritts der Menschheit" an vergangenen Werken ihr emanzipatorisches Moment herausarbeiten möchte, hat die Geschichte schon abgeschrieben. Denn sobald man dieses Modell einmal begriffen hat, braucht man sich um Vergangenes nicht mehr zu kümmern, weil es in all seinem Wandel ohnehin immer nur dasselbe sagt: Es geht immer vorwärts, und das Ziel — was immer es sei — liegt irgendwo in der Zukunft. Hier enthüllt sich im Namen des Historizismus eine Haltung, die Allen Ginsberg schon 1958 ganz offen aussprach: „Vergangenheitsbewußtsein ist Quark. Geschichte ist Quark. Wie Henry Ford über Technologie sagte — es gibt nichts, was die Geschichte uns noch lehren könnte. Wir leben heute im Zukunftsroman." 2 5 Anders ausgedrückt: Das Rezept einer historischen Analyse, das den Fortschrittsoptimismus als Wechsel auf eine bessere Zukunft zugrunde legt, ist das Höchstmaß an historischer Perspektivelosigkeit, weil es sich das Bild anderer, fremder Epochen im Gleichnis der eigenen schafft.
IV. SCHLUSSFOLGERUNGEN
1. Was in der Literaturkritik heute als „Neuer Historizismus" bezeichnet wird, ist nur dann wirklich neu, wenn es konsequent auf den Ergebnissen des „ N e w Criticism" aufbaut, d. h., wenn das historische Muster aus kotextualistisch analysierten Einzelwerken aufgebaut oder um sie als Kristallisationskerne herum erstellt wird, und nicht, wenn die einzelnen Werke auf eine vorgängige These historischer Entwicklung zurückgeschnitten werden, um gewisser-
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maßen als Skalps an eine Lanze gehängt zu werden, mit der dem großen Geschichtsplan der Weg gewiesen werden soll. 2. Deshalb ist eine Literaturwissenschaft unverzichtbar, die an der Autonomie des Kunstwerks festhält, nicht im Sinne eines quasi metaphysischen Postulats, auch nicht im Sinne einer allein die künstlerische Qualität garantierenden Struktur mit einem besonderen ontologischen Status, sondern im Sinne einer notwendigen erkenntnistheoretischen Voraussetzung. 3. Darüber hinaus kann die Literaturwissenschaft auf jede prätendierte Wissenschaftlichkeit verzichten. Eine „science of critic i s m " , wie sie Northrop Frye z. B . mit der erschröcklichen Symmetrie seiner Anatomy of Criticism hatte errichten wollen, ist abwegig. 2 6 Denn einmal sind literarische Werke essentiell Gegenstände der unmittelbaren Erfahrung; deshalb lenkt es nur ab, sie auf irgendwelche Formeln zu abstrahieren, ob man diese nun Modi, Phasen oder Klassenlage nennt. U n d zum andern geht der Literaturwissenschaft ohnehin notwendigerweise das Kriterium der szientifischen Objektivität, nämlich die Mitteilbarkeit mit Zustimmungszwang, ab. Man könnte daher ein übriges tun und gut und gern auf den (mißverständlichen) Anspruch einer Literaturwissenschaft verzichten, um das Studium der Literatur zu fördern. 2 7
Wider den voreiligen Soziologismus: die Grenzen der Inhaltsanalyse I. ZUSAMMENHÄNGE UND ZIELE
Als es für notwendig erachtet wurde, die „gesellschaftliche Relevanz" der sich selbst genügenden Lyrik damit zu begründen, daß sie sich als Gattung der „großen Verweigerung" besonders gut den Zwängen der Gesellschaft entziehen könne, hatte der Umgang mit ihr ein weiteres Stück seiner Unbefangenheit verloren. 1 Sicher hat die Literatur (und die Beschäftigung mit ihr) im Verlauf der Geschichte immer wieder unter „Legitimationszwang" gestanden; in ihrer Substanz bedroht war und ist sie freilich — auf jeden Fall im 20. Jh. — nur dort, wo totalitäres Denken herrschte und herrscht. Das Schlimmste, was ihr außerhalb dieser Gebiete und Enklaven widerfahren kann, ist die Verachtung, die ihr seit Hobbes von den exakten Wissenschaften als Institution entgegengebracht wird; während einzelne Vertreter dieser Wissenschaft in ihrer Freizeit der Literatur durchaus ein lebhaftes Interesse entgegenbringen, haben viele von ihnen für die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr oft nur die Vokabel übrig, mit der sie auch andere „weiche" Wissenschaften bedenken: „Friseursgerede". Wegen dieser ablehnenden Haltung fehlt es auch nicht an Versuchen seitens der Literaturwissenschaftler, die eigene Art der Wissenschaftlichkeit zu bestimmen, die den Umgang mit Literatur von einem Gespräch unter Literaturfreunden unterscheidet und zu einer akademischen Disziplin macht; keiner dieser Versuche hat es jedoch — wenn überhaupt — auf die Dauer dem szientifischen Denken recht machen können, auch nicht die Bemühungen um eine werkgerechte Literaturwissenschaft in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Für
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das Studium der Literatur freilich hat sich aus den Arbeiten des amerikanischen „New Criticism" und dem close reading (dem sorgfältigen Textstudium) der britischen Scrutinisten, aus den stärker formalisierten Untersuchungen des russischen Formalismus und des Prager Strukturalismus, aus der werkimmanenten Interpretation und der explication de texte (der Textauslegung) ein wohl nicht immer kompatibles, doch auf jeden Fall umfangreiches Reservoir von Grundsätzen, Begriffen und Verfahren entwickelt, die geeignet sind, das Verständnis für literarische Werke zu schärfen und zu vertiefen — wenngleich dabei natürlich auch ein Überschuß an terminologischem Stroh angefallen ist. Die szientifische Herausforderung ging im 20. Jh. von den empirischen Sozialwissenschaften aus. Anders jedoch als im 19. Jh., als sich Literaturhistoriker von dem szientifischen Prestige der Biologie herausgefordert sahen, die Entstehung und Entwicklung literarischer Gattungen nach dem Muster animalischer Gattungen zu beschreiben, und anders als im 18., als vor allem die Physik das Vorbild der Exaktheit lieferte, begann diesmal eine andere Wissenschaft, selber in den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft hineinzudrängen. Indem in den USA vor allem in den vierziger und ganz besonders in den fünfziger Jahren Sozialwissenschaftler verschiedener Richtungen ihr Interesse an Texten aller Art entdeckten — an Büchern, Zeitschriften, Zeitungen, Erzählungen, Aufsätzen, Filmen, Nachrichtensendungen, psychiatrischen Sitzungsniederschriften, Briefen, Dokumenten, Protokollen usw. 2 — und dieses Interesse in einem kaum noch zu überblickenden Umfang in Publikationen umsetzten, ereignete sich zweierlei: Mit einem Mal wurde der Kreis dessen, was als „Literatur" galt, ins schier Grenzenlose ausgeweitet; gleichzeitig wurde eine Schwelle der „Verwissenschaftlichung" in der Verarbeitung dieses nunmehr ganz andersartigen „Textrepertoires" überschritten, vor der die Literaturwissenschaft bis dahin auf jeden Fall in ihren zentralen Bereichen immer Halt gemacht hatte: Die empirischen Sozialwissenschaften begannen jetzt, „szientifische" Methoden für die Bearbeitung von Literatur zu entwickeln, deren Grundsätze und Kriterien sämtlich den Naturwissenschaften entlehnt wurden.
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Was schließlich seit den späten sechziger Jahren insbesondere in Deutschland auf die Literaturwissenschaft zugekommen ist, läßt sich unter diesem Aspekt zum großen Teil als ein Transponieren des sozialwissenschaftlich-szientifischen Anspruchs ins Emotionale und Aggressive beschreiben, mit dem gerade diejenigen Prämissen und Ergebnisse der textbezogenen Literaturwissenschaft als Rückstände einer im Namen der „Gesellschaft" zu überwindenden Phase der „bürgerlichen Wissenschaft" verdrängt werden sollten, die ihre literaturgerechte Bewährung erst kürzlich erwiesen hatten.3 Die dabei propagierte Behauptung, Sprache und Literatur, „Kommunikation und Ästhetik", Massenmedien und Lesegewohnheiten seien nichts weiter als gesellschaftliche Phänomene, denen darum auch nur sozialwissenschaftliche Untersuchungsmethoden angemessen seien, ist Anlaß genug, sich innerhalb des sozialwissenschaftlichen Bereichs mit dem Ziel umzusehen zu erfahren, wie dort von den ernstzunehmenden Wissenschaftlern Texte analysiert werden, auf welchen Prämissen diese Verfahren im einzelnen beruhen und zu welchen Ergebnissen sie geführt haben. Dabei eignet sich für den Literaturwissenschaftler derjenige Zugang sicher am besten, der zu seiner eigenen Arbeit die größte Affinität hat. Er führt in diesem Fall über jene Richtung der zugleich literaturbetonten und gesellschaftsorientierten Arbeit, die in den fünfziger Jahren in den USA als „American Studies" literaturwissenschaftliche und soziologische Fragestellungen mit einem gewissen Erfolg zu verbinden begann. 4 Seitdem Henry Nash Smith 1957 die innerhalb der empirischen Sozialwissenschaften entwickelte quantitative Inhaltsanalyse von Texten als eine Verfahrensweise herausgestellt hat, die sich durch Integration mit strukturanalytischen Methoden besonders gut zur Entwicklung eines synkretischen Untersuchungsverfahrens eigne, mit dem endlich Literatur als kulturelles Phänomen und Kultur durch ihre literarischen Manifestationen faßbar werden würden, gehört die Empfehlung eben dieser quantitativen Inhaltsanalyse praktisch zu einem Topos der theoretischen Überlegungen innerhalb der Amerikastudien. So bezieht sich Leo Marx noch 1969 ausführlich auf sie, wiewohl seine eigenen Studien deren Anwendung eigentlich gar nicht
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erkennen lassen. Und noch 1972 hat Bruce Kuklick, der sonst dem von Smith ausgehenden Zweig der Amerikastudien eher ablehnend gegenübersteht, die numerische Häufigkeit eines Textelements als entscheidenden Faktor für die Bestimmung seiner Wichtigkeit hervorgehoben. 5 Die Grundannahme, auf der diese Tradition innerhalb der Amerikastudien beruht, besagt, daß es für das Verständnis einer Kultur nicht ausreiche, ihre Kunstwerke zu studieren; man müsse sich vielmehr gleichgewichtig auf ihre „populären" Werke beziehen. Denn Kunstwerke unterschieden sich von populären zum Nachteil ihres repräsentativen Werts darin, daß sie nicht wie die populären Werke voll standardisiert und homogen seien, sondern über den gemeinsamen Zeit- und Kulturstil hinaus individuelle Merkmale trügen, die untrennbar zu ihrem Wesen gehörten. Sie müsse man daher im Hinblick auf ihre jeweils unverwechselbare Struktur untersuchen, bei den stereotypen Werken genüge ein Uberblick über ihren repräsentativen Inhalt. Für die Strukturanalyse seien diejenigen Methoden zuständig, die dem „ N e w Criticism" zu verdanken sind; einen Uberblick jedoch über den repräsentativen Inhalt eines umfangreichen Textrepertoires verschafften allein die statistischen Methoden, die unter dem Namen „Inhaltsanalyse" in der Sozialwissenschaft entwickelt worden seien. 6 Diese Annahmen und Argumente ließen sich durchaus auf ihre theoretische Solidität hin überprüfen, indem man generell überlegt, welche theoretischen und methodologischen Kompromisse zwischen zwei Disziplinen im Bereich der Interpretationswissenschaften möglich sind. Wieviel Spielraum gibt es hier überhaupt für einen Kompromiß? Wieviele Elemente einer anderen kann eine Disziplin in sich aufnehmen, ohne sich selbst aufzugeben? Herzlich wenig — so scheint der experimentelle Befund zu besagen. Das ist jedenfalls das Hauptargument in dem Bericht, den der Literaturhistoriker Robert Spiller 1959 über ein Experiment gab, das 1954 an der University of Pennsylvania unternommen worden war. 7 In dem Bemühen, eben einem solchen integrativen Verfahren für das Verständnis der amerikanischen Kultur näherzukommen, bot
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Spiller damals zusammen mit dem Wirtschaftshistoriker Thomas C. Cochran ein interdisziplinäres Doktorandenseminar über Wertfragen als Indices für die Bestimmung einer Kultur an. Wiewohl — so Spiller — die persönlichen und institutionellen Voraussetzungen für ein solches Unternehmen sehr gut waren, trat innerhalb eines einzigen Monats eine Entwicklung ein, die Spiller geradeheraus als tiefe Spaltung („deep schism") zwischen den an Literatur und den an sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fragen interessierten Mitgliedern des Seminars bezeichnete. Diese Spaltung erwies sich nicht nur als unüberwindbar, sie vertiefte sich noch im weiteren Verlauf der Veranstaltung. Spiller sprach direkt von zwei Parteien, wobei die „sozialwissenschaftliche" darauf bestand, daß man kulturelle Phänomene in uneingeschränkter Objektivität mit den Verfahren der quantitativen Inhaltsanalyse bestimmen könne, während die Literaten dies mit dem Argument bestritten, daß Kunstwerke diesem rein statistischen Verfahren nicht zugänglich seien. Spillers Schlußfolgerung ist eine doppelte: Seiner Meinung nach spricht kein einziger sachlicher Grund dagegen, die strukturanalytischen Verfahren des „New Criticism" auch auf literarische Bereiche anzuwenden, für die sie ursprünglich nicht vorgesehen waren, z. B. eben auf stereotype Literatur; es käme lediglich darauf an, sich dazu zu entschließen. Und andererseits — so wünschte Spiller 1959 — wäre es gut gewesen, wenn Bernard Berelson 1952 in dem klassischen Lehrbuch der quantitativen Inhaltsanalyse, Content Analysis in Communication Research, diejenigen tastenden Ansätze weiter verfolgt hätte, die in Richtung auf eine qualitative Analyse deuteten. Seitdem ist es innerhalb der Sozialwissenschaften zu neuen Uberlegungen über Wert und Möglichkeiten inhaltsanalytischer Untersuchungen gekommen, die durchaus auch einen Literaturwissenschaftler interessieren könnten. Nur scheint es, daß diese Entwicklung außerhalb der Sozialwissenschaften nicht wahrgenommen worden ist — weder von Vertretern der Amerikastudien noch von denjenigen, die die Literaturwissenschaft sozialwissenschaftlich umkrempeln wollen. In der folgenden Skizze sollen deshalb zunächst ihre Hauptstufen nachgezeichnet werden.
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Wider den voreiligen Soziologismus II. D I E I N H A L T S A N A L Y S E I N D E N SOZIAL W I S S E N S C H A F T E N
In den empirischen Sozialwissenschaften versteht man unter Inhaltsanalyse alle diejenigen statistischen Verfahren, die der Sichtung, Ordnung und Zusammenfassung der „Bedeutung" von mannigfaltigen und umfangreichen Textbeständen dienen sollen. Auf die Möglichkeit eines solchen Vorgehens, das deshalb auch mit Abraham Kaplan „statistische" und mit Harold D. Lasswell und anderen „quantifizierende Semantik" genannt wird, hat Max Weber schon 1910 hingewiesen. Er legte dem Ersten Deutschen Soziologentag einen Arbeitsplan für eine „Soziologie des Zeitungswesens" vor, in dem genaue Messungen, „wie sich denn der Inhalt der Zeitungen in quantitativer Hinsicht verschoben hat", die Voraussetzung für „qualitative" Bestimmungen abgeben sollten: für Feststellungen der „Art der Stilisierung der Zeitung", für die „scheinbare Zurückdrängung des Emotionalen in der Zeitung" und für ähnliche Einstellungsfragen. Die erste „Zeitungsenquete" kam jedoch in Deutschland nicht so recht voran. 8 Dafür wurden in der Folgezeit entsprechende Verfahren insbesondere in den USA zur Untersuchung der verschiedenen Massenmedien entwickelt und in großem Stil angewendet — in der Absicht, dadurch meßbare (und das, so hoffte man, würde heißen: objektive, d. h. intersubjektiv nicht bestreitbare) Befunde zu gewinnen: Die quantitative Inhaltsanalyse, so nahm man an, ermöglicht es, genauere, objektive und zuverlässige Beobachtungen über die Häufigkeit vorzunehmen, mit der Inhaltsmerkmale allein oder in Verbindung mit anderen auftreten. D . h., das quantitative Vorgehen setzt kontrolliertes Beobachten an die Stelle des Sammeins von bloßen Eindrücken über die Häufigkeit, mit der Merkmale anzutreffen sind. 9
Die klassische Definition dieses Vorgehens lautet nach Bernard Berelson: „Content analysis is a research technique for the objective, systematic, and quantitative description of the manifest content of communication." 1 0 An dieser Definition ist neben den Bestimmungen „objektiv, systematisch und quantifizierend" besonders wichtig, daß das Verfahren lediglich für das gelten soll, was an einer Mitteilung „manifest", d. h. offenkundig ist, was „da steht", nicht, was „damit
Die Inhaltsanalyse in den Sozialwissenschaften
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gemeint sein könnte". 11 Auf diese Weise wird also lediglich das Vokabular erreicht, nicht die Begriffe. Ihr größtes Prestige erwarb sich die quantitative Inhaltsanalyse wohl durch die Propagandaforschung, die H. D. Lasswell während des Zweiten Weltkriegs als Leiter der Washingtoner „Experimental Division for the Study of War-time Communications" betrieb. Weniger prestigeträchtig, aber für die Grundsätze der quantitativen Inhaltsanalyse mindestens ebenso erhellend ist folgendes Argument des Engländers Geoffrey Handley-Taylor über Kinderlieder aus Mother Goose: Die durchschnittliche Sammlung von 200 traditionellen Kinderliedern enthält etwa 100 Lieder, die all das verkörpern, was für das Kind begeisternd und vorbildlich ist. Leider enthalten die übrigen 100 Lieder allerlei Unzuträgliches. Die im folgenden aufgeführten Ereignisse finden sich in der durchschnittlichen Sammlung und können als recht zurückhaltende Schätzung auf der Grundlage einer allgemeinen Sichtung dieser Art Literatur gelten: 8 Anspielungen auf Mord (nicht näher bestimmt) 2 Fälle von Tod durch Erwürgen 1 Fall von Tod durch Verschlingen 1 Fall von Tod durch Zerschneiden 1 Fall von Tod durch Erdrücken 1 Fall von Tod durch Verschrumpeln 1 Fall von Leichenraub 1 Fall einer Anspielung auf ein blutendes Herz 8 Fälle von Auspeitschen und Züchtigung mit Ruten 14 Fälle von Diebstahl und Unehrlichkeit im allgemeinen usw. 1 2
Bereits aus dieser Auswahl geht ganz klar das Prinzip hervor: Aus der Häufigkeit bestimmter Themen in einem Textrepertoire werden Schlüsse auf dessen moralische oder gesellschaftliche oder erzieherische oder sonstige Implikationen gezogen. Diese Häufigkeitsanalyse (frequency analysis) beruht auf der Annahme, daß die bloße Häufigkeit, mit der ein Textelement auftritt, anzeige, wie bedeutsam dieses sei. Wenn, wie die Inhaltsanalyse durchaus voraussetzt, auch Namen solche interessierende Textelemente sein können, dann werden bestimmte Vorkommnisse, die man sonst als Auswüchse des Starkults abgeschrieben hätte, als unmittelbare Reaktionen auf diese
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Hypothese verständlich und sinnvoll: Es ist einerlei (so nimmt man wohl an), ob der Name eines Stars in Verbindung mit einer Oscar-Verleihung oder einem Skandal erscheint — Hauptsache ist, man heiratet sich, prügelt sich, trennt sich, versöhnt sich wieder und kommt so in die Medien: nennen wir es den Taylor-Burton-Effekt der angewandten Inhaltsanalyse. Ein solches Beispiel macht die Beschränktheit dieser Annahme wohl schon deutlich genug. Deshalb wurde in einem zweiten Schritt die Wertigkeitsanalyse (valence analysis, direction analysis) entwickelt, die die gezählten Elemente zusätzlich danach einordnet, ob sie in den Texten in einem positiven oder negativen Sinn auftauchen. Damit läßt sich zumindest bestimmen, ob all die „widerlichen Dinge" in einem Märchen befürwortet oder abgelehnt werden; wenn also die böse Stiefmutter am Schluß zur Strafe in glühenden Eisenschuhen tanzen muß, bis sie tot umfällt, dann ist das eine Widerwärtigkeit, die man offenbar genießen soll. In dem Bemühen, die einfache Plus-Minus-Bewertung auch für kompliziertere Fälle einzurichten, wurde als dritter Typ die Intensitätsanalyse (intensity analysis) entwickelt, bei der neben die Skala der Häufigkeit eine zweite Skala tritt, auf der die jeweilige Intensität des Ausdrucks verzeichnet ist. Das vierte und „wichtigste ausschließlich statistische Verfahren" ist die Zwei- und, Mehrkomponentenanalyse (contingency analysis; „Kontingenzanalyse" nach Ritsert), die das „mehr als zufällige gemeinsame Auftreten von einzelnen Schlüsselbegriffen" in Texteinheiten mißt, deren optimaler Umfang jeweils 120 bis 210 Wörter sein soll. 1 3 Eine nicht ganz so dem Zufall überlassene Variante der Mehrkomponentenanalyse bestimmt die Häufigkeit, mit der ein Element x in Relation zu a, b, c usw. in einem Textrepertoire auftritt. In der oben angeführten Kinderliedanalyse könnte beispielsweise einmal gefragt werden, ob und wie oft Mord oder Diebstahl „in Kontingenz" vorkommen; zum andern könnte man die 14 Fälle von Diebstahl weiter auswerten, indem man eine Feinstatistik nach dem Wert des Diebesguts, nach der Stellung des Bestohlenen, nach dem Verhältnis zwischen ihm und dem Dieb usw. aufstellt.
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Häufigkeits-, Wertigkeits-, Intensitäts- und Kontingenzanalyse lassen sich vielleicht ganz passend als die vier Grundrechnungsarten der quantitativen Inhaltsanalyse bezeichnen. Sie können für sich, in Kombination oder als Teil auch recht komplizierter Rechenverfahren verwendet werden. So kombiniert beispielsweise die „Symbolanal y s e " von Lasswell et al., die auf der schlichten Annahme beruht, daß Wörter Haltungen erkennen lassen, da sie „ .Symbole' sind, weil sie für die Haltungen ihrer Benutzer stehen (diese symbolisieren)", u. a. Häufigkeits- mit Wertigkeitsauszählungen in einem chronologischen Bezugsrahmen. 1 4 D i e gemeinsamen Prämissen solcher Analyseverfahren sind mit denen der empirischen Sozialforschung im allgemeinen identisch, die in folgender Grundsatzerklärung kompakt zusammengefaßt sind: Die Grundsatzfragen im Zusammenhang mit allen Forschungsverfahren heben auf die Genauigkeit, die Zuverlässigkeit und die Sachdienlichkeit der erhobenen Daten und ihrer Analyse ab: (1) Wie genau sind die Beobachtungen? (2) Können andere Wissenschaftler die Beobachtungen wiederholen? Und (3) entsprechen die Daten den Anforderungen der Fragestellung, d. h. belegen sie wirklich die Schlußfolgerungen? Wenn die Beobachtungen ungenau sind, nützt es nichts, sie statistisch aufzubereiten. Wenn andere Wissenschaftler sie nicht wiederholen können, so hilft ihre mathematische Verarbeitung auch nicht weiter. Wenn die Daten den Bedingungen einer rigorosen Beweislogik nicht genügen, bleiben die Schlußfolgerungen zweifelhaft. 15
Berelsons bereits zitierte Rahmendefinition der quantitativen Inhaltsanalyse als objektives, systematisches und quantifizierendes Verfahren zur Beschreibung des offenkundigen Inhalts von Mitteilungen entspricht Punkt für Punkt diesen Prämissen des szientifischen Denkens: Bei Berelson bedeutet Objektivität die intersubjektive Nachvollziehbarkeit des Befundes, gemäß dem für die empirischen und experimentellen Wissenschaften geltenden Grundsatz, daß ein Experiment nur dann „steht", wenn es unabhängig von seinem Experimentator ist, wenn es also von anderen mit den identischen Ergebnissen wiederholt werden kann (s. o., Punkt 2: wiederholbare Beobachtungen). Diese Eigenschaft ist für die Inhaltsanalyse um so notwendiger, als die Verarbeitung der großen Textmengen, die sie
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anstrebt, ohne Hilfskräfte und längeren Zeitaufwand nicht durchführbar ist und es für die Zuverlässigkeit des Ergebnisses notwendig ist, daß z. B. alle Verschlüßler gleich, d. h. austauschbar arbeiten und daß die Verschlüßlerentscheidungen während der ganzen Laufzeit der Arbeit nicht variieren. Die Systematik, die Berelson fordert, entspricht in obiger Grundsatzerklärung der „rigorosen Beweislogik", die Quantifizierung der Absicht, vollkommene Präzision zu erreichen (s. o., Punkt 1). Und die Voraussetzung dafür, daß diese drei Grundsätze im Umgang mit Texten verwirklicht werden können, ist eben notwendigerweise die Beschränkung auf das, was bei Berelson der offenkundige Inhalt heißt — das, was an einem Text ohne vorgängige Interpretation erfaßbar ist. Dabei wird man unweigerlich auf das bloße Vokabular verwiesen, auf die „schwarzen Schriftzeichen auf dem weißen Papier". 16 Eine entscheidende Konsequenz dieser Übernahme generell szientifischer Grundsätze für die Verarbeitung von Texten ist es, daß selbst nach Berelson die quantitative Inhaltsanalyse nur auf solche einfache Texte anwendbar ist, die — wie z. B. die „einfache Nachricht von einem Zugunglück" — seiner Meinung nach von allen Lesern gleichermaßen verstanden werden. Die auf der anderen Seite des von Berelson postulierten Textkontinuums angeordneten Texte, die — so Berelson — keine zwei Leser gleich verstehen können (er nennt als Beispiel das „obskure moderne Gedicht"), sind ihr nicht zugänglich: „Die Analyse des offenkundigen Inhalts ist bei solchen Materialien möglich, die auf derjenigen Seite des Kontinuums angeordnet sind, auf der das Verständnis einfach und unmittelbar ist, und nicht auf der anderen." 17 Aus sprach- und literaturwissenschaftlicher Sicht wäre es jetzt einfach, diese in der Paraphrase noch abgemilderten behavioristischen Vorstellungen Berelsons über Sprache, Druckerzeugnisse, Literatur und Dichtung in Frage zu stellen. Kann in einem philosophischen Sinn das Verstehen eines Textes je „einfach und unmittelbar" sein? Bezeichnet „einfach und unmittelbar" hier nicht lediglich den subjektiven Eindruck desjenigen, für den sich bestimmte Verständnisprozesse durch lange Gewöhnung automatisiert haben? Was muß man alles außer acht
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lassen, damit man sagen kann, einfache Nachrichten könne jeder Leser gleich verstehen (in Berelsons Jargon: „every reader will get the same meaning from the content")? Gibt es überhaupt ein Textkontinuum, das das „obskure moderne Gedicht" mit der „einfachen Nachricht vom Eisenbahnunglück" verbindet, oder muß man nicht zumindest dort eine Diskontinuität ansetzen, wo Autoren wie Valéry oder Eliot oder Celan nicht einfach im Sinne der Kommunikationstheorie Bedeutung enkodieren, wenn sie ein Gedicht schreiben, sondern aus sämtlichen Elementen der Sprache Texte so machen, daß die „Bedeutung" als (Berelsons) „Mitbekommen eines Sinns vom Inhalt" nur ein Teil der Struktur und des Sinns des Gedichts ist? Aber auf solche Fragen, die „von außen" auf das unzureichende erkenntnistheoretische Rüstzeug der quantitativen Inhaltsanalyse abzielen (wiewohl es sicher angebracht ist, eine solche Kritik jeweils wenigstens anzudeuten 18 ), kommt es in diesem Zusammenhang weniger an als darauf, wie innerhalb der Sozialwissenschaften selbst solche Kritik laut geworden ist. Sie bezieht sich zum Teil auf Einzelprobleme. So räumt ein Aussagenanalytiker bereits zur Häufigkeitsanalyse ein, man könne sie „nur als ein Maß zur Beschreibung der Aufmerksamkeit verwenden, das einem durch bestimmte Symbolwörter gekennzeichneten Problemkreis in einem Text entgegengebracht wird". 1 9 Man erfährt also auf Zehntelprozente genau, wie sehr einem an einem Text etwas auffallen kann, was einem beim Lesen sowieso aufgefallen ist. Aber ist die einfache Häufigkeitsanalyse nicht noch viel unzureichender? Da ja nur das Vorkommen, nicht die Funktion von Wörtern als Untersuchungsgegenstand zulässig ist, werden zunächst Unterschiede zwischen den Arten von Aufmerksamkeit verwischt, die durch Wiederholung erzielt werden können: Große Häufigkeit eines Wortes kann ebenso ein Indiz für propagandistisches Einhämmern in Politik und Wirtschaft wie für didaktisches Wiederholen in Lehrsituationen wie dafür sein, daß der Autor von einer Idee „besessen" ist oder einen limitierten Wortschatz hat. Es können aber auch — so lautet ein gravierenderer Einwand — Häufigkeiten gemessen werden, die als Aufmerksamkeitssignale weniger oder kaum
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oder überhaupt nicht signifikant sind; die betreffenden Wörter können nämlich in anderen Kontexten durchaus bedeutungsvoll sein, in dem fraglichen Zusammenhang aber so stereotyp wirken, daß sie weder dem Autor noch seinem intendierten Leser, sondern nur dem Statistiker auffallen. Für Kommunikationsfragen (und ein zentrales Einsatzgebiet der Inhaltsanalyse ist ja gerade die Kommunikationsforschung) ist allerdings die Frage, ob der intendierte Leser über das Signal hinwegliest oder nicht, so gut wie die Nagelprobe. Ähnlich danebengreifen muß diese Art der Analyse zum Beispiel bei Versessays, bei denen Anforderungen des Metrums oder Reims, der Diktion oder der Rhetorik Häufigkeiten produzieren können, die sozialwissenschaftlich belanglos sind. Umgekehrt gibt es ganz gängige Aufmerksamkeitssignale, die ohne Wiederholung auskommen und seit eh und je ohnehin wichtiger waren als letztlich abstumpfende Mehrfachnennungen. Solche Kritik von seiten der Rhetorik trifft im Grunde genommen sämtliche Verfahren der quantitativen Inhaltsanalyse. Denn daß die Wertigkeits- und Intensitätsanalyse Kotextsignale mitberücksichtigt, die positive und negative Wertungen oder gar den Grad einer solchen Wertung angeben, ist im Vergleich zu dem Angebot an Wertungs-, Stimmungs-, Haltungs- und Bedeutungssignalen, die jeder sorgfältig verfaßte Text demjenigen anbietet, der an Cicero und Quintilian geschult ist, von der Subtilität eines Panzers beim Anlegen von Gartenwegen. Man könnte auch sagen: Auch die Inhaltsanalytiker bemerken, daß sie vergröbern müssen, um diejenige Präzision zu erreichen, deren das Quantifizieren fähig ist. Nur drücken sie das anders aus, etwa so: A u f jeden Fall ist es oft äußerst kompliziert, die Verschlüßler auf ihre Aufgabe [das Reduzieren von Textvielfalt auf statistische Daten] ausreichend vorzubereiten und die Verschlüßleranweisungen so zu formulieren, daß sie auch bei einer in bezug auf den Textinhalt relevanten Verschiedenartigkeit der Prädispositionen von Verschlüßlern eine annähernd zuverlässige Abgrenzung zwischen alternativen Richtungen von Stellungnahmen zu Schlüsselkategorien leisten . . .
gewähr-
J e differenzierter die Einstufungsmöglichkeiten für die Stellung-
nahmen sind, desto schwerer ist die Vorgabe von operationalen Anweisungen, die die Verschlüßler in die Lage versetzen, zuverlässige Arbeit zu leisten. 2 0
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Das heißt im Klartext, daß die Annahme eines manifesten, für jeden Leser gleichermaßen offenkundigen Textinhalts, auf dem die gesamte quantitative Inhaltsanalyse als auf einem ihrer Ecksteine ruht, spätestens dann aufhört zu existieren, wenn es daran gehen soll, selbst an einfachen Texten ä la Berelson die Wertigkeit einer Aussage numerisch zu bestimmen. Insbesondere diese Annahme eines offenkundigen Inhalts (und mit ihr auch die anderen Prämissen einer quantitativen Inhaltsanalyse) sind darum auch innerhalb der Sozialwissenschaften selbst auf eine Weise in Frage gestellt worden, die einen Literaturwissenschaftler interessieren kann: Es handelt sich um Überlegungen, die schließlich zur Forderung geführt haben, die Inhaltsanalyse auf eine „qualitative" Grundlage zu stellen. III. DIE HERAUSFORDERUNG DER QUALITATIVEN INHALTSANALYSE
Zunächst einmal ist es wichtig festzuhalten, daß „qualitativ" in diesem Zusammenhang nichts mit „Wert" oder „ G ü t e " zu tun hat — eher im Gegenteil. Mit diesem Wort hat nämlich schon Berelson alle nicht-quantifizierenden Verfahren für den Umgang mit Texten bezeichnet („non-numerical content studies"), zu denen er einen großen Teil der Literaturkritik und der Geistes- und Kulturgeschichte sowie der politischen Geschichte, der Philosophie der Politik, der Sozialphilosophie und der Rhetorik zählt — „überall dort, wo auf sorgfältige Textlektüre die Zusammenfassung und Interpretation dessen folgt, was im Text erscheint". 21 Genau genommen verwendet Berelson die Modifikation „qualitativ", um einen Mangel festzustellen: die fragliche Untersuchung quantifiziere noch nicht genug, sie sei nur „quasi-quantitativ". In ihr blieben entscheidende Faktoren „unkontrolliert", wie es in seiner szientifischen Ausdrucksweise heißt. So zählt Berelson eine ganze Reihe von Beispielen unvollständiger, ungenauer, versteckter „Quantitätsangaben" in wissenschaftlicher Literatur auf: „lay (much) stress on, more apt to, placed high in the world's esteem; clear emphasis;
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dominant; all, incessantly, repeatedly, rarely, never" usw.; er selbst erlaubt sich gelegentlich selbst eine solche Unvollkommenheit und schreibt: „Typical sentences . . ," 2 2 Damit das „Qualitative" auf die höhere Stufe des „Quantifizierenden" gehoben werden kann, müssen (um Berelson zusammenzufassen) „two Imps and an Inc" vertrieben werden: impressionism, imprecisión, incompleteness — auf Eindruck, Schätzung und Teilauszählung beruhende Argumente. In diesem Sinne bezeichnet „qualitativ" für alle überzeugten Quantifizierer das, was noch nicht verrechenbar und komputergerecht gemacht worden ist, also die Relikte menschlicher Reaktionsweisen in zusammenfassenden Darstellungen: „Gewisse qualitative, d. h. subjektive Abweichungen müssen in Kauf genommen werden und bei der Beurteilung unserer scheinbar quantitativen, d. h. objektiven Zahlen berücksichtigt werden." 23 Wie nett — und wie nett auch, daß auch dieses Mal die Abweichungen durch das qualitative „gewisse" modifiziert bleiben dürfen. Der Vollständigkeit halber muß erwähnt werden, daß schon Berelson eine zweite Art „qualitativer" Inhaltsanalyse beschreibt, bei der es nicht auf Meßwerte, sondern nur auf das Vorhandensein oder Fehlen eines Schlüsselbegriffs ankommt. Wenn beispielsweise in offiziellen Berichten ein Name (z. B. Stalin), der in bestimmten Situationen bis dahin immer genannt worden ist, nicht mehr vorkommt, so kann dieses auffällige Fehlen ein Indiz von größter Bedeutung sein; A. L. George ist einer der Inhaltsanalytiker, die Untersuchungen dieser Art besonders vorangetrieben haben.24 Allerdings läßt sich auch dieses Verfahren als ein noch unvollständig quantifizierendes beschreiben: Seine (sogar komputergerechte binäre) Formulierung gelingt, indem man das Fehlen eines erwarteten Signals als den „Nullfall" seines Auftretens („1") bezeichnet. Diese Definitionen des Qualitativen beruhen also noch fest auf den Grundlagen der quantitativen Inhaltsanalyse. Das erste wichtige sozialwissenschaftliche Dokument, das sich dagegen wehrt, das „Qualitative" so einfach ins „Quantitative" einzugemeinden, ist Siegfried Kracauers Aufsatz „The Challenge of Qualitative Content Analysis". 25 Zwar knüpft Kracauer unmittelbar an Überlegungen der
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quantifizierenden Schule an, entwickelt und wendet sie aber so, daß sein Argument letzten Endes das Fundament der quantitativen Inhaltsanalyse zerstört. Er tut dies in drei Schritten: Erstens erweitert er das limitierte Kontextargument, das in der Kontingenzanalyse eine Rolle spielt, indem er feststellt, die bloß statistische Zusammenfassung isolierter Textelemente könne einem Text — selbst einem einfachen — unter keinen Umständen gerecht werden, weil sich die jeweilige Bedeutung erst aus dem Verständnis des Textzusammenhangs ergebe. Daraus folgt zweitens, daß selbst das einmalige Auftreten eines Elements an einer strukturell hervorgehobenen Stelle signifikanter sein könne als jede statistische Häufigkeit von Elementen in untergeordneten Positionen. Indem sich Kracauer so für die Struktur und gegen die Statistik ausspricht, wendet er sich gegen den grundlegenden Fehler der quantitativen Inhaltsanalyse, der darin liegt, daß sie das Zählen dem Verstehen vorzieht. Drittens räumt Kracauer auch mit der Grundannahme der qualitativen Analyse auf, daß es so etwas wie eine offenkundige Bedeutung gebe: Wörter, so sagt er, bringen grundsätzlich multiple Konnotationen ins Spiel, so daß die Eindeutigkeit eines Textes immer nur scheinbar ist. 2 6 Daraus folgert Kracauer zurecht, daß der statistischen Auswertung in jedem einzelnen Fall eine Interpretation vorausgehen müsse. Die quantitative Analyse überspringt diese notwendige Phase einfach. Kracauer kehrt also die Stoßrichtung von Berelsons Argument gegen ihn zurück: Berelson hatte den „qualitativen Verfahren" (nach Kracauer kann man jetzt ungeniert „interpretatorisches Verstehen" sagen) vorgeworfen, sie ließen zu viel unbelegt, vor allem Mengenangaben („unkontrollierte Faktoren"). Kracauer dagegen zeigt, daß gerade die quantitativen Verfahren mit ihrer Annahme des spontanen Verstehens in der alles entscheidenden Phase der Textauffassung alle Kriterien und „Kontrollen" über Bord geworfen haben. Was ist nun für die Präzision des Textverständnisses abträglicher, der Impressionismus unvollständig durchgeführten Zählens oder der des unvollständig beglaubigten Verstehens?
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Von einem literaturwissenschaftlichen Standpunkt aus wird man feststellen dürfen, daß Kracauer eigentlich nur Einsichten bekräftigt, die zur Grundausrüstung eines jeden Literaturwissenschaftlers gehören. In seinem Ko-Textargument, wonach sich der Sinn eines Textelements nur aus dem Verständnis der Gesamtstruktur voll ergibt, zu dem es seinerseits beiträgt, ist der Grundsatz der organischen Form und demzufolge auch der des hermeneutischen Zirkels erkennbar. Wenn Kracauer betont, daß ein einziges Wort, auch wenn es in einem Text nur ein einziges Mal auftaucht, den ganzen Rest an Bedeutung überwiegen kann, so bestätigt er damit den sogenannten „formalistischen" Grundsatz, daß es in einem jeden Werk strukturell hervorgehobene Punkte gibt, die Schürzung des Knotens z. B., die Peripetie, das Dénouement, die bewirken, daß Elemente, mit denen sie besetzt sind, eine vergleichsweise große Gewichtigkeit gewinnen, auch wenn sie statistisch vernachlässigbar sein sollten. Und Kracauers Plädoyer dafür, die latente Bedeutung von Texten voll anzuerkennen, bestätigt den Literaturwissenschaftler in seiner Uberzeugung, daß es ohne Werkinterpretation kein Werkverständnis gibt, daß dieses Werkverständnis weder auf einen global zu beschreibenden Entstehungszusammenhang noch auf einen Konsumtionszusammenhang reduziert werden kann, sondern daß es ganz wesentlich erst durch die verstehende Aktivität des Interpreten konstituiert wird. Kracauer und neuerdings auch Jürgen Ritsert, der dessen über die Frankfurter Schule der spekulativen Sozialwissenschaft zu ihm gekommene Argumente weiterentwickelt, sprechen sich also von sehen der Sozialwissenschaft für ein werkimmanentes Interpretieren als Ausgangspunkt jeder weitergehenden Überlegungen und Zusammenfassungen aus. Ein Schlüsselsatz bei Ritsert lautet: „Bei der Entfaltung eines Kontextes oder Syndroms [damit meint Ritsert so etwas wie „gesellschaftliche Zusammenhänge"] geht es nach unserer Auffassung darum, losgelöst von aller vorgängigen Rücksicht auf Absichten und Wirkungen eine im Text objektiv gegebene Konfiguration von Motiven, Themen, Sinnimplikationen herauszustellen, die sich zu einem einheitlichen Muster . . . zusammenfügen lassen." 2 7 An
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anderer Stelle spricht er ausdrücklich vom Strukturzusammenhang eines Werks. Und auf dieser Prämisse stellt er dann einige Hinweise für die Werkinterpretation zusammen, gegen die es aus literaturwissenschaftlicher Sicht keine schwerwiegenden Einwände gibt; sie bleiben auf dem einer Einführung entsprechenden einfachen Niveau. Insoweit hat also „Sozialwissenschaft '72" den Stand der Literaturtheorie '47 erreicht28 — die natürlich auch nicht das letzte Wort ist, freilich aber zugleich ein Niveau markiert, unter das auch der soziologisch interessierte Literaturwissenschaftler nicht zurückfallen kann, ohne sich unnötig zu bornieren. Die durch den Aufsatz Kracauers und das Büchlein Ritserts angedeutete historische Linie der qualitativen Inhaltsanalyse ist eine der ganz entscheidenden Entwicklungen innerhalb der textbezogenen Sparte der empirischen Sozialwissenschaft und könnte denjenigen, die eine sozialwissenschaftliche Begründung der Literaturwissenschaft suchen, als Hinweis darauf dienen, daß auch eine sozialwissenschaftlich orientierte Beschäftigung mit Texten bestimmte zentrale literaturwissenschaftliche Einsichten und Methoden nicht ignorieren kann, wenn sie mitreden können will. Die Literaturwissenschaft ist wohl deswegen früher als die Sozialwissenschaft zu solchen Einsichten gelangt, weil sie sich bisher zu ihrem Vorteil mit den komplexesten Texten beschäftigt hat, die es gibt, und nicht so sehr mit den stereotypen. Diese Feststellung heißt aber nicht, daß es jetzt möglich und an der Zeit wäre, die über eine qualitative Analyse zu einem hermeneutischen Textverständnis gekommene textbezogene Sozialwissenschaft in dieser Form voll in die Literaturwissenschaft zu integrieren. Noch klafft eine Lücke — und ob diese zu schließen ist, ohne daß entweder die Literatur- oder die textbezogene Sozialwissenschaft zuviel von ihrer Substanz aufgeben muß, ist ungewiß. Denn die Beschränkung, die Ritserts Ansatz nach wie vor zeigt, ist eine für die Sozialwissenschaft freilich legitime und deshalb wohl für ihn unvermeidliche Verengung: Ritsert stellt seine hermeneutischen Überlegungen zur Möglichkeit, die latenten Bedeutungen eines Textes aufzuschließen und damit seine singuläre Sinnstruktur zu verstehen, allein
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und ausschließlich auf die Erkenntnis des gesellschaftlichen Gehalts seiner Texte ab. Das ist als Sozialwissenschaftler sein gutes Recht. Das interessiert ihn. Dort liegt seine besondere Kompetenz. Aber wie ein Seemann, zu dessen besonderer Kompetenz der feste Gang auf schwankenden Schiffsplanken gehört, notwendigerweise in den unpraktischen rollenden Seemannsgang verfällt, wenn er sich aufs feste Land begibt, so erweist sich die sozialwissenschaftliche Kompetenz für die Erfassung des gesellschaftlichen Gehalts von dokumentarischen Texten überall dort als antrainierte Inkompetenz, wo sich Sozialwissenschaftler mit ihren szientifischen Interessen auf den Boden künstlerischer Texte begeben. Sicher kann den meisten literarischen Texten ein gesellschaftlicher Gehalt zugeschrieben und allen ein solcher unterschoben werden. Doch die Annahmen Ritserts müssen insoweit ergänzt werden, als in literarischen Texten der gesellschaftliche Gehalt durch andere „Gehalte" — um einmal diese der Inhaltsanalyse entnommene Vokabel für den weiteren Verlauf dieser Überlegungen probeweise zu benutzen — relativiert, ja, meist sogar erst vermittelt wird und daß jemand, der wie Ritsert absichtlich diesseits des „ästhetischen Gehalts" stehenbleibt,29 auch leicht den „gesellschaftlichen Gehalt" mißversteht, weil er ihn nur substantiell auffassen kann. Noch einmal: Für die Sozialwissenschaft ist es legitim, sich auf den „gesellschaftlichen Gehalt" eines Textes zu konzentrieren — wie immer sie ihn definieren mag. Bei nur einigermaßen komplexen Texten wird es ihr aber nicht gelingen, ihn hervorzuheben, ohne die anderen Gehalte ebenfalls zu verstehen. Dabei kann sie sich getrost auf die Ergebnisse der Literaturwissenschaft verlassen, deren besondere Kompetenz ja in der Erhellung der Texttotalität gerade schwieriger Texte liegt. Im folgenden Beispiel sollen Andeutungen solcher Zusammenhänge, keinesfalls fertige Rezepte gegeben werden.
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IV. DER „GESELLSCHAFTLICHE GEHALT" UND SEINE BRÜDER: KEN KESEYS ROMAN SOMETIMES A GREAT NOTION
Gesetzt den Fall, der Eigentümer eines ausschließlich aus Familienangehörigen bestehenden und deshalb nicht bestreikbaren Holzfällerbetriebs in Oregon hat es vertraglich übernommen, eine außergewöhnlich hohe Quote Stammholz an eine Holzverarbeitungsgesellschaft zu liefern, die dadurch in die Lage versetzt wird, einen Streik ihrer eigenen Waldarbeiter zu unterlaufen. Ein solches Thema — zumal wenn es die Auswirkungen des Streiks wie des unabhängigen Verhaltens des Familienbetriebs auf die betroffene Bevölkerung sowie auf deren Verhältnis zu den Angehörigen des Familienbetriebs einbezieht — knistert nur so von „gesellschaftlichem Gehalt". 30 Wenn hinzukommt, daß der genannte Vertrag mit einer strikt terminierten Erfüllungsklausel versehen ist, so befindet sich der Familienbetrieb freilich ebenfalls in einer Zwangslage. Er hat sich freiwillig zu einem Objekt der Ausbeutung machen lassen und reproduziert deshalb in sich selbst Ausbeutungsverhältnisse. So jedenfalls muß es der jüngere der beiden Stiefbrüder sehen, der auf der Flucht vor sich selbst seine Zeit bisher recht sinn- und lustlos an einem Ivy-League-College vertrödelt und verhascht hat und der nach dem Motto „alle Mann an Deck" als letzter noch verfügbarer Familienangehöriger zur Mitarbeit an dem Riesenprojekt aufgefordert worden ist. Er nimmt die Einladung an, zum einen, weil er gerade eine Zimmerexplosion verursacht hat und wieder einmal vor der Verantwortung flieht, zum andern, weil die Einladungskarte in den markanten Schriftzügen seines älteren Stiefbruders den Zusatz trägt: „You should be a big enough guy now, bub" („Jetzt solltest du groß genug sein, Bubi"). Hiermit geht der „gesellschaftliche Gehalt" (der freilich mit der angedeuteten Streiksituation nur in einem — wenn auch besonders wichtigen — Aspekt gefaßt ist) eindeutig in den psychologischen Gehalt über, und wenngleich beide nicht nur an solchen entscheidenden Kontaktpunkten miteinander verflochten sind, sondern auch sonst oft koexistieren (so in der eigentümlichen Beziehung des alten Boney Stokes zu Henry Stamper etwa oder in dem naiven
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Verhältnis, das Simone gleichzeitig zur heiligen Jungfrau und allen greifbaren Männern unterhält), so besitzt der psychologische Gehalt doch eine nicht auf gesellschaftliche Bezüge reduzierbare Eigengesetzlichkeit. Denn die Herausforderung „you should be a big enough guy now" ist nur deshalb gleichsam als Köder so wirksam, weil sie die verzweifelte Drohung des kleinen Lee wieder aufnimmt, die dieser vor Jahren bei seiner Abreise nach dem Osten in ohnmächtigem Haß auf den etwa zehn Jahre älteren Hank gestammelt hat, „You just wait t i l i . . . tili I'm a big guy" („Warte nur, bis ich groß bin"). Und diese Verzweiflung, dieser Haß, diese Wut rühren daher, daß Lee als Kind durch einen Spalt in der Wand seines Schlafzimmers in das seiner Mutter schauen konnte und dort mit ansehen mußte, wie Hank seiner jungen Stiefmutter nächtliche Besuche abstattete. Dieses Erlebnis mütterlichen Liebesentzuges, diese auf den Halbbruder fixierte Variante des Ödipuskomplexes ist das Trauma, aus dem heraus Lee das Gegenbild Hanks geworden ist — ein Bücherwurm, der körperlichen Arbeit entwöhnt und schließlich auch des Studiums überdrüssig, drogenabhängig und lebensmüde. Bei der Entstehung dieses Traumas, das mächtig genug war, ein ganzes Leben zu motivieren, waren mit Sicherheit keine der vielberufenen „gesellschaftlichen Kräfte" zugange. Denn die Tatsache, daß die zweite, junge Frau des alten, naturverbundenen Holzfällers Henry Stamper aus Oregon eine New Yorker Debütantin und College-Absolventin war, spielte für ihr Verhältnis zu ihrem Stiefsohn Hank überhaupt keine Rolle im Vergleich zu dem Altersunterschied von einer Generation, der sie von ihrem Mann trennte — mit allem, was das auch physiologisch bedeutet. An diesem folgenreichen Motivationskern ist demnach kein „gesellschaftlicher Gehalt" angelagert, sondern ein familiärer — und im Rahmen der Freudschen psychoanalytischen Prämissen, die auch für diesen Roman 31 gelten, sind die Familienverhältnisse die prägenden Kräfte der psychischen Entwicklung, da die Familie und nicht „die Gesellschaft" die Bezugsgruppe der ausschlaggebenden Kleinkind- und Kindheitserlebnisse ist. Aus diesem Grund kann der familiäre „Gehalt" insoweit als identisch mit dem psychologischen angesehen werden.
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Das für den Fortgang des Romans entscheidende Moment dieses psychologischen Gehalts ist die Tatsache, daß Lee die Herausforderung Hanks nun annimmt, nach Oregon kommt und auf Rache sinnt. Dazu verfällt er nach einigem Suchen auf die Idee, in Umkehrung seines traumatischen Erlebnisses nun seinerseits Hank dessen junge Frau Viv wegzunehmen, und er verfolgt dieses Ziel mit dem ganzen psychologischen Geschick des Neurotikers. Es ist faszinierend mitzuverfolgen, wie aus absichtslosen Worten und Gesten allmählich absichtlich absichtslose Äußerungen werden, zu beobachten, wie der Ränkeschmied sein Opfer auf seine Verwundbarkeit hin beobachtet, daran beteiligt zu sein, wie Lee immer wieder und selbst noch im letzten Moment an eigenen Skrupeln zurückschreckt, bis Viv selbst schließlich aus der Situation heraus zur Komplizin wird. Bis ins letzte auf diese Weise psychologisch vorbereitet, tritt im Augenblick des Vollzugs der Rache aber auch der psychologische Gehalt hinter ein anderes Moment zurück, das die ganze Zeit latent anwesend war, jetzt aber seinerseits in seiner Eigengesetzlichkeit erkennbar wird, weil es sich von seiner Umgebung löst und in den Vordergrund tritt: Die realistischen Umstände sind nämlich der Rache Lees im entscheidenden Augenblick überaus günstig: Viv ist allein zu Hause. Das Haus liegt abseits, jenseits des Flusses, nur mit einem Boot erreichbar. Der Fluß führt gefährliches Hochwasser. Lee fährt mit dem einzigen Boot, das weit und breit zu haben ist, hinüber. Jetzt, glaubt er, hat er hinter diesem „Burggraben" Zeit, Viv seinem Stiefbruder wegzunehmen. Hank hat sich — das ist bekannt — an diesem letzten Arbeitstag restlos verausgabt. Er konnte seinen engsten Freund trotz aller Anstrengungen nicht retten, als dieser,, von einem fallenden Baum im Wasser festgeklemmt, im steigenden Fluß ertrinkt. Er muß seinen achtzigjährigen Vater, dem derselbe Unfall einen Arm gekostet hat, ins Krankenhaus bringen. Er selbst wird auf dem Heimweg von einer Bande geheuerter Schläger verprügelt. Dennoch gelingt ihm das Menschenunmögliche: Er durchschwimmt den reißenden Fluß und kehrt nach Hause zurück.
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Wenn der Leser spätestens seit S. 135 genau weiß, daß Lees psychische Wunde daher rührt, daß er als Zehnjähriger von seinem Zimmer aus durch ein Wandloch im benachbarten Zimmer seiner Mutter diese zusammen mit ihrem Stiefsohn Hank beobachtet hat, und wenn er 360 Seiten später miterlebt, wie Lee bemerkt, daß er nun in seinem Zimmer zusammen mit Hanks Frau Viv von diesem durch dieselbe Ritze aus dem benachbarten Zimmer, das jetzt Viv gehört, in umgekehrter Richtung beobachtet wird, so ist dies weit mehr als eine psychologische Wende. Der psychologische Gehalt wird vielmehr transzendiert. Denn das Unmögliche erweist sich im Roman als das vom Autor Arrangierte. Vorbild und Spiegelbild sind damit ganz deutlich als Konfigurationen enthüllt, als Konstrukte erzählerischer Erfindung und Komposition. An Stellen wie diesen tritt also das kompositorische Moment, das jedem Roman als Fiktion notwendigerweise eigen ist, aus seiner Verflechtung mit den anderen Aspekten, die es sonst vermittelt und mit denen es vermittelt ist, in seinem eigenen Recht klar erkennbar zutage. Hier enthüllt sich der weder auf das Psychologische noch auf das Soziologische reduzierbare artistische Gebalt eines gestalteten Sprachgebildes. Ein zweites Moment dieses artistischen Gehalts von Keseys zweitem Roman ist eine Eigenheit, die zunächst als überaus verwirrender Stilzug auffällt: Wenn sich in der Fabel parallele Handlungsstränge einander nähern, greift der Autor zur Simultanschilderung: im Fall des eben skizzierten Höhepunkts ist die Schilderung der Szene in Lees Zimmer immer wieder durch eingesprengte Gedanken des heimkehrenden Hank unterbrochen. Der Roman liest sich so über weite Strecken wie zwei miteinander verflochtene Icherzählungen derselben Begebnisse, verbunden mit Erzählpassagen in der dritten Person. 3 2 Dieses Stilmittel, das an Stellen höchster Erregung so weit getrieben wird, daß die zwei Ebenen nicht nur in übersatzmäßigen Strukturen miteinander verbunden werden, sondern daß ihnen entlehnte Satztrümmer innerhalb einer durchgehenden Syntax zusammengeworfen werden, symbolisiert ein hohes Maß an emotionaler Verwirrung.
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An anderen Stellen wird eine ähnliche Fraktionierungstechnik dazu verwendet, auch mehr als nur zwei Perspektiven oder Situationen miteinander zu verbinden. Im folgenden Beispiel ist Wakonda die kleine Holzfällerstadt, in der und um die herum die Ereignisse spielen; der Name Hank ist bekannt; die anderen Namen benennen Einwohner dieses Ortes: In Wakonda, the Real Estate Man finishes his carving and places it alongside the others; well, the face doesn't resemble the general this time, by gosh — although there is something kind of familiar about the features, ridiculously familiar, frighteningly familiar — and he feels the carving knife go sweaty in his palm. And in Portland, Floyd Evenwrite turns his practiced cursing on the union flunky who has not made a duplicate and won't be able to compile a report in less than two weeks because he is going to the hospital in the morning to have a hernia tucked . . . the damn little snakel And Simone falls asleep before her candlelit Virgin, certain that the little wooden figure is convinced of her purity, but more than ever tangled in her own doubts. And Jenny rises from bed with a pain in her stomach, throws the leftovers of her broiled tree toads into the slop jar, and burns her illustrated copy of Macbeth in the stove. And the old boltcutter, having shouted so long across the river and drunk so much thunderbird, begins to forget that the voice calling to him is his own. And the vines and tides climb; and mildew stalks the front-room rug where Hank left wet footprints; and the river roams the fields like a glistening bird of prey. 33 In Wakonda beendet der Grundstücksmakler sein Schnitzwerk und stellt es neben die anderen: Nun, diesmal ähnelt das Gesicht nicht dem des Generals, Sackzement nochmal — wiewohl da doch etwas irgendwie Bekanntes dran ist, etwas ganz lachhaft Bekanntes, ganz entsetzlich Bekanntes — und er fühlt, wie das Schnitzmesser in seiner Hand klamm wird. Und in Portland läßt Floyd Evenwrite seine wohltrainierten Flüche auf den Gewerkschaftsmenschen los, der keinen Durchschlag aufbewahrt hat und den Bericht nicht vor zwei Wochen wieder zusammen haben wird, weil er morgen für eine Bruchoperation ins Krankenhaus muß, dieses miese Scheusal, dieses! Und Simone schläft vor der kerzenerleuchteten Muttergottes ein, sicher in ihrer Gewißheit, daß die Holzstatuette von ihrer Reinheit überzeugt ist, aber mehr denn je von ihren eigenen Zweifeln bedrückt. Und Jenny steht von ihrem Bett auf, mit Schmerzen im Leib, und wirft die Reste der geschmorten Baumkröten in den Abfalleimer und steckt ihren illustrierten Macbeth ins Feuer. Und der alte Riegelmacher, der nun schon so lange über den Fluß hinübergerufen und so viel Feuerwasser getrunken hat, fängt zu vergessen an, daß die Stimme, die zu
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Wider den voreiligen Soziologismus ihm herüberklingt, seine eigene ist. Und die Ranken klettern, die Fluten steigen, und Mehltau schleicht sich ein auf dem Wohnzimmerteppich, wo Hank mit nassen Füßen hingetappt ist, und der Fluß schweift durch die Felder wie ein funkelnder Greifvogel.
Diese Vignetten-Montage entwirft in ihrer suggerierten Gleichzeitigkeit ein Panorama der Kleinstadt Wakonda zu dieser späten Abendstunde. Damit stellt sich der Roman aber keineswegs in die Tradition der sozialkritisch-realistischen Kleinstadtromane und -panoramen der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts. Sherwood Anderson und Sinclair Lewis sind nicht die traditionsbildenden Bezugspunkte. Eine Passage wie diese, die ständig auf der Grenze zwischen Sympathie und Ironie balanciert (mit Babbitt verlor Lewis endgültig die einfühlende Sympathie für seine Figuren), ist den Texten, die der Regisseur in Our Town zu sprechen hat, nicht unähnlich. Aber auch diese Parallele trägt nicht weit: Mit der kleinbürgerlichen Wohlanständigkeit von Thornton Wilders Stück, die alles irgendwie auch nur entfernt Suspekte ins polnische Viertel jenseits der Eisenbahnstrecke verbannt, hat Kesey nichts im Sinn. Er stellt sich entschlossen auf die „falsche Seite" der Eisenbahn, mitten hinein in eine mit liebenswerter Einfühlung und zugleich abwägender Distanz geschilderten Welt der alkoholgeschwängerten und sexberauschten Hochstimmung mit deren Kehrseite, der teils nach außen gerichteten, teils introvertierten Gewalttätigkeit. Könnte man z. B. den Grundstücksmakler, der seine Ängste in die kleinen Holzfiguren hineinschnitzt (die zunächst General Eisenhower ähneln), nicht als Reinkarnation von Lord Cutglass verstehen, der seine Neurosen mit einem Wald tickender Uhren umstellte? Ist Simone, die allen Männern gehört, „every Tom, Dick, and Harry", und die dennoch ihre Reinheit der heiligen Jungfrau geweiht hat, nicht vielleicht eine gar nicht so entfernte Kusine von Polly Garter? Könnte deshalb Keseys Roman Sometimes a Great Notion nicht auch Under Rain Forest heißen, oder: An American Under Milk Wood? Der das Poetische ironisierende poetische Ton, der in der Schlußpassage der zitierten Stelle anklingt („And mildew stalks, the vines and tides climb . . .") ist doch aus Dylan Thomas' Rundfunkpanorama für Stimmen, wo er freilich mit größerer
Zusammenfassende Bemerkungen
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Virtuosität und Konsequenz durchgehalten ist, noch deutlich im Ohr. Wie dem auch sei: Beobachtungen wie diese sind einem vierten Element literarischer Werke, dem literaturhistorischen Gehalt, auf der Spur. Fixiert ist er mit diesen wenigen Bemerkungen keineswegs, genausowenig wie sich nach dieser Skizze die Struktur des Romans als Ganzes abzeichnet. Die vier Gehalte treten noch in anderen signifikanten Konstellationen auf. So kommt es ganz am Schluß zu einer Aussöhnung der beiden feindlichen Halbbrüder. Und während sie gemeinsam das gigantische Floß — ihre Baumstammernte also — flußabwärts bugsieren, vom Ufer aus von den Streikenden angepöbelt, den mitgeführten Arm ihres Vaters zu einer Geste zusammengeschnürt, die das amerikanische Äquivalent des Götzgrußes ausdrückt, werden sie plötzlich als die beiden Sub-personae der Vitalität und der Neurose erkennbar, die nun, zum vollen Ich vereint, stark genug sind, dem „Uber-Ich", der „Gesellschaft" aus dem Ruin heraus in übermütiger Selbstsicherheit Paroli zu bieten.34 Dieser Schluß — mit Sicherheit eine entscheidende Stelle eines jeden Romans — zeigt hier sogar den „gesellschaftlichen Gehalt" in Abhängigkeit vom psychologischen. Eine Einbeziehung anderer Gehalte — ein psychedelischer ist mit Sicherheit erkennbar, ein religiöser und ein moralischer in Andeutungen; und was ist mit dem beherrschenden Humor? wem soll er zugeschlagen werden? — zeigt diesen Roman in einer solchen Komplexität, daß seine Reduktion auf einen beliebigen Gehalt bereits eine Verfälschung ist.
V. ZUSAMMENFASSENDE BEMERKUNGEN
Es hat sich mithin gezeigt, daß diejenigen Verfahren zur Sichtung, Ordnung und Zusammenfassung der Bedeutung von mannigfaltigen und umfangreichen Textbeständen, die innerhalb der empirischen Sozialwissenschaften zunächst auf ausschließlich quantitativer Grundlage eingeführt, entwickelt und durchaus auch verfeinert worden sind, durch Kritik aus den Reihen der Sozialwissenschaftler
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Wider den voreiligen Soziologismus
selber so stark modifiziert worden sind, daß die quantitative Ausschließlichkeit zugunsten einer hermeneutischen Orientierung überwunden und Anschluß an die literaturwisschenschaftlich gesicherte Art des Textstudiums — beinahe — erreicht werden konnte. Die Einschränkung ergibt sich daraus, daß es für die Sozialwissenschaft durchaus legitim ist, sich auf den „gesellschaftlichen Gehalt" von Texten zu konzentrieren, es aber unweigerlich zu Mißverständnissen, zu Reduktionen führt, wenn der Blick auf einen einzigen „Gehalt" fixiert bleibt35 und diejenigen Bereiche außer acht gelassen werden, die erst in ihrer Gesamtheit das vielfältige und facettenreiche sprachliche Werk konstituieren, das beispielsweise Keseys Roman Sometimes a Great Notion mit Sicherheit ist. Eine jede dieser Facetten, ein jeder Aspekt, ein jeder „Gehalt" kann an für ihn signifikanten Stellen so konzentriert aufgefaßt werden, daß er für den Moment der Untersuchung in seiner Eigengesetzlichkeit als das erkennbar wird, was er durch die anderen für die anderen ist. Unter dem aktuellen Zeichen des Verhältnisses von Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft kommt der Feststellung eine besondere Bedeutung zu, daß die isolierende Betrachtung des „gesellschaftlichen Gehalts" allemal zu kurz greift, weil das sprachliche Kunstwerk die Wirklichkeit der Gesellschaft, die in es eingeht, verrät. Das ist nicht ohne Hintersinn gesagt. Aber an dieser Multivalenz kommt der soziologisch interessierte Literaturwissenschaftler nur vorbei, wenn er sich von aktuellen Erkenntnissen der Literaturwissenschaft wie der Sozialwissenschaft abschottet. Die Einsicht, daß sich die Sozialwissenschaft über Gebühr borniert, wenn sie im Umgang mit Texten literaturwissenschaftliche Grundkenntnisse in den Wind schlägt, zeichnet schon Ritserts Büchlein bis zu einem gewissen Grade aus. Und die Literaturwissenschaft stellte sich dümmer, als es selbst die Sozialwissenschaft erlaubt, wenn sie es sich in deren abgelegten Kleidern gemütlich machen wollte.
Marxismus und Literatur: eine anhaltende Kontroverse I. ZUSAMMENHÄNGE
Der Marxismus war einmal eine geistige Herausforderung, doch das ist lange her. Inzwischen ist er, wie beispielsweise die Scholastik oder der Calvinismus, zu einem Gegenstand der Geistesgeschichte geworden. Was Marx (oder Engels) ursprünglich gesehen und gedacht hat, ist — sofern es stichhaltige Beobachtungen und Gedanken waren — in jenes Reservoir von Haltungen und Ideen eingegangen, in dem auch die Gedanken von beispielsweise Augustinus oder Thoreau oder Benda in freier und gleicher Konkurrenz verfügbar sind und aus dem ein jeder nach seinen Kenntnissen und intellektuellen Fähigkeiten das an Hinweisen, Anregungen und Vorschlägen schöpfen kann, was ihm für seine eigene gegenwärtige Beschäftigung besonders hilfreich erscheint. Daß der Marxismus dennoch als geschlossenes, exklusives, abstoßendes — da dogmatisches und autoritäres — System des Nachsagens, Emotierens und Handelns weiter gedeiht, hat seine eigenen Gründe, die hier nur angedeutet zu werden brauchen. Kurt Sontheimer hat einige davon erst kürzlich beredt dargelegt, ohne freilich in den Konsequenzen weit genug zu gehen. 1 Angesichts der Anstrengung des Geistes, die eigenständiges Forschen und Denken verlangt, ist es ohne Zweifel verlockend, sich in eine „Theorie" zurückzulehnen, die jedem ein definitives und unzerstörbares Wissen verheißt, der nur ein paar kanonische Schriften einzulernen und nachzubeten versteht, und die zudem vorgibt, sie werde hierzulande aus finsteren Gründen unterdrückt. Der Marxismus als Weltanschauung verbindet so geistige Bequemlichkeit mit der Prätention kritischer Haltung,
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Marxismus und Literatur
Besserwisserei mit Jasager-Mentalität. Er ist sozusagen der Fernsehsessel des mit sich und der Welt Unzufriedenen. Daß er sich in den vergangenen Jahren als „neu" und „links" herausputzen konnte, verdankt er wohl politischen und geographischen Umständen: Als eine den Staat tragende und vom Staatsapparat getragene Ideologie einer imperialistischen Macht, deren Ausdehnungsdrang uns und unsere Nachbarländer seit geraumer Zeit und auch heute noch bedroht, wurde der Marxismus mit der Bedrohlichkeit dieser Macht gleichgesetzt. Auf die Dauer verlieh ihm deren politisches und militärisches Potential den Anschein geistiger Potenz. Vor dem Hintergrund der innen- und außenpolitischen Veränderungen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre konnte er schließlich den Anschein erwecken, als sei er mit einer geballten Ladung geistiger Sprengkraft ausgerüstet — zumal seine Befürworter an den Stätten, auf die man traditionell als geistige Zentren blickte, an den Universitäten, mancherorts mit überraschender Behendigkeit eine beherrschende Stellung und anderswo zumindest Einfluß gewannen; davon unberührt blieb wohl keine. Bei näherem Hinsehen zeigt es sich aber, daß diese Entwicklung nicht die Folge geistiger Uberzeugungskraft war. Sie hatte ihre Ursache in tiefgreifenden institutionellen Änderungen, die den deutschen Universitäten staatlicherseits auferlegt wurden und die kurzfristig wie geschaffen waren, diese Tendenz zu fördern; langfristig werden diese Veränderungen sich wahrscheinlich so auswirken, daß die am stärksten betroffenen Universitäten in ihrer Fähigkeit, neue wissenschaftliche Impulse zu geben, stark beeinträchtigt sein und statt dessen in einem bisher unbekannten Maße von außen kommende modische Strömungen speichern und verstärken werden. Denn unter einer distanzierten Perspektive läßt sich die Tatsache, daß an einigen deutschen Universitäten Formen des Primitivmarxismus einen starken institutionellen Rückhalt gefunden haben, eben als ein solches Aufstauen einer modischen Strömung verstehen. In einer solchen Situation ist es alles andere als eskapistisch, von den institutionellen und politischen Zusammenhängen der inzwischen gealterten „neulinken" Welle einmal abzusehen und zu
Zusammenhänge
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überprüfen, was an literaturwissenschaftlich nutzbarer Substanz im heutigen Marxismus steckt. Wenn man klarer sieht, was er geistig zu bieten hat, kann emotionale Begeisterung vielleicht ebenso abgebaut werden wie eine angstbetonte Abwehrhaltung. Für eine solche Uberprüfung sollte man sich sicher nicht irgendeine Manifestation des gängigen Primitivmarxismus aussuchen, sondern sich an das Beste halten, was der Marxismus noch hervorbringen kann. Im Bereich jedenfalls der deutschen Literaturwissenschaft kommen dafür eigentlich nur die Arbeiten von Robert Weimann in Frage. 2 Sie erweisen sich stets als informative und scharfsinnige Beiträge zur Erörterung von literaturwissenschaftlichen Grundfragen. Zugleich dienen sie als Anzeichen dafür, welcher Spielraum jeweils dem intelligenten Marxismus in der D D R eingeräumt wird. So ist es Weimann 1971 möglich geworden, sich gegenüber der „bürgerlichen" Literaturwissenschaft viel großzügiger zu erweisen als noch vor neun Jahren. Damals führte beispielsweise die ausgesprochen enge marxistische Position, die sein Buch „New Criticism" und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft (1962) kennzeichnet, zu einer Mißdeutung des „New Criticism" als einer Bewegung, die zwar die Irrtümer des Impressionismus zu umgehen und seine relativistischen Grenzen zu überwinden suchte, aber nur um so tiefer in den methodologischen Sumpf des subjektiven Relativismus geraten sei. Nunmehr hat es fast den Anschein, als sei Jürgen Pepers Andeutung von vor acht Jahren, daß sich eine globale Ablehnung der westlichen Literaturkritik des 20. Jhs. auf die Dauer nicht werde durchhalten lassen, zu einer eingetroffenen Voraussage geworden.3 In seinem neuen Buch hebt Weimann jetzt nämlich die positiven Leistungen des „New Criticism" hervor. Selbst T. S. Eliot, dem 1962 noch alle Schuld dafür angelastet wurde, daß die Literaturwissenschaft bei uns die Literatur angeblich „dehumanisiere", weil er die letzte schmale Verbindung zwischen literarischen Werken und der „Realität" und „Humanität", die Biographie nämlich, gekappt habe — selbst Eliot, der frühere Erzhäretiker der „impersonalen Theorie der Dichtung", erscheint jetzt nur noch „im Ansatz" als diesen „antihumanistischen Positionen" verbunden;4 er erhält sogar ein
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vorsichtiges Lob dafür, daß er „eine vereinigende Betrachtungsweise und eine beziehungstiftende Sicht auf die Ganzheit einer Literatur" angestrebt habe, indem er einen dialektischen Bezug zwischen „dem ,Vergangensein' und dem , Gegenwärtigsein' der Geschichte" wenigstens postuliert habe. 5
II. MARXISTISCHE LITERATURGESCHICHTE
Natürlich sind solche Revisionen früherer Wertungen nicht mehr als Randerscheinungen. Der thematische Kern der meisten Aufsätze, die Robert Weimann in Literaturgeschichte und Mythologie gesammelt vorgelegt hat — und zugleich das Zentrum des Interesses dieses Buches — ist vielmehr eine Auffassung von Literaturgeschichte, die dort aus mancherlei Perspektiven mit jeweils leichten Modifikationen entwickelt und vorgetragen wird. Dabei stützt sich Weimann auf Materialien aus so vielen Bereichen — geschichtswissenschaftliche Methodologie, Ideengeschichte, Philosophie, Semiotik, Literaturkritik, Literaturgeschichte in England, Deutschland, Frankreich, Rußland und den USA —, daß jeder Versuch, die vielfältige Ableitung seines Begriffs auf einen Nenner zu bringen, notwendigerweise sein Vorgehen vereinfachen muß. Doch bedeutet es keine Verfälschung, eine Gedankenfigur herauszuarbeiten, die in seinen Analysen immer wieder anzutreffen ist: Immer wieder konzentriert sich Weimann rückschauend auf zwei einander widersprechende Positionen. Auf diese Weise zeichnet er eine Kritikgeschichte, in der „Widersprüche" den freien Lauf der Dinge gewissermaßen hemmen. Diesem freien Lauf der Geschichte bricht er in seiner eigenen Darstellung dann dadurch wieder Bahn, daß er seine eigene Position als diejenige hervorhebt, auf die hin sich die Geschichte entwickelt habe. So erweckt er den Eindruck, daß seine (marxistische) Geschichts- und Wirklichkeitsauffassung die wahre Deutung der Wirklichkeit, daß sie wirklich wahr sei. Wie wirkt sich diese Dialektik praktisch aus? Als These läßt sie z. B. die wohl unumstrittene Ansicht stehen, die positivistische,
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hintergrundorientierte Art der Literaturgeschichtsschreibung, wie sie sich nach Taine bei seinen Anhängern entwickelt hat, habe sich überlebt; denn was immer man auch an Daten und Fakten über die Entstehung eines Werks zusammentragen und mit welchem hohen Maß an Objektivität man auch immer diese Fakten belegen kann — sie tragen oft weniger als geringfügig zum Verständnis eines Werks bei. Es besteht ebenfalls weitgehend Ubereinstimmung, daß die erneute entschlossene Hinwendung zur Werkanalyse, die den amerikanischen „New Criticism" ebenso kennzeichnet wie die werkimmanente Interpretation, die explication de texte, den russischen Formalismus, den Prager Strukturalismus und die britischen Scrutinisten mit ihrem „close reading", ein notwendiges Korrektiv des positivistischen Historizismus bildet, aber ihrerseits auf kennzeichnende Weise beschränkt ist. Weimann übernimmt diese Ansicht als die Antithese für seine historische Dialektik und weist darauf hin, daß ein Kritiker, der sich auf den Textzusammenhang konzentriert, nur das aufzeichnet, was er ganz persönlich registriert, und deshalb dazu neigt, das Werk zu isolieren und den Zusammenhang seiner Entstehungssituation ebenso zu vernachlässigen wie den Geschichtszusammenhang. 6 Doch wird der werkorientierte Kritiker auf jeden Fall eines tun : Für ihn liegen Fragen der Wertung, der Bedeutung eines Werks für seine eigene Zeit offen auf dem Tisch, während sie für den Historiker nur unterschwellig wirken. Die Synthese bedeutet für Weimann nun, daß der Kritiker und der Historiker ihre Methoden und Anliegen zusammenlegen und integrieren müssen: „One has to be contained in the other," schreibt er in der englischsprachigen Zusammenfassung seiner Theorie der Literaturgeschichte, als die er seinen Aufsatz „Past Significance and Present Meaning in Literary History" diesem Band beigegeben hat7 — „der eine muß im anderen aufgehen, und der historische Sinn des Kritikers darf sich in nichts vom kritischen Sinn des Historikers unterscheiden".8 Das ist nun wirklich keine umwerfend neue Forderung. Sie wurde seit den Gebrüdern Schlegel bis hin zu Réne Wellek von „bürgerlichen" Kritikern wieder und wieder erhoben. Um jemanden zu zitieren, der aus Weimanns Perspektive nur ein
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Erzreaktionär sein kann: „Allein schon um Historiker sein zu können, muß ein Literaturhistoriker Kritiker sein." 9 Dieses Verfahren, aus der Rückschau in der Geschichte gegensätzliche Positionen zu isolieren und so Widersprüche zu konstruieren, die nach einem einfachen Modell der „These/Antithese: Synthese" Weimanns eigener Position zuarbeiten, ist, wie zwei weitere Beispiele belegen können, in der Tat für seine Argumentationsweise kennzeichnend. So hebt er im Hinblick auf geschichtswissenschaftliche Grundpositionen einerseits eine Methode wie die Leopold von Rankes hervor. Ranke, der für Weimann „am sinnfälligsten und am bedeutendsten" die „Krise des bürgerlichen Fortschrittsgedankens [verkörperte]", 10 versuchte, eine vergangene Epoche objektiv zu rekonstruieren, versuchte herauszufinden, „wie sie eigentlich gewesen." Um dies zu erreichen, forderte er vom Historiographen, er müsse von seinen eigenen zeitgebundenen Vorurteilen so gut wie möglich absehen; der gegenwärtige Geschichtsschreiber müsse „vor seinem Gegenstande wegfallen" und diesen — eben die vergangene Epoche — gewissermaßen selbst sprechen lassen, indem er sie, in Rankes berühmtem Wort, „unmittelbar zu G o t t " beläßt und in „ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst" betrachtet. 11 Darin erblickt Weimann die zum „unbefangenen Objektivismus" führende „methodologische Naivität" Rankes, der „mit dem Blick auf das Eigentümliche die Sicht auf das Gesetzmäßige verstellt" hat. 1 2 Er übernimmt nun an dieser Stelle die Kritik Nietzsches an diesem historischen Objektivismus, der die Geschichte angeblich zur Wirkungslosigkeit verdammt, weil er nur zu abgeschlossenem Wissen führe und ein Weiterleben des Vergangenen in der Gegenwart unmöglich mache. (Warum eigentlich? Lebt etwas Vergangenes vielleicht besser fort, wenn man es ungenau, verzerrt, verfälscht sieht?) Die konsequente Antithese jedenfalls war nach Weimann das Programm des Nietzsche-Biographen Ernst Bertram, der statt historischer Rekonstruktion eine gegenwartsbezogene „Wertsetzung" forderte, die aus seiner Sicht das Vergangene freilich nicht „in unsere Zeit" herüberrettet, sondern zeitlos macht; dies führe — in Bertrams Worten — notwendigerweise zu einer „Entwirk-
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lichung [der] ehemaligen Wirklichkeit", zu einer „tätigen Bildschaffung" , zu Fragmenten eines Mythos, zu gegenwärtiger „Legende". 13 Für Weimann ergibt sich aus der Gegenüberstellung von Bertram und Ranke das handliche Gegensatzpaar „gegenwartsbezogene ,Legende'" und „vergangenheitsgerichteter Objektivismus", das der Synthese durch den dialektischen Materialismus entgegenharrt. Nach dieser ausführlichen Darlegung des Weimannschen Mechanismus mag als drittes Beispiel die Zusammenfassung seiner eingehenden Darstellung der Blockierung dienen, zu der Anfang des 20. Jhs. die „bürgerliche" Shakespearekritik geführt haben soll: „Sehen wir von einzelnen Ausnahmen (darunter Walter Raleigh) ab, so gab es zwischen der subjektiv-impressionistisch wertenden Kritik und der objektiven biographisch-theatergeschichtlichen Dokumentation vorerst keine Brücke, keinen Ausgleich, keine Synthese." 14 Wie sieht nun die Synthese aus, die Weimann zur Lösung solcher „Widersprüche" anbietet? Die kompakteste programmatische Formulierung findet sich wiederum in „Past Significance and Present Meaning in Literary History", die freilich hier am besten aus dem Englischen rückübersetzt wird: Was ist nun der Gegenstand des Literaturhistorikers, der zugleich Kritiker ist? Ist es das Werk in seiner heutigen Auffassung? Oder ist es das Werk in statu nascendi, im Zusammenhang seiner Entstehung und seines ersten Publikums? So zu fragen heißt, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, daß die vergangene Welt des Kunstwerks und die gegenwärtige seiner Rezeption sowohl eine Einheit bilden als auch im Widerspruch zueinander stehen. Man könnte auch sagen: Die Aufgabe des Historikers (und die Vergangenheit des Werks) ist untrennbar mit der Aufgabe des Kritikers (und dem Kunstwerk als Erlebnis in der Gegenwart) verbunden. Es liegt auf der Hand, daß man diese beiden notwendigen Aspekte nicht separat behandeln kann. Wenn man nur das erstere tut, fällt man in eine Art Antiquarstätigkeit zurück; wenn man nur das letztere tut, setzt man sich all den Gefahren der Mißdeutung und Verzerrung aus, deren sich der „New Criticism" so oft schuldig gemacht hat. Die eine Alternative läuft darauf hinaus, Literaturgeschichte auf das Studium der Ursprünge und Einflüsse zu reduzieren, auf eine bloße Entstehungsgeschichte; die zweite stutzt die Disziplin auf eine Reihe modemer „Würdigungen" zurück, auf eine bloße Wirkungsgeschichte. Als bloße Alternativen sind beide unannehmbar. Letztlich ist es sinnlos, wenn die Literatur-
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Marxismus und Literatur geschichte die vergangene Bedeutung studiert, ohne sich über die Bedeutung für die Gegenwart im klaren zu sein; andererseits bleibt das Bewußtsein der gegenwärtigen Bedeutung ohne das Studium der Bedeutung in der Vergangenheit fragmentarisch. So ist der Gegenstand des kritischen Literaturhistorikers notwendigerweise komplex. Er umfaßt sowohl Entstehung als auch Wert, sowohl Entwicklung als auch Ordnung, das Kunstwerk, so wie es in der Vergangenheit entstanden ist und in der Gegenwart aufgefaßt wird. 1 5
Dieses Programm trägt sicher einige Gedanken zum Problem der Literaturgeschichtsschreibung bei, die man nicht leichthin beiseiteschieben sollte. Doch weist es seinerseits kennzeichnende Beschränkungen auf. Sein schwächster Punkt liegt wohl in der Aufgabe, die Weimann dem zuschreibt, was er die „Bedeutung für die Gegenwart" oder die „heutige Auffassung" eines Kunstwerks nennt. Die damit verbundenen Schwierigkeiten können am besten dadurch geklärt und Anregungen für ihre Uberwindung angeboten werden, daß man einfach fragt: wessen Auffassung meint Weimann? Geschichte, so hat es A. J . P. Taylor vortrefflich formuliert, ist eine „Lesart der Ereignisse" — „a version of events". In einer Version, Lesart, Fassung und (ganz wesentlich) Ubersetzung (nicht nur aus Dokumenten, Urkunden und Erhebungen in zusammenfassende Tabellen und zusammenhängende Darstellungen, sondern auch aus außersprachlicher Wirklichkeit in sprachlichen Text) steckt nun einmal ein persönlicher Faktor, eine subjektive Sehweise. Daran läßt sich nichts ändern. Doch der Historiker, der darauf besteht, die Bedeutung für die Gegenwart und den gegenwärtigen Nutzen eines historischen Phänomens und damit eine gegenwärtige Voreingenommenheit als Richtmaß seines historischen Verständnisses, seiner Version der Vergangenheit zu nehmen, gerät leichter in die Gefahr, eine verfälschende Darstellung des Geschehenen zu geben als derjenige, der nach bestem Wissen, Vermögen und Gewissen seine eigenen Vorlieben und Neigungen hintanzustellen versucht und sich bemüht, eine Perspektive zu finden, die von ihm selbst absieht. Wie ihm dies gelingen soll? Nun, wenn sich seine Partei nicht einmischt, dann ist er längst nicht so allein gelassen, so auf sich selbst ange-
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wiesen, wie Weimann das glauben machen möchte. Dann steht ihm nämlich frei, frühere und konkurrierende Perspektiven als Ergänzungen zu nutzen (so wie Weimanns Überlegungen gelegentlich nützliche Ergänzungen bieten können). Zu Weimanns Programm gehört es jedoch, den Unterschied zwischen einem angängigen, weil unvermeidlichen Perspektivismus, so wie er nun einmal zur historischen Darstellungsweise gehört, und der Verfälschung der Geschichte durch das absichtliche Hineintragen eines parteiischen Gesichtspunkts in die Darstellung zu verwischen. Seine Methodologie sieht mit anderen Worten keine Kriterien für die Unterscheidung des unvermeidlichen fiktiven Elements in der Geschichtsschreibung von dem vor, was man nur Geschichtsklitterung nennen kann. Und doch gibt es Mittel, den heutigen Leser eines vergangenen Werks davor zu bewahren, daß er sich auf phantasievolle Ausflüge ins Ungefähre begibt — er muß sich ihrer nur bedienen wollen. Ein ganz einfaches ist die Frage nach der ursprünglichen Bedeutung des Wortes in dem Text aus der Vergangenheit: „ O u r vegetable love" beispielsweise, in Marvells Gedicht „ T o His Coy Mistress", hat bekanntlich nichts mit einer Vorliebe für vegetarische Küche zu tun. Aber die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes hinter einem nachträglichen Bedeutungszuwachs oder nachträglicher Bedeutungsänderung zu erkennen, ist noch keine eigentlich historiographische Leistung; es ist eine Anfängeraufgabe im Interpretieren. Ein grundlegender Test für die Vertrauenswürdigkeit einer historischen Methode liegt in der Entscheidung, ob sie dagegen abgesichert ist, daß ihr Benutzer historische Ereignisse außer acht läßt, wenn sie nicht in seine Vorurteilsstruktur hineinpassen, wiewohl sie aus anderer Sicht bedeutsam sind. An Weimanns Programm sind solche Sicherungen nicht erkennbar. Deshalb gibt es sich nur allzuleicht für eine parteiliche Geschichtsdeutung her und kann der offiziellen marxistisch-leninistischen Historiographie so als ideale Rechtfertigung dafür dienen, daß sie alles liquidiert, was nicht auf der jeweils gerade gültigen Parteilinie liegt. Und in der Tat trägt Weimann mit seinem „inhaltlich bestimmte[n] neue[n] Traditionsbild", das seiner Ansicht nach der „bürger-
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liehen" Kritik abgehen muß, 1 6 zur theoretischen Begründung eines umfangreichen Publikationsprojekts der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin (Ost) und eines „Kollektivs" von Literaturhistorikern beim Verlag Volk und Wissen bei. Die verschiedenen Reihen, die in diesem Projekt zusammengefaßt sind, laufen auf nicht weniger hinaus als ein radikales Umkrempeln der deutschen Literaturgeschichte. Die Rahmenvorstellung dieser Neuinterpretation ist die Annahme, die Hauptströmung der deutschen Literatur sei irgendwann in den frühen 1930er Jahren in den Untergrund gegangen und etwa 1945 in der D D R wieder aufgetaucht — man möchte beinahe in Erinnerung an die Beschreibung, die der Deutsche Kriegerverein 1926 von dem Ort gegeben hat, an dem er eine große nationale Gedenkstätte errichten wollte, sagen: „im Herzen Deutschlands, in der Umgebung Bad Berkas (bei Weimar)". So ist es nicht verwunderlich, daß in diesen Literaturgeschichten immer wieder die Behauptung wiederholt wird, die Hauptströmung der deutschen Literatur und die marxistisch-leninistische Tradition fielen zusammen. Der „offizielle Marxist" ist natürlich blind gegenüber dem Vorurteil, das in einem solchen parteilichen Bild der deutschen Literaturgeschichte steckt. Denn für ihn beantwortet sich die Frage, wessen gegenwärtige Auffassung? von selbst: natürlich die Auffassung desjenigen, der den „fortgeschrittensten Standpunkt der Gegenwart" einnimmt: „ D a s letzte Ziel der historischen Arbeit besteht nicht in einem ,Verstehen' (um des Verstehens willen), sondern in der Verlebendigung und Verwirklichung des (vom fortgeschrittensten Standpunkt der Gegenwart) Gültigen" 1 7 — und Weimann läßt keinen Zweifel daran, daß die Ideologie der „revolutionären Arbeiterbeweg u n g " Ausdruck genau dieses „fortgeschrittensten Standpunkts" ist. 1 8 In dieser Hinsicht hat sich zwischen dem Marxismus der dreißiger und der siebziger Jahre nicht das geringste geändert — wie sollte es auch. 1933 hatte beispielsweise der amerikanische Marxist Granville Hicks in einem programmatischen Aufsatz, zu dem selbst Weimanns Ausdrucksweise an zentralen Punkten eine gewisse Ähnlichkeit aufweist (was für eine doktrinäre Position kein Vorwurf, sondern
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eine Beglaubigung ist), unter dem Titel „Die Krise in der amerikanischen Kritik" für das proletarische Werk drei Forderungen aufgestellt: Es müsse die Widersprüche, die zum Klassenkampf führen, in den Mittelpunkt stellen, denn da stünden sie laut Marx, es müsse ein starkes Klassenbewußtsein verraten, und der Autor müsse sich auf die Seite der Vorhut des Proletariats schlagen.19 Was Weimann Hicks voraushat, ist die theoretische Gründlichkeit, mit der er die gemeinsamen Uberzeugungen untermauert. Für Weimann beruht die Uberzeugungskraft der Position, die auch sein neuestes Buch trägt, auf der Annahme, die Methode des historischen Materialismus, die er anwendet, sei mehr als eine Methode; sie sei vielmehr die eine und einzige Position, die sich über das Gewirr des sogenannten bürgerlichen Relativismus aufschwingen und Wahrheit garantieren könne. 20 Die marxistische Gewißheit fällt ihrerseits hinter die Aufklärung zurück, indem sie Postulate für wahr nimmt und sich vom Glauben tragen läßt. Daran ändert sich nichts, wenn man berücksichtigt, daß es ein immanenter Glaube ist, der seine Annahmen über die vergangenen Veränderungen der Welt durch seine eigene Praxis, seine eigenen Versuche, Revolutionen herbeizuführen, bestätigt sieht. 21
III. DER UNEINGESTANDENE STRUKTURALISTISCHE KERN DES MARXISMUS
Aus dieser relativ absoluten Gewißheit heraus — relativ, weil sie sich als historisch determiniert versteht, und absolut, weil sie sich konkurrenzlos an der Spitze der historischen Entwicklung weiß — bietet Weimann nun seinen „Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion" 22 : Mit großer kritischer Schärfe durchleuchtet er die Bemühungen der „bürgerlichen" Literaturwissenschaft; sein Befund: untauglich. Wer freilich von den dogmatischen Momenten in Weimanns Ausführungen absieht, kann sein Buch durchaus nutzen. Einer der Hauptgegner, den er sich ausgesucht hat, ist der Strukturalismus, insbesondere in seiner französischen Machart. Was er über die
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Unzulänglichkeiten von Lucien Goldmanns simpler Homologie von Ästhetik und Ökonomie sagt, trifft fast Punkt für Punkt ins Schwarze; ebenso treffend ist seine Darlegung der Schwierigkeiten, die Claude Lévi-Strauss mit der Übertragung phonologischer Prinzipien auf die Soziologie hat. Mit seiner grundlegenden Kritik am Strukturalismus schneidet er tief in dessen semiotische Grundlagen ein: Den „folgenschweren Grundirrtum von Lévi-Strauss, aber auch von Goldmann und anderen Strukturalisten" sieht er darin, daß sie das „soziale Leben . . . als sprachliches System (langue), aber nicht als ,Rede', als Gebilde von Zeichen, aber nicht als Produktion von Werten, nicht als Tätigkeit [sehen]." 23 Als Teilbefund trifft diese Feststellung sicher zu. Doch gibt Weimann hier dem Strukturalismus nicht weniger, als ihm gebührt? Hat der Strukturalismus nicht auch Momente des Tätigen an sich — so, wenn er die komplexe „Realität" auf das jeweils Wesentliche hin „stilisiert" und auf diese Weise ein System aus qualitativen Punkten oder „Werten" schafft? Das heißt: Aus dem bloß Quantitativen der res extensa, aus dem Gewirr der Erscheinungen, abstrahiert er eine Zeichenstruktur als ein semiotisches Bild der Wirklichkeit, dessen Wert darin besteht, für einen bestimmten Zweck die Rolle der Wirklichkeit zu übernehmen. Diese Struktur ist sicher auf ihre Weise ebenso fiktiv wie Taylors „Lesart der Ereignisse", die wir als Geschichte erstellen; und doch ist sie für den Zweck, für den sie hergestellt ist, sachdienlicher als die „Wirklichkeit". Der Uberblicksplan über das U-Bahnnetz, den jeder Besucher einer Großstadt zu schätzen weiß, ist ein vortreffliches Beispiel dafür, wie die strukturierende Tätigkeit vor sich geht: Er ist extrem selektiv, läßt eine ganze Menge unberücksichtigt und steckt obendrein voller Verzerrungen: Er ist nicht maßstabgerecht; die genaue Form der Kurven läßt sich aus ihm keineswegs ersehen, ja, er gibt längst nicht alle Kurven an; es fehlen Angaben darüber, wie tief die Gleise jeweils liegen oder ob sie gar an der Erdoberfläche geführt werden, usw. Doch alles, was man wissen muß, um sich zurechtzufinden, ist klar und deutlich markiert: Jede der Strecken ist klar gekennzeichnet, die Reihenfolge der Haltepunkte ist deutlich angegeben, Umsteig-
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bahnhöfe sind besonders hervorgehoben, die Hilfen zur Rückübersetzung des Diagramms in „die Wirklichkeit" sind eindeutig. Das heißt, der U-Bahnplan gibt die Wirklichkeit auf die einzig mögliche Art und Weise wieder: er wählt aus und ändert. Ohne Zweifel transformiert er die Wirklichkeit in ein autonomes Zeichensystem, ein Diagramm, das keinen Zusammenhang mit den anderen Verkehrsnetzen aufweist, auf die man „umsteigen" kann — Buslinien, Straßenbahnstrecken; vom Fernbahn- und Flugnetz wird meist nur die Kontaktstelle, nämlich der Fernbahnhof und der Flughafen angegeben — und das auch nichts von all dem anderen zeigt — Gasleitungen, Stromleitungen, Wasserleitungen, Straßen, Gesteinsformationen usw. usf. — in das es „in Wirklichkeit" eingebettet ist. Es wird dem Leser nicht entgangen sein, daß hier das Wort „Wirklichkeit" in mehr als einer Bedeutung verwendet worden ist. Es bezeichnet „Wirklichkeit als Postulat" und „Wirklichkeit als Konstrukt". Diese Unterscheidung beruht auf der Annahme, daß außer im Zustand der mystischen Schau die Wirklichkeit nur als Konstrukt zugänglich ist. Historisch gesehen ist diese Voraussetzung seit der kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie, die Kant vorgenommen hat, für jeden unausweichlich geworden, der nicht bereit ist, mit philosophischer Naivität zu leben. Im Zusammenhang mit der Erörterung von Weimanns Ansprüchen ist es nicht notwendig zu entscheiden, ob es (mit Kant) universale Denkkategorien sind, die das Konstrukt „Wirklichkeit" hervorbringen, oder (mit Humboldt, Whorf u. a.) die speziellen Kategorien der jeweiligen Sprache. Vor diesem Hintergrund ist es jetzt möglich, den uneingestandenen Strukturalismus in Weimanns eigener Verfahrensweise aufzudecken: Durch eine Konstruktion aus der Rückschau zeichnet er ein Diagramm der Kritikgeschichte, das darauf hinstilisiert ist, die marxistisch-leninistische Position des offiziellen DDR-Sozialismus als zwingendes Ergebnis der Entwicklung erscheinen zu lassen. Diese „Dialektik" erweist sich auch hier als einfaches Mittel der retrospektiven Prophetie, der in diesem Fall noch eine gehörige Portion Wunschdenken beigemischt ist. Sie beruht auf einer gezielten Auswahl der Schrittsteine, auf denen sich die Geschichte voran-
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bewegt haben soll — auf Widersprüchen, auf Gegensatzpaaren, die diese Dialektik sich konstruiert hat. Aber wie tragfähig sind sie eigentlich? Macht es sich Weimann nicht vielleicht doch etwas leicht, wenn er seine historischen Thesen und Antithesen setzt? Ist der Nietzsche-Biograph Ernst Bertram wirklich ein ernstzunehmendes Gegengewicht zu Leopold von Ranke, wenn es um methodologische Fragen der Geschichtswissenschaft geht? Ist es wirklich ein historischer Befund, als notwendige Voraussetzung für eine marxistische Synthese hier und heute im frühen 20. Jh. einen Widerspruch zwischen einer rein impressionistischen Shakespeare-Kritik und einer positivistischen Theatergeschichtsschreibung anzusetzen, wiewohl man selbst einräumen muß, daß es auch damals Ausnahmen gegeben hat? Wer sich zudem erinnert, daß ja auch noch andere Formen der Shakespeare-Forschung betrieben wurden als biographisch und theatergeschichtlich orientierte, deren Vielfalt Weimann selbst gelegentlich anklingen läßt, 24 dem wird der Grad der Vereinfachung, den sich Weimann dann wieder erlaubt, wenn er diese Vielfalt auf ein einziges Gegensatzpaar zurückstutzt, wohl erheblich größer erscheinen als das, was in einer zusammenfassenden Darstellung unvermeidlich und deshalb zulässig ist. Weimanns Umgang mit solchen handlichen Dichotomien, die er sich durch Reduktion selbst zurechtgeschnitten hat und die er als konstitutiv für den Gang der Geschichte ausgibt, weist methodisch keinen wesentlichen Unterschied zu dem „Geklapper der typologischen Antithesen" auf, das er mit seinem DDR-Kollegen Werner Krauss bei den Dilthey- und Wölfflin-Schülern feststellt25 — wenngleich seine Zielsetzung natürlich nicht ganz dieselbe ist wie die seiner „bürgerlichen" Vorläufer im Methodischen. Wer mit Dichotomien und Antithesen umzugehen versteht, besitzt ein wirkungsvolles Mittel, seine Darstellung eingängig und einprägsam zu gestalten; wenn er freilich nicht genau das Maß der Reduktion und den Geltungsbereich seines Diagrammms definiert, sondern vorgibt, er habe damit die Wirklichkeit erfaßt, tritt er als Illusionskünstler auf. Doch die Methode und ihre erkenntnistheoretische Voraussetzung, die Weimann übernommen hat, sind noch in anderer Hinsicht
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schadhaft. Wenn man sich daran erinnert, daß die Auffassung, Literaturgeschichte und -kritik müßten ihrem Wesen nach als Einheit betrachtet werden, immerhin schon bei A. W. Schlegel und anderen Romantikern zu finden ist, dann macht es einige logische Schwierigkeiten, die Geschichte als einen Prozeß des Voranschreitens zu begreifen und zugleich den historischen Positivismus und den „New Criticism" als Gegensatzpaar zum Aufbau einer neuen Synthese aus Geschichte und Kritik aufzufassen, wie sie Weimann im Namen Marxens verkündet. Unter einer historischen Perspektive, die Schlegels umfassende Sicht voll einbezieht, müssen die genannten Teilansichten vielmehr als Abbaupro&ukte erscheinen — wohlgemerkt: unter der Voraussetzung, daß Geschichte ein kontinuierlicher und konsequenter Ablauf ist, der eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Und das behauptet ja eben der Marxismus. Aber gerade eine solche Annahme ist ebenso schwer logisch ableitbar wie empirisch nachzuweisen. Im Gegenteil: Ein aufs sorgfältigste detaillierter Uberblick wie Welleks History of Modern Criticism zeigt eines mit aller Deutlichkeit: Die Haltungen, Meinungen und Uberzeugungen, mit denen man im Lauf der Zeit auf die Literatur blickte, bilden alles andere als eine gerade und zielgerichtete Linie. Man steht vielmehr vor einer Reihe von Debatten über Probleme, die sich wenigstens zeitweilig erledigten, nicht, weil sie gelöst wurden, sondern eher, weil man ihrer überdrüssig wurde — bis man sie wieder aufnahm, weil sie inzwischen wieder interessant oder bedeutsam erschienen.26 Zumindest die Geschichte der Literaturkritik (in dem weiten Sinn des Wortes „criticism") läßt sich auf keine klare evolutionäre oder revolutionäre Linie bringen. Wer ihr eine „progressive" Kennung geben will, muß vieles, was nicht paßt, entweder vergessen oder verbiegen oder unterdrücken. Man kann höchstens — aber muß auch — sagen: Dieser und jener Gedanke, die dann und dann formuliert worden sind, haben aus diesen und jenen Gründen eine solche grundlegende Bedeutung, daß man sich heute über Literatur nur kompetent äußern kann, wenn man sie entweder akzeptiert oder triftig widerlegen kann; das aber ist etwas ganz
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anderes, als die Geschichte als Förderband irgendeiner weltanschaulichen Position in Anspruch zu nehmen. Hierin liegt der größte Irrtum des Marxisten: Zwar muß er wie jeder andere zur Deutung der Wirklichkeit — und das heißt, zum Erstellen der Wirklichkeit als Erkenntnisgegenstand — auswählen und ordnen, also in dem hier erläuterten Sinn strukturalistisch verfahren; dann aber gibt er vor, das Diagramm, das er auf diese Weise von der Wirklichkeit abstrahiert hat, sei selbst die "Wirklichkeit", und die Fiktionen, die er entworfen hat, seien die Wahrheit.27 Der Strukturalist ist da viel illusionsloser und wirklichkeitsgetreuer. Er sieht ein, daß das, was er konstruiert, einem Mythos ähnelt. Der Marxismus ist demgegenüber weniger aufgeklärt. Wer davon überzeugt ist, daß der „Mythos", den er konstruiert, wahr ist, macht sein Konstrukt zu einem Mythos im wahren Sinn des Wortes. Selbst in der relativ differenzierten Form, wie ihn Weimann vertritt, bedeutet der Marxismus einen Rückfall in mythische Denkweisen. Daß die Spielart des Marxismus, wie sie aus Weimanns Buch Literaturgeschichte und Mythologie spricht, einen relativ differenzierten Eindruck erweckt, hängt damit zusammen, daß Weimann jetzt einige Ansichten äußert, die in der „bürgerlichen" Kritik schon lange geläufig sind: daß die wirtschaftlichen Verhältnisse die Kunst nicht kausal determinieren;28 daß man Kunstwerke mißbraucht, wenn man sie als soziologische Dokumente heranzieht;29 daß der „New Criticism" vollkommen im Recht war, als er darauf bestand, daß Literatur nur richtig zu verstehen ist, wenn man sie als Literatur auffaßt und nicht als „soziologisches Belegmaterial, als soziologische Beispielsammlung." 30 In diesen Zusammenhang gehören auch seine Skizze einer sprachübergreifenden Semiotik der Kunst31 und sein Plädoyer für einen Realismusbegriff, der sich bemüht, über den orthodoxen Begriff des sozialistischen Realismus hinauszukommen.32 IV. K U M M E R MIT DEM REALISMUS
Seine Erörterung des Realismusbegriffs zeigt am besten das Ausmaß, in dem Weimann selbst dort von seinen „gesellschaftlichen
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Bedingungen" gefesselt ist, wo er sie zu überwinden versucht. Noch 1962 schien er die simple marxistische Widerspiegelungstheorie voll zu akzeptieren. Wenngleich er mit einer russischen Autorität argumentierte, bei der künstlerischen Widerspiegelung werde die „darzustellende Wirklichkeit . . . durch das Bewußtsein des Künstlers, durch seine schöpferische Individualität [widergespiegelt]", so daß das „Kunstwerk nicht schlechthin ein Abbild, sondern immer ein interpretiertes und verallgemeinertes Abbild der Wirklichkeit darstellt", blieb für ihn damals mit großer Selbstverständlichkeit eine als primär angenommene Wirklichkeit das Richtmaß der Kunst. 3 3 Inzwischen gibt es Andeutungen, daß er bereit ist, das „Abhängigkeitsverhältnis" der Kunst von „der Wirklichkeit" so zu modifizieren, daß es in seiner Substanz tangiert ist. Er spricht jetzt von einem „ f ü r alle realistische Literatur grundlegendefn] produktive[n] Verhältnis zur Wirklichkeit" und faßt zusammen: „Das geschichtlich bedingte Kriterium für den realistischen Gehalt der jeweils gestalteten Abbilder darf danach nicht in der unmittelbaren Lebensähnlichkeit des Abbilds gesehen werden [sind lebensunähnliche Illustrationen wirklich noch als Abbilder zu begreifen?], sondern in dem Grad, in dem der Künstler realistische Bilder schafft und durch diese — als Abbild und Bildner der gesellschaftlichen Praxis — realistische* Verhaltensweisen (in der Wirklichkeit) fördert." 3 4 Weimann knüpft hier offensichtlich an die Unterscheidung zwischen „gesellschaftsabbildend" und „gesellschaftsbildend" von H . R. Jauss an, bei dem er sich nicht ohne eine in mehreren langen Anmerkungen geführte Auseinandersetzung für „mancherlei Anregung" bedankt. 35 Diese neue Ansicht steht mit einer anderen marxistischen Annahme in Einklang, daß nämlich der Sinn der Geschichte die Humanisierung des Menschen sei — auch wenn die Praxis des staatlich etablierten Marxismus meist das Gegenteil tut. Weimann lehnt es nun entschieden ab, „Realismus" als einen Epochenbegriff aufzufassen; er verallgemeinert ihn geradezu zu einer Bezeichnung für die Qualität, die große Kunst zu allen Zeiten besessen hat: Insoweit sie diese bildende, humanisierende, „emanzipierende" Aufgabe erfülle, sei große Kunst immer realistisch. Diese
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Qualität — so Weimann — sah von Epoche zu Epoche verschieden aus, ganz einfach, weil sich auch die Anliegen der „Emanzipation" notwendigerweise geändert haben. Aber auch mit dieser Begründung paßt ein solcher überzeitlicher Allgemeinbegriff genausowenig in die Denkweise des dialektischhistorischen Materialismus wie ähnliche Allgemeindefinitionen wie beispielsweise „Alle große Kunst ist klassisch" oder „Alle große Kunst ist die Sublimierung von Komplexen". Denn wie Peter Szondi überzeugend dargelegt hat, müssen die Begriffe, die in einer dialektisch-historischen Literaturwissenschaft verwendet werden, Epochenbegriffe sein, d. h. historischen Wandel in sich aufnehmen. 36 Doch läßt sich Weimanns Tendenz, den Realismusbegriff entgegen den Prämissen seiner historischen Verfahrensweisen zu verallgemeinern, im Zusammenhang damit verstehen, daß er unter einem Regime lebt, das eine ziemlich enge propagandistische Form des sozialistischen Realismus durch staatliche Zensur aufrechterhält. Was Kunstausstellungen in Dresden oder Berlin (Ost) von der Gegenwartskunst in der DDR heute zeigen, nimmt sich wie müde Nachahmungen von akademischen Stilen aus, die 50 bis 100 Jahre alt sind. Zwar rufen die Kulturfunktionäre immer wieder zu neuen Experimenten auf; aber zugleich lähmen sie jeden Unternehmungsgeist, da sie darauf bestehen, der Standpunkt der „revolutionären Arbeiterklasse" müsse allüberall sichtbar sein; und den erkennen sie eben nur in dem ihnen gewohnten Gewände. Abweichungen finden sich im Nu als „konterrevolutionär" gebrandmarkt; und was mit „entarteter Kunst" und ihren Künstlern geschieht, das zu zeigen zögert auch die marxistisch-leninistische Diktatur nicht. Unter solchen Umständen können Weimanns Versuche, sich für einen weniger kleinbürgerlichen Geschmack auszusprechen, als sein Regime erlaubt, nur mit einem dialektischen Geschick vorgetragen werden, das dem des Herrn Keuner würdig ist. In der Form, die sie annehmen, sind diese Argumente gesellschaftsabbildend und — hoffentlich — gesellschaftsbildend zugleich: Sie folgen der gegenwärtigen Strömung der offiziellen DDR-Kulturpolitik und versuchen zugleich, sie wenigstens ein klein wenig umzulenken — selbst wenn
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dabei eine Grundannahme des dialektischen Historizismus auf der Strecke bleibt, daß nämlich Ordnungsbegriffe den historischen Wandel reflektieren müssen. Ob Weimann Erfolg hat, bleibt abzuwarten. Seine Dialektik ist nämlich so fein gesponnen, daß ein geübter Kulturfunktionär sie auch gegen ihn zurückwenden kann: Alle große Kunst ist realistisch, so gibt Weimann zu verstehen, weil sie befreiend wirkt, weil sie auf der „Höhe der revolutionären Bewegung der Gegenwart"37 steht. Alle Kunst im Dienste des Sozialismus ist realistisch, kann ihm mit seiner eigenen Logik vom Funktionär entgegengehalten werden, weil der Sozialismus, von der „Höhe der revolutionären Bewegung der Gegenwart" aus gesehen, die einzige wirksame Befreiungsfront ist; deshalb ist nur der sozialistische Realismus große Kunst. Wie könnte Weimann diesen dogmatischen und zensurfreudigen Mißbrauch abwehren, dem sein Begriff der Literaturgeschichte geradezu in die Hand spielt? Er müßte aus weiteren Überlegungen zur Modalität der gegenwärtigen Auffassung vergangener Werke theoretische Konsequenzen ziehen. Bis jetzt ordnet er das Kunsterlebnis unter dem Begriff der „Kommunikation" ein, 38 und da das Grundmodell der Kommunikation nach wie vor der Telegraph ist, suggerieren die Assoziationen dieses Begriffs trotz aller Kautelen, die man einführen mag, daß der Leser ein mehr oder minder passiver Empfänger nicht nur der vom Autor ins Werk hineingelegten Bedeutung ist, sondern auch „objektiver" Kräfte, die ihn vermittels der verschiedenen „Effekte" des Werks über die historische Distanz hinweg zu fassen vermögen. In dieser Mißdeutung des Verhältnisses zwischen Leser und Werk, die eine kommunikative Kunstauffassung nahelegt, ist ein Grund dafür zu erkennen, daß so viele moderne Autoren unterschiedlichster Orientierung — beispielsweise Valéry, Eliot, Schklowskij und Horkheimer — Kunst oder zumindest ihren zentralen Bereich dem Zugriff der intentionalen und der kommunikativen Theorie entziehen. Nun gibt es in Literaturgeschichte und Mythologie gewichtige Anzeichen dafür, daß es Weimann im Grunde genommen einsieht: Nicht der Empfang irgendeiner Botschaft, sondern die Ermittlung
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einer einem historischen Wandel unterworfenen Bedeutung kennzeichnet den Leser im Verhältnis zum Werk. 3 9 Aus solchen Einsichten müßte Weimann theoretische Konsequenzen ziehen, die dann auch in seinem Begriffsapparat erkennbar werden müßten. Das Ergebnis solcher Überlegungen ist die Erkenntnis, daß die ästhetische Transaktion nicht als Kommunikation, sondern richtigerweise als Interpretation zu klassifizieren ist. Denn ihre verschiedenen Auffassungen von dem, was der Autor möglicherweise mitteilen wollte oder was er beim Schreiben für sich entdeckt haben mag, können die verschiedenen Leser nur durch persönliche interpretatorische Aktivität ermitteln, die ihnen kein Dogma abnehmen oder auch nur erleichtern kann.
V. UNBEFANGENE SCHLUSSFOLGERUNGEN
Weiterführende Überlegungen zu Voraussetzungen, Bedingungen und Modalitäten der Interpretation legen schließlich die Erkenntnis nahe, daß die Bedeutung für die Gegenwart ganz und gar nichts Eindeutiges ist, daß auch der historische Bedeutungswandel eines Werkes nichts objektiv Gegebenes ist. Zumindest für das Kunsterlebnis gilt: Weder ist die Geschichte objektiv, noch ist die Interpretation ein im abwertenden Sinne subjektives Geschäft. Sowohl Geschichte als auch Kunstwerke werden nur als persönliche Konstrukte zugänglich. Aus dieser Einsicht gehen zwei weitere wichtige Folgerungen hervor: Die emanzipatorische Funktion eines literarischen Werks beruht nicht auf dem, was es geleistet hat, um den Sozialismus herbeizuführen (oder was immer sonst man als „auf der Höhe der revolutionären Bewegung der Gegenwart" stehen sieht). Ein Kunstwerk kann befreiend wirken, wenn man seiner Einladung folgt, die Welt, die es umschreibt, imaginativ zu betreten und deutend jene Alternativen für die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten zu erfahren, die es demjenigen offenlegt, der es wagt, es um seiner selbst willen zu lesen. Wer sich einem literarischen Werk im Geiste des
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„New Criticism" oder einer historischen Periode im Geiste eines alten Historikers nähert, kann damit belohnt werden, daß ihm ein Blick über die Enge, die Voraussetzungen, die Vorurteile seiner Zeit, seines Ortes und seiner Person hinaus gewährt wird. Das ist wirkliche Befreiung, erhebend und ernüchternd zugleich. Die zweite Schlußfolgerung hat für Weimanns Position ähnlich weitreichende Konsequenzen. Denn wer einsieht, daß Geschichte — insoweit sie Erkenntnisgegenstand geworden ist — nur als persönliches Konstrukt existiert, wird die Selbstgefälligkeit verlieren, die in seiner Annahme liegt, die Geschichte flüstere ihm ihre Geheimnisse in sein gesalbtes Ohr. Ihm werden Zweifel an der Idee kommen, es gebe einen und nur einen „fortgeschrittensten Standpunkt", den Frau Historia gewissermaßen mit ihrem Gütesiegel beglaubigt habe. Er wird im Gegenteil so etwas wie Skepsis gegenüber seinem eigenen wissenschaftlichen Standpunkt entwickeln und damit mehr Toleranz gegenüber konkurrierenden Standpunkten, sofern sie wissenschaftlich und nicht dogmatisch sind. Vielleicht wird er sie sogar aufsuchen, um aus ihnen zu lernen. Und als Literaturhistoriker wird er einzusehen beginnen, daß „Wirkungsgeschichte" — die Geschichte der Wirkungen eines Werks — eine Bezeichnung ist, die auf einer undurchdachten terminologischen Konvention beruht. Vielleicht wird er dann auch beginnen, so etwas wie eine dokumentierte, nicht bloß entworfene Geschichte der konkurrierenden Interpretationen ins Auge zu fassen, die ein Werk hervorgerufen hat. Wenn er sich auf ein solches Unternehmen einläßt, wird ihm auch klar werden, daß die Geschichte der Interpretation eines Werkes keinesfalls eine notwendige Abfolge von Phasen ist, die aufeinander aufbauen und konsequent auf irgendein Ziel hinführen. So ist beispielsweise die berühmte Aufführung von Kenneth Cavanders Bearbeitung der Bacchantinnen des Euripides durch die Truppe der Theaterabteilung der Yale University unter Robert Brustein im Jahre 1968 durch vorhergegangene Interpretationen dieses Stückes keinesfalls „determiniert". Sie kann verständlicher werden, wenn man sie im Lichte der Sensibilität betrachtet, die aus zeitgleichen Interpretationen spricht, etwa aus der Bearbeitung des-
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selben Dramas durch Auden für Henzes Oper Die Bassariden (1966), oder aus zeitgleichen Aufführungen anderer klassischer Stücke. Ähnlich erhellend wäre ein Blick auf Originalstücke, die in den USA in den 1960er Jahren entstanden sind, wie Feiffers God Bless und van Itallies America Hurrah, auf Theaterstile der Zeit wie etwa dem, der durch das Living Theater verbreitet worden ist, und auf Konzeptionen des Theaters und der Dramengeschichte wie die in Brusteins The Theater of Revolt, die zur selben Zeit entworfen wurden. Ein Blick auf andere Formen des öffentlichen Ausdrucks durch Gruppen wie etwa auf den Versuch von Hippies, das Pentagon zu levitieren, oder auf die damals an amerikanischen Universitäten noch üblichen Demonstrationen trüge ebenfalls zum Verständnis der genannten Aufführung bei. Wie also müßte eine Literaturgeschichte aussehen, die solche Phänomene einbezieht? Sie kann nicht dualistisch sein, sondern muß zumindest aus drei geschichtlichen Strängen bestehen: aus der Abfolge der Kunstwerke, so wie sie entstanden sind (die meisten Literaturgeschichten sind in diesem Sinne genetisch); aus den verschiedenen Grundüberzeugungen zur Literatur (wie z . B . Welleks History of Modern Criticism); und aus den am schwierigsten zu fassenden Wandlungen der Sensibilität, die weder aus den jeweils entstandenen Kunstwerken noch aus den kritischen Grundvorstellungen der jeweiligen Zeit allein hinreichend erschlossen werden können; dazu bedarf es in erster Linie der verschiedenen Interpretationen eines Werks, also der Uberlieferungsgeschichte oder — um jedes Mißverständnis auszuschließen — der Interpretationsgeschichte. Eine interessante Fragestellung für sie ist die nach den Beziehungen zwischen den Interpretationen vergangener Werke und dem Stil der jeweils zeitgleich entstehenden neuen. Gewiß wird keiner dieser Stränge bei genauem Hinsehen eine gerade, „fortschrittliche" Linie bilden; weder sind sie voneinander, von der Entwicklung anderer Künste und von der kulturellen und allgemeinen Geschichte unabhängig noch können die Zusammenhänge durch irgendein dialektisches oder sonstiges „Gesetz der Geschichte" dekretiert werden: Sie werden von Personen, von
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Autoren und Kritikern, von Lesern und Verlegern in all ihrer persönlichen Zufälligkeit zusammengehalten. Am allerwenigsten kann man Geschichte fassen, indem man sie als aus sauberen Gegensatzpärchen konstituiert sieht, die dem Gang des Weltgeists Spalier stehen. Aber diejenigen Abweichungen — und seien sie noch so minimal — die ein intelligenter Marxist dem Dogma, dem er verpflichtet ist, abringen kann, enthalten gelegentlich Einsichten, die auch ein Ungläubiger zu seinem Nutzen wahrnehmen kann.
T. S. Eliots konkrete Kritik: Ideogramm statt Theorie Es hat sich gezeigt, daß es im Literaturbetrieb und Literaturgeschäft vielerlei Möglichkeiten gibt, den Umgang mit der Literatur absichtlich oder unabsichtlich zu verleiden, heute mehr denn je. In dieser Lage mag es hilfreich sein, nach vorbildlichen Kritikern Umschau zu halten, um Hinweise darauf zu erhalten, was zur literaturgerechten Erhellung literarischer Werke beitragen kann. Dabei wird bei welthaltiger imaginativer Literatur, wo ein Sujet vorliegt — z. B. bei Gesellschaftsromanen und sozialen Dramen — anderes zu berücksichtigen sein als bei solchen Werken, die ihre Welt erst setzen — also z. B. bei Lyrik. Auf der Suche nach Möglichkeiten, Lyrik nicht nur zu „verarbeiten", ideologiekritisch (und das heißt: ideologisch) zu entlarven, zu „behandeln" und zu „besprechen", sondern selbst und für sich selbst sprechen zu lassen, findet man in Eliots früher Kritik einige bisher kaum weiter erprobte Anregungen, die dennoch ihre Gültigkeit und ihren Nutzen nicht verloren haben.
I. AUF DER SUCHE NACH DEM IDEALEN KRITIKER
,,In Fragen von höchster Wichtigkeit darf der Kritiker nicht Zwang ausüben, darf er nicht Werturteile aufstellen. Er muß einfach klarstellen: Dann wird sich der Leser das richtige Urteil selbst bilden." Nur ein Dogmatiker wird diesem aufgeklärten, liberalen Grundsatz, der die Mündigkeit des Lesers respektiert, widersprechen wollen. Aber damit, daß ihn Eliot auf der Suche nach dem „vollkommenen Kritiker" 1920 aufstellte, 1 ist nur das Ziel genannt, nicht der Weg, der dorthin führt. Eine etwas weiterführende Andeutung findet sich noch im selben Aufsatz: „Wahre Verallge-
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meinerung ist im Gegenteil nicht etwas, das einem angesammelten Schatz von Wahrnehmungen aufgepfropft wird; in einem wirklich das Kunstwerk würdigenden Geist häufen sich die Wahrnehmungen nicht als Masse an, sondern formen sich zu einem Gefüge; und Kritik ist die sprachliche Formulierung dieses Gefüges, die Entwicklung der Sensibilität." 2 Eliot hat die Rolle des in seinem Sinne vollkommenen Kritikers selbst wohl nie vollständig verkörpert, weil auch die „unvollkommenen Kritiker", die er ebenfalls charakterisiert hat, in ihm wirksam geblieben sind: Denn wie sein „technischer" Kritiker propagiert er im wesentlichen einen neuen dichterischen Stil, indem er (allerdings in der Regel mit neuen Mitteln) wie sein „impressionistischer" Kritiker eigene Eindrücke und Vorlieben aufzeichnet. Wie sein „dogmatischer" Kritiker stellt auch er Vorschriften für den Dichter auf. „Der einzige Weg, ein Gefühlserlebnis künstlerisch zu gestalten, besteht im Auffinden einer gegenständlichen Entsprechung', mit anderen Worten: einer Reihe von Gegenständen, einer Situation, einer Kette von Ereignissen, welche die Formel dieses besonderen Erlebnisses sein sollen, so daß, wenn die äußeren Tatsachen, die sinnlich wahrnehmbar sein müssen, gegeben sind, das Erlebnis unmittelbar hervorgerufen wird." 3 Und wie sein „abstrakter" Kritiker, den er überhaupt nicht schätzt, überträgt Eliot selbst nur allzu gern naturwissenschaftliches oder technologisches Vokabular in allerdings meist vagen Analogien auf die Literaturkritik. In seinem Aufsatz über den vollkommenen Kritiker unterzieht er eine Textprobe („specimen") einem „Test"; der Dichter als „Katalysator" ist beinahe noch berüchtigter als berühmt; die eben zitierte „gegenständliche Entsprechung", das „objektive Korrelat", klingt besonders wegen des Automatismus der Wirkung, die diese Formel einem Werk zuzuschreiben scheint, perfekt szientifisch, doch sie hat in Eliots Anwendung ihre exakte Bedeutung verloren: Um die dritte Größe einer Korrelation exakt bestimmen zu können, müssen zwei gegeben sein, z. B. a ist n mal größer als x; a ist 4, n ist 2: nun kann x tatsächlich bestimmt werden. Im Fall des „objektiven Korrelats" ist nur „a" gegeben, das Gedicht; die Emotionen, denen es entsprechen soll, sind keinesfalls exakt
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erschließbar, da der Korrelationsfaktor nicht bekannt ist. Als Eliot diese mit allgemeinem Gesetzesanspruch vorgebrachte imagismusnahe und deshalb historisch eingeschränkte Dichtanweisung formulierte, hat die pseudoszientifische Terminologie seine ersten Leser und vielleicht auch ihn selbst über ihre mangelnde Präzision hinweggetäuscht. 4 Doch trotz solcher Unvollkommenheiten ist Eliot insbesondere in seinen frühen Aufsätzen seiner Vorstellung des vollkommenen Kritikers gelegentlich sehr nahe gekommen, am nächsten wohl in den in Homage to John Dryden (1924) gesammelten Arbeiten, und unter ihnen insbesondere in dem zuerst 1921 veröffentlichten Aufsatz Andrew Marvell. Edwin Muir bezeichnete ihn in einer Rezension als Eliots besten, und M. C. Bradbrook machte ihn bereits einmal zum Ausgangspunkt einer Untersuchung von Eliots kritischer Methode. 5 Sie gilt seitdem als „poetisch". 6 Die folgende Darstellung hat mit der Bradbrooks den Ausgangspunkt gemeinsam, geht aber insbesondere dort weiter, wo sich Bradbrook mit der Feststellung begnügt, daß in Eliots Kritik Zitate oft die hauptsächlichen Aussagen bilden und daß seine zusammenfassenden Urteile „Sinn und Tiefe nur in ihrem Zusammenhang und in aktivem Zusammenwirken mit der Dichtung, die sie beurteilen", besitzen. 7 Im folgenden soll gewissermaßen die methodische Quintessenz des Aufsatzes über Marvell herausgearbeitet werden, wobei davon abgesehen wird, den offenbaren Nebenwegen nachzugehen. Was dadurch an Komplexität verlorengeht, kommt — hoffentlich — der Klarheit zugute.
II. TESTFALL: ELIOTS ANDREW MARVELL Andrew Marvell ist einer der Schlüsselessays aus der Frühphase des Kritikers Eliot. In ihm geht es um die Formulierung einer Qualität, die Eliot an jener Art von Dichtung hervorhebt, die ihm wertvoll erscheint. Für diese Qualität wählt er die Bezeichnung wit (Esprit, Geist); ihr Umkreis ist in diesem Essay durch die Eigenschaften Überraschung, Einbildungskraft, Einfallsreichtum, menschliche Er-
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fahrung, Genauigkeit und Andeutungsfülle abgesteckt. Sie steht ferner im Zusammenhang mit der Dissoziierung der Sensibilität, die zwar hier nicht so bezeichnet wird, aber inhaltlich doch als Begleiterscheinung der im siebzehnten Jahrhundert erfolgten Trennung der übergeordneten Qualität wit in zwei separate, aber verwandte Eigenschaften, deren eine weiterhin wit heißt, während die andere mit dem Wort magniloquence — also Eloquenz in einem abwertenden Sinne, Großredigkeit — gefaßt wird. Die entscheidende, vielzitierte Formel, die Eliot für die von ihm herausgestellte Eigenschaft angibt, lautet: „Es handelt sich dabei um das, was wir provisorisch als ,Esprit' gekennzeichnet haben, als grundsolide Vernünftigkeit unter der leichten lyrischen Anmut (a tough reasonableness beneath the slight lyric grace)." 8 Zwar weist Eliot auf die Vorläufigkeit dieser Definition hin; doch da er sie nie zu einer definitiven Fassung hinführt (worauf er ebenfalls hinweist), muß er es sich gefallen lassen, daß schon sie auf ihre begriffliche Stringenz hin überprüft wird. Dabei erweist sie sich als ausgesprochen schwammig. „Vernünftigkeit" („reasonableness") — nicht Vernunft oder Rationalität — deutet nicht so sehr auf eine Qualität intellektueller Schärfe hin, als auf ein maßvolles, vernunftgemäßes Verhalten in einem sehr weiten Sinn, der sich bis hin zu der Aufforderung „So sei doch vernünftig!" erstrecken kann. Und diese Eigenschaft soll .„tough" sein: zäh, hart, robust, solide, dauerhaft — also etwas durch und durch Vernünftiges, eine grundsolide Vernünftigkeit. Bei dieser Prägung handelt es sich um ein Wertwort, eine Fiktion im Sinne Jeremy Benthams.9 Vernünftigkeit an sich verweist auf keinen scharf umrissenen Sachverhalt, sondern summiert eine Vielfalt verschiedener Verhaltensweisen, die die jeweiligen Autoritäten gutheißen. Diese Summierung erfolgt als Hypostasierung: Die gefundene Bezeichnung suggeriert, daß es eine einzige Eigenschaft namens Vernünftigkeit gebe; aber diese Suggestion beruht auf einer sprachlichen Fiktion, 10 die sich leicht als rhetorische Waffe verwenden läßt. Letztlich bleibt eine solche Bezeichnung eine nur vage Größe im Denken dessen, der sie benutzt; sie drückt eine Haltung,
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Marceli
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eine Einstellung aus, die nicht an einen eindeutigen Sachverhalt gebunden ist. 1 1 Ähnliches gilt für den zweiten Teil der Formel, für „leichte lyrische Anmut": „Lyrische Anmut" hat eine starke Suggestivkraft, jedoch keine präzise Bedeutung; denn angesichts der Vielfalt in der Dichtung und ihrer Theorie verlangt zumindest „lyrisch" zwingend eine Erläuterung. „Leicht" („slight") leistet dies nicht, wirft vielmehr ein zusätzliches Problem auf. Neben der leichten, feinen, flüchtigen lyrischen Anmut gibt es demnach noch andere — schwere, solide, permanente Arten lyrischer Anmut? Der unmittelbare Ko-Text bringt keine Klärung. Statt dessen überspielt ein stilistischer Trick alle Schwierigkeiten: Die erstmalige Einführung einer so unscharfen und unbestimmten Wendung wie „leichte lyrische Anmut" durch den bestimmten Artikel — „eine grundsolide Vernünftigkeit unter der leichten lyrischen Anmut" — fingiert Bekanntheit und Bestimmtheit. In Dichtung mag dieses Stilmittel wirkungsvoll sein: es mag eine gewisse geheimnisvolle Vertrautheit suggerieren.12 In kritischer Prosa ist es fehl am Platze, da es hier ja um begriffliche Klarheit und Präzision gehen soll. Alles in allem heißt dies, daß die Formel, die Eliot findet, allein für die Definition des Schlüsselbegriffs wit nicht ausreicht. Hilft ein Blick auf den weiteren Ko-Text? Hier bezeichnet Eliot zunächst einmal wit als einen der konturlosen, wandelbaren Fachausdrücke der Literaturkritik und knüpft daran die kennzeichnende Folgerung, daß seine Präzisierung bis zu einem gewissen Grad der Belesenheit und des guten Geschmacks des Lesers bedarf. Dann grenzt er ausschließlich verbal die gesuchte Eigenschaft „Esprit der karolinischen Dichter" von anderen Formen des wit bei Shakespeare, Dryden, Pope und Swift ab. Dieses fast pedantische Differenzieren von Phänomenen in einem weiten Bezugsfeld erweckt beim Leser den Eindruck, daß der Autor ein großes Gebiet der Literatur beherrscht und bei allem Uberblick außerdem noch die feinsten Nuancen darin auseinanderzuhalten versteht. Eliots Vorgehen erinnert an die Methode der subtilen
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Unterscheidung und präzisen Definition, die einer seiner einflußreichsten akademischen Lehrer, Irving Babbitt, gleich zu Beginn seines ersten grundlegenden Buches, Literature and the American College (1908) als die Sokratische Methode nachdrücklich empfohlen hat. 13 Aber Eliots Methode ist in einem ganz präzisen Sinn das Negativ der Babbitts, was durch einen Seitenblick auf Babbitts eigene Analyse des Begriffs wit im sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert sofort klar wird.14 Babbitt bemüht sich darum, die Bedeutungen des Wortes wit, die er unterscheidet, jeweils durch positive Bestimmungen zu füllen. Ihm geht es um das theoretische Ideal der eindeutigen inhaltlichen Definition und der Klarheit und Konsequenz des Denkens.15 Babbitts Kritik ist zuallererst Ideengeschichte; Eliot dagegen geht es, ob in der Dimension der Geschichte oder im Umkreis der Gegenwart, um Sensibilität, um Geschmack, um die unmittelbare Erfahrung von Dichtung. Das heißt weiter, daß der Einfluß von Babbitt auf Eliot von Anfang an längst nicht so geradlinig ist, wie normalerweise angenommen wird; aber dies zu verfolgen wäre ein Beitrag zu einem Kapitel Kritikgeschichte und gehört nicht hierher. 16 Es ist ein deutliches Anzeichen für diesen charakteristischen Unterschied zwischen Eliots Verfahrensweise und der Babbitts, daß im Marvell-Essay die Bezugspunkte, von denen die Qualität „Esprit bei Marvell" abgesetzt wird, inhaltlich kaum genauer bestimmt werden als der gesuchte Begriff selbst, so daß diese Definition via negationis dem Verständnis nicht näher führt. Als Folge dieser Schwäche im abstrakten Definieren zieht sich Eliot gleich wieder aus der Nähe der begrifflichen Sphäre zurück, verfährt wiederum ganz exemplarisch und nennt Titel von Gedichten, die wit in seinem Sinne enthalten, sowie die Namen einiger Dichter, die seiner kaum oder gar nicht fähig sind. Dieses Vorgehen erklärt, warum Eliot einen vergleichsweise großen Wert auf die Belesenheit und den guten Geschmack seiner Leser legt — ja legen muß. Das bloße Andeuten von Beispielen setzt voraus, daß die Belesenheit seiner Leser mit seiner eigenen literarischen Bildung, ihr Geschmack mit seiner eigenen Sensibilität weit-
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gehend übereinstimmen. Auf dieser Annahme bauen auch jene Passagen auf, in denen er in Andeutungen zu Projektionen seiner eigenen literarischen Bildung spricht — insbesondere eben im Falle solcher Definitionen via negationis mittels Undefinierter Bezugspunkte — und die in seinen Essays durchaus nicht selten sind. Sie werden jedoch in großer Anzahl von Abschnitten ergänzt, in denen zwar auch keine begriffliche Argumentation erfolgt, wohl aber ein anderer Weg der Klärung beschritten wird. Um diese Methode aufzuspüren und zu isolieren, müssen zunächst die anderen expliziten und impliziten Kontexte des Schlüsselwortes wit im Marvell-Aufsatz zusammengestellt werden. Die Art ihrer Fügung gibt dann Hinweise auf Eliots Methode. Einleitend gilt es festzuhalten, daß Eliot die Frage nach dem Wesen des wit, das er an Beispielen aus der Dichtung englischer Metaphysischer Dichter, französischer Symbolisten und — was oft übersehen wird — erotischer Eklogendichter des Augusteischen Zeitalters aufrollt, als ein für die moderne Dichtung besonders aktuelles Problem bezeichnet. Die diesbezügliche Einleitung ist in preziösen Metaphern gehalten: Eliot nimmt sich vor, die Essenz einiger weniger Gedichte tropfenweise auszupressen, um so eine köstliche Flüssigkeit zu finden, die seinen Zeitgenossen möglicherweise unbekannt ist. Das heißt aber, daß trotz aller historisierender Erörterungen, in die Eliot seine Bemühungen um die Präzisierung der Quitessenz wit hineinstellt — Überlegungen über die geistigen Erfahrungen der Engländer im siebzehnten Jahrhundert und die spätere Dissoziierung der umfassenden Qualität wit — die eigentliche Absicht nicht die philologische Erschließung von poetischen Traditionen ist, sondern die Erarbeitung einer modernen poetischen und poetologischen Position. Diese Werkstattorientiertheit ist kennzeichnend für Eliots Kritik; sie erklärt unter anderem, warum er im weiteren Verlauf des Essays den historischen Rahmen nur allzu bereitwillig aufbricht und sich auf Dichter aus den verschiedensten Epochen bezieht. Für Eliots Methode ist es weiterhin kennzeichnend, daß nur die ersten (drei) Seiten seines Essays in argumentativer Prosa gehalten sind; und selbst in diesem diskursiven Teil werden — wie gezeigt —
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die begrifflichen Definitionen von ihm selbst nur als vorläufige Formulierungen eingeführt, die freilich nie eine definitive Fassung erhalten. Was also leistet der Aufsatz? Die eigentliche kritische Leistung steckt im zweiten, im exemplarischen Teil. Seine zehn Seiten präsentieren siebenundzwanzig mehr als zweizeilige Zitate aus siebzehn Gedichten von elf Autoren in drei Sprachen; hinzu kommen fünf in den Text eingesprengte Zeilenzitate und ein längeres Prosazitat. Aus diesen rein quantitativen Kriterien läßt sich bereits erkennen, daß in einem kritischen Text, der zu 36,4 Prozent aus Zitaten besteht, die Argumentationsweise durch die Fülle des zitierten Materials mitbestimmt sein muß. Ubernimmt hier Eliot nur in übertriebener Weise die Arnoldsche Methode der „touchstones", wonach ausgewählte Verszeilen dem Leser als Prüfsteine für bestimmte poetische Qualitäten an die Hand gegeben werden, oder verwendet er seine Zitate noch anders? Diese Frage läßt sich am besten dadurch beantworten, daß der zentrale Teil des Essays einer genauen Analyse unterzogen wird, wobei hier um der Pointierung willen darauf verzichtet wird, sämtlichen verzweigten und zum Teil in Nebensächlichkeiten führenden Argumentationsgängen Eliots nachzugehen. Eliot stellt zunächst Marvells To His Coy Mistress als ein Gedicht heraus, in dem die Stimme seines Jahrhunderts und damit wit in dem gesuchten Sinne außergewöhnlich stark anklingt. Er zitiert „Had we but world enough and time . . . " und „But at my back I always hear . . . " und findet insbesondere in den letzteren Zeilen einen ganzen Kulturkreis aufgehoben: Sie erinnern ihn an Horaz und Catull; aber, so findet er, Marvells Bilder erweitern und vertiefen die Tradition. Nach einem Einschub über die Frage, wie anders und unvollkommener doch ein moderner Dichter dieses Thema zu Ende geführt hätte, nimmt Eliot den Gedanken der Weite und Tiefe der Marvellschen Bildersprache wieder auf. Wit in Marvells Gedicht sei mit der Imagination verschmolzen. Er sei die strukturelle Ausschmückung eines ernsten Gedankens. Indem Eliot hier Wordsworths und Ruskins Vorstellung aufnimmt, daß die Einbildungskraft („imagination" im
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Gegensatz zum bloßen Einfallsreichtum, „fancy") durch ihren tiefen Ernst („high seriousness") gekennzeichnet sei, verbindet er sie mit T. E. Hulmes Ansicht, daß „moderne klassische" Dichtung durch die Leichtigkeit und das Spielerische der Einfälle, ja, durch das Ausgefallene gekennzeichnet sei, und kommt zu der Feststellung, die gesuchte Qualität wit sei durch diese Verbindung von Leichtigkeit und Ernst (wodurch der Ernst noch verstärkt würde) bestimmt. Mit ein paar raschen Zügen sprengt Eliot nun den historischen Rahmen, in den er seinen Essay in der Einleitung gestellt hat, und nennt diese komplexe Qualität des heiter-ernsten wit das Merkmal „anspruchsvoller" Literatur („sophisticated literature") schlechthin; er zitiert oder nennt Gautier, Baudelaire, Laforgue, Ben Jonson, Properz und Ovid. Weitere Zitate, die aus einem offensichtlich nebensächlichen verstechnischen Grund zusammengestellt werden, führen abschließend zu einem Zitat aus Marvells The Nymph Complaining for the Death of her Faun. Diesem Zitat stellt er die Beschreibung einer praktisch identischen Szenerie in dem Gedicht The Nymph's Song to Hylas des Präraphaeliten William Morris gegenüber. Marvell beschreibt seinen locus amoenus wie folgt: I have a garden of my own But so with roses overgrown And lilies that you would it guess To be a little wilderness; And all the spring-time of the year It only loved to be there.
( „ I t " — das Rehkitz, also etwa: Ich habe einen Garten, der ist aber so mit Rosen und Lilien überwuchert, daß man ihn eher für ein kleines Stück Wildnis halten könnte. Und während des ganzen Frühjahrs mochte sich mein Rehkitz nur dort aufhalten.) Bei Morris findet sich: I know a little garden close Set thick with lily and red rose Where I would wander if I might From dewy dawn to dewy night And have one with me wandering.
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T. S. Eliots konkrete Kritik
(Ich kenne einen kleinen heimeligen Garten, der dicht mit Lilien und roten Rosen bepflanzt ist. O könnte ich dort vom tauigen Morgen bis zur tauigen Nacht umherstreifen und jemanden dabei an meiner Seite haben.) Die Entsprechungen sind in der Tat überraschend, und Eliot hebt sie auch gebührend hervor. Aber auch die Unterschiede sind mehr als deutlich. Bei Morris nämlich ist die Emotion nicht in der Darstellung enthalten, sondern aufgesetzt. Denn wenn der Garten so klein und intim ist, wie er es als locus amoenus nun einmal sein muß und wie er ja auch beschrieben ist, so ist der Wunsch schier unsinnig, ganztägig darin umherzustreifen: Es fehlt der deutlich ausgesprochenen Emotion des Sprechers im Werk selbst die gegenständliche Entsprechung, das objektive Korrelat, wie Eliot sagen könnte. Er tut dies nicht, hebt aber das hervor, was daraus folgt: Morris ziele zwar stark auf eine Suggestivwirkung ab, erreiche sie aber nicht, weil eine Suggestivwirkung gleichsam eine Aura sei, die nur von einem hellen, klaren Mittelpunkt ausgehen könne — „the aura around a bright clear center". Dieser präzise Kern, so fährt Eliot fort, fehlt bei Morris, so daß das Ergebnis den Eindruck von Tagträumerei erweckt und unbedeutend bleibt. Marvell dagegen nehme einen unbedeutenden Anlaß — den Schmerz einer N y m p h e um den Tod ihres Schoßtierchens — und verleihe ihm durch seinen Esprit jenen unerschöpflichen und schrecklichen Spiralnebel aus Gefühl, der alle unsere genauen und praktischen Leidenschaften umgibt und sich mit ihnen mischt: „that inexhaustible and terrible nebula of emotion which surrounds all our exact and practical passions and mingles with them." O h n e Frage ist dieses zusammenfassende Urteil ähnlich suggestiv und zitierbar wie die Formel von der „soliden Vernünftigkeit", an die es sprachlich erinnert; und es ist begrifflich ebenso unfest: „aura around a bright clear center" ist keine begriffliche Fügung, sondern ein Bild; als solches ist es eindrucksvoll. Poetisch besitzt diese Passage eine starke Strahlkraft. Als kritisches Urteil aber wirkt sie — genau in Umkehrung von Eliots Aussage über Dichtung — suggestiv, ohne daß sie einen begrifflichen Kern besäße.
Testfall: Eliots
Andrew Marvell
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Haben also doch alle diejenigen Kritiker recht, die von der poetischen Qualität der Eliotschen Kritik sprechen und es dabei bewenden lassen? Diese irritierende Frage erhält ihre Antwort — und die offenbare Leerformel wird mit Sinn erfüllt —, wenn der Kontext des Gedichts, aus dem Eliot zitiert, beachtet wird. Das ist für kritische Prosa eigentlich ein etwas umständliches und weniger geeignetes Verfahren; hier ist Eliots Methode verbesserungsbedürftig, aber zugleich ausbaufähig. Aber das indirekte Zitat ist nun einmal Eliots Gewohnheit auch in der Dichtung, ganz so als diene das Zitat als heller, klarer Kern für eine ausgedehnte Aura von gedanklichen und emotionalen Assoziationen. So findet sich im nächsten Kontext der zitierten Stelle in Marvells Nymphengedicht eine kurze Episode, deren Höhepunkt folgendermaßen geschildert wird: Upon the Roses it would feed Until its Lips ev'n seemed to bleed And then to me 'twould boldly trip And print those Roses on my Lip. 1 7
( „ I t " bezieht sich wieder auf das Lieblingskitz der Nymphe, von dem bereits die Rede war. Es fraß gerne die Rosen im Garten, bis sogar seine Lippen zu bluten schienen; und dann trippelte es immer kühnlich auf mich zu und drückte mir jene Rosen auf die Lippen.) Bei der Analyse der Bilderprogression, mit der das Verhalten des Tieres an dieser Stelle geschildert wird, fällt folgendes auf: Die erste der hier wiedergegebenen Zeilen kann ohne weiteres ganz deskriptiv verstanden werden: Das Kitz hat eben eine Vorliebe für Rosen als Futter entwickelt. Die zweite Zeile führt den Bildträger einer konventionellen Metapher ein, „bluten"; denn es ist nicht anzunehmen, daß das Kitz so unvorsichtig war, daß es sich regelmäßig die Lippen an den Dornen der Rosen aufriß und „bluten" somit deskriptiv zu verstehen wäre. Auch heißt es ja, daß seine Lippen zu bluten schienen, nicht, daß sie wirklich bluteten. Dennoch ist „bluten" hier mehr als nur ein konventionelles Bild: Es wird zu einem Motiv im Verhalten des Tiers; denn, so besagt die dritte Zeile, das „Rosenbluten" bewirkte eine unerwartete Veränderung in der Verhaltens-
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T. S. Eliots konkrete Kritik
weise des Kitzes: Sonst lag ihm nur daran, „seine reinen jungfräulichen Glieder in das weißeste kalte Lilienlinnen zu hüllen" („. . . its pure virgin Limbs to fold / In whitest sheets of Lillies cold"); jetzt wurde es so kühn, daß es die Nymphe küssen ging, ihr „jene Rosen" auf die Lippen drückte. Das heißt aber, daß der Kontext die Rosen in dieser Zeile dazu drängt, zu dem erotischen Symbol der carpe ¿zem-Tradition zu werden, in der Marvell dieses Gedicht schreibt und auf die Eliot in seinem Aufsatz indirekt hinweist. Aber die „Rosen" sind auch in der vierten der zitierten Zeilen nicht eindeutig Symbol; im Zusammenhang mit „Blut", „Lippen" und „ K u ß " suggerieren sie nur Symbolhaftigkeit. Denn sie bleiben — und das ist hier das Entscheidende — ganz emphatisch „jene Rosen": jene ganz konkret vorzustellenden Rosen, die das Kitz gefressen hat. Natürlich muß das so sein; das ist ganz vernünftig so. Rosen sind und bleiben Rosen. Da kann auch ein ganz „realistisch" orientierter Mensch nichts dagegen sagen. Denn das Symbolhafte erweist sich in diesem Beispiel als nicht mehr denn ein Spiel der Einbildungskraft, ein freilich wirkungsvolles. Alles an diesen Zeilen bleibt also klar, hart, präzise — allerdings mit einer Aura von Strahlkraft umgeben: eine solide Vernünftigkeit unter der leichten lyrischen Anmut der phantasievollen, spielerischen Einbildungskraft: Unter Berücksichtigung des Poundschen Grundsatzes aus dem Jahre 1913, wonach der natürliche Gegenstand immer das angemessene Symbol ist, haben sich Eliots abstrakte Formeln aus dem Kontrast von Zitaten beziehungsweise von deren Kontext mit Sinn gefüllt. 18 Danach stellt sich Eliots frühe kritische Methode im Marvell-Essay wie folgt dar: 1. Kritische Erkenntnisse und Unterscheidungen resultieren aus Vergleichen und Konfrontationen von Textstellen, wobei der Leser selbst tätig werden muß. Eliot nennt zu jener Zeit Vergleich und Analyse als die beiden Werkzeuge der Literaturkritik. 19 Dabei bedeutet Analyse einfach Isolierung kleiner Textpassagen. 2. Gelegentlich sind die Konfrontationen oblik, indirekt, d. h. die erhellende Stelle findet sich nicht im Zitat selbst, sondern in
Testfall: Eliots Andrew Mameli
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seinem Kontext. Auch in seiner zitat- und anspielungsreichen Lyrik verwendet Eliot oft diese Zitatform, die dem Kontext besondere Bedeutung zumißt. 3. In den Formulierungen, die Eliot aus den so gewonnenen Einsichten ableitet, dringt er nicht zu begrifflichen Urteilen vor; er begnügt sich meist mit bildhaften Formeln. Dieses Verzichten auf Begriffsdefinitionen entspricht seiner Uberzeugung, daß Dichtung als eine wesentlich emotionale Disziplin intellektuell nicht erfaßbar ist. 20 4. Der zitierte Text — der Bezugstext — ist hier nicht auswechselbare Illustration einer These oder beliebig gewählter Ausgangspunkt eines Kommentars oder einer Analyse philologischer oder psychologischer oder sonstiger Art, sondern wesentliches, konstituierendes Element von Eliots Literaturkritik. Deshalb hat Eliots frühe Methode an ihren kennzeichnendsten Stellen mit Arnolds Prüfsteinen oder gar Joyces Epiphanien, mit denen sie schon gleichgesetzt worden ist, nichts zu tun. 21 Erst in späteren Aufsätzen greift Eliot wieder ausschließlich auf die Prüfsteinmethode zurück, indem er z. B. in The Three Voices of Poetry (1953) eine nicht mehr näher ausgewiesene „noch unpersönlichere Stimme" als die dritte, die des Dramatikers, an Zeilen wie „Ripeness is all" („Reifsein ist alles") oder „Simply the thing I am / Shall make me live" („Einfach das, was ich bin / soll mich am Leben halten") belegt. 22 5. Mit Pound kann die frühe kritische Methode Eliots im Gegensatz zur aristotelischen als die ideogrammische bezeichnet werden. Sie ist die Anwendung der poetischen Methode des Imagismus auf die Literaturkritik.
III. IDEOGRAMM STATT THEORIE
Diese abschließende Andeutung bedarf der Erläuterung und des Belegs. Anknüpfungspunkt ist Pounds Idee des imagistischen Prinzips als der Uberlagerung zweier sinnlich-konkret wiedergegebener Details in einem Image, dessen Sinn sich in dem Moment erschließt, in dem sich dem in die Details versenkenden Verstehen
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T. S. Eliots konkrete Kritik
deren Korrelation offenbart.23 Meist ist der Bezug eine unter einem deutlichen Kontrast verborgene unerwartete Analogie. Was Pound so in eigenen Überlegungen zunächst als Imagismus (und später als Vortizismus) anstrebte, fand er bald im Nachlaß des Sinologen Ernest Fenollosa bestätigt, der ihm 1913 anvertraut wurde und aus dem er 1919 die für diese Frage entscheidende Abhandlung The Chinese Written Character as a Medium for Poetry herausgab. Ihr Grundgedanke ist, daß Vorstellungen, die in europäischen Sprachen in hierarchisch fortschreitender begrifflicher Abstraktion ausgedrückt werden, im Chinesischen ideogrammisch wiedergegeben werden: Ideogramme sind symbolische Zusammensetzungen aus einfachen Piktogrammen, deren Sinn sich gelegentlich additiv (Wald = Baum/Baum), in der Regel aber relational ergibt (Osten = [aufgehende] Sonne/ [im] Baum). In dieser Deutung ist das sinnstiftende Prinzip des Ideogramms die Schnittfigur aus der Uberlagerung kontrastierender semantischer Felder, die ihrerseits von einfachen sinnlichen Komponenten ausgehen. Je nach Kontext werden einmal der Schnittpunkt (das Gemeinsame), ein anderes Mal die divergierenden Linien (die Unterschiede) im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen. Aber in jedem Fall eines Vergleichs konkreter Beispiele — seien es Abstriche oder Schnitte unter dem Mikroskop oder literarische Werke oder Zitate daraus — werden das Gemeinsame und das Verschiedene interferieren. Inzwischen gilt es in der Sinologie als erwiesen, daß nur eine kleine Klasse der chinesischen Schriftzeichen auf dem Prinzip beruht, das Pound in der Freude des Entdeckens eines kongenialen Systems als Grundprinzip des chinesischen Schriftzeichens schlechthin angesehen hatte.24 Aber in diesem Zusammenhang ist es nicht wesentlich, ob Pounds damalige Ansichten den neuesten Erkenntnissen chinesischer Sprachwissenschaft entsprechen oder nicht. Schon der Titel der von Pound herausgegebenen Abhandlung Fenollosas bringt zum Ausdruck, daß es ihm nicht um philologische, sondern um poetologische Erkenntnisse ging: Im chinesischen Ideogramm glaubte er ganz im Sinne Emersons eine lebendige Form der ursprünglich wesentlich poetischen Sprache gefunden zu haben, einer Ursprache,
Ideogramm statt Theorie
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die seiner Konzeption von Dichtung entspricht. Zeichenkombinationen aus scharf umrissenen Details stiften bei völliger sinnlicher Konkretheit ihrer Bestandteile im Moment des Erkennens der vorliegenden Korrelation Sinnfülle und Sinntiefe: Die Elemente sind Zeichen für einfache Naturgegenstände, ihre Konfigurationen Images (bzw. Ideogramme) im spezifisch Poundschen Sinn des Wortes. Sinn leuchtet in ihnen insofern auf, als sie adäquate Symbole sind, d. h. als sie zwischen Logik und Ontologie vermitteln. Aber bei aller Fragwürdigkeit von Pounds philologischen Uberlegungen ist er doch intuitiv zum Wesen chinesischer Denkstrukturen vorgedrungen. In Anlehnung an den chinesischen Philosophen Chang Tung-Sun hat Walther L. Fischer nachgewiesen, daß Pounds poetologische Überlegungen die in der chinesischen Sprache gespiegelte und von ihr mitbestimmte nicht-aristotelische Logik des chinesischen Denkens erfaßt und für sich nutzbar gemacht hat. 25 Die Satzstruktur der tibeto-chinesischen Sprachen ist nicht wie in den indo-europäischen durch eine Subjekt-Prädikat-Form gekennzeichnet. Damit hängt zusammen, daß das chinesische Denken nicht wie das westliche von der Form des (aristotelisch-)logischen Urteils und von Urteilskategorien bestimmt ist; vielmehr beruht es auf Relationsverkettungen. Insofern als die chinesische Sprache keine Verbform besitzt, die dem Verb sein völlig gleichkommt, operiert die chinesische Logik weder mit dem Satz der Identität noch mit dem des Widerspruchs; es handelt sich bei ihr um eine Logik, in der nicht die Kontradiktion, sondern das (zeitliche) Nebeneinander von Alternativen konstituierend ist, eine Logik der korrespondierenden Dualität, eine prozessuale Korrelationslogik. 26 Es bedarf aber nicht unbedingt eines Exkurses ins Chinesische, um Manifestationen dieser Denkform zu begegnen. F. H. Bradley beschreibt den logischen Vergleich ganz in diesem Sinne als Interferenz. Eliot als gründlicher Kenner Bradleys, über den er eine kompetente Dissertation verfaßt hat, die seit 1964 unter dem Titel Knowledge and Experience in the Philosophy of F. H. Bradley zugänglich ist, wird mit Sicherheit Bradleys Aufsatz On the Analysis of Comparison (1866) gekannt haben. Der im folgenden beschriebene Gedankenvesuch
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T . S. Eliots konkrete Kritik
weist genau auf die Methode voraus, die Eliot in den charakteristischsten seiner frühen kritischen Essays anwendet: D e r Vergleich ist die (unreflektive) reziproke Subsumierung des einen Datums unter dem anderen oder die abwechselnde Auffassung des einen durch das andere. Wenn wir die Daten A und B vergleichen, haben wir beim Ubergang von A nach B als Leitidee A , und umgekehrt bei unserer Rückkehr zu A als vorherrschende Idee B. Das führt dazu, daß die Unterschiede zum Zusammenstoßen gebracht und so in die Aufmerksamkeit gehoben werden, und daß die Ubereinstimmungen sowohl durch Uberlagerung verstärkt als auch durch den Konflikt zwischen den mit ihnen konkurrierenden
Unter-
schieden freigesetzt werden. 2 7
Diese Überlegungen umkreisten Pounds imagistisch-ideogrammische Poetik und definierten sie unter jeweils anderen Aspekten. Sie führten dabei nur scheinbar von Eliots früher kritischer Methode weg; denn Fischer zeigt auch Korrespondenzen zwischen chinesischen Denkstrukturen und Systemen der mathematischen Logik und der Semasiologie auf, wie sie in Ansätzen im späten neunzehnten Jahrhundert entwickelt wurden. Er beruft sich auf Charles Sanders Peirce und zitiert Max Bense und E. Walther. Er hätte auch auf Jung und dessen Ansicht verweisen können, daß das Seelenleben durch eine Relativität der Gegensätze gekennzeichnet ist; ebenso auf F. H . Bradley, der in seiner Logik die aristotelische Subjekt-Prädikat-Form des Urteils einer scharfen Kritik unterzog und mit der Unterscheidung in eine logische und eine grammatische Form des Urteils der Semasiologie ein wichtiges Werkzeug an die Hand gegeben hat. Auch Bradleys metaphysisches Theorem ist hier von Belang, wonach es in der absoluten Realität, die ein „konkretes universale" ist und darum der „unmittelbaren Erfahrung" entspricht, keine kontradiktorischen Gegensätze wie in der intellektuellen Welt der Erscheinungen, sondern lediglich „Unterschiede" gibt. Daß dieses Theorem, konsequent zu Ende gedacht, in der Philosophie keinen Bestand haben kann, ändert nichts an der Tatsache, daß es, ins „Existentielle" umgewandelt, als Sehnsucht in Eliots dichterischem und kritischem Werk weiterbesteht.
Ideogramm statt Theorie
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Damit wird einsichtig, wie sich die Einflußlinien von Pound, Bradley und Babbitt in Eliots Kritik treffen und überlagern, und wodurch sie einander modifizieren: Vergleich und Unterscheidung stehen bei Babbitt im Dienst der Kritik als Ideengeschichte; Aufdeckung von Ähnlichkeiten und Unterschieden durch Konfrontation „konkreten" (nicht begrifflichen) Materials ist Pounds „imagistische" — später „ideogrammische" — Methode des Dichtens und Denkens. Eliot übertrug sie unter Aufnahme von Impulsen auch aus Pounds Essays aus der Poesie auf die Kritik, nachdem er sie bereits vor seiner Bekanntschaft mit Pound in seinen eigenen Gedichten geübt hatte. 28 Eliots „ideogrammische" Kritik ist zugleich von der Abwertung des abstrakten, intellektuellen Argumentierens als nur „Erscheinungen" schaffend und von seiner Metaphysik der „unmittelbaren Erfahrung" geprägt. Sie ist für den Leser auch „unmittelbare Erfahrung" des kritischen Verständnisses von Dichtung, entsprechend Eliots Ansicht in seinem Aufsatz Der vollkommene Kritiker (1920), daß Kritik kein Gebäude ist, das über dem Erlebnis von Dichtung errichtet wird, sondern daß Kritik und Wahrnehmung identisch sind. 29 Das Element der Konfrontation, das in Eliots Kritik eine so wichtige Rolle spielt, ist jenes Moment, das in ihr erkenntnisstiftend ist und sie von der impressionistischen Kritik, aus der sie hervorgeht, abhebt. Dadurch, daß Eliots Kritik mehr ist als das Nachzeichnen einfühlenden Empfindens, ist sie wie unmittelbare Erfahrung. In diesem aus verschiedenen Einflüssen und Bedeutungen synthetisierten Sinn ist Eliots Kritik konkret. Das heißt zunächst ganz einfach, sie ist nicht abstrakt: Sie meidet begriffliche Abstraktionen. Eliots begriffliche Formulierungen sind, wie sich gezeigt hat, entweder unfest und nebelhaft oder sonst doch wieder bildhaft. Aber die Bezeichnung konkret intendiert mehr als diesen einfachen Gegensatz; das charakteristische Merkmal von Eliots früher kritischer Methode kann mit folgender Analogie vielleicht am besten erläutert werden: Wie die konkrete Musik unmusikalisches Material durch geeignete Manipulation und Montage in „musikalische" Strukturen umwandelt, münzt Eliot unkritische Texte — nämlich Gedichte — durch
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Vergleich und Konfrontation einzelner Passagen unmittelbar in kritische Erkenntnis um: Das ist konkrete Kritik. Die Gedichte, mit denen er so gearbeitet hat, mögen vielen nebensächlich erscheinen. Der Kummer einer Nymphe um den Tod ihres Schoßkitzes ist vielleicht zu trivial, um uns an den abgründigen Spiralnebeln von Emotion zu interessieren, mit denen Marvell ihn umgeben haben mag. Aber die Art und Weise, wie man mit Dichtung arbeiten kann, wie man mit der Dichtung zusammenarbeiten kann, um kritische Erkenntnis zu konstituieren, ohne Dichtung oder Leser von oben herab zu behandeln, das ist eine wesentliche und auch heute noch nützliche Lehre aus Eliots früher Kritik.
Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht Angesichts der Theorielastigkeit der heutigen Literaturwissenschaft, des heutigen Denkens und Schreibens über Literatur, die Kontext und Bezugspunkt der vorliegenden Aufsätze ist, stellt sich mit großer Selbstverständlichkeit die Frage, wie Autoren, wie Dichter selber auf diese Situation antworten. Die Erwartung liegt nahe, daß Dichtung Theorie auf ihre Weise „reflektiert", daß also theoretische Momente, Momente der Kritik, der Selbstreflexion und literarischen Polemik in entsprechend großem Umfang in moderner Dichtung aufgefunden werden können.1 Und in der Tat läßt mancher Literaturhistoriker die Moderne in der Dichtung (zumindest in ihrer Vorbereitung) bei demjenigen einsetzen, der die dichtungstheoretische Reflexion zu einem sine qua non des Dichtens erhoben hat: bei Edgar Allan Poe.2 Später, bei Paul Valéry zum Beispiel, entsteht der deutliche Eindruck, daß selbstbezogene poetologische Reflexion die Dichtung überhaupt erst erfüllt. Aus der Dichtung des 20. Jahrhunderts schließlich lassen sich poetologische Momente als konstituierende Bestandteile fast nicht mehr wegdenken. Die causa materialis dieser Erscheinung ist ebenfalls so gut wie selbstverständlich. Doch gehört es gerade zum Reiz von Dichtung, daß sich Selbstverständliches in ihr oft auf eine Weise ereignet, die zu ganz außergewöhnlichen Ergebnissen führt: Da das Medium der Dichtkunst, die Sprache, zugleich das aus seiner alltäglichen Verwendung geläufige Verständigungsmittel und das jedem an Literatur Interessierten vertraute Instrument kritischer Analyse und theoretischer Überlegung ist, können in diesem Fall Reflexionen über eine Kunstform ohne weiteres in diese Kunstform eingehen, ja, es können Dichtungskritik und Dichtungstheorie selbst Dichtung werden.
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Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht
I. D A S P O E T O L O G I S C H E G E D I C H T : BEISPIEL U N D G E G E N B E I S P I E L
Wie dies möglich ist, zeigt vielleicht besonders eindrücklich das Gedicht „The Thought-Fox", der Gedankenfuchs, des Engländers Ted Hughes, der mittlerweile (und zurecht) als eine der stärksten poetischen Begabungen jener zweiten Phase der modernen englischen Dichtung gilt, die in den endfünfziger Jahren begonnen hat. 3 Hughes, der sein Dichten gern durch Vergleiche mit der Jagd und besonders mit dem Fischfang charakterisiert und der in seiner BBC-Schulfunksendung Poetry in the Making (die zu einem der wichtigsten Bücher über Dichtung überhaupt geworden ist) ein Gedicht konsequent als eine „neue Tierart" bezeichnet, als ein „Exemplar des Lebens außerhalb des eigenen", hat inzwischen den „Thought-Fox" aus seinem ersten Gedichtband The Hawk in the Rain (1957) seinen ausgewählten Gedichten vorangestellt, ihm also einen hervorgehobenen Platz in seinem Werk eingeräumt. 4 (1) I imagine this midnight moment's forest Something else is alive Beside the clock's loneliness And this blank page where my fingers move. (2) Through the window I see no star: Something more near Though deeper within darkness Is entering the loneliness: (3) Cold, delicately as the dark snow A fox's nose touches twig, leaf; Two eyes serve a movement, that now And again now, and now, and now (4) Sets neat prints into the snow Between trees, and warily a lame Shadow lags by stump and in hollow O f a body that is bold to come (5) Across clearings, an eye, A widening deepening greenness,
Das poetologische Gedicht
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Brilliantly, concentratedly, Coming about its own business (6) Till, with a sudden sharp hot stink of fox It enters the dark hole of the head. The window is starless still; the clock ticks, The page is printed. (1) Ich stelle mir dieser Mitternachtsminute Wald vor: Da lebt noch etwas anderes als die Einsamkeit der Uhr und diese leere Seite, über die meine Finger gleiten. (2) Ich sehe keinen Stern im Fenster: Etwas viel Näheres und doch tiefer Umdunkeltes tritt herein in die Einsamkeit: (3) Kalt, zart wie der dunkle Schnee berührt eines Fuchses Schnauze Zweig, Blatt; zwei Augen dienen einer Bewegung, die jetzt und jetzt wieder, und jetzt und jetzt (4) präzise ihre Spuren in den Schnee drückt, zwischen Bäumen, und es verhofft an Stümpfen, in Dellen, ein lahmer Schatten eines Körpers, der sich über Lichtungen (5) herübertraut, ein Auge, ein sich weitendes, vertiefendes Grün, glänzend, konzentriert, in seinen eigenen Angelegenheiten, (6) bis plötzlich mit heißem füchsischen Gestank es in die dunkle Höhle des Kopfes fährt. Im Fenster immer noch kein Stern; die Uhr tickt, die Seite ist bedruckt.
Der Sprecher dieses Gedichts sitzt nachts über einem leeren Blatt Papier. Dabei stellt er sich den Wald zu dieser mitternächtlichen Minute vor, „this midnight moment's forest". Das nähe- und präsenzschaffende Hinweiswort „this" bewirkt hier wie in der
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Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht
vierten Zeile zusammen mit dem durchgehenden Tempus Präsens, daß der Moment des Schreibens zugleich das wesentliche Moment der Bedeutung wird und daß der Leser seinerseits fiktiv in diesen Augenblick einbezogen wird, in dem sich im Zeichen der Imagination, in dem ja das ganze Gedicht steht („I imagine . . .") etwas Lebendiges anschleicht, das dunkler und näher ist als die sternlose Nacht draußen. Es wird ab Strophe drei in füchsischen Gesten als schnuppernde Schnauze, als zwei Augen, als zögernder Schatten eines zielstrebigen Körpers dargestellt. Während die Gestalt als Ganzes undeutlich bleibt, konturlos, nur jeweils in Einzelheiten identifizierbar, ist das einzig klar Umrissene und Erkennbare die Spur des Ankömmlings im Schnee, und dort, wo diese Spur genannt wird, genau in der Mitte des Gedichts, geschieht dies wiederum — und diesmal mit äußerstem Nachdruck — in der Gegenwart: . . . that now And again now, and now, and now Sets neat prints into the snow . . .
So nahe kommt schließlich dieses fremde Wesen, daß nur noch ein einziges Auge genügt, um den ganzen Gesichtskreis des Beobachters auszufüllen, ein Auge, das nun auf seine besondere, vielleicht etwas gespenstisch wirkende Weise die Nacht erhellt: Es wird zu einem umfassenden grünen Glanz. Ungerufen kommt das Fremde wohl nicht: „I imagine", das Signum der Imagination, impliziert doch auch ein personales Subjekt („/ imagine"), das in transformierter und distanzierter („sublimierter und objektivierter") Form (dichterisch: in einem Wortspiel) wohl auch noch gegen Schluß des Gedichts spürbar bleibt: „an eye" (wobei dem indefiniten Artikel eine große Bedeutung zufällt). Aber sobald es sich auf den Weg gemacht hat, kommt es in seinen eigenen Angelegenheiten, „Coming about its own business", unaufhaltsam — so unaufhaltsam wie auch die Syntax in diesem Gedicht, die sich von jenem Augenblick in Strophe drei an, da sich der Ankömmling in seinen ersten Manifestationen abzeichnet, über Zeilen- und Strophenenden hinwegsetzt und sich aufmacht, in einem einzigen, freilich nicht durchkonstruierten und deshalb syn-
Das poetologische Gedicht
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taktisch ebenfalls „konturlosen" Zug das Ziel zu erreichen: nämlich in all seiner Fremdheit urplötzlich mit heißem, füchsischen Gestank in die Höhle des Kopfes einzufahren: Till, with a sudden sharp hot stink of fox It enters the dark hole of the head. 5
Ein sprachlich überraschendes Moment an der letzten Zeile ist der bestimmte Artikel in „of the head", wo aus der Sicht des Sprechers durchaus das besitzanzeigende Fürwort „ m y " erwartet werden könnte. Doch die Besitzverhältnisse sind eben nicht so eindeutig: Der in den Schaffensprozeß fiktiv einbezogene Leser hat an „ d e m " Kopf ebenso Anteil wie der Ankömmling, der von ihm Besitz ergreift, indem er ihn mit seiner Witterung erfüllt. Damit ist auch schon die letzte Phase des Geschilderten erreicht, und in dem einsamen nächtlichen Zimmer hat sich nichts geändert — und doch alles, worauf es ankommt: Nun ist die vormals leere Seite (aus Zeile vier der ersten Strophe, „this blank page where my fingers move") dank der Doppeldeutigkeit des englischen Wortes „print" (nämlich „Spur", „Fußspur" wie in Strophe vier und „Druckbild", „Schriftbild", wie in der allerletzten Zeile des Gedichts, die dezidiert das Resultat festhält: „The page is printed" 6 ) eben kein unbeschriebenes Blatt mehr. Und der feste, selbstsicher gemessene Tonfall der letzten Zeile, in der — keinesfalls unvorbereitet und doch in dieser knappen Gefaßtheit zum erstenmal im Gedicht — Zeilensinn, Zeilenrhythmus und Alliteration in einer kompakten metrischen Figur zusammenfallen, besiegelt dieses Ergebnis: Aus dem unermessenen Dunkel der imaginativen Sprache ist glanzvoll ein Gedicht hervorgerufen Worden.7 Zweierlei ist in diesem Zusammenhang an dem vorliegenden Gedicht besonders wichtig: Zunächst einmal könnte sich in Erinnerung an späte expressionistische Auffassungen von der Entstehung eines Gedichts die Ansicht einstellen, im „Thought-Fox" wären lediglich entsprechende Bemerkungen oder Vorträge von Gottfried Benn oder T. S. Eliot mit leichten Variationen in Verse gesetzt worden. Nach diesen Vorstellungen kommt ein Gedicht zu sich, indem der
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Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht
„dumpfe, schöpferische Keim", jener für den Dichter zunächst unidentifizierte und unkontrollierte Impuls, der ihn zum Schreiben drängt, in den Worten des entstehenden Gedichts ein Gesicht und einen Namen findet und so erst erkennbar und benennbar wird; damit aber hat sich das Gedicht vom Autor gelöst und steht für sich selbst ein, „the page is printed". 8 Was aber — und das ist für die Seinsweise eines poetologischen Gedichts, so wie es hier aufgefaßt wird, die entscheidende zweite Beobachtung — ein solches Gedicht von den entsprechenden theoretischen Äußerungen der genannten Dichter-Kritiker wesentlich unterscheidet, ist die einfache und doch bedeutsame Tatsache, daß das, was dieses Gedicht an Erkenntnis über den schöpferischen Vorgang enthält, hier in Anschauung aufgehoben ist. Das heißt nicht, daß der „Thought-Fox" ein bloßes Exempel oder eine Allegorie ist, deren Sinn darin bestünde, daß man sie in ein Theorem übersetzen oder rückübersetzen muß. Im Gegenteil: Der Fuchs steht hier keinesfalls allegorisch für „das Gedicht" oder den „poetischen Einfall"; er ist und bleibt ein Fuchs, wenn auch mit eigenwilligen Wohngewohnheiten, und das Gedicht, in dem er wohnt, ist im vollen modernen Verständnis dieses Wortes ein Gedicht. 9 Sicher kommt es dem „Thought-Fox" zugute, daß der Fuchs in der Uberlieferung als schlau und trickreich gilt. Deshalb bewirken die hier hervorgehobenen Eigenschaften des Gedichts zusammen mit denen des Fuchses und mit dem Trick, dem tour-de-force-haften Moment, das darin liegt, daß die Darstellung des Schaffensprozesses just in dem Augenblick beendet ist, da auch das Gedicht zu Ende geht, etwas ganz Entscheidendes für die Definition des poetologischen Gedichts: An die Stelle einer theoretischen Aussage ist in ihm in nahezu vollkommener Weise ein Vorgang in Sprache getreten. An diesem sprachlichen Ereignis wirkt nicht nur die Bedeutungsschicht der Sprache mit, wie in jeder alltäglichen Mitteilung, sondern auch Syntax und Strophenaufbau bis hin zum letzten Detail: So, wenn in 3.2 der Zeilenrhythmus ebenso „zögert" wie die schnuppernde Schnauze, die Zweig, Blatt berührt, oder wenn in der Aussage, der Gedankenfuchs überquere bei seinem Näherkommen
Das poetologische Gedicht
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Waldlichtungen, „bold to come // Across clearings", dieser Satzteil als Satzteil die Pause (im Druckbild den Zeilenabstand) zwischen Strophe vier und fünf „kühn überquert". In einer ausdrücklich nur auf poetologische Dichtung bezogenen Bedeutung ist der „Thought-Fox" ein mimetiscbes Gedicht, das nicht auf die Mitteilung eines Gedankens, Sachverhalts oder Geschehnisses angelegt ist, sondern das den Vorgang, den es schildert (was immer er sein möge) zu einem Ereignis in Sprache macht. Das kann sicher als erster Befund im Hinblick auf ein reflektiertes Verständnis dessen, was poetologische Dichtung ist, festgehalten werden. Er könnte vielleicht gefestigt werden, wenn dem „Thought-Fox" ein Gedicht gegenübergestellt würde, das mit ihm in allem außer einem übereinstimmt: Ihm müßte lediglich die mimetische Qualität von Hughes' Gedicht abgehen. Das Thema hingegen müßte dasselbe sein: die Entstehung eines Gedichts; es müßte um dasselbe zentrale Symbol angeordnet sein, den Fuchs; auch die anderen wichtigen Symbole müßten anzutreffen sein: der nächtliche Wald, der Geruch. Läßt sich ein so präzise beschriebenes Gegenstück überhaupt auftreiben? Nun, ein in dieser Hinsicht vielversprechendes Gedicht ist James Dickeys „A Dog Sleeping on My Feet" (1962). 10 (1) Being his resting place, I do not even tense The muscles of a leg O r I would seem to be changing. Instead, I turn the page Of the notebook, carefully not (2) Remembering what I have written, For now, with my feet beneath him Dying like embers, The poem is beginning to move Up through my pine-prickling legs Out of the night wood, (3) Taking hold of the pen by my fingers. Before me the fox floats lightly,
Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht On fire with his holy scent. All, all are running. Marvelous is the pursuit, Like a dazzle of nails through the ankles, (4) Like a twisting shout through the trees Sent after the flying fox Through the holes of logs, over streams Stock-still with the pressure of moonlight. M y killed legs, My legs of a dead thing, follow, (5) Quick as pins, through the forest, And all rushes on into dark And ends on the brightness of paper. When my hand, which speaks in a daze The hypnotized language of beasts, Shall falter, and fail (6) Back into the human tongue, And the dog gets up and goes out To wander the dawning yard, I shall crawl to my human bed And lie there smiling at sunrise, With the scent of the fox (7) Burning my brain like an incense, Floating out of the night wood, Coming home to my wife and my sons From the dream of an animal, Assembling the self I must wake to, Sleeping to grow back my legs. Ein auf meinen Füßen schlafender Hund (1) Da ich sein Ruheplatz bin, spanne ich nicht einmal meine Beinmuskeln an: Er meint sonst, ich setzte mich weg. Statt dessen schlag ich die Seite des Notizbuchs um und erinnere mich
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(2) sorgsam nicht an das, was ich schrieb, denn jetzt, da meine Füße unter ihm wie Aschenglut sterben, beginnt das Gedicht durch meine tannennadelnden Beine zu steigen, aufwärts aus dem Nachtwald, (3) und führt meine Hand am Schreibstift. Vor mir schwebt leichthin der Fuchs, es brennt sein heiliger Duft. Und alles, alles rennt. Wunderbar ist diese Jagd, wie ein Nagelschwarm durch die Knöchel, (4) wie ein windender Ruf durch den Wald auf der Fährte des fliehenden Fuchses durch Baumstämme, hohl, über Bäche, stockstill, vom Mondschein ummauert. Meine erlegten Beine, meine steintoten Beine folgen (5) Quick wie Nadeln durch die Bäume, und alles stürzt fort ins Dunkel und erreicht das Licht des Papiers. Meine Hand spricht benommen die Sprache, die gebannte Sprache der Tiere. Wenn sie stolpern und zurück (6) in die menschliche Zunge wird fallen, Und der Hund aufstehn wird und gehn im Morgengrauen über den Hof, kriech ich in mein Menschenben und lächle beim Aufgehn der Sonne, da des Fuchses Duft (7) mein Gehirn wie Weihrauch brennt, aus dem Nachtwald herübergeweht, komm ich heim zu Frau und zu Söhnen vom Traum eines Tiers, montiere mein Tag-Ich im Schlaf und wachse die Beine zurück.
Auch dieser Text ist ein Nachtstück. Der Sprecher berichtet als faktisches Ereignis (nirgends findet sich ein Äquivalent für „I
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imagine") ebenfalls in der Gegenwart, wie seine Beine unter dem Gewicht seines schlafenden Hundes zu „nadeln" und ihrerseits einzuschlafen beginnen. Für dieses physiologische Phänomen findet er einige durchaus treffende Bilder: „my pine-prickling legs", „like a dazzle of nails through my ankles". Durch diesen „Kanal", so möchte er den Leser glauben machen, sei ihm dann das Gedicht aus dem nächtlichen Wald zugeflossen. So ist Dickeys Dichter zunächst ebenso passiv wie der von Hughes, zeigt jedoch kaum dessen Gabe für die detaillierte Beobachtung dessen, was draußen in der Nacht vor sich geht: Hughes' „A fox's nose touches twig, leaf" ist ganz Präzision, Dickeys „All, all are running" einfach ein Tohuwabohu. Das hängt allem Anschein nach damit zusammen, daß in der dritten Strophe ein inhaltlicher Umbruch erfolgt: Aus dem Zukommen des Gedichts wird dessen Verfolgung. Was Hughes, geduldig beobachtend, „in seiner eigenen Angelegenheit" sich hatte anschleichen lassen, versucht Dickey zu erjagen: Auch wenn es paradox ist — sein Sprecher setzt dem Fuchs horridoschreiend und doch stock-still im Mondschein auf abgestorbenen Beinen nach. Bei dieser eigentümlichen Fuchsjagd kommt, wie wohl zu erwarten ist, dem Geruchssinn eine entscheidende Rolle zu. Doch wird die bei Hughes dem Fuchs angemessene animalisch übelriechende Andersheit bei Dickey zu einer weihrauchduftend übernatürlichen geschönt. Auch wenn diese Jagdszene als Traum des Hundes gedeutet wird (vgl. 6.4), sind doch die Anthropomorphismen (z. B. „holy scent", „burning . . . like incense" 11 ) fehl am Platze. Im Rahmen dieser Ähnlichkeiten und Unterschiede liegen die für eine Einschätzung dieses Texts als poetologisches Gedicht entscheidenden Punkte in der dritten und fünften Strophe. Sie verweisen alle darauf, daß Dickey an wesentlichen Stellen beim Sagen stehen bleibt. So enthält die Anfangszeile der dritten Strophe die Idee der Passivität, der Instrumentalität des Dichters beim Entstehen des Gedichtes, indem sie darauf hinweist, daß von nun an die Federführung beim ankommenden Gedicht liegen werde, daß aus der Hand des Dichters ein Instrument des Gedichts würde: „Taking hold of the pen
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by my fingers". Aber wo gibt es im Stil, in der Syntax, in der Diktion, im Rhythmus irgendein Signal dafür, daß eine solche Übernahme tatsächlich stattgefunden hat? Dort, wo das Gedicht auf seine Weise sprechen soll, hat sich gegenüber der Alltagssprache der Notizbücher gar nichts Wesentliches geändert. Neu ist lediglich ein inhaltliches Moment: die Jagd und mit ihr der heilige Duft. Aber auch davon macht die Sprache nichts sinnenfällig, sie enthält und enthüllt nichts von der Begeisterung, die dieses Ereignis angeblich hervorruft. Wieder reicht es zu nichts mehr als einer platten Aussage, die die emotionale Qualität des Nachsetzens bezeichnet: „Marvelous is the pursuit". Das muß der Leser dem Sprecher glauben: Von einem Umsetzen in ein Erlebnis in Sprache ist weit und breit keine Spur. Der Höhepunkt des Gedichts soll vermutlich in den beschwörenden Zeilen der 5. Strophe liegen, . . . my hand, which speaks in a daze The hypnotized language of beasts.
Das ist ebenfalls eine einfache Feststellung. Sie könnte durchaus in den autobiographischen Essay eines Dichters passen. Wo aber ist dort im Gedicht, wo die der eigenen Verfügung entzogene (und das heißt ja wohl „hypnotisierte") Sprache der Tiere herrschen soll, jene Andersheit, jene Differenz zur auktorial bestimmten Tagessprache (die der Sprecher mit seinen Notizen sorgfältig vergessen haben will) als sprachliche Qualität spürbar? Rhythmisch ist z. B. das Gedicht mit einigen nicht sinntragenden Varianten durchgehend in jenem anapästischen Schaukelrhythmus gehalten, dessen Wiederentdeckung als Ausdrucksmittel des Beschwörend-Halluzinatorischen Dickey für sich in Anspruch nimmt. 12 Aber da in „ A Dog Sleeping" die Entstehung des Gedichts als Ubergang von der menschlichen Alltagssprache in die unter einer außermenschlichen Gewalt stehenden „Nachtsprache" thematisiert ist, sollte man doch erwarten können, daß dieser Wechsel auch ästhetisch wahrnehmbar wird. Ist Dickey das vielleicht nicht gelungen, weil er allzu ungestüm etwas erjagen wollte, das Hughes mit der notwendigen Geduld erwartete?
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Nicht beantwortet, aber doch weiter beleuchtet werden kann diese Frage an einem diesmal zeitlich und sprachlich ferner liegenden Beispiel, Paul Valérys „Les Pas" (1922). 13 (1) Tes pas, enfants de mon silence, Saintement, lentement placés, Vers le lit de ma vigilance Procèdent muets et glacés. (2) Personne pure, ombre divine, Qu'ils sont doux, tes pas retenus! Dieux! . . . tous les dons que je devine Viennent à moi sur ces pieds nus!
(3) Si, de tes lèvres avancées,
Tu prépare pour l'apaiser, A l'habitant de mes pensées La nourriture d'un baiser,
(4) Ne hâte pas cet acte tendre, Douceur d'être et de n'être pas, Car j'ai vécu de vous attendre, Et mon coeur n'était que vos pas. Die Schritte (1) Deine Schritte, als meines Schweigens Kinder, arglos und langsam gesetzt, nahn sie dem Bette, wo ich mich eigens wachsam halte, und frieren jetzt. (2) Göttlicher Schatten, du reine, du gute, o deiner Schritte verhaltener Gruß! Was ich, ihr Götter, an Gaben vermute, kommt jetzt zu mir auf entkleidetem Fuß! (3) Wenn deine Lippen vielleicht schon vom Weiten jenem, der in mir sich bergen muß, seine unendliche Stillung bereiten endlich in dem nährenden Kuß, (4) eile mir nicht zum Vollzug, dem zarten, Süße, drin Sein und Nichtsein stritt, denn ich lebte vom Dich-Erwarten, und mein Herz war nichts als Dein Schritt.
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„Les Pas" liest sich zunächst als Liebesgedicht. Es handelt von dem Näherkommen der Geliebten, so wie es in Hughes' Gedicht um das Näherkommen eines Fuchses ging. Hier harrt der Liebende in atemlosen Schweigen dem nächtlichen Kommen der Erwarteten entgegen. Doch als er sich in der Vorfreude den Augenblick unmittelbar vor dem ersehnten Kuß ausmalt, erkennt er plötzlich, daß die größte Wonne in diesem Sekundenbruchteil zwischen dem Noch-nicht und dem Jetzt-schon liegt — in dem Augenblick, der aus der britischen Dichtung als der Keatssche Moment vertraut ist und den die romantische Ästhetik als das Aufblitzen des Kunstschönen zu sehen gelehrt hat: Bold lover, never, never canst thou kiss, Though winning near the goal — yet do not grieve, She cannot fade, though thou hast not thy bliss, F o r ever wilt thou love, and she be fair. 1 4 Kühner Liebender, nie kannst du küssen, nie, wenngleich dem Ziel so nah; doch laß es dich nicht grämen. Sie kann nicht verblassen, auch wenn du deine Wonne nicht findest, denn ewig wirst du lieben und wird sie schön sein.
Fast möchte es scheinen, daß das, was Keats' Sprecher aus der Sicht eines kunstsinnigen Betrachters der Schönheit beschreibt, in Valerys Gedicht in die Erkenntnis des Gestaltenden übertragen ist. So mag denn dem Leser von „Les Pas" aus der Rückschau der poetologische Charakter dieses Gedichts wohl aufgehen — allerdings nicht in Rilkes Nachdichtung, die ganz Liebesgedicht bleibt.1S Wer mikroskopisch genau liest, wird vielleicht schon in der ersten Zeile an der für die natürliche Situation um eine Nuance zu exaltierten Metapher gestutzt haben: Freilich entspricht das atemlose Schweigen der Psychologie des sehnsuchtsvollen Entgegenharrens; freilich sind die erwarteten leisen Schritte der bloßen Füße in der Stille leichter und früher zu hören; aber ist es deshalb gerechtfertigt, die Schritte als Kinder des Schweigens zu bezeichnen, das der Wartende übt — also zu sagen, daß sein Schweigen diese Schritte erzeugt hat? Und wenn ja, mit wem?
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Wenn diese Übertreibung vielleicht noch dem Uberschwang der Sehnsucht zugeschrieben werden kann — was für eine Sehnsucht muß es sein, die trotz dieser Höchstspannung (oder Überspanntheit) altruistisch genug ist, den herbeigeschwiegenen Kuß nicht sich selbst, sondern jemandem zukommen lassen zu wollen, der in den Gedanken ihres Trägers wohnt, „à l'habitant de mes pensées" (3.3)? Die Schlußzeile schließlich löst den Schleier — und gibt doch den Blick noch nicht ganz frei. Nach dem Augenblick der Erkenntnis in 4.2, daß nämlich die Erwartung selbst „Nahrung" und Lebenssinn des Wartenden gewesen ist, setzt sie — nun angemessenerweise in der Vergangenheit — die Schritte mit dem Herzen, dem sehnsuchtsvollen Pochen des Herzens gleich. Zudem kehren die letzten beiden Wörter zu den ersten beiden zurück und erlauben durch diese klare Gegenüberstellung mit aller Deutlichkeit die atemberaubende Erkenntnis, daß in diesem Gedicht die erwarteten (man wird jetzt wohl schon sagen können: imaginierten) Ereignisse und die Entwicklung des Tons gegenläufig sind: Herbeigesehnt wird die vertrauteste Begegnung, doch der Umgangston mit der Erwarteten wandelt sich von dem anfänglichen vertrauten „Du" zu der abschließend verwendeten höflichen, respektvollen Anrede, ohne daß dadurch eine Enttäuschung zum Ausdruck käme oder die Intimität zurückgenommen würde: Schließlich stellt sich ja heraus, daß „mein" Herz und „Ihre" Schritte ein und dasselbe waren. Diese Transposition vom Du zum Sie im Augenblick des Erkennens (in 4.1 noch die vertraute Anrede, „ne hâte pas", in 4.3 schon die Respektsform, „vous attendre" — Rilkes trauliches „DichErwarten" ist hier besonders fehl am Platze) liefe allen Sprachgewohnheiten diametral zuwider, wollte man hier nichts mehr sehen als eine (vielleicht auch nur erträumte) Liebesbegegnung zwischen Mann und Frau. Wird so nicht mit aller Sicherheit, die die Sprache gewähren kann, auch deutlich, daß das „reine Wesen, der göttliche Schatten" aus 2.2 („ombre" ist glücklicherweise im Französischen feminin) mehr ist als lediglich die unter den Bedingungen der Nacht undeutlich wahrgenommene, unter den Bedingungen des liebenden Herzens verklärte Frauengestalt? Erweist sich „Les Pas" so nicht
Zur Forschungslage
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auch als die mit der gebotenen Erotik vorgenommene Neubelebung des poetischen Klischees vom Musenkuß, ohne daß dadurch irgendwelche Abstriche von der Zärtlichkeit eines hingebungsvollen Liebesgedichts nötig werden?16 Sicher gibt es zwischen „Les Pas" und „The Thought-Fox" wichtige Unterschiede. Doch ebenso sicher ist der Abstand der beiden zu Dickeys „A Dog Sleeping" erheblich größer. Dickey sagt einfach, wie er die Entstehung eines Gedichts sieht; Valéry und Hughes geben — ein jeder auf seine Weise — ihrer Aussage volle „Körperlichkeit", soweit dies in Sprache möglich ist. Dieser Unterschied wäre für Gedichte zu jedem anderen Thema nicht mehr als der Qualitätsunterschied zwischen einem Gedicht mit Gestaltungsmängeln und einem im modernen Sinn gelungenen, durchgestalteten Gedicht. Für Dichtung über Dichtung bedeutet dieser Unterschied jedoch nicht nur in einem qualitativen, sondern auch in einem ontologischen Sinn die Nagelprobe: „A Dog Sleeping" ist ein Gedicht mit theoretischen Einsprengseln, ist Theorie im Gedicht; beim „Thought-Fox" und bei „Les Pas" handelt es sich um Theorie als Gedicht. Im ersten Fall liegt eine in (ziemlich freien) Versen gehaltene Aussage vor, die freilich genausogut in Prosa in einem Essay stehen könnte; im zweiten Fall wird das, was besagt wird, zugleich auch sprachlich erlebbar gemacht. Im ersten wird ein Erlebnis ausgedrückt, im zweiten zugleich in Sprache ausgehandelt, sprachlich imitiert. Gedichte der ersten Art können vorläufig diskursiv genannt werden, die der zweiten sicher mimetisch. II. ZUR FORSCHUNGSLAGE
Diese Unterscheidung mag dazu geeignet sein zu verhindern, daß ein Mißverständnis, das sich gern an Dichtung über Dichtung heftet, in diesem Zusammenhang überhaupt aufkommt, das Mißverständnis nämlich, alle Gedichte dieser Art seien im Grunde genommen nichts weiter als literaturtheoretische Traktate in Versen, also ein Sonderfall des didaktischen Modus und deshalb eigentlich gar keine Dichtung im modernen Verständnis dieses Wortes.
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Dieser Ansicht sehr nahe kommt René Wellek, der amerikanische Doyen der Literaturtheorie und Kritikgeschichte. In der für ihn charakteristischen Form der ebenso materialreichen wie apodiktischen Weitung bezeichnet er in „The Poet as Critic, the Critic as Poet, the Poet-Critic" die klassischen Verspoetiken als Grenzüberschreitungen der Kritik, „incursions of criticism into poetry", und gesellt ihnen unter der modischen Bezeichnung „Metadichtung" und mit abwertend wirkenden Bemerkungen auch das poetologische Kurzgedicht seit Verlaines „L'Art poétique" (Wellek : „an anti-rhetorical pamphlet") hinzu. 17 In diesem Zusammenhang muß festgestellt werden, daß es zwar neben der Anthologie Poems on Poetry solche verstreute allgemeine Bemerkungen zum poetologischen Gedicht ebenso gibt wie gelegentliche Äußerungen zu einzelnen Gedichten, aber noch keine zusammenfassende und ausgewogene Darstellung des Gebiets. 18 Ein kleiner Schritt war Alfred Webers Beitrag mit dem Kenneth Patchen entlehnten kauzigen Titel „Kann die Harfe durch ihre Propeller schießen? Poetologische Lyrik in Amerika" (1969). 19 Doch ist dieser erste kurze Versuch einer Orientierung naturgemäß noch recht global. Es erscheint deshalb immer noch der Mühe wert, einige grundlegende Unterscheidungen vorzuschlagen.
III. VERSPOETIKEN: TRADITION, MOTIVATIONEN, MERKMALE
Der eingangs herausgearbeitete Unterschied zwischen dem mimetischen und dem didaktischen Typus von Gedichten über Dichtung sowie Welleks Hinweis auf das didaktische Genre der Verspoetik sind der Anlaß, dieser lange geübten Form nunmehr einige charakterisierende Bemerkungen zu widmen. Die klassische Linie der Verspoetik ist mit den repräsentativen Namen Horaz (EpistolaadPisones, ca. 15 v. Chr., seitQuintilianauch als Arspoetica bekannt), Vida (De arte poetica, 1572), Boileau (L'Art poétique, 1674) und Pope (Essay on Criticism, 1709/11) wohl hinreichend gekennzeichnet (ohne daß damit freilich der besonderen
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Beliebtheit dieser Gattung im späteren 17. und im 18. Jh. Rechnung getragen wird). Wenn man die polemischen Momente richterlicher Kritik und persönlicher Invektive, die in den überwiegend präskriptiven Werken durchaus auch ihren Platz haben, nicht als akzidentiell, sondern mit als konstitutiv ansehen will, verlängert sich diese Linie über Byrons Englisb Bards and Scotch Reviewers (1809) und James Russell Lowells Fable for Critics (1848) bis ins 20. Jh. zu Amy Lowells A Critical Fable (1922), um in Victor Purcells Cadmus: The Poet and the World (1944) und in Karl Shapiros deskriptivem Versessay über den Vers, Essay on Rime (1945) einstweilig zu einem Abschluß zu kommen. Unter den Gründen dafür, daß die Verspoetik ein nahezu ununterbrochen geübtes Genre ist, lassen sich zwei wohl besonders hervorheben: (1) Zu Zeiten, da Dichtung (selten genug) als eine angesehene und erstrebenswerte Tätigkeit galt, bestand ein Interesse daran, auch in Versen etwas über die Geheimnisse des Handwerks zu erfahren; dieses Interesse mochte gelegentlich so groß sein, daß — will man z. B. Wielands phantasievollen Mutmaßungen über die Entstehung von Horazens Pisonenbrief Glauben schenken — Verspoetiken dann besonders hohe Anforderungen aufstellten, wenn es galt, ebenso ungeeignete wie hartnäckige Epheben abzuschrecken.20 (2) Wann immer andererseits Dichtung oder auch nur einige ihrer Formen mißachtet oder gar angefeindet wurden, bestand Anlaß, sie (und sei es in Versen) zu erklären oder zu verteidigen; eine solche Verteidigung war oft auch personenbezogen und schloß den Gegenangriff auf Philister und auf Kritiker, deren Urteile als ungerecht empfunden wurden, ebenso ein wie die Polemik gegenüber Dichterkollegen, deren Bevorzugung in der Gunst der Kritiker wie der Leserschaft ungerechtfertigt erscheinen mochte. Eine Verspoetik dieser Art ist im Gegensatz zu den mimetischen poetologischen Gedichten dadurch hinreichend gekennzeichnet, daß sie fünf oder sechs der folgenden sieben Merkmale aufweist: Erstens formuliert sie in klarer, diskursiver Rede grundsätzliche Definitionen von Dichtung, ihren Gattungen, Merkmalen und
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Funktionen und stellt Prinzipien und allgemeine Regeln auf (oder wiederholt solche). Sie gibt zweitens spezielle Anweisungen, Hinweise und Ratschläge für den prospektiven Autor oder Kritiker; sie legt ihm nahe oder schreibt ihm vor, was er im Einzelfall zu tun oder zu lassen hat. Drittes Merkmal von Verspoetiken ist die Be- oder Verurteilung von Dichtern oder Kritikern der Vergangenheit oder Gegenwart, oft mit großer satirischer Schärfe und zugleich rhetorischer Brillanz vorgebracht. Das vierte Merkmal ist eines, das auch im Hinblick auf nichtdidaktische Gedichte über Dichtung eine besondere Bedeutung besitzt. Hierunter fällt sowohl die Illustration von Anweisungen, Empfehlungen und Grundsätzen durch exemplarische Exkurse als auch die besonders eindrucksvolle Möglichkeit, Regeln im selben sprachlichen Duktus bei ihrer Formulierung gleich mit zu exemplifizieren. Ein klassisches Beispiel ist jene Passage aus dem Essay on Criticism, in der Pope sagt, gute Dichtung müsse den Inhalt auch klanglich adäquat wiedergeben, und in der er das dann auch gleich vorführt: The Sound must seem an Eccho to the Sense. Soft is the Strain when Zephyr gently blows, And the smooth Stream in smoother Numbers flows; But when loud Surges lash the sounding Shore, The hoarse, rough Verse shou'd like the Torrent roar. When Ajax strives, some Rock's vast Weight to throw, The Line too labours, and the Words move slow; N o t so, when swift Camilla scours the Plain, Flies o'er th'unbending Corn, and skims along the Main. 21 Der Klang muß als Echo der Bedeutung erscheinen. Sanft ist das Lied, wenn Zephir leise weht und der glatte Strom in glättern Versen fließt; doch wenn die tobende Brandung die widerhallende Küste peitscht, sollte auch der heisre, rauhe Reim wie ein Sturzbach tosen. Wenn Ajax unter großen Anstrengungen einen gewaltig schweren Felsklotz wirft, müht sich auch der Vers, und die Worte fließen langsam; ganz anders, wenn die flinke Camilla über die Ebene eilt, über das aufrechte Korn fliegt und am Meer entlanghuscht.
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Die letzte der zitierten Zeilen, ein Alexandriner in einem PentameterGedicht, zeigt Möglichkeiten, rhythmisch und klanglich (also verstechnisch) den Eindruck einer schnellen Bewegung zu erwecken, wenn die Aussage das erforderlich macht. Dieser Alexandriner hat also Ausdrucksfunktion und bestätigt so „kreativ" die kurz zuvor geäußerte Kritik am funktionslosen Alexandriner: A needless Alexandrine ends the Song, That like a wounded Snake, drags its slow length along. Ein unnötiger Alexandriner beschließt das Lied, der sich wie eine wunde Schlange langsam durch die Gegend schleppt.
Diese zwei Zeilen zeigen im übrigen, daß in einer Verspoetik die Formulierung eines kritischen Grundsatzes oder Urteils auch mit dessen Exemplifizierung zusammenfallen kann. Noch kompakter ist folgendes Beispiel: While Expletives their feeble aid do join; And ten low Words oft creep in one dull Line. 2 2 Wenn Füllwörter ihre schwachen Kräfte beitragen und oft zehn kurze Wörter in einem öden Vers entlangkriechen.
Das sind ohne Zweifel mimetische Momente in einer Verspoetik. Gerade daran läßt sich aber besonders gut das fünfte und wichtigste Merkmal einer Verspoetik zeigen: Die mimetischen Passagen sind hier lediglich Illustrationen, Exempla, die entweder von diskursiv eindeutig formulierten Grundsätzen ausgehen oder zu solchen hinführen. Strukturprinzip der Verspoetik ist der Zusammenhang dieser grundsätzlichen Aussagen, Anweisungen und Regeln, die sich entweder zu einem fortlaufenden Argumentationsgang oder gar einem nahezu lückenlosen System poetologischer Gedanken zusammenordnen — wie weit hergeholt seine Elemente im einzelnen auch sein mögen. Nicht alle Verspoetiken präsentieren sich freilich in derselben argumentativen Strenge. Denn Teil ihres rhetorischen Vorgehens — und das fällt als sechstes Merkmal auf — ist es oft, einen Urbanen
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Umgangston zu finden, die Strenge der gedanklichen Ordnung hinter einem manchmal sogar recht sprunghaften Briefstil zu verbergen, wie es etwa Horaz tut, oder hinter einem geistreichen Konversationsstil, wie Pope. Zusammenhalt jedoch gewinnt die Verspoetik in jedem Fall aus dem wie immer verkleideten Gerüst der diskursiv eindeutig formulierten Grundsätze, und von hier aus läßt sich auch rasch das siebente Moment bestimmen: Was immer eine Verspoetik an bildlicher Fülle aufweist, an verstechnischer Brillanz, an lebhafter Diktion und an Wortwitz — und das ist in der Tat bei den besten von ihnen eine ganze Menge —, all das hat eine rhetorische, schmückende, das Lesen oder Zuhören angenehm gestaltende Funktion im Dienste der Vermittlung und Erläuterung poetologischer Positionen. Die so beschriebenen Verspoetiken sind in der Tat didaktische Gedichte, Dichtungstheorie, sind Vorschriften für die dichterische oder kritische Praxis sowie praktische Kritik und Polemik in v e r i fizierter Form. Es gibt kaum eine pointiertere Zusammenfassung dieses Urteils als das Vorwort einer späten Verspoetik dieser Art (die wie alle epigonenhaften Werke besonders gut in der Lage ist, „einfache" Wahrheiten zusammenzufassen, eben weil eine lange Tradition schwieriger Klärungen dahintersteht): The Powers of Genius des Amerikaners John Blair Linn (1804): Didaktische Dichtung ist die in fiktionale Gewänder eingekleidete ethische Wahrheit. Mehr als jede andere Art Dichtung zielt sie darauf ab zu belehren, die Künste zu leiten und die Gesetze des Schicklichen und Vernünftigen aufzuzeichnen. Wie Prosaschriften verbreitet sie die Regeln und Lehren der Weisheit und leiht doch Wohlklang und Bilder von der gebundenen Rede . . . . [Abschweifungen] sollten immer knapp sein und irgendeine Wahrheit ausmalen, die im Gedicht ausgesprochen wird . . . . So sollten in didaktischer Dichtung die Argumente so geordnet sein, daß sie die vorgebrachten Lehren aufs beste untermauern; und die empfindsamen und illustrativen Passagen sollten so gereiht werden, wie es aus Erfahrung am eindrucksvollsten ist. 23
IV. ZWISCHENERGEBNIS
Wie wäre das bisherige Ergebnis dieser Überlegungen zusammenzufassen? Im Bereich der Dichtung über Dichtung gibt es offenbar zwei
Zwischenergebnis
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Haupttypen: (1) Yerspoetiken, die als Spielart des Lehrgedichts ihr Strukturprinzip in dem Argument haben, das die verwendeten Worte mit möglichst großer Eleganz und Prägnanz vortragen, und (2) mimetische Gedichte über Dichtung, die als poetologische Gedichte im präzisen Sinne dieser Bezeichnung das in Worten sind, was sie mit eben diesen Worten ausdrücken. Während im didaktischen Gedicht wie in der Alltagssprache Wörter grundsätzlich als Zeichen verwendet werden, stehen sie im mimetischen außerdem noch mit ihrer vollen Körperlichkeit, mit allen ihren physikalischen Eigenschaften ein. Das jedenfalls ist beinahe so etwas wie Konsensus bei den wichtigsten englischen Dichtern der Moderne. Eine ausdrucksstarke Zusammenfassung dieser Ansicht findet sich bei Karl Shapiro in dem erwähnten Versessay: Ideas are no more words Than phoenixes are birds. The metaphysician Deals with ideas as words, the poet with things, For in the poet's mind the phoenix sings. 24
Obwohl ihm nur Wörter zur Verfügung stehen, so kann man sich diese Passage verdeutlichen, befaßt sich der Metaphysiker doch mit Ideen, die freilich so seltene Vögel wie Phönixe sind. Der Dichter dagegen — ebenfalls auf nichts als Wörter angewiesen — versucht statt dessen, seinen Vorstellungen die Solidität des sinnlich Wahrnehmbaren zu geben, denn — noch seltsamer! — er hört den Phönix singen. Das soll in bezug auf Gedichte über Dichtung nicht besagen, daß mit einer systematischen Einteilung in mimetische und didaktische schon genug getan ist. Ein nächster Schritt zur Differenzierung kann durch die einführende Berücksichtigung der historischen Koordinate erreicht werden.
V. HISTORISIERUNG DER SYSTEMATIK
Für die folgenden Überlegungen muß allerdings für dieses Mal eine Grobeinteilung in die klassisch-klassizistische Epoche und in die Zeit danach genügen. Das bedeutet keinesfalls, daß die beiden Epochen als
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hermetisch voneinander abgeriegelt noch, daß sie als monolithische Blöcke ohne innere Differenzierung zu verstehen sind. Aber diese Grobeinteilung in die Zeit vor und nach etwa 1800 reicht auf einer ersten Annäherungsstufe durchaus hin, um für das Gebiet der englischen Dichtung über Dichtung — und nur darum geht es hier — weitere Erkenntnisse über den Zusammenhang ihres mimetischen und didaktischen Typs zu gewinnen. D i e erste wichtige Beobachtung ist die, daß didaktische Dichtung im klassisch-klassizistischen Zeitalter als eine der Prestigeformen von Dichtung galt, als Dichtung im Sinn einer Kunstform, ja, daß das Einstreuen von didaktischen Momenten, z. B. von Sentenzen, in Werke aus anderen geschätzten Gattungen (wie beispielsweise in Tragödien) zur dichterischen Pflicht gehörte. Daß freilich bereits im Altertum — und auch später - die didaktische Funktion ab und an in Frage gestellt worden ist, gehört zu den inneren Differenzierungen, die während dieser Phase der Überlegungen nicht ins Gewicht fallen. Denn eines ist sicher: Zu den mehr oder minder vergnüglichen Lehrgedichten wie De rerum natura des Lukrez, Vergils Georgica und Ovids Ars amatoria gehörte auch die Ars poetica des Horaz mit ihren ernstzunehmenden Grundsätzen der angenehmen Vermittlung nützlicher Instruktionen. Dies war die Funktion der Kunst, wie sie im augustäischen Zeitalter offiziell verstanden wurde. „ D e r aber, der das Nützliche / so mit dem Angenehmen zu verbinden weiß, / daß er den Leser im Ergötzen bessert", wie es in der Wieland-Ubersetzung heißt, ist eben nicht nur ein guter Didaktiker, sondern — im Kreise des H o r a z — auch der ideale Dichter; sein Werk „macht seines Meisters Namen allen Zungen / geläufig und der späten Nachwelt w e r t " . 2 5 Er hatte durchaus recht: Nicht nur seine Verspoetik, sondern auch die darin enthaltenen einprägsamen Formulierungen wie z. B . das soeben genannte „omne tulit punctum qui miscuit utile dulci" wirkten bis in die Dichtauffassungen des europäischen Klassizismus hinein. Auch im Zeitalter Popes und Johnsons galt es noch als verbindlich, daß Dichtung die besonders gelungene Einkleidung überlieferter Ansichten ist — und das heißt im 18. J h . ausdrücklich: Ansichten, die ein selbstbewußtes, gebildetes Publikum
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teilt. Insoweit Popes Essay on Criticism in dieser Tradition steht, insoweit er horazische Maximen und Empfehlungen zustimmend wiederholt, kann er noch als didaktisches Gedicht gelten, das dennoch — und das ist das Entscheidende — dem Anspruch genügt, den seine Zeit an Dichtung stellte. Samuel Johnson jedenfalls, der repräsentative Arbiter und Literat des britischen 18. Jhs., schätzte diesen Essay so hoch ein, daß er in seiner definitiven britischen Dichtungsgeschichte Lives of the English Poets (1797—81) noch im letzten Viertel seines Jahrhunderts urteilte: Hätte Pope nichts anderes als dieses Werk geschrieben, so wäre er allein deswegen zu den besten Kritikern und den größten Dichtern zu rechnen, „among the first criticks and the first poets". 26 Diese hohe Einschätzung des Essay on Criticism sollte sich jedoch innerhalb einiger Jahrzehnte von Grund auf ändern. Schon 1797 modifizierte Joseph Warton, der noch 40 Jahre zuvor den Essay als „Meisterwerk seiner Art" (nämlich der didaktischen und moralischen Dichtung) bezeichnet hatte, Johnsons Urteil in einem entscheidenden Punkt: Für ihn war die hohe dichterische Qualität dieser Verspoetik nicht mehr ersichtlich. In seiner Pope-Ausgabe schrieb er, der Essay on Criticism „may fairly entitle . . . [Pope] to the character of being one of the first of critics though surely not of poets". Seine generelle Abwertung nicht nur als Dichtung, sondern auch als kritisches Dokument erfuhr Popes Vademecum für Kritiker weitere 50 Jahre später durch Thomas de Quincey: Für diesen Romantiker ist daran nichts weiter hervorzuheben als Reimfertigkeit, die schließlich auch an einer in Verse gesetzten Multiplikationstafel auffallen könnte. Der Essay on Criticism ist nun keine Dichtung mehr, sondern bestenfalls eine Gedächtnisstütze für ungenießbar gewordene Poetologeme. Immer noch unter Bezugnahme auf Johnson nennt de Quincey ihn 1847 „substantially a mere versification, like a metrical multiplication-table, of commonplaces the most mouldy with which criticism has baited its rat traps". Diese wichtigen Stationen der frühen Rezeptionsgeschichte des Essay on Criticism sind ein kleines, aber für das gegenwärtige Thema kennzeichnendes Indiz für jene grundlegende Neuorientierung nicht
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nur der Dichtung und der Dichtungstheorie, die als Wendung der Romantik auf die Dauer gründlich mit den kritischen Wertungen und den sie tragenden poetologischen Vorstellungen des klassisch-klassizistischen Zeitalters aufgeräumt hat, sondern auch der erkenntnistheoretischen und philosophischen Grundannahmen. So konnten dann im weiteren Verlauf des 19. Jhs. durch Nietzsche, Darwin, Marx, Frazer und Freud jene Umwertungen im Bild des Menschen und seiner Fähigkeiten vorgenommen werden, die nicht einfach negiert, sondern nur entweder nachvollzogen oder widerlegt werden können. Es kann hier nicht darum gehen, die Gründe und genauen Modalitäten dieser Neuorientierung nachzuzeichnen, zumal sie vielfältig erforscht und dargelegt worden sind. In diesem Zusammenhang genügen vielmehr Angaben zu einem einzigen Aspekt, der freilich für das sich ebenfalls wandelnde Verständnis von Dichtung über Dichtung ganz besonders wichtig ist: das Verhältnis von Inhalt und Form in der Dichtung und deren Verhältnis zur Wirklichkeit außerhalb. Eine zentrale klassizistische Aussage über dieses Verhältnis findet sich im Essay on Criticism in dem vielzitierten Satz True Wit is Nature to Advantage drest, What oft was Thought, but ne'er so well Exprest
Ihn kann man sich unter Besinnung auf den Wandel der Sprache und Vorstellungen seit dem frühen 18. Jh. etwa so vergegenwärtigen: Wahre Dichtung liegt dort vor, wo die rational in ihrer Ordnung durchschaute und durch die Zivilisation kongenial ergänzte und verbesserte Natur vorteilhaft ausgeschmückt wird, d. h., wo konventionelle, vom gebildeten Publikum in Ubereinstimmung für wahr gehaltene Ideen eine ihnen angemessene und dabei schönere rhetorische Form erhalten haben als je zuvor. An dieser Definition ist die logische Reihenfolge dreier Fixpunkte das, worauf es hier ankommt: (1) die vorgegebene, als rational geordnet vorgestellte Wirklichkeit; (2) die konventionellen Gedanken über sie; und (3) die schöne sprachliche Einkleidung derselben.
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Mit der romantischen Wendung wird diese Sequenz de facto umgekehrt. John Keats schrieb — und wieder muß hier ein Zeugnis für viele genügen — 1817 im festen Ton der Uberzeugung: „What the Imagination seizes as Beauty must be Truth" — was die persönliche Anschauungs- und Gestaltungskraft als Schönheit auffaßt, muß wahr sein. Und Keats setzte auf eine Weise, die die Relation zwischen Dichtung und sogenannter empirischer Realität zu einem sekundären Moment reduziert, hinzu: . . . muß wahr sein, ob es zuvor schon existiert hat oder nicht, „whether it existed before or not". 2 8 Wem diese intuitive Bemerkung eines romantischen Dichters — wiewohl sie im Zentrum seiner Poetologie steht — nicht solide genug ist, der mag sich an das Philosophem von der dialektischen Form-Inhalt-Identität erinnern, das Hegel etwa gleichzeitig in seiner Logik mit apodiktischer Selbstverständlichkeit für, wie er sagte, „wahrhafte Kunstwerke" postulierte. 29 Diese Vorstellung signalisiert die Entstehung einer neuen, sehr strengen Kunstauffassung, die das Wesen auch der Dichtkunst in einen Bereich transponiert, in dem die alte Form-Inhalt-Dichotomie — um hier mit Hegel zu sprechen — aufgehoben ist, in dem „ F o r m " nicht mehr nur auf eine schöne und angemessene Weise auf einen gedanklichen „Inhalt" hindeutet, dessen einzelne Gedanken ihrerseits nicht mehr isoliert auf Momente der außerliterarischen Wirklichkeit verweisen. „Wahrhafte Kunstwerke" in diesem Sinne können in der Dichtung seitdem nur noch solche sein, in denen Wörter auf eine Weise zueinander in Beziehung treten, die alle Schichten der Sprache so aneinander bindet, daß ein Gedicht jeweils zu einer eigenen Welt aus Sprache wird, eine Welt eigener Wirklichkeit, die auf ihre Weise primär ist und deren Bezug zu jener Welt, in der wir leben und die wir „die Wirklichkeit" zu nennen pflegen, nur über ihr adäquates Erleben vermittelt ist. Im Klassizismus waren Inhalt und Form Konstituenten dichterischer Synthesis. Seitdem es die nachklassizistische Kunstauffassung gibt, können diese Begriffe bestenfalls als Hilfsmittel dichtungskritischer Analysis dienen. Und auch da sind ja die Bestrebungen, diese Dichotomie durch angemessenere Unterscheidungen abzulösen, seit geraumer Zeit deutlich zu registrieren.
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Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht VI. ZUM HISTORISCHEN VERHÄLTNIS VON VERSPOETIK UND POETOLOGISCHEM GEDICHT
Vor diesem Hintergrund läßt sich nun ein historisches Verständnis der Haupttypen der Dichtung über Dichtung mit folgenden Beobachtungen begründen: 1. Die Verspoetik in ihrer klassisch-klassizistischen Form, von Horaz bis Pope (und etwas später), darf unter einer historischen Perspektive nicht als bloß versifizierte Kritik abgewertet werden, da sie aus dem poetologischen Verständnis ihrer Zeit heraus, zu dem sie selbst wesentlich beigetragen hat, eben Dicht&»«sf ist. 2. Demgegenüber bedeutet der grundlegende Wandel des Kunstverständnisses durch die romantische Reorientierung, daß die (didaktische) Verspoetik seitdem aus dem Bereich der Dichtkunst hinausgefallen ist und nachromantische Verspoetiken nunmehr in der Tat lediglich als „Kritik in Versen" angesehen werden können, so interessant und reizvoll auch einzelne neuere Werke dieser Art sein mögen. 3. Die Nachfolge der Verspoetik in der Prestigeposition der Dicht&wwst traten die eingangs charakterisierten mimetischen Gedichte über Dichtung an. Bei ihnen handelt es sich um poetologische Gedichte in der speziellen Bedeutung des Wortes, d. h. um Theorie in Dichtung. 4. Dieser historische Ubergang läßt sich vielleicht so verdeutlichen, daß man sagt: Die mimetischen Momente, die in den klassischen Verspoetiken durchaus vorhanden waren — freilich, wie gezeigt, in rein illustrativer Funktion — haben sich von dem Zeitpunkt an, da im Bereich der englischen Dichtung im 19. Jh. zunächst in den USA und im 20. Jh. auch in Großbritannien der narrative oder argumentative Rahmen als Strukturträger längerer Gedichte zu versagen begann, zu Kurzgedichten eigener Struktur verselbständigt. 5. Diese Aussage ist asymmetrisch; sie ist zur Gegenwart her gerichtet und soll nicht ausschließen, daß auch vor der hier herausgearbeiteten Zäsur um 1800 poetologische Dichtung des mimetischen Typs ihr Dasein im Schatten der großen Verspoetiken gefristet hat.
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Uber ihre genauen Modalitäten herrscht bisher weniger Klarheit als über die Verspoetiken, ganz einfach, weil sich die Forschung bisher noch nicht eingehend genug dieses Gebiets angenommen hat. VII. ORTSBESTIMMUNGEN IM POETOLOGISCHEN GEDICHT
Dieses Versäumnis kann hier nicht in einem kurzen Gang aufgeholt werden. Es ist daher bei dieser Gelegenheit besser, einem zweiten thematischen Typus des poetologischen Gedichts aus neuerer Zeit etwas Aufmerksamkeit zu schenken.30 Ging es in dem eingangs besprochenen um die Entstehung eines Gedichts, so liegt es jetzt nahe zu fragen: Wie läßt sich in poetologischen Gedichten das Ergebnis dieses Schaffensprozesses, das fertige Gedicht, darstellen? Im Gedicht ist es möglich, diejenigen Beschwernisse einfach zu umgehen, mit denen sich Kritiker, Theoretiker und Philosophen herumschlagen müssen, wenn sie das Dichterische, Dichtung, „Gedicht" definieren wollen. Anstatt nämlich das Wesen von Dichtung bestimmen zu müssen, ihre Gründe und Abgründe auszumessen, ihre distinktiven Merkmale herauszustellen, kann sich ein Dichter oft mit einem Hinweis begnügen: Dorthin müßt ihr schauen, kann er den Lesern sagen, wenn ihr (gute) Dichtung finden wollt; denn er kann sie, wenn es ihm gelingt, mit denselben Worten gleich hinsetzen. Und selbst wenn er das nicht tut, wenn er nicht gleich ein Beispiel hinzufügt oder seine Ortsangabe selbst zum „Beispiel" ausgestaltet — spricht nicht einiges dafür, statt mit einer gewichtigen Wesensbestimmung zu überwältigen (zu versuchen), mit einer freundlichen Ortsbestimmung zu dienen? I dwell in Possibility — A fairer House than Prose — 31 Ich wohne im Möglichen — einem schöneren Haus als Prosa —
Im 19. Jh. konnte Emily Dickinson, unbekümmert um konkurrierende Ansprüche, in ihrem zurückgezogenen Amherst ekstatisch
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— und symbolistisch — Dichtung noch in einem einzigen Haus der unbegrenzten Ausdehnung und Möglichkeiten aufsuchen. Im 20. Jh. und in dem hartgesotten pragmatischen New York dagegen mußte Marianne Moore mit derjenigen Mentalität rechnen, die stets zuerst die kaltschnäuzige Frage stellt: Was bringt es mir ein? Deshalb läßt sie ihre Sprechergestalt zunächst einmal Dichtung herabsetzen: I, too, dislike it: there are things that are important beyond all this fiddle. Reading it, however, with a perfect contempt for it, one discovers in it after all, a place for the genuine. 32 Auch ich mag sie nicht: Es gibt Wichtigeres als dieses Getue. Doch wenn man sie voll Verachtung liest, entdeckt man in ihr trotz alledem einen Ort fürs Echte.
„Ein Ort fürs Echte" — das kommt selbst nach dem einleitenden Versuch einer captatio benevolentiae allzu unvermittelt, um nicht doch als nichtssagende Lehrbuchformel zu wirken: zunächst jedenfalls. Hier scheint eine große Spannung zwischen dem einleitenden „dislike" und dem nur 31 Wörter später folgenden „genuine" zu herrschen. Doch wenn im weiteren Verlauf Beispiele für sinnlich Wahrnehmbares gegeben werden, die diesseits „hochtrabender Interpretationen" nützlich sind, wenn falsche, weil klischeehaft gewordene Poetizismen vorgeführt werden („a wild horse taking a roll" — „ein Wildpferd, das sich überrollt"), wenn daraus schließlich eine weitere Ortsbestimmung von Dichtung abgeleitet wird („imaginary gardens with real toads in them" — „imaginäre Gärten mit richtigen Kröten drin"), dann geschieht dies mit so viel subtilem Humor, so viel subtiler Folgerichtigkeit bei gleichzeitiger offenbarer Konkretheit, daß schließlich ein Gedicht entsteht, das seine eigene Definition ist. Lloyd Frankenberg spricht deshalb in diesem Fall von „definition by example rather than by limitation" — wobei das Entscheidende ist, daß das „Beispiel" als modernes Gedicht „echt" ist (um seine eigene Nomenklatur aufzugreifen): Im Vergleich mit einer früheren, stark zusammengestrichenen Fassung charakterisierte R. P. Blackmur das vorliegende Gedicht auf seine Weise ganz in diesem Sinne: Die
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frühere Fassung künde lediglich ein Gedicht an, die spätere löse dieses Versprechen ein: Wir stehen hier vor dem Unterschied zwischen einem Gedicht und keinem Gedicht, denn die spätere Fassung händigt uns die Imagination buchstäblich aus, während sie die frühere nur ankündigt . . . . Der imaginäre Garten war da, aber von wirklichen Kröten war keine Spur. 33
Um die Jahrhundertwende schließlich ist auch der Garten der Imagination, selbst wenn richtige Kröten drin herumhocken, anscheinend nicht mehr der Ort, an dem Dichtung vorgefunden werden kann: Lawrence Ferlinghetti kann sie nur noch auf einem Rummelplatz in einem Drahtseilakt entdecken — in einem Akt, der Leichtigkeit vorgaukelt, dessen Realität aber beständige Lebensgefahr ist: Constantly risking absurdity and death whenever he performs above the heads of his audience the poet like an acrobat climbs on rime to a high wire of his own making . . . , 3 4 Indem er stets Lächerlichkeit riskiert und Tod wenn er seinen Auftritt über den Köpfen seines Publikums hat, ist der Dichter wie ein Akrobat: er klettert auf Versen zu einem Hochseil, das er selbst gemacht hat.
Was dieses amüsante Akrobatenstück in diesem Zusammenhang so interessant macht, ist die Art und Weise, wie der Vergleich des Dichters mit dem Akrobaten in fast jede Wortgruppe doppeldeutig aufgenommen worden ist, so daß die Ortsbestimmung immer zugleich auch eine geistige Bedeutung hat (Musterbeispiel: „above the heads"). In manchen Wortgruppen (wie z. B. in den beiden letzten
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im obigen Zitat) nimmt die zweite, jeweils auf die poetische „Illusion" bezogene Hälfte, die erste, die zuvor die akrobatische „Realität" ausgerollt hat, in einen gemeinsamen (und deshalb „surrealistischen") Bereich zurück, so daß auch die später in diesem Gedicht ganz formal gezogene „Schlußfolgerung", in der der Dichter ausdrücklich als Superrealist bezeichnet wird („For he's the super realist"), nicht eigentlich logisch abgeleitet wird: Die Einsicht, daß derjenige, der realistische Illusionen zustande bringen will, ein illusionsloser Realist sein muß, war sozusagen schon die ganze Zeit auf einzelne Wortgruppen verteilt und in ihnen aufgelöst in der Sprache des Gedichts gegenwärtig. Die letzten drei Beispiele scheinen auf einer Entwicklungslinie zu liegen; doch ist damit noch in keiner Weise gesagt, daß sie repräsentativ wäre. In diesem Zusammenhang ist es weniger wichtig, diesen Beweis zu versuchen, als den Befund zu bestärken, daß für poetologische Dichtung in der Tat die Ortsbestimmung von Dichtung kennzeichnender ist als die Wesensbestimmung, und daß der Ort, an dem moderne Dichtung aufgefunden wird, in der Regel von recht handfesten Gegenständen umstellt und (wie im Fall von Marianne Moores Kröten) von nicht gerade übermäßig spirituellen Zeitgenossen bewohnt wird. Dies gilt — sicher nicht auf diese drastische Weise — auch für einen Dichter, der viel stärker in der symbolistischen Tradition steht, Wallace Stevens. Wenn auch mit kennzeichnender syntaktischer Ambivalenz, so gibt er doch eine Ortsbestimmung, die das Familiäre und Alltägliche mit aufnimmt, trotz aller Geistigkeit: The poem of the mind in the act of finding What will suffice . . . . It has to be living, to learn the speech of the place. It has to face the men of the time and to meet The women of the time . . . , 3 5 Das Gedicht des Geistes im Auffinden dessen, was genügen wird . . . .
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Es muß leben, die Sprache seiner Umwelt lernen. Es muß sich den Männern seiner Zeit stellen und sich mit den Frauen seiner Zeit bekannt machen . . . .
Stevens definiert also Dichtung nicht als das geistige Suchen von dem, was genügt; er sagt lediglich, daß Dichtung in einer solchen Suchaktion aufgefunden werden kann. Diese Suche muß den jeweils gegenwärtigen Alltag berühren. Ist sie erfolgreich, dann wird sie eben, in den Schlußworten, das Gedicht, „. . . The poem of the act of the mind" („. . . Das Gedicht der geistigen Tat"). Bei aller Idealität also unter Einschluß von Konkretem („a man skating, a woman dancing, a woman / Combing" [„ein Schlittschuhläufer, eine Tanzende, eine sich Kämmende]): Hierin ist Stevens dem viel „objektivistischeren" William Carlos Williams nahe, dessen kompakteste Ortsbestimmung für Dichtung lautet: „Say it, no ideas but in things" („Sag es, nicht Ideen, sondern in Dingen"). 36 Aus diesen wenigen Beispielen poetologischer Ortsbestimmung in modernen Gedichten läßt sich mit hinreichender Sicherheit eine Einsicht gewinnen, die insoweit eine weitere Differenz zwischen poetologischen Gedichten und kritischen Äußerungen aufdeckt, als sie es erlaubt, nunmehr eine Definition genauer zu fassen, die im bisherigen Verlauf der Überlegungen nur recht summarisch oder in Andeutungen gegeben worden ist: In der modernen amerikanischen Literatur&rittfe ist sehr viel geistige Anstrengung investiert, sind die verschiedensten Begriffe, Schemata und Analyseverfahren darauf verwendet worden, diejenige sprachliche Konkretheit und quasi dingliche Kompaktheit exakt zu bestimmen, die nach dieser Auffassung das Differenz- und Qualitätsmerkmal (moderner) Dichtung ist, und diese Bestimmung zu einem so hohen Grad der Unterscheidungsschärfe zu präzisieren, daß sie als Instrument zur Definition und Wertung von Dichtung allgemein zugänglich werden kann. Es genügt hier, auf John Crowe Ransoms Bemühungen hinzuweisen, die poetische „Textur" herauszuarbeiten, oder auf William Kurtz Wimsatts Überlegungen zur „Ikone in Worten"; das „konkrete Universale" ist ein weiteres Signum solcher definitorischen Versuche. 37
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Aber trotz der weiten Belesenheit und gedanklichen Durchdringungskraft, mit der sich solche Theoretiker und Kritiker ihrer Aufgabe gewidmet haben, ist es ihnen nicht gelungen, ihre Definitionen und Unterscheidungen bis zu der Schlüssigkeit voranzutreiben, die es erlauben würde, sich ihrer Ergebnisse als Automatik zur Beurteilung von Dichtung zu bedienen: Es gibt Qualitäten der Dichtung, die sich bisher auch dem rigorosesten Zugriff einer Wesensbestimmung entzogen haben. Das läßt sich e contrario auch daran erkennen, daß Gedichte, die alle bekannten Bestimmungen eines „konkreten Universale" erfüllen, weil sie nämlich genau im Hinblick darauf abgefaßt worden sind, als Gedichte schal und flach sein können: Die dem „New Criticism" Ransomscher Ausprägung verpflichteten Magazine und Zeitschriften waren eine Zeitlang voll davon. Die Ortsbestimmungen in poetologischen Gedichten haben demgegenüber den Vorteil, daß sie falsche Festlegungen vermeiden. Sie können nämlich sagen: Nicht dort, wo die säuberlichen gedanklichen Unterscheidungen herrschen, nicht in der Welt des abstrakten Ja/Nein, sondern dort, wo es gewissermaßen knüppeldick kommt, im Gestrüpp der Dinge, so gut es sprachlich darstellbar ist, läßt sich Dichtung finden — eben weil sie sich selbst als Beispiele anbieten können. Dabei bleibt noch Spielraum für weitergehende Unterscheidungen und Abwägungen offen, den ein jeder Versuch einer Wesensbestimmung — sofern er nicht halbherzig durchgeführt wird, sondern seinem Ideal der vollkommenen gedanklichen Durchdringung seines Gegenstandes verpflichtet bleibt — eliminiert hätte, weil er sich nämlich auf eine Interpretation festlegen muß. Diese Beobachtung scheucht einen ganzen Schwärm erkenntnistheoretischer und praktischer Probleme der Kritik auf, einige alte und einige vielleicht nicht ganz so alte: Ist es überhaupt sinnvoll, in der Literaturkritik jene Bemühung um immer feinere begriffliche Unterscheidungen und Definitionen weiter voranzutreiben, die doch offenbar sich selbst immer höhere Barrieren in den Weg stellt? Welche Möglichkeiten gibt es überhaupt, Phänomene der konkreten Dinglichkeit in Erkenntnisse der abstrakten Gedanklichkeit adäquant zu übersetzen? Sollte die Kritik sich vielleicht bemühen, diesen Graben
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zu verengen, indem sie versucht, „poetischer" zu werden? Ist der Weg, den Eliots „konkrete Kritik" zu weisen scheint, auch für andere als nur Dichterkritiker gangbar, da doch der Weg des poetologischen Gedichts per deßnitionem nur dem Dichter offen steht? Gibt es vielleicht andere Möglichkeiten, jene Reduktion auszugleichen, die ein jeder Gegenstand bei seiner Interpretation erfährt, ohne sich gleich ins kritische Abessinien begeben zu müssen? Sollten vielleicht literarische Ubersetzungen dazu geeignet sein, wenigstens in der Transaktion zwischen zwei Sprachen literaturadäquate Kritik zu betreiben? Fragen wie diese ergeben sich wie von selbst aus dem gegenwärtigen Thema, ohne daß sie in seinem Rahmen bedacht werden können. In diesem Bereich zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten, dem innerhalb des Feldes der Dichtung über Dichtung die Spannung zwischen dem Didaktischen und dem Mimetischen im hier verwendeten Sinn entspricht, bietet sich als thematische Schlußüberlegung die Erörterung eines modernen Beispiels dafür an, daß selbst aus Gesten des Didaktischen sprachliche Mimesis, aus präskriptiven Elementen einer Verspoetik ein poetologisches Gedicht entstehen kann. Die Wahl fällt auf jenes Gedicht des Amerikaners Archibald MacLeish, das René Wellek als eines der Beispiele für seine Einschätzung der Dichtung über Dichtung als Grenzüberschreitung der Kritik angeführt hat. Sollte MacLeishs „Ars Poetica" (1924/26) umgekehrt nicht etwa gar ein Einfall der Dichtung in den Bereich der Kritik sein?
VIII. „ARS POETICA" ALS POETOLOGISCHES GEDICHT
[Text und Ubersetzung auf den nächsten beiden Seiten.] Die Erwartung, die der Titel „Ars Poetica" weckt, wird durch die ersten vier Wörter des Textes zunächst scheinbar eingelöst: „A poem should be . . . " 3 8 Was ein Gedicht sein soll, das ist der für eine präskriptive Poetik angemessene Sprachgestus. Dieser wird in der Tat auch als das das Gedicht bestimmende und gliedernde Syntaxelement durchge-
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halten. Es taucht sechsmal anaphorisch auf und rahmt paarweise jeden der drei Teile des Gedichts ein, deren jeder auch noch dadurch kenntlich gemacht ist, daß er eine den jeweils anderen Teilen parallele Binnenstruktur aufweist: Der Gedankenstrich nach den Zeilenpaaren drei, sieben und elf, nach „ g r o w n " , „ m i n d " und „ s e a " weist darauf hin, daß die Paare vier, acht und zwölf den jeweils vorangegangenen Teil zusammenfassen. Dem Aufbau nach sind also die sechs Gesten des Vorschreibens in jeweils drei vorausweisende und drei abschließende unterschieden. 1 A poem should be palpable and mute As a globed fruit,
(1)
2 Dumb As old medallions to the thumb,
(2)
3 Silent as the sleeve-worn stone Of casement ledges where the moss has grown —
(3)
4 A poem should be wordless A s the flight of birds. 5 A poem should be motionless in time As the moon climbs,
(4) (5)
6 Leaving, as the moon releases Twig by twig the night-entangled trees, 7 Leaving, as the moon behind the winter leaves, Memory by memory the mind — 8 A poem should be motionless in time As the moon climbs. 9 A poem should be equal to: N o t true. 10 For all the history of grief An empty doorway and a maple leaf. 11 For love The leaning grasses and two lights above the sea — 12 A poem should not mean But be.
(5) (4)
(3) (2)
(1)
„Ars Poetica" als poetologisches Gedicht
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1 Ein Gedicht sei: anfaßbar und stumm wie eine runde Frucht, 2 still wie alte Medaillons, die man berührt, 3 Schweigsam wie die Fensterbank aus Stein, auf der das Moos die Ärmelspuren überdeckt — 4 ein Gedicht sei: wortlos wie ein Vogelzug. 5 Ein Gedicht sei: unbewegt in Zeit, wie der Mond steigt, 6 und entsteige, wie der Mond die nachtverstrickten Bäume Zweig um Zweig entläßt, 7 und entsteige, wie der Mond dem Winterlaub, Erinn'rung um Erinnerung dem Geist — 8 ein Gedicht sei: unbewegt in Zeit, wie der Mond steigt. 9 Ein Gedicht sei: gleich nicht wahr. 10 Statt der Geschichte allen Herzeleids ein totes Blatt, die Haustürschwelle leer. 11 Statt Liebe sich zugeneigte Gräser und zwei Lichter überm Meer — 12 ein Gedicht bedeute nicht: Es sei.
Mit dem Titel zusammen stimmt das erste, einleitende „A poem should . . die Erwartung auf etwas so Horazisches wie vielleicht „lehren" oder „unterhalten" ein. Aber nichts dergleichen folgt. Diese Erwartungshaltung, kaum erzeugt, wird sogleich wieder abgebaut: Keine der traditionellen Bestimmungen, nicht einmal irgendeine sprachliche Qualität wird von dem Gedicht verlangt. Paradoxerweise sind die ersten Anforderungen eine taktile Eigenschaft („palpable": fühlbar, greifbar) und Stummheit. Das Motiv des Taktilen wird in
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Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht
den ersten drei, das der Stummheit in den ersten vier Zeilenpaaren wiederholt: „mute — dumb — silent — wordless". Ihr Zusammenwirken suggeriert die Beredsamkeit des Sprachlosen: Das Medaillon, das sich der prüfenden Berührung mit dem Daumen offenbart, die moosüberwachsenen Fensterbänke aus Stein, deren von den Ellbogen der vormals Herauslehnenden abgewetzte Oberfläche sie — wie Gedichte — zu indirekten, nur dem aufmerksamen Beobachter in ihrem Schweigen vielsagende Zeugen vergangenen kontemplativen Lebens macht. Zusammengefaßt wird die Wertlosigkeit des so verstandenen Gedichts im Bild des Vogelzugs. Auch der zweite Teil beginnt wieder mit einer paradoxen Forderung: Das Gedicht solle wie der aufsteigende Mond in der Zeit bewegungslos verharren. Die Bewegung wird hier kinematographisch in jeweils minimal voneinander unterschiedene Standbilder aufgelöst, in denen sich die Vorstellung schrittweise dem Geist des Dichters entbindet und dem des Lesers einsenkt. Darin liegt gerade für die Art der nachimagistischen englischen Dichtung, in deren weiteren Traditionen MacLeish in den zwanziger Jahren stand, auch ein Hinweis für den Leser, im zeitlichen Ablauf des Lesens an jedem je und je erreichten Punkt das bis dahin Gelesene auch als quasi räumliche Konfiguration aufzufassen. Genau das suggerieren die Strukturzüge des vorliegenden poetologischen Gedichts, zunächst dadurch, daß das Zeilenpaar, das diesen Mittelteil zusammenfaßt, wörtlich mit dem ihn einleitenden Zeilenpaar übereinstimmt — „ A poem should be motionless in time / As the moon climbs". Dadurch wird dieser lunare Mittelteil wie durch einen Rahmen vom Rest abgehoben, wird ihm die Stasis eines Bildes verliehen. Die Mondszene nimmt selber etwas Miniatur- oder Medaillonhaftes an. Der zweite Strukturzug, der diesen die Mitte hervorhebenden Eindruck noch stützt, sind seitenverkehrte Parallelismen in den Zeilenpaaren des ersten und des dritten Teils, die in dem Augenblick klar hervortreten, da man das ganze Gedicht überblickt. Der dritte Teil hebt mit einer vielleicht noch überraschenderen Forderung an als der erste: „ A poem should be equal to / Not true". Das ist allerdings keine Aufforderung zum schrankenlosen Lügen in
,Ars Poetica" als poetologisches Gedicht
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der Dichtung. Es heißt ja nicht, „ A poem should not be true", es heißt „equal to / not true". Hier wird — so kann man unter Berücksichtigung des folgenden Ko-Textes zurecht sagen — eine Gleichung aufgestellt zwischen der Dichtung und einem Bereich, der sich der Kategorie des Richtigen und damit Verifizier- und Falsifizierbaren entzieht: Anstatt einer begrifflich-abstrakten Welt, in der es Richtiges und Falsches gibt, bietet Dichtung eine dinglich-konkrete Welt, die einfach existiert: anstatt — so Zeilenpaar zehn — der Geschichte des Leids (über die sich immer noch diskutieren ließe: was ist Leid eigentlich?) ein Bild, eine Vignette, die hier in der Form einer Anspielung auf ein oder zwei Gedichte Pounds unbestreitbar Einsamkeit und damit Trennungsschmerz evoziert. 39 Anstatt „Liebe" zu sagen und damit auch ihre Negation ins Spiel zu bringen, setzt ein Gedicht ein oder zwei entsprechende Bilder, die sich der Dialektik entziehen. Und von da her gewinnt der auf den ersten Blick wie ein anachronistisches Relikt aus einer Verspoetik anmutende Schluß „ A poem should not mean / But be" Sinn und Fülle. An ihrer Stelle in diesem Gedicht besagen die beiden Schlußzeilen nicht — wie es der Fall wäre, wenn sie aus ihrem Ko-Text losgelöst betrachtet würden —, daß ein Gedicht nichts bedeuten solle. Der Textzusammenhang transformiert vielmehr diese scheinbar diskursive Aussage — übrigens genau so, wie in ihr zum erstenmal in diesem Gedicht das Hilfsverb in ein Vollverb transformiert wird — in etwas ganz anderes, als sie zu besagen scheint: Das Gedicht, so zwingt der Textzusammenhang den Leser, es zu verstehen, soll eben nicht beim Sagen verharren, beispielsweise bei den Abstrakta „grief" und „love", sondern es soll quasi dingliche Fülle erreichen, es soll als eine Struktur aus Sprache existieren. In diesem So-Sein hat es dann natürlich auch Bedeutung. 40 Dieser Duktus ist von dem Schema der didaktischen Verspoetiken wesentlich unterschieden. In ihrem Fall sind, wie gesagt, die poetologischen Momente Exempla oder Illustrationen von diskursiv eindeutig formulierten Regeln, die auch von ihrem Ko-Text losgelöst richtig verstanden werden können. In MacLeishs „Ars Poética" dagegen verändert der Textzusammenhang die scheinbar eindeutige Bedeutung des Schlußsatzes; darin zeigt sich, daß in MacLeishs
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Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht
Gedicht die vermeintlichen Exempla gar keine dekorativen oder didaktischen Illustrationen sind, sondern Träger der poetischen Struktur. Noch auf eine zweite Weise haben diese scheinbaren Exempla strukturelle Funktion: Die vier Verspaare des letzten Teils entsprechen nämlich motivisch in umgekehrter Reihenfolge denen des ersten: Denn falls die Deutung zutrifft, daß das „not true" im viertletzten Zeilenpaar Signal dafür ist, daß eine dinglich-konkrete gegenüber einer begrifflich abstrakten Sprachgebung den Unterschied zwischen „Prosa" und Dichtung ausmacht, dann besteht hier eine Entsprechung metonymischer Art zu dem wortlosen Vogelzug des vierten: keine Geschwätzigkeit, sondern zielstrebige Bewegung. Die Entsprechung zwischen der ausdrücklichen Erwähnung von Geschichte im drittletzten Zeilenpaar zu dem Geschichte implizierenden Bild der abgescheuerten Fensterbänke im dritten ist offensichtlich. Zwischen der ,Liebe" und dem „Königskindermotiv" im zweitletzten und dem oft als Liebespfand getragenen Medaillon des zweiten Zeilenpaars ist ein Bezug ebenfalls unverkennbar. Und die Ablehnung der bloßen Aussage zugunsten einer Existenz in Sprache ist im ersten Zeilenpaar verborgen und tritt aus dem Klärungsprozeß des ganzen Gedichts im letzten offen zutage. So gesehen ist die Struktur dieses Gedichts durch das Uberschneiden zweier Aufbaumuster bestimmt: einer geradlinigen Entwicklung hin zu einer scheinbar expliziten Aussage am Schluß und zweier zur Mitte zulaufender Motivlinien, die den Mittelteil mit seiner emblematischen Szene wie ein Medaillon oder vielleicht eine Ikone in seinem Rahmen des fünften und fünftletzten Zeilenpaars hervorheben. Wie in Ted Hughes' „The Thought-Fox" und Valerys „Les Pas" imitiert hier also die Struktur des Gedichts das, was sich als seine poetologische Substanz erweist. Diese poetologische Substanz — um das noch einmal hervorzuheben — liegt nicht in der isolierbaren Schlußsentenz (die hier zudem in dem Augenblick mißverstanden wird, in dem man sie losgelöst betrachtet) oder in sonst einem Detail, sondern in der Struktur des Gedichts, in seiner Ganzheit. Es handelt
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sich dabei ebenfalls um ein mimetisches Gedicht, um poetische Theorie als Gedicht. 41 Alle diese Gedichte sind im modernen Verständnis des Wortes vollkommen: Sie vollziehen, was sie aussagen, in ihrem Aufbau gleich mit. Sie sind darauf angelegt, ihre Bedeutung so in sinnlicher Sprache nachzuahmen, daß ihre sinnlich-sprachliche Existenz ihre Bedeutung ist. Und vielleicht ist es auf diese Weise gelungen, einen essayistischen Kontext zu schaffen, in den nunmehr die Schlußzeilen aus MacLeishs Gedicht so übertragen werden können, daß sie keinen allzu großen Bedeutungsverlust erleiden: A poem should not mean But be.
Anmerkungen Aristoteles, Poetik, übers. Olof Gigon (Stuttgart 1961), p. 23. Über die Ursprünge des Historismus im 18. Jh. vgl. im allgemeinen Sinne Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, 2 Bde. (Berlin 1936). Zu neueren Entwicklungen in der Linguistik vgl. Maurice Leroy, Les Grands Courants de la Linguistique Moderne (Brüssel-Paris 1963) und Thomas Gardner, Hauptströmungen der Modernen Linguistik (Göttingen 1973). Stellvertretend sei genannt: H. A. Glaser u. a., Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften: Grundlagen und Modellanalysen (Stuttgart 1971). Der russische und der tschechische Strukturalismus ist stark sprachwissenschaftlich orientiert, die französischen Tendenzen integrieren u. a. Psychoanalyse, Phänomenologie und Anthropologie sowie eine gehörige Portion marxistisches Gedankengut. Eine nützliche Einführung in die Grundlagen ist J. M. Broekmans Strukturalismus (Freiburg-München 1971). N. Frye, Anatomy of Criticism (Princeton, N. J . , 1957), p. 11. Zur neuesten Entwicklung vgl. Robert Scholes, Structuralism in Literature: An Introduction (New Häven, Ct., 1974). Vgl. z. B. E. D. Hirsch, Validity in Interpretation (New Häven, Ct., 1967); G. H. Lenz, „Von der Erkenntnis der literarischen Struktur zur Struktur der literarischen Erkenntnis", Jahrbuch für Amerikastudien 17 (1972), 100 —27; G. Hartman, „Literary Criticism and Its Discontents", Criticai Inquiry 3 (1976), 203-20. Vgl. René Wellek, „The Attack on Literature", American Scholar 42 (1972- 73), 27—42; Literaturnachweise daselbst. Ein Teil der folgenden Überlegungen wurde nach Überarbeitung aus „Der anhaltende Nutzen von Eliots konkreter Kritik", Zur Aktualität T. S. Eliots, ed. H. Viebrock und A. P. Frank (Frankfurt 1975), insbes. pp. 237—40 übernommen. Ich sehe mich in diesen Ausführungen von Kurt Sontheimer (Das Elend unserer Intellektuellen: Linke Theorie in der Bundesrepublik Deutschland [Hamburg 1976]) bestätigt, wenngleich mir seine Polemik zugleich etwas zu breit gestreut („unsere Intellektuellen": alle?) und in ihren Schlußfolgerungen nicht konsequent genug erscheint. Vgl. auch Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen: Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen (Opladen 1975); Alfred Heuß, Ideologiekritik: Ihre theoretischen und praktischen Aspekte (Berlin-New York 1975) und Ernst Topitsch, Gottwerdung und Revolution: Beiträge zur Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik (Pullach 1973). Solche Kritik beansprucht, „Widerstände gegen diese Befreiung der Menschen . . . als konkrete gesellschaftliche Kräfte zu entlarven". Michael Pehlke und Norbert
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Anmerkungen zu S. 15
Lingfeld, Roboter und Gartenlaube: Ideologie und Unterhaltung in der ScienceFiction-Literatur (München 1970), p. 149. Dieses Büchlein gehört zu den krasseren Exempeln dieser Tendenz.
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T. S. Eliot, „American Literature and the American Language", To Criticize the Critic (London 1966), p. 58 (U. d. V.). Wiewohl Monroe K. Spears in Dionysus and the City: Modernism in Twentieth-century Poetry (New York 1970) die Auswirkungen des Imagismus herabsetzt und von dem „small dead-end movement of Imagism" spricht (p. 19; vgl. p. 131), zeigen die Skizzen von Peter Jones („Introduction", Imagist Poetry [Harmondsworth, Middlesex 1972], pp. 35—43) und J . B. Harmer (Victory in Limbo: Imagism, 1908-1917 [London 1975], pp. 184—93) zumindest an einigen Fixpunkten, daß der Imagismus auf jeden Fall in der amerikanischen Dichtung nachhaltig gewirkt hat. Ähnlich B. Rajan schon 1950, wenngleich er wegen seiner Fixierung auf den Grundsatz der „Rückkehr zur Alltagssprache" aus dem späten und verwässerten Manifest von Aldington und Amy Lowell (1915) insbesondere dem Imagismus Pounds überhaupt nicht gerecht werden kann („Imagism: A Reconsideration", Focus i: Modem American Poetry, ed. B. Rajan [London 1950], pp. 81-94); vgl. auch Don Geiger, „Imagism; The New Poetry Forty Years Later", The Age of the Splendid Machine (Tokio 1961), pp. 103—17, und Geoffrey Bullough, „The Imagists", The Trend of Modern Poetry (Edinburgh 1934), pp. 64— 90. Einflüsse auf den Imagismus werden insbesondere in folgenden Studien dargestellt: René Taupin, L'Influence du symbolisme français sur la poésie américaine (de 1910 à 1920) (Paris 1929), pp. 7 7 - 2 5 4 ; Frank Kermode, Romantic Image (London 1957), bes. pp. 119—37; Earl Miner, The Japanese Tradition in British and American Literature (Princeton, N. J . 1958), pp. 97—201; Graham Hough, Reflections on a Literary Revolution (Washington, D. C. 1960); Alun R. Jones, The Life and Opinions of T. E. Hulme (London 1960), bes. pp. 38—67; Glenn S. Burne, Remy de Gourmont: His Ideas and Influence in England and America (Carbondale, 111. 1963), pp. 184-53; N. Christoph de Nagy, Ezra Pound's Poetics and Literary Tradition: The Critical Decade (Bern 1966 — The Cooper Monographs Nr. 11); Wallace Martin, „The Sources of the Imagist Aesthetics", PMLA, 85 (1970), 196 - 2 0 4 ; Hugh Kenner, The Pound Era (London 1972), passim. Kermode meint: „The Hulmian Image . . . is the Symbol of the French poets given a new philosophical suit" (Image, p. 130). Ähnlich: „The Symbol of the French is . . . the Romantic Image writ large and given more elaborate metaphysical and magical support" (p. 5). Auch wenn schon E. Wilson in bezug auf Romantik und Symbolismus (vgl. Axel's Castle: A Study in the Imaginative Literature of 1870-1930 [New York 1931], bes. pp. 10, 2 0 - 2 4 ) und Herbert Read in bezug auf die Romantik (vgl. The True Voice of Feeling: Studies in English Romantic Poetry [London 1953], bes. p. 121) ähnlich argumentiert haben, bedeutet eine solche Essentialisierung des Imagismus (wie des Symbolismus) auf die romantische Komponente, daß andere, mindestens genau so wichtige Eie-
Anmerkungen zu S. 16 — 17
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mente zu kurz kommen oder ganz unbeachtet bleiben; vgl. auch M. K. Spears, Dionysus, p. 212. Zur Versifikation der Imagisten liegt Kurt R. Jankowskys 1956er Dissertation, Die Versauffassung bei Gerald Manley Hopkins, den Imagisten und T. S. Eliot... (München 1967), bes. pp. 191—257, vor; R. Murray Schafers „Ezra Pound and Music" ist am leichtesten in Ezra Pound: A Collection of Critical Essays (Twentieth Century Views), ed. Walter Sutton (Englewood Cliffs, N. J. 1963) zugänglich; vgl. auch Harvey Gross, Sound and Form in Modem Poetry (Ann Arbor, Mich. 1964), bes. pp. 105-12 und 130-47. Vgl. Walter Blair und John C. Gerber, Literature (Chicago 21954), p. 820. Vgl. Encyclopedia of Poetry and Poetics, ed. Alex Preminger (Princeton, N. J. 1965), p. 377; S. K. Coffman, Imagism: A Chapter for the History of Modern Poetry (Norman, Okla. 1951). Auch für David Daiches umfaßt das imagistische Programm kaum mehr als „careful and picturesque description" (Poetry and the Modem World: A Study of Poetry in England Between 1900 and 1939 [Chicago 1940], p. 84.) Andererseits beobachtet er, daß die Imagisten die poetische Struktur auf nichts weiter als die einfache Beziehung zwischen Bildern reduzieren (vgl. p. 75). Nach der Art dieser Relation fragt er nicht, offenbar weil er sie (zu Unrecht) als „einfach" ansieht; dies führt zu Fehlurteilen (vgl. z. B. p. 99). Gerade die Frage nach der Art der Beziehung zwischen den Bildern steht im Mittelpunkt des vorliegenden Aufsatzes. Vgl. Miners Analyse zweier Gedichte Pounds, in der er „image" und „metaphor" ohne Erläuterung jeweils in zwei Bedeutungen verwendet (Japanese Tradition, pp. 115-17). Immanente Ästhetik: Ästhetische Reflexion, ed. Wolfgang Iser (München 1966), pp. 361-93. Ibid., pp. 373, 375. Ganz ausdrücklich William Pratt, „Introduction" zu seiner Anthologie The Imagist Poem (New York 1963) und neuerdings Harmer, Victory, p. 17; ebenso Jankowsky, der mit J. Isaacs (vgl. The Background of Modem Poetry [London 1951], p. 31) Hulmes Kreis als die erste der drei Phasen des Imagismus bezeichnet (vgl. Versauffassung, pp. 142, 146) und Hulme selbst mit Glenn Hughes (vgl. Imagism and the Imagists [London 1931], p. 9) als den „father" und Vorläufer des Imagismus angibt (vgl. Versauffassung, p. 149). Demgegenüber weist de Nagy mit Recht darauf hin, daß zwischen der ersten und zweiten Phase, der Hulmes und der Pounds, etwas mehr als zwei Jahre verstrichen, während denen Pound Anregungen auch aus anderen Quellen aufnahm, so daß Hulme nicht der einzige „Vater" des Poundschen Imagismus ist (vgl. Pound's Poetics, pp. 68 - 72). Sicher ist der Übergang nicht geradlinig und fugenlos; aber über die Ubereinstimmung von wesentlichen Hulmeschen und Poundschen poetologischen Erwägungen und die ausgeprägte Ähnlichkeit im Aufbau der Gedichte Hulmes mit denen der späteren Imagisten kann auch de Nagy nicht hinwegsehen. So bleibt die Einteilung in drei Phasen, die schon Coffman implizit vorgenommen hatte, durchaus akzeptabel, wenngleich Hulme auch deswegen etwas abzurücken ist, weil die Bezeichnung Imagism(e) erst 1912 von Pound geprägt wurde (vgl. Hughes, Imagism, p. 12).
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Wer wie A. R. Jones in seinem Beitrag „Imagism: A Unity of Gesture" F. S. Flints früher „History of Imagism" (Egoist, 2 [1915], 70-71) folgt, wird diese Phase unterteilen und vier imagistische Perioden unterscheiden (vgl. American Poetry, ed. Irvin Ehrenpreis [London 1965], pp. 115—16). Ob diese Unterteilung durch mehr als nur persönliche Umstände gerechtfertigt ist (Flint gehörte nicht dem Poets' Club, wohl aber der Gruppe 09 an und meldete später ebenfalls Ansprüche auf die Miturheberschaft des Imagismus an (vgl. „Verse Chronicle", Criterion, 11 [1932], 687), erscheint zweifelhaft. Jones selbst hatte in seinem früheren Buch einen Hinweis auf die wesentliche Einheit dieser Frühphase gegeben: Hulmes Poetik sei schon zur Jahreswende 1908/1909 voll entwickelt gewesen (vgl. Hulme, p. 30). Zwar präzisiert er diese Angabe nicht, mag sich aber auf Sam Hynes* Mitteilung stützen, daß Hulme seine „Lecture on Modern Poetry", die bereits alle wichtigen poetologischen Prinzipien Hulmes formuliert, schon 1908 oder 1909 zum erstenmal gehalten habe (vgl. T. E. Hulme, Further Speculations, ed. Sam Hynes [Minneapolis, Minn. 1955], p. xviii). Ferner belegt auch die weitgehende Ähnlichkeit von Hulmes Gedichten aus dem Jahre 1908, „Autumn" und „City Sunset" (For Christmas MDCCCCVIII, Veröffentlichung des Poets' Club, Jan. 1909), mit den zu Weihnachten 1909 veröffentlichten („Conversion" und „The Embankment" in The Book of the Poets' Club) die wesentliche Einheitlichkeit der Hulme-Phase auch unter dem poetischen Aspekt, so daß für ihre Unterteilung keine literarisch ausschlaggebenden Gesichtspunkte vorliegen. Zum Vorticism vgl. die zusammenfassenden Darstellungen von Peter Groth, Der Vortizismus in Literatur, Kunst und Wissenschaft: Studien zur Bewegung der „Men of 1914" . . . (Hamburg 1971) und William C. Wees, Vortiásm and the English Avant-garde (Toronto 1972); internationale Zusammenhänge erörtert K. Power, „The relationship of ultraism & vorticism with futurist practice & theory", es: Publicaciones del Departamento de Ingles . . . Valladolid, núm. 3 (Sept. 1973), pp. 219-73. Das Neueste aus Amy Lowells Sicht findet sich in dem vorwiegend biographischen Amy: The World of Amy Lowell and the Imagist Movement [New York 1975] von Jean Gould. Hierüber gibt Flints „History" (1915) zuverlässig Auskunft. Vgl. E. Miner, „Pound, Haiku and the Image", Hudson Review, 9 (1956 -57), 574. Vgl. Jan Uhlenbrook, „Nachwort", Haiku: Japanische Dreizeiler [Bremen 1963], pp. 332-35. Lobend äußerten sich u. a. T. S. Eliot, „A Commentary", Criterion, 2 (1924), 231, und Pound (vgl. Daniel Cory, „Ezra Pound", Encounter, 30:5 (Mai 1968), 38; s. dagegen Hughes, Imagism, p. 19; Coffman, Imagism, p. 69; Miner, Japanese Tradition, p. 103; Helmut Viebrock zeigt an einigen prägnanten Beispielen, wie in Hulmes Gedichten der Anspruch, exemplarisch für avantgardistische Kunst zu stehen, an seinem konventionellen Geschmack scheitert (vgl. „Englischer Klassizismus und europäische Kunstrevolution: T. E. Hulme", Akzente, 4 (1957), 189-91. Speculations: Essays on Humanism and the Philosophy of Art, ed. Herbert Read (London 21936), p. 132.
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Hulmes Poetologie kreist um diesen Gedanken der intuitiven Analogie. Darin ist trotz seines heftigen antiromantischen Affekts ein romantisches Moment erkennbar, wie Kermode und Jones ausführen. Jones irrt aber, wenn er den Unterschied zwischen der romantischen Auffassung von der poetischen Imagination bei Coleridge und Hulmes Imagismus darin sieht, daß für letzteren Sprache und Intuition identisch seien: „For Hulme . . . the intuition of the poet does not merely take place in language, but the language is the intuition" (Hulme, p. 47; vgl. p. 50). Im Gegenteil: Auch für Hulme ist die intuitive Analogie vorsprachlich. In zwei „Notes on Language and Style", die Jones unvollständig zitiert (p. 51 bis 52), heißt es: „(i) Thought is prior to language and consists in the simultaneous presentation to the mind of two different images, (ii) Language is only a more or less feeble way of doing this" (Further Speculations, p. 84). Ein wesentlicher Unterschied zur romantischen Dichtungstheorie liegt m. E. doch in der von Jones zurückgewiesenen Ansicht, daß Hulme den Ton der „high seriousness", des Tiefgründigen und Erhabenen, mit dem schon Wordsworth und später Ruskin die Imagination aufgeladen haben, durch das Spiel der „fancy", durch Leichtigkeit, Witz, „amusement" ersetzt wissen möchte" (vgl. „Romanticism and Classicism", Speculations, pp. 113—40). Further Speculations, p. 73 (U. d. V.). Vgl. ibid., p. 80; H. Read weist in diesem Zusammenhang unmittelbar auf Prinzipien der symbolischen Logik und Pounds ideogrammische Methode hin (vgl. True Voice, pp. 108-09). „Ahnenreihen" der verschiedenen Bedeutungen, die das Wort image seit dem Griechischen gehabt hat, wie sie z . B . Harmer in Victory, pp. 161-63, zusammenstellt, sind darum für ein Verständnis des Imagismus wenig ergiebig. „An ,Image' is that which presents an intellectual and emotional complex in an instant of time" (1913; The Literary Essays of Ezra Pound, ed. T. S. Eliot [London 21960], p. 4. Vgl. besonders „An Approach to Paris", New Age (2. Oktober 1913), zitiert in Hough, Reflections, p. 16. Vgl. z. B. de Nagy, Pound's Poetics, p. 48. Pound, Essays, p. 51 (Ü. d. V.). Ibid., p. 373 (U. d. V.; vgl. auch pp. 26, 49, 372 u. ö). Pound übersetzt hier auf charakteristische Weise Hueffers Mitteilung einer persönlichen Erfahrung ins Präskriptive; F. M. Hueffer schrieb: „I had to make for myself the discovery that verse must be at least as well written as prose if it is to be poetry" („Vers Libre", Thus to Revisit: Some Reminiscences [New York 1921]), p. 201. Vgl. Hulme, Speculations, pp. 162 —63; Pound, Essays, p. 11. Vgl. Harmer, Victory, p. 17. „To present an image . . . We are not a school of painters, but we believe that poetry should render particulars exactly and not deal in vague generalities . . ." (Punkt 4 der „Preface", Some Imagist Poets, 1915 — am besten zugänglich in Jones, Imagist Poetry, p. 135). „Preface", Some Imagist Poets, 1916 (ibid., p. 136). „Vorticism", Fortnightly Review, N . F. 96:573 (1. Sept. 1914), 467 (U. d. V.). Die Fassung in Personae: The Collected Poems of Ezra Pound (New York 1926,
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p. 109) unterscheidet sich in der Zeichensetzung, was eine Einbuße an Präzision und Prägnanz des Aufbaus und rhythmischen Gefüges bedeutet. (Alle weiteren Gedichte Pounds zitiert nach Personae.) Zu dem Gedicht vgl. Peter Nicolaisen, „Ezra Pounds ,In a Station of the Metro'", Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 1 (1968), 198-204. „Impression" faßt den Sachverhalt unter dem Gesichtspunkt der Autor-GedichtRelation, „Vorstellungsbild" unter dem der Gedicht-Leser-Relation. Im folgenden wird daher der zweiten Bezeichnung der Vorzug gegeben. Blair/Gerber, Literature, p. 820; Cleanth Brooks und R. P. Warren, Understanding Poetry (New York 31965), p. 555; vgl. auch „an accurate transliteration of a sense-impression" (Geoffrey Bullough, The Trend of Modern Poetry, p. 113) und: „In its purest sense, an image in poetry is any significant piece of sense data" (Stephen Minot, Three Genres: The Writing of Fiction, Poetry, and Drama [Englewood Cliffs, N . J. 1965], p. 152). „Vorticism", p. 467. Ibid., p. 465 (U. d. V.); hier differenziert Pound durch Kursivschrift. Den Unterschied bemerkt beispielsweise auch Spears, ohne dem freilich weiter nachzugehen: „Pound clearly means something more by Image than do most of the others, for his favorite example of the successful image is Dante's Paradiso" (Dionysus, p. 1261). „Vorticism", p. 467 (U. d. V.). Zum „one image poem" bemerkt schon Coffman: Pound „seemed to be explaining the image when actually he was explaining the /mage — the total pattern, the organism or complex the poet succeeds in creating" (Imagism, p. 149). Vgl. z. B. ABC of Reading (New York 1960), bes. pp. 19-22; dazu George Kennedy, „Fenollosa, Pound and the Chinese Character", Yale Literary Magazine, 125:5 [d. h. 127:2] (Dez. 1958), 24-36, und Walter L. Fischer, „Ezra Pounds chinesische Denkstrukturen", Ezra Pound: 22 Versuche über einen Dichter, ed. Eva Hesse (Frankfurt 1967), pp. 167-81; überwiegend negativ äußern sich zwei Ostasienphilologen, A. Fang, „Fenollosa and Pound", Harvard Journal of Asiatic Studies, 20:1/2 (Juni 1957), 213-38, und James J. Y. Liu, The Art of Chinese Poetry (Chicago 1962), pp. 3 - 1 9 . Vgl. die Sicht des Ubersetzers in Shih-Hsiang Chen, „Re-Creating the Chinese Image", The World of Translation: Papers Delivered at the Conference on Literary Translation . . . May 1970 . . . P. E. N. American Center (New York 1971), pp. 253-66. „Une idée n'est qu'une sensation défraîchie, une image effacée" (R. de Gourmont, Le Problème du style [Paris 1907], p. 69). Das Wort image ist hier eindeutig im wahrnehmungspsychologischen Sinn gebraucht. W. Martin, der argumentiert, in diesem Punkt habe weniger de Gourmont als vielmehr Ribot Pate gestanden („Imagist Aesthetic" [1970]), bestätigt dennoch den empirischassoziationistischen Kern dieser Vorstellung: Um die Jahrhundertwende sei die Hauptbedeutung des englischen Wortes „image" von französisch „image" entlehnt worden, das die französische Ubersetzung von Lockes und Humes „impression" sei (p. 198); die strukturelle Seite von Pounds Image sieht Martin nicht. Den Hinweis darauf, die Lösung des Problems in dieser Richtung zu suchen, verdanke ich Willi Erzgräber.
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Vgl. The Encyclopedia of Philosophy, ed. Paul Edwards (New York 1967), Bd. IV, p. 120. New York, Bd. I, p. 498. In der Geschichte des Haiku wechseln Perioden und Geschmacksrichtungen, die ein homogenes Bild bevorzugen, mit solchen, die sogar recht eklatante Bildkontraste akzeptieren (Vgl. Uhlenbrook, Haiku, passim). Vgl. „Pound///«uWlmage", bes. pp. 571-72. „Inkongruent" hier nicht im geometrischen Sinne, sondern im sprachanalytischen Sinn Kenneth Burkes (vgl. „Perspective by Incongruity", Permanence and Change [Los Altos, Calif. 2 1954), bes. pp. 89-124). Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Hinweis von H. Read: „The method [Pound] adopted was the one already indicated by Hulme: the juxtaposition of clear images. Two verbal images, side by side, are more than two distinct perceptions: fire strikes between them, as Hulme said, and you get a third quality which does not belong to either image separately . . . . the over-arching meaning will be the reader's creation, not (in an explicit sense, at least) the poet's" (True Voice, pp. 123—24, 133). — Demgegenüber erscheint in dem Metro-Gedicht „apparition" wirklich als ein opalisierendes Wort, an „opalescent word [in] the rhetorical tradition", gegen das sich Pound mit aller Entschiedenheit wendet {Essays, p. 371). In anderen Texten aus dieser Zeit, z. B. in „Alba", „The Encounter", „Women before a Shop" usw., stellt Pound die Beziehung zwischen den Komponenten noch durch ausdrücklichere Erläuterungen dar; andere wie z. B. „Liu Ch'e" beruhen ganz auf dem harten Schnitt. Vgl. Jürgen Wissmann, „Collagen oder die Integration von Realität im Kunstwerk", Immanente Ästhetik, pp. 327—60. Immanente Ästhetik, p. 378. Vgl. S. M. Eisenstein, „A Dialectic Approach to Film Form" (1929), Film Form (New York 1949), p. 56; s. auch Marie Seton, Sergei M. Eisenstein (New York, o. J.), pp. 8 3 - 8 4 . Vgl. Eisenstein, Vom Theater zum Film (Zürich 1960), p. 47. Ibid., p. 43. Ibid., pp. 19 — 20; der Einschub findet sich so im Text. Vgl. u. a. Film Form, p. 37. Theater!Film, p. 43. Diese Vorstellung erläutert Eisenstein als Analogie zum „räumlichen Kontrapunkt der graphischen Kunst und [dem] zeitlichen Kontrapunkt der Musik"; unter Kontrapunkt versteht er generell die Wahrnehmung von Wechselbeziehungen zwischen kontrastierendem Material, den „behaltenen Vibrationsgrad gegen den neu wahrgenommenen" (ibid., p. 42). Ibid., p. 39. Vgl. Film Form, p. 37. Ich hoffe, daß niemand dieser Beobachtung entnimmt, jede Art der künstlerischen Gestaltung von Konflikten oder jede Art der künstlerischen Gestaltung, die sich des Konflikts als eines Ausdrucksmittels bedient, sei darum schon revolutionär in diesem eingeengten Sinn. Für Eisenstein jedoch steht fest: „. . . art is always conflict: (1) according to its social mission, (2) according to its nature, (3) according to its methodology" (Film Form, p. 46).
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Vgl. Pound, Chinese/Character (London 1936); die beste Darstellung der Forschungen und Ideen Fenollosas im Hinblick auf den Imagismus findet sich in Ergänzung der in Anm. 38 genannten Titel in Ruggero Bianchi, La poetica dell' imagismo (Milano 1965), bes. pp. 100—19. 59 Vgl. Eisenstein, Film Form, p. 30; zu seinen Studien des Ideogramms vgl. Seton, Eisenstein, p. 37. 60 Vgl. ibid., pp. 31, 38. Daß hier eine Auswirkung des anglo-amerikanischen Imagismus über die „imaginistische" Strömung in der russischen Literatur nach 1914, die bis Jessenin und Pasternak reicht, auf Eisenstein vorliegt, kann ich bis jetzt nur vermuten. Vgl. Harmer, Victory, p. 188. 61 Entschieden gilt dies für die „logische Montage" (vgl. Theater/Film, p. 46). 62 Vgl. „Vorticism", p. 467. 63 Oeuvres de 1919 à 1936 (Paris [1937]), p. 31. 64 Ibid., p. 29 (U. d. V.); vgl. André Breton, der 1929 in dem Vorwort zu Emsts Collagenroman La Femme 100 têtes auf das „dépaysement complet" als das Prinzip der Surrealität und damit auch der Ernstschen Collagen hinweist (Nachdruck Paris 1956, o. S.). An gleicher Stelle bezeichnet Breton diese Kompositionsmethode mit einem Wort, das an Pounds eigene Beschreibung des MétroGedichts erinnert: „superposition". 65 Ibid. ; Lautréamont, Les Chants de Maldoror (Paris-Bruxelles 1874), pp. 289-90; der folgende Hinweis auf Rimbaud bezieht sich auf Une Saison en enfer (Paris 1946), pp. 70-71 (geschrieben 1873). 66 Les Collages (Paris 1965), pp. 30, 114 (Ü. d. V.). 67 Liebende (1.) sind [wie/gleich] Kerzen (2.): sie verzehren sich nämlich selbst (tertium comparationis). 68 Manchmal genügt der harte Schnitt, die abrupte Gegenüberstellung heterogenen Materials als Herausforderung an den Leser, eine Beziehung zu suchen; manchmal unterstützen Beziehungssignale nichtsprachlicher Art diese Herausforderung (z. B. Doppelpunkt, Zeilenabstand). 69 Wenn Eliot an den metaphysischen Dichtern die Anschaulichkeit ihrer Ausdrucksweise, „a direct sensuous apprehension of thought" hervorhebt (Selected Essays [London 31951], p. 286, so erfolgt diese Beurteilung in erster Linie vom Standpunkt eines Dichters aus, der sich um die Begründung und Ausformung seines eigenen Stils bemüht. In diesem Zusammenhang muß berücksichtigt werden, daß Eliot diesen Standpunkt angesichts der Dichtung des späteren 19. Jhs. in England und seiner Diagnose der „bright, hard precision" des metaphysischen Stils z. B. Marvells aus einem Vergleich mit der „mistiness of the feeling and the vagueness of its object" im Stil des Präraffaeliten William Morris gewinnt {ibid., p. 299). Demgegenüber zeigt die literaturhistorisch ausgerichtete Untersuchung Rosemond Tuves, daß vom Standpunkt der elisabethanischen Poetologie aus die metaphysische Bildlichkeit nicht primär dem „accurate conveying of the sensuous qualities of experience" dient, sondern daß in der Dichtung und Poetik der englischen Renaissance sinnliches Detail zumeist im Dienst eines Argumentationszusammenhangs steht, einer „logical structure" oder der „Imitation as truthstating" (Elizabethan and Metaphysical Imagery [Chicago 1947], pp. 3, 12, 25).
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The Art of Assemhlage (Garden City, N . J . 1961), p. 41 (Ü. d. V.). Vgl. Aragon, Collages, pp. 141 — 43. Jürgen Peper hat diese Definition und ähnliche Formulierungen in vorliegendem Aufsatz zum Anlaß genommen, dessen Ergebnisse in Frage zu stellen (vgl. „Das imagistische ,Ein-Bild-Gedicht': Zwei Bildauffassungen", GRM, N. F. 22 [1972], bes. 402): Die in dem Metro-Gedicht erzeugte Perspektive sei gar nicht so ungewöhnlich; jeder Kurzsichtige kenne das Phänomen, daß Gesichter, auf Distanz gesehen, als ausgewaschene Flecken vor einem dunklen Hintergrund erscheinen. Sehr wohl; aber ein Kurzsichtiger geht daraufhin zum Optiker und läßt sich eine Brille verschreiben, er setzt nicht daneben: „Petals, on a wet, black bough." Daß uns die durch diese Kollationierung erzeugte Sehweise nunmehr vertraut vorkommen mag, ist genau eine der Leistungen dieses Gedichts in dieser Form, wobei es für die Wahrnehmimg keine Rolle spielt, ob Pound diese Version spontan gesetzt oder in einem längeren Arbeitsgang durch stufenweise Komprimierung eines früher viel längeren Gedichts hergestellt hat. — Für Peper bringt der Collagenbegriff den Imagismus zu sehr in die Nähe des Surrealismus. Ich möchte demgegenüber hervorheben, daß die drei Begriffe, die ich hier zu unterscheiden versuche, entetymologisiert und damit in gewisser Weise auch enthistorisiert sind und Zusammensetztechniken beschreiben, wie sie im Prinzip in allen Medien und Epochen verfügbar sind. Dennoch ist die Bezugnahme auf den Surrealismus nicht purer Zufall, gehören doch die Traditionen der französischen Dichtung, die auf ihn zuführen, eindeutig auch zum Einzugsgebiet der imagistischen poetes erudits. — Wie dem auch sei, Peper sieht das Prinzip imagistischer Gedichte nicht in einer wie immer gearteten Zusammensetztechnik, sondern in einer ,,naive[n] oder radikale[n] Wahrnehmung" (pp. 411, 412), die „Ernst mit dem Anschein" (oder „Augenschein") macht (pp. 409, 413), also beispielsweise mit „perspektivischer Verkürzung" arbeitet (p. 410) und Wahrnehmungen, von denen man normalerweise weiß, daß ihre Gegenstände auf weit voneinander entfernten Ebenen liegen, mit kindlicher Naivität aufeinanderprojiziert. So „wird" der vermutlich niedrig stehende, vom Dunst umrötete Mond zum roten „Mondgesicht" des Bauern, der über eine Hecke guckt. Ein anderes Beispiel, auf das Peper in seiner Zusammenfassung zurückkommt (pp. 417 nach 406) ist der bei Kindern beliebte Blick mit dem Kopf zwischen den Beinen, der eine „verkehrte" Welt zeigt (vgl. Hulme, „Susan Ann and Immortality"). Wenn diese Sehweise Programmcharakter zumindest für eine „Gruppe" der Imagisten hätte (vgl. p. 417), so wäre bereits Emerson, der diesen anstrengenden Blickwinkel bekanntlich empfohlen hat, schon ein Imagist (ein Proto-Imagist?) gewesen, und Ted Hughes wäre wegen seiner auf den Kopf gestellten Welten (vgl. z. B. „Wodwo") immer noch einer. — Doch „neue", wegen ihrer Abweichung vom „Normalen" meist „naiv" wirkende Sehweisen zu entwickeln, ist seit der Zeit, da nicht mehr die erhöhte Eleganz des Ausdrucks, sondern Originalität des Gegenstands oder zumindest der Sehweise als Kriterium für dichterische Qualität gilt, der Ehrgeiz (und die Bestätigung) des Dichters; das sehen auch Imagisten so (und auch darin unterscheidet sich Eliot, der hier viel reservierter reagiert, vom Imagismus). Was aber ist das Spezielle der neuen Sehweise des Imagismus? Daß es Peper bei der kindlich-naiven, sich dem Augenschein überantwortenden Sehweise für den Imagismus beläßt, ist eine Folge
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seiner kulturhistorischen Hypothese des Abbaus der kantischen (inklusiven) mentalen Synthesis hin zur rein sensualistischen Anschauung in der Literatur des 20. Jhs. Wer sich jedoch daran erinnert, daß die unreflektierte Schau „des Kindes" bereits von Wordsworth gefeiert worden ist, wird deshalb in ausschließlich kindlichen Momenten in Gedichten nomineller Imagisten möglicherweise eher ein Relikt aus der Romantik erblicken als eine Innovation und auf der Frage nach dem speziell Neuen der imagistischen Seh weise insistieren. Er könnte dann doch Hinweise in Pepers Aufsatz finden und weiterentwickeln: Die „perspektivische Verkürzung", also das Aufeinanderlegen zweier Wirklichkeitsausschnitte, die „in Wirklichkeit" so nicht zusammengehören, die also heterogen (verschiedenen, z. B. auch räumlich verschiedenen Ursprungs sind) und nun auf einer Ebene, die ihnen normalerweise nicht angemessen ist, zusammengebracht, „planiert" werden, ist eben „la rencontre fortuite de deux réalités sur un plan nonconvenant" — und damit wären wir genau beim konstruktivistischen Prinzip der Collage, dem spezifischen Beitrag des Imagismus zur Erneuerung der englischen Dichtung zu Beginn dieses Jahrhunderts. Ich finde an den Ergebnissen von Pepers Aufsatz meine Ansicht bestätigt, daß es besser ist, bei der Analyse künstlerischer Phänomene die in allen langfristigen historischen Hypothesen enthaltenen Voreingenommenheiten zurückzustellen und den Gegenstand aus sich und seinem zeitlichen Umfeld heraus Konturen gewinnen zu lassen, bevor man ihn der Diachronie zurückgibt. Selected Poems of H. D., ed. Norman Holmes Pearson (New York 1957), p. 26. Immanente Ästhetik, p. 371. Vgl. „As for Imagisme" (1915), Selected Prose, 1909-1965, ed. William Cookson (New York 1973), p. 374. Da Pound in „A Few Don'ts" so viele eindeutige Schreibregeln für ein imagistisches Gedicht zusammengestellt hat, ist die Versuchung übergroß, diese Schulung darauf anzuwenden, dieses Gedicht umzuschreiben : A fan of white silk lies forgotten in the moonlight: Clear as frost on a grass-blade. „The Figure a Poem Makes", Selected Prose of Robert Frost, ed. Hyde Cox and Edward C. Lathem (New York 1966), p. 19. Vgl. Pound, Essays, p. 371. Pratt, Imagist Poem, p. 45. Ibid., p. 43. Vgl. Selected Essays (New York 1958), pp. 3 - 3 1 . Pratt, Imagist Poem, p. 12 (Ü. d. V.); vgl. Taupin, L'Influence, pp. 211 — 12; Coffman, Imagism, pp. 218—19; Grover Smith, T. S. Eliot's Poetry and Plays (Chicago 4 1961), p. 21; Wylie Sypher führt „Preludes" als Beispiel für Eliots „kind of imagist poetry" an (Rococo to Cubism in Art and Literature [New York 1960], p. 314); Jones fällt dieses Urteil generell über Eliots frühe Dichtung (Hulme, p. 53); Hugh Kenner dagegen sieht „Preludes" als im Gegensatz zum Imagismus stehend an (vgl. The Invisible Poet: T. S. Eliot [London 2 1965], p. 30). Zur Datierung vgl. Alfred Weber, „Ein Beitrag zur Chronologie und Genesis der Dichtung T. S. Eliots", Jahrbuch für Amerikastudien, 3 (1958), 165—66. Vgl. „Der frühe T. S. Eliot", Die neueren Sprachen, N. F. 9 (1960), 569.
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„Preludes", Collected Poems, 1909-1962 (London 1963), pp. 23-25. Vgl. T. S. Eliots Anfange als Lyriker, 190S-191S (Heidelberg 1966), p. 97. „Wo die Verse 8f. syntaktisch angeschlossen werden müssen, ist nicht klar. Der Zeichensetzung nach müßte man annehmen, daß die ,eyes / Assured of certain certainties' ironisch als das Gewissen der Straße bezeichnet werden. Vom Gehalt und von der Strophenform her scheint es logischer, die Verse 8 f. auf die in Zeile 1 genannte leidende Seele zu beziehen" (Germer, Anfänge, p. 100). In einem informellen Hinweis deutete Hans Galinsky die Möglichkeit an, daß „gathering fuel" aus den Schlußzeilen insofern mit „winter" aus der ersten Zeile verbunden ist, als in dem Weihnachtslied „Good King Wenceslas" die Zeilen „When a poor man came in sight / Gath'ring winter fuel" vorkommen; auf diese Verbindung könnte auch die Tatsache hinweisen, daß „Wipe your hand across the mouth" im Rhythmus mit der kennzeichnenden Zeile „Good King Wenceslas look'd out" identisch ist. Danach wäre Eliots Gedichtschluß fester in den Text hineingebunden als Pounds super-pository image. Vgl. R. Aldingtons laute Ironie in Punkt 7 seiner Erläuterung des imagistischen Programms: „I know there are a lot more [Imagist doctrines] but I can't remember them now" („Modern Poetry and the Imagists", Egoist 1 [1914], 202). Vgl. The Literature of the United States (Baltimore, Md. 21964), pp. 245-46 (Ü. d. V.). Vgl. Jones, Imagist Poetry, bes. pp. 35—43; Harmer, Victory, bes. pp. 184-93; beide Zusammenfassungen sind kurz und überwiegend impressionistisch. T. S. Eliot, „Preface" zu St.-John Perse, Anabasis (London 1959), pp. 9 - 1 0 .
Vgl. Heinrich Boll, berichtet von Marcel Reich-Ranicki, „Gegen die linken Eiferer: Bolls Stockholmer Rede", Die Zeit, 27. 6. 1973. Vgl. Ansichten einer zukünftigen Germanistik, ed. Jürgen Kolbe (München 1969); Neue Ansichten einer zukünftigen Germanistik, ed. Jürgen Kolbe (München 1973). Vgl. I. A. Richards, Principles of Literary Criticism (1924; London 1960); The New Criticism: An Anthology of Modern Aesthetics and Literary Criticism, ed. E. B. Burgum (New York 1930), Preface; J. C. Ransom, The World's Body (New York 1938). Vgl. M. Van Deusen, „Criticism in the Thirties: The Marxists and the New Critics", Western Humanities Review 17 (1963), 75—85. Vgl. V. L. Parrington, Main Currents in American Thought, 3 Bde. (New York 1927-30). Vgl. G. Hicks, „The Crisis in American Criticism", The New Masses 8 (Feb. 1933), 3 - 5 . Vgl. J. Freeman, Proletarian Literature in the United States (New York 1935); V. F. Calverton, The Liberation of American Literature (New York 1932). Vgl. G. Hicks, The Great Tradition: An Interpretation of American Literature since the Civil War (New York 1935). Vgl. B. Smith, Forces in American Criticism (New York 1939).
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Anmerkungen zu S. 55—62
Vgl. K. Burke, The Philosophy of Literary Form: Studies in Symbolic Action (1941; Baton Rouge "1975). Vgl. K. Mannheim nach Hans Joachim Lieber, Wissen und Gesellschaft (Tübingen 1952), p. 215. Vgl. C. Spurgeon, Shakespeare's Imagery and What It Tells Us (Cambridge, Engl. 1950). Vgl. S. Kracauer, „The Challenge of Qualitative Content Analysis", Public Opinion Quarterly 16 (1952—53), 631—42. Zur Inhaltsanalyse vgl. auch unten, „Wider den voreiligen Soziologismus". Vgl. H. N. Smith, Virgin Land: The American West as Symbol and Myth (Cambridge, Mass. 1950); R. H. Pearce, Savagism and Civilization: A Study of the Indian and the American Mind (unter anderem Titel 1953; überarbeitet Baltimore 1965); L. Marx, The Machine in the Garden: Technology and the Pastoral Ideal in America (New York 1964). Vgl. B. Berelson, Content Analysis in Communication Research (Glencoe, III. 1952); H. N. Smith, „Can .American Studies' Develop a Method?" American Quarterly 9 (1957), 197-208. Vgl. R. H. Pearce, „American Studies as a Discipline", College English 18 (1957), 179—86; ders., ,,,Pure' Criticism and the History of Ideas", Journal of Aesthetics and Art Criticism 7 (1948), 122-32. Pearce, ,„Pure' Criticism", pp. 123, 129. Vgl. E. D. Hirsch, Jr., Validity in Interpretation (New Haven 1967). Vgl. E. Vivas, „The Object of the Poem", Creation and Discovery: Essays in Criticism and Aesthetics (1965; Chicago o. D.), pp. 199-221. Vgl. L. Marx, „American Studies — A Defense of an Unscientific Method", New Literary History 1 (1969- 70), 75-90. Vgl. N. C. Mills, „The Machine in the Anglo-American Garden", Centennial Review 14 (1970), 201-12; H. L. Sussman, Victorians and the Machine: The Literary Response to Technology (Cambridge, Mass. 1968). Vgl. W. Fluck, „Das ästhetische Vorverständnis der American Studies", Jahrbuch für Amerikastudien 18 (1973), 110-29. Vgl. R. Weimann, Literaturgeschichte und Mythologie: Methodologische und historische Studien (Berlin 1971) — vgl. dazu unten, „Marxismus und Literatur: eine anhaltende Kontroverse"; J. Hermand, Synthetisches Interpretieren: Zur Methodik der Literaturwissenschaft (München 1968). G. Hicks, berichtet von Robert Sühnel, „The Marxist Trind in Literary Criticism in the USA in the Thirties", Jahrbuch für Amerikastudien 7 (1962), 64. A. Ginsberg, berichtet von Monroe K. Spears, Dionysus and the City: Modernism in Twentieth-Century Poetry (New York 1970), p. 234. Vgl. N. Frye, Anatomy of Criticism: Four Essays (Princeton, N.J. 1957). Zwei neuere Darstellungen zur hier verarbeiteten amerikanischen Literaturkritik: Walter Sutton, Modem American Criticism (Englewood Cliffs, N. J. 1963); Wesley Morris, Toward a New Historicism (Princeton, N . J . 1972).
Anmerkungen zu S. 63 —69
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Vgl. T. W. Adorno, „Rede über Lyrik und Gesellschaft", Noten zur Literatur (Frankfurt 1958), pp. 73—104; diese Zusammenfassung ist absichtlich mit einer späteren Terminologie kontaminiert worden, um anzudeuten, was aus Adorno, dessen eigene Sensibilität für Lyrik unbestritten ist, gemacht werden konnte. Die (gewiß unvollständige) Aufzählung der „Textsorten", an denen soziologisch orientierte Literaturforschung interessiert ist, stammt aus Richard W. Budd et al., Content Analysis of Communications (New York 1967), p. 6. Die beiden folgenden Statistiken dokumentieren das zunehmende Interesse an Inhaltsanalysen in den 1940er und 1950er Jahren: 1920er 25 (a) 4 (b) 1930er 65 4 1940er 190 41 1950er 109 26 1960-65 (a) „Rough Numbers of Content Analyses", Bernard Berelson, Content Analysis in Communication Research (Glencoe, 111. 1952), p. 27; (b) Buchtitel in der dem Forschungsüberblick „Systematische Inhaltsanalyse" von Alphons Silbermann beigegebenen Bibliographie im Handbuch der empirischen Sozialforschung, ed. Réne König (Stuttgart 1967), pp. 594-600, 795-97. Vgl. z. B. M. Pehlke, „Aufstieg und Fall der Germanistik — von der Agonie einer bürgerlichen Wissenschaft", Ansichten einer künftigen Germanistik, ed. Jürgen Kolbe (München 1969), pp. 18-44. S.o., „Literaturwissenschaft als Literaturwissenschaft, III. Von den ,Amerikastudien' zum .Neuen Historizismus'". Vgl. H . N . Smith, „Can .American Studies' Develop a Method?", American Quarterly 9 (1957), 197-208; L. Marx, „American Studies - A Defense of an Unscientific Method", New Literary History 1 (1969- 70), 75 - 9 0 ; B. Kuklick, „Myth and Symbol in American Studies", AQ 24 (1972), 435—50. Zwei weitere methodologisch interessante, diesmal auf die Geschichte bezogene Aufsätze sind R. L. Merritts „The Emergence of American Nationalism: A Quantitative Approach", /4Q 17 (1965), 319-35 und T. F. Carney, „Content Analysis: Construing Literature as History", Mosaic 1 (1967), 22—38. Vgl. Smith (Anm. 5). Vgl. R. Spiller, „Value and Method in American Studies: The Literary versus the Social Approach", Jahrbuch für Amerikastudien 4 (1959), 11—24. Vgl. A. Kaplan, The Conduct of Inquiry: Methodology for Behavioral Science (San Francisco 1964); H . D. Lasswell, D. Lerner, I. de Sola Pool, Symbols of Internationalism (Stanford 1951); M. Weber, „Geschäftsbericht", Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages (Tübingen 1911), p. 52 im Zusammenhang mit pp. 42—52; vgl. dazu Marianne Weber, Max Weber: Ein Lebensbild (Tübingen 1926), pp. 426-29. A. L. George, „Quantitative and Qualitative Approaches to Content Analysis", Trends in Content Analysis, ed. I. de Sola Pool (Urbana 1959), p. 8 (U.d.V.). 11 B. Berelson, Content Analysis, p. 18. Vgl. ibid., p. 16. Zitiert in W. S. Baring-Gould und C. Baring-Gould, The Annotated Mother Goose (New York 1962), p. 21 (U. d. V.).
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Anmerkungen zu S. 70 — 88
Vgl. Hansjörg Bessler, Aussagenanalyse: Die Messung von Einstellungen im Text der Aussagen von Massenmedien (Bielefeld 1970), pp. 81 — 84; vgl. J . Ritsert, Inhaltsanalyse und Ideologiekritik: Zur Grundlegung einer kritischen Sozialforschung (Frankfurt 1972), p. 81. „Words are symbols' because they stand for (symbolize) the attitudes of those who use them . . . . The symbol analyst works with words by selecting those which best stand for the attitude whose presence or absence he wishes to detect and describe" (H. D. Lasswell etal., The Comparative Study of Symbols (Stanford 1952), p. 29. W. J . Goode and P. K. Hatt, Methods in Social Research (New York 1952), p. 313 (U. d. V.); der Ko-Text dieser Passage ist im übrigen ein Problem der Inhaltsanalyse. Vgl. Berelson, Content Analysis, p. 19. Vgl. ibid., p. 20 (Ü. d. V.). Angesichts der Tatsache, daß szientifische Methoden immer stärker in die Interpretationswissenschaften eindringen, ist Helmut Seifferts kleine Einführung in die Wissenschaftstheorie (2 Bde., München 1969, 1970) eine für Literaturwissenschaftler nützliche Informationsquelle. Bessler, Aussagenanalyse, p. 78. Ibid., p. 86, 89. Berelson, Content Analysis, p. 114 (O. d. V.). Ibid., p. 122; vgl. pp. 116-17. Kurt Koszyk, Presse und Bundestagswahl 1961 (Bonn 1962), p. 5. Vgl. George, „Quantitative/Qualitative", s. Anm. 9. Vgl. Public Opinion Quarterly 16 (1952-53), 631-41. Wem diese Feststellung übertrieben oder falsch erscheint, der möge einmal mit mehreren Versuchspersonen feststellen, was für jeden der Satz „Ein Mann läuft über die Straße" bedeutet: Was für ein Mann: groß, dick, nackt? Was für eine Straße? breit, belebt, baumbestanden? Wie läuft er: schnell, hinterher, schräg? Wieviel an individuellen Auffassungen muß nicht abstrahiert werden, damit „Eindeutigkeit" erzielt wird! Ritsert, Inhaltsanalyse, p. 89; zu „Strukturzusammenhang" vgl. p. 28. Vgl. R. Wellek und A. Warren, Theory of Literature (London 1947). Vgl. Ritsert, Inhaltsanalyse, pp. 4 2 - 4 3 , 115. Ich habe mir erlaubt, für diesen Zweck die gängige Gleichsetzung von „gesellschaftlichem" und „wirtschaftlichem Gehalt" kommentarlos zu übernehmen. Ken Kesey, Sometimes a Great Notion (1964; New York 1965). Vgl. dazu W. D. Sherman, „The Novels of Ken Kesey", British Journal of American Studies 5 (1971), bes. 191, 192. Kesey, Notion, pp. 139-40. Vgl. Sherman, „Kesey", pp. 192, 196. Eine solche voreilige soziologische Interpretation wäre es beispielsweise, die Reproduktion der Ausbeutungsverhältnisse innerhalb der Stamper-Familie, als sie als Streikbrecherbetrieb über die normale Kapazität hinaus zu arbeiten beginnt, allein dem „gesellschaftlichen System" des „Kapitalismus" zuzuschreiben, unter dem diese Familie angeblich lebt; denn andere, die „unter demselben System"
Anmerkungen zu S. 89 — 98
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leben, verhalten sich in dem Roman anders. Lassen sich diese unterschiedlichen Verhaltensweisen innerhalb ein und desselben „gesellschaftlichen Systems" wirklich noch soziologisch erklären, oder müssen da nicht Differenzfaktoren angesetzt werden, die in den Persönlichkeiten der Familienangehörigen liegen?
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Vgl. K. Sontheimer, Das Elend unserer Intellektuellen (Hamburg 1976), pp. 86—96, passim. Ich beziehe mich im folgenden in erster Linie auf Literaturgeschichte und Mythologie: Methodologische und historische Studien (Berlin—Weimar 1971) und gelegentlich als Ergänzung auf seinen Beitrag zu Tradition in der Literaturgeschichte, ed. R. Weimann (Berlin 1972), der gegenüber dem Kapitel „Tradition als literargeschichtliche Kategorie" in Literaturgeschichte, pp. 47—128 einige Änderungen aufweist. Vgl. J . Peper, „Im Namen der Wirklichkeit", Deutsche Vierteljahresschrift 42 (1968), 588. Im Tenor der obigen Paraphrase schreibt Peper: „Die grundsätzliche Ablehnung der gesamten Neuen (bürgerlichen) Kritik muß auf die Dauer anstrengend sein." Weimann, Literaturgeschichte, p. 297. Ibid., p. 69. Ich folge hier der Darstellung Weimanns, die ich zusammenzufassen versuche, enger, als ich mit meiner eigenen Meinung vereinbaren kann. Denn ist ein werkorientierter Kritiker bei der Vorbereitung seines Urteils wirklich so allein, wie Weimann es darstellt? Hat er nicht mitunter eine ganze Menge alternativer Deutungen vor sich, die er zu Rate ziehen und an deren Befunden er seinen eigenen überprüfen und gegebenenfalls korrigieren kann? Vgl. Weimann, Literaturgeschichte, p. 500; zuerst erschienen in New Literary History 1 (1969-70), 9 1 - 1 0 9 . Weimann, Literaturgeschichte, p. 444 (Ü. d. V.). Norman Foerster, The American Scholar (Chapel Hill 1929), p. 36. Weimann, Literaturgeschichte, p. 20. Ibid., p. 22. Ibid., p. 21. Wieder enthalte ich mich um der Darstellung von Weimanns Position willen im Text einer eingehenden Würdigung. Nur so viel, damit keine Mißverständnisse auftreten: Wenn man schon eine Gesetzmäßigkeit des historischen Ablaufs erkennen will, so muß man als Voraussetzung dazu das Vergangene gerade in seiner vollen Eigentümlichkeit gelten lassen; sonst sind die Gesetze, die man niederschreibt, nicht die der Geschichte, sondern der eigenen Sehweise oder Ideologie. Ibid., pp. 2 4 - 2 6 . Ibid., p. 187. Ibid., pp. 4 4 4 - 4 5 . Vgl. Weimann, Tradition, p. 16. Weimann, Literaturgeschichte, p. 42. Vgl. z. B. ibid., pp. 4 4 - 4 5 .
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Anmerkungen zu S. 99 — 114
Vgl. G. Hicks, „The Crisis in American Criticism", The New Masses 8 (Feb. 1933), 3—5; zu seinem Entstehungszusammenhang vgl. oben, „Literaturwissenschaft als Literaturwissenschaft II: Situationsbezogene Literaturkritik . . . " Vgl. z. B. Weimann, Literaturgeschichte, pp. 8—9 und Tradition, pp. 10-13. Vgl. Weimann, Literaturgeschichte, pp. 90—91. Ibid., p. 9. Ibid., p. 320. Vgl. z. B. ibid., pp. 186, 190. Ibid., pp. 228-29. In dieser Ansicht sehe ich mich nachträglich durch Welleks zusammenfassende Selbstinterpretation bestätigt: „The attempts at an evolutionary history have failed. I myself have failed in A History of Modem Criticism to construe a convincing scheme of development. I discovered, by experience, that there is no evolution in the history of critical argument, that the history of criticism is rather a series of debates on recurrent concepts, on ,essentially contested concepts', on permanent problems in the sense that they are with us even today" („The Fall of Literary History", Actes du Vie Congrès de l'Association Internationale de Littérature Comparée [Stuttgart 1975], p. 35). Diesen Vorwurf müssen sich auch diejenigen gefallen lassen, die ohne Bezugnahme auf staatstragende Dogmen „Große Traditionen" entworfen haben, an die sie mit beinahe religiösem Eifer glauben. Weimann, Literaturgeschichte, bes. pp. 303 - 04. Ibid., p. 7. Ibid., p. 441 (Ü. d. V.). Ibid., bes. pp. 324-42. Vgl. ibid., bes. pp. 116-28. Vgl. R. Weimann, „Erzählstandpunkt und point of view: Zu Geschichte und Ästhetik der Perspektive im englischen Roman", Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 10 (1962), insbes. 380-81. Weimann, Literaturgeschichte, p. 116. Ibid., p. 55. Vgl. P. Szondi, Theorie des modernen Dramas (Frankfurt 1959), bes. pp. 7 - 1 6 . Weimann, Literaturgeschichte, p. 128. Vgl. ibid., z. B. p. 331. Ibid., pp. 339—40; wieder folge ich hier ausschließlich Weimann. Ich würde hinzufügen, daß es neben dem historischen Bedeutungswandel eine interindividuell verschiedene Bedeutungsstiftung gibt, die für den Text nicht nur Anlaß, sondern auch Korrektiv ist.
T. S. Eliot, „The Perfect Critic" (1920), zitiert nach Werke, Bd. 2, ed. Helmut Viebrock (Frankfurt 1967), S. 365. Ibid., p. 367-68. T. S. Eliot, „Hamlet" (1919), Werke, Bd. 3, ed. Helmut Viebrock (Frankfurt 1969), p. 98.
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Das „objektive Korrelat" hat einen beschränkten Anwendungsbereich bei werkimmanenten Analysen, etwa um zu ermessen, ob die in einem Monolog ausdrücklich ausgesprochene Einschätzung der Lage auch den dargestellten Tatsachen entspricht, oder um die Relation von explizit ausgedrückten Emotionen und geschilderten Sachverhalten in einem Gedicht abzuschätzen. Edwin Muir, „Recent Criticism", Nation and Atheneum 36 (1924), 371; M. C. Bradbrook, „Eliot's Critical Method", T. S. Eliot: A Study of His Writings by Several Hands, ed. B. Rajan (London 2 1966), pp. 1 1 9 - 2 8 . Mario Praz, „T.S.Eliot as a Critic", T.S.Eliot: The Man and His Work, ed. A.Tate (London 1967), p. 267; Modern Literary Criticism, 1900-1970 ed. L. I. Lipking und A. W. Litz (New York 1972), p. 80. Bradbrook, „Eliot's/Method", p. 123; auch D. Bhattacharyyas Formulierung dieser Einsicht als „konkrete Präzision" bedarf in diesem Sinne einer genaueren Bestimmung (vgl. „T. S. Eliot: A Great Critic", Modem Review [Calcutta], 118 [1965], 208). T. S. Eliot, „Andrew Marvell" (1921), Selected Essays (New York 1964), p. 252. Vgl. Bentham's Theory of Fictions, ed. C. K. Ogden (Paterson, N. J . 1959), pp. 1 7 - 1 8 . Vgl. C. K. Ogden und I. A. Richards, The Meaning of Meaning: A Study of the Influence of Language Upon Thought and of the Science of Symbolism (1923; New York 8 o. J.), pp. 133-34. Vgl. Leonard linger, Donne's Poetry and Modem Critics (Chicago 1950), p. 7. Vgl. Eliots eigene Dichtgewohnheiten und dazu G. R. Hamilton, The Tell-tale Article (London 1949). Vgl. Irving Babbitt, Literature and the American College (Chicago 1956), p. 2. Vgl. Irving Babbitt, Rousseau and Romanticism (1919; New York 1957), pp. 2 1 - 2 5 . Vgl. Babbitt, Literature, p. 1. Vgl. A. P. Frank, „Eliot and Babbitt: A Note on Influence", T. S. Eliot Newsletter, 1:2 (Herbst 1974), 7 - 9 . Andrew Marvell, „The Nymph Complaining for the Death of Her Faun", The Anchor Anthology of Seventeenth-century Verse, ed. Louis L. Martz (Garden City, N . Y. 1969), p. 310. Vgl. Ezra Pound, Literary Essays of Ezra Pound, ed. T. S. Eliot (London 1954), p. 5. Vgl. T. S. Eliot, „The Function of Criticism" (1921), Werke, Bd. 3, p. 379. So ausdrücklich in T. S. Eliot, „Shakespeare and the Stoicism of Seneca", Selected Essays, pp. 107-20. Vgl. Lipking/Litz, eds., Modem/Criticism, p. 64. T. S. Eliot, „The Three Voices of Poetry", Werke, Bd. 3, p. 21. Vgl. E. Pound, Literary Essays, pp. 3 - 1 4 ; „Vorticism", Fortnightly Review, N. F. 96 (1914), 4 6 1 - 7 1 ; ABC of Reading (1934; Norfolk, Ct., o . J . ) , bes. pp. 1 7 - 2 7 . Vgl. oben, „Das Bild in imagistischer Theorie und Praxis", Anm. 38, p. 176. Vgl. W. L. Fischer, „Ezra Pounds chinesische Denkstrukturen", Ezra Pound: 22 Versuche über einen Dichter, ed. Eva Hesse (Frankfurt 1967), pp. 167—81. Vgl. Herbert Franke, Sinologie (Wissenschaftliche Forschungsberichte, Geisteswissenschaftliche Reihe, Bd. 19, Bern 1953), bes. pp. 5 8 - 5 9 .
Anmerkungen zu S. 128 — 135 F. H. Bradley, Collected Essays (London 1930), p. 178 (Ü. d. V.). Vgl. K. L. Goodwin, The Influence of Ezra Pound (London 1966), p. 108. Vgl. Eliot, Werke, Bd. 2, pp. 3 6 7 - 6 8 .
Knapp über die Hälfte der in der Anthologie von Robert Wallace und James G. Taaffe, Poems on Poetry: The Mirror's Garland (New York 1965) zusammengestellten 244 poetologischen Gedichte stammen aus dem 20. Jh. Da jedoch diese Gedichte aus etwa 2500 Titeln ausgewählt worden sind (vgl. p. xii), kommt dieser statistischen Bemerkung für die Gewichtung poetologischer Dichtung nach Jahrhunderten weniger Bedeutung zu als der Tatsache, daß diese Sammlung der erste auf Repräsentativität abzielende Querschnitt durch dieses Gebiet ist, der überhaupt vorliegt. Demgegenüber ist die von Matthew Russell edierte Sammlung Sonnets on the Sonnet: An Anthology (London 1898), die viergeteilt ist („The Structure of the Sonnet", „The Nature of the Sonnet", „The Masters of the Sonnet" und „The Sonnet's Latest Votaries") und 157 Sonette oder Ubersetzungen enthält, nicht nur thematisch, sondern auch trotz des um Beiträge aus Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien erweiterten Einzugsgebiets qualitativ beschränkter. Das mag damit zusammenhängen, daß das Schreiben von Sonetten über das Sonett lange Zeit beinahe so etwas wie ein Gesellschaftsspiel war (vgl. L. E. Kastner, „Concerning the Sonnet of the Sonnet", Modem Language Review 11 [1916], 205—11). Weitere kurze Gedichte über Dichtung sind gesammelt in Poems One Line & Longer, ed. William Cole (New York 1973), pp. 2 7 - 3 7 . Vgl. Hugo Friedrich, Die Struktur der Modemen Lyrik (Hamburg 1956), p. 111. Vgl. u. a. Monroe K. Spears, Dionysus and the City: Modernism in TwentiethCentury Poetry (London 1970), bes. pp. 250—52 im Zusammenhang von 229—60. Zu Hughes: Keith Sagar, The Art of Ted Hughes (London 1975). T. Hughes, Selected Poems, 1957-1967 (London 1972), p. 9; Poetry in the Making: An Anthology of Poems and Programmes from ,Listening and Writing' (London 1967), p. 17; Hughes bespricht dort nicht nur den „Thought-Fox" eingehend, sondern äußert sich auch allgemein über Dichtung auf eine Weise, die erkennen läßt, wie zentral für seine Poetologie der kleine Mythos in diesem Gedicht ist. Sagar erörtert Aspekte des „Thought-Fox" in Hughes, pp. 1 5 - 1 6 u. ö.; vgl. außerdem H. Combecher, „Ted Hughes: ,The Thought-Fox'", Literatur in Wissenschaft und Unterricht 4 (1971), 2 6 5 - 6 9 . Der Eindruck der Plötzlichkeit („sudden sharp hot stink"), das Überraschungsmoment, wäre m. E. größer, wenn der Ankömmling erst hier und nicht schon im Titel und in Strophe 3 als Fuchs identifiziert würde. Wieder sagt in diesem Gedicht ein geschickt gesetzter Artikel fast alles Entscheidende allein: „this . . . page" ist nämlich in demjenigen Augenblick aus der Einmaligkeit des Schaffensprozesses entlassen, da sie am Ende seine Spuren trägt, die ihn nunmehr für andere nachvollziehbar machen; daher: „The page is printed." Dieser bestimmte Artikel ist an dieser Stelle auch noch in einem zweiten Sinn das angemessene Signal des Abschlusses: „This page is printed" implizierte wohl so etwas Ähnliches wie „And now I must go on and do another one" — würde das Gedicht also in eine Serie stellen und damit seine Souveränität schmälern.
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Vorbereitende Zeilen sind „And this blank page, where my fingers move" (in der jedoch der Sinn — „this" — ein Gegengewicht setzt, das der Rhythmus nicht ganz auffangen kann), „Though déeper within darkness" (die als metrische Figur jedoch etwas weitläufig und zudem in der Mitte unfest ist) und „. . . Is énterìng the lónelinèss" (der außerdem noch die syntaktische Geschlossenheit fehlt). Vgl. T. S. Eliot, „The Three Voices of Poetry" (1953), On Poetry and Poets (London 1957), bes. pp. 9 6 - 9 8 ; zu Benn vgl. „Probleme der Lyrik" (1947), Gesammelte Werke, Bd. 4 (Wiesbaden 1968), bes. pp. 1070-71, 1073. Deshalb halte ich Sagars Urteil für verfehlt, wenn er sagt, daß trotz aller Sinnenfälligkeit, mit der der Fuchs in dem Gedicht gegenwärtig ist, das Ganze rein metaphorisch sei (vgl. Hughes, p. 17). Andererseits stimme ich ihm zu, daß in dem Gedicht die Sprache klanglich und rhythmisch das imitiert („mimes"), was sie beschreibt (p. 19). T. R. Barnes scheint mir die Qualität des Gedichts wesentlich besser zu treffen (vgl. Poetry Appreciation [London 1968], pp. 67-68). Zuerst in Poetry 99 (1962), 2 3 8 - 3 9 ; hier zitiert nach Dickey, Poems, 1957-1967 (Middletown, Ct. 1967), pp. 5 5 - 5 6 ; auch in Wallace/Taaffe, Poems on Poetry, pp. 242—43. Die Chronologie und die Ähnlichkeiten legen die Frage nach bewußten oder unbewußten Anleihen nahe. Nachweisbar ist lediglich, daß Dickey in einer Sammelrezension Hawk in the Rain bald nach dessen Erscheinen recht zwiespältig erwähnt, ohne dabei jedoch auch nur ein Wort über den „Thought-Fox" zu verlieren (vgl. „In the Presence of Anthologies", Seivanee Review 66 [1958], 301—02). Zu Dickey allgemein: James Dickey: The Expansive Imagination, ed. Richard J . Calhoun (Deland, Fla. 1973). Wenn auch dieser Vergleich syntaktisch doppeldeutig ist — entweder verbrennt das Gehirn des Sprechers wie Weihrauch im Feuer des Fuchsduftes oder der Fuchsduft ist wie ein Weihrauch, der brennend heiß ins Gehirn des Sprechers aufsteigt — so bleibt doch seine Funktion eindeutig: der Szene gottesdienstliche Weihe zu verleihen. Vgl. J . Dickey, „The Poet Turns on Himself", Poets on Poetry, ed. Howard Nemerov (New York 1966), pp. 225-38. P. Valéry, Charmes, hier zitiert nach The Collected Works of Paul Valéry, Bd. I: Poems (Princeton, N. J. 1971), p. 134; deutsche Nachdichtung von Rainer Maria Rilke, Gesammelte Werke, bd. VI: Übertragungen (Leipzig 1930), p. 311. Zu Rilkes Valéry-Ûbertragungen vgl. die quellen- und textkritisch angelegte Arbeit von Karin Wais, Studien zu Rilkes Valéry-Ûbertragungen (Tübingen 1967) mit Literaturüberblick; zur Übertragung von „Les Pas" speziell die kurze Bemerkung in Marga Bauer, Rainer Maria Rilke und Frankreich (Bern 1931), p. 110, und die Glosse von Gerda Zeltner-Neukomm in Trivium [Zürich] 9 (1951), 187—89. Die folgenden interpretatorischen Bemerkungen zu dem Gedicht verdanken Alfred Behrmann viele Einsichten; der vorliegende Aufsatz entstand im übrigen aus einem Seminar, das er mit mir im Winter 1974—75 leitete. John Keats, „Ode on a Grecian Urn", The Poems of John Keats, ed. Miriam Allott (London 1970), p. 535. Natürlich ist der poetologische Aspekt nicht unbemerkt geblieben. Andeutungen finden sich in den Kommentaren Alains (vgl. P. Valéry, Charmes: Commentés par Alain [Paris 4 1952], pp. 124, 126. James R. Lawler stellt das Gedicht als eine
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Art Liebesakt zwischen dem Ich und einem Rhythmus dar und sieht das Wort „enfant" (infans, also „[noch] sprachlos") am Gedichtanfang als Bezeichnung für den Rhythmus, der noch nicht zu seinen Worten gekommen ist; hilfreich ist auch seine Bemerkung: „. . . ici la personnalité se découvre dans le mouvement même du poème à travers l'expression lyrique, et inséparable d'elle" (Lecture de Valéry: une étude de Charmes [Paris 1963], p. 81 im Zusammenhang von 78—82). Ich hätte in diesem Satz statt „personnalité" lieber „poème" gesehen. Agnes Ethel Mackay schließlich kappt die ganze Schicht des Liebesgedichts, indem sie allzu knapp bemerkt: „In ,Les Pas', the poet describes how, with extreme attention, he waits for the rhythmic words which come through the silence to announce his poem, like the footsteps of a loved mistress" (The Universal Self: A Study of Paul Valéry [Toronto 1961], p. 184); denn daß es sich um einen Vergleich handelt („like"), ist eine Erfindung der Sekundärliteratur. Was Wunder, daß diesem Gedicht, das zeigt, wie aus Rhythmus Worte und ein Gedicht werden, in Valérys kritischen Schriften Passagen gegenüberstehen, die dasselbe Ereignis diskursiv beschreiben, u. a. : „Tel autre poème a commencé en moi par la simple indication d'un rythme qui s'est peu à peu donné un sens" („Fragments des mémoires d'un poème", Variété V [Paris 1945], p. 92). „Quant au ,Cimetière Marin', cette intention [de faire un poème] ne fut d'abord qu'une figure rythmique vide, ou remplie de syllabes vaines, qui me vint obséder quelque temps . . . " („Au Sujet du .Cimetière Marin'", Variété III [Paris 1936], p. 68). Die Entsprechungen zwischen diesem Aufsatz und „Les Pas" sind besonders dicht; Valéry spricht von Gedichten im Sinne von „les tenir entre l'être et le nonêtre", bezeichnet die Mühe des Dichtens „comme saintement"; und auch ein Schatten spielt eine besondere Rolle, freilich keine „ombre divine", sondern (und in einer anderen Situation als der des Gedichtschreibens) „mon Ombre . . . une ombre capturée" (pp. 59, 62). Vgl. René Wellek, Discriminations: Further Concepts of Criticism (New Haven 1970), bes. pp. 2 6 0 - 6 2 . Zu Poems on Poetry vgl. Anm. 1, p. 188. Eine kurze Bemerkung zum nachromantischen poetologischen Gedicht findet sich bei W. K. Wimsatt und C. Brooks, Literary Criticism: A Short History (New York 1959), p. 404. Vgl. auch M. Krieger, „The ,Frail China Jar' and the Rude Hand of Chaos", The Play and Place of Criticism (Baltimore 1967), pp. 5 3 - 6 8 . Vgl. Amerikanische Literatur im 20. Jahrhundert, ed. A. Weber und D. Haack (Göttingen 1971), pp. 175-88. Ich bin Herrn Weber für die Freundlichkeit verbunden, mir Einblick in seine inzwischen weit gediehene Sammlung poetologischer Gedichte zu gewähren. Vgl. C. M. Wielands Einleitung zu seiner Ubersetzung, Werke, ed. F. Martini und H. W. Seiffert, Bd. 5 (München 1968), pp. 591-93. A. Pope, The Twickenham Edition of the Poems of Alexander Pope, Bd. I: Pastoral Poetry and an Essay on Criticism, ed. E. Audra und A. Williams (London/New Haven 1969), pp. 2 8 1 - 8 2 ; die folgenden Zitate s. pp.280, 278. Auf solche Beispiele trifft P. M. Spacks'in der beanspruchten Allgemeingültigkeit nicht ganz überzeugende These der expressiven Bildlichkeit bei Pope durchaus zu (vgl. An Argument of Images: The Poetry of Alexander Pope [Cambridge, Mass. 1971]).
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J. B. Linn, The Powers of Genius: A Poem in Three Parts (London 1804), pp. iii—iv (U. d. V.). Zur didaktischen Tradition allgemein vgl. Bernhard Fabian, „Die didaktische Dichtung in der englischen Literaturtheorie des achtzehnten Jahrhunderts", Festschrift für Walther Fischer (Heidelberg 1959), pp. 65-92. K. Shapiro, Essay on Rime (New York 1965), p. 1. Wieland, Werke, Bd. V, p. 622. Zu diesem Urteil und den beiden folgenden vgl. Twickenham/Pope, Bd. I, p. 208: „1797": The Works of Alexander Pope, Esq., ed. Joseph Warton (London 1797), Bd. I, p. 173; „40 Jahre zuvor": J. Warton, An Essay on the Genius and Writings of Pope (London 21762), p. 97; „weitere 50 Jahre später": in einer Rezension in Tait's Magazine (1847), nachgedruckt in Thomas de Quincey, Collected Writings, ed. David Masson (London 1890), Bd. XI, pp. 29-30. Twickenham/Pope, Bd. I, pp. 272 —73. Unter den Studien zu Popes Dichtungsauffassung und Kritik ist die von A. Warren, Alexander Pope as Critic and Humanist (Princeton, N. J., 1925) nach wie vor besonders aufschlußreich. J. Keats, Brief an Bailey vom 22. 11. 1817, The Letters of John Keats, ed. M. B. Forman (London 21935), p. 67. Vgl. G. F. W. Hegel, Sämtliche Werke, Bd. VIII (Stuttgart 1961), pp. 302-03. Die thematische Streubreite von Dichtung über Dichtung läßt sich an den Sachgebieten ablesen, in die Wallace/Taaffe ihr Material einordnen: (1) the poet, (2) poets, (3) literary quarrels, (4) the poet and his audience, (5) craft, (6) form and metaphor, (7) the creative process, (8) poetry. E. Dickinson in Wallace/Taaffe, Poems on Poetry, p. 286. M. Moore, „Poetry", ibid., p. 313. Vgl. Alfred Weber, „Marianne Moore", Die amerikanische Lyrik, ed. K. Lubbers (Düsseldorf 1974), pp. 251-58, 455-56; zur einigermaßen komplizierten Publikationsgeschichte vgl. George W. Nitchie, Marianne Moore: An Introduction to the Poetry (New York 1969), pp. 35—40. L. Frankenberg, The Pleasure Dome: On Reading Modern Poetry (Boston 1949), p. 139; R. P. Blackmur, „The Method of Marianne Moore", Language as Gesture (New York 1952), pp. 2 6 9 - 70 (U. d.V.). L. Ferlinghetti, A Coney Island of the Mind, „15" (New Directions, 1958), p. 27 (U. d. V.). W. Stevens, „Of Modern Poetry", Wallace/Taaffe, Poems on Poetry, p. 283 (U. d. V.). W. C. Williams, Paterson (New Directions, 51963), p. 6. Vgl. J. C. Ransom, The World's Body (New York 1938); The New Criticism (Norfolk, Ct. 1941), pp. 279 - 336; W. K. Wimsatt, The Verbal Icon (Lexington, Ky. 1954). A. MacLeish, „Ars Poetica", Wallace/Taaffe, Poems on Poetry, p. 311. Vgl. G. H. Blanke, „Archibald MacLeish: ,Ars Poetica'", Jahrbuch für Amerikastudien 13 (1968), 236-45. Aus E. Pounds Personae: The Collected Poems of Ezra Pound (New York 1926): „A wet leaf that clings to the threshold" („Liu Ch'e", p. 108) ist das Naheliegendste; emotional, wenn auch nicht botanisch stimmt die Schlußzeile von „Gentildonna" ebenfalls überein: „Grey olive leaves beneath a rain-cold sky" (p. 92). In seinem Stimmungswert nicht eindeutig ist dagegen das Bild der ins
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Wasserbecken gefallenen Rosenblätter, „their ochre clings to the stone" (Ts'ai Chi'h", p. 108). Ähnlich „Petals, on a wet, black bough" („In a Station of the Metro", p. 109). Diese Haltung hat viel mit der Valérys gemeinsam: P. Van Tieghem faßt diesen Teil von dessen „doctrine" in dem Satz zusammen: „Le poème répétons-le, n'offre d'autre vérité que son existence" (Les Grandes doctrines littéraires en France de la Pléiade au surréalisme (Paris "1968), p. 284. Zweifellos ist in dem vorliegenden Aufsatz das Wort „mimetisch" auf eine Weise verwendet worden, die von dem gewohnten literaturhistorischen Sprachgebrauch nicht (oder zumindest nicht voll) gedeckt wird. Traditionsgemäß ist das Leitmotiv mimetischer Literaturtheorien die Frage: Stimmt dieses Werk, dieses Detail in dem Werk, mit der Natur, mit der vorliegenden Realität überein? (vgl. M. H. Abrams, The Mirror and the Lamp: Romantic Theory and the Critical Tradition [London 1953], pp. 8—14). Mit anderen Worten: Für mimetische Theorien ist der wichtigste Aspekt die Beziehung zwischen der Wirklichkeit eines literarischen Werks und der außerliterarischen Wirklichkeit. Darin stimmen Plato und Aristoteles durchaus überein, wenn auch Aristoteles viele Modifikationen berücksichtigt und ganz wesentlich auch andere Relationen des Kunstwerks gelten läßt und in seine Ansichten integriert; zusammen mit der „Nachahmung der Alten" war die „Nachahmung der Natur" neben der „gefälligen Unterweisung" das wichtigste Prinzip der klassizistischen Literaturauffassung; nach dem Schock der romantischen Reorientierung war der „Spiegel auf der großen Landstraße" Indiz und Symbol der „realistischen" und „naturalistischen" Rückkehr zur gewohnten mimetischen Grundposition; schließlich benutzt der marxistisch-leninistische Kulturfunktionär ähnlich orientierte Argumente, um den Staat gegen unerwünschte Einbrüche unabhängiger Kunst abzusichern (die er dann freilich — anders als Plato — durch seinen Kollegen von der Sicherheitspolizei durchsetzen lassen kann und muß). Da all diesen Positionen (die dadurch keineswegs ununterscheidbar werden) gemeinsam ist, daß sie postulieren, Kunstwerke seien vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie auf die Wirklichkeit „verweisen" (wobei Wirklichkeit in der Regel als primär angenommen wird und die Werke als von ihr abgeleitet), erscheint mir für solche Auffassungen die Bezeichnung „Verweisungstheorien" (engl, „referential") besser zu passen als „Nachahmungstheorien" — wie schwierig auch immer die erkenntnistheoretischen Bedingungen einer solchen Verweisungskorrelation zu bestimmen sind. So wird der Terminus „Mimesis" als Träger anderer, heutzutage vielleicht wichtigerer Bedeutungen frei. Diese Möglichkeit haben bisher in gewisser Hinsicht vor allem solche Literaturtheoretiker genutzt, denen es darauf ankam, den traditionsgemäß mit viel Prestige ausgestatteten Terminus „Mimesis" für ein heutiges Verständnis zu retten. So verwendet der Chicagoer Neo-Aristoteliker Eider Olson aus der Einsicht heraus, daß es beim heutigen Stand der epistemologischen Kenntnisse eigentlich nicht mehr möglich ist, eine vorgegebene Wirklichkeit anzusetzen, auf die man ein Kunstwerk beziehen kann, die Bezeichnung „mimetisch" als werkimmanente Kategorie zur Benennung von Werken, deren Aufbauprinzip ein „plot", also eine „innere" Verknüpfung „äußerer" Handlungen ist; Werke, die von einem Argument, einer Doktrin strukturiert werden, heißen bei ihm im Sinne des auch hier
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verwendeten Wortgebrauchs „didaktisch" (vgl. „A Dialogue on Symbolism", Critics and Criticism: Ancient and Modern, ed. Ronald S. Crane [Chicago 1957], bes. pp. 588—94). Ähnlich definiert Elias Schwartz, der ohne Bezugnahme auf die Chicagoer Kritiker ganz so wie sie argumentiert, den Gegenstand der Mimesis eines literarischen Werks nicht als eine wie immer vorgegebene äußere Wirklichkeit, sondern als die „innere Wirklichkeit" der Seelenbewegung des Autors (vgl. The Forms of Feeling: Toward a Mimetic Tbeory of Literature [Port Washington, N . Y . 1972], pp. 1 - 1 9 ) . Ohne Zweifel ist diese Korrelation eines Werks mit einer seelischen Wirklichkeit weniger krude als die mit der physischen Wirklichkeit. Doch liegen gewichtige Argumente dafür vor, daß auch diese Art der Korrelierung hinter dem zurückbleibt, was dem heutigen Stand der erkenntnistheoretischen Grundüberlegungen entspricht: Danach sind weder seinsphilosophische (d. h. umweltbezogene) noch bewußtseinsphilosophische (d. h. innenweltbezogene), sondern nur sprachphilosophische Kategorien diejenigen, die alle diesbezüglichen Argumente voll reflektieren können (vgl. Wilhelm Kamiah und Paul Lorenzen, Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens [Mannhein 1967], pp. 15—22; Helmut Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie [München 1969], Bd. I, p. 21 bis 23). Deshalb erscheint es angebracht, den Terminus „mimetisch" in sprachanalytisch veränderter Bedeutung als Indiz für die Beziehung nicht zwischen dem Gedicht und „der Realität", sondern, wenn man so sagen darf, zwischen dem Gedicht und der es konstituierenden Sprache zu verwenden. Ludwig Wittgenstein erörtert den Sachverhalt, daß ein Satz die Tatsachen, die er beschreibt, abbildet, im Tractatus Logico-Philosophicus, Nr. 4.016 im Zusammenhang von 4.0031-4.022, in allgemeiner Weise (London 1961, pp. 36-41); Rudolf Carnap verwendet die Bezeichnung „Autonymie", um eine sprachliche Äußerung zu identifizieren, die sich selbst abbildet (vgl. The Logical Syntax of Language, Part IV, § 42 [London 1967], pp. 156-57). Ich schlage hierfür die Bezeichnung „mimesis" vor mit dem Hinweis, daß W. K. Wimsatt in seinem Aufsatz „In Search of Verbal Mimesis" (Day of the Leopards [New Häven, Ct. 1976], pp. 57—73) in wechselseitiger Unabhängigkeit ganz ähnlich argumentiert: Wenn man heutzutage von „Nachahmung" im Bereich der Kunst sprechen will, dann kann sich der damit verbundene Begriff nicht auf der Höhe der gültigen Erkenntnistheorie bewegen, wenn er eine Beziehung zwischen Werk und vorgegebener Wirklichkeit, auch nicht zwischen Werk und Seelenbewegung des Autors intendiert, sondern nur, wenn er eine Relation zwischen dem Gedicht und der Sprache angibt, die es konstituiert.
Register Zusammengestellt von Ulrike Sturm und Hans-Peter Sirtaine in Zusammenarbeit mit Hanna Niehus In dieses Register wurden aus dem Textteil alle Autorennamen und deren Ableitungen sowie (ihnen untergeordnet) alle Titel aufgenommen, aus dem Anmerkungsteil lediglich die Autorennamen. Abrams, M. H., 192 Adorno, Theodor W., 183 Alain, 189 Aldington, Richard, 172, 181 Allott, Miriam, 189 Anderson, Sherwood, 86 Aragon, Louis, 31, 179 Aristoteles, 1, 23, 125, 127, 128, 171, 192; Poetik, 1 Arnold, Matthew, 120, 125 Auden, Wystan Hugh, 110 Audra, Emile, 190 Augustinus, 89 Babbitt, Irving, 118, 129, 187; Literature and the American College, 118 Baker, George Pierce, 1; Dramatic Technique, 1 Baldwin, James, 24 Baring-Gould, Ceil, 183 Baring-Gould, William S., 183 Barnes, T. R., 189 Baudelaire, Charles, 121 Bauer, Marga, 189 Behrmann, Alfred, 189 Benda, Julien, 89 Benn, Gottfried, 135, 189 Bense, Max, 128 Bentham, Jeremy, 116 Berelson, Bernard, 57, 67, 68, 71-73, 75-77, 182-84; Content Analysis in Communication Research, 67
Bergson, Henri, 18 Bertram, Emst, 94, 95, 102 Bessler, Hansjörg, 184 Bhattacharyya, Debiprasad, 187 Bianchi, Ruggero, 178 Blackmur, Richard Palmer, 158, 191 Blair, Walter, 22, 173, 176 Blanke, Gustav H., 191 Boeckh, August, 2; Encyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, 2 Boll, Heinrich, 49, 181 Boileau-Despréaux, Nicolas, 146; L'Art poétique, 146 Bradbrook, Muriel Clara, 115, 187 Bradley, Francis Herbert, 24, 127-29, 188; „ O n the Analysis of Comparison", 127 Braque, Georges, 25 Brecht, Bertolt, 45 Breton, André, 178 Broekmans, Jan M., 171 Brooks, Cleanth, 22, 176, 190 Brunetière, Ferdinand, 2 Brustein, Robert, 109, 110; The Theater of Revolt, 110 Budd, Richard W., 183 Bullough, Geoffrey, 172, 176 Burgum, Edwin Berry, 51, 181 Burke, Kenneth, 55-57, 177, 182 Burne, Glenn S., 172 Byron, George Gordon, 147; English Bards and Scotch Reviewers, 147
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Register
Calhoun, Richard J., 189 Calverton, Victor F., 54, 181 Carnap, Rudolf, 193 Carney, T. F., 183 Catull, 120 Cavander, Kenneth, 109 Celan, Paul, 73 Chen, Shih-Hsiang, 176 Cicero, 74 Clemens, Samuel Langhorne, 59; The Adventures of Huckleberry Finn, 59 Cochran, Thomas C., 67 Coffman, Stanley K., 16, 173, 174, 176, 180; „Imagism", 16 Cole, William, 188 Coleridge, Samuel Taylor, 175 Combecher, Hans, 188 Cookson, William, 180 Cory, Daniel, 174 Cox, Hyde, 180 Crane, Ronald S., 193 Cummings, Edward Estlin, 47 Cunliffe, Marcus, 46 D., H., siehe: Doolittle, Hilda Daiches, David, 173 Dante Alighieri, 23, 176; Paradiso, 23 Darwin, Charles, 154 De Quincey, Thomas, 153, 191 Dickey, James, 137-41, 145, 189; „A Dog Sleeping on My Feet", 137—41, 145 Dickinson, Emily, 157, 191 Dictionary of Philosophy and Psychology, 24 Dilthey, Wilhelm, 102 Donne, John, 32 Doolittle, Hilda, 34-36; „Oread", 34-36 Dryden, John, 117 Dschugaschwili, Josif Wissarionowitsch, 76 Dubuffet, Jean, 33 Ducasse, Isidore, 31, 178 Edwards, Paul, 177 Ehrenpreis, Irvin, 174
Eisenhower, Dwight David, 86 Eisenstein, Serge M., 26-30, 177, 178; „The Cinematographic Principle and the Ideogram", 29; „Ein dialektischer Zugang zur Filmform", 28; Panzerkreuzer Potemkin, 27; Vom Theater zum Film, 28 Eliot, Thomas Stearns, 12, 15, 16, 39-41, 44, 47, 73, 91, 92, 107, 113-30, 135, 163, 172, 174, 175, 178- 81; 186-89; „Andrew Marvell", 115—25; Homage to John Dryden, 115; Knowledge and Experience in the Philosophy of F.H. Bradley, 127; „The Love Song of J. Alfred Prufrock", 43, 45; „Portrait of a Lady", 45; „Preludes", 40-44; The Three Voices of Poetry, 125; „Der vollkommene Kritiker", 113, 114, 129; The Waste Land, 45 Emerson, Ralph Waldo, 126, 179 Engels, Friedrich, 50, 89 Ernst, Max, 30—32, 178; „La Mise sous Whisky Marin", 30 Erzgräber, Willi, 176 Euripides, 109; Die Bacchantinnen, 109. Fabian, Bernard, 191 Fang, A., 176 Feiffer, Jules, 110; God Bless, 110 Fenollosa, Ernest, 29, 126, 178; The Chinese Written Character as a Medium for Poetry, 29, 126, 127 Ferlinghetti, Lawrence, 159, 160, 191; „A Coney Island of the Mind, Nr. 15", 159, 160 Fischer, Walther L., 127, 128, 176, 187 Flint, F. S., 17, 174 Fluck, Winfried, 59, 60, 182 Foerster, Norman, 185 Ford, Henry, 61 Ford, Ford Madox, siehe: Hueffer, Ford Madox Forman, Maurice Buxton, 191 Frank, Armin Paul, 171, 187 Franke, Herbert, 187 Frankenberg, Lloyd, 158, 191 Frazer, James George, 154
Register Freeman, Joseph, 54, 181 Freud, Sigmund, 55, 82, 154 Freytag, Gustav, 1; Die Technik des Dramas, 1 Friedrich, Hugo, 188 Frost, Robert, 37 Frye, Northrop, 3, 62, 171, 182; Anatomy of Criticism, 3, 62 Gadamer, Hans-Georg, 3; Wahrheit und Methode, 3 Galinsky, Hans, 181 Gardner, Thomas, 171 Gau tier, Théophile, 121 Geiger, Don, 172 George, A. L., 76, 183, 184 Gerber, John C., 22, 173, 176 Germer, Rudolf, 41, 181 Gigon, Olof, 171 Ginsberg, Allen, 61, 182 Glaser, Horst Albert, 171 Gold, Michael, 54 Goldmann, Lucien, 100 Goode, William Josiah, 184 Goodwin, K. L., 188 Gould, Jean, 174 Gourmont, Remy de, 19, 24, 176 Gross, Harvey, 173 Groth, Peter, 174 Haack, Dietmar, 190 Haas, Rudolf, 40 Hamilton, George Rostrevor, 187 Handley-Taylor, Geoffrey, 69 Harmer, J. B„ 172, 173, 175, 178, 181 Hartman, Geoffrey H., 171 Hatt, Paul Kitchener, 184 Hawthorne, Nathaniel, 59; American Notebooks, 59 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 155, 191 ; Die Wissenschaft der Logik, 155 Henze, Hans Werner, 110; Die Bassariden, 110 Hermand, Jost, 60, 61, 182 Hesse, Eva, 176, 187 Heuß, Alfred, 171
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Hicks, Granville, 54, 60, 98, 99, 181, 182, 186; „The Crisis in American Criticism", 54, 99 Hirsch, Jr., Eric Donald, 58, 171, 182 Hobbes, Thomas, 63 Horaz, 120, 146, 147, 150, 152, 153, 156, 164; Epistola ad Pisones (Ars poetica), 146, 147, 152 Horkheimer, Max, 107 Hotogisu, 18 Hough, Graham, 172, 175 Hueffer, Ford Madox, 20, 175 Hughes, Glenn, 173, 174 Hughes, Ted, 132 - 3 7 , 140, 141, 143, 145, 168, 179, 188; The Hawk in the Rain, 132; Poetry in the Making, 132; „The Thought-Fox", 132-37, 140, 143, 145, 168 Hulme, Thomas E., 15-20, 22, 38, 39, 41, 45, 46, 121, 173 - 75, 177, 179; „Above the Dock", 38, 39; „Embankment", 38; „Lecture on Modern Poetry", 18 Humboldt, Wilhelm von, 101 Hume, David, 24 Hynes, Sam, 174 Isaac, J., 173 Iser, Wolfgang, 16, 17, 26, 28, 36, 173; „Image w d Ivlontage", 16 Jankowsky, Kurt R., 173 Jauss, Hans Robert, 105 Jessenin, Sergej Alexandrowitsch, 178 Johnson, Samuel, 152, 153; Lives of the English Poets, 153 Jones, Alun R., 172, 174, 180 Jones, Peter, 172, 175, 181 Jonson, Ben, 121 Joyce, James, 125 Jung, Carl Gustav, 128 Kamiah, Wilhelm, 193 Kant, Immanuel, 101 Kaplan, Abraham, 68, 183 Kastner, L. E., 188
198
Register
Keats, John, 143, 155, 189, 191 Kennedy, George, 176 Kenner, Hugh, 172, 180 Kermode, Frank, 15, 172, 175 Kesey, Ken, 81, 84, 86-88, 184; Sometimes a Great Notion, 81—88 König, René, 183 Kolbe, Jürgen, 50, 181, 183; Ansichten einer zukünftigen Germanistik, 50; Neue Ansichten einer zukünftigen Germanistik, 50 Koszyk, Kurt, 184 Kracauer, Siegfried, 76—79, 182; „The Challenge of Qualitative Content Analysis", 76 Krauss, Werner, 102 Krieger, Murray, 190 Kuklick, Bruce, 66, 183 Laforgue, Jules, 31, 41, 121 Lasswell, Harold D., 68, 69, 71, 183, 184 Lathem, Edward C , 180 Lautréamont, Comte de, siehe: Ducasse, Isidore Lawler, James R., 189 Léger, Alexis Saint-Léger, 47, 181; Anabasis, 47 Lenin, siehe: Uljanow, Wladimir Iljitsch Lenz, Günter H., 171 Lerner, Daniel, 183 Leroy, Maurice, 171 Lévi-Strauss, Claude, 100 Lewis, Sinclair, 86; Babbitt, 86 Lieber, Hans Joachim, 182 Lingfeld, Norbert, 172 Linn, John Blair, 150, 191; The Powers of Genius, 150 Lipking, Lawrence I., 187 Litz, A. Walton, 187 Liu, James J. Y., 176 Lorenzen, Paul, 193 Lowell, Amy, 15-17, 20, 22, 46, 147, 172; A Critical Fable, 147 Lowell, James Russell, 147; Fable for Critics, 147 Lukrez, 152; De rerum natura, 152
Mackay, Agnes Ethel, 190 MacLeish, Archibald, 163 - 6 9 , 191; „Ars Poetica", 163—69 Mannheim, Karl, 55, 181 Mao Tse-tung, 50 Martin, Wallace, 172, 176 Martini, Fritz, 190 Martz, Louis L., 187 Marvell, Andrew, 97, 115-25, 130, 178, 187; „The Nymph Complaining for the Death of her Faun", 121—24; „To His Coy Mistress", 97, 120 Marx, Karl, 50, 54, 89, 103, 154 Marx, Leo, 5 7 - 60, 65, 182, 183; The Machine in the Garden, 58—59 Masson, David, 191 Meinecke, Friedrich, 171 Merritt, Richard L., 183 Mills, Nicolaus C., 59, 182 Miner, Earl, 18, 24, 172 - 74 Minot, Stephen, 176 Moore, Marianne, 158, 160, 191; „Poetry", 158 Moritake, 24 Morris, Wesley, 182 Morris, William, 121, 122, 178; „The Nymph's Song to Hylas", 121, 122 Mother Goose, 69 Muir, Edwin, 115, 187 Nagy, N. Christoph de, 172, 173, 175 Nemerov, Howard, 189 Nicolaisen, Peter, 176 Nietzsche, Friedrich, 94, 102, 154 Nitchie, George W., 191 Ogden, Charles Kay, 187 Olson, Charles, 47 Olson, Elder, 192-93 Ovid, 121, 152; Ars amatoria, 152 Parrington, Vernon Louis, 54, 181 Pasternak, Boris, 178 Patchen, Kenneth, 146 Pater, Walter, 52 Pearson, Norman Holmes, 180 Pearce, Roy Harvey, 57, 58, 182
Register Pehlke, Michael, 171, 183 Peirce, Charles Sanders, 128 Peper, Jürgen, 91, 179, 180, 185 Picasso, Pablo, 25 Plato, 192 Poe, Edgar Allen, 131 Pool, Ithiel de Sola, 183 Pope, Alexander, 117, 146, 148-49, 150, 152-54, 156, 190, 191; Essay ort Criticism, 146, 148, 149, 153, 154 Pound, Ezra, 15-25, 29, 30, 32, 36-38, 44 - 4 7 , 124-29, 167, 172 - 80, 187, 191; „Alba", 41; Cantos, 37, 44; Cathay, 37; „E. P. Ode pour l'Election de son Sepulchre", 38; „Fanpiece, for Her Imperial Lord", 36, 37; „A Few Don'ts by an Imagiste", 22, 29; „Gentildonna", 32, 37; Hugh Selwyn Mauberley, 38; „In a Station of the Metro", 21-25, 34-36; „Liu Ch'e", 37; „Vorticism", 29 Power, K „ 174 Pratt, William, 40, 173, 180 Praz, Mario, 187 Preminger, Alex, 16, 173; Encyclopedia of Poetry and Poetics, 16 Properz, 121 Pudowkin, Wsewolod I., 28; Die Mutter, 28 Purcell, Victor, 147; Cadmus: The Poet and the World, 147 Quintilian, 74, 146 Rajan, Balachandra, 172, 187 Raleigh, Walter, 95 Ranke, Leopold von, 94, 95, 102 Ransom, John Crowe, 52, 161, 162, 181, 191 Read, Herbert, 172, 174, 175, 177 Reich-Ranicki, Marcel, 181 Ribot, Alexandre, 176 Richards, Ivor Armstrong, 51, 181, 187 Rilke, Rainer-Maria, 144, 189 Rimbaud, Arthur, 31, 178 Ritsert, Jürgen, 70, 78 - 8 0 , 88, 184
199
Ruskin, John, 120 Russell, Matthew, 188 Sagar, Keith, 188, 189 Saint-John Perse, siehe: Léger, Alexis Saint-Léger Schlegel, August Wilhelm, 93, 103 Schlegel, Friedrich, 93 Scholes, Robert, 171 Schwanz, Elias, 193 Seiffert, Hans Wemer, 190 Seiffert, Helmut, 184, 193 Seitz, William, 32, 33 Seton, Marie, 177, 178 Shakespeare, William, 95, 102, 117; Macbeth, 85 Shapiro, Karl, 147, 151, 191; Essay on Rime, 147, 151 Sherman, W. D „ 184 Shiki, Matsuoko, 18 Silbermann, Alphons, 183 Simpson, Henry, 17 Smith, Bernard, 54, 181 Smith, Grover, 180 Smith, Henry Nash, 57, 58, 65, 66, 182, 183 Sontheimer, Kurt, 89, 171, 185 Spacks, Patricia Meyer, 190 Spears, Monroe K., 172, 173, 176, 182, 188 Spiller, Robert, 66, 67, 183 Spurgeon, Caroline, 55, 182 Stevens, Wallace, 160, 161, 191 Sühnel, Robert, 182 Sussman, Herbert L., 59, 182 Sutton, Walter, 173, 182 Swift, Jonathan, 117 Sypher, Wylie, 180 Szondi, Peter, 106, 186 Taaffe, James G., 146, 188, 189, 191; Poems on Poetry, 146 Taine, Hippolyte, 2, 52, 93 Täte, Allen, 187 Taupin, René, 172, 180 Taylor, Alan John Percevale, 96, 100 Thomas, Dylan, 86
200
Register
Thoreau, Henry David, 55, 89 Topitsch, Ernst, 171 Tung-Sun, Chang, 127 Tuve, Rosemond, 178 Twain, Mark, siehe: Clemens, Samuel Langhorne Tzara, Tristan, 33 Uhlenbrook, Jan, 174, 177 Uljanow, Wladimir Iljitsch, 50 Unger, Leonard, 187 Valéry, Paul, 73, 107, 131, 142-45, 168, 189, 190, 192; „Les Pas", 142-45,168 Van Deusen, Marshall, 53, 181 Van Itallie, Claude, 110; America Hurrah, 110 Van Tieghem, Philippe, 192 Vergil, 152; Geórgica, 152 Verlaine, Paul, 146; „L'Art poétique", 146 Vida, Marco Girolamo, 146; De arte poetica, 146 Viebrock, Helmut, 171, 174, 186 Vivas, Eliseo, 58, 182 Wais, Karin, 189 Wallace, Robert, 146, 188, 189, 191; Poems on Poetry, 146 Walther, Elisabeth, 128 Warren, Austin, 191 Warren, Robert Penn, 22, 39, 176, 184 Warton, Joseph, 153, 191 Weber, Alfred, 146, 180, 190; „Kann die Harfe durch ihre Propeller schießen? Poetologische Lyrik in Amerika", 146
Weber, Marianne, 183 Weber, Max, 68 Wees, William C., 174 Weimann, Robert, 11, 60, 91-109, 182, 185, 186; Literaturgeschichte und Mythologie, 11, 92, 104, 107-08; „New Criticism" und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft, 91; „Past Significance and Present Meaning in Literatury History", 93, 95, 96 Wellek, René, 4, 93, 103, 110, 146, 163, 171, 184, 186, 190; A History of Modem Criticism, 103, 110; „The Poet as Critic, the Critic as Poet, the PoetCritic", 146 Whipple, James, 1; How to Write for Radio, 1 Whorf, Benjamin Lee, 101 Wieland, Christoph Martin, 147, 152, 190, 191 Wilder, Thornton, 86; Our Town, 86 Williams, Audrey, 190 Williams, William Carlos, 47, 161, 191 Wilson, Edmund, 172 Wimsatt, William Kurtz, 161, 190, 191, 193 Wissmann, Jürgen, 177 Wittgenstein, Ludwig, 193 Wölfflin, Heinrich, 102 Wordsworth, William, 25, 120, 180 Yeats, William Butler, 38, 49 Zeltner-Neukomm, Gerda, 189 Zukovsky, Louis, 47
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"Walter de Gruyter Berlin-Newark Grundlagen der Kommunikation
Herausgegeben von Roland Posner (de Gruyter Studienbuch)
Dieter Cherubim (Hrsg.)
David Lewis
Sprachwandel
Reader zur diachronischen Sprachwissenschaft Oktav. X , 368 Seiten. 1975. Kartoniert DM 2 8 , ISBN 3 11 004330 0
Konventionen
Eine sprachphilosophische Abhandlung Oktav. XIV, 224 Seiten. 1975. Kartoniert DM 2 8 , ISBN 3 11 004608 3
Franz von Kutschera Peter Eisenberg (Hrs.)
Peter Eisenberg (Hrsg.)
Georg Henrik von Wright
Einführung in die intensionale Semantik Oktav. XII, 187 Seiten. 1976. Kartoniert DM 2 8 , ISBN 3 11 006684 X
Maschinelle Sprachanalyse Beiträge zur automatischen Sprachbearbeitung I Oktav. VIII, 262 Seiten. 1976. Kartoniert DM 3 2 , ISBN 3 11 005722 0
Semantik und künstliche Intelligenz Beiträge zur automatischen Sprachbearbeitung II Oktav. VIII, 244 Seiten. 1977. Kartoniert D M 3 2 , I S B N 3 11 00572 1 2
Handlung, Norm und Intension Untersuchungen zur deontischen Logik Herausgegeben und eingeleitet von Hans Poser. Oktav. X X X , 158 Seiten. 1977. Kartoniert DM 2 8 , ISBN 3 11 004930 9 Preisänderungen vorbehalten
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H i l t e r de Gruyter Berlin • N e w \ b r k Komparatistische Studien
Beihefte zu „arcadia" Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft
H. Rüdiger (Hrsg)
Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft
E. Koppen
Dekadenter Wagnerismus
Mit Beiträgen von Gerhard Bauer, Erwin Koppen und Martin Gsteiger Oktav. VI, 87 Seiten. 1971. Kartoniert DM 16,80 ISBN 3 11 003622 3 (Beiheft 1)
Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle Groß-Oktav. X , 386 Seiten. 1973. Ganzleinen D M 112,I S B N 3 11 004388 2 (Beiheft 2)
M. Bronkhorst
Shakespeares „Coriolanus" in deutscher Bearbeitung Sieben Beispiele zum literaturästhetischen Problem der Umsetzung und Vermittlung Shakespeares Groß-Oktav. XII, 187 Seiten. 1973. Ganzleinen D M 6 4 , I S B N 3 11 003997 4 (Beiheft 3)
H. Rüdiger (Hrss-)
Die Gattungen der Vergleichenden Literaturwissenschaft
Mit Beiträgen von Jörn-Ulrich Fechner, Gerhard R. Kaiser und Willy R. Berger Oktav. VIII, 92 Seiten. 1974. Kartoniert DM 16,80 ISBN 3 11 004496 X (Beiheft 4)
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Helmut Arntzen/ Bernd Balzer/ Karl Pestalozzi/ Rainer Wagner (Hrsg.)
H. Parret (Editor)
k ä l t e r de Gruyter Berlin • N e w a r k Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie Festschrift für Wilhelm Emrich Groß-Oktav. X , 602 Seiten. Mit einem Portrait von Walter Höllerer. 1975. Ganzleinen D M 1 9 6 , I S B N 3 11 005726 3
History of Linguistic Thought and Contemporary Linguistics 1976. Largeoctavo. X , 816 pages. Cloth D M 1 8 0 , (Foundations of Communication, Library Editions)
Erwin Kobel
Georg Büchner Das dichterische Werk Groß-Oktav. V I I I , 337 Seiten. 1974. Ganzleinen D M 78,I S B N 3 11 004607 5
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H u g o von Hofmannsthal Groß-Oktav. X , 377 Seiten. 1970. Ganzleinen D M 38, I S B N 3 11 000551 4
Franz Mautner
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Geschichte seines Geistes Groß-Oktav. X V I , 46, 490 Seiten. Mit Frontispiz und 1 Abbildung. 1968. Ganzleinen D M 7 6 , I S B N 3 11 000062 0
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W a l t e r de G r u y t e r Berlin • N e w a r k Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes Groß-Oktav. XII, 216 Seiten. 1975. Ganzleinen D M 68, ISBN 3 11 005768 9
Franz Anselm Schmitt
Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur Eine Bibliographie 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage Groß-Oktav. XIV, 437 Seiten. 1976. Ganzleinen DM 9 8 , I S B N 3 11 006506 1
Z G L . Zeitschrift für germanistische Linguistik
Herausgeber: E. Oksaar, H . P . Althaus, H . Henne, P. v. Polenz, S. J. Schmidt, H. E. Wiegand Erscheinungsweise: 1 Band jährlich mit 3 Heften, je etwa 128 Seiten. Bandpreis: DM 7 8 , - ; Einzelheft: D M 2 9 , 1977: Band 5
Horst Rüdiger
( s-) Hrs
arcadia
Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft
In Verbindung mit R. Bauer, W. Holdheim, E. Lunding Erscheinungsweise: 1 Band jährlich mit 3 Heften, je etwa 336 Seiten. Bandpreis: DM 6 4 , - ; Einzelheft: DM 2 4 , 1977: Band 12
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