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German Pages 228 Year 2005
Antonio Candido - Literatur und Gesellschaft
Ligia Chiappini (Hrsg.)
Antonio Candido Literatur und Gesellschaft
Ligia Chiappini (Hrsg.) aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marcel Vejmelka
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2005
Unser besonderer Dank gilt der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V. für ihre großzügige finanzielle Unterstützung, www .fu-berlin.de/alumni/erg
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Diese Veröffentlichung wurde durch die großzügige Förderung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der Föderativen Republik Brasilien und der Brasilianischen Botschaft in Berlin ermöglicht
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2005 ISBN 3-86527-207-X Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann, unter Verwendung einer Photographie von Eliza Capai, Bearbeitung: Claudia Chiappini Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier gemäß ISO-Norm 9706 Printed in Germany
Ligia Chiappini / Marcel Vejmelka: Einleitung
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I: Thematische Verbindungen zu Deutschland Deutschland = Nazismus? Der Überbringer Jüngers Reise Leidenschaftliche Dialektik Die Liebe zur Unabhängigkeit
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II: Literatur und ihre gesellschaftlichen Funktionen Kritik und Soziologie (ein Klärungsversuch) Anregungen für das literarische Schaffen Das Recht auf Literatur
49 59 83
III: Literarische Analysen und Interpretationen Die Schuld der Könige: Befehlsgewalt und Transgression in König Richard der Zweite Dialektik des Malandro Die Welt des Sprichworts
105 119 145
IV: Beziehungen zwischen Brasilien und Hispanoamerika Die Zweischneidigkeit der Literatur Literatur und Unterentwicklung Die Brasilianer und unser Amerika
167 185 207
Anhang: Frühes Interesse an Deutschland Ein Sommer in Berlin Ein wenig Geschichte
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Textnachweise
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Ligia Chiappini und Marcel Vejmelka 1
Literatur, Gesellschaft und Leben: eine kurze Vorstellung Antonio Candidos und seines Werks Der Autor und sein Werk Der 1918 in Rio de Janeiro geborene Antonio Candido de Mello e Souza kann ohne Übertreibung als einer der bedeutendsten Denker Brasiliens und Lateinamerikas der Gegenwart bezeichnet werden. Er studierte zunächst Jura und Soziologie und wurde 1942 Dozent für das letztgenannte Fach. Gleichzeitig widmete er sich auch der Literaturkritik und schrieb Rezensionen für Zeitungen und Zeitschriften. 2 Ab 1958 spezialisierte er sich in Lehre und Forschung auf brasilianische Literatur. Schon früh erkannte er, daß die Arbeit mit dieser Iiteratur nur in vergleichender Perspektive möglich war, im weitergefaßten Rahmen ihrer Beziehungen zu lokalen und globalen Traditionen. Aus diesem Grund entschloß er sich in den sechziger Jahren, an der Universität von Säo Paulo einen institutionellen Raum zu schaffen, der dem theoretischen und kritischen Studium dieses Komplexes angemessener war: den Bereich Uteraturtheorie und Vergleichende Literaturwissenschaft, der heute unter gleichem Namen von verschiedenen Dozenten vertreten wird, die direkt oder indirekt von Antonio Candido ausgebildet wurden. Bereits als junger Mann brachte er sich auch im politischen Leben Brasiliens ein, ohne sich dabei von ideologischen oder parteipolitischen Abgrenzungen vereinnahmen zu lassen. Zwischen 1945 und 1947 beteiligte er sich an der Gründung der Sozialistischen Partei als Alternative zur Kommunistischen Partei Brasiliens, und war Anfang der achtziger Jahre als nunmehr gereifter und national sowie international anerkannter Intellektueller ein Mitstreiter und Mitbegründer der Arbeiterpartei PT, die den gegenwärtigen Präsidenten des Landes Lui2 Inäcio Lula da Silva stellt. Doch mehr als engagierter Parteifreund war und ist Antonio Candido ein engagierter Bürger, der sich für soziale Bewegungen zur Verteidigung der Menschenrechte und
1 Ligia Chiappini war Professorin für Literaturtheorie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität von Säo Paulo, wo sie viele Jahre als Assistentin mit Antonio Candido arbeitete und noch heute im Postgraduiertenbereich tätig ist. Sie vertritt die Professur für Brasilianistik am Lateinamenka-lnstitut der Freien Universität Berlin. Marcel Vejmelka wurde an der HumboldtUniversität zum Ubersetzer ausgebildet und promovierte im Sommer 2(X)4 an der Freien Universität Berlin im Fach Lateinamerikanistjk/Brasilianistik. 2 Fin Medium dieser systematischen Kritikerarbeit war der von Antonio Candido betreute Literaturteil der Zeitschrift Cäma (1941-1944) unter der Leitung des Journalisten Alfredo Mesquita und des jungen Soziologen und späteren Professors für Politikwissenschaft Lounval Gomes Machado, der an der ebenfalls noch jungen Fakultät für Philosophie, Wissenschaft und Philologie an der Universität von Säo Paulo lehrte. In anderen Bereichen der Zeitschrift arbeiteten neben ihnen und weiteren Kollegen von derselben Fakultät: Ruy Coelho (Literaturkritik, lissays und später Filmkridk), Decio de Almeida Prado (Theater), Lourival Gomes Machado (Kunst), Paulo F.milio Salles Gomes (Film, in der ersten Phase) sowie Gilda Moraes Rocha (Belletristik und Literaturkritik).
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Schaffung einer gerechteren und solidarischeren Form der Demokratie einsetzt: für den demokratischen Sozialismus. Diese Vielfalt seines Schaffens läßt erkennen, daß Antonio Candido einen immer seltener gewordenen Typus des Intellektuellen verkörpert, der sich mit seiner Tätigkeit umfassend und verantwortlich in den Dienst der Gesellschaft stellt. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Vertreter mehrerer Generationen des brasilianischen Geisteslebens ihn als ihren Lehrer bezeichnen. Das Gesamtwerk Antonio Candidos ist fast nicht mehr überschaubar und umfaßt Studien zu Literatur, Kultur, Gesellschaft und den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Hervorzuheben wäre die zweibändige Untersuchung der brasilianischen Literatur als System im Zusammenwirken von Autor, Werk und Publikum, Formaßo da Uteratura Brasileira: momentos deäsivos (1959), die längst zum Standardwerk geworden ist. Sie konnte in diese erste Textsammlung auf deutsch nicht aufgenommen werden, da sich aufgrund ihres inneren thematischen und formalen Zusammenhangs der isolierte Abdruck eines Ausschnitts verbietet. Allerdings ist auf die weitreichende Bedeutung des im Originaltitel verwendeten Ausdrucks der „formaon Giammam hat heut zum Abendessen gebratene Fadennudeln', Piedipapera schnupperte zum Fenster des Pfarrhauses hinüber." (S. 31) Und morgens erfahren alle, mit wem die Schenkenwirtin in der Nacht in ihrem Stall geschlafen hat. Diese Lebensweise verleiht den von allen Tag für Tag in ihren kleinsten rechtlichen und menschlichen Folgen kommentierten, beobachteten und verfolgten Schulden und Unannehmlichkeiten der Malavoglia handelnde Kraft. Die Normen und ihre Übertretungen gleichen sich immer, werden aus derselben Perspektive gesehen, besitzen vorhersehbare Auswirkungen, denn niemand kann sich die Möglichkeit vorstellen, sie zu ändern. Auf symbolische Weise muß der wichtigste Informant des Dorfes nicht sehen können: es ist der blinde Mastro Nunzio, der sein Leben damit zubringt, an der Tür zur Schenke seiner Tochter um Almosen zu betteln. Auf der Ebene der Familie, die materiell auf das Haus projiziert wird, erscheint das Gewicht der anderen Kreise als starr und ein jeder muß auf seine individuellen Wünsche verzichten, um den Normen und Interessen der Gruppe zu entsprechen. Der Brauch hier ist die Pflege des Namens, Einheit, blinder Gehorsam gegenüber den Älteren, Hinnahme des Schicksals, der Rolle und des Orts eines jeden, wie ein von Patron "Ntoni vorgebrachtes Sprichwort es bestimmt: „'Die Menschen sind wie die Finger an der Hand: der Daumen muß ein Daumen sein und der kleine Finger ein kleiner Finger."' (S.7) Bastianazzo begibt sich ohne ein Wort mit dem Boot in den Sturm und in den Tod, weil sein Vater es ihm befohlen hatte. „'Er ist gefahren, weil ich ihn geschickt habe', wiederholte Patron TSJtoni, 'ganz wie die Blätter da, die der Wind hin und her treibt. Wenn ich ihm befohlen hätte, von den Faraglionifelsen mit einem Stein am Halse hinabzuspringen, er hätt' es ohne Widerstand getan.'" (S.52) D. H. Lawrence, „Giovanni Verga", in: ders., Selected Essays, London, Penguin Books, 1950, S. 279. 2
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Diese Verschmelzung des Einzelnen mit seiner Familie, der Familie mit der Gruppe, der Gruppe mit der physischen Umwelt ist Frucht der Notdürftigkeit einer Lebensweise, welche die Tradition perpetuiert, denn sie vollzieht sich auf der elementaren Ebene des Überlebens, schafft die Homogenität, die, wie wir sehen werden, vor allem Wirkung des Stils und der spezifischen Eigenheiten der literarischen Struktur ist. Für den Augenblick wollen wir einen Fall betrachten, der den Einstieg in diese Ebene erleichtert, da es sich um eine metaphorische Erfindung auf der Grundlage einer wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit handelt: das Geld, das hier einem Spezifizierungsprozeß unterworfen wird, durch den es von der abstrakten Welt des Werts in das benannte und konkrete Universum der natürlichen Dinge überzugehen scheint. In diesem Buch ist es knapp, zirkuliert es fast nicht, als wäre es zähflüssig geworden und hätte seine herausragendste Eigenschaft, die der Abstraktion, verloren. Die Not verwandelt das Geldverhältnis in eine Art von Austausch von Dingen, als wäre die Währung ein Ding von eingeschränktem Wert, das sich nicht von der Geste oder dem Gegenstand, die es hervorgebracht haben, löst und auch nicht von seinem unmittelbaren Zweck, der bestimmten und begrenzten Notwendigkeit, die es erforderlich gemacht hat. Das Geld, das die Malavoglia unter großer Anstrengung verdienen und zusammensparen, scheint wie Blut der Geste zu entspringen, die es empfangen hat. Erst wenn es ihren Händen entgleitet, um in die des Geldverleihers oder des Anwalts, des Arztes oder des Bürokraten zu geraten, erhält es seine Natur zurück, löst es sich in der mehrwertigen und unbenannten Welt der Zirkulation auf. Davor war es nicht wirklich Münze, sondern Blut, Schweiß, Muskelspannung, bewahrte es das lebendige Zeichen seines Ursprungs und war es als begrenztes Instrument zur Wiedererlangung des beschädigten Bootes oder des verlorenen Hauses gültig. Das Boot, welches das Meer nach dem Schiffbruch Bastianazzos zerstört zurückgegeben hatte, wurde von Gevatter Zuppiddo, dem Kalfaterer, wieder instand gesetzt, und jedes Familienmitglied lieferte seinen schmerzlich erworbenen Beitrag: Aber Gevatter Zuppiddo nahm ihnen jeden Samstag das schöne Geld wieder ab, um die Prowidenza zu flicken. Und man mußte schon eine Menge Fischräuscn reparieren, Steine an der Bahnbrücke schleppen, Würmer zu zehn Soldi sammeln, Leinen weißen, mit den Füßen bis zu den Knien im Wasser und mit der Sonne auf dem Kopf, um vierzig Unzen zusammenzuschaffen! (S. 71)
Dieser Abschnitt macht sichtbar, daß neben den Löhnen des alten 'Ntoni und seines gleichnamigen Enkels, Mena sich am Webstuhl abmühte, Luca Steine beim Eisenbahnbau schleppte, der kleine Alessi Köder für die Fischer sammelte, während ihre Mutter Maruzza anderer Leute Wäsche wusch. Die ungeheure Anstrengung jedes einzelnen ist so präsent, daß wir anstelle von Geldwert Geldstoff, Geldsteine und Geldwürmer zu sehen meinen. An anderer Stelle (ein wenig vor einer der aufeinander folgenden Katastrophen, die die Malavoglia wieder an den Ausgangspunkt zurückwerfen), als Luca bereits im Krieg gefallen ist, arbeitete nun Alessi beim
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Schienenbau und alle hatten fast genug zusammengebracht, um das durch die Schulden verlorene Haus wiederbekommen zu können. Alles, was sie verdient hatten, war aufbewahrt oder in gesalzenen Fisch investiert worden, der in einigen Fässern lagerte und verkauft werden sollte, sobald deren Zahl hoch genug war. Man beachte im folgenden Abschnitt die Materialisierung des Geldes, als würde es sich durch eine Art von Rückkehr zur Geste oder zur Sache, die seinen Erwerb hervorgebracht haben, in dieser auf den elementaren Ebenen des Überlebens gefangenen Gesellschaft verwandeln: Jetzt war bei den Malavoglia die Ruhe wieder eingezogen. Schwiegervater und Schwiegertochter zählten das Geld im Strumpf und die Fässer, die in Reih und Glied im Hofe standen, und sie machten ihre Rechnung, um zu sehen, wieviel ihnen noch für das I laus fehlte. Maruzza kannte all das Geld, Stück für Stück, dies hier war für die Orangen und die Eier, das andere da hatte Alessi vom Bahnbau gebracht, und jenes hatte Mena am Webstuhl verdient. Sie sagte: ,Von jedem ist etwas dabei.' (S. 181)
Wir begegnen so auf mehreren Ebenen der stillstehenden und abgeschlossenen Welt, in der die sozialen Beziehungen zu natürlichen Dingen werden, in der die direkte Verbindung mit der Umwelt die Freiheit auslöscht, und niemand kann ihrem Druck wirklich entkommen, ohne zerstört zu werden. 2. Der Bruch Doch genau hier greift die Kunst des Schriftstellers ein, in Form eines bestimmten „Experimentierens". Sein Roman ist auch eine Geschichte von Abschweifungen und Brüchen, von kleinen gescheiterten Versuchen, die unerbittlichen Kreise zu durchbrechen und das drückende Gewicht zu mindern. Nur so kann er die Abschließung andeuten, und er zeigt, daß der individuelle Wille zur Öffnung nichts weiter ist als das kurzzeitige Erzittern eines Steins, der ins stille Wasser fallt und nur für einen Augenblick die glatte Oberfläche verändert. Das „Experimentieren" besteht darin, daß ausgerechnet der große Vater der Tradition und Routine, Patron 'Ntoni, die Familie aus den Gleisen bringt, als er sich in einer Nebentätigkeit versucht, um die Lebensumstände zu verbessern. So sagt der Autor im Vorwort: Diese Geschichte ist eine aufrichtige und leidenschaftslose Untersuchung darüber, wie die ersten Sorgen um das Wohlergehen unter den ärmsten Bedingungen wahrscheinlich entstehen und sich entwickeln; und welche Verwirrung ein unbestimmter Drang nach dem Unbekannten, der Gedanke, daß man nicht gut lebt oder daß man besser leben könnte, in eine kleine, bis dahin relativ glückliche Familie bringen muß.
Die Initiative, mit dem Lupinenklee zu handeln, die auf Patron "Ntoni zurück geht, ist folglich eine Öffnung daraus entstehen das Scheitern (das fast wie eine Strafe wirkt) und die paradoxale Situation, die das konservativste Element zum Verantwortlichen für die familiäre Krise macht und ihn mit den unangepaßten, potentiell störenden Elementen gleichsetzt: mit dem ältesten Enkel und dessen kleiner Schwester Lia.
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Dieser Enkel (der wie sein Großvater TSltoni heißt) kehrt vom Militärdienst zurück, fühlt sich im Dorf und in der Routine des Fischfangs erdrückt, erträgt das nicht und zieht in die Welt; er kehrt geschlagen und noch weniger angepaßt zurück, begehrt gegen die familiäre Kargheit auf, steigt in den Schmuggel ein, wird ertappt, sticht den Korporal der Zollwache nieder, wird verhaftet, und sein Prozeß zehrt die Ersparnisse für den Rückkauf des Hauses auf. Der Korporal Don Michele hatte Lia den Hof gemacht, ihr Tücher geschenkt, sich zu nächtlichen Unterhaltungen eingefunden, die den Klatsch im Dorf anregten. Der Anwalt glaubt nun, es wäre ein geschickter Zug der Verteidigung anzugeben, daß 'Ntoni ihn nicht angegriffen habe, sondern die Ehre seiner Schwester verteidigen wollte, die (so behauptet er, um vor Gericht eine größere Wirkung zu erzielen) vom Wachmann verfuhrt worden sei. Doch das Ergebnis ist das vollständige Unglück, denn der überraschte 'Ntoni protestiert von der Anklagebank aus verzweifelt und bezichtigt sich selbst; Lia fühlt sich schuldig und verläßt das Haus auf dem einzigen Weg, der ihr noch bleibt: die Prostitution in der Stadt; der Großvater erleidet einen vernichtenden Schlag und stirbt; und die andere Enkelin Mena wird niemals heiraten können, weil sie „eine solche Schwester" hat. Formuliert man die oben stehende Beobachtung auf andere Weise, so kann man sagen, daß im Bezug auf die Funktion der Handlungen im Erzählten das Verhalten von Großvater und Enkeln auf der Bedeutungsebene divergieren, jedoch auf der strukturellen Ebene konvergieren. Tatsächlich sind die Überschreitungen des jungen "Ntoni und das als leichtfertig angesehene Verhalten der armen Lia Brüche von moralischen Mustern und erschüttern die Einheit der Familie; doch die wirtschaftliche Neuerung des alten 'Ntoni (der Verkauf von Lupinenklee) ist ein Bruch der Bräuche (des Fischfangs) mit ähnlichen Auswirkungen. Außerdem zeigen alle im Grunde denselben Respekt für den traditionellen Ethos, denn die Malavoglia sind gleich, von Generation zu Generation, geprägt von der abgeschlossenen Gesellschaft. Wie ein Kritiker sagt, sind es gerade die, die scheinbar nicht an der Religion des Heims teilhaben, die es in Wahrheit gestalten; und wenn Lia und der junge 'Ntoni fortgehen, dann genau deswegen, weil sie die häusliche Ehre zu sehr respektieren und sie nicht beschmutzen wollen.3 Mit ihren klaren und starken Zügen verkörpert Vergas Erzählung die uralten Schemata: einen ursprünglichen Zustand der Ausgeglichenheit, die ihn zerstörende Überschreitung, die Leiden, die die Figuren prüfenden Nöte, das Erreichen der entscheidenden Prüfungen, die Wiederherstellung des Ausgangszustands. Die meisten Individuen sind zugrunde gegangen, doch die Gruppe hat übedebt. Der junge Alessi, der Würmer sammelte und Zunder für den Herd heranschleppte, hat mit der Familie einen neuen Anfang gemacht. Die Welt wurde durch die Überschreitungen und Erneuerungen für einen Augenblick geöffnet und hat sich nun erneut geschlossen. Eine versiegelte Welt also, die als solche erscheint, weil der Romancier es vermochte, auf der 3
Eurisüo de Michelis, L'Arte del Verga, Firenze, La Nuova Italia Fìditrice, 1941, S. 85 und 86-87.
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Ebene der Komposition die Elemente anzuordnen, die den Rhythmus des Abschließens-Öffnens-Abschließens erkennen lassen, der einen der wesentlichen strukturellen Grundzüge seines Buches ausmacht. 3. Erneuerung der Sprache Da wir uns in einer Zeit des schwindelerregenden Experimentierens in der Kunst und der Literatur befinden, könnte man meinen, daß die Vergangenheit in dieser Hinsicht gefestigter und weniger innovativ gewesen sei als sie in Wirklichkeit war. Die Romantik eröffnete die Möglichkeiten und Positionen schneller Veränderung, die seitdem immer weiter wirken. Der Naturalismus, der aus heutiger Sicht gewöhnlich und wenig innovativ erscheinen mag, war ebenfalls voller Experimente, von denen einige vielleicht späteren Autoren als Grundlage gedient haben. Die stilistische Lösung von UAssommoir zum Beispiel ist für sich genommen eine Revolution, die den ersten unumkehrbaren Schritt zur Hereinnahme der gesprochenen Sprache in den fiktionalen Stil vollzog, weil dadurch eine narrative Stimme geschaffen wurde, die zwar in dritter Person handelt und den Autor repräsentiert, sich jedoch nicht qualitativ von der Stimme der Figuren unterscheidet, die einem anderen sozialen Bereich entstammen. Dies war zum Teil möglich durch den Einsatz der edebten Rede; es reicht aber darüber hinaus, weil der klangliche Unterschied zwischen direkter und indirekter Rede im allgemeinen unterdrückt wird. Verga war sicherlich von Zolas Buch beeinflußt, das ihn dazu anregte, eine ziemlich künstliche Sprache zu schaffen, die sich dem gebildeten Leser jedoch als reine Natürlichkeit darbot. Doch dabei verwirklichte er etwas noch schwierigeres, denn dem französischen Schriftsteller stand eine in seiner literarischen Tradition durch Vereinfachungsversuche lange bearbeitete Sprache zur Verfügung, die dadurch sehr früh eine Art natürlicher Künstlichkeit erhielt. Eine geschliffene Sprache, die umgangssprachliche Elemente handhaben konnte, die durch den Wunsch nach der Darstellung von Spontaneität gefiltert wurden. Verga sah sich allerdings der italienischen Literatursprache gegenüber, einem pompösen und hochgradig konventionellen Instrument, das auf dem Verbot des Umgangssprachlichen und der Schlichtheit gründete, die als unliterarische Dimensionen galten. Manzoni hatte sie bereits ein halbes Jahrhundert zuvor der Ebene des Romans beträchtlich annähern können, indem er das Geäst von Epopöe und Redekunst, Ode und Tragödie zurechtstutze, die seine bevorzugte Welt darstellten. Doch der Roman befand sich in der italienischen Literatur in zweiter Reihe, den „edlen" Gattungen untergeordnet, und das sprachliche Ideal befand sich weiterhin in der Polarität der Flucht vor dem Alltäglichen, als ob die Grenze seiner Berufung der epigraphische Stil — der italienischste von allen - wäre, der laut einer budesken Figur von Federico de Roberto „tiene al sommo grado del nobile e del sostenuto".
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Darüber hinaus gestaltet sich Vergas Problem komplizierter aufgrund der regionalistischen Ausrichtung des Naturalismus in Italien, des Verismo, der zunächst einmal sizilianisch war und außer ihm von seinem Lehrmeister und Freund Luigi Capuana und dem bereits genannten de Roberto getragen wurde. Zola verwendete das Französische, um die Sprache der Proletarier wiederzugeben, die Französisch sprachen. Verga besaß als offizielle Sprache das literarische Toskanisch, um die Sprache der Bauern und Fischer wiederzugeben, die sich in sizilianischem Dialekt ausdrückten. Wie wäre es in jener vom Dokumentarischen besessenen Zeit möglich, die Authentizität der regionalen Prägung zu bewahren und zugleich von den gebildeten Lesern verstanden zu werden? Wie die Eigenart der sizilianischen Sprache wiedergeben und das Buch ins Universum der Nationalliteratur eingliedern? Dieses zweifache Problem löste Verga durch eine erfinderische Willkür, die in I Malavoglia und in mehreren Erzählungen aus Vita dei Campi und Novelle Rusticane paradoxerweise ein Höchstmaß an Natürlichkeit hervorbrachte. Der Erzähler nimmt wie in L 'Assommoir eine Perspektive ein, die die Sprache der ungebildeten Figuren stilisiert, nicht um sie in Momenten der direkten Rede zu verwenden, sondern im gesamten Verlauf der Erzählung. Doch während der Erzähler von UAssommoir zwischen zwei Möglichkeiten innerhalb derselben Sprache (der Sprache des gebildeten Menschen und der Sprache des ungebildeten Arbeiters) steht, steht der von I Malavoglia zwischen vier Möglichkeiten, zwei innerhalb jeder Sprache, wenn wir der Einfachheit halber den sizilianischen Dialekt als solche ansehen: gebildetes Toskanisch, volkstümliches Toskanisch; ein möglicherweise literarisch bearbeitetes Sizilianisch und volkstümliches Sizilianisch. Aus diesem ungewöhnlichen Spagat entstand das vollkommenste und wirkungsvollste Instrument, das der italienische Erzählstil während eines halben Jahrhunderts kannte, bis um 1930 mit Alberto Moravia die gegenwärtige Phase begann. Und Verga wußte um seine Erfindung, wie man anhand verschiedener Erklärungen erkennen kann, darunter in einem Brief an den Schweizer Schriftsteller Edouard Rod, der I Malavoglia ins Französische übersetzte und Vergas Werk als Kritiker mit die größte Aufmerksamkeit widmete: Ich weiß sehr wohl, wie groß die Schwierigkeit ist, diese Entwürfe in eine andere Sprache zu übersetzen, die selbst im Italienischen ein ganz eigenes Angesicht besitzen. Mein Versuch - der unter uns bis jetzt neu und umstritten ist - zielt darauf ab, die charakteristischen Eigenheiten dieser Erzählungen auf italienisch klar auszudrücken, soweit als möglich ihre eigenen Züge und ihren wahrhaften Ton zu bewahren.4
Es herrscht ein gewisses Rätsel um die unmittelbaren Quellen für Vergas Lösung, der zunächst beachtliche, doch manierierte, ein wenig aufgeblasene und von unbestimmtem Idealismus durchzogene Romane und Erzählungen geschrieben hatte, die ihn, wie Croce meint, zu einer Art italienischem Octave
4 Giovanni Verga, Opere. A cura di lj