Literatur und Fotografie: Analysen eines intermedialen Verhältnisses [1. Aufl.] 9783839419700

Was geschieht mit einem literarischen Text, der sein mediales Spektrum durch die Einbettung von Fotografien erweitert? U

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie
1.1 Fragestellung
1.2 Annahmen und Thesen
1.3 Auswahl der Untersuchungsgegenstände
1.4 Übergeordnete Konzepte und Theorien
1.5 Forschungsstand
1.6 Vorgehensweisen und Methoden
1.7 Aufbau der Arbeit
1.8 Die Fotografie als Bild
1.9 Gegen den Pictorial Turn
2 Wissenschaftliche Konzeptualisierungen
2.1 Fiktionalität, Authentizität, Indexikalität
2.2 Literatur und Fotografie als Zeichen
2.3 Fotografie zwischen Kunst und Dokument
2.4 Erinnerung in Literatur und Fotografie
2.5 Simultanität und Nacheinander
2.6 Das erzählerische Potential von Fotografien
2.7 Konkurrenz zwischen Literatur und Fotografie
2.8 Mentale Bilder in Literatur und Fotografie
2.9 Subjektivität und Objektivität
2.10 Entstehungsprozesse
2.11 Formale Kriterien
2.12 Funktionale Kriterien
3 Literarisch-Fotografische Konzepte
3.1 Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman
3.2 (Auto-)Biografie und Fotografie
3.3 Comic und Fotografie
3.4 Die Integration literarischer Texte in Fotografien
3.5 Integration literarischer Texte in Foto-Büchern
4 Fazit und Ausblick
5 Verzeichnis der verwendeten Literatur
5.1 Primärwerke
5.2 Sekundärliteratur
5.3 Internetquellen
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Literatur und Fotografie: Analysen eines intermedialen Verhältnisses [1. Aufl.]
 9783839419700

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Anne-Kathrin Hillenbach Literatur und Fotografie

Lettre

Anne-Kathrin Hillenbach (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Referentin an der Universität Freiburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Narratologie, Intermedialitätsforschung und Comicforschung.

Anne-Kathrin Hillenbach

Literatur und Fotografie Analysen eines intermedialen Verhältnisses

Die Schrift wurde als Inaugural-Dissertation unter dem Titel »Literatur und Fotografie. Mediale Selbstreflexion und Kulturelle Sinnstiftung« an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Fachbereich 05 »Sprache, Literatur, Kultur«, angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Anne-Kathrin Hillenbach Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1970-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

DANKSAGUNG Erfolg ist nur im Team möglich. Auch ich verdanke es besonderen Menschen und Institutionen, dass diese Arbeit entstehen konnte. Allen voran möchte ich mich für die enorme Unterstützung meiner Doktormutter Prof. Dr. Annette Simonis bedanken, die meine Arbeit zu allen Zeiten aufmerksam verfolgt und immer die richtigen, aufmunternden Worte gefunden hat. Ihr enormes Engagement hat mich Probleme leicht bewältigen lassen. Ich bedanke mich herzlich bei der Studienstiftung des deutschen Volkes und dem Gießener International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) für die finanzielle und ideelle Förderung. Ich möchte dem gesamten Team der obigen Institutionen ganz herzlich danken. Viele Gespräche haben diese Arbeit bereichert. Mein Dank gehört meinen MitdoktorandInnen, den Dozenten der Universität Gießen und natürlich meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Herta Wolf, deren Kritik mich stets einen Schritt weiter gebracht hat. Ich danke meinen Betreuerinnen sowie Prof. Dr. Ansgar Nünning, Prof. Dr. Cora Dietl und Prof. Dr. Jörn Ahrens für die Teilnahme an meiner Prüfungskommission. Auch jenseits des universitären Kontextes konnte ich mich in „optimalen Rahmenbedingungen” bewegen. Ich bedanke mich bei meiner Familie und meinen Freunden für alle geschenkte Unterstützung, die Geduld und die wichtigen Gespräche. Für die sorgsame Korrektur und Formatierung des Textes möchte ich mich insbesondere bei Jan Hansmann, Simon Halama und Dr. Marina Hertrampf bedanken. Vielen Dank auch an meine Eltern Inge und Volker Hillenbach, die mir nicht nur bestmögliche Unterstützung, sondern auch einen großzügigen „Druckkostenzuschuss” gewährt haben.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie 1.1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Annahmen und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Auswahl der Untersuchungsgegenstände . . . . . . . . . 1.4 Übergeordnete Konzepte und Theorien . . . . . . . . . . 1.5 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Vorgehensweisen und Methoden . . . . . . . . . . . . . 1.7 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8 Die Fotografie als Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9 Gegen den Pictorial Turn . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Wissenschaftliche Konzeptualisierungen 2.1 Fiktionalität, Authentizität, Indexikalität . . . 2.2 Literatur und Fotografie als Zeichen . . . . . . 2.3 Fotografie zwischen Kunst und Dokument . . 2.4 Erinnerung in Literatur und Fotografie . . . . 2.5 Simultanität und Nacheinander . . . . . . . . 2.6 Das erzählerische Potential von Fotografien . . 2.7 Konkurrenz zwischen Literatur und Fotografie 2.8 Mentale Bilder in Literatur und Fotografie . . 2.9 Subjektivität und Objektivität . . . . . . . . . 2.10 Entstehungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . 2.11 Formale Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . 2.12 Funktionale Kriterien . . . . . . . . . . . . .

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37 38 48 55 58 65 73 81 85 87 90 95 99

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3 Literarisch-Fotografische Konzepte 101 3.1 Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman . . . . . . . 102 3.2 (Auto-)Biografie und Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

3.3 3.4 3.5

Comic und Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Die Integration literarischer Texte in Fotografien . . . . . . . . . . . 187 Integration literarischer Texte in Foto-Büchern . . . . . . . . . . . . 209

4 Fazit und Ausblick

251

5 Verzeichnis der verwendeten Literatur 259 5.1 Primärwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 5.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 5.3 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

1 Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie „Die Photographie, als Beweis unwiderlegbar, aber unsicher, was den Sinn angeht – erhält Sinn durch Worte. Und die Worte, die für sich allein nur eine allgemeine Aussage sind, erhalten eine spezifische Authentizität durch die Unwiderlegbarkeit der Photographie. Zusammen sind die beiden sehr machtvoll; eine offene Frage scheint zur Gänze beantwortet zu sein.“1

John Bergers Zitat über die Verbindung von Fotografie und Wort, die gemeinsam eine „offene Frage“ beantworten, scheint bis zum heutigen Zeitpunkt nur für bestimmte Textgattungen zu gelten. Während die Verbindung von Fotografien und Worten in nicht-fiktionalen Medien wie Tageszeitungen, Magazinen und Lexika üblich ist, so stellt die Kombination von Fotografie und Literatur bis heute eine Ausnahme innerhalb der Künste dar. Literarische Texte scheinen nicht nach der vermeintlichen Authentizität und Unwiderlegbarkeit der Fotografie zu verlangen. Die Polyvalenz der Literatur, und damit ihr literarisches Potential, scheint durch Illustrationen, die den Leser2 auf eine eindeutige Lesart festlegen könnten, gefährdet. Auch historisch existierten Vorbehalte gegen die Fotografie von Seiten der Li1 | John Berger, Erscheinungen. In: John Berger/Jean Mohr, Eine andere Art zu erzählen. Frankfurt 2000. S. 92. In allen wörtlichen Zitaten wurde die ursprüngliche Schreibweise beibehalten. Anpassungen an die neue Rechtschreibung wurden nicht vorgenommen. Anführungszeichen wurden in ein einheitliches Format gebracht. 2 | Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

10 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

teraten. Als im Jahr 1839 mit der Fotografie ein neues, technisches Bildmedium in Erscheinung trat, markierte dieses zunächst einen Bruch mit der Literatur: Die Fotografie galt als kühle Technik, die der einsamen magischen Praxis der Literatur radikal gegenüberstand.3 Insgesamt lässt sich festhalten, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Wettstreit zwischen Fotografie und Literatur entstand, der weitaus erbitterter geführt wurde, als vormals zwischen der Malerei und den literarischen Medien.4 Trotz des starken Spannungsverhältnisses zwischen den beiden Medien wagten und wagen sich einige Literaten und Künstler an dieabschnittsüberschrift groß intermediale Verknüpfung von Literatur und Fotografie: Sie bezeugen, dass die Fotografie den literarischen Text eben nicht auf eine Bedeutung festlegt, sondern ihr Bedeutungsdimensionen hinzufügen kann. Sie zeigen, dass die Beziehung zwischen der Literatur und der Fotografie eine komplexe, fruchtbare und stets neu akzentuierbare ist.

1.1 F RAGESTELLUNG In der vorliegenden Arbeit soll das spezifische Verhältnis zwischen dem „Schriftmedium“ Literatur und dem „Bildmedium“ Fotografie eingehend untersucht werden. Mit Hilfe verschiedener Medien, die literarische und fotografische Elemente miteinander verknüpfen, sollen die zahlreichen Wechselwirkungen von Narrativität und Visualität als grundlegende Formen der kulturellen Sinnstiftung untersucht werden. Dabei stehen folgende Fragen im Zentrum der Analysen: Was passiert, sowohl auf struktureller, formaler, semantischer als auch sinnstiftender Ebene, mit einem literarischen Text, wenn dieser Fotografien integriert? Was geschieht mit einer Fotografie, die ihr mediales Spektrum durch die Kombination mit einem literarischen Text erweitert? Wie können literarischer Text und Fotografie miteinander interagieren und wie konturieren die beiden Medien gemeinsam die Bedeutungsdimensionen eines derart intermedialen Kunstwerks? Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, sich dem bildlich-textuellen Verhältnis von Fotografie und Literatur in Theorie und Praxis anzunähern und Wege zu exemplifizieren, wie dieses Verhältnis analysiert werden kann.

3 | Vgl. Ralph Köhnen, Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens. München 2009. S. 374. 4 | Vgl. Köhnen 2009. S. 374-380.

1.2. Annahmen und Thesen | 11

1.2 A NNAHMEN

UND

T HESEN

Als mögliche Antworten auf die soeben formulierten Fragestellungen lassen sich einige Annahmen und Thesen formulieren, die es im Hinblick auf die vorliegende Arbeit zu überprüfen gilt: In der Kombination von Literatur und Fotografie können sich Interpretationen und Aussagen der beiden Einzelmedien ergänzen, bestätigen oder auch widersprechen. Sie können aber auch ohne einen erkennbaren Zusammenhang zum literarischen Text stehen und somit eine neue Perspektive auf die erzählte (bzw. gezeigte) Welt eröffnen. Von dieser Annahme ausgehend, soll zum ersten gezeigt werden, dass das Zusammenspiel der beiden Medien komplexere Bedeutungen ermöglicht, als die Literatur oder die Fotografie für sich allein stehend kommunizieren könnten. Das bedeutet, dass die in dieser Arbeit analysierten intermedialen Kunstwerke stärker wirken, „als die einzelnen Teile zusammengenommen.“5 In einem weiteren Schritt, wenn es um die Frage geht, wie diese komplexen Bedeutungen kommuniziert werden, steht die These im Zentrum, dass die Verbindung von Literatur und Fotografie nicht nur „eine Steigerung und Potenzierung von Komplexität“, sondern weiterhin „eine größere Sichtbarkeit der beiden Einzelmedien“6 ermöglicht. Die Fotografie und auch die Literatur, konturiert sich als Medium der Differenz mit einer spezifischen Medialität, die sich von anderen Gattungen abgrenzt.7 Es wird zu beweisen sein, dass die Verbindung von Literatur und Fotografie in besonderer Weise selbstreflexive Verweise auf ihre eigenen medialen Beschaffenheiten, auf ihre Möglichkeiten und Grenzen hervorruft und somit das Verhältnis der beiden Medien besonders gut zu konturieren vermag.8 Es ist an dieser Stelle von Bedeutung, die Zusammenhänge und Berührungspunkte zwischen den einzelnen Annahmen und Thesen zu berücksichtigen, insbeson-

5 | Erwin Koppen, Literatur und Photographie. Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung. Stuttgart 1987. S. 221. 6 | Annette Simonis, Liebesbriefkommunikation der Gegenwart zwischen alt und neu: Schrifttradition, SMS, MMS und Internet. In: Dies./ Renate Stauf/ Jörg Paulus (Hg.), Der Liebesbrief, Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin/ New York 2008. S. 444. 7 | Vgl. Herta Wolf, Tears of Photography. In: Grey Room, MIT Press, 29, 2007. S. 68. 8 | In diesem Kontext ist es wichtig, auf das Spannungsverhältnis der Medien einzugehen, das auf den ersten Blick von vielen Oppositionspaaren (Authentizität vs. Fiktionalität, Konkretheit vs. Abstraktheit etc.) bestimmt ist, auf den zweiten Blick aber auch Berührungspunkte aufweist.

12 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

dere deswegen, weil die hier formulierten Thesen bislang noch nicht systematisch im Zusammenhang diskutiert worden sind.

1.3 AUSWAHL

DER

U NTERSUCHUNGSGEGENSTÄNDE

Gegenstand der vorliegenden Dissertation sind Medien, die Fotografie und Literatur in einem Werk kombinieren. Beide Medien müssen tatsächlich und materiell vorhanden sein. Verweise des einen Mediums auf das andere sind für die vorliegende Arbeit nicht von Bedeutung, da mediale Selbstreflexivität in der Kombination zweier Medien besser beobachtet werden kann, als wenn der Bezug des einen Mediums auf ein anderes metaphorisch oder durch Verweis hergestellt wird. Eine weitere Eingrenzung wurde insofern getroffen, als dass hauptsächlich Primärwerke untersucht werden, die nach 1980 erschienen sind. Der Grund für diese Auswahl ist, dass in den 1980er Jahren das theoretische Interesse an der Fotografie enorm zunahm. Während Roland Barthes 1977 in einem Interview die Fotografie als „Stiefkind der Kultur“9 bezeichnete, leiteten wenig später zwei der bedeutendsten Schriften der Fototheorie Susan Sontags On Photography (Orig. 1977) und Roland Barthes La chambre claire (Orig. 1980) eine Entwicklung ein, die als „theoretischer Boom“ bezeichnet werden kann.10 Da in der vorliegenden Arbeit davon ausgegangen wird, dass Kombinationen aus Literatur und Fotografie selbstreflexiv ihre eigene Beschaffenheit thematisieren, ist es folgerichtig anzunehmen, dass dieser theoretische Boom und seine Inhalte in den Kunstwerken reflektiert wird. Weiterhin liegt nahe, dass das fotografische Medium durch die vermehrte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seiner Ontologie eine kulturelle Aufwertung erfährt und somit auch für die Literatur an Reiz gewinnt. Außerdem ist seit den 1980er Jahren eine Zunahme an literarisch-fotografischen Werken zu verzeichnen. Ein Grund für die vermehrte Integration von Fotografien in die Literatur ist ein erstarktes Interesse an der Erinnerungskultur. Die Fotografie gilt als ein Medium, welches der Vergangenheit und der Erinnerung besonders nahe

9 | Roland Barthes, Über Fotografie. Interview mit Angelo Schwarz (1977) und Guy Mandery (1979). In: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Frankfurt a.M. 2002. S. 82. 10 | Vgl. Jörn Glasenapp, Die deutsche Nachkriegsfotografie. Eine Mentalitätsgeschichte in Bildern. München 2008. S. 23. Interessanterweise sind diese beiden wichtigen Fotokritiker auch Literaturkritiker. Eine Verbindung zwischen den scheinbar so differenten Medien Literatur und Fotografie liegt somit nahe.

1.4. Übergeordnete Konzepte und Theorien | 13

steht und das deswegen einen gewissen Reiz auf die Gedächtnisliteratur ausübt. Diese Gedächtnisliteratur wurde in Deutschland in den 1990er Jahren unter anderem durch den Fall der Berliner Mauer und den bevorstehenden Tod der letzten Überlebenden des Holocaust populär. Auch die Etablierung der digitalen Fotografie, die die analoge Fotografie scheinbar zum Verschwinden bringt, könnte die literarischen Medien zu einer Auseinandersetzung mit dem „untergehenden Medium” inspirieren. Konkret wurden für diese Arbeit acht Primärwerke ausgewählt, die sich grob in fünf Werkgruppen einordnen lassen. In der ersten Werkgruppe werden fiktionale Texte untersucht, die Fotografien integrieren. Hier wurden W.G. Sebalds Erzählungen Die Ausgewanderten und Jonathan Safran Foers Extrem Laut & Unglaublich Nah ausgewählt. In der zweiten Werkgruppe wurden zwei (auto-)biographische Texte von Monika Maron gewählt. Pawels Briefe und Geburtsort Berlin weisen beide Bezüge zur referentiellen Lebenswirklichkeit der Autorin auf, nutzen die Fotografie jedoch auf ganz unterschiedliche Weise. Die dritte Werkgruppe widmet sich der Fotografie im Comic. Hier wird die dreiteilige Comicreihe Der Fotograf von Didier Lefèvre, Emmanuel Guibert und Frédéric Lemercier vorgestellt. Darauf folgend wird es um die Integration literarischer Texte in Fotografien gehen. Hier bildet die Fotoserie Women of Allah der persisch-amerikanischen Fotografin Shririn Neshat den Untersuchungsgegenstand. Neshat versieht ihre Fotografien nachträglich mit Gedichten persischer Lyrikerinnen. In der fünften und letzten Werkgruppe geht es um die Integration literarischer Texte in Fotobüchern. Zum einen wird Sophie Calles Fotobuch Double Game vorgestellt, zum anderen Michael Lesys Werk Wisconsin Death Trip. In diesen beiden Werken ist die Fotografie das präsentere Medium. Die Auswahl zeigt, dass im heterogenen Korpus darauf geachtet wurde, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen dominant-literarischen und dominant-fotografischen Werken herzustellen. Dieses wurde in bisherigen Studien noch nicht geleistet. Weiterhin sind die besprochenen Kunstwerke als repräsentativ einzustufen. Sie zeigen in besonderem Maße die Komplexität des fotografisch-literarischen Verhältnisses und die Subtilität, mit der es präsentiert wird.

1.4 Ü BERGEORDNETE K ONZEPTE

UND

T HEORIEN

Die vorliegende Arbeit ist interdisziplinär angelegt und untersucht zwei verschiedenartige Künste in ihrer medialen Kombination. Drei Theorien und Konzepte sind bedeutend für diese Arbeit. Da durch die Kombination von Literatur und Fotografie Grenzen zwischen zwei distinkten Medien überschritten werden, ist erstens das Kon-

14 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

zept der Intermedialität als Hintergrund für die Untersuchungen dieser Arbeit von großer Bedeutung. Zweitens sind die Erkenntnisse der Fototheorie entscheidend, um die selbstreflexiven Verweise der Fotografien auf ihre eigene Beschaffenheit zu erkennen und zu beschreiben. Ähnliches gilt für die Literatur und ihre Theorien. Hier sind vor allen Dingen solche Literaturtheorien von Bedeutung, die den ontologischen Kern der Literatur zu erfassen versuchen. Um das Verhältnis von Literatur und Fotografie adäquat skizzieren zu können, sind folglich die Theorien der beiden Künste ebenso von Bedeutung, wie das Konzept der Intermedialität, dass auf das Zusammenspiel der beiden Medien anwendbar ist. 1.4.1 Intermedialität Obwohl das Stichwort „Intermedialität“ aus heutigen kulturwissenschaftlichen Debatten nicht mehr wegzudenken ist, scheint eine exakte Definition dieses Begriffs schwierig zu sein. Irina Rajewsky umschreibt noch im Jahr 2002 die Intermedialität als einen termine ombrello, als einen Schirmbegriff, der in der wissenschaftlichen Diskussion mit den unterschiedlichsten Bedeutungen belegt ist.11 Die wenig transparente Definitionslage zur Intermedialität erschwert die wissenschaftliche Diskussion und macht in Monographien zum Thema immer wieder Erläuterungen zur methodischen und theoretischen Fundierung und sogar zur Bedeutung des Begriffs selbst notwendig. Diese definitorische Unsicherheit sollte aber nicht als Nachteil des Konzepts gewertet werden. Die Mehrdimensionalität und die Wandelbarkeit der intermedialen Konzepte können auch positive Impulse liefern, wie zum Beispiel Jochen Mecke und Volker Roloff erläutern: „Das Gleiten und Entgleiten der Begriffe gehört paradoxerweise [. . . ] zum Prinzip der Intermedialität selbst. Darin liegt aber gerade seine Überlegenheit gegenüber traditionellen Abgrenzungen und Systematisierungen der Fachsprachen einzelner Medien, die die aktuellen Hybridisierungen der Medienszene gar nicht mehr erfassen können.“12

11 | Vgl. Irina Rajewsky, Intermedialität. Tübingen/ Basel: 2002. S. 6/7. 12 | Jochen Mecke/Volker Roloff, Intermedialität in Kino und Literatur der Romania. In: Dies. (Hg.), Kino-(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur. Tübingen 1999. S. 8.

1.4. Übergeordnete Konzepte und Theorien | 15

Intermedialität scheint eines der so genannten Fraktale zu sein, die Komplexität nicht reduzieren, sondern verdeutlichen.13 Dennoch ist es, mindestens um einen gemeinsamen Redegegenstand zu definieren, absolut notwendig und in einem gewissen Rahmen auch möglich, sich dem komplexen Konzept der Intermedialität theoretisch anzunähern. Grundsätzlich bezeichnet Intermedialität ein „Überschreiten von Grenzen zwischen konventionell als distinkt angesehenen Ausdrucks- oder Kommunikationsmedien“14 oder anders formuliert „die interrelationale Verschränkung symbolischnarrativen Materials in verschiedenen medialen Formaten und Genres”15 . Der Terminus ist also ein Oberbegriff für die Gesamtheit der Phänomene, die Mediengrenzen durchdringen.16 Hier sollte aber grundsätzlich festgehalten werden, dass bei der Betrachtung künstlerischer Werke im Hinblick auf ihre intermediale Qualität nicht außer Acht gelassen werden darf, dass lediglich ein Auftreten zweier Medien nicht automatisch ein Beweis für intermediale Phänomene ist. Werner Wolf schreibt: „Ich möchte daher die bloße Thematisierung [. . . ] aus dem Geltungsbereich der Intermedialität ausgrenzen und erst die (zusätzliche) Inszenierung eines Fremdmediums in einem Werk (in Form von Imitation, Integration oder wenigstens Kombination) als Intermedialität ansprechen.“17 Um aus einem medialen Produkt ein intermediales Produkt zu schaffen, reicht ein Nebeneinander mehrerer Medien nicht aus. Die verschiedenen Medien müssen in einem konzeptionellen Miteinander verschmelzen, das dem Rezipienten neue Dimensionen des Erfahrens eröffnet.18 Das gilt vor allem für die vorliegende Arbeit: Es wird von Intermedialität als einem Konzept ausgegan-

13 | Ebd. 14 | Werner Wolf, Intermedialität. In: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar 2004. 15 | Wolfgang Müller-Funk, Die Kultur und ihre Narrative : eine Einführung. Wien 2008. S. 172. 16 | Vgl. Rajewsky 2002. S. 12. Insgesamt dienen in der vorliegenden Arbeit die etablierten Konzepte von Werner Wolf und Irina Rajewsky als operationalisierbare Hintergrundfolie. Dieses bedeutet aber nicht, dass ihr Konzept nicht an einigen Stellen hinterfragt oder modifiziert wird. 17 | Wolf 1996. S. 87/88. 18 | Vgl. Jürgen E. Müller, Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte. In: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998. S. 31/32.

16 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

gen, das sowohl auf Produktions- als auch auf Rezeptionsebene mitreflektiert werden sollte.19 Im Folgenden sollen (inter)mediale Konzepte näher spezifiziert werden. 1.4.1.1 Medien: (k)ein Definitionsversuch Der Begriff der Intermedialität enthält den des Mediums, wodurch eine Annäherung an diesen Begriff für das Verständnis von Intermedialität notwendig erscheint. Jede Intermedialitätstheorie muss davon ausgehen, dass Medien sich voneinander unterscheiden und abgrenzen. Gleichzeitig ist aber unbestritten, dass Mediengrenzen verwischen können und dass verschiedene Aspekte, die das Wesen eines Mediums bestimmen, Konventionen und historischen Veränderungen unterworfen sind. Der Begriff Einzelmedium sollte außerdem nicht mit Monomedialität gleichgesetzt werden. In meiner Arbeit möchte ich von einem „relativen Konstruktcharakter”20 der Medien ausgehen. Das bedeutet, dass Medien trotz ihrer historischen Wandelbarkeit eine Art ontologischen Kern besitzen, der sie von anderen Medien unterscheidet. Auch wenn beispielsweise eine Fotografie die Malerei imitiert, auf sie verweist oder ihre Funktionsweisen nachahmt, so bleibt sie doch eine Fotografie. Sie bleibt etwas, das sich vom Gemälde unterscheidet. An dieser Stelle sollte jedoch berücksichtigt werden, dass gewisse Kombinationen aus unterschiedlichen Medien zu einer eigenen medialen Form gefunden haben, so wie etwa die Oper oder die so genannten film stills. Jenseits dieser Grundannahme ist eine nähere Bestimmung des Medienbegriffs jedoch mit großen Schwierigkeiten verknüpft. Zum einen existieren sehr weit gefasste Defintionen, wie etwa McLuhans Diktum, das besagt, dass Medien „extensions of man”21 seien. Diese von McLuhan gesetzte Definition fasst den Medienbegriff so weit, dass selbst Alltagsgegenstände als „extensions of man” und somit als Medien 19 | Ähnliches hat Ulrich Broich 1985 auch für intertextuelle Bezüge gefordert. Für diese sollte gelten, dass „nicht nur Autor und Leser sich der Intertextualität eines Textes bewusst sind, sondern [. . . ] jeder der beiden Partner des Kommunikationsvorgangs darüber hinaus das Intertextualitätsbewußtsein seines Partners miteinkalkuliert.“(Ulrich Broich/ Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: 1985. S. 31.) 20 | Diesen Begriff verdanke ich Irina Rajewsky. Sie verwendete ihn in ihrer Keynote Lecture auf dem von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördertem Forschungskolloquium „Mediales Erzählen. Medialiät, Intermedialität, Transmedialität“ am 12.09.2009 in Hamburg. 21 | Marshall McLuhan, Understanding Media: The Extensions of Man. New York 1964.

1.4. Übergeordnete Konzepte und Theorien | 17

gewertet werden können.22 Diese Annäherung an den Begriff ist für die (literaturwissenschaftliche) Auseinandersetzung mit Intermedialität aber insofern problematisch, als dass sie viel zu viele Medien innerhalb eines Werkes produzieren würden. Sehr eng gefasste Medienbegriffe hingegen lassen meist nicht genug Raum für die Erscheinungsformen unterschiedlicher Medien.23 Die enorme Spannbreite der Definitionen verrät bereits, dass sich die Medienwissenschaft bislang nicht auf einen gemeinsamen Medienbegriff festlegen konnte und wollte. Albert Kümmel und Petra Löffler konstatieren: „Der Beliebtheit des Medienbegriffs in aktuellen geisteswissenschaftlichen Diskussionen entspricht seine Unschärfe. Zahlreiche Theorieangebote kreisen um ihren Gegenstand wie ein Taifun um sein bekanntermaßen leeres Auge. Dennoch haben sich weder ontologische noch funktional Medientheorien auf eine gemeinsame Definition einigen können.”24

Die Medienwissenschaft ist sich folglich einig über die Uneinigkeit in der so wichtig scheinenden Bestimmung ihres Gegenstandes. Bernhard Dotzler bringt dieses Dilemma präzise auf den Punkt, wenn er schreibt: „[...] nichts scheint dringender, aber nichts wäre auch fruchtloser als definieren zu wollen, was Medien eigentlich sind.”25 Auf die definitorische Unsicherheit in der Begriffsbestimmung soll hier zum einen mit Marie Laure Ryan und zum anderen mit einem Vorschlag Martin Seels reagiert werden. Ryan definiert Medien in der Form, wie sie für Betrachtungen intermedialer Phänomene fruchtbar gemacht werden können und schreibt: „Medium as used in literary and intermediality studies, is a conventionally and culturally distinct means of communication, specified not only by particular technical or institutional channels [...] but primarily by the use of one or more semiotic systems in the public transmission of contents that include, but are not restricted to, referential ,messages’.”26

22 | Vgl. Werner Wolf, The Relevance of Mediality and Intermediality to Academic Studies of English Literature. In: Martin Heusser/Andreas Fischer/Andreas H. Jucker (Hg.), Mediality/Intermediality. Tübingen 2008. S. 18. 23 | Ebd. 24 | Albert Kümmel/Petra Löffler, Einleitung. In: Dies. (Hg.), Medientheorie 18881933: Texte und Kommentare. Frankfurt a.M. 2002. S. 11. 25 | Bernhard J. Dotzler, Die Adresse des Mediums: Einleitung. In: Stefan Andriopoulos/Gabriele Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums. Köln 2001. S. 9. 26 | Marie Laure Ryan, Media and Narrative. zitiert nach Wolf 2008. S. 290.

18 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

Es geht Ryan also nicht um eine allgemeingültige Festlegung des Medienbegriffs, sondern um eine sinnvolle Konturierung innerhalb der (literaturwissenschaftlichen) Intermedialitätsdebatten, sie betont hier insbesondere die distinkte semiotische Form der gängigen Kommunikationsmedien. Martin Seel zielt in eine ähnliche Richtung, wenn er fordert: „Eine ausgearbeitete Theorie der Medien hätte eine Theorie der Differenz und des Verhältnisses der unterschiedlichen Arten von Medien zu sein.”27 In der vorliegenden Arbeit geht es um das Verhältnis von Literatur und Fotografie, es wird also ein kleiner Schritt im Sinne der Forderung Seels vorgenommen und versucht, die spezifischen Besonderheiten zweier distinkter Medien gegenüberzustellen. Selbstverständlich müssen vor diesem Hintergrund intermediale Konzepte reflektiert werden. 1.4.1.2 Intermediale Kategorien Intermediale Phänomene lassen sich näher in Kategorien spezifizieren. Die drei Erscheinungsformen des Intermedialen sind Medienwechsel, intermediale Bezüge und Medienkombination.28 Beim Medienwechsel wird ein bereits bestehendes Werk in ein neues, anderes Medium übertragen. Als Beispiel für den Medienwechsel wäre etwa die Literaturverfilmung, oder umgekehrt, das Buch zum Film zu nennen.29 Für intermediale Bezüge gilt, dass der Kontakt zwischen zwei Medien metaphorisch vollzogen wird. Dies bedeutet: Der Bezug eines Mediums zu einem anderen wird durch implizite oder explizite Verweise hergestellt. Das semiotische System des

27 | Martin Seel, Medien der Realität und Realität der Medien. In: Sybille Krämer (Hg.), Medien, Computer, Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M. 2000. S. 257. 28 | Vgl. Rajewsky 2002. S. 12 29 | Vgl. Franziska Mosthaf, Metaphorische Intermedialität. Formen und Funktionen der Verarbeitung von Malerei im Roman. Theorie und Praxis in der englischsprachigen Erzählkunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Trier 2000. S. 5/6. Im Zusammenhang mit dem Medienwechsel sollte noch kurz die Transmedialität Erwähnung finden. Unter diesem Begriff sind Verfahren subsumiert, „die man als medienunspezifische Wanderphänomene bezeichnen könnte.“ (Rajewsky 2002. S. 12) Dieses bedeutet, dass ein Stoff in verschiedenen Medien umgesetzt wird. Im Gegensatz zum Medienwechsel ist es in der transmedialen Forschung nicht wichtig oder auch nicht möglich, ein Ursprungsmedium auszumachen. Mythen und Legenden beispielsweise sind nicht an ein Ursprungsmedium gebunden und können auf verschiedenste Weise, sowohl filmisch als auch literarisch oder malerisch medial umgesetzt werden.

1.4. Übergeordnete Konzepte und Theorien | 19

kontaktnehmenden Mediums30 bleibt dabei einheitlich und geschlossen.31 Materiell präsent ist also nur dieses kontaktnehmende Medium.32 Die Verweise des einen Mediums auf ein anderes können sowohl inhaltlich, wie etwa durch Ekphrasis, als auch formal, wie etwa durch einen an die Musik angelehnten Sprachrhythmus, verlaufen. Sie können auf ein gesamtes System, wie etwa die Musik als Kunstform (Systemreferenz) oder auf ein einzelnes Werk, wie etwa einen bestimmten Popsong (Einzelreferenz), verweisen. Der dritte Phänomenbereich der Intermedialität, die Medienkombination, verbindet mindestens zwei verschiedene Medien in einem Werk. Beide Medien sind im Werk materiell präsent. Typische Beispiele für Medienkombinationen sind der Fotoroman, der Film oder die Oper. Ich möchte an dieser Stelle Medienkombinationen noch einmal in zwei Kategorien unterscheiden, die ich „offene” und „verdeckte” Medienkombinationen nennen möchte. In offenen Medienkombinationen sind die beteiligten Medien für alle Rezipienten sofort erkenn- und erfaßbar. In Fotoromanen ist es beispielsweise offenkundig, dass hier Fotografien und literarische Texte miteinander kombiniert werden. In verdeckten Medienkombinationen sind die beteiligten Medien derart miteinander verschmolzen, dass sie für den Rezipienten kaum noch greifbar sind und sich zu einem eigenständigen Medium entwickelt haben.33 Comics beispielsweise werden kaum noch als Text-Bild-Kombination verstanden34 , sondern vielmehr als eigenständige Kunstform. Auch der Film wird als eigenständiges Medium und nicht unbedingt als Hybrid aus Sprache, bewegtem Bild und Musik wahrgenommen. Die Polymedialität dieser Ausdrucksformen ist folglich medienkonstitutiv. Selbstverständlich existieren zwischen diesen beiden Formen der Medienkombination Grenzverwischungen: Bilderbücher für Kinder haben sich als eigenständige Ausdrucksform etabliert, dennoch ist für den Rezipienten die Kombination aus Text und

30 | Vgl. zu dem Terminus „kontaktgebendes/kontaktnehmendes Medium“: Werner Wolf, Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs „The Sting Quartet.“ In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21, 1996. S. 85-116. 31 | Vgl. Mosthaf 2000, S. 7. 32 | Vgl. Rajewsky 2002. S. 17/19. 33 | Die unterschiedlichen Formen der Medienkombination deutet Irina Rajewsky bereits an, wenn sie schreibt, dass die Kombination zweier Medien „zur Herausbildung eigenständiger Kunst- oder Mediengattungen” führen könne. (Rajewsky 2002. S. 15.) 34 | Hier ist zu berücksichtigen, dass es auch Comics gibt, die ganz ohne Text auskommen.

20 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

Bild offenkundig. Ferner sollte berücksichtigt werden, dass in einem, beispielsweise literarischen, Werk selbstverständlich auch alle drei Kategorien von Intermedialität (Medienwechsel, intermedialer Bezug, Medienkombination) gemeinsam auftreten können.35 Für die vorliegende Arbeit ist die offene Medienkombination der wichtigste Erscheinungsbereich der Intermedialität, da sie ein Auswahlkriterium für alle gewählten Untersuchungsobjekte darstellte. 1.4.1.3 Differenzierungsmöglichkeiten Neben Irina Rajewskys Unterteilung des Intermedialen in Kategorien, schlägt Werner Wolf weitere Kriterien vor, um das komplexe Phänomen Intermedialität zu differenzieren. Er gibt an, dass sich Intermedialität nach folgenden Kriterien näher unterscheiden lasse: – – – – –

nach beteiligten Medien nach der Dominanzbildung nach der Genese der Intermedialität nach der Quantität der intermedialen Bezugnahmen nach der Qualität der intermedialen Bezugnahmen

Diese Differenzierung ist typologischer Natur.36 Für die vorliegende Arbeit bedeutet das zum ersten, dass Literatur und Fotografie beteiligt sind. Zum zweiten muss darauf geachtet werden, ob die Literatur oder die Fotografie im Werk einen dominanten Part einnimmt, oder ob das Verhältnis zwischen den Medien ausgeglichen ist. Ich möchte Wolfs zweites Kriterium insofern erweitern, als dass ich zwischen quantitativer und qualitativer Dominanz unterscheiden möchte. Die quantitative Dominanz bezieht sich schlicht auf die Menge von literarischem Text und abgedruckter Fotografie, die qualitative Dominanz bezieht sich auf die Rolle des Einzelmediums bei der Konstruktion von Bedeutung. Die Frage nach der Genese der Intermedialität lässt sich zunächst gut auf die Kategorien Rajewskys beziehen. Für die Medienkombination zwischen Literatur und Fotografie bedeutet dies, dass beispielsweise auch Fragen nach der Herkunft der Fotografien bedeutsam werden können. Da es bei den letzten beiden Kriterien um intermediale Bezugnahmen und nicht etwa um Medienkombination geht, sind diese für die vorliegende Arbeit nicht von Bedeutung, der Unterschied zwischen quantitativer und qualitativer Dominanzbildung ist allerdings hier bereits angelegt. 35 | Vgl. Rajewsky 2002. S. 18/19. 36 | Vgl. Wolf 2004. Intermedialität.

1.4. Übergeordnete Konzepte und Theorien | 21

Neben Intermedialität findet auch der Begriff Intermedialisierung Verwendung. Dieser Terminus verweist auf den prozesshaften Charakter des Phänomens.37 Für die vorliegende Arbeit ist dieser Begriff insofern relevant, als dass der Entstehungsprozess der Medienkombinationen, sofern er nachvollziehbar ist, mitreflektiert wird. 1.4.1.4 Probleme der Intermedialitätsforschung Bei der Analyse intermedialer Phänomene existieren einige grundsätzliche Schwierigkeiten, die es mitzubedenken gilt. Zum ersten wäre die bereits mehrfach erwähnte unpräzise Definitionslage zu nennen. Die Begriffe Medien, Intertextualität, Intermedialität, Text und Bild erfahren in wissenschaftlichen Arbeiten häufig Bedeutungsverschiebungen. Es fehlt bislang ebenfalls an einer methodischen Fundierung zur Untersuchung intermedialer Phänomene. Diese Tatsache resultiert unter anderem daraus, dass in der Intermedialitätsforschung unterschiedliche Medien (Künste) untersucht werden, die jeweils unterschiedliche Analysekriterien verlangen. Diese Problematik gilt vor allem für die Medienkombination, da hier mehrere Medien tatsächlich und materiell in einem Werk präsent sind. Es „besteht bei der Untersuchung hybrider Medien immer die Gefahr einer diffusen Zielsetzung aufgrund der generellen Inkongruenz der Analysekategorien der betroffenen Wissenschaften.“38 Hinzu kommt, dass die Autorinnen und Autoren wissenschaftlicher Beiträge zum Thema Intermedialität zumeist einer bestimmten Wissenschaftsrichtung angehören. Werner Wolf formuliert dieses wie folgt: „Intermediality research by definition integrates two scholarly fields, whereas scholars in the majority of cases (and in my case, too) are experts in one field only and mere amateurs in the second one.”39 In der vorliegenden Arbeit werden die Medienkombinationen aus einer komplementären Perspektive aus Literatur- und Kunstwissenschaft untersucht, da Intermedialität eine Interdisziplinarität erfordert, die aufgrund der Spezialisierung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen zwar schwierig, aber dennoch notwendig ist. Dabei werden zunächst die disziplinären Grundlagen der Literatur- und Fototheorie berücksichtigt. Erst in einem zweiten Schritt werden die Analyseergebnisse

37 | Vgl. Ansgar Nünning, Zwischen der realistischen Erzähltradition und der experimentellen Poetik des Postmodernismus: Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen des englischen Romans seit dem Zweiten Weltkrieg aus gattungstheoretischer Perspektive. In: Ders. (Hg.), Eine andere Geschichte der englischen Literatur. Epochen, Gattungen und Teilgebiete im Überblick. Trier 2004. S. 233. 38 | Mosthaf 2000. S. 7. 39 | Werner Wolf, The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality. Amsterdam/Atlanta 1999. S. 6.

22 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

miteinander in Verbindung gesetzt. Dieses Vorgehen ist angelehnt an eine Forderung Werner Wolfs, der fast zehn Jahre nach seiner Formulierung der Probleme der Intermedialitätsforschung schreibt: „Like all interdisciplinary studies, interdisciplinarity requires first and foremost disciplinary, otherwise it would loose its basis.”40 Anders als Wolf, der die Literaturwissenschaft als „interface for all other media”41 etablieren möchte, sollen hier die beiden Medien Literatur und Fotografie auf Augenhöhe betrachtet werden. Eine weiteres Problem liegt darin, dass, wie in Kapitel 1.4.1.1. bereits erwähnt worden ist, von einer grundsätzlichen Unterscheidbarkeit der Medien ausgegangen werden muss. Das impliziert, dass historische Veränderungen in der Konstruktion und Bestimmung eines Mediums häufig nicht angemessen berücksichtigt werden können und dass Randphänomene oder Ausnahmeerscheinungen oft keine angemessene Beachtung erfahren. Gerade Abgrenzungsversuche von Medien untereinander führen oft dazu, dass der historischen und soziokulturellen Bandbreite eines Mediums nicht genügend Aufmerksamkeit zuteil wird. Generell soll die Nennung der Probleme bei der Erforschung intermedialer Phänomene keineswegs wissenschaftliche Beiträge relativieren, sondern lediglich Problembewusstsein fördern und anregen, eine metawissenschaftliche Diskussion zur Intermedialitätsproblematik zu führen. 1.4.2 Fototheorie Seit der Erfindung der Fotografie im Jahr 1839 entstehen auch erste theoretische Schriften zu diesem Medium. Während die Diskussion zu Beginn vor allem von der Frage geprägt war, wie kunstwürdig die Fotografie sei, so beschäftigten und beschäftigen sich spätere Schriften vor allem mit der Frage nach dem Wesen der Fotografie und was dieses Medium von anderen (Bild-)Medien unterscheidet. Genau diese Fragestellungen der Fototheorie sind bedeutsam für die vorliegende Arbeit. Es soll um die spezifischen Qualitäten des Mediums Fotografie gehen, um ihre Möglichkeiten, ihre Grenzen, ihre Besonderheiten, kurz: um die Ontologie des fotografischen Bildes. Hier interessiert insbesondere das Verhältnis des Mediums zur Literatur. Außerdem ist es wichtig, innerhalb der Fototheorie sensibel für Möglichkeiten zur Analyse des Mediums zu sein. Auch die Bestimmung des fotografischen Mediums ist historisch kontextualisier- und daher wandelbar. Daher sind für diese Arbeit besonders diejenigen Theorien interessant, die um und nach 1980 formuliert 40 | Wolf 2008. S. 39. 41 | Ebd.

1.5. Forschungsstand | 23

wurden. Bei diesen kann davon ausgegangen werden, dass sie sich auf die besprochene Literatur und darin enthaltene Fotografien am besten beziehen lassen. 1.4.3 Literaturtheorie Im Gegensatz zur Fototheorie beschäftigt sich die Literaturtheorie seltener mit der Frage, was die Literatur ausmacht, was sie leisten und was sie nicht leisten kann. Theoretische Schriften zur Literatur beschäftigen sich selten mit ihrem „Wesen“, sondern meist mit den Möglichkeiten des adäquaten Umgangs mit diesem Medium. Für die vorliegende Arbeit sind vor allem die seltenen Schriften relevant, die sich mit den medialen Besonderheiten von literarischen Texten auseinandersetzen und die nach dem Wesen des literarischen Textes forschen. Dennoch sind die wissenschaftlichen Theorien zur Analyse von literarischen Texten von Bedeutung, da überlegt wird, inwiefern sich narratologische Konzepte und Begriffe auch auf die Betrachtung von Fotografien anwenden lassen.42

1.5 F ORSCHUNGSSTAND Ausgehend von den für diese Arbeit wichtigen Theorien und Konzepten, soll auch der Forschungsstand in verschiedene Unterkategorien eingeteilt werden. 1.5.1 Literatur und Fotografie Während den Beziehungen zwischen Text und Bild im Allgemeinen seit jeher eine großes wissenschaftliches Interesse zuteil wird, stellen Medien zwischen Literatur und Fotografie ein weniger erforschtes wissenschaftliches Betätigungsfeld dar. Hier sind vor allen Dingen die Monographie von Erwin Koppen mit dem Titel Literatur und Photographie. Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung aus dem Jahr 1987 und sein fünf Jahre später erschienener Aufsatz Über einige Beziehungen zwischen Photographie und Literatur zu nennen. Monographisch ist das Wechselspiel zwischen diesen beiden Medien außerdem im Hinblick auf den Fotoroman näher beleuchtet. Hier widmet sich Thomas von Steinaecker beispielsweise den Fototexten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds.43 Jüngst 42 | Welche konkreten literatur- und fototheoretischen Schriften von Bedeutung sind, wird im Forschungsstand (Kap. 1.5) angegeben. 43 | Vgl. Thomas von Steinaecker, Literarische Fototexte. Zur Funktion der Foto-

24 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

erschienen ist Marina Hertrampfs umfassende Studie zu Fotografie und Roman, die sich unter anderem dem Werk Patrick Devilles widmet.44 Dem Verhältnis von Fotografie und Sprache wird sehr eindrücklich in der 1999 erschienenen Monographie The spoken image von Clive Scott nachgegangen. Scott unterscheidet allerdings nicht zwischen literarischen Texten und anderen Textsorten. Silke Horstkotte führt Fotografie und Erinnerung in ihrer Schrift Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur (2009) zusammen. Auch sie widmet sich unter anderem den Texten W.G. Sebalds, deren visuelle Elemente mittlerweile sehr gut erforscht sind. Fotografie und Narration werden beispielsweise in der Monographie Hybrides Erzählen. Text-Bild-Kombinationen bei Jean Le Gac und Sophie Calle (2008) untersucht. Hier lassen sich auch wichtige Schnittstellen für das Verhältnis von Literatur und Fotografie herausarbeiten. Ein umfassenderer Überblick zu den verschieden Formen und Funktionen der Kombinationen aus Literatur und Fotografie wurde bislang noch nicht geleistet. Diese Lücke möchte die vorliegende Arbeit schließen. 1.5.2 Text-/Bild-Forschung Anders präsentiert sich die Forschungslage zum Text/Bild-Verhältnis im Allgemeinen. Die Beziehung zwischen Verbalität und Visualität gilt als ein Schlüsselthema der gegenwärtigen Kulturwissenschaft. Bilder sind keinesfalls mehr „einem dominanten Text-Paradigma unterzuordnen”45 , sondern werden als dem Text ebenbürtig verstanden. Einige der grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Text und Bild können auch für die spezielle Relation von Literatur und Fotografie fruchtbar gemacht werden. Als exemplarisch für die zahlreichen Sammelbände zum Verhältnis von Text und Bild möchte ich hier die Werke von Heinz J. Drügh und Maria-Moog Grünewald (2001), Ulla Fix und Hans Wellmann (2000), Annegret Heitmann und Joachim Schie-

grafien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. Bielefeld 2007. 44 | Vgl. Marina Ortrud M. Hertrampf, Photographie und Roman. Analyse – Form – Funktion. Intermedialität im Spannungsfeld von nouveau roman und postmoderner Ästhetik im Werk von Patrick Deville. Bielefeld 2011. 45 | Silke Horstkotte/Karin Leonhard, Einleitung. „Lesen ist wie Sehen” - über Möglichkeiten und Grenzen intermedialer Wahrnehmung. In: Silke Horstkotte/Karin Leonhard (Hg.), Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text. Köln/Weimar/Wien 2006. S. 1.

1.5. Forschungsstand | 25

dermair (2000) oder auch Thomas Eicher und Hans Bleckmann (1994) nennen. Auch der Band Sehen ist wie Lesen (2006), herausgegeben von Karin Leonhard und Silke Horstkotte geht ausführlich auf intermediale Zitate in Text und Bild ein. Die angelsächsische Zeitschrift Word and Image beschäftigt sich ausschließlich mit der Relation von Text und Bild.46 1.5.3 Intermedialität Das dieser Arbeit übergeordnete Konzept der Intermedialität ist seit den Neunziger Jahren Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Aufsätze und Monographien. Im Jahr 1996 plädierte Werner Wolf für Intermedialität als ein neues Paradigma der Literaturwissenschaft.47 Auch wenn zu diesem Zeitpunkt schon einige Texte zum Phänomen der Intermedialität unter dieser Bezeichnung verfasst waren,48 so waren es doch die 1990er Jahre, in denen Intermedialität zu einem der wichtigsten Schlagworte der Literatur- und Kulturwissenschaften avancierte. Verschiedene Monographien und Sammelbände dieser Jahre führen den Begriff „Intermedialität“ im Titel, so beispielsweise der von Jörg Helbig herausgegebene Sammelband Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets (1998) oder die Monographie Jürgen E. Müllers Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation (1996). Spätestens der Eintrag zur Intermedialität im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (1998) beweist das wissenschaftliche Interesse an diesem Forschungsfeld. Ein Überblick über die Arbeiten zur Theorie der Intermedialität lässt sich im Forschungsüberblick Intermedialität (2000), herausgegeben von Mathias Mertens, finden. In den folgenden Jahren erschienen beispielsweise der Band Mediality/Intermediality (2008), herausgegeben von Martin Heusser, Andreas Fischer und Andreas H. Jucker, die Monographie Transmediale Erzähltheorie (2007) von Nicole Mahne, aber vor allem spezifische Studien zu bestimmten Kategorien der Intermedialität. Hier wären beispielsweise Franziska Mosthafs Dissertationsschrift Metaphorische

46 | Weitere Literatur zum Thema findet sich in der Fußnote 42 der Monographie Hybrides Erzählen. Text-Bild-Kombinationen bei Jean Le Gac und Sophie Calle (2008) von Stefanie Rentsch, die gleichzeitig eine der neueren Publikationen zur Text/BildForschung darstellt. 47 | Vgl. Wolf 1996. S. 85-116. 48 | Der erste deutschsprachige Aufsatz, der sich mit dem Thema Intermedialität beschäftigt, stammt von Aage A. Hansen-Löve. Er wurde 1983 unter dem Titel Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort und Bildkunst am Beispiel der russischen Moderne veröffentlicht.

26 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

Intermedialität. Formen und Funktionen der Verarbeitung von Malerei im Roman (2000) oder Irina O. Rajewskys Monographie Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne (2003) zu nennen. An diese Forschungen knüpft das geplante Dissertationsprojekt an und kann dennoch zahlreiche innovative Ansätze bieten. „Intermedialität“ in der heutigen Verwendungsweise ist noch ein recht junger Begriff, der viel Raum für neue Forschungen lässt. Für Texte der Text-/Bild- und der Intermedialitätsforschung gilt gleichermaßen, dass sie häufig literaturwissenschaftlich geprägt sind und somit auch ein literaturtheoretisches Fundament für die vorliegende Arbeit bieten (vgl. Kapitel 1.5.4.). 1.5.4 Literatur- und Fototheorie Einen weiteren Hintergrund dieser Arbeit bilden Schriften zur Literatur- und Fototheorie. Für die Überlegungen zur Fototheorie bilden die kanonischen Werke von Roland Barthes (Die helle Kammer) und Susan Sontag (Über Fotografie) einen wichtigen Bezugspunkt. Aber auch neuere, kleinere Schriften zur Ontologie des fotografischen Bildes sind von Bedeutung. Diese finden sich umfassend in den vier Bänden zur Theorie der Fotografie 1839-1995, herausgegeben von Wolfgang Kemp (Bd. 1-3) und Hubertus von Amelunxen (Bd. 4). In der vorliegenden Arbeit werden im Wesentlichen die Texte des vierten Bandes thematisiert, da diese nach 1980 erschienen sind. Eine weitere sinnvolle Zusammenstellung von fototheoretischen Texten findet sich in den von Herta Wolf herausgegebenen Bänden Paradigma Fotografie (Bd.1) und Diskurse der Fotografie (Bd. 2). Interessante Reflexionen aus praktischer Sicht bietet die Monographie Eine andere Art zu erzählen von John Berger und Jean Mohr und die Schrift Das ist Fotografie von Andreas Feininger.49 Den literaturtheoretischen Hintergrund für diese Arbeit bilden neben zahlreichen literaturwissenschaftlichen Schriften zum Text-/Bild-Verhältnis (vgl. Kapitel 1.5.2. Text/Bild Forschung) und zur Intermedialität (vgl. Kapitel 1.5.3) zum einen narratologische und semiotische Studien, zum anderen aber auch Schriften zur Medialität der Literatur.

49 | Es ist meines Erachtens nach eine große Bereicherung für die Fototheorie, dass sich Fotografen ohne wissenschaftlichen Hintergrund zum Wesen ihres Mediums äußern.

1.6. Vorgehensweisen und Methoden | 27

1.6 VORGEHENSWEISEN

UND

M ETHODEN

Trotz der nahezu unüberschaubaren Menge an Publikationen zu Text-Bild-Verhältnissen 50 hat sich noch kein methodischer Kanon für den wissenschaftlichen Umgang mit diesem intermedialen Phänomen herausgebildet.51 Obwohl seit den 1990er Jahren zahlreiche Versuche unternommen wurden, um eine einheitliche Theoriebildung zur Erforschung von Text-Bild-Verhältnissen voranzutreiben, hat sich auch im 21. Jahrhundert noch kein einheitliches Analyseinstrumentarium etabliert. In jüngerer Zeit wird es zunehmend anerkannt, unterschiedliche Methoden zur Betrachtung intermedialer Kunstwerke heranzuziehen.52 Auch in der vorliegenden Arbeit werden literatur- und kunstwissenschaftliche Methoden miteinander kombiniert. Die literarischen Texte werden mittels narratologischer Verfahren und close reading aufgeschlüsselt, die Analyse der Fotografien hingegen erfolgt durch klassische Verfahren der Bildanalyse unter besonderer Berücksichtigung der medialen Besonderheiten der Fotografie. Trotz zahlreicher interdisziplinär anwendbarer Theorien verbleiben die Methoden zur Analyse von Kunstwerken also doch innerhalb ihrer disziplinären Schranken. Wenn die beteiligten Medien jeweils unterschiedlich, jeweils mit den Möglichkeiten ihres Fachs, untersucht werden, so ist es in einem zweiten Schritt von enormer Wichtigkeit, die Ergebnisse der einzelnen Analysen miteinander in Beziehung zu setzen. Hier kann es sich dann auch lohnen, den Versuch zu wagen, die Methoden des einen Faches auf den Gegenstand des anderen anzuwenden, beispielsweise einzelne Begriffe der Narratologie auf das fotografische Bild zu übertragen. In der vorliegenden Arbeit geht es um kulturelle Sinnstiftung, um Bedeutung vor dem Hintergrund einer medial ausdifferenzierten Wirklichkeit. Hier liegt, da es im weitesten Sinne darum geht, Bedeutungsdimensionen zu erschlüsseln, der Schluss nahe, dass es sich um eine hermeneutische Arbeit handelt. Da die Hermeneutik aber zum einen keine Methode darstellt und sich zum anderen lediglich mit der „Auslegung schriftlicher Texte“53 beschäftigt, spielt sie für die vorliegende interdisziplinäre Arbeit nur partiell eine Rolle. 50 | Vgl. Kapitel 1. 5 zum Forschungsstand 51 | Stefanie Rentsch, Hybrides Erzählen. Text-Bild-Kombinationen bei Jean Le Gac und Sophie Calle. München 2008. S. 37. 52 | Vgl. Rentsch 2008. S. 37-41. 53 | Dorothee Kimmich, Hermeneutik. Einleitung. In: Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner und Bernd Stiegler (Hg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 1996. S. 17.

28 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

Eine weitere sehr wichtige Vorgehensweise dieser Arbeit ist die Suche nach selbstreflexiven Äußerungen der Medien. Wo äußern sich, direkt und indirekt, Literatur und Fotografie über ihre eigene Beschaffenheit? Auf welche theoretischen Schriften greifen sie eventuell zurück und inwiefern werden diese interpretiert und modifiziert? In diesem Sinne geht es aber weniger um traditionelle Einflussforschung, sondern vor allem um die Frage, wie die Autoren und Künstler mit bestehenden Texten umgehen und wie sie sich auf ästhetische Weise in ihren Werken zu diesen verhalten und äußern. Obwohl eine einheitliche Theoriebildung für Kombinationen aus Literatur und Fotografie an dieser Stelle weder für möglich gehalten noch angestrebt wird, so kann die vorliegende Arbeit dennoch sowohl theoretisch als auch exemplarisch auf Elemente hinweisen, die den Ausgangspunkt einer Betrachtung zwischen den beiden Medien bilden können. Nicht selten funktionieren Text-Bild-Verhältnisse nach ähnlichen Mustern, deren Kenntnis bereits eine solide Basis für tiefergehende Betrachtungen bilden kann.

1.7 AUFBAU

DER

A RBEIT

Bevor sich die vorliegende Arbeit den wissenschaftlichen Konzeptualisierungen zum Verhältnis von Literatur und Fotografie widmet, soll innerhalb der einleitenden Kapitel noch darauf eingegangen werden, wie sich die Fotografie innerhalb neuerer Studien zum Wesen des Bildes konturiert und inwiefern der sogenannte Pictorial Turn gerade im Hinblick auf das Verhältnis von Literatur und Fotografie neu überdacht werden muss. Anschließend an diese Überlegungen werden theoretische Schriften gegenübergestellt, die das Verhältnis von Literatur und Fotografie zu konturieren versuchen. Hier werden die wichtigsten Spannungsfelder zwischen den beiden Medien ausführlich diskutiert. Meist wird an dieser Stelle zunächst von einer Opposition der Medien ausgegangen, die innerhalb der Überlegungen jedoch abgeschwächt wird. Es wird gezeigt, dass Literatur und Fotografie trotz zunächst angenommener fundamentaler Unterschiede durchaus Berührungspunkte aufweisen. Am Ende dieser Überlegungen werden in zwei aufeinanderfolgenden Unterkapiteln formale und funktionale Kriterien zur Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Fotografie formuliert. Auf die formulierten Konzeptualisierungen zum literarisch-fotografischen Verhältnis folgt eine Vorstellung der literarisch-fotografischen Konzepte. Dieser dritte und umfangreichste Teil widmet sich Primärwerken, die eine Kombination der Me-

1.8. Die Fotografie als Bild | 29

dien Literatur und Fotografie vornehmen. Nicht selten beziehen sich diese54 auf die zuvor formulierten theoretischen Prämissen zum Verhältnis der beiden Medien. Keineswegs wird aber ausschließlich direkt auf bestimmte Theorien oder Annahmen rekurriert, sie werden vielmehr, was ausführlich gezeigt werden wird, erweitert, umgedeutet, angezweifelt oder ergänzt. Die vorgestellten literarisch-künstlerischen Konzepte sind eine aktive Auseinandersetzung mit der Foto- und Literaturtheorie, zum Teil wird ein eigener Beitrag zu theoretischen Überlegungen formuliert. In den Kapiteln zu den Primärwerken wird aber nicht nur die mediale Selbstreflexivität in den Blick genommen, auch die erste dieser Arbeit zugrunde liegende These wird reflektiert. Die Fragen, wie Fotografie und Literatur gemeinsam an den komplexen Bedeutungsdimensionen des intermedialen Werkes teilhaben, wie kulturelle Sinnstiftung formuliert wird und nicht zuletzt welche Bedeutungen überhaupt herausgearbeitet werden können, bilden einen wesentlichen Bezugspunkt der Analyse. Ein Fazit mit einer Sicherung der Ergebnisse und mit Anregungen zu neuen Forschungsfragen beendet die Arbeit.

1.8 D IE F OTOGRAFIE

ALS

B ILD

Bei der Analyse intermedialer Phänomene zwischen Literatur und Fotografie ist die Fotografie vor allem als eines zu betrachten: nämlich als Bild. Doch wie in den vorangegangenen Kapiteln bereits betont wurde, ist das fotografische Bild eine besondere, einzigartige Bildform, die eigene Analysekriterien verlangt und deren Wesen von spezifischen Eigenheiten bestimmt wird. Einige dieser Eigenheiten können sogar ihren Bildcharakter in Frage stellen, auch wenn vieles, was von Bildern allgemein gesagt werden kann, auch auf fotografische Bilder zutrifft. Im Alltagsgebrauch wird die Fotografie sofort als Bild erkannt und bestimmt. Ob diese Einschätzung gerechtfertigt ist, soll in diesem Kapitel knapp anhand einiger Bildtheorien geklärt werden. Gleichzeitig wird so die Frage beantwortet, ob sich diese Arbeit als einen weiteren Beitrag zur Bild-/Text-Forschung verstehen darf, die auf eine lange Tradition zurückblicken kann, dem fotografischen Bild als besondere Bildform aber bislang noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat.55 Die Frage, was ein Bild überhaupt ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Es besteht das Problem, dass man nicht eine bereits kategorisierte „Gattung“ untersuchen kann, sondern dass es „um die Erforschung der Kategorisierung: eben den Begriff 54 | Vgl. zur genauen Auflistung der Werke Kapitel 1.3 55 | Vgl. Kapitel 1.4 zum Forschungsstand

30 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

des Bildes“56 selber geht. Nicht erst die modernen Reproduktionstechnologien und die neuen digitalen Bildformen auf Monitoren haben Fragen nach der Materialität und den spezifischen Eigenschaften des Bildes kompliziert gemacht. Bereits die Subsumtion sprachlicher und geistiger Bilder unter den Oberbegriff Bild, wie sie zum Beispiel W.J.T. Mitchell in seinem Text „Was ist ein Bild“ vornahm,57 führte zu einer sehr komplexen Sicht auf das Wesen des Bildes. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es abstrakte Gemälde, die den bisherigen Status des Bildes in Frage stellten, indem sie nichts Gegenständliches zeigten und es bei diesen abstrakten Bildern folglich „um anderes als Darstellung, Mitteilung und Bedeutung“58 geht. Mit dieser Erkenntnis wird deutlich, was das Bild nicht ist: ein Abbild. Wenn Künstler sich dennoch darum bemühen, ein Abbild zu schaffen, so ist dieses dennoch niemals als ein tatsächliches Abbild einer äußeren Wirklichkeit zu werten. Diese Erkenntnis, die bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts für Gemälde offensichtlich schien, setzte sich für das fotografische Bild jedoch erst später durch. Dennoch ist es in jedem Falle festzuhalten, dass auch fotografische Bilder ebenso wie sprachliche Zeichen nur als Signifikanten funktionieren. Auch Fotografien haben eine besondere, eigentümliche Seinsweise, die nicht der Seinsweise der Dinge entsprechend ist.59 Es gehört zum Besonderen des Bildes, dass der Mensch meint, auf ihm etwas sehen zu können, von dem er sich gleichzeitig sicher ist, „dass dieses Etwas nicht real, sondern nur künstlerisch gegenwärtig ist.“60 Aus diesen Punkten ergeben sich zwei unterschiedliche Bildtheorien. Die erste ist eine wahrnehmungstheoretische, bzw. phänomenologische, die darauf aufbaut, dass Bilder sichtbar sind. Auf Bildern ist es möglich etwas zu erkennen, das sich nicht nach den Regeln der Naturwissenschaft verhält (z.B. im Gegensatz zu seinem Trägermaterial nicht altert) und das man nur mit einem Sinn, dem Sehsinn, erfassen kann. Die zweite Bildtheorie ist eine semiotische, die davon ausgeht, dass man Bilder „liest”. Die Zeichenhaftigkeit des Bildes ist hier funktional: Bilder sind Zeichen, eben weil sie so verwendet werden. Für Semiotiker sind Text und Bild einander nahe, weil sie beide eine eigene

56 | Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M. 2005. S.14. 57 | Vgl. W.J.T. Mitchell, Was ist ein Bild? In: Volker Bohn (Hg.), Bildlichkeit. Frankfurt a. M.: 1990. S. 17-68. 58 | Gernot Böhme, Theorie des Bildes. München 1999. S. 7. 59 | Vgl. Böhme 1999. S. 9. 60 | Wiesing 2005. S. 7.

1.8. Die Fotografie als Bild | 31

„Sprache” verwenden.61 Die Fotografie lässt sich demnach sowohl semiologisch, als auch phänomenologisch als Bild klassifizieren. Ebenso wie es einen literarischen Pakt gibt, der besagt, dass der Leser das Geschriebene als fiktional akzeptiert, scheint es auch einen Pakt zwischen Bild und Bildbetrachter zu geben. Dieser erkennt das Dargestellte als Bild an, und somit als künstlerisch Eigenes, das keinen referentiellen Wirklichkeitsbezug behauptet. Hier ist das Bild vor ähnliche Probleme gestellt wie der fiktionale Text: Ebenso wie Biographien, historische Romane und Memoiren stets den Anspruch besitzen trotz ihrer literarischen Formung authentisch zu erscheinen, so besitzen beispielsweise auch Porträts oder Historiengemälde häufig einen referentiellen Wirklichkeitsbezug. Das Problem von Präsenz und gleichzeitiger Absenz, das von phänomenologischen Bildtheorien besonders betont wird, trifft auf die Fotografie in besonderem Maße zu. Fotografien haben auf den Betrachter eine fast magische Wirkung, wenn sie, ähnlich frühen Masken, die abwesende Person repräsentieren, eine Erinnerung an sie möglich machen und erhalten. Diese magische Wirkung des fotografischen Bildes thematisiert implizit auch Roland Barthes, wenn er seine berühmten Schrift Die helle Kammer mit den Worten einleitet: „Eines Tages, vor sehr langer Zeit, stieß ich auf eine Photographie des jüngsten Bruders von Napoleon, Jérôme (1852). Damals sagte ich mir, mit einem Erstaunen, das ich seitdem nicht mehr vermindern konnte: ,Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben’.”62 An dieser Stelle zeigt sich zum einen, dass die Fotografie die Prämisse von Präsenz bei gleichzeitiger Absenz mit allen Bildformen teilt, ihre Repräsentationskraft aber als ungewöhnlich stark einzustufen ist. Jenseits der zweidimensionalen Bilder denken moderne Bildtheorien auch über mentale oder sprachliche Bilder nach. Hier ergeben sich Berührungspunkte von Bildmedien und Literatur. Literatur evoziert mentale Bilder und operiert mit sprachlichen Bildern. Gleichzeitig ist die Schrift ein visuelles Element auf einer zweidimensionalen Fläche, deren Wahrnehmung der eines Bildes ähnelt. Die Fotografie als besondere Bildform teilt wichtige ontologische Besonderheiten mit allen anderen Bildformen, weist aber auch weitere auf. Auf diese Besonderheiten des fotografischen Bildes wird im zweiten Kapitel noch ausführlich eingegangen.

61 | Diese zusammenfassenden Äußerungen verdanke ich dem Abendvortrag von Lambert Wiesing auf der Konferenz „Bilder des Comic” am 26.11.2010. 62 | Barthes 1989. S. 11.

32 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

1.9 G EGEN

DEN

P ICTORIAL T URN

Gegen den Pictorial Turn: Die Überschrift dieses Kapitels ist wahrscheinlich provokanter als das Kapitel selbst. Ich möchte mich hier nämlich nicht gegen den gesamten Pictorial oder Iconic Turn mit all seinen Implikationen aussprechen, sondern lediglich dazu anregen, eine seiner Grundannahmen neu zu überdenken. In vielen wissenschaftlichen Schriften der letzten Jahre wird von der Annahme ausgegangen, dass in der heutigen Mediengesellschaft Bilder eine zentralere Rolle spielen als je zuvor. Fotografien, Videospiele, Fernsehen, die digitalen Bilder des Internets und weitere visuelle Medien prägen unseren Alltag und scheinen das Monopol der Schrift zu verdrängen. Von einem „Übermaß an Bildern“, sogar von einer „Bilderflut“ ist die Rede.63 Hier setzt auch der Iconic Turn an, der eine erhöhte visuelle Kompetenz anstrebt und eine allgemeine Bildwissenschaft der Sprachdominanz der westlichen Kultur und des Linguistic Turns gegenüberstellen möchte.64 Der Pictorial Turn, 1992 von W.J.T. Mitchell ausgerufen, fordert ein vermehrtes „Nachdenken über Bilder ebenso . . . wie das Denken mit Hilfe von Bildern.“65 Die neue visuelle Kompetenz soll nicht mehr nur auf kanonisierte visuelle Artefakte anwendbar sein, sondern auch auf sämtliche Bilder der Populär- und Alltagskultur. Der stark erweiterte Bildbegriff, der sogar die inneren Bilder des Traums und der Vorstellung miteinbezieht, erschwert die Antwort auf die Frage „Was ist ein Bild?“ enorm. Kann ein Videospiel mit einer Metapher, eine digitale Fotografie mit einem mittelalterlichen Andachtsbild überhaupt verglichen werden? Sind nicht ihre Entstehung, ihr kultureller Kontext, ihre gesamte Medialität viel zu unterschiedlich, als dass es gemeinsame Analysekriterien für diese Bildmedien geben könnte? Ist es vor diesem Hintergrund nicht völlig unmöglich eine einheitliche, allgemeine Bildwissenschaft zu etablieren? Und selbst wenn man in kleineren Rahmungen denkt: Verlangt der Schnappschuss eines Fotohandys nicht ganz andere Kompetenzen beim Betrachter als eine Kunstfotografie? Es ist durchaus an der Zeit, die Forderung nach einer allgemeinen Bildwissenschaft kritisch zu überdenken. Ich möchte mich an dieser Stelle Gabriele Rippl an63 | Vgl. u.a. Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten. München 2003. S. 123. 64 | Vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg 2007. S. 329. 65 | Ebd.

1.9. Gegen den Pictorial Turn | 33

schließen, die in ihrer Habilitationsschrift fordert, dass man zwischen unterschiedlichen Bildmedien differenzieren müsse.66 Den Versuch einer solchen Differenzierung nahm W.J.T. Mitchell in seinem Text „Was ist ein Bild?“67 vor. In seiner Differenzierung fehlen jedoch gänzlich digitale Bilder und die bewegten Bilder aus Film und Fernsehen. Auch wenn Mitchells „Familie der Bilder“ in vielerlei Hinsicht fragwürdig erscheint und Mitchell moderne Bildformen nicht in seine Überlegungen einbezieht, so erscheint der Ansatz die verschiedenen Bildformen als unterschiedlich zu begreifen, sinnvoll. Doch nicht nur die sonst häufig zu verzeichnende Degradierung einzelner, spezieller Bildformen zu Bildern im Allgemeinen ist zu hinterfragen, sondern vor allen Dingen auch die Grundannahme des Iconic/Pictorial Turn, die besagt, dass wir in einer Zeit leben, die von Bildern so bestimmt ist wie keine Zeit je zuvor. Ulrike Schimming beschreibt in ihren Analysen zum Fotoroman das „Bildzeitalter“ wie folgt: „Die westliche Welt ist auf dem Weg, zu einer visuell geprägten Kommunikation überzugehen. Die Vielzahl der Bilder und die große Zeitmenge, die bei der Betrachtung und Rezeption aufgewendet wird, hat zur Folge, dass unsere Fähigkeit, mit diesen Informationen umzugehen laufend zunimmt.“68

Beide Teile ihrer Aussage sind jedoch mehr als fragwürdig: Zum ersten führt eine Vielzahl von Bildern nicht unbedingt zu einer größeren Fähigkeit des Betrachters, diese zu verstehen, und zum zweiten möchte ich in Frage stellen, ob unsere Kommunikation wirklich zu visuellen Formen übergeht. Auch andere Wissenschaftler als Frau Schimming werden nicht müde, eine „Allgegenwart der Bilder” (Gottfried Boehm)69 , ein Ende der Lesekultur (Vilém Flusser)

66 | Vgl. Gabriele Rippl, Beschreibungskunst. Zur intermedialen Poetik angloamerikanischer Ikontexte (1880-2000). München 2005. S. 15. 67 | Vgl. W.J.T. Mitchell, Was ist ein Bild? In: Volker Bohn (Hg.), Bildlichkeit. Frankfurt am Main 1990. S. 17-68. 68 | Ulrike Schimming, Fotoromane. Analyse eines Massenmediums. Frankfurt: 2002. S. 27. 69 | Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder. In: Ders.(Hg.), Was ist ein Bild? München 2001. S. 11.

34 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

und eine nie zuvor da gewesene „Dichte visueller Botschaften“ (John Berger)70 zu propagieren.71 Dass durch diverse Reproduktionstechniken, Kino, Fotografie, Fernsehen und nicht zuletzt durch das Internet der Anteil an Bildern, die der Mensch in irgendeiner Form wahrnimmt, innerhalb der letzten 100 Jahre stetig angestiegen ist, ist eine kaum von der Hand zu weisende Tatsache. Ebenso richtig ist, dass die Bilder unserer Zeit weitgehend technisch erzeugte „Abbilder“ sind, folglich Bilder, die „die Grenzen der eigenen Bildlichkeit zu verschleiern“ versuchen und somit „auf bildlichen Realitätsersatz“ 72 zielen. Was allerdings viel zu wenig beachtet scheint, ist das Phänomen, dass die Bilder unserer Alltagskultur, (und hier gerade die technisch erzeugten „Abbilder“) höchst selten eine rein visuell vermittelte Botschaft darstellen. Welche Reklametafel, welches fotografische Nachrichtenbild kommt ohne Text aus, welcher Kinofilm ohne Musik, welche Fernsehsendung ohne gesprochene Sprache und welches Internetvideo ohne verbale Ergänzungen? Die Antwort auf diese Fragen läßt erkennen, dass wir nicht in einem Zeitalter des Bildes leben, sondern in einem Zeitalter der allgegenwärtigen, intermedialen, technisch vermittelten Informationen. Diese Informationen bedienen sich meist auch Bildern, aber nur höchst selten Bildern allein. Stattdessen werden Bilder meist durch Texte, Musik oder gesprochene Sprache ergänzt. Gabriele Rippl präzisiert dieses Phänomen wie folgt: „,Wort und Bild’ sind zwei wichtige sich gegenseitig ergänzende und wechselseitig bedingende Weisen menschlichen Selbst- und Weltzugangs: Bilder sind von Texten umstellt und Texte 70 | John Berger, Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Reinbek bei Hamburg: 1974. S. 122. Man beachte an dieser Stelle, dass Bergers Aussage bereits in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts erfolgte, als digitale Bilder noch keinen Einzug in den menschlichen Alltag gefunden hatten. Die Diskussionen um eine Bilderflut sind folglich kein Phänomen des Internetzeitalters, sondern werden seit gut 35 Jahren immer wieder geführt. 71 | Keineswegs soll der Iconic Turn auf diesen Aspekt reduziert werden. W.J.T. Mitchell schreibt zurecht in einem Brief an Gottfried Boehm: „Der Pictorial Turn, wenn man ihn als gradlinige Ablösung von Sprache durch Bilder . . . versteht, gehört zu dem Reduktionismus, aus dem nur schlechte Geschichte bzw. Ästhetik hervor gehen kann.“ (W.J.T. Mitchell, Pictorial Turn. Eine Antwort. In: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch. München 2007. S. 39.) Der beschriebene Aspekt ist lediglich derjenige, der hier hinterfragt werden soll. 72 | Boehm 2001. S. 35.

1.9. Gegen den Pictorial Turn | 35

werden von Bildern beeinflusst – eine Tatsache für die die Skriptualitätsanteile im Internet das beste Beispiel liefern.“73

Die besonders häufige Verbindung zwischen Text und Bild erwähnt auch Roland Barthes in seinem Text Rhetorik des Bildes. Hier schreibt er: „Auf der Ebene der Massenkommunikation hat es heute durchaus den Anschein, dass die sprachliche Botschaft in allen Bildern vorhanden ist: als Titel, als Bildbeschriftung, als Zeitungsartikel, als Filmdialog, als Sprechblase; daraus ersieht man, dass es nicht sehr richtig ist, von einer Kultur des Bildes zu sprechen.“74

Die Kombination unterschiedlicher Medien zur Informationsvermittlung ist allerdings auch kein Phänomen der letzten 20 Jahre, auch wenn sich in diesem Zeitraum der Begriff der Intermedialität erst entwickelte: Das Mittelalter hat recht konsequent Texte und Bilder in kunstvollen Büchern verbunden, Zeitungen haben Fotos abgedruckt, sobald die technischen Bedingungen für diesen Vorgang geschaffen waren, Kinofilme und Fernsehen sind durch ihre Kombination von Bildern, Sprache und Musik per se intermediale Ausdrucksformen. Aus diesen Überlegungen heraus lässt sich das folgende festhalten: Wir leben nicht in einem Zeitalter, das durch die Allgegenwart von Bildern bestimmt ist. Vielmehr ist eine Entwicklung im Gange, die es dem Menschen von nahezu jedem Ort der Welt möglich macht, sich selbst mit (technisch vermittelten) Informationen zu versorgen. Diese Informationen enthalten zwar meist Bilder, haben aber keine rein bildliche Struktur. Sie bestehen vielmehr aus intermedialen Kombinationen, die Bilder mit anderen Ausdrucksformen, wie etwa Text, Sprache oder Musik verbinden. Um mit den intermedial vermittelten Informationen umzugehen, sie zu „lesen“ und zu deuten ist zweifellos ein gelernter und geübter Umgang mit Bildmedien notwendig. Von daher ist die Forderung nach einer „Bildwissenschaft“, die nicht nur bildliche Kunstwerke, sondern auch die Bilder der Alltagskultur miteinbezieht, wünschenswert. An dieser Stelle ist aber zum einen zu beachten, dass die sehr unterschiedlichen Bildmedien auch verschiedene Betrachtungsweisen und Analysemethoden verlangen und zum anderen, dass diese Bilder selten allein stehen, sondern mit anderen Medien kombiniert werden. Gerade um mit diesen intermedial vermittelten Botschaften umzugehen, ist eine hohe Medienkompetenz von Nöten.

73 | Rippl 2005. S. 20. 74 | Barthes, Roland, Rhetorik des Bildes. In: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a.M. 1990. S. 33/34.

36 | Kapitel 1. Einleitung: Medien zwischen Literatur und Fotografie

Einen kleinen Beitrag zur Steigerung der Medienkompetenz soll auch diese Arbeit liefern, die Möglichkeiten aufzeigen wird, wie man Medien, die Literatur und Fotografie miteinander kombinieren, betrachten und analysieren kann.

2 Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

Wenn in der wissenschaftlichen Diskussion das mediale Verhältnis von Fotografie und Literatur bestimmt werden soll, so kreist die Debatte meist um Fragestellungen und Begrifflichkeiten, die das Wesen dieses Verhältnisses als ein spannungsgeladenes Feld ausweisen. Während Text und (gemaltes) Bild nicht nur, aber auch als „Schwesterkünste“ begriffen wurden, werden Literatur und Fotografie meist als ein Oppositionspaar bestimmt, deren Wesen sich fundamental voneinander zu unterscheiden scheint. Diese Unterschiede sind konstitutiv für die Untersuchung des medialen Verhältnisses von Literatur und Fotografie. Wie bereits in den einleitenden Kapiteln erläutert wurde, muss die Intermedialitätsforschung davon ausgehen, dass sich Medien voneinander differenzieren und abgrenzen lassen. Gleichzeitig sollte sie aber davon ausgehen, dass Medien bestimmten Konventionen unterworfen sind und sich historisch verändern können. Aus diesem Grunde möchte ich mich dafür aussprechen, dass den Medien Literatur und Fotografie zwar ein Konstruktcharakter zuerkannt wird, dass dieser Konstruktcharakter aber ein relativer ist. Um Medienkombinationen aus Literatur und Fotografie als intermediale Kunstwerke zu bezeichnen und diese als solche zu untersuchen, muss von einer gewissen Mediendifferenz ausgegangen, historische Veränderungen aber dennoch berücksichtigt werden. Ich vertrete hier die Ansicht, dass Medien durch Konventionen bestimmt sind, sie aber einen „ontologischen Kern“ besitzen, der ihr Wesen von anderen Medien unterscheidet. Im Folgenden werden die wichtigsten Ansätze zur Bestimmung des medialen Verhältnisses von Fotografie und Literatur vorgestellt und behutsam hinterfragt.1 Da der Rezipient dem Wesenskern von Fotografie und Literatur allerdings nur annäherungs1 | Da die in dieser Arbeit besprochenen Fotografien mit Ausnahme einiger Aufnahmen im Roman Jonathan Safran Foers analog fotografiert wurden, beziehen sich die Aussagen über das Wesen der Fotografie zunächst auch auf analoge Fotografien.

38 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

weise gerecht werden kann, soll das Ziel hier keineswegs sein, das Verhältnis von Fotografie und Literatur endgültig zu bestimmen. Es sollen vielmehr die Debatten aufgezeigt werden, die sich dem Verhältnis von Literatur und Fotografie zu nähern versuchen. Häufig sind es genau diese Debatten, auf die sich Kombinationen aus Literatur und Fotografie selbstreflexiv beziehen und innerhalb derer sie sich positionieren. Innerhalb dieser Arbeit nimmt der fototheoretische Stand von 1980-2000 aus den bereits erläuterten Gründen einen besonderen Stellenwert ein. Um sich medialer Selbstreflexion, die in Medienkombinationen besonders gut beobachtbar wird, widmen zu können, muss die Kenntnis der gängigen Debatten zum literarisch-fotografischen Verhältnis vorausgesetzt werden. Auch wenn die Verbindung der beiden Medien in einem Kunstwerk meist auch eine implizite Auseinandersetzung mit den Debatten ist, die um das Verhältnis von Literatur und Fotografie kreisen, so lässt sich die Frage, wie sich Literatur und Fotografie tatsächlich zueinander verhalten, nur im historisch-kontextualisierbaren Einzelfall, im literarischfotografischen Kunstwerk, beantworten.

2.1 F IKTIONALITÄT, AUTHENTIZITÄT, I NDEXIKALITÄT Wenn es zwei Begriffe gibt, die immer wieder in die gegenwärtige Diskussion über das mediale Verhältnis von Literatur und Fotografie eingespeist werden, so sind dies Fiktionalität und Authentizität. Der fiktionale Charakter der Literatur wird hier dem authentischen der Fotografie gegenüber gestellt. Dieses erklärt auch, warum die Fotografie in Lexikonartikeln, Zeitungsberichten oder wissenschaftlichen Abhandlungen eine häufig eingesetzte Strategie zur Beglaubigung des Gesagten darstellt, die Integration von Fotografien in literarische Texte aber eine Ausnahme bleibt. Die fiktiven Erzählungen der Literatur scheinen nicht zum Authentizität verheissenden Charakter der Fotografie zu passen. Das unmittelbare Verhältnis der Fotografie zum faktisch Gewesenen scheint eine Schwierigkeit für die der Phantasie entsprungenen Literatur darzustellen.2 Fiktionalität ist heute eng mit dem Literaturbegriff verknüpft und wird als „Bezeichnung für den erfundenen bzw. imaginären Charakter der in literarischen Tex-

Viele der getroffenen Aussagen zum literarisch-fotografischen Verhältnis sind dennoch auch für digitale Fotografie gültig. An einigen Stellen wird jedoch auch explizit auf die Besonderheiten der digitalen Fotografie eingegangen. 2 | Vgl. Koppen 1987. S. 243.

2.1. Fiktionalität, Authentizität, Indexikalität | 39

ten dargestellten Welten“3 verwendet. Fiktion wird zwar als ein Merkmal literarischer Texte genannt, doch nichtsdestotrotz ist die Existenz eines referentiellen Wirklichkeitsbezugs kein Hinderungsgrund, einen Text als literarisch zu bezeichnen. Fiktional oder fiktiv ist nicht gleichbedeutend mit „unwahr“ oder gar „phantastisch“. Im 19. Jahrhundert definierten Honoré de Balzac und Gustave Flaubert den Roman sogar über seinen Wirklichkeitsbezug und über seine Verbindung zu außerliterarischen Fakten.4 Herta Wolf erkennt ebenfalls einen Wirklichkeitsbezug in der Literatur, auch wenn dieser durch die Abstraktheit des sprachlichen Zeichens nur indirekt vermittelt werden kann: „Es gibt keine Texte, die außerhalb eines referentiellen Bezuges zu außertextuellen Gegebenheiten stünden“5 , Wörter jedoch können „aufgrund ihres Abstraktionsgrades und als durch Gruppenübereinkünfte entstandene Repräsentanten arbiträrer linguistischer Positionen niemals als die direkte Wiedergabe von Realien verstanden werden“6 . Terry Eagleton nennt in seiner Einführung in die Literaturtheorie quer durch die Jahrhunderte sogar Textbeispiele, die als nicht fiktional und dennoch als literarisch gelten, wie etwa die philosophischen Schriften von Descartes oder die historischen Analysen Edward Gibbons.7 Auch historische Romane oder biographische Texte weisen einen expliziten Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit auf. Den fiktionalen Charakter der Literatur aber vollständig als eine Fiktion zu begreifen, würde meiner Ansicht nach aber über das Ziel hinausweisen: Der Rezipient eines dramatischen, erzählenden oder lyrischen Textes verlangt von diesem meist keinen referentiellen Wirklichkeitsbezug,8 auch wenn dieser nicht selten vorhanden sein mag. Hier muss also zwischen einer phänomenologischen und einer rezeptionsästhetischen Position differenziert werden. Das gleiche gilt in hohem Maße für die Fotografie: in der alltäglichen Rezeption besitzen Fotografien „nach wie vor den Effekt des Authentischen“9 , der den Betrach3 | Achim Barsch, Fiktion/Fiktionalität. In: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze-Personen-Grundbegriffe. Stuttgart 2004. 4 | Vgl. Susanne Knaller, Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität. Heidelberg 2007. S. 73. 5 | Herta Wolf, Glauben machen. Über deutschsprachige Reiseberichte aus der Sowjetunion (1918-1932). Wien 1992. S. 30. 6 | Wolf 1992. S. 107. 7 | Vgl. Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart 1997. S. 1-2. 8 | Ausnahmen bilden hier etwa historische Romane oder Biographien. 9 | Helmut Lethen, Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze. In Hart-

40 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

ter zu überzeugen vermag.10 Der Begriff „authentisch“ wird hier im Sinne einer Bedeutung von Wahrhaftigkeit, Objektivität, Ähnlichkeit und überprüfbarer Referenz in der außermedialen Wirklichkeit begriffen. Im Folgenden wird gezeigt werden, dass fotografische Authentizität phänomenologisch anzuzweifeln ist, aber auf Rezipientenseite eine immer noch entscheidende Rolle spielt. Das Authentische der Fotografie wird im Wesentlichen durch drei Tatsachen begründet: Zum ersten durch Zeugenschaft, weil sich am Ort des Geschehens eine Kamera (und höchstwahrscheinlich auch ein sie bedienender Fotograf) befunden haben muss, zum zweiten durch die Tatsache, dass das fotografische Bild auf physikalischen, optischen und chemischen Naturgesetzen beruht und zum dritten durch die Tatsache, dass der Referent im Moment des Fotografierens tatsächlich vor der Kamera zu finden war. Obwohl die drei Aussagen kaum zu widerlegen sind, so ist doch die Schlussfolgerung anzuzweifeln, dass aus diesen Gründen die Fotografie ein authentisches Medium sei. 2.1.1 Die Zeugenschaft der Kamera Der erste Punkt, die Zeugenschaft der Kamera, die Tatsache, dass diese bei dem Geschehen, das wir sehen „dabei war“, birgt eine enorme Dramatik: In welcher Gefahr hat sich der Kriegsfotograf befunden? Welche Emotionen durchlebte der Tierfotograf, der sich den gefährlichen Löwen näherte? Wie verhielt sich der Hoffotograf in Anwesenheit der königlichen Familie? Es scheint, als ließe der Fotograf den Betrachter seiner Fotografien aus sicherer Entfernung am Geschehen teilhaben. Doch was bezeugt die Kamera tatsächlich? John Berger schreibt in seinem Text Erscheinungen über eine Fotografie, die einen Mann mit Pferd abbildet, treffend das folgende: „Das Photo beweist unwiderlegbar, dass dieser Mann, dieses Pferd und dieser Sattel existiert haben. Dennoch sagt es nichts aus über die Bedeutung dieser Existenz.“11 Alles weitere, ob der Mann ein Soldat ist, ob das Pferd ihm gehört, ob er erschöpft ist oder glücklich, ist Interpre-

mut Böhme/Klaus Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 1996. S. 205. 10 | So schreibt auch Clive Scott: „It would be ridiculous to deny that, in our ’practical’ experience of photographs, the sense of directness of contact with the subject is the source of photography’s power to ’speak’.” (Clive Scott, The spoken image. Language & photography. London 1999. S. 24.) 11 | Berger 1984. S. 86.

2.1. Fiktionalität, Authentizität, Indexikalität | 41

tation. Folglich zeigt die Kamera eine „Wahrheit“, doch diese ist sehr begrenzt, wie Berger weiter ausführt: „Die Photographie als solche kann nicht lügen, aber aus dem gleichen Grunde kann sie nicht die Wahrheit sagen; oder richtiger: die Wahrheit, die sie mitteilt [. . . ] ist begrenzt.“12 Ganz ähnlich schreibt auch Alan Sekula: „Die einzig ,objektive’ Wahrheit, die uns Fotografien bieten, ist die Behauptung, dass irgend jemand . . . irgendwo war und eine Aufnahme gemacht hat. Alles weitere, alles außer diesem Abdruck einer Spur, ist für alles zu haben.“13 Um die Zeugenschaft der Kamera geht es beispielsweise auch in Georges DidiHubermans Monographie Bilder trotz allem.14 Huberman beschreibt hier vier Fotografien, die höchstwahrscheinlich von einem Häftling des Vernichtungslagers Auschwitz angefertigt wurden. Der Fotograf der vier Aufnahmen nahm die Gefahr des Fotografierens auf sich, um Zeugnis abzulegen. Es ging darum, den Menschen außerhalb der isolierten Welt des Vernichtungslagers Auschwitz ein glaubwürdiges Dokument zukommen zu lassen und um den Status des Fotografierenden als Augenzeuge, der auf die authentische Wirkung der Fotografie vertraut. Die Annahme, dass mit einer Fotografie Zeugnis abgelegt werden kann, resultiert auch aus der Analogisierung der Kamera mit dem menschlichen Auge. Etwa 1850 entdeckte die physiologische Forschung das Vorbild der Kamera im Bau des Auges. So wird beispielsweise im Lehrbuch der Ophtalmologie festgehalten: „Das Auge gleicht in Einrichtung und Wirkung seines optischen Apparates vollkommen einer so genannten Camera Obscura.“15 Obwohl diese Aussage größtenteils schon im 19. Jahrhundert als überholt galt, blieb doch die Annahme bestehen, dass wir eine Fotografie betrachten, „als blickten wir durch ein Fenster auf die Welt,“16 als stelle die Fotografie dar, was wir gesehen hätten, wenn wir dort gewesen wären, wo die Kamera stand.17 Die Analogisierung des menschlichen Auges mit der Kamera bleibt aber zweifelhaft. Dieses stellen Joel Snyder in seinem Text Bild des Sehens und Andreas Feinin12 | Berger 1984. S. 57. 13 | Alan Sekula, Modernismus demontieren, das Dokumentarische neu erfinden. Bemerkungen zur Politik der Repräsentation. (1976/1978). In: Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie IV. 1980 –1995. München 2006. S. 125. 14 | Vgl. Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem. München 2007. 15 | Georg T. Ruehle, Lehrbuch der Ophtalmologie, zitiert nach Bernd Stiegler, Theoriegeschichte der Fotografie. München 2006. S. 57. 16 | Joel Snyder, Das Bild des Sehens. In: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd. I. Frankfurt 2002. S. 27. 17 | Vgl. Snyder 2002. S. 30.

42 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

ger in der Monographie Das ist Fotografie mit aller Deutlichkeit heraus. Fotografien entsprechen nicht dem menschlichen Sehen: „Die Kamera ist nur ein totes Stück Maschine, während das Auge Teil eines lebenden und denkenden Organismus ist. Daraus ergibt sich, dass die Kamera alles innerhalb des Sichtbereichs des Objektivs reproduziert, wohingegen das Auge, abhängig vom kontrollierenden Mechanismus des Gehirns nur die Aspekte der Realität „sieht“, an denen der Mensch als sein Besitzer interessiert ist.“18

Auch Ralph Köhnen konstatiert: „Sehen vollzieht sich immer unter bestimmten Bedingungen unter Vorannahmen und Einstellungen. Dazu zählen philosophische, künstlerische, aber auch Medienaspekte [...] .”19 In vielen Bereichen ist die Kamera dem Auge überlegen. So kommt der Kamera seit 1880 die Aufgabe zu, die unzureichende Sehleistung des menschlichen Auges zu kompensieren.20 Mit der Kamera können schnelle Bewegungen erfasst werden, die dem Auge verborgen bleiben. So ist es mit der Kamera beispielsweise möglich, Pistolenkugeln im Flug oder den Aufprall von Wassertropfen im Bild festzuhalten.21 Auch im Hinblick auf die Sehschärfe scheint die Kamera „besser“ zu funktionieren als das menschliche Auge. Objekte in der Ferne sind ebenso scharf und detailgetreu zu erkennen, wie nahe Objekte. Die menschliche Netzhaut stellt nur Objekte im Zentrum des Blickes scharf,22 alles was außerhalb dieses Zentrums liegt, wird nur undeutlich wahrgenommen. Bei sehr kurzen Entfernungen lässt die Schärfe der menschlichen Wahrnehmung nach, bei großen Entfernungen werden die Gegenstände immer kleiner und undeutlicher. Auch bei Dunkelheit kann die Kamera ein Bild erzeugen, das für die Augen in der Dunkelheit verschwindet.23 Auch der Blickwinkel der Kamera kann, im Gegensatz zum begrenzten menschlichen Sehradius, verändert werden, sein Umfang hängt von der Art des gewählten Objektivs der Kamera ab. Der Fotoapparat ist in der Lage, dem Menschen Unsichtbares sichtbar zu machen. Die „Welt, die sich dem Auge darbietet, ist dabei eine völlig andere als diejenige, die

18 | Andreas Feininger, Das ist Fotografie. Schaffhausen 1995. S. 43. 19 | Ralph Köhnen, Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens. München 2009. S. 12. 20 | Vgl. Stiegler 2006. S. 87. 21 | Vgl. Stiegler 2006. S. 92. 22 | Vgl. Snyder 2002. S. 30. 23 | Vgl. Feininger 1995. S. 17/18.

2.1. Fiktionalität, Authentizität, Indexikalität | 43

sich der Kamera zeigt.“24 Eadweard Muybridge löste 1872 mit seiner Fotoserie Pferd in Bewegung, die die Schwebephase im Galopp dokumentierte, eine Diskussion aus, ob die Maler weiterhin ihren Augen trauen könnten,25 derem Sehen im Vergleich zum „Sehen der Kamera“ einige (entscheidende) Details entgingen. Besonders faszinierend erscheinen die Fotografien, die dem menschlichen Auge völlig unsichtbare Strahlungen nutzen, wie etwa die Röntgenfotografien. Während das Auge nur empfindlich auf den „schmalen Streifen des elektronisch-magnetischen Spektrums, den wir als Licht bezeichnen“26 , reagiert, können fotografische Filme auch durch unsichtbare Strahlungen, wie etwa die kurzwelligen Röntgenstrahlen, sensibilisiert werden. In anderer Hinsicht ist der visuelle Eindruck, der vom menschlichen Auge erfasst wird, wiederum der Kamera überlegen. John Berger formuliert: „Eine Fotografie zitiert aus den Erscheinungen, aber indem sie zitiert, simplifiziert sie diese.“27 Dieses ist ein Verweis darauf, dass die Fotografie nur einen Ausschnitt zeigt, folglich anderes ausschließt,28 wohingegen das menschliche Sehen weniger begrenzt erscheint.29 Bezüglich der Begrenzung des Sehens kann man in Anlehnung an Joel Snyder genauer formulieren, dass der Gesichtskreis einer Person nicht rechteckig umgrenzt ist.30 So birgt das menschliche Sehen auch Vorzüge, von einer reinen „Defizienz menschlicher Wahrnehmung gegenüber der photographischen“31 lässt sich sicherlich nicht sprechen. Statt natürlicher Farben bietet die Kamera nicht selten nur monochromatische; Fotografien sind - im Gegensatz zur dreidimensionalen Wirklichkeit der menschlichen Seherfahrung - zweidimensional. „Realität lebt mit Veränderungen und Bewegungen, aber ein Foto ist ein ,Stehbild’“32 . Die Zeugenschaft des fotografischen Bildes ist folglich u.a. insofern problematisch, als dass sie impliziert, dass der Betrachter eines Fotos genau das sieht, was er gesehen hätte, wenn er sich an der Stelle der Kamera befunden hätte.33 Die Fotografie 24 | Stiegler 2006. S. 100. 25 | Vgl. Stiegler 2006. S. 95. 26 | Feininger 1995. S. 18. 27 | Berger 1984. S. 117. 28 | Vgl. Sontag 2003. S. 56. 29 | An dieser Stelle möchte ich allerdings noch einmal auf den Hinweis von Feininger verweisen, der die Subjektivität der menschlichen Wahrnehmung betont und die Ansicht vertritt, dass auch das menschliche Sehen selektiv ist. 30 | Vgl. Snyder 2002. S. 31. 31 | Stiegler 2006. S. 135. 32 | Feininger 1995. S. 16. 33 | Vgl. Snyder 2002. S. 30.

44 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

aber, wie soeben gezeigt wurde, nicht analog zur menschlichen Seherfahrung funktioniert. Dieses Phänomen wird unter anderem von W.G. Sebald reflektiert, wenn er eine Fotografie präsentiert, die auf den ersten Blick den Sterbeblick seines Protagonisten abbildet. Auf den zweiten Blick stellt sich aber heraus, dass die Schärfeneinstellung des Bildes sich genau gegenteilig zur Kurzsichtigkeit der Figur verhält.34 2.1.2 Naturgesetz und Fotografie Dass die Fotografie auf Naturgesetzen beruht, kann als zweiter Grund dafür genannt werden, warum das fotografische Bild als authentisch wahrgenommen wird. In der Mitte des 19. Jahrhunderts ging man vielfach davon aus, dass mit der Fotokamera nun endlich ein Apparat zur Verfügung stünde, der „die wirklichen, wirklich realen oder objektiven Spuren der Dinge unverfälscht zu sichern [. . . ] wisse.”35 Durch die technische Erzeugung der Fotografie meinte man auch in den folgenden Jahren, menschliche Subjektivität weitestgehend ausklammern zu können. André Bazin schreibt 1945 über das Wesen der Fotografie: „Zum ersten Mal tritt zwischen das auslösende Objekt und seine Darstellung nur ein anderes Objekt. Zum ersten Mal [. . . ] entsteht ein Bild der Außenwelt automatisch, ohne das kreative Eingreifen des Menschen.“36 Bazins Formulierung ist mit heutigen Feststellungen über das Wesen des fotografischen Bildmediums kaum zu vereinen: Die der Fotografie zugrunde liegenden Naturgesetze lassen sich von Menschenhand beeinflussen oder besser gesagt, in gewünschte Bahnen lenken. Selbst wenn man die Wahl des Ausschnitts, die Belichtungszeit, das Verwenden von Farbfiltern, das eventuell stattfindende Arrangement etc. vollständig außer acht lässt, so gibt es doch keine „Rohfotografie,“, die ohne „Zeichen aus dem kulturellen Code“37 auskommt. Der Mensch greift beim Fotografieren aktiv in die Bildgestaltung ein, selbst wenn er schnell und scheinbar wahllos „drauflos fotografiert“, bleibt die Fotografie ein vom Menschen geprägtes

34 | Vgl. Kap. 3.1.1.5. 35 | Reinhard Braun, Wirklichkeit zwischen Diskurs und Dokument. Bilder als Evidenzmaschinen. In: Susanne Knaller (Hg.), Realitätskonstruktionen in der zeitgenössischen Kultur. Beiträge zu Literatur, Kunst, Fotografie, Film und zum Alltagsleben. Wien 2008. S. 23. Die exakten Gesetze, denen die Fotografie zugrunde lag, waren jedoch Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht vollständig erfasst worden. 36 | André Bazin, Ontologie des fotografischen Bildes. In: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie, Bd. III. München 2006. S. 62. 37 | Roland Barthes, Rhetorik des Bildes. In: Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt 1990. S. 39.

2.1. Fiktionalität, Authentizität, Indexikalität | 45

Artefakt. Denn auch dem fotografischen Apparat selbst sind bestimmte Fähigkeiten eingeschrieben. Einige Digitalkameras sind beispielsweise durch ihre langen Auslösezeiten für „Schnappschüsse“ völlig ungeeignet, nur wenige Fotoapparate sind für Aufnahmen unter Wasser hergestellt, zum Fotografieren bei Nacht ist die Wahl eines besonders lichtempfindlichen Films von Nöten. Generell lässt sich sagen, dass eine Fotokamera nicht mehr hergeben kann, „als in ihrem Apparateprogramm angelegt ist.“38 Diese Überlegungen zeigen, dass die Fotografie zwar auf Naturgesetzen beruht, dass ihr aber dennoch ein kultureller Code eingeschrieben ist. Die Kamera ist ohne menschlichen Einfluss nicht denkbar, da der Mensch den Apparat konstruiert, programmiert oder bedient. Für die fotografische Authentizität bedeutet dieses, dass sie relativiert werden muss. Es wäre falsch, bei der Betrachtung von Fotografien ihre technische Entstehung unbeachtet zu lassen, ebenso falsch wäre es jedoch, das menschliche Eingreifen in den fotografischen Prozess zu leugnen. 2.1.3 Fotografie und Referenz Die Nähe zum außermedialen Referenten ist eine Eigenschaft der Fotografie, die nicht nur für die vermeintliche fotografische Authentizität verantwortlich ist, sondern auch das gesamte Wesen der Fotografie bestimmt. In diesem Kapitel soll nur auf die authentizitätsstiftende Wirkung dieses Aspekts eingegangen werden, eine genaue Bestimmung des Verhältnisses zwischen Signifikant, Signifikat und Referent in Literatur und Fotografie findet sich im folgenden Kapitel. Roland Barthes schreibt in seinem letzten Buch Die helle Kammer: „Eine Photographie ist immer die Verlängerung dieser Geste; sie sagt: das da, genau das, dieses eine ist’s! und sonst nichts; sie kann nicht in den philosophischen Diskurs überführt werden, sie ist über und über mit Kontingenz beladen, deren transparente und leichte Hülle sie ist.“39

Untrennbar ist die Fotografie mit ihrem Bezugsobjekt verbunden. Das, was auf dem Foto dargestellt wird, muss sich im Moment des Auslösens vor der Kamera befunden haben. „Bei aller Zeichenhaftigkeit führt eine Nabelschnur in die Wirklich-

38 | Lethen 1996. S. 211. 39 | Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie. Frankfurt 1989. S. 12.

46 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

keit,“40 formuliert treffend Frieda Grafe und zitiert auch Hollis Frampton, „der die Einmaligkeit seines Mediums damit beschrieb, dass man den Kuchen, den man fotografiere, auch noch essen könne.“41 Durch die enge Beziehung der Fotografie zu den Gegenständen, Landschaften oder Personen, die sie abbildet, erscheint sie unmittelbarer, besitzt sie eine Verbindung zur außermedialen Wirklichkeit und wirkt damit authentischer als andere visuelle Interpretationen. Das, was eine Fotografie im Bild eingefangen hat, kann allerdings eine Täuschung sein: Masken, Verkleidungen, Inszenierungen und Arrangements können und sollen beim Betrachter falsche Annahmen wecken. Problematisch ist an dieser Stelle ebenfalls, dass der fotografische Referent analysiert, interpretiert und zum Träger einer spezifischen Botschaft wird. Wenn die Fotografie zur einer Form von Aussage genutzt wird, geht es nicht mehr um Existenzbehauptung, sondern um Sinnstiftung. Diese Sinnstiftung ist im fotografischen Bild dann problematisch, wenn sie mit der authentischen Wirkung des Mediums verknüpft wird. Jörn Glasenapp bringt dieses Dilemma treffend auf den Punkt: „Das Wirkliche wirkt nur in der Ordnung der Existenz und keinesfalls in der des Sinns.“42 Das vermeintlich Authentische wird der Fotografie aber - und an dieser Stelle wird das Problem sichtbar - nicht nur auf der Existenz -, sondern auch auf der Sinnebene zugesprochen und hier obsolet. 2.1.4 Zwischenfazit Die Annahme, dass Fotografien authentisch seien, muss, wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben dürften, kritisch hinterfragt werden. Gleichzeitig wäre es aber falsch, die authentische Wirkung der Fotografie auf ihren Rezipienten nicht zu berücksichtigen oder die Annahmen über das Wesen der Fotografie, auf denen diese authentische Wirkung beruht, vollständig von der Hand zu weisen. Viele Künstler und Autoren (Cindy Sherman, Marlene Streeruwitz...) versuchen in ihren Werken das Authentische der Fotografie als Fiktion zu entlarven. „Authentizitätsfiktion“ erscheint mir hier ein guter Begriff, um deutlich zu machen, dass das Authentische eher ein Verfahren, als ein Faktum ist. Das Authentische, auch der Fotografie, wird durch bestimmte Effekte konstruiert, die Teil einer Fiktion sind. Die Frage

40 | Frieda Grafe, Bilder illustrieren. In: Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie IV. 1980 –1995. München 2000, S. 342. 41 | Ebd. 42 | Glasenapp 2008. S. 30. All dies gilt allerdings nur für die analoge Fotografie. Die digitale Fotografie bietet selbst für die Existenz des Referenten keinen zwansläufigen Beweis.

2.1. Fiktionalität, Authentizität, Indexikalität | 47

„welche Verfahren den Effekt des Authentischen auslösen können“,43 ist daher für die Auseinandersetzung mit konkreten Fotografien, besonders im Kontext von Literatur, entscheidend. 2.1.5 Die Indexikalität der Fotografie Da der Begriff des Authentischen für die Bestimmung des Wesens der Fotografie problematisch ist, soll an dieser Stelle den Begriff des Indexikalischen eingeführt werden, der häufig Verwendung in der Fototheorie findet. Film und Fotografie werden hier als indexikalische Medien bestimmt, als „Abdrücke, die durch eine Kombination von Lichteinwirkung und chemischer Reaktion gewissermaßen und verkürzt gesprochen vom Objekt selbst auf einer empfindlichen Oberfläche hinterlassen wurden.“44 Die Fotografie gehört, wenn man dieser Annahme folgt, zu ihrem Objekt, „wie der Finger zu seinem Abdruck.“45 Der Index im Sinne des Semiotikers Peirce umschreibt eine kausale Beziehung: Der Rauch ist beispielsweise ein Index des Feuers.46 Der Fußabdruck ist ein Index des da gewesenen Menschen. Aufgrund ihrer physikalischen Entstehung und dem tatsächlich vor Ort gewesenen Referenten, ohne den eine bestimmte Fotografie nicht möglich wäre, wird die Fotografie ebenfalls als ein Index bezeichnet. Dies sollte allerdings nicht in dem Sinne falsch verstanden werden, dass bei der Entstehung einer Fotografie die fotografierten Gegenstände selbst aktiv zum Bild beitragen. Sie sind lediglich ein Motiv des Bildes, aktiv wirkt das Licht auf einer empfindlichen Platte. Folglich ist die Fotografie nur indexikalisch für das da gewesene Licht, nicht aber für den abgebildeten Gegenstand. Licht, so beschreibt Michel Frizot, ist die einzige Realität, zu der die Fotografie einen Zugriff hat.47 Wer die Fotografie als indexikalisches Medium bezeichnet, denkt die enge Verbindung zu ihrem Referenten und die technische Produktionsweise mit, ohne das Gesehene für ein Abbild der Wirklichkeit oder für einen Seheindruck des Fotografen halten zu müssen. Der Begriff Indexikalität wird der Fotografie folglich gerechter als der Begriff des Authentischen, der Subjektivität, menschliches Eingreifen und Manipulation auszuschließen scheint. Gleich43 | Lethen 1996. S. 209. 44 | Christian Metz, Foto, Fetisch (1985/1990). In: Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie IV. 1980 –1995. München 2006. S. 347. 45 | Bazin 2006. S. 63. Diese Beobachtung von Bazin wird bereits 1945 formuliert. 46 | Vgl. Wolf 1992. S. 52. 47 | Michel Frizot, Who is afraid of Photons? In: James Elkins (Hg.), Photography Theory. New York u. London: Routledge 2007 [The Art Seminar, Bd.2 ]. S. 269-283.

48 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

zeitig ist Indexikalität eine Eigenschaft, die der Literatur, die durchaus „authentisch” sein kann, definitiv verwehrt bleibt. Das Indexikalische der Fotografie unterscheidet diese also deutlicher von der Literatur als das Authentische. Das Authentische bleibt aber insofern mit der Fotografie verbunden, als diese immer noch und trotz aller Skepsis nicht selten als authentisch wahrgenommen wird: „Wo es um Fotos geht, wird jeder zum Buchstabengläubigen.“48

2.2 L ITERATUR

UND

F OTOGRAFIE

ALS

Z EICHEN

Im folgenden Kapitel sollen Literatur und Fotografie als Zeichen analysiert werden. Unter Zeichen verstehe ich hier einen wahrnehmbaren Verweis auf ein Gemeintes außerhalb dieses Verweises, das wiederum (möglicherweise) auf eine realweltliche „Sache“ rekurriert.49 Das Nachdenken über Literatur und Fotografie als Zeichen lenkt den Blick auf einige grundsätzliche Unterschiede, aber auch auf überraschende Gemeinsamkeiten der beiden Medien, deren Wesen und deren Rezeption zu einem nicht unbeachtlichen Teil aus ihrer semiotischen Form resultieren. Der semiotische Ansatz dieses Kapitels ist darüber hinaus hilfreich, „wenn man an mehr als der Fotografie interessiert ist, nämlich ihrer Verflechtung in den Medienkontext und in den Kontext kultureller Codes“50 . Die Betrachtung von Literatur und Fotografie als Zeichen ist folglich von enormer Bedeutung für eine kulturwissenschaftliche Arbeit, die Fotografie und Literatur nicht allein stehend, sondern in ihrer Kombination analysieren möchte. Die semiotische Analyse verlangt, dass Literatur und Fotografie als Kommunikationsmittel aufgefasst werden. Während dieses für die aus Worten geformte Literatur weitgehend selbstverständlich ist, bedarf es für die Fotografie einer kurzen Erklärung. Die „Sprache“ der Fotografie gehorcht eigenen visuellen Gesetzen. Sie orientiert sich an einem integrativen Konzept, welches die Fotografie in ihren sozialen und medialen Kontext einbettet, wodurch die Fotografie als Mitteilungssystem konstituiert wird.51

48 | Sontag 2003. S. 57. 49 | Vgl. zum Thema auch: Umberto Eco, Einführung in die Semiotik. München 2002. S. 28-44., Martin Kuester, Zeichen und Zeichensystem. In: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. Stuttgart 2004. 50 | Wolfgang Kemp, Fotografie als Sprache. In: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie. 1945-1980. Bd. III. München 2006. S. 29. 51 | Ebd.

2.2. Literatur und Fotografie als Zeichen | 49

Roland Barthes nimmt zu der Problematik der Sprache der Fotografie in einem Interview Stellung: „Wenn man sagt, dass die Fotografie eine Sprache ist, so ist das falsch und richtig. Es ist falsch im wörtlichen Sinn, da das fotografische Bild als analoge Reproduktion der Wirklichkeit kein diskontinuierliches Teilchen enthält, das man als Zeichen bezeichnen könnte [. . . ] Aber es ist insofern richtig, als die Gliederung und der Stil eines Fotos wie eine sekundäre Mitteilung funktionieren, die über die Realität und den Fotografen Aufschlüsse gibt.“52

Barthes’ Aussage impliziert, dass die Fotografie trotz ihrer unmittelbaren Nähe zum Dargestellten durch ihre individuelle Gestaltung und Formgebung kulturell codiert ist. Die semiotische Interpretation von Fotografien wurde erst nach dem zweiten Weltkrieg in Frankreich entwickelt und erreichte nur schwerlich, aber dann mit großer Wirkung die Fototheorien anderer Länder.53 2.2.1 Literatur und Fotografie: Die entscheidenden Zeichentheorien Zwei Zeichentheorien scheinen für das Nachdenken über das Verhältnis von Literatur und Fotografie besonders geeignet: Zum einen die Zeichentheorie Ferdinand de Saussures und zum anderen das Konzept von Charles Sanders Peirce. Während erstere die wohl bekannteste Zeichentheorie der Literaturwissenschaft darstellt, so ist das zweitgenannte Konzept auch hervorragend zur Anwendung auf visuelle Zeichen geeignet: Der von Peirce eingeführte Begriff des indexikalischen Zeichens wird direkt, wie auch das vorangegangene Kapitel gezeigt haben dürfte, mit der Fotografie in Verbindung gebracht. 2.2.1.1 Die strukturalistische Zeichentheorie Ferdinand de Saussures Als der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure 1916 seine Abhandlung Cours de linguistique générale veröffentlichte,54 wurde seine Unterscheidung von Signifikant und Signifikat zunächst auf sprachliche Repräsentationssysteme angewendet; zum einen, da die geschriebene und gesprochene Sprache von jeher das

52 | Barthes 2002. S. 82. 53 | Vgl. Kemp 2006. S. 26. 54 | Mittlerweile ist bekannt, dass es nicht Saussure selbst war, der diese Abhandlung veröffentlichte. Da diese Debatte hier aber nicht entscheidend ist, wird sie ausgeklammert.

50 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

bevorzugte Terrain der Semiotik darstellte55 und zum anderen weil Saussure seine Forschungen selbst in den Kontext der Linguistik stellte.56 Saussure bezeichnet die (geschriebene oder gesprochene) Sprache als das wichtigste Zeichensystem, das in der Lage ist, Ideen auszudrücken.57 Saussure geht davon aus, dass „die sprachliche Einheit etwas Doppelseitiges ist, das aus der Vereinigung zweier Bestandteile hervorgeht. [. . . ] Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild.“58

Während der Signifikant, das Bezeichnende, das (sprachliche) Zeichen darstellt, so bezeichnet der Signifikat das Gemeinte und der Referent das tatsächliche, außersprachliche Objekt des Zeichens. Das sprachliche Zeichen steht (außer vielleicht bei onomatopoetischen Wörtern) in keinerlei Ähnlichkeitsverhältnis zum Gemeinten oder auch zum Referenten: Sprachliche Zeichen zeichnen sich dadurch aus, dass sie arbiträr sind. Die Beliebigkeit des sprachlichen Zeichens beweist sich allein durch die Existenz verschiedener Sprachen, die die gleichen Objekte mit unterschiedlichen Namen betiteln.59 Als Gegensatz zum Signifikant definiert Saussure auch das Symbol (und grenzt sich hier von Charles Sanders Peirce ab, der das Symbol als eigene Kategorie des Zeichens ganz anders als Saussure versteht). Saussure schreibt, dass das Symbol nicht beliebig sei, „bei ihm besteht bis zu einem gewissen Grade eine natürliche Beziehung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem. Das Symbol der Gerechtigkeit, die Waage, könnte nicht etwa durch irgend etwas anderes, z.B. einen Wagen, ersetzt werden.“60 Während der Signifikant nun das arbiträre sprachliche Zeichen meint, so ist das Signifikat als etwas zu verstehen, das sich zwischen den Zeichen 55 | Vgl. Dieter Mersch, Einleitung. In: Ders.(Hg.), Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Charles Sanders Peirce bis zu Umberto Eco und Jacques Derrida. München 1998. S. 10. 56 | Vgl. Mersch 1998. S. 24. 57 | Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. In: Dieter Mersch (Hg.), Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Charles Sanders Peirce bis zu Umberto Eco und Jacques Derrida. München 1998. S. 197. 58 | Saussure 1998. S. 199. 59 | Vgl. Saussure 1998. S. 201. Innerhalb einer Sprachgemeinschaft werden einmal festgelegte Begriffe natürlich verbindlich. Vgl. Saussure 1998. S. 203 ff. 60 | Saussure 1998. S. 202/203. Hier ist noch einmal explizit darauf hinzuweisen, dass Saussure den Begriff „Symbol” anders versteht als Peirce. Dieser würde die Waage als ein Ikon und nicht als ein Symbol bezeichnen. Saussure verwendet hier eine an

2.2. Literatur und Fotografie als Zeichen | 51

und den Dingen befindet: nämlich das Bild, das sich der Mensch von den Dingen macht und das durch das Zeichen praktisch „ausgelöst“ wurde. Es fällt auf, dass Saussures Theorie für sprachliche Zeichen recht gut funktioniert, für visuelle Zeichen hingegen nicht unproblematisch ist.61 Einer der wesentlichen Unterschiede des sprachlichen und des bildlichen Zeichens liegt im hohen Abstraktionsgrad des sprachlichen Zeichens gegenüber dem recht konkreten Zeichen des visuellen Mediums.62 Anders formuliert bedeutet dieses, dass die Namen von Menschen und Dingen auf willkürlicher Konvention beruhen, wohingegen visuelle Darstellungen als natürlich beschrieben werden können, da sie „den Dingen oder Geschöpfen, die sie repräsentieren, mehr oder minder ähnlich sehen.“63 Dieses trifft insbesondere auf die Fotografie zu, „denn es ist evident, dass bei der analogischen Darstellung die Beziehung zwischen der bedeuteten Sache und dem bedeutenden Bild nicht mehr ,arbiträr’ ist (wie etwa bei der Sprache) und folglich keine Notwendigkeit besteht, als Relais ein drittes Glied in Gestalt eines psychischen Bildes des Objekts einzufügen.“64

Die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat scheint bei bildlichen Repräsentationen, gerade bei Fotografien, „gleichsam tautologisch“65 . Beim fotografischen Bild besteht aber nicht nur eine tautologische Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, auch Signifikat und Referent „fallen [. . . ] aufgrund der dem fotografischen Ikonischen eigenen Kontinuität“66 zusammen. Die Fotografie hat ihren Referenten

den Alltagsgebrauch angelehnte Definition des Symbols und nicht eine semiotische im Sinne Peirces. 61 | An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass Saussure auch die Schrift, das Zeichen der Sprache als Bild begreift. Vgl. Saussure 1998. S. 197. 62 | Diese Konkretheit zeigt sich allein schon durch die Tatsache, dass Saussure in seiner Schrift kleine Bilder verwendet, um aufzuzeigen, was man sich unter einem bestimmten sprachlichen Zeichen vorzustellen hat. An dieser Stelle scheint Saussure also außer acht zu lassen, dass es sich bei der bildlichen Darstellung selbst um ein Zeichen handelt. 63 | Ernst H. Gombrich, Bild und Code: Die Rolle der Konventionen in der bildlichen Darstellung. In: Ders., Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der menschlichen Darstellung. Stuttgart 1984. S. 274. 64 | Barthes 1990. S. 31. 65 | Ebd. 66 | Wolf 1992. S. 39.

52 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

„im Gefolge“67 , ist an ihn gebunden. Roland Barthes geht sogar so weit, dass er behauptet, dass die Fotografie als Medium unsichtbar für ihren Betrachter bleibt und dass es nicht das Foto, sondern der Referent ist, den man sehe.68 Von dieser Vorstellung möchte ich mich jedoch distanzieren. Auch die Fotografie bleibt eine mediale Repräsentation und wird vom Betrachter auch als solche erkannt. Die Fotografie als visuelles Zeichen besitzt „so etwas wie eine Sprache der bildlichen Darstellung“69 und Konventionen, die gelernt werden müssen, um die Fotografie zu verstehen. Die Botschaft einer Fotografie bleibt nur dann weitgehend universell verständlich, wenn sie sich lediglich auf das bezieht, was sie abbildet. Genau hier ist allerdings ein Problem festzustellen, da die Fotografie dieses nicht tut: Sie ist in der Lage mehr zu kommunizieren, als lediglich ein „Das da, genau das, dieses eine ist’s! und sonst nichts.“70 Wie bereits im vorangegangenen Kapitel erläutert, geht sie über eine reine Existenzbehauptung hinaus und bietet Raum für Interpretationen des Betrachters. An dieser Stelle werden auch die zwei Botschaften der Fotografie bedeutsam, nämlich die denotierte (analoge) und die konnotierte Botschaft. Erstere spielt auf die universale Verständlichkeit der Fotografie an, die sich als Analogon der Wirklichkeit direkt lesen lässt.71 Die konnotierte Botschaft hingegen hat etwas mit dem Stil der Fotografie zu tun. Sie lässt sich nur mit entsprechendem Wissen verstehen. Wenn man Saussures Theorie also auf Fotografien anwendet, gilt es zu berücksichtigen, dass der Signifikant durch seine Ähnlichkeit zum Referenten zwar kein Signifikat im Bezug auf die denotierte Botschaft benötigt, dass im Bezug auf die konnotierte Botschaft aber keine universelle Sprache der Ähnlichkeit „gesprochen“ wird. Die konnotierte Botschaft der Fotografie ist codiert und muss vom Betrachter sorgsam entschlüsselt werden, sie setzt bei diesem Kenntnisse über fotografische Formgebungen voraus. Literatur und Fotografie besitzen folglich beide einen zeichenhaften Charakter und hier eine gemeinsame Schnittstelle. Entgegen populärer Annahmen spricht die Fotografie nur sehr bedingt eine universelle Sprache. Ebenso wie die Literatur, bedarf die Fotografie der Interpretation. Gleichzeitig wird aber auch ein wesentlicher Unterschied deutlich. Die Fotografie ist eng mit ihrem tatsächlichen Referenten verbunden, die Literatur hingegen ist nicht zwangsläufig auf außerliterarische Referenz angewiesen und kann nur auf sich selbst rekurrieren. 67 | Barthes 1989. S. 13. 68 | Vgl. Barthes 1989. S. 14. 69 | Gombrich 1984. S. 274. 70 | Barthes 1989. S. 12. 71 | Vgl. Kemp 2006. S. 27.

2.2. Literatur und Fotografie als Zeichen | 53

2.2.1.2 Die Zeichentheorie von Charles S. Peirce Als weitere Möglichkeiten Literatur und Fotografie als Zeichensystem zu klassifizieren, möchte ich auch die Unterscheidungen des bereits erwähnten Semiotikers Charles S. Peirce einführen. Peirce gilt als einer der Begründer der modernen Semiotik und stellte das menschliche Denken konsequent unter die Funktionen der Zeichen: Er ging davon aus, dass ohne Zeichen kein menschliches Bewusstsein möglich wäre.72 Die Peircesche Semiotik unterscheidet zwischen „Symbol, dessen Bedeutung durch Konvention bestimmt ist, Ikon, das sich durch seine Ähnlichkeitsbeziehung auszeichnet und Index, für den eine physische Beziehung konstitutiv ist.“73 Das Symbol ist arbiträr und nur durch kulturelle Konvention auf ihren Gegenstand zurückzuführen. Es „ist als ein Zeichen definiert, das geeignet ist, als ein solches zu dienen, weil es so interpretiert wird“, es ist also ein „echtes Zeichen.“74 Symbole weisen weder, wie Ikones, die bezeichneten Eigenschaften ihrer Objekte auf, noch garantieren sie für deren Existenz.75 Ein Zeichen wird zufällig zu einem Symbol, ein Symbol ist ein Zeichen für etwas, weil es eben so verstanden wird.76 Das Ikon ist ein Zeichen, welches durch die Eigenart bestimmt ist, eine der Qualitäten des Objekts nachzubilden. Ein reines Ikon, so schreibt Peirce, ist von jedem Zweck unabhängig. „Es dient ausschließlich und einfach dadurch als Zeichen, dass es die Qualität aufweist, die es zu bezeichnen dient.“77 Sprache kann, durch Lautmalerei und Gestik zwar ikonische Züge haben, doch es ist das Bild, sofern es nicht zu abstrakt ist, das durch sein Ähnlichkeitsverhältnis zum Abgebildeten dem Ikonischen sehr viel näher steht. Die Fotografie steht selbstverständlich auch in dem Bildern zu eigenen Ähnlichkeitsverhältnis zu ihren Objekten, ist nach Peirce jedoch eher dem Index als dem Ikon zuzuordnen. Der Index ist ein Zeichen, welches sich „in einer wirklichen Reaktion mit seinem Objekt befindet.“78 Der Index bietet die Gewähr, dass sein Objekt wirklich existiert. 72 | Vgl. Mersch 1998. S. 16. 73 | Wolf 1992. S. 343. 74 | Charles S. Peirce, Neue Elemente. In: Dieter Mersch (Hg.), Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Charles Sanders Peirce bis zu Umberto Eco und Jaques Derrida. München 1998. S. 43. 75 | Vgl. Peirce 1998. S. 44. 76 | Vgl. Peirce 1998. S. 45. 77 | Peirce 1998. S. 41. Reine Ikones oder Indizes kann es jedoch, so räumt der Semiotiker ein, nicht geben. 78 | Peirce 1998. S. 41.

54 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darauf verweisen, dass der Begriff des Index für die Fotografie höchst irreführend sein kann, da die auf der Fotografie abgebildeten Gegenstände im Gegensatz zur Spur, oder dem von Peirce genannten Wetterhahn, der einen Index des Windes darstellt, nicht aktiv auf das Zeichen einwirken.79 Wie wirkt sich diese Unterscheidung nun auf Literatur und Fotografie aus? Sprache kann entweder symbolisch, oder in seltenen Fällen, wie etwa bei Lautmalereien, ikonisch wirken. Fotografien hingegen wirken ikonisch, da sie in einem Ähnlichkeitsverhältnis zu ihrem Gegenstand stehen und in gewisser Hinsicht auch indexikalisch: Die Fotografie ist ein Index für das Licht, da nur durch dieses eine Fotografie entstehen kann. Hier wird deutlich, dass sich nach der Peirceschen Zeichentheorie Fotografie und Literatur in ihrer Zeichenhaftigkeit zwar voneinander unterscheiden, aber auch – und dieses wurde von der Forschung bislang weniger berücksichtigt dass sie sich im Bereich des Ikonischen und sogar im Indexikalischen treffen können. Nicht nur die Lautmalerei, auch die Darstellung von Dialogen wirkt in der Literatur ikonisch, zweiteres deswegen, weil Sprache durch Sprache nachgeahmt wird, und der Dialog so in einem Ähnlichkeitsverhältnis zum Dargestellten steht. Indexikalisch ist das geschriebene Wort insofern, als es die Existenz eines Schreibers beweist, ähnlich wie die Fotografie die Anwesenheit einer Kamera bezeugt. An dieser Stelle bestätigt sich der Einwand, den Peirce selbst einräumt, nämlich dass seine Zeichenkategorien einander in vielerlei Hinsicht überschneiden und sich nicht eindeutig voneinander abgrenzen lassen. Ähnlich triadisch wie die Unterteilung in Ikon, Index und Symbol, die trennscharf voneinander abgrenzt werden können, ist auch Peirces allgemeines Verständnis von Zeichen angelegt, das aus dem Zeichen, dem Objekt und dem Interpretant besteht. Hier geht Peirce allerdings davon aus, das der Interpretant wiederum ein Zeichen ist; menschliches Denken kann laut Peirce nur in Zeichen erfolgen. Den Interpretant als Schaltstelle zwischen Objekt und Zeichen definiert Peirce wie folgt: „Jedes Zeichen B, das von einem dafür geeigneten Zeichen A ohne Verletzung seines, A’s, Zwecks, d.h. in Übereinstimmung mit der ,Wahrheit’, auf diese Weise bestimmt wird, obwohl es, B, nur einen Teil der Objekte des Zeichens A benennt und nur einen Teil seiner, A’s, Eigenschaften bezeichnet, jedes solche B nenne ich einen Interpretanten von A.“80

Hier zeigen sich die Ähnlichkeiten zum später entwickelten Modell Saussures:

79 | Vgl. Zur Problematisierung der fotografischen Indexikalität auch das Kapitel 2.1.5. 80 | Peirce 1998. S. 38.

2.3. Fotografie zwischen Kunst und Dokument | 55

Das sprachliche Zeichen kann das Objekt niemals vollständig verständlich machen, da der Interpretant immer nur Aspekte des Zeichens erfassen und nur einen Teil der Eigenschaften des Zeichens bezeichnen kann. Unter einem „prachtvollen Palast“ beispielsweise wird sich jeder Rezipient etwas anderes vorstellen, erst recht, wenn die Rezipienten aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen stammen. Für die Fotografie mit ihrer direkten Beziehung zum Referenten gilt dieses nur bedingt. Die denotierte, buchstäbliche Botschaft ist nahezu universell leicht zu erfassen, da durch die konkrete Darstellung der Interpretant sehr viel präziser ausfällt als der des sprachlichen Zeichens. Die konnotierte Botschaft hingegen ist mindestens ebenso schwer zu erfassen, wie die Botschaften der Literatur. Auch die Fotografie kann immer nur Aspekte des Zeichens erfassen, zum Beispiel die äußere Erscheinung. 2.2.2 Zwischenfazit In der Kombination von Literatur und Fotografie wird die Fotografie nicht selten als etwas der Literatur Entgegengesetztes eingespeist, was sich unter anderem durch die enge Beziehung der Fotografie zu ihrem Referenten erklärt. Fotografien sind nicht nur ikonisch, sondern beweisen auch die Anwesenheit des Referenten zu einem bestimmten Zeitpunkt. Worte hingegen verweisen willkürlich auf ein Signifikat. Die zuvor im Hinblick auf Literatur und Fotografie analysierten Zeichentheorien dürften aber gezeigt haben, dass die Zeichenhaftigkeit der beiden Medien viel vielschichtiger ist, als zunächst angenommen. Die Fotografie verweist auf mehr als Ihren Referenten, ihre konnotierte Botschaft bietet vielfältige Interpretationsmöglichkeiten,81 ganz ähnlich dem literarischen Text. Die Peirceschen Begriffe Symbol, Ikon und Index durchdringen einander sowohl in Literatur als auch in Fotografie. Zeichen, Interpretant und Objekt stehen in beiden Medien in einem bestimmten, aber dennoch dynamischen Verhältnis zueinander, welches Künstler und Autoren unterschiedlich bewerten, interpretieren und gewichten.

2.3 F OTOGRAFIE

ZWISCHEN

K UNST

UND

D OKUMENT

Im Jahre 1839 wurde die Daguerreotypie in einer gemeinsamen Sitzung der französischen Akademie der Wissenschaften und der schönen Künste vorgestellt.82 Die 81 | Vgl. Silke Horstkotte, Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln/Wien/Weimar 2009. S. 33. 82 | Vgl. Erwin Koppen, Über einige Beziehungen zwischen Literatur und Fotogra-

56 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

Fotografie schien somit von Beginn an eine Schnittstelle zwischen Kunst und Dokument darzustellen, in einer „Zwischenzone“83 angesiedelt zu sein. Zum einen erschien sie als ein Medium, welches eine exakte Abbildung der Wirklichkeit möglich machte, zum anderen aber auch als eine Kunstform mit eigener ästhetischer Praxis und individuellen Gestaltungsmöglichkeiten.84 Die Tragweite dieses Doppelpotentials der Fotografie erkannte auch die Société Française de Photographie, die in ihrer Satzung festlegte, dass das Bulletin sowohl die wissenschaftlichen als auch die künstlerischen Leistungen der Fotografie würdigen solle.85 2.3.1 Der dokumentarische Stil Das Doppelpotential der Fotografie, zugleich als Dokument und Kunstobjekt zu wirken, unterscheidet diese von vielen anderen Medien, aber verbindet sie auch mit einigen literarischen Genres. Gewöhnlich wird Literatur unter anderem dadurch definiert, dass sie einen künstlerisch-ästhetischen Anspruch besitzt. Nur an wenige Genres, wie beispielsweise an die Biographie, wird ein dokumentarischer, referentieller Anspruch gestellt. Für diese Genres kann ebenso wie für die Fotografie eine phänomenologische und noch mehr rezeptionsästhetische Zwitterstellung zwischen Kunst und Dokument konstatiert werden. Die Fähigkeit der Fotografie dokumentarisch und künstlerisch (zugleich) zu wirken, tritt in einigen Fotografien mehr, in anderen weniger, zutage. Deutlich zeigt sich das Doppelpotential beispielsweise bei Fotografien, die einen „dokumentarischen Stil“ besitzen. In dieser Wortschöpfung klingt sowohl das Dokumentarische als auch das Künstlerische, vertreten durch das Wort „Stil“, an. Der Begriff „dokumentarisch“ wurde in den 1920er Jahren in den USA geprägt und kennzeichnete hier eine künstlerische Bewegung in den besonderen sozialen und kulturellen Verhältnissen der Wirtschaftskrise.86 Spezifiziert wurde der Begriff von Olivier Lugon, der in seinem Buch Le style documentaire verdeutlichte, „wie es dazu kommen konnte, dass die von der Kunst entfernteste Form der Photographie plötzlich zum Inbegriff einer fie. In: Ulrich Weisstein (Hg.), Literatur und bildende Kunst: ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebiets. Berlin 1992. S. 232. 83 | Vgl. zu diesem Begriff: Barthes 2002. S. 88. 84 | Zweiteres jedoch erst zunehmend im Laufe ihrer Entwicklung. 85 | Vgl. Stiegler 2006. S. 46. 86 | Vgl. Reinhard Matz, Gegen einen naiven Begriff der Dokumentarfotografie. In: Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theoriegeschichte der Fotografie. Bd. IV. München 2006. S. 97.

2.3. Fotografie zwischen Kunst und Dokument | 57

künstlerischen Photographie werden konnte.“87 Lugon nennt Schärfe, Genauigkeit, Helligkeit, Verständlichkeit und Lesbarkeit als Kennzeichen einer Fotografie, in der ästhetischer und dokumentarischer Anspruch zusammenfallen.88 Nur scheinbar ist der Anspruch der Dokumentarfotografie, nämlich die vorgegebene Wirklichkeit möglichst genau wiederzugeben, nicht mit künstlerischen Ansprüchen vereinbar. Es muss erkannt werden, dass die Fotografie nichts anderes sein kann als eine individuelle Sichtweise der Wirklichkeit. Das, was auf der Fotografie sichtbar ist, kann durch sein differentielles Verhältnis zur Wirklichkeit künstlerisch wirken und dennoch den Anspruch des Fotografen nach dokumentarischer Genauigkeit wiedergeben. Die Fotografien der Zeitschrift National Geographic oder des Life Magazine liefern bekannte Beispiele für den fotografischen Anspruch, Kunst und Dokument in einem Medium zu verbinden. 2.3.2 Fotografie als Kunst? Die Fähigkeit der Fotografie die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst zu verwischen, wurde jedoch auch, vor allem im 19. Jahrhundert, entschieden angezweifelt. Charles Baudelaire unterschied in seiner fotokritischen Schrift Der Salon von 1859 „die Fotografie als bloßes Instrument eines dokumentarischen Wirklichkeitsgedächtnisses von der Kunst als einer reinen Schöpfung der Einbildungskraft.“89 Für den französischen Lyriker stellte Kunst die Möglichkeit dar, sich der Wirklichkeit zu entziehen, wodurch ein Medium nicht zugleich dokumentarisch und künstlerisch sein konnte. Baudelaire sah in der Fotografie einen Verfall der Kunst und formulierte polemisch: „Ich bin jedoch überzeugt, dass die schlechtangewandten Fortschritte der Photographie [. . . ], das ihrige dazu beigetragen haben, das bereits so spärliche, künstlerische Genie der Franzosen noch weiter zu verarmen.“90 So kreisten in der Frühzeit der Fotografie weite Teile der theoretischen Debatten um die Frage, ob die Fotografie nun Kunst wäre, oder eben nicht.91 Die Tatsache, dass die Fotografie dem Gemälde auf dem Gebiet der detailgetreuen Nachahmung überlegen war, führte zu Zweifeln am 87 | Stiegler 2006. S. 324 88 | Ebd. 89 | Philippe Dubois, Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. In: Herta Wolf (Hg.), Schriftenreihe zur Geschichte und Theorie der Fotografie. Bd. 1. Amsterdam/Dresden 1998. S. 34. 90 | Charles Baudelaire, Der Salon von 1859. In: Ders., Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedhelm Klemp/Bruno Steiff. Bd. 5. München/Wien 1989. S. 138. 91 | Vgl. Stiegler 2006. S. 46.

58 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

Kunststatus der Fotografie, die im Wesentlichen auf ihrem technischen Entstehungsvorgang und ihrer Reproduzierbarkeit beruhten. Diese Konfrontation bestimmte über Jahrzehnte die Diskussion um das Wesen der Fotografie bis sie im 20. Jahrhundert endgültig die Akzeptanz der Museen und des Kunstmarktes erlangte. Heute ist es selbstverständlich, dass die Fotografie der Kunst zugehörig ist. Problematisch wirkt an dieser Stelle dennoch, dass die Fotografie kein eigenes Selbstverständnis formulieren konnte, bevor es ihr nicht gewissermaßen angewiesen worden war.92 2.3.3 Zwischenfazit Für das Verständnis des Verhältnisses von Literatur und Fotografie sind diese Debatten, auch wenn mittlerweile überholt, nun zum einen von Bedeutung, weil das Wesen der Fotografie in seinem Inneren davon bestimmt ist, Dokument und Kunst zur gleichen Zeit sein zu können und zum anderen, weil das Doppelpotential der Fotografie spannende Interaktionsmöglichkeiten für die Integration von Fotografien in literarische Texte bietet. Als Teil einer Fiktion kann die Fotografie kein Dokument mehr sein, obwohl zahlreiche Autoren Fotografien nicht selten als Authentisierungsstrategie verwenden, die die Illusion des literarischen Textes verstärken sollen. Selten sieht man in literarischen Fototexten Fotografien bewusst künstlerischer Praxis. Fotografien von Personen, Gegenständen und Orten dominieren das Bild, sie wirken nicht selten Familienalben entnommen und erhalten dadurch den Status persönlicher Erinnerungen. Dieses erklärt auch, warum Fotografien so häufig in fiktionale Biographien oder in Werke der Erinnerungs- und Gedächtnisliteratur integriert werden.

2.4 E RINNERUNG

IN

L ITERATUR

UND

F OTOGRAFIE

„Eines Tages blieb die Frau des Holzfällers im Dorf vor mir stehen und sagte: ‚Ich möchte Sie um etwas bitten. Würden Sie ein Photo von meinem Mann machen? Ich hab keins, und wenn er getötet wird im Wald, habe ich kein Bild, um mich an ihn zu erinnern’.“93

Der Wunsch der Ehefrau des Holzfällers Gaston deutet im literarischen Text an, was der Fotografie auch in der Theorie zugesprochen wird, nämlich ihre besondere

92 | Vgl. Stiegler 2006. S. 42. 93 | Jean Mohr, Jenseits meiner Kamera. In: Ders./John Berger, Eine andere Art Geschichten zu erzählen. München/Wien 1984. S. 59.

2.4. Erinnerung in Literatur und Fotografie | 59

Nähe zur Erinnerung. John Berger schreibt beispielsweise, dass mit der Erfindung der Fotografie im Jahr 1839 „ein neues Ausdrucksmittel gewonnen [wurde], das der Erinnerung näher ist als jedes andere.“94 Fotografien scheinen Gedächtnisbildern besonders ähnlich zu sein, weil sie einen Augenblick festhalten und für spätere Zeiten konservieren. Fotografie und Erinnertes, so beschreibt John Berger weiter, „bewahren Augenblicke und bieten ihre eigene Form der Gleichzeitigkeit an, in der alle Bilder nebeneinander bestehen können.“95 Das Gedächtnis eines Menschen macht es ebenso wie ein privates Fotoalbum möglich, weitgehend simultan auf Ereignisse zuzugreifen, die in zeitlichem Abstand unabhängig voneinander statt gefunden haben. Roland Barthes stellt ebenso eine Nähe von Fotografie und Erinnerung fest, wenn er betont, „dass die ,Ausstrahlung’ des Fotografierten durch die Aufnahme bis zum heutigen Betrachter reiche und somit ein Band zwischen Vergangenheit und Gegenwart geknüpft werden könne.”96 Jens Ruchatz systematisiert den Bezug von Medien zum Gedächtnis über die Begriffe Externalisierung und Spur. Erstere bezeichnet die Konzeption von Medien als Gedächtnis, zweitere „eine technisierte und standardisierte Möglichkeit, dauerhafte Spuren zu erzeugen.”97 Als Externalisierung wäre die Fotografie also ein „Spiegel mit Gedächtnis”,98 als Spur ein „Resultat des vergangenen Geschehens”.99 Als Externalisierung funktioniert die Fotografie jedoch nicht nur als gedächtnisförmiges Bildmedium, umgekehrt wird auch das menschliche Gedächtnis mit fotografischen Metaphern umschrieben, man denke nur an die Formulierung des fotografischen Gedächtnisses.100 Bei der Fotografie als Spur ist besonders hervorzuheben, dass Fotografien, im Gegensatz zu den meisten anderen Spuren, mit einer bestimmten Absicht konzipiert 94 | John Berger, Geschichten. In: Ders./Jean Mohr, Eine andere Art Geschichten zu erzählen. München/ Wien 1984. S. 280. Im folgenden abgekürzt unter Berger 1984a. 95 | Ebd. 96 | Rentsch 2008. S. 56. 97 | Jens Ruchatz, Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität-Historizität-Kulturspezifität. Berlin/New York 2004. S. 89. 98 | Ruchatz zitiert hier den Bostoner Arzt und Schriftsteller Oliver Wendell Holmes, Ruchatz 2004. S. 86. 99 | Ruchatz 2004. S. 89. 100 | Ruchatz 2004. S. 86/87. Hier sollten aber auch ein offenkundiger Unterschied zwischen Fotografie und Gedächtnis kurz Erwähnung finden: Nämlich derjenige, dass die Fotografie - im Gegensatz zum menschlichen Gedächtnis, aber in Gemeinsamkeit

60 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

und erzeugt werden.101 Die Fotografie stellt ihren Bezug zum Gedächtnis folglich sowohl über ihre Funktion als Externalisierung als auch über ihre Wirkungsweise als Spur dar. Die Zusammenhänge von Fotografie und Erinnerung lassen sich auf vielfältige Weise auch im Alltag nachvollziehen: Familienalben konservieren nicht nur bestimmte Ereignisse, sie dienen beim Durchblättern auch als Erinnerungsanlässe. Gleich einem Einstieg „in medias res“ kann es eine Fotografie ermöglichen, einen Strom von Erinnerungen in Gang zu setzen. Außerdem können Fotografien, ähnlich wie die familiären Mythen, von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie sind folglich auch deswegen Erinnerungsobjekte, weil sie „,acts of transfer’ ermöglichen, wie Paul Connerton die ritualisierte Überlieferung von Gedächtnis genannt hat.”102 Im öffentlichen Diskurs werden bestimmte Fotografien zu Gedächtnisikonen,103 die dokumentieren, was erinnerungswürdig ist104 und wie erinnert werden soll. Heute bleiben Ereignisse, von denen es keine Bilder gibt, nur selten dem kollektiven Gedächtnis erhalten.105 Wenn Bilder historischer Ereignisse in verschiedenen Medien weltweit verbreitet werden, ermöglichen sie kollektive, nicht selten transnationale Erinnerungen, an denen der Erinnernde selbst nicht teilgenommen hat. 2.4.1 Erinnern durch mediale Repräsentation: eine Problematisierung Während in früherer Zeit Erinnerungen an historische Ereignisse zu einem großen Teil entweder auf der eigenen Erfahrung oder auf den Erzählungen von Freunden und Angehörigen basierten, so sind die Ereignisse heute hauptsächlich durch die mediale Repräsentation zugänglich. Insbesondere größere Gruppen,

mit den meisten anderen Medien - ihren Gegenstand nahezu unverändert bewahrt. (Ruchatz 2004. S. 88.) Davon unberührt bleibt jedoch, dass die Wahrnehmung des Rezipienten im Hinblick auf die Fotografie durchaus veränderlich ist. 101 | Vgl. Ruchatz 2004. S. 91. 102 | Silke Horstkotte, Fotografie, Gedächtnis, Postmemory. Bildzitate in der deutschen Erinnerungsliteratur. In: Silke Horstkotte/Karin Leonhard (Hg.), Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text. Köln/Weimar/Wien 2006. S. 182. 103 | Eine fotografische Ikone besitzt einerseits einen hohen Bekanntheitsgrad, zum anderen zeichnet sie sich durch eine große emotionale Wirkung auf den Betrachter aus (Ruchatz 2004. S. 98.). 104 | Vgl. Horstkotte 2009. S. 9. 105 | Vgl. Sontag 2003. S. 98/99.

2.4. Erinnerung in Literatur und Fotografie | 61

„die nicht mehr unmittelbar interagieren können, müssen [...] verstärkt medialen Aufwand betreiben, um sich eine gemeinsame Vergangenheit zu verschaffen, auf deren Fundament die gegenwärtige Identität der Gruppe sich begründen lässt.”106

Persönliche Erinnerungen bleiben selbstverständlich für jedes Individuum erhalten, doch das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft ist hochgradig medial geprägt. Innerhalb dieser Prägung nimmt auch die Fotografie einen besonderen Stellenwert ein, da einige Aufnahmen aus ihrem Kontext gelöst wurden, weltweit zirkulierten und so einen repräsentativen Status erlangen konnten.107 Als Beispiel möchte ich hier eine Fotografie Nick Uts nennen, auf die ich später noch einmal in anderem Zusammenhang kurz zurückkommen möchte. Das weltbe-

Abbildung 2.1: Nick Ut (Huynh Cong): Vietnam Napalm. Aufgenommen in Trangbang, South Vietnam am 8 Juni 1972. kannte Foto zeigt vietnamesische Kinder, die vor amerikanischen Soldaten flüchten. Eines der Kinder, ein nacktes Mädchen, wurde zuvor von glühendem Napalm getroffen und das Bild ihres Gesichtes und ihres Körpers wurde zu einer Ikone des Schmerzes und des sinnlosen Leids. Diese und andere Fotografien aus Vietnam schürten die Proteste gegen diesen Krieg. Die Erinnerung an „Vietnam“ wird von tausenden US-Amerikanern (und natürlich anderen Nationalitäten), die nicht vor Ort waren, nur anhand von medialen Repräsentationen dieses Krieges bestimmt. Filme, Erzählungen und vor allen Dingen Fotografien wie die des Fotografen Nick Uts, formten das kollektive Gedächtnis an diesen Krieg und dienten als Quelle mentaler Nachbilder, d.h. 106 | Ruchatz 2004. S. 85. 107 | Vgl. Scott 1999. S. 38.

62 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

„imaginative[n], mentale[n] Vorstellungen auf der Basis von visuellen Eindrücken, Bildern und Fotografien.“108 Daraus resultiert, dass Menschen sich nicht mehr nur anhand von Fotos erinnern, wie es meist beim Familienalbum der Fall ist, sondern „dass sie sich nur noch an die Fotos erinnern. Dieses Erinnern durch Fotos verdrängt allerdings andere Formen von Verstehen und Erinnern,“109 was wiederum die Gefahr impliziert, dass kein tatsächliches Gedenken mehr statt findet, sondern nur noch versucht wird, ein Bild, eine Fotografie, aufzurufen.110 Die Fotografie hat aus einer kontinuierlichen Erfahrung einen zusammenhanglosen Augenblick herausgefiltert,111 der keinen Ersatz für eine wirkliche Erinnerung liefern kann. Somit können Fotografien nicht nur, beispielsweise durch falsche Kontextualisierungen, „(falsche) Gegenerinnerungen projizieren“112 sondern auch die aktive Erinnerungstätigkeit als solche verhindern. Die Bilder des öffentlichen Diskurses können mit den Gedächtnisbildern derjenigen Personen, die das Ereignis selbst erlebt haben, konkurrieren. Diese Problematik wird beispielsweise in Ulla Hahns Roman Unscharfe Bilder reflektiert. Der Protagonist, der während des zweiten Weltkriegs selbst in Russland Soldat gewesen ist, wird durch seine Tochter Katja mit den Bildern der Wehrmachtausstellung konfrontiert. Katja fordert ihren Vater auf, von seinen Kriegserlebnissen zu erzählen und davon, ob er an den Verbrechen der Wehrmacht im Osten teilgenommen hat. Die Erinnerungen des Protagonisten Hans Musbach decken sich jedoch nicht mit dem, was auf den Fotografien des Ausstellungsbandes zu sehen ist, wirken aber gleichermaßen erschreckend auf Katja: „,Muß das sein?’ Katja drückte ihre zitternden Hände vors Gesicht. ,Ich habe Dich gewarnt’, erwiderte Musbach schroff. ,Ich habe meine Bilder! Bilder, die du auch kennen musst’“ (UB 39).113 Musbachs Gedächtnisbilder konkurrieren mit den medial geprägten Bildern des kollektiven Gedächtnisses der späteren Generationen, was einen Austausch zwischen ihm und seiner Tochter signifikant erschwert. 2.4.2 Erinnerung im literarischen Fototext Erinnerungen werden jedoch nicht nur durch die Inhalte der Medien geprägt, sie sind auch abhängig von deren spezifischer Form. Die „erlebte Erfahrung wird nicht 108 | Horstkotte 2009. S. 15. Vgl. dazu auch Kap. 2.8. 109 | Sontag 2003. S. 103. 110 | Vgl. Sontag 2003. S. 104. 111 | Vgl. Berger 1984. S. 88. 112 | Horstkotte 2009. S. 9. 113 | Zitate aus Primärwerken werden mit Kürzel plus Seitenzahl zitiert.

2.4. Erinnerung in Literatur und Fotografie | 63

nur in Medien codiert [. . . ] sondern die Medien prägen auch [selbst] in entscheidender Weise, was und wie erinnert werden kann.“114 Von einer neutralen Speicherung des Geschehens durch Medien kann keine Rede sein, die Medien selbst „sind aktiv an der Bedeutungskonstitution beteiligt.“115 Dieses wird besonders in solchen Fototexten deutlich, in denen Literatur und Fotografie ähnliche Botschaften formulieren, diese aber durch das jeweilige Medium individuell geprägt werden. Der Ich-Erzähler in W.G. Sebalds Erzählung Ambros Adelwarth beschreibt im literarischen Text seine Erinnerungen an einen Besuch des Seebades Deauville und den Verfall eines ehemaligen Luxushotels an der normannischen Küste. Text und Bild zeigen hier die Erinnerungen des Erzählers in unterschiedlicher Form. Das Hotel Roches Noires ist im Verschwinden begriffen „nur noch eine zur Hälfte bereits in den Sand gesunkene monumentale Monströsität.“ (DA 147) Auf der

Abbildung 2.2: Fotografie des Hotels Roches Noires. In: DA 174. Fotografie, die das Hotel abbildet, erscheint der Zustand auf der einen Seite viel weniger dramatisch, als es die Worte vermuten lassen, auf der anderen Seite wird auf der Fotografie eine Leere deutlich, die auch der literarische Text zu beschreiben versucht: „Die meisten Wohnungen sind seit langem verlassen, ihre Besitzer aus dem Leben geschieden. Einige unzerstörbare Damen aber kommen nach wie vor jeden Sommer und geistern in dem riesigen Gebäude herum [. . . ]“(DA 174). Die fast unheimliche Leere stellt die Fotografie mit ganz anderen Mitteln dar als der literarische Text: Die enorme Größe des Hotels, die fast den gesamten Raum der Fotografie einnimmt, scheint keinen Platz für Bewohner zu lassen und macht deutlich, dass der Verfall des Hotels weniger ein physischer ist, sondern vielmehr aus dem Fehlen von Gästen, von Leben, resultiert. Trotz des Sonnenscheins und des vor ihm liegenden Sandstrandes geht eine bedrohliche Atmosphäre vom Hotel aus, welches 114 | Horstkotte 2009. S. 116. 115 | Horstkotte 2009. S. 117.

64 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

es anscheinend nicht vermag, Gäste anzuziehen. Was der literarische Text beschreibt, wird auf dem Foto evident. Auch wenn Text und Bild sich in gewisser Weise zu bekräftigen scheinen, so wirken sie dennoch auf unterschiedliche Weise: Der Text beschreibt Zustände, während das Bild einen Zustand sichtbar macht. Der Leser des Textes kann den Zustand des Hotels nachvollziehen, der Betrachter des Bildes kann ihn nachempfinden. Die Kombination aus Bild und Text macht die Erinnerungen im Text also nicht nur intellektuell versteh-, sondern auch emotional erfühlbar. Dieses Beispiel zeigt auch, dass nicht nur die Fotografie eine Affinität zur Erinnerung besitzt, sondern auch die Literatur. Diese fungierte in den letzten Jahren „als Auslöser und Katalysator öffentlicher Diskussionen und als Motor der deutschen Erinnerungskultur seit der Wiedervereinigung.“116 Romane, die auf den Erinnerungen eines Erzählers, beispielsweise an die Zeit vor der Wiedervereinigung, basieren, haben eine hohe Konjunktur auf dem Büchermarkt. Eine Verbindung von Erinnerung, Fotografie und Narration ist also durchaus als fruchtbar einzustufen. 2.4.3 Zwischenfazit Die Kombination von Literatur und Fotografie scheint sich also (etwa seit den achtziger Jahren) vor allen Dingen für Kunstwerke anzubieten, die sich mit Erinnerung und Gedächtnis beschäftigen. Sie können die gedächtnisaffine Struktur beider Medien nutzen und durch ihre Kombination eine noch differenziertere Repräsentation des Erinnerten erreichen. Gleichzeitig bietet sich hier die Möglichkeit, dass beide Medien selbstreflexiv auf ihre Nähe zur Erinnerung anspielen und darauf verweisen, auf welche Art und Weise sie mit dem menschlichen Gedächtnis verbunden sind und wie sie dessen Eindrücke präsentieren können. Folglich ist es kein Zufall, das sich eine so große Anzahl literarischer Fototexte mit der Erinnerungsthematik auseinander setzt. Allen voran wären hier natürlich die Texte Winfried Georg Sebalds zu nennen, dessen Text/Bild-Kombinationen einen „zentralen und quasi standardisierten Mechanismus der literarischen Repräsentation von Gedächtnisdiskursen in der deutschen Gegenwartsliteratur etablierte[n].“117 Doch auch Monika Marons Roman Pawels Briefe ist ein gutes Beispiele für die Fruchtbarkeit von Kombinationen aus Literatur und Fotografie im künstlerischen Gedächtnisdiskurs. Wie im Kapitel 3.2.2 dargelegt wird, fungieren die Fotografien hier nicht nur als Objekt oder Katalysator der Erinnerung, sondern konkurrieren teilweise auch mit dem Wissen der Erzähle-

116 | Horstkotte 2009. S. 19. 117 | Horstkotte 2009. S. 45.

2.5. Simultanität und Nacheinander | 65

rin. Durch diese Konkurrenz reflektieren die Fotografien das Mitgeteilte so auf einer anderen medialen Ebene.

2.5 S IMULTANITÄT

UND

N ACHEINANDER

Als einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Bildern und Texten wird immer wieder genannt, dass die visuelle Gleichzeitigkeit des (fotografischen) Bildes118 dem sprachlich strukturierten Nacheinander der Literatur radikal gegenüberstünde: Es wird davon ausgegangen, dass sich Bilder auf einen Blick erfassen ließen, wohingegen Texte „mehr oder weniger langer Beschreibungen [bedürfen], um die Gegenstände sprachlich zu evozieren.“119 Der soeben beschriebene Gegensatz der beiden Künste lässt sich in erster Linie auf Lessings Laokoon-Schrift zurückführen, in der Lessing, in Anlehnung an antike Theoretiker, Text und Bild zwar eine ähnliche Wirkung, aber eine unterschiedliche Art von Nachahmung diagnostizierte.120 Laut Lessing kann der Gegenstand eines Bildes nahezu simultan erfasst werden: „Erst betrachten wir die Teile desselben [des Bildes, A.H.] einzeln, hierauf die Verbindung dieser Teile, und endlich das Ganze. Unsere Sinne verrichten diese verschiedenen Operationen mit einer so erstaunlichen Schnelligkeit, dass sie uns nur eine einzige zu sein bedünken [. . . ].“121

Interessanterweise räumt Lessing hier implizit ein, dass es sich bei der vermeintlich simultanen Wahrnehmung eigentlich um mehrere schnelle Operationen hintereinander handelt. Er weist dem Medium auf phänomenologischer Ebene also keineswegs Simultanität zu, sondern spricht lediglich von einem Eindruck der simultanen Bildwahrnehmung auf der Seite des Rezipienten. Die poetische Rede hingegen ist für Lessing eindeutig konsekutiv, nichtsdestotrotz räumt er dem Dichter ein, „das Koexistierende [. . . ] in ein wirklich Sukzessives zu verwandeln.“122 Er sieht in diesem literarischen Verfahren jedoch „ein frostiges

118 | Das hier vorliegende Kapitel bezieht sich in weiten Teilen recht allgemein auf das Verhältnis zwischen Text und Bild. Auf die Besonderheiten des fotografischen Bildes wird - wenn immer nötig - verwiesen. 119 | Rippl 2005. S. 19. 120 | Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Stuttgart 2003. S. 4. 121 | Lessing 2003. S. 123. 122 | Lessing 2003. S. 127.

66 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

Spielwerk, [. . . ] zu welchem wenig oder gar kein Genie gehöret.“123 Lessing verweist an dieser Stelle auf Horaz und zitiert: „Wenn der poetische Stümper, sagt Horaz, nicht weiter kann, so fängt er an, einen Hain, einen Altar, einen durch anmutige Fluren sich schlängelnden Bach, einen rauschenden Strom, einen Regenbogen zu malen.“124 Aus diesen Bemerkungen geht hervor, dass Lessing keineswegs die Möglichkeit ausschloss mittels Poesie Momente der Stillstellung und des Simultanen zu erzeugen, er lehnte dies nur als ästhetisch minderwertig ab. Interessanterweise ist von dieser Ablehnung in der Lessingrezeption wenig die Rede, vielmehr wird immer wieder darauf verwiesen, dass Lessing Literatur und Bild als ein Oppositionspaar konstruiert, deren Unterschiedlichkeit im visuell Simultanen und im sprachlich strukturierten Nacheinander begründet ist. Möchte man Lessings Annahmen widerlegen, gelte es eigentlich nicht zu beweisen, dass das sprachliche Nacheinander eine Illusion ist, sondern dass Momente der Stillstellung ihre ästhetische Berechtigung innerhalb eines literarischen Textes besitzen. Da ich aber keine ästhetische Diskussion führen möchte, sondern auf die Diskussionen zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Literatur und Fotografie eingehen möchte, wende ich mich dennoch der gängigen Lessing-Rezeption zu und werde zeigen, was Lessing implizit andeutet, nämlich dass das (fotografische) Bild und der literarische Text auch im Bezug auf Gleichzeitigkeit und Nacheinander einige Gemeinsamkeiten besitzen können. Zum ersten möchte ich auf die Möglichkeiten der Literatur eingehen, so etwas wie Simultanität und Stillstellung zu erzeugen. In diesem Rahmen werde ich in einem Exkurs auf wichtige kognitive Prozesse beim Lesen und bei der Bildbetrachtung eingehen. Zum zweiten werde ich zeigen, dass Bilder keineswegs nur simultan erfasst werden können und auch Bilder eine Art Leserichtung, im westlichen Kulturkreis meist, aber nicht ausschließlich, von links nach rechts, besitzen.

123 | Ebd. 124 | Ebd.

2.5. Simultanität und Nacheinander | 67

2.5.1 Momente des Simultanen in der Literatur Gabriele Rippl schreibt in ihrer Habilitationsschrift Beschreibungskunst, dass auch verbale Mittel die Zeit still stellen, „das Nacheinander in ein Nebeneinander verwandeln“125 können. Doch wann hat der Leser eines literarischen Textes den Eindruck von Simultanität und von einer verharrenden, nicht mehr vorangetriebenen Handlung? In der Literaturwissenschaft ist das Element „Handlung“ eng mit dem Begriff der Zustandsveränderung verknüpft. Für das vorliegende Kapitel ist nicht von Bedeutung, ob aufeinander folgende Ereignisse nur temporal oder auch kausal miteinander verbunden sind,126 entscheidend ist hier lediglich, dass eine Veränderung des Geschehens stattfindet. Die Handlung und der Begriff der Gleichzeitigkeit, der Ereignisfolgen ausschließt, scheinen nicht miteinander vereinbar. Folglich erscheint auch der Erzähltext, dessen wichtiger Bestandteil die Handlung ist, nicht mit dem Simultanen in Einklang zu stehen. Dies ist jedoch an zahlreichen Beispielen leicht zu widerlegen. Ein literarischer Text besteht keineswegs aus aneinander gereihten Ereignissen, sondern besitzt Momente der Stillstellung, die trotz des konsekutiven Lesevorgangs beim Rezipienten eine Illusion von Simultanität wecken, ganz ähnlich wie beim Betrachten eines Bildes, dessen gleichzeitige Wahrnehmung der Bildelemente ebenfalls eine Illusion ist.127 Ich möchte nun ein typisches Beispiel für die Illusion von Simultanität in literarischen Texten liefern: Eine Beschreibung, die stets ein retardierendes Moment im Handlungsverlauf bedeutet. Im Roman On Beauty der amerikanischen Schriftstellerin Sadie Smith wird ein Eindruck der Fokalisierungsinstanz als/wie ein Gemälde beschrieben: “In the centre of the frame there was a tall, naked black woman wearing only a red bandanna and standing in a fantastical white space, surrounded all about by tropical branches and kaleidoscopic fruit and flowers. Four pink birds, one green parrot. Three humming birds. Many brown butterflies. It was painted in a primitive, childlike style, everything flat on the canvas.” (OB 174f.) 125 | Rippl 2005. S. 27. 126 | Die kontroverse Diskussion, ob eine Handlung lediglich auf temporale Zusammenhänge angewiesen ist oder ob sie auch kausal verknüpfte Zustandsveränderungen benötigt, lässt sich beispielsweise nachvollziehen in: Jan Phillipp Busse, Zur Analyse der Handlung. In: Peter Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse. Trier 2004. S. 23-49. 127 | Vgl. das vorangestellte Zitat von Lessing

68 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

Die Szene mutet nicht nur für die Fokalisierungsinstanz wie ein Bild an. Auch der Rezipient erlebt einen Moment des Innehaltens und der kontemplativen Versenkung. Vor seinem inneren Auge verdichtet sich die beschriebene Szene zu einem Eindruck der Simultanität. Neben diesen narratologischen Argumenten sprechen für Simultanität in der Literatur auch auch die Besonderheiten des Lesevorgangs. Das Lesen ist zwar ein konsekutiver Vorgang, doch es sollte nicht außer acht gelassen werden, dass auch der Lesevorgang an sich keineswegs linear verlaufen muss. Zumindest theoretisch besteht die Möglichkeit des nicht linearen Lesens. Man kann in einem Buch willkürlich umherblättern, die Worte der Seiten durcheinander erfassen. Einige Textsorten, wie zum Beispiel Palindromgedichte, unterlaufen konventionelle Formen des Lesens, weil sie sich ebenso gut vorwärts wie rückwärts lesen lassen. Auch bei Figurengedichten liegt selten eine streng lineare Lesart vor. Ich erwähne diese Verfahren deswegen, weil sie zeigen, dass unsere lineare Lesart von Büchern durch Konvention bestimmt ist, aber keinesfalls durch die spezifische Zeichenhaftigkeit des Mediums vorgegeben ist. 2.5.2 Exkurs: Leseprozesse und Bildwahrnehmung Innerhalb dieser Debatte lohnt sich ein Blick auf Prozesse des Lesens und der Bildwahrnehmung. Zunächst ist festzuhalten, dass Schrift a priori ikonisch ist128 und die Dichotomie von Text- und Bildwahrnehmung eher ein Konstrukt als eine nicht von der Hand zu weisende Tatsache ist.129 Auch wenn Text und Bild sich in ihrer medialen Qualität voneinander unterscheiden lassen, so finden sie doch ihren gemeinsamen Fluchtpunkt in der „genuin visuelle[n] Qualität dieser Medien.”130 Sabine Gross legt in ihrer Schrift Lese-Zeichen eindrucksvoll dar, wie ähnlich die Prozesse der Bild- und Textwahrnehmung funktionieren.131

128 | Vgl. Horstkotte/Leonhard 2006. S. 9. 129 | Dieses gilt besonders für bestimmte Bild/Text-Gefüge wie etwa Initiale und Buchmalereien. Da ein hybrides „Ineinanderblenden von Bild- und Textzeichen” (Steffen Siegel, Bild und Text. Ikonotexte als Zeichen hybrider Visualität. In: Silke Horstkotte/Karin Leonhard, Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Text und Bild. Köln/Weimar/Wien 2006. S. 54.) in literarisch-fotografischen Werken aber kaum eine Rolle spielt, wird auf dieses Phänomen hier nicht näher eingegangen, sondern nur die Ähnlichkeiten bei der kognitiven Wahrnehmung von Text- und Bildmedien betrachtet. 130 | Siegel 2006. S.71. 131 | Vgl. Sabine Gross, Lese-Zeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß. Darmstadt 1994.

2.5. Simultanität und Nacheinander | 69

In Bezug auf den Wahrnehmungsprozess bilden die beiden Medien Text und Bild vorerst keinen Gegensatz: Ein literarischer Text ist kein oral-aurales Medium, sondern wird in der Regel ebenso wie Bilder mit den Augen erfasst. Die Buchstaben sind zunächst einmal eine Anordnung von Zeichen auf einer zweidimensionalen Fläche. Durch die Sichtbarkeit des literarischen Textes löst sich dessen Wahrnehmung von der Geschwindigkeit des Sprechens und Hörens.132 Lesen kann so als „visuelles Abtasten einer zweidimensionalen Fläche“133 begriffen werden, welches laut Gross nach folgendem Prinzip funktioniert: „das visuelle Muster, also die Erscheinungsform des Wortes, wird identifiziert und enkodiert, und die Bedeutung des Wortes wird im inneren „Lexikon“ abgerufen (lexical access). Wörter werden zunächst kurzzeitig als Bilder gespeichert, aufgrund von Form, Position und Druckbild, nicht in Buchstaben differenziert.134

Allerdings ist sowohl Texten als auch Bildern zueigen, dass eine Trennung von Sehen und Lesen, von Wahrnehmung und Dekodierung nicht möglich ist. Gegenwärtige Lesetheorien fußen auf der Annahme, dass Wort und Textbedeutungen bereits in die Augenbewegungen eingehen: „[...] die Fixationszeit [ist] mit der Verarbeitungszeit der Information zwar nicht identisch, aber korrelierbar [. . . ].“135 Interessanterweise ermöglicht die räumliche Anordnung des Textes, trotz der direkten Aufeinanderfolge von Wörtern und Sätzen eine „Nichtlinearität und zeitliche Diskontinuität der Augenbewegungen“136 beim Erfassen eines literarischen Textes. Die Flexibilität der Augenbewegung beim Lesen gleicht derjenigen beim Betrachten eines Bildes in hohem Maße. Studien haben gezeigt, dass selbst auf der Ebene einzelner Wörter die zeitliche Folge nicht der räumlichen entspricht: Die Reihenfolge der Fixationen kann der Textfolge sogar zuwiderlaufen.137 In der Leselernforschung zeigt sich außerdem, dass Kinder mimetische Entsprechungen von Wort und Bedeutung favorisieren: „Kinder möchten das längere Wort regelmäßig dem größeren und gewichtigeren Gegenstand zuordnen,“138 dass beispiels-

132 | Vgl. Gross 1994. S. 61/62. 133 | Gross 1994. S. 3. 134 | Gross 1994. S. 9. 135 | Gross 1994. S. 8. 136 | Gross 1994. S. 10. 137 | Ebd. 138 | Gross 1994. S. 49.

70 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

weise Diminuitive das Wort verlängern anstatt es kleiner zu machen, können Kinder schwer nachvollziehen.139 Zusammenfassend lässt sich zur kognitiven Wahrnehmung eines literarischen Textes sagen, dass diese in vielen Punkten der kognitiven Wahrnehmung eines Bildes ähnelt. Eine Annäherung von Text und Bild deutet sich implizit auch in der Debatte um die Bedeutung des literarischen Raumes an, die nicht erst seit dem so genannten „spatial turn” mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Die Zuordnung des Raumes zum Bild und der Zeit zur Literatur ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die Literaturwissenschaft erkennt, dass fiktionale Texte erfahrbare Räume erschaffen, „um Zusammenhänge zu konstruieren und wiederholbar lesbar zu machen.“140 Weiterhin ist der Raum ein notwendiger Bestandteil eines dramatischen Textes und in epischen Werken ist das Fehlen einer Beschreibung des die Figur umgebenden Raumes meist ebenso bedeutungstragend wie die Beschreibung eines Raumes selbst. 2.5.3 Die sukzessive Wahrnehmung des (fotografischen) Bildes Es wurde gezeigt, dass die Literatur durchaus in der Lage sein kann, Momente der Stillstellung und damit den Eindruck von Simultanität zu erzeugen. Umgekehrt möchte ich nun zeigen, dass auch unbewegte Bilder einen „Lesevorgang“ besitzen können, der eher durch aufeinander folgende Eindrücke als durch visuelle Gleichzeitigkeit geprägt ist. Ein Bild lässt sich nicht durch eine einzige gleitende Bewegung erfassen, sondern „erschließt sich dem Auge ebenso zeitlich sequentiell wie ein Schrifttext,“141 allerdings deutlich weniger linear. Ein Gemälde, an welchem sich dieser konsekutive Rezeptionsvorgang gut nachvollziehen lässt, ist Der Garten Eden der Brüder von Limburg aus dem Jahr 1413-1416. Die aus dem Stundenbuch Les Très Riches Heures du Duc de Berry stammende, 20cm x 20cm große Illustration zeigt den biblischen Sündenfall. Im Garten Eden ist Eva viermal abgebildet, links oben im Kreis, wie sie den Apfel von der Schlange erhält, links unten wie sie Adam den Apfel übereicht, in der rechten Hälfte gemeinsam mit Adam vor Gott und rechts außerhalb der Rundung vor den Toren des Paradieses. Eine zeitlich sequentielle Rezeption des Gemäldes, die gleich der üblichen Lesart des Abendlandes linear von links nach rechts verlaufen soll, ist hier intendiert und zum Verstehen des Bildes notwendig, da eine simultane 139 | Ebd. 140 | Axel Gellhaus, Schreibengehen. Literatur und Fotografie en passant. Wien u.a. 2008. S. 7. 141 | Gross 1994. S. 101.

2.5. Simultanität und Nacheinander | 71

Abbildung 2.3: Brüder von Limburg, Der Garten Eden (aus aus dem Stundenbuch Les Très Riches Heures du Duc de Berry), 1413-1416. 20x20cm.

Wahrnehmung der einzelnen Bildelemente dem Dargestellten nicht gerecht werden würde: der Inhalt der Illustration, nämlich der Sündenfall und die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies, könnte nicht erfasst werden. Selbstverständlich ist hier zu berücksichtigen, dass die im Bild erzählte Geschichte dem Betrachter bekannt sein muss, damit dieser sich auf die ungewöhnlich lineare Bildwahrnehmung einlassen kann. 2.5.3.1 Die „Leserichtung“ des gemalten Bildes Das Beispiel zeigt, dass die „Leserichtung“ eines Bildes durchaus mit der Leserichtung von Texten einhergehen kann. Während das soeben besprochene Gemälde von links nach rechts „gelesen“ werden muss, so erfordert ein Gemälde aus dem arabischen Sprachraum eine „Leserichtung“ von rechts nach links. Als Beispiel soll hier ein Gemälde aus dem Book of Antidotes aus dem Jahr 1199 besprochen werden, welches vermutlich im Nordirak entstand. Das Bild illustriert die Geschichte des Arztes Andramakhos, der seine Bauern auf den Feldern beaufsichtigt. An dieser Stelle sind jedoch die (in der Geschichte nicht erwähnten) dargestellten landwirtschaftlichen Tätigkeiten von Bedeutung, die von rechts nach links in ihrer natürlichen Abfolge gezeigt werden. Nach dem Pflüger erscheint der Erntearbeiter, der mithilfe einer Sichel

72 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

eine Pflanze abschneidet, ihm folgt ein Mann mit einer Dreschmaschine, die von zwei Ochsen gezogen wird und hinter diesem folgen zwei Bauern, die die Spreu vom Weizen trennen. Den Abschluss bildet ein kleiner Esel, der das Getreide davonträgt.142 2.5.3.2 Die Leserichtung des fotografischen Bildes Es stellt sich nun jedoch die Frage, inwieweit die Fotografie ähnliche Rezeptionsvorgänge initiieren kann wie die Illustration der Brüder von Limburg oder die arabische Illustration aus dem Antidotes-Buch, da der Prozess des Fotografierens ein sehr viel engeres Verhältnis zur Simultanität zu begründen scheint. Die Entstehung einer Fotografie ist eng mit Stillstellung und Augenblicklichkeit verbunden, da die meisten Fotografien nur einen Sekundenbruchteil abbilden. Sie zeigen lediglich einen kurzen Ausschnitt des Weltverlaufs und das, was auf der Fotografie erkennbar ist, kann durch die kurze Belichtungszeit keine Handlungsabläufe abbilden. Gleichzeitig wird die Fotografie aber auch mit der Prämisse rezipiert, dass es ein Davor und Danach gegeben haben muss, dass die Fotografie zwar nur einen Augenblick zeigt, dass dieser aber in ein Geschehen eingebettet sein muss. Auf diese Besonderheit möchte ich im Kapitel „Narrativität in Literatur und Fotografie” noch ausführlicher zu sprechen kommen. Ebenso wie die Malerei bietet aber auch die Fotografie die Möglichkeit derart komplexe Bildinhalte zu vermitteln, dass der Betrachter in jedem Falle mehrere Fixationen benötigt, um den Bildinhalt zu erfassen. Man denke hier beispielsweise an die berühmte Fotografie Der Degendieb von Robert Lebeck. Im Gewimmel von Fotografen, Fahrzeugen, Menschen und Fahnen ist erst auf den zweiten Blick der eigentliche „Clou“ des Bildes zu erkennen: Der Kongolese, der mit dem Paradedegen des Monarchen entflieht.143 2.5.4 Zwischenfazit Dieses Kapitel hat gezeigt, dass sich Literatur und unbewegte Bilder nicht durch den Gegensatz von Sukzessivität und Simultanität auszeichnen, sondern dass beide Medien sowohl aufeinander folgende Eindrücke als auch Momente von Gleichzeitigkeit erzeugen können. Elisabeth Bronfen hat geschrieben, dass die Begegnung mit narrativen Texten uns dazu zwingt, „darauf zu achten, wie Textualität Bilder hervorbringt, indem sie Szenen beschreibt oder Denkbilder erfindet.”144 Gleichzei142 | Vgl. Richard Ettinghausen, Arab Painting. Cleveland, Ohio 1962. S. 83. 143 | Vgl. zu dieser Fotografie Glasenapp 2008. S. 13-22. 144 | Elisabeth Bronfen, Crossmappings. Essays zur visuellen Kultur. Zürich 2009.

2.6. Das erzählerische Potential von Fotografien | 73

tig verweist Bronfen auch darauf, dass wir kaum verhindern können, „Bilder zu lesen, Geschichten für Bilder, die wir sehen, zu produzieren, sowie Geschichten über unseren Umgang mit diesen Bildern zu erzählen.”145 Sukzessivität und Simultanität bilden eher Berührungspunkte zwischen Text und Bild als ein sicheres Unterscheidungsmerkmal. Momente von Gleich- und Nachzeitigkeit lassen sich nicht nur in einzelnen Werken nachvollziehen, sondern auch durch die Kognitionspsychologie und Leseforschung wissenschaftlich begründen. Besonders der erwiesenermaßen wenig linear verlaufende Lesevorgang sollte unsere Vorstellung von der sukzessiven Wahrnehmung eines Textes erschüttern. Ebenso beachtenswert ist die Korrelation von Leserichtung und Bildwahrnehmung. Letztendlich verwundert es nicht, dass in Texten und Bildern simultane und konsekutive Wahrnehmungen gleichermaßen möglich sind, denn „Zum Denken“ so Walter Benjamin, „gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung.”146

2.6 DAS

ERZÄHLERISCHE

P OTENTIAL

VON

F OTOGRAFIEN

„Take more than pictures, take stories!”147 „. . . Pictures, music or dance can have narrativity without being narratives in a literary sense.“148

Lange Zeit wurde das Narrative, also Erzählende, vornehmlich als ein Element begriffen, das nur zur Literatur, speziell zur Gattung des Epischen, gehörte. Dies hat seinen Ursprung in der Annahme, dass eine Erzählung an eine Erzählinstanz gebunden sei, folglich an ein Element, das hauptsächlich in Texten der Erzählliteratur auftritt. Hier verhindert die Konzentration auf die discourse-Ebene eine Anwendung des Erzählbegriffes auf nicht-sprachliche Kunstwerke. Auf der Ebene des Erzählten,

S. 45. Die Autorin beschreibt die Visualität als einen „unheimlichen Gast” des Erzählens. 145 | Ebd. 146 | Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte. In: Michael Opitz (Hg.), Walter Benjamin. Ein Lesebuch. Frankfurt a.M. 1996. S. 674. 147 | Werbeaussage Canon, Juli 2010. Vgl. auch: http://www.canon-europe.com/ takestories/?WT.mc_id=119TakeS7D000Lif_170610#/eos7d vom 19.07.2010. 148 | Marie Laure Ryan, Narrative across Media. The Languages of Storytelling. Nebraska 2004. S. 9.

74 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

der story, wird eine Öffnung der Erzähltheorie in Richtung anderer Medien jedoch möglich.149 Begriffe wie „Handlung“, „Figuren“, „Zeit“ und „Raum“ können hier als wichtige Elemente einer Erzählung genannt werden, die nicht nur in der Literatur eine Rolle spielen. Auch die Zustandsveränderung gilt als ein wesentliches, transmediales Kennzeichen von Erzählungen. Neuere, auf die story-Ebene konzentrierte Forschungsansätze brechen den Fokus der Narratologie auf Erzähltexte auf und fragen nach dem erzählerischen Potential von Medien jenseits der Literatur. Nicole Mahne beispielsweise geht von einem weit gefassten Erzählbegriff aus und definiert das Narrative als „eine grundlegende kognitive Fähigkeit des Menschen, Ereignisse der Lebenswirklichkeit sinnvoll zu organisieren und zu vermitteln.“150 Mahne schreibt weiterhin: „Das menschliche Wahrnehmunsvermögen, zeitliche Prozesse in eine chronologische und kausale Ordnungsstruktur zu überführen, bildet das Fundament für die Gestaltung von Erzählwerken.”151 Sie lehnt sich hier an der Definition von Werner Wolf an, der das Narrative als „kognitives Schema des menschlichen Denkens” 152 begreift. Narrativ sind folglich keineswegs nur literarische Erzeugnisse mit einer klar definierten storyund discourse- Ebene, sondern sämtliche Medienprodukte, die das kognitiv-narrative Schema des Menschen zu stimulieren vermögen. Da im Bezug auf literarische Texte narratologische Fragen weitreichend geklärt sind, möchte ich hier danach fragen, wann und auf welche Art und Weise Fotografien ein erzählerisches Potential entfalten können und eine dreiteilige Antwort auf diese Frage geben: Fotografien können in Sequenzen erzählerisch wirksam werden, sie können Geschichten evozieren, die sich der Einbildungskraft eines Rezipienten verdanken und sie können sich durch die Einbettung in einen fiktionalen Text in eine Geschichte eingliedern, diese aber auch ergänzen, stören oder auf einer Metaebene reflektieren. 2.6.1 Erzählen durch fotografische Sequenzen Leicht nachzuvollziehen ist das erzählerische Potential der Fotografie wenn diese in Sequenzen, beispielsweise in Polyphasenbildern, angeordnet ist. Viele Ansätze aus der Comicforschung, deren gezeichnete Panels ebenfalls in Sequenzen auch ganz 149 | Vgl. Rentsch 2008. S. 51. 150 | Nicole Mahne, Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen 2007. S. 9. 151 | Ebd. 152 | Mahne 2007. S. 16.

2.6. Das erzählerische Potential von Fotografien | 75

ohne Text eine Handlung generieren können, sind an dieser Stelle hilfreich. Der Rezipient eines Comics muss deuten, was sich zwischen den einzelnen Bildsequenzen ereignet hat und beginnt, konsekutive und kausale Verknüpfungen zwischen den Panels herstellen. Bei diesen Verknüpfungen helfen dem Rezipienten nicht nur das allgemeine Weltwissen weiter, sondern auch bestimmte, konventionalisierte Symbole. Ganz ähnlich können auch die fotografischen Sequenzen wirken. In aufeinander folgenden Bildern können Fotografien eine Handlung darstellen und somit eine kleine Geschichte entfalten. Dieses Potential der Fotografie nutzt beispielsweise der Fotoroman Eben jetzt (original: Fugues, 1983) von Benoît Peters und Marie-Françoise Plissart,153 der fast vollständig ohne Text auskommt und seine Handlung nur durch unterschiedlich groß abgedruckte Fotografien kommuniziert. Hier zeigen nur wenige Fotografien (auf der intradiegetischen Ebene) handschriftliche Notizen, die dem Rezipienten eine kleine Hilfestellung für die Rekonstruktion des Geschehens leisten. Die Fotografien zeigen das Zusammentreffen von vier einander fremden Menschen in einem Haus an der Küste, stellen subtil dar, wie sich Beziehungen zwischen ihnen entwickeln und dokumentieren ihre (gem)einsamen Erlebnisse bis der Abschied naht. Den Fotografien gelingt es hier, nicht nur das Erzählen eines konsekutiven Ereignisverlaufs, sondern auch komplexere zwischenmenschliche Konstellationen nachzuvollziehen und eine Handlung zu präsentieren, die eher von innerem Erleben als von äußeren Ereignisfolgen geprägt ist. Jenseits dieses recht komplexen künstlerischen Projektes läßt sich festhalten, dass (fotografische) Bilderfolgen leicht Handlungen nachvollziehen können. Auf der einen Seite verlangen diese keinen lesekundigen Rezipienten, auf der anderen Seite ist der Betrachter aktiv gefordert, da er die Zusammenhänge zwischen den Einzelbildern selbst herstellen muss. Der Raum zwischen den einzelnen Panels steht für die Zeit, die zwischen den Handlungsabfolgen vergeht. Diese kann wie beim Polyphasenbild sehr kurz sein, kann aber auch einen längeren Zeitraum andeuten. Das narrative Potential von fotografischen Sequenzen ist folglich eng an die Fähigkeit des Betrachters geknüpft, eigenständig Zusammenhänge zu erschließen. 2.6.2 Die Wirkung der Fotografie auf die Imagination des Betrachters Eine weitere Möglichkeit, die Fotografie mit dem Erzählen zu verknüpfen, ist die der Fotografie innewohnende Möglichkeit, Geschichten beim Betrachter zu evozie-

153 | Vgl. Benoît Peters/Marie-Françoise Plissart, Eben jetzt. Fotografische Suite. Zelhem 1993.

76 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

ren. Fotografien scheinen ihre Betrachter dazu zu drängen, Geschichten zu erfinden, wie auch Emma Kafalenas behauptet: „[...] a painting or a photograph with narrative implications offers the perceiver an experience that is comparable to entering a narrative in medias res, we ask ourselves what has happened, what is about to occur and where we are in the sequence of a narrative.”154

Auch der Theoretiker Robert Akeret bestätigt die Annahme: „By looking at photos with a critical eye and a fluid imagination, we see stories emerging: stories about personal quirks and desires, stories about how life changes and how it remains the same; stories about how time and space shape our lives.“155

An dieser Stelle ist zu berücksichtigen, dass alle Bildformen den Betrachter dazu animieren können, eine Geschichte zu imaginieren. Die Fotografie animiert den Betrachter allerdings in besonderem Maße, was sich am besten, wie bereits angedeutet, durch einige Überlegungen zum Vorgang des Fotografierens nachvollziehen lässt: Das, was auf der Fotografie sichtbar ist, ist der kurze Ausschnitt eines Geschehens. Der Rezipient weiß, dass etwas stattgefunden hat, bevor der Fotograf den Auslöser betätigte und er weiß auch, das es ein Danach gegeben haben muss. Die Fotografie scheint einen Sekundenbruchteil im Weltverlauf festzuhalten, doch die Erde hat sich vor der Aufnahme gedreht und wird sich nach ihr auch noch weiter drehen. Diese Prämissen ermöglichen dem Betrachter die Imagination von Geschehen und Geschichten. Das Narrative findet im fotografischen Medium auch hier nicht durch sich selbst, sondern durch die Vorstellungskraft des Betrachters statt. Meines Erachtens nach, muss die Narrativität des Mediums aber dadurch nicht geringer sein als die eines literarischen Textes. Schließlich erschließt sich das Narrative eines Textes dem Rezipienten auch nur dadurch, dass er die Worte als visuelle Zeichen erkennt und in Vorstellungen übersetzt. Ein Experiment zum Thema „Fotografie und Erzählen” wagt der Fotograf Jean Mohr in Jenseits meiner Kamera.156 Hier zeigt er neun verschiedenen Menschen (aus unterschiedlichen Berufsgruppen) eine Reihe seiner Fotografien und fragt sie nach der Geschichte, die die Fotos erzählen. Die Antworten, die Geschichten der Befragten sind sehr unterschiedlich und stimmen nur selten mit dem tatsächlichen Entste154 | Emma Kafalenas zit. nach Ryan 2004. S. 140. 155 | Robert U. Akeret, Photolanguage. How Photos Reveal the Fascinating Stories of Our Lives and Relationships. New York/London: 2000. S. 13. 156 | Vgl. Mohr 1984. S. 41-57.

2.6. Das erzählerische Potential von Fotografien | 77

hungskontext der Fotografie überein. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie nur durch die Fotografie evoziert worden sind und nicht durch ergänzende Erklärungen oder Bildunterschriften. Die Beobachtung, dass Fotografien zum Geschichten erzählen drängen, lässt sich an einigen Fotografien deutlich besser beobachten als an anderen. Allerdings lassen sich kaum verallgemeinernde Aussagen zu diesem Thema treffen, da es stark von den jeweiligen Rezipienten der Fotografie abhängt, wie stark eine Fotografie eine Narration evoziert. Eine unspektakuläre Landschaftsaufnahme besitzt für sich zwar weniger narratives Potential als beispielsweise die Aufnahme einer fliehenden Familie, kann einen Rezipienten, der in einer solchen Gegend aufgewachsen ist, aber wohl zum Erzählen von Geschichten motivieren. Dennoch lässt sich festhalten, das es für die Verknüpfung von Fotografie und Erzählen hilfreich ist, wenn auf der Fotografie ein Zustand abgebildet ist, der sich in ein fortlaufendes Geschehen eingliedern lässt. So lässt sich die für Narrativität erforderliche Zustandsveränderung leichter imaginieren. Ein berühmtes Beispiel wäre hier die Fotografie eines unbekannten Fotografen, der einen Jungen mit erhobenen Händen (wahrscheinlich) während der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto zeigt. Er ist an der Spitze einer Gruppe von Menschen abgebildet, die mit erhobenen Händen, von Soldaten flankiert, durch einen schäbige Straße geleitet werden. Die Gesichter der Menschen sind von Angst gezeichnet, besonders dem Jungen im Vordergrund kann man seine Furcht deutlich ansehen. Die Blicke der Getriebenen führen zu den Soldaten, zum Teil aber auch aus dem Bild hinaus, wodurch der Betrachter dazu animiert wird, nach Ereignissen jenseits des Bildes zu fragen. Er muss sich ebenso überlegen, warum die Menschen, vor allen Dingen die Kinder, von Soldaten getrieben werden, warum ihre Angst so groß ist und wohin sie gehen werden. Zeit und Raum, die in der Fotografie nicht dargestellt werden, können vom Betrachter ergänzt werden. Die näheren Kontexte der Fotografie sind uns heute bekannt und das Bild ist zu einer Ikone unseres kulturellen Gedächtnisses geworden. Petra Mayrhofer beschreibt die symbolische Schlagkraft der Fotografie wie folgt: „Das Bild des kleinen Jungen zeigt zugleich das Geschehen, wirkt also als Tatbestandsaufnahme und verdichtet als Symbolfoto gleichzeitig eine ganze Kette von Ereignissen. Habbo Knoch bezeichnet dies als „das Prinzip des typischen Bildes“, eine Aufnahme, die von ihren konkreten Herkunftszusammenhängen abgelöst stellvertretend für verschiedene ähnliche Geschehnisse oder Ereigniszusammenhänge steht. Das Foto weist in seiner Bildkomposition eine Vielzahl von Gegensätzen auf: „Einerseits SS-Truppen versus Jüdinnen und Juden, Täter versus Opfer, Militär gegen Zivilbevölkerung, Kraft gegen Hilflosigkeit, bedrohende Hände an Waffen gegen erhobene leere Hände in Kapitulation, Stahlhelme versus Kappen und unbedeckte Häup-

78 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

ter, Selbstgefälligkeit versus Angst, Sicherheit versus drohendes Unheil, Männer gegen Frauen und Kinder.“[Zit. n. Raskin, Richard. 2004. A Child at Gunpoint. A Case Study in the Life of a Photo. Aarhus: Aarhus University Press, S. 21.] Aufgrund dieser multiperspektivischen Interpretationsmöglichkeiten wirkt das ikonische Foto damit je nach Zusammenhang und Bildausschnitt als Symbol des Opfers, der Unterlegenheit, des Widerstands im Warschauer Getto, als Sinnbild für die jüdische Verfolgung oder als mahnende visuelle Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit im Kontext mit Berichten über die NS-Vergangenheit von PolitikerInnen.”157

Nichtsdestotrotz drängt die Fotografie auch heute noch Fragen auf, die sich mit dem Schicksal und der Geschichte der abgebildeten Individuen beschäftigen.158 Tendenziell ist festzuhalten, dass Menschen eher zum Erzählen animieren als Landschaften, besonders, wenn die Menschen bei irgendeiner Tätigkeit abgebildet sind. Auch die ästhetische Form kann bedeutsam sein: Eine verwackelte Fotografie kann auf Angst des Fotografen und deswegen auf eine gefährliche Situation hindeuten, Unschärfe kann die Authentizitätsillusion erhöhen, sich aus dem Bild heraus bewegende Gegenstände, Personen oder Blicke erleichtern die Vorstellung eines Raumes jenseits der Fotografie. Lange Belichtungszeiten hingegen schaffen meist Ruhe und Bewegungslosigkeit und wirken sich daher eher negativ auf das erzählerische Potential einer Fotografie aus. Grundsätzlich können aber nur Tendenzen festgehalten werden, da das narrative Potential von Fotografien in dieser Form letztendlich von der individuellen Reaktion des Rezipienten bestimmt ist. Auch der Kontext, in dem die Fotografie präsentiert wird, ist entscheidend: In Familienalben beispielsweise setzen Fotografien sehr häufig einen Erinnerungsstrom und damit einen Erzählfluss in Gang. In Museen besitzen sie diese Eigenschaft sicherlich weniger, da sie hier eher als Kunstwerke gesehen werden. Einen Teil ihrer Fähigkeit, Geschichten evozieren zu können, verdankt die Fotografie sicherlich auch

157 | Mayrhofer, Petra, Junge aus dem Warschauer Ghetto. Bildanalysetext zur Abbildung 6 der Ikone „Kniefall“, in: Online-Modul Europäisches Politisches Bildgedächtnis. Ikonen und Ikonographien des 20. Jahrhunderts, 09/2009, U, URL: http://www.demokratiezentrum.org/themen/europa/europaeisches-bildgedaecht nis/kniefall/abb6-junge-aus-dem-warschauer-ghetto.html vom 07.12.2010. 158 | Es ist beispielsweise nicht eindeutig geklärt, ob die Fotografie tatsächlich im Warschauer Ghetto entstand. Die Nachforschungen Marc Berkowitzs, die ergaben, dass die Fotografie bereits nach der Auflösung des Ghettos am 13. Juli 1943 vor dem Hotel Polski entstand, gelten als umstritten. [Andre Grounewoud, Ein Bild, ein Kind, eine Geschichte. Kölner Stadtanzeiger vom 19.07.05. http://www.ksta.de/html/artikel/1121601571007.shtml vom 07.12.2010.

2.6. Das erzählerische Potential von Fotografien | 79

ihrer authentischen Wirkung. Der Betrachter begreift das Dargestellte dann nicht als Pose, sondern als einen Ausschnitt des Weltverlaufs. 2.6.3 Die Einbettung von Fotografien in literarische Texte Als dritte Möglichkeit mit der Fotografie Narration zu erzeugen, habe ich die Einbettung von Fotografien in fiktionale Texte genannt. Hier werden die Bilder zu einem Teil der Erzählung, sie können diese illustrieren und ergänzen, aber auch stören oder kritisch reflektieren. Sie können im literarischen Fototext eine eigene Zeitebene abbilden, einen Perspektivwechsel vornehmen, sie können die Behauptungen des Erzählers konterkarieren, in Frage stellen, bestätigen oder ergänzen. Gleichzeitig können sie durch mediale Selbstreflexion auf ihre eigene Beschaffenheit und damit auf ihre Differenzen und Ähnlichkeiten zum literarischen Text eingehen. Fotografien können innerhalb der Erzählung ein Element darstellen, das den Lesefluss als solchen unterbricht, um einen Moment des Innehaltens und der Kontemplation zu erzeugen. Auf diese Art werden Fotografien zu einem Teil der erzählerischen Vermittlung. In literarischen Texten werden Fotografien also zum Teil der Fiktion und der erzählten Geschichte. Diese dritte Möglichkeit der Fotografie Narrativität zu erzeugen, ist sicherlich der bedeutendste für die vorliegende Arbeit. Im dritten Kapitel wird in zahlreichen Beispiele zur Sprache kommen, wie Fotografien zu einem Bestandteil der Erzählung werden und auf welche Art sie an der Bedeutungskonstitution der Geschichte beteiligt sind. 2.6.4 Die Übertragung narratologischer Kategorien auf Bildmedien Da Fotografien, wie dieses Kapitel erläutert hat, ein narratives Potential besitzen (können), sollte zumindest kurz überlegt werden, inwiefern einige Kategorien der klassischen Narratologie (Stanzel, Genette, Fludernik) auch auf fotografische Bilder angewendet werden können. Zu Beginn des Kapitels wurde bereits angedeutet, dass in visuellen Artefakten keine Erzählinstanzen auftreten. Die Narratologie fragt seit Genette nicht nur danach, wer spricht, sondern auch danach, wer wahrnimmt. Der Begriff der Wahrnehmung und der Perspektive lässt sich nun recht gut auf fotografische Bilder beziehen. Der Fotograf wählt eine bestimmte Perspektive für sein Foto aus, die nicht selten von großer Bedeutung für die Bedeutungskonstitution des Bildes ist. Er kann Nähe und Distanz zum Geschehen erzeugen und sich somit zu dem Abgebildeten bekennen oder sich von ihm abgrenzen. Die Opposition von Nähe und Distanz ist auch in Genettes Begriff der homo- und heterodiegetischen Fokalisierung

80 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

angelegt. In einer Fotografie wird Nähe zum beispielsweise dadurch erzeugt, dass der Fotograf sein Objektiv auf eine Höhe zum fotografierten Gegenstand bringt oder dadurch, dass Objekte durch den Bildrahmen „abgetrennt” werden.159 Auch Überlegungen zur Raumwirkung sind in Literatur und Fotografie gleichermaßen von Bedeutung. Während die Literatur Räume semantisiert, so kann der Fotograf durch den Einsatz bestimmter Objektive, wie zum Beispiel eines Fischauges, eine bestimmte Raumwirkung erzeugen, die Einfluss auf das Abgebildete und den Betrachter hat. Auch die Wahl der fotografischen Kulisse ist von Bedeutung, in Porträts wird sie beispielsweise bewusst genutzt, um Aussagen über die Persönlichkeit der Abgebildeten zu treffen. Insgesamt lassen sich Kategorien der Erzähltextanalyse zwar nicht analog auf Fotografien anwenden, es kann aber durchaus sinnvoll sein, einige dieser etablierten Analyseelemente für die Betrachtung von narrativ wirkenden Fotografien zu modifizieren. Fragen nach der Perspektive, der Raumwahrnehmung und der Figurenkonstellation sind sowohl für literarische als auch für fotografische Werke bedeutsam. 2.6.5 Zwischenfazit Narrativität ist mit Begriffen wie Erzählinstanz, Handlung, Figuren, Zeit und Raum verknüpft. Die Fotografie als Momentaufnahme scheint daher zunächst nicht mit Narrativität in Verbindung zu stehen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass nicht nur die Literatur, sondern auch die Fotografie ein narratives Potential besitzt, welches auf unterschiedliche Art und Weise geweckt und präsentiert werden kann. Im Gegensatz zum literarischen Medium fehlen aber bislang Kategorien, um die narrative Wirkung der Fotografie näher zu bestimmen und zu analysieren. Einige Kategorien der Erzähltheorie können – wenn auch nicht eins zu eins – für die Analyse fotografischer Bilder genutzt werden. Dieses wird in den folgenden Kapiteln noch erprobt und hinterfragt werden. In jedem Fall lässt sich das Narrative als ein weiteres Verbindungsglied zwischen Literatur und Fotografie konturieren, auch wenn Narrativität in Literatur und Fotografie auf sehr unterschiedliche Art und Weise erzeugt wird.

159 | Ebenso wie in der Literatur (außer in der klassischen Autobiographie) Autor und Erzähler voneinander getrennt werden, so lässt sich auch darüber nachdenken, ob man in Fotografien eine Trennung zwischen dem Fotografen und seiner inszenierten Perspektive vornehmen könnte.

2.7. Konkurrenz zwischen Literatur und Fotografie | 81

2.7 KONKURRENZ

ZWISCHEN

L ITERATUR

UND

F OTOGRAFIE

Wort und Bild sind von jeher zwei wichtige Weisen des menschlichen Weltzugangs gewesen,160 die sich nicht nur ergänzen und wechselseitig bedingen, sondern auch als Kunstformen in Konkurrenz zueinander stehen können. In der künstlerischen Kombination aus Literatur und Fotografie sind Momente beobachtbar, in denen Wort und Bild nicht im harmonischen Einklang stehen, sondern konkurrieren und ihre spezifischen Besonderheiten gegeneinander ausspielen. Fotografie und Literatur reagieren wechselseitig aufeinander sowohl durch Aneignung als auch durch Abgrenzung. Trotz der Tatsache, dass in Kombinationen von Literatur und Fotografie beide Medien an der Bedeutungskonstitution teilhaben und als notwendige Bestandteile eines intermedialen Ganzen wirken, muss sich die Literatur auf ihr Anderes beziehen, um sich selbst behaupten zu können.161 Für mediale Selbstreflexivität ist Konkurrenz wichtig, da das Wesen eines Mediums nicht zuletzt durch seine Nachteile und Vorzüge gegenüber anderen Medien bestimmt wird. In der Medienkombination werden meist nicht die Künste als Ganzes gegeneinander aufgespielt, sondern verschiedene Aspekte betont, in denen das eine Medium dem anderen über- oder unterlegen zu sein scheint. Es geht hier um eine Konkurrenz, die sich nicht selten dadurch zeigt, dass die eine Kunst ergänzt, was die andere nicht oder nur schwerlich ausdrücken kann, dass sie etwas hinzufügt, was der anderen zu kommunizieren schwer fällt. Konkurrenz betont hier die Stärken und Schwächen des Mediums ohne einen Wettstreit der Künste in klassischen Sinn auszutragen, bei dem ein Medium als Gewinner hervorgeht. Konkurrenz und Harmonie schließen sich in Kombinationen aus Literatur und Fotografie nicht aus. Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, welche Konkurrenzen das Verhältnis von Literatur und Fotografie häufig bestimmen und welche Punkte ihres Wesens auf diese Weise voneinander abgegrenzt werden. 2.7.1 Realität und Fiktion Auch wenn die Rivalität zwischen Fotografie und Literatur dem entsprechenden Verhältnis von Literatur und Malerei nicht unähnlich ist, so stand im 19. Jahrhundert die Fotografie als junges, wenig etabliertes Medium in besonderem Maße in Konkurrenz zu anderen Repräsentationsformen. Die zur Moderne gehörige Fotografie konnte im Gegensatz zur Literatur auf keine Traditionen zurückblicken. Überhaupt galt sie 160 | Vgl. Rippl 2005. S. 20. 161 | Ebd.

82 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

als eine „sekuläre[n] Erfindung des industriellen Zeitalters, die auf einer Kombination von Errungenschaften der Chemie, Optik und Mechanik beruhte“162 und nicht (und wenn, dann nur in zweiter Linie) als Kunst. Einige Literaten, allen voran Charles Baudelaire, griffen die Fotografie als ästhetisch minderwertig an, nicht zuletzt, um die Vorrangstellung der etablierten Künste zu betonen und zu sichern. Baudelaire kritisierte an der Fotografie nicht nur den Einbruch der Industrie in die Kunst, sondern vor allem, dass die Fotografie den Künsten zugerechnet wird, obwohl sie lediglich die Natur nachahme. Die Fotografie, so schreibt Baudelaire, soll „zu ihrer eigentlichen Pflicht zurückkehren, die darin besteht, der Wissenschaften und der Künste Dienerin zu sein“ und sich nicht „auf die Domäne des Geistes und der Phantasie ausweiten“.163 Auch in der Literatur lehnt es Baudelaire als unnütz und langweilig ab, nur „darzustellen, was ist“164 , und fordert als Motoren der künstlerischen Arbeit Phantasie, Geist und Erfindungsreichtum, folglich Elemente, die er als nicht kompatibel mit dem fotografischen Prozess einstuft. Er begreift die Fotografie als „eine Radikalisierung der Darstellungsverfahren, die auch die realistische Literatur und Malerei auszeichnen.“165 Auch wenn Baudelaires Vorbehalte gegen die Fotografie mittlerweile als überholt eingestuft werden können, so stellt deren unmittelbares Verhältnis zum faktisch Gewesenen, nach wie vor eine Herausforderung für fiktionale Texte dar.166 Die Realitätsbezogenheit der Fotografie kann von der Literatur nicht nachvollzogen werden,167 die Fotografie scheint näher an der äußeren Wirklichkeit, und damit am Puls der Zeit, zu sein als die Literatur. Gleichzeitig wird die Möglichkeit mit Fotografie Fiktionen zu erzeugen als eingeschränkt begriffen: Eine Konkurrenz zwischen Literatur und Fotografie kann folglich darin bestehen, dass die Fotografie ihre Realitätsbezogenheit gegen die Literatur ausspielt und dass diese ihre vielfältigeren Möglichkeiten der Fiktionalisierung zur Schau stellt: „[...] die Literatur wird versuchen, ihre Defizite hinsichtlich der Präzision einer Repräsentation

162 | Koppen 1992. S. 231. 163 | Charles Baudelaire, Die Fotografie und das moderne Publikum. In: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie. Bd. I. München 2006. S. 111. 164 | Baudelaire 2006. S. 112. 165 | Stiegler 2006. S. 51. 166 | Vgl. Koppen 1992. S. 243. 167 | Vgl. Koppen 1992. S. 244.

2.7. Konkurrenz zwischen Literatur und Fotografie | 83

der Wirklichkeit wettzumachen und ihrerseits Modelle profilieren, deren spezifische Formen der Wirklichkeitskonstruktion für die Photographie notwendig unerreichbar bleiben.“168

Im literarischen Text fungiert die Fotografie als „Ikone der im Erzählen geschilderten Wirklichkeit“,169 wohingegen die Sprache symbolisch auf ihren Gegenstand verweist. Die Konkurrenz zwischen den beiden Medien ist folglich auch eine Konkurrenz der Zeichen. 2.7.2 Evidenz und Reflexion Auf einem anderen Gebiet ist die Konkurrenz zwischen Literatur und Fotografie offenkundiger erfahrbar. Die Fotografie besticht durch ihre Evidenz, die Literatur durch ihre Möglichkeit zur Reflexion. „Durch Sprache können Eigenheiten benannt, Gedankengänge und Argumentationsketten nachvollzogen, Sachverhalte diskutiert werden. Sprache als differenziertes Ausdrucksmittel bietet dem Menschen die Möglichkeit zur Reflexion, zum Nachdenken, zur vergleichenden Gegenüberstellung.“170

Die Fotografie besticht hingegen durch den Reiz ihrer Evidenz: Sie konzentriert und verdichtet, was im literarischen Text erzählt wird, sie ist dem Zeigen näher als dem Beschreiben. Das mit dem Auge Wahrnehmbare wirkt auf den Betrachter konkreter, authentischer und universaler lesbar als ein Text. An dieser Stelle wird folglich das Visuelle mit all seinen Implikationen gegen das Literarisch-Narrative ausgespielt. 2.7.3 Aussage und Bedeutung Als dritten und hier letzten Punkt des Konkurrenzverhältnisses zwischen Literatur und Fotografie soll auf die vielfach geäußerte Vermutung eingegangen werden, dass Fotografien auf Worte angewiesen sind.171 Der Fotografie fällt es wesentlich leichter als dem Wort seinen Gegenstand konkret und präzise zu benennen. Während hinter 168 | Bernd Stiegler, Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. München 2001. S. 145. 169 | Horstkotte 2009. S. 99. 170 | Sandra

Poppe,

Literarische

Medienreflexion.

Eine

Einführung.

In:

Dies./Sascha Keiler (Hg.), Literarische Medienreflexionen. Künste und Medien im Fokus moderner und postmoderner Literatur. Berlin 2008. S. 9. 171 | Auch wenn ich mit diesem Phänomen das Kapitel beende, möchte ich doch

84 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

einem Wort, beispielsweise „Hund“ unzählige Hunde subsumiert werden können, so verweist die Fotografie auf genau ein bestimmtes Tier. Doch so präzise, wie die Fotografie ihren Gegenstand benennt, so unsicher ist sie in Bezug auf dessen Bedeutung. Das was sie abbilden, lässt sich leicht erkennen, das was Fotografien aussagen sollen, jedoch nur sehr schwer. Ihre Bedeutung erfahren Fotografien häufig nicht aus sich selbst heraus, sondern durch äußere Zuschreibungen,172 die verbal formuliert werden. Kombinationen aus Literatur und Fotografie können sich folglich hervorragend ergänzen, wie es John Berger ausführt: „In der Beziehung zwischen einer Photographie und Worten verlangt die Fotografie nach einer Interpretation, und die Worte liefern sie ihr gewöhnlich. Die Photographie – als Beweis unwiderlegbar, aber unsicher was den Sinn angeht – erhält Sinn erst durch Worte. Und die Worte, die für sich nur eine allgemeine Aussage sind, erhalten eine spezifische Authentizität durch die Unwiderlegbarkeit der Photographie. Zusammen sind die beiden sehr machtvoll, eine offene Frage scheint zur Gänze beantwortet zu sein.“173

Was John Berger hier so harmonisch zusammen führt, kann allerdings auch in Konkurrenz zueinander stehen. Es ist offenkundig, dass die Fotografie in den meisten Fällen von einem Text, und sei es nur einer Bildunterschrift, begleitet wird. Diese Angewiesenheit der Fotografie auf das Wort macht diese von Seiten der Literatur angreifbar. Ohne einen sie umgebenden Text, scheint die Fotografie ihr Bedeutungspotential nicht voll entfalten zu können und wirkt in gewisser Weise unvollständig. Gleichzeitig kann diese Offenheit der Fotografie auch positiv gedeutet werden: Sie ermöglicht ein freies Assoziieren und ein breites Bedeutungsspektrum. Die Fotografie kann die ihr zugedachte Bedeutung durch den Text als Einschränkung sichtbar machen, indem sie selbstreflexiv auf ihre Bedeutungsvielfalt verweist. Konkurrenzen zwischen Literatur und Fotografie entstehen also auch aus der vermeintlich harmonischen Verbindung der beiden Medien: Die oft formulierte Angewiesenheit der Fotografie auf das Wort kann eine Vormachtstellung des Textes implizieren, gleichzeitig aber auch die Offenheit der Fotografie als vorteilhaft gegenüber dem Text herausstellen. Da Polyvalenz ein wichtiger Anspruch eines literarischen Textes ist, kann die Literatur die Fotografie nicht für ihre Bedeutungsvielfalt verdammen.

darauf hinweisen, dass von mir genannten Punkte keineswegs auf alle Merkmale der beiden Medien eingehen, die in Konkurrenz zueinander begriffen werden können. 172 | Vgl. Glasenapp 2008. S. 160. 173 | Berger 1984. S. 92.

2.8. Mentale Bilder in Literatur und Fotografie | 85

2.7.4 Zwischenfazit Die Konkurrenz der beiden Medien Literatur und Fotografie macht präzise Aussagen über deren Beschaffenheit möglich: Sie verweist auf Möglichkeiten und Grenzen der einzelnen Medien und kann zu einer präziseren Bestimmung ihres Verhältnisses führen. Für die Analyse von medialer Selbstreflexivität ist Medienkonkurrenz äußerst hilfreich, da durch sie Aussagen über eigene und fremde mediale Beschaffenheiten deutlich kommuniziert werden.

2.8 M ENTALE B ILDER

IN

L ITERATUR

UND

F OTOGRAFIE

Mentale Bilder sind für Literatur und Fotografie von entscheidender Bedeutung. Unter mentalen Bildern versteht man visuelle Vorstellungen, die wir mit unserem geistigen Auge als Bilder erkennen.174 Mentale Bilder können scheinbar willkürlich, wie etwa bei Träumen auftreten oder durch einen bestimmten Reiz, wie etwa eine literarische Beschreibung, hervorgerufen werden. 2.8.1 Mentale Bilder und Literatur Die Bedeutung der mentalen Bilder für die Literatur ist leicht nachzuvollziehen, da diese in der Lage sind, beim Leser bildhafte Vorstellungen hervorzurufen. Mentale Bilder sind ein elementarer Teil dessen, wie Literatur funktioniert. Der Rezipient macht sich durch Beschreibungen ein Bild von den handelnden Figuren, von dem sie umgebenden Raum und vielleicht sogar von wichtigen Gegenständen. Diese bildhaften Vorstellungen machen einen Reiz der Literatur aus, da ihre Erzeugung die Phantasie und Vorstellungskraft des Lesers aktiv fordert und fördert. Das literarisch erzeugte Phänomen des „sich ein Bild Machens“ liegt in der Beschaffenheit des sprachlichen Zeichens begründet, welches zwischen das Wort und den Referenten eine mentale Repräsentation dieses Referenten schalten muss. Jeder Lesevorgang ist folglich mit mentalen Bildern verbunden, auch wenn einige literarische Texte, beispielsweise durch detaillierte Beschreibungen, die Vorstellungskraft des Lesers deutlicher stimulieren als andere. Die mentalen Bilder, die während

174 | Vgl. Richard Schantz, Die Natur mentaler Bilder. In: Klaus Sachs-Hombach/ Klaus Rehkämper (Hg.), Bild - Bildwahrnehmung - Bildverarbeitung. Interdisziplinäre Beiträge zur Bildwissenschaft. Wiesbaden 2004. S. 219.

86 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

des Lektürevorgangs entstehen, sind flüchtiger und weniger stabil als reale Bilder,175 und doch sind sie unseren wirklichen Erfahrungen auf phänomenologischer Ebene ähnlich.176 Bildhafte Vorstellungen wie etwa Halluzinationen sind – wie kognitionspsychologische Studien ergeben haben - qualitativ kaum von tatsächlichen Seheindrücken zu unterscheiden.177 2.8.2 Mentale Bilder und Fotografie Mit realistischen Bildern, insbesondere mit Fotografien, lassen sich mentale Bilder weniger eindeutig verknüpfen, was sich ebenfalls aus ihrer Zeichenhaftigkeit begründen lässt. Die Konkretheit des fotografischen Zeichens, das direkt sowohl auf das Signifikat der Fotografie als auch auf ihren Referenten verweist, macht zwischengeschaltete mentale Bilder beim Rezipienten unnötig. Dennoch sind mentale Bilder für die Fotografie bedeutsam: Silke Horstkotte schreibt richtigerweise, dass Fotografien als Quelle mentaler Nachbilder dienen.178 Besonders in Erinnerungsprozessen wird deutlich, wie sehr die Erinnerung an Ereignisse durch die Erinnerung an Repräsentationen dieser Ereignisse verdrängt wird. Fotografien werden folglich nicht selten von materiell tatsächlich existierenden Bildern in mentale Bilder umgewandelt. Ebenso ist auch ein umgekehrter Vorgang möglich, wie Axel Gellhaus in Bezug auf seine in Aix-en-Provence aufgenommenen Fotografien konstatiert: „Die Bilder, die ich fotografiert habe, entsprechen nur denen, die ich schon im Kopf hatte.“179 Die Fotografie, aber auch die Literatur, kann also dazu dienen, individuelle mentale Bilder intersubjektiv erfahrbar zu machen. 2.8.3 Zwischenfazit Für die Kombination aus Literatur und Fotografie gilt, dass die mentalen Bilder des Rezipienten, die sich aus dem Lesevorgang ergeben, mit den materiell abgedruckten Fotografien ebenso konkurrieren wie mit den durch die Fotografie erzeugten mentalen Nachbildern. Der Leser vergleicht seine vom Text erzeugten Imaginationen mit dem fotografischen Bild. Dieses führt nicht nur zu einer bewussten Reflexion über die eigenen mentalen Bilder, sondern auch zu einem interessanten Spannungsverhält175 | Vgl. Rippl 2005. S. 19. 176 | Vgl. Schantz 2004. S. 219. 177 | Vgl. Schantz 2004. S. 219-221. 178 | Horstkotte 2009. S. 15. Vgl. auch Kap. 2.4.1. 179 | Gellhaus 2008. S. 57.

2.9. Subjektivität und Objektivität | 87

nis zwischen rezipientenseitiger Imagination und tatsächlich sichtbarem Bild. Dieses ist natürlich nur möglich, wenn sich literarischer Text und die dadurch evozierten mentalen Bilder mit der Fotografie in Einklang bringen lassen.

2.9 S UBJEKTIVITÄT

UND

O BJEKTIVITÄT

Subjektivität und Objektivität sind zwei Begriffe, die aus der Diskussion über das Verhältnis von Literatur und Fotografie kaum wegzudenken sind. Literarische Werke werden durch ihre enge Beziehung zum Autor gemeinhin als subjektive Darstellungen angesehen, wohingegen die automatisch-technische Erzeugung der Fotografie Objektivität verheißt. Ganz ähnlich dem Phänomen der fotografischen Authentizität lässt sich die Vorstellung einer genuin objektiven Fotografie leicht widerlegen, doch auf breiter Rezeptionsebene bleibt der Begriff der Objektivität eng mit dem fotografischen Medium verknüpft. Die Fotografie ist, wie gezeigt werden wird, phänomenologisch bei weitem nicht so objektiv wie es scheint, dennoch wird sie von vielen Betrachtern als ein objektives Medium angesehen, weswegen die Annahme einer fotografischen Objektivität nicht ignoriert werden sollte. 2.9.1 Von der Objektivität der Fotografie Die Annahme, dass die Fotografie objektiv sei, beruht auf den spezifischen Gegebenheiten ihrer Erzeugung. In der Mitte des 19. Jahrhunderts galt die Fotografie als „neue, nicht intervenierende, mechanische Form von Objektivität“180 und als „Symbol von neutraler, extrem genauer Wahrheit.“181 Auch der Fototheoretiker André Bazin formuliert noch im Jahr 1945: „Die Originalität der Fotografie im Unterschied zur Malerei besteht also in ihrer Objektivität. So hieß die Kombination ihrer Linsen [...] treffend ;das Objektiv’. Zum ersten Mal tritt zwischen das auslösende Objekt und seine Darstellung nur ein anderes Objekt. Zum ersten Mal [. . . ] entsteht ein Bild automatisch, ohne das kreative Eingreifen des Menschen.“182

So problematisch Bazins Aussage auch ist, so deutlich macht sie auch, dass die

180 | Stiegler 2006. S. 104. 181 | Lorraine Daston/Peter Galison, Das Bild der Objektivität, zitiert nach Stiegler 2006. S. 104. 182 | Bazin 2006. S. 62.

88 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

Vorstellung von fotografischer Objektivität auf der Annahme beruht, dass hier ein Bild lediglich durch einen technischen Apparat entsteht, der nicht durch die individuelle Wahrnehmung eines Menschen beeinflusst ist. Die Bezeichnung „Objektiv“ für das sammelnde optische System der Kamera resultiert aus dieser Annahme und bestärkt sie zugleich. Dadurch, dass Fotografien objektiv wirken, wurden und werden sie häufig in Kontexten eingesetzt, die sachliche Zeugnisse verlangen: Im 19. Jahrhundert dienten Fotografien nicht selten als Illustrationen in Lexika und anderen wissenschaftlichen Werken, später wurden sie unverzichtbarer Bestandteil von Zeitungen, Pässen und Kriminalberichten. Diese sachlichen Kontexte untermauern den objektiven Status der Fotografie bis heute, auch wenn die Fototheorie der fotografischen Objektivität sehr kritisch gegenübersteht. 2.9.2 Von der Subjektivität der Fotografie In der moderneren und modernen Fototheorie wird die Objektivität der Fotografie entschieden angezweifelt. Die Theoretiker, die sich gegen die Auffassung von einer spezifisch fotografischen Objektivität wenden, betonen zum einen die Offenheit der Fotografie für Interpretationen und zum anderen das aktive Eingreifen des Fotografen. Alan Sekula schreibt in Bezug auf ersteres: „Die einzig objektive Wahrheit, die uns Fotografien bieten, ist die Behauptung, dass irgendjemand [. . . ] irgendwo war und eine Aufnahme gemacht hat. Alles weitere, alles außer diesem Abdruck einer Spur, ist für alles zu haben.“183 Der Autor verweist hier auf die polyvalent deutbare Sinnebene der Fotografie, die sich mit dem Begriff der Objektivität nicht vereinen lässt. Ebenso unvereinbar mit diesem Begriff ist ein aktives und kreatives Eingreifen des Fotografen in den fotografischen Prozess. Die Leistung eines Fotografen besteht aus mehr als nur dem Betätigen des Auslösers. Die Auswahl des Bildgegenstandes, die Perspektive, die Belichtung, der fotografische Filter, die Schärfe und nicht zuletzt die Wahl der geeigneten Kamera oder des passenden Objektivs zeugen von einem individuellen Eingreifen des Menschen. Doch selbst wenn dieses auf ein Minimum reduziert ist, oder die Kamera sogar automatisch in einem gewissen Zeitabstand betätigt wird, kann die Objektivität der Fotografie in Zweifel gezogen werden. Dies liegt in einer Tatsache begründet, dass die Kamera selbst ein vom Menschen entwickelter und abgestimmter Apparat ist, dem bestimmte Eigenschaften eingeschrieben sind. Eine Kamera ist nicht in der Lage, Bilder zu machen, für die sie nicht entwickelt worden ist. Beispielsweise können mit einer normalen Spiegelreflexkamera keine Unterwas183 | Sekula 2006. S. 125.

2.9. Subjektivität und Objektivität | 89

seraufnahmen gelingen. Einer in ein Mobiltelefon integrierten Digitalkamera wird in der Regel (noch) keine scharfe Aufnahme bei Dunkelheit erzeugen können. Das Eingreifen des Menschen beginnt also nicht erst beim Fotografieren selbst, sondern schon bei der Herstellung des fotografischen Apparates, bereits hier werden der Fotografie „dank gewisser Techniken, Zeichen aus dem kulturellen Code“184 eingebracht. 2.9.3 Zwischenfazit Trotz all dieser wohl begründeten und bekannten Einwände bleibt der Fotografie die Aura von Objektivität, Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit erhalten. Die Fotografie wird gleichzeitig als Transkription und Interpretation der Wirklichkeit gesehen,185 sie besitzt nach wie vor eine gewisse beweisende Kraft und es ist diese Glaubhaftigkeit die einen Teil ihres besonderen Potentials ausmacht und die sie von anderen Künsten unterscheidet. Susan Sontag schreibt, dass Fotografien objektive Wiedergabe und persönliche Aussage zugleich sein können und das dieses Phänomen etwas darstellt, „worum sich die Literatur lange bemüht hat, ohne es je in diesem buchstäblichen Sinn zu erreichen.“186 Generell ist festzuhalten, dass sich im fotografischen Medium Subjektivität und Objektivität zugleich befinden können. So schreibt Elisabeth Bronfen zur PorträtFotografie: „Was einerseits zum Festschreiben von Identitäten eingesetzt werden kann - etwa im Sinne von Passfotos - erlaubt andererseits den Subjekten, sich der Erfindung hybrider Identitäten hinzugeben.”187 Dieses Zitat zeigt deutlich, dass Subjektivität oder Objektivität keineswegs dem fotografischen (oder auch literarischen) Medium per se inhärent ist, sondern dass die Zuordnungen auf Betrachterseite erfolgen und meist aus dem Kontext der Fotografie und den sie bestimmenden Konventionen ermittelt werden. In Kombinationen aus Literatur und Fotografie können sich die Künste durch die Begriffe Subjektivität und Objektivität voneinander abgrenzen, können sich aber auch einander annähern: Die Einbettung von Fotografien in einen fiktionalen Text kann als Objektivierungsstrategie eingesetzt werden, umgekehrt können die Fotografien aber auch zu einem Teil der fiktionalen Welt werden und ihren objektiven Status verlieren. In jedem Fall bietet sich in solchen Kombinationen die Möglichkeit, eine kritische,

184 | Barthes 1990. S. 39. 185 | Vgl. Sontag 2003. S. 34. 186 | Ebd. 187 | Bronfen 2009. S. 237.

90 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

medienreflexive Stellungnahme zum scheinbaren Oppositionspaar „Literarische Subjektivität/Fotografische Objektivität“ vorzunehmen.

2.10 E NTSTEHUNGSPROZESSE Wichtige Unterschiede zwischen dem fotografischen und dem literarischen Medium sind bereits in ihrem und durch ihren Entstehungsprozess begründet. Da die technische Komponente des fotografischen Bildes bereits mehrfach Erwähnung gefunden hat, möchte ich mich hier auf die Faktoren Autorschaft, Zeit und Zufall beschränken. 2.10.1 Autorschaft „You press the button, we do the rest”188

Ein literarischer Text ist sehr eng mit seinem Schöpfer, dem Autor, verbunden. Nicht nur, dass aus einem literarischen Text häufig auch Rückschlüsse auf die Persönlichkeit und das (Er)Leben des Autors gezogen werden; wenn uns ein literarisches Werk bekannt ist, so können wir meist auch sofort seinen Autor benennen. Die Fotografie hingegen ist weniger eng mit ihrem Erzeuger verbunden. Viele Fotografien, die im individuellen oder kollektiven Gedächtnis ihren festen Platz haben, können spontan keinem Fotografen zugeordnet werden. Die Unmenge der Fotografien, die uns umgibt, steht in keinem Verhältnis zu den wenigen, einer breiten Masse wirklich bekannten, Fotografen. Dieses Phänomen resultiert zum einen wohl aus dem immer noch anhaltenden Vorurteil, dass das kreative Eingreifen des Fotografen in sein Werk im Vergleich zum Schriftsteller oder Maler als gering einzustufen ist und zum anderen aus der technischen Reproduzierbarkeit von Fotografien, die kein Original erkennen lässt und die das Medium von Gemälden, Zeichnungen und selbst Kupferstichen oder Holz-

188 | George dak

führte

ein,

welche

Eastman, mit eine

diesem

der

Gründer

Werbeslogan

einfache

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Handhabung

des

Unternehmens

Kamera für

Kodak

Jedermann

Ko-

No.

1

versprach.

http://www.kodak.com/US/en/corp/researchDevelopment/whatWeDo/development/designUsability/history.shtml vom 04.10.2010. Der schöpferische Akt des Fotografen wird hier negiert, stattdessen wird der technische Aspekt des Fotografierens betont.

2.10. Entstehungsprozesse | 91

schnitten unterscheidet. Im Gegensatz zu Literatur und Bildender Kunst hat sich im Hinblick auf die Fotografie kaum ein Geniekult herausbilden können. Nicht außer acht sollte man auch die Entwicklung des Urheberrechtes lassen, welches Autoren seit dem 18. Jahrhundert für ihr geistiges Eigentum beanspruchen konnten. Fotografen hingegen erhielten zwar schon 1876 ebenfalls eine so genannte Schutzfrist, doch diese endete bereits nach fünf Jahren. Auch wenn die Schutzfrist in den folgenden Jahren immer wieder verlängert wurde, so erhielten Fotografen erst Ende des 20. Jahrhunderts ähnliche Urheberrechte wie Schriftsteller.189 Das Zusammenfallen des Urheberrechtes mit der Vorstellung eines genialen Künstlerindividuums im 18. Jahrhundert ist nicht zufällig. Da die Fotografie in ihren Anfängen zunächst um ihre Anerkennung als Kunst kämpfen musste, ist es nicht verwunderlich, dass man den Fotografen kaum Rechte im Hinblick auf ihre Werke als geistiges Eigentum zugestand. 2.10.2 Zeit Fotografie und Literatur besitzen beide ein besonderes Verhältnis zur Zeit, das sich meines Erachtens dadurch konturiert, dass die beiden Medien die philophische Dimension der Zeit sprengen. Es besteht das „Problem”, dass Zeit auch in der Gegenwart nicht existiert, „denn kein Zeitraum ist kurz genug, daß er „ist” und nicht gleich wieder verschwunden ist. [...] Merkmal der Zeit ist also ihre unaufhebbare Flüchtigkeit, was sie in schroffen Gegensatz zur (vermeintlichen) Stetigkeit des Raumes setzt.”190 Fotografie und Literatur konservieren nun medienspezifisch die Zeit: Die Fotografie hält den flüchtigen Augenblick im Raum fest, die Literatur trennt die erzählte Zeit von der Erzählzeit und macht erstere unabhängig von zweiterer wiederholt erfahrbar. Doch auch auf anderer Ebene kann Zeit eine Kategorie darstellen, deren nähere Betrachtung sich für die Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Fotografie als nützlich erweisen kann. Im Gegensatz zur Fotografie erfordert die Literatur sowohl auf Produktions- als auch auf Rezeptionsseite einen langwierigen Prozess. Literarische Werke, insbesondere Romane, werden - von wenigen Ausnahmen abgesehen - über Monate oder sogar Jahre geschrieben,191 das Herstellen einer Fotografie

189 | http://www.fotorecht.de/publikationen/schutzfrist.html vom 12.10.2009. 190 | Müller-Funk 2008. S. 72. 191 | Auch auf Rezeptionsseite erfordert das Lesen in der Regel deutlich mehr Zeit als die Betrachtung von Fotografien.

92 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

hingegen „gleicht [. . . ] eher einem Ereignis (event) als einer Handlung (action).“192 Auch wenn Fotografien eventuell ein zeitraubendes Arrangement, eine lange Belichtungszeit oder eine die Geduld strapazierende Wartezeit auf einen spektakulären Augenblick benötigen, so beträgt der Moment des Auslösens doch nur einen Sekundenbruchteil (und auch das Entwickeln der Fotografie erfordert nur wenige Minuten). Die Fotografie empfängt das, „was sie abbildet augenblicklich – heute gewöhnlich mit einer Geschwindigkeit, die ein menschliches Auge nicht mehr wahrnehmen kann.“193 Diese Geschwindigkeit macht sicherlich einen Teil der Anziehungskraft der Fotografie aus: Zahlreiche Fotografien von Bewegungsmomenten, Pistolenkugeln im Flug oder auftreffenden Wassertropfen heben die Schnelligkeit des fotografischen Produktionsprozesses hervor und ermöglichen dem Betrachter einen Augenblick zu sehen, der sich seinem Auge entzieht. Generell ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, was Rudolf Arnheim behauptet, nämlich, dass Fotografen „knipsen“, um Momente mit der Kamera einzufangen.194 Es lohnt sich, die Entstehungszeit als Analysekategorie für literarische und fotografische Werke in Betracht zu ziehen und zu überdenken.195 Bei einem literarischen Text besitzt der Autor die Möglichkeit, Dinge, die ihm besonders wichtig erscheinen, mit großer Sorgfalt herauszuarbeiten, sprich auch länger an ihnen zu schreiben, als an anderen Textteilen. Auch ein Fotograf kann in einem Arrangement bestimmte Dinge sorgfältiger vorbereiten, oder durch Lichteinfall oder Perspektive betonen, beim Entstehungsprozess selbst jedoch ist „jeder Teil des Bildes [. . . ] einem chemischen Prozess von gleicher Dauer unterworfen.“196 Von daher stellt sich sowohl für literarische Texte als auch für Fotografien die Frage, ob mit der Entstehungszeit eines Werkes nur das Aufschreiben seiner Worte, bzw. der Moment des Auslösens gemeint ist oder alle vorangehenden Überlegungen, Studien und Versuche miteinbezogen werden sollten. Für die Literatur ist die „Ausweitung“ der Entstehungszeit üblicher als für die Fotografie. Selbstverständlich werden hier Vorstudien, Rohfassungen, Korrekturen und

192 | Herta Wolf, Vorwort. In: Dies. (Hg.), Schriftenreihe zur Geschichte und Theorie der Fotografie. Bd. 1. Amsterdam/Dresden 1998. S. 8. 193 | Berger 1984. S. 95. 194 | Vgl. Rudolf Arnheim, Warum knipsen die Leute? In: Rudolf Arnheim (Hg.), Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie - Film - Rundfunk. Frankfurt a.M. 2004. S. 17. 195 | Begriffe wie Erzählzeit und erzählte Zeit sind als Analysekategorien auf Fotografien recht schwierig anzuwenden, vergleiche Kapitel 2.6.4, „Die Übertragung narratologischer Kategorien auf Bildmedien.” 196 | Berger 1984. S. 95.

2.10. Entstehungsprozesse | 93

Überlegungen zum Entstehungsprozess gezählt. Kaum jemand käme auf die Idee nur das Schreiben (oder Tippen) der endgültigen Worte zu berücksichtigen. In der Fotografie würde die Ausweitung der Entstehungszeit beispielsweise bedeuten, auch die Zeit mit einzubeziehen, in der der Fotograf durch eine Wildnis streift, um ein seltenes Tier vor die Linse zu bekommen. Solche Überlegungen zur Entstehungszeit nähern Literatur und Fotografie interessanterweise an, anstatt die beiden Medien wie bislang als Oppositionspaar im Bezug auf die Dauer ihrer Entstehungszeit zu konstituieren. 2.10.3 Zufall Glück und Zufall, die in der Literatur kaum eine Rolle spielen, sind für den Entstehungsprozess von Fotografien, zumindest in der Dokumentar- und Livefotografie nicht unwesentliche Faktoren. Deswegen ist die Fotografie wohl auch diejenige Kunst, in der auch Amateure zu sehr beachtlichen Ergebnissen gelangen können.197 Ich möchte die Rolle des Zufalls in der Dokumentarfotografie kurz anhand der bereits erwähnten Fotografie Der Degendieb von Robert Lebeck besprechen. Der Be-

Abbildung 2.4: Robert Lebeck: Junger Kongolese stiehlt König Baudouin den Degen, Leopoldville 1960. (Die Fotografie ist unter unterschiedlichen Titeln bekannt.) trachter entdeckt hier, dass bei der Aufnahme dieses Bildes mehrere Fotografen zugegen waren, die ihre Kameras auf das belgische Staatsoberhaupt, König Baudouin, richteten. Im Gegensatz zu diesen Fotografen, lässt Robert Lebeck das Fahrzeug jedoch vorbeiziehen. Er hat Glück, vor seiner Kamera passiert etwas, das allen anderen 197 | Vgl. Sontag 2003. S. 36.

94 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

anwesenden Journalisten entgeht: Ein junger Kongolese greift sich den Degen des Monarchen und rennt davon. Das Bild wurde nicht nur zur Ikone der Emanzipation der afrikanischen Kolonien, sondern verhalf außerdem dem damals noch unbekannten Lebeck zu journalistischem Ruhm.198 Hätte Lebeck an seinem eigentlichen Platz gestanden, nämlich dort, wo auch die anderen Fotografen den König fotografierten, wäre ihm und seiner Kamera der Degendiebstahl entgangen. Er hätte ein solides Foto an seinen damaligen Arbeitgeber, die Hamburger Illustrierte Kristall senden können, das aber niemals, im Gegensatz zum Degendieb, im US-amerikanischen LifeMagazine erschienen wäre.199 Lebeck gelang ein besonderes Foto, weil er zur richtigen Zeit am richtigen Ort den Auslöser betätigen konnte. Da eine gute Fotografie auch von dem abhängt, was auf ihr abgebildet ist und weil sich dieses Abgebildete im Moment des Auslösens vor der Linse ereignen muss, ist die Fotografie auf besondere Momente angewiesen. Gleichzeitig ist es hilfreich, wenn das, was auf der Fotografie gezeigt wird, in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden kann. Im Falle des Degendiebs ist das Entreißen der Waffe durchaus metaphorisch lesbar: Die Kolonien, personifiziert durch den jungen Kongolesen, fordern die Besetzer heraus und nehmen diesen ihre Machtgrundlage. Nicht umsonst wurde das Jahr 1960200 als Jahr der afrikanischen Dekolonisierung bekannt, die in darin gipfelte, dass siebzehn neue afrikanische Staaten in die UN aufgenommen wurden.201 Gelegentlich führt der Zufall auch Gegenstände, Tiere oder Personen ins fotografische Bild, die dieses dann noch reizvoller machen können. Von diesem Phänomen besonders fasziniert war Walter Benjamin, der formulierte: „Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit des Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in einem solchen Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt hat . . . “202

Der Zufall als Chance und Herausforderung der Fotografie wird auch in der Fototheorie reflektiert. Bei Roland Barthes etwa, sind die nebensächlichen Details, die

198 | Vgl. Glasenapp 2008. S. 13-22. 199 | Vgl. Glasenapp 2008. S. 13. 200 | 1960 ist das Jahr der Aufnahme des Degendiebs. 201 | Vgl. Glasenapp 2008. S. 16. 202 | Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Fotografie. In: Michael Opitz (Hg.), Walter Benjamin. Ein Lesebuch. Frankfurt a.M. 1996. S. 290.

2.11. Formale Kriterien | 95

eher durch Zufall im Bild erscheinen als durch Intention des Fotografen, eng mit dem fotografischen punctum verknüpft.203 Zufälligkeit ist ein besonderes Merkmal des Fotografischen, dass es von anderen Medien, wie zum Beispiel der Literatur, unterscheidet. Für deren Qualität ist der Zufall kaum entscheidend. Ein Fotograf muss sich mit dem Zufall arrangieren, ein Literat kann jedes Wort sorgfältig abwägen und so Zufälligkeit in seinem Werk weitgehend ausschließen. 2.10.4 Zwischenfazit In Kombinationen aus Literatur und Fotografie können Überlegungen zu Autorschaft, (Entstehungs-)Zeit und Zufall dabei helfen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Medien zu herauszuarbeiten. Nicht selten wird man auch Merkmale entdecken, die das Wesen eines Mediums mitbestimmen, wie zum Beispiel die wichtige Rolle des Zufalls in der (Dokumentar-)Fotografie. In den im dritten Kapitel vorgestellten literarischen Fototexten wird sich zeigen, dass der Autor des Textes offenkundig ist, wohingegen diejenigen, die die Fotografie erstellt haben, dem Leser seltener offenbart werden. In den beschrifteten Fotografien Shirin Neshats jedoch, bleibt auch die Verfasserin der integrierten Gedichte zunächst unbekannt. Ob der Fotograf, der Autor oder gar beide Künstler erwähnt werden, ermöglicht Rückschlüsse über das Dominanzverhältnis der Medien.

2.11 F ORMALE K RITERIEN Wenn in Medienkombinationen das Verhältnis von Literatur und Fotografie untersucht werden soll, macht es durchaus Sinn, formale Kriterien mit einzubeziehen, da diese die Wirkung des intermedialen Kunstwerks auf den Rezipienten in entscheidender Weise beeinflussen können. Auf formaler Ebene haben sich einige Leitfragen herauskristallisiert, deren Beantwortung bei der Interpretation und Analyse der literarisch-fotografischen Kunstwerke hilfreich ist. 2.11.1 Wo ist die Fotografie im Text platziert? Bei literarischen Fototexten sollte überlegt werden, an welcher Stelle die Fotografie in den Text integriert wurde. Zunächst ist nicht uninteressant, ob sich die Fo203 | Barthes formuliert dieses implizit bei der Beschreibung der Fotografie Schwachsinnige in einer Anstalt von Lewis H. Hine, siehe: Barthes 1989. S. 60.

96 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

tografie auf story- oder discourse-Ebene oder auf der paratextuellen Ebene befindet. Bei paratextuellen Fotografien kann davon ausgegangen werden, dass diese in bestimmten (günstigeren) Ausgaben wegfallen und daher als weniger konstitutiv für die Bedeutung angesehen werden können als Fotografien innerhalb des literarischen Textes. Innerhalb des literarischen Textes kann eine Fotografie im Wesentlichen auf drei verschiedene Arten in den literarischen Text integriert sein. Zum ersten kann die Fotografie an der Stelle platziert sein, an der der Text explizit oder implizit auf die Fotografie Bezug nimmt. Unter explizitem Bezug verstehe ich, dass die Fotografie selbst vom umgebenden literarischen Text erwähnt wird. Unter implizitem Bezug hingegen möchte ich verstehen, dass die Fotografie selbst zwar nicht thematisiert ist, aber das auf ihr Dargestellte im Text beschrieben wird. Diese beiden Verfahren sind die üblichsten, jedoch nicht die einzigen Möglichkeiten Fotografien in literarische Texte zu integrieren. Die zweite Möglichkeit einer Platzierung fotografischer Bilder in einen Text tritt beispielsweise in Jonathan Safran Foers Roman Extremly Loud and Incredible Close auf: Hier tauchen einige Fotografien, auf die meist explizit verwiesen wird, an anderen Stellen auf, als der Text auf sie Bezug nimmt. Der Leser kann die Fotografien, die vor der Bezugnahme auftreten, nicht mit dem Text zusammenzuführen. Er muss sie im Gedächtnis behalten und kann später an passender Stelle zurückblättern und die Abbildung noch einmal betrachten. Bei Fotografien, die nach der Bezugnahme auftreten, ist es für das Verständnis der Fotografie erforderlich, dass der Rezipient sich an den passenden Textabschnitt erinnert. Auch hier kann durch Zurückblättern und erneutes Lesen Text und Bild direkt miteinander verbunden werden. Je weiter Fotografie und bezugnehmender Text voneinander getrennt sind, umso größer sind die Anforderungen an die Gedächtnisleistung des Rezipienten. Diese Art der Platzierung von Fotografien in einen literarischen Text erfordert nicht nur einen sehr aktiven und konzentrierten Leser, sondern verweist auch auf die Möglichkeit, Literatur nicht linear zu lesen. Das Vor- und Zurückblättern der Seiten ist ein unüblicher Prozess, der den vermeintlich stets konsekutiven Verlauf der geschriebenen Sprache kompromittiert.204 Als dritte und letzte Möglichkeit kommen in der Kombination von Literatur und Fotografie auch solche Kunstwerke vor, in denen Literatur und Fotografie überhaupt

204 | Interessant ist in diesem Kontext auch, wenn Fotografien erwähnt werden, die dann aber nicht abgedruckt werden, obwohl sonst Fotografien in den Text eingebettet worden sind. Populärstes Beispiel ist hier wohl die fehlende Fotografie der Mutter in Roland Barthes Die helle Kammer.

2.11. Formale Kriterien | 97

nicht aufeinander bezogen sind. In Marlene Streeruwitz’ Roman Lisa‘s Liebe bilden die Fotografien eine eigene Zeitebene ab: Die Fotografien stehen in keinerlei Verbindung zum literarischen Text, der das Leben der Protagonistin aus der Rückschau erzählt. Die Fotografien stehen hier in einem für den Rezipienten erschließbaren Zusammenhang, da deutlich wird, dass die Fotografien die Gegenwart der Protagonistin abbilden.205 Durch diese Art der Integration wird das narrative Potential von Fotografien ebenso wie die eigene Ausdruckskraft des Fotografischen in besonderer Weise betont. Abschließend ist zu diesem Punkt noch zu bemerken, dass das auf der Fotografie Abgebildete nicht das explizit Gesagte darstellen muss, sondern auch Bedeutungsdimensionen, Interpretationen, „dem was zwischen den Zeilen steht“ Evidenz verleihen kann. 2.11.2 Wie häufig sind Fotografien im Text platziert? Eine weitere Frage betrifft die Häufigkeit von Fotografien innerhalb des literarischen Textes. Die Frage nach dem Dominanzverhältnis zweier oder mehrerer Medien ist ein wichtiges Analyseinstrument der Intermedialitätsforschung und diese Frage kann auch über die Quantität der beteiligten Medien beantwortet werden (quantitative Dominanz). Wenn nur sehr wenige Fotografien in den literarischen Text integriert sind, so wie es etwa in Michael Ondaatjes Running the Family der Fall ist, so kann davon ausgegangen werden, dass dem Fotografischen weniger Bedeutung für die Sinnstiftung zugedacht wurde als dem Literarischen. Dennoch ist die Quantität nicht der alleinige Faktor für das Dominanzverhältnis zwischen Text und Bild. Eine Erzählung kann sich auch an einer Fotografie entzünden, so wie es beispielsweise Roland Barthes theoretische Schrift Die helle Kammer tut, oder sie kann immer wieder auf das gleiche Bild Bezug nehmen, es diskutieren und dem Leser ins Gedächtnis rufen. Durch solche Verfahren wird die Bedeutung der Fotografie gesteigert, auch wenn materiell wenig Fotografien im Kunstwerk vorhanden sind (qualitative Dominanz). In diesem Kontext ist es auch von Bedeutung, dass das „Fehlen” einer Fotografie nur dann offenkundig wird, wenn andere Bilder oder Fotografien abgedruckt wurden. 2.11.3 Wie ist das Foto in den Text eingebettet? An diese beiden Fragen schließt sich die Frage an, auf welche Art und Weise, die Fotografie in den Text integriert wird. Das Auftreten von Bildüber- und/oder Bild205 | Marlene Streeruwitz, Lisa’s Liebe. Frankfurt a.M. 2005.

98 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

unterschriften und deren Anordnung kann auf andere Medien und Kunstformen verweisen. Hat eine Bild-Text-Kombination beispielsweise die Struktur eines Emblems, so kann es sein, dass ein belehrender Charakter mitgedacht werden soll oder auch ironisch hinterfragt wird. Durch eine spezifische Anordnung von Text und Bild kann ein Fototext auch eine visuelle Nähe zu Zeitungstexten oder Familienalben erzeugen, die auf den Rezipienten und seine Interpretationen einwirken kann. Weiterhin bietet eine bestimmte Anordnung von Bild und Text die Möglichkeit, die Schrift als ästhetisches Moment zu reflektieren und auch auf visueller Ebene bedeutsam werden zu lassen. Eine ästhetische Verbindung von Text und Bild verweist nicht selten auf den „schwesterlichen Charakter“ der beiden Künste. Auch die Bildgröße ist von entscheidender Bedeutung. In Jonathan Safran Foers Roman Extremly Loud and Incredible Close nehmen die fotografischen Bilder ganze Seiten ein, wohingegen die Fotografien in den Fototexten Sebalds oder Marons deutlich kleiner abgedruckt sind. Auf der einen Seite kann durch Größe der Stellenwert der Fotografie betont werden, auf der anderen Seite bieten kleine Fotografien bessere Interaktionsmöglichkeiten mit dem Text, da sie räumlich in enger Verbindung mit ihm stehen und präziser positioniert werden können. 2.11.4 Woher stammen die Fotografien? Ein Blick auf die Herkunft der in den Text integrierten Fotografien kann aufschlussreich sein, unter anderem, um die Beziehung des Autors zu den abgebildeten Fotografien und zur Fotografie im Allgemeinen zu entschlüsseln. Verwendet der Autor selbst geschossene Fotografien, macht er zum einen seine Doppelbegabung sichtbar, zum anderen zeigt er die Möglichkeit auf, Fotografien extra für eine fiktionale Geschichte herzustellen. Damit kann er die Beweiskraft des fotografischen Bildes kompromittieren und dieses mit dem fiktionalen Charakter der Literatur verknüpfen. Zeitungsausschnitte hingegen stellen eine zweifache Reproduktion des fotografischen Bildes dar und verweisen auf einen tatsächlichen, dokumentarischen Kontext, der als Authentisierungsstrategie eingesetzt werden kann. Gleichzeitig setzt die Integration eines passenden Zeitungsausschnittes nicht selten eine Sammelleidenschaft beim Autor voraus, die nicht zuletzt darauf verweist, dass fotografische Bilder sich eben besonders gut zum Sammeln eignen. Ein Verweis auf ikonische Bilder und Kunstwerke, wie etwa Jonathan S. Foers „falling men” setzt beim Leser nicht selten ein Wissen über diese Bilder voraus, das mit dem Text verknüpft werden muss.

2.12. Funktionale Kriterien | 99

2.12 F UNKTIONALE K RITERIEN Ebenso wie formale können auch funktionale Kriterien dabei helfen, die Bedeutungsdimensionen eines literarisch-fotografischen Kunstwerkes zu entschlüsseln. Die hier aufgeführten Fragen können die Funktionen von Fotografien in literarischen Texten zwar nicht vollständig erfassen, aber sie ermöglichen eine erste Bestandsaufnahme, deren Ergebnisse weiterzudenken sind. 2.12.1 Wie verhält sich der Text zur Fotografie, die Fotografie zum Text? Wenn eine Fotografie innerhalb eines literarischen Textes abgedrukt ist, so ist es von großer Bedeutung, wie sie sich zu diesem verhält. Eine Fotografie kann einen literarischen Text veranschaulichen und illustrieren und so die Ausführungen der Erzählinstanz bestätigen. Sprache kann das auf dem Foto Dargestellte identifizieren (z.B. „Das ist das Geburtshaus meines Vaters in München”), sie kann sich aber auch scheinbar tautologisch zu diesem verhalten (z.B. „Das ist ein Mann vor einem Haus”). An dieser Stelle von Redundanz zu sprechen, wäre jedoch vorschnell, da das Medium durch seine spezifische Qualität die Bedeutungsdimensionen auf eigenständige, andere Weise formuliert. Die Fotografie kann die Ausführungen der Erzählinstanz aber auch anzweifeln, indem die Fotografie den Text in Frage stellt. Wenn die Fotografie dem literarischen Text radikal gegenüber steht, wird die Illusion des literarischen Textes durchbrochen. Besitzen die Fotografien selbst untereinander einen erzählerischen Zusammenhang, ist es wichtig, wie sich diese Geschichte dann gegenüber dem Text verhält: ob sie ihn affirmiert, konterkariert oder völlig losgelöst von ihm steht. Entscheidend ist weiterhin, ob die Bilder nur auf Grund des literarischen Textes interpretierbar sind oder es sich um allgemein bekannte, ikonische Bilder z.B. aus der Kunst- oder Nachrichtenwelt handelt. 2.12.2 Mediale Selbstreflexion Der Rezipient von Fototexten sollte seine eigene Leseerfahrung sorgfältig reflektieren, um so eine Aussagen über die Beschaffenheit der Medien selbst treffen zu können. An dieser Stelle wäre beispielsweise zu überlegen, ob die Fotografien der Durchbrechung der Sequentialität und der fortschreitenden Temporalität des Narrativen dienen und somit die Gelegenheit für Pausen und Kontemplation bieten. Es kann überlegt werden, wie lange das Bild die Aufmerksamkeit des Betrachters bündelt und wie nahtlos es ihm gelingt, nach der Betrachtung wieder in den Text einzusteigen.

100 | Kapitel 2. Wissenschaftliche Konzeptualisierungen

Daran anschließend kann überlegt werden, ob Aussagen über das Lesen und das Sehen, über den Wahrnehmungsprozess literarisch-fotografischer Kunstwerke getroffen werden. Die mediale Selbstreflexion von Fotografie und Literatur ist ein leitendes Thema dieser Arbeit. Deswegen ist die Frage so wichtig, inwiefern der literarische Text oder die Fotografie auf Literatur- und Fototheorie eingehen und ob sie eine Metareflexion über die medialen Qualitäten ihrer selbst vornehmen. Die wichtigsten Fragen, die das Verhältnis von Literatur und Fotografie betreffen, wurden in diesem zweiten Teil der Arbeit erläutert. Nichtsdestotrotz können sich die beiden Medien auch auf andere, weniger populäre Debatten beziehen, vielleicht sogar ganz neue Aussagen formulieren. Auch kann hier ein moderner Paragone der Künste ausgefochten werden. 2.12.3 Zwischenfazit Die hier erwähnten formalen und funktionalen Kriterien des Verhältnisses von Literatur und Fotografie bieten einen fundierten Einstieg in die Analyse literarischfotografischer Kombinationen und werden in den folgenden Kapiteln immer wieder herangezogen. Sie sind kein vollständiges Analyseinstrument, können aber einen systematischen ersten Zugang zum intermedialen Kunstwerk ermöglichen.

3 Literarisch-Fotografische Konzepte „Photography is such a fluid, mobile, unstable medium, so diverse in its applications, that any writer who takes it as a subject should avoid being too categorial about any aspect of it.”1

In den vorangegangenen Kapiteln wurden verschiedene Elemente der Diskussion um das Verhältnis von Literatur und Fotografie nachgezeichnet. Die dort beschriebenen Diskussionen um beispielsweise Fiktionalität und Authentizität, Narrativität und Visualität, Erinnerung und Gedächtnis bilden einen möglichen Wissens-Hintergrund für verschiedene Künstler und Literaten, die Literatur und Fotografie in ihren Werken kombinieren. Anhand der folgenden, sehr heterogenen Beispiele soll zum einen nachvollzogen werden, inwiefern Bedeutungsdimensionen durch die Kombination zweier Medien entfaltet werden können, zum anderen soll die These überprüft werden, ob und inwiefern in literarisch-fotografischen Kombinationen die Medien selbstreflexive Aussagen über ihre eigene Beschaffenheit treffen. Nicht selten wird innerhalb dieser medialen Selbstreflexion auf die im vorherigen Kapitel beschriebenen Diskussionen rekurriert, in der Literatur und Fotografie sich verorten und positionieren. Andererseits werden aber auch Aspekte berührt, die in der wissenschaftlichen Diskussion um das Verhältnis der Medien weniger, nicht oder ganz anders diskutiert wurden. In jedem Falle lässt sich festhalten, dass in den Kunstwerken individuelle Antworten gefunden werden, die in der Theorie noch ausstehen. Wo sich in der Theorie keine allgemeingültige Wahrheit um die Beschaffenheit von Literatur und Fotografie und ihrem Verhältnis ausmachen lässt, da ermöglicht die Praxis auf der Ebene eines individuellen Werkes dessen spezifischer Wahrheit näher zu kommen.

1 | Scott 1999. S. 14.

102 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

3.1 D IE V ERBINDUNG IM R OMAN

VON

L ITERATUR

UND

F OTOGRAFIE

Wie bereits in den einleitenden Kapiteln erwähnt wurde, existieren nur vergleichsweise wenige Romane, die ihr mediales Spektrum durch die Integration von Fotografien erweitern. Ein literarischer Text erscheint in der Regel anschaulich genug, um ohne Bilder auszukommen und ist, im Gegensatz zu Magazinen und Zeitungen, nicht auf die (in der Alltagsrezeption immer noch bedeutsame) Beweiskraft der Fotografie angewiesen. Weiterhin ist entscheidend, dass in literarischen Texten Polyvalenz erwünscht ist, und die Fotografie, wenn auch nicht in der wissenschaftlichen Diskussion, so doch in der Alltagsrezeption, mit dem Vorurteil der Eindeutigkeit behaftet ist. Verschiedene Literaten zeigen, dass die Fotografie die Literatur keineswegs auf eine Lesart beschränkt, sondern dem Text vielmehr weitere Bedeutungsmöglichkeiten hinzufügen kann. Im Roman können Literatur und Fotografie gemeinsam eine Geschichte erzählen und so gleichermaßen zu einem Teil der Fiktion werden. Obwohl die Fotografie ihren referentiellen Wirklichkeitsbezug in einer gewissen, wenn auch eingeschränkten Weise behält, so erfährt sie durch den literarischen Kontext dennoch die glaubwürdige Einbettung in eine Erfindung, die keinesfalls auf außersprachliche Referenz beharrt. Seit den 1980er Jahren werden zunehmend Romane veröffentlicht, in die Fotografien integriert sind. Keineswegs zufällig fällt dieses Phänomen mit dem Interesse am Zweiten Weltkrieg, an Erinnerungs- und Gedächtniskultur zusammen. Dieses Interesse lässt sich mannigfaltig begründen: Zentral ist allerdings sicherlich zum einen das Ende des Kalten Krieges und zum anderen das Verschwinden der letzten Zeugen dieser Zeit. Literatur und Fotografie bieten augenscheinlich eine vergleichsweise persönliche und intime Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an. Das subjektive Erleben, welches in den beprochenen Texten im Vordergrund steht, reagiert auf den sich seit der Moderne verstärkenden Zweifel an der einen historischen Wahrheit. Im Folgenden werden zwei äußerst heterogene Romane im Hinblick auf die Bedeutungsdimensionen untersucht, die durch die Integration von Fotografien ermöglicht werden. Zunächst wird Winfried Georg Sebalds Erzählungsband Die Ausgewanderten besprochen, daran anschließend Jonathan Safran Foers Roman Extrem laut und unglaublich nah. In beiden Erzähltexten wird die mediale Selbstreflexion von Literatur und Fotografie eine entscheidende, wenn auch nicht die einzige Rolle spielen.

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 103

3.1.1 W.G. Sebald: Die Ausgewanderten Die Texte des deutschen Schriftstellers W.G. Sebald integrieren nicht nur in seinem 1992 erschienenen Band Die Ausgewanderten Bilder, sondern auch seine anderen Romane und Erzählungen enthalten Schwarz-Weiß-Fotografien, die Personen, Gebäude, Landschaften, Gegenstände und Interieurs abbilden.2 Es ist folglich als konstitutiv für Sebalds Arbeit anzusehen, dass seine Werke auf der einen Seite die literarische Sprache, aber auf der anderen Seite auch das fotografische Bild zur Bedeutungskonstituierung nutzen. Seine Fotoromane oszilieren zwischen Text und Bild, Fiktion und Faktum, dokumentarischem Gestus und sehr subjektiv erlebenden IchErzählern.3 In der Literaturkritik wurden die Fotografien, sofern sie erwähnt wurden, meist als bereichernd für den Text empfunden. Es kann allerdings beobachtet werden, dass mit dem scheinbar dokumentarischen Gestus in Sebalds Werken, das Interesse an dem künstlerischen Potential der in ihnen enthaltenen Fotografien abnahm, da diese „in einen traditionellen Belegzusammenhang mit dem Text eingetreten zu sein schienen.“4 In Sebalds Die Ausgewanderten lassen sich 78 Fotografien finden, eine vergleichsweise große Anzahl, die darauf schließen lässt, dass sich die Funktionen des fotografischen Bildes kaum auf die Illustrierung des Erzähltextes beschränken lässt. Aufgrund der offensichtlichen Bedeutsamkeit der Fotografien wurden die Erzählungen und Romane Sebalds in der bisherigen Forschung bereits im Hinblick auf die in ihnen enthaltenen Fotografien und folglich auch auf ihre intermediales Spannungsverhältnis hin untersucht. In der theoretischen Auseinandersetzung mit den Fotografien in Sebalds Werken wurden diese hauptsächlich als Medium der Gedächtniskonstitution und als Authentisierungsstrategie betrachtet. Auch wenn vor allen Dingen ersteres eine enorme Bedeutung besitzt,5 so zeichnen sich die Funktionen der Bilder in Sebalds Romanen durch eine größere Pluralität aus. Das intermediale Zusammenspiel zwischen foto-

2 | Vgl. Claudia Öhlschläger, W.G. Sebald - Matthias Grünewald. In: Konstanze Fliedl (Hg.), Kunst im Text. Frankfurt a. M. 2005. S. 259. Ausnahme bilden einzig das Elementargedicht Nach der Natur und das Fragment Campo Santo. 3 | Vgl. Katja Garloff, The Emigrant as Witness: W.G. Sebalds Die Ausgewanderten. In: The German Quarterly 77, 1. 2004. S. 76. 4 | Markus R. Weber, Die fantastische befragt die pedantische Genauigkeit. Zu den Abbildungen in W.G. Sebalds Werken. In: Text und Kritik, 158. W.G. Sebald. 2003. S. 63. 5 | Vgl. Horstkotte 2009.

104 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

grafischem Bild und literarischem Text soll hier hinsichtlich verschiedener Gesichtspunkte exemplarisch analysiert werden. 3.1.1.1 Sebalds Umgang mit Bildern im Kontext seiner literarischen Gedächtniskunst Die Fototexte Sebalds werden in der literaturwissenschaftlichen Forschung meist als Erinnerungs- oder Gedächtnisromane verortet. Die Verbindungslinie von Fotografien zu Erinnerungen ist sowohl im Alltag, wie etwa durch Urlaubsfotografien oder Familienalben, als auch in der Literatur- und Kunstwissenschaft präsent6 : Besonders Portraitfotografien, wie sie auch im Roman Sebalds eine wichtige Rolle spielen, werden in der theoretischen Auseinandersetzung mit dieser Kunst von jeher mit Erinnerung in Verbindung gebracht. Walter Benjamin schrieb Portraits sogar einen Kultwert zu, den er anderen Fotografien verweigert und den er mit der Erinnerung in Verbindung bringt: „Keineswegs zufällig steht das Portrait im Mittelpunkt der frühen Fotografie. Im Kult der Erinnerung an die fernen oder die abgestorbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht.“7 Erinnerung und Fotografie stehen trotz dieser Beobachtungen aber auch in einem interessanten Spannungsverhältnis: Die moderne Forschung zu Erinnerung und Gedächtnis betont immer wieder, dass das Erinnern nicht bedeutet, eine objektive und authentische Vergangenheit aufzuschlüsseln.8 Fotografien wird aber nach wie vor nachgesagt, trotz ihrer Konstruiertheit und trotz der Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung, dass sie Ereignisse und Personen objektiver abzubilden vermögen.9 Auch wenn die Illusion der authentischen Fotografie in der modernen Forschung als solche entlarvt wurde, so reflektiert Sebald dennoch die Problematik zwischen subjektiver Erinnerung im fiktionalen Text und vermeintlich authentisch gezeigter Vergangenheit in der Fotografie in seinem Werk. Zum Teil haben die Fotografien ein illustrativen Charakter. Bilder von Hotelrechnungen beispielsweise scheinen den literarischen Text zu belegen und „stellen zudem den Realiencharakter der abgebildeten Gegenstände aus.”10 An dieser Stelle oszilieren die Erzählungen zwischen Fiktionalität und faktualem Versprechen. Obwohl Text 6 | Vgl. hier auch Kap. 2.4. 7 | Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Michael Opitz (Hg.), Walter Benjamin. Ein Lesebuch. Frankfurt a. M. 1996. S. 323. 8 | Vgl. Anne Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte. Zur Poetik der Erinnerung in W.G. Sebalds Prosa. Köln u. a. 2004. S. 21. 9 | Vgl. auch das Kapitel 2.9. 10 | Horstkotte 2009. S. 77.

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 105

und Bild gemeinsam das Gesagte scheinbar beweisen können, so ist dem Rezipienten doch klar, dass die präsentierte Erinnerungsversion eine konstruierte ist. Die Abbildungen in Sebalds Erzählungen sind nicht mit Über- oder Unterschriften versehen. Aufschluss über ihre Herkunft wird nicht gegeben, aber der literarische Text verrät meist, wer oder was auf den Fotografien angeblich abgebildet ist. Dadurch wird der Bezug der Fotografien zum literarischen Text so offenkundig, dass keine Bildunterschriften notwendig erscheinen.11 Letztendlich stehen die Fotografien aber in keiner Verbindung mit den Vorgängen des literarischen Textes, sondern sind außertextuellen Kontexten entnommen. Da die Fotografien zu keinem fotografischen Kanon gehören, bleibt ihr referentieller Kontext meist unbekannt und lässt sich nur schwer entschlüsseln.12 Die individuelle und kollektive Erinnerung ist ein zentrales Thema, das Sebald auf spezifische Art und Weise durch die Fotografien kommuniziert. Den Fotografien in Sebalds Romanen wird nachgesagt, dass sie „häufig von schlechter, fragmentarischer Qualität“13 seien und dass diese Unschärfe und Fragmentarität Eigenschaften seien, „die wichtige Konstituenten der Erinnerungstätigkeit veranschaulichen: deren Unvollständigkeit, ihre Unverfügbarkeit und die imaginäre Überformung von Erinnertem.“14 Die Unschärfe in Sebalds Fotografien wäre somit mit der Unschärfe der inneren Vorstellungsbilder im menschlichen Gedächtnis korrelierbar.15 Siegfried Kracauer vertritt in seiner prominenten Theorie zur Fotografie die Ansicht, dass die Fotografie das Gegebene lediglich als ein räumliches Kontinuum erfasst, das in diesem nur räumlichen Zusammenhang jedoch nicht aufgehen kann. Das Gedächtnisbild hingegen bleibt transparent und mehrdeutig und kann das Gegebene so vollständig und nicht nur als Fragment bewahren.16 Bei Sebald verlieren die Bilder durch ihre Unschärfe und Fragmentarität ihr reproduzierendes Potential und nähern sich den inne-

11 | Vgl. Weber 2003. S. 65. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass Bildüber- oder Bildunterschriften entweder der Erzählinstanz zugeschrieben werden können, dass sie aber auch wirken können, als seien sie außerhalb der erzählten Welt angesiedelt. 12 | Eine Ausstellung im Literaturarchiv Marbach konnte die Herkunft mancher Fotografien belegen (wie zum Beispiel das Bild von Nabokov als Schmetterlingsjäger in der Erzählung Dr. Selwyn, DA 27), weiterhin trägt Silke Horstkotte in ihrer Monographie die Herkunft einiger Fotografien zusammen (Horstkotte 2009). 13 | Öhlschläger 2005. S. 259. 14 | Ebd. 15 | Ebd. 16 | Vgl. Siegfried Kracauer, Die Photographie. In: Inka Müller (Hg.), Siegfried Kracauer. Schriften. Aufsätze 1927-1931. Bd. 5. 2. Frankfurt a. M. 1990. S. 86.

106 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

ren Gedächtnisbildern an. Auf diese Weise machen Sebalds Fotoromane zum einen auf grundsätzliche Probleme beim Erinnerungsvorgang aufmerksam, zum anderen betonen sie die spezifischen Qualitäten der in ihnen enthaltenen Medien und weisen so darauf hin, dass Erinnerung auch von der Art ihrer Präsentation abhängig ist. Doch so griffig die Analogisierung der Unschärfe der Fotografien mit den verschwommenen Gedächtnisbildern auch erscheint, so baut diese These doch auf einem wackligen Fundament auf: Die Fotografien in Sebalds Roman Die Ausgewanderten sind nur zu einem geringen Teil von fragmentarischer oder schlechter Qualität. Während diese Aussage beispielsweise noch auf das Wasserhaus zutrifft, in dem Ambros Adelwarth, der Großonkel des Ich-Erzählers in der gleichnamigen Erzählung, zeitweise mit einem japanischen Gesandten lebte (DA 116), so kann man doch von nahezu allen Fotografien, die Personen darstellen, sagen, dass diese gut zu erkennen sind und entweder wie aus einem Familienalbum wirken,17 oder sogar von professionellen Fotografen erstellt wurden.18 Die Familienfotos sind, zumindest in Die Ausgewanderten, von guter Qualität.19 Aber auch in weiterer Hinsicht stehen die Fotografien in Sebalds Werken in einem Zusammenhang zu Gedächtnis und Erinnerung, aber, wie es scheint, in umgekehrter Art und Weise: Die Fotografien bilden die individuellen oder kollektiven Erinnerungsbilder nicht ab, sondern sie evozieren bei den intradiegetischen Erzählern Erinnerungen an vergangene Ereignisse und der Welt entschwundene Personen. Die Figuren aus Sebalds vier langen Erzählungen nutzen Fotografien nicht selten als Ausgangspunkt für ihre Erinnerungen, vor allem dann, wenn diese Fotos aus Familienalben stammen: „Wie um sich abzulenken von ihren letzten Worten, nahm die Tante Fini jetzt eines der auf dem Beistelltischchen liegenden Alben zur Hand. Das hier, sagte sie, indem sie es aufgeschlagen mir herüberreichte, ist der Adelwarth-Onkel, so, wie er damals war. Links wie du siehst, bin ich mit dem Theo, und rechts neben dem Onkel sitzt seine Schwester Balbina, die gerade auf ihrem ersten Besuch in Amerika gewesen ist. Man schrieb Mai 1950 [. . . ].“ (DA 146/147)

Fotoalben und Fotografien fungieren in Sebalds Roman häufig als Auslöser für

17 | Vgl. beispielsweise die Fotografien aus DA auf S. 325, 147, 78. 18 | Vgl. beispielsweise die Fotografien aus DA auf S. 326, 108, 137. 19 | Das Fragmentarische hingegen teilen Fotografie und Gedächtnisbild auf ontologischer Ebene. Hier ist zu berücksichtigen, dass alle (optischen) Medien fragmentarisch sind, diese Eigenschaft bei der Fotografie, durch willkürliche Rahmengebung und rasche Produktionszeit, allerdings besonders offensichtlich erscheint.

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 107

die Suche nach Erinnerungen und für die Auseinandersetzung des Ich-Erzählers mit den Schicksalen der Protagonisten: „Der Anlass für diesen Sinneswandel ist ein mir einige Monate zuvor in die Hände gefallenes Fotoalbum der Mutter gewesen, welches eine Reihe mir gänzlich unbekannter Aufnahmen unserer in der Weimarer Zeit ausgewanderter Verwandten enthielt. Je länger ich die Fotografien studierte, desto nachdrücklicher begann sich in mir das Bedürfnis zu regen, mehr über die Lebensläufe der auf ihnen Abgebildeten in Erfahrung zu bringen.“ (DA 103)

Es wird also deutlich, das Fotos Erinnerungen generieren, „dass der Zugang zur Erinnerung auf dem Weg ihrer medialen Repräsentation und Präsentation erfolgt.“20 Auch bei der Erforschung des Schicksals des Lehrers Paul Bereyter und des Malers Max Aurach sind es in weitestem Sinne „Bilder“, die die Suche des Ich-Erzählers auslösen, nämlich im Falle Paul Bereyters der Anblick einer Todesanzeige in der Zeitung und im Falle Aurachs ein Bild des Künstlers und ein illustrierter Zeitungsbericht, „aus dem hervorging, dass seine Arbeiten auf dem Kunstmarkt inzwischen zu höchsten Preisen gehandelt wurden.“ (DA 264/265) Vor allem eine Fotografie innerhalb des Zeitungsberichtes regt den Ich-Erzähler an, sich mit der Geschichte Max Aurachs zu beschäftigen: „Wochenlang trug ich das Magazin mit mir herum [. . . ] studierte das dunkle Auge Aurachs, das aus einer dem Text beigegebenen Fotografien ins Abseits blickte, und versuchte wenigstens im nachhinein zu begreifen, aufgrund welcher Hemmungen und Scheu wir es seinerzeit vermieden hatten, das Gespräch auf die Herkunft Aurachs zu bringen [. . . ]“ (DA 265).

Gleichzeitig werden die Fotografien selbst zu etwas, an das erinnert wird, wie beispielsweise ein Bild, das den jungen Max Aurach beim Schreiben darstellt: „Ich erinnere mich außerdem, dass die krumme Stellung, die ich notgedrungen einnahm, mir quer durch den Schmerz eine Fotografie ins Gedächtnis rief, die mein Vater von mir als Zweitkläßler gemacht hatte und die mich zeigte tief über die Schrift gebeugt.“ (DA 255/256)

An dieser Stelle erinnert Aurach also nicht mehr (nur) das Ereignis, das die Fotografie zeigt, sondern vor allem das Medium selbst. Die Fotografie wird hier also gleichzeitig zu einem Objekt und einem Medium der Erinnerung. Der Erzähler erinnert sich nicht mehr an das, was ihm am Schreibtisch geschah, sondern erinnert lediglich die mediale Repräsentation dieses Geschehens. Hier wird die Fotografie nicht 20 | Öhlschläger 2005. S. 261.

108 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Abbildung 3.1: W.G. Sebald, Die Ausgewanderten. S. 255

zum Auslöser eines Erinnerungsstroms, sondern zum Objekt der Erinnerung. Es stellt sich hier die Frage, ob der Erzähler noch erinnernden Zugang zum Geschehen finden kann, oder ob die Fotografie das Gedenken an das Ereignis verstellt. Sebald greift an dieser Stelle also eine grundsätzliche Problematik der Fotografie auf: Diese kann als Katalysator Erinnerungen möglich machen, kann aber auch Erinnerungen blockieren. Texte und Fotografie stellen sich in Sebalds Texten gemeinsam in den Dienst des Erinnerns, denn während die Fotografie das Medium ist, durch das und an das erinnert wird, wird die Literatur dazu genutzt, die Erinnerungen erfahrbar zu machen. Einige Fotos dienen der Illustration dieser Schrift, doch insgesamt scheint das Schreiben den prozesshaften Charakter des Erinnerns nachzuahmen, während das fotografische Bild bei Sebald keine erzählende prozesshafte Struktur aufweist. Sebald analogisiert die Erinnerung nicht nur mit der fragmentarischen Fotografie, sondern der Erinnerungsvorgang wird, wie später noch erläutert wird,21 durch die Betonung der mit ihm verbundenen Anstrengung auch mit dem Erzählen, beziehungsweise Schreiben analogisiert. Die Fotografien und die Schrift in Sebalds Werk ergänzen sich also wechselseitig nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf formaler Ebene: Während das Schreiben das vornehmlich Konsekutive der Sprache nutzt, um Erinnerungsvorgänge zu beschreiben, so erreicht es das Visuelle der Fotografie, einen Ausgangspunkt für Erinnerungen zu konstituieren, der durch den Text weiter genutzt werden kann.

21 | Vgl. Kap. 3.1.1.2

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 109

3.1.1.2 Fotografie und Schmerz im Kontext des Erinnerns Die Erinnerungstätigkeit ist für die Protagonisten in den Erzählungen Sebalds meist ein schwieriger, anstrengender und nicht selten schmerzhafter Prozess. So äußert sich Fini, die Tante des Ich-Erzählers in der Erzählung Ambros Adelwarth, wie folgt über dessen schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: „[. . . ] dass der Adelwarth-Onkel zwar ein untrügliches Gedächtnis besaß, aber kaum mehr eine mit diesem Gedächtnis verbindende Erinnerungsfähigkeit. Das Erzählen ist darum für ihn eine Qual sowohl als ein Versuch der Selbstbefreiung gewesen, eine Art von Errettung und ein unbarmherziges Sich-zugrunde-Richten.“ (DA 146)

Das Zitat verdeutlicht nicht nur die Anstrengung, die Ambros Adelwarth auf sich nimmt, um sich seiner Vergangenheit zu stellen, sondern auch den Unterschied zwischen dem „Speichermedium“ Gedächtnis und dem Prozess des Erinnerns.22 Das Erinnern selbst besitzt eine Eigendynamik, die es sehr schwierig macht, durch eigenes Zutun auf das Gedächtnis zurückzugreifen und dessen Inhalte in die für das Erzählen notwendige kohärente Form zu bringen. Sebald selbst reflektiert den Unterschied von Gedächtnis und Erinnerung und bestätigt, dass es die Funktion des Gedächtnisses sei, die Eindrücke zu bewahren, wohingegen die Erinnerung auf deren Zersetzung durch Bewusstmachen abziele.23 Vor diesem Hintergrund ist die Anstrengung der Erinnerungstätigkeit für die Protagonisten leicht nachzuvollziehen. Erinnerung bedeutet für diese stets einen schmerzhaften Akt der Auseinandersetzung, vor allen Dingen im Hinblick auf die Versprachlichung des Traumas. Hier könnte ein weiterer Grund liegen, dass Sebald in seinem Werk nicht nur Sprache, sondern auch Fotografien zur Bedeutungskonstitution nutzt. Die Fotografie bietet eine Zufluchtsmöglichkeit, einen Moment der Kontemplation und des „Es ist so gewesen”, der innerhalb der mühevollen Erinnerungsarbeit einen Moment des Innehaltens ermöglicht. Gleichzeitig dient die Fotografie als Katalysator, der das Erinnern und das Erzählen erst auslöst. Mit einem sehr anstrengenden und schmerzvollen Erinnerungsprozess sieht sich auch der Ich-Erzähler der Erzählung Max Aurach konfrontiert, dem es schwer fällt, die Erinnerungen Aurachs in einen erzählerischen Zusammenhang einzuordnen. Er schreibt auf den letzten Seiten seiner Erzählung, dass das Schreiben an der Geschichte des Malers für ihn ein „äußerst mühevolles, oft stunden- und tagelang nicht vom 22 | Vgl. zu diesem Unterschied auch: Aleida Assmann, Zwischen Gedächtnis und Geschichte. In: Marianne Leuzinger-Bohleber/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Gedenk und vergiß - Im Abschaum der Geschichte. Tübingen 2001. S. 141-152. 23 | Vgl. W.G. Sebald, Jean Amery und Primo Levi. In: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.), Über Jean Amery. Heidelberg 1990. S. 121.

110 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Fleck kommendes und nicht selten sogar rückläufiges Unternehmen“ (DA 344) darstelle. Er nutzt das von Thomas Bernhard entlehnte Verfahren der „teleskopischen Stafflung mehrerer Erzählerinstanzen, welches [. . . ] den Eindruck, dass es sich beim Erzählen um eine stockend-mühsame und schmerzhafte Erinnerungsarbeit handelt, verstärkt.“24 In diesem Kontext sollte auch erwähnt werden, dass die heterogenen Erfahrungen der zahlreichen intradiegetischen Erzählinstanzen erst mühevoll miteinander verknüpft und in Verbindung gebracht werden müssen. Es läuft nicht auf eine lineare Erzählform hinaus, sondern vielmehr auf ein multiperspektivisches Erzählen, das durch seine fehlende Konsekutivität und Kausalität dem visuellen Element näher rückt, als zunächst vermutet. Am offensichtlichsten lässt sich die Thematisierung der Kunstwerke des Malers Matthias Grünewald mit der schmerzhaften Erinnerungsarbeit in Zusammenhang bringen.25 Im Zentrum der Gemälde Grünewalds steht der Motivkomplex der Passion und dieser Komplex findet seinen Widerhall in der mühsamen Erinnerungstätigkeit der Protagonisten. Grünewalds Isenheimer Altar spielt eine zentrale Rolle für den Maler Max Aurach. Dieser berichtet dem Erzähler, dass die einzige Auslandsreise seines Lebens ihn nach Colmar geführt hätte, um dort die ihm „bei der Malerarbeit so oft vorschwebenden Isenheimer Bilder Grünewalds und insbesondere das von der Grablegung in Wirklichkeit zu sehen.“ (DA 252) Beim Studium der Gemälde Grünewalds setzt sich Aurach vor allem mit der „Ungeheuerlichkeit des Leidens“ (DA 253) und dem Schmerz, der „seine eigene Bedingung, das Bewußtsein, aufhebt“ (DA 253) auseinander. Grünewalds Passionsdarstellungen werden so zur „Folie, um die Bindung an den eigenen Schmerz zu lesen.“26 Allegorisch beschreibt Aurach den Schmerz und überträgt das sichtbare körperliche Leid der Schmerzensfiguren Grünewalds auf seine eigene seelische Disposition und den inneren Schmerz, der scheinbar das Bewusstsein nicht aufheben kann und der deswegen unendlich ist: „Fest steht hingegen, dass das seelische Leiden unendlich ist. Wenn man glaubt, die letzte Grenze erreicht zu haben, gibt es immer noch weitere Qualen. Man fällt von Abgrund zu Abgrund.“ (DA 254) Diesem seelischen Schmerz stellt Aurach den körperlichen Schmerz gegenüber, indem er an einen vor Jahren erlittenen Bandscheibenvorfall erinnert. Dieser jedoch erinnert ihn wiederum aufgrund der zwanghaft eingenommenen gebückten Haltung an die bereits erwähnte Fotografie, die ihn als Zweitklässler schreibend über ein Heft gebeugt zeigt. Die auf der Fotografie gezeigte krumme Körperhaltung nimmt so eine 24 | Fuchs 2004. S. 32. 25 | Öhlschläger 2005. S. 262. 26 | Öhlschläger 2005. S. 262.

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 111

semantische Doppelfunktion ein: Zum einen ist sie ein klassischer Ausdruck körperlichen Leidens, wie es Christus beispielsweise bei der Kreuztragung erfährt, zum anderen steht sie für schriftstellerische Produktivität. Die Fotografie führt somit Schmerzerfahrung und Schreibakt strukturell zusammen. Im Zusammenhang mit den Passionsdarstellungen Grünewalds eröffnet sich auch die Bedeutungsdimension, dass der schmerzhafte Vollzug des Schreibens eine Erlösungshoffnung beinhaltet.27 Die Idee, Traumata durch Narration zu überwinden, erklärt einerseits, warum der Ich-Erzähler überhaupt bereit ist, den bereits beschriebenen anstrengenden Prozess der Niederschrift der Geschichte Aurachs auf sich zu nehmen. Andererseits macht er so „den Zusammenhang zwischen Schmerz- und Schreiberfahrung lesbar.“28 In den Texten wird die Hoffnung darauf, das Trauma durch kohärente Narrativierung zu überwinden, aber nicht erfüllt: weder die Ich-Erzähler noch die psychisch zerütteten, intradiegetischen Erzähler finden Erlösung in der Narration. 3.1.1.3 Fotografie und Vergangenheit in W.G. Sebalds Prosa Eine Dimension, die eng mit der Darstellung von Erinnerungen verknüpft ist, die aber dennoch eine kurze gesonderte Betrachtung lohnt, ist die Verknüpfung der Fotografien in Sebalds Erzählungen mit der Vergangenheit. Die in den Text eingebetteten fotografischen Bilder haben nur selten einen Bezug zur Gegenwart des Erzählers.29 Die auf den Fotografien dargestellten Landschaften, Personen und Gebäude „versehen die Gegenwart nicht mit dem Siegel der Aktualität, sondern umgekehrt mit dem melancholischen Index des Posthumen.“30 Auch Sebald selbst verweist darauf, dass Fotografien stets Vergangenheit suggerieren.31 Diese Tatsache liegt im Wesen der Fotografie begründet, denn der während des Auslösens festgehaltene Augenblick ist bei der späteren Betrachtung der Fotografie stets ein vergangener und unwiederbringlich verlorener Moment. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Fotografie für die Rekonstruktion der Vergangenheit in Sebalds Texten zuverlässig sein kann. Weber schreibt in seinem Text zu den Abbildungen im Werk Sebalds: 27 | Vgl. Öhlschläger 2005. S. 264. 28 | Öhlschläger 2005. S. 265. 29 | Eine Ausnahme bilden hauptsächlich die Fotografien in der Erzählung Max Aurach, die den Besuch des Ich-Erzählers in Bad Kissingen illustrieren (DA 332ff.). 30 | Fuchs 2004. S. 75. 31 | Vgl. W.G. Sebald, Westwärts-Ostwärts: Aporien deutschsprachiger Ghettogeschichten. In: Ders., Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur. Frankfurt a. M.: 1995. S. 44.

112 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

„Das schwarz-weiße Foto kann nur eine ungefähre Vorstellung von der tatsächlichen Anlage geben, es scheint erklärungsbedürftig. Diese Fotos kommen über die Rolle von Stichwortgebern nicht hinaus. Geradezu lächerlich dürftig nehmen sie sich aus neben ihrer emotionalen Beschreibung.“32

Weber scheint hier nicht zu berücksichtigen, dass es eine mediale Eigenschaft der Fotografie ist, dass sie sich kaum zur kohärenten Schilderung emotionaler Prozesse eignet, dass sie diese aber dennoch durch visuelle Mittel erfahrbar machen kann. Die Fotografie bleibt in ihrer Darstellung auf einen Augenblick beschränkt, doch ihr visuelles Potential eignet sich hervorragend, um den Referenten des Kunstwerks konkret zu bestimmen. Die Fotografie kann folglich nicht vergangene Geschehen nacherzählen, aber sie ist in Sebalds Romanen in der Lage, das Vergangene durch einen konkreten Referenten zu evozieren. Bild und Text verleihen sich gegenseitig Evidenz. Sebald nutzt Fotografie und Text gleichzeitig für die Rekonstruktion der Vergangenheit 3.1.1.4 „Die Toten kehren zurück“ – Zu einer Funktion der Fotografien in Sebalds Die Ausgewanderten „Einmal ums andere, vorwärts und rückwärts durchblättere ich dieses Album, [. . . ] weil es mir beim Betrachten der darin enthaltenen Bilder tatsächlich schien und nach wie vor scheint, als kehrten die Toten zurück oder als stünden wir im Begriff, einzugehen zu ihnen.“ (DA 69)

Mit diesen Worten umschreibt der Ich-Erzähler der Erzählung Paul Bereyter seine Empfindungen bei der Betrachtung eines Albums, indem „fast das gesamte Leben des Paul Bereyter fotografisch dokumentiert und von seiner eigenen Hand annotiert war.“ (DA 68) Sebald präsentiert seine Fotografien unter anderem deshalb dem Leser, weil diese eine besondere Beziehung zum Tod haben, die für die Werke Sebalds konstitutiv ist.33 Diese Beziehung baut sich über die Erinnerung auf, die zuvor thematisiert worden ist. Fotografien evozieren Erinnerungen an die Toten und machen diese in den Gedanken der Figuren präsent. Es ist auffällig, dass die meisten der Fotografien in Sebalds Werk Menschen abbilden (sollen), die in der Gegenwart des Erzählers nicht mehr leben. Einer der ältesten mit Fotografien verknüpfte Zweck, der der (Re-) Präsentation, rückt an dieser Stelle folglich in das Zentrum der Aufmerksamkeit. 32 | Weber 2003. S. 67. 33 | Vgl. Stefanie Harris, The Return of the Dead: memory and Photography in W.G. Sebald’s Die Ausgewanderten. In: The German Quarterly 74, 4. 2001. S. 379.

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 113

Dass Fotografien in der Lage sind, den toten Körper zu repräsentieren und durch Erinnerung zu den Lebenden zurückkehren zu lassen, wird deutlich an der Textstelle, an der der Ich-Erzähler der Erzählung Dr. Selwyn auf einen Zeitungsartikel stößt. Aus diesem geht hervor, dass die Leiche eines engen Freundes des Protagonisten, der bei einem Bergunfall ums Leben gekommen ist, nach 72 Jahren an einem Gletscher aufgefunden wurde. Der Tote, aus den Erzählungen Dr. Selwyns bekannt, kehrt zurück als ein „Häufchen geschliffener Knochen und ein paar genagelter Schuhe“ (DA 37) aber eben auch durch den eine Fotografie beinhaltenden Zeitungsartikel. „So also kehren sie wieder die Toten“, (DA 36) konstatiert der Ich-Erzähler und meint damit nicht nur das physische Wiederauftauchen der Leiche, sondern auch die Erinnerungen an den Toten und an Dr. Selwyn, die durch den Zeitungsartikel wachgerufen worden sind. Auch Roland Barthes umschreibt die Rückkehr des Toten als einen wesentlichen Bestandteil von Fotografien, der diese von anderen Bildern unterscheidet. „Und was fotografiert wird, ist . . . das [was] ich das spectrum der Fotografie nennen möchte, weil dieses Wort . . . den etwas unheimlichen Beigeschmack gibt, der jeder Photographie eigen ist: die Wiederkehr des Toten.“34

Dieses sollte auch in Verbindung mit dem Holocaust gebracht werden, der die ausgewanderten Protagonisten der Erzählungen stets direkt oder zumindest tangentiell berührt. Die letzen Überlebenden des Holocaust verschwinden ebenso wie die Protagonisten in Sebalds Roman und somit drängt sich die Frage auf, „wie nach dem Tod der letzten Zeitzeugen und dem damit einhergehenden Paradigmenwechsel die Erinnerung an den Holocaust . . . überhaupt noch wach gehalten werden kann.“35 Wenn im Roman die Auffassung propagiert wird, dass Fotografien in der Lage seien, die Toten wiederkehren zu lassen, so wäre für Sebald die Fotografie eine mögliche Kunstform, um die Erinnerung an den Holocaust und seine Opfer im individuellen wie kollektiven Gedächtnis zu behalten. Durch die gebrochene Erinnerung an die Erinnerung des Zeitzeugen, im Falle von Sebalds Roman also durch die Schilderungen des Erzählers über die Erinnerungen der ausgewanderten Protagonisten, thematisiert Sebald folglich ein Verständnis vom Holocaust, das nicht mehr durch eigene Erinnerungen, sondern durch die (medial) vermittelten Erinnerungen der vorherigen Generation geprägt ist.36 Dieses ist besonders für Sebald als einen Autor der so genannten

34 | Barthes 1989. S. 17. 35 | Fuchs 2004. S. 27. 36 | Vgl. Fuchs 2004. S. 27.

114 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

zweiten Generation37 von Bedeutung, da er sich in seinen Werken immer wieder die Frage stellt, wie die Opfer des Holocaust erinnert werden können, „ohne dabei in die Falle eines identifikatorischen Opferdiskurs zu laufen.“38 Aus diesem Grund präsentiert Sebald die Erinnerungen der vom Holocaust betroffenen Protagonisten nicht direkt, sondern auf zweierlei Weise medial gebrochen: nämlich einerseits durch die Fotografien und andererseits durch die Schilderungen der intradiegetischen Erzählinstanzen oder der Ich-Erzähler.39 3.1.1.5 Fotografien als Authentisierungsstrategie Fotografien zeigen ein Ereignis, das einst vor der Linse stattgefunden hat, aber ebenso unwiederbringlich vergangen wie unwiederholbar ist.40 Der Konstruktcharakter von Fotografien ist zwar mittlerweile in der Kunst41 und in der theoretischen Diskussion thematisiert worden, nichtsdestotrotz werden die medialen Eigenschaften von Fotografien in der Alltagsrezeption nach wie vor mit Authentizität in Verbindung gebracht. Das Fotografierte dokumentiert eine Präsenz, da sich im Moment des Auslösens das Objekt tatsächlich vor der Linse befunden haben muss. Somit verkörpern Fotografien eine scheinbare Gewissheit und Faktizität.42 Verbindungen von Text und Fotografie, die sich gegenseitig affirmieren, haben von je her einen besonders beglaubigenden Charakter. In Sebalds Werk stellt sich die Frage, wie eine dynamische und

37 | Zweite Generation bedeutet, dass nicht Sebald selbst den Zweiten Weltkrieg erlebte, er aber ein Kind dieser Kriegsgeneration ist. Sein Vater gehörte zur Wehrmacht und befand sich bis 1947 in französischer Kriegsgefangenschaft. 38 | Fuchs 2004. S. 28. 39 | Hier ist zu berücksichtigen, dass der Holocaust nur sehr selten direkt thematisiert wird. Der Bezug zum Holocaust ist aber stets vorhanden, da sämtliche Protagonisten der Erzählungen in irgendeiner Form Opfer der Repressions- und Vernichtungspolitik waren, wenn auch meistens indirekt. 40 | Im Folgenden gilt es natürlich, die Konstruiertheit von Fotografien zu berücksichtigen. Das gilt vor allem für die Fotografien der letzten Jahre, bei denen es unmöglich geworden ist, digitale Nachbearbeitungen zu erkennen. Die auf Fotografien gezeigten Motive müssen sich nun nicht mehr vor der Kamera befunden haben, sondern können auch ausschließlich am Computerbildschirm generiert worden sein. Das Problem der technischen Nachbearbeitung von Fotografien reflektiert Sebald mittels einer Fotografie (DA 275), auf deren nachträgliche Bearbeitung der Protagonist Max Aurach explizit hinweist. 41 | Vgl. hier das Kapitel 3.4.1. 42 | Vgl. Weber 2003. S. 66.

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 115

subjektive Auffassung von Vergangenheit mit dem Begriff der Authentizität korrellierbar ist. Stephanie Harris problematisiert die Funktion von Sebalds Fotografien als Authentisierungsstrategie wie folgt: „Sebald both exploits and denies the documentary status of the photograph, prompting us to look beyond the simple reading of these photographs as merely enhancing the non-fictional elements of the text and to ask how they might function with and against the language of the text itself in order to communicate a particular relationship to the past.”43

Sebald nutzt die im Roman enthaltenen Fotografien für ein Wechselspiel zwischen Authentisierung und Fiktion: Er verweist zum einen auf den dokumentarischen Charakter der Fotografie, zum anderen verbindet er die Fotografie aber mit dem fiktionalen Text, da er das Anschauen der Fotografien und die dadurch bei den Figuren ausgelösten Vorstellungen beschreibt: „Das leise Surren des Projektors setzte ein, und der sonst unsichtbare Zimmerstaub erglänzte zitternd im Kegel des Lichts als Vorspiel vor dem Erscheinen der Bilder. . . . Ein paar Mal sah man auch Edward mit Feldstecher und Botanisiertrommel oder Dr. Selwyn in knielangen Shorts, mit Umhängetasche und Schmetterlingsnetz. . . . Ich spürte, dass sie beide ihrer Rückkehr in die Vergangenheit nicht ohne eine gewisse Rührung beiwohnten.“ (DA 26-28)

Dadurch, dass die direkte Verbindung der Fotografie mit einem offenkundig literarischen und damit fiktionalen Text aber die Authentizität der Fotografie in Frage stellt, muss auch der Leser die Verbindung von Fotografie und Authentizität anzweifeln. Für ihn ist es nicht nachprüfbar, ob beispielsweise eine im Text namentlich erwähnte Person auf der Fotografie zu erkennen ist, oder die Fotografie eine völlig andere Person darstellt. Markus Weber beschreibt diese Problematik wie folgt: Die Fotografien „scheinen in ihrer Belanglosigkeit bloßgestellt zu werden. Sie belegen nichts. [. . . ] Der Erzähler unterstellt den Fotos, sie seien Dokumente; er beansprucht Glaubwürdigkeit, Autorität: ein Rollenspiel des Erzählers mit dem Leser.“44 An der soeben besprochenen Stelle existiert allerdings tatsächlich eine Beziehung der abgebildeten Fotografie zur referentiellen Wirklichkeit. Der Ich-Erzähler spricht davon, dass eine der Seldwynschen Aufnahmen einer Fotografie des Autors Vladimir Nabokov „bis in Einzelheiten” (DA 26) gleiche. Diese Nabokov zeigende Fotografie wird nun auf der nächsten Doppelseite präsentiert. Neben dieser Authentizität stiftenden 43 | Harris 2001. S. 380. 44 | Weber 2003. S. 66.

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Funktion der abgebildeten Fotografie liegt allerdings auch ein Bezug zum Wesen der Fotografie nahe, da deren Verfahren von Roland Barthes unter anderem durch das Bild eines aufgespießten Schmetterlings beschrieben werden.45 Da die Art der Anwendung der Fotografie mitentscheidend dafür ist, ob sie als Dokument verstanden wird, sollte jene im Folgenden kurz betrachtet werden. Im Falle von Sebalds Erzählungen spielen die Fotografien eine interessante Doppelrolle zwischen Fiktion und Faktum, da die Abbildungen nicht die historische Wahrheit, sondern „die literarische Darstellung beglaubigen“46 sollen. W.G. Sebald selbst bestätigt diese Annahme, indem er bezüglich der Authentizität seiner Fotografien eine Aussage trifft, die „doppelbödig“47 erscheint: „Beim Großteil der Bilder handelt es sich um authentische Dokumente. Nur hin und wieder hat ein Bild die gegenteilige Funktion – nämlich den Leser zu verunsichern, was die Authentizität des Textes betrifft.“48 Diese Aussage verwundert, da Sebald dezidiert literarischfiktionale Texte schreibt, die zwar Bezüge zur referentiellen Wirklichkeit aufweisen, allerdings nicht im klassischen Sinne als authentisch bezeichnet werden können.49 Dennoch scheint es dem Autor um eine authentische Wirkung der Fotografien zu gehen. Diese wird dadurch erreicht, dass Text und Fotografie direkt aufeinander Bezug nehmen, der literarische Text erwähnt häufig explizit die gezeigten Fotografien und nimmt zu ihnen Stellung. So können sich der literarische Text und die Fotografien gegenseitig bestätigen, insbesondere wenn es sich bei den gezeigten Fotografien um Dokumente handelt, die das Geschriebene explizit zu beglaubigen scheinen. Es scheint, als verwende der Erzähler die abgebildeten Dokumente tatsächlich als Quellen für seine Narration. Silke Horstkotte weist jedoch nach, dass Sebald es dem aufmerksamen Leser ermöglicht, die gezeigten Quellen als Fiktion zu begreifen. Sie zeigt nicht nur, dass der Erzähler die Eintragungen eines abfotografierten Notizbuches (DA 194/195) falsch transkribiert, sondern auch dass „die Entzifferung der Handschrift enthüllt, daß es sich bei den abgebildeten Eintragungen mit

45 | Vgl. Barthes 1989. S. 66. 46 | Weber 2003. S. 66. 47 | Andrea Gnam, Fotografie und Film in W.G. Sebalds Erzählung Ambros Adelwarth und seinem Roman Austerlitz. In: Sigurd Martin/ Ingo Wintermeyer (Hg.), Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W.G. Sebalds. Würzburg 2007. S. 27. 48 | Sigrid Löffler, „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald. In: Franz Loquai (Hg.), W.G. Sebald. Eggingen 1997. S. 137. 49 | Vgl. zur Definition des Authentischen Kap. 2.1.

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 117

ziemlicher Sicherheit nicht um Originaldokumente aus dem Jahr 1913 handelt, sondern um einen ausgeklügelten Scherz des Autors, zugleich aber dessen Einladung an die Leser, sich durch die vermeintliche Authentizität reproduzierender Dokumente nicht hinters Licht führen zu lassen.”50

Es hat sich in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, dass Erinnerungen nicht in der Lage sind, ein objektives und eindeutiges Geschichtsbild zu erzeugen. Erinnerung besitzt nicht nur einen Konstruktcharakter, sondern auch einen Gegenwartsbezug, der bedeutet, „dass die Erinnerung als Beziehung zu einer als bedeutsam gefassten Vergangenheit zu verstehen ist, die sich mit den verändernden Bedürfnissen des Individuums oder der Gruppe wandeln kann. Die Erinnerung liefert also keine statische Repräsentation der Vergangenheit [. . . ].“51

Die Begriffe Literatur und Authentizität stehen in Bezug auf Sebalds Werke in einem besonderen Verhältnis, welches hier kurz thematisiert werden soll. Literatur zeichnet sich in der Regel durch Fiktionalität aus und erhebt häufig keinen Anspruch auf Authentizität oder die mimetische Abbildung äußerer Wirklichkeiten. Neben Gattungen wie dem historischen Roman oder der Biographie zeichnet sich allerdings auch Literatur über den Holocaust durch den Anspruch auf Authentizität aus. Sebalds Erzählungen können dem Genre „Holocaustliteratur” im weiteren Sinne zugeordnet werden. Sie haben zwar nicht direkt den Holocaust zum Thema, doch ihre Protagonisten sind allesamt psychisch oder physisch Ausgewanderte und direkt oder am Rande durch den Holocaust betroffen.52 Im Gegensatz zu anderen literarischen Texten nimmt die Gattung „Holocaustliteratur” für sich in Anspruch trotz ihrer Literarizität tatsächlich geschehene Ereignisse abzubilden.53 Holocaustliteratur soll(te) ihre authentische Wirkung auf vier Ebenen entfalten.54 Erstens durch die Verbindung des Autors zum Geschehen, zweitens durch die Erwähnung konkreter historischer 50 | Horstkotte 2009. S. 96. 51 | Fuchs 2004. S. 22. 52 | Vgl. Harris 2001. S. 381. 53 | Vgl. Zu dieser Problematik: Sascha Feuchert, Literatur über den Holocaust. In: Ders., (Hg.), Holocaust-Literatur. Auschwitz. Stuttgart 2004. S. 15-26 oder Fuchs 2004. S. 36ff. 54 | Mit dem Tod der letzten Zeitzeugen rückt auch das „Authentizitätsgebot” für Holocaustliteratur in den Hintergrund. Dies beweist unter anderem der umstrittene, aber sehr erfolgreiche fiktive Täterroman Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell (2007).

118 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Personen und Ereignisse, drittens durch Mittel, die einen Wirklichkeitseffekt erzeugen (z.B. Deiktika, Einbettung von Dokumenten...) und viertens durch die Sichtbarmachung des Scheiterns an der Darstellung des Holocaust.55 Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass Sebald das der Holocaustliteratur zu eigene „Authentizitätsgebot” auf den ersten beiden genannten Ebenen kaum berücksichten kann bzw. berücksichtigt,56 wohl aber auf der dritten und vierten Ebene. Er bettet Fotografien und Zeitungsausschnitte so in seine Erzählungen ein, dass sie das Geschilderte zu beglaubigen scheinen und einen Wirklichkeitseffekt erzeugen. Weiterhin verwendet Sebald ein stockendes, nicht-lineares, mühsam erscheinendes Erzählverfahren, das nicht nur mit der Schmerzhaftigkeit des Erinnerungsvorgangs analogisiert werden kann,57 sondern auch das Scheitern an einer adäquaten Darstellung des Holocaust deutlich macht. Es wird denkbar, dass Sebald die in den Roman eingebetteten Fotografien zwar nicht als tatsächliche Authentisierungsstrategien nutzt, sondern als scheinbare authentische Zeugnisse, die so auch auf formaler Ebene noch einmal auf den Holocaust und die literarische Gattung der Holocaustliteratur verweisen. Ein weiterer Bezug der Fotografien zum Holocaust lässt sich dann ausmachen, wenn Fotografien und Text auf den Niedergang der Industrie verweisen. In der Erzählung Max Aurach zeigen einige Bilder die Industriemetropole Manchester, deren Niedergang durch den literarischen Text wie folgt indirekt kommentiert wird: „Das eindrucksvollste freilich, sagte Aurach, waren die [. . . ] überall [. . . ] herausragenden Schlote. Diese Schlote, sagte Aurach, sind heute nahezu ausnahmslos niedergelegt und außer Betrieb. Damals aber rauchten sie noch [. . . ]“ (DA 250/251)

Das verfallene Manchester wird so zur Metapher für das Versagen der Industrialisierung, nach deren Mustern der systematische Völkermord der Nationalsozialisten funktionieren konnte.58 An dieser Stelle wird die Fotografie sozusagen auf metaphorischer Ebene authentisch, denn sie kommuniziert eine historische Wahrheit. 55 | Vgl. zu dieser Kategorisierung: Matias Martinez (Hg.), Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik. Bielefeld 2004. 56 | Der Autor ist nicht vom Holocaust betroffen, wohl aber vom zweiten Weltkrieg. Er wurde 1944 geboren, kurz nachdem seine Mutter vor dem Luftkrieg in das Haus ihrer Eltern nach Wertach im Allgäu geflohen war, sein Vater kehrte erst 1947 aus französischer Kriegsgefangenschaft zurück. Sebald erwähnt in seinem Werk zwar historische Ereignisse und gelegentlich auch Personen, aber stets nur am Rande. 57 | Vgl. Kapitel 3.1.1.2. 58 | Vgl. Fuchs 2004. S. 167.

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 119

Das erfüllte industrielle Leben der Stadt Manchester wird durch die Erinnerungen Aurachs in Sebalds Erzählung zwar thematisiert, aber diese Thematisierung findet auch durch die Fotografie statt, die stets „das Zeichen eines zukünftigen Todes in sich trägt“ (DA 63) und als unwiderruflich vergangen gekennzeichnet ist. Diese Beobachtung versteht sich im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Annahme Sebalds, „dass der Holocaust und der zweite Weltkrieg eine Zäsur darstellen, die die Geschichte in ein bedeutungshaltiges Davor und ein leeres Danach aufteilt.“59 Die Tatsache, dass der Holocaust die Protagonisten in Sebalds Erzählungen nicht loslässt, dass sie traumatisch mit diesem verstrickt sind, wird auch in der Eingangsfotografie der Erzählung Paul Bereyter subtil reflektiert (DA 41). Die Aufnahme zeigt eine Bahnstrecke inmitten der Natur, deren Verlauf sich nach einer Rechtskurve dem Blick des Betrachters entzieht. Auffällig an dieser Fotografie ist, dass sie aus einer gemäßigten Froschperspektive fotografiert wurde und es somit scheint, als habe der Fotograf mit seiner Kamera auf dem Boden gelegen, um den Verlauf der Gleislinie aufzunehmen. Da Paul Bereyter auf einer Bahnstrecke Selbstmord beging und die Beschreibung der Bahntrasse sich mit der auf der Fotografie gezeigten deckt, erscheint die Fotografie als eine vorangestellte „Repräsentation des Sterbeblicks Bereyters, und damit als Illustration der verbalen Erzählung”60 . Bei näherer Betrachtung lassen sich aber auch andere Interpretationslinien nachvollziehen. So verweist die Bahn auch auf die Obsession des Lehrers, die sich aus der Rolle der Eisenbahn bei der Deportation seiner jüdischen Freundin Lucy Landau erklärt.61 Bereyter, als jüdischer „Mischling” selbst von der Deportation bedroht, gelingt es nicht, Tod und Eisenbahn voneinander zu trennen, weswegen er den Tod auf den Schienen wählt, der ihm als konsequentes Ende seines Lebensweges erscheint. Eine Gesprächspartnerin des Ich-Erzählers berichtet über den Lehrer und seinen Tod: „Nur die Todesart, dieses mir unvorstellbare Ende, brachte mich zunächst völlig aus der Fassung, wenn sie auch wie ich schon bald begriff, durchaus folgerichtig gewesen ist. Die Eisenbahn hatte für Paul eine tiefere Bedeutung. Wahrscheinlich schien es ihm immer, als führe sie in den Tod. Fahrpläne, Kursbücher, die Logistik des ganzen Eisenbahnwesens, das alles war für ihn, wie die Wohnung in S. sogleich erkennen ließ, zeitweise zu einer Obsession geworden. Die in dem leeren Nordzimmer auf einem Brettertisch aufgebaute Märklinanlage steht mir heute noch vor Augen als das Sinn- und Abbild von Pauls deutschem Unglück.” (DA 90/91)

59 | Fuchs 2004. S. 165. 60 | Horstkotte 2006. S. 192 61 | Ebd.

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Neben der Froschperspektive weist die Fotografie eine andere Auffälligkeit auf: ungewöhnlicherweise ist der Vordergrund der Fotografie unscharf, wohingegen der Hintergrund scharf gestellt ist. Diese Art der Unschärfe kann nicht mit dem (Sterbe)Blick des kurzsichtigen (DA 44) Paul Bereyters korrelieren, wodurch eine andere Funktion nahe liegt: Durch die Unschärfe der Fotografie wird ein Verweis zum vorangegangenen Zitat „manche Nebelflecken löset kein Auge auf” hergestellt. Der Nebelfleck, Bereyters Trauma,62 verfolgt ihn bis zum Augenblick seines Todes. An dieser Stelle zeigt sich, wie wirkungsvoll Text und Bild ineinandergreifen und wie stark der Leser bei der Entschlüsselung dieser Verbindungen gefordert ist. Sebald betont stets den Konstruktcharakter von Fotografien, indem er sie dem literarischen Text beiordnet und beide Medien in den Dienst der subjektiven Erinnerung der intradiegetischen Erzählerfiguren stellt. Die Wirklichkeit ist durch die Erzähler subjektiv verstellt, sie betten die Fotografien in ihre persönlichen Erzählungen ein und lassen diese somit ihren dokumentarischen Gestus verlieren. Dadurch, dass sie Fotografien häufig auch als Ausgangspunkt für „Erinnerungsströme“ thematisieren und nutzen, verweisen die Erzählerfiguren indirekt darauf, dass Fotografien ebenso polyvalent gedeutet werden können wie die Literatur. Im Grunde besitzt der jeweilige Erzähler keine Deutungshoheit über die Fotografien, der Leser selbst kann die Fotografien auch durch andere Lesarten für seine Bedeutungskonstitution nutzen. Auf formaler Ebene verweisen die Fotografien auf die Gattung der Holocaustliteratur, zu deren Genremerkmalen Authentisierungsstrategien gehören können. Manchmal dienen die Fotografien aber auch dazu, wie im Falle der soeben besprochenen Fotografie in Paul Bereyter, dem Leser Divergenzen zwischen Text und Bild deutlich zu machen. Die immer detaillierter werdenden Erzählungen in Sebalds Roman thematisieren folglich die Vergangenheit durch zwei verschiedene Medien, von denen das eine Fiktionalität und das andere Authentizität verheißt, die aber beide im Dienste der Fiktion stehen und polyvalent deutbar erscheinen.

62 | Silke Horstkotte bietet an dieser Stelle eine andere, ebenfalls plausible Interpretation an: für sie ist der Nebelfleck die NS-Vergangenheit, die „vom Leser/Betrachter nie vollständig zu durchdringen ist.” (Horstkotte 2006. S. 193.)

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3.1.1.6 Wildes Denken – Bastelei und Zufall W.G. Sebald meint zu seiner Arbeit: „Ich arbeite nach dem System der Bricolage - im Sinne von Lévi-Strauss. Das ist eine Form von wildem Arbeiten, von vorrationalem Denken, wo man in zufällig akkumulierten Fundstücken so lange herumwühlt, bis sie sich irgendwie zusammenreimen.”63

Dieses Vorgehen hat auch Auswirkungen auf das Verhältnis der Fotografie zum literarischen Text. Es führt vor, dass die fotografischen Fundstücke einem anderen Kontext entnommen wurden und somit „stets über den Kontext hinaus [weisen], in den sie nachträglich eingelassen sind.”64 Es beweist die semantische Offenheit der Fotografie, ihre Nutzbarkeit für verschiedene Kontexte und die Abhängigkeit ihrer Rezeption vom umgebenden Text. Weiterhin schafft das Verfahren eine narrative Kette von Fotografien, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten, geschweige denn, dass das auf ihnen Abgebildete in einem kausalen oder konsekutiven Zusammenhang stünde. Die „wilde Bastelei” ist zudem ein Verfahren, welches an Praktiken moderner Künste wie Dada erinnert. Aus Fundstücken wird eine Montage erstellt, die die Fundstücke zusammenführt und einen neuen gemeinsamen Kontext herstellt. Auch ästhetisch wird auf das Prinzip der Montage zurückgegriffen, da der Text keineswegs nur Bedeutungsträger ist, sondern eine Verbindung mit dem Bild eingeht. Michael Niehaus beschreibt genauer: „Bisweilen läuft der Text schon auf typographischer Ebene auf die Abbildung förmlich zu: Die letzte Zeile ist zentriert gesetzt, wodurch zugleich ihre exakte Platzierung im Text - auch innerhalb eines Satzes - möglich wird (viele Beispiele zeigen, dass Sebald großen Wert auf die räumliche Anordnung von Text und Bild gelegt hat).”65

Text und Bild gehen bei Sebald also nicht nur eine semantische Verbindung ein, sondern sind konzeptionell auch auf visueller Ebene veknüpft: Dem Prinzip der Montage folgend, werden Text und Bild auch ästhetisch miteinander verschränkt. Dieses bewußte Arrangement der Fotografien ist in literarischen Fototexten erst auf den

63 | Löffler/Sebald 1997. S. 136. 64 | Michael Niehaus, Ikonotext. Bastelei. Schwindel. Gefühle von W.G. Sebald. In: Silke Horstkotte/Karin Leonhard (Hg.), Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Text und Bild. Köln/Weimar/Wien 2006. S. 157. 65 | Niehaus 2006. S. 157.

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zweiten Blick sichtbar, doch - wie noch zu zeigen sein wird - kein Alleinstellungsmerkmal Sebalds. 3.1.2 Jonathan Safran Foer: Extremly Loud & Incredible Close Jonathan Safran Foers Roman Extremly Loud & Incredible Close ist eines der vieldiskutierten „post 9/11 books”, die die Anschläge auf das World Trade Center vom 11. September 2001 zum Thema oder zum Ausgangspunkt ihrer literarischen Praxis machen. Der Roman präsentiert sich gattungsübergreifend als „Mischung aus Bildungs- und Briefroman, Detektivgeschichte und Pikareske”66 und arbeitet mit zahlreichen visuellen Angeboten. Protagonist der Handlung ist der neunjährige Oskar Schell, der seinen Vater bei den Anschlägen vom 11. September 2001 verloren hat. Oskar sucht im Roman einen Weg, um mit dem traumatischen Verlust umzugehen. Doch nicht nur der tragische Tod seines Vaters lastet auf ihm, sondern vor allen Dingen die Tatsache, dass er den letzten Anruf seines Vaters aus dem World Trade Center aus Angst nicht entgegennahm. Nachdem er in einer Vase einen Briefumschlag entdeckt, der einen Schlüssel enthält und mit der Aufschrift „Black” versehen ist, interpretiert Oskar den Fund als ein letztes Spiel seines Vaters. Der Junge macht sich auf die Suche nach dem passenden Schloss zum Schlüssel. Parallel zu der Ich-Erzählung Oskars werden auch Erinnerungen seiner Großeltern väterlicherseits in Briefform präsentiert, die beide die Bombenangriffe auf Dresden überlebten. Auch für die Großeltern wird das erlebte Trauma zu einem Ereignis, das sich als wegweisend und prägend für ihr weiteres Handeln und Denken erweist. 3.1.2.1 Multimedialität und visuelle Verfahren Jonathan Safran Foers Roman ist ein multiperspektivischer und multimedialer Roman. Neben Fotografien gibt es auch zahlreiche andere visuelle Angebote: ungewöhnliche Typographien, leere und schwarze Seiten, farbige Textkorrekturen und abgedruckte Visitenkarten. Dennoch besitzt die Fotografie einen, wie noch zu zeigen sein wird, besonderen Stellenwert innerhalb des Romans. Die visuellen Elemente im Roman, und hier im speziellen die fotografischen Bilder, sind meiner Ansicht nach auf dreierlei Weise mit der Thematik des literarischen

66 | Birigit Däwes, „The Obliging Imagination Set Free”: Repräsentationen der Krise - Krise der Repräsentation in der U.S.-amerikanischen ) 9/11 novel. In: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen (Hg.), Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Heidelberg 2008. S. 82.

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Textes verknüpft beziehungsweise aus ihr heraus begründbar: Zum einen liegt eine visuelle Auseinandersetzung mit dem 11. September insofern nahe, als dass dieses Ereignis in hohem Maße durch Bilder vermittelt wurde und somit auch durch Bilder erinnert wird. Der 11. September kann durchaus als erste große Katastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet werden, deren Bilder nicht nur über die Fernsehbildschirme flimmerten, sondern auch nahezu in Echtzeit weltweit im Internet verfügbar waren.67 Zum Zweiten besitzt der junge Protagonist Oskar selbst eine große Affinität zu visuellen Medien. Er fotografiert viel und begreift das fotografische Bild als Medium des Beweises, der Erinnerung und der Aneignung. Aus diesem Grund klebt Oskar auch (fotografische) Bilder in sein „Was ich erlebt habe-Album” ein, das für ihn eine Art visuelles Tagebuch darstellt. Der dritte und vielleicht sogar wichtigste Grund für die Einbettung von visuellen Elementen stellt die enge Verknüpfung von Visualität und Trauma dar. Da sich traumatische Ereignisse meist der Kohärenz stiftenden, fortlaufenden Narration entziehen, können eingebettete visuelle Elemente die Unsagbarkeit des Dargestellten verdeutlichen.68 Der 11. September 2001 als visuelles Medienereignis Der 11. September 2001 war ein Ereignis, welches in nie zuvor dagewesener Weise durch visuell operierende Massenmedien der Weltbevölkerung präsentiert wurde. Die enorme mediale Verbreitung der Bilder des Anschlages lässt sich keineswegs nur aus der im 21. Jahrhundert rasant angestiegenen Nutzung des Internets erklären. Vielmehr schien das Ereignis selbst seine enormen medialen Repräsentationsmöglichkeiten zu begünstigen. Zum einen fand die Katastrophe an einem Ort mit einer sehr guten Medienversorgung statt. Zum anderen war es durch den zeitlichen Abstand zwischen den Angriffen auf die beiden Türme möglich, Bildtechnik und Liveaufnahmen zu optimieren69 und so 67 | An dieser Stelle sollte aber bemerkt werden, dass sich nur wenige der enthaltenen Fotografien direkt auf die Terroranschläge beziehen, sondern vielmehr auf das Erleben Oskars. Man entdeckt Fotografien von Schlüsseln und Schlössern, von Tieren und sonstigen Dingen, für die sich Oskar interessiert. 68 | Bei der Darstellung der Verknüpfung von Trauma und Visualität beziehe ich mich im Wesentlichen auf einen Aufsatz Phillipe Coddes. Phillipe Codde, Philomela Revisited: Traumatic Iconicity in Jonathan Safran Foer’s Extremly Loud & Incredible Close. In: Studies in American Fiction. 35.2. 2007. S. 241-254. 69 | Vgl. Christer Petersen, Tod als Spektakel. Skizze einer Mediengeschichte des 11. September. In: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen (Hg.), Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Heidelberg 2008. S. 202/203.

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sehr gute Bilder in Echtzeit zu generieren. Da der erste Angriff quasi wiederholt wurde, erhielten die Fotografen und Reporter eine zweite Chance und konnten so qualitativ hochwertige Aufnahmen erstellen, die dann weltweit verbreitet wurden. Diese enorme Verbreitung der Bilder des 11. September und die hochgradig visuelle Berichterstattung können mitbegründen, warum Jonathan Safran Foer für seinen Roman Extremly Loud & Incredible Close eine Oberfläche gestaltet, die nicht nur mit Schrift, sondern auch mit offenkundig-visuellen Angeboten operiert. Foer antwortete in einem Interview auf die Frage, warum sein zweiter Roman mit Bildern arbeite: „I also think using images makes sense for this particular book. First because the way children see the world is that they sort of take these mental snapshots; they hoard these images that they remember 20 or 40 years later. And also because September 11 was the most visually documented event in human history.”70

Während der erste Strang der Argumentation Foers im folgenden Abschnitt behandelt wird, so soll es an dieser Stelle um die Frage gehen, warum die Ereignisse des 11. September eine so enorme visuelle Strahlkraft besitzen, die die Einbettung bildlicher Elemente auch für die Literatur attraktiv machen kann. Jean Baudrillard spricht in diesem Zusammenhang von einem „absoluten Ereignis”71 , allerdings nicht nur aufgrund der Berichterstattung in Echtzeit, sondern vor allem deswegen, weil das Ereignis symbolisch aufgeladen ist.72 Im Bild der brennenden Twin Towers verdichtet sich die Dimension der Katastrophe, die Verletzlichkeit der sogenannten ersten Welt, das Scheitern der globalisierten Finanzmärkte. Die Bilder des 11. September besitzen die hollywoodeske Aura des Unfaßbaren und wirken gleichzeitig als Symbol und Metapher. Baudrillard schreibt: „Were the Twin Towers destroyed or did they collapse? Let us be clear about this: the two towers are both a physical, architectural object and a symbolic object (symbolic of financial power and global economic liberalism). The architectural object was destroyed, but it was the symbolic object which was targeted and which was intended to demolish.”73

Ein Bild der zerstörten Twin Towers kann zum Symbol dessen werden, was sorg-

70 | Jonathan Safran Foer zitiert nach: Codde 2007. S. 249/250. 71 | Jean Baudrillard, The Spirit of Terrorism. London/New York 2002. S. 4, 17. 72 | Vgl. Baudrillard 2002. S. 17. 73 | Baudrillard 2002. S. 47/48.

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sam erklärt werden müsste.74 Es sagt hier mehr als tausend Worte. Gleichzeitig ist ein Funktionieren der Bilder als Symbol und Metapher ein Verfahren, das eine Entsprechung in literarischen Mechanismen finden kann. Für die transnationale Erinnerungskultur an den 11. September erwies und erweist sich die „Bilderflut” der Ereignisse als prägend. Die Steuerung der öffentlichen Wahrnehmung durch Bilder, konnte dazu führen, dass das Ereignis hinter seiner medialen Aufbereitung verschwand.75 Die Bilder des 11. September sind unbestreitbar im kulturellen Gedächtnis verankert, fraglich ist jedoch, ob dies auch für das Ereignis selbst gilt. Auch Jürgen Habermas und Jaques Derrida betonen in diesem Kontext, dass eine „Differenz von unmittelbarem Erleben und medial vermitteltem Sehen”76 zu verzeichnen ist. Auch Niklas Luhmann formuliert in seinem Vortrag über die Realität der Massenmedien, dass sich diese als absolut bestimmend für unsere Wahrnehmung erweisen: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch Massenmedien.”77 Umso mehr kann es eine Aufgabe der Literatur sein, mit medialen Stereotypen zu brechen und so eine neue aktive Auseinandersetzung mit der Thematik zu fördern. Die literarische Auseinandersetzung mit den Terroranschlägen beginnt zunächst in autobiographischen, auf Authentizität beharrenden Modi, denen man eine deskriptive Starrheit vorwerfen kann,78 die sich aus der „Übermacht der Bilder”79 begründen lassen könnte. Foers Text hingegen ist trotz seiner eingebetteten Fotografien offenkundig fiktional und ermöglicht damit dem Leser, die Geschichte neu zu erfahren, da er sie nicht mit der referentiellen Wirklichkeit und seinem Wissen darüber in Konkurrenz setzen muss. Er kann den Bildern der Massenmedien die subjektiven Eindrücke Oskars hinzufügen. Extremly Loud & Incredible Close zeigt mit dem literarischen Text, aber auch mit den enthaltenen visuellen Artefakten sowohl kollektive als auch individuelle Gedächtnismedien auf. Die ikonischen Bilder des 11. September sind für Oskar eng mit seinem persönlichen Erleben und Erinnern verknüpft. Noch viel enger 74 | Vgl. hier auch die Ausführungen zu Robert Lebecks Fotografie Der Degendieb, Kap. 2.10.3. 75 | Ingo Irsigler/Christoph Jürgensen, Einleitung. In: Dies. (Hg.), Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Heidelberg 2008. S. 9. 76 | Iris Wien, Der 11. September im digitalen Geflecht der Bilder: Zu Thomas Ruffs jpegs. In: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen (Hg.), Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Heidelberg 2008. S. 386. 77 | Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden 2004. S. 9. 78 | Vgl. Däwes 2008. S. 69-71. 79 | Däwes 2008. S. 71.

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ist die persönliche Bindung Oskars zu den Ereignissen jedoch durch die Worte seines Vaters, die dieser aus den brennenden Twin Towers auf den Anrufbeantworter sprach. Der Bildeindruck der Ereignisse erreicht Oskar von außen, das Telefonat stammt von seinem geliebten Vater selbst. Diese besondere individuelle Erinnerung, die „Gefühle von ungläubigen Staunen, Panikreflexen und Todesängsten, die vermittelt über Telefonate aus dem WTC Tausende andere Menschen ergriffen”80 , prägen Oskar mindestens ebenso wie die bekannten Bilder des kollektiven Gedächtnisses. Hier sollte allerdings festgehalten werden, dass, trotz der Dominanz der Bilder, auch solche individuellen Erinnerungsstücke wie etwa das (hier fiktive) Telefonat an Oskar in das kulturelle Gedächtnis überführt wurden. So wurden beispielsweise Telefonate aus dem World Trade Center in Textform oder als Audiofile publiziert.81 Was ich erlebt habe: Fotografie als visuelles Tagebuch Oskar gibt zum Teil an, bestimmte Motive fotografiert zu haben, die der Betrachter dann tatsächlich auf den abgedruckten Bildern erkennen kann. Er fotografiert Türen und Häuser, Schlösser und Schlüssel, Tiere. Allerdings befinden sich diese nicht immer in unmittelbarer Nähe zum dazu passenden Textabschnitt, sondern deutlich vorher oder später. So unterbricht Oskar beispielsweise ein abendliches Telefonat mit seiner Oma: „,Warte kurz’, sagte ich, und ich rannte zu meiner Aurüstung und schnappte mir Opas Kamera. Ich nahm sie mit zu meinem Fenster und machte ein Foto von Omas Fenster. Das Blitzlicht erhellte die zwischen uns liegende Straße.” (EL&UN 97) Die passende Aufnahme eines erleuchteten Fensters wird jedoch erst knapp 40 Seiten (EL&UN 136) später präsentiert. Auf diese Weise wird ein sehr aktiver Leseprozeß gefördert. Der Rezipient muss Bild und Text im Gedächtnis behalten, und dann voroder zurückblättern um beide Medien direkt zueinander in Beziehung setzen zu können. Wenn das Bild dem Text vorangeschaltet ist, kann der Leser sich den Sinn der Bildintegration nicht erschließen. Er muss der Fotografie also zunächst Bedeutungen zuweisen, die ohne die Hilfe des geschriebenen Wortes konstruiert werden können. Diese steht dann später eventuell in einem Konkurrenzverhältnis mit dem Sinn, der der Fotografie von seiten des Textes zugewiesen wird. Andererseits bedeutet dieses Verfahren auch eine strukturelle Bereicherung, da

80 | Erik Meyer/Claus Leggewie, „Collecting Today for Tomorrow”: Medien des kollektiven Gedächtnisses am Beispiel des ,Elften September´. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität-HistorizitätKulturspezifität. Berlin/New York 2004. S. 282. 81 | Ebd.

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die willkürlich wirkende Kombination unterschiedlicher Medien dem Funktionieren von Erinnerung sehr nahe ist. Oskars visuelles Tagebuch ist dem Gedächtnis ähnlicher als ein narratives, da es keine Kohärenz stiftet, sondern vielmehr vereinzelte visuelle Eindrücke festhält, die nicht automatisch miteinander in Zusammenhang stehen, sondern deren Verbindungen untereinander aktiv konstruiert werden müssen. In Kombination mit der multiperspektivischen und gattungsübergreifenden Erzählweise wird so der Ansatz deutlich, dass, wie Birgit Däwes schreibt, „die Verarbeitung des 11. September als tentatives Projekt zu verstehen ist (und damit notwendig ohne Abschluss oder Deutung zu bleiben hat), sondern vor allem, dass dieses Projekt eine politische Dimension besitzt, in der den Prinzipien Pluralität und Dialog - als Gegenstück zu Unilateralismus und instrumentalisierter Deutungshoheit - der Vorzug zu geben ist.”82

Im literarischen Text wird weiterhin die Illusion konstruiert, dass es sich bei den eingebetteten Fotografien zum Teil um Fotografien Oskars handele. Diese wird jedoch interessanterweise durchbrochen. Zum einen werden die Fotografien auf paratextueller Ebene bestimmten, bekannten und unbekannten Fotografen zugewiesen, ein Verfahren, welches überaus ungewöhnlich in literarischen Fototexten ist,83 weil es stark mit der fiktionalen Illusion bricht. Es wird deutlich, dass sich die intradiegetischen Erzähler den Fotografien tatsächlich existenter Fotografen bemächtigen. So wird eine Durchdringung des Fiktionalen mit der referentiellen Wirklichkeit hergestellt, die sich natürlicherweise für „9/11 books” anbietet. Gleichzeitig wird durch dieses Verfahren auch erreicht, dass der Leser davon ausgeht, „dass die Bezüge der Photographien zur realen Welt wie auch ihre Urheberschaft in der realen Welt über eine Instanz vermittelt werden, die diese Bezüge inszeniert.”84 Die hier inszenierten visuellen Verfahren leisten folglich einen Beitrag zum Nachdenken über Fiktion und den Zusammenhang zwischen dieser und historischen, referentiellen Wirklichkeitsbezügen. Weiterhin wird die Rolle des Autors als auswählende und inszenierende Instanz thematisiert. Die Inszenierung des Autors wird aber auch ohne die Betrachtung der paratextu82 | Däwes 2008. S. 84. 83 | W.G. Sebald oder Monika Maron beispielsweise geben in ihren Werken, obwohl es zum Teil möglich wäre, nicht an, woher die Fotografien, die sie verwenden, stammen. 84 | Wanda Jakob, Stuff That Happened To Me: Visuelle Verfahren in Jonathan Safran Foers Extremly Loud & Incredible Close (2005). In: COPAS 6. Current Objectives of Postgraduate American Studies. 2005. S. 2. http://www-copas.unir.de/articles/issue_6/Wanda_Jakob.php vom 24.06.2010.

128 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

ellen Elemente deutlich, weil der Text seine eigene Inszenierung unterwandert. Während Oskar das Haus Abby Blacks mit der Hausnummer 1 besucht, zeigt die Fotografie ein Haus mit der Nummer 75.85 Diese Inkongruenz zwischen Text und Bild macht deutlich, dass die Fotografien aus einer anderen Welt als der erzählten stammen, dass sie aber dennoch für diese fruchtbar gemacht werden können. Dies ist implizit also auch eine Auseinandersetzung mit der These, dass die Fotografie gegen ihre Zwecke neutral bleibt und sich für viele Kontexte anbietet. Dennoch gehört die Affinität des Protagonisten zu fotografischen Medien zu einem plausiblen Element seiner Persönlichkeit. Zum einen ist der altkluge Junge sehr an Forschung und Wissenschaft interessiert, der die Fotografie nicht selten zu Diensten stand und steht. Auch Oskar selbst nutzt die Fotografie als Medium der Aneignung und des Beweises, beispielsweise, wenn er Elemente aus den Häusern der „Blacks” fotografiert. Zweitens ist auch er von den Bildern des 11. September berührt, von denen er hofft, dass sie ihm Aufschluss über den Tod seines Vaters bringen. Zum Dritten ist das Bild durch seine Fragmentarität der Erinnerung nahe und eignet sich daher gut für die Integration in Oskars „Was ich erlebt habe-Album”. „Dieses Ereignis hat stattgefunden, es lässt sich nur nicht erzählen”: Trauma und Visualität 86 Die Terroranschläge des 11. September stellen für den Protagonisten Oskar ein traumatisches Ereignis dar, das er aufgrund des referentiellen Wirklichkeitsbezuges grundsätzlich mit den Rezipienten des Romans teilen könnte. Da die Massenmedien die Realität der beteiligten Opfer nicht nachvollziehen können, kann diese Realität „höchstens in fiktionalen Narrationen der Literatur, des Films, etc. neu erfunden werden.”87 Umso deutlicher stellt sich die Frage, wie Foer sich dem traumatischen Ereignis literarisch annähern muss, um seiner Dimension gerecht zu werden. Ich möchte an dieser Stelle argumentieren, dass die visuellen Elemente eine Strategie Foers darstellen, angemessen mit seinem Gegenstand umzugehen. Bei der Lektüre des Romans zeigt sich, dass alle Versuche der Hauptfiguren ihre Traumata mit Worten zu schildern, scheitern. Oskars Großvater väterlicherseits, der während der Bombenangriffe auf Dresden seine Freundin und sein ungeborenes Kind verlor, hört auf zu sprechen. Seine Großmutter schreibt ihre Memoiren zwar auf, nach getaner Arbeit muss sie aber feststellen, dass sich keine Tinte in der Schreibmaschine befand. Diese Tatsache, die sie wegen ihrer schlechten Augen nicht bemerkte, 85 | Ebd. 86 | Frédéric Beigbeder, zitiert nach Petersen 2008. S. 201. 87 | Petersen 2008. S. 201.

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 129

führt dazu, dass sie lediglich weißes Papier produziert und ihr Leid so unformuliert bleibt.88 Auch Oskar selbst kann sein Leid nicht mit Worten ausdrücken. Seine Besuche beim Psychologen bleiben ergebnislos, er spricht die Wörter „9/11” nicht aus, geschweige denn, dass er sich traut, dem Psychologen anzuvertrauen, dass er den letzten Anruf seines Vaters aus dem World Trade Centre nicht entgegennahm. Stattdessen wandelt er die letzte Nachricht seines Vaters auf dem Anrufbeantworter, den er vor seiner Mutter versteckt hält, in einen Morsecode um und schenkt seiner Mutter eine Kette, die diesen Code repräsentiert. Obwohl diese den Code nicht entschlüsselt, bezeichnet sie die Kette als schönstes Geschenk, das sie je erhalten habe. Ein emotionales Verständnis des Gegenstandes steht hier der gescheiterten Kommunikation durch Sprache gegenüber. Es zeigt sich im Roman, was Phillipe Codde deutlich herausstellt: „[...] words can never really capture or represent the traumatic past.”89 Traumata entziehen sich zunächst einer auf Kohärenz und Sinnstiftung angelegten Narration. Wenn Worte scheitern, können Bilder zu einer adäquaten Möglichkeit werden, sich dem traumatischen Ereignis anzunähern, insbesondere, wenn das Ereignis selbst, wie im Falle des 11. September 2001, meist als Bild oder Bilderfolge erinnert wird. Deswegen besteht ein Gegensatz zwischen traumatischer und narrativer Erinnerung: „Traumatic experiences, in other words, are stored in memory in the form of icons or images, rather than as words - which is also why Pierre Janet already made a distinction between this fragmentary and visual ,traumatic memory’ on the one hand, and the „narrative memory” on the other; the latter form of memory indicating the normal procedures whereby experiences are ordered into a rational, linear sequence.”90

An dieser Stelle zeigt sich, dass das fragmentarische Bild, also gerade die Fotografie, sich besonders für die Darstellung eines „Traumagedächtnisses” eignet. In zahlreichen Schriften über Repräsentationen des 11. September wird angemahnt, dass diese sich endgültigen Deutungen entziehen mögen und selbstreflexiv über sich selbst und die Probleme bei der Aufbereitung des Undarstellbaren Auskunft geben sollen.91 Diese Selbstreflexivität erscheint nun in multimedialen Verfahren, wie Foer sie verwendet, ebenso selbstverständlich, wie „die offen gelegte Prozesshaftig-

88 | Vgl. Codde 2007. S. 245. 89 | Codde 2007. S. 245/246. 90 | Codde 2007. S. 249. 91 | Vgl. Däwes 2008. S. 86.

130 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

keit ihrer narrativen Strukturen auf Vielstimmigkeit und multilaterale Sinnfindung.”92 Aus diesem Grund lässt sich hier die These anschließen, dass Foer seine multimedialen Verfahren auch dazu nutzt, ein Beispiel für den adäquaten literarischen Umgang mit traumatischen Ereignissen zu konstituieren. Multimediale, gattungsübergreifende und multiperspektivische Romane machen es möglich, die Kohärenz ihrer Narration zu stören und so selbstreflexiv das Scheitern an der Repräsentation ihres Gegenstandes zu thematisieren. Totgeglaubte postmoderne Erzählstrategien erweisen sich also dann wieder als hilfreich, wenn es darum geht, Unsagbares literarisch greifbar zu machen. 3.1.2.2 Falling Men: Ikon oder Ikone Im Grunde endet Jonathan Safran Foers Roman Extremly Loud and Incredible Close mit dem Auslöser der Erzählung des homodiegetisch-intern fokalisierenden Ich-Erzählers. Fünfzehn Fotografien zeigen hier den Sturz eines Mannes aus den Twin Towers, einen der sogenannten Falling Men, und damit eine Ikone des 11. September 2001, ein „Sinnbild des Schreckens an jenem Tag.”93 Allerdings präsentiert Foer an dieser Stelle nicht die bekannteste Fotografie der Falling Men von Richard Drew, sondern eine weniger bekannte Aufnahme von Lyle Owerko, einem New Yorker Fotojournalisten, dessen Fotografie der brennenden Twin Towers auf dem Cover des Time Magazine erschien. Die Fotografie Owerkos unterscheidet sich trotz des gleichen Motivs in radikaler Weise von der Aufnahme Richard Drews, im Wesentlichen dadurch, dass sie nicht deren „rigide Ästhetik”94 besitzt, die sich hauptsächlich dadurch konstituiert, dass bei Drew der Sturz in einem Moment gezeigt wird, „indem der kopfüber fallende Körper sich in vollkommer Parallele zur Vertikalen des Hochhauses befindet.”95 Die von Oskar gewählte Fotografie besitzt dieses radikal ästhetische Moment nicht, doch eben dadurch gewinnt sie an Authentizität und an dokumentarischem Charakter. Die Aufnahme zeigt, insbesondere dann, wenn der Rezipient sie mit der bekannten Fotografie Drews in Beziehung setzt, dass eine Fotografie durch zuviel Ästhetizität auch an authentischer Wirkung verlieren kann. Im Falle der Fotografie Owerkos tragen die Unschärfe und der willkürlich wirkende Bildaufbau zum doku92 | Ebd. 93 | Martin Raspe, The Falling Man. Der 11. September in der Momentaufnahme. In: Ingo Irsigler/Christoph Jürgensen (Hg.), Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Heidelberg 2008. S. 369. 94 | Wien 2008. S. 387. 95 | Ebd.

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 131

Abbildung 3.2: Richard Drew, Falling Men.

mentarischen Charakter der Fotografie bei. Obwohl das fotografische Medium stets Kunst und Dokument zugleich sein kann, so scheint es, als müsse die Ästhetizität der Fotografie dem Ereignis angepasst werden, um eine optimale Wirkung zu entfalten. Durch die Auswahl der Fotografie Owerkos zeigt sich im Roman, dass es Oskar aufgrund seiner eigenen emotionalen Betroffenheit nicht um den Kunststatus der „Falling-Men”-Fotografien geht, sondern um ihren Status als Dokument. Es drängt den jungen Protagonisten, mehr über die Umstände des Todes seines Vates zu erfahren, weswegen er im Internet verzweifelt nach Bildern der Katastrophe sucht. Auf einer portugiesischen Homepage entdeckt er Fotografien der Falling Men und ordnet sie so an, dass es scheint, als würde der springende Mensch nicht aus dem Turm herausstürzen, sondern in ihn hineinfliegen. Diese Fotoreihe ist nun auch im Roman abgedruckt. Hier zeigt sich allerdings, dass mindestens 14 der 15 Fotografien digital manipilierte Bilder sind, da die herabstürzende Person in einer Haltung verharrt.96 Die Fotoserie ist für den Roman von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Die 96 | Vgl. Jakob 2005. S. 3.

132 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Tasache, dass die Falling Men-Fotografien selbstreflexiv die Schnelligkeit und Augenblicklichkeit der Fotografie thematisieren, spielt hier kaum eine Rolle. Vielmehr schockiert die damit einhergehende Gewissheit, dass der Tod der Menschen zum Zeitpunkt der Aufnahme unmittelbar bevorstand.97 Dieses erklärt auch die Wirkung des Bildes auf Oskar. Er glaubt in der Fotografie seinen Vater zu erkennen und meint, so die letzten Sekundenbruchteile seines Lebens zu sehen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme lebt sein Vater noch, so dass dieser Moment zur letzten Gelegenheit wird, vor dem alles zerstörenden Tod einzugreifen und die Geschehnisse umzudrehen. Das Bemühen Oskars, Aufschluss über die letzten Lebensminuten und den Tod seines Vaters zu erhalten, wirkt quälend und notwendig zugleich. Er fühlt sich „zwischen dem Wunsch nach Gewissheit über die genauen Todesumstände einerseits und den erdrückenden, von den Medien verbreiteten Bildern springender und fallender Menschen andererseits hin- und hergerissen [...]”.98 Sein Vorhaben wird zudem dadurch erschwert, dass er auf den Homepages seines Heimatlandes kaum auf Bilder der Falling Men oder der Toten stoßen kann und deswegen auf Nachrichten aus anderen Ländern zurückgreifen muss. Die Suche Oskars thematisiert so implizit eine fotoethische Debatte. In den USA regte sich heftiger Widerstand gegen die Fotografien, die Menschen zeigten, die aus Verzweiflung aus Hochhäusern sprangen. Einer der wesentlichen Gründe dafür war, dass es möglich erschien, die fotografierten Personen zu erkennen und somit ihre Privatsphäre und Würde und die Gefühle der Angehörigen zu verletzen.99 Für Oskar Schell jedoch ist es schmerzhaft, dass es ihm eben genau nicht gelingt, seinen Vater auf einer der Fotografien eindeutig zu identifizieren. Wenn er die Aufnahmen vergrößert, werden diese so unscharf, dass er kein Detail mehr erkennen kann. Oskar bedauert: „Ich musste an die Pixel des Standbildes vom stürzenden Körper denken und daran, dass man umso weniger sah, je genauer man hinschaute.” (EL&UN 394) Dieses Manko der frühen Digitalfotografie verweist auf seine Pixelstruktur und damit auf fundamentale Unterschiede zur analogen Fotografie. Erstere bildet „auf Grund ihrer diskreten Pixelstruktur eine Untergattung der Grafik” und verfügt „nicht wie ein Gemälde oder auch analoge Photographien über eine besondere, das Bild traditionell vom Text unterscheidende ikonische Dichte [...]”.100 Die unscharfe Vergrößerung der Fotografie ist im Buch abgedruckt, wodurch Oskars vergeblicher Versuch zu begreifen, visuell erfahrbar wird. Sein Wunsch zu ver-

97 | Vgl. hier auch Raspe 2008. S. 369/370. 98 | Däwes 2008. S. 82. 99 | Vgl. Raspe 2008. S. 370. 100 | Wien 2008. S. 397.

3.1. Die Verbindung von Literatur und Fotografie im Roman | 133

stehen, lässt sich sowohl vor dem Hintergrund des kollektiven Traumas wie auch seines persönlichen Traumas begreifen.101 3.1.2.3 „A singular american voice”? Transnationale und Kritische Perspektiven Der 11. September 2001 und die Erinnerung an diesen Tag sind in ein Netz transnationaler Diskurse eingebunden. Das liegt nicht nur daran, dass unter den Opfern Menschen aus 47 Nationen waren, sondern vor allem an der Tatsache, dass die Anschläge zu einem transnationalen Medienereignis wurden102 : Die brennenden Twin Towers, die „Falling men”, die Panik der Menschen der Stadt New York wurde von Zuschauern auf der ganzen Welt im Fernsehen und Internet (nahezu) in Echtzeit verfolgt. Aus diesem Grund ist 9/11 kein genuin amerikanisches Ereignis, sondern hat weltweit Menschen emotional, politisch und intellektuell betroffen. Die Ereignisse stellten in vielen Teilen der Welt eine traumatische Erfahrung dar, die Ausdruck verlangt. Aus diesem Grund wagten sich keineswegs nur New Yorker oder US-Amerikaner, sondern auch Autoren anderer Länder an die Thematik des 11. September. Literarischer Umgang mit Traumata erfordert stets einen besonders sensiblen Umgang mit der Thematik. In Bezug auf Foers Roman wurde im englischsprachigen Raum und in Deutschland recht kontrovers diskutiert, ob der literarische Text Foers das Trauma adäquat abzubilden vermag. Die nicht ganz unproblematische Gegenüberstellung von 9/11, Hiroshima und den Luftangriffen auf deutsche Städte im zweiten Weltkrieg spielte hier ebenso eine Rolle wie die Nutzung der visuellen Verfahren, die hier im Vordergrund der Betrachtung stehen sollen. Als exemplarisch für eine kritische Sicht auf Safran Foers Roman und seine visuellen Verfahren kann die Rezension A tower of babble von Michael Faber angesehen werden.103 Faber sieht die Fotografien und typographischen Besonderheiten nicht nur als überflüssig an, sondern vertritt außerdem die Auffassung, dass die spielerische Zu-

101 | Vgl. Däwes 2008. S. 83. 102 | Birgit

Däwes,

On

Contested

Ground

(Zero):

Literature

and

the

Transnational Challenge of Remembering 9/11. Paper presented at the annual meeting of the American Studies Association. 14.05.2009. http://www.allacade mic.com/meta/p113786_index.html vom 24.06.2010. 103 | Elisabeth Siegel, „Stuff that happened to me”: Visual Memory in Extremly Loud & Incredible Close. In: COPAS 10. Current Objectives of Postgraduate American Studies. 2007. S. 1. http://www-copas.uni-r.de/articles/issue_10/10_07_text_siegel.php vom 24.06.2010.

134 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

sammenstellung der visuellen Elemente die Authentizität des Buches gefährde und dem Ernst des Gegenstandes nicht gerecht werde. Er schreibt: „In interviews, he [Jonathan Safran Foer, A.H.] has spoken of his 9/11 novel as a sort of obligation, a challenge to him as a New Yorker and an artist. ,I think it’s risky to avoid what’s right in front of you.’ Ironically, this is exactly what the book does. It is a triumph of evasion, enhanced with dozens of otiose photographs, rainbow colours and typographical devices, whose net effect is to distract the reader (and Foer) from the harsh truth. It promises to take you to Ground Zero, but helplessly detours towards the Land of Oz, spending most of its time journeying through the Neverlands in between.”104

Faber sieht in Extremly Loud & Incredible Close einen Roman, der aus dem Leiden von Menschen, aus dem Terror nur Schönes und Ästhetisches gewinnt105 und damit keine angemessene literarische Verarbeitung der Anschläge vom 11. September 2001 darstelle. Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass die visuellen Elemente die Funktion einer notwendigen Störung innehätten, die auf die Unmöglichkeit der Darstellung des Traumas hinweisen.106 Die Trennung von textueller und bildlicher Narration zerstört in diesem Zusammenhang den Erzählfluss107 und die Geschlossenheit des Romans und dokumentiert so das bewusste Scheitern des Autors an der Wucht des Dargestellten. Gleichzeitig wird selbstreflexiv die Visualität des gedruckten Textes und damit die Signifikanz seiner Materialität offen gelegt.108 An der länderübergreifenden Diskussion über die Angemessenheit von Foers Darstellung lässt sich ablesen, das der 11. September als ein transnationales Ereignis gewertet wird, das keinesfalls nur die USA betrifft. Dies reflektiert der Roman auf subtile Weise, wenn er die Traumata verschiedener Nationen miteinander verknüpft. Es geht ihm keineswegs darum, den Luftangriff auf Dresden oder den Angriff auf Hiroshima mit dem 11. September gleichzusetzen, sondern darum, die multinationalen Verknüpfungen zwischen den Figuren des Romans aufzuzeigen, die alle einen geliebten Menschen durch die Terrorangriffe verloren. 104 | Michael

Faber,

A

tower

of

babble.

Guardian

4

June.

http://www.guardian.co.uk/books/2005/jun/04/featuresreviews.guardianreview22 vom 24.06.2010. 105 | Ebd. 106 | Vgl. Siegel 2005. S. 2. 107 | Siegel 2005. S. 4. 108 | Vgl. Siegel 2005. S. 2.

2005.

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 135

3.2 (AUTO -)B IOGRAFIE

UND

F OTOGRAFIE

Die Integration von Fotografien tritt in biographischen und autobiographischen Texten weitaus häufiger auf als in anderen literarischen Textsorten.109 Dieses Phänomen resultiert sicherlich hauptsächlich aus der Tatsache, dass die literarische Gattung Biographie beim Rezipienten den Wunsch nach einem gewissen Maß an historischer Korrektheit und Wirklichkeitsbezug weckt und diesem Wunsch durch die Integration von Fotografien scheinbar entsprochen werden kann. Fotografie und Biographie sind beiderseits referentielle Genres, von denen der Rezipient erwartet, dass die erzählte oder gezeigte Welt mit der tatsächlichen Welt in Verbindung steht.110 Hier ist zu berücksichtigen, dass in realistischen Romanen zwar auch sprachliche Bezugnahmen „auf geographische Gegebenheiten oder historische Personen und Ereignisse“111 stattfinden, dass hier aber dennoch kein Wahrheitsanspruch erzeugt werden soll, sondern vielmehr eine Situierung des Textes in der außersprachlichen Wirklichkeit. Folglich bürgen sprachliche Bezugnahmen nicht zwangsläufig für die Faktizität des Erzählten.112 Da die Fotografie Authentizität und Objektivität verheißt und als ein (wenn auch nur scheinbarer) Beweis des gesprochenen Wortes fungieren kann, werden Fotografien gern in (auto)biographischen Texten abgedruckt. Für die Rezipienten biographischer Texte ist es, das beweist beispielsweise der Skandal um die behauptete Autobiographie von Binjamin Wilkomirski, „keineswegs nachrangig geworden [. . . ], ob eine Lebensgeschichte Referentialität zur Wirklichkeit beanspruchen kann oder ein rein sprachliches fiktionales Gebilde ist.“113 Kurz gesagt,

109 | Die Frage, ob biographische Texte literarisch seien, bestimmte lange Zeit die wissenschaftliche Diskussion dieser Gattung. In Kap. 3.2.1.2. wird noch genauer erläutert, warum die in dieser Arbeit besprochenen Texte von Monika Maron eine Definition als literarisch durchaus zulassen. 110 | Vgl. beispielsweise Alma-Elisa Kittner, Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager. Bielefeld 2009. S. 10. 111 | Henrik Baumann, Die autobiographische Rückkehr. Studien zu Serge Doubrovsky, Hervé Guibert und Jean Rouaud. München 2008. S. 46/47. 112 | Ebd. 113 | Eva Korrmann, Speichergeschichten. Selbstvergewisserung zwischen großväterlichen Briefen und mütterlichen Gedächtnislücken. Zu Monika Marons Pawels Briefe. In: Ilse Nagelschmidt, Alexandra Hanke, Lea Müller-Dannhausen, Melanie Schröter (Hg.), Zwischen Trivialität und Postmoderne. Literatur von Frauen in den 90er Jahren. Frankfurt a. M. 2002. S. 126.

136 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

der durchschnittliche Leser erwartet von einer (Auto)Biographie trotz der ontologischen Differenz zwischen Sprache und Wirklichkeit so etwas wie Wahrhaftigkeit. In der literaturwissenschaftlichen Biographiediskussion lassen sich im Wesentlichen zwei Positionen unterscheiden: „Einerseits wird der menschliche Körper von vielen Interpreten semiotisch als Projektionsfläche kultureller Einschreibungen gedeutet, andererseits gerät er als Ort unmittelbarer Wirklichkeitserfahrung in den Blick.“114 (Auto)Biographische Texte zeichnen sich folglich durch eine „Zwitterstellung zwischen Faktizität und Fiktionalität“115 aus, die auch der Fotografie eigen ist. Diese Zwitterstellung zwischen Kunst und Dokument implizierte für Biographie und Fotografie gleichermaßen, dass die wissenschaftliche Diskussion dieser Genres vielfach um ihre Kunstwürdigkeit kreiste.116 Mittlerweile sind Fotografie und Autobiographie jedoch längst als Kunstformen anerkannt. Dennoch gehört es zu den ontologischen Besonderheiten der beiden Medien, dass „Fotografie und Autobiographie zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Textualität und Referentialität“117 oszillieren. Dieses Oszillieren zwischen Fiktion und Historiographie wird allerdings nicht als Makel aufgefasst, sondern als eine gelungene Synthese zwischen ästhetisch geformter Fiktion und Wahrheit.118 Auch die Nähe des fotografischen Bildes zur Erinnerung119 kann in autobiographischen Texten eine Rolle spielen, da Erinnerung eine wichtige Voraussetzung ist, um die eigene Geschichte aus der Retrospektive zu vergegenwärtigen und aufzuschreiben. Die Fotografie „als bevorzugtes Instrument der Tradierung und Vermittlung von individuellen und kollektiven Erlebnisgehalten [. . . ].“120 kann hier das Medium sein, welches das Erinnerte bestätigt, Erinnerungen wachruft oder aber auch Erinnerungslücken auffüllt. Die Ausschnitthaftigkeit der Fotografie ist außerdem in der Lage, die stets fragmentarische Erinnerung widerzuspiegeln. Eine weitere Verbindung zwischen Fotografie und biographischen Texten lässt 114 | Baumann 2008. S. 32. 115 | Kittner 2009. S. 103. Vgl. auch: Ansgar Nünning, Fiktionalität, Faktizität, Metafiktion. In: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart 2009. S. 21. 116 | Kittner 2009 S.103. Vgl. auch Kapitel 2.3.2. Mittlerweile wird der Kunststatus der Fotografie kaum noch diskutiert. 117 | Kittner 2009. S. 106. 118 | Vgl. Baumann 2008. S. 46. 119 | Vgl. Kap. 2.4. 120 | Bernd Busch, Das fotografische Gedächtnis. In: Kai-Uwe Hemken (Hg.), Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst. Leipzig 1996. S. 186.

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 137

sich über „die Gleichzeitigkeit des ,Hier und Jetzt’ mit dem ,Es ist so gewesen’, wie es Roland Barthes [. . . ] beschreibt“,121 herstellen. Im Rezeptionsakt rücken idealerweise in beiden Medien die Absenz in der Gegenwart und die gleichzeitige Präsenz in der Vergangenheit zusammen. In der autobiographischen (und vielfach auch in der biographischen) Narration wird „die erinnerte Vergangenheit in die Präsenz des Textes überführt“122 , mit der auch die potentielle Verfügbarkeit vergangener Ereignisse für den jeweiligen Rezipienten einhergeht.123 Weiterhin bietet die Fotografie die Möglichkeit, dem Leser eine visuelle Erfahrung zu ermöglichen, die den Text bestätigen, ergänzen oder in experimentelleren biographischen Texten auch konterkarieren kann. 3.2.1 (Auto-)Biographische Texte Biographische und autobiographische Texte erschöpfen sich längst nicht mehr in der Funktion, den äußeren und inneren Lebensweg eines Menschen in zeitlicher oder kausaler Kontinuität nachzuzeichnen. Es ist auch in biographischen Texten möglich geworden, scheinbar Unzusammenhängendes zu verknüpfen und die eigene Lebensgeschichte mit anderen Narrationen und fremden Lebensentwürfen zusammen zu denken. Die Identität eines Menschen ist heute von Diskontinuitäten und verschiedenen gesellschaftlichen Rollen geprägt,124 die sich auch auf die Gestaltung von autobiographischen Texten auswirken. Diese entfernen sich zunehmend von kohärenten, kausal verknüpften, kontinuierlich erzählten Lebensgeschichten. An dieser Stelle lohnt sich – nicht nur im Hinblick auf die Texte Marons – ein ganz kurzer Blick auf die Entwicklung der Autobiographie. Auch wenn vereinzelte autobiographische Texte seit der Antike bekannt sind, so ist es doch die Aufklärung und die damit verbundene Stärkung des Individuums, die einen wirklichen Zuwachs an autobiographischen Texten hervorruft. Für Wilhelm Dilthey und Georg Misch „ist die Geschichte der Autobiographie die Entwicklungsgeschichte des menschlichen, des abendländischen Selbstbewusstseins.“125 Im 18. 121 | Kittner 2009. S. 107. Vgl. auch: Deirde Byrnes, Exposing the Gaps in Memory: Forgetting and Remembering in Monika Maron’s Pawels Briefe. In: Edric Caldicott & Anne Fuchs (Eds.), Cultural Memory. Essays on European Literature and History. Oxford u.a. 2003. S. 158. 122 | Kittner 2009. S. 108. 123 | Vgl. Busch 1996. S. 187. 124 | Vgl. Kittner 2009. S. 9. 125 | Kormann 2002. S. 119.

138 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Jahrhundert inszeniert sich Jean-Jacques Rousseau in seiner Schrift Die Bekenntnisse als hochgradig selbstständiges Individuum und schreibt: „Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen und dieser Mensch werde ich sein. Ich allein. Ich lese in meinem Herzen und kenne die Menschen. Ich bin nicht wie einer von denen geschaffen, die ich gesehen habe; ich wage sogar zu glauben, dass ich nicht wie einer der Lebenden gebildet bin. Wenn ich nicht besser bin, so bin ich wenigstens anders.“126

Rousseau definiert sich selbst in diesen Sätzen in Abgrenzung zu anderen Menschen und negiert somit implizit die Einflüsse dieser auf seine individuelle Persönlichkeit. Er selbst, er allein, bildet den Gegenstand seiner Überlegungen; andere Personen sollen aus diesen ausgeschlossen werden. Durch die spektakuläre Geste der oben zitierten Sätze127 wird außerdem deutlich, wie stark Rousseau seine Persönlichkeit autobiographisch inszeniert. In den letzen Jahrzehnten wurde jedoch erkannt, dass die individuelle Identität relational ist und dass der Lebenslauf eines Menschen nur „im Austausch mit, nicht (nur) in der Konfrontation zu und schon gar nicht unabhängig von anderen Menschen gewonnen“128 werden kann. Autobiographisches Schreiben ist nun beziehungsorientiert; kein Autor kann ohne die ihn umgebende Umwelt sein Selbst glaubhaft konturieren.129 3.2.1.1 Autobiographischer Pakt In der Autobiographie fallen Autor, Erzähler und Protagonist zusammen. Trotz der dezidiert subjektiven Wahrnehmung des Autors weckt auch die Autobiographie das Bedürfnis des Rezipienten, Bezüge zur referentiellen Wirklichkeit aufzuspüren. „In dieser Spannung zwischen der Subjektivität des Biographen und dem Objektivitätsanspruch der Gattung liegt nach Lejeune, dem großen Theoretiker der Autobiographie, der eigentliche innere Widerspruch der Biographie.”130 Dieses lässt sich besonders gut durch einen Blick auf den „referentiellen Pakt” nachvollziehen. Diese Theorie von Philippe Lejeune versucht die Autobiographie (und auch die

126 | Jean Jacques Rousseau, Die Bekenntnisse. München 1978. S. 9. 127 | Vgl. Kormann 2002. S. 119. 128 | Kormann 2002. S. 120. 129 | Ebd. 130 | Joseph Jurt, Französische Biographik. In: Klein 2009. S. 279.

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 139

Biographie) „an einem außertextuellen, nicht-fiktionalen Ort zu verankern“,131 Die textexterne Realität soll erfasst werden, der (auto)biographische Text soll „wahr und nicht bloß wahrscheinlich sein.”132 Die von Françoise Dosse vorgenommene Erweiterung des referentiellen Paktes zu einem autobiographischen Pakt133 geht davon aus, „dass die Leser/innen mit den Autor/innen einen Pakt schließen, in dem die Identität von Autor/in, Ich-Erzähler/in und Protagonist/in textuell nahe gelegt und rezeptionell anerkannt wird. . . “134 Da diese Identität nur aus dem Text hervorgeht, muss der Autor dafür einstehen, dass die Einheit zwischen seinem Namen auf dem Umschlag und dem des Protagonisten innerhalb der erzählten Geschichte eingehalten wird.135 An Lejeunes/Dosses Theorie wurde jedoch zum einen kritisiert, dass hier eine rhetorische Figur als eine juristische missverstanden würde und zum anderen, dass sie indirekt auf traditionelle Autobiographievorstellungen verweise, die bestimmte Personengruppen als Autoren ausschließen. „Weibliche Autobiographinnen und andere Autor/innen, die bis in das 20. Jahrhundert hinein weder einen juristischen Status genießen noch dem vorherrschenden Subjektkonzept entsprechen, erscheinen deshalb als nicht autobiographiefähig.“136 Trotz dieser berechtigten Kritik ist der autobiographische Pakt von großer Bedeutung: Vor allem in der alltäglichen Rezeption von autobiographischen Texten spielt die geforderte Einheit von Autor und Ich-Erzähler eine tragende Rolle. 3.2.1.2 (Auto)Biographie als Literatur Aufgrund ihres dokumentarischen Charakters war der Kunststatus der (Auto) Biographie bis in die 1970er Jahre ein wichtiger Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Biographie-Forschung.137 Auch wenn die Diskussion um die Frage, ob biographische und autobiographische Texte als literarisch zu bezeichnen sind, weitgehend zugunsten der Literarizität des Genres abgeschlossen wurde, so möchte ich an dieser Stelle kurz die Diskussion reflektieren. Durch den referentiellen Wirklichkeitsbezug biographischer Texte138 werden diese vom Rezipienten häufig nicht als Literatur, sondern als Sachtexte wahrgenommen. 131 | Kittner 2009. S. 104. 132 | Jurt 2009. S. 279. 133 | Ebd. 134 | Kittner 2009. S. 104. 135 | Vgl. Kittner 2009. S. 105. 136 | Ebd. 137 | Vgl. Kittner 2009. S. 103. 138 | In der modernen Literaturwissenschaft wird es meist als unmöglich angese-

140 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

An die Literatur werden immer noch Ansprüche wie Fiktionalität, eine ästhetische Formung der Sprache und ein entsprechender Kontext gestellt. Daher können biographische Texte literarisch geformt sein und dennoch einen dokumentarischen Gestus besitzen. Je nach Text kann ein stärkerer literarischer oder dokumentarischer Charakter hervortreten. Matthias Aumüller schlägt vor: „Ein Ansatz zur Bestimmung der Poetizität von Biographien ist daher die Gegenüberstellung ihrer referentiellen und ihrer poetischen Funktion [...] . Daraus ergibt sich eine einfache Relation: Je eingeschränkter die durch literarische Verfahren bedingte Referentialität von Biographien, desto dominanter die poetische Funktion.”139

Für Monika Marons Erzählungen Geburtsort Berlin und Pawels Briefe ist diese einfache Relation allerdings kaum hilfreich. Sie sind in der „Grauzone zwischen Autobiographie und Fiktion angesiedelt“140 und sind trotz ihres referentiellen Wirklichkeitsbezugs als hochgradig literarisch einzustufen. Die Texte besitzen eine ästhetische Formung, die sich beispielsweise in der besonderen, weder kausalen noch chronologischen Anordnung der Ereignisse und Bemerkungen niederschlägt, die aber auch durch die Integration von Fotografien manifestiert wird. Marons Beobachtungen erheben eher den Anspruch der subjektiven als der objektiven Wahrheit. Selbst wenn ihre Erkenntnisse nicht aus Erzählungen Dritter sondern durch Dokumente wie Briefe, Fotografien oder Urkunden entwickelt werden, so betont Maron doch die eigene Interpretation und Deutung dieser vermeintlichen Beweisstücke. Sie schreibt weder der Mutter, noch sich selbst oder den Dokumenten eine Deutungshoheit der Ereignisse zu, sondern erkennt die subjektive(n) Perspektive(n) auf das Leben des Großvaters und die eigene Geschichte. In diesem Kontext nehmen auch die Fotografien eine besondere Rolle ein. Auf der einen Seite macht der autobiographische Pakt „Beweise” des Erzählten unnötig. Auf der anderen Seite sind Fotografien gerade für wirklichkeitsbehauptende Texte attraktiv, da sie dem Gesagten eine visuelle Evidenz verleihen. Monika Maron liegt jedoch nichts daran ihre Behauptungen zu beweisen und bricht in Pawels Briefe mit dem hen, mittels der Sprache auf die referentielle Wirklichkeit zuzugreifen. In der alltäglichen Rezeption von Biographien spielt diese Ansicht allerdings weniger eine Rolle. 139 | Matthias Aumüller, Poetizität/Literarizität. In: Klein 2009. S. 29. 140 | Friederike Eigler, Nostalgisches und kritisches Erinnern am Beispiel von Martin Walser Ein springender Brunnen und Monika Marons Pawels Briefe. In: Elke Gilson (Hg.), Monika Maron in Perspective: Dialogische Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes. Amsterdam/Atlanta 2002. S. 159.

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 141

autobiographischen Pakt. Sie fordert den Leser vielmehr zu einer kritischen Lektüre auf, indem sie Unsicherheiten und Polyvalenzen offen eingesteht. „Bewiesen werden muss nur, was in Frage steht.”141 schreibt Michael Niehaus und Marons Äußerungen stehen definitiv in Frage. Maron sorgt allerdings dafür, das dieses trotz der Fotografien so bleibt. Sie konstruiert diese keineswegs als Medium des Beweises, sondern betont vielmehr die Polyvalenz und Konstruiertheit der Fotografien. Die eingebetteten Fotografien in Pawels Briefe bleiben folglich ebenso vage, wie die Erzählung, deren Teil sie sind. 3.2.2 Never forget where you’ve comin’ from: Monika Marons Erzählung Pawels Briefe 2001 veröffentlichte Monika Maron die Familiengeschichte Pawels Briefe, in der sie angibt, der Geschichte ihrer Großeltern Pawel und Josefa Iglarz nachzuspüren. Persönlich konnte die Autorin ihre Großeltern nie kennen lernen: Pawel wurde 1942 aufgrund seiner jüdischen Herkunft in den Wäldern von Belchatow oder im Konzentrationslager Kulmhof (Chelmno) ermordet, Josefa starb im polnischen Exil. Maron erzählt allerdings weniger und gleichzeitig mehr als die Geschichte ihrer Großeltern: Pawels Geschichte kann nur bruchstückhaft aufgrund von Erinnerungen der Familienmitglieder und aus einigen wenigen Dokumenten, Briefen und Fotografien rekonstruiert werden. Wer eine lückenlose, auf Wahrhaftigkeit beharrende Biografie erwartet, wird enttäuscht. Maron gibt zu, eine Geschichte zu schreiben, „an der wenig sicher ist“ (PB 7) und macht das Vergessen ebenso wie die Lückenhaftigkeit und Vagheit der Erinnerung zu einem zentralen Thema ihrer Geschichte. Statt eine zusammenhängende und historisch nicht angreifbare Biographie ihrer Großeltern zu verfassen, zeigt Maron die Verknüpfungen der Lebensgeschichte(n) der Familienmitglieder untereinander und die identitätsstiftende Wirkung von familiären Bindungen. Pawels Briefe ist nicht nur die Geschichte Pawels (und Josefas), sondern auch die Geschichte von Monika Marons Mutter Hella und der Autorin selbst. Die Annahme, dass Biographien sich stets relational zur umgebenden Umwelt entwickeln, ist für Monika Marons Pawels Briefe deswegen von Bedeutung, weil die (lückenhafte) Biographie von Marons Großvater Pawel mit einer (bruchstückhaften) Autobiographie der Autorin zusammenfällt. Maron gibt zu, dass sie ihre eigene Identität auch durch die Person des Großvaters begreift: „Und weil die Fotografie meiner Großmutter, die schmal gerahmt in meinem Zimmer hing, sie allzu deutlich als die Mutter meiner Mutter auswies, fiel meine Wahl als einzigen Ahnen, von dem abzu141 | Niehaus 2006. S. 159.

142 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

stammen ich bereit war, auf meinen Großvater.“ (PB 9) Der Großvater, über den Maron an dieser Stelle spricht, bildet, obwohl sie ihn selbst nie gekannt hat, die Schlüsselfigur ihrer familiären Herkunft. Maron begreift sich selbst durch den anderen, die Biographie Pawels ist mit der ihrigen untrennbar verbunden, wodurch die Biographie des Großvaters und ihrer selbst zusammenfallen. Maron integriert in ihre Familiengeschichte sechzehn Fotografien (und eine abgedruckte Postkarte); von denen in dreizehn Fällen ein Ausschnitt vergrößert und abgedruckt wurde. Die Fotografien stehen in enger Verbindung zu der bereits genannten wesentlichen Thematik des Werkes, nämlich der Frage nach der Erinnerung und dem Gedächtnis. Die Fotografien werfen Fragen nach der Zuverlässigkeit des Erinnerns auf, stellen aber auch ihre eigene Beweiskraft radikal in Frage. 3.2.2.1 Überlegungen zum Status des fotografischen Bildes in Pawels Briefe „Erinnern ist für das, was ich mit meinen Großeltern vorhatte, eigentlich das falsche Wort, denn in meinem Innern gab es kein versunkenes Wissen über sie, das ich hätte zutage fördern können. . . . Das Wesen meiner Großeltern bestand für mich in ihrer Abwesenheit. Fest stand nur, dass es sie gegeben hatte. Sie hatten der Welt vier Kinder beschert . . . . Es gab Fotos und ein paar Briefe.“ (PB 8)

Maron konstatiert an dieser Stelle nicht nur, dass ihre eigene Erinnerungskraft für die Rekonstruktion der Geschichte des Großvaters nicht von Bedeutung ist, sondern stellt auch fest, dass die einzige Aussage, die sie sicher über die Großeltern treffen kann, ist, dass diese existiert haben. Als Beweise für diese Existenz nennt Maron die Nachkommen Josefas und Pawels, Pawels Briefe und natürlich Fotografien, die Pawel und Josefa abbilden. Maron begreift diese Beweise gleichermaßen als indexikalische Zeichen, als Spuren, Abdrücke einer wahrhaftigen Existenz. Maron offenbart durch die zitierten Sätze auch ihre Einstellung zum fotografischen Bild, die sich wohl am besten an John Berger anlehnen lässt, der behauptete, dass eine Fotografie ein Beweis für die Existenz des Dargestellten sei, aber keineswegs etwas über „die Bedeutung dieser Existenz“142 aussage. Maron begreift das fotografische Bild als ein Medium, dessen Inszenierungen den Betrachter durchaus auch von der Wirklichkeit wegführen können, anstatt diese zu offenbaren. Diese Ansicht schlägt sich in der Betrachtung einer Fotografie ihres Urgroßvaters nieder, der in einem Fotostudio sitzt und die Hand auf ein Buch gelegt

142 | Berger 1984. S. 86.

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 143

hat, „als hielten sie die Zeile fest, bei der er seine Lektüre für dieses Foto unterbrochen hat“ (PB 27). Marons Urgroßvater Juda Lejb Sendrowitsch war jedoch Analphabet; eine Tatsache, die die Fotografie verschleiert. Die Autorin schreibt: „Wenn ich einem Mann mit dem Gesicht meines Urgroßvaters heute begegnete, würde ich ihn wahrscheinlich für einen Bibliothekar halten oder auch für einen Apotheker, vielleicht auch für einen Künstler, jedenfalls nicht für einen Analphabeten“ (PB 27).

Der Betrachter der Fotografie, egal ob es sich hier um Monika Maron oder um den Leser der Erzählung Pawels Briefe handelt, kann sich dem Eindruck nicht entziehen, dass es sich bei dem Dargestellten um einen sehr gebildeten Menschen handeln müsse. Nicht nur das Buch auf dem Tisch, sondern auch der würdige Gesichtsausdruck und die Haltung des Dargestellten stehen seiner einfachen Herkunft und seinem Analphabetentum gegenüber. Da die Erzählerin und Autorin Maron sich nur durch die Fotografie ein Bild ihres Urgroßvaters machen kann, verstellt diese den Blick auf dessen Identität eher, als dass sie sie enthüllt. Die Inkongruenz zwischen dem, was ihr über den Urgroßvater berichtet wurde und seiner auf der Fotografie inszenierten Persönlichkeit lässt Zweifel am authentischen Status der Fotografie zu. Maron regt durch die in Pawels Briefe integrierten Fotografien folglich zum Überdenken der Erwartungen an, mit denen meist an Familienfotografien herangegangen wird. Die stabilisierende Funktion von Familienfotografien „als Garantinnen familiärer Kontinuität“143 wird vor dem Hintergrund des gewaltsamen Todes Pawels fragwürdig. Nicht nur die Morde des Holocaust, sondern auch das Vergessen seiner individuellen Opfer trägt zu einer Störung des Familiengedächtnisses bei.144 Außerdem wird Maron nicht müde, gerade die Brüche und Streitfälle ihrer Familiengeschichte aufzuzeigen. Weiterhin wird das authentische und vor allen Dingen identitätsstiftende Moment, welches gerade Familienfotografien zu besitzen scheinen, von der Autorin kritisch hinterfragt. Eine Fotografie kann den Blick auf die Identität einer Person verstellen. Die Tatsache, dass Fotografien den Betrachter zu „falschen“ Interpretationen ihres Gegenstandes verleiten können, bedeutet für Maron allerdings nicht, dass sie dieses 143 | Svea Bräunert, Spektrale Identitäten. Fotografische Erinnerungsräume in Arbeiten von Sophie Calle und Monika Maron. In: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hg.), Nachbilder der Wende. Köln u.a. 2008. S. 97. 144 | Jonathan J. Long, Monika Maron’s Pawels Briefe: Photography, Narrative, and the Claims of Postmemory. In: Anne Fuchs/Mary Cosgrove/Georg Grote (Ed.), German Memory Contests: The Quest for Identity in Literature, Film and Discourse since 1990. Rochester, New York 2006. S. 147.

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zwangsläufig tun müssen. Das kommuniziert sie allerdings nicht durch den literarischen Text, sondern durch die Anordnung der Fotografien. Maron ordnet nahezu alle Fotografien nach einem bestimmten Schema an: Zunächst werden sie auf einer linken Buchseite links oben, vom Text umrahmt präsentiert. Auf der folgenden Doppelseite wird dann auf der rechten Seite rechts unten, ebenfalls vom Text umrahmt, ein Detail aus der Fotografie vergrößert noch einmal abgedruckt. Von diesem Schema weicht Maron, sofern Ausschnitte einer vorangegangenen Fotografie reproduziert werden, nur ein einziges Mal ab. Die Fotografie links oben zeigt Pawel und Josefa im polnischen Exil in Kurow. Die beiden sitzen ganz eng beieinander vor einem Haus. Pawel hat die Beine übereinandergeschlagen, sein rechter Arm liegt hinter dem Rücken seiner Frau, seine linke Hand ruht auf seinem Oberschenkel. Josefa hält mit der rechten Hand einen kleinen Blumenstrauß, mit der Linken umfasst sie ihr Handgelenk. Obwohl Pawel und Josefa in unterschiedliche Richtungen blicken und ihr Gesichtsausdruck schwer zu deuten ist, strahlt die Fotografie doch eine enorme Vertrautheit zwischen dem Paar aus. Das wird vermutlich dadurch evoziert, dass die beiden rechten Füße und linken Hände eine fast identische Haltung einnehmen. Diese stille, unspektakuläre Vertrautheit wird vom umgebenden Text teils untermauert, teils untergraben: „Aber noch ist es der Juli 1939. . . . Pawel hat für seine Frau einen Schemel oder einen Stuhl hinter das Haus getragen. Meine Großmutter sieht über das abgeerntete Feld hinter Jadwigas Haus oder in den Himmel oder auf die sandige Erde zu ihren Füßen.“ (PB 96)

Soweit unterstützt Marons Interpretation der Fotografie den Eindruck einer bescheidenen Vorstellung einer harmonischen Partnerschaft. Doch sie hegt auch Zweifel an der großelterlichen Vertrautheit: „Weint sie? Oder betet sie? Fragt sie ihren Gott, womit sie diese Strafe verdient hat? Flackert vielleicht, nur für einen einzigen kurzen Augenblick, der Gedanke auf, dass es vielleicht doch eine Sünde war, einen Juden zu heiraten?“ (PB 97) Dieses Schwanken zwischen Vertrautheit und Zweifel wird jedoch durch die Anordnung der Fotografien in eine Richtung verschoben. Nur dieses eine Mal wird der Ausschnitt der Fotografie auf der unmittelbar folgenden rechten Seite platziert. Der Ausschnitt bleibt so eng mit der ganzen Fotografie verbunden. Der Ausschnitt zeigt Pawels und Josefas Hände, er zeigt die ähnliche Haltung der beiden und auch, wie eng sie zusammensitzen. Die Blumen in Josefas Schoß sind ein weiteres Zeichen der Verbindung, ebenso wie Josefas sichtbarer Ehering. Dieser Ausschnitt scheint allen Zweifeln den Wind aus den Segeln zu nehmen: Pawel und Josefa lieben einander. Auch wenn sich Maron jederzeit der manipulativen Kraft der Fotografie bewusst

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 145

ist, so scheint es an dieser Stelle, als würde sie dennoch an das glauben, was die Fotografie hier über die Beziehung ihrer Großeltern kommuniziert. Insgesamt lohnt es sich, zwischen den vollständig abgedruckten Fotografien und den vergrößerten Ausschnitten eine Verbindung herzustellen. Während die erste, vollständige Abbildung durch eine kursivierte Bildunterschrift näher bestimmt wird, so fehlt eine solche Bestimmung für den Ausschnitt, weswegen es eine Aufgabe des Lesers bleibt „das Verhältnis von Detail und Ganzem zu entschlüsseln.“145 Interessanterweise schreibt die Ich-Erzählerin und Autorin Monika Maron in den Bildunterschriften von sich selbst in der dritten Person. Dieses Verfahren trägt zu einer objektiveren Wirkung der Fotografie bei, was angesichts der Zweifel der Autorin am authentischen Status des fotografischen Bildes zunächst verwundert. Auf der anderen Seite scheint sie zu bezwecken, dass die wenigen Informationen, die sie in der Bildunterschrift über das Dargestellte preisgibt, vom Leser als wahrhaftig und beweiskräftig angenommen werden. Den Ausschnitten hingegen fehlt eine Bildunterschrift, woraus sich schließen lässt, dass diese Ausschnitte eine subjektivere Sicht der Autorin auf die Fotografie liefern. Silke Horstkotte beschreibt dieses Verfahren treffend wie folgt: „Während die jeweils erste Abbildung in einer Mischung aus ikonischer Ähnlichkeitsrelation und indexikalischem ,Es ist so gewesen’ auf die fotografierten Verwandten zurückverweist, illustrieren die Ausschnitte nicht so sehr das jeweilige Detail der Abbildung, sondern indizieren vielmehr einen auf dieses gerichteten Blick Monikas und laden den Leser zugleich dazu ein, diesem Blick zu folgen und die Fotografie also quasi mit den Augen der Fokalisation wahrzunehmen.“146

Wenn man diesen Gedanken weiterverfolgt, stellt sich nun die Frage, warum die Fokalisierungsinstanz Ausschnitte präsentiert und warum sie gerade diese Bruchstücke wählt. Horstkotte ist an dieser Stelle der Auffassung, dass es sich „bei den Detailausschnitten um ein kontextualisierendes Studium“147 im Sinne Roland Barthes’ handele und dass die Detailausschnitte demnach ein Zeichen dafür seien, „dass Monika sich nicht vom Studium befreien kann.“148 Horstkotte untermauert ihre Ansicht mit der Beobachtung, dass

145 | Horstkotte 2009. S. 161. 146 | Horstkotte 2009. S. 163. 147 | Horstkotte 2009. S. 164. 148 | Ebd.

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„gerade diejenigen Fotografien, die ein echtes Punctum im Sinne einer Verwundung – einer wirkungsmächtigen Verbindung mit der Betrachterin – auslösen, nämlich die das Buch eröffnenden, frühen Porträts Pawels und Josefas (PB 18/19) sowie die Fotografie von Josefas Grab (94), nicht wiederholt. Das auffällige Fehlen gerade dieser Wiederholungen steht wohl im Zusammenhang mit der Tatsache, dass diese Fotografien für Monika magisch, nicht wiederholbar, nicht massenproduziert sein sollen . . . .“149

An dieser Stelle möchte ich jedoch umgekehrt argumentieren. Meines Erachtens nach bilden die Detailausschnitte eben genau den Aspekt ab, welcher die Fokalisierungsinstanz Monika besonders berührt. Diese Berührung steht dem punctum näher als dem studium, da es sich weniger um eine intellektuelle Betrachtung als vielmehr um einen subjektiven „Stich“ handelt. Bei einer für die amerikanische Einwanderungsbehörde bestimmten Fotografie der ganzen Familie Iglarz berührt Maron besonders, neben der Vertrautheit der schön zurecht gemachten Familie, vor allem die hübsche „wenn auch deutlich misslaunig“ (PB 46) aussehende Mutter. Hellas Gesicht ist als Ausschnitt noch einmal reproduziert und an dieser Stelle rückt vor allen Dingen die große weiße Schleife im Haar in den Fokus des Betrachters. Obwohl Maron durch die Schilderungen ihrer Mutter einiges zum Entstehungs- und vor allem Inszenierungsprozess der Fotografie weiß, so ist es doch die weiße Schleife, die ins Auge fällt. Dies erinnert auffällig an einen Kommentar, den Roland Barthes zu Lewis H. Hines’ Fotografie Schwachsinnige in einer Anstalt äußert: „Ich lasse alles Wissen, alle Kultur hinter mir . . . ich sehe nur den riesigen Schillerkragen des Jungen, den Verband am Finger des Mädchens.“150 Es kann also mit Recht auch vermutet werden, dass die Ausschnitte der Fotografien das Detail des fotografischen Bildes zeigen, dass die Fokalisierungsinstanz Monika Maron am meisten berührt. Dass vergrößerte Ausschnitte von Gruppenbildnissen, wie etwa der Fotografie von Pawels Radfahrverein (PB 60), häufig Marons Identifikationsfigur Pawel zeigen (PB 63), vermag diese These zu stützen. Die Close-Up-Details der Fotografien betonen weiterhin eine ontologische Besonderheit des fotografischen Bildes, nämlich die Arbitrarität des Rahmens der Fotografie, der trotz seiner Willkürlichkeit die Rezeption bedeutend mitbestimmt.151 Die Betonung des Rahmens verweist in deutlicher Weise auf die Künstlichkeit und Ausschnitthaftigkeit der Fotografie. Maron nutzt die Fotografie auch, um intermediale Bezüge zu vorherigen Roma-

149 | Horstkotte 2009. S. 164/165. 150 | Barthes 1989. S. 61. 151 | Vgl. Long 2006. S. 152.

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 147

nen herzustellen. So wird die Fotografie, die Josefa in der Küche zeigt, bereits in Marons Roman Flugasche beschrieben: „Auf dem Foto, das an einer Wand meines Zimmers hängt, wäscht die Großmutter ab in einer Emailleschüssel mit schwarzem Rand. Am Hinterkopf der Großmutter hängt ein schwerer Dutt, der aus einem Zopf zusammengerollt ist. Die Großmutter ist untersetzt, hat kräftige Oberarme und schwarzes Haar.“ (FA 7)

Auf diese Weise fordert Maron den Leser dazu auf, Bezüge zum ebenfalls teilweise autobiographischen Roman Flugasche herzustellen. Dieser Roman erfährt nun umgekehrt eine Authentisierung durch die tatsächliche Existenz der beschriebenen Fotografie. 3.2.2.2 Gedächtnis und Erinnerung in Pawels Briefe: von Vagheit, Lücken und Vergessen Gedächtnis und Erinnerung sind zwei der zentralen Themen in Monika Marons Familiengeschichte. Da Maron selbst keine Erinnerungen an die Großeltern hat (PB 8), findet ihr Zugang zu Pawel und Josefa, neben einigen Briefen, Dokumenten und Fotografien, hauptsächlich über die Erinnerungen ihrer Mutter Hella statt. Interessanterweise ist der Ausgangspunkt der Studie jedoch kein Erinnern, sondern vielmehr ein Vergessen, das für die Ich-Erzählerin kaum zu erklären ist: „Bei der Suche nach alten Fotos . . . stieß meine Mutter auf einen Karton mit Briefen, den sie elf Jahre zuvor aus dem Nachlass ihrer Schwester geborgen und ungesichtet verwahrt hatte. . . . Diese Briefe waren ihr unbekannt. Sie konnte sich nicht erinnern, sie je gelesen oder gar selbst geschrieben zu haben. Sie erfuhr Details, von denen sie, wie ihr schien, nie etwas gewusst hatte und die sie dennoch gekannt haben musste, denn es war unmöglich, dass sie die Briefe nicht gelesen hatte, so wie es unmöglich war, dass sie die in ihrer eigenen Handschrift nicht geschrieben hatte“ (PB 10).

Obwohl Marons Mutter Hella sich redlich um Erinnerungen bemüht, bleiben ihr diese verwehrt, was höchstwahrscheinlich auf die erlebten traumatischen Ereignisse zurückzuführen ist, die Hella in ihr Unterbewusstsein verdrängen musste.152 Sie sichtet weitere Dokumente, „die offenbar zuverlässiger waren als ihre eigene Erinnerung“ (PB 11), findet jedoch keine Möglichkeit das Vergessene wieder erinnerbar zu machen. Dieses ist umso tragischer, als dass Pawel in seinen Briefen gebeten hatte, nicht vergessen zu werden und zu diesem Zweck auch darum bat, später seine En152 | Vgl. Byrnes 2003. S. 151.

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kelin Monika mit seinen Briefen zu konfrontieren. Durch dieses Hintergrundwissen wird deutlich, warum Marons Text trotz des ständigen Beharrens auf die Flüchtigkeit der Erinnerung auch ein Schreiben gegen das Vergessen ist. Die Zuverlässigkeit des Erinnerns, die nicht nur, aber auch durch das Vergessen gefährdet wird, wird von Maron radikal in Frage gestellt. Der Leser weiß von Anfang an um die Problematik, dass in der vorliegenden Biographie kein unverstellter Zugang auf die Person Pawels oder Josefas möglich ist. Auch wenn das Gedächtnis von Marons Mutter Hella als ungewöhnlich gut beschrieben wird (PB 17), so schlägt sich dennoch die Lückenhaftigkeit und Subjektivität der Erinnerung in dem Bericht über das Leben der Großeltern nieder. Das der Erinnerung wichtige Abschnitte des Lebens nicht zugänglich sind, entdeckt die Autorin gleichermaßen bei ihrer Mutter (PB 10, siehe oben) und an sich selbst: „Was habe ich am 3. Juni 1945 gemacht? Ich wurde vier Jahre alt, und es war seit drei Wochen Frieden. Mein erster Friedengeburtstag, an einen solchen Tag müsste man sich doch erinnern können. Aber man kann nicht; er ist verschwunden, mit ein paar tausend anderen Tagen zur Kindheit vermodert.“ (PB 35)

Erinnerung wird in Pawels Briefe somit als etwas Bruchstückhaftes, Vages und Unsicheres manifestiert. Doch nicht nur Unsicherheiten und Gedächtnislücken, auch die Subjektivität von Erinnerung wird von Seiten der Autorin deutlich herausgestellt. Eine lang vergangene Ungerechtigkeit innerhalb der Familie wird von Marons Tante Marta und ihrer Mutter Hella unterschiedlich erinnert. Maron schildert die Begebenheit so, wie sie ihr von Marta erzählt worden war, vergisst allerdings nicht hinzuzufügen: „Natürlich denkt Hella darüber anders. Aber Marta sah es so“ (PB 57). Maron stellt fest, dass der Mutter so lange die Interpretationshoheit für ihre Biographie gebührt (PB 79), bis sie durch konkurrierende Erinnerungen angreifbar wird. Das geschieht dann, wenn Monika durch eigene Erinnerungen auf die gemeinsame Vergangenheit ihrer selbst und Hellas zugreifen kann. Die „kommunistische Karriere“ ihrer Mutter bleibt Maron unerklärlich; wenn Hella beteuert, „S[s]ie sei eben immer Kommunistin gewesen [. . . ]“ (PB 154), so entgegnet Maron: „So sieht es Hella; ich sehe es anders, und ab jetzt bestreite ich ihr die Interpretationshoheit für ihr Leben, denn ich war Zeugin und bis zur Volljährigkeit unentrinnbar gebunden an Hellas Entscheidungen“ (PB 154). Maron stellt hier heraus, dass jeder Mensch seine eigenen Versionen der Vergangenheit besitzt und dass diese Versionen in deutlicher Konkurrenz zueinander stehen können. Da die Biographie Pawels hauptsächlich über die Erinnerungen Hellas zugänglich

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 149

ist, wird die historische Richtigkeit der Biographie angreifbar und andere Versionen werden denkbar. Obwohl Maron keine eigenen Erinnerungen an ihren Großvater hat, so durchdringen ihre Gedanken dennoch seine Geschichte. Sie ist nicht in der Lage, unbeirrbar Pawels Schicksal weiterzuverfolgen, sondern nimmt immer wieder die Spuren anderer Familienmitglieder oder ihrer selbst auf. Durch dieses Verfahren wirken die Familienschicksale untrennbar miteinander verbunden, auch wenn Maron dies nicht offen legt, sondern sich selbst als Eindringling bezeichnet: „Zwischen der Geschichte, die ich schreiben will, und mir stimmt etwas nicht. Welches Thema ich auch anrühre, nach fünf oder vier, manchmal sogar nach zwei Seiten schmeißt mich die Geschichte oder schmeiße ich mich aus dem Buch wieder raus. Als hätte ich darin nichts zu suchen; als wäre meine Absicht, aus den Fotos, Briefen und Hellas Erinnerungen die Ahnung vom Ganzen zu gewinnen, vermessen für einen Eindringling wie mich.“ (PB 52)

Maron verliert die „eigentliche Spur“, nämlich die Pawels, scheinbar immer wieder aus den Augen. Kurz nachdem Pawels Biographie ganz klassisch mit dem Satz „Mein Großvater wurde 1879 geboren“ (PB 13) beginnt, schweift Maron wenige Seiten später auf Ereignisse im Leben ihrer Mutter ab (PB 17) um dann ihre eigene, höchst subjektive Sicht auf Pawel und Josefa zu schildern, die sich durch die Betrachtung von Fotografien herausgebildet hat (PB 18/19). Durch die abrupten Übergänge von der Geschichte Pawels zu den Geschichten anderer Familienmitglieder oder zu eigenen Ansichten wird deutlich, dass die Geschichten letztendlich auf eine subtile Weise zusammenhängen und dass die Persönlichkeit der Ich-Erzählerin auch durch diese Geschichten konstituiert wird. Wenn man sich vor Augen führt, mit welchen Unsicherheiten die Erinnerung in Pawels Briefe behaftet ist, so stellt sich die Frage, ob die Fotografie eine objektivere Möglichkeit des Erinnerns bieten kann, und somit einen sichereren Zugriff auf die Vergangenheit darstellt. Wie zweifelhaft jedoch auch die Fotografien im Hinblick auf die historische Wirklichkeit wirken, wurde bereits angesichts der Fotografie von Marons Urgroßvater Juda Lejb Sendrowitsch besprochen. Die Fotografie präsentiert hier einen Mann, der wirkt, als sei er soeben bei der Lektüre eines Buches unterbrochen worden, der in Wahrheit jedoch des Lesens nicht mächtig war. Die von Maron präsentierten Fotografien werden von der Ich-Erzählerin interpretiert und Text und Bild auf diese Weise eng miteinander verwoben. Ohne die Erläuterungen und Erinnerungen, kurz: Ohne den Zusammenhang mit dem literarischen Text, könnten sie an dieser Stelle kaum in der Lage sein, das Leben der Protago-

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nisten zu illustrieren, nicht zuletzt, weil 16 Fotografien verteilt auf knapp über 200 Seiten dem Text eine quantitativ dominantere Rolle zuweisen. Umgekehrt ist aber auch festzuhalten, dass zahlreiche der abgedruckten Fotografien die Erzählerin erst zur Narration anregen und somit den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bilden. Das Foto allein initiiert auf der fiktional inszenierten Ebene den Erinnerungs- und Rekonstruktionsprozesses der Vergangenheit. Ebenso wie der literarische Text zeigen auch die Fotografien nicht nur Szenen aus dem Leben der Großeltern, sondern auch Momente aus dem Leben von Hella oder Monika Maron. Von einer zeitlichen Kontinuität kann nicht unbedingt die Rede sein, da beispielsweise der Fotografie von Josefas Grab (PB 94) auf der nächsten Seite eine Fotografie von Pawel und Josefa in Kurow folgt (PB 96/97). Die Fotografien bieten Bruchstücke eines Lebens, vereinzelte Momente, und sind damit den Erinnerungen sehr viel ähnlicher als es auf den ersten Blick scheint. Die Lückenhaftigkeit des Erinnerns kann mit der Ausschnitthaftigkeit der Fotografie durchaus analogisiert werden. Susan Sontag schreibt: „Das Foto ist ein schmaler Ausschnitt von Raum ebenso wie von Zeit. [. . . ] Durch Fotografien wird die Welt zu einer Aneinanderreihung beziehungsloser, freischwebender Partikel und Geschichte, vergangene und gegenwärtige, zu einem Bündel von Anekdoten und faits divers. [. . . ] Die letzte Weisheit des fotografischen Bildes lautet: ;Hier ist die Oberfläche. Nun denk darüber nach – oder besser: erfühle, erkenne intuitiv –, was darunter ist, wie eine Realität beschaffen sein muss, die so aussieht.’“153

Die Fotografie bietet in Pawels Briefe also keinesfalls einen zuverlässigen, objektiven Gegenpol zur Subjektivität und Lückenhaftigkeit der Erinnerung, im Gegenteil: Durch ihre Ausschnitthaftigkeit und ihre semantische Offenheit ist sie der in der Erzählung geschilderten Form von Erinnerung sogar auffallend ähnlich. Durch die Lückenhaftigkeit der Erinnerung und die Ausschnitthaftigkeit der Fotografie wird Pawels Briefe zu einer „Collage heterogener Teile.“154 Die Heterogenität des Werkes, die Tatsache, dass Unzusammenhängendes zusammengeführt wird, wurde an Marons Familiengeschichte häufig kritisiert, doch stimme ich an dieser Stelle Eva Korrmann zu, die dieses Verfahren als formale Konsequenz aus einem inhaltlichen Befund begreift und konstatiert, dass die scheinbar unzusammenhängenden Teile eben doch zusammenhängen und notwendige Mosaiksteine eines Ganzen sind.155

153 | Sontag 2006. S. 28. 154 | Kormann 2002. S. 116. 155 | Vgl. Kormann 2002. S. 119.

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 151

Pawels Briefe muss im Grunde wie eine Collage funktionieren, weil Maron auf genau diese Weise das Funktionieren von Erinnerung beschreibt. Weiterhin generiert die „Integration des höchst heterogenen Quellenmaterials . . . einen diskontinuierlichen, achronologischen Erzählverlauf, der auf die brüchigen Lebensgeschichten der Protagonisten bezogen werden kann.“156 Der ständige Wechsel von Ausschnitten aus dem Leben Pawels, Hellas und der Autorin ist ein formales Zeichen der auch semantisch formulierten Verknüpfung von Marons Identität mit ihrer Familiengeschichte. Sie kann ihre eigene Identität ohne ihren Großvater (und auch ihre Mutter) nicht begreifen (z.B. PB 83) und umgekehrt kann sie sich Pawels Geschichte nicht vergegenwärtigen ohne einen subjektiven Zugang zu ihm zu finden. Dabei kalkuliert sie ein, dass dieser subjektive Zugang durchaus mit dem, was als historische Wirklichkeit bekannt ist, kollidieren kann (z.B. PB 152). Auf der anderen Seite vermag es die Fotografie aber auch, das zu erzeugen, was Silke Horstkotte in Anlehnung an Marianne Hirsch „mentale Nachbilder“ nennt.157 Monika Maron entwickelt u. a. durch die ihr bekannten Fotografien eigene Vorstellungen vom Wesen der Großeltern, die sie selbst nie kennen lernen konnte. Die Fotografien erzeugen und blockieren ihre imaginären Bilder gleichermaßen, sie imaginiert Bilder der Großeltern aufgrund der Fotografien, doch gelangt nicht über das hinaus, was die Fotografie preisgibt. Maron beschreibt ihre Vorstellung von den Großeltern wie folgt: „Selbst wenn ich mich anstrenge [. . . ] , gelingt es mir nicht, die farbigen Bilder zu fixieren. Immer schieben sich in Sekunden die schwarzweißen Fotogesichter über die farbigen Fragmente. Wenn Hella von den Abenden in der elterlichen Wohnküche erzählt, sehe ich meine Großeltern schwarzweiß zwischen ihren farbigen Kindern sitzen. Nur Bruno, den ich auch nur von Fotos kenne, ist ebenso schwarzweiß“ (PB 18).

Die Fotografie prägt die imaginären Bilder Marons folglich so stark, dass ihre Vorstellungen sich nicht mehr von den Fotografien lösen können.158 Die Fotografien sind in ihr Gedächtnis eingebrannt und vermögen andere Vorstellungen zu überlagern.

156 | Horstkotte 2009. S. 148. 157 | Vgl. Horstkotte 2009. S. 15. 158 | Vgl hier auch: Joanna K. Stimmel, Holocaust Memory between Cosmopolitanism and Nation-Specificity: Monika Maron’s Pawels Briefe and Jaroslaw Rymkiewicz’s Umschlagplatz. In: German Quarterly 78, 2. 2005. S. 155.

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3.2.2.3 Konstruktionen von Identität in Pawels Briefe Zuverlässiger als Erinnerungen und Fotografien erscheinen im Übrigen Dokumente wie Geburtsurkunden und vor allen Dingen die Briefe Pawels aus dem Ghetto in Belchatow. Pawels Leid „ist über jeden Zweifel erhaben, es wird aus der Erinnerungsperspektive herausgenommen und erscheint in den schlicht protokollierenden, um so ergreifenderen Sätzen“159 seiner Briefe. Es scheint, als wage Maron nicht interpretativ in diese Selbstäußerungen Pawels einzudringen, wahrscheinlich nicht zuletzt, weil er in diesen Schriften seine Identität selbst konstruieren konnte. In den Briefen spricht Pawel über sich selbst und aus sich selbst heraus, wohingegen die Fotografien auch eine Inszenierung des Fotografen darstellen und vielleicht mehr über die damaligen Konventionen der Porträtfotografie verraten,160 als über den Mensch Pawel Iglarz. Auch die Beschreibungen seiner Person durch seine Tochter Hella können als oktroyierte Identität begriffen werden. Nur durch die Briefe erhalten Pawels Enkelin Monika und der Leser einen Zugang zum Inneren Pawels, in den seine eigene Stimme eingeschrieben ist. Aus diesem Grund genießen die Briefe einen besonderen Status innerhalb der Geschichte und können für sich stehen. Die Identität ihres Großvaters ist von Maron deswegen von besonderer Bedeutung, weil sie ihr eigenes Ich in Abgrenzung zu ihrer kommunistischen Mutter Hella und in der Identifikation mit ihrem christlichen Großvater161 konturiert. Eine Identifikation mit ihrer Großmutter Josefa kommt nicht in Frage. Eine Fotografie zeigt physische Ähnlichkeiten zu Marons Mutter Hella, die Maron als Identifikationsfigur ablehnt. Die durch eine Fotografie hergestellte Identitätskonstruktion verhindert also ein Annäherung zwischen Maron und ihrer Großmutter: „Ich wollte anders sein, als meine Abstammung mir zugestand. Und weil die Fotografie meiner Großmutter, die schmal gerahmt in meinem Zimmer hing, sie allzu deutlich als die Mutter meiner Mutter auswies, fiel meine Wahl als einzigen Ahnen, von dem ich abzustammen bereit war, auf meinen Großvater.“ (PB 9)

Dass die stille christliche Lebensart des Großvaters einen Gegenpol zum überzeugten Kommunismus Hellas bildet, sollte hier keinesfalls unterschätzt werden, da der sozialistische Staat der Deutschen Demokratischen Republik für Maron eine Belastung darstellte, von der sie sich zu entfernen wünschte. Identität wird bei Maron

159 | Kormann 2002. S. 127. 160 | Ebd. 161 | Pawel ist jüdischer Herkunft, konvertierte jedoch zu den Baptisten, Josefa war Katholikin, konvertierte jedoch ebenfalls.

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 153

durch Identifikation und Abgrenzung konturiert,162 wobei Pawel als Identifikationsfigur dient und Hella, trotz zunehmender Toleranz Monikas gegenüber ihrer Mutter, als Figur der Abgrenzung.163 Maron schreibt, dass sie besonders daran interessiert sei, was Pawel von anderen Menschen unterschied. Eine wesentliche Eigenschaft, die sie sich selbst und Pawel zuschreibt, ist ihre Andersartigkeit. Maron stellt fest: „[. . . ] nur indem er sich von anderen unterschied, konnte er mir gegen sie beistehen.“ (PB 63). Maron stellt sich ein schöneres Leben an Pawels Seite vor und diese Vorstellung entspringt wohl auch den Erzählungen Hellas oder wird von diesen genährt. Die glückliche Kindheit, die als Kind Pawels möglich war und als Tochter Hellas unmöglich schien, manifestiert sich für Maron in einem morgendlichen Ritual der väterlichen Fürsorge: „Hella sagt, sie hätte eine schöne Kindheit gehabt, eine sehr schöne Kindheit sogar. Ich habe sie um diese Kindheit immer beneidet. [. . . ] Mein Großvater stand jeden Morgen als erster auf und servierte jedem seiner Kinder ein Frühstück; für Bruno Tee, Kaffee für Marta, Milch für Hella, Kakao für Paul. [. . . ] Wenn ich jemandem von meinem Großvater erzähle, erwähne ich die vier Getränke am Morgen fast immer. Diese Szene aus dem Leben meiner Mutter gehört seit jeher zu meinen Vorstellungen von Glück.“ (PB 24/25)

Hervorzuheben ist, dass der Grund für Monikas Identifikation mit dem Großvater auch durch die Erzählungen ihrer Mutter entsteht, wohingegen die Nicht-Identifikation mit ihrer Großmutter aus einer Fotografie resultiert. Die Ähnlichkeit zur Mutter, die Josefas Fotografie aufweist, kann nicht getilgt werden und Josefa somit nicht zur Identifikationsfigur werden. Den Moment der Abgrenzung begreift Maron allerdings als wiederkehrendes, identitätsstiftendes Element ihrer Familiengeschichte: „In unserer Familie ist niemand dem Glauben treu geblieben, in dem er erzogen wurde“ (PB 192). Die Informationen über die Identität der Ich-Erzählerin werden nicht nur durch den literarischen Text kommuniziert, sondern auch durch die Fotografien. Wie oben bereits erläutert, können die fotografischen Ausschnitte als Anhaltspunkt für das gesehen werden, was Maron an der vollständigen Fotografie berührt. Die Fotografien verfolgen so den Blick der Erzählerin und geben Aufschluss über ihre Wahrnehmung und ihren individuellen Blick auf fotografische Bilder der Familie. 162 | Vgl. Horstkotte 2009. S. 150. 163 | Vgl. dazu auch: Elke Gilson, “Nur wenige kurze Augenblicke, die sicher sind.“ Zur konstruktivistisch inspirierten Darstellung des Erinnerns und Vergessens in Monika Marons Familiengeschichte Pawels Briefe. In: Colloquia Germanica, 33, 3. 2000. S. 276/277.

154 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Bemerkenswert ist ebenfalls, dass einige Fotografien, die Maron erwähnt, nicht an dieser Stelle abgedruckt werden und andere die abgedruckt sind, wiederum keine Beschreibung erfahren. Ohne Erwähnung im Text bleibt beispielsweise die Fotografie Josefa, Paul, Bruno und Pawel im Volkspark (PB 32). Es bleibt dem Leser überlassen, diese Fotografie zu deuten. Essentiell erscheint es allerdings, dass auf dem Ausschnitt dieser Fotografie auf der folgenden Doppelseite das Gesicht Pawels zu sehen ist, das glücklich und zufrieden wirkt. Es ist nahe liegend, dass Maron hier keine weiteren Erklärungen für notwendig hielt. Als Maron ausführlich eine Fotografie ihres Großvaters beschreibt, die im Sommer 1939, nach Brunos Tod und kurz bevor Pawel seine anderen Kinder verlassen musste, aufgenommen wurde, wird keine Fotografie in Nähe dieser Textstelle abgedruckt (PB 84). Sechsundneunzig Seiten später findet sich jedoch eine Porträtaufnahme Pawels (PB 180), die wahrscheinlich aus dem Jahr 1939 stammt und auf die die Beschreibung Marons zutreffen könnte. Die Beschreibung der Fotografie geht auf den sehr schlechten Zustand des Großvaters ein: „[. . . ] der Mund sehr verschlossen als hätte er das Sprechen aufgegeben; Augen in denen sich keine Erwartung mehr spiegelt, nur schreckliche Gewissheit. Ein erschöpfter verzweifelter Mann.“ (PB 84). Die Porträtaufnahme, über die Maron hier spricht, wirkt zunächst weniger dramatisch. Sobald der Leser aber den Zusammenhang zu den vorangegangenen Worten erkennt, kann auch dieser im Blick Pawels große Traurigkeit erkennen. Die Tatsache, dass diese Fotografie Pawels so ambivalent deutbar ist, ist wahrscheinlich der Grund, warum sie nicht unmittelbar bei ihrer Beschreibung abgedruckt wurde. Der Schock, der eintritt, wenn man die Fotografie mit den Worten Marons verbindet, erscheint durch den zeitlichen Abstand zwischen Lektüre und Bildbetrachtung von größerer Wirkungsmacht. Die abgedruckten Fotografien zeugen weiterhin von einer engen Bindung der Autorin an das fotografische Medium. Diese Bindung lässt sich wohl auch aus der Profession ihres Onkels Paul und ihres Sohnes Jonas begründen, die beide als Fotografen tätig sind. Da Familienschicksale stets miteinander verknüpft sind, wie Maron in Pawels Briefe mehrfach herausstellt, ist es nicht verwunderlich, dass sie durch die Integration von Fotografien auch das Leben ihres Sohnes in die Familiengeschichte miteinbezieht. Eine Fotografie innerhalb des Buches, diejenige die Josefas Grab zeigt (PB 94), wurde wohl von Jonas Maron selbst geschossen und stellt somit seinen individuellen Blick auf die Familiengeschichte dar. In der Hardcoverausgabe findet sich im Paratext auch noch eine weitere Aufnahme von Jonas Maron, die unscharf die Wälder von Belchatow und damit Pawels mögliches Grab zeigt.164 Dass diese 164 | Vgl. Horstkotte 2009. S. 166.

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 155

Fotografie nicht in der Nähe der Fotografie des Grabes von Josefa arrangiert wurde, zeugt von der schmerzhaften Trennung der Eheleute, vom ungewissen Tode Pawels und vom Fehlen einer Grabstätte, die seine Kinder und Enkel besuchen könnten. Leider wurde diese paratextuell angeordnete Fotografie nicht in die Taschenbuchausgabe aufgenommen, was angesichts der möglichen Bedeutungsdimensionen der Fotografie, wie sie oben erläutert wurden, verwundert. Die Integration von Fotografien, die ein weiteres Familienmitglied aufgenommen hat, bringen interessante neue Blickwinkel in die Lektüre. Die scheinbar banale Frage, von wem die anderen Schnappschüsse der Familie stammen können, gelangt so zu interpretatorischer Bedeutsamkeit. Insgesamt lässt sich fest halten, dass wie Sylvia Klötzer schreibt, Pawels Briefe zu einem Plädoyer dafür wird „sperrige Vergangenheiten und Gegenwarten anzunehmen und sich ihnen zu stellen: Konflikte, gegensätzliche Meinungen und gegensätzliche Glaubensrichtungen auszuhalten ohne darüber die Identität zu verleugnen, familiäre Bindungen sowie Freundschaften aufzugeben.“165 3.2.2.4 Intertextuelle Bezüge Durch die akribisch geplante Anordnung von Text und Bild und die Gestaltung einiger der abgedruckten Familienfotografien erinnert Pawels Briefe an die Erinnerungstexte W.G. Sebalds. Trotz grundlegender Unterschiede zwischen den Werken, soll hier dennoch kurz auf eine Gemeinsamkeit eingegangen werden. Durch den Bezug auf die Erzählungen Sebalds wird beim Leser die mühevolle, schmerzhafte Spurensuche in Erinnerung gerufen, der sich die Erzähler in Sebalds Werken aussetzen. Auch für Maron ist die „Erinnerung“ an den Großvater teilweise schmerzhaft, da ihr bewusst wird, wie sehr ihr eine gemeinsame Zeit mit dem Großvater fehlte. Auch Marons Mutter Hella, die stets nur das Gute erinnert und das Schreckliche zu vergessen scheint, wird durch die Spurensuche ihrer Tochter mit Ereignissen konfrontiert, die bereits aus ihrem Gedächtnis verschwunden waren. Besonders trifft sie, welche oberflächlichen Worte des Trostes sie ihrem Vater anlässlich des Todes seiner Frau Josefa schickte (PB 129). Den Schmerz der und die Anstrengung zur Erinnerung wird bei Maron folglich auch implizit durch einen Verweis auf die Werke Sebalds betont.

165 | Sylvia Klötzer, “Wir haben immer so nach vorn gelebt“: Erinnerung und Identität. Flugasche und Pawels Briefe von Monika Maron. In: Elke Gilson (Hg.), Monika Maron in Perspective: Dialogische Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes. Amsterdam/Atlanta 2002. S. 48.

156 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

3.2.3 Monika Maron: Geburtsort Berlin Monika Marons Erzählung Geburtsort Berlin ist eine bunte Zusammenstellung aus verschiedenen Genres. Das Buch bietet einen hochgradig subjektiven Blick auf einzelne Elemente der deutschen Hauptstadt, der ebenso eine Hommage an die Stadt wie eine autobiographische Erzählung darstellt. Die letzten drei, überaus humorvollen, Kapitel haben essayistischen Charakter. Auch in dieser Erzählung fallen die IchErzählerin und die Autorin Monika Maron zusammen. Auch wenn der kaum auf Authentizität beharrende, lockere Schreibduktus der Autorin, vor allem in den essayistischen Kapiteln, Zweifel an der Referentialität des Textes aufkommen lassen, so steht es außer Frage, dass die geschilderten Erlebnisse und die formulierten Ansichten in enger Verbindung zur Biographie der Autorin stehen. Wesentliche überprüfbare Stationen ihres Lebens werden angesprochen, wenn auch nicht in einem chronologischen oder kausalen Zusammenhang, sondern in einer lockeren Aneinanderreihung von Ausschnitten aus dem Leben und Denken der Autorin. Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen die Funktionen der fotografischen Bilder in Hinblick auf die Frage, was diese über sich selbst und ihr Verhältnis zum literarischen Text kommunizieren. Selbstverständlich wird auch analysiert, wie Text und Bild gemeinsam zur Bedeutung der Erzählung beitragen. Im Gegensatz zu den fotografischen Bildern in Pawels Briefe stehen in der Erzählung Geburtstort Berlin viele der Fotografien in keiner Verbindung zum literarischen Text. Die Fotografien stammen von Monika Marons Sohn Jonas, der eine professionelle Fotografenausbildung durchlaufen hat. Seine Fotografien bilden einen zweiten, eigenständigen und generationenübergreifenden Blick auf die Stadt, der mit den Schilderungen der Autorin in einen Dialog tritt. Vor dem Hintergrund der Lektüre von Pawels Briefe vermag dieses Verwobensein der Generationen und Biografien kaum verwundern. Die Stadt Berlin bildet den fotografischen und literarischen Bezugspunkt der Erzählung. Im Zentrum steht folglich eine Stadt, die ebenso wie das Leben der Autorin eng mit deutsch-deutscher Geschichte verknüpft ist. Marons Erzählung beginnt mit einer Fotografie, die eine schwarze Katze vor einer Mauer zeigt, die auf die vor sie liegende Straße blickt.166 Im folgenden Text wird nicht auf die Fotografie eingegangen, stattdessen wird implizit die enorme Bedeutung

166 | Die Fotografie ist mit der Unterschrift „Linienstraße Ecke Gormannstr, Mitte, 1993“ (GB 6) versehen und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass es sich nicht um den bezeichneten Ort handelt. Auch alle folgenden Fotografien sind mit geographischen Bezeichnungen versehen.

3.2. (Auto-)Biografie und Fotografie | 157

des geschriebenen Wortes für die Autorin deutlich, wenn sie in anderem Zusammenhang von einer „Erleuchtung durch die Schrift“ (GB 8) spricht.167 Es scheint, als wolle sie betonen, dass ihr Beitrag derjenige sei, der sich aus Worten zusammenfügt. Eine Zwischenstellung nimmt hier der Text unterhalb der Fotografie ein. Es wird nicht deutlich, ob die nüchterne geographische Angabe von der Ich-Erzählerin stammt, oder vielmehr einer Instanz außerhalb des literarischen Textes zuzuordnen ist, wie etwa dem Fotografen Jonas Maron. Da Bild und Text sich nicht aufeinander beziehen und da sich der Sprachduktus der Bildunterschriften vom übrigen Text unterscheidet, ist der Zusammenhang zwischen den beiden Medien nur schwer auszumachen. Die bereits oben angedeutete Möglichkeit, dass Maron ihrem Sohn an dieser Stelle die Möglichkeit verleiht, seine Sicht der Stadt mit seinen Mitteln auszudrücken, ist anhand der Gestaltung der Erzählung sehr gut nachvollziehbar. Dadurch, dass Monika Maron die Fotografien von ihren autobiographischen Schilderungen und damit von der Ich-Erzählerin löst, erreicht sie ein multiperspektivisches Erzählen mit unterschiedlichen Medien. Das Prinzip der Perspektive wird folglich gleichermaßen als bedeutend für Literatur und Fotografie angesehen. Der Blick der Ich-Erzählerin auf die Stadt Berlin ist von subjektiven Eindrücken geprägt, mit denen sich der Berliner dennoch intersubjektiv identifizieren kann. Die humorvollen Episoden über die Berliner Identität führen zu einer Identifikation des Lesers mit der deutschen Hauptstadt und ihren Bewohnern. Die Fotografien hingegen besitzen einen eher düsteren Gestus, der kaum in der Lage ist, für die Stadt zu begeistern. Jonas Marons Aufnahmen wirken nicht wie aus den 90er Jahren, wie die Bildunterschrift dem Leser mitteilt, sondern zeigen eher Motive, die der Betrachter mit früheren Zeiten, vielleicht den 50er Jahren, verbinden würde. Beispielsweise werden Kinder fotografiert, die über brachliegende Flächen streifen. Ein Anblick, der heute immer seltener wird, auch wenn das vereinte Berlin wohl eine der wenigen deutschen Großstädte ist, die innerstädtische Brachflächen besitzen. Auch Monika Maron erwähnt die Schattenseiten der Stadt, doch umschreibt sie diese eher als eine liebenswerte Eigenheit denn als Makel. Der humorvolle Blick auf die Stadt wird in den Fotografien nicht gespiegelt, diese entwerfen vielmehr ihr eigenes Szenario, das den literarischen Text teilweise konterkariert und hinterfragt. In Geburtsort Berlin gehen Text und Bild nur sehr eingeschränkt eine Symbiose ein. Die Medienkombination in diesem Werk ermöglicht vielmehr Multiperspektivität und Konkurrenz.

167 | Auch auf der folgenden Seite wird die Bedeutung der Literatur für die IchErzählerin deutlich (GB 9).

158 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

3.3 C OMIC

UND

F OTOGRAFIE

In diesem Kapitel soll es um eine besondere Form der Medienkombination gehen, nämlich um die Verbindung von Text, Zeichnung und Fotografie im Comic. Ist der Comic meist schon durch seine Verbindung von literarischem Text und Bild eine intermediale Kunstform,168 so kommt durch die Integration von Fotografien noch ein drittes Medium hinzu. Obwohl die Integration fotografischer Bilder in Comics selten anzutreffen ist, lohnt sich die Betrachtung dieser Kunstform in hohem Maße, da die Fotografien den Zeichnungen des Comic ein anderes Bildmedium gegenüberstellen und sich auf diese Weise spannende Interaktionsmöglichkeiten zwischen Text, Zeichnung und Fotografie ausmachen lassen. Grundsätzlich existieren zwei Möglichkeiten für eine Verbindung von Comic und Fotografie: Einerseits ist es möglich, die Fotografien selbst als Einzelbilder, so genannte Panels, in Sequenzen anzuordnen und somit eine narrative Struktur herzustellen, die durch Texte in Sprechblasen oder in für sich stehenden Panels ergänzt werden können. Diese Form ist sicherlich am ehesten durch „Foto-Love-Stories“ populärer Jugendzeitschriften bekannt.169 Die zweite Möglichkeit wäre, dass der Comic seine gezeichneten Bilder beibehält und zusätzlich Fotografien integriert. Diese können dann entweder für sich stehen, oder aber auch durch Texte ergänzt werden.170 In der Comicreihe Der Fotograf, die hier besprochen werden soll, werden Zeichnungen mit Sprechblasen, Zeichnungen ohne Sprechblasen, nur Text enthaltende Panels mit Fotografien und Kontaktabzügen verknüpft. Es wird in diesem Comic folglich ein beachtliches, mediales Potential ausgeschöpft, welches sich auch in der besonderen Vielfalt der Bedeutungsdimensionen des Comic niederschlägt. In Bezug auf die lei168 | Es ist allerdings von Bedeutung, dass der Comic keineswegs auf Texte angewiesen ist. (Scott McCloud definiert den Comic als „Juxtaposed pictorial and other images in deliberate sequence, intended to convey information and/or to produce an aesthetic response in the viewer.” (Scott McCloud, Understanding Comics. New York 1994. S. 9.)) Für die vorliegende Arbeit sind jedoch nur solche Comics von Bedeutung, die Text und Bild enthalten. Hier ist zu bemerken, dass ähnlich wie beim Film die Medien hier jedoch bereits derart verschmolzen sind, dass sich der Comic als eigenständiges Medium etabliert hat. 169 | Diese Textsorte würde eher als klassischer Fotoroman, denn als Comic definiert werden. 170 | Desweiteren existiert natürlich auch die Möglichkeit, Fotografien zeichnerisch wiederzugeben. Dies wäre allerdings nach der Definition von Werner Wolf keine Medienkombination und ist aus diesem Grund für die vorliegende Arbeit zu vernachlässigen.

3.3. Comic und Fotografie | 159

tenden Fragen dieser Arbeit eignet sich der Comic Der Fotograf in besonders hohem Maße. Zum ersten wird zu zeigen sein, wie Text und Fotografie auf ihre jeweils spezifische Weise an der Generierung von Bedeutungen teilhaben. Zum zweiten wird in diesem Comic besonders deutlich, wie die enthaltenen Medien selbstreflexiv auf ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen, auf ihre Besonderheiten und Merkmale verweisen. Die Integration dreier Medien ist für diese Arbeit besonders hilfreich, weil sich Fotografie und Text nicht nur gegenseitig voneinander abgrenzen können, sondern weil die Abgrenzung auch von einem anderen visuellen Medium, nämlich der Zeichnung, erfolgen kann.

E XKURS : D IE C OMICREIHE Der Fotograf Die dreibändige Comicreihe Der Fotograf, die 2003 in Frankreich und 2008/09 in deutscher Übersetzung erschien, handelt von einer humanitären Aktion der NGO Ärzte ohne Grenzen, die 1986 in Afghanistan durchgeführt wurde. Das Land ist zerrüttet vom Krieg gegen die Sowjetunion, die afghanischen Widerstandskämpfer werden von Pakistan aus mit Waffen vorsorgt, die humanitäre Situation ist katastrophal. Das Ärzteteam aus Frankreich wird von Didier Lefèvre, einem französischen Fotografen, begleitet. Er dokumentiert die Arbeit der Ärzte und wird zu einem Augenzeugen der schwierigen Umstände, unter denen die humanitäre Hilfe funktionieren muss. Die Geschichte besitzt einen starken, referentiellen Wirklichkeitsbezug: Die Figuren des Comics basieren auf „menschlichen Vorbildern”, die Fotografien stammen von Didier Lefèvre, der gleichzeitig der Ich-Erzähler der Geschichte ist. 3.3.1 Die Entstehungsgeschichte Die Entstehungsgeschichte des Comic Der Fotograf ist überaus spannend: 1986 begleitet der französische Fotograf Didier Lefèvre die humanitäre Organisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières) ins afghanische Kriegsgebiet. Hier erstellt er, unter widrigsten Umständen, seine erste große Fotoarbeit im Ausland. Nach Lefèvres Rückkehr nach Frankreich erhält er für seine fotografische Reportage eine Doppelseite in der Zeitung Libération. Das stellt für Lefèvre einen bemerkenswerten Erfolg dar, er ist zufrieden. Ein Freund Lefèvres, der erfolgreiche Illustrator Emmanuel Guibert, sah aber mehr Potential in der Geschichte und schuf anhand von Didier Lefèvres Erzählungen einen Comic. Interessanterweise plante Guibert, sofern man seinen Angaben Glauben schenken darf, von Anfang an, Fotografien in den Comic zu integrieren und betont vor allen Dingen die Bedeutung der im Comic enthaltenen

160 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Kontaktabzüge, die seiner Auffassung nach dem Medium des Comicstrip sehr nahe stehen. Guibert gibt gibt an: „I also knew that the main difference between this and Alan171 would be the inclusion of the photographs, in combination with the drawings. And not only the photographs, but the contact sheets, which is an unknown – and now disappearing – object, generally reserved for professionals, but very interesting. The photographer writes and draws on them – it’s superb, and morphologically close to a comic strip.”172

Guibert schreibt und zeichnet die Geschichte seines Freundes, die sonst nur Freunden und Bekannten zugänglich wäre und deren fotografische Dokumente sonst fast ungesehen im Archiv verbleiben würden. In einem Interview im Schweizer Fernsehen gibt Guibert die Motivation an, dass er sich den Luxus erlauben wollte, eine Geschichte zu erzählen, die in den Zeitungen nur wenig, zu wenig Raum erhalten kann.173 Ein dritter Akteur tritt mit dem Coloristen und Grafikdesigner Frédéric Lemercier hinzu, der nun ein Werk gestaltete, dass die Fotografien Lefèvres mit den Zeichnungen Guiberts vereinte.174 Die dreiteilige Foto-Comicreihe Der Fotograf avancierte zu einem internationalen Überraschungserfolg und wurde bislang in acht Sprachen übersetzt. 3.3.2 Aufbau und Gestaltung des Comic Die Comicreihe Der Fotograf besteht aus drei Bänden, wovon der dritte Band der umfangreichste ist. Im ersten Teil geht es im Wesentlichen um die beschwerliche Einreise nach Afghanistan durch das Gebirge an der pakistanisch-afghanischen Grenze. Der zweite Band handelt von der Arbeit der Ärzte vor Ort und der dritte beschäftigt sich mit Lefèvres abenteuerlicher Rückkehr nach Pakistan, die er allein bewältigt. Die Elemente des Comics sind gezeichnete Panels (teils mit, aber hauptsächlich 171 | Alan’s War (engl. 2008) ist ein vorangegangener Comic Guiberts, der ebenfalls ein geschichtliches Ereignis (II. Weltkrieg) aus der Sicht eines Beteiligten erzählt. 172 | Emmanuel Guibert in einem Interview mit Matthias Wivel. Matthias Wivel, The Emmanuel Guibert Interview. In: The Comic Journal. No. 297, April 2009. S. 107. 173 | http://www.sf.tv/sf1/kulturplatz/index.php?docid=20080730 vom 10.01.2009. 174 | Guibert betont in einem Interview die wichtige Rolle Lemerciers: „I fully relied on him for the insertion of the photographs into the corpus of drawings, and for the colors. His taste, his „absolute eye”, his culture of graphic design and profiency with a computer were absolutely indespensable to me[...]” (Guibert 2009. S. 109.)

3.3. Comic und Fotografie | 161

ohne Sprechblasen), Panels, die nur Text enthalten und Abdrücke von Fotografien in einem schwarzen Rahmen oder von Teilen eines Rollfilms. Zahlreiche der fotografischen Bilder sind so abgedruckt, dass sie die Materialität des Rollfilms (in diesem Fall ein Illfert HP 5) erkennen lassen. Der Kontaktabzug weist häufig Markierungen auf, die bestimmte Fotografien hervorheben. Es ist anzunehmen, dass die markierten Fotografien diejenigen sind, die von Lefèvre als besonders gut wahrgenommen wurden. In die Fotografien selbst wurde sonst nicht eingegriffen, oft stehen sie aneinandergereiht für sich, lassen sich aber meist problemlos in den Kontext der Geschichte einbetten und mit dem Erzählten verknüpfen. Nur in einigen Ausnahmefällen kann kein Bezug der Fotografie zu den sie umgebenden Texten und Zeichnungen ausgemacht werden. Das Verhältnis von Fotografie und gezeichnetem Panel gestaltet sich derart, dass etwas mehr als halb so viele Fotografien wie gezeichnete Bilder existieren. Hinzu kommen die Panels, die nur Text enthalten. Trotz der quantitativen Dominanz der mit Text versehenen Zeichnungen gestaltet sich das Verhältnis zwischen den Medien ausgeglichen. Da es auf den Fotografien in der Regel mehr zu entdecken gibt, als in der Zeichnung, erfordern diese eine längere Rezeptionszeit und gleichen so ihre Unterzahl aus. Die Panels sind klar voneinander getrennt, rechteckig und meist in ähnlicher Größe. Die Fotografien sind ebenfalls überwiegend in der Größe der sie umgebenden Panels abgedruckt; hier gibt es aber einige Abweichungen: Wenn der Rollfilm deutlich zu erkennen ist, sind die Fotografien meist kleiner, dafür existieren aber an verschiedenen Stellen auch größere Fotografien. Im dritten Band nimmt eine Landschaftsfotografie sogar eine ganze Doppelseite ein (DF3 60/61). Meist korrelliert die Größe der Fotografien entweder mit ihrer Bedeutung für die Geschichte oder mit ihrem ästhetischen Wert. In dem genannten Fall der doppelseitigen Landschaftsaufnahme ist die Fotografie deswegen von großer Bedeutung für den Erzähler und Fotografen Lefèvre, da er glaubt, dies sei die letzte Fotografie seines Lebens und ihr semantischer Inhalt der Ort, an dem er sterben wird. Die Fotografien sind bis auf eine einzige Ausnahme schwarz-weiß und folgen damit den Idealen klassischer Dokumentarfotografie.175 Die Farbtöne der Zeichnung sind zum großen Teil Braun-, Grün-, Gelb-, und

175 | Im Zeitalter der analogen Fotografie waren Schwarz-Weiß-Aufnahmen in der Dokumentarfotografie weitaus üblicher als heute. Dieses hing wohl auch damit zusammen, dass die Fotografien in der Regel für Zeitungen erstellt wurden und somit sowieso nicht in Farbe abgedruckt wurden.

162 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Grautöne, die nicht nur mit der Fotografie, sondern auch mit der Landschaft Afghanistans harmonieren. Auf den bildlosen Panels wird der Text mit einem Gelbton unterlegt, die Sprechblasen sind weiß. Der Gesamteindruck ist so sehr harmonisch, die Fotografien integrieren sich gut in die Panels, was zum Eindruck beiträgt, dass alle gezeigten Medien an der Konstruktion der Geschichte beteiligt sind. 3.3.3 Die Literarizität des Textes im Comic Der Fotograf Zu Beginn der Analysen sollte auf die Frage eingegangen werden, inwiefern der Text des Comic als literarischer Text zu verstehen ist. Der Comic verweist auf die Realität einer humanitären Mission und ähnelt in Aufmachung und Sprache vielfach einer Reportage, da der geschriebene Text durchaus einen dokumentarischen, wenn auch subjektiven Duktus besitzt. Subjektivität ist bei Reportagen jedoch meist ein erwünschtes Phänomen und verweist nicht zwangsläufig auf Fiktionalität und somit Literarizität. Weiterhin sind die Sprache und die Sätze einfach gehalten und scheinen auf den ersten Blick gar nicht mehrdeutig oder ästhetisch geformt sein zu wollen. In Verbindung mit den Fotografien und Zeichnungen aber wird im vorliegenden Comic aus dem sonst recht nüchternen Text ein literarisches (Kunst-) Werk. Der Text erhält durch die Verbindung mit anderen Medien Polyvalenz und wird durch seine Integration in einen Comic mit einem Rezipienten konfrontiert, der aufgrund des gewählten Mediums, dem Comic, keinen Anspruch erheben wird, dass alles, was hier gesagt wird, in der Realität überprüfbar sein muss. Diese Erwartungshaltung wird dadurch bestätigt, dass der Rezipient zu Beginn des Comic erfährt, dass die Wirklichkeit der Geschichte durch mehrere Instanzen gebrochen und zu einem Kunstwerk überarbeitet worden ist. Ebenso wie die Fotografie als solche zwischen Kunstprodukt und Dokument oszillieren kann, so bewegt sich auch der Text im Comic Der Fotograf zwischen Sachtext (Reportage) und literarischem Text. Durch die Zugabe von Fotografien wird der Text ästhetisiert und an einigen Stellen durchaus mehrdeutig und mannigfaltig interpretierbar. 3.3.4 Von der Unwiederbringlichkeit der Dokumentarfotografie Emmanuel Guibert ließ sich, wie oben erwähnt, von Lefèvre selbst die Geschichte seiner Fotoreportage erzählen, die dieser nicht nur aus Erinnerungen, sondern auch aus Tagebucheinträgen rekonstruiert. Bei der humanitären Mission in Pakistan und Afghanistan fotografierte Lefèvre nicht nur, er machte auch schriftliche Aufzeichnun-

3.3. Comic und Fotografie | 163

gen, sooft es die Strapazen der Reise zuließen.176 Diese schriftlichen Aufzeichnungen besitzen zwar nicht die Indexikalität der Fotografie, dennoch besitzen sie einen praktischen Vorteil: Texte können auch nach dem Ereignis noch niedergeschrieben werden. Diese Tatsache beschreibt Henri Cartier-Bresson177 in Abgrenzung von der Fotografie wie folgt: „Von allen Ausdrucksmitteln ist die Fotografie einzigartig darin, einen Augenblick genau festzuhalten. Wir spielen mit den Dingen, die entschwinden und wenn sie weg sind, ist es nicht mehr möglich, sie wieder ins Leben zurückzuholen. Man verändert sein Motiv nicht, kann es höchstens unter den Bildern auswählen, die man für die Reportage gesammelt hat. Ein Schriftsteller hat Zeit nachzudenken, bis sich ein Wort gebildet hat und er es auf das Papier bringen kann; er kann mehrere Teile verbinden. . . . Was für uns Photographen verschwindet, bleibt für immer verschwunden. Daraus kommen die Ängste und die Originalität unseres Handwerks. Einmal in das Hotel zurückgekehrt, können wir die Reportage nicht wiederholen.“178

Interessanterweise trifft die Tatsache, dass schriftliche Aufzeichnungen auch nach dem Ereignis erstellt werden können, auch auf Zeichnungen zu. Der Zeichner Guibert muss im Gegensatz zum Fotografen Lefèvre nicht vor Ort sein, um Bilder des Geschehens anfertigen zu können. Er kann diese im Nachhinein, mit Zeit und Ruhe und einer Außenperspektive, anfertigen. Auch wenn in einem interessanten Moment die Kamera nicht zum Einsatz kommen konnte, kann eine Zeichnung das Geschehen visuell erfahrbar machen. Dieser Vorteil der Zeichnung wird für den Rezipienten erfahrbar, wenn Lefèvre179 auf dem Markt ein Pferd ausprobiert, das für die Karawane ausgewählt wurde. Es geht 176 | http://www.sf.tv/sf1/kulturplatz/index.php?docid=20080730 vom 20.06.2010. 177 | Henri Cartier-Bresson gründete 1947 gemeinsam mit anderen Fotografen die Bildagentur Magnum, deren Name bis heute eng mit der Livefotografie verbunden ist. Magnum-Fotografen berichteten aus allen Teilen der Welt und schienen stets dort zu sein, wo wichtige Ereignisse stattfanden. Nur wenigen Fotografen ist es vergönnt für Magnum zu arbeiten, trotz einer großen Anzahl von Bewerbern bleibt die Mitgliederzahl auf 36 beschränkt, die Bildagentur bleibt somit ein „exklusiver Eliteclub“. (Willfried Baatz, Geschichte der Fotografie. Ein Schnellkurs. Köln 2008. S. 160/161.) 178 | Henri Cartier-Bresson, Die Suche nach dem rechten Augenblick. Berlin 1998. S. 16. 179 | Wenn ich im folgenden von Lefèvre spreche, meine ich nicht Didier Lefèvre als tatsächliche Person, sondern als eine Figur im Comic, die selbstverständlich den „echten“ Lefèvre darstellen soll. Möchte ich von dem tatsächlichen Lefèvre sprechen, werde ich vom Fotografen Lefèvre schreiben. Ähnliches gilt für die anderen Personen,

164 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

mit ihm durch und man erkennt auf den Zeichnungen, wie sehr sich Lefèvre bemühen muss, im Sattel zu bleiben. Als Juliette ihm nachher scherzhaft sagt: „Schade, dass Du keine Hand frei hattest, das wären tolle Fotos geworden“, (DF1 17) wird dem Rezipienten deutlich, dass (Dokumentar-) Fotografien im Gegensatz zu Zeichnungen nur in ganz bestimmten Momenten erzeugt werden können. Wird in diesen Momenten aus irgendeinem Grund versäumt, die Fotokamera einzusetzen, ist der Moment für eine Fotografie verloren, allerdings nicht für eine Zeichnung oder aber eine schriftliche Aufzeichnung. Die von Cartier-Bresson oben beschriebene Angst des (Live-)Fotografen, wichtige oder ästhetisch interessante Dinge nicht fotografisch festhalten zu können, wird vielleicht auch bei Lefèvre durch den Kommentar Juliettes geschürt. Sollte ein ähnlicher Ausspruch in der Wirklichkeit tatsächlich erfolgt sein,180 könnte dieser den Fotografen Lefèvre zu seinen schriftlichen Aufzeichnungen getrieben haben. Das, was nicht fotografiert werden konnte, sollte zumindest schriftlich festgehalten werden, um so ein vollständigeres Bild der Geschehnisse zu erzeugen. Die Flüchtigkeit des Momentes, der ein gutes Foto ermöglicht, wird auch an anderer Stelle subtil thematisiert. Eine groß abgedruckte Fotografie zeigt einen Esel, der auf einem Felsen liegt. Der Text erklärt uns, dass er im reißenden Wasser durch die schwere Last aus dem Gleichgewicht geraten ist und dass die Mudschaheddin, die afghanischen Widerstandskämpfer, ihm das Gepäck abgenommen und ihn auf einen rettenden Stein gehoben haben (DF1 73/74). Ein Kontaktabzug ist in mehreren Streifen im Comic abgedruckt und zeigt zum einen den Vorgang, wie der Esel auf den Felsen gelangte, zum anderen aber auch mehrere Variationen des oben beschriebenen Motivs, nämlich den auf dem Felsen liegenden Esel, der von zwei Männern flankiert wird. Das gelungenste der Fotos wird auf dem Rollfilm markiert. Obwohl die letzen acht Aufnahmen alle das Gleiche abbilden, also alle das Ereignis dokumentieren, wird dennoch eine Fotografie ausgewählt, nämlich die ästhetisch anspruchsvollste. Der Auswahlprozess des Fotografen wird also mitreflektiert. Ebenso reflektiert wird die Arbeit des Fotografen und hier vor allem die Rolle des Glücks und des Zufalls für die Fotografie. Didier Lefèvre kann nicht genau sagen, wann und wie er

die ich als Comicfiguren betrachten möchte, auch wenn sie natürlich in besonders hohem Maße auf tatsächliche Personen zurückzuführen sind. 180 | Guibert gibt an, dass Dialoge selbstverständlich weder aufgezeichnet wurden, noch nach vielen Jahren wortgenau rekonstruiert werden konnten. Guibert schuf neue Dialoge, legte sie aber Lefèvre oder anderen Mitgliedern der Mission vor, um ihre Plausibilität überprüfen zu lassen. (Guibert 2009. S. 108.)

3.3. Comic und Fotografie | 165

Abbildung 3.3: Der Fotograf I. S. 73.

abdrücken muss, um ein gutes Foto zu erhalten. Er verlässt sich statt dessen auf sein „Gefühl“. „Ich fotografiere viel. Beim Knipsen habe ich das Gefühl, dass ein gutes Foto drinliegt. Es ist wie beim Angeln, wenn etwas anbeißt. Jedes Mal, wenn ich abdrücke, halte ich den Atem an. Wenn ich meine Arbeit gut gemacht habe, müsste es hier dabei sein, unter den letzten fünf bis sechs Aufnahmen.“ (DF1 73)

Lefèvre muss sich auf seinen Instinkt verlassen. Bei der analogen Fotografie muss der Fotograf dies tun, er kann sein Bild erst betrachten, wenn es entwickelt worden ist. Auf das latente Bild, das sich in seiner Kamera befindet, kann er keinen Einfluss mehr nehmen, bis er die Dunkelkammer betritt. Auch dieses latente Bild ist ein spezifisches Charakteristikum der analogen Fotografie. Ich denke, dass Lefèvre auf die Besonderheit des latenten Bildes anspielt, wenn er im Konjunktiv formuliert „Wenn ich meine Arbeit gut gemacht habe, müsste es hier dabei sein“ (DF1 73). Im Gegensatz zum Maler, der sein Werk immer anschauen und verbessern kann, kann der Fotograf einen möglichen Erfolg nur erahnen. Wenn er sich geirrt hat und kein gutes Bild bei den Aufnahmen dabei ist, so ist seine Chance, zumindest bei der Dokumentarfotografie, die keine Arrangements trifft, für immer verloren. Dieses meint auch Cartier-Bresson, wenn er schreibt:

166 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

„Man muss sich allerdings während der Arbeit sicher sein, keine Lücke ausgelassen und alles ausgedrückt zu haben, sonst ist es zu spät. Das Ereignis kann nicht von hinten nach vorne aufgerollt werden.“181

Und noch ein weiterer Punkt sollte hier genannt werden, wenn es um einen Bezug zwischen Lefèvre und Cartier-Bresson geht. Dieser sagte auch: „Fotografieren heißt den Atem anhalten, wenn sich im Augenblick der flüchtigen Wirklichkeit all unsere Fähigkeiten vereinigen.“182 Dass Lefèvre ebenso von „Atem anhalten“ spricht, kann natürlich ein Zufall sein, es ist aber wahrscheinlich, dass er sich hier explizit auf Cartier-Bresson und die Ideale der Bildagentur Magnum bezieht. Diese Ideale beinhalten auch ein aufrichtiges „Zeugnis-Ablegen“ des Fotografen. Es ist möglich, dass der Fotograf Lefèvre sich als Dokumentarfotograf mit den Idealen Magnums identifiziert hat, und dass diese Position durch die Erzählerfigur Lefèvre reflektiert wird. Der Fotograf verweist auf jegliche „Täuschungen“ der Fotografien wie Pose, Verkleidung und Arrangement und verleugnet nicht, dass die Fotografie gelegentlich auf die Hilfe des geschriebenen Textes angewiesen ist, wenn sie von Ereignissen „berichten“ will. 3.3.5 Von der fruchtbaren Symbiose zwischen Text, Zeichnung und Fotografie Vielleicht fertigte der Fotograf Lefèvre seine schriftlichen Aufzeichnungen aber auch aufgrund einer gewissen Skepsis gegenüber dem Medium Fotografie an. Er schien seinen Fotografien einige Erklärungen hinzufügen zu wollen, als meine er, dass Fotografien nicht für sich allein stehen können, wenn sie Sachverhalte erklären sollen. Auch Emmanuel Guibert und Frédéric Lemercier verlassen sich im Comic nicht allein auf die Potentiale der Fotografie. Lefèvre, Guibert und Lemercier begnügen sich nicht damit, ihre Geschichte, die sie als „wahre“ Geschichte erzählt wissen wollen, nur durch Bilder oder nur durch Text zu vermitteln. Sie sind sich einig: Die Geschichte der humanitären Aktion von Ärzte ohne Grenzen braucht Texte und Bilder, genauer Texte, Zeichnungen und Fotografien, die sich ergänzen. Auch wenn es möglich wäre, nur durch aufeinander folgende Fotografien eine narrative Struktur zu erzeugen, so wählt Guibert doch die klassische Comicform aus Text und Zeichnung, um von den Abenteuern Lefèvres zu erzählen und ergänzt diese Form bewusst durch Fotografien. Als alleiniges erzählendes Medium erscheint die Fotografie somit al-

181 | Henri Cartier-Bresson, Die Suche nach dem rechten Augenblick. Berlin 1998. S. 15. 182 | Henri Cartier-Bresson, zitiert nach: Baatz 2008. S. 161.

3.3. Comic und Fotografie | 167

len drei Verfassern des Comics als unzureichend. Auch in der heutigen Fototheorie herrscht die Meinung vor, dass ein Tatsachenbericht durch eine Bildreportage allein nicht möglich ist. Susan Sontag verweist darauf, dass Fotografien uns nicht dabei helfen können, etwas zu begreifen. Erzählungen hingegen können bestimmte Vorgänge verständlich machen. Auch die Verfasser des Comic vertreten hier wohl die gängige Ansicht, dass sich die Fotografie in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Sprache befindet,183 genauer, dass die Fotografie „auf die Hilfe des geschriebenen oder gesprochenen Wortes angewiesen“184 ist. Dieses Statement wirkt so passend auf den Comic Der Fotograf, dass die Grundannahme, dass das Zusammenspiel zweier Medien die Sichtbarkeit der einzelnen Medien noch potenziert, noch nicht hinreichend erscheint. Es ist durchaus möglich zu behaupten, dass der Comic Der Fotograf eine fast schon explizite Auseinandersetzung mit der Fototheorie ist; die von den Autoren bewusst oder unbewusst gestaltet wurde. Was durch Fotografien, Zeichnungen und Texte über das Medium Fotografie und sein Zusammenspiel mit anderen Medien ausgesagt wird, gleicht komplexen theoretischen Reflexionen und weist eben durch diese Selbstreflexivität den Comic als Kunst aus. Im Comic Der Fotograf bestätigen sich Text und Fotografie gegenseitig und bei besonders drastischen Szenen verleiht die Fotografie dem Text nicht nur Evidenz, sondern verstärkt den Text sogar, geht eine additive Verbindung185 mit ihm ein. Folgendes Beispiel vermag dieses Phänomen zu illustrieren: Der Ich-Erzähler teilt mit, dass die Nacht durchmarschiert wurde und dass in der Pause alle so erschöpft sind, dass selbst die Pferde sich hinlegen. Auf der Fotografie sieht man dann Menschen und Pferde wie willkürlich verstreut auf der Wiese liegen. Menschen und Tiere haben sich an Ort und Stelle niedergeworfen, um auszuruhen so gut es die raue Landschaft eben zulässt. Es fällt auf, dass das Pferd in der fremden Umgebung so flach daliegt, wie man die Fluchttiere sonst nur in einem vertrauten und sicheren Umfeld daliegen sieht. Der im Text erwähnte Erschöpfungszustand wirkt auf den Fotos viel dramatischer. Die Kraftlosigkeit eint Mensch und Tier, und diese tragische Einheit ist auf den Fotografien in aller Deutlichkeit sichtbar. In anderen Momenten kann aber auch die Zeichnung die Botschaft des Textes und

183 | Vgl. hier beispielsweise: Barthes 1990. S. 34-36. 184 | Rudolf Arnheim, Glanz und Elend des Photographen. In: Ders., Die Seele in der Silberschicht. Frankfurt a. M. 2004. S. 52. 185 | Der Terminus additive Verbindung stammt aus der Comictheorie und bezeichnet das Phänomen, dass das Bild den Text verstärkt (oder umgekehrt). Vgl. McCloud 1994. S. 154.

168 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

der Fotografie verstärken. Sie kann Gesichts- und Körperausdrücke überzeichnen und so noch stärker wirken lassen. Seltener sind Text und Fotografie nicht oder nur uneindeutig aufeinander bezogen. Dieses Phänomen lässt sich anhand der Schilderung eines Marktes nachvollziehen. Der Erzähler beschreibt, wie Lasttiere für die Karawane von Pakistan nach Afghanistan eingekauft werden. Er beschreibt dieses wie folgt: „Ich beobachte den Handel. Verkäufer und Käufer reichen einander die Hand. Alles versammelt sich um sie herum. Eine Art Schiedsrichter überwacht das Gespräch. Damit der Handel vertraulich bleibt, werden die Hände bisweilen mit einem Tuch bedeckt. Dann reden sie miteinander durch Bewegen oder Druck der Finger. Die Finger des einen schlagen eine Summe vor, die Finger des anderen akzeptieren oder lehnen ab. Das ist ihr Code, eine Art Sprache, dazu Mimik und Blicke. Manchmal sieht man, wie einer seine Hand zurückreißt, weil er das Angebot indiskutabel findet. Das zu Fotografieren ist wunderbar.“ (DF1 13)

Der letzte Satz zeigt, dass es für den Erzähler noch großartiger ist, etwas zu fotografieren als etwas nur zu sehen. Durch das Fotografieren scheint er sich den ihm kulturell fremden Vorgang besser aneignen und erschließen zu können. Der letzte Satz impliziert außerdem, dass seine Beschreibung wohl schwach ist im Vergleich zu den fotografischen Bildern, die den außergewöhnlichen Eindruck ganz anders festhalten können. Eine Verhandlung, die man nicht hören, wohl aber sehen kann, eignet sich außerdem sehr gut für eine fotografische Abbildung. Umso verwunderlicher ist es, dass keine Fotografie unter den Text gesetzt wurde, sondern eine Zeichnung. Erst auf der folgenden Doppelseite sind die Fotografien zu sehen, die den Tierhandel zeigen. So kann der Rezipient die drei Medien Text, Zeichnung und Fotografie direkt gegenübergestellt betrachten und sich so ein eigenes Urteil bilden, welches Medium zur Schilderung des Geschehens am geeignetsten erscheint. Im Gegensatz zu einer fotografischen Reportage in einer Zeitung, bei der der Fotograf nur einige wenige repräsentative Fotografien für den Abdruck auswählen darf, erlaubt es das vorliegende Medium eine breitere Masse an Fotografien zu zeigen und somit auch ein umfassenderes Bild der Situation zu geben. Genauso simultan wie der Ich- Erzähler den Tiermarkt wahrnimmt, muss der Rezipient des Comics die fotografischen Eindrücke wahrnehmen. Die einzelnen Fotografien sind nicht chronologisch angeordnet oder in thematische Gruppen sortiert worden, sondern quer durcheinander gewürfelt. Auf diese Art wird die Stimmung des Marktes wiedergegeben, der dem westlichen Besucher so viele neue Eindrücke zu vermitteln vermag. Sechs der sechzehn Fotografien, die auf der Doppelseite abgedruckt sind, zeigen die beschriebene

3.3. Comic und Fotografie | 169

Verhandlung durch die Sprache der Finger. Im Gegensatz zu Text und Fotografie stellt diese Verhandlung eine Kommunikationsform dar, die dem westlichen Rezipienten völlig fremd ist, auch wenn ihm natürlich der Verkaufsabschluss durch „Handschlag“ bekannt ist. In Europa wird mit Worten verhandelt. Würde der Text keine Erklärung für die Berührungen der Hände, vor allen Dingen für die Berührungen unter den Tüchern, liefern, so wüsste der Rezipient kaum, was gerade geschieht. Die Fotografie vermag den Text zu illustrieren oder sogar wie oben erwähnt zu verstärken. Der Text ist hier aber in der Lage, uns einen unbekannten Vorgang zu erklären. Ohne die Hilfe des Textes würden nur wenige Leser das, was die Fotografie zeigt, adäquat deuten können. Das bedeutet aber auch, dass der Text den Rezipienten bei der Betrachtung der Fotografien „lenkt“. Während Fotografien ohne beschreibenden Text dem Betrachter völlige Freiheit in seinen Interpretationen lassen, geben Texte einen bestimmten Blickwinkel auf die Fotografie vor. Dieses lässt sich sicherlich am besten an Zeitungstexten nachvollziehen. Hier sollte keineswegs außer acht gelassen werden, dass der Text nicht zwangsläufig zur Fotografie gehört. Der Text vermag den Betrachter des Bildes durchaus auch „auf die falsche Fährte zu lenken“. Bei der Zugabe eines literarischen Textes zu einer Fotografie verhält es sich natürlich ein wenig anders. Die der Literatur eigene Polyvalenz liefert selbst Raum für unterschiedliche Leseweisen. Daher kann man durchaus davon sprechen, das der literarische Text der Fotografie Bedeutungen nicht aufzwingt, sondern durch seine eigene semantische Offenheit weiterhin viele unterschiedliche Interpretationen zulässt und die Überlegungen über die Fotografie sogar bereichern kann. Sofern der die Fotografie ergänzende Text nicht unreflektiert wahrgenommen wird, vermag dieser die Bedeutungsdimensionen der Fotografie zu erweitern. Er kann Hinweise geben und erklären, der Rezipient muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass diese Hinweise und Erklärungen falsch sein können. 3.3.6 Objektivität im Comic Der Fotograf Das optische System der Fotokamera, das für die Erzeugung von Bildern verantwortlich ist, wird gemeinhin als Objektiv bezeichnet. Schon dieser Name impliziert, dass die Fotografie durch den technischen Apparat, der die Bilder aufnimmt, Objektivität verheißt. In der heutigen Fototheorie ist diese Einschätzung jedoch zurecht umstritten. Während André Bazin noch 1945 schreibt, dass die wesentliche Eigenschaft der Fotografie ihre Objektivität sei,186 so werden heute vermehrt Ansichten 186 | Vgl. Bazin 2006. S. 62.

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vertreten, die der folgenden ähneln: „die einzige objektive Wahrheit, die uns Fotografien bieten, [ist] . . . die Behauptung, dass irgendjemand . . . irgendwo war und eine Aufnahme gemacht hat.“187 Dieser „Mangel“ der Fotografie ist aber gleichzeitig auch die Stärke dieser Kunst. Denn dadurch, dass die Fotografie auf unschuldige Weise scheinbar denotativ auf Ihren Gegenstand verweist, präsentiert sie sich als indexikalisches, „passiv-transparentes, allein auf die Bestandsaufnahme vorgängiger Realitäten beschränktes Medium.“188 Obwohl sich die Fotografie, wie Glasenapp schreibt, als objektives Medium präsentiert, ist sie nicht objektiv: Fotografen wählen Ausschnitte und Belichtung, arrangieren eine Kulisse, fordern die Fotografierten zur Pose auf, warten auf einen fotografisch besonders interessanten Augenblick und bestimmen, welche Momente festgehalten werden und welche nicht. Bei der Entwicklung der Fotografien kann auf Farben und Kontraste leicht Einfluss genommen werden. Auch die Kamera selbst ist durch ihre spezifische Machart beschränkt, einige Kameras eignen sich eher für Landschaftsfotografie, einige für Schnappschussaufnahmen. Folglich ist es nicht nur der Fotograf, sondern auch die Industrie, die in die Beschaffenheit der Fotografie eingreifen. Somit kann von einer fotografischen Objektivität keine Rede sein, auch wenn es letztendlich der technische Apparat ist, der die Bilder festhält.189 Susan Sontag spricht interessanterweise von einer ganz anderen Art der fotografischen Objektivität. Sie schreibt: „Fotos objektivieren: sie machen aus einem Geschehen oder einer Person etwas, das man besitzen kann.“190 Diese Ansicht lässt sich besonders gut anhand von Fotografien nachvollziehen, die leidende Menschen abbilden: Die Dargestellten verlieren ihre Individualität, werden zum anonymen Opfer im Allgemeinen und somit auch zu einer Projektionsfläche für die Vorstellungen des Betrachters. Der Ich-Erzähler Lefèvre geht ungewöhnlich behutsam mit der Problematik um, dass die fotografische Praxis das fotografierte Subjekt zum Objekt degradieren kann. Er legt seinen eigenen, individuellen Blick auf die Fotografierten offen und zeigt somit, dass seine Abbildung nicht einer „Wahrheit“ entspricht, sondern nur seinen subjektiven Ansichten. Zweitens degradiert er die Personen, die fotografiert werden, nicht zu anonymen Objekten: Er fragt, ob er fotografieren darf, die Geschichte ihres 187 | Sekula 2006. S. 125. 188 | Glasenapp 2008. S. 34. 189 | Die bereits in Kapitel 2.9 ausführlich besprochenen Diskussionen um die Objektivität des fotografischen Bildes wurden an dieser Stelle knapp wiederholt, weil sie für die Comicserie Der Fotograf von enormer Bedeutung sind. 190 | Sontag 2003. S. 94.

3.3. Comic und Fotografie | 171

persönlichen Leidens wird erzählt, Lefèvre teilt mit, wenn einer der Fotografierten eine Pose einnimmt und somit auf eine bestimmte Art und Weise wirken möchte. Besonders behutsam geht er vor, wenn er die islamische Frau fotografieren möchte: Es geht ihm nicht darum, stereotype Ansichten zu perpetuieren, vielmehr möchte er ein Bild in Einverständnis mit den Fotografierten erzeugen. Aus dieser Sensibilität für die Fotografierten und das Fotografieren resultiert allerdings, dass es von einigen Gelegenheiten keine Fotografien gibt. So wagt er beispielsweise nicht, die Afghanen beim Beten in einer Moschee zu fotografieren, obwohl ihm hier sogar eine „Besonderheit” auffällt: „Das Gebet beginnt. Was mir gefällt ist, dass nicht alle bei der Sache sind. Sie machen zwar mit, praktizieren die Gesten, aber einige lassen sich durch meine Anwesenheit ablenken und verpassen den Anschluss. Ich wage nicht, das fotografisch festzuhalten.” (DF3 9)

Hier zeigt sich, dass Zeichnungen vor allen Dingen dann zum Tragen kommen müssen, wenn kein Bild gemacht werden konnte, ähnlich wie in der zuvor beschriebenen Passage, als Lefèvre kein Bild machen konnte, weil das Pferd mit ihm durchging. Die Gründe, warum eine Fotografie nicht entstehen kann, sind folglich mannigfaltig. Die These von Lefèvres außerordentlicher Senisibilität für die Fotografierten und das Fotografieren lässt sich untermauern, wenn man im Comic die Äußerungen nachliest, die Didier Lefèvre über das richtige Fotografieren anstellt. Er meint, dass ein Fotograf dann gute Fotos macht, wenn er nicht über den Gebrauch der Kamera nachdenkt (DF1 60), und ergänzt: „Eine Verbesserung der Fotos verläuft notwendigerweise über eine Verbesserung der Beziehung zu den Menschen.“ (DF1 61) Mit dieser Auffassung ist Lefèvre nicht allein. Auch an dieser Stelle findet er Unterstützung bei Cartier-Bresson, der ebenfalls schreibt, dass das fotografische Handwerk stark von den Beziehungen abhängt, die man zu den (zu fotografierenden) Menschen herstellen kann. Im Idealfall sollte der Fotograf „sich und den Apparat vergessen“ machen.191 Mit seinen Bemerkungen über das fotografische Handwerk verweist Lefèvre auf Wesensarten des Mediums Fotografie und diese expliziten Verweise verknüpfen sich mit den zuvor und im folgenden beschriebenen impliziten Verweisen zu einer Schrift über die Ontologie des Mediums Fotografie.

191 | Vgl. Cartier-Bresson 1998. S. 17.

172 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

3.3.7 Fotografie und Narrativität Der Zeichner des „Fotografen”, Emmanuel Guibert, gibt an, dass er zunächst durch die Fotos Lefèvres zu seinem Comic inspiriert wurde. Er ist der Meinung, dass Fotografien uns stets dazu drängen, Geschichten zu erfinden.192 Seine Ansicht wird beispielsweise durch die Wissenschaftlerin Emma Kafalenas untermauert, die schreibt: “[...] a painting or a photograph with narrative implications offers the perceiver an experience that is comparable to entering a narrative in medias res, we ask ourselves what has happened, what is about to occur and where we are in the sequence of a narrative.”193

Auch Robert Akeret bestätigt Guiberts Annahme über die Fähigkeit der Fotografie, beim Betrachter das Erfinden von passenden Geschichten auszulösen. „By looking at photos with a critical eye and a fluid imagination, we see stories emerging: stories about personal quirks and desires, stories about how life changes and how it remains the same; stories about how time and space shape our lives.“194

Diese Zitate zeigen, dass einzelne statische Bilder, wie etwa Fotografien, Geschichten zwar nicht erzählen, wohl aber evozieren können: Die Rekonstruktion der Geschichte verdankt sich der Einbildungskraft des Rezipienten. Der Comicstrip hingegen basiert auf anderen Traditionen. Hier wird traditionell (auch) mit Bildern erzählt. Diese wirken keineswegs nur in Sequenzen. Auch ein einzelnes Panel zeigt durch Bewegungslinien (speedlines) oder durch Sprechblasen, die ein dialogisches Nacheinander andeuten, narratives Potential. Aus diesem Grund gilt die Fotografie auch als problematisch für den Comic: sie steht innerhalb dieses Kontextes in dem Ruf „sequentielle Narration einzufrieren.”195 Dass aber auch die Fotografie die Fähigkeit besitzt, narrativ zu sein, beweist der Comic Der Fotograf eindrucksvoll. Hier werden die Fotografien im Comic erstens in Sequenzen, auch mit gezeichneten Bildern, angeordnet, somit in ein zeitliches Nacheinander versetzt. Besonders die Kontaktabzüge, die bereits strukturell ein zeitliches Nacheinander vermitteln, spielen hier eine Rolle. Darüber hinaus wird die Fotografie

192 | http://www.sf.tv/sf1/kulturplatz/index.php?docid=20080730 vom 10.01.2009. 193 | Emma Kafalenas zit. nach Ryan 2004. S. 140. 194 | Akeret 2000. S. 13. 195 | Wivel 2009. S. 108.

3.3. Comic und Fotografie | 173

durch zwischengeschaltete Zeichnungen und durch einen Text ergänzt. Gleichzeitig bleibt das zuvor erwähnte Potential der Fotografie erhalten, Geschichten zu evozieren. Dieses kommt besonders dann zum Tragen, wenn die abgedruckten Fotografien ohne Zusammenhang zum umgebenden Text oder zu den gezeichneten Bilderfolgen stehen. Der Rezipient kann sie zwar in einen größeren Zusammenhang einordnen, ein detaillierter Hinweis zu dem, was sich auf dem Foto befindet wird jedoch nicht gegeben. Als Beispiel möchte ich hier die beiden Fotografien eines Jungen besprechen, der einen Sack durch die Berge trägt (DF2 70). Der Rezipient erhält durch den

Abbildung 3.4: Der Fotograf II. S. 70. umgebenden Text keine Informationen zu diesem Jungen und kann das Bild auch in keine Sequenz einordnen. Er fragt sich dennoch, was der Junge durch das Gebirge trägt, warum er es tut und vor allem, warum er so ängstlich in die Kamera blickt. Die Fotografie zeigt uns, dass jedes fotografische Bild einem größeren tatsächlichen Geschehen entstammt, das die Fotografie nicht offenbart. Es scheint, als würden im Comic verschiedene Möglichkeiten, Narrativität zu erzeugen, miteinander kombiniert, um einerseits das bestmögliche Ergebnis zu erzielen, aber andererseits wohl auch um die Grenzen des jeweiligen Mediums auszuloten. 3.3.8 „Wo es um Fotos geht, wird jeder zum Buchstabengläubigen“ Fotografie und Authentizität in der Comicreihe Der Fotograf Authentizität ist ein enorm wichtiges Element für das Verständnis und die Analyse der vorliegenden Comicreihe. Diese ist mehr als eine fiktionale Geschichte als Comicstrip, in der Fotografien mit einer für sie passenden Geschichte ergänzt worden sind. Der Comic ist gleichzeitig eine Reportage, mit Anspruch auf einen Bezug zu Tatsachen. Auf der einen Seite sollte der Comic die Realität einer humanitären Mission zeigen. Aber auf der anderen Seite sollte auch eine Geschichte erzählt werden. Als Medium, um die Geschichte von Didier Lefèvre dem Rezipienten nahe zu bringen,

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wurde der Comic gewählt,196 der zunächst nicht mit Objektivität und Wahrhaftigkeit in Verbindung gebracht wird. Allerdings sind, vor allen Dingen in den letzten Jahren, zahlreiche Comicreportagen erschienen, die referentiellen Bezug zu historischen Gegebenheiten aufweisen. Allerdings integrieren nur wenige Fotografien. Hier zeigt sich auch eine Sonderstellung des Fotografen: Der Protagonist der Comicreihe ist gleichzeitig der Produzent der enthaltenen Fotografien. Die Einbettung des Fotografen in seine Geschichte erzeugt gewiß nicht unabsichtlich eine Nähe zu dem heute gut bekannten „embedded journalism”.197 Diese Form des Journalismus kann auf der einen Seite eine hohe Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen, weil die Journalisten Teil der Gruppe sind, um die es eigentlich geht. Auf der anderen Seite führt die Innenperspektive des Journalisten zu einer hohen Subjektivität, er nimmt die Geschehnisse eher aus der Gruppe heraus wahr, anstatt aus einer Außenperspektive auf diese zu blicken. Somit ist diese Form dafür prädestiniert, die subjektive Wahrheit einer bestimmten Gruppe zu präsentieren. Embedded Journalism ist heute ein legitimes Verfahren, da der aufgeklärte Betrachter davon ausgeht, ohnehin keinen Zugriff auf eine objektive Wirklichkeit zu haben.198 Es ist auffällig, dass im Comic Der Fotograf weitgehend typische Merkmale des Comic wie Onomatopöien, Soundwords oder Piktogramme fehlen. Die Sprache ist dem ernsten Hintergrund angepasst. Auch bei der Zeichnung legte Emmanuel Guibert großen Wert darauf, dass die Art des Zeichnens mit dem Geschilderten harmoniert.199 Für die Arbeit an Der Fotograf bedeutete dieses vor allem, dass die Zeichnung auch zu den Fotografien passt, was für Guibert vor allen Dingen eine Reduktion des gezeichneten Geschehens auf das Wesentliche durch Verwendung einer weniger feinen Zeichenlinie bedeutete.200 Auch auf der Ebene der Zeichnung wird so auf künstlerische Weise die Realität des Fotografen reflektiert - wenn man so will, stellt dieses

196 | Dieses ist auch für Emmanuel Guibert nicht selbstverständlich, neben Comics arbeitet er auch an illustrierten Büchern oder an Storyboards für Filme. 197 | Zufällig entstand der Comic in dem Jahr, in dem „embedded journalism” erstmals praktiziert wurde. Es ist allerdings zu bemerken, dass sich der Terminus auf Kriegsjournalismus bezieht und dass die Journalisten hier vertraglich an das (U.S.amerikanische) Militär gebunden sind, was bei Lefèvre nicht der Fall ist. 198 | Auch in früheren Kriegen waren die Journalisten jedoch auf gewisse Weise in „ihre” Armee eingebettet, allein schon, weil sie auf die militärische Infrastruktur angewiesen waren. Diese Form der Einbettung wurde jedoch zugunsten einer objektiven Berichterstattung nicht offen gelegt. 199 | Guibert 2009. S. 109. 200 | Ebd.

3.3. Comic und Fotografie | 175

Verfahren also auch eine Authentisierungsstrategie dar. Guibert meint zu diesem Phänomen: „This is about rough conditions of life in a rough country – the drawings had to be attuned to that.”201 Überhaupt gesteht Guibert seinen Zeichnungen eine ganz eigene Realität zu, die es im Kontext der Authentizität zu reflektieren gilt. Er sieht in den Zeichnungen ein performatives Moment und das, was die Zeichnung zeigt, als real an: „[...] when I looked at a drawn corpse, I always had the feeling that the person was actually dead. In that sense, a drawing is much more authentic than a picture of an actor playing a part. Drawn people die for real. There are no actors in documentary comics, or in realistic fiction.”202

In diesem Sinne stellt sich die Frage nach der Authentizität einer Geschichte nicht, da sie eine eigene Wirklichkeit erschafft. Dennoch geht Der Fotograf über die beschriebene „intradiegetische Wahrhaftigkeit” hinaus, da er einen referentiellen Wirklichkeitsbezug besitzt und diesen auch betont. Dadurch, dass Der Fotograf eindeutig auf eine humanitäre Mission rekurriert, durch die eben genannten Mittel zur Steigerung der Glaubwürdigkeit und dadurch, dass der Comic eher wie eine Reportage anmutet, kann sich der Comic ein für ihn ungewöhnliches Publikum erschließen. Der Comic erscheint so angelegt, als ob er sich sowohl für eine fiktionale als auch für eine dokumentarische Lesart anbietet. Dennoch bleibt die Frage offen, ob der Rezipient des Comic diesen, vor allem aber die in ihm enthaltenen Fotografien, als authentisch, im Sinne von „wirklichkeitsgetreu” ansehen darf. Schließlich weiß der Leser durch die Paratexte um die Tatsache, dass dem Comic eine „wahre“ Geschichte zu Grunde liegt. Die Glaubwürdigkeit des Comics speist sich in erster Linie aus diesen Paratexten. Der Rezipient erfährt hier die Entstehungsgeschichte der Fotografien. Er lernt hier, dass diese tatsächlich entstanden sind, als Didier Lefèvre eine Mission von Ärzte ohne Grenzen begleitete. Und er weiß, dass sich die Geschichte des Comics aus seinen Tagebucheinträgen und seinen Erzählungen speist, ebenso wie aus den in Pakistan und Afghanistan geschossenen Fotografien. Der Rezipient lässt sich auf ein – wie ich formulieren möchte – „Spiel“ mit der Wirklichkeit ein und die Bedingungen dieses Spiels werden zu Beginn des Comics dargelegt: „Eine wahre Geschichte, fotografiert und erzählt von Didier Lefèvre, geschrieben und gezeichnet von Emmanuel Guibert, in Szene gesetzt und koloriert von Frédéric Lemercier.” (DF1 6) Der Leser erfährt durch die Paratexte, das

201 | Guibert 2009. S. 109. 202 | Guibert 2009. S. 110.

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der Comic auf einer wahren Begebenheit beruht, erfährt aber auch gleich zu Beginn der Geschichte, durch welche Instanzen die „wahre Geschichte“ gefiltert worden ist: durch die Fotografien und die Erzählung Didier Lefèvres, durch die Übersetzung Emmanuel Guiberts in Text und Bild und durch die Zusammenstellung und Farbgebung Frédéric Lemerciers. Der Rezipient weiß also, dass sich in Afghanistan eine Geschichte ereignet hat, die der im Comic dargestellten ähnelt, aber er weiß auch, dass die „Wirklichkeit“ durch mehrere Instanzen gebrochen wurde. Die Fotografien nehmen aufgrund dieser Paratexte dennoch eine „Beweisfunktion” ein, der der Betrachter Glauben schenken könnte. Im Gegensatz zu den Zeichnungen wird im Comic jedoch die Beweiskraft der Fotografie angezweifelt, obwohl deren Indexikalität außer Frage steht. Dieser Zweifel wird nicht explizit, sondern implizit kommuniziert, beispielsweise an mehreren Stellen, wo die „Pose“ oder ein „Verstellen“ der Fotografierten thematisiert wird. Im ersten Band etwa ist ein Rollfilm mit zahlreichen Fotos vollständig verschleierter Menschen zu sehen (DF1 34). Auf den ersten Blick nimmt der Rezipient an, es handele sich bei den Fotografierten um einheimische afghanische Frauen. Der IchErzähler Lefèvre schreibt jedoch, dass Juliette und die Krankenschwestern für ihn in Burka posieren. Alle, nicht nur die Frauen, haben Burkas gekauft, um sich ohne Aufsehen zu erregen, frei bewegen zu können. Meiner Ansicht nach findet hier eine Abgrenzung zur frühen Kolonialfotografie statt, bei der die Pose geleugnet wurde. Hier wurden Frauen, nicht selten Prostituierte, gemäß westlichen Stereotypen im Schleier in Szene gesetzt. Diese arrangierten Fotografien reproduzierten westliche Vorurteile über die islamische Frau, waren aber kein Dokument tatsächlicher Wirklichkeiten. Lefèvre deckt hier zum einen die Möglichkeit der Fotografie auf, durch Pose, Verkleidung und Arrangement falsche Annahmen beim Betrachter zu wecken. Gleichzeitig führt er diesem seine Wahrnehmungsgewohnheiten vor. Die Fotografie weckt beim Betrachter Assoziationen der unterdrückten islamischen Frau. Der Text jedoch spricht von der Möglichkeit, sich durch eine Burka frei bewegen zu können, nicht nur an dieser Stelle, sondern auch im zweiten Band, wo Juliette die Geschichte der Burka Lefèvre und natürlich dem impliziten Leser erklärt (DF1 64/65). Ganz ähnliches geschieht, wenn Lefèvre schreibt: „Eine Koran-Klasse wird für uns improvisiert“ (DF1 14). Hier gibt er zu, keineswegs die tatsächliche Lebenswelt der Afghanen zu dokumentieren, sondern viel mehr eine „touristische Attraktion“. Auch bei der einzigen Farbfotografie der Comicreihe thematisiert Lefèvre, wie falsch Fotografien auf den Betrachter wirken können. Da alle anderen Fotografien schwarz-weiß sind, sticht die farbige Fotografie hervor. Aufgrund ihrer Farben ähnelt

3.3. Comic und Fotografie | 177

sie den Zeichnungen Guiberts mehr als den anderen Fotografien Lefèvres. Dieser erklärt, wie es zu der Farbfotografie kam. Seine Nikon F2 Kamera fiel ins Wasser. Da er eine schöne Fotografie zu Juliettes Geburtstag machen wollte, und sich über die Funktionsfähigkeit seiner Kamera nicht sicher war, machte er ein Gruppenbild mit dem geliehenen Apparat eines Freundes. Er schreibt: „Die Mudschaheddin aus Teshkan, fast wieder zu Hause, posieren vor den stehenden MSF-Leuten. Ich sage: ,Lächeln, bitte!’. Die, die mich verstehen lächeln.“ (DF1 11) Auch auf dem Foto ist zu erkennen, dass hier posiert wurde. Somit wäre es keine Aufnahme, die in einer Fotoreportage aufgenommen würde. Sie wirkt eher, als sei sie für ein privates Album vorgesehen. Dennoch sind Text und Fotografie gemeinsam in der Lage, etwas über die Authentizität der Fotografie auszusagen: Dass nur einige der Fotografierten lächeln, hat entgegen der wahrscheinlichen Annahme des Betrachters nichts mit ihrer inneren Verfassung oder ihrer Einstellung zum Fotografiert-Werden zu tun, sondern lediglich mit einer Sprachbarriere. Der Fotograf kann nur auf die Pose bzw. die Mimik derjenigen einwirken, die ihn verstehen. Mit diesem Wissen kann sich der Betrachter erstens erschließen, ob die Fotografierten französisch können oder nicht und zweitens – und das ist bedeutsam für die Frage nach der Authentizität – erkennen, dass obwohl auf dem Foto alle durch Kleidung und wettergefärbte Haut wie Afghanen aussehen (mit Ausnahme der Blonden vielleicht), nur einige Afghanen sind. Auch an dieser Stelle wird im Text also neben der Pose auch die Verkleidung thematisiert, die beim Betrachter der Fotografien falsche Annahmen wecken kann. Daraus ergibt sich ein wirklich besonderes Phänomen: Der literarische Text scheint an einigen Stellen nämlich die Fotografie erst authentisch zu machen, indem er Posen, Verkleidungen und Schauspielerei offen darlegt. Liest man den Text nun ebenso als Dokument wie die Fotografien, so verleihen sich Text und Bild gegenseitig Authentizität, wenn man den Text jedoch als fiktionale Literatur liest, so erhöht sich lediglich die Authentizitätssuggestion. Der Rezipient sollte jedoch berücksichtigen, dass es sich bei den meisten der enthaltenen Fotografien um solche handelt, die zumindest den Anspruch haben, dokumentarisch zu sein. Schließlich plante der Fotograf Lefèvre keinen Comic, sondern eine Fotoreportage. Seine Fotos der AfghanistanMission wurden erstmals in einem nicht-fiktionalen Medium, nämlich der Zeitschrift Libération veröffentlicht. 3.3.9 Die Fotografie als Dokument des Leidens? Susan Sontag geht in ihrer Schrift Das Leiden anderer betrachten eingehend auf die Problematik von Fotografie in Krisenregionen o.ä. ein. Ihre Aussagen sind für den Fotografen besonders bedeutsam, da die hier abgedruckten Fotografien meist Leid,

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Anstrengung und ein vom Krieg geprägtes Land präsentieren, aber auf der anderen Seite auch ästhetisch erscheinen. Sontag schreibt: „Ein schönes Foto entzieht [. . . ] dem bedrückenden Bildgegenstand Aufmerksamkeit und lenkt sie auf das Medium selbst, wodurch der dokumentarische Wert des Bildes beeinträchtigt wird. Von einem solchen Foto gehen unterschiedliche Signale aus. Es fordert: Schluß damit. Aber es ruft auch: Was für ein Anblick!“203

Als Beispiel für eine solche Fotografie, kann beispielsweise die eines Jungen gelten, dessen Unterkiefer von einem Granatsplitter weggerissen wurde (DF2 39). Die Fotografie nimmt etwa die Hälfte der Seite des Comics ein. Nur wenige Fotografien erhalten im Comic so viel Raum. Das Bild zeigt das verletzte Gesicht des Jungen auf einer Bahre und die Gesichter zweier Männer. Von drei weiteren Personen sind Ausschnitte zu erkennen. Während der Vordergrund recht unscharf ist, sind das Gesicht

Abbildung 3.5: Der Fotograf II. S. 39. und die Verletzung des Jungen hervorragend zu erkennen. Die Perspektive wirkt, als knie der Fotograf ebenso wie die beiden zu erkennenden Männern um die Bahre des Jungen. Nur hält er ein wenig mehr Abstand zum Verletzten. Während die Männer ihre Blicke wie Hilfe suchend nach oben, vielleicht zu den Ärzten, richten, ist die 203 | Sontag 2003. S. 90.

3.3. Comic und Fotografie | 179

Kamera auf das Gesicht des Jungen gerichtet. Dadurch, dass nicht von oben und mit einem gewissen Abstand fotografiert wird, wirkt der Kamerablick nicht voyeuristisch. Da die Position des Fotografen eine ähnliche ist, wie die der besorgten Männer, wird er zu einem Teil der Gemeinschaft und die Fotografie erhält ein emphatisches Moment. Viel unauffälliger hingegen ist die Fotografie eines Mädchens, das seine verbrannte Hand in einen Teekessel mit antiseptischer Lösung taucht (DF2 49). Es existieren mehrere Fotografien dieses Vorgangs, doch auf dem Rollfilm ist eine mit rotem Stift als besonders „gelungen“ markiert. Im Gegensatz zu den anderen besitzt dieses Bild schärfere Kontraste und auch der Blick des Mädchens ist ein anderer: Es hat das Gesicht zur Kamera gewendet, sein Blick weist jedoch über seine rechte Schulter. Es sieht ein Geschehen, das dem Betrachter des Fotos verborgen bleibt. Obwohl das kleine Mädchen Schmerzen hat, nimmt es seine Umwelt wahr und ist Teil einer Welt, von der uns die Fotografie nur einen Ausschnitt bietet. Neben dem Leiden des Mädchens kann der aufmerksame Betrachter auch feststellen, dass nicht das gesamte Geschehen durch das Foto gezeigt werden kann, dass ihm etwas verborgen bleibt, was ihn vielleicht neugierig machen kann. Somit wird diese Fotografie gewissermaßen durch einen „künstlerischen Kniff“ interessant, bleibt aber gleichzeitig ein Dokument für die Leiden des kleinen Mädchens. Dieses Leid ist kein spektakuläres Leid. Die Verletzung ist wahrscheinlich nicht dem Kriege geschuldet, sondern ein gewöhnlicher Haushaltsunfall. Man sieht auf dem Foto nicht einmal die verletzte Hand. Den Schmerz des Kindes kann man nur durch seinen Gesichtsausdruck bestimmen, durch ein zuvor abgedrucktes Foto, welches die Hand des Mädchens mit abbildet und durch den Text, der dem Rezipienten von der Verletzung erzählt. Zwei durchaus vergleichbare, aber dennoch gegensätzliche Formen des menschlichen Leidens finden hier ihren Ausdruck: Beide leidenden Menschen sind Kinder und gelten somit allgemein als „unschuldig“. Sie müssen ihren Schmerz ertragen, ohne dass sie einen Fehler oder gar ein Verbrechen begangen haben. Während der Junge durch den Krieg verletzt wurde, erlitt das Mädchen wohl nur einen Haushaltsunfall. Susan Sontag schreibt über die Ikonographie des Leidens: „. . . als besonders darstellenswert gelten meist jene Leiden, in denen man ein Werk göttlichen oder menschlichen Zorns erkennt.“204 Für den Fotografen Lefèvre sind beide Fotografien gleichermaßen würdig, im Bild festgehalten zu werden. Er wählt lediglich andere Darstellungsmodi. Während die Verstümmelung durch den Krieg mit einem sensiblen „Blick“ der Kamera auf die Wunde festgehalten wird, spiegelt sich das Leid des Mädchens lediglich in seinem Gesicht wider. Der Text erklärt dem Rezipienten aber 204 | Sontag 2003. S. 49.

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auch, dass der Junge nicht bei Bewusstsein ist und somit gar kein Schmerzensausdruck in seinem Gesicht festgehalten werden kann. Der Text betont weiterhin, dass die Ohnmacht für den Jungen ein Glück sei, da die Schmerzen im wachen Zustand wohl unerträglich seien. Der Ausdruck des leidenden Gesichts stößt also auf Grenzen: der Körper schützt sich selbst vor zu viel körperlichem Leid und kann somit auch keinen visuell wahrnehmbaren Leidensausdruck transportieren. Um den Schmerz des Jungen sichtbar zu machen, zeigt der Fotograf die Wunde. Der literarische Text erklärt, warum kein Leidensausdruck im Gesicht erkennbar ist und warum daher der Blick auf die Wunde gewählt werden musste: keine voyeuristischen Gründe waren, sofern man dem Text Glauben schenkt, entscheidend. Eine Studie über einen Ausdruck des Schmerzes findet sich auf einem Rollfilm, der in vielen Bildern zeigt, wie einem Mann eine Kugel aus dem Rücken operiert wird. Das krampfhafte Schließen der Augen, das Zusammenbeißen der Zähne und die gekrümmte Körperhaltung des nackten Oberkörpers zeigen einen Schmerz, der den westlichen Betrachter sofort an Passionsdarstellungen Christi erinnert. Dennoch betont Lefèvre den Schmerz des Mannes zusätzlich mit Worten: „Dies ist eine Szene, die ich schon hundertmal im Kino gesehen habe. Der Held trinkt einen Schluck Schnaps, beißt auf ein Stück Holz und ;Aa,rgh’ man entfernt ihm kurzerhand die Kugel [. . . ] In Wahrheit tut es höllisch weh.“ (DF2 48) Lefèvre scheint der Wirkung seiner Fotografien nicht zu trauen: Er fürchtet, dass die Szene in ihrer fotografischen Darstellung irreal wirken könne, weil sie dem Betrachter wahrscheinlich aus dem fiktionalen Medium Westernfilm bekannt ist. An dieser Stelle betont Lefèvre also, dass „seine“ Fotografien – im Gegensatz zu den Bildern im Kino – eine wahre Begebenheit abbilden, nämlich eine schmerzhafte Operation. Die Schmerzen werden im Gesicht des Mannes gespiegelt und im Text als wesentlicher Unterschied zwischen der Darstellung einer solchen Operation im Kino und der tatsächlichen Operation genannt. Der Ausdruck des Schmerzes ist hier also auch eine Authentisierungsstrategie: Die Fotografien bilden das Leiden ab und damit die wesentliche Erfahrung eines Menschen, dem eine Gewehrkugel ohne Betäubung entfernt werden muss. Der Gesichtsausdruck des Schmerzes ist nahezu universell lesbar, Lesekompetenzen sind nicht von Nöten. Für die Fotografie ist es unter gewissen Vorraussetzungen einfacher, Menschen zu erreichen, da einige ihrer Botschaften ohne besonderes Wissen, sondern lediglich durch Empathie entschlüsselt werden können. Der Text muss uns erklären, dass dem Mann eine Gewehrkugel entfernt wird, sein Schmerz ist jedoch für jeden Betrachter zu erkennen. Es gibt Gesichtsausdrücke, wie solche, die Leid und Schmerz zeigen, die sich überall auf der ganzen Welt ähneln. Dennoch bleiben fotografische Darstellungen von leidenden Menschen problematisch, sofern dieses Leid kein „gespieltes“ Leid ist, sondern tatsächlich vor der Ka-

3.3. Comic und Fotografie | 181

mera empfunden wurde. Bei der Beobachtung des Leidens anderer Menschen gerät der Betrachter, ob er will oder nicht, in eine privilegiertere Position als der Leidende. Der Betrachter kann den Blick abwenden und so das Leid vergessen oder verdrängen. Das kann der Beteiligte nicht. Susan Sontag schreibt zu diesem Thema: „Manche Vorwürfe, die gegen Greuelbilder erhoben werden, beziehen sich auf die Grundbestimmungen des Sehens selbst. Sehen kostet keine Anstrengung, zum Sehen bedarf es der räumlichen Distanz, Sehen lässt sich abschalten.“205

Allerdings lässt sich nur das Sehen äußerer Bilder wirklich „abschalten“. Wenn sich äußere, visuelle Eindrücke erst einmal in innere Bilder umgewandelt haben, so kann man die Augen auch nicht mehr vor ihnen verschließen. Die meisten reizvollen Bilder haben die Eigenschaft, sich als innere Bilder in das Gedächtnis einzugraben und so zu Bildern zu werden, die man nicht mehr vergisst. Gerade Fotografien, die Leiden abbilden, es gewissermaßen konservieren, haben nicht selten zur Folge, dass sie den Betrachter nicht mehr loslassen. 3.3.10 Der Fotograf zwischen Kunst und Dokument In engem Zusammenhang mit den beiden vorangegangenen Kapiteln steht die Tatsache, dass Der Fotograf neben seinem dokumentarischen Charakter auch eine ästhetische Komponente besitzt. Nicht nur die Verquickung von Comicstrip und Fotografie oszilliert zwischen literarischer Kunst und authentischem „Beweisstück“, sondern auch einige der Fotografien im Comic Der Fotograf selbst. Die Fotografie wird im Comic nicht nur als Authentisierungsstrategie eingesetzt, sondern auch als Kunstform thematisiert. Obwohl die Fotografien, die im Comic gezeigt werden, Dokumentarfotografien sind, also solche, die dem Anspruch genügen sollen, Ereignisse so wirklichkeitsgetreu wie möglich abzubilden, so folgen sie dennoch auch ästhetischen Ansprüchen des Fotografen. Dadurch jedoch, dass Lefèvre die Ästhetizität seiner Fotografien „zugibt“, erhöht sich für den Rezipienten das Vertrauen in die Authentizität seiner Fotografien. Im Comic werden die Fotografien als Kunst und als Dokument zugleich angesehen, es wird also implizit auf eine Auseinandersetzung eingegangen, die vor allem in Zeiten der Erfindung der Fotografie geführt wurde, nämlich der Streit zwischen denjenigen, die die Fotografie als authentisch-objektive Dokumente einer Wirklichkeit ansahen und denen, die sie als Kunstobjekt verstanden wissen wollten. Im Comic schlägt sich eine

205 | Sontag 2003. S. 137.

182 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Ansicht nieder, die nach und nach auch in der heutigen Fototheorie an Bedeutung gewinnt, nämlich die Annahme, dass die Fotografie eine Brücke zwischen Kunst und Wirklichkeit schlägt. Dies wird schon 1979 bei einem Gespräch zwischen Guy Mandery und Roland Barthes thematisiert: Guy Mandery konstatiert, dass die Fotografie zwar weithin als Kunstform anerkannt wird, aber dennoch „eine sehr eigentümliche und enge Beziehung zur Wirklichkeit“ unterhält. Auf die Frage, ob die Fotografie eine Brücke zwischen Kunst und Nicht-Kunst schlage, antwortet Roland Barthes: „Ja, das ist sehr richtig. Ich weiß nicht, ob sie eine Brücke schlägt, aber sie ist in einer Zwischenzone angesiedelt. Sie verlagert den Kunstbegriff, und insofern ist sie Teil einer bestimmten Bewegung, eines gewissen Fortschritts in der Welt.“206

Genau in diesem Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit bewegt sich auch die Comicreihe Der Fotograf. Die in ihm enthaltenen Fotografien sind zum einen Dokument eines bestimmten Vorgangs in einer bestimmten Situation und zum anderen ein Kunstwerk, das mit bestimmten ästhetischen Absichten verknüpft ist. 3.3.11 Das bewaffnete Auge: Gewalt und Fotografie Ein selbstreflexiver Moment des Comics weist auf eine Besonderheit des fotografischen Bildes hin, welche bislang in dieser Arbeit kaum besprochen wurde, aber eine enorme Bedeutung für den Comic Der Fotograf besitzt. Es ist die Verbindung von Fotografie und Gewaltakt. Didier Lefèvre entdeckt am Rande des Bergweges ein sterbendes Pferd. Er fragt einen der Ärzte, ob man dem Tier nicht einen Gnadenschuß geben könne. Ihm wird erklärt, dass die Afghanen, die sie begleiten, so etwas nicht tun, doch dass Didier sich eine Waffe ausleihen könne, um das Tier zu töten (DF1 47). Didier antwortet: „Ich? Ich habe noch nie auf jemanden geschossen. Ich schieße nur Fotos“ (DF1 47).207 Was auf den ersten Blick wie ein Wortspiel anmutet, ist auf den zweiten Blick durchaus auch als eine Anspielung auf das Wesen der Fotografie 206 | Barthes 2002. S. 82. 207 | In der französischen Originalausgabe lautet der Dialog wie folgt: „Mois? Je n’ai jamais tiré sur personne, moi. Je vise, moi. Je ne tire pas.” (LP1 47) Guibert thematisiert hier also auch explizit das Schießen (tirer) und stellt es dem Anvisieren (viser) gegenüber, das aber auch die Bedeutung „auf jemanden anlegen” innehat. Die im Folgenden geführte Diskussion über die Analogisierung von Fotografie und Gewaltakt lässt sich also keineswegs nur auf ein Wortspiel der deutschsprachigen Ausgabe beziehen.

3.3. Comic und Fotografie | 183

Abbildung 3.6: Der Fotograf I. S. 47.

zu lesen, nämlich auf die Verbindung von Fotografie und Gewaltakt. Wie kommt es, dass man davon spricht ein Foto zu „schießen“, auf ein Objekt zu „zielen“ oder die Kamera zu „laden“?208 Ernst Jünger schreibt bereits 1930: „Es ist derselbe Verstand, der den Gegner über große Entfernungen hinweg auf die Sekunde und auf den Meter genau mit seinen Vernichtungswaffen zu treffen weiß, und der das große geschichtliche Ereignis in seinen feinsten Einzelheiten zu bewahren sich bemüht.“209

Auch Christian Metz betont: „Es ist kein Zufall, dass der Fotoapparat so oft mit einer Schusswaffe verglichen worden ist: Wieder findet sich die dreifache Vorstellung von Augenblicklichkeit, Aneignung und von In-Sicherheit-Bringen.“210 Die Analogisierung zwischen Fotografie und Gewalt fand ihren Höhepunkt in den Anfängen der Luftwaffe. 1911 wurden bei Aufklärungsflügen Kameras an die ersten Kriegsflugzeuge montiert, da es den Piloten nicht möglich war, gleichzeitig zu fliegen und sich die Besonderheiten des feindlichen Landes anzueignen.211 Der deutsche Jagdflieger

208 | Vgl. hier die von Susan Sontag erwähnte Werbeanzeige der Kamera Yashica Elektro-35 GT (Sontag 2006. S. 19/20.) 209 | Ernst Jünger, zitiert nach: Sontag 2003. S. 79. 210 | Metz 2000. S. 349. 211 | Vgl. Bernhard Siegert, L’Ombra della macchina alata. Gabriele d’ Annunzios renovatio imperii im Licht der Luftkriegsgeschichte 1909-1940. In: Hans Ulrich Gumbrecht, Friedrich Kittler, Bernhard Siegert (Hg.), Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume. München 1996. S. 267.

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Manfred von Richthofen gab zu, dass man aus 5000 m Höhe kaum etwas erkennen kann und sagt: „Man photographiert also all das, was man für wichtig hält, und was man photographieren soll. Kommt man nach Hause und die Platten sind verunglückt, so ist der ganze Flug umsonst gewesen.“212

Eine noch drastischere Zusammenführung von Fotografie und Luftkrieg entstand, als am Bug des Fliegers statt eines Maschinengewehrs eine Kamera installiert wurde, die sich optisch jedoch wenig von einer Waffe unterschied. Zu Übungszwecken sollten die Piloten im Flug mit der Kamera aufeinander zielen. Anhand der Bilder konnte man erkennen, ob und wo die Piloten das andere Flugzeug getroffen hatten. Statt MGSalven aufeinander abzufeuern, schossen sie Bilder, die es ihnen möglich machten in Übungen ihre Treffer festzustellen ohne ihren Übungspartnern tatsächlichen Schaden zuzufügen.213 Die Augenblicklichkeit ist ein wesentliches Merkmal der Fotografie. Lange Belichtungszeiten stehen diesem Merkmal zwar gegenüber, doch im Vergleich mit früheren Bildmedien, wie dem Gemälde oder der Zeichnung, ist die Fotografie immer noch ein Medium, das sich durch die Schnelligkeit seiner Produktion auszeichnet. Eine der faszinierenden Facetten der Fotografie ist sicherlich bis heute, dass sie es vermag, einen Augenblick für die Ewigkeit festzuhalten. Die Schnelligkeit, mit der Fotograf und Kamera gemeinsam ein Bild generierten, war einer der wichtigsten Gründe für den Siegeszug der Fotografie im Industriezeitalter und dessen steigendem Bedürfnis nach Bildern, vor allen Dingen dem Bedürfnis des sich emanzipierenden Bürgertums sich porträtieren zu lassen.214 Sicherlich spielt für die Verbindung von Fotografie und Gewaltakt auch ein Rolle, dass der kurze Moment des Auslösens letztendlich die Fotografie auf einen Bildträger bannt und dass dieser Vorgang nicht zu sehen ist, ebenso wie der Schuß aus einer Pistole. Auf die Zusammenführung von Fotografie und Gewaltakt spielt meiner Ansicht nach auch die weltbekannte Fotografie Death of a loyalist soldier von Robert Capa an, der im Übrigen ein weiterer Gründungsvater der Bildagentur Magnum war. Diese Fotografie gewinnt ihre faszinierende Kraft eben genau durch die Besonderheit der Fotografie, ebenso schnell zu funktionieren wie ein Schuss aus einer Pistole. Natür-

212 | Manfred von Richthofen, zitiert nach Siegert 1996. S. 270. 213 | Vgl. Siegert 1996. S. 279. 214 | Vgl. Baatz 1997. S. 37.

3.3. Comic und Fotografie | 185

lich ist Capas Fotografie in erster Linie Dokument eines grausamen Krieges,215 durch den Verweis auf eine entscheidende Besonderheit der Fotografie wird sie aber auch gleichzeitig zum selbstreflexiven Medium und somit zum Kunstobjekt. Auch die Aneignung ist eine in der Fototheorie vielfach kritisch diskutierte Eigenschaft des fotografischen Bildes. Die englische Formulierung „to take a picture“ oder die französische „prendre une photo” kommen nicht von ungefähr, wenn man die Erkenntnis berücksichtigt, dass Fotografie eher bildernehmend, als bilderschaffend sind.216 Susan Sontag schreibt zum Thema: „Fotografien sind tatsächlich eingefangene Erfahrung und die Kamera ist das ideale Hilfsmittel, wenn unser Bewusstsein sich etwas aneignen will. Fotografieren heißt sich das fotografierte Objekt anzueignen. Es heißt sich selbst in eine bestimmte Beziehung zur Welt setzen, die wie Erkenntnis – und deshalb wie Macht anmutet.“217

Diese bereits angesprochene Subjekt/Objekt-Konstitution und die mit der Fotografie verbundene (gewaltsame) Aneignung des Fotografierten durch den Fotografen wird auch bei Roland Barthes wesentlich kritischer problematisiert. Barthes sieht die Problematik im Aneignungsprozess des Fotografen vor allen Dingen darin, dass die Fotografie aus einem Menschen ein Bild macht und dass dieses Bild durch die Vorstellungen des Fotografen generiert wurde. Der Fotografierte, das Objekt, kann sich seiner eigenen „Bildwerdung“ nicht entziehen und wird dadurch „getötet“. Die im Comic subtil thematisierte Analogie zwischen Fotografie und Gewaltakt ist in Roland Barthes bedeutender Schrift zur Fotografie Die helle Kammer ein wichtiges Thema: „ [. . . ] so sehe ich, daß ich ganz und gar Bild geworden bin, das heißt der Tod in Person; die anderen – der Andere – entäußern mich meines Selbst, machen mich blindwütig zum Objekt, halten mich in ihrer Gewalt, verfügbar, eingereiht in eine Kartei, präpariert für jegliche Form von subtilem Schwindel [. . . ].“218

Wenn Susan Sontag hingegen betont, dass die Aggressivität jedem Zücken der Kamera innewohne, so begründet sie dieses auf eine Weise, die gewissermaßen Bar-

215 | Der dokumentarische Status der Fotografie Capas wird jedoch mittlerweile entschieden angezweifelt. 216 | Vgl. Glasenapp 2008. S. 34. 217 | Sontag 2006. S. 10. 218 | Barthes 1989. S. 23.

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thes Theorie vorausdeutet.219 Auch Sontag betont, dass Fotografien letztendlich ebenso wie Gemälde Interpretationen der Welt seien und auch sie führt Fotografie und Gewaltakt zusammen: „Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie sich selbst niemals sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann.“220

Während bekannt ist, dass Susan Sontag eine Bewunderin Roland Barthes war, so ist heute nicht mehr bekannt, ob Barthes Sontags Überlegungen für seine Theorie der Fotografie reflektierte. Interessanterweise wird auch die fotografische Aneignung an anderer, bereits erwähnter Stelle sehr vage von Lefèvre thematisiert. Wenn er meint, dass sich das fotografische Handwerk nur durch die Verbesserung der Beziehungen zu den Fotografierten verbessere (DF1 61), so geht er auf die von Barthes beschriebenen Ängste des Fotografierten ein. Er will sie eben nicht zum Objekt degradieren, sondern eine gute Beziehung zu den Fotografierten aufbauen, die wiederum, wie jede gute funktionierende Beziehung, das Subjekt-/Objekt-Verhältnis durch Kenntnis des und Respekt für den Anderen aufweicht oder sogar aufhebt. Für Sontag ist es weiterhin die scheinbare Passivität der Fotografie, die das menschliche Zutun verschleiert, und ihre Allgegenwart, die die Aggressivität der Fotografie ausmacht.221 Die Passivität der Fotografie, wie Sontag sie sieht, ist für den gerade besprochenen Abschnitt im Fotografen hochbrisant. Lefèvre schießt ein Foto, anstatt das leidende Tier von seinen Qualen mit einer Waffe zu erlösen. Sontag behauptet, dass der Fotograf Aufnahmen mache, anstatt sich einzumischen. Der Fotograf ziehe den Bericht der Handlung vor. Sontags These „Das Fotografieren ist seinem Wesen nach ein Akt der Nicht-Einmischung“222 wird im Comic aufgegriffen und gewissermaßen problematisiert, denn Lefèvre ist auf dem letzten, gezeichneten Panel der Seite zu sehen, wie er dem Geschehen den Rücken zudreht und wegläuft. Was Sontag damit beschreibt, dass „der Akt des Fotografierens [. . . ] eine Form der Zustimmung, des manchmal schweigenden, häufig aber deutlich geäußerten Einver-

219 | Sontags Werk On Photography erschien im Original drei Jahre vor La chambre claire von Roland Barthes, nämlich 1977. 220 | Sontag 2006. S. 20. 221 | Sontag 2006. S. 13. 222 | Sontag 2006. S. 17/18.

3.4. Die Integration literarischer Texte in Fotografien | 187

ständnisses“223 ist, wird für Lefèvre zu einer Belastung seines Gewissens. Wie alle Fotografen, die in Krisengebieten arbeiten, hat er sich dazu entschlossen, zu berichten, anstatt zu handeln. Doch obwohl er diesen Standpunkt einnimmt, denn er schießt ein Foto des Pferdes anstatt auf es mit einer Waffe zu zielen, kann er nicht hinter dieser Entscheidung stehen. Sein Weglaufen deutet an, dass die Passivität des Fotografen für ihn keine Selbstverständlichkeit ist, so wie etwa für die Fotografin Diane Arbus, die unter anderem amerikanische Subkulturen fotografierte. Arbus meint: „Die Kamera ist eine Art Paß, der moralische Grenzen und gesellschaftliche Hemmungen aufhebt und den Fotografen von jeder Verantwortung gegenüber den Fotografierten entbindet.“224 Lefèvre kann diesen Standpunkt nicht so selbstbewusst vertreten wie Arbus, er handelt zwar im Sinne der „Passivität der Fotografie“, doch scheint dieses sein Gewissen zu belasten. Er sensibilisiert den Rezipienten somit auch für die Empfindungen des Fotografen, die so oft hinter seinen Fotografien zurücktreten. Die Kamera schießt das Foto eben nicht von selbst, sondern wird von einem Menschen bedient, der unter Umständen unter dem Gesehenen leidet. Für den Dokumentarfotografen ist die Fotografie eben nicht nur ein Bild, sondern auch ein visueller Eindruck ohne mediale Brechung. Er hat zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht nur gesehen, sondern auch gehört, gerochen und gefühlt. Die geschossene Fotografie ist für ihn auch verbunden mit einem komplexen Sinneseindruck, der nicht so einfach vergessen werden, wie die Fotografie zur Seite gelegt werden kann.

3.4 D IE I NTEGRATION F OTOGRAFIEN

LITERARISCHER

T EXTE

IN

Während in den zuvor besprochenen Kapiteln Werke analysiert wurden, in denen die Literatur als dominantes Medium aufgetreten ist, so sollen nun literarisch überformte Fotografien zur Sprache kommen, deren Kunst in erster Linie eine visuelle ist. Im Gegensatz zu Fototexten, in denen der Text häufig eine der Fotografie übergeordnete Rolle einzunehmen scheint, wirkt der Text auf literarisch überformten Fotografien eher wie eine Beiordnung zur Fotografie. Um das besondere Verhältnis von Literatur und Fotografie innerhalb einer mit Text versehenen Fotografie zu verstehen, wird die Fotoserie Women of Allah (1993-1997) von Shirin Neshat betrachtet. Die Dominanz des Visuellen in dieser Fotoserie Neshats entsteht für den westli223 | Sontag 2006. S. 18. 224 | Diane Arbus, zitiert nach: Sontag 2006. S. 45/46.

188 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

chen Betrachter vor allen Dingen durch die Tatsache, dass die Fotografin ihre Texte in Farsi auf die Fotografien aufträgt, also in einer Schrift, die vom westlichen Betrachter lediglich als ornamentale Verzierung, aber nicht als sprachlicher Bedeutungsträger dekodiert und semantisch erfasst wird. Darüber hinaus wird in der Fotoserie Women of Allah, ebenso wie in den Fotoromanen, die intermediale Hybridisierung auf ganz unterschiedliche Weise zur Bedeutungsgenerierung genutzt. Kurzbiografie Die Fotografin Shirin Neshat wurde 1957 in Kaswin, Iran geboren. 1974 verließ sie ihre Heimat, also bevor die islamische Revolution in ihrem Heimatland ausbrach, die 1979 zur Machtübernahme Ayatollah Khomeinis führte.225 1982 beendete sie ihr Studium an der University of California, Berkeley. Nach dem Studium zog Neshat nach New York und arbeitete dort zunächst als Kuratorin.226 Erst 1990 besuchte Shirin Neshat den Iran und beschloss, betroffen von den radikalen Veränderungen ihrer Heimat, ihre künstlerische Tätigkeit wieder aufzunehmen, die sie nach Abschluss ihres Studiums nicht weiter verfolgt hatte.227 Mit der Fotoserie Women of Allah (1993-1997) gelangte Shirin Neshat nahezu über Nacht zu internationalem Ruhm. Seit Ende der Neunziger Jahre experimentiert sie hauptsächlich mit dem Medium Video.228 Heute lebt und arbeitet die Künstlerin in New York. Sie reist regelmäßig in ihre persische Heimat.

E XKURS : F OTOSERIE Women of Allah Die 1993-1997 entstandene Fotoserie Women of Allah übt nicht erst seit dem 11. September 2001 eine verstörende Wirkung auf ihre Betrachter aus. Shirin Neshat konfrontiert den Betrachter durch ihre Fotografien mit verschleierten Kriegerinnen, die Waffen tragen und diese nicht selten auf den Betrachter richten. Die Bilder sind überlebensgroß und von einer starren Frontalität, die keine emotionale Regung in den 225 | Vgl. Valeska von Rosen, Verschleierungen. Frauen im Tschador in Shirin Neshats Fotoarbeiten. In: Johannes Endres/ Barbara Wittmann/ Gerhard Wolf (Hg.), Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher. München 2005. S. 86. 226 | Vgl. von Rosen 2005. S. 86. 227 | Vgl. Shirin Neshat, Ausstellungskatalog Kunsthalle Wien, 2000. S. 6. 228 | Vgl. Neshat 2000. S. 8.

3.4. Die Integration literarischer Texte in Fotografien | 189

Gesichtern der Kriegerinnen sichtbar werden lässt. Die Fotografien sind in schwarz und weiß gehalten und diese „Farbgebung” unterstützt ihre bedrohliche Wirkung. Alle fotografierten Frauen tragen den Tschador, einen festen, schwarzen Schleier, der seit der islamischen Revolution häufig von iranischen Frauen getragen wird. Die Körperteile, die nicht von dem schwarzen Stoff bedeckt sind, überschreibt die Künstlerin in den meisten dieser Werke mit persischen Schriftzügen. Diese sind allerdings nicht auf die Haut der Modelle aufgetragen worden, sondern nachträglich auf die Fotografien. Shirin Neshat fotografiert ihre Modelle nicht selbst, sie beschränkt sich auf das Arrangement und steht gelegentlich selbst als Modell vor der Kamera. Obwohl ihre Fotografien Personen vor einem völlig unauffälligen Hintergrund zeigen, ist der Begriff „Porträt“ als Gattungsbezeichnung für Neshats Arbeiten jedoch nicht ganz unproblematisch. Die Arbeiten zeigen weder individuelle Gesichter noch legen sie den Fokus auf die Identität der dargestellten Person.229 Die verschleierten Gesichter in Neshats Fotografien wirken ausdruckslos und frei von mimischen oder emotionalen Regungen. „Die mit der Gattung des Porträts verknüpfte Aufgabe der Erfassung einer individuellen Persönlichkeit“230 wird unterbunden, die meisten Fotografien können nicht einmal die Wiedererkennbarkeit der Dargestellten leisten.231 Die Frauen sind bewusst nicht als Individuum dargestellt, sondern als namenlose Soldatinnen der Revolution.232 Die verschleierten Frauen in der Fotoserie Shirin Neshats sind hochgradig aufgeladen mit Stereotypen und Fantasien über die islamische Welt. Diese Klischees reichen von radikaler Kämpferin über die passive unterdrückte Frau bis hin zur erotisch konnotierten „Haremsdame“.233 Shirin Neshat zerstört diese Stereotypen nicht, sondern simuliert sie und macht dem Betrachter so die Konstruiertheit seiner eigenen Vorstellungen von der verschleierten Frau und damit von der islamischen Welt bewusst.234 Es ist unter anderem die nachträgliche Beschriftung der Fotografien, die ihre Konstruiertheit sichtbar macht. Das oktroyierte Label von Neshats Kunst ist islamisch. Laut Oleg Grabar ist islamische Kunst „art made in and/or for areas and times dominated by Muslim rulers

229 | Vgl. von Rosen 2005. S. 76. 230 | Ebd. 231 | Ebd. 232 | Vgl. Igor Zabel, Women in Black. In: Art Journal 60, Winter 2001. S. 17. 233 | Zabel 2001. S. 17/18. 234 | Vgl. Zabel 2001. S. 17.

190 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

and populations.“235 Klassische Traditionen der islamischen Kunst sind Kalligraphie, Teppichdesign und Miniaturmalerei. Unter Beachtung dieser Definitionen scheint die Bezeichnung „islamisch“ auf Neshats Kunst kaum zuzutreffen. Die Künstlerin lebt und arbeitet in den Vereinigten Staaten und stellt ihre Werke lediglich in Europa und den USA aus. In der aktuellen Forschung zu Shirin Neshat kommen leider kaum Stimmen aus ihrer Heimat Iran oder aus anderen muslimischen Ländern zur Sprache. Das wäre aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zwar auf der einen Seite sehr interessant, auf der anderen Seite geht es Neshat aber insofern primär um den Westen, als dass sie dessen Vorstellungen über den Orient untersucht und keineswegs vorgibt, die tatsächliche islamische Welt zum Thema zu haben. Es geht ihr darum, den westlichen Betrachter in Bezug auf seine eigene Wahrnehmung zu verunsichern.236 In einem Interview beschreibt sie dieses Phänomen wie folgt: „Ich dekonstruiere und erforsche ein paar Klischeevorstellungen über die islamische Welt.“237 Die Künstlerin konstatiert weiterhin: „Wenn ich ein Projekt entwickle, versuche ich mich auf dessen Bedeutung innerhalb seines kulturellen Zusammenhangs zu konzentrieren und nicht die Verbindungen zu anderen Kulturen oder meine Rolle als transnationale Künstlerin ins Spiel zu bringen.“238

3.4.1 Der zweifache Schleier im Werk Shirin Neshats Der Schleier ist eines der wichtigsten und augenfälligsten Elemente in Shirin Neshats Fotoserie Women of Allah. Doch die Frauengestalten in Neshats Werk werden nicht nur von einem semantisch hochgradig aufgeladenen Kleidungsstück verhüllt, auch ein zweiter, weniger offenkundiger Schleier lässt sich im Werk der amerikanischen Fotografin ausmachen. Der erste Schleier, der feste, schwarze Tschador, zeichnet Neshats Fotoserie aus. Doch jenseits dieses „tatsächlichen“ Schleiers kann auch

235 | Oleg Grabar, zitiert nach: David Frankel, Without Boundary. Seventeen ways of Looking. Ausstellungskatalog des Museum of Modern Art, New York 2006. S. 10. 236 | Vgl. von Rosen 2005. S. 89. 237 | Shirin Neshat im Interview mit Geneva Anderson, zitiert nach: Gabriele Genge, Shirin Neshat: Ornament, Raum und Geschichte. In: Susanne von Falkenhausen (Hg.), Medien der Kunst. Geschlecht, Metapher, Code. Marburg: 2004. S. 138. 238 | Gerald Matt im Gespräch mit Shirin Neshat, In: Neshat 2000. S. 10.

3.4. Die Integration literarischer Texte in Fotografien | 191

die zarte, transparente persische Schrift als Schleier betrachtet werden.239 Diese bedeckt und verhüllt die Fotografie an den Stellen, an denen nackte Haut zu sehen ist. Die These lautet, dass beide Schleier zusammen eine Bildaussage vermuten lassen, die sämtliche westliche, stereotype, männliche und koloniale Klischees ins Wanken bringt. Bei dem mit feiner Tusche geschriebenen Text, der wie ein Schleier auf die Fotografien aufgetragen worden ist, handelt es sich um persische Gedichte. Diese werden zum Träger einer Botschaft auf einer anderen medialen Ebene. Bei den meisten Fotografien Neshats affirmiert die Lyrik die Bildaussage, bei einigen wenigen Fotografien steht diese dem Bildmodus aber auch radikal gegenüber. An dieser Stelle lässt sich durchaus eine weitere These anschließen, die in der bisherigen Forschung zu Neshat noch nicht zur Sprache gekommen ist, nämlich, dass Neshat in ihren Fotografien durchaus auslotet, welche spezifischen medialen Leistungen Poesie und Fotografie zum Transport von Botschaften erbringen können. Wenn sich Schrift und Bild in einem Medium vereinen und vielleicht sogar zum Träger ähnlicher Botschaften werden, lässt sich ein gewisser, moderner Paragone-Gedanke kaum von der Hand weisen. Der tatsächliche und der textuelle Schleier erfüllen in Neshats Werk ein breites Bedeutungsspektrum. Die wichtigste Dimension des Schleiers ist die der Visualität. Ein Schleier verhüllt etwas vor den Augen anderer und markiert die Grenzen zwischen Heiligem und Profanem, zwischen privatem Raum und Öffentlichkeit und natürlich zwischen Verbotenem und Erlaubtem. Das persische Wort „Hijab” ist auch sprachlich mit Schwelle, Schutz und Grenze konnotiert.240 Der Tschador ermöglicht seiner Trägerin im Orient eine unerreichbare Identität und ein Versteck vor fremden Augen. Im Westen zieht der Schleier jedoch umgekehrt die Blicke auf sich und es werden aufgrund des Schleiers Rückschlüsse auf das Wesen der Trägerin gezogen. Hier steht das Bild der verschleierten Frau für radikalen Islamismus, für Frauenfeindlichkeit und für die Rückständigkeit des Islam. Die Frage, ob Frauen in einem islamischen Land verschleiert zu sehen sind oder nicht, wird nicht selten zum Gradmesser der Fortschrittlichkeit dieses Landes.241 Das Paradoxon besteht hier darin, dass die „Politisierung des Islam auch zur Ausstellung und Sichtbarmachung der Frau und ihres Körpers

239 | Vgl. Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Der Schleier als Fetisch. Bildbegriff und Weiblichkeit in der kolonialen und postkolonialen Fotografie. In: Fotogeschichte 76, 2000. S. 27. 240 | Vgl. Schmidt-Linsenhoff 2000. S. 25. 241 | Vgl. von Rosen 2005. S. 76.

192 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

führt, wo es doch mit Hilfe der Verschleierung eigentlich um ihre Neutralisierung, weitgehende Zurückhaltung aus dem öffentlichen Raum geht.“242

Der weibliche Körper, der eigentlich den Blicken entzogen werden soll, wird heute zum visuell wahrnehmbaren Zeichen des Unterschieds zwischen der islamischen und der westlichen Gesellschaft. Es ist der Schleier, der die muslimische Minderheit im Westen sichtbar macht und somit „ein affektiv hochbesetztes visuelles Zeichen der kulturellen Differenz“243 wird. Dieses Paradox thematisiert Neshat indirekt auch in ihren Fotografien, indem sie den weiblichen Körper ganz nah und frontal vor der Kamera in Szene setzt.244 Im westlichen Europa wird gern außer Acht gelassen, welch eine lange Tradition der Schleier auch im Abendland, vor allem in der christlichen Kunstgeschichte hat. Hier ist der Schleier entweder mit Heiligem, wie etwa der Mutter Gottes, verbunden oder sexuell konnotiert, wie etwa beim Schleiertanz der Salome. Auch im Westen befindet sich der Schleier also in einer Dialektik des Ver- und Enthüllens und ist in der Lage, sakrale und profane, private und öffentliche Bereiche voneinander zu trennen. Die Erotik des Schleiers ist auch hierzulande eng mit dem weiblichen Körper verbunden.245 Der zweite Schleier in Neshats Werk ist die zarte, nachträglich auf die Fotografien angebrachte persische Schrift. Diese überzieht im Gesicht häufig auch Augenbrauen, Mund und Nase, lediglich die Augen werden meist ausgespart. Die Schrift scheint sich unter dem Schleier bzw. auf den vom Bildausschnitt verdeckten Partien des Gesichts oder des Körpers fortzusetzen. So entsteht der Eindruck des Schleiers, der zweiten Hülle.246 Dieser Schrift-Schleier besitzt ebenso wie der fest gewebte Tschador mehrere Bedeutungsdimensionen. Die erste lässt sich im Kreis postkolonialer Debatten verorten. Bevor der westliche Betrachter mit der verschleierten, muslimischen Frau radikalen Fundamentalismus, Terror und Rückständigkeit verband, existierte ein anderer Stereotyp, der von einer schwülstigen Haremserotik geprägt war und der sich wohl durch die Erzählungen aus 1001 Nacht in den Köpfen der männlichen Westeuropäer manifestiert hatte. Hier spielt keineswegs ein fest gewebter Schleier die Hauptrolle, sondern viel mehr ein zartes, opakes Textil, welches mit der feinen Schrift auf Nes242 | Von Rosen 2005. S. 90. 243 | Schmidt-Linsenhoff 2000. S.26. 244 | Vgl. von Rosen 2005. S. 90. 245 | Vgl. Schmidt-Linsenhoff 2000. S.26. 246 | Vgl. von Rosen, 2005. S. 77.

3.4. Die Integration literarischer Texte in Fotografien | 193

hats Fotografien durchaus analogisiert werden kann. Diese Konnotation des Schleiers ist für das Verständnis der Women of Allah unerlässlich. Denn „der Märchenzauber der orientalistischen Kolonialfotografie“247 wird im Werk Shirin Neshats ebenso problematisiert und als Klischee entlarvt, wie die „neuen Stereotypen des islamischen Terrorismus,“248 die das verklärende und romantisierende Orientbild des 19. Jahrhunderts längst abgelöst haben. Neshats Fotografien sind nur im Zusammenhang postkolonialer Theorie zu verstehen: „Der Blick des europäischen Reisefotografen ist der kolonisierende Blick par excellence.“249 Er nimmt das Abzubildende, auch die orientalische Frau, visuell in Besitz,250 seine Fotografien sind nicht so objektiv, wie es das Medium verheißt; ein westliches Bild vom Orient wird konstruiert, der Orient wird nicht abgebildet. Eines der zentralen Motive der Orientfotografie stellten der Schleier und der Harem dar. Beide Motive waren für den westlichen Fotografen mit einer exotischen Erotik verbunden, die es mit der Kamera festzuhalten galt. Der Moment der Enthüllung des weiblichen Körpers, die Verheißung des Schleiers, wurde durch die orientalische Frau jedoch nicht erfüllt. Im Gegenteil, der Schleier entzog und entzieht noch heute ihren Körper dem männlichen Blick und macht den Schleier so zur Projektionsfläche für männliche Phantasien.251 Die einzigen orientalischen Frauen, die sich für die westlichen Fotografen enthüllten und ihren Schleier als erotisches Instrument einsetzten, waren Prostituierte. Die Fotografien der sich enthüllenden Huren wurden im Westen weiterhin zur Stabilisierung der Klischees über die orientalische Frau genutzt. „Der Entzug der Frau als Bild“ schien „die männliche, europäische Identität so sehr zu irritieren und zu destabilisieren, dass sie diesen Zustand durch konstruierte Fotografien mit teuer bezahlten Modellen zu leugnen versuchten.”252 Eine weitere „Enttäuschung“ stellte die Stofflichkeit der orientalischen Schleier dar, denn anstatt der zarten, transparenten Verhüllungen, die die Phantasie des männlichen Betrachters beflügelten, waren es meist fest gewebte Schleier, hinter denen sich die orientalischen Frauen verbargen. Die Analogisierung des weiblichen Körpers mit Textil geht für weiche, samtene oder transparente Stoffe auf, nicht jedoch für fest gewebte wie den Tschador. Während der Tschador also einerseits Assoziatio247 | Schmidt-Linsenhoff 2000. S. 30. 248 | Ebd. 249 | Ebd. 250 | Ebd. 251 | Ebd. 252 | Schmidt-Linsenhoff 2000. S. 35.

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nen von der gewaltbereiten, islamischen Fundamentalistin hervorruft, so erinnert er andererseits auch an die „Enttäuschung“ des westlichen Orientbesuchers, der hoffte, in der muslimischen Frau ein erotisches, unterwürfiges Objekt vorzufinden, das ihren Schleier als Mittel der Verführung einsetzt. Die zarte Schrift auf Neshats Fotografien scheint hingegen solch ein Schleier zu sein, der in seiner Transparenz ebenso ver- wie enthüllend wirkt und der Blicke auf den weiblichen Körper zulässt. Diese zwei Bedeutungsebenen des Schleiers für den westlichen Betrachter, erotisches Instrument einerseits und Kennzeichen islamischer Radikalität andererseits, werden in der Fotografie und auch in den auf diese aufgetragenen Schriftzügen inhaltlich gleichermaßen reflektiert. Die Schriftzüge sind Gedichte oder Gedichtfragmente der persischen Dichterinnen Forough Farrokhzad (19351967) und Tahereh Saffardazeh (1936-2008). Farrokhzads Gedichte passen thematisch zu den erotischen Konnotationen des Schleiers, denn sie fordern ein weibliches Recht auf Sinnlichkeit und Sexualität ein. Ihre hochemotionalen Gedichte stehen der starren Ausdruckslosigkeit und der sowohl formal als auch inhaltlich aggressiven Bildsprache radikal gegenüber. In Saffardazehs Lyrik hingegen laufen „Modus und Intentionalität von Text und Bild einander nicht entgegen.“253 Die Dichterin feiert den Schleier als Befreiung muslimischer Frauen von westlicher Bevormundung. Den scheinbar ausdrucks- und emotionslosen Frauenfiguren wird durch das nachträgliche Auftragen von Lyrik eine Sprache verliehen. Neshat macht in ihren Arbeiten so auf subtile Weise die Fetischisierung des Schleiers ebenso deutlich, wie sie die Klischeevorstellungen darlegt, die der Westen seit je her vom Orient besitzt und die auch, vielleicht sogar vor allem, auf die verschleierte muslimische Frau übertragen werden. Schrift und Bild stehen in ihrem Werk separat, aber auch in ihrer hybriden Verbindung gleichermaßen im Dienste der Dekonstruktion kolonialer, westlicher und männlicher Klischees. Neshat formuliert diese Absichten jedoch meist nicht durch eine selbstreflexive Brechung des Dargestellten, sondern lediglich dadurch, dass sie dem Betrachter seine eigenen Blicke vor Augen führt. Die nachträglich aufgetragene Schrift betont die Künstlichkeit ihrer Fotografien und verleiht den dargestellten Frauen eine eigene weibliche Stimme, die den Eindruck der Fotografien affirmieren, aber auch in Frage stellen kann. Interessanterweise wird von den Kuratoren der Ausstellungen Neshats keine Übersetzung der persischen Schrift geboten. Da Neshat lediglich in Europa, nicht jedoch in ihrer persischen Heimat ausstellt, ist davon auszugehen, dass die Besucher ihrer Ausstellungen nicht in der Lage sind, die Schrift zu entziffern, sondern nur ihren ornamentalen, verschleiernden Charakter wahrnehmen können. Die zarte Schrift 253 | Von Rosen 2005. S. 85.

3.4. Die Integration literarischer Texte in Fotografien | 195

ist folglich auch insofern als Schleier anzusehen, als dass sie ihre eigene Bedeutung durch dem westlichen Betrachter fremde Buchstaben verhüllt. Was in der islamischen Welt verständlich ist, bleibt dem Westen ein Rätsel. Die persischen Zeichen oszillieren zwischen lesbarer Schrift und dekorarativ-malerischem Ornament.254 Dieses Phänomen ist ein weiterer, wichtiger Aspekt für die Analyse von Neshats Werk. 3.4.2 Schrift in Neshats Werk zwischen Ornament und Lesbarkeit Eine weitere Grundidee in Neshats Werk ist der Einsatz von Schrift als Schleier und die damit verbunde (scheinbare)255 Nutzung der Haut als Schriftträger.256 Die persische Schrift besitzt jedoch die Besonderheit, dass der westliche Ausstellungsbesucher sie nicht lesen, sondern lediglich ihren ornamentalen Charakter wahrnehmen kann. Die Schrift hat somit nicht nur die Funktion des Zeichens, sondern auch die des Ornaments.257 Das Wesen des Ornaments zeichnet sich dadurch aus, dass es seinen Träger schmückt und dabei keine narrative oder abbildhafte Funktion übernimmt.258 Shirin Neshat schmückt mit der persischen Schrift meist die nackte Haut ihrer Fotomodelle. Das Trägermedium ist jedoch nicht der Körper selbst, sondern die Fotografie und damit das Abbild des Körpers. So macht die Fotografin einmal mehr deutlich, dass es sich bei ihren Fotografien um Konstrukte und Bilder handelt anstatt um Wahrheiten und Abbilder. Dass die Schrift und damit das Ornament in Neshats Fotoarbeiten erst nachträglich aufgetragen wurde, unterstreicht diese These. Das Or-

254 | Vgl. Genge 2004. S. 134. 255 | Der Begriff „scheinbar” ist hier gewählt, weil der tatsächliche Schriftträger die Fotografie ist. Es sieht nur so aus, als wäre die Schrift direkt auf den Körper aufgetragen worden. Leider gibt es keine Angaben zu dem Erscheinungsbild der Originale in Bezug auf die Deutlichkeit der Fotografie als Schriftträger. Im Abdruck der Fotografien ist schwer auszumachen, ob die Schrift auf der Fotografie oder auf dem Körper der Modelle angebracht ist. 256 | Vgl. Schmidt-Linsenhoff 2000. S. 36. 257 | In der Fotoserie Women of Allah existieren auch Fotografien, die nicht mit persischer Schrift, sondern auch oder ausschließlich mit Ornamenten versehen sind (z.B. Untitled, 1996 oder Identified, 1995). Da hier keine Medienkombination von Literatur und Fotografie stattfindet, dienen hier im Wesentlichen die mit Schrift versehenen Fotografien als Untersuchungsgegenstände. 258 | Vgl. Genge 2004. S. 135.

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nament kennzeichnet hier eine andere Zeitebene, eine schmückende, aktualisierende Zutat.259 Das Fremde des Orients, das für den Europäer nur mit Mühe zu durchdringen ist, wird durch die nicht lesbare Schrift offenkundig gemacht. Der westliche Betrachter wird sich somit bewusst, dass er sich als eine Art „Analphabet für die Kultur des Nahen Ostens“ verortet. Auf der anderen Seite vermutet der Betrachter, dass in der Schrift ein Schlüssel zur Bedeutung des Werkes liegen könnte. Er vermutet, einen Zugang zum Werk finden zu können, wenn er in Lage wäre, die Schrift zu entziffern. Die Schriftzüge auf den Fotografien Neshats sind jedoch dreifach kodiert, zum ersten durch die fremden Buchstaben der persischen Sprache, zum zweiten durch die starke Verkleinerung der Worte, die die Lesbarkeit extrem einschränkt und zum dritten durch ihren Inhalt. Die Texte sind lyrische Texte, die sich durch ihre Mehrdeutigkeit und semantische Offenheit auszeichnen. Poesie als kodierteste aller literarischen Gattungen kann auch dann keine eindeutige Botschaft übermitteln, wenn sie zumindest rein sprachlich entschlüsselbar ist. Valeska von Rosen präzisiert dieses Phänomen wie folgt: „ [. . . ] durch die Kombination der Gattungen Text und Bild mit ihren medialen Spezifika, dass nämlich Bilder, der geringeren Kodiertheit der visuellen Zeichen wegen, semantisch offener sind als die hoch kodierte Schrift, versprechen die Texte Signifikanten zu sein, die uns das Signifikat der Photographien liefern. . . . Doch genau dies lösen die Texte . . . kaum ein.“260

Die beiden Schleier in Neshats Werk, weder der Tschador noch der zarte SchriftSchleier, lassen sich „entlüften“. Shirin Neshat verhindert, dass der Betrachter in ihrem Werk eine klare (politische) Aussage findet. Sie stellt es als Illusion heraus, dass hinter den Schleiern das wahre Gesicht des Islam verborgen sein könnte.261 Was Neshat in ihren Arbeiten artikuliert, ist nicht das tatsächliche, islamische Wesen, sondern sie führt dem Betrachter seine eigenen, meist stereotypen Vorstellungen, Bilder und Klischees vor, die der Westen vom Orient besitzt. An dieser Stelle macht Neshat auch darauf aufmerksam, dass die Fotografie ein Medium ist, das Authentizität zwar suggeriert, aber dennoch keine Wahrheiten liefert. Neshat „liefert . . . Masken, deren Demaskierung uns nicht gelingt.”262 Im Gegensatz zur abendländischen, christlichen Bildkultur kann der muslimische

259 | Vgl. Genge 2004. S. 137. 260 | Von Rosen 2005. S. 81. 261 | Vgl. von Rosen 2005. S. 91. 262 | Von Rosen 2005. S. 91.

3.4. Die Integration literarischer Texte in Fotografien | 197

Orient auf eine lange Schrifttradition zurückblicken. Unter anderem begünstigte das sogenannte islamische „Bilderverbot“263 eine, häufig als bilderfeindlich bezeichnete, Schriftkultur im Islam.264 Häufig wird in Bezug auf Neshats Werke von Kalligraphie gesprochen, doch die Schriftzüge, die auf die Fotografien der amerikanischen Künstlerin aufgetragen sind, sind normale persische Buchstaben. Kalligraphie hingegen verbindet malerische Elemente mit der Schrift und ist, vor allem bei Koranzitaten, und somit meist in arabischer Schrift, zu finden. Die Kalligraphie ist eine Folgeerscheinung des islamischen Bilderverbots,265 das durch die Symbiose malerischer Elemente mit der von Gott gesandten Schrift266 künstlerische Entfaltung auch auf malerischem Gebiet möglich machte. Für den westlichen Betrachter, der die persische Schrift nicht lesen kann, erhalten die Zeichen lediglich einen ornamentalen, schmückenden Charakter. So rekurriert Neshat auf die orientalische Bildtradition, die abstrakte Ornamente von jeher zuließ, wohingegen sie abbildhafte Kunst in Frage stellte. Die Künstlerin ergänzt durch die nachträglich aufgetragenen Schriftzüge ihre Arbeiten also auch um eine Dimension der so genannten islamischen Kunst. Sie betont den visuellen Charakter von Schrift und zeigt, dass Schriftzeichen oder Buchstaben für leseunkundige Betrachter auch einen rein ornamentalen Charakter haben können. 3.4.3 Shirin Neshats Fotoarbeiten und die modernen Medien Eine weitere, subtile Form von Intermedialität lässt sich in Neshats Arbeiten durch die Nähe zu den Medien Zeitung und Fernsehen ausmachen. Das westliche Islambild ist heute hochgradig medial geprägt. Die (bewegten) Bilder, die täglich in Nachrichtensendungen oder in der Zeitung gezeigt werden, prägen das westliche 263 | Vgl. zum islamischen Bilderverbot Rudi Paret, Schriften zum Islam. Volksroman, Frauenfrage, Bilderverbot. Stuttgart 1981 oder M. S. Ipsiroglu, Das Bild im Islam. Ein Verbot und seine Folgen. Wien/München 1971. 264 | Weitere Gründe sind beispielsweise in der langen Tradition mündlicher Überlieferung von Heldengeschichten innerhalb der nomadischen Stämme zu suchen. 265 | Auch in der chinesisch, christlich oder jüdisch geprägten Welt existiert jedoch eine nicht unbedeutende kalligraphische Tradition. 266 | Laut islamischer Überlieferung wurde der Koran von Gott in arabischer Sprache an Mohammed überliefert. Aus diesem Grund gilt die Sprache des Koran als göttlich. Lange Zeit wurde der Koran überhaupt nicht in andere Sprachen übersetzt. Auch Muslime, die der arabischen Sprache nicht mächtig sind, rezitieren den Koran auf Arabisch.

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Orientbild in hohem Maße, zumal nur wenige islamische Kulturgüter, wie bildende Kunst, Musik oder Film, in Europa oder den USA Popularität erreichen. Die teilweise einseitige Berichterstattung unter dem Fokus des fundamentalistischen und radikalen Terrors hat im Westen die Bildung von Klischees über die islamische Welt gefördert. Shirin Neshat ersetzt die medial transportierten Stereotypen nicht, sondern zeigt die Vieldeutigkeit ihrer Repräsentation.267 Sie kombiniert verschiedene mediale Klischees, wie zum Beispiel die unterdrückte Frau und die radikale Kämpferin und produziert so komplexere und flexiblere Lesarten von Bildern.268 Shirin Neshat schafft somit auch ein stärkeres Bewusstsein über das bedeutungskonstituierende Potential von Medien im Allgemeinen. Auch wenn der (indirekte) Verweis auf medial vermittelte Klischees und auf Printmedien und Fernsehen selbst keine Form der Medienkombination darstellt, sondern nur einen intermedialen Bezug, so soll dieser dennoch zur Sprache kommen, um eine weitere, wichtige Bedeutungsebene im Werk der amerikanischen Künstlerin erschließen zu können. Die Fotoserie Women of Allah entstand in den 90er Jahren; es waren also noch nicht die Bilder des 11. Septembers 2001, die im Westen Angst vor islamischem Terror schürten. Die Bilder vom islamischen Fundamentalismus, die sich in das westliche Bildgedächtnis eingeschrieben hatten, waren die Fotografien und Fernsehbilder der islamischen Revolution im Iran 1979.269 Shirin Neshat äußert sich dazu in einem Interview: „Während der brutalen Kämpfe in den Straßen Teherans und während des blutigen Krieges gegen den Irak sahen wir zum ersten Mal Bilder von stolzen, militanten muslimischen Frauen mit schweren Maschinengewehren. Diese eindringlichen und schockierenden Bilder erschütterten definitiv das westliche Bild von der schwachen und untergeordneten islamischen Frau.“270

Neshats Fotografien dekonstruieren folglich das Klischee der schwachen islamischen Frau, aber entlarven gleichzeitig auch das Bild der radikalen Kämpferin als Illusion und Konstrukt. Es wird durch verschiedene Strategien, beispielsweise durch die nachträgliche Beschriftung der Fotografie, also durch Einbeziehung eines zweiten Mediums auf den Konstruktcharakter der Fotografien aufmerksam gemacht. Somit

267 | Vgl. Zabel 2001. S. 17. 268 | Vgl. Zabel 2001. S. 18. 269 | Vgl. von Rosen 2005. S. 88. 270 | Barbara Heinrich/Barbara Großhaus, Echolot oder neun Fragen an die Peripherie. Shirin Neshat. Ausstellungskatalog Museum Fridericianum 22. März - -7. Juni 1998. S. 8.

3.4. Die Integration literarischer Texte in Fotografien | 199

stellt Neshat die (bewegten) Bilder der Medien in Frage, auf die sie sich inhaltlich, aber auch formal bezieht. Das Abgebildete, die schwarz verschleierte Frau mit Maschinengewehr, ist durch Berichte von der islamischen Revolution ebenso bekannt, wie das schlichte schwarz/weiß der Fotografie in seiner Nichtfarbigkeit auf die Zeitungsberichte rekurriert. Die „Verwechselbarkeit von Shirin Neshats Fotoarbeiten mit Ideologieikonen der Printmedien . . . spricht dafür, die Arbeiten weniger auf die soziale Wirklichkeit von Frauen im Iran zu beziehen, sondern eher auf die Weiblichkeitsikonen der Fremdheit, mit denen der westliche Islam-Diskurs geführt wird.“271

Das bereits erwähnte Statement der Künstlerin, in welchem sie bestätigt, Klischeevorstellungen über die islamische Welt zu erforschen und zu dekonstruieren,272 untermauert die These, dass Neshat sich bewusst an den Bildern der modernen Medien (aber natürlich auch an der Kolonialfotografie des 19. Jahrhunderts) orientiert, um so deren Konstruiertheit sichtbar machen zu können. 3.4.4 Shirin Neshat und die Medialisierung von Weiblichkeit Shirin Neshat wird in einem Kontext wahrgenommen, in dem sie und andere feministische Künstlerinnen wie Sophie Calle, Cindy Sherman oder Valie Export mittels verschiedenster Medien die Medialisierung und Fetischisierung von Weiblichkeit untersuchen. Viele feministische Künstlerinnen haben den Körper als Medium genutzt, Schrift auf ihn aufgetragen oder sogar dauerhaft in seine Haut tätowiert.273 Shirin Neshat selbst sagt über ihre Arbeit:274 „Ich verstehe meine Arbeit als bildlichen Diskurs zum Thema Feminismus und zeitgenössischer Islam – als einen Diskurs, der bestimmte Mythen und Wirklichkeiten einer Prüfung unterzieht und zu dem Schluss kommt, dass diese viel komplexer sind, als viele von uns gedacht hätten.“275 271 | Schmidt-Linsenhoff 2000. S. 30. 272 | Ebd. 273 | Vgl. Genge 2004. S. 29. 274 | An dieser Stelle sollte betont werden, dass Neshat sich hier keineswegs nur auf die Fotoserie „Women of Allah“ bezieht. Gerade die Videoarbeiten, mit denen sie Ende der 90er Jahre beginnt, thematisieren (islamische) Weiblichkeit, vor allem den Bezug zwischen der Frau und privaten und öffentlichen Räumen. 275 | Shirin Neshat im Gespräch mit Gerald Matt, In: Neshat 2000. S. 12.

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Shirin Neshat nutzt den Körper nur scheinbar als Trägermedium für die persische Schrift, die die Haut ihrer Modelle bedeckt. In Wahrheit verwendet sie die Oberflächen ihrer Fotografien, die so zum „hybriden Medium“ werden, indem sie als Bildund Schriftträger gleichermaßen genutzt werden. Ein Fokus in Neshats Werk liegt auf Weiblichkeit und ihrer Darstellung in Bild und Poesie. Hier geht es ihr jedoch nicht nur um islamische Weiblichkeit, sondern auch Weiblichkeit im Allgemeinen. Der Einsatz der Schrift ist bei diesem Diskurs von immenser Bedeutung. Malerei und Fotografie haben den weiblichen Körper von je her als Objekt genutzt. Der zumeist männliche Künstler hat die Frau nach seinen Vorstellungen abgebildet. Shirin Neshat entgeht der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt insofern, als dass sie gleichzeitig das Arrangement der Fotos vornimmt und auch in vielen Fällen als Modell zu sehen ist. Viele feministische Künstlerinnen, wie beispielsweise Cindy Sherman, wählen eine Doppelrolle zwischen Künstlerin und Modell und problematisieren so das Verhältnis zwischen künstlerischem Subjekt und abgebildetem Objekt. Der Schleier unterstützt in gewisser Weise den „Entzug des Objekts“, denn er verbirgt den weiblichen Körper vor den Blicken des Betrachters. Der Anblick der Frau als Lustobjekt bleibt verwehrt,276 die verschleierte Frau kann ein Privileg genießen, das sonst dem männlichen Fotografen gebührt, denn sie kann sehen ohne selbst gesehen zu werden. Die schmalen Sehschlitze des Gesichtsschleiers gleichen strukturell dem Kamerablick.277 Diese Gesichtsschleier werden von den Frauen in Neshats Werk nicht tatsächlich getragen, aber in einigen Fotografien, wie beispielsweise in Rebellious Silence ahmt der Schrift-Schleier diese Funktion nach. Der durch diese beiden Schleier und durch Neshats Doppelrolle zwischen Künstlerin und Modell entstehende „Entzug der Frau als Bild“ thematisiert und destabilisiert den männlichen Blick, der den weiblichen Körper als Objekt wahrnimmt und als Projektionsfläche für seine eigenen Vorstellungen von Weiblichkeit instrumentalisiert. Die nachträglich aufgetragene Lyrik in Neshats Werken stammt ausschließlich von persischen Dichterinnen. Sie verleiht den wenig individuellen, reglosen Gesichtern eine eigene Stimme. Diese kann die radikale Bildsprache entweder unterwandern oder auch unterstützen; in jedem Falle ist es eine Sprache, die von einem weiblichen, künstlerischen Subjekt stammt. Die Dichterinnen thematisieren ihre weibliche Identität, allerdings in einem lyrischen und damit hochgradig kodierten Modus. Die Vorstellung, dass Weiblichkeit in Stereotypen zu erfassen und vollständig entschlüsselbar 276 | Vgl. Schmidt-Linsenhoff 2000. S. 31. 277 | Ebd.

3.4. Die Integration literarischer Texte in Fotografien | 201

ist, wird als Illusion entlarvt, das verschleierte, weibliche Objekt kann nicht enthüllt werden. Der interpretatorische Spielraum, den Neshat dem Betrachter beim Anblick ihrer Arbeit ermöglicht, zeigt, dass sich Fragen zu Weiblichkeit (und natürlich zum Islam) nicht einfach beantworten lassen, sondern dass Antworten auf diese Fragen stets komplex sind und dass diese Komplexität niemals vollständig durchdrungen werden kann. 3.4.5 Analyse einzelner Werke der Fotoserie Women of Allah Im Folgenden sollen einige Werke aus Shirin Neshats Fotoserie Women of Allah genauer analysiert werden. Shirin Neshat: I am its secret (1993) Die Fotografie I am its secret von 1993 zeigt das verschleierte Gesicht einer jungen Frau. Der schwarze Schleier nimmt fast den gesamten Bildraum ein, lediglich Stirn, Augen, Nase und ein Teil der Wangen sind unverdeckt. Die sichtbare Haut ist mit konzentrischen Kreisen persischer Schrift bedeckt, die nachträglich mit roter und schwarzer Tinte auf die Fotografie aufgetragen worden ist.278 Da die Schrift sich unter dem Schleier fortzusetzen scheint, wirkt es so, als wäre die Haut des Fotomodells der Schriftträger und nicht die Fotografie. Die Augen und Augenbrauen der verschleierten Frau sind durch starkes, dunkles Make-up akzentuiert. Die Augen sind die einzigen Flecken im Gesicht, die nicht durch die Farsi-Schrift überdeckt sind. Sie blicken den Betrachter direkt und unvermittelt an. Zwischen den Augen befindet sich der kleinste der konzentrischen Kreise aus Schrift, der gleichzeitig den Mittelpunkt des Bildes darstellt. Die Frontalität des Blicks aus den betont geschminkten Augen will nicht recht zu den Bildern von Unterdrückung passen, die der westliche Betrachter nicht selten mit verschleierten Frauen verbindet. Die Frau besitzt eine geheimnisvolle Ausstrahlung, die durch den zarten Schleier aus einer nicht lesbaren Schrift noch verstärkt wird. Doch auch die Übersetzung der Schrift ist nicht in der Lage, das Geheimnis der verschleierten Frau vollständig zu „enthüllen“, denn es handelt sich bei der Schrift um Lyrik, folglich um eine literarische Gattung, die sich durch ihre semantische Mehrdeutigkeit auszeichnet. Im Falle der vorliegenden Fotografie handelt es sich um das Gedicht Ich werde die Sonne ein zweites Mal grüßen, verfasst von der persischen Dichterin Forough 278 | Vgl. von Rosen 2005. S. 81.

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Abbildung 3.7: Shirin Neshat, I am its secret. 19.5 x 13 Zoll. Harzbeschichteter Abzug und Tinte. 1993.

Farrokhzad (1935-1967). Shirin Neshat äußert sich über Farrokhzads Lyrik wie folgt: „Forough’s Writings are about her experiences as a woman in Iranian Culture. Her poetry is extremely personal yet speaks about emotions that might live behind every Persian heart and mind.”279 Die Emotionalität der Lyrik steht also der Reglosigkeit und psychologischen Undurchdringlichkeit des Gesichts radikal gegenüber.280 Der Metaphernreichtum des Gedichts entwirft Bilder aus Sprache, die ebenso wenig

279 | Shirin Neshat, Statement. In: Andreas Hapkemeyer/Peter Weiermair (Hg.), foto text text foto. Synthese von Fotografie und Text in der Gegenwartskunst. Ausstellungskatalog Museion. Museum für Moderne Kunst. Bozen 1996. S. 140. 280 | Vgl. von Rosen 2005. S. 83.

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eindeutig sind, wie die künstlerische Sprache der Fotografien. Das Gedicht ist hier übersetzt zitiert nach Huck/Faber:281 Ich werde die Sonne ein zweites Mal grüßen wie der Bach, der mich durchfloß wie die Wolken, die meine Gedanken durchzogen wie die Pappeln, die schmerzvoll mit mir im Garten wachsen, die trockene Jahreszeit überstanden wie den Schwarm von Raben, der mir den nächtlichen Duft der Felder schenkte wie meine Mutter, die in ihrem Spiegelbild lebte und für mich Spiegel meines Alters war. Ich werde die Erde ein zweites Mal grüßen Deren erregter Leib von der Lust mich zu wiederholen sich mit keimendem Samen erfüllte Ich komme zurück. Ich komme zurück Mit meinem Haar: mit der Fortsetzung des Geruchs unter der Schicht des Staubes Mit meinen Augen: mit den zähflüssigen Erfahrungen der Dunkelheit Mit den wilden Blumen: gepflückt in den Wäldern jenseits der Mauer. Ich komme zurück, zurück, zurück Und die Schwelle ist mit Liebe erfüllt.

Die auf die Fotografie aufgetragene Schrift macht es der verschleierten Frau möglich, auch jenseits von Gestik und Mimik ihre Sehnsüchte zu kommunizieren.282 Obwohl ihr Mund vom Schleier verdeckt bleibt und ihr Gesicht in starrer Emotionslosigkeit verharrt, wird eine Möglichkeit zur Artikulation geliefert. Die Tatsache, dass Text und Bild einander nicht erklären und noch dazu nicht so recht zueinander zu passen scheinen, untermauert die These, dass Neshat den Betrachter dazu animieren möchte, sein Bildverständnis zu hinterfragen und sich der Konstruiertheit der Fotografie bewusst zu werden. Im Gegensatz zur Fotografie, die keine individuelle Persönlichkeit darstellt, sondern vielmehr einen (Stereo-) Typ, liefert das Gedicht die ganz persönlichen Sehnsüchte eines lyrischen Ichs. Trotz der Kontraste zwischen Gedicht und Fotografie existieren subtile Schnittstellen zwischen den beiden Kunstwerken. Erde und Sonne beispielsweise finden ihren Wiederhall in den runden Formen der Fotografie: den Pupillen, der Iris, den konzentrischen Kreisen aus Schrift und nicht zuletzt dem sichtbaren Ausschnitt des Gesichts. Der mehrfache Verweis des lyrischen Ichs auf den Seh- und Geruchssinn wird dadurch reflektiert, dass hinter dem Schleier lediglich die Augen und die Nase sichtbar sind, nicht aber Mund, Ohren oder Hände. Die Ambivalenz des Schleiers, die in der Dialektik zwischen Ver- und Enthüllung besteht, wird in der Fotografie I am its secret noch einmal wiederholt: Der Mund der

281 | Brigitte Huck/Monika Faber, Auf den Leib geschrieben. Ausstellungskatalog Kunsthalle Wien. Wien 1995. S. 12. 282 | Vgl. von Rosen 2005. S. 83.

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Dargestellten wird vom Schleier verdeckt, doch dort, wo dieser Raum lässt, verhilft ein nachträglich aufgetragener Text zur Artikulationsfähigkeit.283 Shirin Neshat: Rebellious Silence (1994) Auch die 1994 entstandene Fotografie zeigt das Porträt einer mit schwarzem Tschador verschleierten Frau. Sie ist in Halbfigur zu sehen, wobei ihre Schultern und Arme vollständig vom Schleier verdeckt bleiben. Über die Mittelachse ihres Gesichts, die gleichzeitig auch die Mittelachse der Fotografie darstellt, hält das Modell einen Gewehrlauf, der große Teile der Nase und des Mundes verdeckt. Auch auf dieser Fotografie ist die vom Schleier unbedeckte Fläche, das Gesicht, nachträglich mit persischer Schrift versehen worden. Die Partie um Augen und Augenbrauen wurde jedoch ausgespart.

Abbildung 3.8: Shirin Neshat, Rebellious Silence. 35.5 x 28 cm. Gelatine-Silber Abzug mit Tinte. 1994. Im Gegensatz zur Fotografie I am its secret existiert in diesem Bild kein Kontrast in der Verbalisierungsfähigkeit von Text und Bild. Es ist bei den meisten Bildern Neshats der Fall dass „Modus und Intentionalität von Text und Bild einander nicht 283 | Vgl. von Rosen 2005. S. 83.

3.4. Die Integration literarischer Texte in Fotografien | 205

entgegen“284 laufen, sondern sich, wie in der Fotografie Rebellious Silence ergänzen. Das Gesicht der Frau ist mit demselben Gedicht überschrieben, wie die Füße auf der Fotografie Allegiance with Wakefulness von 1994, auf der durch zwei Füße hindurch ein Gewehrlauf aus dem Bild hinaus gerichtet wird. Das Gedicht stammt von der Autorin Tahereh Saffarzadeh, die das Thema Gewalt scheinbar ungebrochen in ihren Gedichten reflektiert.285 Die englische Übersetzung des Gedichtes ist bekannt:

O, you martyr Hold my hands with your hands cut from earthly means, Hold my hands I am your poet With an inflicted body I’ve come to be with you and on the promised day we shall rise again ... O light of the eyes O good O my brother O watchful one As bullets in the air break my sleep as if by reflex, I pray for you, guardian of the liberating revolution O lonely hero, watching against the nightly enemy let god safeguard you from calamity. 286

284 | Von Rosen 2005. S. 84/85. 285 | Vgl. von Rosen 2005. S. 84. 286 | Das Gedicht ist vollständig abgedruckt in: Farzaneh Milani, Veils and words: the emerging voices of Iranian women writers. Syracuse 1992. S. 170/171.

206 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Wegen der aggressiv-provokativen Bildsprache dieser Fotografie scheint auf den ersten Blick keine selbstreflexive Brechung zu existieren. Das löst beim Betrachter Irritationen aus und die Frage, was die Bilder tatsächlich meinen, gewinnt an Relevanz.287 Doch wie bereits mehrfach erwähnt dekonstruiert Neshat Stereotypen und Klischeevorstellungen nicht dadurch, dass sie das Bild anders arrangiert, sondern dadurch, dass sie dem Betrachter seine Klischees vor Augen führt und diese dann als Konstruktion sichtbar macht. Dieses funktioniert auch bei der Fotografie Rebellious Silence, die durch die nachträglich aufgetragene Schrift, aber auch durch den streng durchdachten, geometrischen Bildaufbau mit dem Gewehr als Mittelachse, als Konstruktion erkennbar wird. Der Eindruck von Klischees entsteht nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern wird auch durch die formale Gestaltung erzeugt. Durch die starke Reduzierung einer künstlerischen Formensprache, die Farblosigkeit und den fehlenden Hintergrund wird lediglich die Information „verschleierte, bewaffnete Frau“288 wahrgenommen. Die Fotografie soll dem westlichen Betrachter seine Wahrnehmungsgewohnheiten vorführen und durch die scheinbar nicht vorhandene selbstreflexive Brechung innerhalb der Fotografie das Vorhandensein von typischen Klischees über die islamische Welt bewusst machen. So hofft die Künstlerin den Betrachter zu einer aktiven und reflektierten Selbstkonstituierung zu bewegen. Shirin Neshat, Offered Eyes (1993) Die Fotografie Offered Eyes von 1993 zeigt ein geschminktes weibliches Auge. Die Pupille bildet den Mittelpunkt der Fotografie, die lediglich ein Auge, Augenbraue und kleine Ausschnitte von Wange, Stirn und Nase als Ausschnitt einer Porträtfotografie abbildet. Hier umrahmen die nachträglich aufgetragenen persischen Schriftzeichen in konzentrischen Linien die Iris. Das Weiß der Augen scheint somit zum Träger der ornamental wirkenden Schrift zu werden. Die ornamentale Funktion der Schrift ist bei dieser Fotografie besonders präsent, da die persische Schrift sehr klein aufgetragen worden und somit nur noch eingeschränkt lesbar ist. Außerdem ahmt die Form der Schrift die bereits bestehende runde Form der Pupille, der Iris und des Gesichts nach und wird so zum „Binnenmuster innerhalb des Gesichtsumrisses.“289 Das geschminkte Auge ist dem westlichen Publikum kein unbekanntes Motiv. 287 | Vgl. von Rosen 2005. S. 85. 288 | Von Rosen 2005. S. 88. 289 | Genge 2004. S. 134.

3.4. Die Integration literarischer Texte in Fotografien | 207

Abbildung 3.9: Shirin Neshat, Offered Eyes. 35,6 x 27,9 cm. Gelatine-Silber-Abzug mit Tinte. 1993.

Neshat könnte an dieser Stelle auf die Fotografie Tränen von Man Ray aus dem Jahr 1924 rekurrieren.290 Während Man Ray mit den künstlichen Tränen aus Glas die Künstlichkeit seines Werkes fokussiert, so zeigt Neshat dieses mit Hilfe der persischen Schrift, die sich nur scheinbar auf dem Weiß des Auges befindet. Interessanterweise gibt es zwei nahezu identische Fotografien mit dem Titel Offered Eyes. Auf diese Tatsache ist die Literatur bislang noch nicht eingegangen und in ihr kursieren zwei verschiedene Abbildungen und zwar entweder vom linken oder vom rechten Auge. Weder Waffe noch Tschador sind auf diesen Fotografien zu erkennen. Lediglich im Kontext der gesamten Fotoserie weiß der Betrachter, dass es sich bei dem kleinen schwarzen Fleck am linken oder rechten Bildrand um den Tschador handeln könnte. Dennoch ist diese Fotografie als Objekt der Women of Allah Fotoserie erkennbar. Das geschminkte Auge rekurriert auf die Erotik der postkolonialen Orientfotografie, das dunkle Auge und das gesenkte Lid verweisen auf das Bild der orientalischen Frau als exotisches Lustobjekt.

290 | Vgl. Schmidt-Linsenhoff 2000. S. 28/29.

208 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

3.4.5.1 Die Gedichte Forough Farrokhzads und Tahareh Saffarzadehs Shirin Neshat liefert für die Ausstellung foto text text foto ( 13.9-17.11. 1996, Bozen & 21.1.-3.3. 1997, Frankfurt) ein Statement, in dem sie die Bedeutung der lyrischen Texte für ihre Fotografien verdeutlicht. Neshat gibt an, dass ihre Fotografien vom Geist der Lyrik der persischen Dichterinnen stark beeinflusst sind. Das Kommunikationssystem der Fotografien ähnelt dem der Gedichte: es ist minimal, emotional komplex, aber dennoch konzise. Neshats Fotografien visualisieren die Texte der Dichterinnen. Neshat erläutert ihre Methode wie folgt: „Similar to a writer, I established my vocabulary: the veil, the body, the text, the firearms and then I continued to improvise within this framework.“291 Neshat glaubt an die intellektuelle Stärke der islamischen Frau, der Text der persischen Dichterinnen dient dazu, die negativen Stereotypen der unterdrückten und unterwürfigen islamischen Frau in Frage zu stellen. Die beiden Dichterinnen, die Neshat zitiert, verweisen ganz unterschiedlich auf ihre weibliche Eigenständigkeit: Forough Farrokhzad durchbricht soziale Grenzen, indem sie ihre körperlichen, emotionalen und sexuellen Wünsche artikuliert. Tahareh Saffarzadeh hingegen offenbart keine persönlichen Wünsche, sondern formuliert religiöse Wünsche, vor allem den nach weiblicher Partizipation an der islamischen Revolution.292 Ebenso wie in den zuvor besprochenen Fotoromanen hat sich auch für die Kunst Neshats herausgestellt, dass die Kombination von Text und Fotografie auf sehr verschiedene Weise die Intentionen des Kunstwerks mitgeneriert. Viele feministische Künstlerinnen arbeiten innerhalb ihrer Fotografien mit Textbestandteilen, doch Neshats Arbeiten nehmen dennoch einen besonderen Stand ein: Zum einen, weil ihre Schriftzüge in persischer Schrift nachträglich auf die Fotografien aufgetragen worden sind, zum zweiten, weil ihre Texte lyrische Texte sind. Aus diesen Besonderheiten ergibt sich, dass die Funktionen der Text-Bild-Kombination ebenfalls besondere sind. Das Oszillieren der Schriftzeichen zwischen Ornament und Lesbarkeit, der daraus resultierende Verweis auf den kolonialisierenden männlichen Blick und die Dekonstruktion sämtlicher westlicher und männlicher Klischees über das Wesen der islamischen Frau sind die wesentlichen Punkte, um die die Botschaften der Fotografien Neshats kreisen.

291 | Neshat 1996. S. 140. 292 | Ebd.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 209

3.5 I NTEGRATION LITERARISCHER T EXTE IN F OTO -B ÜCHERN Eine spannende Verbindung von Literatur und Fotografie kann auch in FotoBüchern bekannter Künstler stattfinden. In den folgenden zwei Beispielen werden Fotografien nicht ausschließlich, aber auch mit einem (literarischen) Text kombiniert, der nicht von den Fotografen selbst stammt, sondern aus bereits erschienenen literarischen Werken übernommen wurde. In dem Fotobuch Double Game präsentiert die französische Künstlerin Sophie Calle nicht nur ihre Text und Fotografie enthaltenden Kunstprojekte, sondern setzt diese auch in Bezug zu Paul Austers Roman Leviathan, dessen Figur Maria Turner als fiktionales Alter Ego Sophie Calles konstruiert ist. Die Künstlerin verfolgt hier also zum einen eine Neuzusammenstellung ihrer Werke, zum anderen aber auch einen direkten Bezug zu einem erfolgreichen Roman. In Michael Lesys Wisconsin Death Trip werden Fotografien des Stadtfotografen Charles Van Schaik aus den Jahren 1890-1900 mit zeitgenössischen Quellen, wie Zeitungen und Berichten aber auch mit Erzähltexten kombiniert. Durch den schockierenden Inhalt der intuitiv mit den Fotografien zusammengebrachten Texte entwirft Lesy ein düsteres Bild Amerikas während der Jahrhundertwende.293 Da die literarischen Texte nicht vollständig, sondern nur in Ausschnitten abgedruckt sind, fallen an dieser Stelle die beiden intermedialen Kategorien Medienkombination und intermedialer Bezug zusammen. Die Textausschnitte können als pars pro toto für den vollständigen Text stehen, der zwar nicht komplett materiell anwesend ist, auf den der Rezipient aber rekurrieren kann. Nichtsdestotrotz funktionieren die Fotobücher auch ohne Kenntnis der nicht abgedruckten Textstellen. 3.5.1 Die wahren Geschichten der Sophie Calle: Erzählende Fotografien Die französische Künstlerin Sophie Calle verknüpft in vielen ihrer Arbeiten Texte und Fotografien und gilt gemeinhin als „wichtigste Protagonistin einer erzählerischen Fotografie“.294 Ganz bewusst wird die Künstlerin sowohl mit Erzählungen als auch mit Fotografien in Verbindung gebracht. Sophie Calle ist für die vorliegende Arbeit deswegen so interessant, weil sie weder eine Fotografin ist, die auch Texte verfasst, noch eine Erzählerin, die auch fotografiert. Es ist die „unabdingbare Verflechtung von 293 | Vgl. Sontag 2006. S. 74/75. 294 | http://www.ludwigforum.de/Ausstellungen/archiv/2005/index.html 18.02.2010

vom

210 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Bild und Text, die Sophie Calle auszeichnet und die ihr originäres Medium der Weltund Selbstdurchdringung bildet.“295 Grundsätzlich hat das literarisch-fotografische Werk Calles zwei Erscheinungsformen: Zum einen Installationen in Museen, wo ein Arrangement aus Fotografien und gerahmten Texten stattfinden kann, zum anderen Buchpublikationen, in denen Texte und Fotografien miteinander kombiniert werden.296 Keineswegs sind die beigefügten Texte, sei es im Buch oder in Ausstellungen, nur als erklärendes Beiwerk zu den Fotografien der Künstlerin zu verstehen. Einige Kritiker vertreten sogar die Auffassung, dass Calles Projekte297 Erlebnisberichte seien, in denen die fotografischen Bilder dem Text als Illustrationen und Beweisstücke untergeordnet sind.298 Paul Auster schreibt sogar, dass Calles Fotografien nicht unbedingt konstitutiv für ihre Arbeit seien: „I think of her as a story-teller - she takes photographs but that’s really not what her work is about.”299 In jedem Fall spiegelt die Kombination beider Medien einen wichtigen Ansatz Sophie Calles wieder: Ihre Projekte sind Experimente, in denen Calle bestimmte Rahmungen vorgibt, um zu sehen, was geschieht.300 Zu der Kom295 | Ebd. 296 | Johnnie Gratton, Experiment and experience in the phototextual projects of Sophie Calle. In: Gill Rye, Michael Worton (Ed.), Women’s Writing in contemporary France. Manchester 2002. S. 157. 297 | Der Begriff „Projekt” wird häufig für die Kunstwerke Sophie Calles (und von Paul Auster auch für die Maria Turners) verwendet und von Johnnie Gratton wie folgt definiert: „A project involves thinking up and then setting up a situation that will be allowed to run its course under certain conditions.” (Gratton 2002. S. 157/158.) Entscheidend ist also, dass Calle zwar Bedingungen vorgibt, dem Projekt aber auch eigenen Raum zugesteht und Unerwartetes geschehen lässt. Sie wählt ihre Projekte derart, dass sie nicht auf alle Elemente eingreifen kann und dass äußere Umstände oder andere Personen auf ihre Kunst Einfluss nehmen könnten. Sie gibt Rahmungen vor, aber der Ausgang ist ungewiß. Es ist offenkundig, dass kaum ein gängiger Begriff der Kunstbeschreibung, wie etwa Installation oder Happening, für Calles Projekte vollständig zutreffend ist. Calle selbst wählt für ihre Arbeiten auch häufig den Begriff „Ritual”, der eine spirituelle Konnotation besitzt. Auch der Begriff des „Experiments” ist sehr zutreffend, da dieser sowohl die feste Rahmung als auch den ungewissen Ausgang der Arbeiten Calles mitreflektiert. 298 | Vgl. Bräunert 2008. S. 90. 299 | Paul Auster zitiert nach: Jane Burton, Sophies World. In: The Independent. January 17, 1999. http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/sophiesworld-1074440.html vom 14.04.2010. 300 | Vgl. Gratton 2002. S. 158

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 211

ponente des Sehens gehört nun die Fotografie, zu der des Geschehens der schriftliche Text. Nach eigenen Angaben stellt Calle sich selbst die Aufgabe, ihr Publikum zum (Bilder-)Lesen im Stehen zu verleiten.301 Sie misst ihren Texten eine große Bedeutung bei und investiert an dieser Stelle viel Mühe in Formulierung und Wortwahl.302 Sophie Calles Werke erfordern folglich einen Rezipienten, der Betrachter und Leser zugleich ist.303 3.5.1.1 Double Game: Aufbau und Komposition Serialität und Ritual, Selbst- und Fremdbeobachtung sowie die Durchdringung von Öffentlichkeit und Privatheit sind wichtige Bezugspunkte der Arbeit Sophie Calles. Diese können, neben der Verknüpfung von Fotografie und Erzählen, sehr gewinnbringend im Hinblick auf das Verhältnis von Literatur und Fotografie untersucht werden. Besonders im Fotobuch Double Game sind die genannten Elemente von tragender Bedeutung. Double Game ist ein Metaprojekt, da es acht bereits stattgefundene Projekte mit zwei neuen zusammenführt.304 Hier ist anzumerken, dass das Projekt The Detective (orig. La Filature) vor der Erscheinung von Double Game nicht verfügbar war, wohingegen beispielsweise Suite Vénitienne und L’Hôtel bereits in Buchform existierten. Bei diesen beiden Werken sind jedoch kleine Veränderungen in Text und Fotografie zu beobachten, ebenso wie insgesamt Unterschiede zwischen dem französischen Paperback von Double Game und der englischen Hardcoverausgabe festzustellen sind.305 Die französische Ausgabe besteht aus sieben kleinen Büchern, die jeweils ein Projekt umfassen, die englische Ausgabe präsentiert alle Projekte gemeinsam in einer aufwendigen Hardcoverausgabe. Johnnie Gratton folgert aus dieser Beobachtung richtigerweise, dass das Trägermedium Buch die enthaltenen Ausdrucksmedien Text und Fotografie beeinflusst: „Different book formats will affect what Calle decides to select from her own archive and how

301 | Ebd. 302 | Vgl. Rentsch 2008. S. 17. 303 | Dennoch lässt sich die Tatsache kaum ignorieren, dass „die Fotografien aber allein schon wegen ihrer Größe und Eindringlichkeit wesentlich stärker wahrgenommen werden und daher als dominant einzustufen wären.” (Rentsch 2008. S. 49.) 304 | Vgl. Gratton 2002. S. 160. 305 | Vgl. Gratton 2002. S. 161.

212 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

she decides to present that selection, just as the different physical settings offered by different museums and galleries will affect the precise content and layout of her exihibitions.”306

Sophie Calle reagiert folglich auf verschiedene Kontexte mit verschiedenen ästhetischen Arrangements. Hier wird deutlich, dass die Bild-Text-Kombinationen nicht nur Bedeutungsträger sind, sondern auch auf ästhetischer Ebene wirksam werden sollten. Im vorliegenden Kapitel wird im Wesentlichen auf die englische Ausgabe Bezug genommen. Da es sich nicht um eine Übersetzung handelt, sondern von der Künstlerin selbst in englischer Sprache verfasst wurde, kann man hier durchaus von einem zweiten Original sprechen. Dennoch wird an einigen Stellen die französische Ausgabe zum Vergleich herangezogen, da Calles Wortspiele interessanterweise in beiden Sprachen funktionieren. Ein vollständiger Vergleich zwischen den beiden, vor allem im Layout recht unterschiedlichen Ausgaben, soll aber nicht geleistet werden. Den wichtigsten Bezugspunkt des Fotobuchs Double Game bildet ein literarisches Werk. Paul Auster verwendete für seinen Roman Leviathan einige Kunstwerke Sophie Calles, um sie seiner literarischen Figur Maria Turners zuzuschreiben. Maria ist die exzentrische Affäre des Ich-Erzählers und Protagonisten, der die Beziehung zu Maria wie folgt beschreibt: „In my case, I belonged to the category of sex. She appointed me as her bed partner on that first night, and that was the function I continued to serve until the end. In the universe of Maria’s compulsions, I was just one ritual among many, but I was fond of the role she had picked for me, and I never found any reason to complain.” (L 60)

Bis zu dieser Stelle ist Maria eine gewöhnliche literarische Figur, doch von nun an lassen sich auffällige Parallelen zwischen Maria Turner und Sophie Calle feststellen. Nicht nur die Beschreibung Marias als Künstlerin (L 60), die ebenso gut auf Sophie Calle zutreffen könnte, sondern vor allen Dingen die Projekte Marias sind denen der französischen Künstlerin Sophie Calle entlehnt. Sophie Calle reagiert mit Double Game auf ihre Fiktionalisierung in Paul Austers Roman Leviathan und beschreibt zu Beginn des Buches die „Spielregeln” ihres Kunstwerks: „In his 1992 Novel Leviathan, Paul Auster thanks me for having authorized him to mingle fact with fiction. And indeed, on pages 60 to 67 of his book, he uses a number of episodes from my life to create a fictive character named Maria, who then leaves me to live out her own story. Intrigued by this double, I decided to turn Paul Auster’s novel into a game and to make my own particular mixture of reality and fiction.” (DG, The Rules of the Game) 306 | Ebd.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 213

Dieses doppelte Spiel der Vermischung ihrer selbst mit einer literarischen Figur entwickelt Calle in ihrem Werk Double Game in drei Kapiteln. Das erste Kapitel zeigt, wie die Figur Maria Turners Sophie Calle beeinflusste, das zweite zeigt die Einflüsse Calles auf die fiktionale Maria Turner und das dritte besteht aus dem Gotham Handbook, einem Projekt, in dem Sophie Calle den Anweisungen Paul Austers folgt, wie sie das Leben in New York verbessern könnte.307 Den Kapiteln vorgeschaltet sind nicht nur die bereits zitierten Spielregeln, sondern auch die originalgetreu eingebetteten Seiten des Romans, die die Figur Marias und ihr künstlerisches Wirken näher beschreiben. Hier hat Calle mit einem Rotstift die Textstellen korrigiert, an denen Maria von ihrer eigenen Person abweicht. Bei dieser Korrektur bleibt der gedruckte Text allerdings lesbar, wodurch es dem Rezipienten möglich wird, beide Texte zueinander in Beziehung zu setzen. Die Korrektur Calles scheint den literarischen Text nicht tilgen zu wollen, sondern belässt ihn als mögliche fiktionale Umformung der eigenen Projekte. Im ersten Kapitel beschäftigt sich Sophie Calle mit den Kunstprojekten, die eine Erfindung des Autors Paul Auster darstellen. Sophie Calle „spielt” diese in Double Game nach, um die Grenzen zwischen ihr selbst als Künstlerin und der literarischen Figur Maria weiter aufzulösen. „In order to bring Maria and myself closer together, I decided to go by the book. The author imposes on his creature a chromatic regimen which consists in restricting herself to foods of a single color for any given day. I followed his instructions. He has her base whole days on a single letter of the alphabet. I did as she does.” (DG 10/11)

Sophie Calle reagiert in Double Game folglich auf ihre literarische Fiktionalisierung indem sie versucht, dieser noch näher zu rücken. Sie begreift Teile des Romans als eine Art Drehbuch für ihre eigene Kunst. Im zweiten Kapitel listet Sophie Calle auf, welche Projekte Marias mit den ihrigen in weiten Teilen übereinstimmen und inszeniert eine Neuaufarbeitung der von Paul Auster zitierten Arbeiten.308 307 | Da das Gotham Handbook nicht mit Paul Austers literarischem Text Leviathan in Verbindung steht und seine “Personal Instructions for S.C. On How to Improve Life in New York City” (DG 238) nicht unbedingt als literarischer Text gelesen werden müssen, wird das Gotham Handbook in dieser Arbeit nicht berücksichtigt. 308 | Vgl. Susanne Knaller, Autobiografie und Realismus in der zeitgenössischen Kunst. Mit Beobachtungen zu Sophie Calle und zum künstlerischen Dokumentarfilm. In: Dies. (Hg.), Realitätskonstruktionen in der zeitgenössischen Kultur. Beiträge zu Literatur, Kunst, Fotografie, Film und zum Alltagsleben. Wien 2008. S. 66.

214 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

„The rituals that Auster “borrowed” from me to shape Maria are The Wardrobe, The Striptease, To Follow. . . , Suite Vénitienne, The Detective, The Hotel, The Address Book, and The Birthday Ceremony. Leviathan gives me the opportunity to present these artistic projects that inspired the author and which Maria and I now share.” (DG 32/33)

Die Präsentation der Projekte erfolgt in chronologischer Reihenfolge in Bezug auf die Entstehungszeit, nicht in Bezug auf die Nennung im Roman. Calle führt Buch und Kunstprojekt zusammen, indem jedes Projekt ein Kapitel darstellt und auf diese Weise wie ein Teil einer fortlaufenden Erzählung konstruiert ist. 3.5.1.2 Das doppelte Spiel Paul Auster bedankt sich unter seinem Copyright bei Sophie Calle, wie diese in ihren Spielregeln auch betont, in seinem Roman Leviathan Fakten und Fiktionen vermischen zu dürfen. Diese Seite druckt Sophie Calle noch vor ihren Spielregeln ab und umrandet die Danksagung mit einem roten Stift. Als allererstes jedoch gestaltet sie eine Seite, die dem Layout der Seite aus Leviathan vollkommen ähnelt und versäumt nicht, unter ihrem Copyright die Danksagung Austers fast exakt zu wiederholen: „The author extends special thanks to Paul Auster for permission to mingle fiction with fact.“ An dieser Stelle ersetzt Calle nicht nur ihren Namen durch den Austers, sondern vertauscht auch die Wörter „fact with fiction“ mit „fiction with fact.“ Während für Auster also die „Fakten“ aus dem Leben Sophie Calles den Ausgangspunkt seiner künstlerischen Auseinandersetzung darstellten, so bildet der fiktionale Text Leviathan den Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit Calles. Sophie Calle und Paul Auster wechseln in den jeweiligen Kunstwerken ihre Rolle vom Bezeichnenden zum Bezeichneten und umgekehrt.309 Die Funktionen dieses Rollenwechsels beschreibt Anna Khimasia wie folgt: „The movement between Auster and Calle and Calle and Auster enables difference to be articulated. Meaning is no longer produced through the closure of signifier and signified, rather through the free-play of the signifier. Calle and Auster deconstruct and expose the arbitrary linkage of signifier and signified. [...] Calle and Auster are able to move between the author and the author/subject; this oscillation between enables Calle and Auster to highlight not only the

309 | Anna Khimasia, Authorial Turns: Sophie Calle, Paul Auster and the Quest for Identity. In: Image & Narrative. Online Magazine of the Visual Narrative. Issue 19. November 2007. http://www.imageandnarrative.be/autofiction/khimasia.html vom 23.03.2010.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 215

similarities between the author and the author/subject but also the differences and inconsistencies.”310

An dieser Stelle ist zu bemerken, dass Calle ihr doppeltes Spiel schon vor ihrer Erläuterung der Spielregeln offen legt: Auster verwendet Ereignisse aus dem Leben Calles um diese in seinen Roman einzubetten und Calle reagiert wiederum auf diesen Roman, indem sie die intraliterarischen Ereignisse zu Ereignissen ihres Lebens macht. Das doppelte Spiel von Calle und Auster kann jedoch auch als ein dreifaches gewertet werden. Sophie Calles Projekte dienten bereits als Vorbild für den Roman Die unsichtbare Frau von Siri Hustvedt, die mit Auster verheiratet ist. Der Roman erschien im selben Jahr wie Leviathan, nämlich 1992. Dies ist jedoch nicht die einzige Parallele zwischen den Romanen: Die Protagonistin in Die unsichtbare Frau heißt Iris, ebenso die Frau des Erzählers in Leviathan. Hier wird Iris Erscheinung, ihrem Anagram Siri entsprechend, als betörende, große skandinavische Blondine geschildert, was Hustvedt wiederum einen eigenen Platz in Leviathan beschert.311 3.5.1.3 Fakt und Fiktion? Barbara Heinrich schreibt in ihrem Text zu einer Sophie Calle Ausstellung in Kassel, dass die Künstlerin Sophie Calle formal mit der Gegenüberstellung von Text und Bild und inhaltlich mit der Vernetzung von Realität und Fiktion arbeite.312 Diese Vermischung zwischen Fakten und Fiktionen wird immer wieder als ein wesentliches Element der Kunst Sophie Calles bezeichnet, das besonders im Fotobuch Double Game bestimmend wird: Zum einen findet eine Annäherung zwischen einer literarischen Figur und einer tatsächlich lebenden Künstlerin statt und zum anderen zeichnen sich auch die gezeigten Projekte durch eine enge Verknüpfung von Realität und fiktionaler Idee aus. Diese Verknüpfung schlägt sich formal auch im Ineinandergreifen von Text und Fotografie nieder. Sie wird dadurch gespiegelt, dass das fotografische Bild die Aura des Realen und Authentischen besitzt, wohingegen der literarische Text eng mit dem Begriff der Fiktionalität verknüpft ist. Die Vermischung von Fakten und Fiktionen kann nicht nur Sophie Calle zugeschrieben werden, auch Paul Auster gibt an, in seinem Werk Leviathan Fakt und

310 | Khimasia 2007. http://www.imageandnarrative.be/autofiction/khimasia.html vom 23.03.2010. Hervorhebung im Text. 311 | Vgl. Bronfen 2009. S. 166ff. 312 | Vgl. Barbara Heinrich, Die wahren Geschichten der Sophie Calle. Ausstellungskatalog. Museum Fridericianum 8. April 2000-21. Mai 2000. S. 17.

216 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

literarische Fiktion miteinander zu verschmelzen. Auch wenn er im Paratext wohl die Verbindung seiner literarischen Figur Maria zu der real existierenden Künstlerin Calle meint, so ist dennoch zusätzlich auch eine Verbindungslinie von seiner Person zu dem Protagonisten und Ich-Erzähler Peter Aaron zu ziehen. Diese teilen nicht nur die gleichen Initiale, Peter Aarons zweite Frau heisst Iris, ein Anagramm von Paul Austers tatsächlicher Frau Siri.313 Weitere biographische Ähnlichkeiten zwischen Protagonist und Autor unterstützen die These, dass auch auf dieser Ebene eine Vermischung von Fakten und Fiktionen in Leviathan stattfindet, auch wenn sie nicht so dominant erscheint, wie in der Verbindung von Sophie Calle und Maria Turner im Roman und im Fotobuch Double Game. Generell sollte hier festgehalten werden, dass die Vermischung von Fiktion und Faktizität nicht nur im Bezug auf das Medium Fotografie oder die Projekte Calles, sondern auch hinsichtlich bestimmter rein literarischer Genres, wie zum Beispiel der Autobiographie, diskutiert wird.314 Die Vermischung von Realität und literarischer Fiktion wird besonders deutlich, wenn Calle den Originaltext Austers mit einem Rotstift korrigiert und die Angaben zu Maria Turners Kunstaktionen durch Bemerkungen zu ihren eigenen Projekten ersetzt.315 Sophie Calle schließt so eine Lücke zwischen ihrer Person und der literarischen Figur Maria Turner. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass die Art, wie Calle Austers Text durchstreicht, immer noch ein Lesen des Originaltextes möglich macht. Sowohl Calles als auch Austers Stimme bleiben so für den Leser nachvollziehbar. Trotz der Korrektur des Textes, bleibt dieser in seiner ursprünglichen Fassung und damit in seinem eigenständigen Wert erhalten. Doch nicht nur auf diese Art und Weise scheint Calle die Vermischung von Fakten und Fiktionen aufzudecken. Die Vermischung gipfelt auch umgekehrt in der Tatsache, dass Calle fiktionale Projekte Marias inszeniert und so in die Wirklichkeit überführt. „Dadurch, dass Calle den Roman Leviathan zur Grundlage von Doubles-Jeux macht, erscheinen ihre Bild-Text-Hybride im Licht größerer Authentizität und vermeintlicher Wahrheit. Austers Fiktion fungiert in dieser Gegenüberstellung wie der Spiegel für eine Realität, die Calle in ihrer Sammlung als Antwort auf den Roman aufblättert und zur Schau stellt.”316

313 | Vgl. Khimasia 2007. http://www.imageandnarrative.be/autofiction/khimasia.html vom 23.03.2010. 314 | Vgl. Kittner 2008. S. 102. 315 | Vgl. Rentsch 2008. S. 201. 316 | Rentsch 2008. S. 201.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 217

An dieser Stelle stellt sich die Frage, inwiefern die Projekte Calles und ihre Selbstinszenierung als Künstlerin als Fakten gewertet werden können. Meines Erachtens nach stellen die künstlerischen Projekte Calles keineswegs ein Faktum im herkömmlichen Sinne dar, sondern sind selbst eine künstlerische Fiktion. Elisa Kittner argumentiert ganz ähnlich, wenn sie schreibt, dass „in konsequenter Regelmäßigkeit eine vorgebliche Aktion im Leben Sophie Calles einem Kunstwerk gegenübergestellt“317 werde. Sie betont, dass die Informationen über die Projekte Calles den Texten ihrer Kunstwerke entstammen, somit selbst Teile ihrer künstlerischen Arbeit sind und konstatiert: „Leben und Werk werden auf eine Weise kurzgeschlossen, die möglicherweise Calles Intention der Authentifizierung entgegenkommt, jedoch den ebenso wesentlichen Aspekt des Fiktiven verkennt.“318

Kittner kritisiert an dieser Stelle vor allem die fehlende kritische Reflektion der scheinbaren Verknüpfung von Leben und Werk der Sophie Calle von Seiten der Kuratoren ihrer Ausstellungen. Paul Auster ist diese fehlende kritische Distanz jedoch kaum anzukreiden. In seinem Roman reflektiert er über das Leben Maria Turners bzw. Sophie Calles als Kunstfigur. Er begreift ihre Projekte nicht als Teil ihres Lebens, sondern ihrer Kunst und negiert somit keineswegs die Unterschiede zwischen Kunst und Leben. Sophie Calle hingegen spielt mit der Inszenierung ihrer Selbst als Kunstfigur, insbesondere in ihrem Fotobuch Double Game. Hier behauptet sie nämlich nicht nur, dass sie sich, dem Beispiel Maria Turners folgend, einer Farbdiät unterzogen hat, sondern versucht, diese Behauptung auch durch Fotografien dieser Speisen zu illustrieren und zu authentifizieren. Ob es stimmt, dass Calle diese Speisen selbst zubereitet und gegessen hat, kann der Rezipient nicht überprüfen, ebenso wenig wie er diese künstlerische Handlung mit dem Leben Calles, das außerhalb ihrer Kunst stattfindet, verknüpfen kann. In ihren Kunstwerken gelingt es Calle, die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit scheinbar zu verwischen, allerdings nur, wenn der Rezipient ihren den Fotografien beigefügten Texten glauben schenkt. Ohne die konzeptuelle Verbindung von Fotografie und Text würde folglich ein Aspekt in Sophie Calles Kunst kaum wahrgenommen werden können, nämlich die vielzitierte „reziproke Prozessualität zwischen Fiktion und Realität.“319

317 | Kittner 2009. S. 60. 318 | Ebd. 319 | Knaller 2007. S. 186.

218 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

3.5.1.4 The life of Maria and how it influenced the life of Sophie Sieben Jahre nach dem Erscheinen von Paul Austers Roman Leviathan präsentiert Sophie Calle in ihrem Fotobuch, zu welchen künstlerischen Projekten sie von Austers literarischer Figur Maria Turner inspiriert wurde. Der Großteil der im Roman beschriebenen Kunstprojekte Turners lässt sich auf die Arbeiten Sophie Calles zurückführen, einige wenige der erwähnten Projekte sind jedoch auch Erfindungen des Autors, die sich nicht auf außerliterarische (Kunst-) Ereignisse berufen. Diese rein fiktionalen Kunstprojekte sind zum einen eine Ernährung nach Farben und zum anderen das Verbringen ganzer Tage unter dem Bann eines bestimmten Buchstaben (L 61). Sophie Calle gibt in Double Game an, diese Projekte nachgespielt zu haben, um ihrem literarischen Alter Ego Maria Turner ein wenig näher zu rücken. Es geht Calle laut eigenen Angaben „um die Idee, einem Roman zu gehorchen wie dem eigenen Schicksal.”320 Ebenso wie Paul Auster Calles Arbeiten leicht modifiziert hat, so erlaubt sich auch die französische Künstlerin, kleine Veränderungen bei der tatsächlichen Neuinszenierung der fiktionalen Kunstprojekte vorzunehmen. Paul Auster beschreibt Maria Turners „chromatic diet“ wie folgt: „Some weeks, she would indulge in what she called ‘the chromatic diet’, restricting herself to foods of a single color on any given day. Monday orange: carrots, cantaloupe, boiled shrimp. Tuesday red: tomatoes, persimmons, steak tartare. Wednesday white: flounder, potatoes, cottage cheese. Thursday green: cucumbers, broccoli, spinach – and so on, all the way through the last meal on Sunday.” (L 60/61)

Sophie Calle gibt nun an, ihr fiktionales Alter Ego nachzuahmen und ernährt sich eine Woche lang mit nach Farben geordneten Speisen. Da Auster einigen Wochentagen keine Farben zugeordnet hat, entschließt sich Calle, schenkt man den Textangaben in ihrem Werk Glauben, das Projekt zu Ende zu denken und am Freitag nur gelbe und am Samstag nur pinke Speisen zu sich zu nehmen. Außerdem ergänzt die Künstlerin die Speisenauswahl um farblich passende Getränke. Für Sonntag, den letzten Tag der „chromatischen Woche” beschließt Calle sechs Gäste einzuladen, welche jeweils ein „Farbgericht“ ausprobieren dürfen. Die Fotografie besitzt in diesem Projekt eine illustrierende, ästhetische und authentizitätsstiftende Funktion: Calle fotografiert die Speisen auf einem farblich passenden Untergrund und druckt die Fotografien in Double Game über der Beschreibung des Menüs ab. So kann sich der Leser einen visuellen Eindruck von den Spei-

320 | Sophie Calle, zitiert nach Heinrich 2000. S. 11.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 219

sen verschaffen und sich insbesondere von ihrer besonderen Farbigkeit überzeugen. Diese macht auch die ästhetische Wirkung der Fotografie aus, zumal die Farben der Teller, der Servietten, der Untersetzer und des Bestecks passend zur Speise gewählt worden sind. Auch der Untergrund, auf dem die Speisen arrangiert sind, ist farblich passend gewählt. Die sieben einheitlich farbkodierten Aufsichten grenzen sich durch die wenig appetitliche Eintönigkeit und die starre Aufsicht von der kommerziellen Foodfotografie ab. Auch die sogenannte „Eat-Art”, die Kochkunst und Bildende Kunst strukturell zusammenführt, kann nur als vager Bezugspunkt dienen. Stattdessen verweist die Ähnlichkeit der sieben Fotografien auf das Zeremonielle der Nahrungsaufnahme. Text und Bild wirken in ihrer Verbindung authentisch auf den Rezipienten, da die Fotografien beweisen, dass sich die nach Farben geordneten Speisen tatsächlich vor Calles fotografischer Linse befunden haben müssen. So wird es dem Betrachter und Leser leicht gemacht, dem umgebenden Text Glauben zu schenken und somit anzunehmen, dass Calle sich tatsächlich sechs Tage lang von diesen Speisen ernährt hat. Trotzdem können diese Annahmen weder durch den Text, der Teil einer künstlerischen Inszenierung ist, noch durch die Fotografien bewiesen werden. Es bleibt unklar, ob Kunst und Leben sich durch die tatsächliche physische Ernährung und das Einladen wirklicher Gäste wahrhaftig durchdringen oder ob die Vermischung von literarischer Fiktion und lebensweltlichen Fakten nur eine Inszenierung Calles (und Austers) darstellt. Eine weitere Authentisierungsstrategie Calles ist das angebliche leichte Modifizieren der Speisen, wenn sie mit dem Farbergebnis nicht zufrieden ist. So schreibt sie zum „weißen Menü“: „I changed this menu, because I was not satisfied with the yellow color of the potatoes, and added: Rice, Milk.“ (DG 16) Es entsteht die Illusion, dass sich die Künstlerin nicht auf Austers Text verlässt, sondern sämtliche Gerichte selbst kocht und deren Farbigkeit bewertet und gegebenenfalls optimiert. An dieser Stelle fällt es auf, dass Sophie Calle gelegentlich das Menü ändert, ohne darauf hinzuweisen: beim “roten Menü” ersetzt sie Austers (orange) Sharonfrucht durch Granatapfelkerne. Die authentische Wirkung der in Double Game präsentierten Projekte ist gekoppelt an die von Calle inszenierte Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Leben. Diese wird am deutlichsten, wenn sie den letzten Tag ihrer „chromatischen Woche“ beschreibt. Da Paul Auster für diesen Tag keine bestimmten Angaben gemacht hat, beschließt sie: „As for Sunday, I decided to devote it to the full spectrum of colors, setting out for six guests the six menus tested over the week.“ (DG 12/13) Neben der Fotografie dieser sechs Speisen, bunt auf einem schwarzen Untergrund präsentiert, platziert Calle einen Text, der nicht nur das Erscheinen echter Gäste suggeriert,

220 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

sondern auch deren persönliche Empfindungen bei der Einbindung in Calles Kunstprojekt beschreibt. Die Vermischung von Fakt und Fiktion findet hier also zweifach statt: Zum ersten dadurch, dass Calle Austers fiktives Kunstprojekt als solches in die Realiät überführt und zweitens dadurch, dass sich innerhalb dieses Kunstprojekts, durch die Beteiligung unbeteiligter Dritter, die Grenzen zwischen Kunst und Leben auflösen. Trotz dieser direkten Verbindung von Austers Roman, Calles Kunst und der lebensweltlichen Wirklichkeit, lässt es sich Calle jedoch nicht nehmen, an dieser Stelle humorvoll auf die Unterschiede zwischen Kunst und Leben hinzuweisen. Sie schreibt: „Personally, I preferred not to eat; novels are very well but not necessarily so very delectable if you live them to the letter“ (DG 21). Was im Roman funktioniert, ist als echtes Projekt kaum genießbar. Die Illusion, dass Calle tatsächlich eine Woche nach chromatischer Diät gelebt hat, wird durch diese Aussage allerdings unterstützt: Calle gibt an, das Essen probiert zu haben und somit scheint es, sofern die abgedruckten Texte der Wahrheit entsprechen, keine Trennung zwischen Sophie Calle als Künstlerin und als Privatperson zu geben. Ein weiterer Schritt, den Calle durchführt, um ihrer literarischen Fiktionalisierung näher zu rücken ist, dass sie Tage unter dem Bann eines bestimmten Buchstaben verbringt. Unter der Angabe des genauen Datums behauptet sie einen Tag unter dem Bann des Buchstaben B als Big-Time Blonde Bimbo (10. 03.1998), zwei Tage im Zeichen des C (Calle & Calle in the Cemetery, 16. 02. 1998 und Confession, 19. 03. 1998) und einen Tag im Bann des W (Weekend in Wallonia, 14.03. 1998) zu verbringen. Sie wählt die Buchstaben B, C & W der literarischen Vorlage entsprechend (L 61). Bei der Datumsangabe fällt auf, dass Calle bei einem der Wochentage einen Fehler macht. Sie gibt an, dass das Projekt am 16. Februar 1998 auf einen Dienstag fiel (DG 22/23), der 16.02.1998 war jedoch ein Montag. Es ist denkbar, dass dies ein unauffällig eingestreuter Hinweis darauf sein könnte, dass die Texte zu den angegebenen Fotografien keinen Authentizitätsanspruch besitzen, sondern zu den Kunstprojekten gehören und damit fiktional sind. Hier verwundert es dann allerdings, dass nur bei einem der Wochentage dieser „Fehler“ auftritt. Calle beschreibt die unter dem Bann eines Buchstaben verbrachten Tage mittels einer Fotografie, die sie auf der rechten Seite einer Doppelseite platziert, und zwei kleinen Texten auf der linken Seite. Der erste, kleiner abgedruckte Text beschreibt den verbrachten Tag näher, der größer abgedruckte Text reiht Wörter des gewählten Buchstabens aneinander. Im Folgenden soll auf ausgewählte Besonderheiten der einzelnen Tage eingegangen werden. Auf der Fotografie, die den Tag unter dem Bann des Buchstaben B illustrieren soll, ist Sophie Calle in einer Verkleidung zu sehen, in der sie der Schauspielerin

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 221

Brigitte Bardot auffallend ähnelt. In Anlehnung an Bardot, „who in recent years has

Abbildung 3.10: Double Game. S. 25. taken her preference for the cause of animals over that of humans to the point of caricature“, (DG 24) präsentiert sie das blonde Modell in einem pompösen Bett, umgeben von zahlreichen ausgestopften bzw. präparierten Tieren, die größtenteils mit dem Buchstaben B beginnen oder mit diesem anderweitig in Verbindung stehen, zum Beispiel dadurch, dass ihre „Sprache“ mit dem Buchstaben B beginnt.321 An die rosa Wand hinter dem Bett sind Schmetterlinge (butterflies) gesteckt, das Modell hat einen Vogel (bird) im Arm, zu ihrer Rechten befindet sich unter anderem der Kopf eines Bullen (bull) und ein Zwerghuhn (bantam). Zu ihren Füßen liegen ein ausgestopfter Hund, dessen „Sprache“ das Bellen (bark) ist und eine getigerte Katze, auf der eine geflügelte Maus steht. Diese Katze ist zusammen mir dem Frettchen, der Gazelle, dem Fuchs und dem Eichhörnchen nicht direkt dem Buchstaben B zuzuordnen, da diese weder den entsprechenden Anfangsbuchstaben besitzen, noch brüllen (bellow) oder blöken (bleat).322 321 | In der französischen Ausgabe schreibt Calle: „B comme la Belle et le Bestiare, comme Bécasse, Bourrique, Bique, Blatte, Butor, Blaireau, Bigorneau, comme Bêler, Beugler, Bêtifier.” (Sophie Calle, De l’obéissance. Livre I. Actes Sud 1998. S. 41.) 322 | Diese Aussage trifft auch für die französischen Übersetzungen dieser Tiere zu.

222 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Unter dem Schriftzug wird dem Betrachter eine Hilfestellung gegeben: „B for Beauty and the Bestiary, for Bat, Bantam, Boar, Bull, for Bug, Badger, Bray, Bellow, Bleat, Bark, for Beastly Birdbrain, for BB.“ ( DG 24/25). An dieser Stelle fällt es auf, dass nicht alle genannten Tiere auf dem Foto zu entdecken sind, dafür aber andere hinzugefügt wurden. Dass die genannten und mit dem Buchstaben B beginnenden Tiere wie Eber (boar) oder Dachs (badger) nicht gezeigt werden, dafür aber beispielsweise ein Fuchs (fox) gezeigt wird, führt nicht nur zu einer Inkongruenz zwischen Fotografie und Text, sondern auch zu grundsätzlichen Überlegungen zu der Konstruktion des Kunstprojekts. Dieses wurde in Leviathan weder genau beschrieben, noch sonst konkretisiert, wodurch Sophie Calle in Interpretation und Umsetzung sehr frei agieren kann. Die „nicht passenden” Tiere könnten sich beispielsweise dadurch erklären lassen, dass Calle zahlreiche Tierpräparate besitzt323 und diesen privaten Besitz in ihre Kunst einspeisen wollte. Der vom Buchstaben B geprägte Tag weist also Ungereimtheiten in der Konzeption auf, die von einem aufmerksamen Beobachter spielerisch entschlüsselt werden können. Ein entscheidender Faktor des „B-Projektes”, beziehungsweise der „B-Fotografie” ist die Ironie, mit der sich Calle ihrem Gegenstand nähert. Sie bettet sich, im wahrsten Sinne des Wortes, in eine „Trashkultur” ein, die sie durch Übertreibung aber auch durch ihr eigenes feines und amüsiertes Lächeln ironisiert. Sich selbst und ihre Kunst scheint sie in dieser Ironisierung nicht auszuschließen, als Modell und Künstlerin ist sie, wie stets in ihrer Arbeit, Subjekt und Objekt zugleich. Sophie Calle verbringt gemeinsam mit ihrem Vater einen Tag im Zeichen des C auf dem Friedhof (cemetery) von Montparnasse. Hier besitzen die beiden Calles seit einigen Jahren ein Grab, welches von Sophie Calle, wie sie behauptet, einmal im Jahr besucht wird, um sich an den Platz zu gewöhnen. (DG 26). Die schwarz-weiße Fotografie zu diesem Tag324 zeigt Sophie Calle auf dem mit einigen Blüten bedeckten 323 | Die Journalistin Jane Burton beschreibt Sophie Calles Wohnung wie folgt: „The reality Sophie Calle makes for herself is uncompromisingly her own. Her home, a glass fronted modernist apartment in a former steel factory, at the end of a Paris metro line, is testament to that. A row of owls peer alarmingly from a gallery above the entrance, part of her extensive collection of stuffed animals and birds. A fox climbs up a woodpile by stairs. In the sitting room two bull’s head trophies and a mouse sprouting tiny wings jostle for space with numerous statues of Virgin Mary.” (Burton 1999. http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/sophies-world1074440.html vom 09.10.2010.) 324 | Die französische Ausgabe zeigt noch vier weitere, kleiner abgedruckte Fotografien.

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Grabstein sitzend und einen Mann, vielleicht ihren Vater, der vor diesem Grab steht und seinen Kopf in Richtung der Blüten neigt. Er hält seine Augen halb geschlossen, wenn nicht gar verschlossen und hat die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Auch Sophie Calle neigt ihren Kopf mit (halb) verschlossenen Lidern in Richtung der Blüten, sie hat ihre Hände vor den Knien verschränkt.

Abbildung 3.11: Double Game. S. 27. Die ähnliche Haltung und Blickrichtung Calles und ihres Begleiters lassen ebenso wie die ins Sonnenlicht getauchten Blüten auf eine Inszenierung des fotografischen Bildes schließen, die der angeblich spielerischen Lockerheit des von Calle inszenierten Kunstprojektes zuwiderläuft. Ebenso wie bei der vorangegangenen Fotografie hat es der Rezipient kaum mit Schnappschüssen zu einem merkwürdig verbrachten Tag zu tun, sondern mit aufwendig arrangierten, fotografischen Kunstwerken. In diesen Kontext gehört auch, dass der Betrachter auf diesen Fotografien, aber auch auf den anderen Bildern Calles, nicht die Künstlerin selbst erkennen kann, sondern nur die Rolle, die sie in dem jeweiligen Moment spielt. Während das Schauspiel in anderen Projekten, in denen sich Calle beispielsweise als Stripperin oder Detektivin inszeniert, recht offenkundig für den Rezipienten ist, so lässt sich ein Rollenspiel Calles in diesem Projekt nur erahnen. Der auf der linken Seite größer abgedruckte Text bringt zahlreiche Wörter zusammen, die sowohl mit dem Buchstaben C beginnen als auch vage zur Thematik des Tages „Calle & Calle in the Cemetery“ passen. Sätze wie: „Certainly these Cadavers, these Charnels will Cohabit Cheek to Cheek in Consummate Calm, but Caught and Cramped in this Cavity Currently Complacently Contemplated by Calle and Co”,

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(DG 26) machen den spielerischen und experimentellen Charakter der Sprachspiele Calles deutlich, der auch darin deutlich wird, dass die Worte nicht vollkommen mit denen der französischen Ausgabe übereinstimmen. Interessant ist, dass der Buchstabe C auf Colour verweist, die Fotografie jedoch schwarz-weiss abgedruckt ist. Diese Wahl ist wohl auf die Friedhofsthematik zurückzuführen, zu der eine derartige Farbgebung passend erscheint. Einen weiteren Tag (19.03.1998) verbringt Sophie Calle unter dem Zeichen C für „Confession“. Auch hier verrät die illustrierende Fotografie ein sorgsames Arrangement, sie besticht geradezu durch ihre symmetrischen Achsen: Sophie Calle sitzt auf dem mittleren von fünf Stühlen vor einem Altar. Das einfallende Licht teilt den Raum genau an Calles Füßen in Licht und Schatten. Calle sitzt exakt unter einem kunstvollen Kreis, der die Mitte des Altars markiert, der wiederum von zwei knienden Engeln flankiert wird. Rechts und links vom Altar befinden sich kleinere Raumtrenner aus Eisen, die beide mit einem weißen Schild versehen sind.

Abbildung 3.12: Double Game. S. 29. Die auffällige Symmetrie dieses Arrangements lässt keine Zweifel an einer aufwendigen Vorbereitung dieser Fotografie. Im beschreibenden Text widmet sich Calle dem Bekenntnis selbst und verwendet hier, wie auch in den vorangegangenen Texten, hauptsächlich den Buchstaben C: „. . . the Ceremony of C Carried me to a Confessional – Careless Conduct to Confess Concerning the Creed“ (DG 28). Mit keiner Silbe geht sie auf das kunstvolle Arrangement ein, dass sie ihrem Foto zu Grunde gelegt haben muss und unterstützt so die gängige, aber nicht unbedingt tragfähige These, dass es sich bei den Fotografien um Schnappschüsse ihrer Projekte handelt, die eher authentisierend wirken sollen, als dass sie eigenständige Kunstwerke darstellen.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 225

Sophie Calle gibt an, den 14. März unter dem Motto „Weekend in Wallonia“ verbracht zu haben. Hier beziehen sich Text und Fotografie weitaus eindeutiger aufeinander als in den vorangegangenen Text-Bild-Kombinationen. Der Buchstabe W ist ein sich selbst spiegelnder (doppeltes V325 ), der nicht nur als passend für den Buchtitel Double Game erscheint, sondern dessen Verbindung zur Spiegelung sich auch im Arrangement der Fotografie niederschlägt: Die Fotografie zeigt den Tisch eines Zugabteils. Draußen fliegt die Landschaft vorbei. Auf dem Tisch befinden sich Dinge, die mit dem Buchstaben W beginnen oder sonst auffällig mit diesem in Verbindung stehen. Diese Gegenstände spiegeln sich im Fenster (window). Calle erläutert hierzu: „With W ou le souvenir d’enfance by Georges Perec, and a Window seat on the Wagon-lits, this Weekend I Wended my Way in a restaurant Wagon to Wallon Liège. Slipping a Whiskey, I flipped through a volume on the history of the Western by a 20-Watt bulb. Inevitably, during my journey I went to the WC. I had taken my Walkman and, Working overtime, even Wagners Walkyrie, a computer to surf the World Wide Web, Works on the photographers Weegee and William Wegmann, and writings by Walt Whitman.” (DG 30)

Dem Rezipienten dürften auch hier kleine Ungereimtheiten ihres Arrangements auffallen. Ende der Neunziger Jahre war es kaum möglich, im Zug auf das Internet zuzugreifen und Wagners Walküre scheint eine CD zu sein und folglich nicht mit Calles Walkman kompatibel.326 Hier scheint Calle also größeren Wert auf das fotografische Arrangement und den beschreibenden Text gelegt zu haben, als auf die Illusion, dass sie tatsächlich einen Tag unter dem Bann des Buchstabens W verbracht und somit Wagner gehört und das World Wide Web erkundet hat. Die Gegenstände erfüllen aber noch vielfältigere Funktionen, da Calle hier auch auf die Quellen ihrer eigenen Kunst verweist. So ist der Fotograf Weegee,327 in der Nähe der Kriminalfotografie zu verorten,328 die für zahlreiche von Calles Arbeiten, 325 | Das doppelte V wird in der französischen Ausgabe hervorgehoben: Hier ist eine weitere Fotografie abgedruckt, die Sophie Calle zeigt, während sie mit ihren Fingern aus zwei Vs ein W formt. 326 | Leider ist auf der Fotografie nicht auszumachen, ob es sich um einen klassischen Walkman handelt, oder um einen ebenfalls Walkman genannten Diskman, der in der Lage ist, CDs abzuspielen. 327 | Eigentlich Arthur Fellig, geboren als Usher Fellig (* 12. Juni 1899 in Zloczow bei Lemberg, Galizien; † 26. Dezember 1968 in New York, USA) (http:// de.wikipedia.org/wiki/Weegee vom 27.08.2010.) 328 | Vgl. Weegees wichtigstes Werk Naked City (1945)

226 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Abbildung 3.13: Double Game. S. 31.

wie beispielsweise The Detective, von enormer Bedeutung ist. Auch der Schriftsteller Georges Perec, dessen Werk W ou le souvenir d’enfance auf der Fotografie zu erkennen ist, verweist auf einen Bezugspunkt der Arbeit Calles. Der genannte Roman ist ein autobiographischer Text. In anderen Werken verzichtet Perec auf den Vokal „E” (La disparition, 1969) oder nutzt ihn ausschließlich (Les Revenentes, 1972). Der Bann eines bestimmten Buchstaben ist somit auch dem französischen Schriftsteller nicht fremd. In seinem berühmtesten Roman Die Dinge wird denselbigen eine größere Aufmerksamkeit geschenkt als den Figuren oder der Handlung. Die Leidenschaft Calles, Dinge zusammenzustellen und zu sammeln, wird in ihrem Werk im Allgemeinen und der „W-Fotografie” im Besonderen offenkundig. 3.5.1.5 The life of Sophie and how it influenced the life of Maria Paul Auster lehnt zahlreiche Projekte seiner literarischen Figur Maria an die Projekte der Künstlerin Sophie Calle an, die Calle dann wiederum in ihrem Buch Double

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 227

Game neu aufbereitet. Diese Aufbereitung besteht stets aus mehreren Schritten: Zum ersten markiert sie die ihrer Person entlehnten Projekte Marias auf nachgedruckten Seiten des Romans mit einem Rotstift und schildert, wie das Projekt „tatsächlich“ abgelaufen ist. In einem zweiten Schritt stellt Calle ihre Projekte aus Fotografien und kleineren Texten vor. Die Fotografien illustrieren die Projekte und verbinden den literarischen Text Austers und die Hinweise Calles mit konkreten Produkten oder Situationen. Folglich überführt sie die fiktionalen Projekte Marias zurück in die Vergangenheit, aus der sie eigentlich stammen. Sie knüpft somit ein weiteres Band zwischen „Fakten“ und Fiktionen, zeigt aber auch gleichzeitig die Unterschiede zwischen den fiktionalen und den tatsächlichen Kunstprojekten. Sophie Calle beginnt auf die oben beschriebene Weise mit dem Projekt The Wardrobe (1985/86). Hier beschenkt Calle (und ihr literarisches Alter Ego Maria Turner) jedes Jahr zu Weihnachten einen attraktiven, aber schlecht gekleideten Mann mit angemessenen Kleidungsstücken. Diese Kleidungsstücke bildet Calle in Double Game fotografisch ab und ordnet sie einer bestimmten Jahreszahl zu, ohne zu vergessen, wenn der Beschenkte ein Jahr ausnahmsweise leer ausgehen musste (1991). Calle beendet das Projekt, wenn der Mann von Kopf bis Fuß ein neues Kleidungsstück erhalten hat: von Socken über Hemd, Pullover, Schlips, Unterwäsche, Manschettenknöpfen und Hosen. Die abfotografierten Kleidungsstücke müssen entweder exemplarisch für die Verschenkten stehen oder sie wurden vor dem Verschenken bereits fotografiert oder das Verschenken hat nicht stattgefunden, sondern ist nur eine Idee und Inszenierung Calles. Das Wissen, das sich die fotografierten Gegenstände vor der Kamera befunden haben müssen trägt an dieser Stelle also nicht zur Authentisierung des Projektes bei, sondern zieht es vielmehr in Zweifel: Die Gegenstände die verschenkt wurden, können im Nachhinein kaum im Original fotografiert worden sein. Im Gegensatz dazu wirken die Fotografien, die das Projekt The Striptease (1979) illustrieren, der Authentizitätsillusion förderlich. Hier wirken die Fotografien nicht arrangiert, sondern wie Schnappschüsse und scheinen eben dadurch natürlich und dokumentarisch. Dass die Künstlerin selbst auf den Fotografien zu sehen ist, erhöht auch die Illusion, dass es sich bei The Striptease um ein wahrhaftiges Ereignis im Leben der Künstlerin, und damit um eine Art „autobiographische Reportage”329 handelt. Alma Elisa Kittner schreibt zu diesem Phänomen:

329 | Ich benutze hier den Begriff „autobiographische Reportage”, da die Fotografien quantitativ dem Text übergeordnet sind und so der dokumentarische Gestus der Reportage mit den subjektiveren, vermeintlich autobiographischen Schilderungen des Textes verbunden werden kann.

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„Wenn Calle ihren Körper abbildet, findet gewissermaßen eine Überbietung des autobiographischen Paktes statt. Wir nehmen nicht nur die Autorin des Kunstwerkes als identisch mit der Erzählerin und Protagonistin der Geschichte an wie bei einer literarischen Autobiographie, sondern der abgebildete Körper der Autorin tritt als Authentifizierungsmedium hinzu und scheint die Faktizität des Erzählten und Gezeigten noch zu verstärken.”330

Gleichzeitig ist der „vermeintlich authentische Körper Calles”331 jedoch nur eine Illusion. Calle schlüpft hier deutlich sichtbar in eine Rolle auf einer ihr fremden Bühne.332 Obwohl sie ihren Körper enthüllt, gibt sie dennoch nichts von ihrer Identität preis. Der nüchterne Text, in dem Calle weder Emotionen noch Gedanken zu ihrem Projekt offenbart, unterstützt die kühle und distanzierte Wirkung der Künstlerin. Das wenige Erzählte tritt im Projekt The Striptease stark hinter den Fotografien zurück. Diese kommen nahezu ohne Text aus und sind dennoch durch ihre sequentielle Anordnung auf eigenständige Art und Weise narrativ. Die Fotografien erzählen von Calles Striptease und dokumentieren einzelne Stufen ihrer Enthüllung und damit eine voranschreitende Handlung. Sie beweisen eindeutig, dass Sophie Calle sich vor der Kamera ausgezogen hat, was sie jedoch nicht beweisen, sind die (beschriebenen) Umstände ihres Strips. Diese beschreibt die Künstlerin wie folgt: „I was six. I lived on a street named Rosa-Bonheur with my grandparents. A daily ritual obliged me every evening to undress completely in the elevator on my way up to the six floor . . . Twenty years later, in 1979, I found myself repeating this ritual every night in public, on the stage of one of the strip joints that line the boulevard in Pigalle, wearing a blonde wig in case my grandparents, who lived in the neighborhood, should happen to pass by.” (DG 44/45)

Die von Calle beschriebene Situation erzeugt beim Betrachter die Illusion von Kontinuität innerhalb ihres Künstlerlebens, es scheint, als wäre ein späteres Kunstprojekt schon in ihrer kindlichen Persönlichkeit angelegt. Sophie Calle konstruiert „eine quasi typologische Struktur: Was sich in der Kindheit bereits ankündigt, vollzieht sich im Erwachsenenalter.”333 Ob die Anekdote aus Calles Kindheit der Wahrheit entspricht oder nicht, wird kaum erschlossen werden können. Der scheinbar autobiographische Text kann ebenso gut Teil ihres Kunstprojektes und damit Fiktion sein. Auffällig ist an diesem Projekt, dass sie bereits hier eine blonde Perücke nutzt, um 330 | Kittner 2008. S. 67. 331 | Kittner 2008. S. 71. 332 | Ebd. 333 | Kittner 2008. S. 70.

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sich selbst für andere unkenntlich zu machen und in eine andere Identität zu schlüpfen. Zu diesem Zweck wird sie die Perücke auch in weiteren Arbeiten nutzen. Im Begleittext der letzten Fotografie, die sie zwischen zahlreichen Requisiten und Kleidungsstücken auf dem Boden liegend zeigt, gibt Sophie Calle an, dass ihre Tätigkeit als Stripperin in dem Moment endet, indem ihr von einer Kollegin die Perücke entrissen wird. „During the fight, she had, as the ultimate stage of stripping, torn of my blonde wig. This was to be my last performance in the profession.” (DG 67). Das Entreißen der Perücke, ob nun tatsächlich passiert oder Fiktion, scheint folglich eine Facette ihrer selbst freizulegen, die Calle nicht zu offenbaren bereit ist. Dieses lässt darauf schließen, dass Calle ihre Person strenger von ihrer Künstlerpersönlichkeit trennt, als gemeinhin angenommen wird. Zur Dokumentation ihres Projektes To Follow (1979), in welchem sie fremden Personen auf der Straße folgt und deren Tätigkeiten dokumentiert, druckt sie Seiten eines Notizheftes ab, in welchem Fotos der Verfolgten zu sehen und Texte zu deren Verhalten zu lesen sind. Das Notizheft dient als Authentisierungsstrategie, mit welchem bezeugt werden soll, dass dieses Projekt tatsächlich stattgefunden hat. Auch die beiden nächsten Projekte beschäftigen sich mit dem Wechselspiel von Folgen und Verfolgung und sind auf ähnliche Art und Weise präsentiert. In Suite Vénitienne (1981) folgt Calle einem Mann, Henri B., der ihr nach einer Verfolgung zufällig vorgestellt wurde, nach Venedig. In ihrem Gepäck befindet sich, wie sie angibt, die Ausrüstung einer Detektivin: Verkleidungen, darunter die bereits bekannte blonde Perücke, eine Kamera und eine Linse mit zahlreichen Spiegeln, die unauffälliges Fotografieren möglich machen (DG 81). Nicht zufällig findet das Projekt zur Karnevalszeit statt, einer Periode, in der die Stadt Venedig vor maskierten Menschen nur so wimmelt und deren mysteriöser Flair zur Kulisse zahlreicher Kriminalromane oder -filme geworden ist. Die Anlehnung einiger Werke Calles an Kriminalerzählungen wird in diesem Beispiel besonders offenkundig. Calle dokumentiert dieses Projekt mittels ausführlicher Texte und Fotografien. Aufgrund der Fülle an Textmaterial wurde Suite Vénitienne zunächst als Künstlerbuch herausgegeben, da bis 1996 kein Ausstellungskonzept existierte.334 Nicht nur diese Tatsache legt es nahe, dass, wie Stefanie Rentsch argumentiert, Calle sich (neben der Kriminalerzählung) am populären Genre des Fotoromans orientiert. Auch auf das wichtigste Thema des Mediums wird angespielt: Die Stadt Venedig weckt die Erwartung an eine romantische Liebesgeschichte. Die Handlung ist außerdem in Form

334 | Vgl. Rentsch 2008. S. 186.

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eines Tagebuchs präsentiert und besitzt daher den Charakter einer Fortsetzungsgeschichte.335 Doch die Verbindung von Text und Fotografie in Suite Vénitienne trägt vor allem zur Bestimmung einer intermedialen Kunst zwischen Text und Fotografie bei, da die Beschaffenheit der beteiligten Medien reflektiert wird. So wird beispielsweise die Funktion der Fotografie als Beweismittel spielerisch zur Schau gestellt und kritisch hinterfragt. Die Fotografie, seit vielen Jahrzehnten auch ein Medium der „Identifizierung und Überwachung”336 wird in dieser Funktion karikiert, da sich die observierte Person auf den Fotografien nicht identifizieren lässt: Unscharfe Bilder, die Rückenansicht der verfolgten Person und schnell geschossene Schnappschüsse zitieren eher andere „Observationsfotografien”, und damit Bildtraditionen, als tatsächlich Aufschluss über den Verfolgten zu geben.337 Der Fotografie gelingt es nicht, irgendetwas zu beweisen, der Betrachter kann nicht einmal erkennen, ob die Fotografien stets die gleiche Person zeigen oder einfach Bilder irgendwelcher Männer darstellen. Vor allem die zuerst präsentierte Fotografie des Projekts, die dunkel und unscharf die Rückenansicht eines Mannes, genauer seinen Kopf und seine Schultern zeigt, mutet wie der Blick eines Verfolgers aus einem Kriminalfilm an. Die observierte Figur ist nicht zu erkennen, ihre Identität bleibt verborgen. Diese „Unzulänglichkeit” des fotografischen Bildes wird durch seine Ausschnitthaftigkeit noch untermauert, Calles fotografische Studien müssen, medial bedingt, fragmentarisch verbleiben. Diese Lücke kann und will auch der umgebende Text nicht schließen, da auch die literarische Beschreibung sich die Welt nur partiell aneignen kann. Sophie Calle verweist vielleicht aus diesem Grund auf einen Bereich, zu dem sie unverstellteren Zugang findet: in den Notizen, die die Künstlerin ihren Fotografien hinzufügt, schreibt sie nämlich nicht nur über den Verfolgten, sondern auch über ihre eigenen Befindlichkeiten, die sie meist durch Kursivierung des Textes hervorhebt. So schildert sie beispielsweise am 17. Februar: „Fear seizes me once again at such a specific depiction of Henri B’s habits. I’m afraid that the encounter might be the commonplace. I don’t want to be disappointed. There ist such a gap between his thoughts and mine. I’m the only one dreaming. Henri B’s feelings do not belong in my story.” (DG 91)

Somit wird nicht nur Henri B. zum „Objekt“ der Beobachtungen Sophie Calles,

335 | Vgl. Rentsch 2008. S. 186/187. 336 | Heinrich 2000. S. 14. 337 | Ähnlich argumentiert auch Rentsch 2008. S. 55.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 231

sondern auch sie selbst, die sich beim Beobachten selbst beobachtet. Sie stellt fest, trotz aller Observation keinen Zugang zum Inneren des Verfolgten zu finden, sondern nur auf ihre eigenen Gedanken und Gefühle zugreifen zu können. Das spiegelt sich auch in den Fotografien Henris wider: es sind nur Rückenansichten, nicht selten unscharf oder aus großer Entfernung, die keinen Blick auf das Gesicht und damit die Identität zulassen.338 Calle versucht außerdem einen Zugang zum Inneren des Verfolgten herzustellen, indem sie das fotografiert, was Henri ebenfalls mit seiner Kamera festhält. Sie imitiert das Objekt ihrer Observation immer wieder (DG 93-95, 103), als hoffe sie durch die Kamera seine Blicke auf die Stadt nachvollziehen zu können oder zumindest die gleichen Fotografien der Stadt zu besitzen. Die Flüchtigkeit des Augenblicks, der mit der Kamera festgehalten werden muss, erweist sich hier als Problem. Da Calle stets einige Momente nach dem Verfolgten auf den Auslöser drückt, kann in der bewegten Stadt Venedig kaum das gleiche Foto entstehen. Dass Calle den Blick Henris fotografisch nachzuempfinden versucht, erklärt allerdings, dass neben Fotografien des Verfolgten auch zahlreiche touristisch anmutende Bilder für das Projekt Suite Vénitienne bedeutsam sind. Die Beobachtung eines Fremden muss für Calle mit der Betrachtung des eigenen Ichs so unmittelbar verknüpft sein, da sie sich dem Fremden nicht annähern kann und damit in sich selbst verharren muss. Doch selbst ihre eigenen Gefühle sind für die Künstlerin mit Unsicherheiten behaftet. Sie bemerkt, dass sich liebesähnliche Gefühle in ihr ausbreiten: Calle wird ungeduldig und hat dennoch zunehmend Angst vor einem persönlichen Treffen. Gleichzeitig stellt sie aber fest, dass diese Gefühle kein Teil ihrer selbst sind (DG 89). Johnnie Gratton bemerkt daher, dass es die spezielle Beobachtungssituation ist, die für Calles Gefühle verantwortlich ist: „Her impatience and fear, she tries to persuade herself, are symptoms that do not belong to her as such. By this, she presumably means that these symptoms are no more than effects produced by the experimental situation, little more than fictional implants.”339

Neben den Fotografien befinden sich im Bilderrepertoire auch Stadtpläne, in die eine bestimmte Route eingezeichnet wurde. Auffällig ist hier, dass es nicht eindeutig nachzuvollziehen ist, ob diese Routen den Touren Henris entsprechen, die im Text beschrieben werden. Sie beginnen an unterschiedlichen Orten, jedoch nie an der Pen-

338 | Diese extreme Betonung der Außenperspektive, die auf das Innere eines Menschen nicht zugreifen kann, erinnert durchaus an Strategien des französischen nouveau roman. 339 | Gratton 2002. S. 164.

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sion in der Calle del Traghetto, in der Henri B. untergekommen ist.340 Prominente Orte jedoch, die Henri laut Calle besucht, wie zum Beispiel den Campo di San Polo, lassen sich auf der Route des Stadtplans ( DG 96/97) allerdings wiederfinden. Wie aktiv der Akt der Verfolgung gestaltet wird und welch Energie die Verfolgerin in die Observation investieren muss, stellt sich vor allem heraus, als Sophie Calle Henris Hotel ausfindig machen möchte. Es kostet sie zahlreiche Gespräche und 126 Telefonate, bis sie die Unterkunft Henris identifiziert hat. Der Verfolgungsakt ist für Calle folglich ein mühsamer Prozess, der ihr nicht nur Aufschluss über ihr „Objekt” ermöglicht, sondern auch Kenntnisse über eigene Charaktereigenschaften, wie zum Beispiel (Un-)Geduld, zu vermitteln vermag. Die Verknüpfung von Selbst- und Fremdbeobachtung lässt sich aber am deutlichsten im Projekt The Detective nachvollziehen. Hier lässt sich Sophie Calle, bzw. in Austers Roman Maria Turner, für einige Zeit von einem Privatdetektiv beobachten und fotografieren. Calle gibt an, dass sie sich fotografische Evidenz ihrer Existenz wünschte (DG 122/123), doch Paul Auster lässt seine Figur Maria eine völlig gegensätzliche Erfahrung machen. Damit greift er den Wunsch Calles, von dem er vielleicht gar nicht explizit wusste, in gewisser Weise auf. Auster schreibt in seinem Roman: „When he handed in his report at the end of the week and she studied the photographs of herself and read the exhaustive chronologies of her movements, she felt as if she had become a stranger, as if she had been turned into an imaginary being.” (L 63)

Auster kehrt die fotografische Evidenz der Existenz somit in ihr Gegenteil um: Die tatsächliche Existenz wird zugunsten der Existenz als Bild vernichtet. Calle sucht mit The Detective eine Bestätigung ihrer Selbst, ihr literarisches Alter Ego Maria jedoch zweifelt aufgrund des Projektes an ihrer Existenz, die ihr nunmehr als eine lediglich bildliche erscheint. Das Spiel aus Selbst- und Fremdbeobachtung wird weiterhin von Calle dadurch ergänzt, dass sie einen Bekannten, François M., darum bittet „ihren” Detektiv zu beobachten und zu fotografieren. So erreicht sie eine sowohl textuelle als auch fotografische Multiperspektivität auf drei Ebenen. Sie selbst schildert, was sie an dem Tag ihrer „Verfolgung” unternimmt, ebenso verfährt ihr Beobachter. Eine weitere Sicht auf das Geschehen wird durch Francois M. ermöglicht. Die Selbstwahrnehmung Calles und die Fremdwahrnehmung ihrer Person werden in Double Game gegenüber-

340 | Obwohl es etwas merkwürdig anmutet, dass ausgerechnet der Nachname der Künstlerin im Straßennamen auftritt, so existiert die Calle del Traghetto in Venedig. Calle ist der italienische Begriff für Straße.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 233

gestellt und können vom Rezipienten auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht werden. Auch die Fotografien ermöglichen einen Blick auf die Unternehmungen der Künstlerin, da diese die Perspektive des Detektivs durch einen anderen medialen Zugang wiedergeben. Der Beobachter selbst wird jedoch durch den Bekannten Calles wiederum beobachtet und fotografiert, was unter anderem auch zeigt, wie sehr Calle in diesem Spiel die Oberhand behalten möchte. Da der Detektiv selbst zum Objekt wird, wird es auch möglich, seine Person durch eine Außenperspektive kennenzulernen. Nicht nur die Texte, sondern vor allen Dingen die Fotografien zeigen deutlich, wie leicht es ist, zum Objekt von fremden Beobachtungen zu werden und wie fragil die eigene Identität sich im Kontext des Beobachtetwerdens und Fotografiertwerdens konturiert. Im Projekt The Hotel lässt Sophie Calle ein von Reisenden höchst unerwünschtes Szenario wahr werden. Sie nimmt vorübergehend eine Stellung als Zimmermädchen in einem venezianischen Hotel an und untersucht während ihres Aufenthaltes in den Zimmern die Habseligkeiten seiner Bewohner, um durch diese auf deren Gewohnheiten, deren Leben und deren Persönlichkeit schließen zu können. Sie fotografiert die Details in den Zimmern, die wie Stillleben und Beweisstücke zugleich wirken. Ein Papierkorb mit Obstschalen (DG 145) erregt ebenso ihre Aufmerksamkeit wie zerwühlte Laken (z.B. DG 148) oder die Kleidung der Hotelgäste (z.B. DG 155). Dabei missachtet Calle konsequent die Privatsphäre der Zimmerbewohner: Sie liest in Tagebüchern, Briefen und Terminkalendern, belauscht Gespräche und schreckt nicht davor zurück, verschlossene Koffer zu öffnen, sofern sie deren Schlüssel zufällig entdeckt. Während ihrer Beobachtungen beginnt Calle eine Beziehung zu den ihr persönlich meist unbekannten Hotelgästen aufzubauen. So schreibt sie über den Mann, der vom 16. - 19. Februar 1981 das Zimmer 25 bewohnte: „I shall miss him” (DG 145) oder über eine Familie im Zimmer 47 „I am already bored with theese guests” (DG 158). In diesem Zusammenhang inszeniert Calle auch Gemeinsamkeiten zwischen ihrer Person und den Bewohnern der Zimmer. Sie benutzt deren Parfüm und scheut nicht, Schuhe, welche in den Papierkorb geworfen wurden, für sich selbst zu nehmen (DG 146). Es wäre übertrieben zu behaupten, dass sie in die Identität der von ihr „ausspionierten” Hotelgäste schlüpft, doch sie unternimmt kleine Schritte in diese Richtung. Dennoch ist ihr Interesse nicht nur voyeuristisch, sondern auch ästhetisch geprägt. In Double Game fällt das Arrangement des fotografisch-textuellen Berichtes auf: Bei der Beschreibung der Hotelzimmer wird zunächst ein vergleichsweise großes Farbfoto abgedruckt, welches den wohl wichtigsten Einrichtungsgegenstand eines Ho-

234 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Abbildung 3.14: Double Game. S. 155. telzimmers zeigt: Das sorgfältig gemachte Bett. Auch die kleineren Schwarz-WeißFotografien des bewohnten Zimmers zeigen zunächst das Bett, nun allerdings mit mehr oder weniger zerwühlten Laken. Der Eindruck, dass dem Bett des Zimmers eine große Bedeutung zukommt, wird dadurch unterstützt, dass die Schilderung des Projektes The Hotel mit der doppelseitigen Fotografie eines gemachten Bettes beginnt und mit einer ebensolchen Fotografie eines zerwühlten Bettes endet. Das benutzte Bett wird für Calle zu einem indexikalischen Zeichen für die Existenz der Zimmerbewohner, es dient als Abdruck und als Spur. Das zerwühlte Bett teilt seinen indexikalischen Status auf ontologischer Ebene mit dem fotografischen Bild und dient somit als Beweis dafür, dass Calle nicht nur Fotos macht, sondern auch fotografisch denkt.341 Die enorme Bedeutung der indexikalischen Schlafstätte wird visuell zum einen durch die Quantität der „Bettaufnahmen” erfahrbar, zum anderen aber auch durch das größere Format offenkundig, das Calle der Fotografie des Bettes im Vergleich zu den ansonsten entdeckten Gegenständen zuweist. Vielleicht stellt Calle hier auch einen intermedialen Bezug zu ihrem früheren, 341 | Johnnie Gratton schreibt: „The pillow, like the bed sheets, and to a lesser content like the shoes and items of clothing Calle constantly snaps is a body-graph. The body-graph provides another example of Calle not just taking photos, but thinking photographically.” (Gratton 2002. S. 166.)

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 235

von Auster nicht thematisierten Werk Die Schläfer (1979) her, in welchem sie 45 Menschen dabei beobachtet und fotografiert, wie diese jeweils acht Stunden in ihrem Bett schlafen. Die Künstlerin macht in den Hotelzimmern nicht nur Zufallsaufnahmen, sondern arrangiert und drapiert gelegentlich Gegenstände für die Fotoaufnahmen. Folglich nutzt sie das Medium nicht nur, um ihre Beobachtungen visuell zu bekräftigen, sondern auch als ästhetischen Bedeutungsträger. So lässt sich die enorme Bedeutung des Bettes, an welchem Calle etwa die Schlafgewohnheiten der Hotelgäste abliest, beispielsweise einzig und allein aus dem Arrangement der Fotografien ablesen. Die notwendige Kombination von Text und Bild spiegelt sich in der Form von Calles Dokumentation des Projektes wider: Sie beschreibt zum einen „Tag für Tag” und lehnt sich somit an das lineare Medium der Schrift an, und zum anderen „Raum für Raum”, wodurch sie auf Bildmedien anspielt. Obwohl, wie in Kapitel 2.5 erläutert wurde, die Lessingsche Zuordnung von Literatur als Zeit- und Bildern als Raumkunst längst überholt ist, so scheint Calle hier dennoch auf diese Dualität anzuspielen. Interessant ist an diesem Projekt, dass Calle an einer Stelle unauffällig und implizit feststellt, dass sie über Gegenstände und Gewohnheiten nicht zu den individuellen Persönlichkeiten der Hotelgäste vordringen kann. In gewisser Weise scheinen sich alle zu ähneln. Calle schreibt: „I go into room 24, the pink one. A strange feeling of déjà vu comes over me. Various images blend together. Days and clients all run together in my mind. Haven’t I already visited these?” (DG 164) Diese Erfahrung kann der Rezipient aktiv visuell nachvollziehen: die abgedruckten Schwarz-Weiß-Fotografien, bzw. die hier abgebildeten Gegenstände und ihr Arrangement sind letzendlich einander sehr ähnlich. Ungewöhnliches Reisegepäck, wie zum Beispiel der Hammer und die anderen „miscellaneous objects” (DG 183) der Person, die am 6. März das Zimmer 29 bewohnte, fällt aus dem üblichen Muster und kann den Rezipienten so erfolgreicher dazu animieren, Rückschlüsse auf den Besitzer und seine Geschichte(n) zu ziehen. Einen weiteren Eingriff in die Privatsphäre anderer Menschen nimmt Calle 1983 mit dem Projekt The Address Book vor. Die französische Zeitung Libération beauftragt die Künstlerin damit, eine Serie von Artikeln zu schreiben. Kurz davor hatte Calle ein Adressbuch gefunden und es fotokopiert, bevor sie es dem Besitzer zuschickte. Sie beginnt die im Adressbuch verzeichneten Personen zu kontaktieren und bittet diese, über den Besitzer des Adressbuches Auskunft zu geben. Auch hier versucht sich Calle Informationen über die Persönlichkeit eines Menschen zu verschaffen, ohne ihn persönlich kennenzulernen. Die Bestimmung seiner Identität erfolgt von außen, er wird multiperspektivisch durch seine Freunde und Bekannten porträtiert und dieses Porträt gelangt an die Öffentlichkeit.

236 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Den Aspekt der Öffentlichkeit klammert Paul Auster für seine literarische Adaption vollständig aus. Seine Figur Maria Turner verliebt sich stattdessen in den unbekannten Besitzer des Buches und plant seine Kontakte kennenzulernen, um über den unbekannten Besitzer zu lernen: „By finding out who they (die Personen, die im Adressbuch stehen, A. H.) were, she would begin to learn something about the man who had lost it. It would be a portrait in absentia, an outline drawn around an empty space, and little by little a figure would emerge from the background, pieced together from everything he was not.” (L 67)

Auster interpretiert in seinem literarischen Text auch Calles Projekt, obwohl er es verändert und fiktionalisiert hat. Die Intentionen Calles und Maria Turners besitzen trotz der bezeichneten Unterschiede innerhalb des Projektes einen gemeinsamen Fluchtpunkt. Beide möchten das Porträt eines Menschen entwickeln, der ihnen selbst unbekannt ist. Calles Befragungen für The Address Book dauerten 28 Tage an und ergaben genausoviele Artikel für die Libération (DG 191). Auch in diesem Projekt baut die Künstlerin eine Beziehung zu ihrem Objekt, dem Besitzer des Adressbuchs, auf: „Right from the first descriptions, I found myself liking him.” (DG 191). Dieses bewahrt Calle aber nicht davor, von diesem nicht gemocht zu werden. In Double Game kann das Projekt The Address Book nicht vollständig präsentiert werden, da der Besitzer des Buches rechtliche Schritte gegen Calle und für die Erhaltung seiner Privatsphäre einleitete. Obwohl das Projekt, wie Calle schreibt, schlecht endete (DG 192), gewinnt sie der Anklage gegen ihre Person aber auch einen positiven Aspekt ab: „Although, in a way, he had authenticated my story.” (DG 192) Das tatsächlich in der referentiellen Wirklichkeit stattgefundene Gerichtsverfahren verknüpft Calles Kunst und ihr tatsächliches Leben in einer schon fast baudrillardschen Manier.342 Das letzte Projekt, das Sophie Calle und Maria Turner miteinander teilen, ist die Birthday Ceremony. Vielleicht ist es dieses Projekt, sofern es denn wie beschrieben stattgefunden hat, in welchem die Privatperson Sophie Calle und die Künstlerin am engsten zusammenrücken. Dreizehn Jahre lang, beginnend im Jahr 1980 lädt Calle an ihrem Geburtstag so viele Personen ein, wie sie Jahre alt wird. Unter diesen Personen befindet sich stets auch ein Fremder, der von einem ihrer Gäste ausgewählt wurde. Die erhaltenen Geschenke benutzt Calle nicht, sondern behält sie als „tokens of affection” (DG 197). In Double Game listet Calle die verschiedenen Geschenke auf und präsentiert sie auf einem Foto in einer Vitrine. Das ausgeklügelte Arrangement

342 | Vgl. dazu: Jean Baudrillard, Agonie des Realen. Berlin 1978.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 237

der Geschenke in immer gleichen Vitrinen lässt auch die Fotografien sequentiell und fast narrativ erscheinen. Sie vermerkt ebenfalls, ob Gäste nicht oder ohne Geschenk erschienen sind und was der/die Fremde ihr schenkte. Wie eng Kunst und Leben in diesem Projekt zusammenfallen, zeigt sich an Calles achtundzwanzigstem Geburtstag, an welchem Calles Mutter ihrer Tochter eine Waschmaschine schenkt, die nicht in der Vitrine präsentiert wird/werden kann. Calle schreibt dazu: „Because of its irrestible utility, the washing machine is represented by the manufacturer’s warranty (by giving me this present, my clever mother managed to subvert the ritual).” (DG 202)

Es zeigt sich, dass Calle häufiger nicht widerstehen kann, einige der Geschenke zu benutzen. So probiert die Künstlerin beispielsweise an ihrem einunddreißigsten Geburtstag einige der geschenkten Schokoladenartikel (DG 208) oder trägt ein Jahr später die ihr zugedachten Schuhe. Es wird deutlich, dass Calle ihre Projekte somit nicht dogmatisch verfolgt: Es gibt durchaus auch Unregelmäßigkeiten oder Pausen innerhalb des Rituals, die sie frei eingesteht. So finden einige der Geburtstagsessen nur in einem kleineren Personenkreis und ohne Fremde statt. Von den Geschenken in den Vitrinen, die meist wie ein Stillleben anmuten, lassen sich wiederum vage Bezüge zu der Beschenkten Sophie Calle und ihren Gästen ziehen. Geschenke können beispielsweise darüber Aufschluss geben, wie sehr die Beschenkte von ihren Gästen geschätzt oder wie gut sie gekannt wurde. Ähnlich wie in dem Projekt The Hotel kann versucht werden, von den Gegenständen, die eine Person besitzt, auf deren Identität zu schließen. In diesem Fall kann der Betrachter versuchen, der Identität Sophie Calles näher zu kommen, ebenso wie er dieses gemeinsam mit der Künstlerin im Projekt The Hotel erproben konnte. Die immer gleiche Anordnung der Geschenke in einer weißen Vitrine verleiht den Gegenständen einen musealen Charakter und zeugt von einer Wertschätzung. Der Rezipient darf jedoch auch feststellen, dass praktische Geschenke häufiger aus dem Arrangement ausgegliedert und benutzt wurden. An dieser Stelle scheint das Leben über die Kunst zu triumphieren. Im Gegensatz zu Projekten wie The Striptease könnte der Rezipient ohne den umgebenden Text das Abgebildete hier aber kaum deuten. Text und Bild brauchen einander, die mit Gegenständen gefüllten Vitrinen lassen sich nur durch den Text einem Kunstprojekt Calles zuordnen. Umgekehrt lebt dieses Projekt aber von seiner Authentizität. Es könnte als rein textuelles Produkt kaum die programmatische Durchdringung von Fakt und Fiktion kommunizieren, da die Illusion von Evidenz und Beweiskraft des fotografischen Bildes für diese konstitutiv ist.

238 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

3.5.2 Michael Lesy: Wisconsin Death Trip Obwohl die vorliegende Arbeit auf Werke, die nach 1980 erschienen sind, fokussiert, soll zum Abschluss dennoch das 1973 erschienene Fotobuch Wisconsin Death Trip von Michael Lesy besprochen werden. Der Grund dafür ist, dass das Buch bis heute kulturell wirksam ist und eine eigene Subindustrie hervorgebracht hat:343 Das Buch beeinflusste Literaten wie beispielsweise Steward O’ Nan ( A Prayer for the Dying, 1999; dt. Das Glück der anderen, 2001) , die „Rhythmic Transcore”344 -Band Static X, die ihr ihr Debütalbum und einen auf diesem eingespielten Song nach Lesys Werk benannte und den Regisseur James Marsh, dessen 1999 erschiener, preisgekrönter Film Wisconsin Death Trip sich direkt auf die literarische Vorlage bezieht345 und Fotografien aus dem Werk Lesys in seinen düsteren Film einbettet. Zahlreiche Präsentationen auf der Internetplattform youtube zeugen von einer durchaus regen Rezeption des Fotobuchs und von Neuinterpretationen des Werkes. Wisconsin Death Trip präsentiert sich im 21. Jahrhundert als Kultwerk diverser Subkulturen. 3.5.2.1 Die Fotografie als Fundstück: Die Entstehungsgeschichte von Wisconsin Death Trip In den frühen 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entdeckte der US-Amerikaner Michael Lesy ein Lager von über 3000 Glasplatten-Negativen in der Wisconsin State Historical Society. Die Platten zeigten Bilder des Stadtfotografen Charles Van Schaik, die zwischen 1890 und 1910 in der Stadt Black River Falls, Wisconsin, entstanden waren. Lesy war fasziniert. Parallel zu den fotografischen Abbildungen studierte er Texte der Zeit, hauptsächlich Zeitungsartikel,346 aber auch erzählende Werke.347 Diese fiktionalen Texte stammen jedoch größtenteils von Hamlin Garland und Glenway Wescott, welche als Chronisten der Region auftraten.348 Die Fotografien Van Schaiks waren zufällig entdeckte Fundstücke, wie sie zu Tau343 | Vgl. Erika Doss, Withconsin Death Trip. In: Richard Sisson/Christian Zacher/Andrew Cayton, The American Midwest. An Interpretive Encyclopedia. Indiana 2007. S. 633. 344 | Mit dieser Bezeichnung beschreibt die Band selbst ihre Musikrichtung: eine Mischung aus Metal, Industrial, Techno und Hardcore 345 | Vgl. Doss 2007. S. 633. 346 | Vgl. Doss 2007. S. 633 347 | Vgl. Sontag 2006. S. 74. 348 | Vgl. A.D. Coleman, Light Readings. A Photography Critic’s Writings. 19681978. Albuquerque 1998. S. 150.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 239

senden auf Speichern und in Archiven aufgefunden werden können. Somit dokumentiert Wisconsin Death Trip auch die Bedeutung der zahlreichen „visuellen Archive”, „which molder forgotten in warehouses and attics across the land.”349 Die Konservierung der Van Schaikschen Fotografien als Glasnegative übte mit Sicherheit einen eigenen medialen Reiz auf Lesy aus. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er sie sich auf eine Leinwand projiziert angesehen hat und somit auch sofort einen Bezug zu einem anderen Medium, dem Film, ziehen konnte. Inspiriert durch Glasplatten-Negative und Texte plante Lesy zunächst einen Kurzfilm, doch die immensen Produktionskosten schreckten ihn letztendlich ab. In seinem stattdessen produzierten Fotobuch kann der Rezipient jedoch leicht intermediale Bezüge zum Film entdecken. 3.5.2.2 Subjektivität und Objektivität in Wisconsin Death Trip Michael Lesys Fotobuch Wisconsin Death Trip entwirft mit textuellen und bildlichen Elementen das Porträt einer Stadt und seiner Menschen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Es handelt sich um die Stadt Black River Falls im Bundesstaat Wisconsin, deren Personen und Geschichte(n) nicht nur vom Stadtfotografen Charles van Schaik, sondern auch von der Lokalzeitung Badger State Banner festgehalten und in Wisconsin Death Trip gemeinsam präsentiert werden. Dabei besitzen Zeitungstext und Fotografie, zumal sich beide Medien gegenseitig bestärken, eine derartige Evidenz, dass ein Zweifel am Dargestellten fast unmöglich erscheint. Die Depression des Ortes führt Lesy dem Betrachter als Wahrhaftiges vor Augen. Sein ohne Zweifel vorgenommener Auswahlprozess rückt bei Betrachtung seines Werks in den Hintergrund: So subjektiv sein Blick auf den Verfall der Stadt erscheint, so unbezweifelbar erscheint das Vorhandensein dieses Verfalls im Black River Falls der Jahrhundertwende. Während Zeitung und Fotografie einen eher objektiven Gestus verheißen, so lassen die integrierten fiktionalen Texte auf eine andere Lesart schließen. Es zeigt sich, dass Lesys Fotobuch durchaus keinen objektiven, rein dokumentarischen Anspruch verfolgt, sondern vielmehr einen persönlichen, emotionalen Gestus besitzt: „Lesy’s methodology bears no small resemblance to what is widely referred to as the ,new journalism’, that is personalized and openly subjective reportorial/critical style which has dramatically changed our ways of apprehending our culture and thus altered the culture itself [...] Lesy in his book posits an approach of historiography which attempts to go beyond the dry

349 | Coleman 1998. S. 150.

240 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

analysis of data to a reconstruction of the actual experience - the mood, the feel, the spirit - of an era.”350

Lesys Auseinandersetzung mit seinen Fundstücken ist offenkundig subjektiv. Sein Blick richtet sich zwar explizit auf die Stadt Black River Falls, diese steht jedoch exemplarisch für ein mögliches amerikanisches Selbstverständnis während der Jahrhundertwende, für „the myth of rural bliss and fin-de-siècle innocence which is the stock-in-trade of the nostalgia boom and the back to land movement.”351 Den Objektivität verheißenden Zeitungstexten und Fotografien der Zeit wird eine Subjektivität gegenübergestellt, die sich aus Lesys Blick und seinem Arrangement konstituiert. Dieser Blick ist der Blick einer anderen Generation und einer anderen Epoche, der die Gegenwart der Fotografien und Zeitungstexte als Vergangenheit begreift. Die persönliche Zusammenstellung der Dokumente verknüpft deren objektiven Status mit der subjektiven Sicht des Autors.352 3.5.2.3 Wisconsin Death Trip als Porträt Lesys Werk lässt sich als Porträt einer Stadt um 1900 lesen. Fotografien und Texte sind von einer düsteren Atmosphäre geprägt. Die Fotografien spiegeln diese durch die strengen Gesichter, die starren Posen und die zahlreichen Aufnahmen toter Kinder wider. Die Texte funktionieren offenkundiger: Sie haben Themen wie Kindstod, Epidemien, Wahnsinn, Selbstmord und Depression zum Gegenstand. Finanzieller Ruin, Gewalt und Sterblichkeit sind in den präsentierten Zeitungsartikeln geradezu omnipräsent,353 es vergeht kaum eine Woche ohne eine weitere Schreckensnachricht. Das Schlimme scheint unmittelbar miteinander verknüpft zu sein, wie Michael Lesy selbst bemerkt. Da Wisconsin von Phänomenen wie Brandstiftung, Epidemien oder Kindstod dominiert wird, ist der Einzelne mit Ereignissen konfrontiert, auf die er kaum aktiv Einfluss nehmen kann. Dadurch erscheint der Selbstmord als letzter Versuch, in einer Welt Kontrolle zu übernehmen, in der alles fremd bestimmt erscheint. Als ein weiteres, weitgehend nicht zu verhinderndes, Unglück besitzt auch die Impotenz eine gewisse Bedeutung in Lesys Werk. Den Sitten der Jahrhundertwende entsprechend, kann Lesy dieses Problem jedoch nicht durch Zeitungsausschnitte oder andere Texte dem Leser zugänglich machen. Er steht also vor der Aufgabe, seinem 350 | Coleman 1998. S. 151. 351 | Coleman 1998. S. 151. 352 | Im Kapitel 3.5.2.5. zum Text-Bild-Verhältnis wird das Verhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität noch einmal aufgegriffen. 353 | Vgl. Coleman 1998. S. 151.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 241

Porträt ein wichtiges Element hinzuzufügen, das gesellschaftlich hochgradig tabuisiert war und in den Medien der Zeit somit auch nicht reflektiert wurde. Lesy geht auf das Problem ein, indem er metaphorisch eingesetzte Fotografien verwendet, die er aus ihrem Ursprungskontext herauslöst. Durch die semantische Offenheit der Fotografie ist es ihm möglich, einem fotografischen Dokument eine Bedeutung zuzuweisen, die mit großer Sicherheit niemals vom Fotografen intendiert war. Lesy erreicht, dass im Kontext des Fotobuches Wisconsin Death Trip die Fotografie eines Schimmel-Hengstes, auf die unmittelbar die Fotografie eines dunkleren Wallachs folgt (WDT ohne Seitenangabe),354 durchaus als eine Anspielung auf Unfruchtbarkeit, Impotenz und Kastration gesehen werden kann. Mit der Fotografie des hellen Pferdes spielt Lesy offensichtlich auf die Fotografie Spiritual America (1923) von Alfred Stieglitz an,355 die einen Wallach im Geschirr zeigt. Auf dieser Fotografie

Abbildung 3.15: Alfred Stieglitz, Spiritual America. 11.75 cm x 9.21 cm. GelatineSilber-Abzug. 1923.

354 | In Michael Lesys Wisconsin Death Trip werden keine Seitenangaben gemacht. 355 | Coleman 1998. S. 151. Van Schaiks selbst konnte, aufgrund des früheren Entstehungsdatums, selbstverständlich keinen Bezug zu Stieglitz’ Fotografie herstellen.

242 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

ist nur ein Teil der Hinterhand des Pferdes zu sehen, in deren Zentrum die Flanke des Tieres mit den darunter liegenden, unvollständigen Geschlechtsorganen liegt. Diese bleiben, während das Pferd in leuchtendem Weiß erscheint, im Dunklen, was auf eine Tabuisierung und Marginalisierung der Geschlechtsorgane im Allgemeinen und der Kastration und Unfruchtbarkeit im Besonderen hindeutet. Durch die interfotografische Referenz Lesys auf die Fotografie von Stieglitz und die damit einhergehende Thematisierung von Kastration und Unfruchtbarkeit direkt am Beginn des Buches werden diese Themen zu einen Leitthema des Buches. Gleichzeitig haben die beiden ersten Fotografien mit all ihren Implikationen aber auch eine metaphorische Bedeutung inne, die Coleman wie folgt beschreibt: „If that pampered palomino represents the American Dream of fecundity and expansionism, of pioneering adventure and the fertility of the earth, then the gelded workhorse represents the more nightmarish reality which rural america faced when the dream was over.”356

An dieser Stelle möchte ich allerdings darauf hinweisen, dass es sich bei dem dunklen Pferd sehr wohl um einen Hengst handeln könnte, da ein Hoden auf der Fotografie vage zu erkennen ist. Bei dem auffälligeren weißen Tier ist dieses, wie in der Fotografie von Stieglitz, jedoch nicht der Fall. Diese Erkenntnis würde die schlüssige Interpretation Colemans aber keinesfalls ins Wanken bringen: Auch hier wäre es denkbar, dass der herausgeputzte Schimmel die Illusion des amerikanischen Traumes verkörpern soll, wohingegen der etwas magere Braune auf die realen Entbehrungen des Lebens im Westen hinweisen könnte. Insgesamt erscheint Wisconsin Death Trip als die trübe Realität des amerikanischen Traums von der Eroberung des unbesiedelten Landes. Lesys düsteres Porträt der Stadt und des gesamten ländlichen Amerikas ist von einer Depression geprägt, die romantische „Wild-West-Vorstellungen” Lügen straft. Gerade deswegen ist Wisconsin Death Trip vielleicht auch noch bis heute wirkmächtig, da gerade das Vergangene häufig Gegenstand nostalgischer Erinnerungen ist. Lesys Fotoalbum sperrt sich gegen jegliche Nostalgie und macht eine düstere konkurrierende Gegenerinnerung zum nostalgisch verklärten „Früher” möglich. 3.5.2.4 Komposition Wisconsin Death Trip ist ein sorgfältig komponiertes Fotobuch, dessen Aufbau mit den Bedeutungsdimensionen des Werkes in direkter Verbindung steht. Nachdem Lesy in seiner Einleitung auf die Entstehungsgeschichte des Werkes und die Funk-

356 | Coleman 1998. S. 151.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 243

tionen seiner Quellen eingegangen ist, präsentiert er Fotografien und Texte in drei Hauptteilen. Der erste Teil umfasst die Jahre 1885 bis 1894, der zweite den Zeitraum zwischen 1895 und 1898 und der dritte Teil die kurze Zeitspanne zwischen 1899 und 1900. Innerhalb der einzelnen Teile wechseln sich Fotografien mit Textausschnitten aus Zeitungen, Berichten und fiktionalen Werken ab.357 Die Textauschnitte sind einem Jahr zugeordnet, mit Datum versehen und chronologisch geordnet. Es ist hervorzuheben, dass sich die literarischen Texte unauffällig in die Sachtexte eingliedern und nicht hervorgehoben werden. Es scheint, als würde Lesy sie als gleichberechtigte Quellen betrachten und ihnen die Fähigkeit zuschreiben, als Dokument der Zeit zu wirken. Dafür spricht auch, dass er die Fiktionalität dieser Texte ignoriert, wenn er in seiner Einleitung schreibt: „The pictures you’re about to see are of people who were once actually alive. The excerpts you’re about to read recount events these people, or people like them, once experienced. None of the accounts are fictious. Neither the pictures nor the events were, when they were made or experienced, considered to be unique, extraordinary, or sensational.”358

Lesy selbst authentifiziert somit seine Quellen. Da es für den Leser nicht unbedingt nachprüfbar ist, ob tatsächlich Zeitungsberichte abgedruckt wurden, muss er sich auf die Angaben Lesys verlassen, zumal dieser keinen Grund liefert, an seinen Aussagen zu zweifeln.359 Lesy gibt weiterhin an, dass die Fotografien des Stadtfotografen und auch die Zeitungstexte keinen künstlerischen Anspruch verfolgen würden.360 Durch die neue Kontextualisierung werden aber sowohl Zeitungsausschnitte 357 | Lesy selbst beschreibt den Aufbau des Buches in seiner Einleitung abweichend und behauptet, dass die Fotografien in fünf Sequenzen aufgeteilt sein. Dieses ist jedoch für mich nicht nachvollziehbar. Wichtig ist jedoch folgende Bemerkung Lesys: „Throughout these sequences, I have inserted pictures that Van Schaik would never have made. The insertions were intended to emphasize emotions or elaborate meanings contained by his original pictures. Such additions and variations of images are in a certain way similar to the additions made to the Coopers’ newspaper accounts.” (Lesy 1973. ohne Seitenangabe.) Die Frage, welche Bilder nicht von Van Schaik sind, beantwortet Lesy allerdings nicht. Ob er die eingefügten Abdrucke von Zeichnungen, die einen Kopf oder eine Hand zeigen, meint, bleibt unklar. 358 | Michael Lesy, Introduction. In: Ders., Wisconsin Death Trip. New York 1973. ohne Seitenangaben. 359 | Im Gegensatz zu beispielsweise Sophie Calle, die dem Rezipienten implizite Hinweise auf die Konstruiertheit ihrer Projekte liefert. 360 | Lesy 1973. ohne Seitenangaben.

244 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

als auch Fotografien zum Kunstobjekt. Durch den fehlenden Ursprungszusammenhang und die Integration in ein Fotobuch werden sie zum ästhetischen Bedeutungsträger, auch wenn sie keineswegs ihren dokumentarischen Anspruch vollständig aufgeben. Im Gegenteil: Wisconsin Death Trip lebt von dem authentischen Charakter seiner Texte und Fotografien. Im Gegensatz zu den Texten fehlen den Fotografien die entsprechenden Angaben zur Entstehungszeit. Dennoch sind auch diese systematisch angeordnet. Im ersten Teil finden sich hauptsächlich Fotografien von Frauen. Zunächst sind Mütter mit ihren Kindern abgebildet, danach zahlreiche tote Kinder in ihren kleinen Särgen, gefolgt von Mädchen, jungen Frauen und zunehmend älteren Damen. Die vorletzte Fotografie des ersten Teils zeigt einen Mann neben einem Kindersarg und ist dem Betrachter bereits vom Anfang her bekannt. Die besondere Bedeutung des Kindstods wird durch

Abbildung 3.16: Wisonsin Death Trip diese Anordnung offenkundig und in zahlreichen Zeitungsartikeln, die von - meist an Diphterie - verstorbenen Kindern berichten, gespiegelt. Der zweite Teil zeigt zunächst Aufnahmen junger Männer, später auch Fotografien erwachsener und älterer Herren. Der Duktus der Fotografien ähnelt den Vorangegangenen: Er ist von einer düsteren Melancholie und schwermütigen Gesichtern

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 245

geprägt. Auch Zeichnungen eines Schädels, einer Lokomotive und einer Schußwaffe sind abgedruckt und können mit Männlichkeit, der Eroberung des Westens und Tod in Verbindung gebracht werden. Im dritten und mit Abstand kürzesten Teil sind Fotografien von Paaren, Familien und Gruppen von Männern und Frauen zu sehen. Während die erste Fotografie noch ungewöhnlich fröhlich wirkende Menschen zeigt, so wird im weiteren Verlauf jedoch klar, dass auch Ehe und Familie keinen Ausweg aus der düsteren Lebenswelt der Fotografierten bieten. Auch wenn man berücksichtigt, dass ein ernster Gesichtsausdruck auf Porträtfotografien der Jahrhundertwende vollkommen üblich war, so wirken einige der Gesichtsausdrücke im vorliegenden Fotobuch doch auffallend starr, fast schon diabolisch. Die wenigen freundlichen Gesichter, die im dritten Teil erstmals zu erkennen sind, bilden eine absolute Unterzahl.

Abbildung 3.17: Wisconsin Death Trip Die einzelnen Teile des Fotobuches sind durch schwarze Seiten markiert, die jeweils die Zahl 1, 2 oder 3 in einem weißen Rahmen zeigen. Hier wird optisch eine Nähe zum Film hergestellt, da die derart gestalteten Seiten an die „Klappe” beim Filmdreh erinnert. Dieser Bezug ist durchaus erklärlich, wenn man berücksichtigt, dass Lesy nur durch die hohen Produktonskosten davon abgehalten wurde, aus seinem Quellenmaterial einen Film zu drehen. Durch den Verweis auf den Film wird auch deutlich, dass die Bilder in Wisconsin Death Trip eine Starrheit aufweisen, die deutlich mit den bewegten Bildern des Films kontrastiert. 3.5.2.5 Text-Bild-Verhältnis In diesem Kapitel soll die Relation der Fotografien des Stadtfotografen Charles Van Schaik zu den Textausschnitten behandelt werden. Auf den ersten Blick scheinen beide Medien miteinander kaum etwas zu tun zu haben. Die Fotografien sind fast

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auschließlich Porträtaufnahmen, die Zeitungsartikel berichten von konkreten Ereignissen. Diese Ereignisse lassen sich unter Begriffe wie Mord, Selbstmord, Epidemien (Diphterie), Brandstiftung, Wahnsinn und Verbrechen subsumieren. Den literarischen Texten lässt sich zwar meist keines dieser konkreten Themen zuordnen, sie teilen jedoch die düstere Athmosphäre der Zeitungsartikel. Lesy betont in seiner Einleitung, dass es wichtig ist, Texte und Fotografien beide als eine Art pars pro toto zu verstehen und schreibt: „All were made so that text and photographs might suggest certain abstract ideas not only about the town of Black River Falls, county of Jackson, state of Wisconsin, but about the entire region and era in which the town, county, and state were enmeshed.” (Lesy 1973. Ohne Seitenangabe.)

Beiden Medien ist es somit inhärent, trotz der Konkretheit dessen, worauf sie sich beziehen, auf größere Zusammenhänge anwendbar zu sein. Die Medien zeigen zum einen Personen und Ereignisse der Stadt Black River Falls, verweisen aber als Teil für das Ganze auf die Krise des gesamten ländlichen Amerika. Das Buch legt sein Augenmerk folglich auch auf einen wichtigen Kontrast, nämlich den zwischen Stadt und Land. Diese Polarität ist, wie William H. Gass schreibt, traditionell von großer Bedeutung für die Interpretation der gesamten amerikanischen Geschichte.361 Auf einen weiteren Zusammenhang zwischen Text und Fotografie verweist Lesy implizit selbst. Er stellt einen Zusammenhang zwischen verheerenden Krankheiten und Epidemien und der Fotografie her und schreibt, dass das Schreckliche der Krankheiten sei, dass sie die Natur umkehren: Die Jungen sterben vor den Alten, die Kinder vor ihren Eltern. Die Eltern müssen so ertragen, dass sie daran gescheitert sind, ihre Blutlinie weiterzuführen und die Unsterblichkeit ihrer Gene zu erhalten.362 Die Verbindung zur Fotografie besteht nun nicht nur darin, dass Fotografien von toten Kindern mit denen von sehr alten, aber lebenden Menschen kombiniert werden, sondern vor allem darin, dass die in den Texten kommunizierte sichtbare Sterblichkeit durch die Fotografie erinnert werden kann. Die Fähigkeit der Fotografie zu konservieren und ihre Nähe zur Erinnerung kann den Schmerz über die Vergänglichkeit der eigenen Blutlinie reflektieren. Gerade die Porträtfotografie ist unabdingbar mit dem Wunsch verknüpft, Personen im Bild zu bannen und so unsterblich werden zu lassen. Diesen Wunsch reflektiert Lesy durch seine Fotografie-Text-Kombinationen. Gleichzeitig zweifelt Lesy aber daran, ob Fotografien Geschichte wirklich kon-

361 | Vgl. Gass 1978. S. 40. 362 | Lesy 1973. Ohne Seitenangabe.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 247

servieren können: Ihm selbst geht es um Geschichte, wie wir sie mit unseren Augen wahrnehmen und damit um die Subjektivität unserer (Bild-) Wahrnehmung. Er schreibt: „This book is an exercise in historical actuality, but it has only as much to do with history as the heat and spectrum of the light that makes it visible, or the retina and optical nerve of your eye.”363 Dieses Statement ist umso interessanter, als dass Lesy vorher nicht müde geworden ist, den authentischen Status seiner Quellen zu betonen. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Text und Bild trotz ihres dokumentarischen Status nicht verhindern, dass unser Blick auf Geschichte ein subjektiver bleibt. Der Eindruck, der durch die Bilder vermittelt wurde, ist ausschließlich visuell und somit nicht mit der Realität zu vergleichen, die mit allen Sinnen wahrgenommen werden kann. Dass Text und Bild auf diese subjektive Art und Weise ein Porträt der Zeit entwerfen, wurde bereits erläutert. Dieses bestätigt Lesy in seiner Einleitung implizit selbst: „The excerpts you’re about to read recount events these people, or people like them, once experienced.”364 Es geht ihm um ein Porträt der Zeit, welche mit ihren Ereignissen ebenso verknüpft ist, wie mit den in ihr lebenden Menschen. Diese sind mit den Ereignissen verbunden, sie sind deren Protagonisten oder deren Opfer. Einige der Porträts kann man so auf den zweiten Blick an die in den Zeitungsartikeln beschriebenen, trostlosen Umstände rückbinden: Die Fotografien der toten Kinder lassen sich an die Artikel über die immer stärker um sich greifende Diphterie rückbinden, einige entrückte Gesichter sind mit Berichten über (religiösen) Wahnsinn verknüpfbar. Strenge, Trostlosigkeit und die fehlende Hoffnung auf eine glückliche Zukunft eint den Inhalt der Texte mit den Fotografien, die diese Elemente durch den Gesichtsausdruck und die steifen Posen der Porträtierten kommunizieren. Eine weitere Verbindung von Fotografie und Text ist im weiteren Sinne der Entstehungskontext und der künstlerische Status von Text und Fotografie. Lesy schreibt dazu: „The pictures were taken by a careful, competent town photographer named Charles Van Schaik; they are artful only in so far as he obeyed the most prosaic conventions of portraiture. The events were recorded by a father named Frank Cooper, and a son named George, who were equally competent, equally careful, equally experienced town newspaper editors; their articles are imaginative only in so far as they conformed to the inevitable demands of space and time dictated by a weekly paper. The people who looked at the pictures once they were taken, weren’t surprised, and the people who read about the events after they were printed weren’t shocked.” (Lesy 1973. Ohne Seitenangabe) 363 | Lesy 1973. Ohne Seitenangabe. 364 | Lesy 1973. Ohne Seitenangabe.

248 | Kapitel 3. Literarisch-Fotografische Konzepte

Lesy beschreibt an dieser Stelle, dass die von ihm ausgewählten Fundstücke ohne künstlerischen Anspruch verfertigt worden sind und zur Normalität der Zeit um 1900 in Wisconsin gehörten. Interessanterweise stellt er die literarischen Texte nicht gesondert heraus, sondern scheint auch diese als Dokumente zu begreifen. So zeigt er, dass Fotografie, Zeitungsartikel und Literatur, je nach Kontext, alle den gleichen nüchternen, eher dokumentarischen Charakter teilen können. Was Lesy an dieser Stelle jedoch vollkommen außer Acht lässt, ist die Tatsache, dass die von ihm verwendeten Medien in Wisconsin Death Trip eine völlig neue Zuschreibung erfahren. Durch die Kombination der beiden Medien in einem Fotobuch erhalten Text und Bild einen neuen, künstlerischen Charakter und ein neues Publikum. Diese Umstände vermögen es nun, die Rezipienten des Fotobuchs zu schockieren. Es ist nicht nur die zeitliche Distanz, sondern auch die Auswahl und Kombination der Texte und Fotografien, die zum verstörenden Charakter des Werkes beitragen. Dass diese Auswahl und Kombination nur subjektiv getroffen worden sein kann, zerstört keineswegs die authentische Wirkung von Text und Fotografie, an deren dokumentarischen Gestus die schockierende Wirkung eng geknüpft ist. Das Gesamte ist somit viel wirkungsmächtiger als die Summe seiner Teile. Die im vorangegangenen Abschnitt bereits thematisierte chronologische Anordnung der Schreckensnachrichten befindet sich hingegen in einem Spannungsverhältnis zur Fotografie, das wiederum ein besonderes Geschichtsverständnis widerspiegelt: Der Linearität der Zeitungsausschnitte, „linear in form as history naturally tends to be”,365 steht die Starrheit und Fixiertheit der von steifen Posen bestimmten Fotografien gegenüber.366 Daraus lässt sich schließen, dass Lesy ein zeitlich-lineares Geschichtsverständnis mit einem räumlichen verknüpft. Gleichzeitig beeinflusst die chronologische Anordnung der Texte die Funktionen der Texte und Bilder: Diese vormals für sich stehenden Dokumente erhalten durch ihre Linearität einen erzählenden Charakter, die höhepunktlose Aneinanderreihung der Zeitungsauschnitte verhindert aber einen Spannungsbogen. So macht Lesy nicht nur deutlich, dass auch schreckliche Ereignisse monoton und alltäglich werden können; die chronologische, aber klimaxlose Form macht außerdem das sich immer wiederholende, trostlose Dahinleben der porträtierten Menschen erfahrbar, die nicht zuletzt durch die Fotografie im Fokus von Lesys Betrachtungen stehen. Das bestätigt auch Warren Susman, wenn er schreibt „his [Lesy’s, A.H.] concern is rather with the psychology of a people in a par-

365 | William H. Gass, The World within the Word. New York 1978. S. 40. 366 | Ebd.

3.5. Integration literarischer Texte in Foto-Büchern | 249

ticular time and place. [...] he prefers to present what he believes to be the authentic structure of the experience of the people themselves [...].”367 Lesy präsentiert nicht als Kunst intendierte Dokumente aus erster Hand368 in einem nunmehr künstlerischen Kontext. Das ist kaum neu, sondern ein typisches Phänomen der Moderne. Herausragend bei Lesys Werk ist jedoch, dass es ihm gar nicht darum geht, die Grenzen der Kunst auszuloten. Es geht ihm keineswegs darum, textuelle Quellen und fotografische Fundstücke zur Kunst zu erheben, sondern er möchte den dokumentarischen und authentischen Gestus seiner Fotografien und Texte stattdessen erhalten. Seine Komposition ist künstlerisch, die Einzelelemente sollen aber Dokumente bleiben und auch als solche verstanden werden. Brandstiftung, Selbstmord, Epidemien und Tod wirken in ihrer Medialisierung nicht selten faszinierend, seine schockierende Wirkung erreicht der Horror durch Authentizität. Hier liegt meines Erachtens nach auch der Schlüssel zu dem noch ungebrochenen Interesse an Lesys Werk. Seine dokumentarischen Quellen ermöglichen den Schock, seine künstlerische Form ermöglicht die Faszination.

367 | Warren I. Susman, Preface. In: Michael Lesy, Wisconsin Death Trip. Albuquerque 1973. ohne Seitenangabe. 368 | Susman 1973. Ohne Seitenangabe.

4 Fazit und Ausblick „Zum Komplex sozialer Kompetenzen gehört heute unabdingbar die Fähigkeit, Medien selbstbestimmt in Gebrauch zu nehmen, als Mittel der Kommunikation und Partizipation in einer von Medien (mit) gestalteten Welt.”1

Ziel dieser Arbeit war es, sich dem bildlich-textuellen Verhältnis von Literatur und Fotografie in Theorie und Praxis anzunähern und Wege zu exemplifizieren, wie dieses Verhältnis analysiert werden kann. Dabei wurde davon ausgegangen, dass sich die Relation von Literatur und Fotografie besonders gut in Medien beobachten lässt, die sowohl literarische als auch fotografische Elemente enthalten und somit, nach der von mir erweiterten Kategorisierung von Werner Wolf und Irina Rajewsky, als offene Medienkombinationen einzustufen sind. In der offenen Medienkombination von Literatur und Fotografie hat sich gezeigt, dass die Selbstreflexivität der Medien entscheidend dazu beiträgt, die Relation der beteiligten Medien zu bestimmen. Alle vorgestellten Kunstwerke haben neben einer oder mehreren „primären” Aussageabsichten über ein bestimmtes Thema zusätzlich Aussagen über das Wesen von Literatur und Fotografie kommuniziert, aus denen sich auf ihr mediales Verhältnis schließen lässt. Dieses ist allerdings nur als ein dynamisches Verhältnis zu verstehen. Neben der medialen Selbstreflexivität haben sich im Verhältnis von Literatur und Fotografie weitere gemeinsame Merkmale und Tendenzen herauskristallisiert: Das reziproke Beziehungsverhältnis hat eine erhöhte ästhetische Komplexität im Vergleich zu den Einzelmedien zur Folge. Ein Medium kann dem anderen auf spezifische Art und Weise Bedeutungsdimensionen hinzufügen. Die im zweiten Kapitel skizzierten Diskussionen um Themen wie Authentizität, 1 | Helga Theunert, Vorwort. In: Bilderwelten. S. 7.

252 | Kapitel 4. Fazit und Ausblick

Narrativität, Objektivität oder Simultanität haben gezeigt, dass Literatur und Fotografie im Hinblick auf oben genannte Gesichtspunkte nicht eindeutig konturiert werden können. Gerade das Wesen der Fotografie wird in verschiedenen historischen Kontexten unterschiedlich beschrieben. Konkrete Aussagen können nur im Hinblick auf bestimmte Werke getroffen werden, innerhalb derer sich Literatur und Fotografie jeweils individuell positionieren. Aus diesem Grund wurden in der Untersuchung bewusst sehr heterogene Medienkombinationen aus Fotografie und Literatur gewählt, um die Vielfalt der Beziehungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die gewählten Primärwerke verweisen gleichzeitig aber auch auf bestimmte Typen der Repräsentation. So sind die Texte Monika Marons ein Beispiel für den Einsatz von Fotografien in subjektiv geprägten Biographien, wohingegen der Comic Der Fotograf für den Einsatz von Dokumentarfotografien in literarischen Texten steht. Jonathan S. Foers Roman repräsentiert einen spielerischen Umgang mit Fotografien im Kontext anderer visueller Artefakte und steht somit den Erzählungen W.G. Sebalds gegenüber, der die Fotografien in einem strengen formal einheitlichen Rahmen präsentiert. Michael Lesys Fotobuch repräsentiert einen Typus der Fotografie-Text-Kombination, bei dem der Zusammenhang zwischen Text und Bild allein vom Leser erschlossen werden muss. Außerdem steht dieses Werk für die Tatsache, dass pragmatische Fotografien und Sachtexte in ihrer Kombination Kunststatus erlangen können. Es ist folglich ein perfektes Beispiel für die These, dass das Gesamtkunstwerk mehr Aussagekraft besitzt, als die Summe seiner Teile. Shirin Neshats Fotoserie Women of Allah ist dominant von der Fotografie geprägt. Diese Dominanz wird in ihrem Werk dadurch besonders gut erfahrbar, dass die literarischen Texte auf Farsi präsentiert sind. Auf diese Weise macht gerade Neshat den primär visuellen Charakter der Schrift deutlich und betont so die Gemeinsamkeiten von Text und Bild. Durch die ornamental wirkenden persischen Wörter, die durchaus mit einem zarten transparenten Schleier assoziiert werden können, wird deutlich, wie sehr ein Text zum ästhetischen Element eines Bildes werden kann. Die Schrift hat nicht nur die Funktion des Zeichens, sondern auch die des Verweises auf die Andersartigkeit der islamischen Kultur. Insgesamt lässt sich die Pluralität der intermedialen Beziehungen zwischen Text und fotografischem Bild aber nicht auf ein einfaches Schema reduzieren, sondern erfordert vielmehr einen differenzierten Zugriff. Aus diesem Grund soll nun eine vergleichende Perspektive eingenommen werden, die die vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten von Literatur und Fotografie zueinander in Beziehung setzt. Im Comic Der Fotograf wird die Fotografie beispielsweise zwischen Kunst und Dokument angesiedelt. Einerseits scheint die Fotografie den literarischen Text zu beglaubigen, auf der anderen Seite wird sie durch ihre Einbettung in einen fiktiona-

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len, ästhetisch geformten Text aber auch selbst zu einem Teil der Fiktion, der den Kunststatus der Fotografie betont. Auf diese Weise vermag die Fotografie die gesamte Konzeption des Comics zu spiegeln und zu verdichten: Dieser ist nicht nur eine Abenteuergeschichte vor exotischer Kulisse, sondern auch die Dokumentation einer humanitären Mission, die tatsächlich in Afghanistan stattgefunden hat. In Jonathan Safran Foers Roman hingegen erinnern die visuellen Artefakte daran, dass der 11. September 2001 ein hochgradig visuell vermitteltes Ereignis gewesen ist, und das unsere Vorstellungen über die Katastrophe fast ausschließlich durch massenmedial vermittelte Bilder geformt wurden. Die Gegenüberstellung von Text und Bild macht es möglich, Stereotype zu durchbrechen und eine erneute Auseinandersetzung mit den Ereignissen einzufordern. In Monika Marons kurzem Text Geburtsort Berlin ermöglichen die Fotografien einen anderen Blick auf die Stadt. Da die Aufnahmen der Stadt Berlin von Marons Sohn Jonas stammen, wird dessen Perspektive in den Text eingearbeitet, ohne dass eine multiperspektivische Brechung innerhalb der literarischen Narration stattfindet. Diese Beispiele sind nur ein kleiner Ausschnitt der ästhetischen Komplexität, die Kombinationen aus Literatur und Fotografie ermöglichen. Eine weitere Gemeinsamkeit der besprochenen Primärwerke ist ein gewisser referentieller Wirklichkeitsbezug. Die Werke von Monika Maron und Sophie Calle beschäftigen sich mit tatsächlich stattgefundenen Ereignissen, Michael Lesy dient klassisches Quellenmaterial als Substanz seiner Kunst und der Comic Der Fotograf bezieht sich auf eine in den Achtziger Jahren tatsächlich durchgeführte humanitäre Aktion. Auch Sebald thematisiert einige Ereignisse und Personen der historischen Wirklichkeit, insbesondere natürlich die Geschichte zur Zeit des Nationalsozialismus. Der umstrittene Begriff der Authentizität bleibt für das fotografische Medium trotz der ihm inhärenten Problematik wichtig: Das „Vor-Ort-Gewesensein“ der Kamera ist ein stichhaltiges Argument für die „Zeugenschaft” der Fotografie. Im Gegensatz zu einer Zeichnung, die auch im Nachhinein angefertigt werden kann, kann das fotografische Bild nur in dem Moment entstehen, in dem das Ereignis stattfindet. Einzig Neshat rekurriert nicht explizit auf referentielle Begebenheiten, sondern schafft sorgsam arrangierte Kunstwerke, die nahezu ohne Wirklichkeitsbezug auskommen. Allerdings stellt auch sie Bezug zu einem historischen Ereignis, nämlich der iranischen Revolution her, bei der verschleierte Frauen mit Maschinengewehren erstmals in den Fokus der Öffentlichkeit rückten. Es hat sich herausgestellt, dass Fotografien nicht nur als das „Andere” des Textes präsentiert werden, sondern auch als eine Ergänzung und Erweiterung des geschriebenen Wortes funktionieren können. Im Fotobuch Wisconsin Death Trip stehen die Fotografien beispielsweise nicht in direkter Verbindung zum sie umgebenden Text.

254 | Kapitel 4. Fazit und Ausblick

Der Betrachter muss die Bedeutungsdimensionen beider Medien zusammenführen, um einen umfassenden Einblick zu erlangen. Während die Texte hauptsächlich von Gewalt, Epidemien und Brandstiftung berichten, so zeigen die Fotografien eine Trostlosigkeit und Strenge, die Ursache und Folge der Gewalt darstellt. Nur durch die Kombination von Text und Bild kann der Rezipient ein Portrait des ländlichen Wisconsin nachvollziehen, ohne dass Ursachen und Folgen des Elends narrativ simplifiziert oder visuell voyeuristisch zur Schau gestellt werden. Vielmehr muss er sich selbst die Zusammenhänge zwischen den Medien erschließen. Trotz dieser Zusammenhänge kann aber keine kohärente Narration festgestellt werden. Das höhepunktlose Aneinanderreihen von Fotografien und Zeitungsartikeln spiegelt die Eintönigkeit und Trostlosigkeit im amerikanischen Westen wider. Die einzelnen Fotografien haben jedoch trotz ihrer Bewegungslosigkeit und Starrheit ein gewisses narratives Potential: Da mehrere Personen abgebildet sind, erhalten diese in den Fotografien zwar keine Möglichkeit zu verbaler Kommunikation, aber ihre Beziehungen untereinander und ihre nonverbale Ausdrucksweise können entschlüsselt werden. Der Betrachter kann Körperhaltungen und Physiognomie deuten und möglicherweise auch Hierarchien innerhalb der abgebildeten Personen erkennen. In den Familienporträts ist nicht selten eine gewisse „Rangordnung” innerhalb der Familienmitglieder inszeniert worden. Die Erstellung einer Figurenkonstellation kann so auch durch die Betrachtung der fotografischen Bilder erfolgen, sofern man diese als Konstruktion und nicht als referentielles Faktum akzeptiert. In Bezug auf die mediale Selbstreflexivität, kann man beobachten, dass innerhalb der einzelnen Kunstwerke Begriffe wie Narrativität, Authentizität und Objektivität ganz unterschiedlich reflektiert werden. So erzeugen die Fotografien im Fotobuch Double Game eine zum Teil fortlaufende Narration, wohingegen sie bei W. G. Sebald die Narration auch unterbrechen und einen Moment der Kontemplation und des Innehaltens bieten. Es zeigt sich, dass Fotografien narrativ sein können, ihre Narrativität aber sehr unterschiedlich entfalten. Ähnlich komplex verhält es sich mit dem Bezugspunkt Authentizität: Der literarische Text bei Jonathan Safran Foer besitzt mit dem 11. September 2001 zwar einen eindeutigen historischen Bezugspunkt, ist aber dennoch offenkundig fiktional. Referentialität und Fiktionalität schließen sich in Foers Roman keineswegs aus. Die historischen Bezugspunkte des Romans bilden jedoch nicht die einzige außerliterarische Referenz. Auch den abgebildeten Fotografien ist ein referentieller Moment zueigen. Auch dem biographischen Text Pawels Briefe von Monika Maron wird allein durch seine Gattungskonvention ein referentieller Wirklichkeitsbezug zugesprochen. Dennoch betonen die Texte Marons ihre eigene Subjektivität. Die Autorin macht ihren individuellen Blick auf die Dokumente ebenso deutlich, wie sie deren Konstru-

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iertheit aufzeigt. Diese Beobachtungen zeigen, dass Authentizität ein Konstrukt ist, das erst mit medialen Mitteln erzeugt werden muss. Das literarisch-fotografische Verhältnis lässt sich also keineswegs durch einen Gegensatz von Fiktionalität und Authentizität beschreiben. Vielmehr verhalten sich die Medien dynamisch im Bezug auf die Begriffe. Die mediale Selbstreflexivität in literarisch-fotografischen Medienkombinationen zeichnet auch aus, dass eigene Positionen zum ontologischen Kern des Mediums getroffen werden. Dieses ist beispielsweise im Comic Der Fotograf zu beobachten, wenn im Kontext von Fotografie und Gewaltakt implizit thematisiert wird, dass der zwangsläufige „Akt der Nicht-Einmischung” ein belastendes Problem für die Dokumentarfotografie sein kann. Die Integration von Fotografien in literarische Texte ist in den letzten Jahren besonders häufig in Werken aufgetreten, die Erinnerungsprozesse zum Thema hatten. Auch W.G. Sebald und Monika Maron verweisen deutlich auf die Bedeutung des fotografischen Bildes für die Erinnerung. Die Fotografie ermöglicht es laut Roland Barthes also „über eine reine Vergegenwärtigung des Vergangenen als Erinnertes”2 hinaus zu gehen. Sie kann, ganz ähnlich wie die Erinnerung, zu einem Weg von der Gegenwart in die Vergangenheit werden. Diesen Weg weist die Fotografie auch in den Werken von Sebald und Maron. Auch die Erkenntnis, dass Erinnerungen nur bruchstückhaft, fragmentiert und unzusammenhängend zugänglich sind, wird durch die Fotografie, die ebenfalls nur einen Auschnitt des Weltverlaufs bietet, gespiegelt. Außerdem dienen die Fotografien als Ausgangspunkt oder aber auch Objekt von Erinnerungen. Da die Reflexion von Erinnerungsprozessen ein wichtiges Anliegen der Romane darstellt, ist die Einbettung von Fotografien ein enormer Zugewinn. Doch auch das Erzählen mit Worten ist, wie in den Texten von Maron und Sebald deutlich wird, der Erinnerung nahe, nicht zuletzt weil diese meist durch Worte formuliert und so an andere weitergegeben wird. Erinnerung existiert, wie Wolfgang Müller-Funk formuliert, „nicht ohne rudimentäre Formen des Narrativen”.3 Auch umgekehrt setzt eine Erzählung Erinnerung voraus. In einer schriftlichen oder mündlichen Erzählung lassen sich Sachverhalte in ihrer Kausalität darstellen, ebenso wie es die Literatur möglich macht, komplexe Innenweltdarstellungen von Personen zu formulieren. Das bedeutet einen Vorteil gegenüber der Fotografie, die das Innere der auf ihr dargestellten Personen durch Gesichtsausdrücke zwar eindringlich offen legen kann, der aber die Möglichkeit fehlt, komplexere Gedanken von Personen auszudrücken. 2 | Rentsch 2008. S. 56. 3 | Müller-Funk S. 72.

256 | Kapitel 4. Fazit und Ausblick

Trotz der Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Medienkombinationen bleiben diese, wie gezeigt wurde, in ihren Formen und Funktionen sehr heterogen. Ein wichtiges Differenzierungsmerkmal ist beispielsweise das quantitative Dominanzverhältnis zwischen Literatur und Fotografie. Bei den vorgestellten Fotoromanen wird die Fotografie in den literarischen Text integriert. Der literarische Text überwiegt hier eindeutig, auch wenn beide Medien in ihren materiellen Eigenheiten präsent bleiben, wie es für Medienkombinationen typisch ist. Bei Sebald, Foer und Maron, folglich den dominant literarischen Werken, handelt es sich um kontinuierlich literarisch erzählende Werke, in die einzelne fotografische Bildmedien integriert sind. Calle, Lefèvre, Lesy und Neshat hingegen erzählen multimedialer: Hier werden auch die Bilder dazu bemüht, eine Narration zu erzeugen. Aus diesem Grund ist das Verhältnis zwischen den Medien hier ausgeglichen oder sogar zugunsten der Fotografie verschoben. Es ist zu bemerken, dass sich meist das quantitativ dominante Medium für die Gattungszugehörigkeit oder den Medientyp als bestimmend erweist. Es wäre allerding verfehlt anzunehmen, dass die quantitativ unterrepräsentierten Medien auch eine geringere Bedeutung im Blick auf die Gesamtwirkung der Medienkombination hätten. Sie können sogar qualitativ das dominantere Medium darstellen, indem sie Bedeutungen verdichten und intensivieren. Sie liefern oft eine wirkungsästhetisch zentrale Komponente oder eine entscheidende Zutat zur ästhetischen oder semantischen Aussage. Bei Jonathan Safran Foer stehen die Fotografien beispielsweise als markante Zeichen für die Unaussprechlichkeit des Traumas. Durch die visuellen Artefakte kann thematisiert werden, dass sich Traumata der Kohärenz und Sinn stiftenden Narration entziehen. Außerdem können durch die Bilder die Eindrücke des jungen Erzählers visuell nachvollzogen werden. Trotz ihrer quantitativen Unterzahl sind die Fotografien von enormer Bedeutung für die Sinnstiftung des Romans. Bei Shirin Neshat wiederum gewinnen die Fotografien durch die wenig dominanten integrierten Schriftzeichen wichtige und subtile Bedeutungsdimensionen. Durch die Schrift gelingt es der Künstlerin, über die zitierten Klischees der „women of war” hinauszugehen, diese ironisch zu brechen und kritisch zu beleuchten. Denn die poetischen Schriftzeichen verschleiern und verrätseln die vermeintlich eindeutigen Bildaussagen und Repräsentationen (kampfbereiter islamischer Frauen) und sorgen auf diese Weise für multiperspektivische Brechungen. Zugleich zeigt dieses Beispiel, dass die Engführung zweier Medien auf das Einzelmedium zurückwirkt. Bei den Werken der amerikanisch-iranischen Künstlerin kann die Schrift stärker als beim für sich stehenden Textauszug als „Schriftbild” in ihren genuin visuell-anschaulichkonkreten Eigenschaften wahrgenommen werden. So gewinnt die persische Schrift in

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der Wahrnehmung des Betrachters neue, materielle Charakteristika und lässt so zuvor verdrängte Eigenschaften sichtbar werden. Damit kommt gerade denjenigen Medien, die auf den ersten Blick eher als marginale „Einsprengsel” erscheinen mögen, eine leitende Funktion bei der Bedeutungsgenese zu. Sie erzeugen ästhetische Komplexität und beteiligen durch subtile Beziehungsvielfalt den Rezipienten an der Bedeutungsstiftung und fordern ihn zu einer genauen Medienlektüre heraus. Auf methodischer Ebene hat sich in dieser Arbeit ein Verfahren herauskristallisiert, dass sich auch für die Erforschung anderer offener Medienkombinationen eignen kann. Zunächst muss der Rezipient die beteiligten Medien getrennt voneinander betrachten und mit den Möglichkeiten der jeweils passenden Disziplin analysieren. Im vorliegenden Fall waren dies vor allem Verfahren des close reading auf der einen und der klassischen Bild/Fotoanalyse auf der anderen Seite. In einem zweiten Schritt sollten die Ergebnisse dann zusammengeführt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Hier hat es sich als hilfreich erwiesen, die in Kapitel 2.11 und 2.12 formulierten Fragen zu stellen. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Antworten auf diese Fragen keineswegs eine Analyse darstellen, dass sie aber auf direktem oder indirektem Wege darauf hinführen. Trotz dieses recht einheitlichen methodischen Vorgehens erfordert die Individualität der Medienkombinationen auch Unterschiede in der methodischen Herangehensweise. Im Hinblick auf das vorangestellte Zitat dieses Fazits soll die vorliegende Arbeit auch dazu dienen, spezifische Medienkompetenzen auszubilden. Von großem Interesse im Hinblick auf die heutige Medienwelt wäre es zu prüfen, inwiefern sich die an dieser Stelle festgehaltenen Ergebnisse auf nicht-fiktionale Medienkombinationen aus Text und Fotografie, wie sie zum Beispiel in der Werbung oder in Zeitungstexten zu finden sind, anwenden lassen. Gerade solche Text-Bild-Kombinationen prägen Zeitungen, Magazine und das Internet. Ein Unterschied zwischen fiktionalen Medienkombinationen und den fotografisch-textuellen Elementen der Massenmedien kann hier sogar den Ausgangspunkt bilden: Durch fotografisch-literarische Medienkombination kann Komplexität erzeugt werden. Auch zwei Medien, die häufig dazu eingesetzt werden, sich gegenseitig zu affirmieren, können miteinander konkurrieren, sie können sich in Frage stellen, ergänzen, erweitern oder sogar widersprechen.

5 Verzeichnis der verwendeten Literatur

5.1 P RIMÄRWERKE Auster, Paul: Leviathan. London/Boston: faber & faber 1993. (L) Calle, Sophie: Double Game. London: Violette Editions 1999. (DG) Foer, Jonathan Safran: Extrem Laut & Unglaublich Nah. Frankfurt a.M.: Fischer 2007. (EL&UN) Guibert, Emmanuel/Lefèvre, Didier/Lemercier, Frédéric: Le Photograph. Tome 1. Marcinelle: Editions Dupuis 2003. Guibert, Emmanuel/Lefèvre, Didier/Lemercier, Frédéric: Der Fotograf. In den Bergen Afghanistans. Bd. I. Zürich: Edition Moderne 2008. (DF1) Guibert, Emmanuel/ Lefèvre, Didier/Lemercier, Frédéric: Der Fotograf. Ärzte ohne Grenzen. Bd. II. Zürich: Edition Moderne 2008. (DF2) Guibert, Emmanuel/ Lefèvre, Didier/Lemercier, Frédéric: Der Fotograf. Allein nach Pakistan. Bd. III. Zürich: Edition Moderne 2009. (DF3) Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder. München: dtv 2005. (UB) Lesy, Michael: Wisconsin Death Trip. Albuquerque: University of Mexico Press 1973. Maron, Monika: Pawels Briefe. Frankfurt a.M.: Fischer 1999. (PB) Maron, Monika: Geburtsort Berlin. Frankfurt a.M.: Fischer 2003. (GB) Peters, Benoît/Plissart, Marie-Françoise: Eben jetzt. Fotografische Suite. Zelhem: Arboris 1993.

260 | Kapitel 5. Verzeichnis der verwendeten Literatur

Sebald, W.G.: Die Ausgewanderten. Frankfurt a.M.: Fischer 1999. (DA) Smith, Sadie: On Beauty. London: Penguin 2005. (OB) Streeruwitz, Marlene: Lisa’s Liebe. Frankfurt a.M.: Fischer 1997.

5.2 S EKUNDÄRLITERATUR Akeret, Robert U.: Photolanguage. How Photos Reveal the Fascinating Stories of Our Lives and Relationships. New York/London: Norton 2000. Arnheim, Rudolf: Warum knipsen die Leute (1950)? In: Rudolf Arnheim, Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie-Film-Rundfunk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 17-19. Arnheim, Rudolf: Glanz und Elend des Photographen. In: Rudolf Arnheim, Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie-Film-Rundfunk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 20-35. Assmann, Aleida. Zwischen Gedächtnis und Geschichte. In: Marianne LeuzingerBohleber/ Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Gedenk und vergiß - Im Abschaum der Geschichte. Tübingen: Edition Diskord 2001. S. 141-152. Aumüller, Matthias: Poetizität/Literarizität. In: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart: Metzler 2009. S. 2831. Baatz, Willfried: Geschichte der Fotografie. Ein Schnellkurs. Köln: Dumont 2008. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2007. Barsch, Achim: Fikton/Fiktionalität. In: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze-Personen-Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler 2004. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Barthes, Roland: Über Fotografie. Interview mit Angelo Schwarz (1977) und Guy Mandery. (1979). In: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd. I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. S. 82-88.

5.2. Sekundärliteratur | 261

Barthes, Roland: Rhetorik des Bildes. In: Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. S. 28-46. Baudelaire, Charles: Die Fotografie und das moderne Publikum (1859). In: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie I. 1839-1912. München: Schirmer/Mosel 2006. S. 110-113. Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1973. Baudrillard, Jean: The Spirit of Terrorism. London/New York: Verso 2002. Baumann, Henrik: Die autobiographische Rückkehr. Studien zu Serge Doubrovsky, Hervé Guibert und Jean Rouaud. München: Martin Meidenbauer 2008. Bazin, Andre: Ontologie des fotografischen Bildes. In: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie III. 1945-1980. München: Schirmer/Mosel 2006. S. 58-63. Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Fotografie (1931). In: Michael Opitz (Hg.), Walter Benjamin. Ein Lesebuch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. S. 287-312. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/1936). In: Michael Opitz (Hg.), Walter Benjamin. Ein Lesebuch. Frankfurt a.M: Suhrkamp 1996. S. 313-347. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte (1940). In: Michael Opitz (Hg.), Walter Benjamin. Ein Lesebuch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. S. 665-676. Berger, John: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1974. Berger, John: Erscheinungen. In: John Berger/Jean Mohr, Eine andere Art Geschichten zu erzählen. München/Wien: Carl Hanser 1984. S. 81-129. Berger, John: Geschichten. In: John Berger/Jean Mohr, Eine andere Art Geschichten zu erzählen. München/Wien: Carl Hanser 1984. S. 277-288. Berger, John/Mohr, Jean: Wenn jedes Mal. Vorwort. In: John Berger/Jean Mohr (Hg.), Eine andere Art Geschichten zu erzählen. München/Wien: Carl Hanser 1984. S. 133-134. Bertelli, Pino: Fragment eines Diskurses über die Fotografie (1982). In: Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie IV. 1980 -1995. München: Schirmer/Mosel 2006. S. 172-178.

262 | Kapitel 5. Verzeichnis der verwendeten Literatur

Boehm, Gottfried: Die Wiederkehr der Bilder. In: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? München: Wilhelm Fink Verlag 2001. S. 11-38. Boehm, Gottfried: Iconic Turn. Ein Brief. In: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch. München: Wilhelm Fink Verlag 2007. S. 2736. Böhme, Gernot: Theorie des Bildes. München: Wilhelm Fink Verlag 1999. Braun, Reinhard: Wirklichkeit zwischen Diskurs und Dokument. Bilder als Evidenzmaschinen. In: Susanne Knaller (Hg.), Realitätskonstruktionen in der zeitgenössischen Kultur. Beiträge zu Literatur, Kunst, Fotografie, Film und zum Alltagsleben. Wien u.a.: Böhlau 2008. S. 37-46. Bräunert, Svea: Fotografische Erinnerungsräume in Arbeiten von Sophie Calle und Monika Maron. In: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hg.), Nachbilder der Wende. Köln u.a.: Böhlau 2008. S. 84-103. Broich, Ulrich/Pfister, Manfred: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Max Niemeyer 1985. Brunet, Francois: Photography and Literature. London: Reaktion Books 2009. Busch, Bernd: Das fotografische Gedächtnis. In: Kai-Uwe Hemken (Hg.), Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst. Leipzig: Reclam 1996. S. 186-204. Busse, Jan-Phillipp: Zur Analyse der Handlung. In: Peter Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2004. S. 23-49. Byrnes, Deirdre: Exposing the Gaps in Memory: Forgetting and Remembering in Monika Maron’s Pawels Briefe. In: Edric Caldicott, Anne Fuchs (Hg.), Cultural Memory. Essays on European Literature an History. Oxford u.a.: Peter Lang 2003. S. 147-159. Cartier-Bresson, Henri: Die Suche nach dem rechten Augenblick. Berlin: Janus Press 1998. Codde, Philippe: Philomela Revisited: Traumatic Iconicity in Jonathan Safran Foer’s Extremly Loud & Incredible Close. In: Studies in American Fiction. 35.2. 2007. S. 241-254. Coleman A. D.: Light Readings. A Photography Critic’s Writings. 1968-1978. Albuquerque: University of New Mexico Press 1998.

5.2. Sekundärliteratur | 263

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264 | Kapitel 5. Verzeichnis der verwendeten Literatur

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5.2. Sekundärliteratur | 265

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266 | Kapitel 5. Verzeichnis der verwendeten Literatur

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5.2. Sekundärliteratur | 267

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268 | Kapitel 5. Verzeichnis der verwendeten Literatur

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5.2. Sekundärliteratur | 269

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270 | Kapitel 5. Verzeichnis der verwendeten Literatur

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5.2. Sekundärliteratur | 271

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272 | Kapitel 5. Verzeichnis der verwendeten Literatur

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5.2. Sekundärliteratur | 273

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274 | Kapitel 5. Verzeichnis der verwendeten Literatur

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5.3. Internetquellen | 275

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5.3 I NTERNETQUELLEN Adams, Tim: A nine-year-old and 9/11. Guardian 29 May 2005. http://www.guardian.co.uk/books/2005/may/29/fiction.features. Burton, Jane: Sophies World. In: The Independent. January 17, 1999. http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/sophies-world-1074440.html. Däwes, Birgit: On Contested Ground (Zero): Literature and the Transnational Challenge of Remembering 9/11. Paper presented at the annual meeting of the American Studies Association. 14.05.2009. http://www.allacademic.com/meta/p113786_index.html. Faber, Michael: A tower of babble. Guardian 4 June. 2005. http://www.guardian.co.uk/books/2005/jun/04/featuresreviews.guardianreview22 Grounewoud, Andre: Ein Bild, ein Kind, eine Geschichte. Kölner Stadtanzeiger vom 19.07.05. http://www.ksta.de/html/artikel/1121601571007.shtml. Khimasia, Anna: Authorial Turns: Sophie Calle, Paul Auster and the Quest for Identity. In: Image & Narrative. Online Magazine of the Visual Narrative. Issue

276 | Kapitel 5. Verzeichnis der verwendeten Literatur

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Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern Juli 2012, ca. 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1

Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa 2011, 380 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7

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Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart Juni 2012, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Mai 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6

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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts September 2012, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende Mai 2012, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

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Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne 2011, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3

Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur

Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia« Mai 2012, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1

Roger Lüdeke (Hg.) Kommunikation im Populären Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen 2011, 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1833-4

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 August 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Miriam N. Reinhard Entwurf und Ordnung Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung Mai 2012, ca. 254 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2010-8

2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4

Franziska Sick (Hg.) Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett

Astrid Henning Die erlesene Nation Eine Frage der Identität – Heinrich Heine im Schulunterricht in der frühen DDR

2011, 244 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1515-9

2011, 320 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1860-0

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Lars Koch, Christer Petersen, Joseph Vogel (Hg.)

Störfälle Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011

2011, 166 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1856-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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