Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert: Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk. Eine exemplarische Studie 9783110943344, 9783484350328


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German Pages 538 [540] Year 1991

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Table of contents :
Einleitung
I. »Poeta et Syndicus« Dichtung als Funktion des Juristenamtes
1. Lohensteins Juristenkarriere
II. »Naturae et Gentium« Dichtung als Vermittlung des Naturrechts
1. Grundsätze des Naturrechtsdenkens
2. Die Ehe im protestantischen Naturrecht
3. Politische Dimensionen des Naturrechts
4. Lohenstein, Breslau und der Habsburger Kaiser
III. »Lingua et mente« Dichtung als Selbstdarstellung des juristischen Beamtentums
1. Jurisprudenz und Theologie
2. Die Ethik des Beamten
3. Sprache und Jurisprudenz
IV. »Inventio et iudicium« Dichtung als Experimentierfeld juristischer Urteilssuche
1. Kritik des apodiktischen Erkenntnisanspruchs
2. Sozial- und rechtsgeschichtliche Aspekte der Urteilsfindung
3. Ars inveniendi, juristische und ästhetische Komplexität
4. Die Problematik juristischer Beweisführung
V. »Voluntas et potestas« Dichtung als Beitrag zur Humanisierung des Schuldbegriffs
1. Wille und Verantwortung – Ethik des Handelns
2. Entlastung und Milde – Ethik des Richtens
3. Schuld und Schuldbewußtsein
Schluß: Theater der Justiz und Schultheater
Literaturverzeichnis
Register
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Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert: Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk. Eine exemplarische Studie
 9783110943344, 9783484350328

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil Band 32

Adalbert Wiehert

Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk Eine exemplarische Studie

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Redaktion des Bandes: Alberto Martina

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Wiehert, Adalbert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert : Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk ; eine exemplarische Studie / Adalbert Wiehert. - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 32) NE:GT ISBN 3-484-35032-6

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz, Druck und Buchbinder: Memminger Zeitung, Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 1987 von der Philosophischen Fakultät II der Ludwig-Maximilians-Universität München unter dem Titel >Daniel Casper von Lohenstein - Literatur und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurde sie überarbeitet und gekürzt. Walter Müller-Seidel gab der Arbeit von ersten Anregungen bis zu ihrem Abschluß zuverlässigen Rückhalt. Er lenkte mein Interesse auf den interdisziplinären Ansatz und speziell auf die Beziehungen zwischen Literatur und Jurisprudenz. Klaus Volk hat mich auf so manches rechtshistorische Detail hingewiesen. Meine Frau hat nicht nur als erste aufmerksame und kritische Leserin Anteil an der Entstehung des Buches. Der Universität Wroclaw, vor allem Marian Szyrocky, Ilona Banet und den Bibliothekaren danke ich für ihre Unterstützung. Mein Dank gilt auch dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und der Polnischen Akademie der Wissenschaften für die Finanzierung meines Aufenthalts in Wroclaw sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft für das Habilitandenstipendium. Daß das Buch in der vorliegenden Form erscheinen konnte, verdanke ich dem Druckkostenzuschuß der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den Herausgebern der >Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur^ die sie in ihre Reihe aufgenommen haben, sowie den betreuenden Lektoren des Niemeyer-Verlags. Königsbrunn, im Herbst 1990

Adalbert Wiehert

Meinen Eltern

Vor zwei Dingen kann man sich nicht genug in acht nehmen: beschränkt man sich in seinem Fache - vor Starrsinn; tritt man heraus - vor Unzulänglichkeit (J.W. v. Goethe)

Inhaltsverzeichnis

Einleitung I. »Poeta et Syndicus« Dichtung als Funktion des Juristenamtes 1. Lohensteins Juristenkarriere a) Poesie, Universitätsbildung, Erfahrung als Stufen zur beruflichen Praxis . b) Beamtenadel und städtische Nützlichkeitstugend c) Lohenstein als Advokat und Syndikus 2. Schule und Rechtsbildung als öffentliche Aufgaben a) Schule und Stadtregiment b) Jurisprudenz als Unterrichtsfach c) Juristische Inhalte als Gegenstand der Schulactus d) Obrigkeit und Theater II. »Naturae et Gentium« Dichtung als Vermittlung des Naturrechts 1. Grundsätze des Naturrechtsdenkens a) Humanismus und Naturrecht in Schlesien b) Naturrechtliche Anthropologie c) Freundschafts-, Liebesethik und Naturrecht d) Naturrecht als Norm im Trauerspiel Cleopatra

l

9 9 9 18 27 35 35 39 43 47

56 56 56 61 67 75

2. Die Ehe im protestantischen Naturrecht a) Wandlungen der Eheauffassung b) Die Ehe als Umsetzung des kosmischen Liebesgesetzes c) Cleopatra als Trauerspiel der Ehe d) Die Stellung der Frau und das Eherecht e) Probleme des Eherechts in Lohensteins Herolden

82 82 84 90 101 108

3. Politische Dimensionen des Naturrechts a) Das Vertragsmodell als Grundlage städtischen Rechtswesens b) Absolutismus und Völkerrecht in Cleopatra

116 116 126

4. Lohenstein, Breslau und der Habsburger Kaiser a) Kaisertum und Romtradition b) Die Verfassungskrise des Reiches im 17. Jahrhundert

135 135 140 VII

c) Lohensteins Wiener Mission d) Ambivalenz des Herrscherlobs III. »Lingua et mente« Dichtung als Selbstdarstellung des juristischen Beamtentums 1. Jurisprudenz und Theologie a) Jurisprudenz zwischen Klerus und Laien b) Die Christlichkeit des Juristen c) Christentum und Kirchenkritik in Lohensteins Dramen d) Als Stadtjurist zwischen den Konfessionen

145 148

160 160 160 172 183 188

2. Die Ethik des Beamten a) Lohensteins Werk als Beamtenliteratur b) Das Verhältnis Fürst-Beamter c) Das Widerstandsrecht des Staatsdieners

199 199 208 222

3. Sprache und Jurisprudenz a) politische Beredsamkeit, Schulrhetorik und Hofrhetorik b) Kanzleirhetorik und Dichtung c) Rhetorik und Rhetorikkritik in Lohensteins Dramen d) Jurisprudenz und forensische Rhetorik

231 231 239 248 267

IV. »Inventio et iudicium« Dichtung als Experimentierfeld juristischer Urteilssuche 1. Kritik des apodiktischen Erkenntnisanspruchs a) Lohensteins christlicher Erkenntnisbegriff b) Lohensteins Stoakritik c) Das dialektische Wahrscheinlichkeitstheorem

280 280 280 285 290

VIII

2. Sozial-und rechtsgeschichtliche Aspekte der Urteilsfindung a) Reform der gerichtlichen Wahrheitsfindung b) Juristisches Urteil und Öffentlichkeit c) Die kompensatorische Funktion literarischer Rechtsfälle d) Verantwortung und Urteil

296 296 302 306 312

3. Ars inveniendi, juristische und ästhetische Komplexität a) Findung und Benennung der Realitätsvielfalt b) Ästhetik der Vielfalt c) Ästhetik des Wechsels d) Beweglichkeit des Urteils

320 320 326 340 350

4. Die Problematik juristischer Beweisführung a) Indiz und Zeugenaussage b) Folter und Perversion des Richtens c) Rationale Ermittlung d) Logisch-rhetorische Beweismittel: Exempel, Sentenz, Hypothese

364 366 376 383 386

V. »Voluntas et potestas« Dichtung als Beitrag zur Humanisierung des Schuldbegriffs 1. Wille und Verantwortung-Ethik des Handelns a) b) c) d)

Die Willensfreiheit Moralisierung des Rechts Sprache und Willensäußerung Indirekt wirkender Wille und Mitschuld

2. Entlastung und Milde-Ethik des Richtens a) Die Beurteilung des Selbstmords b) Die Milde des Gerichts c) Mildernde Umstände

3. Schuld und Schuldbewußtsein a) Verhängnis und kreatürliche Schuld b) Das paulinische Schuldbewußtsein c) Schuldeinsicht und peinlicher Prozeß

398 398 398 408 419 427

436 436 441 454

473 473 477 484

Schluß:

Theater der Justiz und Schultheater

489

Literaturverzeichnis

500

Register

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IX

Einleitung

Von zehn Fachleuten konnte keiner über Daniel Casper von Lohenstein extemporieren [...]. Deutsche Literatur ist für mich barocke Literatur. [...] Allen voran Daniel Casper, der es mit seinen Vorläufern Marlowe, Shakespeare, Calderon aufnimmt und mit seinen Zeitgenossen Corneille, Racine. Lohenstein! Vergessen. Auch von der Fachpresse. >SchwulstAbsolutismus< selbst 4

Wiedemann: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität, S. 21. Stadt - Schule - Universität - Buchwesen in der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert, S. 3. 6 Martino: Daniel Casper von Lohenstein, (1978) - vgl. die Kritik von Schings: Constantia und Prudentia, S. 424, Anm. 46. 7 Barner: Barockrhetorik (1970). 8 Barner: Stilbegriffe und ihre Grenzen, S. 323f. 9 Heinrich Hildebrandt: Die Staatsauffassung der schlesischen Barockdramatiker (1939); Erik Lunding: Das schlesische Kunstdrama (1940); Karl-Heinz Mulagk: Phänomene des politischen Menschen im 17. Jahrhundert (1973); Wolf Wucherpfennig: Klugheit und Weltordnung (1973); Elida Maria Szarota: Lohenstein: Das Drama des politischen Menschen (1976); Gerhard Spellerberg: Lohenstein als politischer Dichter (1977); G.S.: Barockdrama und Politik (1983). 5

und die zugehörenden Begriffe >Staatsräson< und >DisziplinierungStaats-KunstStaats-WissenschaftPoliticapoeta< war also nicht vom Rechtsgelehrten Lohenstein zu trennen, ja, rückt man noch weiter an den Lebenden heran, so dominiert der >Juristinauguralisinauguralisinauguralis< »in denen gedruckten Exemplarien [...] nicht zusetzen ließ«, hat man nach dem Stellenwert des Doktorats zu fragen. Der überwiegende Teil der Studenten brach, nicht zuletzt aus Kostengründen, sein Studium ohne den teuren Abschluß ab. Andere erwarben das Lizentiat, wurden sog. »nüchterner Doktor«.29 Dieses Lizentiat war der eigentliche Leistungsnachweis und seit dem 15. Jahrhundert der erste Schritt zu einer universitären 25 26 27 28 29

Vgl. Stintzing: Rechtswissenschaft I, S. 62. Wendt: Der Breslauer Syndicus, S. 138. Lohenstein: Lob-Rede, fol.Cl. Vgl. Grimm: Wörterbuch, Bd. 16, Sp. 1576ff. Vgl. Jens: Eine deutsche Universität, S. 163; Burmeister: Das Studium der Rechte, S. 139ff.

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Laufbahn. Es galt als Lehrbefähigung an der Hausuniversität und berechtigte zur Promotion. Nach Zedler heißt derjenige »Beyder Rechten Licentiat« oder »Juris Utriusque Licentiatus«, der »die Freiheit erhalten hat, die ansehnliche DoctorWürde in denen Rechten, wenn es ihm beliebet, anzunehmen.«30 Mit der Verleihung des Titels »doctor facultatis« wurde man dann zunftmäßiges Mitglied der Fakultät, erhielt das Privileg der selbständigen Lehre, das Privileg der Gerichtsgewalt gegenüber den Studenten sowie Privilegien im öffentlichen Leben, die den Inhaber des Titels dem Ritterstand (dignitatem et ordinem equestrum) gleichsetzten. Die Promotion war also eher ein aufwendiges, gesellschaftliches Zeremoniell als ein ernsthaftes Examen. Wenn überhaupt, dann wurde der feierliche Akt der Promotion erst Jahre nach dem Lizentiat erbeten, erst dann nämlich, wenn man die nötige berufliche Erfahrung, vor allem aber den nötigen sozialen Rückhalt, die Aussicht auf ein Amt, die standesgemäße Ausstattung hatte.31 Lohenstein war bei Abschluß seiner Disputatio gerade 20 Jahre alt, ein Alter, in dem viele immer noch die letzte Klasse der Schule besuchten. Der Bruder hob die Kürze des Studiums im Lebens-Lauff eigens hervor. Die gründliche Vorbildung durch das Breslauer Gymnasium32 und die finanzielle Belastung, die für einen Schlesier der Zwang, auswärts zu studieren, mit sich brachte, sind wohl ein Grund, daß Lohenstein die üblichen fünf Jahre Universitätsstudium unterbot. Interessant ist aber die Argumentation im Lebens-Lauff: Danach konnte Lohenstein »bey seinem geendigten Studio Juridico dem sonst hierzu aus gesetzten Quinquennio zuvorkommen/ umb seine Augen und Gemüthe desto eher in Beschauung der Welt/ wie bißher in Büchern zu weiden.«33 Das ist die gleiche Bewertung, die Lohenstein bei der Beschreibung des Bildungsweges von Hofmannswaldau vornahm, den nach seinen Worten gereizt habe, »alles/ was er von der Welt gelesen/ selbst in Augenschein zu nehmen«.34 Buchgelehrsamkeit bedeutete nur mehr eine Vorstufe für die angestrebte Weltgewandtheit. Hofmannswaldaus und Lohensteins Bildungsreisen entsprechen auch nicht mehr den Maßstäben der humanistischen Bildungsreisen, die von Universität zu Universität, von Bibliothek zu Bibliothek, von Gelehrtem zu Gelehrtem führten. Lohenstein reiste zwar auch zu den niederländischen Universitätsstädten Leiden und Utrecht, aber sein Hauptaugenmerk galt offensichtlich den politischen Zentren, und zwar denen, die aus der Sicht Breslaus von Interesse sein mußten: dem Hl. Römischen Reich, seinen wichtigsten Höfen, dem Reichstag in Regensburg, der stets Treffpunkt der wichtigsten Beamten aus ganz Europa war, schließlich Wien und einem Teil Ungarns und damit wohl auch der Berührung mit dem Türkischen Reich. Daß Lohenstein die italienische, französische und spanische Sprache dabei erlernte, scheint dem Biographen wichtiger zu sein als die freilich vorausgesetzten - Latein- und Griechischkenntnissse. 3(1 31

32 33 34

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Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 17, Sp. 814f. Vgl. Stintzing: Rechtswissenschaft I., S. 75f; Jens: Eine deutsche Universität, S. 367; Burmeister.Das Studium der Rechte, S. 287; Martine: Lohenstein, S. 64. Vgl. unten Kap.1.2. J.C. v. Lohenstein: Lebens-Lauff, fol. A6. Lohenstein: Lob-Rede, fol. B5.

Vieles spricht dafür, daß man in Breslau an einem langen Universitätsstudium und Lohensteins Rückkehr mit dem Titel eines Doctor juris nicht allzu interessiert war. In dem Lobgedicht Devoti Character Animi würdigt der offenbar von der Stadt Breslau bzw. seinem Syndikus Lohenstein geförderte Anton Kretschmer, daß Lohenstein auf den akademischen Titel (»titulorum pompam«) verzichtet habe, obwohl er an Wissen die Doctores eher übertreffe. Der weite Bereich der juristischen Praxis biete genügend Gelegenheit, Ruhm zu ernten. Es sei ohnehin besser, auf beiden Augen zu sehen, also profundes Wissen mit Erfahrung zu verbinden.35 Sicherlich, Schlesien hatte keine Universität und entwickelte daher auch keine Schicht der Doktoren. Das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Breslau gründete seine Bedeutung auf die praktische Tüchtigkeit seines Handwerks, seiner Kaufleute und seiner Verwaltung. Dennoch sind die Situation Breslaus und Lohensteins Ausbildungsweg nicht Ausnahme, sondern exemplarisch für einen Wandel innerhalb der Bildungsgeschichte. Die Universitäten und mit ihnen die Schicht der Doktoren, noch im 16. Jahrhundert vor allen anderen Träger von Bildung und Wissenschaft, verloren als kulturelle Leitinstitutionen an Boden. Sie hatten ihre mittelalterliche Struktur und ihre scholastische, die Autorität von dogmatischen Texten immer und immer wieder reproduzierende Methode im Übergang zur Neuzeit kaum verändert. Darin liegt auch der Grund, »daß die modernen Wissenschaften nicht an den Universitäten entstanden und sich die europäische Intelligenz außerhalb der universitären Institutionen neue Organisationsformen schuf, die ihren Bedürfnissen nach Zusammenarbeit und Gedankenaustausch mehr entgegenkamen, was nicht hinderte, daß es unter den Begründern der modernen Wissenschaften auch viele Professoren gab.«36 Renaissance und Humanismus hatten ein neues Verständnis von Wissenschaft und Bildung entwickelt, das sich an den Bedürfnissen des Menschen orientierte und den praktischen Nutzen des literarisch Rezipierten oder des theoretisch Erkannten zur Maxime machte. Dieser humanistische Grundsatz setzte sich zunächst in den neuen Bildungseinrichtungen durch, den protestantischen Stadtgymnasien und den Ritterakademien, die gerade aus den Bedürfnissen der sich veränderten Sozietäten hervorgegangen sind, vor allem aus der Notwendigkeit, den wachsenden Bedarf der sich entwickelnden Staatswesen an gut ausgebildeten Verwaltungsbeamten zu dekken.37 Es verwundert nicht, daß sich der Einbruch neuzeitlichen Denkens in den Bereich der mittelalterlichen Universität zuerst innerhalb der Jurisprudenz vollzog; denn die Rechtslehrer wurden sehr früh als Geheime Räte an die Höfe geholt, waren als Gutachter mit der Rechtsprechung der Gerichte im Lande betraut und 35

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Kretschmer: Devoti Character Animi, fol. Bl: »qui licet titulorum pompam, sectatus non fueris, tarnen earn parasti scientiam, quae si non anteferret, certe iungeret TE Doctoribus. Late patet Jurisprudentiae pelagus, quod si superaveris, gloria sequitur non vulgaris, et emolumentum satis magnum. [...] duplum enim ii saltern vident, in quibus cum profunda rerum scientia experientia concurrit.« van Dülmen: Entstehung des frühneuzeitlichen Europa, S. 300. Vgl. Jens: Eine deutsche Universität, S. 173f; Schäfer: Moscherosch, S. 19, 85, 112. 17

lehrten abseits ihrer traditionellen, praxisfernen Auslegung irgendwelcher römischer Rechtssätze in gewinnbringenden Privatvorlesungen - ähnlich dem heutigen System der Repetitoren - das, was man als künftiger Beamter wirklich brauchte. Nicht aus sich heraus reformiert sich also die Universität. Es war das Beamtentum mit seinen spezifischen, an der Praxis orientierten Bildungsinteressen, das von außen her den mittelalterlichen Gelehrtenstand als Träger von Bildung und Wissenschaft ablöste. Dementsprechend läßt sich ein sozialer Abstieg der Doktoren unter den Rang der hohen Beamten beobachten.38 Sincerus berichtet in seiner Sammlung von Viten berühmter Juristen, daß etwa Cornelius Grotius, der Vetter des Hugo Grotius und der humanistische Jurist (und Dichter) Georg Franzke sich gegen die Annahme akademischer Titel gesträubt haben.39 Samuel Pufendorf (1632-1694), der wohl bedeutendste deutsche Rechtsgelehrte unter den Zeitgenossen Lohensteins, verzichtete auf den Doktorgrad aus Verachtung für die Juristenfakultät und ihre scholastische Methode. Bezeichnenderweise lehnte er das Angebot des Pfälzischen Kurfürsten ab, den Lehrstuhl für Römisches Recht zu übernehmen. Er habe keine Lust, 999 Institutionenkommentaren einen 1000. hinzuzufügen. Der erste deutsche Lehrstuhl für Natur- und Völkerrecht, den er dann in Heidelberg aufbaute,40 war- das ist ebenso bezeichnendein Lehrstuhl der Artistenfakultät, die in der universitären Hierarchie die unterste, eigentlich voruniversitäre Fakultät war, für den Humanismus aber der Hebel, von dem aus er begonnen hatte, das mittelalterliche Bildungssystem aus den Angeln zu heben. Für die Laufbahn eines Advokaten konnte Universitätsgelehrsamkeit sogar hinderlich werden. In einem Weistum aus Weiz in der Steiermark war im 17. Jahrhundert angeordnet worden, »daß ohne erhebliche Ursache kein Doktor der Rechte« als Parteienvertreter zugelassen werden solle, damit die Bürger nicht »in lange Rechtsfirungen geleitet werden«.41 b) Beamtenadel und städtische Nützlichkeitstugend Wie sehr der Vorwurf der Praxisferne gegenüber der Universitätsgelehrsamkeit und spiegelbildlich dazu die Betonung der eigenen Praxisnähe das Selbstverständnis und Wertbewußtsein des Juristen im 17. Jahrhundert bereits bestimmten, zeigt Caspar Stieler in seinem Handbuch über die Teutsche Sekretariat-Kunst (1673). In der Vorrede drückt er die Hoffnung aus, das Buch werde der Allgemeinheit, die bisher die Secretarii »vor halbgelehrte/ faule Brüder/ und nichts Wisser schätzet/ so ihren Kunstfleiß auf den hohen Schulen nicht zu Ende zu bringen gewußt«, die wahre Bedeutung dieses Berufes vor Augen führen: Die Wissenschaft des offen- und sonderbaren Rechts kan wol einen Doctor machen/ ein Secretarius aber muß über dieselbe auch ein guter Redner/ fertiger Sprachmeister und 18 19 40

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Vgl. Kübl: Geschichte der österreichischen Advocatur, S. 67. Sincerus: Vitae et Scripta magnorum Juris Consultorum, Bd. I, S. 145 u. 121. Vgl. ADB Bd. 26, S. 701. Zit. nach Kübl, ebd. S. 59.

kluger Statskündiger seyn/ die Geschichte muß er auf den Nagel hersagen/ der Fürsten und Landes/ denen er dienet/ Angelegenheiten verstehen/ Geistlicher und Weltlicher Dinge Eigenschaften/ Natur und Wesen/ Vor- und Nachteil unterscheiden/ und hierüber zugleich des Hofbrauchs im Reden und Handeln/ samt der bey der Kanzley gewöhnlichen Schreibart mächtig seyn.

Allseitige Bildung, nach Ciceros Vorbild das Ideal des Humanismus und der Gegenstand sowohl des gymnasialen wie des Unterrichts der Artistenfakultät, wird hier gleichgesetzt mit Praxisnähe, die sich von akademischem Spezialistentum abhebt . Der Sekretarius suche »keine Kalmeuserey/ welche auf den Hohenschulen die Oberstelle besitzet« und beziehe seine Qualität »nicht aus der Pedenterey/ sondern aus den weltlichen Händeln.« 42 Offensichtlich hat sich seit dem 16. Jahrhundert »aus der lateinischen >res publica litteraria< eindeutig eine Schicht bürgerlicher Gelehrter, vor allem Juristen, ausgegliedert, für die zwar Schul- und Universitätsausbildung unabdingbar bleiben, deren Selbstverständnis [ . . . ] sich an Leitbildern ausrichtet, die im Raum ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Position Geltung besitzen. Höfisch-weltmännische und politisch-praktische Erziehung werden für die aufsteigende und an den Chancen des Fürstenstaates partizipierende Klasse des Bürgertums zum notwendigen Komplement humanistischer Gelehrsamkeit«.43 Daß Lohenstein zu dieser Schicht zu zählen ist, wird auch deutlich, wenn man auf die Widmung seiner Disputatio De voluntate blickt: Den genannten Förderern, von welchen er sich wohl auch weitere Hilfe erhoffte, ist gemeinsam, daß sie - abgesehen von anderen Funktionen - Beamte sind: Räte, also ausgebildete Juristen, der Herzöge von Liegnitz und Brieg. Die Reihenfolge der Adressaten ergibt sich aus ihrem Rang. Gabriel von Hund und Friedrich von Logau waren Geheime Räte, also Mitglieder der obersten Landesbehörde, einer Art Kabinett. Die folgenden drei (Andreas Lange von Langenau 75 Jahre, Nikolaus Henel von Hennefeld 73 Jahre, Christian Scholz 38 Jahre) waren Räte. Nur dieser letzte der Widmungsadressaten war >Utriusque Juris Doctorbürgerliche< Regierung abzuschütteln; denn der Kaiser legte nun die Landeshauptmannschaft in die Hände eines landadeligen kaiserlichen Beamten.55 Die Fehde zwischen Stadtregiment und Landadel blieb jedoch bis zur Jahrhundertwende akut, und zwar durch den nach Kriegsende einsetzenden Streit um die Höhe der Besteuerung.56 Neben der damit geschürten Rivalität zwischen dem alten Landadel und den Städtern entstand eine weitere Rivalität zwischen diesen und den mit hohen Adelstiteln ausgestatteten kaiserlichen Beamten, die seit dem Kriegsende in immer größerer Zahl von Wien aus in Breslau angesiedelt und mit immer weiteren Kompetenzen ausgestattet waren. So paradox es klingt - das Streben nach dem Adelsprädikat bedeutet nicht bürgerliche Anbiederung an die 51 52 53

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55 56

Vgl. Markgraf: Die Bilder der Breslauer Ratsherren, S. 90f. Stein: Der Rat und die Ratsgeschlechter des alten Breslau, S. 37. Ebd. S. 27. Johannes Sinapius: Des Schlesischen Adels Anderer Theil (1728), S. 787; vgl. die Anspielung im Titel eines Lohenstein gewidmeten Epicediums: »An die Lohe, bey des sei. Herrn von Lohensteins Geburths-Stadt Nymtsch, wo sie durch den grossen Felss fleuszt, von welchem sein Praedicat: Lohenstein hergenommen ist.«; vgl. C.Müller: Lohenstein, S. 3. Vgl. Stein: ebd. S. 29; Banet: Vom Trauerspieldichter zum Romanautor, S. 174f. Vgl. Banet: ebd. S. 182; vgl. unten Kap.II.3. 21

Adelswelt, sondern ist Teil einer Statuskonkurrenz,57 der Versuch, dem Adel die noch verbliebenen Attribute und Vorrechte dadurch zu nehmen, daß man sie auch für sich in Anspruch nimmt. Die zeitgenössischen Adelstheorien sind meist nichts anderes als Beschreibungen des neuen überständischen Beamtenideals. Und dieses Ideal steht geradezu im Gegensatz zu den herkömmlichen adeligen Lebensnormen, auch wenn es im Gewände von Adelstheorien vorgeführt wird: »Statt Geltung von Privilegien kraft Geburt deren Ableitung aus Leistung, statt Gründung von Herrschaft in Herkunft deren Monopolisierung in fürstlicher Gewalt und deren Exekution durch geschulte Räte jedweder Provenienz, statt repräsentativer adliger Standesattribute deren Unterminierung und Relativierung im Namen moderner >staatstragender< Qualifikationen.«58 Veit Ludwig von Seckendorff (1626-1692) moniert in seiner Beschreibung des Teutschen Fürstenstaates den Hochmut des Adels gegenüber den nichtadeligen Beamten, die »alles, oder das meiste, nechst Gott, ihrer eigenen tugend, mühe und fleiß, und wenig oder nichts der zufälligen geburt dancken dörffen«. Es sei durch nichts zu rechtfertigen, daß Adel und Ritterschaft auf »ihre geburt trotzen, und vermeynen wollen, daß andere menschen nicht auch verstand und qualitäten erlangen, und nicht eben so wohl redlich, geschickt und genereus seyn könten, wiewohl solche lügenden, leider! bey dem adel auch gar dünne gesäet sind.«59 Häufig kommt der Konflikt aber nur indirekt zur Sprache, dadurch nämlich, daß sich der neue Adel selbst als der eigentliche Adel darstellt. Christoph Pfeiffer wird in seiner Trauerrede auf Lohensteins Bruder sogar recht deutlich: Johann Casper von Lohenstein habe versucht, »seinen Ritter-Stand in der Welt also zu führen, daß Er auch Edel war in den Augen des Höchsten, und weil bey Ihm die Tugend der Grund war, worauf der Adel gebauet, und die Wapen gemahlet; so hatte Er auch vor vielen den Vorzug, die nur auf verrostete Waffen trotzen, und verwesete Ahnen anziehen, sonst aber ihre Tugend auf ausgebreitetem Mantel, oder als Cavalliere zu Pferde bezeigen.«60 Daniel Casper von Lohenstein hat vielfach Stellung bezogen zum Thema Adel. Im Drama Epicharis wird die Frage der Abstammung der Titelheldin zu einem Nebenthema. Die Widmung bezeichnet sie als »libertina sed illustris mulier«, 61 als Freigelassene, aber zugleich fürstliche, d.h. zur Übernahme einer Regentschaft berechtigte Frau also. Im ersten Akt erfährt man ihre Vorgeschichte: Sie selbst weiß nichts von ihrer Abstammung, hat lediglich Hinweise für die Vermutung, sie sei »ein mehr als Edel-Blutt« (EI/118).62 Asmuth hat diese Szene so zu deuten ver57 58 59

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Vgl. Garber: Zur Statuskonkurrenz von Adel und gelehrtem Bürgertum im theoretischen Schrifttum des 17. Jh.s., in: Europ. Hofkultur, S. 229ff. Garber: ebd. S. 231. Seckendorff: Teutscher Fürstenstaat, Additiones (1665), zit. nach Garber: ebd. S. 230; vgl. Stolleis: Seckendorff, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jh. (1977), S. 148-173; Stolleis: Grundzüge der Beamtenethik (1550-1650), in: Die Verwaltung 13 (1980). Christoph Pfeiffer: ebd. S. 98. Lohenstein: Römische Trauerspiele, S. 296. Wir kürzen bei Verweisen wie folgt ab: A = Agrippina; C = Cleopatra (1680), C/u = Urfassung Cleopatra (1661), E = Epicharis, IB = Ibrahim Bassa, IS = Ibrahim Sultan, S =

sucht, als ob Lohenstein damit, daß er die aristotelische Ständeklausel durch einen Trick doch noch zu erfüllen sucht, seiner Heldin »das Recht, in einer Tragödie aufzutreten« erkauft habe, da eine Sklavin sich für das Trauerspiel eigentlich nicht eigne.63 Das Gegenteil ist der Fall. Lohenstein spielt mit der Ständeklausel. Epicharis erscheint als eine Adelige, die genau das verloren hat, was der alte Geburtsadel als Faustpfand seiner Privilegien aufzuweisen hat: den Stammbaum. Was ihr nun bleibt, ist die Legitimation des neuen Beamtenadels: Leistung, Dienst für die Allgemeinheit, den sie mit letzter Konsequenz ausführt. Im zweiten Akt legt Lohenstein dem um Epicharis werbenden Proculus die Tugendlehre des Beamtenadels in den Mund: »Die raue Schal umbschleust der Diamanten Licht/ Ein knechtisch Kleid vielmal das edelste Geblütte.« Nicht »der Stammbaum« und sein »Zierath«, sondern die »edle Seele« seien entscheidend (EII/34f,42f). M Im letzten Akt vertritt Epicharis angesichts des Foltertodes selbstbewußt diese Haltung gegenüber dem Kaiser, als Tigillinus ihr den Standesunterschied vorhält zwischen ihr, dem »Außwurff der Natur« und »Schaum der Dienstbarkeit«, und »Deß Fürsten Majestät/ der Julier Geblütte« (E V/541, 547). Ihre Antwort kann als Deutung des Dramenganzen verstanden werden und zugleich als Distanzierung von einer konkret adelsideologisch verstandenen aristotelischen Ständeklausel: In wie viel Fürsten steckt ein knechtisches Gemütte? Hof-Heuchler/ Henckers-knecht; Ja tausend Sclaven sind Viel edler/ als ihr Herr[=Nero]. Er bleib ein Helden-Kind Ich eines Glichen Magd! Ist mir der Weg verschrenckt Zur Tugend: ihm zur Schmach? Die Kraft des Stammes sencket Sich in den Pfropffern ab. Wer Thal und Berg anschaut/ Siht dort mehr Zedern blühn/ hier wächst kaum Farren-Kraut.(E V/548 ff)

Nach Ansicht Martinos ist Lohensteins Arminius-Roman »einem ganz engen Kreis von adeligen Patronen und Freunden zugedacht«, während er »die Sympathie jenes aus gebildeten Beamten, Bürgerlichen, Patriziern oder Geadelten bestehenden Publikums [...] vernachlässigt« habe. Dementstprechend sei der Roman inhaltlich »außer der Apotheose von Leopold I./Arminius der Verherrlichung des Blut- und Schwertadels gewidmet«,65 also jenes Standes, mit welchem die schlesische Beamtenschicht um Prestige und Macht wetteiferte! Richtig an dieser These ist, daß Lohensteins Arminius sich in der Welt von Adel und Hof abspielt und daß über den Geburtsadel reflektiert wird: Kein Volck lebt unter der Sonne/ das nicht zwischen Adel und Pöfel einen grossen Unterschied macht; [...] Ja/ die Araber untersuchten so gar die berühmten Geschlechter ihrer Pferde/ und zahlten offt eines von schlechtem Ansehen theurer als hundert andere. Die über dem Caspischen Meere wohnenden Scythen hielten die aus einem gewissen Stamme

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Sophonisbe, dazu Akt/Vers., F = Staatskluger Catholischer Ferdinand, GG = Geistliche Gedancken. Asmuth: Lohensteins Quelle und Vorlagen für die Epicharis, in: Die Welt des D.C.v. Lohenstein, S. 100. Vgl. dazu Gillespie: Lohenstein's Epicharis, S. 368. Martine: Lohenstein, S. 89, vgl. S. 163.

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gezeugten Pferde/ welche viel Tage von wenig Handvolln Heu lebten/ und nie beschlagen werden dörfften/ so werth: daß sie für einen Kirchen-Raub hielten/ wenn jemand eines davon einem frembden verkauffe. [...] Diesemnach wäre es nicht weniger vernünfftig als recht: daß in Deutschland die Fürsten nur aus dem Adel erwehlt/ und nur alte Ritters-Leute zu Grafen und Gefärthen der Hertzoge und unter ihre Leibwache gezogen werden. (Arm. II/177a-b)

Diese Äußerung zugunsten des Blutadels ist jedoch nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit der Position Lohensteins. Schon die Zeitebene, für die sie Geltung beansprucht, relativiert. Der germanische Adel, von dem hier die Rede ist, ist allenfalls zu begreifen als Vorstufe des zeitgenössischen. Der Vergleich mit den Pferderassen wirkt eher gewollt überspitzt, so daß die gesamte Äußerung als Zitat zeitgenössischer Argumente des Blutadels zu verstehen ist, als Gesprächsbeitrag, der nicht absolute Geltung beanspruchen, sondern lediglich Ausgangspunkt für eine Verständigung zwischen Geburts- und Beamtenadel sein soll. Der Wert des Adels als Elite wird nirgends in Frage gestellt, was angesichts der erfolgten Adelung Lohensteins nicht verwundert. Es gibt aber im Roman auch andere Äußerungen, die das Blut außer acht lassen und mehr von den sozialen Dienst-Pflichten des Adels sprechen: Das Volck soll den Adel in Ehren halten. Weil der Adel zum ersten fürs Vaterland fechten/ und für den blossen Rauch der Ehre sein Leben und Gut aufopffern muß; ingleichen weil dieser und ihre Eltern sich ums gemeine Wesen wohl verdient haben/ und jeder Vernünfftiger aus dem Volcke sich bemühet durch Tugend edel zu werden; Also ist es billich/ daß das Volck dem Adel gewisser Massen nachgebe/ und selbtem mit Ehrerbietung begegne. [...] Der Adel hat dagegen zu erwegen/ daß die Natur alle Menschen gleiche/ und sie das Glücke oder ihrer Eltern Verdienste zu Edlen gemacht habe. Also müssen sie diese Würde durch Tugenden/ derer Wesen in der Mäßigkeit bestehet/ erhalten/ und daher dem Volcke [...] in alten Freyheiten nicht auf die Füsse treten/ sonder sich vernünfftig bescheiden. (Arm. H/1261 f)

Ähnlich äußert sich Lohenstein in der Lob-Schrifft auf den Piastenherzog Georg Wilhelm. Der Gattung der Lobrede entsprechend kommt er auf die Ahnen des Verstorbenen, auf das Piastenhaus und seine Geschichte zu sprechen. Die Bedeutung dieser edlen Abstammung liege im Ansporn, den man daraus für ein tugendhaftes Regieren gewinnen könne. Die rechte Erziehung sowie das eigene tugendhafte Handeln seien aber wichtiger als der Stammbaum.66 In der Lob-Rede für den 1679 verstorbenen Hofmannswaldau kommt Lohenstein, bei einem - wie auf dem Titelblatt vermerkt, »Hoch-Adelich gehaltenem Leichbegängnüße« - wiederum, wie es sich gehört, auf die Vorfahren zu sprechen, rühmt aber dann, daß der Verstorbene sie alle übertroffen habe und kommt zu dem eindeutig dem Beamtenethos entsprechenden kategorischen Urteil: »Der Adel ist eine Nulle; wenn die Ziffer der Tugend darbey steht/ gielt sie viel/ wenn sie alleine steht/ nichts.«67 Die Trauerreden und Epicedien, die etwa zur gleichen Zeit entstanden sind wie der Roman, sind in ihrer Deutung wörtlicher und verbindlicher zu nehmen als ein66 67

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Lohenstein: Lob-Schrifft, iol.BT. Lohenstein: Lob-Rede, fol. Bv.

zelne Gesprächsbeiträge im Roman. Durch ihre Funktion als öffentliche Äußerungen des Stadtsyndikus kommen sie einer offiziellen Selbstinterpretation der politischen Elite gleich: In einem Grabgedicht für den nahezu gleich alten Adam Casper von Artzat (1636-1678) entwirft Lohenstein geradezu sein Modell eines geadelten Beamten: Ihr Edlen/ die ir sucht den Adel in der Tugend/ Für Zwillinge sie ehrt/ und für Geschwister schätzt/ Die ihr grau-häuptig wollt gesehn sein in der Jugend/ Hier ist Herr Artzat euch zum Muster fürgesetzt; Der seines Adels Glantz der Tugend Ebenbild/ Des Stammes Stütze war; und sein Geschlechte zierte. Der seiner Ahnen Ruhm für seinen Leitstern hielt; Den Schild zum Beyspiel ihm nicht zum Gepränge führte. Ihr/ die das Vaterland zu Vätern hat erkohren/ Kommt/ nehmt ein Vorbild euch/ verfolgt Herr Artzats Spur/ Der fürs gemeine Heil zu sorgen war gebohren/ Der redlich von Gemüth/ arbeitsam von Natur/ Beym Unglück unverzagt/ und hertzhafft in Gefahr/ Verträglich in der Welt/ klug und verschmitzt im Rathe/ Jedwedens Freind/ nur nicht des Eigen-Nutzes war/ [...] Der Römer Herrschens-Kunst/ die Weißheit aller Griechen/ Die neu und alte Welt war ihm durchaus bekannd. Der Rechte Wissenschaft/ die sonst so bitter ist/ War sein fürnehmster Kreiß/ die Werckstatt seiner Kräffte. Das Ampt sein Spiel [...] M

Das ist eine Zusammenstellung von Grundsätzen beamtenadeligen Selbstverständnisses, wie sie auch Seckendorff in seinem Teutschen Fürsten-Stat (1655) von einem Regierungsrat fordert:69 Tugend als das eigentliche, innere Adelsmerkmal, die Ahnentafel als Ansporn, ferner Redlichkeit, Fleiß, Umgänglichkeit und Gemeinwohlorientierung - bürgerliche Werte also, dazu humanistische Bildung, die sich an der politischen Aufgabe ausrichtet und nicht zuletzt antihöfische Nüchternheit: Verzicht auf »Gepränge«, anstatt vornehmer Kreise eine »Werckstatt« der bitteren Rechtswissenschaft, anstatt des Spieles das Amt. Der Beamte, der in Deutschland durch den Verwaltungsbedarf der vielen Kleinstaaten besondere kulturelle Bedeutung erlangt und eine neue Entwicklung in der Geschichte des deutschen Adels heraufführt, unterscheidet sich durch dieses »Amalgam von Gelehrtheit, Adelsherkommen und Humanismus« vom Typ des Höflings, der niemals Universitäten besucht hatte, wie ihn der Hof Ludwig XIV. Lohenstein: Über das herrliche Grab-Maal, welches Herrn Adam Caspern von Artzat und Groß-Schottkau auf Bornl der Römisch-Keyserl. Meyst. Rathe/ und des Raths der Keyserl. Stadt Breßlau seine Eheliebste durch Hn. Matthias Rauchmüllern aus Marmel und Alabaster kostbar auf richten ließ, m: Hyacinthen,S.51ff;vg\. auch ähnlich: Wahrer Adel Herrn Siegmund von Buchers und der Puchaul auf Dürr Jentsch/ Kurtschi und Klatasche, in: Hyacinthen, S. 12ff. Vgl.Martino: Lohenstein, S. 81; vgl. unten Kap. III. 2. a.

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hervorbrachte.70 An Hof und Höfling orientiert Lohenstein sich nur für bestimmte Qualitäten wie Gewandtheit, Weltoffenheit und politischen Pragmatismus. Aber er hat seine Dichtung nie verstanden als Dienst an der Macht des Hofes. Im Epicedium für seinen Vorgänger als Syndikus, Andreas von Assig, lehnt Lohenstein ausdrücklich die Künste ab, »die nur den Höheren als Werckzeug dienlich seyen« oder aber »so sehr nicht nutzen/ als uns zieren.«71 Akzeptiert man den Begriff >Repräsentation< zur sozialen Kennzeichnung von Barockdichtung,72 so bedeutet >repräsentativ< zu dichten für den Beamten der Stadt Breslau, das städtische Bewußtsein und seine Wertmaßstäbe zu artikulieren. »Das Publikum als entscheidendes Forum ist dem Schaffenden stets gegenwärtig; der Poet präsentiert sich der Gesellschaft, um von ihr Beifall und damit persönliche Zugehörigkeit, und zwar von höherem Range (Ruhm) zu erlangen. Die Haltung des Dichters ist also repräsentativ und bedient sich darum der rhetorischen Mittel. Das Publikum verhält sich als Auditorium. Das Ergebnis ist eine gesellschaftsgebundene Bildungsliteratur.«73 Diese für die Barockliteratur generell gültige Feststellung Flemmings ist also im Falle Lohensteins nicht auf den Hof,74 sondern die Kaufmannsstadt Breslau zu beziehen. In der Lob-Schrifft auf Georg Wilhelm wendet sich Lohenstein gegen die am französischen Hof orientierte Adels-Kultur der meisten jungen Herren, die »den Tantz-Boden/ den Schau-Platz und die ReitSchule für demselben Kreiß halten/ worinnen sie den Lauf ihres gantzen Lebens beschlüssen sollen.«75 Städtisches Wertbewußtsein distanziert sich zugleich von praxisfernem Gelehrtentum wie von höfischer Verschwendung und Ästhetizismus.76 Praxisnähe und Nutzen sind die entscheidenden Maßstäbe, die die Stadt aus ihrer Sicht vom Hof unterscheiden und die deshalb auch die Funktion ihrer Kunst bestimmen. In Anspielung auf die fürstlichen Repräsentationsbauten nach dem Vorbild Ludwig XIV. läßt Lohenstein im Arminius den Titelhelden bei der Besichtigung der ägyptischen Pyramiden räsonieren: Es wären diese Egyptische Grabe-Spitzen wohl Wercke von grosser Kunst und Kostbarkeit/ aber von keinem Nutzen. [...] Es stünde zwar Fürsten nicht die Art des Scipio Emilius an/ welcher sein Lebtage nichts gebauet/ sondern vielmehr diß/ daß sie die Bau-Kunst unter70 71

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Martino: Lohenstein, S. 69. Lohenstein: Denckmaal Herren Andreae von Aßigs und Siegersdorff/Breßlauischen Syndici.(Hyacinthen S. 20). Martino: ebd. S. 80ff. Flemming: Das Jahrhundert des Barock, S. 340. So dagegen Martino: Lohenstein, S. 89. Lob-Schrifft fol. C6V; vgl. ähnlich Christian Weise: »Man wird des Landes Nutz mit Fechten nicht erlangen/ Die allgemeine Noth vergeht vom Tantzen nicht/ Ein kluger Vorschlag wird zu Pferde nicht gefangen/ Und niemand voltigiert/ wenn er ein Urtheil spricht.« (Christian Weises Politische Fragen, S. 429f). Vgl. dagegen Verhofstadt, der Lohensteins Dichtung als eine »Form des Ästhetizismus« begreift (S. 314); vgl. Martino: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung: M. charakterisiert den Ästhetizismus als gemeinsames Bewußtsein von Gelehrten- und Hofgesellschaft (S. 125).

hielten/ und durch ansehnliche Gebäue der Nachwelt ihr Gedächtnüß liessen; wenn aber daran nicht dergemeine Nutz zum Grund-Steine gelegt; sondern nurumb auf die Spitze das Fahn eitelen Ruhmes zu stecken/ Sand und Kalck mit Schweisse der verschmachtenden Unterthanen eingemacht; und die Werck-Stücke mit abgepreßtem Vermögen oder anderem Blute der Bürger zusammen gekittet würden/ verwandelte sich das gesuchte Lob in Fluch/ und das Gedächtnüß in Abscheu; [ . . . ] Unter den Römischen Bau-Leuten aber schiene Agrippa mit seinen nützlichen Wasserleitungen/ und dem herrlichen Tempel am vernünftigsten Nutz und Ansehn mit einander vermählt zu haben. (Arm. I/678b-679b)77

Kommen wir noch einmal zurück auf die Titulatur »Poeta et Syndicus«, die Lucae für Lohenstein wählt. Sie entspricht (in der Reihenfolge vertauscht) der im Arminius verwandten Formel »vernünftigsten Nutz und Ansehn«. >Poeta< ist auf eine Stufe zu stellen mit den akademischen Titeln als Kennzeichnung humanistischer Bildung. Poetische und wissenschaftliche Leistungen sind aus der Perspektive des Beamtentums propädeutische Voraussetzungen für die Erfüllung von Beamtenpflichten und gleichzeitig Prestige sichernde Abgrenzungen gegenüber halb- oder ungebildeten Amtsinhabern, die es in vielen Verwaltungen gab. Ihre Legitimation erhalten Gelehrsamkeit wie Dichtung jedoch erst in Zusammenhang mit der öffentlichen Praxis, >Poeta< ist für Lohenstein schwer denkbar ohne >SyndicusTischherrenConsules< oder >SenatoresScabiniquerelle desfemmes< auf die frauenfreundliche Seite stellte, sind vielfältig: er zitiert in Epicharis (E IV/97) und Ibrahim Sultan (1/228, /669, /575) aus Pierre Le Moynes Gallerte des Femmes fortes; wenn er in der lateinischen Vorrede zu Epicharis die Titelheldin »libertina sed illustris mulier« nennt, so ergänzt er ihren sozialen Status als Freigelassene, den er bei Tacitus vorfindet, um einen staatsrechtlich relevanten Begriff, der nach Römischem Recht die Regierungsfähigkeit einer Adelsperson bezeichnet.156 Zu nennen sind auch die beiden Kleidertauschszenen in Sophonisbe: Sophonisbe in Männer- und ihr Sohn Vermina in Frauenkleider gehüllt (nach vorgeschriebenem Ritus), wollen einem Zwittergott opfern (S 1/374 ff u. Anm.); die als Mann verkleidete Sophonisbe sucht ihren Mann im Gefängnis auf, damit er dann in ihren Kleidern fliehen kann (S II/219ff). Beide Male wird die Austauschbarkeit der Geschlechter bühnenwirksam buchstäblich vor Augen geführt. Auch in Cleopatra findet man im Grunde die gesamte frauenfreundliche Argumentation: Was die Tapferkeit der Frauen angeht, wird nicht nur von Cleopatras militärischem Einsatz berichtet. Daneben wird auf »die Heldin Fulvia« verwiesen, die es »Helden vorgethan« habe; in der Anmerkung holt Lohenstein noch weiter aus: »Fulvia des Antonii Ehweib war ein Weib von Männlicher Hertzhafftigkeit/ daher sie auch oft den Degen anzugurten/ die Soldaten zu mustern selbte anzuführen und anzufrischen pflegte.« (C1/1021 u. Anm.) Die intellektuelle Fähigkeit Cleopatras wird mit dem gleichen auf Plutarch beruhenden Argument wie bei Wilhelm Ignaz Schütz beschrieben: Für ihr erstaunete Mohr/ Parte/ Römer/ Grieche/ Hebreer/ Araber/ Med'/ Jude/ Troglodit/ Wenn er in seiner Sprach' umbsonste war bemüht Ihr etwas vor zuthun. (C V/516ff)

In der Anmerkung fährt Lohenstein fort, sie habe »selten durch Dollmetscher/ sondern wider die Unarth voriger Egyptischer Könige selbst der Mohren/ Troglodyten/ Juden/ Araber/ Syrer/ Meder/ und Parther Sprache geredet.« Wenn schließlich Augustus bei seiner Lobrede rühmt, selbst die tote Cleopatra zeige »ohne Seele noch mehr als zwey Seelen« (C V/513), dann spielt er auf das alte Vorurteil an, Frauen 156

Vgl. Goclerius: Foemina illustris (1687). Die Arbeit gibt Antworten auf die verschiedensten juristischen Fragen, die in Zusammenhang mit der Übernahme der Regentschaft durch Frauen stehen.

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hätten keine Seele, seien deshalb für den Teufel offen und könnten keine moralischen Tugenden entwickeln. Im Arminius räumt Lohenstein den entgegengesetzen Argumenten der >querelle de femmes< in langen Gesprächen breiten Raum ein. 157 Fazit solcher Diskussionen ist die wenn zwar nicht gesellschaftliche, so doch natürliche Gleichbewertung der Geschlechter. Man dürfe nicht, so die Frauen in ihrem Resümee, schlimme Sitten für eine unserm Geschlechte angebohrne Unart verkauffen/ und diß/ was eine wollüstige Aufferziehung/ oder böse Gewonheiten verstellet/ zu Mißgeburten machen. Das meiste fürgerückte sind Gebrechen der Aufferziehung/ nicht der Natur. (Arm. 1/201 b)

Fragt man nach Entsprechungen solcher Lehren im juristischen Bereich, so muß man feststellen, daß ein Großteil der Fachjuristen »die Tradition der Frauenverachtung und Frauenunterdrückung im Namen des Rechts und der Natur« noch lange fortsetzte.158 Schütz beklagt nicht nur die Benachteiligung von Frauen im Rechtsund Ämterwesen, sondern auch der »Herrn Juristen« Engstirnigkeit; sie verwiesen auf das gelehrte Recht, das kaum »viel herrliches und löbliches an den Weibern« finde. Der Fehler liege aber darin, daß das, was die Juristen somit »wider das löbliche Weiber Volck geschrieben haben«, nicht grundsätzlich durchdacht sei: Die Gesetz reden und Disponiren von Weibern nach jetztmahliger Beschaffenheit/ und Moralischen Constitution derselben/ nicht aber nach jhrer natürlichen Capacitet, und Bewantnuß. 159

Das Argumentieren Lohensteins wie Schützens mit der ursprünglichen Frauennatur verweist einmal mehr auf die von Grotius juristisch reaktivierte Naturrechtslehre. Grotius definiert die Ehe als »natürliche Gesellschaft«, in der freilich die Rechte »wegen des Geschlechtsunterschiedes nicht gleich seien«, wie die Rechte vieler Völker zeigen. Die Bevorzugung des Mannes sei aber »nicht natürlichen Rechtes, sondern positiver Natur.« Die Grundstruktur der »Ehe nach dem Naturrecht« sei, wie bei vielen Tieren ebenfalls, das Leben des Paares in frei gewählter Gemeinschaft mit gegenseitiger Zuneigung und Hilfe, so daß »das göttliche Gesetz beide mit gleichem Recht durch die Ehe zu einem Körper« verbindet. »Beim Menschen als einem mit Vernunft begabten Wesen kommt noch die Treue hinzu.«160 Die Deutung der Ehe als eines Vertrages zwischen gleichberechtigten Partnern mit der Aufgabe der Kooperation und der Absicherung durch die Treue als gemeinsame Vertrauensbasis entspricht speziell den Bedürfnissen und sozialen Lebensformen im Bürgertum. Anders als bei Bauern und Adel waren die Lebensbereiche der Geschlechter nicht hermetisch; Kooperation im familiären Handwerks- oder Kaufmannsbetrieb verlangte auch ein anderes Ehemodell, das man etwa in Zedlers Universal-Lexicon von 1734 finden kann: 157 m 159 160

Szarota hat sie in einem eigenen Kapitel über die »Grosse der Frauen« nachgezeichnet. (Szarota: Lohensteins Arminius, S. 288ff). HWRGII. S.715. Zit. nach: Das Wohlgelahrte Frauenzimmer, S. 68. Grotius: De iure belli ac pacis, 2.Buch, Kap.5, §8 und §9, S. 176f. 107

Soll ein Haus-Wesen wohl bestehen, so müssen die Häupter derselben einig und die besten Freunde seyn .Der Ehestand ist also eine derer allergenauesten Freundschafften, welche in der Welt angetroffen werden. [...] Die Gemüths-Neigungen unsrer Frauen muß der unsrigen nicht zuwider seyn. Wir müssen die gröste Vertraulichkeit mit derselben eingehen, und deswegen müssen beyde Theile willig und ohne Zwang suchen einander gefällig zu werden.161'

Wie langsam sich das Eherecht trotz der vielfältigen Konflikte diesen Bedürfnissen anpaßte, ergibt sich aus den Vorbehalten, die der Artikel im Universal-Lexicon seiner eigenen Gültigkeit gegenüber macht: Noch immer beriefen sich »etliche [...] auf den natürlichen Vorzug derer Männer.« Der Verfasser betont, daß seine Definitionen allenfalls auf bürgerliche Ehen zutreffe. Anders als in den Ehen der »Hohen dieser Welt« sei für bürgerliche Ehen »die gesellige Bey-Hülffe vor eine Notwendigkeit zu achten.« Man habe Paulus und Grotius zu folgen, nach welchen wir, dem Stande unserer Natur nach, und wie dieselbe ohne Verderbniß zu betrachten ist, einander alle gleich sind, und die Unterwerfflichkeit erstlich von unserer Verderbniß herrühret, daß also auch im Stande der Unschuld keine Herrschafft zu finden gewesen wäre. [...] Und ist also eine solche Herrschafft mehr eine mit Liebe und Freundschafft geführte Lenckung als eine unumschränckte Gewalt über den Eh-Gatten zu nennen.162

e) Probleme des Eherechts in Lohensteins Heroiden Juristische Detailprobleme des Eherechts sowie ihren Zusammenhang mit der Naturrechtsdiskussion behandelt Lohenstein besonders deutlich in seinen Heroiden, die in den Rosen zusammen mit den Hochzeitsgedichten veröffentlicht sind. Sie wurden bisher fast völlig negiert.163 Gattungsbildendes Vorbild waren die Heroides von Ovid, eine Sammlung fiktiver elegischer Briefe, in welchen Frauen der griechischen Mythologie dem fernen Geliebten ihr Liebesleid klagen. Der wichtigste deutsche Autor dieser Modegattung der Barockliteratur ist Hofmannswaldau. Man kann, nicht nur wegen Lohensteins biographischer Abhängigkeit164 von Hofmanns161 162 163

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Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 11, Sp.372. Alle Zitate: ebd. Bd. 11, Sp.367f. Asmuth: Lohenstein, S. 58ff beschreibt kurz die verschiedenen Fassungen der ersten vier Heroiden; Dörrie: Der heroische Brief (1968), ordnet sie zu nivellierend seiner Gattungstypologie ein; einen ersten Einblick bietet Browning: Heldenbrief and Helden-Rede (1983), vgl. auch unten Kap. IV. 3. c. Als einer der Rangältesten des Breslauer Stadtregiments ist er sicher mit verantwortlich für die Berufung Lohensteins zum Syndikus (1669). Das legt ein Brief Ferdinands von Mudroch an Hofmannswaldau nahe, in dem Lohenstein bis zum Dienstantritt ein Wartegeld zugesagt wird. Unter Hofmannswaldau als Präses wurde Lohenstein zu politischen Verhandlungen nach Wien gesandt, die von einem regelmäßigen dienstlichen Briefwechsel zwischen beiden begleitet wurden (vgl. dazu Müller: Lohenstein, S.44f). Lohenstein und Hofmannswaldau ausgerechnet in ihrer Beziehung zu Habsburg zu unterscheiden (Rotermund: Affekt und Artistik, S. 236), erscheint schon angesichts dieser gemeinsamen Mission als sehr fragwürdig. Zum Tode Hofmannswaldaus verfaßte Lohenstein, inzwischen Obersyndikus, jene berühmte Gedächtnisrede, in der er ihn als der »große Pan«, »Glückseligkeit«, »Vater« und »Salomo« der Stadt betrauert. Vgl. auch Browning: Heldenbrief and Helden-Rede, S. 286, der auf die Nähe von Lohensteins Thronen Der Maria Magda-

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waldau, davon ausgehen, daß seine Heroiden an denen seines Ratspräses orientiert sind: Beide wählen Liebesskandale aus der nahen Geschichte aus, beide treiben dabei ein durchschaubares Spiel mit Verschlüsselungen, beide schreiben Briefpaare und betonen damit den Reiz dialektisch bezogener Perspektiven. Beide stellen im Unterschied zur Tradition nicht einfach die Allmacht der Liebe dar, sondern die Auseinandersetzung zwischen affektiver Liebesbeziehung und gesellschaftlicher Eheethik, also die Eingriffe der Institutionen Ehe und Staat in die personale Liebe. Im Vergleich der Heroiden beider Autoren kann man allenfalls Akzente setzen. Lohenstein sprengt die konventionelle Begrenzung der Briefe auf hundert Verse. An die Stelle eines Briefpaares setzt er vier Briefe, die drei in eine Affäre versponnene Figuren einander schreiben. Wichtiger ist, daß er die Tendenz, rechtliche Gesichtspunkte in die Briefe einzubauen, deutlich verstärkt. Während Hofmannswaldau insgesamt noch spielerisch und geistreich die alle Hindernisse heroisch überwindende erotische Liebe zur Geltung kommen läßt, sind Lohensteins Argumentationen geprägt vom Konflikt: Anschuldigung, die Berufung auf Rechte bzw. deren Zurückweisung, Drohungen und Gewalt herrschen vor. Darüber hinaus wird den vier Briefen, die die Liebe zwischen König Petern dem Grausamen/ in Castilien/ und Johanna Castrial des Diego Haro Wittib*65 zum Gegenstand haben, eine umfangreiche Prosaeinführung vorangestellt, die die Gesamthandlung vom Historiographien her gesehen erzählen: König Peter166 wird in jungen Jahren von seiner Mutter mit der Bourbonin Bianca verheiratet, liebt nun aber eine andere Frau, was der Erzähler vehement tadelt: König Peter hatte in zwey Tagen kaum an Vorgeschmack seiner Heyraths-Süssigkeiten geschmecket/ als er nach dem trüben Wasser der Wollust durstig ward; welchs ihm bey der unkeuschen Padilla nur darumb besser schmeckte/ weil es eine Frucht vom verbothenen Baume war. Sintemal Padilla der Bianca an Gestalt nicht den Schatten reichte/ und diese in Tugenden ein Wunderwerck/ jene ein Ungeheuer voll der Laster war. (S. 13)

Der Versuch der Verwandten und des Staates, die Ehe zu retten, führt kurzfristig zur zumindest äußerlichen Wiedervereinigung des Ehepaares, scheitert aber schon nach wenigen Tagen wieder und verschärft die Situation noch. Es kommt zur völligen Perversion von Moral und Recht, denn die Ehebrecher haben keine Skrupel, nun »auff den Stul der Gerechtigkeit zu steigen/ und mit ihrem Kleide die schändlichsten Laster zu Tugenden/ durch Verläubdung aber die reinste Unschuld zur Ehbrecherin zu machen.« (S. 14) Bianca wird von ihnen beschuldigt, mit Peters Bruder Friedrich die Ehe gebrochen zu haben. Sie kann dem peinlichen Gericht und der Folter nur entgehen, weil die Welt, der Papst und die Regierungen von Frankreich und Arragon sich vor sie stellen. Dem »geilen Fürsten« (S. 15) genügt aber auch Padilla nicht. Er begehrt nun die Witwe Johanna Castria. Sie willigt unter der Bedingung einer rechtmäßigen Verehelichung ein. Peter läßt daraufhin die Ehe mit

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lena zu den Fassen Unsers Erlösers zu Hofmannswaldaus Die erleuchtete Maria Magdalena hinweist. Lohenstein: Rosen, S. 12-36. Peter I. von Castilien , erfolglose, instabile Regentschaft (1350-1369). 109

Bianca für ungültig erklären, heiratet Castria, kehrt aber nach kürzester Zeit wiederum zu Padilla zurück. Seine erste Gattin Bianca läßt er hinrichten unter dem Vorwurf, sie habe den nun ausgebrochenen Krieg mit Frankreich und Arragon verursacht. Die Einleitung schließt mit der Andeutung des späteren Mordes an Peter, der als »göttliche Rache« und »Blitz der ewigen Gerechtigkeit« gedeutet wird. Seine »Zermalmung«, so der letzte Satz, möge »in der Welt einen desto lautbarem Knall zum Beyspiele vieler ändern abgeben.« (S. 17) Diese Erzählung ist zunächst einmal ein Exempel im Sinne christlicher Ehemoral. Für die Zeitgenossen hatte sie darüber hinaus aber konkrete Aktualität: In der Neukirch'schen Sammlung und an anderen Stellen167 finden sich die vier Briefe mit verändertem Personal und dem Titel Carl Ludwig, Churfürst von der Pfalz (l617-1680) mit M. S. Degenfeldin, Raugräfin (1677) gepflogene Liebeshandlung, in vier Briefen beschrieben, in denen 1. Er ihr seine liebe eröffnet 2. Sie ihn ihrer gegenliebe versichert 3. Er es seiner gemahlin berichtet 4. Seine Gemahlin ihm antwortet.

Ob dies die ursprüngliche Version ist, deren Wirkung als »peinliche Polemik«168 gegen einen zeitgenössischen Fürsten Lohenstein mit der spanischen Fassung revidieren wollte, oder ob die spanische Fassung angesichts der Parallele zu dem aktuellen Skandal von den Rezipienten oder auch von Lohenstein umbenannt worden war,169 spielt letztlich keine Rolle. In jedem Fall mußte der Leser, geübt im poetischen Verschlüsseln zeitgenössischer Realität, die >heroischen Briefe< auf den bekannten pfälzischen Skandal beziehen: Die Ehe zwischen Karl Ludwig von der Pfalz (1617-1680, seit 1648 Kurfürst) und Charlotte von Hessen war nach wenigen Jahren an Karl Ludwigs starker Sinnlichkeit, Charlottes spröder Kälte und dem eigensüchtigen Temperament beider Gatten in die Brüche gegangen. Er verließ durch eine eigenmächtige, von Charlotte nicht anerkannte Scheidung 1657 seine Ehefrau, um Charlottes 18-jährige Hofdame Maria Susanna Luise von Degenfeld, zu der er schon lange eine heimliche Neigung gefaßt hatte, zur Gemahlin zu nehmen und ihr den Titel Raugräfin zu geben. Während Charlotte 1661 noch vergeblich den Kaiser um Intervention ersuchte, führte Karl Ludwig eine gute, allerdings durch den Schatten von Unebenbürtigkeit und Illegitimität getrübte zweite Ehe, aus der 13 Kinder hervorgingen. Karl Ludwig, der in Leiden studiert hatte, mit Descartes befreundet war, dem Schul- und Universitätswesen (Heidelberg) größte Beachtung zollte, durch geschickte Politik den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Pfalz betrieb und in Glaubensfragen irenisch gesinnt war, war einer der wichtigsten Vertreter des westeuropäischen Absolutismus. Sein Verhalten in Eheangelegenheiten war wohlbewußt und von grundsätzlicher Bedeutung: In absolutistischem Geist hatten 1648 einige 167

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Neukirch: Herrn von Hoffmanswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte Sechster bis siebter theil [.. .](1709), S. 3-15; - vgl. dazu auch Asmuth: Lohenstein, S. 19, S. 22, S. 58ff. Asmuth: Lohenstein, S. 59. So die ältere Hypothese von Gebauer und Speyer, vgl. Asmuth: Lohenstein S. 58.

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deutsche Landesherren zur Hebung des Geburtenzuwachses nach den Defiziten des Krieges die Doppelehe vorübergehend erlaubt, ja sogar angeordnet!17" Breslau, dessen politisches und konfessionelles Schicksal zumindest seit Beginn des Dreißigjährigen Krieges mit der Pfalz verbunden war, wird die anläßlich Karl Ludwigs Scheidung und zweiter Ehe wieder einmal aufgeflammten, bis in die Patristik zurückreichenden gelehrten Diskussionen über die Doppel- bzw. Zweitehe171 wohl mitverfolgt haben: Der Heidelberger Jurist Johann Friedrich Böckelmann stellte damals gelehrte Untersuchungen über Polygamie und Scheidung an. Der kurfürstliche Antiquar und Bibliothekar Lorenz Berger publizierte unter dem Pseudonym Daphnäus Arcuarius 1679, als sein Herr sich (wie Padilla in der spanischen Version Lohensteins) mit dem Gedanken einer dritten Ehe trug, Aktenstücke, in welchen das von Luther,172 Melanchthon und Bucer angefertigte Gutachten in casu bigamiae Phüippi Landgravii Hasiae (1539) nachzulesen war, das die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen (1504-1567) gebilligt hatte. 1692 erschien eine Arbeit mit dem Titel La vie et les amours de Charles Louis Electeur palatin. Nach dem im Reich generell geltenden Recht wurde die Doppelehe trotz all dieser Diskussionen weiterhin dem Ehebruch gleichgesetzt, stand also unter schwerer Strafe.173 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entzündete sich aber gerade an dem Extrem der Doppelehe eine Grundsatzdiskussion über das Wesen der Ehe und ihre Unauflöslichkeit. Man griff dabei auf die Doppelehen von Abraham und Jakob im Alten Testament11* sowie auf naturrechtliche Argumentationen zurück. Christian Weise sanktioniert die Doppelehe in der Schulkomödie Jacobs doppelte Heyrath (1682): Während Intriganten Jakobs zweite Ehe mit Rahel verhindern wollen, überbringen Engel den ausdrücklichen Befehl Gottes, diese »wunderbare Heyrath« zusätzlich zu der im Himmel geschlossenen ersten Ehe durchzuführen. 175 Christian Thomasius verneint 1685 in den zwei Dissertationes De crimine bigamiae, vom Laster der zwiefachen Ehe und De bigamiae praescriptione, von Verjährung der zwiefachen Ehe die Naturrechtlichkeit des Doppeleheverbots.176 Hofmannswaldau hat in dem Briefpaar Liebe zwischen GrafLudwigem von Gleichen und einer Mahometanin die Legitimität einer unter extremen Verhältnissen geschlossenen Doppel170 171

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Vgl. Lamprecht: Deutsche Geschichte, 2. Abt., S. 340f. Vgl. Buchholz: Erunt tres aut quattuor in carne una. Aspekte der neuzeitlichen Polygamiediskussion (1987); dort weitere Literatur. Vgl. Dieterich: Das protestantische Eherecht, S. 80; vgl. auch Luther: Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, in: Grundschriften Bd. 3, S. 109: »Die Frage, ob die Ehescheidung erlaubt ist, wird noch diskutiert. Ich lehne zwar die Ehescheidung so entschieden ab, daß mir eine Doppelehe lieber als eine Scheidung ist, ob sie aber erlaubt ist, wage ich selbst nicht zu entscheiden.« Vgl. Carolina, Art. 121; vgl. Der in REchten Wohl-instruirte Neu-angehende Teutsche Jurist (1720), Cap.XXII, S. 91: »Wenn ein Ehegatte bey Leben des ändern Ehegatten wissentlich ein anders zur ehe nehme, so gehöret dieses unter die Straffe des Ehebruchs, und hat die vorbitte des unschuldigen Theils kein statt. Carpz. pract. Crim. qu. 66 n.52«. Genesis 16,2 und 29,23-31. Vgl. Kaiser: Mitternacht-Zedler-Weise, S. 148f. Vgl. Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte Bd. II, S. 437; vgl. Buchholz: Erunt tres aut quattuor, S. 87 ff.

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ehe dargestellt: Ein gefangener Kreuzritter könnte nach dem Versprechen, sie zu heiraten, von der Tochter des Sultans befreit werden. Nachdem der Ritter dies seiner Gattin mitgeteilt und sie ihn dazu ermuntert hat, kehrt der Ritter mit der Sultanstochter heim. Die Doppelehe erscheint als einzig moralisch möglicher Weg, der Treue zur ersten Gattin und der Dankbarkeit sowie des Worthaltens gegenüber der Sultanstochter gerecht zu werden. Die Prosaeinleitung endet mit der ausdrücklichen Legitimation der Handlung durch den Papst und den Erzähler: Der Pabst ließ diesen ungemeinen Fehl ohne Buße geschehen. Sie kamen glücklichen nach Hause/ die Gemahlin empfing die Mahometanin freundlich/ und räumete ihr Bett und Hertz ein. Einigkeit und Seegen wiewohl ohne LeibesErben/ schwebeten über dieser Liebe/ und das Grab zu Erfurth/ da sie alle drey die Asche unter einem Stein vermischet haben/ zeiget gnugsam wie edel ihr Feuer hat müssen gewesen seyn.177

Auch Lohenstein beteiligte sich also an dieser Diskussion. Doppelehen spielen ja in den Dramen Cleopatra, Agrippina und Sophonisbe eine erhebliche und jeweils umstrittene Rolle. Die Prosaeinleitung zu den vier Briefen nimmt zwar eindeutig den strengen Rechtsstandpunkt ein; die Briefe dagegen führen aus der Sicht und Situation der Beteiligten die Komplexität des Problems vor Augen und bringen dabei eine Vielzahl von Aspekten des Eherechts ins Spiel. Sie betreffen nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Geschehen der Prosaerzählung, nämlich die Absicht Peters, sich von seiner Gattin abzuwenden, die Witwe Johanna Castria zu heiraten und beider Einverständnis dazu zu erhalten. Im ersten Brief schreibt Peter an Johanna Castria. Nachdem er ihr seine Liebe erklärt hat, kommt er auf seine Ehe mit Bianca zu sprechen und verteidigt sich gegen Schuldvorwürfe: Man giebt mir zwar die Schuld/ daß ich mich Ihr entrissen; Der Eckel habe mich entfernt nach einer Nacht. (S. 19)

Die rechtliche Lage sei aber ganz anders, seine Ehe sei von Anfang an ungültig gewesen. Sie sei bereits zwangsweise gestiftet worden, als er noch ein Kind war. Nichts aber solle »so frey als Ehe und Liebe seyn.« (S. 22) Dieses Argument würde als Ungültigkeitsindiz eigentlich schon genügen, Johanna Castria davon zu überzeugen, daß sein Heiratsantrag an sie »auch der Kirche selbst nicht kan verdammlich seyn.« (S. 21) Die Juristen des 17. Jahrhunderts stritten aber darüber, ob nicht eine gleichwohl geschlossene und vollzogene Ehe trotzdem Gültigkeit habe. Carpzov etwa bejaht dies in Anlehnung an Martin Luther.178 Peter bringt zusätzlich einen anderen eherechtlichen Aspekt vor: Als echten Scheidungsgrund kannte das Recht unter anderm den Fall der beharrlichen Verweigerung ehelicher Gemeinschaft179 und zwar dann, wenn ein nochmaliger Versöhnungsversuch ohne Erfolg geblieben ist. Genau dies wirft Peter seiner Gattin vor: 177 178

179

Zit. nach: Die deutsche Literatur in Text und Darstellung, Bd. 4 Barock, S. 156. Vgl. Luther: Daß Eltern die Kinder zur Ehe nicht zwingen noch hindern, und die Kinder ohn der Eltern Willen sich nicht verloben sollen (1524). Nach biologischer Eheuntüchtigkeit und Ehebruch nennt Luther die Verweigerung als dritten Scheidungsgrund: »Wo nun eins sich sperret und nicht will, da nimmt und raubt es

112

Sie that/ als legten sich mit mir ihr Schlangen bey/ Als ich zum ändern mal beschriet ihr kaltes Bette; Glaubt's: daß sie minder warm/ als Salamander sey. (S. 19)

Da seine Gattin »selbst das Band in Stücken« (S. 22) zerrissen habe, sei er nun frei. Schließlich beruft er sich auf das Völkerrecht, verweist auf die Mehrzahl der gegenwärtigen und vergangenen Kulturen sowie auf die in Fürstenkreisen praktizierte Polygamie: Zu dem/ das größte Theil der Menschen spricht es recht. Die Vorwelt labte sich bey zwey und mehren Flammen. Auch ist ein Fürst nicht bald gemeiner Ordnung Knecht. (S. 22)

Peter schlägt Johanna Castria einen rechtsmäßigen Weg zur Ehe mit ihr vor: Entsprechend dem für die Gültigkeit erheblichen Gebot der öffentlichen Sanktionierung des Ehevertrags verspricht er, es möge »alle Welt/ wie ich dich liebe wissen« (S. 21); er stellt ein Eheexamen in Aussicht: Der Bischoff Sanctius wird selbst dich unterrichten: Daß deine Heyrath recht/ und Blanchens kraftlos ist. (S. 22)

Und er nennt schließlich einen Weg, auf dem auch der als juristisches Problem wirksame Standesunterschied zwischen beiden geregelt wird: Man werde sie an seine »lincke Hand« (S. 22) trauen, das heißt, in einer morganatischen Ehe, bei welcher die Vermögens- und erbrechtliche Stellung der unebenbürtigen Frau und der Kinder vertraglich begrenzt sind. (Bei der Trauung steht die Frau in diesem Fall an der linken Seite des Mannes.) Peter gibt einer solchen Ehe, da sie offensichtlich nicht aus Vermögensgründen, sondern aus personaler Zuneigung geschlossen wird, sogar den Vorzug. Johanna Castria gesteht ihrerseits, wie verliebt sie sei; sie habe dabei ein schlechtes Gewissen, fürchte aber vor allem die Gefährdung ihrer künftigen Ehe durch die Atmosphäre des Hofes und politische Zwänge. Sie sei zwar bereit, ihr »Heil aufs Fürsten Wortte« zu gründen (S. 25), warnt ihn aber gleichzeitig, die höfische Ehemoral auf ihre Bindung anzuwenden: Doch denck' er: daß dis nicht/ wenn man ein Reh erleget/ Ein blödes Weib verführt/ ein Meisterstücke sey. Daß Reu und Untreu ihn mehr wird' als mich beflecken. (S. 25)

Sie beantwortet damit indirekt seine Aussage, der Fürst stehe über den Gesetzen seines Staates, indem sie auf die über ihm stehenden Bestimmungen des Naturrechts hinweist und die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit seines Antrags Gott überträgt, das heißt für sie: dem kirchlichen Recht: Jedoch dies Bündnis kan kein ander Siegel Schlüssen/ Als Blankens Scheide-Brief/ und eines Priesters Band. seinen Leib, den es gegeben hat dem ändern, das ist denn eigentlich wider die Ehe und die Ehe zerrissen.« (zit. nach: Luther: Vom ehelichen Leben, S. 29; vgl. auch Dieterich: Das protestantische Eherecht, S. 236.

113.

Die Einfalt folget hier; er wird/ ob recht sey wissen. Ich selbst bin lüstern nun nach der Vermählungs-Kette/ Und folge/ wenn er winckt/ ihm zu dem Frisier nach. Denn vom Altare gehn nur Stuffen in mein Bette/ Und durch die Kirche kommt man in mein Schlaf-Gemach. (S. 27)

Um die Scheidung zu erreichen, richtet sich Peter im dritten Brief an die Gemahlin Bianca. Er beklagt, daß er eigentlich von Anfang an »eh-loß« (S. 27) gewesen sei, da sie ihm »Bett und Zimmer [...] versperrt« (S. 28) habe. So habe auch er allmählich Widerwillen gegen sie empfunden, gegen den er trotz bester Vorsätze nicht erfolgreich ankämpfen habe können. Die Natur und der Himmel hätten ihn nun zu einer neuen Ehe berechtigt. Wenn sie wolle, könne sie seine erste, in allen materiellen Rechten bevorzugte Gattin bleiben, während er Johanna morganatisch hinzuheirate. Mit der Entschlossenheit, erneut zu heiraten, mit Drohungen für den Fall ihrer Weigerung und mit ausdrücklicher Bitte um Verständnis für menschliche Schwächen beschließt er seinen Brief. Bianca antwortet empört: Erfahrung lehrt ja wol: daß Eh und Eyd versehret: Daß Ehbett oft entweiht mit freyen Dirnen sey. Dis aber ist noch nie in Spanien erhöret: Daß ihm ein Christlich Fürst legt zwey Gemahlin bey. (S. 35f)

Sie verallgemeinert ihre Anklage und bezichtigt ihre Zeit, mit rechtlichen Formalismen den moralischen Wert der Ehe zu gefährden: Wie manchen Heyrath-Schluß zerreißt itzt Brunst und Reue/ Nun man sie aufs Papier/ nicht mehr ins Hertze schreibt; Ihr Siegel ist itzt Wachs; vor war's ertzt-feste Treue. (S. 33)

Demgegenüber entwirft sie nun die durch Bibel und Naturanalogien untermauerten Grundsätze christlicher Eheauffassung. Die Ehe sei »ein unzertrennlich Band« (S. 32) und unwiederholbar: Gott schuf nur eine Ev' aus seines Adams Riebe; Die grosse Sonne giebt zwey Monden nicht ihr Licht; Ein Geist beseelt den Leib; Ein Weib des Ehmanns Liebe; Und unser Treu-Ring hat zwey Mittel-Puncte nicht. (S. 33)

Was ihr Mann ihr als Kälte vorhalte, sei Gebot jeder guten Ehe: keusche Zurückhaltung, die sich vor jedem »Übermasse« bewahre und »bey sanfter Wärmbde« den Bestand der Ehe sichere (S. 34). Sie beschließt ihren Brief mit der Prognose, auch seine zweite Ehe werde nicht von langer Dauer sein; die Strafe für seine Laster werde ihn ereilen. Jeder der vier Briefe stellt also einen anderen Aspekt des Eherechts vor: Im ersten geht es um die Ausnahmen des Eherechts, um Ungültigkeitsgründe und Dispensen; im zweiten Brief kommt das Verhältnis von Eherecht und Fürstenprivileg zur Sprache; der dritte nennt die natürlichen Bedingungen und Belastungen der Ehe; der letzte, dem durch die Position am Ende und die Übereinstimmung mit der Bewertung in der Prosaeinleitung besonderes Gewicht zukommt, formuliert die 114

geltende christliche Ehemoral. Von diesem Brief aus werden die plausiblen Argumente der anderen drei problematisiert. Widerlegt sind sie damit aber nicht, denn auch die Position der verlassenen Gattin erscheint nicht als fraglos gültig. Die Aussagen Peters über das Zustandekommen ihrer Ehe und seine Klagen um ihre Kälte haben Gewicht, sie können sich schließlich auch auf Luthers Lehre von der ehelichen Pflicht berufen, 180 nach der die Zurückweisung des Ehepartners diesen zur Unzucht verleite. Demnach wäre also Bianca mitschuldig an Peters offensichtlichen Verfehlungen. Die gleiche Konstellation findet sich übrigens auch in Lohensteins Drama Agrippina. In der Eingangsszene bereits wird Nero von Otho bedauert wegen der Gefühlskälte, mit der ihn seine Gattin Octavia umgibt (A 1/67ff). Später begründet Poppea damit ihre Forderung, der Kaisersolle sich von Octavia scheiden lassen und sie selbst heiraten (A 11/131 ff). Mit einigem Recht kann man behaupten, das Drama laste die letztlich von Octavia ausgelösten sexuellen Verirrungen und Vergehen (vgl. A1/328ff) ihr mit an; ja es scheint dem Drama plausibel, einen Zusammenhang zwischen den zerrütteten Familienverhältnissen des Kaisers und dem Niedergang seines Staates zu sehen. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an Luthers Plädoyer für das Aufführen von Dramen in der Schule, selbst wenn sie »grobe Zoten und Buhlerey« zeigen. Auch mit ihnen könne man sowohl die Ehemoral fördern als auch das Regiment des Staates stabilisieren: »Policeyen und weltliche Regiment können nicht bestehen ohn den Ehestand. Eheloser Stand [...] und Hurerey, sind der Regiment und Welt Pestilenz und Gift.«181 Man wird also in der (alle Textsorten Lohensteins begleitenden) Liebes- und Ehethematik nicht nur eine Einführung in das Eherecht, sondern zugleich grundlegende Rechtserziehung sehen können. Denn Luthers Analogie zwischen Ehe- und Staatsordnung ist im 17. Jahrhundert Allgemeingut. Auch im katholischen Bereich setzt sich die Vorstellung von der politischen Bedeutung der Ehe durch gegen das Eherecht des Trienter Konzils, das die Ehe allein als Sakrament sehen wollte. Ludwig XIII. nannte in einer Ordonnance von 1629 die Ehe eine Pflanzschule des Staates: »Les Manages sont le seminaire des estats, la source et l'origine de la societe civile«.182 Grundlage solcher Analogien zwischen Ehe und Staat ist einmal mehr Aristoteles. Er hatte enge Beziehungen zwischen der Ehe und der von ihm favorisierten aristokratischen Polisverfassung gesehen und ihre gemeinsamen Strukturelemente beschrieben. Beide seien freiwillig eingegangene, gleichsam vertragliche Verbindungen zwischen ungleichen Partnern zum gemeinsamen Wohl unter Verpflichtung bzw.im Vertrauen auf gegenseitige Treue.183 Ihm folgt die Naturrechtslehre, welche Ehe und staatliche Herrschaft, beide im idealen Zustand auf Vertrauen und Treue begründet, als strukturanalog ansieht. m 181

182 1(0

Vgl. Luther: Vom ehelichen Leben (1522) III.Teil. Luther: Tischreden. Erste Hälfte der dreißiger Jahre, WA, Tischreden 1. Bd., S.43H; vgl. oben Kap. I.2.d. Zit. nach Holmes: L' Eloquence Judiciaire, S. 72. Aristoteles: Nik. Ethik, V,10 und VIII,12-15; Politik I, 2-13. 115

3. Politische Dimensionen des Naturrechts a) Das Vertragsmodell als Grundlage städtischen Rechtswesens Daß das gesamte Rechtswesen zurückgeführt werden kann auf die einfache, zwischenmenschliche Vertragstreue, ist die entscheidende Erkenntnis, die die humanistische Jurisprudenz in der Beschäftigung mit dem Naturrecht gewonnen hat, um die disparaten Rechtssätze des Römischen Rechts systematisieren zu können. »Im Vertrag sieht das Naturrecht den Prototyp des Rechtsbegriffs. Alle Rechtsverhältnisse werden diesem Typus untergeordnet, nicht nur die zivilen Rechtsgeschäfte, sondern auch die staatliche Gewalt, die im Römischen Recht seit Diocletian jeder rechtlichen Bindung entzogen war.«184 Beteiligt waren bei der Überführung dieser rechtsphilosophischen Axiome in praktikables Recht vor allem Matthaeus Wesenbeck (1531-1586), Hugo Grotius und Samuel Pufendorf: Wesenbecks These war, daß nicht nur Verträge mit festgelegter Form einklagbar seien, wie im Römischen Recht üblich, sondern auch jedes formlose Versprechen, jede erkennbare Willensübereinkunft.185 Hugo Grotius emanzipierte den Vertragsbegriff endgültig von den Sätzen des römischen Zivilrechts und entwarf eine Stufenordnung von Vertragsverhältnissen freier Menschen. Er konkretisierte damit den Gedanken an einen »für alle verbindlichen Rechtskörper«, auf den man sich bei verschiedensten Interessenkonflikten zwischen Freunden, Geschäftspartnern, politischen Gegnern, im Rechtsstreit vor Gericht, ja sogar im Krieg verlassen kann.186 Samuel Pufendorf entwickelte dann die gesamte Staatslehre auf der Grundlage des Vertragsbegriffs. Staat und Rechtsordnung, nach mittelalterlicher Vorstellung gestiftet als Ordnung Gottes und deshalb Gehorsam erfordernd, sind für ihn ein kompliziertes Vertragswerk, in dem Menschen und Stände sich vereinbart haben: Auf der Grundlage des Vertragsbegriffs handelt er in den acht Büchern De Jure Naturae et Gentium (1672) »von der Souveränität, den Staatsformen, von Unbeschränktheit und Beschränkung der Herrschaft, von staatlichem Unrecht und der Möglichkeit des Widerstandsrechts, von den Herrscherpflichten, von den einzelnen Funktionen der Staatsgewalt: der Gesetzgebung, der Verteidigung nach außen, der Strafgewalt, der Verteilung von Amt und Würden, der Eingriffsmöglichkeit in das Eigentum und dem Staatsnotrecht, dem Recht auf Krieg und Frieden und den auswärtigen Beziehungen und schließlich vom Wandel der Staaten.«187 Allein schon die Epochenbezeichnung >Absolutismus< macht deutlich, daß der Vertragsbegriff als politischer oder gar kultureller Begriff für das 17. und 18. Jahrhundert bisher vielfach mißachtet worden ist. Vereinfachendes und die tatsächlichen Verhältnisse begradigendes Entwicklungs- und Fortschrittspathos führten zur 184 185

186 187

Lenz: Theokratie und Naturrecht, S. 257. Naz: Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. und 17.Jh. (1985); vgl. zur juristischen Bedeutung des Willens unten Kap. V. Fikentscher: De fide et perfidia, S. 51. Denzer: Nachwort zu: Pufendorf: Die Verfassung des deutschen Reiches, S. 167.

116

Abwertung des politischen Ständewesens und zur Aufwertung des Fürsten als des epochalen Trägers von Fortschritt und Staatsbildung. Nationale wie marxistische Geschichtsschreibung, beide geleitet durch das primäre Interesse an Machtverhältnissen, betonten dementsprechend bei der Beschreibung politischer Praxis den Begriff der >StaatsräsonAbsolutismus< und >Staatsräson< ist aber nur ein Aspekt der Epoche benannt, der vor allem für Frankreich, allenfalls mit Einschränkungen für Preußen zutrifft. In England ist es nur sehr kurzfristig zu »quasi-absolutistischen Experimenten gekommen [...], nicht anders als in den Niederlanden oder auch in den Städten der Hanse.«188 Mit Recht hat man in letzter Zeit die Rolle Schwedens für die Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts aufgewertet. Schweden hatte am deutlichsten antiabsolutistische Politik betrieben. Schon am Ende des 16. Jahrhunderts unterschied der berühmte schwedische Jurist Erik Sparre in einer Rede für den Adel vor dem König das schwedische Erbkönigtum von absolutistischer Herrschaft: »Was den Worten zukommt, daß Erbkönige ABSOLUTE regieren sollen, darüber ist in Schweden zuvor nicht viel gehört worden.« Niemand wolle dem König das Recht bestreiten, »mit all der Macht und Mündigkeit zu regieren, die christlichen und gesetzesberufenen Königen eignet«, aber für eine »ABSOLUTE [...] das ist ganz und gar FREI und KEINEM GESETZ ODER BEDINGUNG VERBUNDEN^]« Regentschaft gebe es in der gesamten Christenheit und schon gar nicht in Schweden irgendeine Legitimationsgrundlage.189 Das schwedische Staatsrecht verstand das Königtum nämlich als auf Vertragsbasis beruhendes Treuhandverhältnis, nach dem der König nur eine vertragliche Amtsgewalt (imperium), nicht aber eine absolute Verfügungsgewalt (dominium) über Land und Leute besitzt. Gustav II. Adolf ließ von Oxenstierna das schwedische Staatsrecht in einer sog. Regierungsform zusammenfassen, die nach seinem Tod 1634 fertiggestellt wurde und bis 1680 Gültigkeit hatte. Unter Bezugnahme auf die aristotelische Staatslehre, das Alte Testament und das Römische Recht erscheint das Regiment als vertraglich vereinbarte gemeinsame Aufgabe von König, Rat und Ständen. Oxenstiernas Handschrift trug dann auch die zwischen Schweden und Frankreich für das Deutsche Reich ausgehandelte Verfassung, die ein vertraglich fixiertes Gleichgewicht zwischen Kaiser, Kurfürsten und Reichstag vorsah und den Ständen das >Jus foederum et armorum< zuerkannte. Seine Intention war die Vorsorge »ge1KK

189

Barudio: Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung (1981), S. 15. Zu ähnlicher Bewertung des >AbsolutismusAbsolutismus< am Platze, der der liberalen Politik des 19. Jh.s entstammt und von ihr zur Bestätigung der eigenen Position mit Negativkonnotationen überladen wurde. [...] Der absolute Staat wurde eigentlich nur auf der zentralen Ebene durchgeführt, während auf der Regional- und Lokalebene die altständische, durch Privilegien gesicherte Freiheit und Machtausübung weiter existierte.« (Diskussionsbeitrag, in: Stadt - Schule - Universität - Buchwesen, S. 124) Zit. nach Barudio: Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, S. 24. 117

gen einen versuchten >absoluten Dominatratio statusStaatsräson< oder >Staatsklugheitratio status< setzt für ihn dort ein, wo Extremsituationen Entscheidungen fordern, vor allem im Kampf gegen das Böse oder ums Überleben. Unter solchen Umständen hält Lipsius begrenzte Formen von politischem Betrug für legitim. Die fraus levis, zu der die diffidentia (Mißtrauen) sowie die dissimulatio (Verstellung, Verheimlichung) gehören, empfiehlt er als Mittel gegenüber der Leichtgläubigkeit, das kaum von der Tugend abweiche. Die fraus media, die aktive Täuschung, sei zum Schutz in äußersten Notfällen zugestanden. Die fraus magna, zu der perfidia und iniustitia, also das Brechen von Gesetzen und Bündnissen, offene Gewalt gegenüber Untertanen und anderen Staaten gehören, sei dagegen durch nichts zu rechtfertigen.207 Noch weiter von Machiavelli entfernen sich dann im 17. Jahrhundert die politischen Klugheitslehren der spanischen Spätscholastik, die vom deutschen Protestantismus und speziell von Lohenstein208 rezipiert wurden. Besonders verbreitet war Don Diego Saavedra Fajardos (1584-1648) Idea de un Principe Politico-Christiana representada en den empresas (1640,erw.l642). Das wohl vor allem wegen der geschickten didaktischen Darstellung bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Sprachen aufgelegte Werk erschien, da Saavedra ab 1633 als Diplomat am kurfürstlichen Hof in München weilte, zuerst dort; deutsche Übersetzungen folgten 1655 und 1674. Im Vorwort gibt Saavedra als empirische Grundlage Beobachtungen der Politik in Deutschland an. Seine normativen Vorstellungen bezieht er aus der Bibel, den Schriften der Kirchenväter, der scholastischen Philosophie sowie der griechischen und lateinischen Klassiker, vor allem Aristoteles und Tacitus. In bewußtem Kontrast zu Machiavelli schätzt Saavedra den Menschen optimistisch ein, geht von der Möglichkeit, ja Notwendigkeit morali206 207 208

Machiavelli: Der Fürst, S. 104. Vgl. Mulagk: Propädeutische Studien, S. 78ff. Vgl. ebd. S. 145ff; Daß Lohenstein von Saavedra Fajardo gelernt hat, ja, daß ganze Passagen desArminius der Idea de un principepolitico christiano folgen, haben bereits die Zeitgenossen Neukirch und Thomasius bemerkt; vgl. Schings: Constantia und Prudentia, S. 433; zu Graciäns Bedeutung für Lohenstein vgl. Vosskamp: Zeit- und Geschichtsauffassung^. 132,166,191 ff; Mulagk: Propädeutische Studien, S. 194ff; Schings.· Constantia und Prudentia, S. 433; Forssmann: Spuren Graciäns im Werk D.C.s v. Lohenstein (1983), der eine Vielzahl von engen Berührungen zwischen Graciän und Lohenstein vorführt. Er nimmt dabei die Arbeit von Kafitz: Lohensteins Arminius, zu Hilfe. 121

sehen und rechtmäßigen Handelns in der Politik aus. Deshalb lehnt er neben Machiavelli auch Lipsius ab, der im Interesse politischer Klugheit zum leichten Betrug geraten hatte. Dissimulatio und Simulatio dürfen nach Saavedra nicht der Täuschung im Sinne von Vortäuschung von Falschem, sondern nur der Verheimlichung zum Zwecke der Selbstverteidigung, etwa im Sinne von Zweideutigkeit der Sprache oder im Sinne des sich unwissend Stellens dienen. Neben Saavedra ist Balthasar Graciän (1601-1658) zu nennen; Graciän dehnt besonders in El Heroe (1637) - die politische Klugheitslehre aus vom Herrscher und Hofmann auf jedwedes Individuum und sein richtiges Verhalten in der Öffentlichkeit. Damit wird >ratio status< zu einer allgemeinen sozialen Verhaltenslehre. Auch Graciän ist Gegner Machiavellis. Sein verbreitetstes Werk, Oraculo manual (1647), eine Auswahl von Sentenzen und Maximen aus seinen Werken, versteht sich als Verhaltensanleitung, die »einen Mann vernünftig, umsichtig, klug, verständig, weise, tapfer, überlegt, redlich, glücklich, beifällig, wahrhaft und zu einem Helden in jedem Betracht« machen soll.209 Auch Graciän trennt nicht zwischen Moral und Politik, Constantia und Prudentia, sondern stellt die Frage, wie der Mensch unter kluger Beachtung der Unbeständigkeit von Lebensumständen und Mitmenschen tugendhaft bestehen könne. Im Unterschied, ja Gegensatz zu Saavedra Fajardo ist Graciän jedoch - darin Machiavelli näher - geprägt von Skepsis und Pessimismus seiner eigenen Zeit gegenüber. Der kluge Mensch habe sich den Zeitströmungen anzupassen, um in ihnen Verbesserungen vorzunehmen. Ihre Grenzen habe diese Regel aber, wo der Bereich der Tugend verlassen werde: denn zu jeder Zeit soll man die Tugend üben; man will heutzutage nicht von ihr wissen: die Wahrheit reden oder sein Wort halten scheinen Dinge aus einer ändern Zeit; so scheinen auch die guten Leute noch aus der guten Zeit zu sein, [...] inzwischen, wenn es noch welche gibt, so sind sie nicht in der Mode und werden nicht nachgeahmt. O unglückseliges Jahrhundert, wo die Tugend fremd, die Schlechtigkeit an der Tagesordnung ist!

Gegen die Zeitmode rät Graciän, nie »verbotene Waffen« zu gebrauchen: »Alles, was nach Verrat auch nur riecht, befleckt den guten Namen«.211 Freilich habe der Kluge sich auf die Schlechtigkeit der Menschen einzustellen. Tiefes Mißtrauen den Mitmenschen gegenüber ist daher das Grundgesetz seiner Klugheitslehre. Erste Regel für seinen »Heroe« ist es, sich nie ganz durchschauen zu lassen. Graciän ist sich der Gratwanderung zwischen Vorsicht und List bewußt: Man gelte nicht für einen Mann von Verstellung, obgleich sich's ohne solche heutzutage nicht leben läßt. Für vorsichtig sei man gehalten, nicht für listig. [...] Die Aufrichtigkeit gehe nicht in Einfalt über und die Klugheit nicht in Arglist. Man sei lieber als ein Weiser geehrt als wegen seiner Schlauheit gefürchtet. Die Offenherzigen werden geliebt, aber betrogen. Die größte Kunst besteht darin, daß man bedecke, was für Betrug gehalten wird. Im goldenen Zeitalter war die Geradheit an der Tagesordnung, in diesem eisernen ist es die Arglist. Der Ruf, ein Mann zu sein, welcher weiß, was er zu tun hat, ist ehrenvoll und 209 210 211

Graciän: Handorakel, Nr. 300. Graciän: Handorakel, Nr. 120. Graciän: Handorakel, Nr. 165.

122

erwirbt Zutrauen; aber der eines verstellten Menschen ist verfänglich und erregt Mißtrauen. 212

Diese Maxime ist besonders aufschlußreich, da sie einen systematischen Überblick über die Möglichkeiten klugen und unklugen Verhaltens gibt. Klug ist es, aufrichtig und vorsichtig zu sein und damit Zutrauen und Ehre zu erhalten. Unklug ist es, in die Extreme zu verfallen, also entweder offenherzig, aber unvorsichtig zu sein, oder aber wegen Arglist gefürchtet zu werden und Mißtrauen zu ernten. Vertrauen gewinnen und Mißtrauen verhindern ist der Nenner, auf den Graciän rechtes politisches Verhalten bringt. Damit vollzieht er die Synthese zweier eigentlich konkurrierender Modelle, der von Mißtrauen oder gar Betrug ausgehenden >ratio status< und des von Vertrauen und Treue ausgehenden Vertragsmodells. Die bedeutendsten deutschen politischen Verhaltenslehren des 17. Jahrhunderts verbleiben dagegen in der »Traditionslinie mittelalterlicher Fürstenspiegel.« Sie konkretisieren zwar ihre Aussagen zu Fragen der praktischen Verwaltung, bewahren »aber bis zuletzt ihre christliche Grundlage und im Kern auch die mittelalterliche Zielsetzung der Friedensbewahrung und Rechtssicherung«213 und lehnen deshalb jede Diskussion der >ratio status< ab. Veit Ludwig von Seckendorff beklagt in der Vorrede zu seinem Teutschen Fürstenstaat (3.Aufl.1664), es gebe »fast keine Untreu, Schandtat und Leichtfertigkeit, die nicht an etlichen verkehrten orten mit dem Stat, ratione status oder Statssachen entschuldigt werden will.«214 Der dezidiert kaiserlich gesinnte Staatsrechtler Dietrich Reinking (1590-1664) beklagt in seiner Biblischen Policey (1653): Demnach Justitia der Welt valediciret/ Hat Status Ratio die Herrschaft occupiret/ Der Potentaten Herz hält sie vor einen Gott/ Sie achtet nicht das Recht oder Gottes Gebott/ Begird zu frembdem Gut, Betrug, Arglistigkeit/ Krieg, Elend kompt daraus, zerfällt all Policey/ Und herrschet über Recht Gewalt und Tyranney.215

Das ist auch die in der deutschen Dichtung vorherrschende Position:216 Eines unter vielen antimachiavellistischen Dramen, Johann Rists (1607-1667) Das Friedewündschende Teutschland (1646), bringt die Staatsräson als betrügerischen Wundarzt personifiziert auf die Bühne: Der »Feldscher Ratio Status« verpaßt der kranken »Germania« »Heuchelpillen« und den Trank »Simulatio«, obwohl sie ihr nicht bekommen. Im Vorbericht wird die Mode beklagt, »gottlose und in allen Lastern ersoffene Leute heuchlerischer weise zu loben/ man lasse doch die Tugend Tugend/ 212 213 214 215 216

Graciän: Handorakel, Nr. 219. Stolleis: Arcana imperil, S. 23f. Zit. nach: ebd. Arcana imperil, S. 24. Zit. nach: ebd. Arcana imperil, S. 25. Reichelt: Barockdrama und Absolutismus, hat gezeigt, wie unterschiedlich der Begriff je nach politischer Konstellation bei den verschiedenen Dramenautoren dennoch verwendet wurde. Zum Begriff >ratio status< im Barockdrama vgl. ferner: Roioff: Absolutismus und Hoftheater.(198I); vor allem: Spellerberg: Barockdrama und Politik. 123

und die Laster Laster bleiben/ denn das heisset/ der Wahrheit und Auffrichtigkeit sich befleissen und alsdenn hat ein Christ mit dem verfluchten Fuchsschwänze nicht zu schaffen.«217 Lohensteins Position in diesem Spektrum liegt wohl nahe der Graciäns: Die beste Art politischer Klugheit sei die, die Vertrauen schafft. Betrug dagegen habe mit Staatsklugheit nichts zu tun und verfälsche die Bedeutung des Begriffs, so die Lehre der von Lohenstein erstmals ins Deutsche übersetzten Schrift Lorentz Gratians Staatskluger Catholischer Ferdinand (1672): Man beschweret sich ins gemein über die Staats-Klugheit/ indem man selbte mit der Arglist vermenget/ und etliche Niemanden für weise halten/ der nicht ein Betrüger ist; den aber für den Klügsten/ der am besten sich falsch anstellen/ lügen und betrügen gekont. Niemand aber nimmt in acht: Daß der Fall in ihre eigene Stricke stets dieser Leute Straffe und Untergang gewesen sey.218

Wohl preist Lohenstein in der Widmungsvorrede von Sophonisbe den kaiserlichen Beamten und Mäzen Frantz Freyherrn von Nesselrode, weil er nicht machiavellistisch handle: Zwey Dinge sind in dir/ O Nestor! Wunders werth; Daß Klugheit sich in dir mit Redligkeit vermählet/ Daß sie sich mit Betrug nie zu verhülln begehrt; Daß Vorsicht ohne Falsch nie ihren Zweck verfehlet. Da Arglist insgemein itzt Staats-Verständig heist/ Und schlimm zu spielen sich die gantze Welt befleist. (S/Vorr. V. 199ff)

Aber er läßt die Klugheit als Tugend gelten -sofern sie sich mit »Redligkeit« verbindet. Nicht der Begriff >Staats-Verständigchristlich< versus >machiavellistischStaats-Klugheit< durchaus positiv verwendet, aber er ist zweitrangig gegenüber dem Begriff >TreueStaatsklugheit< zum Konkurrenzbegriff >Vertragt; denn >Treue< ist in der Natur- und Völkerrechtslehre der ethische Parallelbegriff zu >Vertrag< und der ethische Gegenbegriff zum innerhalb der >StaatsräsonBetrugfidesdeutsche Treue< geradezu zum Topos, der dem eigenen städtischen Selbstbewußtsein in Abgrenzung gegen die französische Hofkultur zu dienen hat.223 Es verwundert nicht, wenn Lohenstein in seinem Arminius ebenfalls davon erzählt, wie »kein Volck an Treu und Glauben über die Deutschen sey; und daß in ändern Ländern nur dieser Tugend Schatten/ hier aber ihr Wesen und Überfluß zu finden sey.« (Arm. I/870b). Und so werden auch im Roman die bekannten Extrembeispiele erzählt von germanischer Treue, die selbst eigene Nachteile in Kauf nimmt oder Treulosen gegenüber gehalten wird (etwa Arm. I/869a-870b): Sintemal Treu und Glauben das heiligste Gut des menschlichen Geschlechtes; ein Ancker des gemeinen Wesens/ ein Band aller Völcker/ ein Ehren-Krantz der Fürsten/ eine Schwester der Gerechtigkeit/ und eine in den Seelen insgeheim wohnende Gottheit ist [...] ohne welche keine Gemeinschafft unter den Menschen bestehen/ und keine Zwytracht geschlichtet werden kan. (Arm. I/869a)

Ausdrücklich kommt auch der Zusammenhang des Treuegedankens mit dem Völkerrecht zum Ausdruck,224 nämlich mit dem Hinweis, daß diß/ was in öffentlichem Kriege ein Feind dem ändern verspräche/ daß Völcker Recht heilig gehalten wissen wolle; und zwar auch gegen den, der schon einmal Bund- und Eydbrüchig worden wäre. (Arm. I/869a) 220 221 222 223 224

Lohenstein: Lob-Schrifft fol. G3r v. Vgl. Fikentscher: De fide et perfidia, S. 37ff. Tacitus: Annales 13,54; De origine et situ Germanorum. Kroeschell: Die Treue in der deutschen Rechtsgeschichte, S. 465. Vgl. Schottelius: Ethica (1669), 3.Buch, Kap.3 Dejustitia, 4. S. 571: »Das Völcker Recht ist [...] welches die algemeine natürliche Erkentniß allen Völkern gleichsam einpflantzet/ daß sie hierunter gegen einander Treu und Gauben halten: Und wan solches nicht geschiehet/ so nenet man es/ wider das allgemeine VölckerRecht handelen/ violare jus Gentium«. 125

Die Gattungsgesetze verlangen vom Trauerspiel, daß es das, was es darstellen will, im Scheitern darstellt; man hat also zu erwarten, daß auch Lohensteins Dramen nicht »prudentistische Lektionen« erteilen, sondern die sittlichen Normen des Natur- und Völkerrechts vermitteln wollen.225 Als Exempel für die Konflikte zwischen Einhaltung und Verletzung dieser Normen fungieren zwar fürstliche Personen. Adressat aber ist in erster Linie das städtische Publikum des sich selbstbewußt »Respublica« nennenden Breslau, dem im Interesse seines Stadtregiments Vertrauen und Vertragstreue als die Grundlagen von Rechtsverkehr und Gemeinwohl vermittelt werden sollen. Dies zu zeigen, wendet sich die Untersuchung noch einmal dem Trauerspiel Cleopatra zu. b) Absolutismus und Völkerrecht in Cleopatra Die parallel zur Ehehandlung um Antonius und Cleopatra verlaufende Staatshandlung um Augustus führt ebenso wie jene die Menschen nicht zusammen und wird ebenso wie jene am Ende aufgehoben in einer Apotheose. Im Mittelpunkt stehen zwei gescheiterte politische Vertragsprojekte: Im ersten und zweiten Akt versuchen Antonius und die Gesandten des Kaisers vergeblich, einen Friedensvertrag zustandezubringen. Ein »Vergleich« (C1/134) wird angestrebt, kommt aber nicht zustande, da Augustus nicht die Vereinbarung sucht, sondern seine Macht ausspielt, indem er unannehmbare Bedingungen stellt (CI/267ff). Die Vertragspläne zwischen ihm und Cleopatra erweisen sich als gegenseitige Täuschungsmanöver, noch bevor sie Gestalt annehmen; unter den Römern ist man sich der politischen Amoralität beider Seiten bewußt, bedauert sie, hält sie aber für das notwendige Gesetz politischen Handelns: August. Wer sein Versprechen bricht/ wird selbst mit Rechte Grauß. Agrip. Das allgemeine Heil zernichtet solch Versprechen. August. Verdammte Staats-Klugheit/ die Treu und Bund heist brechen! Agrip. Was Rom war einverleibt/ läßt sich verschencken nicht. August. Cleopatra wird schwern den Römern Treu und Pflicht. Agrip. Und eh man sichs versieht/ uns Zahn und Klauen weisen. (CI V/236 ff)

Lohenstein lastet im Gegensatz zu den historischen Quellen Augustus ein hinterhältiges Doppelspiel mit Antonius und Cleopatra an. Seine Bewertung ist besonders umstritten. Kafitz, Aikin, Voßkamp und Schings schließen sich Just an; für sie ist Augustus »der vorbildlich politische Mensch«.226 Juretzka, Szarota, Gillespie und Spellerberg sehen in dem römischen Kaiser den skrupellosen, die Gunst der Macht225

226

Spellerberg: Das Bild des Hofes, S. 573; Spellerberg hat das Verdienst, die ethische Absicht Lohensteins herausgearbeitet zu haben. Allerdings orientiert er sich zu ausschließlich an den Fragen der Regentenethik. Just: Die Trauerspiele Lohensteins, S. 155f; Kafitz: Lohensteins Arminius, S. 191; Aikin: The Mission of Rome, S. 221 ff; Voßkamp: Lohensteins Cleopatra, S. 77; Schings: Constantia und Prudentia, S. 428f; vgl. zu den Bewertungen des Augustus in den früheren Arbeiten: Juretzka: Zur Dramatik D.C.s von Lohenstein, Anm. 58 zu Kap. II: S. 193ff.

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konstellation geschickt ausnützenden Politiker, der in der zweiten Fassung sogar noch »wesentlich rücksichtsloser« handelt.227 Diese Differenzen kommen zustande, weil Augustus, wie die anderen Protagonisten auch, zwei Gesichterzeigt. Sieht man zunächst einmal von der Schlußszene ab, so ist er im gesamten Dramenverlauf einschließlich der Anmerkungen nicht der ideale, sondern der exemplarische Politiker eines exemplarischen Machtstaats. In Assoziation römischer Mythologie und des Hobbes'schen >homo homini lupus< wird Rom wiederholt als »Wölfin« bezeichnet,228 die in »Raserey« und »Mörder-Lust« »raubt frembde Länder hin« (CII/ 294ff). Als Roms Staatsmann vertritt Augustus das amoralische Machtprinzip absolut und negiert alle Schranken des Rechts: Man hört Besigte nicht/ den Sieger muß man hören. [· · -l Ein Sieger gibt GesätzWolfes< Augustus zu wehren anschickt: Augustens Grausamkeit thut allen Völckern weh/ Die dort der Durius und der Cantabrer See Bis an Iber umbströmt. Numantia erhärttet: Daß sich mit uns durchaus kein Römisch Joch gefärttet. Weil wir nun lieber Asch'/ als ohne Freyheit sind; Rom aber aller Welt zur Knechtschafft Netze spinnt/ Hat halb Iberien die Waffen schon ergriffen/ Und wider diesen Wolf so Zorn als Stahl geschliffen. Der Gallus steht in Noth den Tagus zu verwahrn. Für unsern Schiffen darf kein Römisch Segel fahrn Umb's heil'ge Vorgebirg'. Und die hertzhafften Schwaben/ Die manchen Streich bereit versetzt den Römern haben/ Verbinden sich mit uns/ und stehn den Trierern bey; Mühn sich ganz Gallien zu machen franck und frey/ (C 1/597 ff)

Aber Augustus und Rom sind nur Exponenten solcher die ganze Welt belastenden Unrechtspolitik. Das Drama demonstriert auch an den anderen Politikern - oft in Nebenszenen - nicht politische Klugheit, sondern immer wieder politisch motivier227

228 229

Juretzka: Zur Dramatik D. C.s von Lohenstein, Anm. 58 zu Kap. II, S. 195; Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft, S. 157ff; Gillespie, zuletzt: Lohenstein's Epicharis (1983), S. 345f; Spellerberg, zuletzt: Lohensteins Sophonisbe (1983), S. 389. Vgl.C HI/314; 319; 372. Im Arminius ist Augustus offensichtlich Gegenspieler des guten germanischen Fürsten Hermann und repräsentiert das absolutistische amoralische Herrschaftssystem: »Ich halte [ . . . ] den August wol für einen/ der durch seine Künste die Römische Freyheit zu Boden getreten hat/ nicht aber dem Romulus gleiche/ noch für einen Uhrheber selbigen Reiches. Sintemal er zwar unzehlbare Römer abgeschlachtet/ das Reich aber wenig oder nichts vergrossert.« (Arm. I/134a); vgl. Arm. I/1202b). 127

tes Unrecht: also Bruch von Versprechen, Verträgen, Eiden und Bündnissen. Gerade die Teile, die 1680 neu eingebaut wurden, lesen sich wie Übungen zu Details von Grotius' Völkerrechtslehrbuch De jure belli ac pacis. Das Gesandtenwesen etwa gehört zu den im 17. Jahrhundert enorm wichtig gewordenen neuen Rechtsgebieten. Laut Grotius ist der Gesandte ein lebendes Abbild des von ihm vertretenen Fürsten. Die Pflicht, einen Gesandten nicht grundlos abzuweisen, und vor allem seine »Unverletzlichkeit« seien Grundpfeiler des Völkerrechts. Allerdings sei in seinem Jahrhundert umstritten, wie weit diese Immunität reiche, wenn der Gesandte seinerseits gegen Landesgesetze oder gar das Völkerrecht verstoße. Grotius selbst entscheidet sich gegen jede strafrechtliche Verfolgung auch in diesen Fällen. Nur um größeres Unglück von der Öffentlichkeit abzuwenden, dürfe man einen Gesandten festhalten, vernehmen oder gar töten.230 Im Arminius greift Lohenstein dieses Thema ausführlich auf, läßt Beispiele der Verletzung des Gesandtenrechts (vgl. Arm. 1/231 a-b) oder absoluter Achtung selbst verbrecherischer Gesandten erzählen einschließlich der entsprechenden Positionen des Grotius: Es verschlüge ihm auch nichts oder hübe das Völcker-Recht nicht auf/ wenn Gesandten sich schon selbst an diesem Rechte durch Staats-Verbrechen vergriffen hätten. Denn in jenem Falle wäre es stärcker/ als in diesem/ und viel nöthiger/ daß Gesandten unverletzlich blieben/ als daß ihre Laster gestrafft würden. Sintemahl jene Notwendigkeit das Heil der Welt/ und die Erhaltung menschlicher Gemeinschafft nach sich züge/ und ohne Sicherheit der Gesandten nimmer Friede gestifftet/ sondern ewiger Krieg geführet werden würde. Daher fügten die wildesten Völker Gesandten kein Leid zu; also daß die/ welche dieses gemeine Gesätze der Völcker brächen/ ärger als Barbern/ und weniger als Menschen wären. (Arm. II/1380a-b)

Im Anschluß daran werden die Grenzen dieser Unverletzlichkeit erörtert, etwa der Fall, daß Gesandte »das Völcker-Recht verletzen« oder zu Aufruhr, Verrat und Fürstenmord mißbrauchten. Denn das Völcker-Recht hübe ja das der Natur nicht auf/ billichte also nicht diß/ was die menschliche Gemeinschafft aufhübe/ und die Annehmung eines Gesandten willigte keines Weges in diß/ was den Fürsten oder das Volck in Verterben stürtzen könte. (Arm. II/1381a-b)231

Gesandte sind auch in Cleopatra mehr als die in dramatischer Funktion üblicherweise eingesetzten Boten. Ein Großteil der Handlung wird von nicht weniger als fünf Gesandten (Antyllus, Proculejus, Sertori us, Thyrsus, Archibius) getragen; ihr rechtlicher Status kommt zur Sprache: Antyllus bleibt von Augustus, dem er sogar Geschenke mitgebracht hat, entgegen dem Völkerrecht ungehört (C1/684ff); Proculejus erinnert, als man ihn bedroht, an das Völkerrecht (C/uI/450ff); Archibius wird zwar »wie andere Gesandten« unter »Trompetenschall« und Bewachung beim Kaiser vorgelassen (CIV/65f), dann aber zur Vergeltung mißhandelt:

230 231

Grotius: De iure belli ac pacis, II.Buch, Kap. 18, IV. Vgl. auch Arm. I/762a-b; 770b-771a; 986a.

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August. Wie wird die Bothschafft sein des Feindes zu empfangen? Agrip. Es werde nur mit ihm verächtlich umbgegangen. Mecaen. Dis wehr't der Völcker Recht. Agrip. Anton that es vor an. Mecaen. Es ist nie nach zuthun/ was man nicht loben kan. Agrip.Besiegten fehlt das Recht Gesandten abzusenden. (CIV/85ff)

Während Verstöße gegen das Gesandtenrecht nur angedeutet sind, werden die gegen das Gefangenenrecht232 drastisch auf der Bühne vollzogen, auch dies für die Dramenhandlung kaum von Bedeutung, wohl aber für die Thematik Vertrauen und Vertrauensbruch: Nur in einem »förmlichen Krieg« ist es nach Grotius naturrechtlich zulässig, Feinde, selbst Gefangene und Geiseln zu töten.233 In einem eigenen Kapitel »Über das Recht gegen die Gefangenen« deutet Grotius das Völkerrecht als Milderung des Naturrechts: es habe sich durchgesetzt, damit die Sieger »sich freiwillig der vollen Strenge enthalten, wonach sie die Gefangenen sofort oder später [...] töten konnten.«234 Der gerechte Krieg im Sinne des Völkerrechts beschränke also das Tötungsrecht auf unabsichtliche Tötung im Kampf und auf rechtmäßige Strafe. Aber selbst da, »wo die Gerechtigkeit dies nicht verlangt«, entspreche es den Tugenden »Milde«, »Bescheidenheit« und »Seelengröße«, dem Feind eine verdiente Todesstrafe zu erlassen. Wehrlose Gefangene zu schonen, gebiete »die Natur des Guten und Billigen«.235 In Cleopatra richtet sich keine Seite danach: Daß Antonius Artabazas, den Bündnispartner, der ihn gegen die Parther in Stich gelassen hatte, gefangennimmt (C1/775 ff), geht nach dem Naturrecht in Ordnung. Zulässig ist es auch, den Gefangenen, wie Cleopatra wünscht (C 11/415 ff), zur Strafe hinzurichten; völkerrechtlich ist es aber verwerflich und wird ausdrücklich mit der römischen Grausamkeit verglichen. Daß Antonius im Zustand der Verblendung auch noch mit hohnvoüen Kommentaren die Leiche ohne Kopf freigibt und statt dessen den Kopf eines anderen Hingerichteten mitschickt (C 11/566ff), verstößt gegen ein weiteres Gebot des Völkerrechts: Zu den edelsten Menschenpflichten gehört nämlich die ehrenvolle Bestattung der Toten, auch einstiger Feinde. Dies gelte, so Grotius, bei den meisten Völkern selbst gegenüber Schwerverbrechern. Es komme zwar noch immer vor, daß zur Abschreckung Verbrecherleichen oder einbehaltene Köpfe Hingerichteter zur Schau gestellt werden. »Indessen zweifeln nicht nur Politiker, sondern auch Theologen, ob dieser Brauch löblich sei.«236 Offensichtlich bringt Lohenstein anhand seiner historischen und exotischen Dramenhandlungen ganz pragmatische, in der Rechtspraxis seines Gemeinwesens aber noch nicht endgültig übernommene Elemente des Völkerrechts ein. Im letzten Akt 232

Vgl. den Schulactus des Elisabethgymnasiums von 1665 Über das im Krieg gegenüber Gefangenen anzuwendende Recht; vgl. Sophonisbe: die Hinrichtung zweier gefangener Römer als religiöses Opfer durch Sophonisbe und Syphax (S 1/442 ff) sowie die Hinrichtung zweier afrikanischer Gefangener durch die Römer als Vergeltung (S III/280ff); vgl. Arm. I/ 60b; 69b; 70a; 11/11 lOb; 1132b. 233 Grotius: De iure belli ac pads, III.Buch, Kap.4. 234 Ebd. III.Buch, Kap.7. 235 Ebd. III.Buch, Kap.ll. 236 Ebd. II.Buch, Kap. 19. 129

wird Antyllus bei Ausschreitungen der römischen Soldaten gefangengenommen und getötet. Mehrmals erhält er auf die Frage, was er verbrochen habe, keine zureichende Antwort. Seine Hinrichtung verstößt gegen weitere Bereiche des Völkerrechts: zum einen gegen das Asylrecht, denn er wird im Heiligtum ermordet (Anm.zu C V/444), zum ändern gegen das Bestattungs- und das Beuterecht, weil »die Leiche noch beraubt« (C V/589) wird.237 Der Vorfall ist aber nur ein Beispiel für die Pogrome der römischen Truppen, die - in der späten Fassung deutlich ausgebaut - endgültig zu Cleopatras Selbstmord führen: [...] Die Römer üben Thaten/ Daß kein ergrimmter Feind es ärger machen kan. Man plündert Stadt und Marckt/ man fällt das Kriegs-Volck an/ Bricht ihre Schild' entzwey/ auf die Anton ließ etzen Das Bild Cleopatras. Man forschet nach den Schätzen/ Man reißt die Marmor-Seuln der Ptolemeer ein; [...] Ja man sagt keck heraus; wir müßten seyn geschlachtet. (CIV/310ff)

Nach Grotius verlangt das Völkerrecht die Beschränkung von Verwüstung und Plünderung auf das zur Kriegsführung Nötige, auf Ausgleich von Schuldigkeiten und gerechte Strafe. Geschont werden sollten aber, »wenn keine Gefahr droht«, Heiligtümer und Grabstätten. Das gelte auch von »den nur zur Ehre des Verstorbenen errichteten Denkmälern.« Selbst wenn das Völkerrecht erlaube, straflos gegen diese zu wüten, so bedeute ihre Verletzung doch »eine Verachtung der Menschlichkeit. Die Rechtsgelehrten sagen, daß die Rücksicht auf die Religion der entscheidende Grund sei.«238 Die Römer des Dramas kennen all diese Rücksichten nicht. Der Kaiser, so wird beklagt, sei »so gottlos' und so kühn«, daß er »die Tempel sich nicht scheuet zuberauben«; er habe selbst befohlen, »Osirens Bild« aus dem Tempel zu holen (C V/269 ff). Als Cleopatra bereits tot ist, bittet ihr Geheimer Rat Archibius Augustus persönlich, den Ausschreitungen Einhalt zu gebieten: [...] Man wirfft die Bilder nieder/ Durchlauchster/ des Anton. Weil aber mir bewust: Daß über todtes Ertzt und wieder Kunst August Zu siegen nicht verlangt/ erkühn' ich mich zu bitten: Der Keyser lasse doch nicht Heer und Pöfel wütten Auf Seulen/ welche sind Cleopatren gesalzt/ Und die das Altertum hochheilig hat geschätzt. (C V/528 ff u.Anm.)

Bis hierhin, bis zum Ende der vorletzten Dramenszene, entsprechen Rom und Augustus - freilich auch zeitweise Antonius und Cleopatra - den Anklagen, die Antonius in den ersten Dramenversen und Cleopatra im II. Akt erheben. Ja ihre Klage beschreibt letztlich das, was das Drama zu einem Trauerspiel macht: den Verlust menschlicher Treue in allen Belangen:

237 238

Vgl. auch S/V/223f u.Anm. Grotius: De iure belli ac pacis, III.Buch, Kap.12; vgl. auch Kap.6 und Kap.13.

130

Wohnt keine Treue mehr bei keinem Römer nicht! Gewissenhafftes Rom! komm borge bei den Mohren/ Die wahre Redligkeit die du für längst verlohren! Komm kauff in Greta dir die theure Warheit ein! Nun deine Götter selbst nichts als Betrüger sein. Verflucht- und falsches Volck! verteufelte Gemütter! Ihr gebet Gott für Gold/ tauscht für die Seelen Gutter/ Gebt Mord für Gottesfurcht und Gifft auß für Gewin/ Werfft Ehgemahl und Kind für Hund und Panther hin! (C H/124 ff)

Jetzt, am Ende der vorletzten Szene, tritt eine völlig umgewandelte Augustus-Figur, ein wirklich idealer Herrscher, zutage. Kafitz und Asmuth werfen Lohenstein deshalb vor, er habe durch eine nicht vollständig durchgeführte Umarbeitung Widersprüche in dieser Figur entstehen lassen, die zu einem »Bruch« und zu einem »von Lohenstein gewiß nicht beabsichtigten Zweifel« an seiner Glaubwürdigkeit geführt hätten.239 Solche Deutungen, die von der psychologischen Stimmigkeit der Figuren ausgehen, verfehlen die Struktur des Barockdramas. Figuren sind dort nämlich nicht Charaktere, sondern Elemente didaktischer Vermittlung, Träger von Themen, Werten und Unwerten. Ein und dieselbe Figur kann deshalb auch die unterschiedlichsten Positionen vertreten. Das trifft in besonderem Maße für die Struktur des Bekehrungsdramas zu. Während das Märtyrerdrama Tugend und Untugend, Gut und Böse, Richtig und Falsch auf die polaren Figuren Märtyrer und Tyrann überträgt, überträgt das Bekehrungsdrama diese Größen auf eine Figur vor und nach der Läuterung, die durch die Konfrontation mit der Ewigkeitsperspektive ausgelöst wird. Und um eine solche Struktur handelt es sich hier. Augustus lernt die Lektion, die das Trauerspiel vermitteln will, und die Cleopatra angesichts ihres Todes gelernt hat: »Wer [...] Die Fürsten dieser Welt der Erde Götter nennet/ [...] Der komm' und lern' allhier.« (C V/l ff) Antonius hatte dem Kaiser vorgeworfen, er, »der durch Mord und List hat Rom zur Magd gemacht«, lasse sich von den einst freien Römern »als einen Gott und Herren« (C 1/132f) verehren. Wiederholt wird er dann auch von seinen Beamten als »Gott August« (C 11/87; IV/472) oder »Gott/ Keyser/ Herr der Welt« (C IV/485) begrüßt. Daß Lohenstein sich damit gegen die auch vom Absolutismus seiner Zeit benutzte Ideologie der Gottähnlichkeit von Herrschern stellt, wird aus einer Anmerkung deutlich, in der Augustus angelastet wird, er habe sich entgegen der bisherigen Sitte, die die Vergötterung erst verstorbenen Herrscher zuteil werden ließ, bereits als Lebender wie ein Gott verehren lassen. (Anm. zu C11/87) Angesichts von sechs Leichen (!), angesichts des Scheiterns der politischen Wege von Antonius und Cleopatra, schließlich angesichts der Sterblichkeitsreste des einst mächtigen Alexander hat nun auch Augustus gelernt, hat er seine Hybris gottähnlicher Herrschermacht abgelegt und wird zum menschlichen Regenten.240 Augustus wird nun geradezu zum Erfüller des Völkerrechts, schützt »Ehren-Maale« und 239

240

Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 153; vgl. ähnlich Kafitz: Lohensteins Arminius, S. 196. Lohensteins Augustus entspricht damit dem historischen. Die Geschichtsschreiber unterscheiden stets den Augustus des Bürgerkriegs, der sich mit allen Machtmitteln gegen seine 131

»Helden-Bilder« (C V/536 f) der Besiegten, sorgt für ein würdiges Begräbnis Cleopatras (C V/545 ff), ihrer Dienerinnen und des Antyllus (C V/601 f), schützt den IsisKult, bestraft den Verräter, Mörder und Leichenschänder Theodor, stellt maßvoll die für Rom bestimmte Beute zusammen, beläßt dabei den Leichen ihren Schmuck und bestimmt nach alter Sitte einen Teil der Beute für die Götter (C V/690 f); 241 schließlich adoptiert er die Kinder Cleopatras und überträgt ihnen die Verwaltung, wenngleich nicht Ägyptens, so doch anderer afrikanischer Eroberungen (C V/655 ff). Auch das ist eine direkte Umsetzung dessen, was Grotius lehrt. In einem Kapitel über die »Beschränkungen hinsichtlich des Erwerbs der Staatsgewalt« rät dieser, »die Besiegten mit dem Siegervolk« zu vermischen; »kluge Mäßigung« zeige sich darin, daß man den Besiegten ihre Herrschaft und »staatliche Selbständigkeit« belasse. »Wenn es unbedingt notwendig ist, daß der Sieger auch die Herrschaft über das Feindland nimmt, soll er dem Besiegten zum mindesten einen Teil davon überlassen.«242 An anderer Stelle weist Grotius auf den Zusammenhang solcher nützlicher Ratschläge mit seinem Anliegen hin: Seine Aufgabe sei zwar eigentlich, die Sitten auf das »von Natur erlaubte Maß zurückzuführen«. Wenn er dennoch auch nützliche politisch-moralische Ratschläge gebe, so deshalb, weil sie oft mehr als Gesetze dem Ziel seiner Arbeit dienen, nämlich »Ruhe und die Festigkeit des Friedens« zu fördern, und weil der Hinweis auf die Nützlichkeit des rechten Handelns diesem zu mehr Ansehen verhelfe. Der Ratschlag, der das gesamte Kriegsrecht in eine Klugheitsregel umformt, lautet: Wenn man in der Zerstörung von Sachen Maß hält, die für den Krieg keine Bedeutung haben, nimmt man dem Feinde eine bedeutende Waffe, nämlich die Verzweiflung.243

Diese Lehre hatte Lohensteins Augustus im Falle von Antonius und Cleopatra mißachtet, die er beide in eine Notstandssituation getrieben hatte. Nun beachtet er sie gegenüber den Kindern. Und der Nutzen folgt sogleich nach: Die Ägypter belohnen Augustus für seine Großzügigkeit, indem sie ihm den großen Ptolemäerschatz anvertrauen (C V/705 ff). Am Ende erscheint Augustus also doch als vorbildlicher Friedensherrscher, der nicht nur »in Rom des Janus Tempel Schlüssen« (C V/673 ff) kann, sondern auch in Harmonie mit den ehemaligen Feinden lebt. Blickt man nicht auf die Kontinuität von Charakteren, sondern auf die der Thematik, so erscheinen die letzten beiden Szenen des Dramas nicht als aufgesetzte Fremdkörper. Das auf Vertrauen statt Furcht begründete Friedensregiment, das Augustus nun nach den Katastrophen seiner Antipoden einschlägt, ist von Anfang an präsent als Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Im Vorgriff auf die Einsicht des Dramenendes entwirft Antonius bereits im ersten Akt die Vision einer gewaltfreien, von freiwilliger Unterordnung bestimmten und für alle nützlichen Friedensordnung:

241 242 243

Rivalen durchsetzte, von dem, der Rom eine lange Zeit des Friedens verschafft hat. Vgl. Bengtson: Römische Geschichte, S. 223; vgl. Seneca: De dementia, 1,11,1. Vgl. Grotius: De iure belli ac pacis, III.Buch, Kap.6. Ebd. III.Buch, Kap.15. Ebd. III.Buch, Kap.12.

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Augustus macht hierdurch sich allen Argwohns frei/ Pflantzt statt des Neides Gunst in aller Bürger Seelen. [...] Rom wird Augustens Schwell und Caesars Schatten küssen/ Wenn er das Fridens-Thor des Janus auff wird Schlüssen; Der Parthe wird ihm sein gutwillig unterthan/ Rom alle Julier in Tempeln beten an. (C1/822f; 827ff)

Auch der I. Reyen entwirft die Utopie des augusteischen Friedens, und zwar in artistisch verschlüsselter Form gegen die Realität des I.Aktes gerichtet, dessen politische Diskussion deshalb noch einmal nachzuzeichnen ist: Antonius beklagt, daß sich Augustus als >absolutistischer< Herrscher gebärde, zwar nach außen machtpolitisch höchst erfolgreich regierend, aber um den Preis innerer Unfreiheit des eigenen Staates: [...] Rom mag die Welt besiegen/ Er sieget über Rom. Für seinen Füssen liegen Volck/ Adel/ Rath gebückt. [ . . . ] (C 1/7ff)

Er selbst sieht seine Aufgabe nun darin, als Verfechter der alten republikanischen Freiheit Ägypten, das er »das itz'ge Vaterland« (C 1/269) der Römer nennt, zu einer »Zuflucht« (C 1/271), einem »Hafen [...] der Freyheit« (CI/70) zu machen, den es zu verteidigen gelte, »Weil Rom das Haupt der Welt die Freyheit hält für Bley/ Die Knechtschafft für Gewien.« (CI/69f). Antonius hofft, die wachsende Unterdrükkung Roms werde zum Bürgerkrieg führen, muß sich aber andererseits vorwerfen lassen, der Bürgerkrieg, den nicht nur Augustus, sondern auch er selbst fördere, führe ebensowenig zu Freiheit und Frieden wie die Gewaltherrschaft des Kaisers (vgl.C 1/344; 386ff; 646ff). Damit stehen sich Absolutismuskritik und die absolutistische Gegenargumentation gegenüber, nach welcher »das zwistige Vaterland nur unter einem Hute zubefriedigen/ und die bey denen Bürgerlichen Kriegen zerfleischte Freyheit unter einem Fürsten einzubüssen« (Arm. I/6a) das kleinere Übel sei. Ursache für die Konfrontation der gleichermaßen verderblichen Haltungen Tyrannei und Bürgerkrieg ist die Erfahrung, die Antonius im Kampf um Cäsars Erbe gemacht hatte. Antonius lehnt nämlich das neuerliche Bündnisangebot des Augustus ab, das den Bürgerkrieg beenden, »deß Reiches Heil«, die »Freiheit der Stadt Rom« (C 1/809 f) bringen könnte, und zwar mit dem Hinweis auf die betrügerischen Machenschaften, mit welchen der Kaiser Stück für Stück das Triumvirat mit Lepidus und Antonius beseitigt habe. Der Reyen entwirft nun im Mythos gleichsam ein göttliches Gegenbild zu den römischen Machtkämpfen der Triumvirn um das Erbe Cäsars: Die Herrschaft Saturns, des Gottes der Macht und des Chaos, geht über auf den Sohn Jupiter, den Gott von Gesetz und Ordnung, und seine Brüder Neptun und Pluto. Anders der Augustus des Dramas, der keine »Gräntz [...] der Natur« (CI/4) kennt, und die Partner Lepidus und Antonius bekämpft, folgen die drei Götterbrüder den Anweisungen der göttlichen Providenz, die »der Natur die Gräntzen sätzt« (C 1/1071). Sie verteilt die Weltherrschaft nicht von »ungefähr« (C 1/1076), sondern mit »Wolbe133

dacht« und »nach Würden« (C1/82), beteiligt alle drei Brüder an der Regentschaft, jeden aber unterschiedlich nach seinen Eignungen. Jupiter wird zwar als »König der Brüder« (C I/l 105) anerkannt, ist aber nicht ihr Beherrscher, sondern ein >princeps inter paresTranslatio Imperii< ist die Vorstellung von der göttlichen Lenkung der Geschichte, nach der Gott das 257

Vgl. Dan.: 7,2-27; auch: 2,31-45.

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Römische Reich zur Strafe für dessen Amoralität auf das christliche Deutschland übertragen hat. Diese Lehre, die das Deutsche Reich zum Rechtsnachfolger des Römischen Reiches macht, war die entscheidende Legitimationsgrundlage sowohl für die Übernahme des Römischen Rechtes als auch für die Hegemonieansprüche des Reiches zunächst in Europa, dann noch zumindest über die einzelnen deutschen Herrschaften. Zugleich gibt sie dem mittelalterlichen Reichs- und Herrschaftsbegriff ihre erst von Machiavelli bestrittene ethische Grundlage, nach der Gottes Fügung Herrschertugend und politischen Erfolg stets verbinde. Während der Schlußreyen von Cleopatra den politischen Erfolg darstellt, liefert die vorausgehende Schlußszene dessen Grundlage: die Übernahme des Ptolemäerreichs durch das augusteische, das von nun an die Tugenden Demut, Maß, Ordnung, Weisheit und Klugheit regieren läßt. Die politische Lehre des Dramas erscheint geradezu als Darstellung des alttestamentalischen Regentenspiegels, der der >Translatio-ImperiiTranslatio Imperii< auf das Reichsrecht. Ulrich von Hütten (1488-1523) hat Vallas Schrift (um 1519) in Deutschland veröffentlicht und damit dem Protestantismus ein wichtiges Argument zur Kritik des mittelalterlichen Reichsbegriffs in die Hand gegeben. Martin Luther deutet die Translatio des Römerreiches aus der Hand des Papstes an den deutschen Kaiser als Schwindel, durch den der Papst sich Deutschland unterworfen habe.264 Wie Luther vom Papsttum, so wollte sich das französische Königtum, durch die Hugenottenkriege geschwächt, von der bisher noch anerkannten Hegemonie der deutschen Universalmonarchie befreien. Jean Bodin (1530-1596) schuf mit seinem Methodus ad facilem historiarum cognitationem (1566) ein quellenkritisches Geschichtswerk, das die historia divina aus dem Zuständigkeitsbereich des Historikers ausschloß und die historia humana auf die empirisch feststellbaren Gesetze des Entstehens und Vergehens von Staatswesen beschränken wollte: Für die Lehre von den vier Reichen, für die Dominanz des Deutschen Reiches über alle anderen und für seine Aufgabe innerhalb eines ideologischen Verlaufes der Gesamtgeschichte gebe es keine empirische Grundlage. In den Six livres de la Republique (1576) beschreibt Bodin dann, befreit von traditionellen Bestimmungen, das Deutsche Reich so, wie es sich ihm empirisch zeigte: als Aristokratie, deren Souveränität bei den im Reichs262 263 264

Ebd. Vgl. dazu Voßkamp: Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jh, v.a. S. 17ff. Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation, WA 6/462f.

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tag versammelten Reichsständen liege; der Kaiser sei lediglich eine Repräsentationsfigur, allenfalls ein ausführendes Organ.265 Das deutsche Staatsrecht hielt einschließlich seiner protestantischen Vertreter noch weit bis ins 17. Jahrhundert an der im Sinn der mittelalterlichen Reichsidee theologisch fundierten, monarchischen und zentralistischen Reichsverfassung fest. Der »namhafteste und zugleich letzte Repräsentant«266 war Dietrich Reinking. Sein Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico (1619) wandte sich ausdrücklich gegen Bodin. Reinking hielt daran fest, das »Imperium Romano-Germanicum« sei die geweissagte vierte Weltmonarchie, von Cäsar gegründet und durch Karl den Großen auf Deutschland übertragen. Sie werde bis zum Weltende dauern. Dem Kaiser stehe die »summa et legibus soluta potestas« zu, währen die Reichsstände ihm zu Untertänigkeit verpflichtet seien.267 Als Beitrag zu den ideologischen Randgefechten des Dreißigjährigen Krieges erschien 1640 unter dem schützenden Pseudonym Hippolithus a Lapide die Dissertatio de ratione status in imperio nostro Romano-Germanico, die die Position Bodins aufgriff. Autor war Bogislaw Philipp von Chemnitz, der in schwedischen Diensten stand. Seine Thesen verschafften ihm Aufsehen auf beiden Seiten, Einfluß auf die Gestaltung des Westfälischen Friedens, aber auch das Verbot der Schrift durch Wien und den Reichstag von 1653. Chemnitz stellte keineswegs das Reich in Frage, sondern suchte nach Möglichkeiten, es realistisch zu definieren. Seiner Ansicht nach lag die Souveränität bei den Ständen; beim Kaiser lägen nur unbedeutende Rechte, die den Staat in seinem Wesen und seiner Stabilität kaum beträfen und ihm allenfalls einen Schatten und Rest ehemaliger Majestät verliehen.268 In den Konsequenzen ging Chemnitz weit über Bodin hinaus. Voraussetzung für das Überleben des Reiches sei die Wahrung seiner Einheit. Das könne nur gelingen, wenn die Landesfürsten sich ihre Herrschaftsmacht bewahrten und die Vorherrschaft eines Teils der Stände oder gar einer Familie verhinderten. Das Haus Habsburg habe aber bereits Militär und Gerichtswesen an sich gerissen, behindere die Reichstage und gefährde durch gezielte Familienpolitik den Bestand des Reichs. Die zweite seiner sechs Reformforderungen lautet deshalb: »Domus Austriae Exstirpatio«. Die »familia Germaniae nostrae fatalis« habe unter dem Vorwand der Religion mit ihrer Kriegsplanung die eigenen absolutistischen Interessen verfolgt. Mit Habsburgs Vernichtung wäre deshalb der Reichsfriede wieder herzustellen.269 Im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges spitzte sich die Verfassungsdiskussion also zu; und die Befürworter der alten Reichsideologie verloren mit der zunehmenden Schwäche des Reiches unter dem neuen Blickwinkel der Empirie an Glaubwür265

266 267

26f! 269

Zur Geschichte der Reichsverfassungsdiskussion vgl. Denzer: Samuel Pufendorf: Die Verfassung des deutschen Reiches, bes. S. 174ff. Stintzing: Rechtswissenschaft II, S. 196. Stintzing: Rechtswissenschaft II, S. 201; Link: Dietrich Reinkingk (1977); Denzer (Samuel Pufendorf, S. 19) nennt noch eine Reihe anderer Vertreter dieser Position. Vgl. Schubert: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit, S. 556. Vgl. Stintzing: Rechtswissenschaft II, S. 48ff; R.Hoke: Hippolithus a Lapide (1977); Schubert: Die deutschen Reichstage, S. 557; Roeck: Westfälischer Frieden, Reich und Territorien (1980). 141

digkeit. Weit über den Westfälischen Frieden hinaus hatte nach dem Zusammenbruch der alten Reichsordnung in Deutschland nicht die europäische Diskussion der Staatsräson, sondern der dann spezifisch deutsche Streit um die Souveränitätsrechte von Kaiser und Landeshoheit Vorrang, geführt meist mit den taciteischen Kategorien Republik, Prinzipat, Dominat. Aus dieser politischen Not entstand nun eine eigene rechtswissenschaftliche Disziplin. Innerhalb der Jurisprudenz verschob sich »das Schwergewicht auf die Behandlung des öffentlichen Rechts, das nicht länger eine Beigabe ist, die unorganisch am Ende angeklebt und in die zivilisische Einteilungsschablone gebracht wird, sondern eine Stellung als gleichgewichtiger zweiter Teil gewinnt.«270 Obwohl die neue Disziplin an Universitäten und in Schulen noch keinen Rückhalt hatte, obwohl ihre wesentlichen Begriffe, etwa >ÖffentlichkeitStaatStaatsrechtVier ReichenTranslatio Imperii< und der Kontinuität zwischen Römerreich und Deutschem Reich seien nur Legende. Das Deutsch Reich sei vielmehr jeder anderen Staatenbildung zu vergleichen und müsse, so folgert er, seine rechtlichen Grundsätze im alten, auf die Germanen zurückgehenden deutschen Gewohnheitsrecht suchen. Conring wurde mit diesen Thesen zum »Entzauberer der alten Ideologie des Reiches«.273 In der Praxis, während der Westfälischen Friedensverhandlungen, die seit 1644 geführt wurden, gab man sich ausgesprochen vorsichtig. Keiner der Gesandten plädierte für die Auflösung der Reichsverfassung oder stellte das Imperium auch nur in Frage.274 Zur Diskussion stand lediglich die staatliche Form des Reiches. Im Inter270 271 272 273

274

Brückner: Staatswissenschaften, S. 173. Vgl. Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis, bes. Kap. 2 Öffentlichkeit und Staatlichkeit. Stolleis: Juristische und politische Literatur im Zeitalter des Barock, S. A247. Wolf: Idee und Wirklichkeit des Reiches (1943). Vgl. Hermann Conring (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk (1983) Roeck: Westfälischer Frieden, S. 458.

142

esse des Friedensvertrags nahm man absichtlich auch unklare Regelungen in Kauf und stellte ihre Klärung der zukünftigen Entwicklung anheim. Das Ergebnis war ein »Kompromiß zwischen territorialer Eigenstaatlichkeit und Reichssouveränität«, wobei die weitere verfassungsrechtliche Entwicklung nach beiden Seiten offengelassen wurde, so daß also für den Zeitgenossen nicht nur die Entwicklung zum territorialen Staat, sondern auch eine Steigerung des kaiserlichen Einflusses denkbar schien. Einerseits wurde den Reichsständen eine gewisse superioritas gegenüber dem Reich zugestanden, etwa durch das Recht, selbständig Bündnisse schließen zu dürfen; andererseits blieb der habsburgische Kaiser »rechtlich unbestritten das Oberhaupt des Reiches«, und er blieb auch nach 1648 lange die dominierende Macht in Deutschland.275 Die meisten Staatsrechtstheoretiker des 17. Jahrhunderts versuchten, den nicht entschiedenen, deshalb empirisch unübersehbaren Dualismus zwischen Kaiser und Reichsständen zu fassen im Sinne der aristotelischen >res publica mixta< oder des römischen zwischen Republik und Monarchie balancierenden Prinzipals. Für Lohenstein und Breslau dürfte die auch von Benedict Carpzov übernommene Position des Johannes Limnäus (1592-1663) am ehesten praktikabel gewesen sein. Sein von Johannes Althusius (1557-1638) beeinflußtes Werk Juris publici Imperii RomanoGermanici libri IX (1629-34), das Lohenstein in Cleopatra (Anm.zu CIV/644) zitiert, ist wohl die umfassendste und verbreitetste Verfassungslehre des Reiches im 17. Jahrhundert, nicht zuletzt, weil er sich bewußt darum bemühte, sich einer gemäßigten Ausdrucksweise zu befleißigen.276 Limnäus beläßt die Souveränität (maiestas realis) beim Volk. In dessen Auftrag führen die Reichsstände die Herrschaftsaufgabe (maiestas personalis) aus, von der sie lediglich einen Teil durch die Wahl dem Kaiser übertragen haben, nachdem dieser in der Wahlkapitulation die Grenzen seiner Kompetenz anerkannt hat. Der Kaiser ist damit nicht wie nach mittelalterlichem Denken Eigentümer, sondern ein »an die Reichsgrundgesetze gebundenes Organ« des Reiches. Er hat keine Souveränität aus eigenem Recht, ist aber auch nicht bloßer Repräsentant, sondern »der erste Amtsträger des Staates.«277 Daß dieser Kompromiß vielfach als zu große Nachgiebigkeit den Habsburgern gegenüber empfunden wurde, zeigen die Position, die in Nachfolge Conrings Samuel Pufendorf278 eingenommen hat. Auch Pufendorf beginnt seine Analyse De statu imperil Germanici (1667) mit der Beschreibung Germaniens. Der Rombezug wird nahezu beiläufig abgehandelt. Den Begriff >Heiliges Römisches Reich< verwende lediglich der »Volksmund«.279 Wie für Luther erscheint der Kaisertitel für Pufendorf als Trick des Papstes. Er selbst wolle deutlich machen, »wie kindisch der 275 276 277 27li

279

Roeck: Westfälischer Frieden, S. 461. Weitere Auflagen 1645, 1657, Additiones 1647, 1660, 1667, 1670; vgl. Hocke, Johannes Limnäus, S. 105. Denzer: Samuel Pufendorf, S. 198. Pufendorf verweist mehrmals und im Widmungsbrief seiner Verfassungslehre ausdrücklich auf Conring. Er stimme mit ihm, dem besonderen »Kenner der deutschen Verhältnisse [...] in den meisten Ansichten über den Zustand Deutschlands [ . . . ] überein.« (S. 8) Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches, S. 17. 143

Irrtum derjenigen ist, die glauben, das deutsche Reich sei an die Stelle des alten römischen Reiches getreten und dieses setze sich in jenem fort. Denn das römische Reich, dessen Hauptstadt Rom war, hatte sich schon vor den Anfängen des deutschen Reiches aufgelöst.« Die Bezeichnungen »Römischer Kaiser« und »Römisches Reich« seien leer, da das »Erlöschen von Rechten« durch das »bloße Beibehalten des Titels« kaum verhindert werden könne.280 Folglich habe man abzurücken von der Vorstellung der absoluten potestas des Kaisers: Wer [...] dem Kaiser die absolute Herrschaft zuerkennt, muß als Hammel in seinem Vaterlande geboren sein. Die Argumente dafür verdienen eher ausgezischt als ernsthaft widerlegt zu werden. Denn es ist gleichermaßen absurd, die Gewalt des deutschen Kaisers aus der Vision des Daniel oder aus den Büchern des römischen Rechts herleiten zu wollen. Auch die Formel, daß der Kaiser niemand über sich anerkennt als Gott und das Schwert, gibt ihm ebensowenig die absolute Herrschaft über die deutschen Fürsten wie einer niederländischen Provinz über die anderen sechs.

Mißt man die deutsche Verfassung an aristotelischen oder römischen Staatsformen, so müsse man sie als »einen irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper« bezeichnen. Die Folge einer solch »disharmonischen Staatsform«, die weder eine eingeschränkte Monarchie noch ein Staatenbund sei, sei fortschreitender Niedergang. Dieser ergebe sich aus den »inneren Umwälzungen des Reiches, da auf der einen Seite der Kaiser nach der Wiederherstellung der monarchischen Herrschaft, auf der anderen Seite die Stände nach völliger Freiheit streben.«282 Daß diese Analyse die Realität traf, mit der Lohenstein und Breslau zu leben hatten, zeigen die Spannungen, die im Zusammenhang mit der Kaiserwahl Leopolds I. auftraten. Offenbar war auch nach dem als Grundgesetz des Reiches gedachten Friedensvertrag von 1648 dem Hegemonialstreben der Habsburger noch nicht Einhalt geboten. Nach der kriegerischen Machtpolitik Ferdinands II. betrieb Ferdinand III. habsburgische Hausmachtpolitik mit diplomatischen Mitteln, indem er seinen zweiten Sohn Leopold (1640-1705) mit der ältesten spanischen Prinzessin Margaritha Theresia283 (1651-1673) verlobt, damit die Vereinigung des Gesamthauses Habsburg in Aussicht genommen und das Reich in die Auseinandersetzung zwischen Habsburg und Bourbon hineingezogen hatte. Conring gehörte zu den Staatsrechtlern, die sich darum bemühten, nach Ferdinands III. Tod verschärfte Klauseln in die Wahlkapitulation zu bringen, wenn die Wahl Leopolds I. zum neuen Kaiser nicht zu verhindern sei. Leopold mußte schließlich 1658 versprechen, Spanien nicht weiter zu unterstützen und alle Bestrebungen zu unterlassen, die auf eine habsburgische Universalmonarchie hinausliefen. In Spohonisbe nimmt Lohenstein zu der 1666 erfolgten und für ganz Europa brisanten Hochzeit Stellung: Im zweiten Reyen setzen die Liebesgötter aus den Buchstaben der vorher aufgetretenen Allegorien die Namen des Brautpaares zusammen und preisen den Anbruch einer neuen goldenen Zeit. Zusammen mit dem letz2X0

281 282

283

Pufendorf: Die Verfassung des deutschen Reiches, S. 23f, vgl. S. 21.

Ebd. S. 101. Ebd. S. 106f. Zu ihrer Darstellung in Lohensteins Arminius vgl. Szarota: Lohensteins Arminius, S. 403 f.

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ten Reyen, in dem die Weltherrschaft des Hauses Österreich gefeiert wird, ergibt sich also eine Parteinahme für den von den deutschen Ständen so gefürchteten Machtzuwachs Habsburgs. Also doch: Lohenstein als Sprachrohr habsburgischer Politik? c) Lohensteins Wiener Mission Als wirtschaftlich erfolgreiche Neugründung hatte es die Handelsstadt Breslau schon im Jahrhundert ihrer Gründung verstanden, sich als Gegenleistung für die Steuern an den Piastenherzog libertäre Rechte zu sichern. Man erhielt 1261 das Magdeburger Stadtrecht, das die direkte Untertänigkeit der Stadtbevölkerung im wesentlichen aufhob: nach diesem Recht wurde der Rat nicht von der Obrigkeit benannt, sondern aus der Mitte der Bürger gewählt. Als im 14. Jahrhundert die Herrschaft der Piastenfamilie so schwach wurde, daß sie sich zum Schutz gegen Polen dem König von Böhmen unterstellte, konnte Breslau auch diesem gegenüber für seine Loyalität eine Reihe weiterer Privilegien aushandeln. Ausdruck der erworbenen Selbständigkeit war u.a. die frühe Einführung der Reformation durch den Rat der Stadt 1523. Bereits wenige Jahre später brachte die Thronbesteigung des Habsburgers Ferdinand I. eine Wende für ganz Schlesien. Für die nächsten 200 Jahre wurde dieses als Nebenland des Königreichs Böhmen in das Herrschaftsgebiet Habsburgs und in das deutsche Kaiserreich eingebettet. Zunächst - bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges - konnten Breslau und die drei Piastenherzogtümer ihre historisch erworbene relative Unabhängigkeit ohne große Konflikte verteidigen. Breslau wurde aber als wichtigster Geldgeber der Habsburger immer wieder für die Bestätigung seiner Privilegien zur Kasse gebeten. Als die Stadt 1636 nach der Nördlinger Niederlage Schwedens, dem sie sich diplomatisch verbunden hatte, gegenüber Wien unter Druck geriet, verlor sie die seit dem 15. Jahrhundert verwaltete Landeshauptmannschaft über Schlesien. Sie mußte auf ein im 16. Jahrhundert gegebenes Pfand von 15.000 Reichstalern samt Zinsen verzichten und sich gegen die Summe von 60.000 Gulden das Recht erkaufen, politisch, militärisch und juristisch aus der nun in die Hände landadeliger kaiserlicher Beamte gegebenen Landeshauptmannschaft herausgelöst und als besonderer Immediatstand Schlesiens anerkannt zu werden, womit man auch den Fortbestand des Protestantismus für absehbare Zeit sichern konnte.21i4 Die Zeit, in der Lohenstein in Breslau wirkte, war für die Stadt wie für Schlesien besonders hart. Wirkungen und Nachwirkungen des Krieges hatten zu regelrechten Auswanderungswellen (vor allem der Leineweber) in den Jahren 1630, 1658 und dann andauernd zwischen 1662 und 1672 geführt. 1672 beklagten die schlesischen Stände, daß der früher blühende schlesische Handel nunmehro in solches Verderbniß gerathen, daß insonderheit die Garn- und Leinwandtmanufacturen vorigen Jahren gehabten werthe nach, nunmehr schier in die helffte abeefali

len. 285 ?lf4 2X5

Vgl.Banet: Vom Trauerspieldichter zum Romanautor, S. 175. Zit. nach Wolf: Steuerpolitik im schlesischen Ständestaat, S. 105.

145

Um diese Situation nicht zusätzlich zu verschlimmern, nahm die kaiserliche Beamtenschaft in konfessionellen Fragen damals Rücksicht; schließlich galt die Stadt Breslau noch immer als einträgliche Finanzquelle Wiens.286 Lohensteins diplomatische Mission an den Wiener Hof »wegen hochwichtiger Affairen gemeiner Stadt«287 im Frühjahr 1675 gilt als Höhepunkt seiner Karriere.288 Größtes Problem zur Zeit seines Syndikats war der Steuerdruck, den Wien der Stadt aufgebürdet hatte. Grundlage für die Steuerhöhe war eine Schätzung aus dem Jahr 1628. Der wirtschaftliche Niedergang Schlesiens, der auch in den 70er Jahren noch anhielt, hatte vor allem in der Stadt zur erheblichen Verringerung der Einnahmen geführt, so daß es zu sog. Non-Entia Physica kam, zu einer Steuerpflicht für Vermögen, das überhaupt nicht mehr vorhanden war. Bürger, die diese Steuerlast nicht mehr aufbringen konnten, zogen unter Verlust ihrer Häuser weg. Breslaus Interesse an einer Universalrevision der Steuer für ganz Schlesien scheiterte an der schlesischen Ständeversammlung. Fürsten und Freiherrn waren nämlich in einer völlig anderen Situation. Ihre ökonomische Grundlage, die Landwirtschaft, erholte sich nach dem Kriege sehr rasch, so daß die seit 1628 geltenden Steuersätze teils hinter dem wahren Besitzstand zurückbliegen. So konnten die gewerbetreibenden Gebiete, v. a. die plastischen Fürstentümer Liegnitz, Brieg, Wohlau, Breslau, Münsterberg und die Stadt in der Ständeversammlung lediglich den Antrag an Wien durchsetzen, die Steuerlasten der benachteiligten Gebiete in einer Teilrevision zu lindern. Wien, am Verlust von Einnahmen natürlich nicht interessiert, war seit 1639 lediglich bereit, für die Zeit bis zu einer Gesamtreform den Benachteiligten ein Drittel der Steuerschuld (Tertia) zu erlassen. Um das Defizit zu decken, mußte Breslau zu weiteren Besteuerungen greifen, was die Misere der städtischen Wirtschaft nur noch verschärfte. Als Lohenstein 1670 das Syndikat übernahm, wareine regelrechte Fehde zwischen Landadel und Stadt Breslau im Gange. Während die Stadt ihre Bücher offenlegte, versuchten Freiherrn und Fürsten, die um eine wenn schon nicht insgesamt verringerte, so doch gerechter verteilte Steuerlast Schlesiens bemühte Stadt mit Vorwänden hinzuhalten. Lohenstein führte in dieser Sache den Schriftverkehr für die Gesamtheit der benachteiligten Stände. Nachdem 1671 die Steuerermäßigung sogar noch reduziert worden war, wurde die Steuersache eines der Themen von Lohensteins Wiener Mission. Seinem Vorschlag an Wien, den jungen Brieger Fürsten Georg Wilhelm mit einer Gesamtrevision zu beauftragen, begegnete man ausweichend. Positiver verliefen Lohensteins Verhandlungen über die Militärhoheit Breslaus. Nachdem die 286

287 288

Vgl. E.Grünhagen: Breslau und die Landesfürsten, II. Unter Habsburgischer Herrschaft, S. 257. Gebauer: Vorrede zu Lohensteins Arminius (1726), S.I-LVI. Bis zum II. Weltkrieg war sie durch die Aktenstücke und Schreiben, vor allem durch die halbwöchentlichen Berichte Lohensteins aus Wien an den Präses Hofmann von Hofmannswaldau und dessen Antworten gut dokumentiert. Nach den Kriegsauslagerungen ist vieles nicht mehr aufzufinden. Immerhin halt Conrad Müller in seinen Beiträgen zum Leben und Dichten Daniel Caspers von Lohenstein wichtige Auszüge dieser Quellen veröffentlicht; vgl. in Anlehnung an Müller: Banet: Vom Trauerspieldichter zum Romanautor.

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Stadt im Kriege zeitweilig vom Kaiser abgefallen war, hatte sie bereits 1639 und 1645 die Einquartierung einer kaiserlichen Garnison verhindern können. 289 Jetzt, in den 70er Jahren, waren in Wien neue Gerüchte über Breslaus mangelnde Loyalität aufgetaucht. In seinem ersten Brief berichtet Lohenstein, er habe vernommen, dasz der Kayserl. Kriegs-Rath eine Intimation an die Königl. böhmische Canzeley gegeben habe, dasz besorglich bei einigem feindlichen Einbrüche die Stadt Breszlau die Neutralität annehmen dörffte.290 Der nächste Brief geht auf die Konsequenz des Gerüchts ein: Nach Angaben des obersten Kanzlers gebe es am Wiener Hof »HOMINES MILITARES, welche über den MAGISTRAT und die Bürgerschaft mit Einlegung einer GUARNISON einen kriegerischen DOMINATUM AFFECTIREN und Ihr: Mayest. in den Ohren liegen. Es könnten derogleichen Anschläge von Niemand anders als welche die Stadt RUINIREN und wie zu Nambszlau und anderen kleinen Städten MILITARI MODO DOMINIREN wollen, herrühren.« Lohenstein wurde mit der Zusage verabschiedet, Wien werde von einer Garnison absehen und gebe sich zufrieden, wenn die Stadt zur besseren Verteidigung eine weitere Oderbrücke errichte. Wichtiger als der kaum zu rekonstruierende Sachverhalt ist die Stimmung in Breslau, denn auf sie müssen die Hinweise auf Leopold oder generell das Kaisertum in Lohensteins literarischen Texten bezogen werden: Der Rat der Stadt hatte ihm eine Instruktion mit auf die Reise gegeben, nach der seine erste Aufgabe sei, den Verdacht der Illoyalität von Breslau zu nehmen, und zwar behutsam und glaubwürdig, um nicht den Eindruck zu erwecken, die Stadt plage Angst vor Wien oder schlechtes Gewissen. Er solle möglichst wenig konkret werden, indem er Ihr Kayserliche Mayestät Lobwürdigste PROTECTION in RELIGIONS- und SAECULARSACHEN und gültigste Regierung, welche die Treugehorsambste Stadt nur in einigen ungetreuen gedancken zu verstellen Niemanden vernünftiges glauben liesze, höchst Preisen [...] und endlich Ihr Kayserliche Mayestät unverrücklicher Treu, gehorsambster DEVOTION, wie nichts minder EVENTUALITER genügsamer DEFENSION dieser Stadt wieder alle feindliche Gefahr versichern. Falls das heikle Thema Garnison aber dennoch zur Sprache komme, solle Lohenstein darauf hinweisen, wie durch Einlegung einer GUARNISON nicht nur die Stadt an sich selbst in Ruin versetzt, sondern auch das gantze Land DISCONSOLIRT, und Ihr Kayserliche Majestät ein grosser Schaden zugezogen werden würde, Indem (1:) die biszherige Erfahrung gewiesen, wie die Handelsz-Städte, darin schon Krigs-GuARNisoNEN kommen, CONSEQUENTER die AUTORITAS MAGISTRATUS gleichsam der bloszen DISCRETION der Commandanten untergeben, die Freiheit der Bürgschaft COERCIRET, denen Einwohnern Tausenderley Ungmach und DESPECT zugezogen worden, abgenommen; welche Last (2:) der Stadt Breszlau soviel empfindlicher sein würde, weil Sie von ettlichen SAECULIS zurück und soweit sich nur 2X9

Vgl. Matthäus: Die Entwicklung der Verfassung und Verwaltung Breslaus (1935), S. 15. -90 Brief vom 3.3.1675, zit. nach Müller, Lohenstein, S. 52f. 291 Brief vom 7.3.1675, zit. ebd. S. 53. 292

Zit. ebd. S. 51. 147

Ihre Annales erstrecken, mit einiger GUARNISON Ihrer Könige und Fürsten nicht beleget!...].293

Nach weiteren Argumenten, die die bereits bisher bewiesene Verteidigungsleistung Breslaus für ganz Schlesien unterstreichen sollen, solle Lohenstein schließlich auf die das Vertrauen zerstörende Wirkung einer Garnison verweisen: Dahingegen (6:) keine SINCERATIONES SUFFICIENT sein würden die Breszlauische Bürgerschaft zu bereden, dasz Sie bey eingelegter GUARNISON nicht denen INJURIIS der Soldaten, der EXTORSION des Commandanten EXPONIRET; ja ihre Religions-Freyheit und PRIVILEGIA zu RESTRINGIREN oder gar zu entziehen nicht angeziehlet werde.

Aus diesen Verhandlungsleitlinien spricht bei aller Versicherung von Treue und Ergebenheit deutlich die Angst vor dem Verlust der relativen Autonomie, ja sogar versteckte Drohung mit zivilem Widerstand. Lohensteins Mission konnte also allenfalls einer von vielen Versuchen sein, das berechtigte gegenseitige Mißtrauen wieder einmal vorläufig zu verringern. Von einer »Versöhnung mit dem Hause Habsburg«295 kann wohl keine Rede sein: Lohensteins Gesandtschaftsberichte geben zu erkennen, daß viel Geld im Spiele war. Neben der Bezahlung des Hofadels ist von schlesischem Tafelzeug, von guter Leinwand, ja von einer Sendung von Lachsen die Rede.296 Insgesamt hat nach Lohensteins Worten die Mission »nichts von anmuthigem Zeit-Vertreibe« gehabt. Er sei in Wien »für vieles Geld schlecht TRACTIRET« worden.297 Offenbar konnte er Wien sogar nur deshalb besänftigen, weil er, auf Anweisung des Rates und mit ausdrücklichem Mißbehagen, daß er Vollstrecker dieses Auftrags sein mußte, über Breslau laufende Kontakte Frankfurts (a.d.Oder) mit Schweden an den Hof verriet. Die folgenden Jahre zeigen dann auch weitere Versuche Habsburgs, Breslau und Schlesien unter seine Kontrolle zu bringen, vor allem über den Weg der allmählichen Durchführung der Gegenreformation.298 Wenn der Rat von Breslau ausgerechnet in der Zeit, in der Wien der Stadt vier katholische Parochien und eine Jesuitenuniversität aufzwang, Kaiser Leopold pries als »einen, den der höchste Gott über alle Häupter des Erdbodens erhöhet und mit noch größeren Tugenden der ganzen Welt zum Wunder und allen Potentaten zum Exempel begäbet«,299 so mag man das allenfalls bewerten als Fügung in die Machtverhältnisse. d) Ambivalenz des Herrscherlobs Im Inhalt ähnlich liest sich die Widmung in Lohensteins letztem Drama Ibrahim Sultan 1673 an Kaiser Leopold anläßlich dessen zweiter Hochzeit mit Claudia Felicitas: 293 294

295 296 297 298 299

Zit. ebd. S. 51 f. Zit. ebd. S. 52. So Banet: Vom Trauerspieldichter zum Romanautor, S. 185. Vgl. Müller: Lohenstein, S. 58f. Brief vom 24.3., vgl. Müller, ebd. S. 60. Vgl. dazu unten Kap. III.l.d. Zit. nach Grünhagen: Breslau und die Landesfürsten, S. 260.

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Allerdurchlauchtigster Großmächtigster/ Unüberwindlichster RÖMISCHER KÄYSER/ auch zu Hungarn und Böheim König/ Allergnädigster Käyser/ König und Herr [...] die Schiffer dörffen sich so sehr nicht beym Ungewitter über dem Anblick der zweyverschwisterten Glück-Sternen/ des Castors und der Helenae; als die Welt bey Jetzigen Sturmwinden über die Vereinbarung beider Österreichischen Sonnen vergnügen. So vieler Völcker frolockendem Zuruffen/ erkühne/ UNÜBERWINDLICHSTER KÄYSER/ ich mich nun auch/ nicht so wohl ein würdiges Opfer/ als ein verächtliches Kennzeichen meiner allerunterthänigsten Pflicht-Schuld beyzusetzen [...] Ich überliefere Fußfällig ein Schauspiel/ nicht so wohl/ weil die gantze Welt einen Schauplatz [...] fürstellet; als weil Ew. KÄYSERL. MAJEST. Helden-Thaten in diesem grossen Schauplatze ein Beyspiel aller vollkommenen Fürsten/ und ein anbethens-würdiges Vorbild der Vollkommenheit bey der Nachwelt zu seyn [...] verdienen. [...] Ew. KÄYSER- UND KÖNIGL. MAJEST. Aller-unthänigst-gehorsamer Knecht Daniel Casper von Lohenstein.300

Das Drama deswegen als »politische Reportage im Dienste des österreichischen Kaiserhauses«301 zu bezeichnen, geht nicht an. Die Widmung dürfte ebenso wie die des Rates von Breslau eine politisch notwendige und konventionell festgelegte Pflichtübung sein. Samuel Pufendorf bewertet solche Reverenzen als typisch für die Widersprüche zwischen Schein und Wirklichkeit der politischen Verhältnisse in Deutschland: Leere Titel, etwa wenn die Stände den Kaiser ihren allergnädigsten Herrn nennen oder wenn sie ihn in den Schlußformeln von Briefen und auch sonst ihres untertänigsten Gehorsams versichern, entspringen dem Zeitgeist und dem Kurialstil; sie haben ebensowenig Bedeutung wie die Ehrenbezeugungen, die einer um so mehr verschwendet, je weniger er zum Handeln bereit ist. Leerer Klang von Worten ist es auch, wenn die Kanzleibeamten in Briefen und Dekreten Lobeshymnen über die Fülle und Vollmacht der kaiserlichen Gewalt singen. Schließlich schwören die Stände dem Kaiser den Treueid nur vorbehaltlich ihrer Freiheiten und Rechte.302

Es verbietet sich also, von solchen Widmungen oder anderen Formen konventioneller Herrscherpanegyrik aus die Frage nach einer »geradlinigen integren Überzeugung«303 zu stellen oder auch auf einen »entschlossen [...] habsburgischen Kurs«304 zu schließen. Man wird eher von der Umsicht sprechen müssen, mit der Lohenstein im Interesse seiner Stadt mit Konventionen umging, die festlegten, wer wann mit welcher Titulatur und welchen Attributen gerühmt werden muß und wie innerhalb solcher Panegyrik Forderungen und selbst Warnungen artikuliert werden können. Justus Lipsius beschreibt dies in seiner Ausgabe des Panegyrikus von Plinius (1600), indem er dessen Wendung »laudando praecipere« zitiert und sie am Beispiel seines Trajan-Lobes erläutert:

300 301 302

303 31)4

Zit. nach Just: Türkische Trauerspiele, S. lOOff. Lunding: Das Schlesische Kunstdrama, S. 136. Pufendorf: Die Verfassung des deutschen Reiches (1667), S. 101 f; vgl. Stadt - Schule Universität - Buchwesen, S. 148ff (Diskussionsbericht). So Mulagk: Phänomene des politischen Menschen, S. 294. Schings: Constantia und Prudentia, S. 425. 149

Zugegeben, er lobt seinen Trajan und ermahnt ihn nicht: aber gegenüber Fürsten ist das Konvention, daß man unter jener strahlenden Ehrenbezeigung sowohl was sie an Gutem tun, anerkenne als auch das andere, was sie eigentlich tun müßten, erkenne. (Ü)305

Johann Heinrich Ernesti lehrt in seinem Compendium Hermeneuticae profanae (1699), man habe beim Lesen von Panegyrik darauf zu achten, daß sie nicht dazu da ist, die Tugenden der zu lobenden Personen zur Schau zu stellen, sondern die Art, wie sie beschaffen sein sollen.306 Andreas Fabricius nennt als Beispiel für die Technik dieser »Dialektik des rhetorischen Herrscherlobs«307 in seiner an zwei Rechtsgelehrte, den Leipziger Schöppenstuhl-Beisitzer und Bürgermeister sowie an den Stadtrichter adressierten Rhetorik die rechte Auswahl von Exempeln: So führe ich lieber tugendhaffte exempel aus ihrem hause als Herculem, Julium Caesarem [...] an, hingegen nähme ich die exempel lasterhaffter Printzen lieber aus dem grausamen alterthum, als aus einem hause davon vielleicht noch nahe anverwandten lebten.

Am besten nachzuvollziehen ist diese Art von Herrscherlob in Lohensteins LobSchrifft. Der Tod des jungen Fürsten Georg Wilhelm bedeutete das Aussterben der Piastendynastie, deren gemeinsame konfessionelle und wirtschaftliche Interessen sie bis 1675 zum wichtigsten Verbündeten Breslaus im Ringen um die alte Autonomie werden ließ. Nun fielen ihre Gebiete Habsburg zu. Der für das Epicedium obligatorische Teil, der den Trauernden eine Perspektive des Trostes vermitteln soll, ist formuliert als Panegyrik auf den Habsburgischen Kaiser, der den verstorbenen Fürsten in seiner Fürsorge für das Land noch übertreffen werde: Es blühet der Plastische Stamm noch in unserm Allergnädigsten Käyser/ als einem Enckel Käyser Friedrichs und seiner Plastischen Mutter. An diesem Trajan unserer Zeit haben wir einen so gütigen/ aber mächtigen Fürsten/ als an dem Verstorbenen. Und da Sisigambis sich in ihrer Gefangenschafft tröstete/ daß sie in der Gewalt eines Alexanders wäre; wie vielmehr haben wir unsers Leides zu vergessen/ da wir aus dem Schooß unsers Landes-Fürsten in die Armen eines Vaters verfallen sind/ welcher uns wegen seiner gegen unsern Hertzog getragenen Liebe/ und auf dem Todbette gethanen Vorbitte mit eitel Gnade überstrahlen würde/ wenn ihm nicht ohne dieß angestammet wäre/ alles/ ausser die Laster/ zu lieben. Gleichwohl aber hoffen wir unsers geliebten Fürstens halber der Käyserlichen Liebe zweyfach zu geniessen; sonderlich/ wenn wir diese heilige Flamme unauffhörlich mit frischem Weyrauche unserer gehorsamsten Treue auffrischen werden.309

Angedeutet ist in dieser Passage die reale Machtsituation: man ist in der Lage eines Gefangenen, man erwartet gnädige Behandlung und man verspricht dafür Loyalität. Hinter den Erwartungen steht aber - wie die folgenden Jahre zeigen - die Be305

306

307 M 309

»Laudat suum Traianum, non monet, fateor: sed hoc decorum apud Principes, ut sub blando eo titulo, et boni quae faciunt, recognoscant; et alii, quae facere deberent cognoscant.« (zit. nach: Warnke, Kommentar zu Rubens (1965), S. 103, Anm. 225. Ernesti: Compendium Hermeneuticae profanae, S. 153: »In Orationibus Panegyricis id probe considerandum est, non exhiberi virtutes laudatarum personarum, quales sint, sed quales esse debent.« Segebrecht: Die Dialektik des rhetorischen Herrscherlobs. Simon Dachs Letzte FlehSchrifft (\982) Fabricius: Philosophische Oratorie, (1724), S. 91. Lohenstein: Lob-Schriffifo\.):(5.

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fürchtung, der Besitzwechsel werde zum Verlust alter Privilegien führen. Der Inhalt des Epicediums ist ein Lob nicht nur des verstorbenen jungen Fürsten, sondern ein Lob jahrhundertelanger plastischer Herrschaft, die im Gegensatz zu den Großmächten (unverfängliches Beispiel Nero) stets eine Politik des Ausgleichs, der innerstaatlichen Kooperation und des außenpolitischen Friedens betrieben habe. Wenn man nun »die Knie Unsers allergnädigst. Kaisers« umarmen will, »umb selbten uns zum Vater zu erbitten/ der es zeither so vieler Völcker/ und zugleich Unser Ober-Herr gewest ist«,310 so fordert man damit die Fortsetzung dieser Politik als Preis für die eigene loyale Unterwerfung. Panegyrik ist die Verbindung von Herrscherlob und Eigenerwartung, die Form für die Art, in der Herrscher und Untergebene in gegenseitiger Anerkennung ihrer Rollen aufeinander angewiesen waren. Lohensteins Distanz zu Habsburg wird wohl auch augenfällig, wenn man die Habsburg-Panegyrik seiner Dramen mit den >ludi caesarei< vergleicht, die mit großem Aufsehen in Wien inszeniert wurden. Nicolaus Avancinis Pietas victrix, sive: Flavius Constantinus Magnus de Maxentio Tyranno victor ist ein Gegenangriff gegen Vallas vom Protestantismus aufgegriffene These, die konstantinische Schenkung sei Betrug. Avancini schafft dem gegenüber geradezu ein Drama zur Affirmation der >Translatio Imperiires pubtica< Breslau steht also nicht in Widerspruch zur Apotheose Leopolds als Nachfolger Augustus' am Ende des Dramas. Beides signalisiert vielmehr antiabsolutistische, libertäre Tendenzen und entspricht darin der während der Handlung sichtbar werdenden Kritik an absoluter, das natürliche Recht der Völker mißachtender Machtpolitik, die ja ebenfalls auf Habsburg bezogen werden konnte, man denke an die Kritik der die Eheinstititution pervertierenden Heiratspolitik, man denke vor allem an die Darstellung der Pogrome kaiserlicher Besatzungstruppen im IV. Akt von Cleopatra. Das Breslauer Publikum mußte sie geradezu als Verstärkung seiner eigenen Angst vor der drohenden Einquartierung kaiserlicher Truppen bzw. das Einhaltgebieten des Augustus in den letzten Szenen als Appell an Kaiser Leopold verstehen. Das Schlußbild des Dramas faßt die Dialektik von Fürstenlob und Fürstenkritik zusammen: Augustus auf dem Zenit der Macht steht vor dem »engen Sarche« Alexanders (C V/746). Vergänglichkeit politischer Macht steht gegenüber der Unvergänglichkeit von Tugenden. Die 313 314 315

Vgl. Hans Casper von Lohenstein: Lebens-Lauff, fol. A6. Zitate nach Wolf: Steuerpolitik im schlesischen Ständestaat, S. 2. Buckisch (vgl. oben Kap. I.l.c): »Quaestio II Num Silesia, Patria mea dulcissima, olim sub Imperio fuerit Romano-Germ, (qua de re alias apud Historicos etiam alios Viros doctissimos, ceu liquet ex Nicol. Henelii Silesiograph. cap. 7 altum est silentium) et in qua ratione Bohemiae incorporata?« (zit. nach: Gottschalk: Leben und Wirken des Gottfried Ferdinand Buckisch, S. 99).

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Übertragung der Vanitas-Idee auf die Politik erfaßt selbst die Verherrlichung der Habsburger Weltherrschaft. Wenn Leopold mit Alexander, Caesar und Augustus verglichen wird, dann muß auch der Verfall Roms seinen Schatten auf den Habsburger werfen. Im Triumph von Donau und Rhein über den hochmütigen Tiber wird diese Perspektive zumindest angedeutet (CV/824f;831). Gleiches findet sich in anderen Werken: In Sophonisbe zeigt sich die Ambivalenz der Übertragung römischen Ruhms auf das Habsburgerreich im Verhältnis der Vision Didos zum Schlußreyen. Der Triumph des Römischen Reiches, das nach der Translation auf Deutschland und dann auf Österreich im Schlußreyen zur Ankündigung der Kontinente führt, Habsburg werde »ewig uns stehn für« (SV/689), ist längst vorher bereits als Ideologie entkräftet worden: durch die Vision Didos zu Beginn des letzten Aktes: Rom/ das die Dienstbarkeit der Welt Für himmlisches Verhängnüs hält/ Wird seinen Stamm selbst in die Eisen schlagen. Ich sehe's Joch schon seinen Enckel zihn. Alleine Palmen Glück und Siege Solln auch den Römern nicht stets blühn. Die Sicherheit wird Rom nach diesem Kriege In Schlaff und Faulheit wiegen ein; Das Geld/ das Volck/ die Macht den Adel blehen auf; Die Tapferkeit der Wollust Dienst-Magd sein/ Rom sporn-streichs in Verterb beschleunigen den Lauff. (S V/134 ff)

Eine ganze Kette von einander ablösenden Nachfolgern von den Goten bis zu Karl V. und Leopold wird genannt. Aber eben diese Kette läßt auch Habsburg als nur begrenzte, historische Macht erscheinen. Daß Staaten zugrunde gehen, schwach gewordene durch an Klugheit oder Macht überlegene, starke an ihrer Hybris und Morallosigkeit, ist das durchgehende Thema aller Trauerspiele Lohensteins. Spellerberg will davon die Römischen Trauerspiele ausnehmen; sie behandeln seiner Meinung nach »die Erhaltung etablierter Macht«.316 Aber auch dort wird von Anfang an der Zerfall deutlich. Im I. Reyen von Epicharis verkünden die Wahrsager: Des Reiches Ruh zerfällt Und Rom das Haupt der Welt Wird sich durch Zwytracht theilen. (E 1/787ff)

Im II. Reyen vereinbaren Glück, Klugheit und Zeit als Gehilfen des Verhängnisses »Neronens Fall« (E 11/569). Sein Untergang solle lehren, daß auch die Macht untergehen kann, die »an dem Himmel gleich mit göldnen Ketten henckt« (E 11/560), daß das Verhängnis »auch Riesen tödten kan« (EH/568). Auch wenn Nero sich noch halten und die Aufständischen allesamt vernichten kann: »Die Sense greift schon seine Lorbern an.«(E 11/572) Der IV. Reyen entwirft dann wiederum die langfristige historische Perspektive: Die Kontinente klagen über Roms Joch; die Sibylla 316

Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 167. 153

führt ihnen eine Vision vor Augen: Wilde Tiere zerstören Stück für Stück das goldene Bild Roms: Itzt tritt ein Löw ein güldnes Bild zugrunde; Ulyßes schläft bey der Siren itzt ein. Nun beißt ein Fuchß dem Bilde Narb und Wunde; Die Natter sticht itzt bis auf Marck und Bein. Itzt wil ein Äff erst mit ihr Kurtzweil treiben/ Nun wil es gar ein Basilißk aufreiben. (E I V/683 ff)

Das Bild, so wird erklärt, sei Rom, Caesar der wilde Löwe, Augustus die täuschende Sirene, Tiberius der hinterhältige Fuchs, Cajus die vergiftende Natter, Claudius der törichte Affe, Nero der Basilisk. Doch die Vision geht weiter: Rom sieht die anschließend kommenden Herrscher ebenfalls als wilde Tiere, die es kratzen, aussaugen und schließlich zerfetzen. Die Kontinente sind zufrieden: Wol! wol! Die gerechte Rache Nimmt sich unser gutten Sache Mit gewünschtem Nachdruck an. Ja nun Rom nur muß erfahren: Daß kein Wolf geraubte Wahren Ohne Schmertz verdeihen kan; (E IV/739ff)317

Seit dem Humanismus faszinierte neben der Größe Roms auch sein Untergang. Die ideologische christliche Geschichtskonzeption wurde von der zyklischen der Antike überlagert. Die Roma aeterna war zum Paradigma geworden, an dem man das Funktionieren und Scheitern der Verwaltung politischer Systeme studieren konnte. Lipsius zieht die Parallele zum Scheitern der habsburgischen Macht in den Niederlanden: So gehets/ auch mit den Städten und Königreichen/ die fangen an/ wachsen/ stehen/ grünen und blühen: und das alles darumb/ das sie dermal eine fallen und zerfallen sollen [...] Wo ist die mechtige Stadt Rom selbst( die über alle Länder unnd Völcker zu gebieten gehabt/ unnd von welcher die Römischen Poeten feischlich geweissaget/ das sie ewig sein und weeren würde? Sie ist zerrissen/ mit Koht verschüttet/ verbrennet/ überflösset/ und auf mancherley weise umbs leben gebracht.318

Während Machiavelli Bestand und Untergang von Staaten auf die Staatsklugheit des Herrschers zurückführt, behält der christliche Humanismus die ethischen Positionen des mittelalterlichen Herrscherbildes bei: Gottes Weisheit, so Lipsius, bestraft langfristig frevelhaften Umgang mit der Herrschaft, so auch im Falle Roms:

317 318

Vgl. dazu auch A11/539ff u.Anm. Lipsius: Von der Bestendigkeit (De constantia), fol.46r, 46v-47r; vgl. Lipsius: Admiranda, sive de magnitudine romana (1598); für Lohensteins Zeit: Johann Friedrich Furtenbach: De Metamorphosibus Regnorum et Republicarum, oder von Auffnahm/ Erhaltung und Untergang der Keysertumb/ Königreichen/ Fürstenthumb und Länder. Franckfurt 1656; Johannes Joachimus Becker: Politischer Discours von den eigentlichen Ursachen des auff und abnehmens der Städte/ Länder und Republicken. München 1668, 2. vermehrte Aufl. 1672.

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also strafft auch GOTT in den Herrschafften und Königreichen die alten und vorlengst begangene Missethaten. [...] Sollten aber jene Martialische Wölffe (die Römer) umbsonst vor zeiten so viel Städte umbgekehret/ so viel Scepter zerbrochen; sollen sie umbsonst so viel Bluts vergossen haben/ und sollen sie nimmer Haar lassen dürffen; So wolle ich fürwar bekennen und sagen, das kein Go« were [...] Aber dem ist nicht also.319

Lohenstein läßt im Arminius Scipio angesichts des niederbrennenden Carthago zur gleichen Einsicht kommen. Seine dialektischen Überlegungen erinnern an die Schlußszene von Cleopatra, die einen nachdenklichen Sieger Augustus zeigen, und könnten am Ende von Sophonisbe stehen: Scipio selbst konte sich nichl enthalten mit seinen Thränen die nach siebentägichten Flammen glühenden Brände dieser sieben hundert Jahr/ (welches schier das längsle Ziel langer und grosser Reiche zu seyn pflegt) geblüheten/ und nun in der Asche liegenden Stadt auszuleschen. [...] So konte ihm auch Scipio leicht die Rechnung machen: daß die gerühmte Ewigkeit der Stadt Rom ein Traum der Uhrheber wäre [...] Über diß behertzigte Scipio/ mit was Unrecht Rom diß Kriegs-Feuer durch die halbe Welt ausgestreuet halle; und daß die götlliche Rache insgemein den in dem glüenden Ochsen brate/ der solchen für ändern gegossen hat. (Arm. (I/886a-887a)

Was Scipio anspricht, den selbstverursachten Untergang Roms, ist ja insgesamt die Handlung des Arminius. Mehr als die Dramen verhindert dieser Roman geradezu die Identifikation von Deutschem Reich und Römerreich; denn Rom und Augustus, üblicherweise Symbole des mittelalterlichen Reichsgedankens, erscheinen hier als Gegner Germaniens. Alle größeren weltgeschichtlichen Ereignisse gehen nach der Handlungsführung des Romans nicht auf römische, sondern auf germanische Initiativen zurück;320 und nicht Augustus, sondern Feldherr Arminius, der Held des Romans, erscheint als Präfiguration Kaiser Leopolds. Genau das aber ist ein Politikum! Arminius spielt für die Entstehung des humanistischen deutschen Geschichtsdenkens und seiner veränderten Reichsidee eine wichtige Rolle. Wie die italienische Historiographie im 15. Jahrhundert ihre eigene Geschichte neu entdeckte und sich dadurch von der auf das römisch-deutsche Kaisertum fixierten christlich-mittelalterlichen Geschichtskonstruktion befreite, so entdeckte im 16. Jahrhundert der deutsche Humanismus die eigene, deutsche Geschichte über die Rezeption von Tacitus.321 Conrad Celtis (1459-1508) gab 1500 die Germania heraus und plante eine Germania illustrata, eine phantasievolle, die Geschichte klitternde Städte- Landschafts- und Kulturbeschreibung, die den Ursprung des deutschen Reiches nicht mehr in Rom, sondern im Germanentum auffinden wollte. Bestimmend wurde dann aber der Dialog Arminius (1519/20), mit dem Hütten eine deutsche Symbolfigur schuf. Während nach seiner Deutung die Nachfolge Roms und damit die Nachfolge der römischen Völkerknechtung vom Papsttum angetreten wurde, ist Arminius der Begründer der deutschen Rom-Unabhängigkeit und des spezifisch deutschen libertären Staatswesens. 319 320 321

Lipsius: Von der Bestendigkeit (De conslanlia), fol. 12 -122'. Vgl. Asmuth: Lohenslein, S. 64. Vgl. Krapf: Germanenmylhos und Reichsideologie (1979). 155

Lohenstein übernimmt dieses Gegenüber von römischer Unfreiheit und germanischer Freiheit. In der Zuschrifft des Romans erscheinen Rom - ganz reformatorisch - geradezu als Reich des Antichristen und Arminius als Erlöser: »Dieser deutsche Held zohe Ihm und seinen Landes Leuten das Römische Joch vom Halse/ darunter viel Könige seuffzeten.« (Zuschrifft, fol.bl v ) Der Schachzug, den Lohenstein hier vollzieht, ist raffiniert. Bisher hatte Arminius nur in der Geschichtsschreibung der protestantischen Stände eine Rolle gespielt, und zwar antikaiserlich und antipäpstlich. Indem der Protestant Lohenstein den Kaiser damit beehrt, sich in Arminius wiederzufinden, formuliert er ein neues, von Papst und Rom unabhängiges Kaiserbild. Er entspricht damit dem von Conring und Pufendorf vertretenen Bild eines deutschen Reiches, das sich nicht aus der Romnachfolge legitimiert, sondern ein eigenständiges Staatswesen ist, das auf Freiheit und Treue des germanischen Volkes gründet. Der Roman folgt damit sowohl den neuzeitlichen Lehren der Volkssouveränität als auch den zeitgenössischen Machtverhältnissen: einem Kaisertum, das Wahlkaisertum ist, also nicht Souverän, sondern oberster Diener des Souveräns. Dies wird besonders deutlich anhand eines Motivs, das Lohenstein im Laufe des Romans siebenmal einsetzt, und das ihn sogar dazu führt, den Roman in wesentlicher Abweichung von den historischen Tatsachen enden zu lassen: der Abdankung.322 Während der historische Arminius wegen angeblichen Strebens nach der Krone von seinen Verwandten ermordet wurde, wird er bei Lohenstein gerettet, dankt als Feldherr der Cherusker ab und bescheidet sich mit der Führung eines Teils der bisher ihm untergebenen Völker. Dieses »glückliche Ende« hat sicher mit den Gattungsgesetzen des Romans zu tun,323 gibt aber auch wichtige Aufschlüsse über Lohensteins Herrschaftsauffassung. Zwei Abdankungen erregten zu seinen Lebzeiten besonderes Aufsehen: die der Königin Christina von Schweden (1654) und die des Polenkönigs Jan Kasimir (1666). Prototyp für die Diskussion über Abdankungen blieb aber im 17. Jahrhundert die Abdankung Kaiser Karls V.324 Alle drei Fälle hat Lohenstein, in mehrfachen Spiegelungen und auf mehrere Figuren verteilt, in seinem Roman behandelt. Einem zeittypischen Topos entsprechend werden die Abdankungen im Roman als Handlungen der Einsicht in die Nichtigkeit der irdischen Macht und Umkehr zu kontemplativer Vorbereitung auf das ewige Glück, in erbaulicher Funktion also interpretiert.325 Aber bei Lohenstein kommen gerade da, wo er die abdankenden Figuren mit Kaiser Leopold assoziiert, auch politische Argumentationen ins Spiel. Marcomirs Abdankungsrede liegt die authentische Rede Karls V. zugrunde, zugleich werden aber die Details so verändert, daß sie auf Leopold zutreffen:326 Nach322

323 324 325

326

Vgl. Szarota: Lohensteins Arminius als Zeitroman, S. 332-355, S. 403; Szarota: Lohenstein und die Habsburger, S. 303ff. Asmuth: Lohenstein, S. 63. Vgl. auch Anm. zu EI/404. Vgl. dazu das 1641 in der Augsburger St. Salvatorschule aufgeführte Jesuitendrama Kaiser Karls V. Abdankung; vgl. Layer: Musik und Theater in St. Salvator (1982). Vgl. Szarota: Lohensteins Arminius als Zeitroman, S. 26.

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dem Marcomir zunächst religiös argumentiert hat, geht die Argumentation auf die »niederen Ursachen«, die zur Abdankung motivieren können, ein. Zeno, dem die religiösen »Geheimnisse zu hoch sind«, ergreift das Wort. Lohenstein vollzieht damit den gleichen Schritt, den Grotius in seiner Naturrechtslehre vollzogen hat: zur rein weltlichen Diskussion von rechtlichen und politischen Fragen unter der Akzeptanz einer übergeordneten, aber ausgesparten theologischen Ebene. Das entscheidende Argument ist nun die verminderte Leistungskraft des alternden Monarchen: Denn wie das greisse Alter durchgehends einem lecken Schiffe und faulen Hause ähnlich wäre/ also Hesse sich von einer zitternden Hand das Steuer-Ruder eines Reichs übel führen/ [...] Ein allzu alter Fürst würde gleichsam wieder zum Kinde/er glaubte allen Hoff-Heuchlern [...] Die Diener sündigten ohne Furcht, Hessen ihnen auch noch wohl ihre Verbrechen belohnen. (Arm. I/140b)

Am Ende des Romans bezieht sich Arminius auf die Abdankung Marcomirs. Durch die Assoziationskette (Marcomir - Leopold) - (Arminius - Leopold) wird die Aktualität der Thematik noch einmal unterstrichen. Arminius handelt nun nicht in weiser, religiöser Einsicht; er strebt auch nicht ein kontemplatives Einsiedlerleben an wie Marcomir oder Ariovist; er handelt vielmehr unter dem Druck der politischen Ereignisse, unter dem Eindruck eines Attentats, dem er gerade entkommen ist: Sonsten dient mir der grosse Marcomir zum Exempel/ als welcher nicht mehr Deutscher Feld-Herr zu seyn begehrte/ sobald ihn dünckte/ daß sein Reichs-Apffel von der Eris mit dem ihrigen außgetauschet worden; weßwegen er denn solchen seinem Bruder Ingram willigst überließ [...]. (Arm. II/1636b-1637a)

Der Hinweis auf Eris, die Göttin der Zwietracht und ihren Zankapfel, in den sich der Reichsapfel verwandelt habe, bezieht sich auf Kaiser Karls V. Versuch, ein spanisch-österreichisches Habsburger Universalreich zu errichten. Karl V. scheiterte aber am Widerstand der deutschen Reichsfürsten, so daß er resignierte, seinem als Universalerben vorgesehenen Sohn Philipp II. das spanische Reich und der deutschen Kurfürstenwahl entsprechend das Deutsche Reich seinem Bruder Ferdinand I. übergab. Auf der Ebene der Romanhandlung bedeutet die Anspielung auf die ZwietrachtGöttin das Mißtrauen, das die Verwandten der ihnen zu groß gewordenen Herrschaft des Arminius entgegenbringen. Sie werfen ihm vor, der Germanen »wohlhergebrachte Freyheit zu kräncken« und sie »zu Leibeigenen zu machen« (Arm. II/ 1636). Arminius weist zwar solche Absichten von sich; um aber dergleichen Übel ins künfftige zu verhütten/ will ich hiermit meine Herrschafft über euch niederlegen und gerne mit der Botmäßigkeit über die Marckmänner/ Semnoner/ Langobarden und Marsinger/ so noch nicht das geringste Mißfallen über meiner Regierung bezeuget haben/ vergnügt seyn; nur/ damit meine Neidersich nicht beschwerden dürffen/ daß sie bey meinem Wachstum/ wie die übelriechenden Zwibeln bey zunehmendem Mond/ abnehmen müssen. [...] Ich will [...] allein durch Verschenckung einer Cron erweisen/ daß ich weniger Sehnsucht nach dergleichen Beschwerdung trage/ als man sich bißher eingebildet hat. (Arm.II/1636a-b)

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Überträgt man diese Entscheidung auf Kaiser Leopold L, so kann sie wohl nur als Stellungnahme zu dem von den deutschen Reichsständen verhinderten Versuch der Wiedervereinigung der spanischen und österreichischen Linie Habsburgs zu verstehen sein. Leopold würde damit zugestanden, daß er keine machtpolitischen, die deutschen Fürsten erdrückenden Absichten gehabt habe. Der unter dem Druck der Wahlkapitulation ihm abgerungene Verzicht auf die Beherrschung Spaniens wäre, wohlwollend interpretiert, weise Selbstbeschränkung, die das Vertrauen als einzige mögliche Basis für eine gute und langfristig erfolgreiche Politik ansieht. Es kann wohl nicht um einen politischen Rat an den Kaiser gegangen sein, sondern um die Vermittlung eines Reichs- und Kaiserbegriffs an das Umfeld Breslaus und Schlesiens, eine Art Leitlinie, ausgegeben von der Breslauer Stadtregierung, um Aggressionen zu kanalisieren, die durch die politische Lage der Stadt und des Umlandes, zumal seit der Vereinnahmung der Piastenfürstentümer durch Habsburg, nun einmal vorhanden waren. Bei aller Loyalität, die die wohlwollende Darstellung der Habsburgischen Position dem Publikum nahelegte, sind die Elemente des städtischen Autonomiestrebens nicht zu übersehen: damit ist weniger der in der Geschichte des Arminius vorhandene Hinweis auf die Gefahr eines Tyrannensturzes,327 etwa bei unklugem Verhalten eines Regenten, gemeint. Entscheidender ist die staatsrechtliche Position des Arminius: er ist gewählter Feldherr und als solcher vom Vertrauen seiner Untertanen abhängig. Die ganze Abdankungsdiskussion des 17. Jahrhunderts hängt ja zusammen mit der Diskussion der Reichsverfassung328 und dem neuen Herrscherbegriff, den die Lehre von der Volkssouveränität in Überformung des christlichen Herrscherbildes gegen die Vorstellung von absoluter Herrschaft entwickelt hat, nach der Territorium und Untertanen als Herrschereigentum angesehen wurden. Marcomir und Arminius sehen den Herrscher nicht als Besitzer seines Reiches, sondern als Inhaber eines Amtes, aus dem jeder, wenn die Anforderungen des Amtes es erfordern, abzutreten habe. Am Negativbeispiel des Augustus wird dieser staatsrechtliche Aspekt besonders deutlich: Er erscheint als Exempel eines »veralternden Käyser[s]« (Arm.II/lla) , der ehemals als »Wunder des Volckes« galt, nun aber zum »Gelächter«(Arm. I/141a) geworden sei, weil er nicht rechtzeitig abgetreten sei. An anderer Stelle wird geradezu republikanisch argumentiert: die lange Regentschaft des Augustus habe das Volk entpolitisiert, ihm das Bewußtsein genommen, daß es selbst der Souverän sei, so daß es sich bei seinem Tode als hilflos und zur Eigenregierung unfähig erwies: Rom erinnerte sich zwar/ aber nur wie im Traume seiner verlohrnen Freyheit. Ein Volck sähe das andere/ und zu Rom ein Bürger den ändern an. Jeder bildete ihm ein/ der andere würde sich der gemeinen Noth annehmen/ niemand aber hatte das Hertze, etwas selbst zu 127

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Vgl. dazu Arm. I/1077b: Britton (Carolus Stuardus) wird vom Gericht der Revolutionäre vorgeworfen, »daß er aus einem mit gewissen Richtschnuren umschränckten Fürsten/ sich zu einem nach eigner Begierden herrschenden Wütterich gemacht/ den alten Gottesdienst/ die Freyheit und die Grundgesetze des Reiches zerstören wollen/ wieder den Rath und das Volck einen blutigen Krieg geführet/ [...]«. Vgl. Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte Bd. II, S. 66.

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thun; Und darmit verschwand allen die Gelegenheit/ sich in bessern Stand zu versetzen/ unter den Händen. Zu Rom hatte das Römische Volck bey so langer Herrschaft des Augustus ohne Furcht gelebt: daß er iemahls sterben würde; Nunmehr aber erschreckte sie sein Fall so sehr: daß sie ihnen weder zu rathen/ noch zu helffen wüsten. Denn es lebte niemand/ welcher das freye und tugendhaffte Rom mit Augen gesehen hatte; in welchem ein Bürger so viel sagen dorffte als der ander/ und ieder fähig war einem Könige zu gebieten. Die ältesten waren bey den jämmerlichen Bürger-Kriegen/ alle andere unter der Herrschafft eines Menschen gebohren. Also wurden die wenigen für Thoren gehalten/ welche meinten: es wäre nu Zeit sich der alten Freyheit wieder zu bemächtigen; welcher die knechtischen Römer selbst nicht mehr fähig waren. (Arm. II/943b)

Diese Analyse der zum Untergang Roms führenden Staatskrise legt die Volkssouveränität nicht nur einer Wahlmonarchie zugrunde, sondern fordert auch die aktive Beteiligung der Bürger als Voraussetzung eines gesunden Staatswesens. Natürlich darf man das nicht anachronistisch deuten als Plädoyer für eine demokratische Staatsform. Aber man wird es deuten können als Ausdruck des Selbstverständnisses einer Beamtenschicht, die sich als Teil der Obrigkeit begreift, mit dem Instrument des Rechtes die Interessen der Allgemeinheit gegenüber den Machtinteressen der Fürstenwelt vertritt und damit für sich in Anspruch nimmt, wie die Fürsten, ja als Arm der Gerechtigkeit vielleicht sogar noch mehr als jene, im Auftrag Gottes zu handeln.

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III. »Lingua et mente« Dichtung als Selbstdarstellung des juristischen Beamtentums

l. Jurisprudenz und Theologie a) Jurisprudenz zwischen Klerus und Laien Im Jahr 1667, also nachdem Lohenstein bereits fünf seiner Dramen verfaßt hatte, und ein Jahr, bevor er seine Beamtenlaufbahn beginnen konnte, stellte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), um sich beim Revisionsgericht des Kurfürsten von Mainz als Rechtsgelehrter zu empfehlen, den Entwurf einer Studienreform für Juristen vor: Der Methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae formuliert den Kerngedanken seiner späteren Rechtsphilosophie: Die Theologie ist ein Teilgebiet der allgemein aufgefaßten Jurisprudenz, sie beschäftigt sich nämlich mit Recht und Gesetzen, die im Staatswesen, oder besser gesagt, im Reich Gottes über die Menschen gelten. [...] Kurz, nahezu die ganze Theologie leitet sich zu einem großen Teil aus der Jurisprudenz ab. (Ü) 1

Diese Zuordnung verrät Verschiebungen, die sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Wissenschaftssystem vollzogen. Die Jurisprudenz hatte seit dem 16. Jahrhundert eine deutliche Aufwertung erfahren gegenüber der bis dahin kultur-leitenden Wissenschaft Theologie. Letztere blieb zwar weiterhin der Tradition gemäß die dem Rang nach erste Wissenschaft; die Impulse aber gingen aus von der Jurisprudenz, die sich in zunehmendem Maße fundamental verstand, als Wissenschaft vom geordneten zwischenmenschlichen Zusammenleben. »Ihre Anregungen und Bedürfnisse - mußten andere Disziplinen ihr doch vor- und zuarbeiten -veränderten die Universitäten und den Wissenschaftsaufbau insgesamt.«2 Sie veränderten auch das soziale Leben, so daß Ulrich von Hütten schon 1521 geradezu eine Allmacht des Juristenstandes feststellen konnte: Überall sind sie, an den Höfen der Fürsten, in Stadt- und Gemeinderäten, in öffentlichen Versammlungen und privaten Beratungen, im Heer, zu Hause, in Krieg und Frieden, ja ohne sie ist das Regieren nicht denkbar. (Ü)3 1

2 3

»Theologia species quaedam est Jurisprudentiae universim sumptae, agit enim de Jure et Legibus obtinentibus in Republica aut potius regno Dei super homines [...] Breviter tota fere Theologia magnam partem ex Jurisprudentia pendet.« Leibniz: Nova Methodus, Pars II, § 5, A VI-l,294f; zit. nach Schneider: Der Plan einer >Jurisprudentia Rationalis< bei Leibniz, S. 555. Hammerstein: Reichspublizistik und humanistische Tradition, S. 72. Hütten: Praedones-Dialog: »ubique sunt, in principum aulis, in civitatum senatibus et decuriis, in publicis conventionibus et privatis consulationibus, militiae, domi, in bello et in pace, neque sine his gubernatio est.« Zit. nach Burmeister: Das Studium der Rechte, S. 13.

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Nachdem der Dreißigjährige Krieg die mittelalterlichen Ordnungen endgültig und die humanistischen Neuansätze vorübergehend zunichte gemacht hatte, ging der Neubeginn des gelehrten Lebens anders als zur Zeit des Humanismus »von EINER Disziplin aus - der Jurisprudenz.«4 Der Grund für diese die anderen Kulturbereiche mitreißende Dynamik liegt in den vielfältigen politischen Veränderungen nach dem Ende des Krieges. Die Territorien erreichten in vielen Bereichen Selbständigkeit, entwickelten ihre eigene Rechtsordnung und begannen, ihre eigenen Verwaltungsapparate aufzubauen. Nirgends in Europa war der Bedarf an qualifizierten Juristen so groß wie im Deutschen Reich, weil es in Hunderte von Herrschaften aufgesplittert war. Der allein schon durch seine Zahl starke Juristenstand »erfüllte hinfort die Funktion, die im 16. Jahrhundert die Reformatoren, die Pastoren, die Fürsten und ihre theologisierenden Ratgeber gehabt haben«, nämlich »die in Bewegung geratenen, aufgewühlten und fast chaotischen Verhältnisse« zu konsolidieren.5 Dennoch kann von einer Ablösung der Theologie durch die Jurisprudenz als leitende Wissenschaft nicht ohne weiteres gesprochen werden. Entstanden war die neuzeitliche Wissenschaft vom Recht bereits im frühen Mittelalter, und zwar im Umkreis der oberitalienischen Stadtstaaten. Aus praktischem Interesse griff man dort auf das von Justinian kodifizierte Römische Recht zurück, das die Glossatoren und Kommentatoren philologisch rekonstruierten und auf seine aktuelle Anwendbarkeit hin interpretierten. So entstand im 12. Jahrhundert »ein neues Bewußtsein von Recht als Wissenschaft und gelehrter Disziplin, das in Schriftlichkeit und der Bindung an einen geschlossenen Berufsstand sich ausdrückt.«6 Noch im gleichen Jahrhundert machte sich die Römische Kirche die neue Wissenschaft zu eigen. In bewußter Parallele zum antiken Corpus Juris Civilis entstand das Corpus Juris Canonici. Sein umfangreichster, zentraler Teil ist das Decretum Gratiani (um 1140), eine Sammlung von Beschlüssen der Konzilien, Synoden und Päpste. Die großen Juristenpäpste Alexander III. (1159-1181) und InnozenzIII. (1189-1216) fügten eine Flut von päpstlichen Rechtssprüchen, die Dekretalien, hinzu. Die Entstehung dieses wissenschaftlich immer weiter verfeinerten und mit Römischem Recht angereicherten Gesetzgebungswerkes war »Ausdruck eines tiefgreifenden Strukturwandels der abendländischen Kirche. Ihre geistige Autorität nahm immer mehr die Züge einer im Recht gegründeten Hoheit an, und das priesterliche Amt wandelte sich zur Jurisdiktionsgewalt. Der Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums erschien in dieser Rechtskirche nur noch als ein unwesentliches Anhängsel.«7 In Deutschland wurde, anders als in vielen europäischen Ländern, zunächst nur das gelehrte Kirchenrecht rezipiert, das freilich das römische Zivilrecht und vor allem seine Formen in sich aufgenommen hatte. Die deutschen Rechtsstudenten kamen im 13. Jahrhundert in großer Zahl nach Oberitalien, »um den Nachwuchsbedarf für die geistlichen Gerichte zu decken.«8 Sie wurden, wo die kirchlichen Wür4 5 6 7 8

Hammerstein: Reichspublizistik, S. 72. Hammerstein: Jus und Historic, S. 40. Ott: Rechtspraxis und Heilsgeschichte, S. 30. Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 2, S. 11. Ott: Rechtspraxis und Heilsgeschichte, S. 30. 161

denträger Lehensherren oder Stadtherren waren, im Bereich der kirchlichen Verwaltung als Stadtschreiber, Rechtsberater oder Unterhändler eingesetzt.9 Erst der Ausbau des dem weltlichen Laiengericht weit überlegenen kirchlichen Gerichtswesens, das für kirchliche Besitz- und Personalfragen, vor allem aber für Ehe- und Testamentsachen zuständig war, brachte das gelehrte Recht nach Deutschland.10 Als dann im 14. und 15. Jahrhundert Städte und weltliche Landesherrn ebenfalls in zunehmendem Maße Juristen beschäftigten, fand man auch unter ihnen nur ganz selten Nichtgeistliche. Der KLERIKERJURIST war der Karrierist dieser Jahrhunderte. »Das juristische Doktorat wurde eine dem theologischen gleichwertige, wenn nicht sogar bevorzugte Voraussetzung für den Eintritt in die Domkapitel«." Domherren und gar Bischöfe wurden Kanzler bei bedeutenden Fürsten; umgekehrt war oft »das Amt eines fürstlichen Rates oder Kanzlers [...] Sprungbrett zur Bischofswürde.«12 Wir haben also bereits für das späte Mittelalter eine Interferenz von Theologie und Jurisprudenz festzustellen, die sich in dieser Zeit auch literarisch niederschlägt. Als Beispiel sei der sog. Belial, die Consolatio peccatorum seu processus Luciferi contra Ihesum Christum (1382), des Klerikerjuristen Jacobus de Theramo erwähnt. Norbert H. Ott hat in seiner grundlegenden Untersuchung der Überlieferung nachgewiesen, daß in Sammelhandschriften der Belial sowohl zusammen mit ausgesprochenen Rechtsbüchern erscheint, mit dem Schwabenspiegel, verschiedenen Stadtrechten, der Goldenen Bulle, Judeneiden, juristischen Formelbüchern, Sammlungen juristischer Sinnsprüche, als auch in der Umgebung geistlicher Texte, etwa Paternoster-Auslegungen, Credo, Ave Maria, Meßauslegung, Bußpsalmen, Gebeten, Legenden, Perikopen.13 Ott schließt daraus, daß das Interesse an den deutschen Übersetzungen bestimmt war durch »eine Gebrauchssituation, die geprägt war von der rezeptiven Auseinandersetzung mit dem römischen - und das heißt zu diesem Zeitpunkt: kanonischen Prozeßrecht in Kreisen juristischer Praktiker, die darin eine Möglichkeit der quasi gelehrten Aneignung von Sachwissen des juristischen Gebrauchs und gleichzeitig der >heilsbesetzten Rechtshilfe für den Laien< sahen.«14 Die Bedeutung des ße/ia/-Textes liegt nun in der gegenseitigen Abhängigkeit von theologischen und juristischen Strukturen: »Die >litigatio Christi cum Belial< als vorbildhaft-paradigmatischer >ordo judiciarius< bedarf einerseits des heilsgeschichtlichen Bezugsrahmens, um der Rezeptionsvorgabe Recht Nachdruck zu verleihen«, da offensichtlich die Vermittlung der römischen, dem Volk noch fremden Rechtsprinzipien ohne die Einbindung in geistliche Kategorien noch unmöglich ist; andererseits hat dieses gelehrte Recht bereits soviel Autorität, daß es vermag, »im lebenspraktischen Zusammenhang die Wahrheit der Erlösungstheologie greifbar zu machen und verbindlich abzusichern - fast als etwas, das jeder Mensch einklagen 9 10 11 12 13 14

Vgl. Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 2, S. 46. Coing: Epochen der Rechtsgeschichte in Deutschland, S. 49. Burmeister: Das Studium der Rechte, S. 9. Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 2, S. 46. Vgl. Ott: Rechtspraxis und Heilsgeschichte, S. 165-178. Ebd. S. 26.

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kann.« 15 Vielleicht ist der Belial auch Ausdruck der Krise kirchlich bestimmter Jurisprudenz, Versuch, die durch pragmatische Interessen der Stadt- und Hofhaltung sowie durch den Humanismus sich emanzipierende Rechtswissenschaft noch einmal kirchlich zu binden. Jedenfalls vollzog sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Ablösung des Klerikerjuristen durch den rechtsgelehrten Laien, so daß die Bevölkerung zugleich zwei grundlegende Veränderungen des Rechtslebens zu verdauen hatte: den Übergang vom ungelehrten, im Volk verwurzelten Recht zum gelehrten Recht und den Übergang dieses Rechts vom Klerus auf den säkularen juristischen Beamtenstand. Der Bevölkerungsanstieg, die Zunahme der Mobilität, die damit zusammenhängende Auflösung tradierter Normen, sichtbar etwa in der stark ansteigenden Kriminalität, die Kriminalisierung bisher tolerierten Verhaltens durch den neuzeitlichen Verwaltungsstaat, die Entfaltung bürgerlicher Wirtschaftskraft sowie die Verschiebung der politischen Gewichte zwischen Kaiser, Fürsten und Ständen hatten seit Ausgang des Mittelalters zu einer Rechtsunsicherheit geführt, die die Suche nach plausibleren Rechtsbegründungen und effektiveren Praktiken auslöste und dem gelehrten Juristen Einfluß auf weite Bereiche des sozialen Lebens verschaffte: Mit dem Zurückdrängen von Laiengerichten, mit der Schriftlichkeit der Rechtsvorgänge, mit dem Verlagern von Rechts- und Verwaltungsabläufen in Ratsstuben und Akten hörte das Recht auf, anschaulich und erlebbar zu sein. Ergebnis war der »Verlust der unmittelbaren Teilhabe des Volkes am Recht. [ . . . ] Seitdem ist ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem Rechtsgefühl des einzelnen wie des Volkes und der staatlichen Gesetzgebung und Rechtsprechung möglich geworden.«16 Hinzu kommt, daß der Juristenstand mit den Aufstiegsmöglichkeiten, die er dem Bürgertum seit dem 16. Jahrhundert bot, erheblichem Druck ausgesetzt war seitens der sozial führenden Stände: zunächst des Klerus, der um seine Kompetenzen fürchten mußte, und im 17. Jahrhundert Zusehens des Adels, der nun teilweise ebenfalls juristisch ausgebildet war und damit das gelehrte Bürgertum allmählich wieder aus den Spitzen der Verwaltung verdrängen konnte. Symptom für die vielfältigen Vorbehalte gegenüber den noch nicht akzeptierten, dennoch aber erfolgreichen weltlichen gelehrten Juristen ist die ihren Aufstieg begleitende, eine eigene Topik entwickelnde Juristenkritik, die sich in den verschiedensten literarischen Gattungen von Epigramm und Flugblatt bis zum Drama und Roman entfaltete. Vor allem Richter und Advokaten wurden beschuldigt, ungenügend ausgebildet zu sein, mit Rhetorik zu blenden, Prozesse um des eigenen Profits willen zu verschleppen, das Recht skrupellos zu verdrehen, die Gelehrsamkeit also amoralisch zu verwerten. Ganze Serien von Schimpfnamen entstanden. Caspar Stieler führt in seinem Handbuch Der Teutsche Advokat im Kapitel »Von den Nahmens-Advokaten/ Zungendreschern/ falschen Advokaten/ [...]« als Beispiele für die vielen »Eckel-Nahmen« u. a. auf: »Forenses Rabulae [.. .] Legum Tyranni [...] Juris Dolores, Leguleji [...] Briefsteller, Anhetzer, Schwätzer, Zungenspringer 15

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Ebd. S. 136. Wieacker: Das römische Recht und das deutsche Rechtsbewußtsein, S. 40. 163

[...] Wortfänger/ Federfechter/ [.. .].«17 Solche Vorwürfe sind Indiz dafür, daß die Krise des öffentlichen Rechtsbewußtseins seit Einführung und Verbreitung des gelehrten Rechts zunächst eher noch deutlicher wurde. Der Juristenstand mußte sich also ständig legitimieren. Das geschah etwa durch Anprangern von Mißständen in den eigenen Reihen. Die schärfsten Kritiker des lasterhaften Juristen waren meist selbst Juristen. Der notarius civitatis der Stadt Saaz, Johannes von Tepl (1350-1414), appelliert in seinem Ackermann aus Böhmen an das Gewissen der Juristen.18 Sebastian Brant (14581521), Professor der Rechte und Syndikus der Stadt Straßburg, ermahnt in seinem Laienspiegel (1511) die Richter, sich nicht nur auf ihr Gefühl, sondern auf die Kenntnis des Rechts zu stützen.19 Melanchthon beklagt in seiner Oratio de legibus mangelnde Bildung und Amoralität in der Rechtspraxis. Erst beide zusammen gäben den Nährboden ab für die nur halb ausgebildeten »Rechtsverdreher«: Bei dieser Stumpfheit der Richter dringen in die Gerichtsstätten die fadesten Rabulisten als Sachwalter ein, die aus einem Prozesse den anderen herleiten, ihre dienten schinden, die Städte plündern und die unwissenden Richter mit immer neuen Kniffen zum Spott machen. [...] Sie haben sich mit den Gesetzen selber nicht beschäftigt, sondern nur aus den Formeln einiger geriebenen Praktiker ihre Kenntnis geschöpft, und daher versteht sich von selbst, daß sie von der Pest der verderbtesten Schriftstellerei angesteckt sind.

Mit der Reformationszeit erhält die Juristenkritik neue Akzente. Luther übersetzt das Sprichwort Omnis Jurista est aut nequista aut ignorista: »ein jeglicher Jurist ist entweder ein Schalk oder ein Esel, der nichts kann in göttlichen Sachen.«21 Und nicht zufällig verwendet er besonders gern das Sprichwort >Ein Jurist, ein böser ChristMein ist beides, Rat und Tat. Ich habe Verstand und Macht. Durch mich regieren die Könige, und die Ratsherren setzen das Recht. Durch mich herrschen die Fürsten und alle RegentenJustitia< mit biblischen Worten: Ihr haltet das Gerichte nicht den Menschen/ sondern dem Herren/ und er ist mit euch im Gericht. Darum lasset die Furcht des Herrn bey euch seyn. Denn bey dem Herrn/ unserm Gott/ ist kein Unrecht/ noch ansehen der Person/ noch annehmen des Geschenckes.30 26 27 28 29

30

Luther: Tischreden 7017. HWRG II, Juristen, böse Christen, Sp. 481-484, hier Sp. 483. Vgl. Fehr: Das Recht in der Dichtung, S. 334. In Sixt Birks sowohl deutsch (Basel) als auch lateinisch (Augsburg) verfaßter Susanna (1532) nehmen die Gerichtsszenen fast die Hälfte des Geschehens ein. Vgl. die themengleichen Dramen von Nikodemus Frischlin (1577) und den Jesuiten, u. a. von Adrien Jourdan (1653). Zit.nach Kaiser: Mitternacht Zeidler Weise, S. 28. 165

Diese Art der Rechtskritik zu vermitteln, ist auch ein Ziel der Jesuitenbühne. Das göttliche Gericht revidiert menschliche Urteile, etwa in Jakob Bidermanns (15781639) Bekehrungsstück Cenodoxus (1602). Christus und seine Nebenrichter Petrus, Paulus und Erzengel Michael verfolgen die Aussagen der vom Hauptteufel Panurgus angeführten Ankläger, der Belastungs- und Entlastungszeugen Spiritus und Conscientia und des Verteidigers Cenodoxophylax. Nach Strafantrag, Verhandlungsaufschub, Geständnis, Antrag auf mangelnde Zurechnungsfähigkeit, Urteil und Urteilsbegründung übernimmt der Tod als Henker die Vollstreckung.31 Joost van den Vondel (1587-1679) führt in seinem Palamedes einen auf falsche Indizien begründeten Unrechtsprozeß vor, der den Helden zum Märtyrer macht. All diese Texte - und die Lohensteins gehören dazu - sind Teil jener Gattung der »populären Rechtsliteratur«, die die Anerkennung und Durchsetzung des gelehrten Rechts zunächst innerhalb der nur halbgelehrten Schicht der Staatsdiener, der vielfach nichtstudierten Träger des heimischen Rechts- und Gerichtswesens: Richter, Urteiler, Schöffen, Sachwalter, Notare, dann aber auch der breiteren Bevölkerung ermöglicht hat.32 Man darf dabei die Konkurrenzsituation zwischen jesuitischer und protestantischer Erziehung in juristischen Fragen nicht übersehen. Die Jesuiten hatten anzukämpfen gegen einen durch Humanismus, innerkirchliche Mißstände und theologische Richtungskämpfe eingetretenen tendenziellen Prestigeverlust der Theologie. »Nicht wenige Studenten flüchteten sich, wenn sie es sich finanziell leisten konnten, aus dem umstrittenen artistisch-theologischen Zentralstrang des alten Studiums hinüber in die zwar teure, aber in ihren beruflichen Perspektiven lukrative [...] Jurisprudenz.«33 Während die juristischen Doktoren lange auf Lehrstühle warten mußten, waren um die Mitte des 16. Jahrhunderts im ganzen Reich kaum noch gelehrte Theologen für verwaiste Lehrstühle aufzutreiben. Und als die Jesuiten in dieses Vakuum vorstießen und mit ihren Theologen etwa in Ingolstadt seit 1585 fast den gesamten Lehrbetrieb unter ihren Einfluß bekamen, da war es allein die florierende Juristenfakultät, die ihnen Paroli bieten konnte. In Abgrenzung zum Protestantismus lehnten die Jesuiten in ihren eigenen Bildungsinstitutionen, die das Recht weiterhin als Teil der Theologie verstanden, die Jurisprudenz als eigenständige Wissenschaft ab. An ihrer Zentraluniversität, der Gregoriana in Rom, wurde eigenständige Jurisprudenz grundsätzlich nicht gelehrt.34 Lohensteins Texte gehören in den Kontext dieser Auseinandersetzungen. In Breslau war die Rivalität besonders spürbar durch die Anwesenheit der Jesuiten, v. a. aber durch die Möglichkeit der Breslauer, anstatt vor das städtische vor das kirchliche Gericht des Bischofsstuhls zu gehen. Im Sinne Luthers und im Interesse seiner Stadt betreibt Lohenstein eine für Humanismus und Protestantismus spezifi11

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Vgl. die ähnliche Struktur in Jakob Gretsers (1562-1625) Dialogus de Udone Archiepiscopo Magdeburgensi (1587). Vgl. Stintzing: Geschichte der populären Literatur (1867); HWRG III,Sp.l825ff. Seifert: Die Seminarpolitik der bayerischen Herzöge im 16. Jh., S. 126. Ausnahme war Dillingen, wo zwei juristische Lehrstühle eingerichtet waren. Vgl. Coing: Die juristischen Fakultäten und ihr Lernprogramm, S. 8.

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sehe Form der Juristenkritik: Er verteidigt indirekt den neuzeitlichen protestantischen Laienjuristen, indem er den Klerikerjuristen angreift. Im Arminius erzählt Lohenstein die europäische Geschichte des Christentums bis zum Dreißigjährigen Krieg: Im vorreformatorischen Deutschland habe sich der Priesterstand die Gewalt erworben, »strittige Rechts-Händel zu entscheiden. Ja die Fürsten brauchten sie zu Reichs-Käthen/ zu Gesandten; Hessen durch sie Bündnüße behandeln/ Aufrühren besänfftigen/ [...] über die Laster Straffen aussetzen« (Arm. I/970a). Sie hätten damit große Macht errungen, die die der Fürsten überstieg, gehorchten nur einem Oberhaupt und seien sonst nicht »der Bothmäßigkeit einiges Richters unterworffen« (Arm. I/971a). Da sich damit die anfängliche »Bescheidenheit in Herrschsucht« verwandelt habe, sei in ihren eigenen Reihen Zwietracht entstanden. Divitiak (Luther), »einer der tieffsinnigen« (Arm. I/982b) unter ihnen, habe eine Erneuerung eingeleitet, indem er »seine Nachfolger zur alten Armuth anverwieß/ und sich der weltlichen Herrschafft anzumassen verbot« (Arm. I/983a). An anderer Stelle erörtern Rhemetalces, Zeno und Hermann das Verhältnis von Priestertum und weltlicher Obrigkeit. Rhemetalces fordert, »daß die Priesterliche Würde nicht mit die Hand im Spiele irrdischer Dinge/ keine Stimme im FürstenRathe/ und den Fuß nicht auff dem Richterstuhle haben solle« (Arm. I/558b). Zeno dagegen lehnt es ab, »die Priesterliche Würde so enge einzusperren/ oder vielmehr sie gar unter die Füsse zu treten«. Sie sei als Ausleger des göttlichen Willens eine der »Schutzsäulen der Reiche« (Arm. I/559a). In deutlicher Anspielung auf die Handhabung des Kanonischen Rechts weist Zeno auf die juristischen Tätigkeiten der Priester in vielen Staaten hin: sie schlichteten der hohen und des Volckes Zwistigkeiten durch Urthel oder Vermittlung; insonderheit richteten sie überTodt-Schlägen/ über Erbschaffts- und Gräntz-Streitigkeiten/ sie setzten den Tugendhafften ihre Belohnung/ den Bösen ihre Straffen aus; und fürnehmlich die grosste unter allen/ nehmlich die Ausschlüssung von dem öffentlichen Gottesdienste. (Arm. I/560a)

Herzog Hermann, der als Schiedsrichter eingreift, gibt Zeno darin Recht, daß das Priesteramt mit Recht Ansehen genieße, da es »mit den Seelen der Menschen zu thun« (Arm. I/560a) habe. Ansonsten müsse er aber Rhemetalces zustimmen. Er sei sicher, daß ursprünglich »die Priester weder in den geheimen Rath der Könige eingedrungen/ noch den Richterstuhl über das Volck betreten/ noch mit fliegenden Krieges-Fahnen aufgezogen wären« (Arm. I/560b). Der Ehrgeiz der Priesterschaft, Unachtsamkeit und schlechtes Gewissen von Fürsten und Aberglauben des Volkes habe ihnen zu weltlicher Macht verhelfen. In Anspielung auf die im Mittelalter entstandene und von den Jesuiten hoch entwickelte Beichtjurisprudenz beschreibt Hermann, wie die Priester schrittweise die gesamte Rechtsprechung übernommen hätten: Der Fürwand/ daß Heyrathen und Eyde Gewissens-Sachen wären/ und von denen untersucht werden müsten/ welche die Sorge der Seelen über sich hätten/ hätte ihnen den Schlüssel zur Gerichts-Stube eingehändigt. Der Eifer des Gottes-Dienstes habe sie zu ReichsCantzlern/ zu Herzogen/ Fürsten/ und geheimsten Käthen gemacht [ . . . ] Wolle aber Gott! es wäre die Priesterschafft noch in diesen mittelmässigen Schrancken blieben. [...] Aus wie 167

vielen Richterstülen verstossen sie nicht alle Weltliche/ und wo schwingen sie ihre Flügel nicht über die Grund-Gesetze der Reiche/ und über die Hoheit der Könige? (Arm. I/560b-561a)

Der Bezug zur Absicht, die Lohenstein in seinen Dramen verfolgt, wird deutlich. Indem er so vielfältig gerade über Ehe, Eide und sonstige Versprechen handeln läßt, beansprucht Lohenstein Themen, die im konkurrierenden katholischen Raum der kirchlichen Gerichtsbarkeit zugehören. Das gilt natürlich erst recht für den Zugriff der Kirche auf die Strafgerichtsbarkeit. Eine »Pest« nennt Hermann die Vorstellung, »daß die Missethäter zu binden/ zu schlagen/ oder zu tödten niemanden als den Priestern freistehe« (Arm. I/561b); und er hält diese deshalb für »insgemein gefährlicher als glühendes Eisen« (Arm. I/562a). Im dritten Buch des zweiten Teils des Arminius wird in aller Ausführlichkeit ein Ketzerprozeß35 erzählt, der diese Kritik in einen konkreten Fall umsetzt: Herzog Hermann bittet den Druys Luitprand, der als Vertreter des katholischen Hofklerus anzusehen ist, er solle mit Hilfe seiner »Geistlichen Einredung« (Arm. II/522a) den Widerstand seiner Schwester Ismene, die Zeno liebt, gegen eine politisch notwendige Ehe mit Catumer brechen. In einer ersten Auseinandersetzung vertritt Ismene die freie persönliche Gattenwahl, während der Druys auf die »Wohlfahrt des Vaterlandes« verweist, zunächst »mit dem Zwange des oberkeitlichen Armens«, (Arm. II/523a) dann aber mit dem Machtinstrument der Kirche drohend: seines Amptes wäre solche Leute von der Gemeinschafft der Opfernden/ und von Übung alles Gottesdienstes auszuschlüssen/ welcher das einige Band wäre/ das Gott und die Menschen mit einander verknüpfte. (Arm. II/523b)

Ismene, an die Kraft dieser Strafe glaubend, erschrickt zunächst, geht dann aber zum Angriff über. Wenn er, was sie nicht glauben könne, tatsächlich so verfahren würde, würde sie zweifeln, »ob Gott so ungerechten Leuten die Schlüssel des Himmels und der Erde anvertraut hätte« (Arm. II/523b). Wütend berichtet der Druys den Vorfall dem Herzog Hermann, dessen Schwester der Ketzerei anklagend, weil Ismene alle Druyden als ungerechte Leute verworffen/ und ihnen die Gewalt den Frommen den Himmel auf/ die Boßhaften vom Gottes-Dienste auszuschlüssen/ und ihre Seelen zur ewigen Pein zu verweisen/ abgesprochen hätte. Hierdurch würffe sie theils die Unsterblichkeit der Seelen/ theils die priesterliche Gewalt/ als die zwey fürnehmsten Gründe ihres Gottes-Dienstes übern Hauffen; sie mache sich hierdurch zur Ketzerin/ und würde sie erfahren: daß sie dadurch nicht einen Menschen/ welcher empfangenes Unrecht leicht verschmertzen könte; sondern Gott/ der ein strenger Rächer der Gottes-Lästerung wäre/ beleidiget hätte. (Arm. II/524a)

Hermann kann das nicht glauben, bereut, den Druys einbezogen zu haben, sieht sich aber aus Angst vor dem politischen Einfluß des Klerus nun machtlos: weil aber in Deutschland die Priester mehr Glauben und Ansehn/ als die Fürsten/ jene auch die Gewalt über Verbrechen zu erkennen und zu urtheilen haben; ja sie alleine selbst die Verurtheileten eigenhändig straffen/ und weil sie für Werckzeuge Gottes gehalten werden/ 35

Vgl. Szarota: Lohensteins Arminius als Zeitroman, S. 258-265; Szarota bespricht die Episode v.a. unter dem Gesichtspunkt der konfessionellen Auseinandersetzung.

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welche den Willen Gottes wüßten und ausübten/ leicht bey denen zum Aberglauben geneigten Gemüthern ein grosses Feuer anzünden können / [ . . . ] (Arm. II/524b)

Ismene beteuert, sie habe, was ihr vorgeworfen werde, so nicht gesagt, sie kenne die »Gewalt und die Strengigkeit ihrer Gerichte« (Arm. II/525a), vertraue aber auf ihr Gewissen und Gottes Gerechtigkeit. Und sie behält Recht damit; denn am Ende setzt sich die Wahrheit gegen die geschickte Rhetorik und den formalen Aufwand des Gerichtsverfahrens durch. Der Ankläger Luitprand gesteht sein »wider Ismenens Unschuld verübtes Verbrechen« (Arm. II/557b). Die Rechtsprechung, die sich vorher mit großen Worten auf Gott als ihren Auftraggeber beruft, ist kompromittiert, da nicht sie, sondern das von den Urteilern als fragwürdig eingestufte Gottesgericht die Wahrheit an den Tag bringt. Selbst der Zufall sei noch gerechter als das gelehrte Recht, wird in Übereinstimmung mit dem Handlungsverlauf behauptet: Der allein vom Verhängnüsse hängende Ausschlag [...] einzelen Streites wäre mehrmals ein billiger Richter/ als der/ welcher nach Spitzfindigkeit der Rechts-Lehrer urheilte/ welcher die Rechte derogestalt verwirrete daß ein gutes Urtheil unter zufällige Dinge gerechnet würde. (Arm. II/550a)

Auch wenn die Fatalität des Vorgangs durch den guten Ausgang gemildert erscheint, auch wenn sich herausstellt, daß der priesterliche Ankläger nur »Werckzeug« (Arm. II/557b) des eifersüchtigen Intriganten Adgandester war, auch wenn Ismene ausdrücklich nicht das Priestertum, sondern nur den einzelnen das Amt schlecht verwaltenden Menschen Luitprand angreift (Arm. II/641a), wird doch die Gefahr deutlich, die Lohenstein darin sieht, daß Juristen, die so leicht irren oder durch bewußte Fehlurteile selbst schuldig werden können, auch noch die Religion als ihr Machtinstrument einsetzen können. Die Zurücknahmen sind wohl als Vorsichtsmaßnahmen gegen Eingriffe der Zensur zu verstehen, die Angriffsrichtung zielt unübersehbar gegen die Praxis des katholischen, Kanonischen Rechts. Gleiches gilt für die Figur des Mufti in Lohensteins erstem Drama Ibrahim Bassa. Er ist geradezu der Prototyp des Rabulisten, der es im Zusammenhang mit der Auslegung eines Eides versucht, »Der Wortte Klang und Sinn bald hin bald her zu zihen« (IB IV/311), bis er damit den Sultan in seinen Einfluß bringt. Das gelingt ihm aber erst, als er die Autorität der kirchlichen Lehrmeinung gegen das menschliche Gewissen ins Feld schickt: Dem Einwand des Sultan, Gott achte »aufs Hertz und die Gedanken« (IBIV/312), begegnet der Mufti mit strenger Weisung: Des Muffti Heiligkeit entdäkket disen Rath. Des Keisers Hertze macht ihm allzu viel Gewissen. Weis ihre Hoheit nicht wen sie hie folgen müssen? Es redet Mahometh mit uns durchs Muffti Mund Und thut uns sein Gesätz und seinen Willen kund. (IB I V/332 ff)

Die Kritik am Mißbrauch des Koranrechts zielt auf die Kritik des Kanonischen Rechts, das in der Römischen Kirche und im politischen Leben die am Vorbild Christi und des Evangeliums orientierte Ethik verdrängt hat. Es kann kein Zweifel bestehen: Lohenstein, der Protestant, meint mit den Praktiken des Mufti den juri169

stisch veräußerlichten Umgang des jesuitischen Laxismus mit dem Eid36 und die Verquickung von Machtpolitik und Religion mittels einer verrechtlichten Theologie, wie sie der Protestantismus an den Jesuiten kritisiert,37 die als Beichtväter und damit als engste Vertraute vieler Herrscher ihre Seelsorgetätigkeit nicht von ihren politischen Interessen trennten. Die protestantische Kritik gilt aber letztlich der Römischen Kirche insgesamt. Man hat sich vor allem zu erinnern an Luthers Rede von der »Tyrannei des römischen Papstes«, die an Stelle der Freiheit des Gewissens »ihre eigenen, nicht nur gottlosen und gotteslästerlichen, sondern auch unmenschlichen und ganz törichten Gesetze durchgesetzt« habe.38 Angedeutet ist die Parallelisierung von heidnischen Türken und Papsttum bereits in Zesens Ibrahim-Roman, an dem sich Lohenstein orientiert. Dort wird der Mufti vom Erzähler einmal »der Bapst« genannt und entsprechend der Gleichsetzung des Papstes mit dem Antichristen in der protestantischen Polemik etwas später »diser Bösewicht«.39 Lohenstein baut das aus. Ausgerechnet Roxelane, »mehr ein von allen Welt-Lastern aufgeblasenes Weib/ als eine Kayserin«,40 erzeugt diese Assoziation, indem sie den Mufti gleich dreimal hintereinander schmeichelnd als »deine Heiligkeit« (IB I V/216,220,228) anspricht und die Beseitigung Ibrahims als Bestandteil der Pflicht zum Kreuzzug gegen die Christenheit darstellt (IB I V/220 ff). Der Mufti tritt als »Prister« (IB IV/81) auf, der - in Überspitzung katholischer Lehre - als Mittler oder gar Befehlsübermittler zwischen Gott und den Menschen fungiert, wodurch sich ein selbständiges Gewissen des Gläubigen erübrigt (vgl. IBIV/ 280f,331ff). Lohensteins Drama - gleiches gilt für Ibrahim Sultan - ist zu lesen als Teil der deutschen Türkenliteratur,41 die seit der ersten Belagerung Wiens 1529 entstanden war als literarische Reaktion auf die fast permanente Bedrohung. Ihre Höhepunkte fand sie nach 1593 sowie in den Jahren 1663 und 1683. Vielfach wurde die konkret 36

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Vgl. Hocke: Manierismus in der Literatur (1959), Kap. 27 Kasuistik und Laxismus, S. 24657; Das Moralsystem der »Seelen-Juristen« (Hocke S. 249) unter den Jesuiten wurde als >Laxismus< bezeichnet, ihre vieldiskutierten Schriften wurden gerade zu Lohensteins Zeit von den Papst Innozenz XI. (1655-1689) verboten. Nach den Auseinandersetzungen mit Humanismus und Reformation hatten die Jesuiten entsprechend unterschiedlicher Stellungnahmen zum juristischen Grundsatz lex dubia non obliget verschiedene Moral- und Schuldbegriffe entwickelt. Der Laxismus vertrat das eine Extrem: schon der kleinste Zweifel gegenüber dem Sinn oder Nutzen einer Norm könne von der Pflicht, ihr zu folgen, entbinden. Zu den wichtigsten Vertreter zählen neben Thomas Sanchez, Domenico Gravina und Antonio de Escobar auch zwei Jesuiten, deren Schriften Lohenstein mehrfach zitiert: Paul Laymann und Luis de Molina (vgl. unten Kap. V). Zur Jesuitenkritik im protestantischen Schuldrama, das den Jesuiten gern als spitzfindigen und skrupellosen Advokaten darstellt, vgl. Kaiser: Mitternacht Zeidler Weise, S. 28 und 85 f. Luther: Von der babylonischen Gefangenschaft, in: Luther: Grundschriften Bd. 3, S. 7074; zur Kritik am kirchlichen Recht als dem Werkzeug zur Unterdrückung der christlichen Freiheit vgl. auch Ulrich von Huttens Dialog Vadiscum oder die Römische Dreifaltigkeit. Zesen: Ibrahims [...] Wundergeschichte, sämtl. Werke Bd. V/2 S. 1265 und S. 1266. Lohenstein: Widmung an die plastischen Herzöge, zit. nach: Lohenstein: Türkische Trauerspiele, S. 81. Vgl. dazu Schulze: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jh. (1978).

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historische Türkenbedrohung heilsgeschichtlich begriffen und »durch eschatologische Vorstellungen über das Erscheinen des Gog und Magog bzw. die Vision des Propheten Daniel über die vier Tiere, die die Weltreiche symbolisieren (Daniel 7)«,42 überformt. Lohenstein benutzt die in der Türkenliteratur geläufige Gleichsetzung von Türke und Antichrist ähnlich wie Luther zur Kritik der Machtentfaltung der Römischen Kirche. Luther hatte die von der Römischen Kirche, dem Papst und der Verrechtlichung der Seelsorge ausgehende Gefahr in seiner ersten Streitschrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Ein Vorspiel (1520) ausdrücklich über die Türkengefahr gestellt. Die heutigen Geistlichen, so Luther auf den Titel der Schrift eingehend, führten »nicht nur die wahre Freiheit der Kirche gefangen, sondern sie richten sie überhaupt zugrunde, mehr sogar als der Türke«. Durch den Mißbrauch ihrer »Rechte und Satzungen« machten sich der »Papst und alle Papisten [...] schuldig an allen Seelen, die durch diese elende Gefangenschaft zugrunde gehen. Das Papsttum ist wirklich nichts anderes als das Reich Babels und des leibhaftigen Antichrists.«43 Nicht nur das Auftreten des an die Jesuiten erinnernden intriganten islamischen Rechtsgelehrten und Priesters, vor allem der Beginn des Dramas Ibrahim Bassa hat mit dieser Kritik Luthers zu tun. Lohensteins Prolog erscheint geradezu als auf die Bühne umgesetztes Zitat der von Luther Vorspiel genannten Streitschrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Lohensteins Asien erscheint in diesem Kontext als Allegorie der vom Papsttum gefangenen christlichen Kirche: Asien tritt als gefesselte Frau auf, beklagt ihren Niedergang und macht Soliman (er entspricht also dem Papst) dafür verantwortlich. Unverkennbar ordnet sie ihm die Attribute des apokalyptischen Antichristen so wie seine Synonyma Teufel, Wurm, Drache und Tiger zu: Ha Bluthund! Bluthund ha! unmenschlichs Mensch! verzweiffelter Tyrann Durch-teuffeltes Gemüth/ Ertzt-Mörder Soliman! Ertz-Mörder! Ach hab Ich Dich Tigerthier dich Wurm mit meiner Milch gesogen Hab Ich dich Drache Mich zu fressen aufferzogen Dich Kinder-Mörder dich! (IB I/87ff)44

Der gesamte Prolog erhält seinen Aufbau nach dem Muster der biblischen Klage über Babylons Untergang45: »Wehe! Wehe, du große Stadt Babylon, du mächtige Stadt!« heißt es dort zu Beginn und wiederholt während der Klagen. »Weh weh! Mir Asien/ ach! weh!« - so beginnt >Asien< ihren Prolog und wiederholt diesen Ausruf mehrmals (IB I/l f,21,58,85). Wie in der Apokalypse Babylon, so zeigt sich >Asien< 42

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Ebd. S. 41; vgl. etwa Rupert Erythophilus: Weckglock darinnen die schlaffende Teutschen wider die wachende Türcken auffgeweckt werden. Das ist grundliche beschreibung in was noht und bedrangnuß Teutschland umb dersünde willen durch Gog und Magog, das ist den Türcken kamen werde, Frankfurt 1595. Alles zit. nach: Luther: Von der babylonischen Gefangenschaft, in: Luther: Grundschriften Bd. 3, S. 70-74. Vgl. Off.12,1-13,4 Off., bes. 18,9-20 und 174-6. 171

geschmückt mit Purpur, Gold und Perlen (IB I/39f). Die Apokalypse definiert Babylon als »die Mutter der Huren und aller Abscheulichkeiten der Erde«. - >Asien< beschuldigt sich selbst: Geitz/ Mord-lust/ Geld-durst/ Haß und was der Abgrund zeuget Wird alls an Mir gesäuget. [...] Ach! tausend Wurme wol die sich also beflekket Hat meine Schos gehökket. (IB 1/77f, 85 f)

Und wie Babylon »betrunken war vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu«, so auch >AsienAsien< ist nicht identisch mit der Hure Babylon. Sie sieht sich vielmehr nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich der Gegenwart, zur Hure Babylon geworden. Ihr Prolog bezieht nach dem Muster des antiken Götterprologs (vgl. die Anrede »Sterbliche« IB I/79), in dem die Götter durch Rückschau und Vorblick ihr Mehrwissen kundtun, die gesamte Heilsgeschichte mit ein. Sie beginnt mit Abraham, dem »Ahn-Herr[n]Asien< der Gegenwart zu. Asien »Pflügt unter Gog und Magogs Joch« (IB I/64). Das ist der Apokalypse entsprechend die Situation der zweiten eschatologischen Schlacht. Durch seinen Kreuzestod konnte Christus den Satan für tausend Jahre einsperren. Danach werde dieser als Antichrist zum Endkampf antreten, den Gog und Magog für sich gewinnen, und das Lager der Heiligen Gottes umzingeln. Schließlich werde Feuer vom Himmel fallen und die Bösen vernichten.« (Off.20,7-10). Lohensteins Prolog endet demgemäß mit der Sehnsucht nach der Ankunft des endzeitlichen Gottesreiches (»Blitzet [...] Wolkken [...] Donner«, IB I/95f). 46 b) Die Christlichkeit des Juristen Conrad Müller hatte im 19. Jahrhundert diesen Prolog mit dem der >Ewigkeit< in Gryphius' Catharina von Georgien gleichgesetzt und sich dabei auf die Vorrede berufen, nach der Lohenstein sich einen »fürtrefflichen Lands-Mann zu einem Weg-Weiser« genommen habe.47 Beide in der Madrigalform verfaßten Prologe deuten Geschichte theologisch, sub specie aeternitatis. Seit Paul Hankamers Feststellung, Lohenstein habe das »Trauerspiel in seinem ganzen Sinn und Gefüge säku46

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Vgl. auch die endzeitliche Situation im Prolog zu Ibrahim Sultan: Wiederum erscheint das Türkenregiment als Herrschaft des Antichristen (besonders IS 1/24ff, 43ff); Wien dagegen nimmt die Züge des himmlischen Jerusalem (Off. 21) an (IS 1/55ff); auch hier vielfältige Bezüge zu biblischen Texten, vgl. etwa IS 1/62-65 und Jes 11,6; 66,25; 2,4. Müller: Lohenstein, S. 23; Ibrahim Bassa, Vorrede an den Leser, zit. nach Lohenstein: Türkische Trauerspiele S. 13.

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larisiert«48, sah man das nicht mehr. Üblich wurde es, die beiden schlesischen Dramenautoren zu kontrastieren: »Transzendenz versus Immanenz«, so laute »die Generalformel.«49 Nach Meinung von Verhofstadt könne man auf Lohensteins Dramen »das Wort >Säkularisation< in seiner eigentlichen Bedeutung anwenden«, als einen »komplexeren Vorgang«, in dem »nicht nur religiöse, sondern auch ethische, nicht nur christliche, sondern auch antike Inhalte angetastet werden«.50 Für Asmuth ist Lohensteins »Wendung zum Diesseits« sogar »noch entschiedener« als es der Begriff >Säkularisierung< ausdrückt, da Lohenstein »geistliche Motive weniger verweltlicht als außer acht läßt«.51 Zumindest für Ibrahim Bassa stimmt das so offenbar nicht. Zu denken ist nicht nur an den biblisch, heilsgeschichtlich und kirchenpolitisch geprägten Prolog, sondern auch an den »Chor der leibeigenen Christen« im ersten Reyen, an die Verdächtigung Ibrahims und Isabellas, mit Karl V. und den Christen Kontakt zu pflegen, schließlich an beider Bekenntnis, wie Christen sterben zu wollen (IB I/368f). Fülleborn, Spellerberg und Behar haben inzwischen erwiesen, wie grundlegend das christliche Weltbild für das Gesamtwerk Lohensteins ist.52 Natürlich ist nicht zu bestreiten, daß das Drama bei Gryphius theologischer, bei Lohenstein politischer angelegt ist. Aber bei beiden ist beides zu finden. Will man nach Blumenbergs Einspruch53 überhaupt noch mit solchen Stichworten agieren, so erscheint Benjamins paradoxer Begriff des »säkularisierten christlichen Dramas« aufschlußreich: er verwendet ihn sowohl für Gryphius als auch für Lohenstein - und übrigens auch für das Jesuitendrama. Benjamin geht aus von der Zerrissenheit des europäischen Christentums; sie habe zur Folge gehabt, daß Ereignisse der Geschichte nicht mehr eindeutig, sondern kontrovers der Heilsgeschichte zugeordnet wurden. Innerweltliches Handeln rückte aus dieser Interpretationsnot heraus zwangsläufig in den Mittelpunkt des Interesses. Andererseits »verloren darum nirgends die religiösen Anliegen ihr Gewicht«.54 Auf den wissenschaftlichen Bereich übertragen, hieß das: Die Jurisprudenz mit ihrem Anspruch, ein innerweltliches soziales Ordnungssystem zu entwickeln, gewann an Gewicht, je mehr aus den normativen Lehren der Theologie in konfessionellen Auseinandersetzungen kontroverse Lehrmeinungen wurden. Von einer Ablösung der Theologie durch die Jurisprudenz kann freilich so einfach nicht gesprochen werden. Vielmehr rang man, während in den anderen Staa48 49 50

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Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock, S. 313. Schings: Constantia und Prudentia, S. 403. Verhofstadt: Lohenstein, S. 232; vgl. auch S. 296: »Im Jugendwerk hört man noch einige christliche Akzente, die bald überstimmt werden.« Asmuth: Lohenstein, S.46; vgl. dazu u.a. auch Lunding: Das Schlesische Kunstdrama, S. 93; Schaufelberger: Das Tragische in Lohensteins Trauerspielen, S. 41; Weier: Duldender Glaube und tätige Vernunft, S. 501 ff; Barner: Barockrhetorik S. 147; Voßkamp: Daniel Casper von Lohensteins Cleopatra, S. 73 und S. 77; Gillespie: Herones, S. 48; ders.: Historical Tragedies, S. 143f. Vgl. dazu Schings: Constantia und Prudentia, S. 403ff. Vgl. ebd. S. 405; dagegen Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, bes. S. 11 ff. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 72. 173

ten Staatsformen und Fragen der Machtgewinnung diskutiert wurden, im Deutschen Reich in Folge von Reformation und Gegenreformation um eine Klärung des Verhältnisses von Recht und Religion. Luthers Kritik am Kanonischen Recht war nur ein Teilaspekt jener Wittenberger Diskussion um eine Neuordnung der Universitätswissenschaften, an der neben dem von der Jurisprudenz zur Theologie überwechselnden Luther auch der Theologe und Rechtsgelehrte Andreas Boderstein von Karlstadt55 (1477-1541) beteiligt war mit seinem Programm einer consonantia theologiae et iurisprudentiae, ferner die Wittenberger Juristenfakultät unter Führung des Hieronymus Schürpf, die auch nach Luthers radikalem Angriff auf das Kanonische Recht dessen Geltung anerkannte, soweit es nicht im Gegensatz zum Neuen Testament stand. Daß die deutschen protestantischen Universitäten in den kommenden zweihundert Jahren »ein neues, auf die Welt bezogenes, aber im Jenseits verankertes Wissenschaftssystem«56 entwickelten, ist vor allem Philipp Melanchthon (1497-1560) zu verdanken. Gegenüber Luthers Läuterung der Theologie von machtpolitischen Interessen vertrat er eine »Theologie der Welt«,57 eine Theologisierung des weltlichen Rechtswesens. Sein Verdienst war es, »die pädagogische und didaktische Bedeutung des Rechts«58 nicht nur für künftige Juristen, sondern für die allgemeine sozialethische Erziehung herausgearbeitet zu haben: Gott zu verherrlichen, heiße, so beginnt er eine der Reden über die Würde der Gesetze, Gottes Gaben an den Menschen zu erkennen und zu nutzen. Das Beste, was Gott uns geschenkt habe, sei der Abglanz seiner Weisheit, und unter allen Aspekten dieser göttlichen Weisheit sei der höchste die Gabe, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.59 Durch den Sündenfall habe der Mensch diese Gabe zwar teilweise verloren, Gott aber habe ihm durch den Dekalog erneut Hilfestellung angeboten. Aufgabe der Menschen sei es, aus den in der Natur und im Dekalog erkennbaren Grundsätzen die konkreten Regeln des sittlichen Handelns abzuleiten. Dazu bedürfe es aber angesichts der Schwäche und Täuschbarkeit der Menschen einer entsprechenden Wissenschaft (eruditio, doctrina), welche die Dunkelheit und Verwirrung der Urteile verhindert und die Handlungen systematisch unterscheidet.60 Da alle Wissenschaften Geschenke Gottes seien, habe man keine geringer zu achten als die anderen. So habe man neben die traditionellen Artes auch die Lehre vom Recht zu stellen. Sie sei als Wissenschaft vom Erkennen und Unterscheiden 55 56 57 58

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Bubenheimer: Consonantia Theologiae et Iurisprudentiae (1977). Hammerstein: Jus und Historic, S. 19 und S. 20. Dreizel: Protestantischer Absolutismus, S. 90. HWRG III, Sp. 466; zu Melanchtons rechtshistorischer Bedeutung vgl. Stintzing: Rechtswissenschaft I, S. 283ff; Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie, S.83ff; Dreizel: Protestantischer Aristotelismus, S.87ff; Kisch: Melanchthons Rechts- und Soziallehre (1967). Melanchthon: Oratio de dignitate doctrinae legum et lurisconsultorum (1553), CR XII, Nr. 134, Sp. 21: »Fateri necesse est, maius bonorum esse sapientiam et inter omnes gradus sapientiae summum esse, discrimen honestorum et turpium«. Melanchthon: De dignitate legum oratio (1538), CR XI, Nr. 49, Sp. 362: »Quae tenebrae essent iudiciorum, quae confusio, si non essent arte tradita discrimina actionum?«.

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des Gerechten vom Ungerechten geradezu ein »Abbild Gottes«, sie sei daher nicht weniger »Ars« als die anderen Disziplinen, zumal sie unser Leben mehr als die anderen Artes leite.61 Melanchthon begreift das Amt des Juristen als eine auf die irdische Welt gerichtete zweite Form des Priestertums. Wer die Rechtspflege unterstütze, wer damit die Religion ausschmücke, seinen Glauben erleuchten lasse und der wahren Kirche diene, der übe den dankenswertesten Kult für Gott aus.62 Das Recht erst ermögliche und schütze das gottgewollte Zusammenleben der Menschen. Deshalb müsse die schwierige Aufgabe der Rechtsberater unterstützt werden durch den Schulunterricht, der die Natur der Gerechtigkeit und Billigkeit anhand von geschriebenem Recht vermitteln solle.63 Ein bewährter Weg dazu sei, in der Schule als Ansporn zur Tugend die exemplarischen Geschichten berühmter Rechtsgelehrter zu lesen, wie etwa Ulpian, Papinian, Paulus, Irnerus, Bartolus und Thomas Morus, um damit nicht nur den öffentlichen Frieden zu fördern, sondern letztlich der Kirche und Gott zu dienen: Ich ermahne also die Jugend: zuerst, daß sie erlerne, diese heldenhaften Männer zu verehren; dann, daß sie begierig strebe, sich deren Lehre zueigen zu machen; schließlich, daß jeder nach seinen Kräften versuche, deren Sorgfalt und Fleiß nachzuahmen.64

Diese Vorstellungen von einer theologisch begründeten rechtlichen Unterweisung der Schüler gehen wie so vieles aus den Lehren des >Praeceptor Germaniae< in die Schulordnungen ein. Die Schule, so beginnt die Breslauer Schulordnung von 1570, setze den Auftrag Gottes um, an seiner Weisheit teilzunehmen. Dazu müssen neben die »Göttliche lehr«, die anderen Künste und auch das Fundament »aller gutter Policey« vermittelt werden - nicht nur, um »frome Juristen« zu erhalten, sondern weil ihrer »die außerweite Kirche Gottes inn diesem Leben keines weges entrathen noch entperen kan.« 65 Die verbesserte Schulordnung von 1643 bringt das Nebeneinander der zwei Formen des Gottesdienstes zum Ausdruck. Die Schule diene »zur erhaltung deß Reinen Worts Gottes/ zur Fortpflantzung heilsamer j ustitz«, sie diene also gleichermaßen »Ecclesiae et Reipublicae« und erziehe die Jugend für die 61

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Ebd.: »Hae noticiae sunt quaedam imago Dei, et magis regunt vitam, quam aliae noticiae seu ideae artium. Ex hac admiranda luce et Dei imagine, orta doctrina lurisconsultorum, non minus est art, quam caeterae disciplinae. Itaque cum sit arte aliqua opus, ad intelligenda et discernenda iusta et iniusta, quos alios artifices, nisi doctissimos, peritissimos homines, qui in sapientissimis consiliis summi imperii hoc disputaverunt, sequeremur?« Ebd. De Irnerio et Bartolo (1537?), CR XI, Nr. 48, Sp. 356: »Pertinet enim haec ars ad custodiam publicae paxis, quam si adiuvamus, ita ut officia nostra referamus eo, ut ornemus religionem, ut luceat nostra fides in his actionibus, et prosimus verae Ecclesiae, sciamus nos Deo gratissimum cultum praestare.« Meltorffs Juristen-Spiegel (S. 20) schlägt für die rechtschaffenen Juristen den Ehrennamen »Priester der Gerechtigkeit« vor. Melanchthon: De dignitate legum oratio (1538), CR XI, Nr. 49, Sp. 364. Melanchthon: De Irnerio et Bartolo (1537?), CR XI, Nr. 48, Sp. 356: »Nunc adhortor iuvenes: primum ut venerari hos heroicos viros dicant; deinde ut avide eorum doctrina frui studeant; postremo, ut quantum quisque pro ingenii sui viribus potest, diligentiam eorum et sedulitatem imitari conentur.« Der Stadt Breßlaw SchulOrdnung[...] (1570), fol. .

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»Göttliche und Weltliche Weißheit«, damit sie »hernach zu Kirchen/ Schulen/ unnd Weltlichen Regiment und Aembtern tüchtig« werde.66 Die Schul-Actus des Gymnasium Magdalenaeum über Justinian (1655), Thomas Morus (1677) und Papinian (1685) setzen Melanchthons Forderung, berühmte Juristen als Vorbilder zu vermitteln, in pädagogische Praxis um und verdeutlichen den Kontext, in dem Gryphius' Papinian und Lohensteins Ibrahim Bassa zu lesen sind:67 In der Nachfolge Melanchthons hat sich geradezu eine literarische Gattung der Juristenviten entwickelt. Bestimmte Topoi kehren dabei stets wieder: die fleißige Nachtarbeit, die unter Gefahren unternommenen Reisen, der Vergleich mit Papinian und Ulpian, vor allem aber die Religiosität: Die Vorrede der Vitae et scripta magnorum Juris Consultorum. Das ist: Vollständige Leben und Schrifften Grosser Juristen (1713) von Claudius Sincerus zitiert einen Theologen: Gott braucht in der Kirche nicht nur gute und gelehrte Theologen, sondern auch rechtschaffene Juristen; und ein einziger frommer und intelligenter Rechtsberater, der die Religion liebt, kann oft mehr nützen als viele ausgezeichnet gelehrte Theologen.68

Sincerus verweist dazu auf den Patron der Rechtsgelehrten, Ivo, der seinen Besitz verkaufte und statt eines Hutes »die Bibel und das Corpus juris so viel er tragen konte/ auff den Kopf« setzte. In doppelter Funktion, sowohl in Abwehr der im Sprichwort >Juristen böse Christen< zusammengefaßten Vorbehalte gegen den weltlichen Juristen als auch im Sinne der vorbildlichen Wirkung von Rechtsgelehrten für das öffentliche Rechtsbewußtsein, betonen alle von Sincerus zusammengestellten Viten die Christlichkeit der Juristen. Von Martinus Chemnitius (1561-1627) heißt es etwa, er sei für die Nachwelt »nicht allein ein Exempel eines vollkommenen Juristen/ sondern auch eines frommen Theologen«, da er »alle Sontage/ ehe er in die Kirche gangen/ seines Vaters Harmoniam Evangelicam, wie auch des Baiderini und Meinseri seine meditationes Evangelicas fleißig vorher gelesen habe«. Er habe »auch den Kern eines jeden Textes im Evangelio carminice vorzustellen pflegen/ und solche seinem Töchterlein zu communiciren pflegen/ daß sie solchen auswendig lernen möchte«. Die Bibel habe er »alle Tage mit grossem Fleiß zu evolvieren pflegen«.69 Von den Schriften der behandelten Juristen werden besonders die religiösen hervorgehoben. Genannt werden etwa von Casparus Zieglerus (1621-1690), von dem es heißt, daß sein vor dem juristischen absolviertes theologisches Studium »dem Juridico ein grosses subsidium an die Hand gebe«70: »Jesus/ oder zwantzig Elegien über die Geburth/ Leiden und Auferstehung unseres Herren und Heylandes Jesu Christi« (Leipzig 1648); von Ahasverus Fritschius (1623-1701): »Biblische Seelen66 67 68

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Der [...] Stadt Breßlaw verbesserte Schul-Ordnung (1643), fol. A2. Vgl. Kühlmann: Der Fall Papinian (1981). Sincerus: Vitae [...] Juris consultorum, fol. )(2: »Deo in Ecclesia non modo bonis et doctis Theologis, sed probis quoque jure consultis opus est, atque unus jure consultus pius, intelligens, amans Religionis, saepe numero plus prodesse potest, quam multi insigniter docti Theologi.« Ebd. Bd. II, S. 173f - Chemnitzens Vater war Theologe. Ebd. Bd. II, S. 37

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Gespräche«, »Hohe Schule geistreicher Reden D. Lutheri« und weitere Andachtsbücher, Traktate und Erbauungsschriften. Bei Sincerus findet man auch die Vita des ersten juristischen Lehrers Lohensteins, Benedict Carpzov (1595-1666), der als typischer Rechtsgelehrter der Barockzeit gilt71 und im 17. Jahrhundert hohes Ansehen genoß.72 Sincerus gibt in seiner beinahe noch zeitgenössischen Darstellung Carpzov das Prädikat »Sonne aller neuen Rechtsgelehrten« und begründet das damit, daß er durch sein Exempel das gemeine dicterium: Juristen böse Christen/ gnugsam über den Hauffen geworffen/ und unwahr gemachet habe; denn er hat alle Heucheley aufs höchste gehasset/ er hat keine Predigten und andere Kirchen-Andachten versäumet gehabt/ [...] er ist fast alle Monate zum heiligen Abendmahl gegangen: Die heilige Biebel/ welche er biß an sein Lebens-Ende evolviret/ hat er 53. mahl durchgelesen gehabt/ und zwar nicht curiose und obenhin/ sondern hat auch die Commentarios darüber gelesen/ und darzu gewisse Stunden bestimmet; wie er denn die Rand-Glossen des D. Andreae Osiandri dreymal/ und die Notas D. Danielis Crameri zwölffmahl überlesen. Er hat auch selbsten über die Biebel Meditationes gemacht/ daß wenn seine Manuscripta alle ans Licht gekommen wären/ die Theologische Materien denen Juristischen operibus nichts nachgeben würden.73

Carpzovs wichtigste Schrift, die Pracfica nova imperialis Saxonica rerum criminalium (1635) verdeutlicht, daß es dem Praktiker Carpzov mit der Synthese von Theologie und Jurisprudenz ernst war. Er setzte an die Stelle des bloßen Sammeins von Gesetzen und Einzelfallentscheidungen den Versuch, das Recht von leitenden Prinzipien abzuleiten und damit zu systematisieren. Wie Melanchthon verwirklichte Carpzov dieses humanistische Anliegen, indem er das Strafrecht in der göttlichen Ordnung begründet und die 34 besprochenen Delikte nach den Geboten des Dekalogs gliedert.74 Lutherischen Vorstellungen entsprechend glaubte Carpzov, in ei71 72

73 74

Vgl. von Weber: Carpzov, S. 33. Carpzov, Mitglied einer sächsischen Juristen- und Theologenfamilie, gilt als Begründer der deutschen Strafrechtswissenschaft, die sich nicht mehr ausschließlich an den römischen Rechtsquellen orientiert, sondern auch an der Rechtspraxis der eigenen Gegenwart. Seit 1620 war er Beisitzer des Leipziger Schöppenstuhls, seit 1636 Assessor am Oberhofgericht. 1645 wurde er Professor juris der Dekretalien und Ordinarius der Leipziger Juristenfakultät sowie Vorsitzender ihres Spruchkollegiums, das, wie damals für Juristenfakultäten üblich, ständig Rechtsgutachten für Gerichte erstellte. Aus der Praxis heraus entstanden somit seine Schriften, die bis ins 18. Jh. hinein höchstes Ansehen genossen. (Vgl. dazu die Artikel zu Carpzov in der Neuen Deutschen Biographie und im Handwörterbuch der Rechtsgeschichte); 1675, also neun Jahre nach seinem Tod, würdigt ihn Philipp Andreas Oldenburger: »Claruit in eo adhuc ante paucos annos incomparabilis totius Europae Jurisconsultus Benedictus Carpzovius, qui jurisprudentiam Romanorum in praxin civilem et criminalem felicissima curiositate deduxit. Praeter Germanos nostros admirantur illum Dani, Suevi, Belgae et, quod mireris, etiam Galli, qui scripta illius in vernaculum linguam transferre atque typis exscribere Lugduni olim cogitaverunt.« Zit. nach Stintzing, Rechtswissenschaft II, S. 61. Sincerus: Vitae [...] Juris consultorum, Bd. I, S. 206 und 218f. Vgl. v.Weber: Carpzov, S.33f; Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II, S. 420; ähnlich verfahren auch Reinking in seiner Biblischen Policey 1653 (vgl. Stintzing: Rechtswissenschaft II, S. 200), Pufendorf (vgl. Barudio: Das Zeitalter des Absolutismus, S. 215); Seckendorff (vgl. Stolleis: Seckendorff, S. 168).

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nem verdorbenen letzten Zeitalter (»hoc saeculo pessimo«) zu leben.75 Dem Überhandnehmen des Verbrechens in dieser Endzeit zu begegnen im Vertrauen auf das von Gott gegebene Hilfsmittel des Dekalogs sah er als Aufgabe der Jurisprudenz an. Verbrechensbekämpfung war ihm Verteidigung des Gottesreiches gegen die Macht des Bösen; und die Handhabung der Strafgewalt war ihm »heilige religiöse Pflicht«.76 Dieses Selbstverständnis protestantischer Jurisprudenz gilt auch für Lohenstein: Im Arminius-Roman legt er anläßlich des Prozesses um Ismene dem Gerichtsvorsitzenden und Titelhelden gleichsam die Gedanken Melanchthons in den Mund: »Gott/ der die Gerechtigkeit selbst ist«, habe »kein grosser Geschencke den Menschen gegeben/ als die Gerechtigkeit.« Wer den »Richter-Stul« betritt, sitze daher »an Gottes Stelle« (Arm. II/538b). Arminius erinnert Kläger und Beklagte daran, daß die Gerechtigkeit der andere Pfeiler der Reiche/ eine Seele des gemeinen Wesens/ ja ihre Ausübung ein Theil des Gottesdienstes wäre; dadurch der Menschen Gut/ Ehre und Blut/ eben so wol GOTT dis/ was ihm zustünde/ gegeben würde. [...] Die Menschen kämen durch nichts GOTT näher/ als durch die Gerechtigkeit/ und könten sich durch nichts von ihm mehr entfernen/ als durch Ungerechtigkeit. Ein Richter wäre ein Stadthalter Gottes; (Arm. 11/531 a-b)

Auch die Gelegenheitsschriften, vor allem die Epicedien für und von Lohenstein, orientieren sich an dieser religiösen Begründung des Juristenamts. »Qui DEORUM in terris munere funguntur«, 77 so umschreibt Anton Kretschmer in seinem Lobgedicht an Lohenstein den Stand, zu dem er seinen Förderer zählt: der Beamte erscheint als von Gott beauftragt, als unmittelbarer Bestandteil der Obrigkeit also. Im Lebens-Lauff deß sei. Autoris weist Lohensteins Bruder Johann Casper, ebenfalls Jurist78, auf die Geburt Daniel Caspers am Tage der Bekehrung des hl. Paulus hin. Wie Paulus sei Daniel Casper auserwählt, und zwar für weltliche Aufgaben: »Massen Gott diese beyde Armen zugleich erfordert, und nicht weniger den Richterstuhl als die Cantzel versorget wissen will«.79 Die Epicedien verehren Lohenstein, ebenfalls in biblischer Assoziation, als einen »Daniel des Rechtes Priester« und als Heiligen: Nicht wundre, Leser dich, ob Seinem schnellen End/ Der Himmel/ nicht die Erd/ der war sein Element.80 75

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»Nihilominus tarnen in hac postrema mundi parte, postquam universi terrarum Orbis deflagratio prope imminet, ita frequentia sunt incendia, ita ulla ante aetate crebriora et frequentiora vix fuerint« (zit. nach v. Weber: Carpzov, S. 46, Anm. 45). Stintzing: Rechtswissenschaft II, S. 75. Kretschmer: Devoti Character Animi fol. B4r; vgl. dazu Martino: Lohenstein, S. 180f. Über Johann Casper schreibt M. Christoff Pfeiffer in einer ähnlichen Vita: »Sein eiferiges Christenthum war keine Verstellung, und wenn Er das Haus GOttes besuchte, kam Er nicht unter Pharisäischem Mantel. Der Umgang mit Priestern und Geistlich-Gelehrten war Ihm so erfreulich als angenehm.« (J.C.v. Lohensteins Edler Personen eröffnete Grüffte S. 99). Hans Caspar v. Lohenstein: Lebens-Lauff, fol. A4. Epicedien zu Lohensteins Tod, fol. C4 und B5.

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Und wie die Viten berühmter Juristen so heben auch die Epicedien für Lohenstein seine religiösen Werke hervor. Man finde bei ihm »viel heiliger Gedancken«. 81 Sie verrieten gleichermaßen seinen Geist und seine Andacht: »Wohl dem! der seinem Gott solch Opffer kan entrichten«. 82 In Anspielung an den Titel Himmel-Schlüssel seiner religiösen Gedichte wird Lohensteins früher Tod als Lohn eines heiligmäßigen Lebens dargestellt: Denn wer den Heiland ihm so fest ins Hertze prägt; Wer ihm durch Schrifften pflegt den Himmel auffzuschließen Durch Andacht Staffeln ihm zum Paradieße legt, Der muß ja zeitlich auch der Himmels-Luft geniessen. ' g-j

Lohenstein selbst hat den theologischen Anspruch seiner Dichtung in der Vorrede seiner Blumen formuliert: Fürnehmlich aber schicket sie [die Poesie] sich zum Gottes-Dienste. Die Andacht lasset sich in selbe so wol/ als der hohe Priester in Seide kleiden/ oder die Lade des Bundes mit Golde überziehen. Nicht nur die Väter der ersten Christlichen Kirchen haben schon hiermit ihre Geistreiche Gedancken ausgedrückt/ sondern der heilige Geist hat selbst in gebundener Rede den Mund des grossen Moses/ und die Harffe des durch Andacht mehrmals verzückten Davids gereget.

Lohensteins Gedichte in weltliche und geistliche zu trennen, ist problematisch. Die von Asmuth85 als »weltlich« eingestuften Begräbnisgedichte (Hyacintheri) etwa reflektieren Kreatürlichkeit, Unvollkommenheit, Erbschuld und Sterblichkeit des irdischen Menschen. Ein Teil von ihnen - Nachrufe auf Juristen - geht auf das Verhältnis zwischen Jurisprudenz und Theologie ein. Bekannt ist vor allem das Gryphius gewidmete Gedicht Die Höhe des menschlichen Geistes/ Über das Absterben Herrn Andreae Gryphiil des glogauischen Fürstentums Landes-Syndici (ca. 1664). Das Gedicht rühmt am Beispiel Gryphius' die Leistungen des menschlichen Verstandes, u. a. Beredsamkeit und Rechtsgelehrtheit. An die Spitze aberstellt Lohenstein darin die Theologie und ihre Beschäftigung mit der Hl. Schrift. So sei auch für Gryphius' Ruhm die Juristentätigkeit zwar höher als seine Dichtung, am höchsten aber seine Religiosität einzustufen: Wie sehr Herr Gryphejis Seel am Himmel hat geklebet, Als sie noch in der Schal und an den Fesseln lag, Wie sie die Welt verhöhnt, wie sie nach Gott gestrebet. Gibt die geistreiche Schrift des Ölbergs an den Tag.86

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Ebd. fol. C6. Ebd. fol. D4. M Ebd. fol. D8. M Lohenstein: Vorrede der Blumen, fol. ):(5. "5 Vgl. Asmuth: Lohenstein, S. 51. "* Lohenstein: Hyacinthen, S. 32. Gemeint ist Gryphius' lateinisches Epos Olivetum Libritres (1646), Teil einer Darstellung der Stationen von Christi Leben; voraus gingen Epen über die Geburt Christi und den Kindermord des Herodes; in einem vierten, heute unbekannten 1(2

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Die gleiche Werteordnung stellt Lohentein in dem Denckmaal Herren Andreae von Aßigs und Siegersdorffl Breßlauischen Syndici (ca 1676) auf. Auch in seinem Vorgänger als Syndikus rühmt er den Menschen als ein Meisterwerk Gottes, das sich selbst vollende, wenn Vernunft und Frömmigkeit sich verbinden, »wenn er die Tugend übet/ Durch Andacht sich zu Gott zu schwingen ist bemüht/ Nach Wissenschaften strebt/ die Weißheit hertzlich liebet;« Assig, den »die Gerechtigkeit zum Priester« erwählt habe, »wußte Rath und Volck [...] feste zuverbinden/ [...] Ereiferte für Gott/ und sorgte für's Altar«, so daß man sicher sei, »Der Himmel hab' ihn selbst für das gemeine Wesen Mit soviel Fähigkeit in der Geburth begabt;«87 Das dritte hier zu nennende Begräbnisgedicht konkretisiert das Begriffspaar Vernunft - Frömmigkeit zu den Begriffen Jurisprudenz und Christlichkeit. Das Epicedium Erlangte Ewigkeit Herrn Chrysostomi Scholtzens ICTI ist eine Apotheose des christlichen Juristen, der durch seinen rechten Glauben selbst die römischen Rechtsgelehrten übertreffe: Alleine/ wenn es kommt zur wahren Ewigkeit/ Dorf t Ulpianus selbst so Sach' als Recht verspielen. Denn wo der Glaube nicht Gesetz' und Rechte weyht/ Kan auch die Themis selbst den Himmel nicht erzielen. Hier aber hat mein Freund sein Recht so ausgeführt: Daß ein gutt Urtheil ihm Unsterblichen gebührt. Ja man wird auch noch hier auf seinem Grabe lesen: Er habe Gott gedient/ sey Menschen treu gewesen.88

Nicht die Einbalsamierung der Ägypter, nicht die größten Taten oder die Virtus der Stoiker, auch nicht die virtuose Kenntnis von geschriebenem Recht (sie alle seien vergänglich) lassen den Menschen vor dem Jüngsten Gericht bestehen, sondern gelebte Gerechtigkeit, die den ändern »zur Gerechtigkeit den Weg hier lebend zeigen« kann. Sie aber gründe im Glauben: Des Glaubens fester Mast lacht Unfall/ Seuchen/ Zeit/ Und hat die Krön erlangt von der Gerechtigkeit; Mit diesem Golde wird Gott auch sein Fleisch bekleiden/ Wenn ungerechter Glanz wird finstern Schiffbruch leiden. Dis ist das grosse Recht/ das uns das Heil spricht zu/ Das uns die Ewigkeit für Gottes Stul' errechtet.89

Besondere Beachtung für die Selbstdarstellung Lohensteins als christlicher Jurist verdienen die von den Verfassern seiner Epicedien vielfach gelobten Geistliche Gedancken über das Llll. Capitel des Propheten Esaias. Renate Gerling vermochte sich nicht »vorzustellen, daß Lohenstein das mühselige Werk der Bearbeitung von Jes. 53 zu seiner >eigenen Vergnügung< unternommen hat« und sieht in dem Text eine »Gelegenheitsarbeit«, an der den Autor lediglich das ästhetische Spiel interesEpos, auf das Gryphius in der Vorrede seines vierten Odenbuches verweist, ging es wohl um Grablegung und Auferstehung, (vgl. Mannack: Gryphius, S. 24ff). 87 Lohenstein: Hyacinthen, S. 19ff. * Ebd. S. 60. 89 Ebd. S. 59.

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siert habe. Die Bibel sei für ihn nur noch »Material für den Sprachkünstler«, er habe zu ihr »ein völlig säkularisiertes Verhältnis«.90 Urs Herzog hat nun Gerlings These widersprochen: »Meint >Säkularisierung< die entschiedene Verweltlichung vordem kirchlich-sakraler Inhalte und Formen, dann sind anders Lohensteins Geistliche Gedancken von 1680 noch einmal der Versuch, die vorhandenen (auch und gerade die säkularen) literarischen Mittel in sakralen Dienst zu stellen - geistliche Dichtung also.91 Gary Harris nimmt mit Recht den Titel Geistliche Gedancken ernst. Er sieht als Thema des Gedichts die Aufwertung der an Gottes Erlösungswerk beteiligten menschlichen Vernunft und die Einladung zur rationalen Auseinandersetzung mit der biblischen Offenbarung. Daß er dabei Lohenstein in die Nähe der Aufklärung rückt, ist plausibel;92 man hat aber nicht zu übersehen, daß bereits Scholastik, christlicher Humanismus und Reformation die menschliche Vernunft als Ableitung der göttlichen Offenbarung begreifen. Schon die Wahl des Schrifttextes deutet auf Lohensteins theologische Ambition hin, ja er scheint in seinen über 2000 Alexandrinern theologische Bildung geradezu demonstrieren zu wollen: Das LIII. Kapitel aus dem Buch des Propheten Jesaias beinhaltet das sog. Vierte Lied vom Gottesknecht (Jes. 52,13-53,12), vom Erwählten, den Jahwe den Menschen zu Hilfe sandte und der sich für diese opfert; es ist mit Bedacht gewählt: Die Theologie sah diesen Text seit langem als den wichtigsten des Alten Testaments an.93 So hatte Luther Jesaias in einer Vorlesung (1527/29) ausgelegt, aus der das 53. Kapitel von unbekannter Hand ins Deutsche übersetzt und mehrfach gedruckt worden war.94 Zu Beginn betont auch er die Wichtigkeit der Jesaiasstelle: Und ist freilich inn der gantzen Schrifft des alten Testaments kein klarer Text oder Weissagung/ beide/ von dem Leiden und von der Aufferstehung Christi/ als inn diesem Capitel/ Darumb es billich allen Christen wol bekand sein solt/ ja auch auswendig können sollen/ unsern Glauben zu stercken und zu verteidigen.95

Lohenstein greift in seinen Geistlichen Gedancken nicht nur auf den Wortlaut der Bibelübersetzung Luthers zurück, er übernimmt auch Aufbau und Methode des Reformators. Wie Luther wählt er die Form der Interlinear-Glosse, die die Exegese jeweils einem Vers oder Versteil des Textes folgen läßt. Dieses Verfahren, dogma* Gerling: Schriftwort und lyrisches Wort, S. 127. 91 Herzog: Himmels-Schlüssel: Lohensteins geistliche Lyrik, S. 221. 92 Harris: Technical and ontological reason in Lohensteins Geistliche Gedancken (1983), S. 281: »Rational behavior becomes the guarantee of salvation; converseley, irrational behavior assures damnation. From this position it is a short step to the Rationalist view of the absoluteness of human reason. Thus Geistliche Gedancken, while rooted in the God-centered universe, points the way to the mancentered cosmology of the Enlightenment.« 93 Apg 8,28-35; Thomas von Aquin: Summa Theologica III, qu. 52,1. 94 In Esaiam Scholia ex D. Martini Lutheri praelectionibus collecta. 1532Wittemberg. (WA25, S. 325ff); vgl.: Das LIII. Capitel des Propheten Jesaia/ Von dem Leiden und der Herrligkeit Christi/ Ausgelegt durch Dr. Martin Luther. Wittemberg 1539 (vgl. dazu WA 25, S.84f). 95 Luther: Das LIII. Capitel des Propheten Jesaia/ [...], fol. Aiiiv-Aiiiir. 181

tisch gültige Texte auf ihre aktuelle Relevanz hin zu erläutern, war ihm geläufig, da es von Juristen ebenso wie von Theologen angewandt wurde. In den theologischen Grundsätzen deckt sich Lohensteins Auslegung mit der Luthers. Im Detail aber verschiebt er die Akzente und erweist sich als durchaus selbständig. Wie Luther96 deutet er den Gottesknecht des Alten Testaments typologisch als Präfiguration Christi: Schau hingegen auf den Herr'n/ Der sich dir zum Mittler zeiget [...] Seele! körn/ komm/ sich ihn an Nicht mehr im Propheten-Spiegel; Denn das Buch der sieben Sigel Hat ein Lämmlein aufgethan. (GG/4H, 47f, 55ff)

Lohenstein führt diese Parallelisierung von Gottesknecht und Christus wesentlich intensiver durch als Luther, baut an den jeweils passenden Stellen des Jesaias-Textes Erzählungen aus dem Leben Jesu, etwa den Kindermord des Herodes, die Ankunft der drei morgenländischen Weisen, vor allem aber die ausführliche Darstellung der Passion Christi ein. In manchen Passagen allegiert er beinahe zu jeder Verszeile weitere Bibelverweise, meist aus dem Neuen Testament und den Paulusbriefen. Wo Luther die paulinische Rechtfertigungslehre nur abstrakt theologisch deutet, breitet Lohenstein die Lehre des Römerbriefes vom Sündenfall, von der Bestrafung der Menschen, der Sühne durch Jesus episch anschaulich aus. Der Bezug zu Lohensteins Beruf wird deutlich: In der paulinischen Rechtfertigungslehre und ihrem Verständnis von Gerechtigkeit und Gesetz konnte er das ethische Fundament des Rechts und damit die christliche Grundlage seines Berufs formulieren: Denn/ welchem Gott den Geist der Weisheit gibt/ Die Augen des Verstandes ihm erleuchtet; Daß er des Heil's Erkenntnüs merckt und liebt/ Den: daß sein Glaube Gott umarme/ deuchtet/ Und weiß: daß sein Erlöser lebt/ Der wird gerecht durch seines Glaubens Stärcke/ Wie viel an ihm erst Sünden Unflat klebt/ Aus Gnaden ohne den Verdienst der Wercke. (GG/2014ff)

Das Interesse des Juristen am christlichen Gerechtigkeitsbegriff zeigt sich auch darin, daß Lohenstein die der paulinischen Theologie ohnehin immanente juristische Paradigmatik im Vergleich zu Luther noch deutlich steigert. Zivilrechtliche Begrifflichkeit begleitet die auf Origines und Irenäus zurückgehende Argumentation, nach der Jesus sein Leben als Lösegeld gegeben habe, um damit die Menschheit aus dem Besitz des Teufels freizukaufen:

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Ebd. fol. Ciiiir: »hie setzt der heilige Prophet Jesaias/ unsers lieben HErren Jhesu Christi eigentliche contrafectur/ ebenbilde und definition«.

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Nachdem der erste Mensch/ der Herr hier ward auf Erden/ Durch den verdammten Apfel-bies Selbst seine Herrschaft von sich stieß/ Muß Gott der Herren Herr ein Knecht der Knechte werden: (Phil.20,7) Um uns des Adams nackten Erben Das Erbteil/ das er fahren ließ/ Durch seine Knechtschaft zuerwerben; Ja uns/ die wir nur Knechte warn der Sünden/ Ins Teufels Dienst gedingt/ ins Todes Sclaverey/ Vom Joche des Gesetzes zu entbinden. (GG/99ff, auch 1175ff, 2100ff)

Weitere zivilrechtliche Aspekte werden angedeutet: Der Mensch erhalte durch Jesu Tod das »Bürgerrecht« (GG/454); Jesu Sterben besiegele den »HeyrathsSchluß/ Kraft des Er Bräutigam/ die Kirche Braut seyn muß« (GG/426f); er löse »frembde Handschrift ein«, nachdem er »einmahl für unsre Schuld/ Dem Vater sich gesetzt zum Bürgen« (GG/1382ff). Dramatischer Höhepunkt ist aber der Bericht vom Prozeß gegen Jesus. Als Unrechtsprozeß, der von Haß, Vorurteil und Gnadenlosigkeit geführt wird, wird er im Kontrast zum gerechten und gnädigen Gericht Gottes über die Menschen vorgeführt. Jesus erscheint dabei zugleich als vorbildlicher Advokat der Menschen, der seinen Vater bittet, den Menschen eher zu vergeben als zu rächen (GG/2200f, 2208f), und als vorbildlicher Angeklagter, der im Vertrauen auf die göttliche Gerechtigkeit die ungerechte Strafe trägt. Juristische Fundamentalbegriffe wie >GesetzSchuldStrafeGerechtigkeit< werden in den Geistlichen Gedancken aus theologischer Perspektive beleuchtet. Die vom protestantischen Juristen Lohenstein vertretene Funktionsaufteilung zwischen Theologie und Jurisprudenz erhält also ihr Äquivalent in der Darstellung ihres tieferen Zusammenhangs. Von diesem Zusammenhang darf auch ausgegangen werden, wenn Lohensteins scheinbar weltliche Dichtung neben seine geistliche gestellt wird. c) Christentum und Kirchenkritik in Lohensteins Dramen Gegen Lundings, Verhofstadts und Szarotas Säkularisierungsthese hat, wie erwähnt, vor allem Gerhard Spellerberg wiederholt auf die in den Trauerspielen vorhandene, im Arminius oft breit entfaltete theologische Dimension hingewiesen. Mit Blick auf Lipsius' Unterscheidung des stoischen >FatumVerhängnis< und >Fatum< als die dem begrenzten heidnischen Bewußtsein der Fi97

Vgl. Lipsius: Von der Bestendigkeit: Cap. XIX unterscheidet vom stoischen Fatum die über dem Fatum stehende Vorsehung Gottes als »eine macht und gewalt in GOtt/ dardurch er alles sihet/ weis/ und regieret [ . . . ] . Das Fatum aber tritt ein wenig neher zu den dingen selbst ab/ und wird in einer jedem dinge sonderlich betrachtet. Das es also nichts anders/ als eine austheilung und auslegung der allgemeinen Versehung ist/ die da unterschiedlich unnd stückweis geschieht. (S. 57'"v). 183

guren entsprechenden Äquivalenzen zu den Begriffen >GottHimmelVorsehungJurist< dem >Orator< vor, er sei nicht daran interessiert, Recht zu finden, sondern nur daran, seine Eloquenz zur Schau zu stellen, was der Orator schließlich auch als Unvermögen eingesteht: Wir seyn aber deß langen geschwätzes gewohnet/ das hangt uns auch im richten unnd urtheilen nach/ daß wir nit mit kurtzen worten aussprechen können/ was weitläuftig vorgebracht worden. Ja unsere eigene Oration wissen wir nicht kurtz zu summieren.

Maßvoller als Vigelius, der wegen seiner Aggressivität schließlich mit Zensur belegt, als Rechtslehrer entlassen, aber viel gelesen wurde, äußerte sich Christoph Hegendorf (1500-1540): Man hat zu unterscheiden zwischen Rhetor und Redner, denn Rhetor wird der genannt, der die Rhetorik entweder lehrt oder aufschreibt. Redner aber wird genannt, wer vor Gericht Fälle verhandelt und über eine Angelegenheit umfänglich und tiefgreifend spricht; dennoch werden diese Bezeichnungen häufig durcheinandergebracht, so daß die eine anstelle der anderen benutzt wird. Ebenso sind Rhetorik und Redegewandtheit [...] nicht 242 243

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Lohenstein: Hyacinihen, S. 21. Ebd. Vgl. Hermann Conring 1606-1681. Ein Gelehrter an der Universität Helmstedt, S. 30. Nicolaus Vigelius: Richterbüchlein (zuerst 1579, weitere Auflagen bis 1733!), Vorrede fol.Aiiii. Ebd. S. 173.

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dasselbe. Denn die Rhetorik pflegt in den Schulen ihren Platz zu haben und ist auch dort geblieben. Die Redegewandtheit aber ist in die Höfe der Könige und Fürsten vorgedrungen. (Ü)247

Hegendorfs Unterscheidung gilt auch noch Mitte des 17. Jahrhunderts. Schulunterricht und Rhetoriklehrbücher vermögen keinen Überblick über die tatsächliche Situation der Redekultur zu geben. Sie sind meist bis in den Aufbau und einzelne Formulierungen hinein gebunden an eine lange Tradition von Vorbildern, geben allenfalls Gesichertes, wenn nicht Überholtes wieder und haben mit der Praxis wenig gemein. Viel ist über das Verschwinden der praktischen, forensischen Rhetorik im Zuge antirepublikanischer Entwicklungen seit der späten Römerzeit, seit Tacitus' Dialogus de oratoribus geklagt worden. Walter Jens sieht die Geringschätzung der Rhetorik in Deutschland besonders ausgeprägt und stellt fest, »daß das feudalistische Regime unzähliger kleiner Territorialherren Deutschland nicht nur um seine republikanische Rede, sondern auch um seine affirmative Rhetorik gebracht hat«, da nicht nur die Möglichkeit zum Meinungsstreit um Mehrheiten entfiel, sondern auch ein die Prunk- und Festrede förderndes politisch-kulturelles Zentrum.248 Hans-Joachim Lange unterstützt dies durch die Untersuchung einer Vielzahl von Rhetoriken des 16. und 17. Jahrhunderts, die die Redelehre unter Vernachlässigung der Inventio verkürzen vor allem auf die Elocutio. Diese Einengung des rhetorischen Systems auf die Sprachkunst, auf das Dekorative und allenfalls Psychagogische der Rede, zertrümmere jene klassische, von Cicero und Quintilian geschaffene »Vereinigung des versierten Sprachtechnikers mit dem politischen Menschen«.249 Der Verlust der politischen Relevanz der Sprachkunst zeige sich auch darin, daß im 16. Jahrhundert wie im Hellenismus das genus iudicale als eigene Redegattung untergehe und das genus demonstrativum dominiere. Literarische Folge der Loslösung der Rhetorik von politischer Verantwortung sei die Entstehung eines manieristischen Barockstils an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, der selbst noch die Reste der argumentativen Rede zum ästhetischen Spiel umwertete. Sozialer Hintergrund für die Trennung des Künstlers vom Bürger und die Umwandlung der Rhetorik in eine Kunst, die zur »wertneutralen und von ethischen Rücksichten freien Domäne«250 ästhetischer Willkür degradiert wurde, sei der Absolutismus: »schloß doch die absolutistische Staatsphilosophie den Schriftsteller in seiner Eigenschaft als Künstler bewußt von der politischen Verantwortung aus, verwies ihn ganz auf die reine Kunst und erlaubte ihm nur dekorative Funktionen.«251 247

248 249 250 251

Hegendorf: Dialectica Legalis (1536), fol.3v: »Rhetor et Orator discrepent, quod Rhetor proprie dicatur is, qui Rhetorica vel profitetur vel scribit. Orator vero appellatur, et qui causas in foro agit, et copiose ac graviter, ac re aliqua dicat, tarnen non raro haec nomina confunduntur, ita ut alterum pro altero ponatur. Veluti etiam Rhetorica et eloquentia [...] non eadem sunt. Nam Rhetorica in Scholis versari solet, et etiam in illis remansit. Eloquentia vero in aulas regum et principum penetravit.« Jens: Von deutscher Rede, S. 19; vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 152ff. Lange: Aemulatio Veterum, S. 41. Ebd. S. 54. Ebd. S. 41. 233

Langes Argumentation trifft, was die soziologische Komponente angeht, sicher für den Bereich der Höfe und deren Repräsentationskunst zu, nicht aber für die Kultur der politisch oft sehr selbständigen und zur politischen Mündigkeit erziehenden Städte, auch nicht für den Bereich der Fürsten- und Beamtenerziehung. In diesen Bereichen entsteht in der zweiten Hälfte des IV.Jahrhunderts innerhalb des schulischen Rhetoriksystems eine gegen jenen Manierismus gerichtete neue Rhetorik, die sich an der politischen Praxis zu orientieren bereit ist: Da sich Sebastian Mitternacht bei Proben seines Trauerspiels Der Unglükselige Soldat und Vorwitzige Barbirer (1662) von ungeladenen Zuschauern vorwerfen lassen mußte, die Darstellung einer Gerichtsszene sei lächerlich, weil die nach schulrhetorischen Modellen konstruierten Reden mit der juristischen Praxis nichts gemein hätten, läßt er einen Admonitor vor Beginn der Gerichtsszene erklären, daß »solch Gerichte nicht nach Art und Weise derer heutigen Tages üblichen gerichtlichen Processen in causis capitalibus, sondern einig und allein nach denen praeceptis rhetoricis, die Aristoteles, Cicero und andere Rhetorices de statibus generis juridicalis hinterlassen/ werde eingerichtet und gehalten werden.«252 Auch Christian Weise (1641-1708) sieht die Diskrepanz zwischen Schulrhetorik und Redepraxis;253 er nennt als Ursache die Veränderung der Redesituationen. Öffentliche Reden seien in seiner Zeit kaum noch von politischer Bedeutung. Das scheint Langes Theses zu unterstreichen. Aber Weise sieht einen neuen Bereich politischer Redepraxis, der Veränderungen rhetorischer Normen erfordere: Entscheidungen würden mehr »in einem stillen Cabinet, als in einem großen Platz« vorbereitet: So wird die Reflexion mehr auff den Politischen Kern/ als auff die euserlichen Schalen gemacht/ und niemand wird bey den wichtigsten Staats-Handlungen auch wohl in gemeinen Angelegenheiten sehr avanciren/ wenn er seinen Vortrag nach den Ciceronianischen oder nach den aristotelischen Leisten einrichten wolte.254

Weise entwirft deshalb das neue Ideal erfolgversprechender Rede: die Lehre vom scheinbar natürlichen, aber wohl geschulten Sprechen: gleich als würden die Einfalle nebenst den Worten nur unter der Zunge gebohren/ und als wenn man das gantze Werck einer freymüthigen Extemporalität zu dancken hätte. [...] Denn wo man etwas gezwungenes mercken läßt, da nicht, also zu reden, aus dem einfältigen Naturelle geflossen ist, so wird man der Falschheit wegen suspect, und der andere Theil resolvirt sich, entweder nichts zu hören, oder nicht zu glauben. Und dannenhero müssen auch die Affecten gantz unvermerckt, und also zu reden mit einer sachten Einfalt gerühret werden, in Summa, man soll di Auffrichtigkeit und die Wahrheit, oder doch die kluge Vorsichtigkeit mehr gelten lassen als die studirte Beredsamkeit.

252 253

254

255

Mitternacht: Trauer-Spiel fol. G7r, zit. nach Kaiser: Mitternacht - Zeidler - Weise, Anm. 12, S. 61. Vgl. Schwind: Schwulst-Stil (1977), bes. S. 97ff, S. 128ff; Kühlmann: Gelehrtenrepublik, S. 239ff. Christian Weise: Vorrede von der also genannten Prudentia sermonis secreti, zit. nach Kaiser: Mitternacht - Zeidler- Weise, S. 159. Weise: Neue Proben, zit. nach Kaiser: Mitternacht - Zeidler - Weise, S. 161.

234

Man ist gewohnt, Weise als Dichter der Frühaufklärung in Kontrast zu Lohenstein, dem Dichter des manieristischen >SchwulstesRhetor< ist >Legist< -, die quaestiones civiles galten wie in der Antike als das eigentliche Betätigungsfeld der Rhetorik [...]. Die Techniken der Rhetorik zu beherrschen hieß für den Kleriker und künftigen Notar in erster Linie: Urkunden verfassen und Briefe schreiben zu können.« 267 Nachdem bereits seit dem frühen Mittelalter (Cassiodor) Urkunden als Vorlagen für die Abfassung neuer Urkunden in sog. Formel- oder Formularbüchern gesammelt worden waren, bildeten sich seit dem 12. Jahrhundert in Bologna, dem Zentrum mittelalterlicher Rechtsgelehrsamkeit, die ars dictandi/dictaminis bzw. Briefstellerkunst und die Notariatskunst aus, die Kunst, kurze, aber rechtlich klare Texte jeder Art zu erstellen.268 Im deutschen Sprachraum wurde diese Schriftkultur in der Kanzlei Karls IV. entwickelt. Johann v. Neumarkt (um 1310-1380) stellte in seinen Formularbüchern Cancellaria und Summa cancellariae Caroli IV. für die Reichsverwaltung bedeutende Schriftstücke zusammen.269 Diese Formularbücher entsprechen den praktischen Bedürfnissen der juristischen bzw. administrativen Praxis, überliefern wichtige Begriffe, Wendungen und standardisierte Argumentationsteile, beschäftigen sich mit den in einer ständischen Gesellschaft relevanten und hochdifferenzierten Formen der Widmungen, der Titulatur, der Einleitungs- und Schluß-, Bitt- und Dankesformeln und bilden bald einen besonderen Zweig der Verwaltungslehre. Die Anweisungen für einen dem sozialen und rechtlichen Leben adäquaten Briefund Urkundenstil weiten sich bis zum 16. Jahrhundert aus zu oft umfänglichen Rhetoriken270 mit reichhaltigen Apparaten von Redensarten und Wendungen (auctoritates, flores rhetorici, colores rhetoricales, synonyma rhetorialia) im Anhang. Für die Vielzahl der vor allem im 16. Jahrhundert verbreiteten deutschsprachigen Formelbücher mag hier ein Beispiel stehen: der Spiegel der waren Rhetoric:271 Der erste Teil gibt eine Einführung in die Rhetorik, verweist dabei auf Cicero und stellt eine freie Bearbeitung des Auctor ad Herennlum dar. Besprochen werden die Bestandteile Inventio, Dispositio, Pronuntiatio, Elocutio, Memoria; besonders ausführlich wird die Inventio mit ihren drei genera causarum, und unter ihnen wiederum das 267 268

269

270 271

Jens: Rhetorik, S. 440; vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 155ff; Fischer: Rhetorik, S. 144. Vgl. Alberich von Monte Cassino: Breviarium de dictamine 1105, Thomas von Capua: Summa dictaminis 1230; Peter von Vinea: Dictamina 1248. Zur Bedeutung der Prager Kanzleisprache und speziell Johann von Neumarkts für Breslau: Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. I, S. 52ff. Vgl. Stintzing: Geschichte der populären Literatur, S. 322. Vgl. ebd. S. 327ff, dort weitere Beispiele. 239

genus iudicale behandelt. Juristische Fragen, vor allem aus dem Strafrecht, werden mit eingeflochten; der zweite Teil besteht aus einem Titularbuch und einer Sammlung von Sendschreiben; der dritte Teil bringt einseitige und zweiseitige Contracte, aufbereitet mit wissenschaftlichen Kommentaren, und stellt >Erscheinungen, >Abvorderungen< und >GewaltsbriefeStaatsweysin< und die >Wol RednerinStatsweysin< die politische Macht erwirbt, vermag die >Wol Rednerin< ihr Dauer zu verleihen. Unter den beiden sitzen die >Geschichte< und die >DichterinIurisprudentia< mit Waage und Schwert zwischen den Palmen der Aufrichtigkeit sitzend, darunter der Titel Der Teutsche Advokat, darunter dann die Darstellung des rechtlichen >Factum< in zwei Bildern: einem Vertragsabschluß und einer Mordszene; ganz 282 283

284

Stieler: Teutsche Sekretariat-Kunst, Widmungsvorrede, fol.):(iii v . Ebd. fol.):( iii; vgl. auch: »Hohe Schulen machen allein keine Sekretarien, sondern die Höfe und Rahtstuben sind disfalls die rechte Lehrbänke.« (Ebd. I.Teil, S. 16). Ebd. Teil II, Widmungsvorrede fol.):(iiiv; Stieler begründet damit das Angebot, dem Berufsanfänger im II. Band vorbildliche Texte zur Nachahmung zur Verfügung zu stellen.

242

unten schließlich das >IusIurisprudentia< assistiert von vier Putten (in einem Widmungsgedicht werden sie als die »vier getreuen Rähten«285 bezeichnet), die die wichtigsten Hilfsdisziplinen verkörpern: links >Ethica< und >LogicaPolitica< und >Rhetoricanachaffengebrauchen< (s. o.). Mit dieser Unterscheidung fällt aber der zu Lohensteins Lebzeiten ohnehin nicht erhobene Vorwurf weg, sein manieristischer Stil entspreche nicht mehr dem heraufziehenden bürgerlichen Zeitalter. Man hat die hohe Künstlichkeit seiner Dichtungssprache nicht als Praxis, sondern als Theorie einer deutschen Bildungssprache anzusehen. Poesie bedeutete 308 309 310 311

Zit. nach Martino: Lohenstein, S. 153. Banet: Die Entwicklungstendenzen des Schulwesens der Stadt Breslau, S. 484; Martino: Lohenstein, S. 162. Stieler: Der Teutsche Advokat, Vorrede, S. 1. Ebd. Teil II, S. 900; Stieler meint wohl nicht Lohensteins Drama, sondern Zesens bekannten Roman.

247

in der spätbarocken Dichtungslehre die Kulmination der Sprachmöglichkeiten. Der Poet zeichne sich dadurch aus, schreibt August Buchner (1591-1661) in seiner Anleitung zur Deutschen Poeterey (1665), daß er sich in die Höhe schwingt/ die gemeine Art zu reden unter sich trit/ und alles höher/ kühner/ verblümter und fröhlicher setzt/ daß was er vorbringt neu ungewohnt/ mit einer sonderbahren Majestät vermischt/ und mehr einem Göttlichen Ausspruch oder Orakel/ [...]/ als einer Menschen-Stimme gleich scheine.

Natürlich wird damit die ursprüngliche Funktion von Rhetorik, nämlich zu überzeugen oder zumindest zu überreden oder zu bewegen, verlassen. Man hat deshalb von >Pararhetorik< und >Überrhetorik< gesprochen,313 deren Ziel das Sprachspiel und deren Wirkungsabsicht Staunen, Überraschen, Verblüffen ist. Man wird dieser ästhetisierten Rhetorik und Dichtung aber nicht gerecht, wenn man sie einfach gleichsetzt mit dem horazischen delectare und seinen zeitgenössischen Übersetzungen wie Vergnügen oder Belustigung: Die »wichtigste Maxime des Barockmanierismus« ist, eine Sache so ausdrücken, »wie man sie gerade noch ausdrücken kann.« 314 Es geht also dabei um Erkenntnisakte, um das Ausloten »rhetorischer Grenzmöglichkeiten«,315 um ein Verhältnis zur Sprache, das insbesondere die antike Sophistik entwickelt hatte: Sprachspiel bedeutet demnach Experiment; Sprache und Sprachkritik, Rhetorik und Rhetorikkritik sind dann keine Gegensätze, sondern dialektisch aufeinander bezogen. Berücksichtigt man dies, so erscheint es auch nicht mehr als widersprüchlich, daß etwa Fabricius in seiner Philosophischen Oratorie Lohenstein zu den wichtigsten Vorbildern der Beredsamkeit zählt,316 dem Juristen aber »kurtze Deutlichkeit, gründlichkeit und bündige Schlüsse [...] ohne zweydeutigkeit« empfiehlt und sie warnt, »figuren-krämerey und wäscherey« oder »ingeniöse und satyrische redensarten« zu verwenden.317 c) Rhetorik und Rhetorikkritik in Lohensteins Dramen Walter Jens beklagt, daß das deutsche Volk deshalb der »Rattenfänger-Propaganda« Hitlers so geschwind unterlegen sei, weil seine Rhetoriklehre von Priestern und Gelehrten, nicht aber von Praktikern betrieben worden war und ihm niemand »die Tricks und Kniffe der Parlamentsrhetorik beigebracht hatte«.318 Die deutsche Redelehre habe sich stets nur um stilistische Fragen und rhetorische Figuren gekümmert, nie aber um den Wirkungsbezug: 312 313 314 315

316 317

318

Zit. nach: Poetik des Barock, S. 260. Hocke: Manierismus in der Literatur, S. 123ff; Wiedemann: Johann Klaj, S. 113ff, hier S. 118. Wiedemann: ebd., S. 122. Ebd. S. 166. Fabricius: Philosophische Oratorie, S. 18, 155, 222, 278. Ebd. S. 488, S. 491. Jens: Von deutscher Rede, S. 23.

248

Sucht man in deutscher Literatur nach entschiedenen Warnungen vor den Gefahren der rednerischen Demagogie, so sucht man vergebens. Die Rhetorik galt als pomphaft, eitel, trickreich, nichtig, liederlich; [...] aber gefährlich, als Agitation und Magie, der gut bewaffnet zu begegnen sei, erschien sie nur selten. [...] Im Untertanenstaat hatte der Agitatoreinfach keine Funktion, man kannte ihn nicht, man fürchtete ihn nicht, die aufgestellten Regeln galten dem Prediger und dem Gelehrten.319

Jens zählt dem gegenüber Beispiele aus der englischen Literatur auf: die »RhetorikExerzitien Richards III., die Mark-Anton-Rede im Julius Caesar«, die »diabolischen Agitatoren [...] Satan, Beelzebub, Moloch und Belial«, die in Miltons Paradise Lost die Effekte der verschiedenen Sprachmittel bis hin zum eloquenten Schweigen kalkulieren und vorführen, zugeschnitten jeweils auf Publikum und Situation. Im Blick auf die deutsche Dichtung vermag Jens nur noch rhetorisch zu fragen: »Gibt es im deutschen Drama so etwas [...] Gibt es Stellen, die weder Zitatnestern gleichen noch die Maximen des Autors auf die dramatis personae verteilen, sondern Passagen sind, an denen das Rhetorische seine funktionale Dramatik erweist.« - »Von wenigen Ausnahmen abgesehen«, so die Antwort, habe sich so etwas »zwischen Konstanz und Kiel nie gebildet.«320 Lohensteins Dramen jedenfalls gehören zu diesen Ausnahmen, zumindest, was die Analyse rhetorischer Funktionen angeht; sie stellen, zusammen genommen, eine Vielfalt verschiedenster Aspekte und Probleme rhetorischen Sprechens vor. Nehmen wir zunächst Ibrahim Sultan, ein Drama, dessen Struktur geradezu bestimmt ist durch das Verhältnis von politischer Brachialgewalt und den Möglichkeiten der Rede. Von Beginn an spielt die Rhetorik eine wesentliche Rolle: Die redegewandte Kupplerin Sechierpera löst den Konflikt aus. »Zirze« wird sie von der Sultansmutter Kiosem genannt, weil ihr »süsser Mund« den einst geradezu kühlen Sultan zu unersättlicher Lust verführt habe (IS 1/234,241). Um den von Sisigambis zurückgewiesenen Sultan zu beschwichtigen, setzt die Kupplerin erstmals auf der Bühne ihre Rhetorik ein: sie stellt ihm eine neue Geliebte in Aussicht, Ambre, die junge Tochter des Mufti, die sie nun mit allen Registern petrarkistischen Frauenlobs anpreist (IS I/316ff). Da auch Ambre die Werbung nicht annimmt, bietet Sechierpera erneut ihren Dienst an. Sie traue sich zu, das Mädchen »Mit Farben schönsten Golds« (IS 11/255) umzustimmen. Es kommt zu einem langen stichomythischen Dialog zwischen den beiden, in dessen Verlauf Ambre, die bereits ein Keuschheitsgelübde abgeschlossen hat, jedes Argument zugunsten der Liebe und speziell zugunsten des Vorzugs, von einem Sultan geliebt zu werden, entkräften kann, bis sie das Gespräch abrupt abbricht: Sechierpera solle »nicht mehr vergebens« auf sie einreden, sie könne, wolle und dürfe Ibrahim nicht lieben (ISII/506f); ja Ambre gelingt es, allerdings durch reiche Belohnung, die Kupplerin für sich zu gewinnen. Sie wolle, so verspricht Sechierpera Ambre, was »nur Beredsamkeit und List« vermöchten, für sie »handeln.« (IS 11/522ff). Nun also setzt sie ihre Kunst gegen den Sultan ein, mit der Absicht, ihm Ambre wieder auszureden. Sie habe sich getäuscht, so leitet sie nun 319 320

Ebd. S. 22f. Ebd. S. 21.

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die Darstellung der Fehlerhaftigkeit Ambres ein. Aber ihre Revision hat keinen Erfolg: »Die Seiffe tilget nicht das Bildnüß auß dem Hertzen/ Die deine Zunge selbst pregt unser Seelen ein. [...] Schweig Sechierpera!« (ISIII/100f,116) - mit diesem Machtwort beendet der Sultan ihre Redekünste. In der Figur der Kupplerin wird deutlich, wo die Schwächen der Beredsamkeit liegen: in ihrer freien Verfügbarkeit als Werkzeug für und gegen alles und jeden. Sechierperas Auftritte stellen damit den ciceronianischen ethischen Anspruch der Beredsamkeit in Frage, die enge Verbindung von Zunge und Herz,321 die gerade dem schulischen Rhetorikunterricht als pädagogische Legitimation diente. Damit stellt Lohenstein das wichtigste Argument der Rhetorikkritik dar, wie sie vom französischen Humanisten Petrus Ramus (1515-1572) entwickelt wurde. Ramus vertrat eine nüchterne, entethisierte und deshalb kritisch zu beobachtende Rhetorik. (Über seine Bedeutung für die Rhetorik der Juristen wird unten noch ausführlicher zu sprechen sein.) Das zweite Argument gegen eine Überbewertung der Redekunst verkörpert der Sultan: Neben dem Schweigebefehl an die beredte Kupplerin zeigt sein eigener Versuch, Ambre umzustimmen, das verächtliche Verhältnis des Machthabers zur Rede: Jedoch wir wolln noch einst der Wortte Zucker brauchen. Wo aber sie umbsonst den Weyrauch läßt verrauchen/ Den unser lodernd Hertz der Kalten zündet an; So glaube: daß so denn uns nichts nicht halten kan/ die uns versagte Blüth ihr schimpflich abzubrechen/ Und der Bethörten Trotz durch ihre Schmach zu rechen. (IS HI/391 ff)

Die anschließende flammende und einfühlsame Werberede an Ambre hat damit natürlich von Beginn an für den Zuschauer an Glaubwürdigkeit verloren und verkehrt sich dann auch, wie zu befürchten war, in die Ankündigung ihrer brutalen Vergewaltigung (IS HI/505 ff). Von da an wendet sich aber das Blatt. Zu Beginn des IV. Aktes steht die geschändete Ambre auf der Bühne: [...] Gerechter Himmel/ höre Die Säufzer meiner Seel/ indem das stumme Leid Mir Red und Zunge knüpft. [...]. (ISIV/108ff)

Nicht Rhetorik, sondern der Anblick des an ihr begangenen Frevels, ihr Leid, die natürliche Sprache ihrer Klage, ja ihr Verstummen mobilisieren die Bässen, was schließlich zur Entmachtung Ibrahims führt. Noch kritischer wird die Macht der Rede in Epicharis dargestellt. Der erste Akt gehört beinahe unbeschränkt der Rhetorik. Politische Reden, die zum Widerstand gegen Nero aufrufen, vereinen nach und nach eine Schar von Verschwörern, die am Ende des Aktes mit einem pathetischen Eid Neros Sturz beschließen. Aber bereits innerhalb dieser Dynamik revolutionärer Rhetorik wird ein retardierendes Moment angedeutet: Natalis warnt Epicharis vor Proculus: 321

Cicero: De oratore, III.Buch, 61.

250

Dem Proculus zu viel zu trauen/ ist nicht Rath: Der von der Zung ein Mann/ ein Weib ist in der That. (E 1/331 f)

Als einen, »der nur pflegt groß zu sprechen/ Und donnert/ eh er schlägt« (E I/344f), streicht Epicharis ihn deshalb aus ihrem Kalkül für die revolutionäre Regierung mit Recht, wie sich herausstellt; denn er verrät sie später beim Kaiser. Das Scheitern der Verschwörung an der Kleinmütigkeit auch der anderen vorher großsprechenden Männer und die vielen Verhöre, die Geständnisse, die jeweils mit Foltern erpreßt werden, sind - selbst wenn alle vier Reyen auf den Untergang Neros und des Römerreiches verweisen - augenscheinliche Beweise für die Unterlegenheit des Wortes gegenüber der Gewalt. Beides, die Schwäche des Wortes gegenüber dem Machthaber und die Inkongruenz zwischen dem Anspruch des eigenen Worts und dem eigenen Handeln,322 wird geradezu provokativ in Agrippina demonstriert an der dort kritisch zu bewertenden Figur Seneca: Agrippinas und Octavias Bitte, für ihr Recht einzustehen, weist Seneca zurück mit dem Argument seiner Machtlosigkeit (A H/293 ff u.Anm.). Im letzten Akt stellt er dann seine Beredsamkeit in den Dienst des politischen Verbrechens: man müsse, so rät er Nero, dem römischen Senat den Mord »mit guttem Scheine« beibringen und Agrippinas Person deshalb »mit neuen Farben« anstreichen (AV/202,212). Vernichtend ist das in einer Anmerkung ausgestellte Gesamturteil gegen Seneca: er habe fast in allem ein anders gethan/ ein anders gelehret. Er habe getadelt die Tyranney/ und sey eines Tyrannen Lehrmeister gewest: er habe gescholten die mit Fürsten umbgiengen/ und er sey selten vom Palaste wegkommen. Er habe die Heuchler verflucht/ und er habe Königinnen und Freygelaßenen Lob-Reden verfertigt. [...] Er habe anderer Leute Überfluß verdammet/ und er habe 500. Cederne Taffein mit Helffenbeinernen Gestülen gehabt. (AAnm. zu V/49)

Moralische Sieger dieser Dramen sind nicht die Machthaber und nicht die großen Redner, sondern diejenigen, die schweigen können: in Epicharis jener andere Seneca, der, obwohl Vertrauter des Kaisers, über sein Wissen um die Verschwörung schweigt und dafür sterben muß, und Epicharis, die aller Folter zum Trotz bis zum Foltertod schweigt, in Ibrahim Bassa Ibrahim, der Rustahns Scheinrechtfertigungen seiner Verhaftung als »schlechtes Wort-gezänke« (IB /189) zurückweist, um zusammen mit den »Stummen« die »stille Mahlzeit« als Vorbereitung auf seine Hinrichtung zu feiern (IB HI/165 ff,209 ff), in Ibrahim Sultan Ambre, der »das stumme Leid [...] Red und Zunge knüpft« (ISIV/109f). Walter Benjamin hat das Schweigen als ein Konstituens der antiken Tragödie ausgewiesen:

322

Proculus und Seneca scheinen Graciäns Lehre auf der Bühne umzusetzen: »Den Mann von Worten von dem von Werken unterscheiden. [...] Worte kann man nicht essen, sie sind Wind; und von Artigkeiten kann man nicht leben, sie sind ein höflicher Betrug. [...] Die Worte sollen das Unterpfand der Werke sein, und dann haben sie ihren Wert [...]« (Graciän: Handorakel, Nr. 166; vgl. Nr. 202 u. 203). 251

>Der tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen. So ist es von Anfang an. Das Tragische hat sich gerade deshalb die Kunstform des Dramas geschaffen, um das Schweigen darstellen zu könnenzum Schweigen bringen< und >im Schweigen das Reden verweigern< begriffen, nicht nur als Gegenpol zur Rede also, sondern auch als bisher vernachlässigter Teil der Redekunst selbst neu entdeckt, der unter Umständen dem Reden überlegen sein kann.326 Es entstehen neben den vielen Rhetoriken auch Lehrbücher über das Schweigen wie die Disputatio de Eloquentia in tacendo des Juristen und Rhetoren (und Lohenstein-Verehrers) Daniel Georg Morhof.327 Schweigsamkeit erscheint dort als Aus323 324 325 326

327

Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 110; Benjamin zitiert hier aus : Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1921, S. 98f. Müller-Seidel: Das stumme Drama der Luise Millerin. Schiller: Kabale und Liebe, III/ 6. Szene. Vgl. das Epigramm des Jesuiten Bauhusius: »Tacere Dicendi ars magna est; maior, mihi crede, Tacendi. Mille loqui docuere artes, sed nulla Tacere.« (zit. nach Kühlmann: Gelehrtenrepublik, S. 252) Morhof: Disputatio de Eloquentia in tacendo, in: Dissertationes Academicae, Hamburg 1699, S. 446-470; Eine Vielzahl weiterer Belege findet man dazu bei: Kühlmann: Gelehrtenrepublik, S. 246-255.

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druck disziplinierten Verhaltens und bezieht die verschiedensten »Formen des beredten Schweigens« wie Andeutung, Anspielung, Verschlüsselung mit ein.328 Innerhalb der Staatsräson-Diskussion wurde diese Schweige- oder besser Verschwiegenheitskunst unter dem Begriff >dissimulatio< diskutiert, meist gemeinsam mit >simulatiosimulatio< und >dissimulatio< zu den für einen Politiker der frühen Neuzeit obligatorischen Verhaltenstechniken. Als einer, der »beydes zu simulieren und zu dissimulieren« in der Lage war, wird auch Lohenstein bezeichnet.330 In einer Anmerkung des Dramas Cleopatra zitiert Lohenstein aus einem französischen Lehrbuch der Staatskunst: König Ludwig XI. von Frankreich habe seinen Sohn Karl VIII. »mehr nicht lernen lassen/ als diese Lateinische Wortte. Qui nescit dissimulare, nescit regnare.« (Anm. zu C/uIV/84) Diese Anmerkung bezieht sich auf eine Sentenz, in der ein Römer das Dissimulieren als Voraussetzung des Regierens bewertet: »Wer sich nicht anstelln kan/der taug zum herrschen nicht«(IV/84). Das entspricht der Definition Machiavellis, der fordert, es sei dem Fürsten »notwendig, seine Natur gut zu färben (colorire) und ein großer Versteller und Verschleierer (simulator et dissimulator) zu sein,331 und der mit >simulatio< und >dissimulatio< Stichworte zu einer aktiven Rhetorik der schönfärbenden Täuschung liefert. Aber wie Machiavelli insgesamt, so war auch diese Definition mehr als umstritten.332 Man kannte natürlich auch die ursprüngliche, von Sokrates, Cicero und Quintilian entwickelte Bedeutung der >dissimulatio< als einer überlegten Zurückhaltung des eigenen Wissens und der eigenen Meinung: durch eigenes Schweigen sollte im rhetorischen Parteienkampf der Gegner in Selbstsicherheit gewiegt und zur Bloßstellung seiner selbst verführt werden.333 Nach ciceronianischer Vorstellung ist >dissimulaticx also ein rhetorisches Instrument der Wahrheitsfindung, nicht des Betrugs. Auch Graciän nimmt in seiner Klugheitslehre diese Position ein. Ein »rechtschaffener Mann«, so lehrt er, stehe stets »auf der Seite der Wahrheit«, selbst wenn er oder seine Freunde dadurch in Gefahr geraten: Mögen andere sich bei ihren 128 329 330 331 332 333

Kühlmann: Gelehrtenrepublik, S. 250. Zedler: Universal-Lexicon, Bd. VII, Sp.1072. Ebd. Bd.XVIII, Sp.279b; vgl. auch Ferdinand Ludwig von Bresler: De vita et scriptis Danielis Caspari a Lohenstein (1702); dazu siehe Martino: Lohenstein, S. 159. Machiavelli, im 18. Kapitel von // Principe (1513). Vgl. Stackelberg: Tacitus, S. 261; - Marti: Philosophische Dissertationen: Marti fand für den Zeitraum 1660 und 1750 30 Dissertationen zu diesem Thema. Zum Begriff >dissimulatio< vgl. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 160 und S. 456-460; vgl.zu seiner Verifizierung in Rubens Malerei: Warnke: Kommentar zu Rubens, S. 53ff. 253

Lügen auf Notstand, göttliche Fügung oder Staatsräson berufen, - der Rechtschaffene halte dagegen »jede Verstellung für eine Art Verrat« und lasse einen Partner nur dann im Stich, wenn jener »zuvor von der Sache der Wahrheit abgefallen war.« Erst auf dieser Grundlage hat man Graciäns Lehre von der >dissimulatio< zu verstehen, nicht als Lehre vom Betrug, sondern als Lehre von vorsichtiger Verschwiegenheit: Ohne zu lügen nicht alle Wahrheiten sagen. Nichts erfordert mehr Behutsamkeit als die Wahrheit: sie ist ein Aderlaß des Herzens. Es gehört gleichviel dazu, sie zu sagen und sie zu verschweigen zu verstehn. [...] Nicht alle Wahrheiten kann man sagen, die einen nicht unser selbst wegen, die ändern nicht des ändern wegen. Eine schlaue Geringschätzung des mysteriösen Wortes, welches der andere fallen ließ, jagt die verborgensten Geheimnisse auf [...] Die Zurückhaltung des Aufpassenden macht, daß die des ändern die Vorsicht aus der Acht läßt, und so kommt seine Gesinnung an den Tag, wenn auch sein Herz auf andere Weise unerforschlich war.335

Diese Verschwiegenheit im Dienste der Wahrheit ist auch das, was Lohenstein unter Dissimulation versteht: Ein kluger Fürst ist wol nicht schuldig alles zu sagen/ was er im Schilde führt; Aber nichts soll er sagen oder versprechen/ was nicht wahr/ oder er zu halten willens ist. Durch seine Verschwiegenheit mögen sich andere/ er aber niemanden durch seine Worte betrügen; noch er seiner Unwahrheit durch eine spitzsinnige Auslegung eine Farbe der Wahrheit anstreichen. (Arm 1/871 a)

Diese Verschwiegenheit, diese Beschränkung rhetorischer Mittel, ist nun selbst äußerst rhetorisch, da sie partnerbezogen zu sein hat: Der erfolgreiche Politiker müsse »im Gesichte Ansehen/ in Geberden Anmuth/ in Worten Wahrheit/ auf der Zunge Verschwiegenheit/ im Hertzen Redligkeit« besitzen und vor allem »mit Bescheidenheit reden« und »mit Geduld hören« (Arm. II/757b-758a) können. >Eloquentia in tacendo< bedeutet also nicht nur Wohlüberlegtheit und Beherrschtheit im eigenen Gebrauch der Rede, sondern noch mehr die Fähigkeit des genauen Hörens, ja des Aushorchens. In einem der vielen Regentenspiegel des Arminius wird der Fürst gemeinsam mit seinen Räten als Haupt des Reiches dargestellt. Wie das Haupt nicht ohne Augen, so könne der Fürst nicht ohne Ratgeber sein, er brauche zudem mehrere, da ein Auge nur eine Seite sehen könne. Er brauche auch Ohren, die »Tag und Nacht offen stehen/ iederman und allezeit hören«, um selbst das Unscheinbare wahrzunehmen. Er müsse »in allem zum minsten zweymal so viel hören als reden«; er dürfe sich dabei nicht von Ohrenbläsern täuschen lassen; ein Ohr müsse das andere kontrollieren, damit er »gegründete Anklagen von Verleumdungen/ redliche GemüthsAusschüttung von betrüglichen Schein-Worten unterscheiden« könne. Zu alledem brauche er noch eine bessere Nase als ein »scharffrüchender Geyer«, um »nicht nur alles in seinem Reiche/ sondern biß in die Staats-Cammern seiner Nachbarn rüchen« 334 335

Graciän: Handorakel, Nr. 29. Ebd. Nr. 181, Nr. 213.

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zu können. Die Zunge dagegen habe die weise Natur »enge eingesperrt«, um sie in Zaum zu halten (Arm. I/1102b-1104b).336 Die >Eloquentia in tacendo< ist eine dem Verwaltungsstaat adäquate Umformung der Rhetorik: sie bildet nicht aus zu großen repräsentativen Reden, sondern zur Kritik der Rhetorik anderer, wozu natürlich die Kenntnis des gesamten Arsenals von rhetorischen Techniken gehört. Nicht um Nachahmung von Mustern geht es ihr, sondern um die Analyse des Gegenüber, um Sensibilisierung für Andeutungen, Untertöne und Hintergründe im diplomatischen Gespräch und bei der Auslegung des Schriftverkehrs. Bereits Melanchthon hatte in seinen Elementorum Rhetorices libri auf diesen gegenüber der Antike veränderten Standort praktischer Rhetorik verwiesen: Während bei den Alten die Rhetorik junge Menschen für das Forum vorbereiten sollte, so daß die Rhetorik sich darauf konzentrierte, »wie forensische Steitfälle behandelt werden müssen«, vermittle man sie nun nicht mehr, um Reden zu halten, sondern »sei es um die Reden anderer zu beurteilen, sei es um auch die jungen Männer darin zu unterrichten, wie Streitfälle in Briefen und auch kirchliche Angelegenheiten behandelt werden müssen.«337 Es ist also nicht richtig, die Ästhetik des 17. Jahrhunderts mit ihrer Technik der Täuschung als spezifisch höfische zu deuten, deren Funktion in Entsprechung zum absolutistischen Staatswesen »auf Verhinderung von Selbstreflexion angelegt war«, während der Staat des 18. Jahrhunderts an individueller Ausbildung und Entfaltung seiner Mitglieder interessiert gewesen sei.338 Entwicklungs- und Fortschrittsdenken, welches in der Renaissance das Mittelalter als finster abwertet, um die eigene Zeit aufzuwerten, und welches in gleicher Weise die Zeit vor der Aufklärung diskriminiert, wirkt immer noch nach - auch in der Literaturgeschichtssschreibung. Der Staat des 16. und 17. Jahrhunderts hatte sehr wohl das Interesse, die Schicht seiner Funktionsträger zur Kritikfähigkeit auszubilden; und das Schuldrama hatte seinen Anteil daran: Eine Schulordnung des 16. Jahrhunderts etwa erklärt, wie in der dritten (drittletzten) Klasse Terenz-Dramen zu lesen seien: Es sollen auch die Praeceptores, in enarratione Terentij, dise prudentiam haben, das sie consilium authoris wol anzeigen, wie er nit alle ding ex sua persona rede, sonder diversa vitia et ingenia in diversis personis abmale, ut in Demea, nimiam severitatem in corrigendis delictis, in Mitione vero, nimiam ad condonandum facilitatem. Item da Mitio sagt (In Adelph. Act. j. Scena ij.): Non est flagitium (crede mihi) adolescentem scortari, neque polare, neque fores effringere, etc. ist der Jugent anzuzeigen, das Mitio dise Wort nit auß ernst rede, wie ers dann gleich in eadem Scena widerrüfft, und den Spectatoribus huius dissimulationis ursach anzeigt, da er also sagt: Nee nihil, neque omnia haec sunt, quae dicit, tarnen nonnihil molesta haec sunt mihi: sed ostendere me aegre pati illi nolui, nam ita est homo: quum placo aduersor sedulo, et deterreo etc.339

33dissimulatio< als einen »hermeneutischen Schlüssel« zum Verständnis Lohensteins, seines Leitbildes Graciän und des gesamten »Zeitgeistes« bewertet; falsch ist, wie bereits dargestellt, daß »Verstellung« dabei »allgemein für gut befunden« worden sei, so daß sie »weniger ein ethisches Problem als ein ästhetisches Phänomen« gewesen sei.340 Verstellung, Intrige und Entlarvung, das psychologisch raffinierte Spielen und Gegenspielen, seit eh und je beliebte dramatische Effekte, werden vielmehr als mögliches soziales Verhalten auf ihre moralische Berechtigung, Notwendigkeit bzw. Verwerflichkeit, ihre praktische Tauglichkeit und ihre Erkennbarkeit und Durchschaubarkeit hin befragt. Der Begriff des Spiels, in der zeitgenössischen öffentlichen Moral generell negativ besetzt, verliert seit Graciän341 und in Deutschland mit Lohenstein seine aus dem Mittelalter tradierte, philosophische und theologische Abwertung als Bezeichnung für das irdische, also uneigentliche Leben im Gegensatz zum ewigen, wahren Leben , auf das allein man den Blick zu richten habe. Das Spiel wird zu einem Denkmodell sozialen und vor allem sprachlichen Verhaltens und Verstehens zwischen Menschen. Graciän behält die christliche Skepsis gegenüber menschlichem Handeln durchaus bei, aber er ändert die Struktur des Paradigmas Spiel: Der Mensch erscheint nicht mehr nur als Rollenspieler, der seine Rolle vor den Augen des zuschauenden und schließlich richtenden Gottes gut oder schlecht spielt; der Mensch erscheint selbst auch als Betrachter des Spiels. Andrenio, der Held in Graciäns didaktischem Roman El Criticon (1651-57), erfährt den ganzen Kosmos in einem Traum als Schauspiel: Ich hielt von jenem weit aufgetanen Balkon des Sehens Ausschau. Ich richtete den Blick jenes erste Mal auf dieses gewaltige Schauspiel von Erde und Himmel.342

Am Ende seiner Reise führen ihn Allegorien der Geisteskräfte zur Desillusion als der höchsten Stufe der Welterkenntnis, mit deren Hilfe er das Spiel der Welt zu durchschauen hat. Die leitenden Begriffe Graciäns wie >attencionperspicacia< und >desengano< haben zuallererst analytischen Charakter.343 Ein Schauspiel, das sich an diesen Begriffen orientiert, ist einerseits ästhetisch erzeugtes Konzentrat der Realität, andererseits, vom intendierten Rezipienten her gesehen, intellektuelles Vergnügen: »Aufdeckung des Trugs«, so Graciän, sei stets »die Nahrung des denkenden Geists, die Freude der Rechtschaffenen« gewesen.344

340 341

342 343 344

Die evangelischen Schulordnungen des 16. Jh.s, S. 83; dieser Abschnitt bleibt auch gültigin der erweiterten Fassung von 1660. Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 142f. Zur besonderen Rolle Graciäns innerhalb der Geschichte derTheatermetaphorik vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 124ff. Zit. nach (und übersetzt von) Barner: Barockrhetorik, S. 126. Vgl. dazu Mulagk: Phänomene des politischen Menschen, S. 234ff. Graciän: Handorakel, Nr. 100.

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Das kritische Verfolgen der handelnden und redenden Figuren, die sowohl Mitspieler als auch ihrerseits mehr oder weniger kluge Analytiker des Spielgeschehens sind, hat moralisch-didaktischen Charakter. Graciäns Beschreibung der Selbstbehauptung des Rechtschaffenen in einer bösartigen Welt des falschen Spiels kann geradezu als Interpretationsmodell der Dramen Lohensteins gelten: Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen. Die Klugheit führt ihn, indem sie sich der Kriegslisten hinsichtlich ihres Vorhabens bedient. Nie tut sie das, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen. Mit Geschicklichkeit macht sie Luftstreiche; dann aber führt sie in der Wirklichkeit etwas Unerwartetes aus, stets darauf bedacht, ihr Spiel zu verbergen. Eine Absicht läßt sie erblicken, um die Aufmerksamkeit des Gegners dahin zu ziehn, kehrt ihr aber gleich wieder den Rücken und siegt durch das, woran keiner gedacht. Jedoch kommt ihr andererseits ein durchdringender Scharfsinn durch seine Aufmerksamkeit zuvor und belauert sie mit schlauer Überlegung; stets versteht er das Gegenteil von dem, was man ihm zu verstehn gibt, und erkennt sogleich jedes Falsche-Miene-Machen. Die erste Absicht läßt er immer vorübergehn, wartet auf die zweite, ja auf die dritte. Indem jetzt die Verstellung ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr durch die Wahrheit selbst zu täuschen: sie ändert ihr Spiel, um ihre List zu ändern, und läßt das nicht Erkünstelte als erkünstelt erscheinen, indem sie so ihren Betrug auf die vollkommenste Aufrichtigkeit gründet. Aber die beobachtende Schlauheit ist auf ihrem Posten, strengt ihren Scharfblick an und entdeckt die in Licht gehüllte Finsternis: sie entziffert jenes Vorhaben, welches je aufrichtiger, desto trügerischer war.345

Am deutlichsten ist dieses Modell in Cleopatra ausgeprägt. Die lateinische Widmungsvorrede stellt das historische Geschehen bereits als Gegen- und Nacheinander verschiedener Tragödien dar, in welchen Schminke und Schmuck, falsche Tränen und Schmeichelei, Vortäuschungen und Verstecken herrschen. Das Drama selbst verbindet alle vorgeführten Schrecklichkeiten mit der Spielmetaphorik: Ehebruch (C1/913),Folter (CHI/362), Tötung (CIV/80), werden als »Kurzweil-spiel«, der verächtliche Umgang Roms mit den Besiegten wird als »Boßheits-spiel« (C V/ 102) und »Schelm-Stück« (C V/105) bezeichnet. Am Ende kämpft Cleopatra (wie vorher Antyllus (C 1/150) nur noch darum, nicht der Römer »Schau-Spiel« (CV/ 107), d.h. Objekt der propagandistischen Selbstdarstellung des Augustus im Triumphzug zu werden. Cleopatra, in der Widmung »conjux larvata« und »Sirena africana« genannt, die nach kaum vollendetem erstem Trauerspiel (Tod des Antonius) schon zum nächsten »cothurno« eilt, spielt dabei die Hauptrolle. Souverän beherrscht sie alle Bereiche der Rhetorik. In einer der Anmerkungen wird auf Plutarch verwiesen, der Cleopatras Ausstrahlung weniger ihrer körperlichen Schönheit als dem Zauber »in ihrer Sprache und Gebehrden« zugeschrieben habe. Da sie »selten durch Dollmetscher/ sondern wider die Unarth voriger Egyptischer Könige selbst der Mohren/ Troglodyte n/ Juden/ Araber/ Syrer/ Meder/ und Parther Sprache geredet« habe, habe sie kaum von jemandem getäuscht werden können.(C V/516ff und Anm.) Ihre Vertraute, mit der sie den Betrug an Antonius plant, belehrt Cleopatra, daß »der Schein mehr Pracht/ und Bländung grössern Schimmer« (C III/ 69f) bedürfe als 345

Ebd. Nr. 13. 257

die Wahrheit. Neben Verführungsreden und gewandter Argumentation führt sie als Meisterwerk ihrer Rhetorik die Kunst des eloquenten Schweigens, die indirekte Ermordung des Antonius allein durch ihr Schweigen und ihre gestische und mimische Beherrschung, vor. Aber sie ist nur Exponentin unter vielen anderen, die nicht anders handeln als sie: angefangen vom Kaiser mit seinem »zwei-züngicht Mund« (C V/150), bis zur Menge der römischen Bürger, die dem Kaiser gegenüber »mit sanfter Zunge spieln«, um ihn töten zu können (CI/389f). Sie alle verwenden die Sprache als Waffe, in der Absicht, den Gegner mit Worten einzuwiegen (C 11/520) oder »durch süsse Worte kirren« zu können. (CIV/293). Auch die Künste Gesang, Dichtung und Bildhauerei, Malerei, ja sogar der Gottesdienst erscheinen nicht mehr als Medien zur Verherrlichung Gottes, bzw. zur Unterhaltung oder Belehrung der Menschen, sondern als rhetorische Waffe gegen den Feind: Der Kaiser müsse, so seine Berater, angesichts der Gewandtheit Cleopatras alle Künste anstrengen, wolle er sie in seine Gewalt bringen: Wird demnach ihr August sehr SÜSSE MÜSSEN SINGEN/ Im Fall er dieses Weib vermein't nach Rom zu bringen. Die reiffe Beere lockt den Vogel/ Gold und Geitz/ Ein stummes EHREN-BILD den gift'gen Hochmuths-reitz: Man muß der stoltzen Frau des Keysers Libes-Strahlen/ Die Wunder der Stadt Rom/ des Haupt's der Welt FÜRMAHLEN. August gelob' in Rom der Isis ein ALTAR/ Laßt uns Cleopatren auch WEYRAUCH reichen dar/ Man schick' ihr BILD nach Rom/ man laß' ihr Ampeln brennen [...] SO FANGE MAN DEN WURM [. . .]

Und TICHTE: daß August verliebt/ gefangen sei. Man MAHL' IHR SÜSSE FÜR (...] (C IV/261 ff, Hervorhebung durch den Verfasser)

Lohenstein rückt durch solche Signale, aber auch durch den rhetorischen Aufwand selbst, die Sprache in den Mittelpunkt und zwar so, daß sein mit Sprachornamentik überladenes Drama den Höhepunkt barocker rhetorischer Artistik und zugleich die Abkehr davon durch den Appell zur Sprach- und Rhetorikkritik bedeutet: auch die adäquate Rezeptionshaltung, Vorsicht gegenüber jedem, selbst dem schönsten Wort der Gegner, wird innerhalb des Dramendialogs expliziert. Proculejus, die am deutlichsten machiavellistische Figur des Dramas, beteuert zwar- eine Anspielung auf das Redeideal Ciceros -, »deß Keisers Mund sagt/ was sein Hertze wil« (C/u II/ 391); Archibius, Cleopatras »geheimster Rat«, widersteht aber den Angeboten des römischen Unterhändlers: [...] ihr wigt mit Worten uns nicht ein. [...] Seh't auch/ ihr Römer/ uns nicht für so alber an: Daß wir dem/ was ihr uns so scheinbar vormahlt/ trauen. Den man zerreissen wil/ dem weist man nicht die Klauen. Es hat August uns auch di Kunst gespilt zuvor: Wen man zu stürtzen denckt/ den hebt man mehr empor/ Wem man was nehmen wil/ muß man mit Gaben blenden.

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Wer klug ist/ last sich nicht der Feinde Rath verbländen; Der auf den Orth / wo er hinzühlt/ den Rücken kehrt/ Nicht anders/ als ein Schiff an's Ufer rücks-werts fährt. Zwar durch gerade Fahrt wird wol der Weg verkürtzet; Der aber/ der den Mast nicht gern' in Schiff-Bruch stürtzet/ Verfährt behuttsamer/ streicht Kreitz-weis hin und her/ Länck't oft wol hinter sich/ versucht durch's Bley das Meer/ Dafern er Felsen merckt [...] (C/u 11/368,372 ff,402 ff J346

Ein spektakuläres Kunststück rhetorischen Spiels mit dem Gegner gelingt Cleopatra im zentralen III. Akt des Dramas. Sie beherrscht alle Register der Vorausberechnung von Wirkungen, um damit ihre Mordabsicht an Antonius zu erreichen: Zunächst weiht sie ihre Vertraute Charmium in ihre Gedanken ein. Da man »behuttsam gehn« (C111/56) müsse, weist sie Mordpläne mit Gift oder Dolch zurück. »Schau-Spiel« (C/u 111/61) nennt sie in der ersten Fassung ihren eigenen Plan - ein Schauspiel im Schauspiel, das zugleich dem Publikum gleichsam als immanente Dramenpoetik Gelegenheit gibt, seine eigene Publikumsrolle zu reflektieren. Um ihrem Auftritt »mehr Pracht« und »grössern Schimmer« (C HI/69) zu verleihen, ordnet Cleopatra an, Charmium solle die übrigen Dienerinnen als Publikum herbeiholen. Ihnen gilt dann der erste Teil des Spiels, ein rhetorisch kunstvoller Abschiedsmonolog im Stil christlich-stoischer, die Zurückbleibenden erbauender Weltentsagung angesichts des Todes: die Rede ist von der vanitas mundi: »Die Schönheit ist ein Rauch [...]. Mein itzig Beispiel lehrt: Der Stand sey Last und Bürde; [... ]Dis Leben ist nicht werthf.. .]«(C HI/93,106,127); der Begriffsapparat stoischer >magnanimitas< wird verwendet: »Hertzhafft im Gemütt' [...] hoher Geist [...] unverzagter Tod [...] Vernunft« (CIII/132ff); schließlich greift Cleopatra auf das Pathos mystischer Gottesminne zurück: »Auf! Seele flügel dich! schwing dich vom Kot/ zu Gott« (CHI/135). Um später glaubwürdige Statisten für die nötige Traueratmosphäre und Zeugen für ihren >Selbstmord< zu haben, inszeniert sie, teils durch ihre Mitspielerin Charmium, teils selbst Anordnungen treffend,347 ein Spektakel ägyptischer religiöser Riten, wobei sie die Dienerinnen zu unwissenden Rollenträgern eines Spiels macht, dessen doppelte Funktion deren Täuschung zur Vorbereitung der Täuschung des Antonius ist: [...] Ist kein schwartz Lamm nicht dar/ Stracks/ Iras Schlacht' es ab/ das Blutt spritz aufs Altar/ Wasch' es mit Wasser ab/ das Ibis hat getrübet/ Wirf Wermuth in die Glutt/ die Isis so sehr liebet/ Erfrische sie mit Oel. Versöhnt die Geister mir Auch die mir feind gewest. Wolan! ist alles hier? So komm/ O süsser Tod/ O liebstes Wolgefallen [...] Charm. Was thut sie/ Königin? Cleop. Was das Verhängnüs heißt. Iras. Wo denckt sie/ Göttin hin? Celop. Nun in die Ewigkeit. [...] (C HI/223 ff) 346 347

Vgl. die Anmerkung hierzu, in der Lohenstein auf Le Ministre d'Estat (1639/43) des französischen Staatsrats Jean de Silhon (1667) als Quelle hinweist. Die Szene ist im Vergleich zur frühen Fassung besonders stark erweitert. 259

Das Gegenteil von dem, was man hört und sieht, ist wahr: Cleopatra verachtet weder irdisches Leben noch politischen Erfolg, sondern versucht gerade, sich beides zu erhalten; nicht Souveränität des Geistes, sondern Todesangst treibt sie an; sie ergibt sich nicht dem Verhängnis, sondern versucht es zu steuern. Der aufwendig betriebene Gottesdienst ist in Wahrheit gotteslästerliche Indienstnahme der Religion für machtpolitische Zwecke. Cleopatras >SterbeSchauspieler< erreichen Rede- und Schauspielkunst ihren Höhepunkt: Cleopatra beginnt mit einem geradezu schulmäßig geführten Fürstenlob: »Gott/ Keyser/ Herr der Welt [...]« (CIV/485); und Augustus antwortet mit ebenso mustergültigem Frauenlob: »Du Venus unser Zeit/ du Sonne dieser Welt« (C IV/583). Dann wird man konkreter. Cleopatra versucht, dem Kaiser ihre Liebe durch den Augenschein zu bekräftigen, indem sie ihn mit bildhaft-sinnlichen Worten auf die Regungen ihres Körpers hinweist: Mein Licht! er werffe nicht die Blicke von uns ab! [...] Schau/ mit was blitzen nicht der Augen Nacht wird spielen/ Schau/ wie die Lippen sich bepurpern mit Rubin/ Schau/ wie das Schnecken-Blutt die Wangen an sich zihn/ Wie alle Glider sich in Perlen-Schnee verstellen. Schau/ wie die Brüste sich vom schnellen Athem schwellen; (CIV/540ff)

Und Augustus spielt ihr Täuschungsspiel mit: »Welch Stein sol hier nicht Wachs/ welch Eiß nicht Schwefel werden? Der Schönheit starck Magnet; der Lib-reitz der Gebehrden Zeucht zu Cleopatren den folgenden August. (IV/569ff)

Man mag am Ende der Szene unsicher werden, ob die Liebe beider oder wenigstens eines der beiden nun nicht doch echt sei. Der folgende Reyen, der die Falschheit des Hoflebens besingt, und die folgenden Auftritte geben aber Gewißheit. Stellvertretend für das Theaterpublikum werden die Dienerinnen, die sich erneut haben täuschen lassen und die bereits mit Eifer die Hochzeit mit Augustus vorbereiten, von Cleopatra aufgeklärt über den Widerspruch zwischen Augustus' Taten und Worten und über das Doppelspiel, das er mit Antonius und ihr zu spielen versucht hat. Dem aufmerksamen Zuschauer ist dieses Doppelspiel bereits seit dem ersten Akt bekannt. Allerdings hat Lohenstein die Wahrheit der Handlung mit so wenigen Andeutungen inmitten aufwendiger Rhetorik und Theatralik versteckt, daß man sie leicht übersehen konnte. Wie die von Cleopatra und Augustus gegeneinander gespielte Liebesszene läßt sich vieles erst im nachhinein richtig bewerten oder bleibt gar in seiner Bewertung ungeklärt. Das hat sicher zu den widersprüchlichen Deutungen von Lohensteins 262

Dramen beigetragen. Die Dramenhandlung spricht dieses Rezeptionsproblem direkt an: Charmium schilt die Dienerinnen, die sich haben täuschen lassen, und geht dabei konkret auf das Sprachproblem ein: »Ihr blinden Sterblichen! fall't nun der Meinung bei: [...] Daß der nicht weislich thut/ der Worte sich läßt bländen/« (C V/ 165,167). Cleopatra nimmt die Dienerinnen aber in Schutz: Einfält'ge Charmium! nach schon geschehner That/ Lehrt oft der Ausschlag viel/ was kein verschmitzter Rath Vermag vorher zu sehn [...]. (C V/169ff)

Sie weiß, wovon sie spricht, denn sie selbst wirft sich vor: »Daß ich den blauen Dunst mir ließ fürs Auge machen;«(C IV/322) Dem Zuschauer geht es vielfach genauso: Verläßt er sich auf Auge und Ohr, verfolgt er das Bühnengeschehen unkritisch, so wird auch er immer wieder getäuscht. Daß das Lohensteins Absicht war, erweist auch der Vergleich der beiden C/eopa/ra-Fassungen. Mit Recht stellt Juretzka349 in der zweiten Fassung von Cleopatra gegenüber der ersten eine Verstärkung des Themas >Verstellung< und zugleich ein raffinierteres Vorgehen der sich verstellenden Figuren fest. Die neue Eingangsszene des II.Aktes etwa zieht alle Register der Täuschung, der sogar das Publikum erliegen muß: Thyrsus sucht Cleopatra auf, um ihr Gunst, Ehe und politisches Bündnis mit Augustus anzutragen. Die Königin bringt ganz offen ihren Argwohn zum Ausdruck: »Du heuchelst/ Thyrsus/ mir; und bildest uns was ein/« (CII/11). Sie begründet den Argwohn mit Argumenten, die gegen die Ehrlichkeit des Angebots sprechen. Thyrsus weist ihr Mißtrauen zurück: er sei »der Heucheley So gram/ als Lügen feind« (CII/28f). Noch dreimal widersetzt sich Cleopatra dem Werben des Thyrsus: Nein; nein! Cleopatra/ schlag alles auser acht/ [...] Doch nein/ [...] Cleopatra/ reiß dir nur selber diesen Zahn Der Lüsternheiten aus! [...] Doch ach! [...] (C H/51,82ff,90)

Nachdem ihr Widerstand von Mal zu Mal geringer geworden ist, überzeugt Thyrsus sie schließlich mit dem Augenschein: er legt ihr das Angebot schwarz auf weiß vor in einem Brief mit des Kaisers Siegel. Während Cleopatra ihn liest, kommentiert Thyrsus - seine Mission nun dem Publikum als Falle entlarvend - ihr Umschwenken. Auch er verläßt sich dabei auf den Augenschein, auf seine genaue Beobachtung ihrer Körperreaktionen beim Lesen des Briefes: Sie zittert! sie erblaßt; sie starret/ wie ein Stein/ Sie seufzet/ sie verstummt/ ihr beben alle Glieder/ Sie lachst/ das Hertze schlägt/ itzt kommt die Farbe wieder; Nun lacht/ nun züngelt sie; (O gift'ger Nattern-Stich!) Die Rosen-Knospen rührn auf dem Gebürge sich Der Brüste/ die von Milch zusammen sind geronnen. (CII/100ff) 349

Juretzka: Zur Dramatik D. C.s von Lohenstein, S. 152; Asmuth dagegen will in der späteren Fassung ein »Nachlassen der früheren manieristischen Verspieltheit« feststellen. (Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 146 vgl. auch S. 152). 263

Cleopatra selbst bestätigt nach der Lektüre des Briefes die Beobachtungen des Thyrsus. Euphorisch übergibt sie dem Boten für Augustus einen Ring und versichert, sich und das Reich dem Kaiser anzuvertrauen und Antonius zu beseitigen. Unmittelbar danach, zu Beginn der nächsten Szene, offenbart sie ihrem Sohn und dem Vertrauten Archibius aber ihre wahre Haltung: ihr Mißtrauen gegenüber allen Römern, einschließlich Antonius und ausdrücklich auch gegenüber Augustus, habe sich nur noch verstärkt (C11/120ff). Das Publikum muß also die vorangehende Szene neu bewerten: Cleopatra hat ihre affektbestimmte Kehrtwendung lediglich gespielt, um Thyrsus zu täuschen. Ihre Argumentation, ihre spontanen Äußerungen, ihre Gestik und Mimik erweisen sich nun als perfektes Verstellungsspiel, in dem sogar die Wahrheit, die sie äußert, ihre Skepsis, ihre Einwände, der Täuschung des Gegners dienen und ihn in Sicherheit wiegen sollen. Sicherlich, solches Vexierspiel diente wie auch andere barocke Chiffrier- und Dechiffriertechniken, die Kryptogramme, Anagramme, Chronogramme, Allegorien, Embleme und wie das Vorführen enzyklopädischer Gelehrsamkeit durch Anleihen an Formen, Motive, Themen antiker Dichtung und durch geistreiche Anspielungen auf Bibelstellen, antike Mythologie, Geschichte und Zeitgeschichte seit dem Humanismus gewissermaßen als Statussymbol und Legitimationsbeweis einer primär durch ihre intellektuellen Fähigkeiten sozial relevanten Gelehrtenschicht. Ihr Stilideal der >acutezzasinnreichenscharfsinnigenIntellektuellen< als ein höchst schwieriges: Vernunft wird nicht nur ästhetisch genossen, nicht nur eingeübt, sondern auch ausgewiesen als ein Ideal, das kaum endgültig zu erreichen ist. In Sophonisbe widmet Lohenstein der Differenz zwischen Evidenz und Wahrheit zwei Reyen. Im IV. Reyen ringen >Tugend< und >Wollust< um den am Scheidewege stehenden Herkules. Während die >Wollust< auf die vielen Annehmlichkeiten ihres Reiches weist (»Sihstu hier nicht [...]«) und die Einwände der >Tugend< als »Bländungs-Dunst« zurückweist (S IV/516,551), appelliert die >Tugend< immer wieder an den kritischen Blick Herkules', bis sie die >Wollust< völlig entlarvt: Halt! schaue vor [...] [...] Schaust du's: dis Gold hat in sich nichts als Aschen. 350

Vgl. Tesauros Beschreibung der sozialen Einheit von Autor und Rezipienten arguter Dichtung: »[...] hieraus entsteht ein doppelter Genuß: seitens desjenigen, der einen scharfsinnigen Gedanken formuliert, wie desjenigen, der ihn hört. Nur daß der eine es genießt, in des ändern Geist seine edle Frucht zum Leben zu erwecken, und der andere sich darüber freut, mit dem eigenen Kopf zu entdecken, was der Geist des anderen heimlich versteckt hat: Es gehört kein geringerer Witz dazu, eine scharfsinnige und geistvolle Devise zu erklären als sie zu verfassen.« (zit. nach Martino: Lohenstein, S. 142; vgl. Kühlmann: Gelehrtenrepublik, S. 220-254).

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Schaut den Betrug! [...] Wol! wir wolln bald des Engels Schönheit sehn! Ich muß ihr den geborgten Rock ausziehen. [...] Schaut: ist ein Schwein besudelter zu schauen? [...] Laßt uns die Schminck' im Antlitz auch vertilgen. [...] Was zeigt sich nun? Ein aaß/ ein todt Gerippe. Besih' itzt auch der Wollust innres Hauß: Daß man sie in die Schindergrube schippe! (S IV/525, 540, 555, 563f, 568f, 572, 576ff)

Man hat sich den Reyen inszeniert vorzustellen, als Wettstreit zweier sich widersprechender optischer Reize. Tugend, die Wahl des rechten Weges, erscheint dann identisch mit Vernunft, mit der rechten Beurteilung des Evidenten. Im III. Reyen wird die Schwierigkeit vernünfiger Kritik des Evidenten noch deutlicher in der Darstellung eines besonders komplizierten Erkenntnisvorgangs: Die >Eyfersucht< nimmt sich vor, wachsamer zu sein als Argus, der trotz seiner hundert Augen immer wieder überlistet worden sei (S HI/463 f) durch die Täuschungen der Götter. Sehr bald sieht sie auch schon Entführer, die es auf die von ihr bewachte Geliebte abgesehen haben: Ach! Schwester! ach! ach! was erblick ich schon? Was seh' ich dort für eine Kuplerin? Was stiftet sie zu meinem Schimpf und Hohn? Was für ein Adler raubt den Schatz mir hin? Was für ein Buhler spielt auf ihren Wangen? Auf! laßt uns ihn in unser Netze fangen!

Die Vernunft beruhigt sie, indem sie die Gefahr als Einbildung entlarvt: Wahnsinnige! was träumt für Narrheit dir? Schlag in den Wind so thörchte Fantasey. Halt! setze nur dir meine Prillen für; Sihst du's: daß es nur eine Fliege sey?

Die Narrheit dagegen erinnert daran, daß Betrug vielfach mit dem die Vernunft täuschenden Mittel der Verstellung arbeitet: Wenn Jupiter wil Junons Buhler werden/ Weiß er sich als ein Guckuck zu gebehrden. (S 479 ff)

Das Spiel, der gleiche Streit um das richtige Sehen, wiederholt sich siebenmal. Man wirft sich gegenseitig Blindheit vor und fordert sich auf zum richtigen Sehen, bis schließlich - das ist die erste Pointe - kein Zweifel mehr besteht: die >Eyfersucht< hat sich nicht getäuscht: 265

Ach! oi^iist du's nicht? wer meinen Schatz umbfängt. Er küsset sie/ sie ihn. Weh/ weh! ach! weh! Schau! wie er gar den Brautt-Schmuck umb sie hengt. Sie reichet ihm ein Haarband; nebst zwey Ringen. Nun ist es Zeit sie und mich umbzubringen. (SIII/552ff)

Die überraschende zweite Pointe des Reyens ist, daß die >Vernunftcaptatio benevolentiaeiudiciumignorante< zu nennen. Und er verweist dann auf Paulus, der das Wissen um die Unwissenheit als Wesensmerkmal des Christen verstanden und für sich selbst den Ehrentitel des Toren im Namen Christi27 gewählt hatte. Diese Wendung der >ignorantia< ins Positive findet ihren wichtigsten Niederschlag im Marias Enkomion seu laus stultitiae (1509) von Erasmus von Rotterdam (1469-1536). In der für den Humanismus typischen Haltung selbstbewußter Selbstkritik läßt Erasmus die Moria, die Torheit, brillieren in Zitaten und gelehrten Anspielungen. Dummheit und Gelehrtendünkel erscheinen ihm gleichermaßen als Zeichen menschlicher Beschränktheit. Sich dieser Begrenzung wie Sokrates philosophisch oder Paulus religiös bewußt zu werden, sich selbst als Tor zu erkennen, sei dagegen höchste Weisheit des Menschen, die zur Liebe des Menschen gerade in seiner Beschränktheit führe: Das eben heißt Mensch sein! Ich weiß wirklich nicht, warum sie es jämmerlich nennen, wo ihr mit dieser Veranlagung geschaffen und geboren seid, und dies doch allgemeines Los ist. Was seiner Art getreu bleibt, kann man aber nicht elend nennen, wie ja auch keiner den Menschen beklagt, weil er nicht fliegen kann.

Radikaler wird die Erkenntniskritik bei Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535). Er trägt in seinem Werk De incertitudine et vanitate scientiarum et artium et de excellentia verbl dei (1530) alles zusammen, was bisher an Kritik gegenüber den verschiedenen Wissenschaften vorgebracht worden war und fordert die Rückkehr zur Bibel und zum einfachen christlichen Glauben. Das Werk endet mit einem Encomium asini (Lob des Esels) und vertritt jenen zugleich christlichen und humanistischen Skeptizismus, der für die gesamte Epoche der frühen Neuzeit repräsentativ ist. Machen wir einen Sprung ins 17. Jahrhundert, ins katholische Lager. Bei Blaise Pascal (1623-1662) wird die christliche Prägung des Skeptizismus besonders deutlich. Einerseits wie Descartes bemüht um ein mathematisch strenges Erkenntnisideal, geht er andererseits, vom Jansenismus des Klosters Port Royal und seinem Widerspruch gegen den jesuitischen Dogmatismus beeinflußt, davon aus, daß die menschliche Vernunft »in jeder Hinsicht beschränkt« sei.29 Und wie Luther gründet er diese Beschränkung auf die Bibel, die sagt, »daß Gott ein verborgener Gott ist; und daß er (die Menschen) seit der Verderbnis der Natur in einer Blindheit gelassen hat, von der sie nur durch Jesus Christus befreit werden können.«30 Die menschliche Vernunft könne sich nicht über die Welt erheben, sondern sei in deren Unbeständigkeit einbezogen: 27 21i 29 30

Paulus: l Kor.4,10. Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, S. 39; vgl. dazu Lohenstein: Arm. I/1021a. Pascal: Gedanken, (Nr. 72), S. 37. Ebd. (Nr. 242), S. 106.

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Auf einer unermeßlichen Mitte treiben wir dahin, immer im Ungewissen und treibend und von einem Ende gegen das andere gestoßen. An welchen Grenzpfahl immer wir uns binden und halten möchten, jeder schwankt und entschwindet, und wenn wir ihm folgen, entschlüpft er unserm Griff und entgleitet uns und flieht in einer Flucht ohne Ende. Nichts hält uns zuliebe an. Das ist die Lage, die uns natürlich ist und in jedem Fall die gegensätzlichste zu unsern Wünschen; wir brennen vor Gier, einen festen Grund zu finden und eine letzte beständige Basis, um darauf einen Turm zu bauen, der bis in das Unendliche ragt; aber all unsere Fundamente zerbrechen, und die Erde öffnet sich bis zu den Abgründen. Also suche man keine Sicherheit und Beständigkeit. Immer täuscht die Vergänglichkeit der Erscheinungen unsere Vernunft.

Bis hin zur Begrifflichkeit wird hier die Kritik an der stoischen Philosophie deutlich. Pascal erklärt sie zum realitätsfremden Idol und fordert dagegen einen begrenzten Skeptizismus: Man muß zu zweifeln verstehen, wo es notwendig ist, sich Gewißheit verschaffen, wo es notwendig ist, und sich unterwerfen, wo es notwendig ist. Wer nicht so handelt, mißachtet die Kraft des Verstandes. Es gibt Menschen, die gegen diese drei Grundforderungen verstoßen, die entweder behaupten, alles sei beweisbar, weil sie nichts vom Beweisen verstehen, oder alles bezweifeln, weil sie nicht wissen, wo man sich unterwerfen muß, oder sich in allen Fällen unterwerfen, weil sie nicht wissen, wo man urteilen muß.32

Friedrich Gaede weist auf den Fehler der bisherigen Barockforschung hin, sich einseitig mit der stoischen Tradition33 beschäftigt zu haben. Warnen müsse »bereits die Tatsache, daß Stoizismus und Skeptizismus sowohl in der Antike als auch - unter christlichem Vorzeichen - Jahrhunderte später fast gleichzeitig auftreten und sich negativ aufeinander beziehen, vor der einseitigen Betonung der stoischen Tradition. [...] Stoa und Skepsis gehören zusammen wie Plus und Minus.«34 Hans-Jürgen Schings beschäftigt sich mit der Bedeutung der stoischen Philosophie für das barocke Trauerspiel.35 Auch er sieht die vehemente Kritik an der Selbstsicherheit, Vermessenheit und Unmenschlichkeit der Stoiker, wie sie die Jesuiten, unter anderem Bidermann, Bälde, der Seneca-Kommentator Del Rio sowie die Janseniten Pascal und Malebranche vorbrachten. Bei den Schlesiern sei aber davon »wenig zu merken.« Sie würden die stoische Lehre christianisieren, Seneca »als Diagnostiker der vanitas mundi und als Ethiker der constantia« hochschätzen36 und entweder Vorbilder der >constantia< oder Schreckbilder, der Unvernunft und >vanitas< auf die Bühne bringen. Als Demonstration der stoischen Vernunftsethik ex negative deutet auch Tarot Lohensteins Dramen. Leitmotiv sei der »Gegensatz 31

Ebd. (Nr. 72), ebd. S. 38. Ebd. (Nr. 268), ebd. S. 136. 33 Vgl. Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit. 34 Gaede: Grimmeishausen und die Tradition des Skeptizismus, S. 466 und S. 469; vgl. Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, S. 455; Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus; Gaede: Gryphius und Grimmelshausen als Kritiker des endlichen Verstandes, bes. S. 50; ders.: Poetik und Logik, bes. S. 70. 35 Schings: Die patristische und die stoische Tradition bei A.Gryphius; ders.: Consolatio Tragoediae; ders.: Seneca-Rezeption und Theorie der Tragödie. 36 Schings: Seneca-Rezeption, S. 532. 32

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von Vernunft und Leidenschaft«.37 Am stoischen Werthorizont mißt Tarot dann auch die Figuren: Sophonisbe, den Affekten verfallen, könne erst im Tod »von der Krankheit der Leidenschaft genesen«, Masinissa werde »durch Scipio, der als Vernunftsmensch das Tugendideal dieser Wertwelt verkörpert, auf die Bahn der Vernunft zurückgebracht.«38 Richtig an der These von Tarot und Schings ist, daß neostoische Philosophie und Psychologie seit dem Humanismus zu Paradigmen der Diskussion gelehrten Selbstbewußtseins geworden waren. Aber sie wurden nicht unkritisch als Ersatzreligion39 übernommen. Es geht Lohenstein um die Analyse von Erkenntnis und Nichterkennbarkeit im politischen und individualethischen Entscheidungsprozeß. Das stoische Vernunftsprinzip ist dabei allenfalls Index menschlicher Gottesebenbildlichkeit, Leidenschaft Index menschlicher Kreatürlichkeit. Beides sind heuristische Extrempositionen, die für sich genommen dem Menschen nicht entsprechen und letztlich unmenschlich sind. Sophonisbes wie Masinissas Verhalten sind deshalb nicht »Beispiele für falsches menschliches Verhalten überhaupt«, zeigen nicht »exemplarisch verwerfliches Handeln«,40 sondern in der Dialektik von Rationalität und Affektivität Beispiele menschlichen Verhaltens und Handelns, exemplarisch für menschliche Existenz. Diese exemplarische Qualität fehlt dagegen Scipio, den Just für »den positiven [...] Repräsentanten schlechthin«41 hält. Für Tarot verkörpert er »als Vernunftsmensch das Tugendideal dieser Wertwelt«,42 und Kafitz sieht in ihm das »dem extremen und veränderlichen Verhalten« von Sophonisbe gegenübergestellte »von affektiven Schwankungen freie, maßvolle Wirken« verkörpert.43 Gewiß, in Scipio zitiert Lohenstein die in Sophonisbe und Masinissa konterkarierte stoische Lehre der Vernunft und Affektlosigkeit. Der Blick auf die nahende Epoche der Aufklärung mag es nahelegen, Scipios mit Lohensteins Position gleichzusetzen. - Nur: das Bühnengeschehen gibt ihm nicht Recht.44 Als »aller Richter« (S HI/430) wird er angekündigt. Als dominierende Figur der letzten beiden Akte tritt er auf die Bühne, souverän argumentierend, mit politischem Weitblick (vgl. S IV/177ff). Erhält Masinissa geradezu eine Lektion über die stoische Tugend der Selbstdisziplin und fordert ihn auf: »[...] Bezwinge selber dich.« (SIV/259, vgl.274ff, 297ff) Masinissas Reaktion ist nun aufschlußreich. Erweist die Aufforderung, Scipio nachzuahmen, zurück. Scipio sei nicht Maßstab für Menschen, (da er göttlicher Abstammung sei), schon gar nicht für ihn: als Afrikaner komme er aus einem Land, in dem »Die Sonn' und Liebe glühet« und dem Menschen die Leidenschaft in die Wiege gelegt sei. (SIV/302ff). 37 38 39 40

41 42 43 44

Tarot: Nachwort zu Sophonisbe, S. 242. Ebd. S. 246; vgl. Tarot: Zu Lohensteins Sophonisbe; ders.: Ideologie und Drama. So aber Oestreich: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, S. 12. Tarot: Zu Lohensteins Sophonisbe, S. 84 und 96; vgl. die Kritik gegen Tarot bei Spellerberg: Lohensteins Sophonisbe, ebd. S. 382. Just: Die Trauerspiele Lohensteins, S. 131. Tarot: Nachwort zu Sophonisbe, S. 246. Kafitz: Lohensteins Arminius, S. 191. Gillespie und Spellerberg haben bereits darauf hingewiesen: Gillespie: D. C.v.Lohensteins historical tragedies, S. 114, 126ff, Spellerberg: Lohensteins Sophonisbe, S. 383-389.

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In Scipio wird absolute Vernünftigkeit mit Unmenschlichkeit und Lieblosigkeit gleichgesetzt. In Sophonisbe und Masinissa wird Menschlichkeit mit ihren Komponenten Fehlerhaftigkeit, Irrtum und Liebesfähigkeit sichtbar. Das weitere Dramengeschehen widerlegt Scipio, denn nicht seine Forderung nach Vernunft, sondern die Liebe setzt sich durch (vgl. zur Liebesethik oben Kap. II.l.c). Masinissa rettet Sophonisbe vor Roms Zugriff, und Sophonisbe stirbt im Bewußtsein der Sühne: »umb meines Syphax willen« (V/345). Aus dieser Handlungsführung und aus der Kritik Masinissas an Scipio, die von Dido geteilt wird (V/133ff), spricht Lohensteins Stoizismuskritik. Scipio sei einer jener »schlimmen Römer« (IV/347), die kalte Rationalität und Machtpolitik miteinander verbinden (IV/350ff). In einer Anmerkung nimmt Lohenstein selbst an der Entmythologisierung Scipios teil, indem er jeden Anspruch, dem göttlichen Vernunftsprinzip zu folgen, als >lächerlicheingebildet< und >geheuchelt< verwirft (Anm. zu S. I V/305 ff). Die Konfrontation zwischen Scipio und Masinissa, zwischen Stoizismus und Stoakritik, zwischen Vernunftsprinzip und Vernunftkritik wird im Arminius zwischen Erato und Asblaste in einem höflich-freundschaftlichen Disput argumentierend ausgetragen. Schon daß Erato sich bezeichnet als »Lehrling der Stoischen Weltweisen«, die die »Regungen für Kranckheiten des Gemüths halten« (Arm. I/1344a-b), diskreditiert das von ihr Referierte als praxisferne Schulphilosophie.45 Asblaste dagegen hält die Neigungen für »weder nach ihrem Uhrsprunge/ noch nach ihrem Wesen« gefährlich. Man müsse ihren Mißbrauch von ihrer Natur unterscheiden (Arm. I/1344b). Und nun erklärt Asblaste ihre der Stoa entgegengesetzte Erkenntnistheorie, nach der die Affekte wesentlich an der Erkenntnis beteiligt seien: »Denn sie machen alle Kräfften der Vernunfft rege und lebhafft« (Arm. I/1346a-b). Asblaste beschreibt dann diese Aufgabe genauer: Im Auftrag der Seele seien die Affekte »Befehlshaber« der wahrnehmenden Sinne und der handelnden Glieder, etwa so, daß beym Verlangen des Guten/ bey Abwendung des Bösen/ das Gehöre und das Gesichte solche ausspüren/ die euserlichen Glieder allenthalben handlangen müsten [...]. (Arm. I/1346b).

Diese positive Bewertung der Affekte teilt auch »die tugendhaffte Thußnelde«, die »mit einer ehrerbietigen Bescheidenheit« (Arm. I/1346b) zwischen den Positionen von Asblaste und Erato zu vermitteln sucht, dabei aber nahezu die Haltung Asblastes übernimmt. Wie Masinissa Scipio, so wirft Asblaste dem stoischen Ideal absoluter Rationalität Praxisferne vor: Unser Leben würde ein rechtes Eben-Bild des todten Meeres abgeben/ und wie dis sonder Bewegung und Fische/ also jenes ohne eigenes Thun und Nutzen seyn/ wenn uns die Gemüths-Regungen nicht von der erbärmlichen Schlaffsucht aufmunterten; ja das betrübte Leben verzuckerten; welches sonst eine unaufhörliche Betrachtung unsers Elendes seyn würde. (Arm. I/1349a). 45

Zur Kritik an der Schulphilosophie vgl. SI V/369 ff mit Agricolas Lobrede auf Petrarca; vgl. Bertalot: Rudolf Agricolas Lobrede auf Petrarca, Text mit Einleitung, in: La Bibliophilia 30 (1928), S. 382ff; Burger: Renaissance, Humanismus, Reformation, S. 192. 289

Die letzte Wendung liest sich wie eine Absage an Gryphius' berühmtes Sonett Einsamkeit.46 Lohenstein entspricht mit dieser Distanzierung vom reinen Stoizismus den Erfordernissen des im Entscheidungsprozeß stehenden Beamten. Er stellt der stoischen >vita contemplativa< des >homo< litteratus die >vita activa< des >homo politicusurteilt!< in Lohensteins Formel (vgl. III.3.d). Sie muß aber ergänzt werden durch ihr Pendant, die realitätsnahe inventio, das >schaut!arsquaestiones forensesobservationes forensesKonsilien< einzelner lurisconsulti (Icn) bekannt, die vom Kläger gegen Bezahlung zur Überprüfung der eigenen Chancen vor dem Anstrengen eines Prozesses eingeholt wurden. Seit dem 16. Jahrhundert wurden diese >Konsilien< immer mehr von den Juristenfakultäten und Oberhöfen gegeben und erhielten bald rechtlich bindenden Charakter. Sie verfahren stets nach dem gleichen Grundschema: Nach der Einleitungsformel mit der Anrede des Auftraggebers wird der Sachverhalt geschildert, zunächst das tatsächliche Geschehen und dann die daraus resultierende Rechtsfrage. Es folgt das Gutachten. Zunächst werden dabei die Argumente und Rechtssätze, welche das Kollegium abgelehnt hat (Zweifelsgründe, rationes dubitandi), genannt, danach diejenigen, auf denen ihr rechtliches Ergebnis beruht (Entscheidungsgründe, rationes decidendi). Manchmal werden dann die Zweifelsgründe noch eigens widerlegt. Am Ende stehen der als Rat formulierte 111

112

Bereits im 17. Jh. fand Carpzov in Brunnemann einen Gegner unter den angesehenen Rechtsgelehrten, der die vollständige Veröffentlichung der Urteilsbegründungen für vorteilhaft hielt. Vgl. Gehrke: Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur, S. 32. Gehrke: Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands. Charakteristik und Bibliographie der Rechtssprechungs- und Konsiliarsammlungen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jh.s; vgl. ders.: in: Handbuch der Quellen und Literatur Bd. II/2, S. 1343ff.

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Urteilsvorschlag, die Schlußformel, Datum und Unterschriften. Die Konsiliensammlungen geben also sowohl Einblick in den konkreten Fall wie in die auf den Fall bezogene Anwendung des geschriebenen Rechts. »Hier liegt in Anbetracht des Fehlens von Sammlungen mit motivierten Gerichtsurteilen die große Bedeutung dieser Werke für den deutschen Bereich, in welchem sie damit zum hauptsächlichsten Vermittler für die Einführung und Fortbildung des gelehrten Rechts in der Praxis wurden.« 113 (3.) Die für die Literaturwissenschaft interessanteste und bis ins 20. Jahrhundert literarisch wirksamste Textgruppe sind die Sammlungen von Berichten über einzelne Rechtsfälle; sie liefern ausführliche Schilderungen des Sachverhalts und der Prozeßgeschichte, stellen die Prozeßparteien näher vor, erzählen die Entstehung des Rechtsstreits, legen die gegensätzlichen Rechtsstandpunkte von Klägern und Beklagten unter Angabe der von ihnen beanspruchten Rechtstexte dar und enden schließlich mit der Stellungnahme des Verfassers zu den Argumenten der Parteien und der Erklärung der Motive, die zur Entscheidung des Gerichts führten. Titel wie Ernsthafftel aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedankken und Erinnerungen über allerhand außerlesene Juristische Händel (1720), Sammlung merkwürdiger Rechtshändel [...] welche zu weiterer erkenntnis und erleuterung [...] der f . . . ] rechtsgelahrtheit [...] nützlich angewendet werden können (1763-78) oder Archiv merkwürdiger Actenstücke, sonderbarer Rechtshändel, seltner Rechtsfragen und nicht alltäglicher Anecdoten (1797-98) geben Aufschluß über die Adressaten: ein juristisches, aber auch ein juristisch interessiertes Publikum. Gegenstand der Sammlungen sind der rechtlich komplizierte und daher für die Rechtsausbildung verwendbare Fall sowie zunehmend auch der psychologisch interessante, individuelle Fall, der Aufschluß gibt über menschliches Verhalten unter Extremsituationen. c) Die kompensatorische Funktion literarischer Rechtsfälle Der französische Jurist Frangois Gayot de Pitaval (1673-1743) erklärt im Vorwort zu seiner Sammlung bekannter, aus Prozeßakten zusammengestellter Kriminalfälle Causes celebres et interessantes, avec lesjugements qui les ont decidees (1734-1743 in 20 Bdn.): er wolle die Geheimnisse der Rechtsprechung enthüllen und habe, um der Neugierde seiner Leser zu entsprechen, nur außergewöhnliche Fälle ausgesucht. Dabei geht es ihm zum einen darum, die menschliche Psyche - vor allem in ihren Abgründen - verständlich zu machen, zum ändern darum, Kritik an der zeitgenössischen Rechtsprechung zu üben. Im 19. Jahrhundert fand Pitaval eine Vielzahl von Nachahmern, in Deutschland etwa Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach (1775-1833), Professor der Rechte und Beisitzer verschiedener Gerichte, der 1808 eine Sammlung Merkwürdige Criminal-Rechtsfälle veröffentlichte114 sowie den vom 113 114

Gehrke: Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur, S. 74. 1827 und seither in zahlreichen Neuauflagen unter dem Titel Actenmäßige Darstellung neuer merkwürdiger Criminal- Rechtsfälle; vgl. dazu Radbruch: P.J. A. Feuerbach, Ein Juristenleben, Göttingen 3.Aufl. 1969.

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Kriminalisten J. E. Hitzig und Willibald Alexis herausgegebenen Neuen Pitaval (60 Bde. 1842-1847). Der Übergang zur literarischen Form der Kriminal-, Justiz- oder Detektivgeschichte, wie sie Schiller (Verbrecher aus verlorener Ehre 1785),ILS Kleist (Michael Kohlhaas und Der Zweikampf1809), E. T. A. Hoffmann (Das Fräulein von Scuderi 1819), Droste-Hülshoff (Die Judenbuche) u. a. geschrieben haben, ist fließend. Er vollzieht sich nicht erst im 18. Jahrhundert: Literarische Bearbeitungen von Prozeßakten und fiktive Rechtsfälle sind schon im 17. Jahrhundert zwei Ausprägungen einer Gattung, deren Gemeinsamkeit in der rechtspädagogischen Funktion besteht, kompensatorisch für die aus dem Erfahrungsbereich der Bevölkerung verschwundene Rechtspraxis die geltenden Rechtsnormen und -praktiken zu erklären, zu propagieren oder zu kritisieren. Harsdörffers Grosser Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte und Grosser Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte (1650) bestehen zumeist aus Übersetzungen europäischer Renaissancenovellen und wollen als Sittenspiegel sowohl Psychologie und Theologie menschlicher Schuld als auch den Konflikt zwischen staatlicher Rechtspraxis und Gerechtigkeitsideal zur Schau stellen. Harsdörffer setzte sich auch für einen anderen Vertreter dieser Gattung ein: Der österreichische Jurist Matthias Abele (1616/18-1677)116 wurde 1652 auf seine und Sigmund von Birkens Empfehlung als >Der Entscheidende< in die fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen. Anlaß war der 1651 erschienene erste von später insgesamt vier Bänden mit dem Titel Metamorphosis telae Judiciariae oder Seltzame Gerichtshändel. Die Fälle, die Abele vorführt, sind nicht von ihm erfunden, abersie sind auch nicht reale Prozeßberichte. Wie Harsdörffer bezieht er seinen Stoff aus der literarischen Tradition: von einem Übelthäter zu Messina, in Sicilia, so fünff Eheweiber zugleich im Leben gehabt [...] Ein Wirth ersticht seinen Gast mit einer Bratwurst/ wird darüber zu Recht gezogen. [...] Ima, Kaiser Caroli Magni Tochter/ trägt bey nächtlicher Weil/ Eginhardum/ kaiserl. Secretarium über den Hof/wird vom Kaiser gesehen/und gerichtlich beklagt. [ . . . ] Klag/der zweyer boßhafften Richter zu Babel/ wider die keusche Susannen. [...] Wegen Ehrenverletzlicher Worten/ von zweyen Procuratoribus, artlich außgeführter Process. [ . . . ] Seltzames Urtheil/ über einen Vater/ so seinen Sohn erwürget. [ . . . ) Rechtshandel/ zw. einem Esel/ Wolff/ und Fuchsen [...] Pisistrati, des Tyrannens zu Athen/ geschöpfftes Urtheil/ wegen eines Kusses. ( . . . ) Rechtfertigung/ um/ daß ein Reicher/ seinem armen Nachbarn/ die Immen mit Gifft umgebracht. [...] Prozess, der Gerechtigkeit und Barmhertzigkeit/ wegen der Hoffart des Königs Nebucadnezars zu Babel. [...]

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Schiller hatte eine deutsche Übersetzung der Causes celebres von Pitaval herausgegeben und ein Vorwort dazu geschrieben. Vgl. auch das Vorwort zu Die Braut von Messina: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, Sämtl. Werke (Winkler) Bd. II, S. 250. Doctor juris, 1641 Vertreter Steyrs am Wiener Stadtgericht und 1644 Advokat bei der Regierung von Niederösterreich, 1648 Stadtschreiber von Krens und Stein, 1653 als »von und zu Lilienberg« geadelt, 1671 von Kaiser Leopold zum Wirklichen Geheimen Rat und Hofhistoricus ernannt. Vgl. Breuer: Matthias Abele und seine Erzählsammlungen. (1985); Meyer-Krentler: Geschichtserzählungen. Abele: Metamorphosis, Bd. l, 1654, Register. 307

Unterschiedlichste Fälle also, teils historische, teils rein fiktive aus der Tradition der Rhetorik; unterschiedlich auch die Urteile, teils grausam ohne jede Gnade, teils zurückgewiesene Anträge oder Anklagen, teils verschmitzt-salomonische Einfalle der Richter, die zur Aufklärung des Falles führen. Fast immer kleidet Abele den aus der Literatur übernommenen Fall in die strenge juristische Form des römischen Artikelprozesses.118 Dabei reichert er die Verhandlungen an mit Zitaten aus philosophischen, literarischen, vor allem aber juristischen Quellen. Er zitiert aus den römischen Rechtstexten, den italienischen Glossatoren und Kommentatoren, zieht >KonsilienObservationesherabgesunkene< Rhetorik.127 Daß Stieler sie zum Studium empfiehlt und Goethe als Student mit ihnen umgeht, bestätigt das. Die Rechtswissenschaft hatte es nämlich zu einer ihrer Methoden entwickelt, Sätze des Römischen Rechts dadurch zu erklären, daß man die jeweils zu erklärende Stelle durch einen Fall veranschaulichte. Häufig enthielt der römische Text selbst schon solche Fälle. Wo sie fehlten, erfand der Exeget einen, der das entsprechende Rechtsproblem erhellte. 128 Der von Leibniz verfaßte Entwurf einer Reform des Juristenstudiums, Nova Methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae (1667) strebte als Ideal den im Umgang mit dem Recht perfekten, darüber hinaus aber das Recht philosophisch reflektierenden Juristen129 an. Wie die wichtigsten vorausgehenden Studienentwürfe der Jurisprudenz130 setzte auch er die gründliche Propädeutik der Humaniora voraus. Das eigentliche Rechtsstudium sollte dann nach der Elementarausbildung (>Jurisprudentia elementarisJurisprudentia Rationalis< bei Leibniz. Wesenbeck: Tractatus de Studio Juris recte instituendo (1580); Vigelius: Ratio Juris discendi (1598); ebenso B.Carpzov: Certa Methodus de studio iuris recte et felicite instituendo (1675). Leibniz: Nova Methodus, II, § 98f.

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mit konkreten Fällen konfrontiert zu werden, ihr Problem zu erkennen und ohne Möglichkeit der Rückversicherung und des Ausweichens ein Urteil zu fällen, um anschließend den eigenen Irrtum kritisch erkennen zu lernen. Nicht vom Gesetzestext, sondern vom konkreten Fall aus, so meinte Leibniz, sei das Recht zu ermitteln. Nicht die Kenntnis der Gesetze oder Normen, sondern die Kenntnis der Probleme, d. h. der Fälle, die nicht glatt durch die Gesetze beantwortet werden können, sondern der individuellen Entscheidung bedürfen, sei wichtigstes Ziel der Jurisprudenz. Lohensteins Dichtung bietet eine Vielzahl solcher Controversiae; sie kann also zur Gattung der >Entscheidungsliteratur< gerechnet werden: Eine der zugleich vom Fall wie vom Urteil her seltsamen Rechtsstreitgeschichten im Arminius erzählt eine Variante des Streites zweier Mütter um ein Kind: Mechthildis hat, während ihr Gast, die Herzogin Hedwig, noch im Wochenbett liegt, mit ihrem eigenen und dem ihr von Hedwig anvertrauten Säugling einen Bootsunfall. Ihr Gatte Herzog Bolcko kann aber nur eines der zwei Kinder retten. Beide Frauen beanspruchen das überlebende Kind nun als das ihre. Man müsse wohl davon ausgehen, daß das ältere, also ihr Kind, den Unfall eher überleben konnte, ferner habe bei der Rettung der Himmel mitgewirkt und Bolcko gesandt als Retter doch wohl eher des eigenen als des fremden Kindes, führt Mechthildis an. Hedwig dagegen beruft sich auf einen Traum, in dem ihr der Himmel vorausgesagt habe, daß ihr Kind gerettet, das von Mechthildis dagegen ertrinken werde. Beide erkennen diese Beweisführungen gegenseitig nicht an. Mechthildis will nun ihre Mutterschaft dadurch erhärten, daß das Kind an ihrer Brust trinke. Aber die Gegenprobe widerlegt sie: das Kind trinkt auch an der Brust Hedwigs. Es kommt zu Handgemenge und Streit, weil beide, davon überzeugt, die wahre Mutter zu sein, es geradezu als ihre Pflicht ansehen, um ihr Kind zu kämpfen. Herzog Bolcko verwirft Vorschläge, die Wahrsager zu Rate zu ziehen oder das Los zu werfen und beruft das Gericht zur Beurteilung ein. Wieder beanspruchen beide Frauen »durch ihre nichts minder tiefsinnige als nachdrückliche Rede« (Arm. II/ 818a) das Kind für sich. Die Richter, »diese sonst weisen Leute«, bekennen ihr Dilemma: urteilen zu müssen, ohne die Wahrheit eindeutig ergründen zu können. Sie seien jetzt »zweifelhaffter/ wem das Kind zugehörte/ als sie waren/ da noch kein Vortrag geschehen war.« Obwohl »sie nun zwar gerne diese Streitigkeit vermittelt hätten; weil ihrem Erachten nach durch keine menschliche Vernunfft zu ergründen wäre/ wessen Kind Bolcko aus dem Wasser errettet hätte«, seien sie gezwungen zu urteilen, zum einen, weil beide Frauen, in der Überzeugung, im Recht zu sein, auf ein eindeutiges Urteil drängen, zum anderen, weil die Öffentlichkeit es erwarte, in der Meinung, »daß die in den Himmel geflogene Gerechtigkeit ihnen die Wage zu Überlegung der Rechts-Sachen/ und das Schwerdt zu Abschneidung der Streitigkeiten anvertraut hätte.« Weil nun aber die Sache ihnen »ein unauflößlicher Knoten« ist, erinnern sie sich an einen vom Gericht zu Athen überlieferten Kunstgriff: Nachdem ihr Sohn von ihrem Mann und ihrem Stiefsohn umgebracht worden war, tötete eine Frau die beiden Mörder. Der Landvogt von Asien übergab diesen Fall dem Areopag (eine 311

Anspielung auf die zeitgenössische Praxis der Einholung von Rechtsgutachten!). Da die Athener Richter die Frau »weder als eine von Blut besudelte loßsprechen/ noch als eine Rächerin ihres Sohnes sie verdammen wolten«, setzten sie das Urteil aus und luden die Frau zu einer neuen Verhandlung, die nach hundert Jahren stattfinden sollte (Arm. II/818a-b). Diesem Beispiel folgen nun die Richter im Streit der beiden Mütter: Sie behalten sich ihr Urteil vor, »bis die Natur entweder durch die Aehnligkeit/ oder durch die eigene Neigung dem Kinde/ wer seine eigentliche Eltern wären/ entdecken würde.« Die beiden Frauen sind zunächst enttäuscht. Der Erzähler sieht ihre Unzufriedenheit als typisch für die Haltung gegenüber dem Rechtswesen an: »Wie nun die untadelhaffte Verwaltung der Gerechtigkeit eben so bitter ist/ als wenn ein Artzt mit Brand und Messer von Grund aus alte Schäden heilet/ und noch so wenig gerechter Richter Verfahren beliebt worden/ als Krancke nach des Esculapius Salben und Pflastern die Finger geleckt haben; also gieng es auch allhier« (Arm. II/818b). Auf die Frage hin, welche von ihnen denn bis zur endgültigen Entscheidung das Kind aufziehen dürfe, erkennen die Frauen jedoch den Sinn des Richterspruches: Diejenige, die das Kind am meisten liebe, dürfe es aufziehen. Richter darüber sollen ihre eigenen Wohltaten sein. Beide versöhnen sich daraufhin, finden in der wetteifernden Liebe zu dem Kind zusammen und entschließen sich, es als Freundinnen gemeinsam aufzuziehen: »Warumb haben wir uns gerechtere Richter aufzufinden eingebildet/ als unsere eigene Liebe?« (Arm. II/819b) Dieser erzählte Gerichtsstreit ähnelt in seiner gedanklichen Struktur der Lessing'schen Ringparabel. Und wie diese vertritt Lohensteins Geschichte eine Begründung der Gerechtigkeit nicht durch ein staatliches, institutionelles Machtwort, sondern durch die Einsicht der Rechtsstreitenden, nicht Objekte staatlicher Justiz, sondern Subjekte ihres eigenen Konfliktes zu sein. Die Erzählung zeigt also, was durch das zeitgenössische Gerichtsverfahren nicht mehr sichtbar ist: daß das Recht weder ein unproblematischer Mechanismus juristischer Auslegungsfertigkeit noch eine Sache der Obrigkeit, sondern eine Angelegenheit der Ethik ist und damit seine Grundlage im Bewußtsein der Allgemeinheit haben muß. d) Verantwortung und Urteil Häufig wurde dieser ethischen Fundierung des Rechts dadurch Ausdruck verliehen, daß in den Gerichts- oder Ratsstuben ein Bild des Jüngsten Gerichts oder, wie in Breslau, ein Bild des salomonischen Urteils132 hing, Instanzen also, die den Amtscharakter des Gerichts, seine Verpflichtung gegenüber Normen, die ihm und dem Volk gemeinsam waren, deutlich machten. Lohenstein läßt die Verhandlung um das strittige Kind in einem Gerichtssaal stattfinden, der mit einer ganzen Galerie von Bildern ausgestattet ist; sie alle veranschaulichen Würde, Geschick, aber auch Problematik des Richtens und Urteilens:

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Vgl. Stein: Der Rat und die Ratsgeschlechter des alten Breslau, S. 29.

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darinnen über dem Richter-Stule Cambyses gemahlet war/ wie er das seinen durch Geld bestochenen Richter Sisamnes abgezogene Fell über den Richter-Stul ziehen/ und seinen Sohn Otanes solchen besitzen läßt. Gegenüber stand Darius/ wie er einen nicht bessern Richter in Eolis Sandoces destwegen zu kreutzigen befiehlt. Umb den Saal waren unterschiedene Gemähide merckwürdiger Urthel aufgestürtzt. Zuerst stand das Gerichte des Jüdischen Königs Salomon/ da er durch Befehl ein streitiges Kind mitten entzwey zu hauen die wahre Mutter für der/ welche ihres im Schlaffe erdrückt hatte/ unterscheidete. Das andere Gerichte war des Paris/ wie er die drey zwistigen Göttinnen durch den güldenen Apfel entscheidet/ das dritte und vierdte/ wie die Areopagiten den Mars wegen des erschlagenen Hallirrothius und Orestes wegen ermordeter Mutter losgesprochen ward. Das fünffte Gerichte stellte Phrynen für dem Richter Stule für/ wie sie/ nach dem sie ihr Beystand Hyperides durch seine Beredsamkeit nicht erweichen konte/ ihre Brüste entblöste/ und durch derselben Schönheit die Areopagiten gegen sie barmhertzig zu werden zwang/ aber dardurch ein Gesätze zuwege brachte/ daß hernach die Richter keinen Beklagten ansehen/ weniger sich seiner erbarmen dorfften. Das sechste Gemähide stellte den Thracischen König Ariopharnas für/ welcher von dreyn sich für des Cimmerischen Königes Söhne Ausgebenden zum Schiedes-Richter erkieset ward/ und sie sämptlich nach des aufgehenckten Königs Leiche zu schissen befehlichte/ mit der Erklärung; daß der/ welcher das Hertz treffen würde/ Erbe und König seyn solle. Er erklärte aber den darfür/ welcher mit Fleiß der Leiche fehlte/ und den Pfeil in die Erde schoß. Das siebende Gerichte war eines Scythischen Königes/ welcher einem Gläubiger/ von dem er umb ein Urthel angeflehet ward/ daß er seinem Schuldner wegen nicht inne gehaltener Zahlung Krafft habender Verschreibung ein Pfund Fleisches aus dem Leibe schneiden möchte/ ein Messer mit dem Ausspruche reichte: Er möchte schneiden/ aber was der Gläubiger mehr oder weniger schneiden würde/ solle hernach der Schuldner ihm ausschneiden. (Arm. H/ 817b-818a)

Aus solchen Darstellungen spricht die Sorge des städtischen Syndikus um das Rechtsbewußtsein der Breslauer Öffentlichkeit, um das Ansehen der Richter als Teil der städtischen Obrigkeit. War die Öffentlichkeit bei der Rechtsfindung und Rechtsprechung nicht mehr beteiligt, so war es um so wichtiger, diese Entfremdung zu kompensieren. Erzählungen von spektakulären, die Schwierigkeit des Richtens wie die Klugheit, Zurückhaltung und Gerechtigkeit der Richter demonstrierenden Fällen konnten der Autorität des Rechts ebenso dienen wie die Betonung der Belastung, die ein Richter zu tragen hat, wenn er im Interesse des gemeinen Wohls Urteile in umstrittenen Angelegenheiten fällen muß, auch um den Preis, eventuell ungerecht gewesen zu sein. Das wird im Arminius deutlich etwa im Ringen um ein Urteil gegen Aembrich, der den Hochverräter Terbal (gemeint ist Wallenstein), ohne daß sich dieser rechtfertigen konnte, getötet hatte. Zeno hält sich mit einer Beurteilung zurück: »Ich unterstehe mich nicht diesen glücklichen Streich des Fürsten Aembrichs zu schelten; weil ich alle Umstände nicht weiß/ derer eine einem gantzen Wercke ein gantz ander Gesichte zueignen kan« (Arm. I/1021b). Er hält es aber für sehr bedencklich [...] gegen einen Beschuldigten ohne Verhör und Verantwortung zu verfahren. Denn wenn es genug ist einen begangener Laster halber anklagen/ wer wird für den Verläumdern unschuldig bleiben? Wil man einem keinen Beystand erlauben/ so kan man ihn doch nichl ohne Richler verdammen. [...] Ein zu strenges Urthel über einen leichten Fehler hat keinen so grossen Schein einer Grausamkeit/ als eine linde Bestraffung einer unerwiesenen Missethal. (Arm. I/1022a)

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Es sei anständiger und, da unbewiesene Verurteilungen die Öffentlichkeit gegen den Regenten aufbringen, auch ratsamer, »hundert schuldige zu verschonen/ als einen unschuldigen zu tödten.« (Arm. I/1022b) Die Gegenposition vertritt Rhemetalces: Er sei ebenfalls »kein Freund der Grausamkeit«. Es sei »ausser Zweiffei auch mehr viehisch als menschlich einen verdammen/ dessen Vertheidigung man nicht gehöret hat. Denn die Verläumdung scheuet sich nicht auch die reinste Unschuld zu schwärtzen [...] und der Verdacht ist so wol ein verdächtiger Zeuge als ein schielender Richter.« Dennoch, wo es um die Sicherheit des Staates gehe, sei »dieser Rechtsweg [...] keine sichere Bahn. [...] In diesen Fällen erlaubet das oberste Gesetze/ nehmlich das allgemeine Heyl/ auch wieder die Gesetze gegen einen Verbrecher zu verfahren/ und den Kopff der Schlange unversehens zu zerquetzschen/ ehe sie sticht.« Dabei könne es freilich geschehen, »daß zuweilen die Unschuld hierdurch Noth leidet. Denn die mit einer Larve der Verläumbdung verstellte Tugend ist vielmahl dem Laster so ähnlich: daß sie auch der scharffsichtigste nicht unterscheiden kan.« (Arm. I/1022b-1023a) Zwei Verantwortungen des Juristen stehen sich also gegenüber: die Verantwortung, Gerechtigkeit im Rechtsverfahren walten zu lassen und die Verantwortung, Entscheidungen zu fällen und Güter abwägen zu müssen, weil es dabei keine vollkommen gerechten und eindeutigen Lösungen gibt. Geradezu als existentielle Belastung des Menschen hat Lohenstein das Richteramt im II. Reyen von Cleopatra dargestellt: Vorgeführt wird das Urteil des Paris; Paris, so erzählt der Mythos, hat zu entscheiden, welcher von drei Göttinnen der goldene Apfel gehören soll, den Eris, die Göttin der Zwietracht, und zwar mit der Aufschrift >Der Schönstem, Hera, Athene und Aphrodite zugeworfen hat. Jede sucht nun Paris zu bestechen. Er folgt schließlich Aphrodite, die ihm die schönste Frau, Helena, versprochen hat. Lohenstein verändert nun diesen Mythos: Von der Göttin der Zwietracht ist in Lohensteins Reyen nicht die Rede. Themis, die Gattin des Jupiter, die Göttin der gesetzlichen Ordnung und Personifikation der Gerechtigkeit, habe Paris erzogen. Nicht die streitenden Göttinnen berufen ihn: Mercurius wird zu ihm gesandt, um ihm mit dem Apfel den Auftrag des Verhängnisses zu überbringen, als »Richter der Götter« (C11/659) ein »unverfälschetes (in der Urfassung »unparteiisches«) Urtheil« (C H/661, vgl. C/u H/447) über die Schönheit der drei zu fällen. Paris ist entsetzt über diesen Auftrag: Was sich die Götter zu schlichten nicht trauen/ Sol ich einfältiger Schäfer verstehn? Kan doch mein Äug' in die Sonne nicht schauen; Weniger wird sich's zu Göttern erhöhn. (C 11/669)

Und er wünscht sich zwei weitere Äpfel, um jeder einen geben zu können. Die Göttinnen weisen ihn aber auf die Notwendigkeit einer Entscheidung hin, und zwar der Entscheidung, die dem Willen Jupiters entsprechen soll: Schäffer/ im Kriegen sig't einer alleine. Tulipen gleichen den Rosen sich nicht/ Demant ist König der Edelgesteine; 314

Sonnen verbländen der Sternen ihr Licht. Diesem nach mustu nur Jupiters Willen Durch den erwünscheten Endspruch erfüllen. (C11/675ff)

Paris vertraut nun bei seiner Entscheidung auf die Hilfe Jupiters und bittet die Göttinnen, sich vorzustellen. Nachdem jede ihre Vorzüge (Pallas den militärischen Ruhm, Juno die Herrschaft, Venus das Geliebtsein) und jede die Nachteile der anderen (»Hoffart und Wollust sind Seuchen der Jugend« (C 11/693); »Kronen sind dörnicht/ die Waffen gefährlich« (C 11/699)) gezeigt hat, fordert Paris sie auf, »die euserste Zirath« (C 11/708) abzulegen und seinem kritischen Blick die nackte Wahrheit zu zeigen: Wenn man vom Glase Kristallen wil scheiden/ Sondert man Farben und Schmincke von beiden. (CII/709f)

Die Entlarvung geht nur zögernd vor sich. Die Rivalinnen fordern gegenseitig, auch die letzte Verkleidung, »den zaubernden Gürttel« (C 11/718) der Venus und den das Gesicht der Pallas verdeckenden Helm, abzulegen; und Paris bittet die Götter, ihm Argosaugen zu verleihen, damit er sein »Richter-Ambt würdig verrichte.« (CII/ 722) Nachdem ihn Juno und Pallas mit Versprechungen und Drohungen zu gewinnen versuchen und Venus ihn ermahnt, sich diesem Druck nicht zu beugen, verleiht er ihr den Preis. Während sie ihm die Richtigkeit seines Urteils bestätigt, künden die ändern ihm seinen und Trojas Untergang an, weil er falsch, weil er nicht nach inneren Werten, sondern äußerem Schein entschieden habe: Thörichter Richter! Verächter der Götter! Kisestu bländenden Schatten für Licht? Gibstu die Früchte für ledige Blätter? [...] Wer der verzaubernden Circe wil trauen/ Wird in ein sündiges Unthier verkehrt. (C 11/753 ff, 761 f)

Paris hat, so muß man wohl als Zuschauer urteilen, sein Bestes versucht, der Würde des Richteramtes, das er sich nicht selbst angemaßt hat, das ihm vielmehr überantwortet wurde, gerecht zu werden. Ein unparteiisches und gerechtes Urteil hat er, bei aller Vorsicht und allem Versuchen, sich nicht blenden zu lassen, dennoch nicht fällen können. Der Reyen wird in der Inhaltsangabe von Lohenstein ausdrücklich auf die Handlung bezogen, er »bildet ab das Gerichte des den Antonium abmahlenden Paris«. Damit wird Antonius, der zwischen politischer Verantwortung und ehelicher Treue zu entscheiden hat, seinerseits als überforderter Richter über sein Handeln entlastet. Solche Entscheidungen, die sich meist als Fehlurteile erweisen, prägen ja Lohensteins Dramen. Auch sie lassen sich jener Gattung der juristischen Entscheidungsliteratur, jenen Seltsamen Gerichtshändeln, jener Darstellung von durch ihre Kuriosität, Komplexität oder Extremität in Tatbestand oder Urteil Aufsehen erregenden Rechtsfälle zuordnen. Es geht, der Gattung >Trauerspiel< entsprechend, zumeist um spektakuläre Un315

rechtsfälle: In Ibrahim Bassa - ursprüngliche Quelle für die Handlungsstruktur ist die Controversia de archipiratae filia des älteren Seneca-wird ein für die Beamtenstadt Breslau durchaus relevanter Loyalitätsprozeß verhandelt gegen den leitenden Beamten Ibrahim, der fluchtartig den Hof des Sultan verlassen, also seinen Treueeid gebrochen hat, sein Verhalten aber rechtfertigen kann mit der Zudringlichkeit des Sultans gegenüber seiner Gattin. Aufsehenerregend ist neben dem Tatbestand auch der Prozeßverlauf mit zweimaligem völligem Umschwung im Urteil des Sultan: zuerst Todesurteil, dann Begnadigung und Wiedereinsetzung des Beamten, dann erneut Todesurteil; aufsehenerregend und spektakulär ebenfalls Agrippina, der Prozeß des Sohnes gegen seine eigene Mutter, ein Prozeß, in dem der Richter zum Täter und die Verurteilte zur Anklägerin wird, und Epicharis, spektakulär schon deshalb, weil die Aburteilung gleich einer ganzen Verschwörergruppe Gegenstand eines Prozesses wird, in dem die Titelheldin bis zuletzt mit richterlichen Mitteln nicht überführt werden kann, obwohl ihre Teilnahme an der Verschwörung offensichtlich ist. Cleopatra und Sophonisbe behandeln Fälle der juristisch umstrittenen Bigamie (s. o. II.2.e); und Ibrahim Sultan schließlich stellt den zur Abdankung führenden Prozeß gegen einen Monarchen dar, der das Recht seiner Untertanen mißachtet hat. Die Komplexität der Dramenhandlungen sowie die wissenschaftliche Beleuchtung ihrer verschiedenen Aspekte in den Anmerkungen machen deutlich, daß die Dramen mehr sind als nur unterhaltsame Darstellungen spektakulärer Rechtsverstöße und unrechtmäßiger Urteile seitens der Obrigkeit. Sie sind offenbar gerichtet nicht nur an die Öffentlichkeit generell, sondern auch an die bereits juristisch interessierte, vorgebildete Schicht, bzw. an künftige Juristen. Lohensteins Dramen sind sein Beitrag zur Pflege der städtischen Rechtskultur; mit ihnen entspricht er einem Bedürfnis seiner Stadt: Der Zuschauer - und der das Drama lesende, einstudierende und spielende Schüler ohnehin - erfährt durch Lohensteins Dramen bei weitem mehr über die Grundlagen der zeitgenössischen Rechtskultur als bei der Verfolgung des tatsächlichen Rechtslebens: die Entwicklung von Unrecht aus den Auseinandersetzungen zwischen Menschen, Machtpositionen, Normen und Zufällen, die Entstehung von Urteilen und Verurteilungen, ihre Begründung, ihre Anfechtbarkeit, ihre Revision, ihre Unhaltbarkeit. Lohenstein entspricht damit dem relativ mündigen Publikum einer Kaufmannsund Beamtenstadt, die Recht nicht als obrigkeitliche Verfügung hinnehmen, sondern es nachvollziehen will, und er entspricht dem Interesse der städtischen Obrigkeit, die es nicht so leicht hatte wie der absolutistische Herrscher, der alleine kraft seiner Macht regieren konnte. Die städtische Obrigkeit mußte behutsam vorgehen, mußte ihren Bürgern ein Ventil schaffen, einen relativ ungefährlichen Ort, an dem sie Rechtsvorgänge kritisch verfolgen, ihre eigenen Positionen öffentlich diskutieren, Unmut äußern und zugleich im Sinne der städtischen Rechtsauffassung geprägt werden konnten.Das Drama konnte sogar dazu dienen, den Rückzug des Rechtslebens in die Amtsstuben und Universitätskollegien zu rechtfertigen und das Vorurteil abzubauen, der gelehrte Jurist verschleppe aus materiellen Interessen Rechtsvorgänge; denn der Zuschauer, in die Rolle des urteilenden Richters gestellt, 316

erfährt die Vielschichtigkeit und Schwierigkeit der oft selbst mit den schärfsten Mitteln des Verstandes und der Beobachtung nicht zu klärenden Bewertung und Beurteilung menschlichen Handelns. Er begegnet den Schwierigkeiten der Beweisaufnahme, lernt die vielfachen Absicherungen der Urteilsvorbereitung und ein Schuldverständnis kennen, das deutlich humaner ist als das der emotional urteilenden Bevölkerung. Vielfach plädiert Lohenstein für das Ideal des juristischen wie politischen vorsichtigen Urteilens, das er gegen das schnelle und emotionale Urteil des >Pöfels< absetzt. In der Lob-Schrifft rühmt er Georg Wilhelm als besonnenen Regenten, der nicht übereilt bei Antritt seines Amtes alles »über einen Hauffen werffen und das oberste zu unterst kehren«133 wollte, sondern sich erst allmählich durch harte Arbeit in der Ratsstube das Verständnis der Rechtsangelegenheiten seines Staates verschaffte. Er habe sich die Sorgen aller Klagenden angehört und nicht »nach dem Gehöre«, nicht »hauptsächlich auf einseitigen Bericht/ sondern auf den Grund der erforschten Wahrheit« hin entschieden.134 Gleichermaßen sei er mit den Beamten umgegangen: »Er legte im Rathe alle Meinungen der Räthe vorsichtiger/ als die/ welche Diamanten wiegen/ aufs Gewichte«.135 Hinter allem steckt eine skeptischkritische Grundhaltung: »Sein Verstand verliebte sich nicht zu sehr in die ersten Gedancken/ gleich als alle nachfolgende Kebs-Weiber wären, Sein Wille nicht in den ersten Gegen-Wurff, sondern er billigte die/ aus der Tieffe der Irrthümer herfür gesuchte Warheit/ und erwählte/ was in der Prüfung bestand hatte.«136 Prüfen heißt für Lohenstein, den äußeren oder ersten Anschein durchschauen: »Alle Sachen urtheilte Er nach ihrer innerlichen Güte/ durch sorgfältige Erkundigung; nicht nach [...] Seinem Augen-Maasse.«137 Darin unterscheide sich das kritische Urteil von dem der Menge: »Der Pöfel wiegt allein die Rathschläge auf der Wage des Außschlages; Verständige aber nach ihrem innern Werthe.«138 Dieses Plädoyer für vorsichtiges Urteilen findet sich auch in den fiktiven Texten wieder, teilweise nahezu wörtlich. Von einem klugen Politiker, so heißt es im Arminius, müsse man erwarten, daß er »mit Geduld hören/ mit Nachdruck widerlegen/ durch Erfahrung behaupten/ mit Gründen unterweisen/ mit Klugheit alles überlegen« solle und »hierbey nach dem Vorbilde der Wein-Stöcke/ welche in ihrem heßlichen Holtze den edelsten Safft der Welt zeugen/ in seinem Thun mehr auf den nützlichen Kern/ als auf den äußerlichen Schein sehen; und [... ] sich (durch) das tumme Urthel des eitelen Pöfels/ welches nur nach den euserlichen Schalen urtheilt/ und weder die Ursachen/ noch das Absehn [...] ergründet/ nicht irre machen« lassen. (Arm. II/758a-b) Kritik an Vorurteilen, Zurückhaltung und Umsicht beim Finden des eigenen Urteils sowie Demonstration der Schwierigkeit des Urteilens sind zentrale Themen 133 134 135

136 137 138

Lohenstein: Lob-Schrifft, fol.F5v. Ebd. fol.F7 v . Ebd. Ebd. fol.G 5V. Ebd. fol.G 6V. Ebd. fol.G 8r.

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in aller Dichtung Lohensteins: Seine Geistliche Gedancken stellen die Kreuzigung Jesu als Unrechtsprozeß dar, der auf dem Vorurteil der Menge, auf »der Thorheit Urthel« (V. 1036) gründet. Achmet, der intrigante Berater des Sultan Ibrahim, wirft seinen bisherigen Freunden, die ihn nun töten wollen, vor, wie der Fürst und wie das Volk Opportunismus an die Stelle des Rechts zu setzen: Ihr Freunde/ sagt: was ist des Achmets groß Verbrechen? Wolt ihr nach's Pöfels Arth auf mich ein Urtheil sprechen? Der seines Abgotts Bild am ersten/ ohne Grund Und Ursach schlägt entzwey/ so bald ihm nur wird kund: Daß es der Fürst verwirfft/ [...]. (IS V/379ff)

»Was der Pöfel schilt/ hält meist ein Weiser werth« (E V/129), so tröstet sich Seneca, der als Mitwisser der Verschwörer bei Nero und seiner Umgebung in Ungnade verfallen ist. »Man prüf/ eh als man schleust« (A 1/240), warnt Seneca, der mit der Beweisaufnahme gegen Agrippina beauftragt ist. In Sophonisbe verwahrt sich Masinissa gegen die Vorurteile, die man gegen die Königin hegt. Seinen Beratern wirft er vor: [ . . . ] Ja euer blödes Licht Erkiest den Schatten nur/ die Sonnen selber nicht/ Nicht Sophonisbens Glantz/ nur ihre schlechte Flecken; Die Zeit/ Vernunft/ und Witz kan abthun und verdecken. (SIII/51ff, vgl. auch HI/223)

Selbst dem scheinbar so rationalen Scipio wirft man voreiliges Verurteilen der afrikanischen Herrscherin vor: »Er prüfe vor den Baum/ eh er die Früchte schilt.« (S IV/ 216) Es wird zu zeigen sein, daß diese Warnungen vor übereiltem Urteil für das Dramenpublikum ebenfalls gelten. Offenheit und Unentschiedenheit strukturieren die Handlungs- und Dialogführung; Prüfung ist die geforderte Rezeptionshaltung. Verhofstadt hat das übersehen, wenn er beklagt, Lohensteins Dramen seien »ein Mosaik von Meinungen«,139 die Figuren trügen Janusköpfe, das Ganze könne »den Zuschauer kaum ethisch berühren«, weil er »niemals den Eindruck« gewinnen könne, »daß ein Dichter ihn durch ein Kunstwerk in seine Gedankenwelt einführen und darin leben lassen will.«140 Verhofstadt schließt daraus, daß mit diesen Dramen »geistige Werte untergraben« würden und »allmählich ihre ethische Anforderungskraft« verlören.141 Das wäre richtig, stünde der Zuschauer tatsächlich lediglich als Betrachter dem Geschehen gegenüber. Asmuth sieht ebenfalls, daß die Entscheidung in den Argumentationen offen bleibe, allerdings nicht, um Werte aufzulösen, sondern um die Bewertung beim Publikum anzusiedeln: »Der Zuschauer soll das Stück vielleicht sogar als Gesprächsbeitrag auffassen und sich [...] selbst entscheiden.«142 Aber selbst das geht noch zu weit. Der Zuschauer soll sich nämlich ebenso wenig voreilig 139

14(1 141

142

Verhofstadt: Lohenstein, S. 257. Ebd. S. 201. Ebd. S. 213.

Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 104.

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entscheiden wie die Figuren. Es ist das Verdienst der Arbeit von Kafitz, Ansätze Günther Müllers143 und Verhofstadts aufgegriffen zu haben und die Struktur des Arminius, vor allem die Struktur der den Roman beherrschenden Gespräche, d.h. deren »Nichtentscheidenwollen oder Nichtentscheidenkönnen«144 zurückgeführt zu haben auf die »Denkhaltung« 145 eines »maßvollen Skeptizismus und des ihn begleitenden, vermittelnden Eklektizismus«.146 Kafitz weist auf ein entsprechendes Urteil Christian Thomasius' über den Roman hin, das durchaus auch für die Dramen gelten kann: Besonders rühmt Thomasius die didaktische Methode: »die Art und Weise/ daß der Herr von Lohenstein mehrentheils/ nachdem er eine Sache auff beyderley Recht erwogen/ nichts determiniret/ sondern dem Leser dasselbige zuthun überlast.«147 Thomasius nennt auch Lohensteins unmittelbare Vorbilder, Saavedra Fajardo und den Sekretär Richelieus, Prinzenerzieher und späteren Staatsrat Ludwigs XIV. La Mothe Le Vayer,148 denen Lohenstein darin nacheifere, »daß er zum off tern bey Überlegung einer Frage nichts decidiret, sondern nach hin und wieder vorgebrachten Ursachen abrumpiret.« 149 Daß Lohenstein mit seinem Ideal der vorsichtigen Zurückhaltung des Urteilens im Sinne des methodischen Skeptizismus kein Einzelfall ist, mag ein Blick auf andere Schuldramatiker andeuten: In allegorischer Form vermittelt Christian Zeidler das Muster eines Beamten im Schauspiel Monarchia optima reipubllcae forma. Das ist: Die Regierung eines hohen Landes-Regenten in einem Reicht'Fürstenthum und Herrschafft, als die beste Regiments-Form/ Schau-spiels-weise vorbestellet (1679): Die Figur >Politica< rät dem König, solche Leute zu seinen Räten zu erwählen, die vor allen Dingen Gottfürchtig und Gewissenhafft/ und hiernechst vor ändern wohl und gründlich studieret/ auch schon gute Erfahrung vieler Dinge haben/ in Historicis staatlich belesen/ und nicht nur dasjenige so vor Augen liegt/ sondern auch zukünfftige Dinge/ aus Betrachtung der Circumstantien und Umstände gleicher Begebenheiten/ zuvor sehen und schliessen können/ in Rathgeben expedit seyn/ und sich doch nicht übereilen.150

Sebastian Mitternacht gibt im Prolog zu seinem Drama Politico dramatica (1667) den Herren von Reuß und ihren Beamten eine Anleitung zur rechten Rezeptionshaltung: 141 144 145 146

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149 150

Müller: Deutsche Dichtung von der Renaissance bis zum Ausgang des Barock, S. 258f. Kafitz: Lohensteins Arminius, S. 6. Ebd. S. 9. Ebd. S. 74. Thomasius: Freymüthige [...] Monats-Gespräche [...] des 1688. und 1689. Jahrs (1690), S. 667 f. Vgl. La Mothe Le Vayer: Dialoge des Orasius Tabero (1633): »Unser Wissen ist Eselei, unsere Gewißheiten sind Fiktionen, unsere ganze Welt ist [ . . . ] eine andauernde Komödie.« [ . . . ] »Unter dieser Unendlichkeit von Religionen gibt es keinen Menschen, der nicht glaubt, er besitze die Wahrheit, und der nicht alle übrigen verdammt.« zit. nach Durant: Kulturgeschichte der Menschheit Bd. 11, S. 418, vgl.dazu Kafitz: Lohensteins Arminius, S.37f. Thomasius: Freymüthige [ . . . ] Monats-Gespräche, S.681ff. Vgl. Stolleis: Grundzüge der Beamtenethik, S. 466, vgl. Kaiser: Mitternacht - Zeidler Weise, S. 105ff. 319

Wenn nun ja jemand meinen würde/ dieses oder jenes wäre Amtleuten/ Räthen/ oder hohen Potentaten zu nahe geredet; Der wird in ziemendster Form gebeten und ersuchet/ sein Judicium und Urtheil so lange zu differiren und auffzuschieben/ biß das gantze Werk zu ende bracht worden.151

3. Ars inveniendi, juristische und ästhetische Komplexität a) Findung und Benennung der Realitätsvielfalt Es geht in allen diesen Forderungen nicht um Meinungs- oder Urteilslosigkeit, sondern um rationale Vorbereitung des Urteils. Die Methode dazu lehrt die Topik152 oder >ars inveniendiOrt< genannt [...] Nichts anderes ist der >Ort< als ein gemeinsames Sachmerkmal, durch dessen Fingerzeig man alles finden kann, was überhaupt an einer Sache erheblich ist [.. .].160

Zum Durchbruch verhalf dieser nicht mehr synthetischen, sondern analytischen Erkenntnislehre Petrus Ramus, wohl der für die europäische Wissenschaftsgeschichte, vor allem aber für die Ausbildung an den Schulen einflußreichste Logiker 157

158 159 160

Ebd. II, 131 »Cura, attentione animi, cogitatione, vigilantia, adsiduitate, labore« (Ebd. II, 150). Agricola: De inventione dialectica, Vorwort, zit. nach (und übers, in): Renaissance und frühe Neuzeit, S. 133f. Ebd. Kap. 2, S. 140f. 321

des 16. Jahrhunderts.161 Er leitet sein Modell der Erkenntnis ausdrücklich aus der platonischen Ideenlehre ab und deutet in der Metaphorik des Höhlengleichnisses die traditionellen Teile der Dialektik, >inventio< und >iudiciuminventio< soll »eine Fragestellung angegangen und aufgefächert werden«, so daß »die Ursachen, Wirkungen und alles übrige, das sich den Umständen der Natur verdankt«, betrachtet werden. Die einzelnen Gesichtspunkte nennt Ramus Argumente; und er teilt sie auf in zwei Arten: »grundlegende Argumente und Argumente, die aus den grundlegenden abgeleitet sind. Zur ersten Art gehören fünf: Ursachen, Wirkungen, Grundlagen, Verknüpfungen und Widersprüche; zur zweiten Art gehören neun: Gattung, Art, Name, charakteristisches Merkmal, etymologische Verbindung, Zeugenaussage, Vergleichsmöglichkeit, Wortzerlegung und Begriffsbestimmung«.163 Der >inventio< und ihrem topischen Verfahren der Argumentensuche folgt das >iudiciumiudicium< den Begriff >kritikeinventio< und >iudicium< nicht mehr getrennt nebeneinanderstellt, sondern miteinander verquickt, wird mit Ramus zur Methode des Humanismus. Kritik bedeutet für ihn Analyse, durch die »eine gemachte Untersuchung aufgelöst und in ihren Teilen geprüft wird«.166 Sie wird »zum Kennzeichen einer neuen Epoche«,167 und zwar in zwei Richtungen: zum einen im Sinne von Interpretation und kritischer Prüfung von Texten und Aussagen,168 im Sinne von Sprach- und Rhetorikkritik also;169 zum ändern als methodischer Begriff, der, verwandt der methodischen Skepsis, von Descartes, Graciän170 und Pierre Bayle171 fortgeführt und als Kritik des eigenen Urteils verstanden wird. Ramus sieht die Kritik als dritte und höchste Stufe des Urteilens an. Sie habe dazu zu verhelfen, daß alle menschliche Wissenschaft im Hinblick auf ihr letztes Ziel ins Auge gefaßt wird, damit sowohl die Früchte menschlicher Arbeit ihre richtige Einschätzung erfahren wie auch Gott als Schöpfer und Urheber aller Dinge anerkannt werden kann. [...] Wer nämlich sieht, daß er mit seinem Denken die unabsehbare Vielfalt der Dinge ganz und auf einmal nicht begreifen kann, ja wer nicht einmal sieht, vor welche Probleme ihn deren Mannigfaltigkeit und erdrückende Fülle stellt, der möge sich die Schärfe seines Geistes in dessen ganzer Schwungkraft zu Diensten machen: zunächst sollte er ein Bild von all dem gleichsam wie auf einer kurzgefaßten Gedankentabelle zusammenfassend eintragen; sodann erweitere er diese Tabelle und schmücke sie mit zusätzlichen Farbtupfern zu einem umgreifenden und vollkommenen Abriß der dialektischen Kunst aus - auf diese Weise wird er eine erste Gedankenarbeit leisten; kraft der ewigen, göttlichen Weisheit zeigen sich 165

166 167 168

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170 171

Ebd. S. 188. Ramus: Dialectica (1566), S. 149, zit. nach Hist. Wörterbuch d. Philosophie, Stichwort Kritik, Sp.1262. Hist. Wörterbuch d. Philosophie, Stichwort Kritik, Sp. 1255. Vgl. eine ramistische Anleitung für Juristen: »discussing perusing, searching and examining what others have either delivered by speach or put downe in writing [...] this is called Analysis.« (A. Fraunce: The lawiers logike, London 1588, zit. nach Hist. Wörterbuch d. Philosophie, Stichwort Kritik, Sp. 1257). Vgl. etwa den Ramisten C. Scioppius, Commentarius de arte critica (1597), vgl. J. Clauberg, Logica vetus et nova, (1654),der die Beurteilung bereits geformter Gedanken als einen von vier Teilen der Logik begriff, die lehren solle, 1. »quomodo quis suas cogitationes [...] recte possit formare«, 2. »quomodo quis suas cogitationes [...] aliis hominibus possit explicare«, 3. »de vero orationis obscurae sensu investigando«, 4. »in qua hominum conceptus [...] ad rectae rationis stateram appenduntur.« (zit. nach Hist. Wörterbuch d. Philosophie, Stichwort Kritik, Sp. 1260). Graciän: El Criticon (1651-57) Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique, (1692).

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ihm die beobachteten Dinge als so unermeßlich, daß keine Macht und kein Zugriff menschlichen Denkens sie zu erfassen oder überhaupt einzuholen vermöchte. Solches Vorgehen führt die Menschen ganz bestimmt nicht nur zu einer freiwilligen Erkenntnis Gottes, sondern motiviert sie nahezu unausweichlich zur Gottesverehrung und zu einer religiösen Gesinnung. 172

Das >iudicium< besteht für Ramus also in der systematischen Anordnung möglichst vieler Einzelaspekte. Die Wahrheit, nach scholastisch-aristotelischem Denken dogmatisch am Anfang stehend und geeignet, logisch weitere Erkenntnisse aus ihr abzuleiten, steht für Ramus am Ende, wird vom Menschen im Grunde nur annähernd erreicht, und zwar dadurch, daß die Gesichtspunkte sich vermehren, dadurch, daß die Probleme und Widersprüche so einbezogen werden, daß sie in der immer komplexeren geistigen Ordnung ihren vorläufigen Ort finden.173 Dieses analytische Urteil, das nicht mehr die endgültige Aussage, sondern die Suche nach immer neuen Gesichtspunkten in den Mittelpunkt stellt, ist typisch für die Übergangszeit zwischen Mittelalter und Moderne. Der Blick richtet sich bereits auf die Einzelphänomene und Einzelaspekte eines Themas, sucht aber nach dem Allgemeinen, der Natur der Sache. Der statische Begriff >ordomethodusgeile Wechselung< ebenfalls nicht mit der Haltung Lohensteins übereinstimmt, mag ein Blick auf zwei Gespräche im Arminius verdeutlichen: Erato und Flavius (Arm. II/128a-b) unterhalten sich über das ethische und philosophische >constantia Der Text ist die Klage einer von ihrem Gatten getrennten Frau und ist den >Heroides Christianae< zuzuordnen, wie sie seit dem Humanismus in Auseinandersetzung mit der Rezeption der Heroiden Ovids entstanden waren. Unter Adaption der Form nahmen sie eine »Korrektur ovidischer Inhalte«227 vor. Im 17. Jahrhundert nahmen die Jesuiten sie in ihr Erziehungsprogramm auf und verwendeten sie zur Propagierung 226

227

Sie folgt in der Ausgabe der Rosen den sechs Heroiden und bezieht sich auch inhaltlich auf sie; - vgl. oben Kap. Il.l.d. Dörrie: Der heroische Brief, ebd. S. 363; vgl. die Heroidum Christianorum epistolae des Helius Eobanus Hessus (Leipzig 1514): unter ihnen etwa Briefe Maria Magdalenas an Christus, Helenas an Konstantin, Monikas an Augustinus.

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des christlichen >amor caelestis< gegenüber dem >amor terrenus< und damit zur ehemoralischen Unterweisung.228 Offenbar setzt sich Lohenstein in seiner Rede der Maria Coronelia mit solchen jesuitischen Bestrebungen auseinander: denn er zieht eine jesuitische Quelle heran, Juan de Marianas (1536-1624) Historiae de rebus Hispaniae libri XXX, eine Exempelsammlung, die Geschichte als Reservoir lehrhafter religiöser und moralischer Vorbilder und Mahnungen auswertet. Darunter findet sich auch die Geschichte, die Lohenstein aufgreift: Maria, die Gattin des Alfons Coronelius, erträgt die Abwesenheit ihres Mannes nicht; um nicht verderblichen Lüsten nachgeben zu müssen, löscht sie ihre glühende Begehrlichkeit mit dem Feuertod aus und gibt damit ein Vorbild der Keuschheit.229 Lohenstein kommt in seinem Text durchaus zum gleichen, traditionell gültigen Ergebnis wie Mariana: zum Lob vorbildlicher Keuschheit und Treue der Ehegattin, die diesen Idealen ihr Leben opfert. Der Gang der Argumentation zeigt jedoch, was Lohensteins Coronelia von jenen unterscheidet: Sie ist nicht souveräne, ihrer vorbildlichen Haltung sichere Märtyrerin, sondern exemplarische Figur, die die menschliche Schwäche und Unsicherheit vorführt. Nicht mehr ein diabolischer Tyrann, sondern die Menschennatur, und zwar ihre eigene wie die im Rechtssystem der Gesellschaft wirksame, bringen die Folter230 mit sich, die nicht mehr als Bewährungsprobe bestanden, sondern als unerträglich empfunden und erst im Tod beendet wird. An die Stelle der >constantia< treten Zweifel und Ringen. Fünfmal ändert Maria Coronelia im Verlauf ihrer Rede ihre Haltung und ihre Wertmaßstäbe: Zunächst tritt sie auf als Anklägerin. Der Natur wirft sie vor, den Menschen so stark mit Trieben ausgestattet zu haben, daß er in Konflikt mit den spezifisch menschlichen Eigenschaften »Keuschheit in der Seel' und Witz im Kopfe« gerät und unterliegen muß: »Ich kan die Lüsternheit nicht bergen noch verneinen.«231 Im Blick auf das von Normen freie Liebesleben der Tiere klagt Maria Coronelia auch Gott an, er bevorzuge diese und »binde gar zu sehr die Menschen durch Gesätze;«232 dann kommt Maria Coronelia zum eigentlichen Grund ihrer Klage: sie sieht sich als Opfer staatlicher Gesetzgebung, die sie von ihrem Mann getrennt habe:

22S

229

230 231 232

Über Jacob Bidermanns Heroum epistulae, epigrammata et Heroides (1634) schreibt der geistliche Censor in Antwerpen: »Poemata R. P. Jacobi Bidermanni et Societate Jesu iam ante in Italia et Germania approbata et excusa typis Plautinianis recudi merentur. Nam in Elegiis Ovidium, sed castum [...] agnoscere et imitari licet.«(zit. nach Dörrie: Der heroische Brief. S. 390). »Maria Coronelia, Alfonsi Coronelli uxor, cum Mariti absentiam non ferret, ne pravis Cupiditatibus cederet, vitam posuit, ardentem forte Libidinem Igne extinguens adacto per Muliebria Titione. Dignam meliori saeculo Feminam, insigne Studium Castitatis!« (Mariana, Historiae, 16. Buch, 17. Kapitel, zit. bei Lohenstein: Vgl. Rosen S. 54). Lohenstein: Rosen, S. 45. Ebd. S. 45f. Ebd. S. 47.

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Weil ihm ein ewig Bann vom König ist bestimmt/ Der mir/ O grimmes Recht! ihm nachzuzichn verwehret/ Und strenger wider mich/ als gegen ihn verfähret.233

Angesprochen ist damit ein unter den zeitgenössischen Juristen heftig umstrittener Gesichtspunkt des Eherechts, nämlich die Frage, ob Landesverweisung als Scheidungsgrund anerkannt werden müsse. Maria Coronelia vertritt dabei eine juristisch durchaus berechtigte Position, die der Benedict Carpzovs entspricht. Er will das Problem nicht durch Einführung eines weiteren Scheidungsgrundes lösen, sondern dadurch, daß der unschuldige dem schuldigen Gatten bei dessen Landesverweisung nachfolgen dürfe.234 Da dies Maria Coronelia verwehrt ist, fordert sie die andere Lösung, die Scheidung ihrer Ehe. Sie argumentiert mit der Ungerechtigkeit des Rechts, das mehr sie bestrafe als den eigentlich bestraften Gatten: in Afrika, dem Verbannungsort, würden viel losere, für Männer auch in ihrem Land nicht so strenge sittliche Normen gelten. Maria Coronelia entschließt sich daher, sich selbst gleiches Recht zu verschaffen: Welch Wahnwitz aber hat mir den Verstand verdüstert/ Zu glauben: Weibern sey/ was Männern/ nicht enträumt? [...] Sol meine Seele Durst/ die Lippen Hunger leiden/ Wenn unsre Männer sich in tausend Lüsten weiden?235

Während sie sich ihre künftigen Leidenschaften vorzustellen beginnt, bricht sie aber ab: »Jedoch/ wo rennstu hin? du rasend-tolle Hure!«236 Sie erinnert sich der ehelichen Tugenden Keuschheit und Treue und klagt nun sich selbst wegen der soeben entfalteten Gedanken an. Sie habe versucht, Hurerei »durch den Schein der Rechte«237 zu übertünchen und sei damit bereits zur Sünderin geworden: »Ich breche mit mir selbst die heil'ge Eh alleine;« urteilt sie und sieht voraus, wie jeder »mit Fingern auf mich weisen«238 werde. Aber erneut korrigiert sie ihren Standpunkt und verteidigt sich, zwischen bloßem Gedanken und Tat unterscheidend: Welch Richter ist/ der je so strenges Urteil sprach? [...] Sind den Gedanken auch Gesetze fürgeschrieben? f . . . ] Gedanken sind von Zoll und Strafen zu entbinden;

Maria Coronelia nimmt sich nun vor, nicht nur das Handeln, sondern auch die Gedanken zu beherrschen:

231 234 235 236 237 238 219

Ebd. Vgl. Dieterich: Das protestantische Eherecht, S. 243. Lohenstein: Rosen, S. 48. Ebd. S. 49. Ebd. S. 50. Ebd. S. 51. Ebd.

348

Ich will mir Zwang anthun, mich selber überwinden, Ja auch die Phantasie in Schranken Schlüssen ein.

Dann aber beurteilt sie in einer letzten Wende das stoische Ideal der Herrschaft des Geistes über die Affekte als Illusion: Ach! aber/ Aberwitz! was meinstu zu vollziehen? Solln die Gedancken dir auch zu Gebothe stehn? Traustu den Reitzungen des Fleisches zu entfliehen; [...] Entmensche dich vorher/ vergeistere die Glieder/ [...] Entädere den Leib/ [...] Entmanne/ wo du kanst/ durch Stahl und Krauter dich/ So wird dein Fleisch die Brunst behalten doch in sich;

Die Entscheidung zum Selbsttod, die Maria Coronelia nun trifft, ist nicht Ausdruck stoischer Erhabenheit, sondern der Ausweglosigkeit. Die Sätze »Ich kan die Lüsternheit nicht bergen noch verneinen«242 und »Ist etwas Menschlicher/ als lüstern seyn und lieben«243 behalten ihr Gewicht. Ergebnis ist also nicht, wie es scheinen mag, lediglich die Bestätigung der gültigen Ehemoral, der sich die Heldin unter Opferung ihres Lebens unterwirft. Der Text rechtfertigt sich nicht als weitere Apologie der ohnehin bekannten Ehemoral, sondern in der Vorführung der Problematik. Nicht der Ausgang ist interessant, sondern die Argumente sind es. Keines der Argumente ist falsch, keines aber bleibt unbestritten. Ergebnis ist ein gewisses Verständnis gegenüber beiden zur Diskussion stehenden Normverstößen: des in der Rechtspraxis höchst unterschiedlich geahndeten Delikts Ehebruch und des grundsätzlich ebenso verworfenen Selbstmords. Ähnlich strukturiert sind die bereits besprochenen vier Heroiden Liebe zwischen König Petern dem Grausamen/ in Castilien/ und Johanna Castrial des Diego Haro Wittib« (s.o. II.2.e). Die Prosaeinleitung läßt keinen Zweifel: es geht um einen Skandal, um den Ehebruch eines Herrschers, den schließlich die Gerechtigkeit des göttlichen Schicksals rächen wird. Aber schon die Einleitung verlangt, die Briefe haben »sich von Niemandem eines strengen Urthels zu befahen«.244 Der Hauptangeklagte der Einleitung, Peter, weist seinerseits auf die Komplexität der Affäre hin: Zwar iedes Ding sieht aus/ nach dem es wird gedrehet; Sieht Demant doch wie Glaß/ Gold oft wie Meßing aus. Die Tugend selber wird als Laster oft geschmähet;

Jeder der Briefe stellt dem entsprechend das Geschehen aus einem anderen Blickwinkel vor. Im ersten Brief stützt sich Peter auf die Möglichkeiten der Eheungültig240 241

Ebd. Ebd. S. 52.

242 243

Ebd. S. 46. Ebd. S. 51.

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Ebd. S. 17. Ebd. S. 30. 349

keit und fordert von der anstatt der bisherigen Ehefrau Umworbenen: »Urtheile nun/ mein Kind«;246 im zweiten stellt diese das Wort des Priesters über die Gehorsamspflicht der Untertanen und bittet Peter: »Urtheile/ grosser Fürst«.247 Im dritten beruft sich Peter gegenüber der ungeliebten Ehefrau auf das Naturrecht der Liebe und appelliert ebenfalls an das Urteil der Gattin,248 und im vierten stützt sich diese, da sie an der Ehe festhalten will, auf das Urteil des Himmels.249 Zunächst muß man davon ausgehen, daß die Prosaeinleitung am ehesten den Standort des Autors wiedergibt, während die folgenden Briefe schon gattungsspezifisch perspektivisch sein dürfen. Gemessen an der Einleitung erscheinen die beiden Briefe Peters als bloße Verstellung, als reine Täuschungsmanöver gegenüber den beiden Frauen. Der Brief Johanna Castrias erscheint als naiv und leichtgläubig, denn die Einleitung berichtet ja, daß sie sich gerade nicht auf das von ihr beschworene Wort des Fürsten verlassen konnte. Der vierte Brief dagegen, der Brief der verlassenen Ehefrau, stimmt in der Beurteilung des Falles wieder weitgehend mit der Einleitung überein. Dennoch sind Einleitung und letzter Brief in ihren Aussagen nicht höher als die mittleren Briefe zu bewerten; bezweckt ist vielmehr ein Gleichgewicht ihrer Bedeutung. Fangen wir noch einmal von vorne an zu lesen und versuchen wir es aus der Sicht des zeitgenössischen Lesers: Die Prosaeinleitung gibt den Fall wieder, so wie er dem Autor bekannt wurde. Die Bewertung entspricht den geltenden sittlichen Normen. Das Erzählte ist nicht mehr als eine Skandalgeschichte, die ex negative die gültige Eheauffassung bestätigt. Aufregend wird der Fall erst durch die folgenden drei Briefe. Die vorab Verurteilten kommen selbst zu Wort und entlasten sich, indem sie sich ihrerseits auf gewichtige, allgemein anerkannte Normen berufen. Das erweckt beim Leser Verständnis und Einblick in die Komplexität des Falles. Erst der letzte Brief führt dann dazu, daß schließlich das Urteil der Prosaeinleitung gegenüber allen vorgebrachten Einwänden doch wieder überwiegt. Das für den Leser Interessante ist wiederum nicht das von Anfang an bekannte Endurteil, das im sozialen System der Leser ohnehin feststeht, sondern der Umweg, der Vorgang des Problematisierens, des Überprüfens neuer Gesichtspunkte, des Differenzierens und Präzisierens. d) Beweglichkeit des Urteils Erkenntnis also verläuft sowohl bei den literarischen Figuren als auch (durch die Struktur der Texte) beim Rezipienten ab als Prozeß, nicht als Übernahme von autoritativen Normen. Im Arminius wird eine Reise nach Ägypten und dabei das Labyrinth des Königs Moeris beschrieben. Am Eingang, so wird erzählt, finde man ein Gedicht, das das Labyrinth mit dem Leben des Menschen vergleicht und jede Suche, sofern sie der Wahrheit gelte, als sinnvoll ausweist:

246 247

Ebd. S. 20. Ebd. S. 26.

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24ft 249

Ebd. S. 31. Ebd. S. 36.

Wie irr't ihr Sterblichen/ die ihr den Irrbau seht Für einen Irrgang an/ der euch nur soll verführen. [...] Wer aber durch den Bau vernünftig irre geht/ Wird seines Heiles Weg/ der Wahrheit Richtschnur finden. (Arm. I/677a)

Das ist wiederum die Position des methodischen Skeptizismus, nach der »das Irren allzu menschlich« sei, nach der es »etwas übermenschliches« sei, »die Wahrheit von Irrthümern unverfälscht zu behalten«, nach der aber andererseits »Irrthümer unsere erste Lehrmeister sind«. (Arm. II/278a-b) Der Erkenntnisprozeß ist also begriffen als ständiges Revidieren von irrigen Urteilen. Der Vielfältigkeit und Veränderlichkeit von Welt und Mensch entspricht nach Montaigne eine Vielfältigkeit des menschlichen Denkens und die ständige Veränderung jeden Urteils: Es gibt keine beständige Existenz, weder unseres Seins noch der Objekte. Und wir und unser Urteil und alle vergänglichen Dinge sonst bewegen sich und rollen ohne Aufhören fort. Darum kann nichts Gewisses weder von dem einen noch von dem anderen festgestellt werden, und der Urteilende und das Beurteilte sind in ständiger Verwandlung und Bewegung.250

Im Arminius heißt es dementsprechend, die Beständigkeit sei nur eine Tugend des Willens, nicht aber des »Urthels, welches allemahl aus Liebe der Wahrheit sich zu ändern geneigt seyn sol, wenn es nicht in schädliche Hartnäckigkeit verfallen wil.« (Arm. II/1157a) und als Anleitung zu praxisorientierter Klugheit in Anlehnung an Saavedra: Ein Arzt müste nach Veränderung der Krankheit seine Arzneyen verwechseln. Wäre also die Veränderung ins bessere keine Leichtsinnigkeit, sondern durch selbte übte die Beständigkeit vielmehr ihre Kräfte, wie ein dem Wind andeutender Wetter-Hahn durch seine Umbwendung, und die Magnet-Nadel durch ihre Bewegung gegen dem Angel-Sterne ihr Ambt aus. Jedoch wäre freylich diese Verbesserung nicht mit Sturme, sondern mit kluger Vorsicht, und gleichsam ohne Empfindung des Pöfels, welcher aus Hartnäckigkeit, keinen Fuß breit hinter sich weichen, für höchste Tugend beherzter Leute hielte, zu bewerkstelligen. (Arm. I/278b)251

Für Thomasius ist im Unterschied zur Allgemeingültigkeit der philosophischen Weisheit das Spezifikum der Klugheit die Veränderlichkeit, da »wegen vorfallender unzähliger Umstände/ die man nicht allzeit vorher sehen kan/ ein gefaster Rath öffters verändert werden müsse«.252 Für die juristische Ermittlung des Tatbestands ist die hier geforderte geistige Beweglichkeit und Einstellung auf neu entdeckte oder neu auftretende Umstände von grundlegender Bedeutung. »So viel Umstände des facti/ so viel neues Recht. Oft scheinet ein Ding gut und wolgetahn zuseyn/ also/ daß es jedermann/ so es von aussen ansiehet/ loben und hochhalten muß/ so bald aber ein que/ das ist ein schlim250

251 252

Montaigne: Apologie de Raimond Sebon, zit. nach (und übers, von) Gaede: Grimmelshausen und die Tradition des Skeptizismus, S. 476, vgl. ders.: Poetik und Logik S. 77. Zur Orientierung an Saavedras Idea, Empr. Nr. 65 vgl. Wucherpfennig: Klugheit und Weltordnung, S. 50f, Anm. 135. Thomasius: Kurzer Entwurf der politischen Klugheit, S. 60. 351

nier Umstand darzu körnt/ wird es alles anders«,253 lehrt Stieler den angehenden Advokaten; und er zitiert an anderer Stelle dazu das Corpus Juris: »Dahero auch gesagt wird/ quod propter minimam facti mutationem saepe totum jus mutetur.«254 Die auf Thomas von Aquin und die spanischen spätscholastischen Moraltheologen zurückgehende Lehre des Hugo Grotius von den legitimen Möglichkeiten, einen Vertrag als hinfällig zu betrachten, beschäftigt sich eingehend mit der Feststellung und Bewertung von Veränderungen der Umstände seit dem Abschluß des Vertrages und mit ihrer Relevanz für den Vertragsinhalt.255 Pascal hat die oft eminente Bedeutung des minimalsten Umstandes im Zusammenhang mit dem Rechtswesen besonders kraß formuliert: Drei Breitengrade näher zum Pol stellen die ganze Rechtswissenschaft auf den Kopf, ein Längengrad entscheidet über Wahrheit; nach wenigen Jahren der Gültigkeit ändern sich grundlegende Gesetze; das Recht hat seine Epochen, der Eintritt des Saturn in den Löwen kennzeichnet die Entstehung dieses oder jenes Verbrechens. Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluß begrenzt! Diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum.

Bei Lohenstein finden wir diesen provokativen Hinweis auf die Zeit- und Ortsabhängigkeit des Rechts ebenfalls: Es wäre nichts ungemeines in der Welt/ daß der/ welcher hier als ein Verräter an Galgen gehenckt/ anderwerts für einen Vater des Vaterlandes und für einen Märtyrer des Staats gepriesen würde. Des Brutus und Cassius Käyser-Mord hiesse einem ein Schelm-Stück/ ändern das heilsamste Beginnen. [...] Sie hätten gesehen Köpfe in güldene Todten-Töpfe vergraben/ und mit marmelnen Leich-Steinen bedecken/ die gestern zum Scheusale auf einem Thurme aufgesteckt gewest/ von der Sonne ausgedörrt/ von den Wolcken befeuchtet worden. Andere die gestern in Alabaster gelegen/ würden heute auf den Scheiter-Hauffen geworffen. (Arm. I/310a-b)

Dasselbe schreibt Lohenstein in einem nicht fiktiven Text, dem Epicedium auf Chrysostomus Scholtz: Der Sonnenschein wird nicht zur Wolcke so geschwind/ Als man verfluchen wird/ dis/ was wir heute loben. Was jener Wolthat heißt/ schult dieser Missethat. Man legt zu höchstem Schimpf auf Holz-Stoß und aufs Rad Dis/ was für kurtzer Zeit wir eingebalsamt haben/ Was unter dem Altar noch gestern lag vergraben.257

Die Bedeutung dieser Einsicht in die Relativität juristischer Normen und politischer Bewertungen liegt für die frühe Neuzeit auf der Hand: Die Ausweitung der Handelsbeziehungen auf Völker völlig anderer Kulturkreise, vor allem aber die Zersplitterung der Rechtskreise innerhalb Europas und innerhalb des deutschen Reiches führten dazu, daß unter Hermann Conring Historität, Individualität und 253 254

255

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Stieler: Der Teutsche Advokat, S. 931. Ebd. S. 184. Grotius: De iure belli ac pacis, II. Buch, XVI (Über die Auslegung), vgl. Disselhorst: Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen, S. 55ff, 127ff. Pascal: Gedanken, Nr. 294. Lohenstein: Hyacinthen, S. 58.

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damit die Unterschiedlichkeit des Rechts in verschiedenen Rechtskreisen zum Gegenstand juristischen Interesses wurden. Seit 1660 hielt Conring Vorlesungen über die wichtigsten gegenwärtigen Staatswesen des Erdkreises. Diese Nolitiae betrachteten Geographie, Geschichte, Kultur, Wirtschafts- und Verwaltungsordnungen der verschiedensten Staaten, um in ihrem Zusammenhang das jeweils individuell geltende Rechtssystem zu erklären.258 Ihre logische und rhetorische Form beziehen die diesem Anliegen entsprechenden Argumentationen Pascals wie Lohensteins aus der Tradition: aus dem letzten der skeptizistischen zehn Tropen, die jedes Argument dadurch, daß sie ein entgegengesetztes suchen, als nur unter bestimmten Umständen geltend ausweisen. Sextus Empiricus nennt als zehnten Tropus die Möglichkeit, die Allgemeingültigkeit einer ethischen, rechtlichen oder religiösen Lebensform dadurch zu widerlegen, daß man ihr eine entgegengesetzte aus einem anderen Kulturkreis entgegensetzt. Als Beispiele führt er ein Gesetz der Taurer und der Skythen an, das verlangt, »die Fremden der Artemis zu opfern, bei uns dagegen ist es verboten«; ebenso sei »bei uns der Beischlaf mit der Mutter verboten, bei den Persern dagegen sei gerade eine solche Ehe Sitte.«259 Beide Beispiele übernimmt Lohenstein in seinen Dramen: die Frage des Fremdenopfers in Sophonisbe, die Beziehung zwischen Mutter und Sohn in Agrippina, wo die Titelheldin sich mit dem Recht der Perser zu rechtfertigen sucht (A HI/207). Immer wieder kommen Gegensätze der Rechtsauffassung zwischen Afrika und dem Römischen Reich in den >Afrikanischen Trauerspielen< bzw. die Andersartigkeit des türkischen Rechtssystems in den >Türkischen Trauerspielen< zur Geltung.260 Oberstes Prinzip aller zehn skeptizistischen Tropen ist die im achten Tropus formulierte Relativität alles zu Beurteilenden und aller Urteilenden, also die Abhängigkeit des Urteils von den variablen Umständen.261 Lohenstein gibt in dem erkenntnistheoretischen Gespräch zwischen Timon und Divitiach eine Reihe der skeptizistischen Tropen in direkter Anlehnung an Sextus Empiricus wieder.262 Sie 258 259 260

261

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Vgl. Brückner: Staatswissenschaften, S. 33ff. Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, 1,149-152, S. 127f. Vgl. auch Lohenstein: Arm. II/270a-b: »In gewissen Ländern ist es eine Zierde lange Nägel wie Adlers-Klauen/ und in Sarmatien narbichte Gesichter haben. [...] In Persien lassen die Gesätze zu: Mutter und Schwester heyrathen/ bey uns ist es ärgste Blutschande. Der sonst so tugendhafte Alcibiades hielt den Ehbruch für eine Geschicklichkeit eines Edelmannes; und Käyser August für Staats-Klugheit. Der wegen seiner Einbildung allezeit arme Geiz hat fast durch die gantze Welt beym Pöfel/ der Ehrgeitz beym Adel/ die Herrschsucht bey Fürsten/ die Scheinheiligkeit bey Geistlichen den Nahmen und die Stelle der ersten Tugend bekommen.« »Daß alles relativ ist, habe ich oben schon nachgewiesen: hinsichtlich der urteilenden Instanz z. B. durch den Nachweis, daß jedes Ding bezogen auf dieses und dieses Lebewesen und diesen und diesen Menschen und diesen und diesen Sinn und diesen und diesen Umstand erscheint; hinsichtlich des Mitangeschauten durch den Nachweis, daß die Erscheinung jedes Dinges bezogen ist auf diese und diese Beimischung und diesen und diesen Ort und diese und diese Zusammensetzung, Quantität und Stellung.«(Sextus Empiricus: Grundzüge, S. 125). 1. Tropus (Abhängigkeit des Urteils von den biologischen Eigenarten des Urteilenden):

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strukturieren in allen Werken sowohl die Ebene der Argumentation wie die Rezeptionsebene, um das Urteil der fiktiven Figuren wie des Publikums in Bewegung zu halten: Der erste und zweite Tropus handeln von den naturbedingten Unterschieden der urteilenden Menschen; sie werden etwa als Argumente Masinissas gegen Scipio angeführt: die hitzigen Menschen Afrikas, so verteidigt sich Masinissa, könnten nicht so kühl und rational sein wie ein Römer (S IV/309ff). Die Abhängigkeit des Urteils von der Aufnahme durch das eine oder das andere Sinnesorgan (3. Tropus) wird überall dort dramaturgisch umgesetzt, wo sich Lohensteins Figuren verkleiden. (»Ich höre meinen Schatz/ schau aber einen Mann.« S11/257). Die Abhängigkeit des Urteils vom Zustand der Seele (4. Tropus) wird deutlich etwa in der Verblendung des Antonius, der seine kühle politische Urteilskraft aus Liebe zu Cleopatra und unter dem Druck militärischer Ausweglosigkeit verloren hat (C III 644 ff), ebenso in Sultan Ibrahim, dereinst als geradezu frigider, aber rational regierender Herrscher galt, nun aber durch seine Leidenschaft zum rasenden Tyrannen geworden ist. »So nennen die Gelbsüchtigen gelb, was uns weiß erscheint, und die Leute mit einem blutunterlaufenen Auge nennen es rot.« (Sextus Empiricus: Grundzüge, S. 104) - 6. Tropus: »deswegen sehen die Gelbsüchtigen alles gelblich und die Leute mit blutunterlaufenen Augen alles blutrot.« (Ebd. S. 122) - Lohenstein: »In den Augen der Mohren ist die Schwärtze/ wie bey denen schnee-weissen Deutschen die weisse ihre Königs-Farbe« (Arm. II/267b); »Einem Gelbsüchtigen siehet alles gelbe aus«(Arm. II/268a). 4. Tropus (Abhängigkeit des Urteils von der seelischen Verfassung des Urteilenden): »Viele halten auch ihre häßlichen Geliebten für sehr schön.« (Sextus Empiricus: ebd. S. 118) - Lohenstein: »der Aberwitz der Verliebten/ welche mehrmals einen Frosch für eine Diana ansehen; und [...] sich an schielenden Augen am meisten ergetzen.« (Arm. II/267b) 5. Tropus »Das fünfte Argument bezieht sich auf die Stellugen, die Entfernungen und die Orte. Denn auch nach jedem von diesen erscheinen dieselben Dinge verschieden.« (Sextus Empiricus: ebd. S. 121) - Lohenstein: »ein Einfältiger wird sich schwerlich überreden lassen: daß er die unbegreifliche Größe der Sonne nicht überklafftern/ die Helffte des Monden nicht überspannen/ und iedweden aller ändern Sterne mit dem Daumen bedecken solte. Diesemnach jeder/ der sich nur selbst kennet/ und seine Zwerg-Größe nicht nach seinem ihn beym Untergange der Sonne oft mehr als fünfmal übertreffenden Schatten abmißt: sich für sich selbst bescheidet : daß er des Zweiffels/ als eines Probiersteines der Warheit unentpehrlich von nöthen habe. Denn dieser körnt allen irrigen Einbildungen zuvor/ welche sonst den Menschen insgemein übereilen« (Arm. II/268a). 7. Tropus (Abhängigkeit des Urteils von der Quantität des Beurteilten): »Allgemein scheinen auch die nützlichen Dinge durch ihren mengenmäßigen Mißbrauch schädlich zu werden.« (Sextus Empiricus, ebd. S. 124) - Lohenstein: »Der Überfluß des Guten verursacht [...] Eckel [...]« (Arm. H/ 267a) 9. Tropus (Abhängigkeit des Urteils von der Häufigkeit bzw. Seltenheit eines zu Beurteilenden): »Auch scheint das Seltene wertvoll zu sein, das für uns Alltägliche und leicht Beschaffbare dagegen keineswegs.« (Sextus Empiricus: ebd. S. 126 - Lohenstein: »die frembde Seltzamkeit und die gemeine Einbildung gibet auch der Bitterkeit einen Honig Geschmack[... ] Ist unser Geschmack nicht lüstern nach gesaltzenen und ungesunden Speisen[...] wenn selbte nur über Meer oder aus der neuen Welt kommen sind; so gar: daß wir auch fremde Vogel-Nester und Erd-Geschwüre für niedliche Gerichte; Eiter und Drüsen unbekandter Ziegen für den Kern des kräfftigsten Geruches verzehren.« (Arm. II/ 267a); vgl. dazu auch Kafitz: Lohensteins Arminius, S. 61 ff.

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Sie alle sind nicht einfach als Negativexempel abzutun. Schließlich hat Lohenstein selbst einen Habsburger, und zwar keinen geringeren als Philipp II., ihnen zur Seite gestellt: im Briefwechsel zwischen König Philipp II. von Spanien und der Fürstin von Eboli263 hat Lohenstein den vierten Tropus zum beherrschenden Thema einer seiner Heroiden gemacht: Philipp II. erscheint als wirklichkeitsblinder Verliebter.264 Die Begrenztheit menschlicher Rationalität wird demonstriert ausgerechnet am Beispiel dieses als streng rational geltenden Herrschers. Lohenstein betont seine Selbstdisziplin in allen anderen Bereichen: Ungeduld, Rache, Beleidigung, Eifersucht, selbst »Herschens-sucht«265 seien ihm fremd; militärische Niederlagen brächten ihn nicht aus der Ruhe. Aber er unterliegt »der Liebe Schwachheit«, wie er der Eboli gesteht: Dir zeugets diese Schrift: daß Zittern in den Händen/ Verwirrung im Verstand'/ in Augen Wasser sey; Ich schreib'/ und weiß nicht was/ und mehr als ich wol solle/ [...]. 266

Philipp führt nun seine Verwirrung sprachlich direkt vor: er preist zunächst die Schönheit der Geliebten in der Manier des Petrarkismus, die gängigen Formeln Mund/Rubin, Zähne/Perlen, Wangen/Rosen, Haare/Gold aufgreifend, um dann zum Höhepunkt seines Lobes zu kommen, nämlich zum Preis der Augen: Doch ihre grösste Krafft steckt in den holden Blicken/ Die mehr als zauberisch/ mehr als Magnetisch seyn. Es kan kein Sonnen-Strahl so sehr die Augen Wänden/ Als mir ein einig Blick verdüstert den Verstand.267

Wenige Zeilen später durchschaut man die verblüffende Bedeutung dieser konventionell scheinenden Verse: Die Frau, deren Schönheit Philipp besingt, hat nur ein Auge.268 Und von hier ab sprengt oder karikiert der Brief die petrarkistische Manier. Er vergleicht ihr Auge mit der einzigartigen Sonne, die es an Glanz sogar noch übertreffe: Wie klug hat die Natur mit dir und mir gebahret; Daß sie dir Eboli nur ein schön Auge gab!

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Lohenstein: Rosen, S. 37ff. Philipp II., König von Spanien und den Niederlanden (1527-1598), besuchte täglich die Messe und widmete sich stundenlang Andachtsübungen. Aber er war auch bekannt wegen seiner Lebenslust. Er war - durch frühen Tod seiner Gattinnen - viermal verheiratet und wurde v.a. in den spanischen Niederlanden viel in Umgebung holländischer Bürgermädchen und Kurtisanen gesehen. Am spanischen Hof unterhielt er ein öffentliches Verhältnis zur Gemahlin seines Ministers Ruy Gomez: Fürst von Eboli. (Vgl. Lissner: Wir sind das Abendland, S. 312). Lohenstein: Rosen, S. 37. Ebd. S. 38. Ebd. S. 39. Lohenstein könnte mit dieser Geschichte auch auf Descartes, einen Rationalisten also, angespielt haben, von dem man wußte, daß er eine Vorliebe für Schielende hatte. Vgl. dazu Kafitz: Lohensteins Arminius, S. 87.

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Die Sonn' ist der Natur weit nicht so schön gerathen/ Als die/ die Eboli an ihrer Stirne trägt [...] Zwar hette die Natur mir gerne zu zwey Sonnen Ins himmlische Gesicht' zwey Augen dir gesetzt. [...] Sie aber hat ir nicht zum ändern mal getraut Des ersten Auges Glantz und Wunder zu erreichen/ Und lieber keines/ als ein greulichers gebaut.269

Die Beurteilung des Briefes fällt nicht leicht. Lohenstein bittet den Leser in der Einleitung der Heroiden, sich gegenüber Inhalt und Verfasser »eines strengen Urthels« zu enthalten und dabei »so leichte Menschliche Fehler/ als der so kluge und scharffsichtige König Philip den Gebrechen eines Auges in der Fürstin Eboli übersehen« zu wollen.«270 Diese Bemerkung sorgt dafür, daß offen bleibt, ob Philipps ästhetisches Urteil als Ausdruck der Relativität jedes Geschmacksurteils, als ästhetische Verirrung, als tolerant, als großmütig oder gar als ethisch vorbildlich, auf den inneren Wert der Geliebten blickend, einzuschätzen ist. Philipp argumentiert im Grunde mit den ästhetischen Maßstäben des Manierismus, die dem neunten Tropus der Skeptiker entsprechen: danach entstehen positive Beurteilungen nicht durch Konformität, sondern durch Exzeptionalität. Auch der sechste und zehnte skeptizistische Tropus, die die Abhängigkeit des Urteils von individuellen und kulturellen Faktoren lehren und damit jede Regelästhetik sprengen, bewahrheiten sich in Philipps Bewunderung der einäugigen Geliebten. »Kein Ding in der Welt scheinet mehr in der blossen Einbildung zu bestehen/ als die Schönheit« (Arm. 11/151 a), heißt es im Arminius; und es folgt ein Panorama gegensätzlichster kulturbedingter Ideale fraulicher Schönheit.271 Der für Lohenstein charakteristische Exotismus, die Vorliebe, etwa im Zusammenhang mit den Bestattungsriten in Cleopatra und Sophonisbe, die fremdartigsten Bräuche auf die Bühne zu bringen, hat hier seine erkenntniskritische Dimension. Immer wieder 269 270

271

Lohenstein: Rosen, S.39f. Ebd. S. 17. »In Hispanien wird die Oliven-Farbe/ in Egypten die dem alten Helffenbein gleichende Aehnligkeit/ in Persien die Schwartzbräunigkeit für das schönste gehalten. Unsere Deutschen aber halten in der Haut eben die Wahl/ die man im Mehle und Perlen hält/ nemlich die weissesten für die besten. Bey denen Seren sind kleine Füsse und kleine Nasen/ bey denen Indianern die breiten/ bey den Griechen die länglichten Antlitze/ in Persien die dicken, in Europa die schmalen Augenbrauen/ in Africa groß aufgeschwollene Lippen/ in Egypten grosse Brüste/ bey den Galliern und Albaniern blaue/ bey den Asiaten schwarze/ bey den Scythen kleine Augen/ sonst aber ins gemein grosse Augen die vollkommensten Schönheiten [...] Alleine die unterschiedenen Völcker sind nicht nur/ sondern wir Deutschen selbst ganz widriger Meynung. Hertzog Herrmann hält die weisse und blau-augichte Thußnelde/ sein eigener Bruder Flavius nunmehr die braune und schwartz-äugichte Erato für die schönste der Welt. Das Frauenzimmer in Italien mühet sich seine Haare mit Lauge und Krautern gelbe zu beitzen; das Römische bezahlet die röthlichen Haare der Deutschen umb so viel wiegendes Gold/ umb mit dieser frembden Zierrath die kahlen Schläfe zu verdecken; [...] Andere schwüren, die Kasten-braunen Haare würen die schönsten. [...]« (Arm. II/151a-b).

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geht dabei die Verunsicherung des ästhetischen Urteils einher mit einer Verunsicherung des moralischen Urteils. Dem Hinweis der Einleitung, Philipps befremdendes ästhetisches Urteil könne eventuell verstanden werden als Ausdruck von Großmut oder als souveräner Blick auf das Wesentliche, stehen ja entgegen die objektive Normverletzung, sich in die Gattin eines ändern verliebt zu haben und das eigene Eingeständnis des Königs, verwirrt zu sein. Wie hier sind es in den Handlungen der Lohenstein'sehen Dramen oft Nuancen, die entsprechend dem siebten skeptizistischen Tropus aus einer Tugend ein Laster und umgekehrt machen können. Der Theologe und Philosoph Arnold Geulincx (1624-1669) argumentiert in seiner Ethik (1675) vor allem mit solchen Nuancen. Er stützt sich dabei auf die aristotelische Konzeption des durch die Vernunft gefundenen Mittelmaßes. Tugend und Untugend stehen sich bei ihm zwar weiterhin wie im Mittelalter absolut gegenüber, nicht aber tugendhafte und lasterhafte Menschen: Sie trennen oft nur Nuancen, wie in der Mathematik jede Zahl, auch nur um eins verändert, nicht mehr sie selbst sei: Genau so handelt auch derjenige nicht nach dem Gebot der Vernunft, welcher um ein klein bißchen zu viel oder ein klein bißchen zu wenig anders handelt, als die Vernunft es meint; er tut vielmehr ganz andere Dinge, ist ein Rebell und Sünder gegen Gott und die Vernunft. Zugegeben: Er war beinahe gehorsam, aber beinahe gehorchen heißt nicht gehorsam sein [ . . . ] Daß er nicht sehr weit von dem Wege der Vernunft abgewichen ist, macht dabei gar nichts aus. Wenn einer vor einem jähen Abgrund steht und er im Schwindel den Fuß versetzt, was macht es da aus, ob er den Fuß nur ein wenig vorgesetzt hat?272

Zwischen der behutsamen Verschwiegenheit, mit der Antonius Cleopatra vor Unheilsbotschaften verschonen will, und der Mißtrauen stiftenden Verstellung, als welche sein Schweigen von ihr empfunden wird, ist kaum die Grenze zu ziehen. Gleiches gilt für seine radikale Treue zu ihr, die in blinden Affekt umschlägt. Agrippinas Mutterliebe und Sorge um die Verführbarkeit des Sohnes schlägt in eine perverse Form eben dieser Verführung, Senecas Loyalität zu Nero in Agrippina in Mitschuld an seinem Unrecht um; in Epicharis führt Senecas wohlwollende Verschwiegenheit gegenüber der ihm sympathischen Verschwörung gegen Nero zu ihrem Scheitern. Wo liegt die Grenze zwischen Scipios Rationalität und seiner Kälte, zwischen Masinissas Empfindsamkeit und Affektverfallenheit, wo die Grenze zwischen Staatswohl und Machiavellismus, zwischen Religiosität und Fanatismus, Religiosität und Aberglauben. Die Beispiele ließen sich beliebig weiterführen; ständig wird durch solche Übergänge das Urteil des Publikums in Bewegung gehalten. Christian Thomasius hebt dieses Verfahren hervor bei seiner Würdigung des Romans Octavia von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (16331714): 272

Geulincx: Ethik, S. 23, vgl. dazu den 7. Tropus nach Sextus Empiricus: »Wird [...] einmal ein ganz kurzer Ausschlag der Waage übersehen, dann ist das Mittel nicht nur nicht nützlich, sondern häufig sogar schädlich und verderblich« (Sextus Empiricus: Grundriß, ebd. S. 124).

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Absonderlich aber hat mich [= Herr Benedict] die Geschieht von der Massalina und Locusta unbeschreiblich vergnügt, derer beyden Unschuld diese hohe Hand so wahrscheinlich dargethan, daß man, wenn man es lieset, über die sinnreichen inventiones erstaunen muß. Wie kan aber das möglich seyn, fragte Herr David, da doch alle Historici die Messaline als eine der grösten Huren, die Locusta aber als eine Hexe und Gifftmischerin beschrieben? Eben darinnen bestehet das Kunststück, antwortete Herr Benedict, daß alles das, so man ihnen beyden schuld gegeben, behalten worden, und dennoch durch Zusetzung glaubwürdiger Umstände sie beyde zu keuschesten und andächtigsten Frauens-Personen gemacht worden.273

Auch Lohensteins Vorgehen, der Beurteilung Philipps in der Einleitung der Heroiden innerhalb des Textes eine andere entgegenzusetzen, finden wir in seinen Dramen wieder: Die Anmerkungen sind nicht nur >barocke< Anhäufung und Demonstration von Gelehrsamkeit; sie führen vielfach positive und negative Umwertungen des Bühnengeschehens, Ent- oder Belastung von Figuren durch. Beispiele dafür sind die Kritik an der islamischen Religion Ambres, die im Drama ja geradezu als Märtyrerin erscheint (Anm. zu IS H/1 ff), weiterhin die oft mit Verweisen auf die Bibel unterstützte Kritik an den auf der Bühne mit allem Ernst und aller Frömmigkeit vorgeführten nichtchristlichen Kulten (Anm. zu S1/375,378; H/244) oder die Kritik an dem auf der Bühne von Masinissa bewunderten Scipio (Anm. zu SIV/ 305 ff) in Sophonisbe und die Verteidigung Agrippinas gegen die auf der Bühne gegen sie erhobenen Anschuldigungen (Anm. zu A1/203,395 f; 11/136, III/79ff). Pierre Bayle (1647-1706) verwendet in seinem Historisch-kritischen Wörterbuch (1697) die gleiche Methode: die Personen, mythologischen Figuren und die Gegenstände werden in meist kurzen Texten dargestellt, denen sich dann ein erheblich umfangreicherer Anmerkungsteil anschließt, in dem Bayle möglichen Irrtümern der Quellen, alten Vorurteilen und Widersprüchen nachgeht, damit also den vorausgehenden Text in seiner Gültigkeit zwar nicht aufhebend, aber doch relativierend. Bei Lohenstein wie bei Bayle dienen die Anmerkungen der skeptischen Methode, »auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen«, so daß wir »wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente [...] zur Zurückhaltung [...] gelangen«.274 Beiden geht es darum, Erkenntnis dialektisch zu begreifen als Prozeß der Aneignung unterschiedlicher, für sich aber einseitiger Urteile. Seine Skepsis gegen solche Einseitigkeiten bringt Lohenstein in einem Gespräch zwischen Rhemetalces, Adgandester und Zeno über die Geschichtsschreiber zum Ausdruck. Livius, so berichtet Adgandester, sei von Augustus gerügt wurden, »daß er allzu sehr Pompejisch wäre [...] wie man hingegen den Dion für allzu gut Käyserlich/ den Fabius für zu gut Römisch/ den Philinus für allzu Carthaginiensisch hielte.« Historiographien, die nicht entsprechend ihrem Verhältnis zum beschriebenen Staatswesen urteilen würden, gebe es nicht: 273

274

Thomasius: Monatsgespräche (Januar 1688), zit. nach Thomasius: Deutsche Schriften, S. 112. Sextus Empiricus: Grundriß, S. 94.

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Wolthat und Beleidigung zeucht uns gleichsam unempfindlich zu ungleichem Urtheil; [...] Daher Callias von Syracuse sich nicht mäßigen konte/ alles Thun des ihn beschenckenden Agathocles zu rechtfertigen/ der von ihm aus Sicilien verwiesene Timeus aber alles zu verdammen. (Arm. I/753b)

Der Skepsis entspricht deshalb der Eklektizismus als eine Erkenntnismethode, die nicht einer Lehre folgt, sondern von den verschiedensten Positionen zu profitieren sucht. Im Armlnius kommt er in dem Wunsch zum Ausdruck, »mit dem Socrates streiten/ mit dem Carneades zweiffein/ mit dem Diogenes zuweilen über die Schnur hauen/ mit dem Epicur sich beruhigen/ mit dem Zeno die Natur überwunden lernen/ und also ihm einen jeden Weisen nütze machen« zu können. (Arm. I/453b-454a) Erst seit Hegel erhält der Begriff >Eklektizismus< seine abwertende Bedeutung und wird meist benutzt im Zusammenhang mit dem ebenfalls abgewerteten Begriff des >Epigonalendialektischer< Dialog oder >ciceronianischer< Dialog für die Gespräche des Armlnius passender; er würde verweisen auf die Brief- Gesprächs- und Dialogkultur des Humanismus, dem es nicht um Festlegungen, nicht um Beweise, sondern um Horizonterweiterung und Perspektivenvielfalt ging. >Dis275

276

Kafitz: Lohensteins Arminius (S. 73, Anm. 91) nennt eine Reihe von eklektischen Werken des 17. Jhs.: Johann Gerhard Vossius: De philosophia et philosophorum sectis (1658); Georg Hornius: Historiae Philosophicae, (1655); Christoph Sturm: Philosophia eclectica, 2 Bde. (1686 und 1698). Christian Thomasius beschreibt den Eklektizismus wie folgt: Er ziehe seine »Lehren aus der ändern ihren Schrifften heraus/ und hält vor das anständigste/ daß man aus allen Secten der Welt-Weisen und ihren Lehren das allerbeste und gleichsam die Bluhmen außerlesen soll« (Introductio ad Philosophiam aulicam, 1688, zit. nach Kafitz: Lohensteins Arminius, S. 74). Dieter Kafitz: Lohensteins Arminius, Disputatorisches Verfahren und Lehrgehalt in einem Roman zwischen Barock und Aufklärung, Stuttgart 1970. 359

putaticx bezeichnet dagegen eigentlich die im Mittelalter zur Unterrichtsmethode entwickelte strenge Form der wissenschaftlichen Behandlung von Streitfragen (Quaestiones).277 Die Scholastik verwandte sie, um Wahrheiten durch die Entkräftung vorgebrachter Gegenargumente zu bewähren. Sie wurde im Unterricht von Artisten, Theologen und Juristen praktiziert sowie in der juristischen Konsilienliteratur verwendet278 und zeigt, daß bereits die unter dem Verruf der dogmatischen Unbeweglichkeit stehende Scholastik Tendenzen zur Relativierung von Lehrmeinungen entwickelte, da »bei diesem Verfahren das Gegenteil der Behauptung als denkbar, und - was wichtiger erscheint - als rational begründbar hingestellt« wird.279 >Dialog< und >Disputatio< bezeichnen also zwei Aspekte des gleichen Erkenntnisvorgangs: Austausch unterschiedlicher Perspektiven und zugleich ihre gegenseitige Kritik. Beides kommt im Drama durch eine zwischen den Positionen wechselnde Szenenführung zur Geltung. Besonders deutlich wird die Relativität der Wahrheit dann, wenn über eine politische Situation oder einen juristischen Tatbestand von verschiedenen Figuren verschieden geurteilt wird, oder wenn das gleiche Geschehen mehrmals auf der Bühne berichtet wird, jeweils aus anderer Perspektive oder in anderer Situation: Epicharis erzählt etwa ihren Vertrauten begeistert von den ersten Kontakten mit dem vermeintlichen Mitverschwörer und späteren Verräter Proculus (E 1/289ff). Später vor Gericht stellen beide dieses Geschehen gegensätzlich dar, und zwar beide anders als Epicharis bei jener Erzählung (E 11/312ff). Wieder anders sieht das Geschehen aus, wenn Sulpitius Asper es im Gefängnis mit den Leidensgenossen bespricht (E HI/55 ff). In Ibrahim Bassa revidiert Sultan Soliman sein Todesurteil gegen Ibrahim nach einem Traum von zwei sich stützenden Blumen, den er auf sein Verhältnis zu Ibrahim bezieht. Die Intrigantin Roxelane weist diese Interpretation zurück. Es sei zwar denkbar, Daß oft des Himmels Schluß/ durch Zeichen gleicher Art Verborgne Zufäll hat die künfftig offenbahrt. Doch daß man dis und das was ohn-gefähr geschihet Nach seinem Sinn und Kopff zu deuten sich bemühet Ist Arbeit sonder Frucht. (IB IV/115ff)

Roxelanes eigennützige, aber grundsätzlich richtige Skepsis (eine Wiedergabe der Position Ciceros über die Auslegbarkeit von Weissagungen)280 führt in diesem Fall 277

»Disputir-Kunst, ist eine Analytische Untersuchung, welche von zwei Personen, davon der eine einen Satz bejahet, der andere denselben verneinet, angestellet wird [...], hierdurch von beyden Seiten Gelegenheit zu geben, einen Irrthum oder Zweiffei abzulegen.« (Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 7 (1734), Sp. 1058); vgl. Grabmann: Geschichte der scholastischen Methode, S. 16ff; Barner: Barockrhetorik, S. 393ff; Jens: Eine deutsche Universität, S. 164ff; Pasternack: Lohenstein, S.42f. 278 Vgl. Viehweg: Topik und Jurisprudenz, S. 48; Burmeister: Das Studium der Rechte, S.216ff. 279 Vgl. Schwab: Ehe und Familie nach den Lehren der Spätscholastik, S. 79. 280 Cicero: Dialog De divinatione. 360

den Sultan in die Irre. Seine Deutung erweist sich am Ende doch als richtig. In Ibrahim Sultan träumen beide Gemahlinnen des Sultans den gleichen Traum: ein wild gewordener Strauß habe versucht, ihnen ihr Kind zu rauben. Als sie sich zur Wehr setzten, habe er abgelassen, dafür aber eine fremde Taube ergriffen. Beide sehen wegen dieses Traumes jeweils ihr Kind durch den Sultan bedroht. Sisigambis, die diesen Traum hört, ist sich sicher, sie sei die fremde Taube, die der Strauß ergreife. Kiosem, die Mutter des Sultans, weist jedoch alle drei Deutungen zurück: Eine jede habe »auß thörchtem Irrthumb« den Traum auf sich bezogen: Warumb muß euer Strauß des Sultans Vorbild seyn/ Der seinen Kindern selbst die Klauen setzet ein? Warumb sol Taub und Traum auf Sisigamben zielen? (ISIII/169ff)

Sie selbst berichtet nun von einem Geschehen aus der Vergangenheit, das sie berechtigt, den Traum auch auf sich zu beziehen. Das weitere Dramengeschehen erweist alle diese Traumdeutungen als subjektive Teilwahrheiten: Der Sultan bedroht bereits in der nächsten Szene tatsächlich die Kinder seiner Gattinnen, die bedrohte Taube jedoch ist nicht Sisigambis, sondern Ambre. Ähnlich subjektiv und stets allenfalls teilweise wahr sind die vielen von den Dramenfiguren anhand ihrer subjektiven Erfahrungen vorgenommenen Deutungen des Verhängnisses. Im II. Reyen von Epicharis wird das Verhängnis mit seinen drei Aspekten Zufall, Umstände, göttlicher Heilsplan der menschlichen Klugheit gegenübergestellt als ihr überlegene und undurchschaubare Kraft. Wo immer sich Lohensteins Figuren - oft gegeneinander - auf das Verhängnis berufen, setzen sie sich deshalb ins Unrecht, weil sie ihre Perspektive damit verabsolutieren: In Sophonisbe deutet Scipio den militärischen Erfolg Roms als Beweis der Übereinstimmung mit dem Verhängnis: »So hat den Göttern es durch unsre Sieges-Waffen Des Syphax Friedensbruch gefallen zu bestraffen!« (S IV/1 f). Didos Geist kritisiert jedoch diese Selbstgewißheit Roms, »das die Dienstbarkeit der Welt/ Für himmlisches Verhängnüs hält/« (S V/134 f). Scipio selbst wirft Masinissa, der seine Entscheidung für Sophonisbe und gegen Rom auf das Verhängnis zurückführen will (S IV/ 240), Ideologie vor: »Mit dem Verhängnüsse vermummt man eigne Sünden« (S IV/241); und Vermina, Sohn des Syphax, lehnt jedes Räsonieren um das Verhängnis generell ab: O Blindheit der Vernunft/ die nur hat Maulwurffs-Augen/ Wenn sie schon Luchs will sein. Wir albern Götzen taugen Nicht für's Verhängnüsses umbwölckten Richterstul! (S 1/447ff).

Verhängnis ist bei Lohenstein nicht zuerst moralische Instanz, sondern ein erkenntniskritischer Begriff. Wie dieser erscheinen eigentlich alle Begriffe je nach ihrem subjektiven Gebrauch in unterschiedlicher Bedeutung. Es geht Lohenstein nicht darum, aus den sich widersprechenden Äußerungen die richtige herauszufinden, sondern darum, zu erkennen, daß Begriffe je nach Situation, Umständen und Kontext vielfältige Bedeutungs-Nuancen oder gar entgegengesetzte Bewertungen erhalten können. Als im Arminius Ismene sich in einem Ketzerprozeß für das zu •verantworten hat, was sie an Kritik gegen die Druyden vorgebracht hat, gibt sie 361

zunächst nochmals die Worte wieder, die sie verwendet hatte, und erläutert dann zum einen, in welcher Situation sie sich befunden habe: daß ihr nämlich manche Äußerung vom Druys regelrecht abgenötigt worden sei, und zum ändern, »mit was für Beding- und Umbschrenckung sie solche vorgebracht hätte« (Arm. II/525a). Die vielen stichomythischen Dialoge der Dramen sind sprachkritische Demonstrationen der Bedeutungsvielfalt und Veränderlichkeit von Begriffen oder Metaphern je nach Situation und Perspektive ihres Gebrauchs, man beachte etwa das ständige gegenseitige Umdeuten von Begriffen und Bildern im folgenden dafür typischen Dialog, in dem Soliman um Isabelle wirbt, sie zugleich bedrohend: I. BEDÄNK-ZEIT ÄNDERT uns nicht die Gewissens-Ruh. S. Was nicht BEDÄNK-ZEIT wird Schärff und Eifer WENDEN. I. Wir wünschen aus der See ins TODS-PORT EIN-ZULÄNDEN. S. Dünkkt Klipp und Strudel sie ein FROHER PORT zu sein? I. Ja wohl! wir FAHRN zur Ruh aus disen Banden EIN. S. Sie kan ein besser Wind zum EHREN-HAFEN führen. I. Wenn wir durch disen PORT nur nicht den PORT verlieren. S. Wie daß Sie flüchtig Ihn/ ist er ein PORT/ umbfahrn.? I. Weil die Gedanken uns auf einem BESSERN warn. S. Wie daß Euch der nicht taug der BESSER ist als alle? I. Ich WIL Ihn wo Ich KAN umbsegeln: Er gefalle Wem er gefallen wil! S. Wie wenn er euch denn MUS? I. Er MUS nicht/ dem es nicht zu sterben ein Verdrus. S. BEDANKT wol was ihr THUT/ BEDÄNKTS wo euch zu rathen! I. Es DÜNKT uns WOL GETHAN was wir zuvor schon THATEN. S. BEDÜNKTS euch WOL GETHAN wenn ihr den Keiser höhnt? I. Nein/ wenn wir ihn verehrn. S. Wenn ihr den der euch krönt Mehr als zum SKLAVEN macht? I. Der uns in KERKET stallet? S. In der nur gifftgen Haß des Keisers LIB erwäkket? I. Der Keiers feindet uns nur durch sein LIBEN an. S. Der UNSER DEMUTH nur mehrt ihren hoch-muths-wahn? I. Des KEISERS DEMUTH schrökkt uns mehr als wenn er krachet. S. Die UNSER BITT UND FLEHN nur unerbittlich machet! I. Des KEISERS BITT UND FLEHN ist rauer als ein Schwerd. S. Der UNSER THRÄNEND ÄUG das Hertz in Stein verkehrt! I. Des KEISERS THRÄNEN dräun uns mehr als SCHWERDTER-SCHLEIFFEN. S. Wol! so last sträng und Pfal und SCHWERDTER uns ergreiffen. [...] I. So laß mein Fürst allein uns für den Ibrahm büssen Der nichts an dem hat SCHULD/ was Isabell begeht. S. Nichts SCHULD hat/ der der uns allein im Wege steht Und einen Ein-trag thut?« (IB III/80ff - Hervorhebung durch den Verfasser)

Die Beweglichkeit, mit der Worte innerhalb dieser Feinstruktur des Dramas ihre Bedeutung wechseln, verlangt ebenso wie die Veränderlichkeit der Situationen und Figuren im Verlauf des Gesamtgeschehens auch vom beobachtenden und beurteilenden Publikum geistige Wendigkeit. In der Vorrede zu Sophonisbe hat Lohenstein dem Schauspiel ausdrücklich die Funktion zugeschrieben, den, der »kein Empfinden hat« (V. 259), anzuregen und innerlich in Bewegung zu setzen und zwar t 362

- wie später Lessing in Laokoon: Oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) - durch die Vorzüge, die das Schauspiel gegenüber dem statischen »Porphyren Bild« ( V. 257) aufzuweisen hat: nämlich den Faktor der Zeit und damit der Veränderlichkeit. Wenn Lohenstein von >Empfinden< spricht, so geht es dabei weniger um die moralische Sensibilisierung, die die Aufklärung erreichen will, als um einen Erkenntnisvorgang: Die Sensibilität für Nuancen, die er an seinen Figuren demonstriert und durch sie im Publikum wecken will, ist, wenn sie mit Vernunft gepaart ist, Bestandteil der politischen Klugheit: Ein treues Haupt eines Landes fühlet alle Wunden der Glieder/ und alle Thränen seines Volcks gehen einem Vater des Vaterlandes durchs Hertz. Die Natur hat allen Thieren als ein Mittel ihrer Erhaltung das Fühlen eingepflantzet/ die Staats-Klugheit den Fürsten eine Empfindligkeit. (Arm. I/447a)

>Subtilitas< heißt die entsprechende Fähigkeit, die zugleich die Wachsamkeit der Sinne, des Verstandes und der Sprachauffassung meint. Ein von Harsdörffer übersetztes Buch des Du Refuge über die Kunst, sich am Hof zu behaupten, hat sie in besonderem Maße Tacitus und seinen Lesern zugeschrieben: Wahr ist es/ daß gleich wie er (Tacitus) subtil/ durchdringend/ und von kurtzen Worten ist/ auch die jenieen/ so ihn lesen wollen/ einen lebhafftigen und subtilen Verstand haben müssen. [...] 2 S I

Pascal deutet intellektuelle Beweglichkeit geradezu als Bedürfnis des Menschen und zieht Konsequenzen für die Form eines entsprechenden Dramas: Nur der Kampf macht uns Vergnügen, nicht aber der Sieg: gern sieht man dem Kampf der Tiere zu, aber nicht dem Wüten des Siegers über den Besiegten. Was wollte man denn sonst sehen, wenn nicht dies Ende des Sieges? Und kaum ist er entschieden, hat man es satt. Ebenso ist es beim Spiel. Ebenso beim Erforschen der Wahrheit. Man liebt den Kampf der Meinungen im Wortstreit, nicht aber die gefundene Wahrheit zu bedenken; will man, daß man sie mit Anteilnahme beachtet, muß man sie im Wortstreit entstehn lassen. Gleiches gilt für die Leidenschaften; man hat Vergnügen daran, dem Kampf gegensätzlicher Leidenschaften zuzusehen, hat aber die eine die Herrschaft gewonnen, so ist sie nur noch Begierde. Wir suchen niemals die Dinge, sondern das Suchen nach ihnen. So taugen im Theater weder die ruhigen Szenen ohne Spannung etwas, noch das außerordentliche und hoffnungslose Elend, noch die tierische Liebe, noch die erbarmungslose Härte.282

Das trifft sehr genau das, was Lohensteins Dramen ausmacht, die alle bis zuletzt offen sind;283 - in Cleopatra und Sophonisbe erfolgt sogar noch nach dem Dramenende im abschließenden Reyen durch die Einordnung des Geschehens in welthistom

282 283

Harsdörffer (Du Refuge): Von der Kunst, an grosser Herren Höfen sich beliebt zu machen (1655), zit. nach Kühlmann: Gelehrtenrepublik, S. 242; August Buchner spricht von der Kunst der »beweglichen Rede«, in: Anleitung zur Deutschen Poeterey (1665), Kapitel IV: »Wie ein Thun und Meinung auf mancherley Art gegeben und ausgeredet werden könne«, S. 51. Pascal: Gedanken, Nr. 135. Vgl. Verhofstadt: Lohenstein, S. 200f, 213; Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 104; Juretzka: Zur Dramatik D. C.s von Lohenstein, S. 5; Pasternack: Lohenstein, S. 94ff. 363

rische Dimensionen eine weitere Umwertung. Diese prinzipielle Offenheit seiner Dramen, die prinzipielle Revidierbarkeit der Beurteilungen durch neue Gesichtspunkte, hat nicht nur mit philosophischer Erkenntniskritik zu tun, sondern speziell mit der Logik und den Bestimmungen juristischer Ermittlung: sie entspricht einem Grundzug des gelehrten Inquisitionsprozesses, wie zunächst ein Blick in Carpzovs Anleitung für den Peinlichen ... Inquisition und Achts-Proceß zeigt: Unabhängig davon, ob der >Inquisitus< geständig ist oder nicht, habe er jederzeit das Recht auf erneutes Gehör. Ja wenn gleich das End-urthel gesprochen/ und ihme eine Leibes- oder Lebensstraff zuerkandt worden/ mag ihme doch das Remedium defensionis so er sich dessen zu gebrauchen gemeinet/ nicht abgeschlagen werden/ sondern er wird damit nochmals zugelassen und immittels mit execution der zuerkanten Straffe in ruhe gestanden [...] Denn es könte vielleicht inquisitus newe Ursachen und sattsamen Grund erfahren und ausführlich machen/ warum die zuerkante Straffe nicht statt habe/ möchte auch wohl sein Bekäntnüß revociren, und daß solches aus Irrthum geschehen/ darthun wollen; In welchen und ändern dergleichen Fällen inquisitum abzuweisen ganz unbillig were.284

4. Das Problem juristischer Beweisführung Am meisten entsprechen Epicharis und Agrippina der Aussage Pascals, der Erkenntnisvorgang sei kein Suchen nach Dingen, sondern ein Suchen nach dem Suchen. In beiden Dramen dominieren analytische Handlungsstrukturen, bestimmen Suchen und Untersuchen, das Prüfen von Indizien, Verhören und Rechtfertigungen das Geschehen, nachdem der Verdacht gegen Epicharis und ihre Mitverschworenen bzw. gegen Agrippina aufgekommen ist. Lohensteins Epicharis ist das Drama des aktiven Widerstands, der gescheiterten Verschwörung gegen den Tyrannen Nero; aber davon lebt es eigentlich nicht. Der Anschlag ist abgewehrt, ehe er recht begonnen hat. Im Mittelpunkt steht der Widerstand gegenüber den Ermittlungen des Gerichts. Und Epicharis, der ohne Zweifel die Sympathie des Stücks gehört, wird nicht durch den Putschversuch zur Heroin, zur bewunderten Figur, sondern durch ihre Standhaftigkeit gegenüber allen Versuchen, sie zu überführen. Juristische Bildung triumphiert gegen politische Macht; gerade weil ihre machtpolitische Situation so schwach ist, fällt ihre Überlegenheit auf dem Gebiet der forensischen Gewandtheit umso eindringlicher ins Auge. Sie stellt die Mißachtung des Rechts durch Neros Staatsmacht bloß, wodurch das Drama, auch wenn man absieht von der Frage der Berechtigung republikanischen Widerstandes, antiabsolutistische, dem Rechtsbewußtsein des Stadtbürgertums entsprechende Wirkungen erzeugt. Wären da nicht Blut, Folter und Tod man könnte Epicharis in vielen Szenen als Komödie bezeichnen, als virtuoses Spiel, das Epicharis im Mitwissen des Publikums mit den rhetorisch, logisch und juristisch unterlegenen Machthabern treibt.

2X4

Carpzov: Peinlicher [...] Proceß, S. 117.

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Welch Mensch ist/ welcher nicht so eines Klägers lacht? Der vieler Boßheit klagt und einen nicht kan nennen? (EII/334f)

ruft sie ihrem Ankläger Proculus zu. Ihre Mitgefangenen sind ihr Publikum: Sulpitius Asper schwärmt, Rom und die Nachwelt würden rühmen, wie mutig und klug Epicharis »Verläumbder außgelacht« (Eil/426) habe: [...] Es war mit Lust zu hörn/ Mit was für Vorsicht sie des Haupt-Verläumbders Klage Großmüttig hintertrieb: Daß Neros Richter-Wage/ Wie unrecht sie gleich sonst urtheilt/ doch wider ihn/ Indem die Unschuld selbst für sie zu reden schien/ Den Außschlag für sie gab. [...]. (E III/70ff)

Dem Zuschauer ist klar, daß der Vorwurf der Verleumdung gegen Proculus nur bedingt zutrifft; denn man weiß, daß der letzte trotzige Satz der Epicharis bei ihrer ersten Vernehmung (»Man wird die Unschuld rein auch in den Ketten finden.« Eil/420) nicht der Wahrheit entspricht; man weiß auch, daß Proculus tatsächlich die Wahrheit spricht, wenn er Epicharis bezichtigt, ein Attentat auf den Kaiser in die Wege geleitet zu haben. Um so verblüffter und - da Proculus negativ bewertet ist - um so amüsierter verfolgt man, wie Epicharis jeden Vorwurf heftig zurückweist und absolute Ahnungslosigkeit vorspielt: Mich auf den Käyser? Mich? sagt: Wer so lästern kan? [...] Hat dis Verläumbdungs-Stück der Ehrendieb erfunden. [...] Mein Fürst/ Verläumbdung macht die Unschuld ungeduldig. [...] Ich? wenn? wo? (Eil/314, 316, 319, 323)

Es geht dem Drama nicht um die Spannung, einen zunächst rätselhaften Fall aufzuklären, sondern darum - wie in Cleopatra im politischen Bereich, so nun im juristischen Bereich - den Kampf zwischen Aufdeckung und Verschleierung des dem Zuschauer klaren Falls durch die Dramenfiguren zu verfolgen. Der Reiz liegt also in der kritischen Beurteilung der Beweisaufnahme, in der kritischen Beurteilung forensischer Argumentation. Epicharis wählt, indem sie die vorgeworfene Tat rundweg abstreitet, die stärkste und weitreichendste Form der Verteidigung überhaupt. >Causa< des folgenden Rechtsstreits ist die Klärung des Tatbestandes - noch weitab jeder Schuldbeurteilung. Der Fall gehört damit der ersten der vier Kategorien forensischen Streitens an, dem >status coniecturaeprobatio artificialis< und die >probatio inartificialisindiciumpraesumptio legitima< und >praesumptio arbitraria< an. Diese Differenzierung wiederum geht zurück auf die Bestimmung der Indizien in der Rhetorik des Aristoteles: Indizien, welche notwendiger Natur sind, heißen Beweismittel, solche aber, die nicht notwendiger Natur sind, haben keine Benennung, die ihren Unterschied ausdrücken. Notwendiger Natur nenne ich das, woraus sich ein logischer Schluß bilden läßt. Darum gehört auch das Beweismittel zu dieser Gruppe von Indizien. Denn wenn Menschen glauben, ihre Argumente seien nicht zu widerlegen, so glauben sie, daß sie dann ein Beweismittel vorgebracht haben, gleichsam als sei etwas jetzt bewiesen und abgeschlossen.

Stieler differenziert, nachdem er auf die Täuschbarkeit des Urteils eingegangen ist, noch weiter und lehrt drei Stufen des Verdachts: der »nohtschliessende« Verdacht lasse sich »durch Gegengründe nicht umstossen«, »glaubähnliche Vermuhtungen« schließen den Gegenbeweis nicht aus, »scheinbare Vermuhtung« lasse sich leicht durch Einwände entkräften: »Eine solche ist, wenn einer mit blutigen Degen läuft/ daß er einen erstochen habe: Wenn einer des Nachts aus einer Jungfer Hause gehet/ daß er dieselbe geschwächet«.298 Lohenstein lenkt mit der fiktiven Erweiterung seiner Quelle den Zuschauer auf dieses Problem unterschiedlich beweiskräftiger Indizien: Corinna versucht durch die Vergiftung des Dolches aus einem leicht zu erschütternden ein nur schwer zu entkräftendes (»muthmaßlicher Beweis«) Indiz zu machen; denn einen Dolch zu schärfen, kann ein Indiz (antecedens) für vieles sein, einen Dolch zu vergiften hingegen, deutet in der Regel auf Mordabsicht, so daß nur noch zu beweisen ist, wer das Opfer sein sollte. Die Verhandlung gegen Scevin, in der all dies zum Tragen kommt, folgt aber nicht etwa in der nächsten Szene, sondern erst im dritten Akt. Lohenstein verlangt also von seinem Publikum, die entsprechenden Szenen bis dahin im Gedächtnis zu halten. Verhandelt wird in der Zwischenzeit über Epicharis, an deren Vorge295 296 297 298

Carpzov: Peinlicher [...] Proceß, S. 37f. Stieler: DerTeutsche Advokat, S. 187. Aristoteles: Rhetorik, 1,2,16-17-vgl. auch Quintilian, der zwischen signa necessaria und signa non necessaria unterscheidet (Inst. orat. 5,9). Stieler: DerTeutsche Advokat, S. 188-vgl. dazu Quintilian: Inst. orat. 5,9,1 und 5,9,9. 369

schichte sich das Publikum nun zu erinnern hat. Das Hin und Her zwischen beiden Verfahren hat aber noch einen anderen Grund: verstärkt wird dadurch der systematische gegenüber dem inhaltlichen Zusammenhang; Thema bleibt nämlich auch in den folgenden Szenen die Problematik der Beweisaufnahme. Tigillinus, der Untersuchungsrichter, muß, obwohl er von der Schuld der Epicharis überzeugt ist - und das wissende Publikum, wohlgemerkt, muß ihm darin recht geben! - zunächst kapitulieren: [...] Es ist der Klugheit kund Daß ärgste Drachen sich mit schönsten Farben zieren. Ermangelnder Beweiß läßt vielmal den verlieren Der Recht und Wahrheit doch zum Schirm- und Redner hat. (E 11/397ff)

Nacheinander entkräftet Epicharis die Vorwürfe des Zeugen Proculus. Die Aussage, sie habe eine Verschwörung angezettelt und ihn, Proculus, zum Putsch und Fürstenmord ermuntern wollen, stellt sie einfach als Lüge dar. Das Indiz, sie habe sich als Mann verkleidet auf sein Schiff begeben, entkräftet sie: als Frau habe sie sich dadurch nur vor Zudringlichkeiten der Männer auf See schützen wollen. Der aufmerksame Zuschauer weiß noch aus dem ersten Akt, in dem sie jene Schiffahrt ihren Vertrauten schildert, daß sowohl ihre Verteidigung wie das von Proculus vorgebrachte Indiz irreführen: Ihre Verkleidung hatte nichts mit dem Putschversuch zu tun; ihre Begründung, sie sollte ihrer Keuschheit dienen, entspricht aber ebenfalls nicht den Tatsachen; in Wahrheit war sie damals auf der Flucht vor einem Vertrauten Neros und, um nicht erkannt zu werden, bekleidet mit den Gewändern der von ihrem Geliebten für ihre Befreiung getöteten Wächter (vgl. E1/283ff). Im Grunde tut Epicharis das gleiche wie Corinna: sie fälscht - zu ihrer Verteidigung - ein vorhandenes Beweismittel, um es glaubhafter zu machen. Ein Unterschied liegt lediglich darin, daß sie auf einer anderen Ebene des Status argumentiert: den Tatbestand der Verkleidung gibt sie zu (>status coniecturaestatus qualitatisstatus translationisBilligkeit< wareine der Voraussetzungen dazu. Philosophische Grundlage ist die Ethik des Aristoteles. Das V. Buch der Nikomachischen Ethik befaßt sich mit der Gerechtigkeit und entwirft dabei die seither geltende Dialektik von Recht und Billigkeit als einander ergänzende Bestandteile der Gerechtigkeit: Das Gütige (Billigkeit, epieikeia, aequitas) ist, indem es besser ist als eine bestimmte Art des Gerechten, selber ein Gerechtes; wenn es aber besser ist als das Gerechte, so bedeutet dies nicht, daß es einer anderen Gattung angehört. Das Gerechte und das Gütige ist also identisch: beides sind wirkliche Werte, nur steht das Gütige im Range höher. In Wirklichkeit entsteht die Problematik dadurch, daß das Gütige zwar ein Gerechtes ist, aber nicht im Sinne der durch das Gesetz gewährleisteten Gerechtigkeit, sondern es ist eine Berichtigung der Gesetzes-Gerechtigkeit. Das hat seinen Grund darin, daß jegliches Gesetz allgemein gefaßt ist. Aber in manchen Einzelfällen ist es nicht möglich, eine allgemeine Bestimmung so zu treffen, daß sie richtig ist. [...] Wenn nun das Gesetz eine allgemeine Bestimmung trifft und in diesem Umkreis ein Fall vorkommt, der durch die allgemeine Bestimmung nicht erfaßt wird, so ist es ganz in Ordnung, an der Stelle, wo uns der Gesetzgeber im Stiche läßt und durch seine vereinfachende Bestimmung einen Fehler verursacht hat, das Versäumnis im Sinne des Gesetzgebers selbst zu berichtigen [...] Dies ist das Wesen der Güte in der Gerechtigkeit: Berichtigung des Gesetzes da, wo es infolge seiner allgemeinen Fassung lückenhaft ist. [...] Daraus ergibt sich denn auch das Wesen des gütigen Menschen: wer sich zu solchem Tun entschließt und es verwirklicht, wer nicht in kleinlicher Genauigkeit sein Recht so lange verfolgt, bis es zum Unrecht wird, sondern, obwohl das Gesetz auf seiner Seite stünde, geneigt ist, mit einem bescheideneren Teil zufrieden zu sein - der ist gütig, und eine solche Haltung heißt Güte in der Gerechtigkeit: sie ist eine Form der Gerechtigkeit und nicht eine davon verschiedene Grundhaltung. 120 118

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120

Vgl. Erasmus: Adagion 11,1,1 ; zit. nach Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 21, Anm. 12: »Populo tribueretur quod aequum est, senatui ac magistratu tantum conceretur, quantum eruditio leges et aequitas pateretur.« Christoph Besold: De cognitione & usu iurisprudentiae (1616), S. 5: »certissimum est; veram felicemque ad lustitiae Templum viam, per medios, amoenissimosque nos ducere hortulos Philosophiae; [...] neque facile lus & aequum videre, Artium liberalium qui careat conspicillis.« (Zit. nach Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 104f, Anm. 108). Aristoteles: Nik. Ethik V, 14.

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Die Stoa, Thomas von Aquin, das Kanonische Recht und für den Protestantismus vor allem Melanchthon haben die >aequitas< als Begriff für den Maßstab übernommen, mit dem man das geltende Recht an der höheren moralischen Instanz des Naturrechts bzw. göttlichen Rechts zu messen habe.121 Justus Georg Schottelius' Ethica - Die Sittenkunst oder Wollebenskunst (1669) gibt wohl besonders gut die gängige Auffassung zu Lohensteins Zeit wieder. Er definiert das Recht als Relation von strengem Recht und billigem Recht in Anlehnung an Melanchthons Aristoteles-Adaption: Das Recht wird auch getheilet/ daß es sey entweder das strenge Recht/ öd' das billige (in Billigkeit bestehendes) Recht. Das strenge Recht ist und heisset man/ wenn man streng/ genau/ und blosser Dinge bey den Worten des Gesetzes oder des ergangenen Befehls verbleibet/ und davon nicht ein Haarbreit weichen wil/ ob schon die Sache selbst/ die Umstände und Billigkeit ein anders erfordern. [...] Man pflegt zu sagen/ Summum jus & summa malitia idem sunt. Summum jus, summa injuria: Das enge Recht ist ein weit Unrecht. [...] Das in der Billigkeit bestehende Recht/ oder die Billigkeit/ ist eine Tugend/ wodurch ein Gesetz oder Gebot/ darum/ daß es nur in gemein und durchgehende etwas verordnet/ aus rechtmäßiger Ursach gemäßiget/ gelenket und gemilteret wird. Ein Gesetz/ Gebot oder Verbot ordnet in gemein was zuthun oder zulassen/ und also machet es eine beständige Regul/ weil nun in den Menschlichen Händeln die Umstände vielfältig sich änderen/ so trit billig die wahre Billigkeit/ oder das in der Billigkeit bestehende Recht herzu/ milteret/ mäßiget und ändert den allgemeinen strengen Inhalt des Rechts/ verursachet also einen Abtrit von der Schärfe des Rechtes/ und behält zwar das endliche Absehen (intentionem) des Gesetzes/ applicirt aber den Inhalt/ mittelst vernünftiger Enderung auf das Werck oder die That selbst. [ . . . ) Die Billigkeit wird von den alten Weltweisen recht genant die Gefertin der Gerechtigkeit/ welche allezeit den Gang der sonst blinden Gerechtigkeit zu billigen Nebentritten aus befugter Ursache anweiset. Daher sagt man auch/ daß die Billigkeit sey gleichsam das Leben und die Seel des Rechts. Daß die Rechte nach Gelegenheit und Ansehen der Zeit/ der Personen/ deren Stand und Ehren/ Sachen und Händel änderst und aber änderst ausgelegt/ gestreckt/ eingezogen/ geschärft/ gespitzt und wieder gestumpft und geflentzet müssen werden/ davon schreibt Alciatus nach der Länge/ lib. 1. de verb, signif. 22 Schottelius hat seine Ethica im Zusammenhang mit der Erziehung der Braunschweiger Prinzen verfaßt und damit versucht, bürgerlich-humanistische Ethik auf den politischen Bereich von Hof und Regentschaft zu übertragen: >aequitas< ist für Schottelius eine für den Fürsten und seinen Juristen, aber auch für jeden Staatsbürger verbindliche Tugend der gerechten Beurteilung. Das gilt auch für Lohensteins Lob-Schrifft auf Georg Wilhelm: Der gelobte Fürst wird zum Maßstab öffentlichen Rechtsbewußtseins. Die Gesetze, so schreibt Lohenstein hier, seien »die Richtschnur/ ein Fürst aber die Seele der Gerechtigkeit/ der das Recht durch seine Anwehrung lebhafft/ und durch Billigkeit heilig macht.« Georg Wilhelm habe stets ohne Ansehen des Standes mit »Billigkeit/ sonder das geringste Merckmaal einiger Hartneckigkeit« geurteilt. »Wiewol mir kein strenges Urtheil von Ihm bekant/ auch nicht bewußt ist: Daß Er iemals ein Blut-Urtheil 121

122

Zum Begriff aequitas vgl. Wohlhaupter Aequitas canonica (1931); Hering: Die Aequitas bei Graciän, Studia Gratiana II (1954); Eisener: Gesetz, Billigkeit und Gnade im kanonischen Recht (1963); Kisch: Melanchtons Rechts- und Soziallehre, S. 168ff; Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, S. 205 ff, dort weitere Literatur. Schottelius: Ethica, Lib. 3. Cap. 17. De justitia, 10. und 11., S. 580ff.

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unterzeichnet habe. [...] Seine Meinung war fast immer linder/ als die Gesetze/ und für sein Urtheil mußten sich auch die Verdammten bedancken.«123 In einem fiktiven Herrscherlob des Arminius-Romans wird die Milde des Titelhelden ganz ähnlich gepriesen: »Er straffte grosse Verbrechen an wenigen/ übersähe die kleinen an vielen.« Außerdem »überwog seine Gnade jederzeit die Schärffe der Richter; und die Belohnungen theilte er nach dem schweren; die Züchtigungen nach dem leichten Gewichte aus.« (Arm. I/1263a)124 Lohenstein setzt dieses vernünftige und zugleich milde Urteil einer vorbildlichen Obrigkeit ab von dem oberflächlichen, affektbestimmten und zugleich harten Urteil des »Pöfels«. Ja es scheint, daß vieles von dem, was Lohenstein über das milde Urteilen schreibt, sich vor allem an die breite, des Rechts unkundige und emotional urteilende Öffentlichkeit richtet. Im ersten Buch des Arminius-Romans (Arm. I/72b-80b) wird von einem Prozeß erzählt, in dem Volkswut und Bedacht der Obrigkeit aufeinandertreffen: Segesthes hat auf heimtückische Weise die Germanen an Rom verraten. Die »verbitterten Kriegsleute« sind empört, fordern »mit [...] Ungestüm«, Segesthes müsse als Opfer für die Götter »abgeschlachtet« werden. Ja nach Gesetz müsse man »Verräther und Uberläuffer an Bäume auffhencken.« Während Hermann seinerseits »die Verrätherey Segesthens unverdammet nicht lassen« will, zugleich aber mit der von ihm begehrten Thusnelda fühlt, sprechen sich die Herzoge Ganasch und Jubil wie das Volk gegen jede Milde aus: »Solche grosse Verbrechen übersehen«, sei eine »grausame Barmherzigkeit«, die zur Nachahmung verleite. »Zu was würde Recht und Richter mehr nütze seyn/ nun die Verrätherey unsträfflieh wäre?« Das Volk fordert in Übereinstimmung damit und in »Ungedult über der allzulangsamen Rache« schließlich, »Man solte denen Gesetzen ihre Krafft/ dem Rechte seinen Lauff/ und der Straffe ihr Maaß lassen.« Hermann verhindert das zunächst durch Einspruch. Racheopfer dürften nicht mit einheimischem Blut begangen werden. Segesthes wird vorgeführt und bekennt sich reumütig schuldig, wenngleich er »die Grosse seines Verbrechens« erst nach der Tat erkannt habe; wenn es rechtlich zulässig gewesen wäre, würde er sich gerne »für das gemeine Heil« opfern lassen. Ganasch fordert daraufhin die priesterlichen Richter auf: »Sie sollen numehro dem Volcke Recht verhelffen/ und urtheilen: Ob sie den/ welcher sich selbst verdammete/ loßsprechen könten? [...] Sie sollen envegen die Eigenschafft des Lasters/ die Beschaffenheit des Verbrechens/ und das den Deutschen hieraus erwachsende Unheil.« Und er warnt ausdrücklich im Interesse der Rechtsordnung vor Nachsichtigkeit: »Die Gesetze wären ohne folgende Bestraffung der Ubelteter eine Blendung der Einfalt/ und ein Hohn der Boßhaften. [...] Eine zum Argen geneigte Seele wäre zwar die Mutter/ und brächte die Laster auff die Welt/ [... ] aber der Richter/ welcher sie nicht straffte/ krönete sie gar.« Noch einmal finden die Richter einen juristische Ausweg, den Segesthes aber 123 124

Lohenstein: Lob-Schrifft, fol. F7-F8. Vgl. dazu auch Seneca: De dementia 1,1,4: »Strenge halte ich verborgen, Güte hingegen bereit.« 445

nicht annehmen will. Er wolle nicht Schonung, weil seine Beurteilung »nicht vom Ruffe des Pöfels/ noch von dem eitelen Wahne des irrenden Volckes« herrühre, sondern seiner eigenen Einschätzung entspreche. Auf Grund dieser Bußfertigkeit schlägt die Stimmung unter den Anwesenden um, so daß man nun seine Laster wenigstens »zum Theil für vermindert« hält. Der Richter aber sieht sich dennoch zu dem Urteil gezwungen, »daß Segesthes nach den Gesetzen des Vaterlandes müste hingerichtet werden.« Die Emotionen wenden sich völlig zur Seite des Angeklagten, als Thusnelda sich auf ein Landesrecht beruft, das ihr ermöglicht, anstelle ihres Vaters den Tod zu erleiden. Durch ein Gelübde bekräftigt, ist sie nun selbst die Delinquentin, und niemand kann das revidieren. Sie löst damit eine Welle des Mitleids aus: »Libys verlohr verwundernde hierüber den Puls und Sprache; Der unbarmhertzige Ganasch ward zu inniglichem Mitleiden bewegen, [...] alle Umstehenden seuffzeten; Hertzog Herrmann ward von der Liebe und dem Mitleiden so empfindlich berühret/ daß er seine Hertzhafftigkeit viel zu schwach hielt diesem Trauerspiele ohne seine selbst eigne Verliehrung zuzusehen.« Der Richter Libys findet dann aber zur allgemeinen Erleichterung doch noch einen Ausweg. Er erklärt den Umstehenden, »daß unsere gütige Gottheit der gewaltigen Liebe aHeine enthangen habe/den Knoten [.. ,]auffzu!ösen/[...] wenn mit der Verlobten iemand sich in ein den Göttern angenehmes Eheverlöbniß einläßt.« Thusnelda zu heiraten, war aber ohnehin die Absicht Hermanns, der nun auch die bisher ausstehende Zustimmung des Segesthes erhält. Diese Episode des Romans ist aufschlußreich: sie stützt sich, auch wenn sie uns phantastisch anmutet, auf konkrete Rechtspraktiken. Im 16. Jahrhundert war ein Element des Gnadensystems die Losheiratung eines zum Tode Verurteilten durch eine Jungfrau bzw. einen jungen Mann. Im 17. und 18. Jahrhundert war diese Praxis, die noch bis ins 19. Jahrhundert hinein in der Überzeugung des Volkes ihre Gültigkeit behielt, bereits umstritten. Während die gelehrten Juristen eindeutig dagegen Stellung bezogen, verhielt sich die richtende Obrigkeit noch ambivalent, so daß selbst für das 18. Jahrhundert noch derartige Begnadigungen belegt sind.125 Lohenstein, selbst wohl auf der Seite der Kritiker einzuordnen, bezog diese für sein Publikum also durchaus noch lebendige Praxis des Gnadenweges in den Roman ein, sie als Verfahren vergangener Rechtsordnungen darstellend. Wichtig ist, was er dadurch vermitteln wollte: es ist die Begründung des Gnadenwesens auf ethischen Prinzipien: Liebe und Barmherzigkeit (von Seiten Thusneldas gegen ihren Vater und Hermanns gegen Thusnelda), Schuldeinsicht und Reue (von seiten des Segesthes), Bemühung um Gerechtigkeit und Wissen um die Schwierigkeit des richtigen Urteilens (von Seiten der Richter). Der Richter Libys kommentiert aus dieser Sicht den eben behandelten Rechtsfall: Welch ein alberer Schluß komt heraus/ wenn unser thörichtes Urthel die Schickungen des Verhängnisses sich zu meistern unterwindet/ und mit dem Pöfel diß oder jenes für gut oder böse/ für Glück oder Unglück hält/ was in seinem Wesen und Ausgange nicht so beschaffen ist/ als es eusserlich unserm blöden Verstande fürkömmt. (Arm. I/78b) 125

Vgl. van Dülmen: Theater des Schreckens, S. 149ff.

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Szarota geht ausführlich auf diese Episode ein. Sie arbeitet die Bedeutung der Figuration Arminius - Segesthes - Thusnelda für die Gesamthandlung des Romans heraus unter dem Gesichtspunkt der gattungsspezifischen tragischen Liebesgeschichte zwischen beiden Titelfiguren: immer wieder tritt Segesthes störend zwischen die beiden, und immer wieder übt Hermann sich in Langmut und verzeihender Güte. Szarota bewertet die Güte des Arminius, die sich in vielen anderen Szenen wiederfindet, als Zeugnis »seiner Großmut«.126 Sie nimmt an, »daß dieser und andere Züge von der Gestalt Leopolds I. inspiriert waren.« Hier zeigt sich die Schwäche ihres biographischen Ansatzes, der zwar sehr viel Material aufarbeitet und das assoziative Spiel Lohensteins mit zeitgenössischer Politik und ihren Trägern veranschaulicht, aber vielfach darüber nicht hinausgelangt. Szarota belegt im Fall Arminius/Leopold ihre These mit einer Biographie des Kaisers von 1708 und der Vermutung, Lohenstein habe dessen Züge vom Hörensagen übernommen, vor allem aber durch einen Fürstenspiegel (von Johann Jacob von Weingarten) aus dem Jahr 1673, in dem Lohenstein »eine Charakteristik des Kaisers« finden habe können. In diesen Quellen seien nun Gerechtigkeit und Güte als Wesensmerkmale Leopolds beschrieben worden.127 Die Zurechnung hat aber anders zu erfolgen: Gerechtigkeit und Güte, >iustitia< und >aequitasius< und >aequitas< aufeinander bezieht. Die Trauerspiele zeigen, den Gattungsgesetzen entsprechend, die Umkehrung dieses Ideals. Agrippina, so kündigt Lohenstein seinem Leser an, stelle vor einen »Schauplatz grausamster Laster/ und ein Gemälde schrecklicher Straffen.« Beides, 126 127

I2X 129

Szarota: Lohensteins Arminius als Zeitroman, S. 41 f und S. 358ff, hier S. 358. Ebd. S. 43. Seneca: De dementia, 11,3,1. Vgl. ebd. 1,11,1.

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nicht nur das erstere, das grausame Verbrechen, sondern auch die grausame Anwendung des Gesetzes, wird in dem Drama negativ bewertet und zurückgeführt auf die »boßhafften Gemütts-Regungen« der Handelnden.130 Es sei, so beginnt in deutlicher Anlehnung an Seneca die Widmungsvorrede zu Epicharis, »ein großes Glück, einer milden Herrschaft zuzugehören«. Da aber selbst die glücklichste Zeit nicht darauf verzichten könne, sich durch standhafte Beispiele zu stärken, wolle das Drama mit Vergnügen »unter der mildesten Regentschaft des unbesiegbarsten Leopold die verwerfliche Härte Neros« verfolgen.131 Beide Nerodramen setzen Senecas Warnung vor gnadenloser Rechtsanwendung um. Grausam ist für Seneca nicht nur ein das Recht mißachtender Herrscher, sondern der, der das >ius strictum< allzu hart anwendet: Die werde ich also grausam nennen, die Grund zum Strafen haben, aber kein Maß kennen, wie bei Phalaris, von dem man sagt, er habe zwar nicht gegen unschuldige Menschen, aber über menschliches und erträgliches Maß gewütet.132

Auch in Lohensteins Einführungen zu den Nerodramen ist nicht von Unrecht, sondern von zu Grausamkeit pervertierter Strenge die Rede. Daß Nero das Recht bei der Verfolgung von Verschwörern auf seiner Seite hat, steht in Agrippina und Epicharis außer Zweifel. Schuld lädt er, wie bereits dargestellt, erst dadurch auf sich, daß er mit diesem Recht grausam verfährt (oben IV. 4.b). Immer wieder erinnern ihn die Angeklagten an die Pflicht zur Milde: Mit dem Hinweis auf Augustus, der reumütige Verschwörer nur mit den leichten Strafen der Geldbuße und kurzzeitiger Verbannung belegt hatte,133 erhofft in Epicharis der entlarvte Verschwörer Lucanus von Nero die Gnade, die dieser für den Verrat weiterer Mitverschwörer in Aussicht stellt: [...] Dis ist der Weg zun Sternen/ Das Mittel/ durch das sich ein Fürst vergöttern kan/ Wenn er Verbrechen siht mit Gnaden-Augen an; Das Leben denen schenckt die ihre Schuld verdammet. (E HI/684 ff)

Lucanus gesteht im Vertrauen auf Neros Milde das Mitwissen seiner Mutter Atilla, die dann jedoch von Nero verhaftet, gefoltert, getötet und nicht bestattet wird. Die anderen Beschuldigten klagen nun ihrerseits Nero an, die zudem noch politisch nützliche Tugend der Billigkeit, des angemessenen und gnädigen Vorgehens also, vermissen zu lassen: 130

131

132 133

Lohenstein: Anmerckungen zu Agrippina, in: Lohenstein: Römische Trauerspiele, S. 113. Vgl. dazu Seneca: De dementia 1,25. »MAgna Felicitas est clementi subesse Imperio. Major nostra; quod in OPTIMOS AUSTRIAE PRINCIPES indicimus. [ . . . ] Attamen nullum tempus tanta felicitate luxuriat, quo non expediat, animum firmare constantibus Exemplis. Et sub molli Imperio dulicus cernimus peregrinam gliscere Tyrannidem. [...] Nostrum Carmen sub clementissimo INVICTISSIMI LEOPOLDI Imperio Neronis detestandam Saevitiam ridet.« (Lohenstein: Widmung zu Epicharis, zit. nach: Lohenstein: Römische Trauerspiele, S. 295). Seneca: De dementia 1,4,3. Vgl. Seneca: De dementia 1,9.

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Wahr ists: Sie hat gefehlt: Doch wenn man also wütten Auf ieden Fehler wil/ so wird der Erdkreiß leer und Rom bald Volck-arm seyn. (E IV/244ff)134

Vielfach richten sich die Vorwürfe der Gefangenen auch gegen den Rechtsberater Neros, Tigillinus. Er habe »Des Fürsten güttig Hertz« zu Grausamkeit verleitet, indem er »Aus Schatten kleiner Schuld mehr als Coloßen« gemacht habe (E IV/ 255 f). Das Thema wird wieder aufgegriffen, als es um die Bestrafung Senecas geht. Vergeblich bittet Granius Silvanus darum, im Falle Senecas »fürs Recht Genade gehn« (EIV/482) zu lassen und wenigstens auf die Todesstrafe zu verzichten. Er habe sich um die Erziehung Neros große Verdienste erworben, sei nicht an der Verschwörung beteiligt, sondern habe nur unterlassen, seine Freunde anzuzeigen. Man müsse erwägen, daß es schwer sei, bei Hofe keinen Fehler zu machen und daß der Verlust eines Mannes wie Seneca für den Hof groß sein würde. Vergeblich weist Silvanus auf den politischen Schaden hin, den die Anwendung des >ius strictum< auslösen werde: »Zu scharffes Straffen pflegt mehr Übel zu gebehrn. [...] Glaubt: Daß den Fürsten nichts so wol als Gnad ansteh?« (EIV/502,510) Noch einmal kommt das gnädige Richten in der Schlußszene des Trauerspiels zur Sprache. Senecio erinnert Nero an sein Versprechen der Begnadigung bei gutwilligem Verhalten, wird aber durch Tigillinus abgewiesen: Der Richter habe das Recht, um ein Verbrechen aufzudecken, »auf den Schein Genade zu versprechen« (E V/656). Im übrigen sei Neros Gnadenrecht begrenzt, auch der Kaiser sei an Gesetze gebunden, die bei Gefahr für das Gemeinwohl Gnade nicht zulassen. Dieses Gemeinwohl sei aber, so hält Senecio dagegen, langfristig in Gefahr, wenn nicht »ein linder Herrscher« in »Gütte« Recht spreche, sondern ein »Blutthund« ein Recht anwende, welches »rechtes Recht verfluchen muß und schmehen.« (E V/ 659,645,672,668). Denn: Viel Bäume wachßen mehr/ je mehr man sie behaut. So pflegt ein Fürst ihm meist mehr Feindschaft nur zu sämen Durch viel verspritztes Blutt. Ein Käyser muß sich schämen Nichts minder als ein Artzt/ dem man viel Schnitt' und Brand Und Leichen zehlet nach. (E V/630ff)135

Keine der anderen Dramenfiguren Lohensteins entspricht im Sinne Senecas so dem Gegenbild des milden Regenten, dem grausamen Herrscher, der seine Lust darin sucht, immer neue phantasievolle Arten von Folter, Tötung und Leichenschändung zu erfinden, wie Nero. Aber die Problematik der Entscheidung zwischen der Ausübung des Rechts in voller Strenge und dem Gewähren von Milde begegnet uns in allen Dramen, und zwar in für Lohenstein charakteristischer Weise stets in anderen Schattierungen. Ein »Steinharter Scipio« (S IV/369), »der strenge Scipio« (S V/295), vertritt in Sophonisbe die Tugend der Strenge, die sich nach Seneca von Grausamkeit immerhin dadurch unterscheidet, daß sie nicht von Emotion, sondern von Vernunft kontrolliert wird. Sie müßte aber ergänzt werden durch die ebenfalls ver134 135

Vgl. ebd. 1,6,1. Vgl. ebd. 1,8,7.

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nunftgesteuerte Milde, deren Perversion die nur affektbestimmte Haltung des Mitleidens ist, wie sie Masinissa vorführt. Auch Ibrahim Sultan stellt Senecas These der Nützlichkeit des milden Regiments zur Diskussion: Der Sultan, dessen Willkürregiment nicht nur in der Entführung und Vergewaltigung Ambres zum Ausdruck kommt, wird von Bassa Mehemet um Begnadigung der gefangenen Sultans-Mutter gebeten: Ich gebe gerne nach: daß sie sich hoch verbrochen/ Daß mindre Schuld oft sey mit grösserm Ernst gerochen; Daß eure Majestät hier Gnad ertheilt für Recht: Allein/ im Fall sich darf ein unvermögend Knecht Unstrafbar unterstehn den Sultan umb Genade Fußfällig anzuflehn; Glaub ich: der Käyser schade Sich selbst und seiner Ruh/ durch allzu harten Spruch; Er pflantz ihm Ruhm und Heil/ wenn er für Schmertz und Fluch Der Mutter Segen wehlt. Die Straffe weicht der Gütte. (IS HI/23 ff)

Als er auf die Verdienste seiner Mutter Kiosem um sein Leben und seinen Thron hingewiesen wird, gibt der Sultan sie schließlich frei. Zu Beginn des V. Aktes bittet sie selbst um Gnade für den Mufti. In der Auseinandersetzung zwischen Kiosem und Ibrahim stehen sich zwei Prinzipien der Regentschaft - Einschüchterung, Mißtrauen und Härte einerseits, Vertrauen, Milde und Begnadigung andererseits - gegenüber: Kiosem. Begnadigung ist ja das Kleinod grosser Fürsten. Ibrah. Die sind der Knechte Knecht/ die nie nach Rache dürsten. Kiosem. Die Gütte stützt den Thron/ die Schärffe reisst ihn ein. Ibrah. Der Boßheit Straffe muß der Zepter Seule seyn. Kiosem. Wer allzu strenge strafft/ kriegt eines Wüttrichs Nahmen. Ibrah. Wer durch die Finger siht/ pflantzt selbst der Laster Saamen. »Kiosem. Ein Fürst muß wie ein Strauß oft Schuld und Stahl verdauen. [...] Ibrah. Oft/ wie ein Adler thut/ mit Äug und Klauen dreuen. Kiosem. Ja dreun/ doch den nicht bald zermalmen/ der wo irrt. Ibrah. Durch Blitzen ohne Schlag/ wird Boßheit nur gekirrt. (IS V/3 ff)

Kiosems Vorwurf, der Sultan verfahre gegen den Mufti »allzu scharf« (IS V/29), wird von Ibrahim beantwortet mit der Notwendigkeit, größerem Widerstand vorzubeugen; sein Entschluß zum Todesurteil steht fest. Im Ergebnis des Schlußaktes spiegeln sich die unterschiedlichen Antworten des Sultans auf die beiden Gnadengesuche. Seine unbeugsame Haltung gegen den Mufti führt zu einer großen Aufstandsbewegung innerhalb der Beamtenschaft und schließlich zu seinem Sturz. Kiosem aber, die von ihm begnadigt worden war, erwirkt nun ihrerseits wenigstens, daß die Mitverschworenen den Entmachteten am Leben lassen. Mehr als in den anderen Dramen bestimmt in Lohensteins Erstling Ibrahim Bassa die Dialektik von strengem Recht und Billigkeit bzw. gnädigem Recht die Handlung: Sultan Soliman ist weder Tyrann noch milder Regent; die Spannung des Dramas liegt darin, daß er, beraten von seinen verschiedenen Beamten, zwischen den beiden Polen »recht handeln« und »wütten« (IB /122) schwankt. In der ersten 450

Szene befragt Soliman zwei seiner Berater, wie mit dem flüchtigen Ibrahim zu verfahren sei. Hau Bassa rät zu Todesstrafe und schimpflichem Umgang mit der Leiche; Achmath spricht sich wegen der Verdienste Ibrahims für »Der Straffe Minderung« (IB I/138) aus. Man solle ihn verfolgen, aburteilen, dann aber begnadigen, um der Volkswut genüge zu tun und gleichzeitig das Ansehen des Herrschers zu mehren: So gibt Mir die Vernunft bewegungs-Gründ in Mund/ Zwar nicht fürs Flüchtgen Recht zu sprechen kurtz und rund Doch für sein Heil zu flehn. [...] [...] [...] /man stell ihn ernstlich dar Fürs strenge Hals-Gericht: wird der Soldaten schaar Wird der auf-rührsche Kopf der wüttenden Gemeine Sehn unbestürtzt vergehn den/ welchem auf die Beine Zuvor der Keiser half: sol er gefässelt stehn/ So wird der Länder Ruh/ des Reisers Sig eingehn. (IB I/131 ff)

Doch Soliman entscheidet anders. Und er läßt keinen Zweifel daran, daß Zorn und Rachelust, »Die Blut-sucht des Gemüts/ die aller Gunst obsigt« (IB I/148), ihn bestimmen. Nicht Gerechtigkeit sucht er, sondern persönliche Genugtuung, die er mit allen Mitteln erreichen will: Man träte was uns trit; Komm Hali nicht zurükke/ Es sei/ daß Rustahn denn den blutigen Kopf uns schikke Wo Ibrahim entwischt und nicht den Zorn kan kühin Sol Suithans strenger Fus mit euern Köpffen spun. (IB /157 ff)

Ibrahim und Isabella werden ergriffen, verhört, gefangengenommen und beklagen das zu erwartende »Vrheil herbster Räch«, das »Wütten«, den »strängefn] Ausspruch« (IB I/349f). In einem Monolog zu Beginn des II. Aktes bereitet der Sultan seinen Urteilsspruch vor. Er schwankt erneut zwischen »Gunst« und »Rachche« (IB II/3f), erwägt, ob die strenge Strafe um des »Reiches Heil« willen verhängt werden müsse, ob Ibrahims Leistungen oder seine persönliche Notlage Gnade zulassen, gerät aber, als er an ihn als Rivalen um Isabella denkt, erneut in den Racheaffekt: Ergrimme rechte Räch! Er sterb! er sterb! er sterbe! Er sterb und kühle Stambuls Grimm! Zum minsten tröstets uns/ daß Sie kein Libs-gewärbe Nach dem erblasten Ibrahim Mit ändern treiben kan; wird Ossmann sie nicht lenken Und wo sie Ihn wird kränken! Ergrimme Soliman/ laß Si den Eifer fühln/ Sein Mord und ihr verlust darf unsern Eifer kühin! (IB H/65 ff)

Von seinen eigennützigen Beratern bestärkt, fällt der Sultan am Ende des Aktes das Urteil, widerruft es aber mit den allerletzten Worten doch noch einmal, um die Entscheidung aufzuschieben, bis er auch mit Isabella gesprochen habe. 451

Der anschließende Reyen überträgt das Schwanken des Fürsten zwischen affektivem Racherecht und vernunftbestimmtem Gnadenrecht auf die Befindlichkeit der Menschen insgemein: Begierde und Vernunft wetteifern miteinander, bis der Mensch auftritt und die Vernunft als das ihm Entsprechende erwählt. Der III. Akt bringt dann scheinbar die dramatische Wende. Unter dem Einfluß Isabellas greift Soliman in das Hinrichtungsritual ein: »Wir begnaden Den Ibrahm/ daß er frei.« (IB HI/265f). Von »Gunst«, »gütte«, »Vernunfft«, »gros Gemütt« ist in dieser Versöhnungsszene die Rede, und der Reyen der sarazenischen Pfaffen preist ihn für seine Milde: Er leb er leb/ er lebe! Des Schöpffers Hülffe gäbe Daß Ossmans gnade nicht sei Vrsach seines Falls! (IB III/ 366ff)

Der IV. Akt bringt die erneute Wende. Rustahn, Roxelane und der Mufti bereden den Sultan zur Strenge und führen dazu die Staatsräson sowie den Koran an: Des Mahumeths Gesätz und Ausspruch spricht ausdrüklich; Die iemals einen Christ verschonet/ augenbliklich Verflucht/ verdammt/ erwürgt. (IB IV/241 ff)

Rustahns Kommentar zum nun endgültigen Todesurteil gegen Ibrahim: der Sultan habe sich »Auf einen ändern Schlus vernünftiger besonnen« (IB V/83), erweist sich als Irrtum. Das Gespenst Mustaffas, den er ebenfalls ermordet hatte, beunruhigt Soliman, nennt seinen Palast ein »Mord-loch [...] Wo Räch und Rach-gier und Gewalt Für rechtem Rechte spilt den Meister« (IBV/182ff); er nennt ihn selbst einen »Blutt-hund; dessen Rache// Auch noch in tiffem schlaff ist wache« (IB V/ 199 f) und kündigt dem Sultan an, er werde von dem Racheruf des Opfers gemartert werden, ein Fluch, mit dem auch Isabella das Drama schließlich beendet: Sonst wünsch Ich: [...] [...] Daß aus des Ibrahms Blutt ein Rächer wachs' herfür Durch den des Bosphors Fürst so Krön als Grimm verlier. (IB V/323 ff)

Das Prinzip der Rache setzt sich also durch. Das Gegenteil, das Lohenstein indirekt zu vermitteln beabsichtigt, bedarf nun der genaueren Beschreibung. Was im III. Akt mit >GnadeGüteGunstVernunfftgros Gemüt'< umschrieben wird, muß zunächst, wie alle Begriffe Lohensteins, differenziert werden. Im zweiten Buch seiner Abhandlung Über die Milde unterscheidet Seneca (unter dem Hinweis, er suche keinen Streit um Worte, sondern wolle die Sache klären), die Milde (clementia) von erbarmendem Mitleid (misericordia) und vergebender Gnade (venia):136 Mitleid sei zuviel an Milde, wie Grausamkeit zuviel an Strenge sei. Mitleid und Grausamkeit seien beim Urteilen und Richten Folgen von Affekten und seien daher zu vermeiden. Gnade wiederum sei Erlaß verdienter Strafe, also Verzicht auf Strafe dort, wo tatsächlich gestraft werden müsse. Im Kontrast dazu sei die rechte Milde eine »Mäßigung der Leidenschaft« beim Urteilen, so daß die Strafe nicht 136

Seneca: De dementia, 11,7,4.

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hinter dem zurückbleibt, noch über das hinausgeht, was der zu Beurteilende vernünftigerweise verdient. In diesem Sinn bedarf der zu Beurteilende nicht des Mitleids und der gnädigen Gunsterweisung durch die Obrigkeit. Die überschwengliche Versöhnungsszene in der Mitte von Ibrahim Bassa bleibt in diesem Sinne deswegen weder das letzte Wort des Sultans noch Lohensteins, weil sie nicht auf Vernunft, sondern auf Affekten begründet ist und weil sie nicht aus Gerechtigkeit, sondern aus der Willkür des Herrschers kommt. Affekte und Willkür, das zeigen dann die folgenden Akte, haben aber keinen Bestand. Milde im Sinne Senecas ist nicht vom Gemütszustand des Richtenden abhängig, sondern ist ein Anspruch des Beurteilten dort, wo vernünftige Gründe, nicht ein Affekt des Richters, für ihn sprechen: Der Weise schont nämlich, er sorgt und er richtet gerade. Er tut dasselbe, was er tun würde, wenn er verziehe, und verzeiht doch nicht, da, wer verzeiht, gesteht, daß er etwas unterlassen hat, was er hätte tun müssen. Irgendeinen wird er nur mit Worten mahnen, ihn nicht mit Strafe belegen im Blick auf sein besserungsfähiges Alter. Einen anderen, der handgreiflich unter der Verhaßtheit eines Verbrechens leidet, wird er unversehrt zu sein heißen, weil er getäuscht wurde, weil er durch den Wein strauchelte. Landesfeinde wird er heil entlassen, manchmal sogar mit Lob, wenn sie durch anerkennenswerte Gründe für gegebenes Wort, für ein Bündnis, für die Freiheit zum Kriege aufgerufen waren.137

Dieses Verständnis von Gerechtigkeit liegt wohl Lohensteins Dramen zugrunde. Das Märtyrerdrama kennt den grausamen Tyrannen, der sein Unrecht gegen den schuldlosen Märtyrer richtet; es kennt allenfalls die vergebende oder den Tyrannen bemitleidende Geste des Märtyrers; aber es kennt nicht eigentlich den humanen und vernunftgemäßen Umgang mit der Schuld. Lohensteins Dramen stellen nur schuldige Figuren vor. Nie wird ihre Verfolgung angeprangert, stets aber die Art ihrer Verfolgung. Ibrahim Bassa wäre deshalb nur zum Teil erfaßt, wenn man die Thematik von Rache und Milde ohne die Schuldfrage verfolgen würde: Ibrahim ist ebensowenig wie Epicharis, Agrippina und die beiden afrikanischen Königinnen Märtyrer. Das Drama beginnt mit Ibrahims Beschuldigung. Selbst seinem Fürsprecher Achmath geht es nicht darum, »Fürs Flüchtgen Recht zu sprechen«, sondern unter Anführung vernünftiger »bewegungs-Gründ« »Der Straffe Minderung« zu erreichen (IB I/131 f). Angelastet wird Ibrahim vor allem die Flucht; umstritten ist nur das Motiv, der die Tat begründende Wille. Der Sultan deutet die Flucht, unterstützt darin durch Ibrahims Rivalen Rustahn, als Treulosigkeit und als Versuch Ibrahims, im Feindesland durch Verrat, ja durch Mordpläne gegen den Sultan, seinen eigenen Ehrgeiz zu stillen (IB I/190ff,246ff). Später bewertet er die Flucht als Beweis, daß »Wollust mehr bei ihm als der gehorsam« zähle, da Ibrahim die Beziehung zu Isabella den Amtspflichten vorgezogen habe (IB /116). Den Vorwurf des Hochverrats weist Ibrahim als »ungereimte sache« (IB II 229ff,266) und als Kränkung seiner Amtstreue zurück. Die »frag ob unrecht oder recht« (IB I/227) könne sich nur aufsein »unbeuhrlaubt« Abreisen (IB I/336) beziehen. Da Isabella durch die Zudringlichkeit des Sultans und er selbst durch den Neid 137

Ebd. 11,7,2. 453

der Rivalen bedroht waren (IB 1/369), sei seine Flucht »sonder Schuld« (IB 369). Isabella entlastet Ibrahim von dem Vorwurf, die Zuneigung zu ihr der Amtspflicht vorgezogen zu haben: Er habe seine Loyalität bewiesen, als er sie dereinst in Monaco verlassen habe, um seiner eidlichen Zusage dem Sultan gegenüber nachzukommen. Vor allem aber führt auch sie das Argument der Notwehr ins Feld. »Noth und Recht« hätten ihn zur Flucht gedrängt: »Bei Schiffbruch und gefahr ergreifft man zu entkommen//Brett/Holtz und was man kan. [...]«(IB /115 ff) -ein Argument, das auch der Sultan zeitweilig erwägt (IB II/33ff). Als potentiell künftig ebenso Betroffene kommentieren die beiden Beamten Achmath und Hali Bassa die Frage nach der Schuld des Beamten Ibrahim besonders differenziert (IB I/405ff): stets den Launen des Fürsten ausgeliefert zu sein, entschuldige Ibrahim, meint Achmath. Seine Flucht müsse ihn »zwar scham-roth« machen, sei aber »durch kein Recht verdammt«. Sie sei damit zu entschuldigen, daß sich selbst »reinste Vnschuld« den Folgen von Verdächtigungen, die durch Neider geschürt werden, kaum entziehen könne. Hali Bassa dagegen hält Ibrahim, auch wenn die nun drohenden Strafen unverdient seien, zumindest für mitverantwortlich. Er habe voreilig sein Vertrauen in das Ehrenwort des Sultan aufgegeben und dem Hof damit erst die Möglichkeit zu den Anschuldigungen gegeben: [...] Hai. Sprichstu den Ibrahm all Von dem Verbrechen los? Ach. Von diesem/ das den Kerker Wo nicht den Strang/ verdihnt. Hai. Sein Frevel ist vihl stärker Als ich und du vermeint. Ach. Nicht stärker als verdihnst' Als Tugend. Hai. Vndank nimmt den vorigen Gewinnst Der ersten Wohl-that weg. Ach. Kanstu ihn Vndank zeihen? Hai. Zwar ich nicht/ Ossmanns Gunst. Ach. wird zwang sich zu befreien Für Laster aus-geschrien? Hai. Was zwang ihn zu der flucht? Ach. Sein Wol-stand sein Gemahl. Hai. Hett ers durch bitt ersucht. Umbsonst man nett es ihm unfehlbar abgeschlagen. Hai. Wer kont ihm dis gewiß von so vihl Zweiffein sagen? (IB I/444ff)

Ibrahim begegnet später diesem Vorwurf, er habe »sich selbst zu seinem falle bracht«, denn »Der Neid kan keinen nicht ohn Vrsach überschütten«, mit dem Zugeständnis eigener Mitverantwortung: »Wie kan ich als ein Mensch was menschlich ist verhütten? (IB /176 ff) c) Mildernde Umstände Neros »schreckliche Straffen«, Solimanns Schwanken zwischen affektiver Gnade und affektiver Grausamkeit, Scipios eisige Härte zielen wohl kaum appellativ auf das Handeln von Fürsten. Obrigkeit wird in Breslau erfahren vor allem als Gerichtsobrigkeit. Es geht Lohensteins Trauerspielen des Unrechts darum, die Notwendigkeit einer Rechtsauffassung zu demonstrieren, die weder nach Stimmungen urteilt wie die Masse, noch nach dem strengen Buchstaben der Gesetze, sondern abwägt zwischen Recht und Billigkeit. Man hat also Lohensteins ungerechte Richter zu sehen im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Reform der Strafrechtspraxis, 454

die versuchte, die inzwischen mehr als ein Jahrhundert alten Bestimmungen der Carolina dem veränderten Rechtsbewußtsein anzupassen: Die Unterscheidung zwischen einem vorhandenen Straftatbestand und seiner Zurechenbarkeit auf den Täter, der Grundsatz der die Tatumstände berücksichtigenden Billigkeit also, hat Carpzov dazu geführt, das System der in der Carolina festgelegten absoluten Strafen aufzubrechen. Der Regelfall, daß der Geschehensablauf dem Gesetzestext entspreche und der Vorsatz des Täters erwiesen sei, so daß die vorgeschriebene Strafe (>poena ordinariapoena extraordinariasummarische< oder >Generalinquisition< hatte die Straftat in ihrer Vorgeschichte, ihren Voraussetzungen, Begleitumständen und Folgen zu erforschen. Sie konnte von einem niederen Gericht durchgeführt werden. Ergab sich eine schwerere Straftat, dann konnte, war eine Strafe an Leib und Leben zu erwarten, dann mußte am Obergericht eine >Spezialinquisition< durchgeführt werden, »um den Angeklagten gegen gerichtliche Übereilung zu schützen«, selbst wenn er bereits gestanden hatte.140 Die >Spezialinquisition< hatte die Schwere und den Grad des Verschuldens festzustellen, alles zu prüfen, was den Täter entlasten und mildere Bestrafung begründen könnte, und gegebenenfalls die völlige oder teilweise Unschuld zu erweisen. Solches Vorgehen war zwar in der Carolina (Art. 46) bereits angedeutet. Die Ernsthaftigkeit, mit der Carpzov die subjektive Situation des Täters in die Schuldprüfung einbezog, fehlte aber selbst noch in den humanistischen Strafrechtslehren Wesenbecks und Reusners; ja es ist ein Ausnahmefall, wenn man in den Strafakten der ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts »leidlich vollständige und ausreichende Angaben zur Person der Angeklagten findet. Selbst in Inquisitionsakten wurden die Inquisiten meist nur nach Namen, Beruf, letzter Stellung bezeichnet und allenfalls gelegentlich erwähnt, ob sie ledig oder verheiratet waren.«141 Carpzov geht über diese Praxis weit hinaus, wenn er fordert: Soll demnach einig und allein die Missethat/ deren inquisitus beschuldiget und verdächtig/ zusamt denen indicis des Verdachts/ welche sich bey gehaltener summarischen Erkundi138

139 140

141

Carpzov: Practica Nova[...], quaestio 142, n.22 »causa mitigationis rationabili et sufficient! existente, turn judicem poenam ordinariam minuere, ac in poenam quandam mitiorem extraordinariam convertere, ac immutare posse[...]«, zit. nach von Weber: Benedict Carpzov, S. 38, Anm. 24. von Weber: Benedict Carpzov, S. 38. Böhm: Der Schöppenstuhl zu Leipzig, S. 335; vgl. Carpzov: Peinlicher [ . . . ] Proceß, 11,1 und VI,1,1. Böhm: Der Schöppenstuhl zu Leipzig, S. 337.

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gung ereignet und beybracht/ articuliret werden/ iedoch mit allen qualiteten und Umbständen/ beydes des delicti und des delinquenten selbsten/ als nemlichen wie inquisitus mit Namen heisse wo und von weme er gebohren/ wie Alt er sey/ welcher Gestalt und auf was Weise/ warum und aus was Ursach/ auch zu welchem Ende er die Missethat verübet/ etc. Zuförderst aber an welchem Ort und zu welcher Zeit das delictum begangen worden [...] Und solches deswegen/ damit inquisito die Außführung seiner defension und Unschuld geleichtert werde [.. .].142

Böhm berichtet zwei Beispiele für das Verdienst Carpzovs um die Verfeinerung und Milderung von Strafurteilen: Jugendliche Täter konnten ab 14 Jahren zu ordentlichen gesetzlichen Strafen verurteilt werden. Gleichzeitig war den Gerichtsherrn Strafmilderung empfohlen, wenn das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet war. Carpzov erwog darüber hinaus die Strafmilderung bis zum 25. Lebensjahr: Schließlich habe ich es auch ziemlich häufig so gehalten, daß für einen Minderjährigen bei Verbrechen schwerster Art nicht nur die an sich verwirkte verschärffte Todesstrafe gemildert, sondern sogar die Todesstrafe in Stäupung umgewandelt wurde, damit nicht etwa einer zu verschärfter Todesstrafe verurteilt würde, dem man die Einfalt und Schwäche seiner Einsicht hätte zugute halten können [...]

In einem Verfahren von 1665 wurde der Ehebruch eines Mannes durch Schwängerung der Magd verhandelt. Das Gesetz sah für den Mann Enthauptung bzw. bei Verzeihen durch die Gattin die ewige Landesverweisung des Ehepaares, für die Magd öffentliche Stäupung und ewige Landesverweisung vor. Carpzovs Gutachten riet dem Gericht, den Mann mit drei bis vier Wochen Gefängnis, die Magd ohne Stäupung mit ewiger Landesverweisung zu bestrafen. Als Milderungsgründe gab er an, die Frau habe für ihren Gatten gebeten, da er immer zu ihr gut gewesen sei. Sie sei 84 Jahre alt und seit 10 Jahren blind. Entscheidend war nach Carpzov für Strafminderung bzw. Straffreiheit die Einschränkung bzw. das Fehlen eines verbrecherischen Willens. Die Begrifflichkeit, die er in seiner Gutachterpraxis dabei entwickelt, gründet wiederum in den aus der aristotelischen Ethik gespeisten und vom Humanismus systematisierten Prinzipien des Römischen Rechts. Es sei, so Aristoteles zu Beginn des III. Buches der Nikomachischen Ethik, für den, der über Ethik philosophiert, notwendig, die Begriffe >freiwillig< und >unfreiwillig< gegeneinander abzugrenzen; dies sei darüber hinaus auch nützlich für den Gesetzgeber, wenn er Strafen anordnet: Als unfreiwillig gilt, was unter Zwang oder aus Unwissenheit geschieht. Gewaltsam ist ein Vorgang, dessen bewegendes Prinzip von außen her eingreift, und zwar so, daß bei seinem Einwirken die handelnde oder die erleidende Person in keiner Weise mitwirkt. [...] Taten aber, die aus Angst vor noch größerem Unheil oder für ein edles Ziel ausgeführt werden, [...] lassen die Streitfrage entstehen, ob sie unfreiwillig oder freiwillig sind. [...] Solche Handlungen haben also einen Mischcharakter, stehen aber näher dem Freiwilligen, denn im Augenblick des Vollzugs besteht die Freiheit der Wahl. [...] In manchen Fällen wird [...] Nachsicht gewährt: wenn man nämlich etwas tut, was man zwar nicht soll, was aber die Grenzen der menschlichen Natur übersteigt und dem kein Mensch gewachsen wäre. In manchen Fällen indes darf man keinem Zwange weichen, sondern muß eher schwerstes 142 143

Carpzov: Peinlicher [...] Proceß, VI,1,4. Zit. in der Übersetzung von Böhm: Der Schöppenstuhl zu Leipzig, S. 339, Anm. 321.

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Leid und den Tod auf sich nehmen. [...] Manchmal ist es schwer, das so oder so einer Handlung und Einsatz gegen Gewinn genau abzuwägen.144

Lohenstein darf zu den Populatoren solcher Überlegungen im Zusammenhang mit der Durchsetzung des gelehrten Rechts in Verwaltung und Öffentlichkeit im 17. Jahrhundert gerechnet werden. Daß er das im Interesse seiner Stadt tat, zeigt ein Schulactus, der 1663, also zu einer Zeit, da auch seine Dramen aufgeführt wurden, vom Gymnasium St. Elisabeth dargeboten wurde und sich mit dem Strafen beschäftigte. Im ersten Teil geht es um die Täter, im zweiten um die Rechte und Pflichten der Strafenden, im dritten um die Strafen, um die Umstände, die das Strafmaß mitbestimmen, um Umstände, die die Qualität des Verbrechens zwar nicht ändern, wohl aber dazu führen, daß keine oder geringe Strafen ausgesprochen werden (oben I.2.c). Wie etwas später auch Stieler und Schottelius145 bemüht sich Lohenstein zunächst in De voluntate, durch Differenzierungen einer Vielfalt unterschiedlicher Beeinträchtigungen des Willens beim Handeln dem Handelnden gerecht zu werden. Um die in der Praxis häufige problematische Mischung von >freiwillig< und >unfreiwillig< zu erfassen, unterscheidet er zwischen >entschlossenem< und nur >bedingtem< Willen:146 Oft sei der Wille bedingt (Art. VII,!.), entweder durch Zwangslagen oder durch Affektausbrüche oder durch Gehorsam. Zwangslagen gebe es vielerlei, so etwa den Hunger, der die Bereitschaft zum Diebstahl wecke (2.). Den ersten Rang nehme aber die Furcht ein (3.). Ja es sei nichts dem freien Willen so entgegengesetzt wie die Furcht, auch wenn - sieht man von den Umständen einmal ab - noch Wahlmöglichkeiten bleiben, den kleinsten der möglichen Schaden zu wählen. Der Furcht und Bedrängnis ähnele die Überredung (4.); denn durch ständiges Bitten aufgewiegelt zu werden, sei in gewisser Weise ebenfalls Zwang. Manchmal wiege die Überredung zum Schlechten sogar schwerer als Gewaltanwendung. Die stärkste Einschränkung des Willens brächten aber die Leidenschaften mit sich (5.). Zorn etwa (6.) verwirre und raube den Verstand, weswegen die Gesetze das, was in der Hitze des Zorns geschieht, weniger hart verfolgen. Ähnliches gelte von der Trunkenheit (7.) und allen Affekten, die den Willen beeinträchtigen. »Der Verstand gebietet nämlich über den Trieb nicht wie ein Herr über Sklaven, sondern mit bürgerlicher und monarchischer Machtbefugnis.«(Ü) (8.)147 Häufig nämlich behaupte sich der Affekt gegenüber den Verstandeskräften, komme somit dem Willen zuvor und beeinträchtige die eigenverantwortliche Urteilsfähigkeit, denn mit dem Sieg der Affekte verzerre, verkleinere oder vergrößere sich in der Wahrnehmung die Wirklichkeit, so daß eine große Vielfalt unterschiedlicher Urteile und Meinungen entstehe. Zur Unfreiwilligkeit einer Handlung gehöre also neben äuße144 145

146 147

Aristoteles: Nik.Ethik, 111,1. Stieler: DerTeutsche Advokat, S. 295ff; Schottelius: Ethica, Lib.2. Cap.17. De voluntate, S. 259ff. Lohenstein: De voluntate, Art. VI,l, S. 6: »Voluntas est vel enixa vel remissa.« Lohenstein: ebd. VII,8, S. 12: »Quia enim mens imperat appetitui non herili, sed civili & regio imperio;«

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ren Einflüssen stets eine innere entsprechende Verfassung. (Umgekehrt könne freilich ein Affekt, der willentlich herbeigeführt wird, um eine Absicht zu unterstützen, das Willentliche einer Handlung sogar noch verstärken.) Eingeschränkt sei eigener Wille auch dort, wo jemand auf Befehl dessen handle, unter dessen Gewalt er steht (9.). Das Recht schränke dabei seine Milde allerdings ein auf Kinder oder Diener, wenngleich auch sie in schwereren Fällen nicht unbestraft blieben. In leichteren Fällen verzichte es auf die Verfolgung derer, die aus Gehorsam gehandelt haben. Schließlich sei der Wille auch dort eingeengt, wo jemand nur entsprechend handelt, weil er weiß, daß er durch einen Richter oder jemand anderen dazu gezwungen werden kann (10. und VIII.1.). Gehorsam werfe also einen Schatten auf den Willen. Ganz besonders eingeschränkt sei der Wille derer, die das Rechtmäßige erst nach eindringlicher Ermahnung tun. Andererseits sei der Wille dann weniger eingeschränkt, wenn man auf Verlangen tut, was man auch verweigern könnte. Voraussetzung, um überhaupt von Willen zu sprechen, ist für Lohenstein jedoch in allen Fällen die Zurechnungsfähigkeit des Menschen, seine Vernünftigkeit, die ihn befähigt, etwas zu erkennen und zu wünschen (XIV). Kinder, Rasende, Bewußtlose, Betrunkene und Schlafende hätten keinen Willen und seien deshalb nicht verantwortlich. Dem Willen entgegengesetzt (XX.) sei in erster Linie die Gedankenlosigkeit. Man könne nicht etwas wollen, von dem man weder weiß, ob es ist noch, was es ist (3.). Das gelte für Kinder, Narren und Verliebte. Sie nämlich benutzten nicht ihren Verstand. Und was sie tun, seien eigentlich nicht menschliche Handlungen. Gleiches gelte für Unwissenheit (5.), obwohl viele Gesetze den Willen auch auf Handlungen ausdehnten, die in Unwissenheit geschehen. Auch Irrtum (6.), je nachdem, worin er besteht, Täuschung (7.), Gewaltanwendung (8.), Verstellung (9.) und der Zweifel (10.) stünden im Widerspurch zum freien Willen; letzterer deshalb, weil man im Zweifel sich nicht eindeutig für einen Weg entscheide, sondern willkürlich irgendeinen einschlage. Alle diese von der Verantwortung entlastenden Einschränkungen des freien Willens werden in Lohensteins Dichtung vorgeführt: Am deutlichsten zeigt sich die Einschränkung des Willens in Situationen von NOTSTAND bzw. NOTWEHR. Lohenstein behandelt dieses Thema besonders ausführlich in Arminius am Beispiel des Kannibalismus. Rhemetalces hält ihn in extremer Not für erlaubt durch das göttliche bzw. natürliche Recht: Die euserste Noth ist das oberste Gesetze/ welchem alle andere Satzungen der Völcker ja der Natur unterworffen sind; welchem die Menschen nur blinden Gehorsam leisten müssen/ ja die Götter es selbst nicht versehren können. Diesemnach in der eussersten HungersNoth Menschen zu schlachten und zu essen für keine unmenschliche Grausamkeit mit Rechte gescholten werden könte. Denn GOtt ließe alles zu/ was nöthig/ und das Recht/ was unvermeidlich wäre; [...] die erwähnte Noth hiebe alles andere Recht auf/ sie benehme ändern ihr Eigenthum/ und erlaubte fremdes Gut beym Ungewitter ins Meer zu werffen/ beym Brande des Nachbars Hauß einzureißen/ ja sie rechtfertigte den Diebstahl. (Arm. I/1032a-b)

In diesem Sinne sei es auch zu verstehen, wenn bei vielen Völkern Eltern in extremer Not ihre Kinder »den Göttern fürs gemeine Heil aufopffern« (Arm. I/1033a). 458

Allerdings müßten daran »erhebliche Bedingungen« geknüpft werden, etwa wenn »die eusserste Noth alle andere Erhaltungs-Mittel abstrickt«; nicht dagegen, wenn solch »grausame Verfahrung« nur einen Aufschub bringen könne oder aber, wenn auch unter schmerzhaften Bedingungen mit dem Feind ein Abkommen geschlossen werden könnte (Arm. I/1033b). In Sophonisbe wird das szenisch umgesetzt: in Frage steht, ob die Königin zur Rettung ihres Landes ihre Kinder opfern dürfe. Lohenstein kommentiert diese Szene in den Anmerkungen so ausführlich wie keine andere, indem er auf die weite Verbreitung des Kinderopfers bei den verschiedensten Völkern eingeht. Aber die Bereitschaft Sophonisbes, ihre Kinder zu opfern, ist nur ein Element in einer ganzen Kette von Handlungen, die aus der Not geboren sind. Man behauptet nicht zu viel, wenn man feststellt, nahezu alles Handeln in den Dramen geschehe aus zumindest subjektiv empfundener Notstandssituation heraus. Daß Lohenstein so extreme, mit Paradoxen spielende Fälle von Notstand aussucht, liegt natürlich am Unterhaltungswert, den seine Texte ja mit anstreben. Es liegt aber auch an der bis heute praktizierten Vorliebe der Jurisprudenz, ihre Begriffe, Grundsätze und Musterentscheidungen an möglichst extremen Fällen zu erörtern. Die erste Szene von Sophonisbe zeigt Numidien bereits in äußerster Not. Die Hauptstadt ist belagert, König Syphax gefangengenommen. Nach Ablauf eines dreistündigen Ultimatums zur Aufgabe der Stadt soll er getötet werden .Damit setzt zugleich die Diskussion um Notstandsrecht ein. Mit Erfolg überredet Masinissa den Gesandten Hiempsal, angesichts der ausweglosen Situation sein Treuwort gegen Sophonisbe zu brechen, überzulaufen und die Stadtschlüssel auszuliefern: Der übt kein Laster nicht/ der's Vaterland in Ruh Aus dem Verterben setzt; noch der/ eh er ertrincket/ Ein frembdes Brett ergreift; und wenn das Schif versincket/ An's Feindes Ufer schwimmt. (S I/142ff)

Sophonisbe ringt sich, als sie von der katastrophalen militärischen Lage erfährt, zur weiteren Verteidigung durch. Um mit ihrem eigenen Einsatz der Stadt ein Volbild zu geben, ruft Sophonisbe nun ihre Kinder. Mit deren ausdrücklicher Zustimmung sollen sie den Göttern geopfert werden, ein letzter Versuch, das Kriegsglück noch einmal herumzureißen. Daß Sophonisbe dies nicht leicht fällt, beweisen ihre vermeintlichen Abschiedsworte: »Nimm diesen Kuß noch hin. Erschrecklich Hertzens-Stos!//Jedoch [...] das Heil des Reiches geht für Kinder.« (S I/430f) Die Frage, ob das erlaubt ist, wird gestellt, aber nicht beantwortet. Das Opfer wird zunächst unnötig, da durch die Flucht des Syphax aus dem Gefängnis der Römer neue Hoffnung aufkommt. Die Zwangslagen setzen sich aber fort: Mit Hiempsals Hilfe öffnet Masinissa die Stadttore. Syphax ist bereit, sich zu opfern und erlaubt den ändern die Flucht: [...] ihr Freunde/ fliht/ wo ihr entkommen könnet: Weil Syphax/ nun das Schiff zerberstet/ ieden gönnet Daß er ein Brett ergreift/ und Tod< und Ach entschwimmt. (S 11/39 ff)

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Sophonisbe ergibt sich unter der Bedingung, nicht an Rom ausgeliefert zu werden, als Sklavin Masinissa. Sie leitet damit ihren letzten Rettungsplan ein, schleicht als Soldat verkleidet ins Gefängnis, um mit Syphax die Kleider zu tauschen und ihn damit zu befreien. »Die Sorge für [s]ein Heil«, »Treu' und Noth«, seien ihre Motive. Er könne unbesorgt entfliehen, denn sie wisse auch für sich selbst Rat (S 11/255ff). Gleich nach dem herzlichen Abschied enthüllt sie, nicht ohne Skrupel, dem Publikum ihren Plan: Sie müsse »aus der Noth [...] eine Tugend machen« (S 11/303) und versuche, Masinissa für sich zu gewinnen, was ihr dann auch gelingt. Um dessen skeptische Berater ebenfalls zu gewinnen, erklärt sie sich sogar bereit, Gefangene ihres eigenen Volkes als Racheopfer zu töten, und muß erkennen, daß einer von ihnen Syphax ist. Seinen Vorwürfen der Untreue entgegnet sie mit der Argumentation des Notstands. Die neue Ehe bedeute für sie Rettung, für ihn aber »keinen Abbruch«. Sie sei »aus Not« (S HI/373 ff) entstanden, bedeute keine Treulosigkeit und müsse im Grunde auch seine Zustimmung erhalten: [...] die Vernunft schlägt dis/ was sie nicht nutzen kan/ Verächtlich in den Wind. Was bringt dir's für Vergnügen/ Wenn diese die du liebst/ und nicht kanst wieder kriegen/ Nebst dir durch Sturm vertirbt? und nicht entschwimmen darf/ Ob ihr das Glücke gleich ein Stücke Brett zuwarf. (S HI/390 ff)

Die Beurteilung von Sophonisbes Handeln sollte nicht zu leicht vorgenommen werden. Schließlich beweist Sophonisbe wiederholt Opferbereitschaft für ihren Staat, schließlich befreit sie den Gatten unter Einsatz des eigenen Lebens und ist bereit, falls er ihren Rettungsweg nicht akzeptieren könne, zu sterben (S /400 ff). Außerdem hat Syphax selbst im II. Akt all denen, die sich und damit auch Afrika vor Rom irgendwie retten können, freie Hand zugesagt. Zieht man die Bedingungen heran, die in Arminius an eine als Notstand anerkannte Situation geknüpft werden, so ist zumindest die erfüllt, daß Sophonisbe alles versucht hat, eine andere, humanere Lösung zu finden. Die andere Bedingung ist, daß gesetzeswidriges Handeln zur eigenen Rettung nur dann straffrei bleiben kann, wenn es die Gefahr nicht lediglich hinausschiebt. Genau das aber trifft für Sophonisbe zu. Sie wird potentielle Kindermörderin, läßt Gefangene wider das Völkerrecht töten, später ist sie sogar bereit, dies mit Gefangenen des eigenen Volkes zu tun, schließlich wird sie zur Ehebrecherin, und das alles letztlich ohne Erfolg. Ihre Schuld, die sie am Ende auch eingesteht, ist durchaus tragischer Art: Sie ist Erkenntnisschuld, die auf falscher Einschätzung der Gesamtlage, auf zu großem Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, auf der Begrenztheit menschlicher Einsicht also beruht. Die Problematik in Sophonisbe ähnelt, zumindest, was die Titelfiguren angeht, der in Cleopatra, nur daß hier in Antonius ein Gegenmodell sichtbar wird: ein in Notstand Handelnder, der aber vor dem Bruch mit der ethischen Norm Halt macht, einsehend, daß dieser Bruch ihn letztlich nicht retten würde: Auch Ägypten steht bereits zu Beginn des Dramas mit dem Rücken zur Wand. Wie Sophonisbe und Syphax greift Antonius in seinem Eingangsmonolog zur Schiffsmetapher. Er befinde sich politisch und militärisch in der gleichen Lage, 460

[...]/ wie wenn der Mast schon auf den Klippen springet/ Wenn schon das blaue Saltz sich in die Ritze dringet/ Wenn der erzörnte Nord den morschen Kahn zerschleift/ Der Boßmann für das Schiff ein schmales Brett ergreift/ Fürs Rudern braucht den Arm/ zum Ancker Bein' und Füsse/ Die Hofnung zum Compaß [...]. (C 1/23ff)

Antonius handelt dennoch vorerst nicht, sondern wägt zunächst ab zwischen einem letzten militärischen Durchbruchsversuch, einem politischen Vergleich und vorläufigem Abwarten. Selbst das verlockende Angebot, sich auf Kosten Cleopatras zu retten, lehnt er ab als Falle Roms (C/aI/1048ff). Anders Cleopatra: Archibius rät ihr, Antonius zuvorzukommen und sich mit Rom gegen ihn zu verbünden, »Eh' uns durch furchtsam-sein die Mittel sind benommen;« (C 11/230). Als sie sich dazu entschließt, tut sie es nicht gegen Antonius; sie schätzt ihn als bereits verloren ein und sieht nur noch für sich und ihren Staat die Möglichkeit der Rettung: Für euserste Gefahr muß euserst' Artzney sein. Du sih'st/ das Wasser dringt zu allen Seiten ein/ Der zehnde Sturm fehl't nur noch uns in Grund zu sencken. Itzt itzt ists hohe Zeit das Ruder recht zu lencken! August lig't uns am Portt: Er suchet seinen Thron Zu gründen auf den Grauß des mächtigen Anton. Wird dieser Sturm-Wind nun die feste Zeder fällen/ So muß sein Fall zugleich mich schwachen Ast erschellen. Drum ist es hohe Zeit: daß man sich des entbricht/ Dem das Verhängnüß schon sein letztes Urtheil spricht. Zwar wünschten wir ihn wol uns noch vermählt zu schauen/ Durch unser Gutt und Blutt ihm seinen Thron zu bauen; Allein' umbsonste wird der Bezoar verbraucht/ Wenn das entflammte gif ft schon in dem Hertzen raucht. Man spar' an Todten nur die teuren Perlen-Träncke. (C HI/31 ff)

Solche Berufung auf den Notstand gehört im 17. Jahrhundert zum Repertoire nicht nur absolutistischer Herrschaftsethik,14* sondern ist zugleich Bestandteil der Rechtsdiskussion. Carpzov etwa räumt Notstand und Notwehr breiten Raum ein bei seiner Untersuchung von Gründen, die den Begriff des Verbrechens aufheben oder die Strafe mindern können.149 Wenn Lohenstein in Sophonisbe und Cleopatra die Situation eines Herrschers in absoluter Zwangslage darstellt, wenn er in Ibrahim Bassa, Epicharis und Ibrahim Sultan verschiedene Weisen von Notwehr der für das Staatswesen mitverantwortlichen Beamtenschicht gegenüber dem Herrscher zeigt, so nicht in erster Linie unter dem Aspekt der politischen Klugheit, wie vielfach interpretiert wurde, sondern um der Dialektik von Schuld und Entlastung willen. Notwehr und Handeln unter Notstand machen jeweils den Handlungsverlauf aus; am Ende aber steht stets die Frage nach der Verantwortung der Handelnden. Entla14S 149

Vgl. zu Lipsius und Saavedra: Mulagk: Phänomene des politischen Menschen, S. 87ff, S. 146 ff. Vgl. Lobe: Die allgemeinen strafrechtlichen Begriffe nach Carpzov, S. 40ff. 461

stung auf Grund von Zwangslagen wird sogar dem Erztyrannen Nero zuteil, der sich bei der Ermordung seiner Mutter Agrippina auf Notwehr beruft. Agrippinas Geist erscheint dem Kaiser, um ihm sein Urteil zu sprechen. Verwerflich an seinem Handeln, so erklärt sie ihm, sei vor allem die Rachgier, mit der er sie durch Verweigerung eines ehrenvollen Begräbnisses noch verfolge, nachdem sie nun kein Machtrivale mehr sei. Die Tat selbst, so grausam es sei, seine eigene Mutter zu ermorden, lasse sich durchaus entschuldigen mit dem Hinweis auf das natürliche Recht zur Selbsterhaltung: Kein Geyer speißt sich nicht mit Geyers Blutte; Du aber saugsts der Mutter aus. Doch hielt ich dir dis alles noch zu gutte/ Ob schon mein Leib ist worden Asch und Graus. Da doch iedweder Wurm/ die schwache Schnecke sich/ Die sich nur: daß sie nicht verfaulen soll/ beweget/ Die Waffen bey Gefahr in ihrer Schale reget/ Und auf den/ der sie neckt/ versuchet Räch und Stich: Holz knackt und springt/ wenn es die Flammen fressen. (A V/415 ff) 150

Eng verwandt mit der Handlung, die begangen wird unter dem Zwang, das eigene Leben oder das Wohl der eigenen Gemeinschaft zu retten, ist in Lohensteins De voluntate die Handlung auf Grund von BEFEHLEN derer, unter deren Gewalt man steht.151 Auch sie ist nur bedingt willentlich und daher nur bedingt zu verantworten. Lohenstein stellt die Frage individueller Verantwortlichkeit bei Befehlen bevorzugt dar anhand des Verhältnisses von Fürst und Staatsdiener. In besonders drastischer Weise führen die Türkendramen Lohensteins das Ausgeliefertsein der Staatsdiener an Macht, Willkür und Laune des Herrschers vor. Nicht nur Ibrahim Bassas Flucht (IB I/405ff), auch Rustahns Handeln (»Ich thus vom Soliman nicht von mir selber [...]« IB /172) wird zumindest vorläufig auch dadurch entschuldigt, daß der Berater kaum Einfluß nehmen und jedes vom Willen des Sultans abweichendes Handeln tödlich sein kann: Wo Ibrahim entwischt und nicht den Zorn kan kühin Sol Suithans strenger Fus mit euern Köpffen spun. (IB I/159f) [...] Lauf Hall/ lauf lauf straks und bring uns bei Verlust Des deinen/ Rusthans Kopf/ [...]. (IB V/241 f)

Im V. Akt des Dramas Ibrahim Sultan steht der intrigante Berater des Sultan, Achmet, vor dem Gericht der anderen Staatsdiener. Wie Rustahn in Ibrahim Bassa kann ihm vorgehalten werden, er habe selbst als Mittäter dem Sultan zur Schändung Ambres geraten; er habe »Wachs geschafft/ die Tachte selbst gedrehet // Zun Fakkeln/ die der Fürst der Geilheit zündet an« (IS V/396f)Dennoch ist seine Verteidigungsrede zu beachten: 150 151

Vgl. auchSII/192f;SIII/22. Lohenstein: De voluntate VII,8., S. 13: »Obsequiosa denique voluntas, ubi quis aliquid, ad ejus imperium, cujus in potestate est, facit, aliquo Integritatis defectu laborat.«

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Ihr Freunde/ sagt: was ist des Achmets groß Verbrechen? [...] [...] Ich leugn ihr Freunde nicht: Daß ich des Mufti Kind gewaltsam weg hieß holen. Doch! wen entschuldigt nicht? Der Sultan hats befohlen. Steht Fürstlichen Befehl zu weigern/ Knechten frey? Zu grübeln: Ob sein Thun recht/ oder unrecht sey. Ihr kennt des Sultans Arth und seinen Trieb im Lieben. Ist einer unbeschimpfft/ ja unerwürget blieben/ Der ihm im Lieben einzureden sich erkeckt. (IS V/379ff)

Daß es Lohenstein dabei um Konflikte des Beamtentums auch seiner Zeit geht, wird dadurch deutlich, daß wir in den Nerodramen, also im Umkreis abendländischer und für den zeitgenössischen Verwaltungsstaat richtungweisender Herrschaftsmodelle,152 ähnliches finden: In Epicharis beklagt Fenius Rufus gegenüber Nero, daß bei Hofe »Die Ehren-Aempter Schuld/ die Würden Sünden sind.« (E IV/ 338) In Agrippina macht sich Seneca am politischen Muttermord Neros mitschuldig, entschuldigt sich aber - gleichsam prophylaktisch bereits im II. Akt mit der ironischen Bemerkung: »Ja! Diener solln auch Schuld an Brand und Hagel haben.« (A 11/303) Lohenstein unterstützt in der Anmerkung Senecas Aussage - gleichsam in eigener Sache - mit mehreren Verweisen auf politische Literatur: Er führt Saavedra an mit seiner Feststellung, daß Eifersucht und Neid stets auf einen Minister lauern und jede Gelegenheit nützen, um ihn zu ruinieren. Das Volk werde vom Haß gegen ihn so weit fortgerissen, daß es ihm sogar Naturkatastrophen und die Laster des Fürsten zuschreibe. Zusätzlich verweist Lohenstein auf einen Bericht des Tacitus, nach dem man einst dem Sejan zugeschrieben hatte, daß das Amphitheater eingestürzt und der Berg Caelius in Flammen aufgegangen war. Zur weiteren Bestätigung zitiert er noch das Buch des zeitgenössischen französischen Staatsrats Jean de Silhon (1667) Über den Staatsminister (1639/43). Das Volk, so heißt es dort, werfe den Ministern alle Übel des Staates vor, selbst, wenn sie dafür nicht verantwortlich seien. Man fordere von ihnen ständiges Wohlergehen, selbst wenn es nicht in ihrer Macht liege, und wolle, daß sie alle Ereignisse im Griff haben, selbst wenn sie nur ihren Rat geben dürfen; das Volk halte sie für die Urheber all seiner Belastungen. Kurz, das Volk behandle sie mit der gleichen Ungerechtigkeit, mit der die Heiden die ersten Christen behandelt haben, denen man Überschwemmungen, Hungersnöte und Pest in die Schuhe geschoben habe. Im Gesamtzusammenhang der Darstellung von Schuld und Verantwortung bedeutetdieProblematikdesStaatsdienersabermehralsnur Verteidigung eines Berufsstandes. Der Staatsdiener wird zum Paradigma ethischer Verantwortlichkeit innerhalb eines wie immer begrenzten Spielraums individueller Gestaltungsmöglichkeiten. Als dritte Form der Willensbeschränkung durch äußere Zwangseinflüsse hebt Lohenstein die BEDRÄNGUNG DURCH ÜBERREDUNG heraus. Manchmal wirke, so liest man in De voluntate, die Überredung zum Schlechten mehr als gewalttätiger Zwang. Als Beispiel führt er den Kranken an, der nach ständigen Forderungen 152

Vgl. Dreitzel: Protestantischer Absolutismus und absoluter Staat, S. 403. 463

schließlich sein Testament für ungültig erklärt.153 Lohenstein beruft sich dabei auf Sätze aus dem Corpus Juris und auf die zeitgenössischen Rechtsgelehrten Carpzov und Menochius. Auch in Stielers Der Teutsche Advokat wird im Kapitel über die »facta involuntario/ oder wiederwillige Handlungen« eigens darauf verwiesen, daß nicht nur durch Gewaltanwendung und Befehl, sondern auch »teils durch Einrahten und Überreden/ teils durch Bitten« Zwang ausgeübt werde, ja daß »die heftige Überredungen/ wenn man nicht nachlasset/ sondern treibet und reizet/ einer Gewalt verglichen werden.«154 Damit erhalten natürlich die rhetorisch aufwendigen Verführungs- und Beratungssreden in den Dramen über die Vermittlung bloßer rhetorischer Fertigkeiten hinaus zusätzliches Gewicht. Die Wortgewaltigen teilen sich die Verantwortung für die Katastrophen der Trauerspiele mit den Machthabern, die damit zumindest graduell entschuldet werden: Sultan Soliman erklärt sein Todesurteil unter dem Druck des Mufti; Antonius läßt den Gesandten Artabazes töten, wozu er von Cleopatra geradezu erpreßt wird (C11/414ff); Nero wird von Poppaea dazu gedrängt, Octavia zu verstoßen und Agrippina hinzurichten (A 11/131 ff); Masanissa gerät zunächst unter den Druck Sophonisbes, dann unter den Druck der Reden Scipios; und Sultan Ibrahim vergreift sich erst an Ambre, nachdem er von Sekierpera dazu beredet worden ist (IS I/319ff). Von außen kommende Zwangslagen könnten, so Lohenstein in De voluntate, den frei verantworteten Willen nur dadurch einschränken, daß sie die den Willen steuernde Vernunft beeinträchtigen. Da Schuld für Lohenstein nicht vom Handlungserfolg, sondern von der Absicht, ein Delikt zu begehen oder zuzulassen, abhängt, setzt sie Bewußtsein voraus. Schuld ist also Bewußtseinsschuld und nur dem zuzurechnen, der im Besitz von Vernunft ist. Andernfalls, so Lohenstein im Armim'iw-Roman, »würde man auch nicht alleine dis/ was uns wider unsern Willen träumet/ loben oder schelten/ sondern auch die Wölffe und Raub-Vögel aufhencken/ [...] die Turtel-Tauben mit Rosen/ die [...] Bienen mit Eichen-Laube kräntzen müßen.« (Arm. I/1347a) Lohenstein spielt mit diesem Zitat an auf einen im alten deutschen, teils auch im Römischen Recht praktizierten Grundsatz, nach dem auch Tiere unter Umständen Verbrechen begehen können und folglich bestraft werden müssen, was vor allem für den damals häufig geahndeten Tatbestand der Sodomie von Belang war. Die in Breslau vertretene Auffassung, nach der nur der Mensch strafbar sein könne, weil nur er fähig sei, bewußt zu wollen, hatte sich durchaus noch nicht als selbstverständlich durchgesetzt. Das geht schon daraus hervor, daß Carpzov eine Mittelposition einnimmt, indem er bei Sodomie nach altem Brauch die Tiere noch töten läßt, dies 153

154

Lohenstein: De voluntate VII,4, S. 11: »Metui compulsionique similisest Persuasio [...] Et quodammodo compellitur, qui assiduis precibus sillicitatur. [...] Immo interdum persuasio ad malum plus est, quam violenta compulsio. [...] Adeoque etiam propterhanc contingentiam voluntas subside! in gradu aliquo remissori. [...] Hinc etiam propter importunas & crebras flagitationes, quibus tandem aeger expugnatur, ut regragari amplius non possit, testamentum factum vitiatur.« Stieler: Der Teutsche Advokat, S. 295, S. 297.

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aber nicht mehr als Strafe bewertet, sondern als Beseitigung eines Gegenstandes, der als Ärgernis an ein anstoßerregendes Verbrechen erinnert.155 Es geht Lohenstein hier aber nicht um diesen Tatbestand, sondern um die Frage der ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT generell. Und diese wiederum gehört zu den Errungenschaften, die das gelehrte Recht wiederentdeckt hatte. Einmal mehr in Anlehnung an Aristoteles, begründet Grotius seine Lehre von der Gültigkeit zivilrechtlicher und staatsrechtlicher Verträge auf die Bedingung ihrer bewußten Abwicklung: Zuerst gehört dazu der Gebrauch der Vernunft. Deshalb können Wahnsinnige, Blödsinnige und Kinder nichts versprechen. [...] Die Frage des Irrtums bei Verträgen ist sehr verwickelt. [...] Nicht minder verwickelt ist die Frage, welche Wirkungen es hat, wenn Furcht ein Versprechen beeinflußt.156

Carpzov wendet das gleiche Prinzip auf das Strafrecht an. Sehr ausführlich und fast weitschweifig behandelt er die Strafmilderungsgründe am Ende seiner Pracüca nova f . . . ] rerum criminalium, und er schenkt dabei seine Aufmerksamkeit vor allem der verminderten Zurechnungsfähigkeit, die das alte Recht überhaupt nicht gekannt hatte. Lohenstein stimmt bei der Aufzählung entlastender Arten von Unzurechnungsfähigkeit mit der Darstellung Carpzovs überein: Wichtigste den freien Willen einschränkende Kraft, so Lohenstein in De voluntate, sind nicht Zwang, Befehl, Gewalt, sondern die durch sie ausgelöste Furcht: »Nichts ist dem freien Willen so entgegengesetzt wie die Furcht.«(Ü)157 Furcht sei die Innenseite dessen, was von außen als Notstand und aktiv als Notwehr erscheint. Als das Bewußtsein einschränkend nennt Lohenstein dann generell die Leidenschaften, und zwar sowohl die abweisenden als auch die anziehenden.158 Das ist natürlich nichts Neues, sondern seit der Stoa allgemeines Gedankengut. Neu aber ist, daß Lohenstein dies zur Entlastung von zunächst Schuldigen anführt. Er nennt als Beispiel den Zorn: Zorn löst gleichsam eine innere Entfremdung aus und verwirrt den Geist; deshalb ist ein Mensch während eines Zornausbruchs nicht voll im Besitz seines Verstandes. [...] Die Gesetze verfolgen das nicht so sehr, was aus der Hitze des Jähzorns geschieht.[...] So kann auch der , der aus einer hitzigen Unbesonnenheit heraus Anklage erhebt, diese zurückziehen und unterliegt nicht der Strafe wegen Verleumdung.(Ü)

Wiederum läßt sich auf Aristoteles verweisen, der in der Nikomachischen Ethik genauso argumentiert:

155 156 157 158

159

Vgl. Lindgen: Die Breslauer Strafrechtspflege, S. 35; vgl. Lobe: Die allgemeinen strafrechtlichen Begriffe, S.7f. Grotius: De Jure belli ac pacis, 11,11,5-7. Lohenstein: De voluntate, VII.3, S. 10: »nihil voluntati tarn contrarium ac metus.« Lohenstein: De voluntate VII,8, S. 12: »Et haec quidem porro procedunt in reliquis Affectibus & Appetitibus tarn irascibilibus quani concupiscibilibus; ut horum impetus voluntatis integritatem aliquo modo, modo plus, modo minus imminuat.« Lohenstein: De voluntate VII,6, S. 11: »Ira mentis alienationem quasi inducit, rationemque perturbat, [...] homo iracundia incensus non est in plenitudine Intellectus; [...] leges non adeo attendunt, quae ex calore iracundiae fiunt. [...] Ita etiam ex temeritatis calore accusans abolitionem petere potest, nee calumniae poenae tenetur.«

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Wenn man mit vollem Wissen, doch ohne vorauf gegangene Überlegung handelt, so ist das ein Akt der Ungerechtigkeit, z. B. alles, was aus Zorn oder anderen Affekten gefehlt wird, die mit dem menschlichen Wesen notwendig oder von Natur verknüpft sind. Denn indem man in dieser Weise schädigende und falsche Handlungen vollzieht, begeht man Unrecht und Akte der Ungerechtigkeit, aber der Täter ist deswegen noch nicht grundsätzlich ungerecht und ein schlechter Charakter, weil ja die schädigende Tat nicht im schlechten Charakter begründet ist. [...] Daher gilt mit Recht eine Affekthandlung vor Gericht nicht als eine Tat, die mit Vorbedacht geschehen ist: Am Anfang der Tat steht hier ja nicht der vom Affekt Überwältigte, sondern der andere, der ihn in Zorn gebracht hat. ^

Man hat dies in Beziehung zu setzen zur Poetik des Aristoteles. Das Interesse der Tragödie, so heißt es dort im 6. Kapitel, liege nicht in der Darstellung und Beurteilung eines individuellen Charakters, sondern in der Darstellung von Handlungen, deren Beurteilung sich gerade nicht erschöpft in der grundsätzlichen Verurteilung eines Charakters. Eine Handlung eigne sich dann für die Tragödie, wenn jemand nicht »durch Schlechtigkeit und Gemeinheit ins Unglück gerät, sondern dies erleidet durch irgendeinen Fehler.«161 In der Einschätzung der tragischen Schuld als einer Schuld, die den Schuldigen nicht verdammt, sondern ihn bemitleidenswert macht und für die er in gewisser Weise sogar entschuldigt werden kann, ist Lohenstein wohl der erste deutsche Aristoteliker und ein Vorläufer Lessings. Daß er Jurist ist, ist dabei nicht unerheblich. Lohensteins De voluntate mit ihren vielfältigen Verweisen auf die Ethik des Aristoteles ist ein Beleg dafür, daß die Wiederentdeckung des aristotelischen Schuldbegriffs im Drama zusammenhängt mit der Entwicklung der neuzeitlichen Rechtskultur. Der Begriff der tragischen Schuld ist, wie der Blick auf die Ethik des Aristoteles zeigt, schon bei ihm auch ein juristischer Begriff gewesen. Und als solcher wurde er seit dem Humanismus zuerst von den gelehrten Juristen rezipiert. Wenn seit dem 16. Jahrhundert der >dolus impetus< als >minor dolus< im Sinne von Fahrlässigkeit angesehen wurde, wenn seitdem eine unter Affekt begangene Handlung milder bestraft wurde,162 wenn dann Carpzov den weder im alten deutschen, noch im Römischen Recht bekannten Begriff der Zurechnungsfähigkeit einführt und in seiner Practica nova [...] rerum criminalium den aus objektiven Gründen Jähzornigen oder auch den aus subjektiven Gründen Melancholischen nicht mehr als fahrlässig Handelnden, sondern erstmals als Menschen ansieht, der von heftigem Schmerz bewegt, nicht in vollem Vermögen seines Bewußtseins steht,163 so daß seine Taten ihm nicht voll zuzurechnen seien, dann liegt dem jener aristotelische Schuldbegriff zugrunde. Sieht man die Dinge im Zusammenhang, isoliert man nicht die Poetik von den 160 161 162 163

Aristoteles: Nikomachische Ethik, Eth. V,10. Aristoteles: Poetik, Art. 13. Vgl. Carolina Art. 137, vgl. Nass: Wandlungen des Schuldbegriffs, S. 68. Carpzov: Practica nova, Qu. CXVII,41-43: »dificillimum est, iustum calorem temporare, homo intenso dolore permotus non est in plenitudine intellectus« Qu. CXLV,53-54: »Melancholici vero sunt homines desperatae et emotae mentis, absurda et tristia sibi fingentes et dicentes.« (Zit. nach Lobe: Die allgemeinen strafrechtl. Begriffe, S. 59) Vgl. auch Lindgen: Die Breslauer Strafrechtspflege, S. 38.

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übrigen im Humanismus sehr wohl rezipierten Werken des Aristoteles, mißt man Lohensteins Drama nicht an dem meist Spärlichen, was die zeitgenössischen Poetiken über das Trauerspiel schreiben, sondern am auf der antiken Tradition begründeten Schuldbegriff der Jurisprudenz, dann fungieren die bei ihm dargestellten Affekte nicht, wie noch durchgehend im Märtyrerdrama, als Indiz für Lasterhaftigkeit und Schuld, sondern gerade umgekehrt als potentieller Grund für Entlastung der Handlungsträger. Außersichsein (»mentis alienatio«)164 bestimmt das Handeln des in Isabella verliebten und über die Flucht seines engsten Vertrauten Ibrahim wütenden Sultan Soliman. Nero, ursprünglich ein guter Fürst (AI/30ff), wird von Otho gereizt, der ihn arm nennt, weil er von niemandem, auch von seiner Gattin nicht, geliebt werde (A I/70ff), so daß er später den Verführungen von Poppaea und Agrippina erliegt. Und sein Wüten gegen Agrippina ist mehr noch als von Angst um den Thron vom Zorn darüber ausgelöst, daß ausgerechnet die eigene Mutter ihn bedroht: Schlag Donner! Wo in Rom solch eine Wölffin lebt. Welch Drache frist sein Kind? Welch Wurm erbeißt die Jungen? Wenn hat ein Panther-Thier je seine Frucht verschlungen? Entmenschtes Mutterhertz! Vergiffte Raserey! (A 1/166ff)

Nicht nur Angst, sondern mehr noch Wut auf Rom, das stets Gewalt vor Recht ergehen läßt, bestimmt das politische Handeln von Antonius, Cleopatra und Sophonisbe. Wut gegen Antonius, der sie nicht mehr ins Vertrauen zieht, macht Cleopatra zur indirekten Gattenmörderin. Am deutlichsten wird die Unzurechnungsfähigkeit in der Person des Antonius sichtbar. Nicht allein die vielen auf ihn hereinströmenden Katastrophen und die in seiner Notlage wachsende Furcht, die ihn zwischen Melancholie und Wut schwanken läßt, nicht allein die durch Augustus bedrohte Liebe zu Cleopatra versetzen ihn in die Lage, in der er »Verwirrt [...] nichts vernünftig ordnen kan« (II/647f): Lohenstein bringt für die Beurteilung seiner Zurechnungsfähigkeit noch weitere Argumente auf die Bühne: Zu den von der zeitgenössischen Jurisprudenz und auch in De voluntate genannten Ursachen der Unzurechnungsfähigkeit gehört auch der Zustand der Trunkenheit. Der römische Gesandte Proculus erklärt sich des Antonius Festhalten an Cleopatra wider jede politische Vernunft durch den Einfluß von Drogen: Es geht mit Krautern zu/ er muß durch Liebes-Träncke Bezaubert worden sein; daß er ein solch Geschäncke Mit Füssen von sich stößt; sich der Vernunfft nicht braucht/ In seiner Schwelgerey so Stärck' als Witz ausraucht. (C11/525 ff)

Und in der Anmerkung hierzu verweist Lohenstein auf Plutarch, der berichte, daß Antonius mit einem überlegenen Heer gegen Asien gezogen sei, aber viele militärische Fehler begangen habe. »Denn sein Gemüthe were von Artzneyen und Zaubereyen gantz verrückt gewest.« Ferner habe Augustus ihn einmal gegenüber dem Römischen Rat verteidigt: »Anton were wegen eingenommener Liebes-Träncke nicht mehr bey sich selbst.« 164

Lohenstein: De voluntate, VII,6, S. 11.

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Juristisch wichtiger ist der die freie Willensentscheidung beeinträchtigende IRRTUM. Unter Hinweis auf die in diesem Punkt bereits äußerst differenzierten römischen Gesetze und auf die Bedeutung des Irrtums im Vertragsrecht Grotius' widmet Lohenstein ihm breiten Raum im letzten Artikel von De voluntate. Unter zwei Voraussetzungen mache der Irrtum eine Handlung zur unfreiwilligen: dann, wenn er die Grundlage betrifft, von der der Wille bzw. die Absicht sich herleitet, und dann, wenn die Handlung ohne den Irrtum nicht begangen worden wäre. Beides trifft auf den Selbstmord des Antonius zu, so daß ihm sein Selbstmord nicht voll angerechnet werden kann. Irrtum verleitet auch Cleopatra, diesen Selbstmord anzuregen. Sie nämlich geht davon aus, daß Antonius mit Augustus gemeinsam gegen sie arbeitet. Überall dort, wo in den Dramen Verstellung und Täuschung als Waffen eingesetzt werden, ist auf der Gegenseite Irrtum die mögliche Folge und entlastet den Getäuschten. Selbst wenn Sophonisbe ihren Dolch auf den verkleideten Syphax richtet, entlastet sie der Irrtum in gewissem Sinne, und ihr Erschrecken beim Erkennen des Syphax unterstreicht das. In De voluntate erklärt Lohenstein, daß nach römischer Rechtsprechung ein Irrtum in der Person unter Umständen eine Straftat als ungewollt ausweisen könne. Carpzov behandelt diesen Gesichtspunkt des Römischen Rechts anhand des Verwandtenmords: Da zu diesem Delikt die Kenntnis der Verwandteneigenschaft gehöre, werde derjenige, der aus einem Irrtum heraus handelt, nämlich in Unkenntnis der Verwandtschaft dessen, den er tötet, nur mit der einfachen Stafe für Tötung, nicht mit der für Verwandtenmord bestraft.165 Sicherlich hat man dabei an den antiken Mythos zu denken, an Ödipus etwa, sowie an die Hamatia der aristotelischen Tragödientheorie,166 wie sie in der eigentlich ersten wirklichen Tragödienpoetik deutscher Sprache zu finden ist, die den Dramen Lohensteins sehr nahe kommt: Albrecht Christian Rotth (1651-1701) fordert für die Person der Tragödie, Daß sie nicht aus Boßheit (per pravitatem) sondern vielmehr aus Irthum in solchen Unfall gerathen muß. Jedoch ist zu weilen ein allzuhefftiger affect, als Zorn/ Liebe etc. so bewant/ daß er dem Irthum gleich kan gehalten werden/ weil als denn/ was geschieht/ auch nicht eben deliberato animo geschiehet. [...] Ist aber kein Irthum oder Versehen bey dem protagonistae . . . ] so ist derselbe bey dem jenigen/ der ihn abstrafft/ in dem er meint/ daß ers werth sey.167

Die Entwicklung des juristischen Schuldbegriffs und der dazu gehörenden Lehre von der Strafminderung mangels Zurechnungsfähigkeit vermag jedenfalls das erneute Interesse an der aristotelischen Tragödientheorie besser zu erklären als die These der Säkularisierung. Es ist nicht wahr, daß christliche Ethik und die Vorstellung von tragischer Schuld sich widersprechen müssen. Spätestens seit Thomas von Aquin verbinden sich beide. Hier wie dort gibt es die nicht zu diskutierende Schuld des Bösewichts. Hier wie dort aber interessiert vor allem die entschuldbare Schuld, 165

166 167

Carpzov: Practica nova, Qu. XVIII,15; vgl. Lobe: Die allgemeinen strafrechtlichen Begriffe, S. 15. Aristoteles: Poetik, Kap. 13. Rotth: Vollständige Deutsche Poesie/ in drey Theilen, III. Leipzig 1688, S. 212, zit. nach: Poetik des Barock, S. 215.

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die Irrtumsschuld, die auf Fehleinschätzungen des Handelnden beruht. Die Frage ist für die aristotelische Tragödie wie für Thomas von Aquin, für die Beichtjustiz und schließlich für das differenzierende Rechtswesen, wieweit der Irrende für seinen Irrtum verantwortlich zu machen ist. Thomas unterscheidet zwischen den Grundsätzen des Naturrechts, die allen Menschen von Natur her bekannt sein müssen, und den Ableitungen, den geschriebenen Gesetzen der verschiedenen Staaten und Zeiten, die den jeweils veränderten Situationen entsprechend gelten und nur von Kundigen beherrscht werden können. Sowohl das von den Staaten entworfene Recht als auch die in diesen Rechtssystemen Lebenden könnten daher irren. Schuldhaft sei Irrtum dann, wenn man selbst unterlassen habe, sich zugängliche Erkenntnis zu schaffen, wenngleich diese Schuld geringer sei als die Schuld aus bösartiger Absicht. Schuldlos dagegen sei der, der in nicht vermeidbarem Irrtum handle. Für das Verständnis Lohensteins ist von Belang, daß Thomas gerade in den nach christlicher Vorstellung grundsätzlich verwerflichen Fällen von Selbstmord und Meineid unter Umständen unüberwindlichen Irrtum und damit Schuldlosigkeit für möglich hält. Die große moraltheologische und zugleich juristische Bedeutung der thomistischen Irrtumslehre liegt in ihrer Wirkung auf das neuzeitliche profane Naturrecht. Bis in die Beispiele hinein lehnt sich Grotius an Thomas an und vollzieht so den Bruch mit der römischen Rechtsirrtumslehre, nach welcher Unkenntnis nicht vor Strafe schützte: Wie wir also gegenüber den bürgerlichen Gesetzen jene entschuldigen, die die Kenntnis der Gesetze oder den Verstand nicht haben, so entspricht es diesem, daß man gegenüber dem Naturrecht die entschuldigt, die durch Verstandesschwäche oder schlechte Ausbildung behindert sind. Denn wie das Delikt durch unvermeidliche Rechtsunkenntnis ausgeschlossen wird, so wird es durch schuldhafte Rechtsunkenntnis gemildert.168

Somit konnte Johannes Chrysostomos Philippinus 1678 von den »privilegiis ignorantiae« sprechen.169 Thomas maß gar dem schuldlos irrenden Gewissen verpflichtende Kraft bei: Wer etwa aus schuldlos irrendem Gewissen annimmt, der christliche Glaube sei schlecht, sei seinem Gewissen verpflichtet, sich vom Christentum fernzuhalten.170 Staats- und völkerrechtlich relevant wurde dies im Umgang Spaniens mit den amerikanischen Eroberungen. Francisco de Vitoria (1483-1546) entwickelte auf der Grundlage des Thomismus in seinen Vorlesungen eine neue Konzeption des Völkerrechts. Während die Kronjuristen Karls V., dem imperialen Gedanken entsprechend, alle Völker rechtlich dem Kaiser unterstellten, sah er in seinen Vorlesungen Relectio de Indis auch die heidnischen Völker als selbständige Rechtssubjekte an mit dem Anspruch auf eigene Gesetzgebung und eigene Religion. Im 17. Jahrhun16« Grotius: Prolegomena zu De lure belli acpacis Nr. 39 - vgl. Welzel: Vom Irrenden Gewissen, S. 12. 169 Philippinus: De privilegiis ignorantiae, Bd. I Venedig 1678, Bd. II Wien 1692, vgl. Welzel: Vom Irrenden Gewissen, S. 10. 170 Vgl. Thomas v. Aquin: Summa Theologica 1,2, qu. 19,5, vgl. 9ff.

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dert wurde diese Auffassung durch Grotius weit verbreitet. An haeresis sit crimen (1697), so lautet ein Traktat von Christian Thomasius, nach dem Irrglauben ein Verstandesfehler sei, der mit dem Willen nichts zu tun hat und daher straffrei zu bleiben habe. Natürlich spielte diese erkenntniskritisch begründete Toleranz in einer Handelsstadt wie Breslau keine geringe Rolle, zumal damit ja auch das Problem der innerchristlichen Religionskonflikte mit angesprochen war. Lohenstein suchte offenbar geradezu literarisch Gelegenheiten, sich mit fremden Kulturen auseinanderzusetzen. Symptomatisch ist Sophonisbe mit den Szenen, in welchen die Kinder der Königin den Göttern geopfert werden sollen, bzw. Gefangene schließlich geopfert werden. In den Anmerkungen wird über die grundsätzliche Verurteilung der Handlungen durch den Autor kein Zweifel gelassen. Lohenstein nennt den heidnischen Kult »ein Greuel/ oder eigentlich eine Abgötterey« (Anm. zu S1/378). Er beruft sich dabei auf das 1645 gedruckte Buch des Julius Firmicus Maternus (4. Jahrhundert) De religionum profanarum errore. Ähnliche Vorwürfe der Grausamkeit und Abgötterei erhebt er auch gegen die Juden, die amerikanischen Ureinwohner, selbst gegen die Germanen und Römer (Anm. zu S I/ 383). - Dennoch: das Drama selbst spricht eine andere Sprache als die (vielleicht nur gegen Kritik absichernden) Anmerkungen. Im Drama werden die Menschenopfer aus der Sicht der Handelnden dargestellt unter Achtung ihres guten Glaubens, recht zu handeln: In Ernst und »Andacht« bereitet Sophonisbe das Opfer ihrer Kinder vor, in der Hoffnung, die Göttin möge die »Betende [...] hören.« Unter Hinweis auf Kinderopfer, mit welchen die verschiedendsten Völker ihre Götter versöhnt haben, betet sie: Errette Kaber uns/ du Schutzstern dieser Stadt! Baaltis höre mich/ weil man dir allzeit hat Hochedles Menschen-Blutt und Kinder-Fleisch gewehret: Daß es dein glüend Bild verbrennt hat und verzehret. Schau/ Göttin/ gleich sich dir zwey meiner Kinder stelln. Im fall ihr schmeltzend Leib sol deine Flamm' erhelln/ Eröfne deinen Heisch mit den gewohnten Strahlen. (S 1/381 ff)

Die auch in der Anmerkung erwähnte Parallele zum biblischen Opfer Isaaks durch Abraham (Gen 22,1-18) ist evident. Die Mutter beklagt das Opfer ihrer Kinder, sieht es aber als Gehorsamspflicht gegenüber den Göttern an (S 1/414,430ff). Wie in der Bibel Abraham wird hier Sophonisbe durch einen Eingriff der Götter, durch Blitz, Erdbeben und das überraschende Eintreffen des Syphax, am Kinderopfer gehindert. Wie Isaaks Rettung als Humanisierung des Opfergedankens im Alten Testament verstanden wurde, so begreifen die Dramenfiguren nun, wie falsch ihre Form der Andacht trotz guter Absicht war: »thöricht« nennen sie nun ihr »schnödes Opfer« und beklagen den Mangel an Einsicht: O Blindheit der Vernunft/ die nur hat Maulwurffs-Augen/ Wenn sie schon Luchs wil sein. Wir albern Götzen taugen Nicht für's Verhängnüsses umbwölckten Richterstul! (S 1/447ff) 470

Um das Problem zu verdeutlichen, wiederholt Lohenstein es in gesteigerter Weise: Um »Gott und Andacht« nicht zu vergessen, den Göttern also zum Dank, werden nun Gefangene geopfert. Deren Fluch gegenüber der verbrecherischen Tat - »Verdammter Gottes-Dienst! verteufelt Götzen-Haus!« - steht in krassem Gegensatz zum subjektiven Ernst, dem feierlichen Kult und religiösen Impetus, mit dem das Opfer bereitet wird: Man wird euch siedend Ertzt auf Brüst und Glieder speien/ Wo ihr das Heiligthumb meint fluchend zu entweihen. Da ihr ein Wort noch sprecht/ ersäuft euch Hellen-Kwal. Laßt euch mit Meyen-Thau besprengen sieben mal. Laßt euch Stirnarme Sünden erkennt den Zusammenhang zwischen seiner 13

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15 16

Luther: Ein Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (1519), (WA 2,136ff), zit. nach: Luther: Die reformatorischen Grundschriften, Bd. 2, S. 55ff. Klaj: Redeoratorien und Lobrede der Teutschen Poeterey, hg. v. Conrad Wiedemann, Tübingen 1965, vgl. das Nachwort des Herausgebers, S. 11; vgl. auch Klajs Trauerspiel Der leidende Christus (1645), das Hugo Grotius' Drama Christus Patiens zur Vorlage hatte. Wiedemann: Johann Klay und seine Redeoratorien, S. 131 f, vgl. S. 91 f. Lohenstein: Geistliche Gedancken, S. 127-139. 493

Tat und Christi Leiden, bekehrt sich und vertraut darauf, daß Gott mit ihm nicht »nach der Schärffe // Und nach strengem Recht« verfahren werde, daß er vielmehr »am Kreutz in Jesus Wunden // Port und Paradiß«17 finden werde. Nicht nur damit, daß er einen >armen SünderDiszipliniert< im Sinne des von Oestreich für den Staat der frühen Neuzeit geprägten, von anderen oft überstrapazierten Begriffs21 hat man sich vor allem in den Städten die Rechtswirklichkeit des 17. Jahrhunderts nicht vorzustellen. Allenfalls konnte man dort eine instabile »Balance« zwischen Volk und Obrigkeit herstellen,22 innerhalb deren der »Regulierungssucht« von selten der Obrigkeit spürbarer Widerstand der Bevölkerung entgegenwirkte. Das gilt auch für das Breslau Lohensteins, das 1669 ein Zucht- und Arbeitshaus errichtete, jedoch mit wenig Erfolg. »Immer neue Verordnungen zur Disziplinierung und Reglementierung des städtischen und staatlichen Lebens wurden erlassen, beschworen und - nicht befolgt.«23 Im Falle Breslaus kommt noch hinzu, daß in Konkurrenz zum städtischen Gerichtswesen unmittelbar vor den Toren der Stadt das bischöfliche Gericht mit anderen gesetzlichen Grundlagen und Praktiken Recht sprach. Außerdem mußte die Stadt fürchten, das Privileg eigener Rechtsprechung - die anderen schlesischen Stände waren dem königlichen böhmischen Gericht unterstellt - zu verlieren, wenn sie den Rechtsfrieden nicht wahren konnte. 24 Innerhalb des ständig gefährdeten Rechtsfriedens konnte das Drama Funktionen übernehmen, die die großen Hinrichtungsschauspiele nicht oder nicht genügend bewältigen konnten. Durch die historische Distanz des Dramenstoffes und die ästhetische Distanz25 spielerischer Unverbindlichkeit war es möglich, sozial und politisch relevante, aber einander widerstreitende Werte wie Recht und Macht, Gerechtigkeitsgefühl und Gesetz, Normanspruch und Normbruch, monarchische und republikanische Gesellschaftsmodelle, Loyalität und Resistenz in ihrer wechselseitigen Spannung zu artikulieren. Von aktueller Verbindlichkeit gelöst, konnten diese Werte gegenübergestellt, ohne Schaden umgestellt und umgestaltet werden, konnten neue Relationen entworfen und wieder verworfen werden, konnte man sich der tatsächlichen gesellschaftlichen Situation annähern und sich von ihr entfernen, ohne die Gefahr, die soziale Lebenspraxis durch Verunsicherung oder gar Aufhebung ihres Wertsystems zu erschüttern. Während die Hinrichtungsliturgie Geschlossenheit und Konfliktlosigkeit, Übereinstimmung zwischen Obrigkeit, >armem Sünder< und Bevölkerung, ausschließlich harmonisierende Elemente also, zeigen durfte, konnten die Dramen gerade die in der Realität verdrängten Konflikte artikulieren. Lohensteins Trauerspiele sind angelegt, die von der Obrigkeit so gefürchteten Emotionen zunächst einmal zu erzeugen, und zwar sowohl gegenüber den auf der Bühne zum Tod Verurteilten wie gegenüber deren Richtern. Blutrün21

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Gerhard Oestreich: Das politische Anliegen von Justus Lipsius' De constantia [...] in publicis malis (1584), in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. Sept. 1971, Bd. I, Göttingen 1971, S. 618-638. Oestreich: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, S. 70ff; Oestreich unterscheidet, was den Grad der Disziplinierung angeht, ausdrücklich zwischen »der Sozialregulierung der Stadt und der absolutistischen Tendenz des Staates« (Oestreich: Policey und Prudentia civilis, in: Stadt - Schule - Universität - Buchwesen, S. 21. Oestreich: Lohensteins Zeit und Umwelt, S. 33. Matthäus: Die Entwicklung der Verfassung und Verwaltung Breslaus, S. 15. Vgl. dazu Jan Mukafovsky: Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten, in: J.M.: Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt/M. 1970, S. 7-112, v.a. S. 104f.

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stigkeit, Hinterlist, Schwere und Häufung der vorgeführten Verbrechen überbieten bei weitem das, was der Städter aus dem eigenen Rechtsleben kannte. Die Fälle, die auf Lohensteins Bühne zu sehen sind, greifen Krisenmomente der Hinrichtungspraxis auf, die zum Unmut der Beobachter führen konnten: Wenn man in Epicharis Seneca daran hindert, sein Testament zu machen und ihm seine Kleidung nimmt (E V/148 ff), so verstößt man gegen Regeln, auf deren Einhaltung das Volk peinlich achtete; der Delinquent durfte nämlich grundsätzlich seine Nachlaßgeschäfte regeln und bei der Exekution selbst gewählte neue Kleider tragen.26 Verhängnisvoll konnte sich für die Obrigkeit ein als Reaktion auf das Todesurteil begangener Selbstmord auswirken; sowohl Lohensteins Sophonisbe wie Cleopatra vollziehen ihn als Protest gegen Roms Übergriffe. Das Volk lastete solche Verzweiflungstaten der Obrigkeit an, weswegen der Delinquent in den letzten Tagen vor der Exekution häufig festgebunden wurde. Auch das Verstummen, wie es Epicharis zeitweise praktiziert, weckte den Verdacht einer ungerechten Verurteilung. Besonders gefährlich wurde die Situation immer dann, wenn der Delinquent gegen das Urteil öffentlich protestierte, die Richter verfluchte und sie vor den Richterstuhl Christi zitierte. Als etwa 1635 ein kaiserlicher Oberst wegen Teilnahme an Wallensteins Verrat verurteilt wurde, griff er das Gericht an: »Den tod müsse er jetzt erleiden und tue es gerne; aber er lade Götz zum jüngsten gericht vor gottes stuhl: da wollten sie es ausmachen.«27 Das Volk glaubte, zumal zunächst selbst Geistliche diese Anrufung des göttlichen Gerichts rechtfertigten, an die Wirkung derartiger >Vorladungen. Sie sind vielfach überliefert, v. a. aus dem 16. Jahrhundert. Im 17. Jahrhundert versuchte die Obrigkeit, sie, da zur Verteidigung gegen die damit erhobene Anschuldigung keine Rechtsmittel vorhanden seien, zu verbieten und eigens zu bestrafen - mit wenig Erfolg. Wie später Lessing in Emilia Galotti (V/8) und Schiller in Fiesco (V/6) greift Lohenstein, allerdings in konkreterem Bezug als jene, diese Praxis der verbalen Gegenanklage von Verurteilten auf: in der letzten Szene von Epicharis - die Anmerkung verweist auf zeitgenössische Verurteilte, »die ihre Richter fürs Jüngste Gerichte geladen« - drohen Scevinus und Epicharis damit Nero: Scevin. Wol! wiße: Daß ich ihn für Minos Richtstul lade. Epichar. Versichre dich: Es sol nicht Jahr und Tag vergehn/ Wird sein verzweifelt Geist mit Zittern dir gestehn/ Und fühln: Daß seine Seel auch dort noch Hencker finde/ Ob sein Gewißen sie schon itzt in sich empfinde. (E V/708 ff)

Nero, der »Bruder-Hencker«, »Mutter-Mörder« »Mordbrenner« (EIV/431ff), wird systematisch zum Buhmann des Publikums aufgebaut. Man stelle sich vor, wie am Schluß von Epicharis die Volkswut auf die Spitze getrieben wird, wenn Nero, umgeben von seinen Henkern und fünf Leichen, darunter der des Publikumslieblings Epicharis, triumphierend das Schlußwort des Dramas spricht: 26 27

Vgl. van Dülmen: Theater des Schreckens, S. 85. Zit. nach: Ebd. S. 59f.

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Der Meyneyd fällt in Grund/ der Käyser hat den Port/ Die Götter haben selbst den wilden Schwärm zertrennet. [...] Hinfort sol der April des Nero Monath heißen/ Scevinus Wohnung muß man bis in Grund abreißen; In eine Marmer-Seul ihr Schelmstück graben ein. Dem Rächer Jupitern Scevinens Dolch hier weihn/ Dahin/ wo er ihn stahl/ dem Heile Tempel bauen/ Auf Ceres Fest hinfort mehr Pferde-rennen schauen/ Der Sonne Gottheit ehrn/ die uns erfreut entdeckt/ Was in der schwartzen Nacht vergifter Hertzen steckt. Erkwicket Welt und Rom mit tausend Freuden-Zeichen/ Den Göttern opfert Vieh/ dem Tyber diese Leichen. (E V/738 ff)

Während hier die Emotionen am Dramenende dadurch noch einmal aufgeheizt werden, daß der ungerechte Richter seine Macht triumphierend ausspielt, läßt Lohenstein durch das nicht weniger spektakuläre Ende von Agrippina das Publikum über den ungerechten Richter triumphieren: Völlig aus der Fassung, sucht Nero sein Heil bei den schaurigen Beschwörungen eines Zauberers, wird aber dadurch nur noch unruhiger und fällt in Ohnmacht. Die Furien und die Geister zweier anderer Muttermörder treten als Reyen hinzu, um seine Seele zu quälen. Es verwundert bei derartiger Emotionalisierung nicht, spricht aber für die soziale Bedeutung solcher Dramen, daß auch ihre Aufführung immer wieder zu Ausschreitungen führte, so daß man noch während Lohensteins Amtszeit dazu überging, sie nur noch zur Lektüre zu verwenden. Ankreiden kann man die Fülle von Gewalt und Emotion Lohensteins Dramen im Sinne der Manierismuskritik der Aufklärung, die bis heute ihre Nachfolger findet, nur dann, wenn man die kathartische Funktion für das Rechtssystem verkennt und die innerhalb der Dramenstruktur gegensteuernden Kräfte übersieht.28 Die Emotionalisierung ist nämlich nur der erste von zwei intendierten Schritten der Rezeption. Sie verleiht dem Unbehagen der Bevölkerung gegenüber einer Obrigkeit Ausdruck, unter welcher Straftaten unbehelligt bleiben oder Richter ungerecht und grausam urteilen. Aber bei dieser Funktion des Ventils bleibt es nicht. Sie ist nur die Vorstufe für das eigentliche Ziel. Wie die Betrachter des Strafvollzugs, so sollen auch die Zuschauer der Dramen ihre »Vernunfft über ihre Gemüths-Regungen brauchen lernen.«(Arm. II/455a) All das, was das staatliche Rechtsprechungssystem der Bevölkerung an juristischer Ethik und Rationalität vorenthält, können die Schüler bzw. die Zuschauer 28

Schings beschreibt Lohensteins Trauerspiele als »eine Welt entfesselter, exotischer Hektik, ein düster-manieriertes Panoptikum von Gewalt und Leidenschaft, deren hitzige Eruptionen freilich in eigentümlichen Kontrast stehen zu der kühlen Distanz, aus der sie beobachtet und analysiert werden.« Lohensteins Dramen seien Rückzug aus der moralischen Verbindlichkeit, die Gryphius vermitteln wollte, Umgehen von »Unruhepotential«, »Lektionen zur politischen Praxis im Namen der prudentia« und damit letztlich »politische Lehrstücke zur absolutistischen Staatstechnik und Herrschaftspraxis«. Er schaffe damit Distanz zu seinen Helden, entlasse sie aus der von Gryphius bekannten »Appell- und Nachahmungsfunktion« und halte damit »sich und seinem Publikum den Ernstfall und die Unbedingtheit des Märtyrerdramas vom Leibe«. (Schings: Constantia und prudentia, S. 420ff.) 497

durch das Dramengeschehen in vereinfachter Form nach vollziehen: sie sind gleichsam aufgerufen, die Richterrolle einzunehmen und lernen die Grundsätze des Römischen Rechts und des christlichen Naturrechts kennen; sie gewinnen Verständnis für das Schuldigwerden von Menschen und auch Verständnis für politische Zwänge, die zu Rechtsbrüchen führen; sie erleben am Beispiel der agierenden Figuren und als Beobachter von unübersichtlichen und ständig wechselnden Situationen und Abläufen die Schwierigkeiten des Urteilens und das Gebot vorsichtiger Zurückhaltung. Lohenstein erzeugt also im Namen der städtischen Obrigkeit, als deren Teil er und sein Drama ja wohl verstanden wurden, mit seinen Texten ein Bewußtsein von Gerechtigkeit, das Emotionen gegenüber den Gerichtsinstanzen und gegenüber den Straftätern zugleich entgegensteuert, ein Bewußtsein von Gerechtigkeit, das an die Vernunft und ihre Tugenden Bedachtsamkeit, Geduld und Verständnis appelliert und seine Grundlage letztlich im Gebot der Bergpredigt hat: »Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet werden! Verdammet nicht, so werdet ihr nicht verdammt werden!« (Luk 6,37). Im Arminius hält die angeklagte Ismene in ihrer Gegenanklage dem ungerechten Inquisitor, der zudem Priester ist, dieses Ideal christlicher Gerichtsbarkeit entgegen: Wo ein böses Hertz wäre/ wäre auch ein böses Auge/ und ein böses Gehöre. Sein böses Hertz hätte er durch seine Ungebehrdung verrathen/ da er von ihr keine Auslegung ihrer Meinung verlangt/ weniger die ihm angebotene angenommen; da doch jeder Mensch/ zu geschweigen ein Priester/ anderer Vergehungen mit Widerwillen vernehmen/ furchtsam glauben/ mit Schamhaftigkeit mercken lassen/ oder so viel möglich mit Entschuldigung zum besten deuten/ und wenn es ohne Aergernüs geschehen könte/ mit Stillschweigen begraben/ oder doch niemals darüber urtheilen solle/ sonder sich seiner eigenen Schwachheiten dabey zu erinnern. (Arm. II/546a)

In die gleiche Richtung weist die Lob-Schrifft, in der Lohenstein die Jahrhunderte lang währende Stabilität der plastischen Herrschaft auf ihre Pflege des Rechts zurückführt. Auch Georg Wilhelm habe diese Eigenschaft, die »Vermischung der Gerechtigkeit und der Güte«29 besessen. Als Richter habe ihn Demut ausgezeichnet, die ihm sowohl die Einsicht in die Möglichkeit eines Urteilsirrtums als auch die Einsicht in die Grenzen menschlicher Fehlerlosigkeit gegeben habe: Er legte im Rathe alle Meinungen der Räthe vorsichtiger/ als die/ welche Diamanten wiegen/ aufs Gewichte/ denn die Gerechtigkeit ist auch köstlicher als Edelsteine. Gleichwol aber legte er Seinem Fürschlage keinen Stein von Seiner Hoheit bey/ und widerstrebte denen angeführten Gründen des Rechts und der Billigkeit/ sonder das geringste Merckmaal einiger Hartneckigkeit. [...] Kleine Fehler ließ er durch Bereuung/ grosse Verbrechen durch Straffe abbüssen. Jenes also, weil die Schwachheiten dem Menschen angeboren/ ja schwerlich in der Welt ein Mensch so unschuldig ist/ der nicht einen Tod verdienet habe. dieses/ weil zu des Übelthäters Besserung/ und zur Warnigung anderer der Boßheit scharff sein/ eine barmherzige Freundschafft ist/ und den Gestrafften so wol/ als die Sege/ und das glüende Eisen der Aertzte/ den Krancken/ zum besten gereichet. [...] Seine Meinung war fast immer linder/ als die Gesetze/ und für sein Urthel mußten sich auch die Verdammten bedancken.30 29 30

Lohenstein: Lob-Schriffi, fol.G2r. Ebd. fol.F7v-F8r.

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Dieses Ideal einer selbstkritischen und gegenüber anderen Menschen zurückhaltenden Gerechtigkeit ist der rechtsethische Konsens, mit dem zugleich verschiedene Adressaten angesprochen werden konnten: Lohenstein konnte damit an die Vernunft sowohl der Bevölkerung wie der Obrigkeit appellieren; er konnte die oft in den Augen der Bevölkerung zu langwierigen Rechtsverfahren und die manchmal unverständlichen Urteile der Obrigkeit rechtfertigen; er konnte die wissenschaftliche und deshalb volksferne Rechtsprechung als der Komplexität rationalen Urteilens adäquat legitimieren und Einblick in die vielfältige Bildung des Juristen geben. Alles in allem entspricht sein Werk damit dem Interesse, dem in dem Schimpfspruch Juristen böse Christen eingefangenen schlechten Ruf des Juristenstandes eine Selbstdarstellung entgegenzusetzen, wie er sie etwa in dem Grabgedicht an Chrysostomus Scholtz zum Ausdruck brachte: Dieser Jurist und Beamte habe für sich Ewigkeit und zugleich Ruhm erlangt, weil er zu denen gehörte, »Die zur Gerechtigkeit den Weg hier lebend zeigen«,31 eine Formulierung, die Lohenstein wohl auch für sich als Jurist und als Literat in Anspruch nehmen wollte.

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Lohenstein: Hyacinthen, S. 59. 499

Literaturverzeichnis

Abkürzungen:

ASB HABW MSB MUB WUB

= = = = =

Augsburg, Staatsbibliothek Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel München, Bayerische Staatsbibliothek München, Universitätsbibliothek Wroclaw (Breslau), Universitätsbibliothek

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meister [ . . . ] Wie auch dem Hoch-Edelgebohrnen Herrn, Herrn Jacob Born, vornehmen ICto [ . . . ] Appellations-Rath, des Ober-Hof-Gerichts Assessori, der Stadt Leipzig hochverdienten Stadt-Richter [...]. Leipzig 1724 (Reprint Kronberg 1974). FISCHART, Johannes: Affenteuerliche und ungeheuerliche Geschichtschrift vom Leben Rhaten und Thaten der for langen Weilen vollen wolbeschraiten Helden und Hern Grandgusier, Gargantoa, und Pantagruel Königen inn Utopien und Sinnenreich. Etwan von M. Francisco Rabelais Französisch entworfen: Nun aber uberschrecklich lustig auf den Teutschen Meridian visirt, und ungefärlich obenhin, wie man den Grindigen laußt, vertirt, durch Huldrich Elloposcleron Reznem (1575). FRITSCHIUS, Ahasver: Advocatus peccans. Frankfurt a. M./ Leipzig 1678. FURTENBACH, Johann Friedrich: De Metamorphosibus Regnorum et Republicarum, oder von Auffnahm/ Erhaltung und Untergang der Keysertumb/ Königreichen/ Fürstenthumb und Länder. Franckfurt 1656. GEULINCX, Arnold: Ethik oder über die Kardinaltugenden. Übers, und eingel. von Georg Schmitz. Hamburg 1948. GOCLERIUS, Franciscus: Foemina illustris [...] Disputatione Juridica inaugurali [...] Praeside Dn. Eduardo Francisco Goclerio [...] Justus Molradt Bodinus, 1687, Rinthelii. [MSB 4° Diss 159(8] GODET, Louis: Apologie des jeunes avocats avec la recommendation de la poesie et de la nouvelle jurisprudence. Chalos 1613. GROTIUS, Hugo: De jure Belli ac Pacis. Libri tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Übers, u. hg. v. Walter Schätzel. Tübingen 1950. GRACIÄN, Balthasar: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dessen Werken gezogen von D.Vincencio Juan De Lastanosa und aus dem spanischen Original treu und sorgfältig übersetzt von Arthur Schopenhauer.Hg. Arthur Hübscher. Stuttgart 1980 (RUB 2771). GUERET, Gabriel: Entretiens sur eloquence de la chaire et du Parreau. Paris 1666. HARSDÖRFFER, Georg Philipp: Der Teutsche Secretarius. Das ist: Allen Cantzleyen/ Studirund Schreibstuben nutzliches/ fast nohtwendiges und zum dirttenmal vermehrtes Titularund Formularbuch. Nürnberg 1656 (Reprint Hildesheim, New York 1971). HEGENDORF, Christoph: Oratio de artibus futuro jurisconsulto necessariis et frugiferis comparandis ithem Consilium de compendiaria discendi jura civilia ratione, Haganonae 1529 [MUß Jus 455 116] - Dialectica legalis, sive disserendi, demonstrandique ars, ita iuri civili accommodata, ut et nihilominus sit omni studiorum generi usui futura: per Christophorum Hegendorphinum iam ita scripta, ut in tota rerum dispositione atque adeo verbis cum priore editione prorsus nihil conveniat. [...] Lugduni 1536 [HABW 157-24, Jur.(l)] - Rhetoricae legalis libri duo, a Christophoro Hegendorffino, LL. Doctore, in gratiam studiosorum luris civilis, conscripti, et iam recens editi. [ . . . ] (Luneburgi 1540) [HABW 157-24 Jur.(2)] HOFMANNSWAI.DAU, Hofmann von: Gesammelte Werke, Bd. 1,2. Hg. Franz Heiduk. Hildesheim, Zürich, New York 1984 JURISTEN-SPIEGEL. Durch Anleitung des Sprichworts Juristen sind böse Christen. Vor Jahren zur Übung auffgesetzet/ itzo durch guter Freunde Anreitzung allen Neubegierigen zur Ergetzligkeit zum Druck befordert durch Leonh.S. (Leonhard Schritzmeier) v. Meltorff. Hamburg 1666. [MUß 8°Philol.373] KRETSCHMER, Anton: Devoti Character Animi Nominali Viri Magnifici, Nobilissimi, Strenui atque Amplissimi Dn. Danielis Caspari ä Lohenstein/ Dynastae in Kittlau/ Reyssau & Rußkowitz/Jcti famigeratissimi, inclutae Vratislaviensium Reip. Syndici merentissimi etc. Domini ac Maecenatis sui omni obsequiorum cultu devenerandi A. O. R MDCLXXV. d. 3. Januar. St. N. feliciter recurrente Expressus & Francofurdo transmissus ab Observandissimo Lohensteiniani Nominis Cultore Christiano Antonio Chretschmero. Francofurti Ad Viadrum, Typis Johannis Ernesti, Acad. Typogr. (1675).[WUB 547239] KUFSTEIN, Georg Adam: Der christliche Seneca. Frankfurt 1670.

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LAUTERBACH, Wolfgang: Dissertationes academicae, de selectis nobilissimisque juris privati, tarn communis, quam statutarii, argumentis, primum seorsim conscriptae, ac postea ab ipso Auctore, paucis aliis interiectis, in quattuor Volumina, iuxta ordinem alphabeticum, in praefixo cuivis (sie) tomo catalogo conscriptum, coüectae, noviterque, annventibus Lauterbachianis heredibus, Multum Emendation, commodiori, atque Luculentiori Habitu, Summariis Etiam Necessariis Dissertationibus praefixis, recusae (1694/1728). LAYMANN, Paul: Theologia Moralis. In Quinque libros partita. Quibus materiae omnes practicae, cum ad externum Ecclesiasticum, turn internum; Conscientiae forum spectantes, nova methodo explicantur [...] Monachii [...] 1625. LESSING, Gotthold Ephraim: Werke. Hg.v. Herbert Göpfert, Bd. 4 bearb. v. Karl Eibl. München 1973. LES RELIEFS FORENSES de. Me Sebastien Roulliard. Paris 1607. LE THRESOR DES HARANGUES et des remonstrances faites aux ouvertures du Parlement [...] recueillies par M. L. G. advocat en Parlement. Paris 1668. LIPSIUS, Justus: Von der Bestendigkeit (De constantia). Faksimiledruck der deutschen Übersetzung v. Andreas Viritius nach der 2. Aufl. von 1601. Hg.v. Leonard Forster. Stuttgart 1965. LOHENSTEIN, Daniel Casper von: I. N.J! Disputatio juridica de voluntate; quam permissu amplissimae facultatis juridicae, praeside Wolfgang-Adamo Lauterbach/U. J. D. & Professore publico, publice ventilandam proponit Die 6. Junii, anno 1655. Daniel Caspari, NimicioSilesius, Autor, Tubingae [...]. [WUB 350128] - Türkische Trauerspiele: Ibrahim Bassa, Ibrahim Sultan. / Römische Trauerspiele: Agrippina, Epicharis/ Afrikanische Trauerspiele: Cleopatra (1680), Sophonisbe. Hg. v. Klaus Günther Just, Stuttgart 1953/1955/1957 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart, Sitz Tübingen, 2927 293/ 294). - Cleopatra (1661). Hg.v. Ilse-Marie Barth, Stuttgart 1965. (RUB 8950) - Blumen (Sammlung von Gedichten und Dramen: Rosen, Hyacinthen, Himmel-Schlüssel oder Geistliche Gedichte, Geistliche Gedancken über das LIII. Capitel des Propheten Esaias, Thränen, Sophonisbe und Cleopatra (1680). Breslau 1680 (Neuaufl. 1689 und 1708). [MSB P.o.germ. 871qc]. - Lorentz Gratians Staats-kluger Catholischer Ferdinand/ aus dem Spanischen übersetzet [...]. Breslau 1675 und Jena 1676 [WUB 379911] - Lob-Schrifft/ Deß Weyland Durchlauchtigen Fürsten und Herrn/ Herrn George Wilhelms/ Hertzogens in Schlesien zu Liegnitz/ Brieg und Wohlau/ Christ-mildesten Andenckens [...] Brieg [...] 1676. - Lob-Rede/ Bey Des weiland HochEdelgebohrnen/ Gestrengen und Hochbenambten Herrn Christians von Hofmannswaldau [...] Anno 1679 in Breßlau Hoch-Adelich gehaltenem Leichbegräbnüße. (Breslau 1679); auch in: Trauerreden des Barock.S. 268-279. - Ibrahim Sultan Schauspiel/ Agrippina Traurspiel/ Epicharis Traurspiel/ Und andere Poetische Gedichte/ so noch mit Bewilligung des S. Autoris/ Nebenst desselben Lebens-Lauff und Epicediis. Breslau (1685, Neuauflagen 1701 und 1723/24) [MSB 871qe]. Darin befindet sich auch: - Erleuchtete Hoffmann/ Aus dem Französischen Auf Verlangen einer Erlauchten Person übersetzt. - Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann Als Ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit/ Nebst seiner Durchlauchtigen Thusnelda In einer sinnreichen Staats- Liebes- und Helden-Geschichte Dem Vaterlande zu Liebe Dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlichen Nachfolge In Zwey Theilen vorgestellet/ Und mit annehmlichen Kupffern gezieret. Leipzig 1689, Bd. 2 1690 (Nachdr. mit einer Einf. von Elida Maria Szarota, 2 Bde. Hildesheim, New York (auch Bern) 1973. - Venus (Preisgedicht, erstmals veröffentlicht in: Benjamin Neukirch, Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte [...] 1695); auch in: Charlotte Brancaforte: Lohensteins Preisgedicht Venus. Kritischer Text und Untersuchung, München 1974.

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LOHENSTEIN, Hans Casper von: Kurtz Entworffener Lebens-Lauff/ Deß. sei. Autoris. Breslau (1685). In: Daniel Casper von Lohenstein: Ibrahim Sultan [...]. LUCAE, Friederich: Schlesiens curieuse Denckwürdigkeiten/ oder vollkommene Chronica von Ober- und Mieder-Schlesien, Franckfurt am Mäyn/ 1689. LUTHER, Martin: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. (Weimarer Ausgabe = WA). Weimar 1883ff (Nachdruck Graz 1966ff). - Die reformatorischen Grundschriften in vier Bänden. Neu übertragen und kommentiert von Horst Beintker. München 1983. - Vom ehelichen Leben. Hg.v. Dagmar Lorenz. Stuttgart 1978. (RUB 9896) - Tischreden. Hg.v. Kurt Aland. Stuttgart 1960. (RUB 1222) - In Esaiam Scholia ex D. Martini Lutheri praelectionibus collecta. 1532 Wittemberg. (WA 25), S. 84ff). - Das LIII. Capitel des Propheten Jesaia/ Von dem Leiden vnd der Herrligkeit Christi/ Ausgelegt durch Dr. Martin Luther. Wittemberg 1539.[ASB 4°Th H 1700]. MACHIAVELLI, Niccolo: Der Fürst. Aus dem Italienischen übertragen v. Ernst Merian-Genast mit einer Einf.v. Hans Freyer Stuttgart 1961. (RUB 1218/9) MÄNNLING, Johann Christoph: Arminius Enucleatus. Das ist: Des unvergleichlichen Daniel Caspari von Lohenstein/ Herrliche Realia. Köstliche Similia, Vortreffliche Historien/ Merckwürdige Sentenzien, und sonderbahre Reden. Als Köstliche Perlen und Edelgesteine aus dessen deutschen Taciti oder Arminii Ersterem Theile [Anderm Theile]. Mit Fleiß denen Liebhabern der Deutschen Wohl-Redenheit/ Nebst einem vollkommenen Register zusammengetragen [...] Stargard, Leipzig 1708. - Lohensteinius Sententiosus. Das ist: Des vortrefflichen Daniel Caspari von Lohenstein/ Sonderbahre Geschichte/ curieuse Sachen/ Sinn-reiche Reden/ durchdringliche Worte/ accurate Sentenzien, Hauptkluge Staats- und Lebens-Regeln/ und andere befindliche Merckwürdigkeiten/ Aus dessen sowohl Poetischen Schrifften und Tragoedien, als auch Lob-Reden/ und ändern ihm zustehenden gelehrten Büchern/ Wie aus einem verborgenen Schatze zusammen colligiret/ Und der gelehrten Welt zur Vergnügung/ der Jugend zum nützlichen Gebrauch Nebst einem vollkommenen Register ans Tages-Licht gestellet [...]. Breslau 1710. MASEN, Jakob: Palaestra Eloquentiae Ligatae. Dramatica. Pars III & ultiam, Quae complectitur Poesin Comicam, Tragicam, Comico-Tragicam [...] nova editio [...] Coloniae 1683 [MSB L.eleg. g. 251(3]. MELANCHTHON, Philipp: Corpus Reformatorum (CR), begr. Karl Gottlieb Bretschneider, Bd. 1-28, 1834-60 (Nachdr. 1963). NEUKIRCH, Benjamin: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte erster Theil. Leipzig 1695. Hg.v. A.G. de Capua und E. A.Philippson, Tübingen 1961. NOTARIAT-KUNST: Ein sehr nützlicher Tractat/ Von Notariat-Kunst/ vnd Ampt der Notarien/ sampt demselben Irthummen: Wie dann auch von Renunciationen/ Verzeihungen der Rechten vnnd Freyheiten in den Contracten warzunemmen: Vnd letztlich von der Art oder Kunst recht auch wol zu testiren/ sampt dero vielfältigen cautelen nothwendig zuwissen/ in vier vnderschiedliche Bücher verfasset. Darinnen die fürnembste/ notwendigste Lehr wessen sich die offene Schreiber in ihrer Practic/ vnd Handlung jeder Sachen/ nach Ampts halben zuverhalten vnd zugebrauchen haben/ verständiglich/ auch eygentlich angezeiget wird. Itzt den gemeinen Notarien vnd offenen Schreibern an Gerichten auff dem Land zum besten insbesonderm Fleiß verteutschet/ sampt ihren notdwendigsten Allegaten mitangehenckt/ und auffs new in Truck verfertiget: Durch lacobum Henricum Roedacium [...] Franckfurt am Mayn 1600 [HABW 157.20 Jur.] NOUVEAU RECUEIL DE LETTRES, harangues et discours differens oü il est traite de l'Eloquence franchise et de plusieurs matieres politiques et morales. Paris 1630. NOUVEAU RECUEIL DES PLAIDOYEZ de Henry d'Audiguier, sieur du Mazet, dedie ä Monseigneur le Chancelier de France. Paris 1660. OLDEKOP, Justus: Observationes Criminales Practicae [...] a Justo Oldekop [...] I. U. D. et

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[...] Syndico. Cum Appendice Exemplorum, Quibus homines multos torturae vi falsa confesses, suppliciisque affectos, postmodum autem innocentes repertos esse, testatum redditur. Bremae [...] 1654. OSIANDER, Lucas: Christlicher/ notwendiger Bericht/ Welcher Gestalt sich die Christen darein schicken sollen/ damit sie dem Türcken ein beharrlichen Abbruch thun/ und einen heilsamen Sig erlangen mögen, Tübingen 1595. PASCAL, Blaise: Gedanken. Übersetzt u. hg. v. Ewald Wasmuth, Stuttgart 1956. (RUB 1621) PFEIFFER, Christoph: J. C. v. Lohensteins Edler Personen eröffnete Grüffte/ Das ist: Unterschiedene Leich-Abdanckungen/ Einigen guten Freunden von Adel gehalten, zum unvergeßlichen Andencken des Seel. Herrn Autoris [...] von M. Christoph Pfeiffer Breslau 1718. [WUB 300108] POETIK DES BAROCK. Hg.v. Marian Szyrocki. Reinbek 1968. PRIETZEN, Gregor von: Ein sehr nützlicher Tractat/ Vom ampte und eigenschafft der Richter und Obrigkeiten/ wie sie sich in irem ampte mit urtheilen/ straffen/ unnd execution/ auch sonsten verhalten sollen/ mit Juris allegaten/ und mercklichen Historien vnd Exemplen erkleret [...] Durch den Hochgelehrten Herrn Joachimum Gregorii von Prietzen der Rechten Doctorn zu Magdeburgk. Frankf. Mayn 1593 [WUB 332650] PUFENDORF, Samuel: Die Verfassung des deutschen Reiches. Hg.v. Horst Denzer. Stuttgart 1976. (RUB 966) - De habitu religionis christianae ad vitam civilem. Bremen 1687 (Neudruck Stuttgart 1972). PUTEO, Paris de: De Syndicatu Tractatus elegantissimus et absolutissimus. Autore Paride de Puteo, J. C. Neapoletano celeberrimo, practice maximo: Nunc primum in Germania exclusus [...] opus omnibus in foro versantibus, inprimis vero Judicibus, Assessoribus atque Officialibus utile, imo summopere necessarium. Cum Indice copiosissimo. Francofurti, [ . . . ] MDCV [HABW 113.4 Jur.]. RAMUS, Petrus: Dialecticae institutiones - Aristotelicae animadversiones. (Nachdr. d. Ausg. Paris 1543. Einl. v. Wilhelm Risse. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964) - Petri Rami Scholae in liberales artes. Basel 1569. RECUEIL DE PLAIDOYEZ notables de plusieurs anciens et fameux avocats de la Cour de Parlement et divers arrets. Paris 1644. RHETORIC UND TEUTSCH NOTARIAT Wes jeden Notarien /Schreibern/ Procuratorn/ Advokaten/ Gerichts/ Raths/ und Ampts Personen oder Verwaltern/ In Reden und Schreiben/ Inn vnd Ausserhalb Gerichts/ Ihrer Practic/ Handlung und Commission jeder Sachen/ Contracten und Verbrieffungen zuwissen/ Schrifftlich und Mündlich zuversehen vnd gebrauchen von nöten. Mit Erklärung aller der selbigen Art und Eygenschafften/ Auch jeder Contracten vnd Instrument angehenckten Rechtlichen Cautelen/ Doctrinen/ Instruction/ bestendigen Cantzleijschen guten Formulen vnd Exempeln et. [...] (Frankfurt a. M. 1551) [HABW 4.2.2. Rhet. 2° (2)]. SCHRÖTER, Christian: Gründliche Anweisung zur deutschen Oratorie nach dem hohen und Sinnreichen Stylo Der unvergleichlichen Redner unsers Vaterlandes, besonders Des vortrefflichen Herrn von Lohensteins in seinem Großmüthigen Herrmann und ändern herrlichen Schrifften. Leipzig [...] 1704, (Neudruck Kronberg 1974). - Politischer Redner, Welcher aufs deutlichste zeiget, wie man die in dem sinnreichen Arminio des berühmten Herrn von Lohensteins enthaltene vortreffliche Staats- RegierungsKriegs- Lebens- und Sitten-Regeln, Samt ändern denckwürdigen Begebenheiten zu allerhand gelehrten Discursen, wie auch mit leichter Mühe und Arbeit zu allerhand Politischen, Vornehmlich Zu Lob- Trauer- Hochzeit- und Glückwünschungs-Reden appliciren [...] kan. Leipzig 1714. SCHOTTELIUS, Justus Georg: Ethica Die Sittenkunst oder Wollebenskunst/ In Teutscher Sprache vernemlich beschrieben in dreyen Büchern. Worin zugleich auf alle Capittel lateinische Summaria, auch sonst durch und durch die Definitiones lateinisch beygefügt werden. Wolfenbüttel 1669 (Reprint Bern 1980). SCHÜTZ, Ignatz: Ehren-Preiß Des Hochlöblichen Frauen-Zimmrs/ Das ist/ Unpartheyische

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Erörterung der ohne Fug in Zweiffei gezogenen Frag: Ob nemlichen Das Weibliche Geschlecht am Verstand dem Männlichen von Natur gleich/ auch zu Verrichtung tugendsamer Werck und Thaten/ ebenmässig qualificirt und geschickt sey? An Hand genommen durch Wilhelm Ignatium Schütz/ J. C. und der Zeit Fürstl. Fuldischen Cantzlern. Franckfurt am Mayn [...] 1663. SENECA, L. Annaeus, De dementia, Über die Güte. Übers, und hg. v. Karl Büchner. Stuttgart 1970. (RUB 8385) SINAPIUS, Johannes: Des Schlesischen Adels Anderer Theil. Oder Fortsetzung Schlesischer Curiositäten. [...] Leipzig u. Breslau 1728. SINCERUS, Claudius: Vitae et Scripta magnorum Juris Consultorum. Das ist: Vollständige Leben und Schrifften grosser Juristen/ Aus gewissen Nachrichten/ nach ihren vornehmsten Denckwürdigkeiten und notabelsten Sachen aufrichtig beschrieben. Wittenberg 1713. [WUB 923425]. SPIEGEL DER WAREN RHETORIC, uss. M. Tulio C. und ändern getütscht: mit Im glidern cluger reden Sandbriefen, und formen, manicher contract, seltzam Regulierts Tütsch und nutzbar exempliert, mit fügen uff göttlich und keiserlich schrifft und rechte gegründt (1493). STIELER, Caspar: Die Dichtkunst des Spaten. Neu hg.v. Herbert Zeman. Wien 1975. - Ges. Schriften in Einzelausgaben. Hg. v. Herbert Zeman u.a. München 1968 (4 Bde.). - Der Teutsche Advokat/ oder Lehrschrifft/ Anzeigend: Auf was Weyse sein rechtlicher Beystand in Teutschland/ so wol vor Gericht/ als ausser demselbigen/ Zunge und Feder/ dem Rechten und Gerichtsgebrauch gemäß/ geschicklich/ zierlich und gebührlich anwenden und führen solle. Worinnen beynahe die ganze Rechtskunst/ so weit dieselbe/ zur Erlangung eines jeden habenden Befugnüßes und Verthädigung wieder Unrecht zu wissen nöthig/ Aus denen Keyserlichen - Sächsischen - Päpstlichen - Lehn- und anderen Rechten/ Ordnungen und Gewohnheiten/ auf das leichteste und deutlichste vorgestellet wird. Samt vielen dazu gehörigen Formmein und Mustern/ auch angehängter Sach/ und Praktik. Allen neuangehenden Advokaten/ Anwalden und Sachwaltern/ ja auch Richtern und rechtlichen Parteyen nützlich/ nötig und gleichsam unentbährlich. Herausgegeben von dem Spähten [...] Nürnberg 1678. [HABW 43.49 Ju 2°]. - Teutsche Sekretariat-Kunst/ was sie sey/ worvon sie handele/ was darzu gehöre/ welcher Gestalt zu derselben gleich- und gründlich zugelangen/ was Maßen ein Sekretarius beschaffen seyn solle/ worinnen deßen Amt/ Verrichtung/ Gebühr und Schuldigkeit bestehe/ auch was zur Schreibfertigkeit und rechtschaffener Briefstellung eigentlich und vornehmlich erfordert werde. Alles mit grundrichtigen Sätzen zuverläßigen Anweisungen und reinen teutschen Mustern/ nach heutigem durchgehenden Gebrauch [ . . . ] heraus gegeben von dem Spähten. Nürnberg/ [...] 1673. [HABW35.1 Rhetorica] TACITUS, Annalen. Übers, und hg. v. Walther Sontheimer, Buch I-VI Stuttgart 1964 (RUB 2457), Buch XI-XVI 1967 (RUB 2642). TRAUERREDEN DES BAROCK Hg. v. Maria Fürstenwald. Wiesbaden 1973. THOMAS VON AQUIN: Über die Herrschaft der Fürsten. Übers, v. Friedrich Schreyvogl. Stuttgart 1981. (RUB9326) THOMASIUS, Christian: Christian Thomas eröffnet Der Studirenden Jugend zu Leipzig in einem Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? ein Collegium über des Gratians Grund-Reguln/ Vernünfftig/ klug und artig zu leben. (1687/88). In: Ch.Th., Deutsche Schriften. S. 3-49. - Deutsche Schriften, Ausgew. und hg. v. Peter Düffel. Stuttgart 1970. (RUB 8369) - Disputatio Juridica De Iniusto Pontii Pilati Judicio [...] Praeside Dn. Friderico Tobia Moebio Phil. & J.U.D. Curiae Electorialis ac Ducalis supremae Advocate Ordinario, Dn. Patrono atque Fautore observanter colendo. P. P. Christianus Thomasius Lipsiensis. Phil. M. Autor. 1675 Lipsiae. [MSB 4°74(10)]. - Freymüthige Lustige und Ernsthafte jedoch Vernunfft- und Gesetz-mäßige Gedancken Oder Monats-Gespräche, über allerhand, fürnehmlich aber Neue Bücher/ Durch alle zwölff Monate des 1688. und 1689. Jahrs durchgeführet. Halle 1690.

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- Kurzer Entwurf der politischen Klugheit, sich selbst und ändern in allen menschlichen Gesellschaften wohl zu raten und zu einer gescheiten Conduite zu gelangen 1710 (Neudruck Frankfurt/M. 1971). - Summarischer Entwurff Derer Grund-Lehren/ Die einem Studioso Juris zu wissen/ und auff Universitäten zu lernen nöthig/ nach welchen D. Christian Thomas. Künfftig/ so GOtt will Lectiones privatissimas zu Halle/ in vier unterschiedenen Collegiis anzustellen gesonnen ist. Halle/ zu finden im Rengerischen Buchladen. Anno 1699 (Neudruck Aalen 1979). VIGELIUS, Nicolaus: Dialectices iuris civilis libri tres, Basel 1573. - Von dem Juristischen Glauben/ Teutsch und lateinisch Büchlein/ Deß hochgelahrten und weltberümpten Doctoris Nicolai Vigelii, newlich gebessert vnd gemehret, Basel 1582. [WUB 379640]. - Richterbüchlein Deß Hochgelehrten und weltberühmbten Doctoris Nicolai Vigelii, [...] Aufs new übersehen/ mit einem Zusatz von dem Ungewissen Rechten/ Deßgleichen einem Gesprech deß Oratorn und Juristen von diesem Richterbüchlein/ gemehret. 1588 Franckfurt a.Mayn [MUB 1437 Jus]. - Ratio Juris discendi, Frankfurt 1598. WEISE, Christian: Masaniello. Hg. v. Fritz Martini. Stuttgart 1972. (RUB 9327-9) - Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher/ wie nehmlich Dergleichen Bücher sollen gelesen und von ändern aus gewissen Kunst-Regeln nachgemachet werden. Leipzig 1681 (1. Aufl. 1680). - Christian Weises Politische Fragen/ Das ist: Gründliche Nachricht Von der POLITICA, Welcher Gestalt Vornehme und wohlgezogene Jugend hierinne einen Grund legen/ So dann aus den heutigen Republiquen gute Exempel erkennen/ endlich auch in practicablen StaatsRegeln und Anfang treffen soll. Nebst einer ausführlichen Vorrede/ und einen zulänglichem Register. Mit Churfl. Sachs. Privil. DRESDEN [...]. Dresden 1693. - Curieuse Fragen über die Logica. Welcher Gestalt die unvergleichliche Disciplin von Allen Liebhabern von der Gelehrsamkeit/ sonderlich aber von einem Politico deutlich und nützlich soll erkennet werden/ in Zweyen Theilen/ Der anfänglichen Theorie, und der nachfolgenden Praxi zum besten Durch gnugsame Regeln/ und sonderliche Exempel ausgeführet. Leipzig 1700 [MSB 8°Ph. sp.927]. - Christian Weises curiöse Gedancken Von Teutschen Briefen/ Wie ein junger Mensch sonderlich Ein zukünfftiger Politicus, Die galante Welt wohl vergnügen soll. In kurtzen und zulänglichen Regeln/ So dann In anständigen und practicablen Exempeln ausführlich vorgestellet. [...] Leipzig und Dreßden, [...] 1702. WESENBECK, Matthaeus: Tractatus de Studio Juris recte instituendo. Köln 1580. WILSONS, Thomas: Art of Rhetorique (1533). ZEDLER, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden [...] Begr. Johann Heinrich Zedler, Bd. 1-68. Halle und Leipzig 1732-1754. ZEIDLER, Christian: Monarchia optima Reipublicae Forma Das ist: Die Regierung eines hohen Landes-Regenten in einem Reich/ Fürstenthum und Herrschafft, als die beste Regiments-Form, Schauspiels-weise vorgestellet. Rudolstadt 1679. ZESEN, Philipp von: Ibrahims oder Des Durchleuchtigen Bassa und Der Beständigen Isabellen Wunder-Geschichte, durch Fil. Zaesen von Fürstenau, Amsterdam 1645, (sämtl. Werke Bd. V/2).

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2. Literatur zu Daniel Casper von Lohenstein (eine sehr ausführliche Bibliographie findet sich in: Pierre Behar: Silesia Tragica, S. 697-787.) ASMUTH, Bernhard: Daniel Casper von Lohenstein. Stuttgart 1971. - Lohenstein und Tacitus. Eine quellenkritische Interpretation der Nero-Tragödien und des Arminius-Romans. (Germanistische Abhandlungen 36) Stuttgart 1971. - Lohensteins Quelle und Vorlagen für die Epicharis. In: Die Welt des Daniel Casper von Lohenstein (1978). S. 92-103. AIKIN, Judith Popovich: The Mission of Rome in the Dramas of Daniel Casper von Lohenstein: Historical Tragedies as Prophecy and Polemic. (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik) Stuttgart 1976. BANET, Ilona: Die Entwicklungstendenzen des Schulwesens der Stadt Breslau zur Zeit Daniel Caspers von Lohenstein. In: Virtus et Fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roioff. Hg. v. Joseph P. Strelka und Jörg Jungmayr. Bern, Frankfurt/M., New York 1983. S. 479-495. - Vom Trauerspielautor zum Romanautor, Lohensteins literarische Wende im Lichte der politischen Verhältnisse in Schlesien während des letzten Drittels des 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 12 (1983), S. 169-186. - Daniel Casper von Lohenstein, Neues Quellenmaterial zu seiner Tätigkeit als Syndikus. In: Acta Universitatis Wratislaviensis 55 (1984). S. 195-204. BEHAR, Pierre: La Weltanschauung de Lohenstein: Une Theosophie de la Renaissance?. In: Daphnis 7 (1978), S. 569-615. - Dramaturgie et Histoire dies Lohenstein. Les deux versions de Cleopatra. In: Theatrum Europaeum. (Festschrift für Elida Maria Szarota). Hg. v. Richard Brinkmann u.a. München 1982. S. 325-341. - Zur Chronologie der Entstehung von Lohensteins Trauerspielen. In: Studien zum Werk Daniel Casper von Lohensteins = Daphnis 12 (1983). S. 441-463. - Silesia Tragica. Epanouissement et fin de l'ecole dramtique silesienne dans l'oevre tragique de Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683). (Wolfenbütteler Arbeitten zur Barockforschung Bd. 18) Wiesbaden 1988. BRANCAFORTE, Charlotte: Lohensteins Preisgedicht Venus. Eine Untersuchung von Text, Struktur, Quellen und Sprache. München 1974. - Liebesmetaphorik in Lohensteins Agrippina im Lichte wissenschaftlicher Debatten des 17. Jh.s in: Studien zum Werk Daniel Casper von Lohensteins = Daphnis 12 (1983). S. 305-320. BRAENDLIN, Hans P: Über Umwertung und Spiel in Lohensteins Sophonisbe. In: Studien zum Werk Daniel Casper von Lohensteins = Daphnis 12 (1983) S. 321-341. BROWNING, Barton W: Heldenbrief and Helden-Rede: Lohenstein's Lyric in the heroic mode. In: Studien zum Werk Daniel Casper von Lohensteins = Daphnis 12 (1983). S. 283-293. DANIEL CASPER VON LOHENSTEIN, SOPHONISBE. Renaissance-Theater Berlin. Fassung: Hansgünther Heyme, Hanns-Dietrich Schmidt. (Programmheft) Berlin 1985. DIE WELT DES DANIEL CASPER VON LOHENSTEIN, Epicharis, Ein römisches Trauerspiel. Hg. Peter Kleinschmidt, Gerhard Spellerberg, Hanns-Dietrich Schmidt. Köln 1978. FORSSMANN, Knut: Spuren Graciäns im Werk Daniel Caspers von Lohenstein. In: Studien zum Werk Daniel Casper von Lohensteins = Daphnis 12 (1983). S. 481-505. FICHTE, Hubert: Lohensteins Agrippina. Vorwort von Bernhard Asmuth. Köln 1978. - Mein Lesebuch. Frankfurt/M. 1976. FLEMMING, Willi: Daniel Casper von Lohenstein. Cleopatra (Nachwort). Stuttgart 1965 (RUB 8950). S. 177-184. FÜLLEBORN, Ulrich: Die barocke Grundspannung Zeit - Ewigkeit in den Trauerspielen Lohensteins, Stuttgart 1969. GABEL, Gernot Uwe: Daniel Casper von Lohenstein. A bibliography. Chapel Hill/ N.C. (Hamburg) 1973. 509

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