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German Pages 312 [316] Year 2012
Antje Arnold Rhetorik der Empfindsamkeit
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
73 ( 307 )
De Gruyter
Rhetorik der Empfindsamkeit Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert
von
Antje Arnold
De Gruyter
ISBN 978-3-11-027574-2 e-ISBN 978-3-11-027605-3 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2010/2011 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen. Für die vielfältigen Anregungen und Diskussionen, auch in ihren Forschungskolloquia, danke ich sehr herzlich meinen Gutachtern und Mentoren Prof. Dr. Dr. h. c. Walter Pape und Prof. Dr. Manuela Günter. Dank eines Fritz Thyssen Stipendiums der Franckeschen Stiftungen zu Halle und der Arbeit am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der europäischen Aufklärung bekam ich die Gelegenheit, zahlreiche Quellen im Original einzusehen und für die vorliegende Studie aufzuarbeiten. Besonders habe ich dort von dem Austausch mit Prof. Dr. Daniel Fulda und Dr. Erdmut Jost am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung profitiert; hilfreich waren auch die Anregungen PD Dr. Christian Soboths vom Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung. Prof. Dr. Ernst Osterkamp und Prof. Dr. Werner Röcke sowie dem Walter de Gruyter-Verlag bin ich für die Aufnahme in die Reihe „Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte“ sehr verbunden. Außerdem sei für ihre Ratschläge und ihre großzügig bemessene Zeit für meine Arbeit ganz besonders gedankt: Dr. Eva Bosbach, Prof. Dr. Hans Esselborn, Dr. Hartmut Kircher, PD Dr. Anja Lemke, Alexia Schweiger und Dr. Norbert Wichard. Eine wertvolle Hilfe waren auch Agnes Figura und Kristin Wulfert. Zwar zuletzt, aber selbstverständlich in erster Linie sei meiner Familie gedankt, der dieses Buch gewidmet ist. Köln, 23.01.2012
Antje Arnold
Inhalt Vorwort .................................................................................................................. V
I. Zwischen ethos und pathos: Zur Repräsentation empfindsamer Emotionen 1. Empfindsame Rhetorik: eine Einführung ..................................................... 3 1.1 Rekonstruktion empfindsamer Rhetorik: Textauswahl ..........................14 1.2 Zur sprachlichen Repräsentation von Emotionen ..................................22 2. Heterogenität der Emotionsforschung: Verknüpfungsprobleme ...........26 3. Gattungs-, begriffs- und rhetorikgeschichtlich: literaturwissenschaftliche Perspektiven für die empfindsame Literatur .....32 3.1 Empfindsame Emotionen: ethos, aber auch pathos....................................39 3.2 ‚Rhetorik der Mitte‘: Aktualisierungen aristotelischer mesótes .................44 4. Empfindsame Antirhetorik? Zur Wertung der Empfindsamkeit ............53
II. ‚Rhetorik der Mitte‘. prodesse et delectare in Zeitschrift und Brief 1. Geselligkeit als Tugendbotschaft und Unterhaltung (Der Gesellige) .........63 2. Außerliterarische Einübung geselliger Empfindungen in Briefen...........70 2.1 Mündlichkeitsfiktionen: unmittelbare Emotionen? .................................72 2.2 Vom Vortrag zum Gespräch: Briefsteller im 18. Jahrhundert...............76 2.3 Stil-Proben und öffentliche Denkmäler: Gellert-Schüler Goethe.........82 2.4 Inszenierung von Seelenverwandtschaft als Tugend (Wielands Sympathien) ..........................................................................................88
III. Erfolgskonzepte der Mitte 1. Pietismus-Rezeption in der Literaturwissenschaft .....................................97 1.1 Pietistische Affektenlehre: Franckes Hermeneutik..................................99 1.2 Pietismus und Empfindsamkeit ............................................................... 104 2. Empfindsamkeit ........................................................................................... 108 2.1 Empfindsamkeit um 1700 ........................................................................ 117 2.1.1 Die Landtafel der Freundschaft der deutschen Clelia .............................. 120 2.1.2 Brockes’ Tugend-Traum im Patriot ...................................................... 124 2.2 Das empfindsame Musterdrama (Lessing: Miss Sara Sampson) ........... 126 2.2.1 Der Tugend-Traum in der Sara ............................................................ 132 2.2.2 Simulacra virtutum: Schein-Tugenden .................................................... 143
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Inhalt
2.3 Kein ethos ohne pathos (Pfeil: Lucie Woodvil) ............................................ 146 2.3.1 Lucies Lasterkarriere .............................................................................. 149 2.3.2 Empfindsamer Kommentar: Amalie ................................................... 160 3. Rokoko zwischen Sittlichkeit und Zärtlichkeit: Unzers Gedichte ....... 164
IV. Weibliche Autorschaft und empfindsame Rhetorik 1. Information als Unterhaltung (Unzer: Grundriß einer Weltweißheit) ........ 176 1.1 Die Vorrede Krügers ................................................................................. 176 1.2 Die Vorrede Unzers zur zweiten Auflage .............................................. 179 2. Verabschiedung der Mitte (Hensel: Die zärtliche Mutter) ......................... 181 3. Ein weiblicher Wilhelm (Fischer: Die Honigmonate)................................. 189
V. Rhetorik der Empfindsamkeit auf die Probe gestellt (Haken: Blicke aus meines Onkels Dachfenster in’s Menschenherz) 1. Erzähltes bürgerliches Trauerspiel ............................................................ 209 2. Spiel im Spiel ................................................................................................. 211
VI. Zur Mode geworden: Parodien auf die Empfindsamkeit 1. Gottsched: Die Pietisterey im Fischbeinrocke ................................................. 225 2. Goethe: Der Triumph der Empfindsamkeit .................................................... 234 3. Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius Ziprianus Kurt .................... 242
VII. ‚Rhetorik für die Seele‘ wie ‚Kochkunst für den Leib‘ Fazit .................................................................................................................... 249 Literaturverzeichnis 1. Quellen ........................................................................................................... 259 2. Darstellungen ................................................................................................ 269 Personenindex ................................................................................................... 305
I. Zwischen ethos und pathos: Zur Repräsentation empfindsamer Emotionen
1. Empfindsame Rhetorik: eine Einführung Beifall bei jedem Leser, heißt es bei Horaz, hat stets derjenige erhalten, der das Nützliche mit dem Angenehmen durch gleichermaßen Erfreuen und Belehren mischte (omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci/ lectorem delectando pariterque monendo). 1 Es handelt sich dabei um eine normative Rezeption in Poetik und Rhetorik, durch die Stilistik, Sache und Person eine bestimmte Wirkung erzielen, die textlich fassbar gemacht werden soll (mittels utile und dulce) und hinter der eine bestimmte Erwartungshaltung an den emotionalen und sittlichen Haushalt des Rezipienten steht. 2 Diese Norm ist für die Entschlüsselung empfindsamer Rhetorik des 18. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung, da das Prinzip der Mischung – Nützen und Unterhalten – auf charakteristische Weise die empfindsame Literatur dominiert. Durch die gewählte Fokussierung auf das integrative Moment der Empfindsamkeit sollen gerade keine vermeintlichen Oppositionen wie Empfindsamkeit versus Aufklärung, ‚Natürlichkeit‘ versus Rhetorik oder Autonomie versus Zweckhaftigkeit verhandelt werden, sondern in der Lesart empfindsamer Rhetorik sollen vielmehr die zeitgenössischen Bestrebungen, die scheinbaren Gegensätze zu verbinden, in den Vordergrund gerückt werden. Die vorliegende Studie bietet durch die strukturelle Verknüpfung von Tugendethos und ‚Rhetorik der Mitte‘ eine Lesart empfindsamer Literatur an, die den Publikumserfolg der Empfindsamkeit ‚am und für den‘ Menschen ebenso zu erklären vermag wie das gleichzeitige Scheitern an den eigenen Vorgaben durch die Uneinholbarkeit der eigenen Ansprüche. In diesem Sinne werden auch die für die Empfindsamkeit konstitutiven Strömungen des Pietismus und Rokoko exemplarisch in ihren literarischen Qualitäten und in ihrem Verhältnis zueinander analysiert. Dass insbesondere diese Diskurse gendersensibel betrachtet
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Hor. ars 343. Übers. d. Verf. In seinem Kommentar zu diesem Vers verweist Niall Rudd nicht nur auf die zentrale Stellung der Mischung, sondern auch auf deren Bildlichkeit: „The mixture, evidently, is a kind of drink – a blend of dry (and morally beneficial) with sweet (and emotionally attractive). The beneficial and the attractive operate together [...].“ Vgl. Rudd: Horace, S. 232. Dietmar Till schränkt aber zu Recht ein, dass die Reduzierung einer Sicht der Rhetorik „auf das Moment der affektiven Wirkung“ nicht ausreiche, um den Paradigmawechsel im 18. Jahrhundert zu erfassen; am Beispiel der Poetik Bodmers und Breitingers zeigt Till, dass sie Wirkung (‚Herzrührung‘) beim Rezipienten durch rhetorikkritische Produktion erreichen wollten. Vgl. Till: Das doppelte Erhabene, S. 269f. In der vorliegenden Arbeit werden Rhetorikkritik und Wirkziele der Rhetorik in den relevanten Kapiteln entsprechend kritisch abgeglichen.
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Zur Repräsentation empfindsamer Emotionen
werden müssen, wird in den Analysen deutlich. Durch diese Perspektive erfährt die empfindsame Literatur eine entschiedene Aufwertung. Die vorliegende Arbeit will Emotionalisierungsstrategien und ihre rhetorische Funktionsweise in der empfindsamen Literatur des 18. Jahrhunderts untersuchen. Die Kategorien Rhetorik und Emotionen sollen als grundlegend für eine kulturgeschichtliche Erschließung von historisch erfolgreichen Textstrategien beschrieben werden. Mit den Jahrzehnten um 1700 und um 1800 ist der zeitliche Rahmen gesteckt, innerhalb dessen sich die Epoche der Empfindsamkeit mit ihren Anfängen um 1700 und mit signifikanter Relevanz noch nach den 1770er Jahren entfaltet. Individualität und Gefühle sind nun selbstverständlich keine Erfindungen des 18. Jahrhunderts. Die Lücke zwischen Arbeiten zu schließen, die sich auf den Schwerpunkt ‚um 1800‘ konzentrieren, und Arbeiten, die den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit betrachten, ist ein Desiderat. Emotionalisierungsstrategien sind aber ebensowenig erst ab dem 17. Jahrhundert anzusetzen. Während für Otto Ulbricht das Selbst-Bewusstsein bereits im 17. Jahrhundert installiert wird, charakterisiert Lothar Pikulik ein „bewußtes Fühlen“ 3 erst für die empfindsame Literatur des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Im Rahmen dieser Arbeit soll darauf hingewiesen werden, wie notwendig die Folie des 17. Jahrhunderts für ein Verständnis empfindsamer Literatur der Hochphase ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich für die Empfindsamkeit, deren Charakteristikum in einer genreübergreifenden Stilistik liegt, keine Eingrenzung auf bloß eine Gattung empfiehlt. Die Repräsentativität der Texte wurde im Hinblick auf ihre Aussagekraft innerhalb des Denkmodells der ‚Rhetorik der Mitte‘, die in den folgenden Kapiteln entwickelt wird, gewährleistet. Die Fokussierung des mittleren Stils und seiner Eigentümlichkeiten – im Horaz-Zitat bereits angedeutet – ist für die empfindsame Rhetorik unerlässlich. Das durch seine Mischung charakterisierte genus medium wird im Laufe des 18. Jahrhunderts aufgrund seiner herausragenden Position eben in der ‚Mitte‘ anschlussfähig für das Modell der Empfindsamkeit und stellt den Konnex von Rhetorik und Emotionen geschickt aus; es hat jedoch wegen der Betonung des pathos im Rahmen von Kunstautonomie und Ästhetik in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden. Dass die vielfältigen Verbindungen von Rhetorik und Emotionen in der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, wie sie in der vorliegenden Studie rekonstruiert werden sollen, äußerst komplex sind, liegt zum einen daran, dass es sowohl lebensweltliche wie wissenschaftliche Diskussionen darüber gibt und vor dem Hintergrund heutiger Emotionstheorien ein
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Vgl. Ulbricht: Ich-Erfahrung; Pikulik: „Bürgerliches Trauerspiel“ und Empfindsamkeit, S. 62.
Empfindsame Rhetorik: eine Einführung
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interdisziplinärer Zuschnitt eine Forschungslücke darstellt. Da beispielsweise die „religiöse Besetzung“ der Ausdrücke Affekt, Passion und Leidenschaft für das Frühneuhochdeutsche nachgewiesen ist, muss „eine rein säkulare Verwendung schon aus wortstilistischen Gründen nahezu undenkbar“ 4 bleiben. Zum anderen zeigt sich die Komplexität der Rhetorik der Emotionen darin, dass alle diese Begriffsfelder in ihrer langen Tradition nie wertfreie Zuschreibungen erhalten haben. So entsteht schnell die Gefahr einer wenig sachdienlichen Diskussion um deren Wertigkeit. Literatur als „komplexe Kulturtechnik der Emotionalisierung“ 5 – dieser theoretische Ansatz erfordert es, Text- und Emotionsanalyse miteinander zu verbinden. 6 Solche Verknüpfung von Text und Emotion war bis weit ins 18. Jahrhundert Aufgabe der Rhetorik; und die Rhetorik führt diese Aufgabe, ohne ihre normative Kraft zwar, bis heute weiter. Man muss sich vor Augen führen, dass Dichtung bis ins 18. Jahrhundert mit rhetorischen Begriffen erfasst wurde. So beschreibt Harsdoerffer Poetik und Rhetorik allgemeingültig im 17. Jahrhundert als „miteinander verbrüdert und verschwestert“ 7. Beide verhandeln Überzeugungs- und das heißt Emotions- und Wirkstrategien. Emotionen sind also buchstäblich verwoben in die zielgerichtete Systematik der Vertextung. Zur Erreichung der Wirkung einer Rede bzw. eines Textes werden Emotionen in der Rhetorik systematisch behandelt und klassifiziert. Die antiken und frühneuzeitlichen Vorstellungen von Affekten innerhalb von Rhetorik und Poetik gleichermaßen sehen in ihnen nicht nur Mittel für die Überzeugung, 8 sondern sogar „eine Art Mechanismus“ 9, der Zuhörer
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Lobenstein-Reichmann: Affekt, Passion und Leidenschaft im Frühneuhochdeutschen, S. 261. Anz: Kulturtechniken der Emotionalisierung, S. 217. Die Begriffe Emotion, Gefühl, Affekt, Leidenschaft werden in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet, wie heute üblich und wie für die vorkantische Verwendung der Begriffe angemessen; vgl. zur Differenzierung Schmidt: Medien und Emotionen: Zum Management von Bezugnahmen. Schmidt stellt klar, dass es zwischen den Begriffen Emotion, Affekt, Gefühl und Stimmung in unserem Kontext lediglich relative Unterschiede gibt. Dass es semantische Unterschiede gibt und daher auch unter anderer Perspektive eine je andere Wortwahl vonnöten ist, ist unbestritten, zumal die Bezugsgrößen nicht minder unscharf definiert sind. Siegfried J. Schmidt sieht daher Bedarf vor allem in der Systematisierung von der Rede über Emotionen und ihrer Bezüge (vgl. ebenda, S. 12). Eine inhaltliche Trennung von ratio und emotio, wie sie sich in zeitgeschichtlichen Betrachtungen vor allem auch zum 18. Jahrhundert immer wieder zeigt, ist inzwischen suspendiert zugunsten einer kognitionswissenschaftlichen Zugangsweise zu Emotionen. Die Klärung der historischen Begrifflichkeiten für das 18. Jahrhundert und seine Traditionsstränge und der daraus resultierenden Lektüregebote wird im Folgenden, insbesondere in Kap. I,3.1, geliefert. Harsdoerffer: Poetischer Trichter, Teil 3, Vorrede, S. iiij. So die Übersetzung von Aristoteles zu Beginn des ersten Buchs seiner Rhetorik: „Überzeugungsmittel“, 1354a. Die mittelalterlichen Emotionstheorien können in dieser Arbeit keine Berücksichtigung finden. Vgl. dazu aber stellvertretend und ausführlich den Sammel-
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Zur Repräsentation empfindsamer Emotionen
steuern kann – sofern natürlich der Redner über diese Techniken verfügt. Die Mediendifferenz zwischen der Performanz der Rede und dem Schrifttext ist der Rhetorik als blinder Fleck eingeschrieben und muss stets mitgedacht werden; die Überwindung der Mediendifferenz wurde allerdings bereits in der Antike durch die Verschriftlichung der Reden geleistet. Entsprechend unterscheidet Joachim Knape zwei Voraussetzungen: Situativik ist als rhetorisches Basissetting dadurch gekennzeichnet, dass sich alle Kommunikationspartner proxemisch (also raumtheoretisch gesehen) physisch nah beieinander in einem Face-to-face-Interaktionszusammenhang befinden. Dies hat eine ganze Reihe psychologischer, wahrnehmungs-, text- und medientheoretischer Implikationen. Sie stellen sich anders dar, als bei dem zweiten, alternativen Basissetting, auf das die moderne Rhetoriktheorie besondere Rücksicht nimmt: die Dimission. Bei der Dimissivik ist der Orator räumlich vom Adressaten getrennt und muss die Raum-Zeit-Distanzkommunikation mithilfe körperexterner Medien bewältigen [...]. 10
Gleichwohl beachtet die Rhetorik nicht bzw. nicht zwangsläufig, anders als die überwiegend an den res fictae orientierte Poetik, die Differenz von alltagsweltlichen Emotionen und Emotionsrepräsentationen im (literarischen) Text. Thomas Anz nennt die Wende im 18. Jahrhundert eine „erlebnisästhetische“, die auf Echtheit der Gefühle Wert lege; wie zu zeigen sein wird, handelt es sich dabei lediglich um eine andere Funktion eines ganz in der Rhetoriktradition stehenden Textproduktionsverständnisses. Im Hinblick auf eine ‚Geschichte der Gefühle‘ beklagt Anz die Textferne allzu empirischer, emotionspsychologischer Untersuchungen und gleichzeitig die Textfixierung der Philologien. Die ungenaue Terminologie beider Disziplinen sei weitgehend das größte Problem. Eine Lösung hingegen könnte von Seiten systematischer Rhetoriktheorie angestoßen werden, und zwar als Analyse der beim Schreiben mehr oder weniger bewusst eingesetzten literarischen Emotionalisierungstechniken sowie ihrer potenziellen und realen Effekte beim Lesen. Eine von Rhetoriktheorien belehrte, kommunikationsanalytisch orientierte Emotionsforschung könnte sogar dazu geeignet sein, einige Perspektivenverengungen natur- und sozialwissenschaftlicher Emotionsforschungen aufzuheben. 11
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band hrsg. von Jaeger/Kasten: Codierungen von Emotionen im Mittelalter; sowie Eming: Emotion und Expression. Martinec: Lessings Theorie der Tragödienwirkung, S. 25. Knape: Rhetorischer Pathos-Begriff, S. 25f. Vgl. zu den medialen Voraussetzungen außerdem Knape: „The Medium is the Message?“, S. 17–39. Anz: Emotional Turn, S. 10. Zur Konjunktur der so genannten turns vgl. eine Zusammenstellung von Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Vgl. außerdem Till: Text, Kommunikation und Affekt in der Tradition der Rhetorik, S. 286–304.
Empfindsame Rhetorik: eine Einführung
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Unabdingbar ist also eine genaue Lektüre der Texte und Poetiken, innerhalb deren sich zeitgenössische Techniken und Strategien von Emotionskonstrukten zeigen und reflektiert werden; nur so kann Aufschluss über die Aufgaben und Wirkziele erlangt werden, die bestimmten Emotionskonzepten zugeschrieben werden. Dennoch wird in der vorliegenden Arbeit die (empirische) Leseforschung nicht einbezogen, da sie nur schwer historisches Lektüreverhalten rekonstruieren kann: So bedeutet ein implizit oder in der Poetik explizit formuliertes Wirkziel noch lange nicht, dass ein solches Emotionskonzept tatsächlich auch diese Wirkung entfaltete bzw. beim Publikum Erfolg hatte. Lediglich zeitgenössische verschriftlichte Reaktionen in Form von Rezensionen oder Briefen können als Hinweise auf mögliche Rezeptionsweisen dienen. Dass allerdings nicht nur auf der Produktionsseite dieser Schriftstücke, sondern auch auf der Rezeptionsseite handfeste rhetorische und ökonomische Interessen die tatsächliche Rezeption – des zumal auch je unterschiedlichen Publikums – überdecken können, versteht sich angesichts der Platzierung von Text und Autor auf dem literarischen Markt von selbst. Wirkung indes ist seit der Antike an Selbst-Affizierung geknüpft. Verknappt gesagt heißt das: Emotionale Wirkung auf andere erlangt nur derjenige, der die betreffende Emotion selbst in sich hervorrufen kann. Horaz’ einflussreiches Diktum von der Selbst-Affizierung des Produzenten ist im Hinblick darauf, dass die rhetorike techne erst innerhalb der drei Eckpunkte Technik, Talent und Übung zur Redekunst wird, allerdings mit Vorsicht zu behandeln: Zum einen kann die unreflektierte SelbstAffizierung in einer Situation dazu beitragen, „daß auch den Unstudierten die Worte nicht fehlten“ 12, zum anderen ist das planvolle Selbstaffizieren Mittel zur Überzeugung, wie Quintilian für den Schauspieler und RedeSchüler gleichermaßen formuliert. 13 Bei Quintilian heißt es sinngemäß so auch von der Gerichtsrede: „siccis agentis oculis lacrimas dabit?“ 14 Die Selbst-Affizierung spielt also eine Rolle beim Verfassen von gewinnenden poemata. Die Forderung si vis me flere, dolendum est/ primum ipsi tibi: tum tua me infortunia laedent 15 impliziert beide Vorgänge: Die Natur bewegt zuerst die Menschen je nach Situation in ihrem Inneren, um dann in einem zweiten
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Till: Transformationen, S. 383. Vgl. Quint. Inst. or. VI, 2, 34f.: „Nos illi simus, quos gravia, indigna, tristia passos queremur, nec agamus rem quasi alienam, sed adsumamus parumper illum dolorem. ita dicemus, quae in nostro simili casu dicturi essemus. vidi ego saepe histriones atque comoedos, cum ex aliquo graviore actu personam deposuissent, flentes adhuc egredi.“ Ebenda VI, 2, 27: „Wird man den trockenen Augen eines Redners Tränen schenken?“ Übers. d. Verf. Die Antwort lautet selbstverständlich: „fieri non potest.“ Hor. ars 102f.: „Wenn du willst, dass ich weine, ist es zunächst an dir zu leiden: dann werden mich deine Schicksalsschläge treffen.“ Übers. d. Verf.
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Zur Repräsentation empfindsamer Emotionen
Schritt die Regungen des Geistes bzw. der Seele durch die interpretative Sprache auszudrücken: post effert animi motus interprete lingua 16. Horaz verkürzt hier diesen Vorgang als Paradoxon sentenzhaft: Denn einerseits funktioniert das Wirkungsziel der Erregung von Affekten nur durch Selbst-Affizierung – wodurch wiederum eine vermeintlich unvermittelte ‚Seelenverwandtschaft‘ möglich wird. Andererseits wird das Auseinanderklaffen von ‚format enim natura [...] nos intus‘ 17 und ‚effert animi motus interprete lingua‘, von Seelenbewegung und Seelenaussprache, deutlich. Es reicht eben nicht, dass Dichtung ‚nur‘ schön ist, sie muss auch die Seele bewegen. 18 Eine Rhetorik-Kritik wird somit bereits in der als poetologisch normativ rezipierten rhetorischen ars poetica durchgesetzt. Für das 18. Jahrhundert beschreibt Dietmar Till diese Rhetorik-Kritik als eine gegen die Schulrhetorik opponierende, „‚innere[] Affekt-Rhetorik‘“ 19. Mit anderen Worten: Es gibt seit jeher Spaltungen innerhalb rhetorischer Ausprägungen, nicht aber die Abwendung oder -wertung von der Rhetorik im 18. Jahrhundert schlechthin. 20 So stellt Rüdiger Campe vielmehr für diesen Zeitraum zu Recht den Paradigmenwechsel von der Hintansetzung „des leidenschaftlichen Redners durch die Rede der Leidenschaften“ 21 fest. Die sprachliche Neuorientierung ist ohne die Neubestimmung einer zentralen Kategorie undenkbar: das commercium mentis et corporis, das sich auch als Verhältnis von einem Körperaußen, einem Gesellschaftsaußen und einem angenommenen Inneren beschreiben lässt. Das so genannte Innere wird im 18. Jahrhundert noch als Seelenorgan betrachtet, ehe die Seele und ihre Lokalisation wieder metaphorisch enträumlicht werden. 22 So bildet der Kontext des von Anz so benannten und als Modeterminus belächelten emotional turn im 18. Jahrhundert in allen wissenschaftlichen und pseudo-wissenschaftlichen Bereichen den notwendigen Hintergrund
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Ebenda, 111: „Dann gibt die Natur die Bewegungen des Geistes durch die Sprache als Übersetzerin kund.“ Übers. d. Verf. Ebenda, 108: „Denn die Natur gestaltet uns inwendig.“ Übers. d. Verf. Ebenda, 99f. Till: Transformationen der Rhetorik, S. 31. Geitner, gegen die sich Till an dieser Stelle ausspricht, konstatiert in ihrer Studie eine rhetorische Wende im Sinne einer Entrhetorisierung im 18. Jahrhundert. Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 170f. Vgl. dazu auch Kramer: Goethe und die Rhetorik, insbesondere S. 15–22 sowie S. 80–90. Olaf Kramer stellt anhand des Sturm und Drangs dar, dass das Ausspielen der Konzepte ars- vs. natura-Rhetorik keinesfalls in einer Absage an die Rhetorik – so beispielsweise im Geniebegriff – bestünde. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 138. Vgl. dazu meine Zusammenfassung in Roeben: „Geheimnisse des Flüssigen“, S. 146f.: Seit Platons Timaios stellte man sich den Sitz der Seele im Gehirnmark vor, so noch Platner und Soemmerring. Wie stimulierend dieses Geheimnis für die Literatur war und ist, zeigt sich beispielhaft an Novalis ތHeinrich von Ofterdingen.
Empfindsame Rhetorik: eine Einführung
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für die Versprachlichung der Emotionen, die in je neuen Perspektiven entdeckt werden, sei es medizinisch in der Suche nach dem Organ der Seele, sei es popularphilosophisch innerhalb der gefühlsnormierenden Moralischen Wochenschriften. Die „Diskursivierung der Gefühle“ 23 bringt einen reichen Schatz literarischer Bildlichkeit von Emotionen hervor, die Ausdifferenzierung der Wissenschaften vermehrt überdies die anthropologischen Kenntnisse und das Wissen um die Komplexität der Umwelt 24 und ihrer problematischen Vermittelbarkeit. Das ‚Innere‘ wird nicht nur dadurch interessanter, dass der naturwissenschaftliche, medizinische und anthropologische Wissenszuwachs einen neuen Begriff vom Menschen und von Geschlecht zu konstruieren vermag, sondern auch dadurch, dass die Kategorie des Einzelnen, des Subjekts, an Interesse gewinnt. Johann Gottfried Herder, zeitgenössischer Seismograph für diesen paradigmatischen Wechsel in der Versprachlichung von Emotionen, macht in seinen Schriften die Komplexität von Zeichen und Emotion als „Sprache der Empfindungen“ 25 mehr als deutlich: „Die Welt eines Fühlenden ist bloß eine Welt der unmittelbaren Gegenwart; er hat kein Auge, mithin keine Entfernung als solche: mithin keine Oberfläche [...]“. 26 Diese Verbindung von Emotion und Moment als unmittelbare Gegenwärtigkeit in der Literatur ‚abzubilden‘, impliziert, so Wolfgang Isers Überlegungen zur Autonomie der Kunst, Distanznahme. 27 Die Übertragung – Meta-phorik – von Emotion in Sprache bedeutet also Verlust von Unmittelbarkeit: Die Rhetorik der Emotionen bleibt in diesem Sinne immer insuffizient. Herder kommt zu einem dementsprechend eindeutigen Fazit: Der Dichter „soll Empfindungen ausdrücken: – Empfindungen durch eine gemalte Sprache in Büchern ist schwer, ja an sich unmöglich.“ 28 Diese neue Poetik der Unmittelbarkeit zeugt also per definitionem von höchster Künstlichkeit, denn sie muss die eigene Gemachtheit und Medialität verbergen: Du mußt den natürlichen Ausdruck der Empfindung künstlich vorstellen, wie du einen Würfel auf der Oberfläche zeichnest; du mußt den ganzen Ton deiner Empfindung in dem Perioden, in der Lenkung und Bindung der Wörter ausdrücken: du mußt ein Gemälde hinzeichnen, daß dies selbst zur Einbildung des andern ohne deine Beihülfe spreche, sie erfülle, und durch sie sich zum Herzen grabe: du mußt Einfalt, und Reichtum, Stärke und Kolorit der Sprache in deiner Ge-
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Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 18. Zu diesem Verhältnis vgl. den Sammelband von Klinkert/Neuhofer (Hrsg.): Literatur, Wissenschaft und Wissen seit 1800. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. I. Von der neuern römischen Literatur, III, 6 – Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 403. Herder: Zum Sinn des Gefühls – ebenda, Bd. 4, S. 235. Herv. i. Orig. Iser: Walter Pater. Die Autonomie des Ästhetischen, S. 41. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. I. Von der neuern römischen Literatur III, 6 – Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 402. Herv. i. Orig.
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Zur Repräsentation empfindsamer Emotionen
walt haben, um das durch sie zu bewürken, was du durch die Sprache des Tons und der Geberden erreichen willst [...]. 29
Diese Passage thematisiert nicht nur die eindeutige Verbundenheit mit der Rhetorik sowie die Aufgaben eines Redners – auf der Grundlage von Quintilians eindeutigen Erfordernissen an erstens das docere: Scharfsinnigkeit, zweitens an das movere: Wortgewalt, drittens an das delectare bzw. conciliare: Sanftheit 30 –, sondern Herder wirft die bereits angesprochene Frage des Verhältnisses von Innenwelt und Außenwelt auf. Diese Frage soll insofern nicht weiter verfolgt werden, da sie erstens nicht letztgültig zu beantworten ist und zweitens in die Irre führen kann. Als Beispiel für die Schwierigkeiten und Fallstricke angemessener Beschreibung kann die Argumentation um Emotion und Wirklichkeit von Johannes Lehmann dienen: Dieses Zugleich von Innenweltimagination und Außenweltdokumentation lässt sich vor dem Hintergrund der diskursiven Freilegung des Gefühls [...] verstehen: Wenn Gefühle in dauernder und notwendig gegenwärtiger Interaktion mit der Außenwelt eine Innenwelt organisch bilden, dann wird eben diese gegenwärtige Außenwelt zur Voraussetzung der Darstellung von Gefühlen und Affekten im Sinne einer Erzählung empirischer Einzelfälle. 31
Lehmann argumentiert, dass durch diesen Bezug die Komplexität der Außenwelt sprachlich erfasst und so der nicht minder komplexen Erfindung von Innenwelt gerecht werde. So vorzugehen ist insofern problematisch, als er damit von einer Abbildbarkeit der Außenwelt und einer Hermeneutik des Inneren ausgeht. Eine solche Übertragung ist in sich bereits rhetorisch und die Rhetorik ist, wie beispielsweise Paul de Man eindrücklich anhand seiner Theoriekritik feststellt, die einzige Zugriffsgröße auf ein so polyvalentes und komplexes Textfeld wie die Literatur, auch und gerade dann, wenn darin letztlich selbstreferentiell behauptet wird, es nicht zu sein. 32 Nicht nur der Beginn der aristotelischen Rhetorik und die Tatsache, dass Rhetorik jede Form der Textverfassung betrifft, legen nahe, die Rhe-
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Ebenda, S. 403. Herv. i. Orig. Vgl. im Zusammenhang Quint. Inst. or. XII 10, 59: „quorum tamen ea fere ratio est; ut promum docendi secundum movendi, tertium illud, trocumque est nomine, delectandi sive, ut alii dicunt, conciliandi praestare videatur officium, in docendo autem acumen, in conciliando lenitas, in movendo vis exigi videatur.“ Lehmann: Emotion und Wirklichkeit, S. 481–498. De Man: Der Widerstand gegen die Theorie, S. 80–106, insbesondere S. 93. Daran knüpft de Man eine Ideologiekritik, die anhand einer Rhetorikanalyse die Funktionsweisen der Literatur offenlegt, ohne sie zu überformen. De Mans Fazit ist das eines „rhetorische[n] Lesens“ (105), das die Theorie der Unmöglichkeit der Theorie provoziert. Radikal gesprochen ebnet diese „Sprache des sich selbst Widerstehens“ (106) Kanones, Traditionen und Textdifferenzen ein. Vgl. dazu auch Posselt: Katachrese, insbesondere S. 68–76.
Empfindsame Rhetorik: eine Einführung
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torik als Metadisziplin zu betrachten, 33 die als ziel- und wirkungsorientierte Disziplin somit notwendig auch sich selbst reflektieren muss. So gesehen scheint sich ein Einwand gegenüber der Verknüpfung von Rhetorik und Empfindsamkeit zu ergeben: Wie kann die empfindsame Erzählstrategie, die so offensichtlich ernsthaft die Vermittelbarkeit ‚echter‘ Gefühle propagiert, gerade in ihrem Zentrum rhetorisch ausgerichtet sein? Forschungskonsens ist inzwischen, dass es sich hierbei um Inszenierungen einer gewollten, also gekünstelten bzw. kunstvollen Kunstlosigkeit handelt, die sich in entsprechend ‚privaten‘ Genres ausdrückt. Folglich muss die immer wieder im Raum stehende Behauptung beseitigt werden, es gebe im Zusammenhang mit dem Subjekt die ‚Natürlichkeit‘ – eine Vorstellung, die angesichts des kulturwissenschaftlichen Konsens von der Dichotomie der Geschlechter um 1800 immer dann Missverständnisse nach sich zieht, wenn die zeitgenössische Erklärung des weiblichen Geschlechtscharakters durch die ‚Natürlichkeit‘ – Einfühlungsvermögen, Intuition, Irrationalität – nicht als rhetorisches Konstrukt und als Machtinstrument offengelegt wird. Dabei ist festzuhalten, dass es letztlich nur rhetorische narrative Konzepte von Natürlichkeit gibt, wie sie z. B. die literarische Empfindsamkeit ausstellt. Ich gehe im Folgenden stets von der Rhetorizität so genannter Natürlichkeit aus. Aus solcher Perspektive einer rhetorischen Beschaffenheit der ‚Natürlichkeit‘ muss nicht erst darauf hingewiesen werden, dass die scheinbare Innenwelt des Konstrukts Mensch ebenfalls ein solches Konstrukt ist, das in Sprache(n) übersetzt wird und sich, wie jede Fiktion, Anleihen aus der ‚Umwelt‘ einholt. Dieses so genannte ‚Innen‘, umschrieben mit Termini wie Gefühl, Emotion oder Seele, gewinnt dann an Bedeutung, wenn ihm eine Tiefe – Einzigartigkeit, Entwicklungsfähigkeit und Abbildbarkeit – zugeschrieben wird. Die gleichwohl so genannten ‚Erzählungen des Inneren‘ dominieren die literarischen wie außerliterarischen Diskurse des 18. Jahrhunderts, sie führen über pietistische Lebensläufe, Sammel- und Autobiographien 34 zu einer intensiven Sezierung des Innenlebens einer dramatischen Figur (Sara Sampson) bis hin zum Zerreden der Affekte und zu aggressivem Offenbarungszwang (Werther). Dass Empfindsamkeit hochgradig konstruiert ist, zeigt sich an den außerordentlich kreativen zeitgenössischen Satiren und Parodien, und dass
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Vgl. Arist. Rhet. 1354a: „Deswegen haben auch alle auf gewisse Weise an beiden Anteil; alle haben nämlich zu einem gewissen Grad damit zu tun, ein Argument zu prüfen und zu stützen, sich zu verteidigen und anzuklagen.“ Vgl. dazu den Forschungsbericht von Keck/Günter: Weibliche Autorschaft und Literaturgeschichte, S. 201–233. Vgl. außerdem die Untersuchungen von Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus; Wustmann: Die „begeisterten Mägde“.
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Empfindsamkeit Rhetorik ist, zeigt sich nicht zuletzt an deren Sendungsbewusstsein. Darüber verfügt in besonderem Maße auch der Pietismus, der mit ähnlichen Schlagworten charakterisiert wird. Die Rhetorik des ‚Inneren‘, wie sie der Pietismus herausbildet, ist zunächst mit der Aufklärung konform, da sie Kenntnisse zur Bewusstwerdung und zur Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen liefert. Der Pietismus führt allerdings das radikal subjektive Urteil über seine Erfahrungen und Emotionen ein, besteht auf der Ausschließlichkeit dieses Urteils und propagiert damit gleichsam die ‚Kontingenz der Zeichen‘, die keine Entsprechung im Gegenüber haben müssen und daher nicht mehr entziffert werden können. So schließt sich der Pietismus, teils auch zum eigenen Nachteil, gegen das Außen ab und wird aus rational-aufklärerischer Perspektive geselligkeitsund damit gemeinschaftsgefährdend. 35 Das Bewusstsein seiner selbst, wie es spezifisch in Empfindsamkeit und Pietismus hervorgebracht wird und von dem das moderne Ich (-Konstrukt) geprägt ist, also ein hochgradig selbstreflexives, sich selbst beobachtendes Konstrukt, wird in der Literatur entwickelt und gedoppelt, so dass das für die Literatur interessante Modell mehrfacher (Selbst-) Beobachtung (Beobachtung ‚zweiter Ordnung‘) entstehen kann. Wie kann also, um mit Kleists Käthchen zu sprechen, das „unsichtbare Ding, das Seele heißt“ 36, dargestellt werden? Im ut-pictura-poesis auf seine Formel gebracht, muss der – besonders selbstbezogene – Darstellungs- und Wahrnehmungsdiskurs, der in bildenden Künsten und Literatur und ihrer Theorie im 18. Jahrhundert zum vorrangigen Thema avanciert, in den Blick genommen werden, nicht zuletzt, damit mimesis und diegesis von Emotionen historisch adäquat reflektiert werden. 37 Rhetorisch ist die Selbstbeoachtung insofern nicht nur durch die Übersetzungstätigkeit und ihre Bildlichkeit, sondern auch durch ihre gerade um 1800 besondere Intensität, die eine kaum zu überschätzende Funktion bekommt: Sie sorgt für Spannung, Sensationslust und Reflexion der Lektüre bzw. deren Normvorgaben. Die Rhetorik der Selbstbeobachtung holt pietistische und autobiographische Quellen in die Literatur ein und drückt nicht zuletzt prägnante Zweifel an Selbstbeobachtung und Selbst-Beobachtbarkeit aus.
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Vgl. Fues: Der Pietismus im Roman, S. 546. Kleist: Das Käthchen von Heilbronn – Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, II, 1, S. 284f. Gerade diese Szene von der Zurschaustellung der Seele offenbart ihre Ambivalenz in ihrem Verstellungskontext von (Ver-)kleidung und Schminke. Vgl. dazu Weidmann: Rhetorik der Kleidung um 1800, S. 227. Vgl. dazu grundlegend Stafford: Kunst. Ihre neueste Publikation Echo objects (2007) versucht diese Fragen nach mimesis und Emotionsrepräsentationen interdisziplinär, zwischen Gehirnforschung und Kunst, miteinander zu verknüpfen.
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Selbstbeobachtung als ‚Veröffentlichung‘ der Seele ist aber darüber hinaus in diesen Diskursen an einen Tugendanspruch geknüpft. Diese Verknüpfung schlägt sich repräsentativ und sinnfällig im Sokrates zugeschriebenen und in der Neuzeit erst vereindeutigten „Rede, dass ich Dich sehe!“ nieder. 38 Der Ausspruch zielt, wenn auch nicht in seinem ursprünglichen Kontext, auf das ethos der Rhetorik, auf die Verschränkung der Botschaft der Kommunikation mit dem Redner. Darin liegt ein gemeinsames Charakteristikum von Empfindsamkeit und Pietismus. Dieser tugendethische Anspruch verlangt eine entsprechende Stilistik: Die Ziele der rechten Mitte, wie im aristotelischen mesótes-Ideal profiliert, das positiv verstandene Mittelmaß und insbesondere die Mäßigung der Leidenschaften stehen im Zentrum und bedürfen adäquater Versprachlichung und Veranschaulichung, für die die mittlere Stillage prädestiniert ist. Diese Studie verfolgt die Absicht, diese zentralen Ziele zu rekonstruieren und zu analysieren und damit neue Perspektiven für die Literatur des 18. Jahrhunderts zu gewinnen. Das zeitgenössische Ziel, die Lesbarkeit des Gegenüber, also des Anderen, ist aber nicht nur eine (empfindsame) Utopie, sie bildet auch das Feld für Manipulationen aller Art. Gerade das hermeneutische Problem der verallgemeinerbaren Interpretation bzw. das je neue Lesenmüssen des Anderen ist übertragbar auf die Innen-Außen-Dichotomie des Subjekts: Wo es keine Unmittelbarkeit gibt und geben kann, besteht die Gefahr des Missverständnisses, der Intrige, der Katastrophe. Gerade von diesem Konfliktpotential lebt aber Literatur, und nicht zuletzt das Drama. Daraus ergibt sich das literarische Experiment Empfindsamkeit mit der gleichzeitig für die Literatur so charakteristischen Selbstreflexivität der eigenen Produktion und Rezeption von Literatur. Es geht bei den Konzepten der Selbstbeobachtung und Selbstreflexivität letztlich um die Inszenierung einer anti-rhetorischen Sprache als Sprache ‚echter‘ Emotionen. Die enorme Innovationskraft und Transformationsfähigkeit einer bereits überkommenen (Schul-)Rhetorik im
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Diese Sokrates unterstellte Formel wird zuerst zitiert bei Apuleius: „‚Ut te videam,‘ inquit, ‚aliquid et loquere.‘“ (Florida, II, 1) Im Kontext dieses Kapitels kann der hier zitierte Ausspruch Relevanz für diese Arbeit beanspruchen, insofern Inneres, Äußeres und dessen Vermittlung im Zentrum stehen. Dazu heißt es im Kommentar von Hunink: Apuleius of Madauros: Florida, S. 61: „Socrates measured human beauty with the eye of the mind and soul. Indeed, if the judgement of the eye were the criterion, we would be defeated in wisdom by the eagle. For we humans possess only limited sight, whereas the eagle can spot his victims even from high in the air and surveys all that is on ground.“ Das Programm ist beispielhaft für die Frühe Neuzeit aktualisiert bei Thomasius: Die neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen Wissenschaft, Das Verborgene des Herzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen (1691) – Ausgewählte Werke, Bd. 22, S. 449–490.
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18. Jahrhundert besteht in der Option zur rhetorischen Inszenierung der Differenz von Oberfläche und Tiefe, und zwar als Einheit. Dies ist keineswegs per se antirhetorisch strukturiert. Die zeitgenössisch postulierte Kunstlosigkeit im Sinne von Leichtigkeit, Natürlichkeit und weiteren Stiltugenden, die nicht neu erfunden, aber neu semantisiert werden, auch als solche zu nehmen, wäre eine zu glatte Lesart. Es muss vielmehr darum gehen, auf der Ebene der Textproduktion den Ernst einer ‚authentischen‘ Versprachlichung von Emotionen und die rhetorische Literaturtradition gelehrten Spiels (variatio, imitatio), gerade auch der EmpfindsamkeitsParodien und -Satiren, zueinander ins Verhältnis zu setzen. Diese konkurrierenden Entwürfe gegenüberzustellen und das Moderne der Versprachlichung von Emotionen herauszustellen, gehört zu den Zielen dieser Arbeit. Da bewusst von einer Rhetorik der Empfindsamkeit gesprochen werden soll, stellt sich die Frage, was an die Stelle der bislang gängigen These von der Anti-Rhetorik der Empfindsamkeit rücken muss. 39 In dieser Arbeit wird das Konzept einer ‚Rhetorik der Mitte‘ für die Literatur der Empfindsamkeit vorgeschlagen, das insbesondere auf Aristoteles’ mesótesIdeal zurückgeführt werden soll. Die Lehre von der rechten Mitte, also von denjenigen Tugenden, die zum Glück führen, wie man diese Lehre stichwortartig umreißen kann, äußert sich auf komplexe Weise in außerliterarischen und nicht zuletzt literarischen Diskursen des Betrachtungszeitraums. Es wird dabei deutlich, dass die Rhetorik der Emotionen in einem komplexen Traditionszusammenhang steht. Die Etablierung der mesótes und die Einübung vollziehen sich in geselligen Zirkeln, in Briefkorrespondenzen sowie Zeitschriften, um nur einige Beispiele zu nennen. Problematisch ist gleichwohl das Verhältnis von Tugendethik und Literatur, was sich zeitgenössisch explizit wie implizit in der inzwischen zur Doktrin gewordenen horazischen Formel vom prodesse aut delectare niederschlägt. Eine Analyse dieses Verhältnisses von Nutzen und Unterhaltung darf nicht nur nach seiner Ausprägung im 18. Jahrhundert fragen, sondern muss dessen Wandel bis um 1800, an dem die Empfindsamkeit maßgeblich beteiligt ist, in den Blick nehmen. 1.1 Rekonstruktion empfindsamer Rhetorik: Textauswahl Für das weitere Vorgehen dieser Arbeit, die Rekonstruktion empfindsamer Rhetorik in der Literatur des 18. Jahrhunderts, muss zunächst das Verhältnis von Rhetorik und literarischer sowie außerliterarischer Darstel-
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Vgl. dazu Kapitel I,4 dieser Studie.
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lung von Emotionen geklärt werden. In einem zweiten Schritt wird die Partizipation empfindsamer Rhetorik an Rhetoriktraditionen, insbesondere hinsichtlich historischer Terminologie, aufgefächert. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Verhältnis von pathos und ethos bzw. die Vorrangstellung des ethos für die Empfindsamkeit. Die Ergebnisse dieser Diskussion sollen als ‚Rhetorik der Mitte‘ mit dem aristotelischen mesótes-Ideal zusammengeführt werden, das durch die betrachteten Diskurse des 18. Jahrhunderts entscheidend aktualisiert worden ist. Auf diese Weise treffen sich Stilebene und Tugendanspruch gewissermaßen ‚in der Mitte‘ und charakterisieren so die Wirkungsabsicht der Empfindsamkeit, nämlich unterhalten und zugleich belehren zu wollen. Diese Voraussetzungen für die hier vorgeschlagene Lesart empfindsamer Rhetorik erfordern, im daran anschließenden Kapitel, eine neue Bewertung der Diskussion um die Anti-Rhetorik von Aufrichtigkeit und die ‚Kunstlosigkeit‘ der Empfindsamkeit. Es soll schließlich gezeigt werden, dass die vermeintlichen Gegensätze – kunstvolle Kunstlosigkeit, empfindsame Rhetorik, individuelle Geselligkeit, lehrreiche Unterhaltung – strukturelle Kennzeichen der ‚Rhetorik der Mitte‘ sind. Nicht jedoch Ambivalenz prägt diese Konzepte, sondern ihre Ausgleichsbestrebungen. Dabei ist herauszustellen, dass die hier vorgenommene Verknüpfung von Rhetorik und Empfindsamkeit zu neuen Zugängen zur Epoche der Empfindsamkeit führt, beispielsweise bezogen auf ihre zeitliche Eingrenzung oder auf den Grad der Selbstreflexivität. Aus den theoretischen Vorüberlegungen des ersten Kapitels ergeben sich das Textkorpus und die fünf Themenschwerpunkte dieser Arbeit, die im Folgenden zunächst skizzenhaft vorgestellt werden sollen: ‚Rhetorik der Mitte‘ – prodesse et delectare in Zeitschriften und Brief (Kapitel 2), Erfolgskonzepte und Musterstücke: Pietismus, Empfindsamkeit, Rokoko (Kapitel 3), weibliche Autorschaft und empfindsame Rhetorik (Kapitel 4), empfindsame Rhetorik auf die Probe gestellt (Kapitel 5) sowie, im zeitgenössischen Kontext, zur Mode geworden – Parodien auf die Empfindsamkeit (Kapitel 6). Die Einübung in die so genannten sanften Affekte und die Kommunikation über ihre Kontrollierbarkeit geschieht im Rahmen der Geselligkeit, die als historisch wandelbares Phänomen im 18. Jahrhundert neue Konturen erhält (Kapitel 2): „Wenn wir Aufklärung im weitesten Sinn als Akt der Befreiung von Bindungen verstehen, die einer kritischen Überprüfung durch die Vernunft nicht standhalten, so läßt sich dieser Prozeß der Loslösung von Institutionen und Autoritäten Punkt für Punkt an dem verän-
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derten Geselligkeitsprinzip ablesen.“ 40 Die Pragmatik des Diskurses lässt sich exemplarisch an der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige nachverfolgen. Was mit Thomasius’ „Verschiebung des Interesses von der StaatsKlugheit zur Privat-Klugheit“ 41 um 1700 beginnt, muss sich erst einmal terminologisch festigen. Zum Zeitpunkt des Erscheinens des Geselligen 1748–1750 ist, wie am Titel der Wochenschrift unmittelbar einleuchtend, die Semantik des Begriffs Geselligkeit bereits so eindeutig, dass sich ein breites Publikum angesprochen fühlen konnte. Wenn Albrecht Koschorke also argumentiert, Empfindsamkeit sei nur schriftlich denkbar und werde erst nach dem Lesen anwendbar, 42 muss dem allerdings zur Seite gestellt werden, dass Literatur – und ebenso Privatbriefe – im semi-öffentlichen geselligen Raum (dem Garten oder Park, dem Salon oder der Bibliothek, unter Freunden oder in der Familie) rezipiert und vor allen Dingen laut vorgelesen wurden. So berichtet beispielsweise die Salonière Henriette Herz im Rückblick in ihren Erinnerungen über die Notwendigkeit, im lauten Vorlesen im Sinne der Performanz rhetorischer actio unterrichtet zu werden. 43 Lektürepraxis ist gleichwohl immer schon Thema in empfindsamer Literatur, selbstreflexiv einerseits, eine Lese- und Lebensanweisung andererseits, denn das „Nachleben von Literatur wird schon innerhalb der fiktionalen Textwelten durchgespielt.“ 44 Auch im Geselligen ist dieses Durchspielen zu beobachten, wobei Geselligkeit als Tugendbotschaft und Unterhaltung zugleich inszeniert wird. Ich beziehe das Modell empfindsamer Rhetorik als einer ‚Rhetorik der Mitte‘ auf die konsequente Pragmatik des frühneuzeitlichen Geselligkeitsdiskurses, der freilich auch durch pathos realisiert wird – schließlich soll die Lektüre nicht langweilig werden. Die Geselligkeit, wie sie in der Literatur des 17. und 18. Jahrhundert in den verschiedensten Gattungen und Medien durchbuchstabiert wird, ist, nicht zuletzt hervorgerufen durch das mitt-
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Adam: Horaz-Lektüre im Winter, S. 6. Zur Begriffsgeschichte der Geselligkeit vgl. außerdem Francois (Hrsg.): Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Zur Verknüpfung von Vernunft und Geselligkeit um 1700, insbesondere zu Thomasius vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Mauser: Geselligkeit, S. 11. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 163. Herz: Erinnerungen, S. 47f. Vgl. auch Klopstock: Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen (1755) – Ausgewählte Werke, S. 1047: „Es ist mit Recht der zweite Wunsch jedes Dichters, der für denkende Leser geschrieben hat, daß sie diese Geschicklichkeit [= die Kunst, Gedichte zu lesen] besitzen möchten; eine Geschicklichkeit, die Boileau, der sie besaß, für so wichtig hielt, daß er dem glücklichen Vorleser den zweiten Platz nach dem Dichter anwies.“ Für das Ohr und zum Vorlesen habe Klopstock geschrieben, vgl. Funke: Aussprache und „Sprechung“ bei Klopstock, S. 361–369. Für den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit insbesondere relevant ist Martens: Lektüre bei Gellert, S. 123–150. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 163.
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lere Stilideal, von der vermeintlichen Differenz von Vernunft und Vergnügen, docere und delectare, Tugendbotschaft und Unterhaltung bestimmt. Diese sprichwörtliche Mitte gilt es zu finden bzw. für verschiedene Gruppen nutzbar zu machen. Das Konzept der Mitte wird auch außerliterarisch eingeübt: Briefsteller des ausgehenden 17. Jahrhunderts vermitteln bereits nicht mehr nur Informationen und theoretische Anweisungen zu Gelegenheitsbriefen. Musterbriefe haben vielmehr nicht mehr alleinigen Anweisungscharakter, sondern sie werden auch für die vergnügliche Lektüre relevant, z. B. durch sensationelle Inhalte wie Reisebeschreibungen oder Schilderungen von Naturkatastrophen oder durch kleine Geschichten, die sich durch musterhafte Briefwechsel entspinnen: „Gemessen am Unterhaltungswert, den diese [...] Briefvorlagen vorweisen, können Briefsteller durchaus als mögliche Vorläufer der seit Mitte des 18. Jahrhunderts sich etablierenden Briefromane gelesen werden.“ 45 Richardsons Briefroman Pamela, or Virtue Rewarded (1740) war ja bekanntermaßen ursprünglich als Briefsteller geplant und ausgewiesen. 46 In der Literatur wird das außerliterarische Briefeschreiben und Rezipieren gewissermaßen gedoppelt und reflektiert. In Zedlers Universal-Lexicon ist in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Funktion des Briefs als Rede und als Gesprächsersatz zugleich ausgewiesen: Der Brief ist „eine kurze, wohlgesetzte, und von allerhand Sachen handelnde Rede, so man einander unter einem Siegel schrifftlich zuschickt; wenn man nicht mündlich mit einander sprechen kann.“ 47 Vorrangiges Mittel zur Erzeugung sekundärer Mündlichkeit im Brief ist ein Wechsel der Stilebene sowie die Umfunktionalisierung des rhetorischen Begriffes der simplicitas, der Natürlichkeit, denn dieser setzt sich aus den älteren Stiltugenden der Deutlichkeit, Klarheit und Zierlichkeit zusammen und ist somit als „geglättete Natürlichkeit“ 48 zu lesen. Der entscheidende Wechsel – und damit verbunden auch die Aufwertung der Kategorie der Natürlichkeit – ist, wie im Zedler festgehalten, derjenige vom Brief als rhetorisch verfasster Rede zum Gespräch. Dass es sich dabei gleichwohl um Kunst, nämlich die ‚Kunst der Kunstlosigkeit‘ handelt, scheint auf den ersten Blick der so prominent behaupteten weiblichen Veranlagung zum natürlichen Briefschreiben zu widersprechen, muss doch für gewollte Kunstlosigkeit ein rhetorisches und ästhetisches Grundverständnis vorliegen.
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Furger: Briefsteller, S. 79. Vgl. u. a. Witte: Die Individualität des Autors. Gellerts Briefsteller, S. 86. Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 4: Brief, Sp. 1359. Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 218.
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Wichtig ist, dass Frauen als Zielgruppe der Briefsteller – als Produzentinnen und Rezipientinnen – bereits im Kontext des galanten Briefdiskurses erfasst werden, beispielsweise in der Frage, welche Briefe eine (ledige oder verheiratete) Frau annehmen dürfe und welche nicht. 49 Hierbei sind auch Regeln zu beachten, beispielsweise die Zierlichkeit des Briefs, die im 18. Jahrhundert durch das „unbelastete und unverbrauchte Schöne“ 50 als Stilbezeichnung ersetzt wird. In beiden Fällen geht es um die Wirkung des Briefes, der auch auf der Stilebene gefallen und angenehm sein soll. Erst im 18. Jahrhundert, mit empfindsamer Rhetorik und deren Stilidealen, wird das rhetorische Dispositionsschema mit seinen Stilnormen suspendiert zugunsten von solchen Stil- und Sprachidealen, die als Türöffner für weibliche Autorschaft fungieren konnten. Die angeblich natürliche Veranlagung von Frauen zu empfindsamer Briefproduktion hat ihren Ursprung, liest man Goethes briefliche Lektüre- und Schreibanweisungen an seine Schwester Cornelia exemplarisch, also nicht in der (rhetorischen) Bildung oder in Fremdsprachenkenntnissen, sondern vielmehr in der vorbildhaften Lektüre. Lese- und Schreibprozesse im Rahmen des Geselligkeitskonzepts der Aufklärung werden öffentlich begleitet und damit kontrolliert. Lessings Anweisung an seine Schwester: „Schreibe wie Du redest, so schreibst Du schön“ 51 von 1743 und Goethes auffallend ähnliche Formulierung ebenfalls an seine Schwester von 1765 – „Mercke diß; schreibe nur wie du reden würdest, und so wirst du einen guten Brief schreiben“ 52 – heben die Fingierung von Mündlichkeit in Briefen hervor, wofür Stilideale wie Lebhaftigkeit und letztlich auch ‚Natürlichkeit‘ einstehen. Gleichzeitig bleibt das decorum in Ton und Inhalt das Kriterium für das richtige Verhal-
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Vgl. beispielsweise bei Neukirch: Anweisung zu Teutschen Briefen, 1. Buch, II. Kapitel, S. 17–22. Vgl. zudem Nickisch: Die Frau als Briefschreiberin im Zeitalter der deutschen Aufklärung, S. 29–65 sowie diesen Fokus bei Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit, passim. Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 213. Lessing: Brief Nr. 1 an Dorothea Salome Lessing vom 30.12. 1743 – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 11/1, S. 7. Welche Bedeutung dieses Thema im Briefwechsel hat, stellt das Zitat im Zusammenhang heraus: „Ich habe zwar an Dich geschrieben, allein Du hast nicht geantwortet. Ich muß also denken, entweder Du kannst nicht schreiben, oder Du willst nicht schreiben. Und fast wollte ich das erste behaupten. Jedoch ich will auch das andre glauben; Du willst nicht schreiben. Beides ist strafbar. Ich kann zwar nicht einsehn wie dieses beisammen stehn kann: ein vernünftiger Mensch zu sein; vernünftig reden zu können; und gleichwohl nicht wissen, wie man einen Brief aufsetzen soll. Schreibe wie Du redest, so schreibst Du schön.“ (Ebenda). Goethe: Brief Nr. 9 an Cornelia vom 6./7.12. 1765 – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. II, Bd. 1 (28), S. 25. Vgl. zudem den Kommentar der historisch-kritischen Briefausgabe, S. 47. Darin wird darauf hingewiesen, dass diese Maxime auf Gellerts Abhandlung und dessen Forderung des Briefs als einer Nachahmung des guten Gesprächs zurückgehe.
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ten in der Gesellschaft. Empfindsame Selbstaussprache kennzeichnet sich also als mündlich und flüchtig und kann scheinbar in keine rhetorische Regelhaftigkeit eingepasst werden. „Wie aber spielt sie sich ab, die erzählende Vergegenwärtigung?“ 53 Jede Vergegenwärtigung in der Literatur ist eine rhetorische Strategie zur Erzeugung von Unmittelbarkeit. Als Einübung für den Werther werden gemeinhin die Behrisch-Briefe aus der Leipziger Zeit Goethes gelesen. Es geht allerdings durch die Individualisierung im Briefstil nicht um die Abschließung des Individuums vom Gegenüber durch eigene Gesetzmäßigkeiten, sondern um die Öffnung des Inneren im Topos der Seelenverwandtschaft, der beispielhaft bei Wieland untersucht wird. 54 Wird dieser Topos aufgerufen, ist die Abwesenheit des Adressaten impliziert, die erst die empfindsame Rhetorik zur Entfaltung bringen kann. Gleichzeitig muss die Rhetorizität des Geschriebenen zum Verschwinden gebracht werden, damit die Aufrichtigkeit des Schreibenden und somit des Geschriebenen nicht in Frage gestellt wird. Als ‚Erfolgskonzepte der Mitte‘, die im dritten Kapitel anhand von Mustertexten untersucht werden, bieten sich Pietismus, Empfindsamkeit und Rokokoliteratur an. Insofern ist es nicht sinnvoll, den Einfluss des Pietismus, wie oft geschehen, auf die Ebene der Spracherneuerung allein zu begrenzen, sondern es sind auch das neue Predigerideal und die Affektenlehre am Beispiel Franckes im Kontext einer veränderten Hermeneutik für ein neues Menschen- und Selbstbild relevant. Für Pietismus wie Empfindsamkeit gilt: „Thus, these early works created a new, subjective language that promotes a self-reflexive mode of interactivity with conversion narratives and ultimately with scripture.“ 55 August Langen stellt Sprachinnovationen unter dem Einfluss des Pietismus vor, die in hohem Maße auch die sprachliche Bildlichkeit der Empfindsamkeit strukturieren: „Der Pietismus bedeutet eine gewaltige Schulung in der Aussprache und Formulierung seelischer Erlebnisse überhaupt.“ 56 In der Auseinandersetzung mit dem Pietismus und seinen Konsequenzen für eine ‚geistliche Empfindsamkeit‘ soll unterstrichen werden, dass solche Emotionalisierungsstrategien nicht erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzen, sondern bereits wesentlich früher. Die Grenzen der Epoche der
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Klotz: Erzählen, S. 20. In Wielands Sympathien lässt sich dieser Topos anhand der Allegorisierung der Tugend zeigen; Wielands Text wird in dieser Studie (Kapitel II, 2.4) nur in Bezug auf das Verhältnis von Seelenverwandtschaft und Tugend exemplarisch befragt, nicht vorrangig auf den Zusammenhang mit der Empfindsamkeit. Roberts: German Pietism, S. 215. Vgl. Langen: Wortschatz des deutschen Pietismus, S. 48.
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Empfindsamkeit müssen daher, wie in dieser Arbeit vorgeschlagen, erweitert werden. Als Vorreiter für die Empfindsamkeit dürfen also nicht nur, wie es oft geschieht, die besonders schwärmerischen Ausprägungen des (Herrnhuter) Pietismus herangezogen werden, sondern beispielsweise auch die carte de tendre aus Madame de Scudérys galantem Roman Clélie (1649–1653) lässt sich unter diesem Aspekt lesen; sie dient, als Landtafel der Freundschaft in der deutschen Clelia (1664) übersetzt, als Grundlage für die hier vorgenommene Analyse. Ein Vergleich dieser ‚Emotionslandschaft‘ mit Brockes’ Gefühlsreflexion aus dem Patrioten von 1724 zeigt, dass die spielerische Qualität der galanten Literatur enge Verbindungen zur Frühaufklärung aufweist. 57 Beide Beispieltexte sollen als Voraussetzungen für das Konzept empfindsamer Rhetorik interpretiert werden. Als empfindsames Musterstück par excellence kann schließlich Lessings Miss Sara Sampson (1755) gelten, in der sich die Suche nach der mesótes exemplarisch zeigt. Ihr in der Analyse gegenüberzustellen ist Pfeils ein Jahr später erschienenes Drama Lucie Woodvil, das eine konservative Absage an Lessings Dramenkonzeption formuliert und das Verhältnis von pathos und empfindsamem ethos anders positioniert. Eine exemplarische Zusammenführung von Sittlichkeit und Zärtlichkeit leistet Johanna Charlotte Unzer (1725–1782), deren anakreontische Gedichte unter einem entsprechend programmatischen Titel zusammengefasst sind: Versuch in sittlichen und zärtlichen Gedichten (1754). Anhand dieser Gedichtsammlung lässt sich für die Rokokolyrik eine rhetorische ‚Mitte‘ feststellen. Darüber hinaus, und das macht sie als Autorin besonders bemerkenswert, ist Unzer auch mit einer philosophischen Schrift bekannt geworden, anhand derer sich die spannungsreiche Verbindung von weiblicher Autorschaft und empfindsamer Rhetorik mustergültig ablesen lässt. Diese spannungsreiche Verbindung weiblicher Autorschaft mit empfindsamer Rhetorik wird im vierten Kapitel mit Friederike Sophie Hensel (1738–1789) und Caroline Auguste Fischer (1764–1842) als Repräsentantinnen für die empfindsame Literatur und die der Empfindsamkeit besonders nahestehenden Genres Rührstück und Briefroman beleuchtet werden. Als erste deutsche Weltweise, wie Unzer zeitgenössisch genannt wird, macht sie sich schon früh einen Namen. Mit ihrem Grundriß einer Weltweißheit für das Frauenzimmer (1751) versucht sie Information als Unterhaltung für ein zeitgenössisches weibliches Publikum zu liefern. Ihr gelingt es, im genus medium anschaulich in einem Fach zu reüssieren, in dem weibliche Autorschaft als ungewöhnlich, jedoch noch nicht negativ gewertet
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Steigerwald: Galanterie als Kristallisations- und Kreuzungspunkt um 1700, S. 51–79.
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wird. Als Teilnehmerin am geselligen Hauskreis Georg Friedrich Meiers hatte sie Kenntnis von den neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Ästhetik und Philosophie. Durch die Analyse der Texte dieser Autorin soll gezeigt werden, dass empfindsame Rhetorik weit mehr ist als die – trotz gendersensibler Forschung – prominent vertretene Vorstellung von den natürlichen weiblichen Qualitäten, etwa ‚gefühlvoll zu schreiben‘ oder gleich: empfindsam zu sein. Mit Friederike Sophie Hensel, verheiratete Seyler, wird im Anschluss daran eine Erfolgsschauspielerin der Empfindsamkeit in den Blick genommen, die die Sara wie auch die Marwood professionell verkörperte und in ihrem eigenen Rührstück Die Entführung, oder: die zärtliche Mutter (1772) eine entsprechend neue Perspektive auf die Literatur der Empfindsamkeit wirft. Damit lässt sich nicht nur der Kanon der derzeit als maßgeblich betrachteten bürgerlichen Trauerspiele erweitern, sondern auch thematisch korrigieren. Gleiches gilt im Bereich des modischen Genres des Briefromans: Die Leiden des jungen Werthers und Das Fräulein von Sternheim haben in der Forschung Bestand, nicht aber bislang Caroline Auguste Fischers Die Honigmonate (1802). Das verbindende Element beider Genres für die hier angestellten Betrachtungen liegt in der bereits zuvor thematisierten Geselligkeit, wie es Alexander Honold auf den Punkt bringt: „Zwischen Brief und Theater bestehen bemerkenswerte historische wie diskursive Affinitäten; es sind dies Geselligkeit stiftende Medien par excellence, die an der Herausbildung einer literarisch sozialisierten bürgerlichen Öffentlichkeit im [...] 18. Jahrhundert bedeutenden Anteil haben.“ 58 Empfindsame Lektüre wird im fünften Kapitel in Ludwig Hakens Blicke aus meines Onkels Dachfenster in’s Menschenherz von 1790 gewissermaßen auf die Probe gestellt. In den Text sind modische Genres wie die Pantomime und das tableau vivant integriert. Der Theologe und Schriftsteller Johann Christian Ludwig Haken (1767–1835) radikalisiert, was Prosadramen, Briefromane, Spiel im Spiel und Botenberichte miteinander verbindet: die Verschränkung von Erzählung und Drama. In diesem Fall handelt es sich um eine Erzählung eines Rührstücks als Spiel im Spiel. Im Prosatext wird der Voyeurismus einer Figur herausgestellt, die im gegenüberliegenden Haus dramatische Szenen über Tage hinweg beobachtet und protokolliert. Der Erzähler wird somit zum Zuschauer eines Rührstücks mit dem einzigen Handicap, über die Entfernung zum Nachbarhaus als einer Bühne nichts hören zu können. Dieses Rührstück als Spiel im Spiel entfaltet dennoch alle Besonderheiten eines empfindsamen Dramas, die der Beobachter in Sprache übersetzt. Anhand dieses Textes soll deshalb abschließend diskutiert werden, ob sich die empfindsame Rhetorik der Mitte
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Honold: Pathos-Transport, S. 99.
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tatsächlich wirkungsästhetisch vereindeutigen lässt und so für Rezipienten les- und verstehbar ist. An diese Frage nach der Festschreibung eines empfindsamen ‚Vokabulars‘ schließen sich drei für Pietismus- und Empfindsamkeitskritik exemplarische Lektüren im sechsten Kapitel an, die Pietisterey im Fischbeinrocke (1736) Luise Adelgunde Victorie Gottscheds, der Triumph der Empfindsamkeit (1777) Johann Wolfgang Goethes und Christian Friedrich Timmes Der Empfindsame Maurus Pankrazius Ziprianus Kurt, auch Selmar genannt. Ein Moderoman (1781). Die hyperbolische Sprache der Parodie mit satirischem Zweck ist das genaue Gegenteil der emphatischen Sprache der Empfindsamkeit; jene Ironie zerstört überdies deren Anspruch auf Ernsthaftigkeit. In den betrachteten Komödien wird „die emphatische Kommunikation auch auf eine neue Weise, auf der Ebene einer Beobachtung zweiter Ordnung, reflektierbar“ 59. Oder, mit anderen Worten: Die ‚herabsetzende Komik‘ 60 der Satire, bei Gottsched eindeutig der Didaktik einer Erkenntniskritik zuzuordnen, muss auf ein bereits feststehendes, für diese Arbeit relevantes pietistisches und empfindsames Sprach- und Bildreservoir referieren können, auf eine Ordnung in den als Komödien und Roman verkleideten Parodien, die Schritt für Schritt dekonstruiert werden kann. Dass empfindsame Rhetorik der Mitte im 18. Jahrhundert, spätestens aber in den 1770er Jahren, nicht mehr aus dem literarischen Feld wegzudenken ist, wird an diesen Texten deutlich. Die Rhetorik empfindsamer Emotionen erschöpft sich selbstverständlich nicht in diesen drei exemplarischen Beispielen. Vielmehr geben die hier angeführten Beispiele darüber Aufschluss, inwiefern die Rhetorik der Empfindsamkeit vielfältig und langlebig ist. 1.2 Zur sprachlichen Repräsentation von Emotionen Wie kann über Emotionen überhaupt gesprochen werden und wie werden sie zur Darstellung gebracht? Ein systematischer Zugang zu Emotionen in der Literatur ergibt sich durch ihre Verortung in der Rhetorik und damit durch die Festlegung darauf, dass sich nur Emotionsrepräsentationen untersuchen lassen, allenfalls Codierungen, es aber nicht das Ziel sein darf, die Ausdruckskonventionen und Ausdrucksinnovationen eines konstruierten Inneren auf eine etwaige Realität zu applizieren oder fiktive Figuren gewissermaßen ‚auf die Couch zu legen‘. Die Gefahr, dies zu tun, ist deshalb so groß, weil empfindsame Rhetorik und die Diskurse, aus denen sie
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Andree: Die Komik der Emphase, S. 63. Zur Begrifflichkeit vgl. Greiner: Die Komödie, S. 97–114.
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schöpft, eine Sprache des Inneren suggerieren. Ein Rezipient mag durch die im 18. Jahrhundert zentralen Themen der Selbstbeobachtung, Selbsterfahrung und Selbstaussprache dazu verführt werden, die damit verknüpften Programme so genannter Natürlichkeit und Authentizität für bare Münze zu nehmen. Aus der Aussage: „man spricht so, wie man empfindet, und der Dichter passt wie der Redner seine Darstellung den zugrundeliegenden seelischen Zuständen an“ folgert Jürgen H. Petersen, bereits Horaz fordere für die Produktion von Dichtung „Vernunft und Natürlichkeit“ sowie „gesunden Menschenverstand“ 61. Solche problematischen Verwendungen gerade auch alltagssprachlicher Begriffe müssen in dieser Arbeit auf den Prüfstand gestellt werden. Dass die Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert die Behauptung eines Inneren aufstellt und Emotionen, Seele und Herz, im Sinne einer Substanz als einer ex post zu entdeckenden und zu versprachlichenden Qualität in den Fokus rückt, schließt die rhetorische d. h. zielgerichtete Erschließung neuer loci – als Topologie und als metaphorische Sprachräume – gerade nicht aus, sondern ein. Die neue Bildlichkeit vermittelt ein neues Selbstverständnis des Menschen. Jedoch maßt sich diese hochgradig rhetorische Vermittlung, wie Josef Kopperschmidt hervorhebt, gar nicht erst an, durch Sprache tatsächlich in das so genannte Innere vorzustoßen. Die Behauptung des Inneren interessiert als ornatus, als Bildspender, als diejenige Projektionsfläche, der sich ganz bestimmte Charakteristika überzeugend und unhinterfragt sowie manchmal klischeehaft ‚andichten‘ lassen. 62 Ob diese Perspektive auch auf die Selbstwahrnehmung des 18. Jahrhunderts, das die Seele substantiell denkt, zutrifft, soll hier nicht entschieden werden. Denn auch wenn sich die Zeitgenossen weitgehend einig sind, dass es sich um ein semantisches Problem handelt, ist damit nicht zwangsläufig verbunden, das so genannte Innere in Frage zu stellen. Rüdiger Schnell hat das Problem, um das auch diese Arbeit kreist, insofern auf den Punkt gebracht, als er fragt, ob in der Literatur bei der Narrativierung von Emotionen – denn anders ist ein Sprechen darüber nicht möglich – diese als vorgängige Entitäten vorausgesetzt werden oder, erst durch die Versprachlichung konstruiert, als eine Kette von Übersetzungen angesehen werden, es sich also um Metaphern, symbolische Repräsentationen handelt. 63 Gleichzeitig aber problematisiert Schnell den Begriff codierter
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Petersen: Über Unterschiede, S. 26f. Kopperschmidt: Zur Anthropologie des forensischen Menschen, S. 204–243. Vgl. Schnell: Erzähler – Protagonist – Rezipient, S. 1–51. Zum Verhältnis von Narrativität und Emotion beziehe ich mich im Folgenden, soweit für die literaturwissenschaftliche Textanalyse ertragreich, maßgeblich auf Voss: Narrative Emotionen. Vgl. außerdem Winko: Kodierte Gefühle, passim.
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Emotionen als Suggestion von vorgängigen Emotionen. Eine Lösung des Dilemmas stellt er nicht in Aussicht. Alltagspsychologisch gesprochen ist die ‚Narrativität der Emotionen‘ nichts Neues: Die Tatsache, dass wir uns primär im Modus des Erzählens – und nicht z. B. in Form von Statistiken oder bloßen Aufzählungen – zu unseren Emotionen verhalten und sie dabei auch verändern können, mag selbst als Indiz ihrer narrativen Struktur gewertet werden. Im erzählenden Zuwenden zu unseren Emotionen können wir diese nämlich z. T. auflösen, steigern oder mildern. 64
Dass sich die Wertigkeit von Emotionen situationsbedingt bewusst oder unbewusst ändern kann, ist Basis für die erfolgreiche Rede. Gerade die Steuerung bestimmter Emotionen durch Konventionen und Werturteile ist ein gutes Beispiel: Während Sara Sampson, wie noch auszuführen sein wird, Mitleid mit einer als Lady Solmes verkleideten Marwood haben kann, die ihre Lebensgeschichte als Parallelerzählung in Szene setzt, schlägt Saras Mitleid in dem Moment in Verachtung und Distanznahme um, als die Namen ausgetauscht werden. Lady Solmes ތSchicksal sei Marwoods Schicksal und damit dem ihren gleich – ein für Saras Selbstbild und Urteilsvermögen völlig unzulässiger Vergleich. Da Emotionen also in ihrer Struktur immer schon narrativ konstruiert sind, gelingt der Bezug zur Literatur leicht, zumal diese Narrativierungen wiederum auf die Alltagserzählungen von Emotionen zurückwirken. 65 Gerade für die Etablierung durchsetzungsfähiger Poetologeme anhand bestimmter Emotionen ist wichtig, dass ein gewisser Fundus an immer wiederkehrenden Topoi, Wendungen und Narrationsmustern verbreitet und verstehbar wird. Diese Überformung vorauszusetzen bedeutet eine grundsätzliche Verabschiedung von den natürlichen Zeichen, wohingegen andere Disziplinen, beispielsweise die empirische Psycholinguistik, die Analyse der Leseraktivierung – „they must give substance to the psychological lives of characters“ 66 – zum Ziel hat. Das signum naturale ist in der Literatur immer bereits ein signum datum, 67 ein künstliches Zeichen, das Lessing im Laokoon für die Poesie gerade dadurch nobilitiert, indem er ihm die Qualitäten der Lebhaftigkeit, Ein-
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Voss: Narrative Emotionen, S. 211. Vgl. auch Schmidt: Geschichten und Diskurse, S. 23. Vgl. Voss: Narrative Emotionen, S. 185. Gleichwohl soll ihr philosophischer Ansatz gerade Entitäten beschreiben können (S. 186). Insgesamt fächert Christiane Voss eine Bandbreite psychologischer und kognitionswissenschaftlicher Ansätze auf und bezieht diese auf die Erzählbarkeit von Emotionen, allerdings eben nicht in literaturtheoretischer Hinsicht. An dieser Stelle sei für diesen Forschungsbereich auf den Stanforder Psycholinguisten Richard Gerrig verwiesen, der insbesondere auch zum Verhältnis von Emotionen und Fiktionen Stellung nimmt, vgl. Gerrig: Experiencing narrative worlds, S. 17. Vgl. für die Frühe Neuzeit insbesondere Meier-Oeser: Die Spur des Zeichens, S. 171–425.
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drücklichkeit und Deutlichkeit zuschreibt. 68 Diese „Zeichen der Poesie“ 69 sind schließlich determiniert durch konventionalisierte Wissenstraditionen und Gattungen. D. h. es handelt sich immer ‚nur‘ um Beschreibungen. Diese Beschreibungen zielen aber nicht allein auf ihre rhetorische Wirksamkeit im Sinne von Verstehbarkeit und Affizierbarkeit, sondern sie bilden innerhalb der Darstellung auf zweiter Deutungsebene ein gleichzeitiges Verweisnetz. Damit wird Literatur selbstreferentiell, verweist auf sich selbst, und die Referenzen auf außerliterarische Wirklichkeit, die es zweifellos angesichts komplexer Phänomene wie der Narrativierung von Emotionen gibt, werden in den Bereich des Möglichen, der res fictae, verwiesen. Geht man davon aus, dass es so genannte, wenngleich nicht referentialisierbare, Wirklichkeitssplitter auf Produktions- wie Rezeptionsseite immer gibt, bedeutet dies jedoch nicht, dass dadurch die Narrativierung von Emotionen etwa alltagssprachlich ‚realer‘ werde und es Ziel von Interpretation sein müsse, Erzählinstanz und Figuren zu anthropomorphisieren oder eine biographistische Hermeneutik zu betreiben. Umgekehrt kann die rhetorisch-ästhetische Anlage eines komplexen literarischen Textes diese Anschluss-Stellen zu alltagsweltlichem Sprechen über Emotionen für eine erfolgreiche, zielgerichtete Erzählstrategie nutzbar machen. Schnell spricht von der bereits erwähnten doppelten Codierung von Emotionen, ihrer Versprachlichung und den daraus resultierenden rhetorischen Wirkzielen. 70 Unter dem Stichwort „Soziologie des Gefühls“ setzt Henrike Alfes das kulturelle Wissen einer Zeit, das in Emotionen ablesbar sein soll, ins Verhältnis zu seinen Regulierungsmechanismen, der Codierung von Emotionen. Während sie einerseits feststellt, dass Emotionen in Codes reguliert, konventionalisiert und repräsentiert werden – z. B. durch Begriffe, Wahrnehmungsschemata und Medialisierung –, heißt es andererseits: „Emotionen und Codes sind inkommensurabel.“ 71 Damit wird in Frage gestellt, dass diese Codes oben Genanntes leisten können, denn: „Emotionen sind ständig über- oder unter-codiert und dieses (Miß-)Verhältnis bestimmt das emotionale Klima einer Gesellschaft mit.“ 72 Mit anderen Worten: Emotionsrepräsentationen, in diesem Fall mit ‚Code‘ umschrieben, sollen leisten, was sie nicht zu leisten vermögen: nämlich Eindeutigkeit. Die Kommunikationsumgebungen von Emotionen sind häufig Untersuchungsgegenstand, weniger hingegen „Gefühle als Bestandteile literari-
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Lessing: Laokoon. Oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5/2, Stück XVII, S. 123–129. Ebenda, S. 123. Vgl. Anm. 63. Alfes: Literatur und Gefühl, S. 94. Ebenda.
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scher Texte“ 73. Die literarische Kommunikation, wie beispielsweise Ergebnisse von Rezeptionsprozessen (Lektürefähigkeit, Fiktionskompetenz), sozialgeschichtliche Paradigmenwechsel (Familie) sowie außerliterarische Entwicklungen (Buchmarkt) müssen jeweils immer den Hintergrund für eine Analyse der Emotionalisierungsstrategien in Texten bilden. Die eingesetzten rhetorischen Mittel erzielen im literarischen wie außerliterarischen Kontext ihre Wirkung auf ähnliche, vergleichbare Weise und stellen so hohe Anforderungen an die zeitgenössische Fiktionskompetenz. Ein Scheitern der Differenzierung von fiktionaler und nicht-fiktionaler Gefühlsrhetorik führt aber gerade nicht zum Misserfolg literarischer Empfindsamkeit, sondern, im Gegenteil, begründet erst ihren Erfolg. Dieser Rhetorik der Emotionen in der Literatur im 18. Jahrhundert geht vorliegende Arbeit nach – und zwar nicht, um sie als historische Leseforschung zu ‚verifizieren‘ oder eine generelle Entscheidung über das Vorhandensein von Emotionen treffen zu können, sondern um gerade der rhetorischen Inszenierung von Emotionen nachzuspüren und zu zeigen, wie prägend die Selbstreflexivität rhetorischer Emotionsdarstellung in der Literatur um 1800 ist. Exemplarisch kann die Strömung der Empfindsamkeit in diesem Kontext gelesen werden, unter deren Etikettierung zwar eine antirhetorische Wende propagiert und suggeriert wird, der jedoch gleichzeitig zeitgenössisch der Vorwurf gemacht wird, dass vor allem die empfindsamen Werte innerhalb des Diskurses der Empfindsamkeit selbst als Entitäten ernst, geradezu zu ernst genommen werden. Bei der Empfindsamkeit zeichnet sich also genau diese Diskussion ab, um die auch die Forschung kreist: Emotion als Entität und oder rhetorisches Konstrukt? 74 Für das 18. Jahrhundert stellt sich gleichwohl die Frage, ob nicht zeitgenössisch beides, die Rhetorik der Emotionen und gleichzeitig das Vertrauen auf die Entität eines subjektkonstituierenden Inneren zusammengehen kann. Die derzeit populäre Beschäftigung mit Emotionstheorien und die Fragen nach ihrer Beschreibbarkeit (als Code, Repräsentation oder Entität) machen es notwendig, einige interdisziplinäre Ansätze der Emotionsforschung als notwendig mitzudenkenden Hintergrund zu skizzieren, die als Impulse für kulturwissenschaftliche Arbeiten Geltung haben. Im Rahmen dieser Arbeit sollen die Skizzen die Vielfalt der verwendeten Begriffe und Theorien vorstellen und einen Bezugsrahmen bilden, zu dem sich die hier verwendete rhetorik- und kulturgeschichtliche Terminologie verhält.
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Ebenda, S. 12. Vgl. stellvertretend Schnell: Erzähler – Protagonist – Rezipient, S. 1–51.
2. Heterogenität der Emotionsforschung: Verknüpfungsprobleme Ein Literaturwissenschaftler kann und muss keine Urteile über die Emotionen fällen oder gar ihre Existenz auf den Prüfstand stellen, sondern vielmehr ihre Textrepräsentation untersuchen. Die Beschreibungen unterschiedlicher Disziplinen und die methodischen Herangehensweisen zur Rekonstruktion historischer Emotionen haben je verschiedene Zielsetzungen. Im Folgenden werden ausgewählte Beschreibungsversuche einzelner Ansätze skizziert, um die Bandbreite der derzeitigen Emotionsforschung aufzufächern und vor diesem Hintergrund die eigene Lesart mit den begriffs- und rhetorikgeschichtlichen Zugängen zu Emotionen zu positionieren. Bekannt sind die soziologische Beschreibung von Emotionen, auch für das 18. Jahrhundert, von Niklas Luhmann in Liebe als Passion 75 – im systemtheoretischen Vokabular der so genannten ‚Liebessemantik‘ – und ihre literaturwissenschaftliche Weiterführung in Liebe als Roman von Niels Werber. 76 Referenztext ist hier, wie bei den meisten Darstellungen zur Empfindsamkeit, Goethes Werther, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des angenommenen Höhepunkts literarischer Empfindsamkeit in den 1770er Jahren. Sobald die Materialbasis über die empfindsame Höhenkammliteratur, so von solcher überhaupt gesprochen werden sollte, hinausgeht, kann Goethes Text nicht als der empfindsame Prototyp gelesen werden, 77 sondern als Schwellentext, an dem das positive Empfindsamkeitskonzept in sein Gegenteil umschlägt. Den „Kommunikationscode“ 78 Liebe zu untersuchen, bedeutet, die, gleichwohl historische variable, rhetorische Regelung von Emotionsrepräsentationen zu analysieren. Luhmann spricht also gar nicht erst von Emotionen selbst. Die Rhetorizität der Emotionen steht insgesamt nicht oft im Mittelpunkt von Beschreibungen; dieser Konnex wird gleichwohl als integraler Bestandteil dieser Arbeit aufgefasst und den anders perspektivierenden Beschreibungsweisen in den folgenden kurzen Skizzen gegenübergestellt werden. Die ‚Philosophie der Gefühle‘ wie auch die ‚Wirkungsgeschichte der Gefühle‘ haben, will man es auf den Modeterminus des emotional turn brin-
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Vgl. Luhmann: Liebe als Passion, passim. Vgl. Werber: Liebe als Roman, insbesondere S. 19–26 und S. 45–47. Vgl. Doktor: Die Kritik der Empfindsamkeit, S. 270 und 472f. Luhmann: Liebe als Passion, S. 23.
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gen, Konjunktur in Literatur- und Medienwissenschaften. 79 Dass die Narrativität der Emotionen in der Literatur häufig nur – und dies auch erst in den letzten Jahren – von ihrer Wirkung auf den Rezipienten her betrachtet wird, liegt daran, dass empirische Leseforschung wie emotionspsychologisches Erkenntnisinteresse Lesepositionen fokussieren. So strebt Katja Mellmann eine gewiss plausible Wirkungsgeschichte der Gefühle mittels eines narratologischen Instrumentariums an, das die Brücke zwischen Rezeptionsästhetik (also der Emotionswirkung) und der Textanalyse (also der Emotionsrepräsentanz) schlägt. Der Diskursanalytiker zeige, „daß bestimmte Textmerkmale von den Zeitgenossen als emotional klassifiziert worden sind, nicht, ob sie auch tatsächlich emotional gewirkt haben, und riskiert, Verfälschungen durch die jeweilige historische Diskurslogik aufzusitzen“ 80. Mellmanns Hypothese der ‚realen‘ Gefühle ist vor dem Hintergrund des ‚idealen‘ bzw. „anthropologischen Modell-Leser[s]“ 81 zwar nachvollziehbar, geht aber auf Kosten der Erzählstrategien bzw. Repräsentationsmodi (z. B. einer Rhetorik der Gefühle), die Emotion eben ‚nur‘ suggerieren. Deshalb muss eine Geschichte der Gefühle sich mit der Produktionsseite wie mit der Rezeptionsseite beschäftigen. Dabei ist zunächst freizulegen, welche Beglaubigungsstrategien, welche Erzählstrategien es überhaupt für diesen identitätsstiftenden Bereich der Emotionen gibt und wie diese erfolgreich sein können. Dies alles ist wiederum erstens der Versprachlichung als immer neuer Distanznahme und Reflexion und zweitens der Literatur und dem Spiel der Literatur mit Konzepten, Modellen, Begriffen geschuldet. Fiktionale Literatur erhebt schließlich keinen Anspruch darauf, etwas in die Narrativierung von Emotionen hineinzulegen, was auch genauso interpretierbar sein muss. Analysierbar sind, davon geht die vorliegende Studie aus, also nicht die Emotionen selbst, sondern nur die Kommunikation der Emotionen, die Repräsentation der Gefühle. Um diese beschreiben zu können, bedarf es elaborierter Sprachbildlichkeit und erheblichen Kontextwissens, woraus nur die Konsequenz folgen kann, dass eine Rhetorik der Gefühle immer eine Reflexion der Gefühle impliziert.
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So Döring (Hrsg.): Philosophie der Gefühle; in diesem Sammelband sind sämtliche philosophischen Ansätze zur Emotionstheorie zusammengestellt. Vgl. außerdem WeberGuskar: Die Klarheit der Gefühle. Vgl. zum Thema Geschichte bzw. Wirkungsgeschichte der Gefühle u. a. die Zielsetzung des Exzellenz-Clusters „Languages of Emotion“ der FU Berlin, so beispielsweise das Projekt Rhetorik der Empathie unter der Leitung von Dietmar Till (http://www.languages-of-emotion.de/de/317.html, Zugriff am 20. Oktober 2011). Mellmann: Emotionalisierung, S. 20f. Herv. i. Orig. Ebenda, S. 21.
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Der Forschungsstand der Emotionspsychologie 82 ist sicher nicht angemessen repräsentiert durch das populärwissenschaftliche Buch des amerikanischen darwinistischen Psychologen Paul Ekman, Gefühle lesen, aber es zeigt die auch über die scientific community hinausgehende Präsenz dieses Forschungsbereichs und die weite Verbreitung des Wunsches, Emotionen ‚verhandelbar‘ zu machen und gewissermaßen zu objektivieren. Daher sei ein kurzer Ausblick auf diesen Bereich der Annäherung an Emotionen erlaubt. Es handelt sich dabei also um einen Ratgeber zur vermeintlich erlernbaren und vereindeutigten Entzifferung der Körperzeichen, wie es im Untertitel heißt: Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. 83 Die Ziele dieses Ratgebers, der hier exemplarisch Erwähnung findet, unterscheiden sich, wenngleich wissenschaftlich anders fundiert, strukturell wenig von den Ratgebern des 18. Jahrhunderts – wie etwa Knigges Ueber den Umgang mit Menschen (1796) –, bei denen es letztlich ebenso um Affektkontrolle wie um die Förderung von Empathie und Mitgefühl geht. 84 Besonders interessant für den lessingschen Primäraffekt des 18. Jahrhunderts, das Mitleid, erscheint die Aussage Ekmans, dieses sei weder eine Emotion noch eine Stimmung: „Es verzerrt unsere Sicht der Realität nicht und filtert sie auch nicht selektiv aus. Es macht uns sensibler für die Realität. Es sorgt dafür, dass wir uns mehr für die Realität interessieren.“ 85 Man müsse Mitgefühl erlernen und fördern, bis es sich dann zu einem bleibenden Charakteristikum des Menschen ausgebildet habe. Der hier beschriebene Vorgang von der Ausbildung, Förderung und Gewöhnung sittlichen Verhaltens ist im Begriff des ethos verwurzelt; so heißt es in der aristotelischen Nikomachischen Ethik: „Daher auch der Name (ethisch, von êthos), der sich mit einer leichten Variante von dem Begriff für Gewöhnung (éthos) herleitet.“ 86 Im Körperausdruck, besonders der Mimik, zeige der Mensch seine Emotionen. Allerdings sagt der Körperausdruck nichts über die Ursache der Gefühle. Nichtsdestoweniger wird das (Körper-)Zeichen
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Für weiterführende Ausführungen der Forschungspositionen vgl. Mees: Zum Forschungsstand der Emotionspsychologie – eine Skizze (2006). Ekman: Gefühle lesen. Vgl. außerdem den Überblick des Forschungsstands im Handbook of Affective Sciences: Keltner u. a.: Facial Expression of Emotion, S. 415–432. Vgl. auch den Metalog Warum fuchteln die Franzosen. – In: Bateson: Ökologie des Geistes, S. 39–44. Vgl. Knigge: Über den Umgang mit Menschen, III, 3, 12 – Ausgewählte Werke in zehn Bänden, S. 322: „Die Hofleute lesen besser Mienen als gedruckte Sachen [...].“ Ekman: Gefühl und Mitgefühl, S. 179. Arist. NE II, 1103a. Im 18. Jahrhundert ist die Aristoteles-Rezeption christianisiert. Die Diskussion entzündet sich überdies am Mitleidsbegriff der Poetik und nicht etwa am Mitleidsbegriff der Nikomachischen Ethik. Dort nämlich gehört das Mitleid zu den „irrationalen Regungen“, den Leidenschaften, und muss erst in die Überlegungen über die rechte Mitte sittlicher Tüchtigkeit eingeordnet werden, vgl. Arist. NE 1105b. Vgl. zum Mitleidsbegriff in der aristotelischen Rhetorik und seine Interpretation im 18. Jahrhundert die Ausführungen in Kapitel III, 2.2.
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als lesbares erlebt; folgt man den Studien zur nonverbalen Kommunikation Ekmans, gibt es sieben so genannte ererbte „Basisemotionen“, die sich in der Mimik spiegeln: Fröhlichkeit, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung. Ekman und Friesen haben vor diesem Hintergrund das, nach eigener Aussage objektive, „Facial Action Coding System“ (FACS) entwickelt. Es gibt Emotionssignale, die sich am Menschen zeigen und belegen lassen; was sich nach wie vor nicht zeigt, sind die Ursachen für die Signale. An diesem Punkt setzt die Interpretation ein, also der Wunsch nach Lesbarkeit. Schließlich entwickeln nicht alle Emotionen universell lesbare Signale und darüber hinaus gibt es Emotionen wie Schuldgefühle, die zunächst gar keine lesbaren Signale entfalten. Nun stellt Ekman fest, dass die Eigenbeobachtung von Emotionen teils gar nicht stattfindet, zum Beispiel in Bezug auf Bedrohungssituationen, die ein blitzschnelles Reagieren erforderlich machen. Man könne also von einem anfänglichen Bewusstseinsmangel sprechen. 87 Auf den Kontext der empfindsamen Literatur gewendet: Die Anstrengungen einer Sara Sampson beispielsweise, die die Beobachtung ihrer Emotionen und die Übersetzung in Sprache nicht im Nachhinein leisten will, sondern gleichzeitig, müssen scheitern. 88 Die Ergebnisse der Hirnforschung haben gezeigt, dass Emotionen für Entscheidungsprozesse eine besondere Rolle aufgrund ihrer ‚Schnelligkeit‘ spielen. Gleichzeitig heißt es bei Ekman aber auch, dass man eine Fertigkeit ausbilden müsse, sich die Emotion ins Bewusstsein zu bringen. Diese Ausbildung ist selbstverständlich auch für das 18. Jahrhundert relevant und wird, aus heutiger Retrospektive, oft als Not zu langatmiger Emotionsreflexion interpretiert – so, wenn die literarischen Figuren aus bürgerlichen Trauerspielen oder Briefromanen kein Ende finden, emotionale Zustände zu analysieren. Solch ein Urteil entspricht dem zeitgenössischen Empfinden des Publikums jedoch in keiner Weise. Daher ist es geboten, die Distanz zwischen heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, dem anthropologischen Wissen der Zeit und Emotionsrepräsentationen in der Literatur kritisch zu reflektieren. Emotionen und Stimmungen trennt Ekman voneinander, insofern Stimmungen länger andauern als Emotionen (zwischen Stunden und Sekunden). Stimmungen seien für andere nur mittels Emotionssignalen ablesbar, sie verursachten Unflexibilität in Reaktion und Handlung. 89 Die nachträgliche Reflexion auf eine Emotion führt oft zur Ursache, die Ursache von Stimmungen ist hingegen nicht so einfach rekonstruierbar. Diese
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Ekman: Gefühl und Mitgefühl, S. 54. Ekman: Gefühle lesen, S. 85–94. Die Psychologie spricht von der Refraktärzeit, innerhalb derer eine Reflexion über Emotionen oder Handlungen unter deren Einfluss nicht möglich ist. Ebenda, S. 71.
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psychologischen Abgrenzungen der Begriffe können dazu beitragen, auch bei literaturwissenschaftlichen Interpretationen darauf zu achten, möglichst trennscharf zu argumentieren und nicht Ausdruck und Ursache oder Emotion und Stimmung zu verwechseln. Mehr auf Literatur bzw. Texte fokussiert die mit der Kognitionspsychologie verknüpfte (kognitive) narratologische Erzählforschung. 90 Gesine Schiewer beispielsweise verbindet Kognitionspsychologie und Narratologie mit dem Versprechen, nicht den Figuren eines Textes selbst, sondern den mental repräsentierten Figuren eines Textes Emotionen zuschreiben zu können. Dieser Ansatz, literarische Texte als historische Quellen zu lesen, ermögliche, so Schiewer, im Unterschied zu Supertheorien wie der Systemtheorie die historische Verortung der Figuren als Menschen im Sinne von diskursiven Konstruktionen. 91 Eine Adaption für die Literaturwissenschaft muss allerdings zunächst die Anschlussfähigkeit der Kognitionswissenschaften in Bezug auf die Terminologie prüfen. So behandelt Schiewer in ihrer Interpretationsskizze Goethes Faust als ein komplexes Beispiel für Forschungsdesiderate im Bereich kognitiver Emotionstheorien, um zu beweisen, dass und wie die Figur Faust als Person zu rekonstruieren sei. Sie bleibt aber nicht bei der narratologischen Analyse stehen, sondern muss zur Beantwortung der Frage in die historische Leserforschung ausweichen. Solche Konstruktion legt eine rezeptionsorientierte Leserforschung nahe, die dem Leser erlaubt, Figuren Emotionen zuzuerkennen, was immer Interpretation und häufig Spekulation ist, geschweige denn, dass (historische) „emotionale Reaktionen auf einen Text“ 92 stichhaltig nachgewiesen werden können. Dabei rückt allerdings eine entscheidende andere Fragerichtung wiederum in den Hintergrund, nämlich, ob man Faust nicht nur als Figur, sondern auch als Person mit menschenähnlichen Eigenschaften lesen und auf sie diese Theorien applizieren bzw. aus ihr heraus entwickeln kann. Gerade Schiewers Kritik an der Forschung und ihr Plädoyer für Interdisziplinarität offenbart, dass die Anschlussstellen für die Literaturwissenschaft nicht gesichtet und gesichert sind. Denn man muss sich fragen, wie ein subjektzentrierter Ansatz der kognitiven Emotionstheorie auf eine narratologische Literaturbetrachtung angewendet werden kann, wenn es im ersten Fall um individuelle Dispositionen und Entscheidungen, im zweiten Fall aber um die Frage der Rezeption geht.
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Zum Verhältnis von kognitiver Emotionstheorie und Aristoteles vgl. Rapp: Kommentar. – In: Aristoteles: Werke, Bd. 4,2, S. 559–570. Huber/Winko: Literatur und Kognition. Perspektiven eines Arbeitsfeldes, S. 7–26, hier S. 7. Schiewer: Kognitive Emotionstheorien – Emotionale Agenten – Narratologie, S. 106.
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Gestützt werden solche Fragen nach dem „subjektiven emotionalen Zustand der fiktiven Figur“ 93 durch die Ansätze postklassischer kognitiver Narratologie. An dem Begriff des kognitiven frame entwickelt der Psychologe Klaus Scherer, wie der Leser im Leseprozess einer bestimmten Erzählstrategie 94 eine Vorstellung von so etwas wie einem „subjektiven emotionalen Zustand der fiktiven Figur“ 95 gewinnt, d. h. für Scherer, dass Emotionen hier nur als Ziel des Textes für den Leser existieren. Eben dadurch hemmt man die Behandlung von Figuren als Personen und rückt das rhetorische persuadere in den Vordergrund. Dies sieht man auch bei Schiewers Interpretationsskizze zu Goethes Faust, die auf genau diesem Grat wandert und die außerdem das Dilemma der empirischen Leserforschung darstellt, indem Schiewer sich exemplarisch selbst als Leserin analysiert, damit aber natürlich keine verobjektivierbaren Aussagen zur Emotionsforschung als Verbindung zwischen Text und Leser hervorbringen kann. Schiewers Ansatz, Brücken zwischen den Disziplinen zu finden, ist gleichwohl perspektivreich.
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Ebenda, S. 107. Vgl. als Beispiel für interdisziplinäre Narratologie den genderorientierten Ansatz von Gymnich: Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung, S. 122–142. Vgl. zu kognitiver Literaturtheorie Beckermann: Ist eine Sprache des Geistes möglich?; Tsur: Toward a theory of cognitive poetics; Stockwell: Texture. A Cognitive Aesthetics of Reading. Zur Lesemotivation siehe Scherer (Hrsg. u. a.): Handbook of Affective Sciences. Diese Erzählforschung nimmt das coping-Potenzial des Lesers, die Lesemotivation (Klaus Scherer) oder auch die Konzeption der fiktiven Welt bzw. Handlungsmotivation der Figuren auf Grundlage kognitiver frames in den Blick. Außerdem vgl. grundsätzlich den Sammelband hrsg. von Kindt: What is Narratology? Schiewer: Kognitive Emotionstheorien – Emotionale Agenten – Narratologie, S. 107.
3. Gattungs-, begriffs- und rhetorikgeschichtlich: literaturwissenschaftliche Perspektiven für die empfindsame Literatur Die Verbindung von Rhetorik und Emotionen bzw. Emotionalisierungsstrategien ist, nicht zuletzt durch die genera dicendi, an Gattungsfragen geknüpft. Nicht nur regeln bis ins 18. Jahrhundert Gattungen verbindlich die Emotionsrepräsentation, auch die Wirkung wird daran geknüpft. Ganz so eindeutig, wie Mellmann diese komplexe Verhältnismäßigkeit für die Zeit um 1800 darstellt, verhält es sich aber nicht: „Eine bewußte Intention zur Steigerung der Emotionalität von Dichtung kommt bekanntlich mit der movere-Poetik der Empfindsamkeit überhaupt erst auf.“ 96 Zwar ist eine Intention ebenso wenig wie eine Poetik der Empfindsamkeit stichhaltig nachzuweisen, doch Mellmanns Ausgangsgedanke ihrer emotionspsychologischen Studie, „daß die deutsche Literatur im Laufe des 18. Jahrhunderts einen generellen Emotionalisierungsschub erfährt“ 97, ist Konsens, wobei an dieser Stelle einschränkend hinzufügt werden muss, dass es sich nicht um einen „generellen“ Schub handelt, sondern um die Umfunktionierung von allegorisch allgemein repräsentierten Emotionen eines ‚Theaters des Schreckens‘ zu einer individuellen ‚Entregelung‘ 98 subjektiver Emotionalität. Dieser Emotionalisierungsschub trägt zur Klassifikation empfindsamer Texte im 18. Jahrhundert bei, in denen bestimmte Muster der Emotionalisierung als übertriebene Mode, als, aus nachträglicher Perspektive gesprochen, trivial ausgestellt werden: „Eines der wirkungsvollsten Verfahren der Abwertung literarischer Texte liegt darin, ihre Inhalte als trivial, uninteressant, Kunstwerken nicht adäquat darzustellen.“ 99 So braucht es zur Bildung eines Kanons auch negative ‚Gegentexte‘ und -genres, wie Moderomane, Rittergeschichten, Possen und Rührstücke bzw. das gesellschaftlich anerkannte Selegieren mittels Negativkanonisierung: „Als Strategem der In- und Exklusion wird diese Kanonbildung zum Instrument
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Mellmann: Emotionalisierung, S. 353. Das movere hat für Mellmann insofern Anteil an dieser Bewegung, als die dadurch ausgelöste emotionale Erschütterung erst die emotionspsychologische Sprache darüber in Gang setzt. Ebenda, S. 12. Vgl. zum Begriff Kleinschmidt: Entregelte Poetik, S. 77–91. Winko: Negativkanonisierung, S. 349. Vgl. auch Heydebrand: Kanon – Macht – Kultur. Versuch einer Zusammenfassung, S. 614.
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der Rezeptionssteuerung, mit dem das faktische Leseverhalten, das einem Autor wie Kotzebue einen so enormen Erfolg garantierte, korrigiert werden soll.“ 100 Konkret heißt dies auf zeitgenössische Abwertungen wie die so genannte Lesesuchtdebatte und empfindsame ‚Modeliteratur‘ gewendet, dass durch die Exklusion von populärer als qualitativ minderwertiger Literatur immer auch die Kanon- und Gattungsfrage aufgeworfen wird. Kotzebues Haltung, der selbst zum Ausschlussobjekt wird, ist demgegenüber eindeutig: „[...] wann so wenige unserer Musterstücke für die Bühne taugen? – weil sie unpopulär sind.“ 101 Die Analysen in dieser Studie widmen sich einer Mischung aus ‚positiv‘ und ‚negativ‘ kanonisierten Texten, um die Breitenwirkung der empfindsamen Rhetorik nachzuweisen, nicht aber, um durch Rechtfertigung der Texte die Negativkanonisierung etwa aufheben zu wollen oder zu können. Denn die Funktion der ‚Gegentexte‘ ist ja vielmehr, „eine – erst durchzusetzende, dann zu stabilisierende – identitätssichernde Literatur zu bilden, in dem sich die wichtigsten Argumente für die Höherwertigkeit der ästhetisch anspruchsvollen Literatur bewahren lassen.“ 102 Damit ist jedoch noch nichts über deren ästhetische Qualität gesagt. In den zeitgenössischen Gattungsdebatten, insbesondere zu den ‚modernen‘ Genres, Roman und Rührstück, stehen Popularität und Vergnügen an untergeordneter Stelle, so zumindest scheint es auf den ersten Blick. Denn obwohl Friedrich von Blanckenburg in seinem Versuch über den Roman letzteren aufwertet, bittet derselbe Verfasser 1775 im Vorbericht zu seinem eigenen Roman Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten explizit, mit Verweis auf Rousseaus Heloïse, „jedes unverheyratete Frauenzimmer, diesen Roman, nach gelesenem Vorbericht fein ehrbar wieder zuzumachen, ihn ihrer verheyrateten Muhme oder ihrem Oheim hinzutragen, und sich dann von diesen daraus, nach Nothdurft, das wichtigste vorerzählen zu lassen.“ 103 Lässt man diese topische Warnung beiseite, enthüllt sich im eigentlichen Vorbericht nicht allein die (erwartbare) Rechtfertigung des Romans als „Beförderung zur Sittlichkeit“ 104. Vielmehr
_____________ 100 Günter: Diskussionsbericht, S. 446. 101 Kotzebue: Fragmente über den Recensenten-Unfug. Eine Beylage zu der Jenaer Literaturzeitung. Leipzig 1797, S. 68. Vgl. dazu auch Roeben: Selbstreferentialität durch Lachen, S. 216f. 102 Winko: Negativkanonisierung, S. 364. 103 Blanckenburg: Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten. Vorbericht, S. 56. Herv. i. Orig. Verheiratete Frauen, meint Blanckenburg übrigens, könnten bedenkenlos den Roman lesen und auf die häusliche sittliche Erziehung, die sie ihren Kindern angedeihen ließen, übertragen, weil sie „freylich nicht mehr nöthig haben, sehen zu lernen [...].“ – Ebenda, S. 59. 104 Ebenda, S. 61. Herv. i. Orig.
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kündigt Blanckenburg an, dass er für eine schärfere Wahrnehmung die Struktur des Romans als einen Guckkasten angelegt habe. Durch die Übernahme theatraler Inszenierungstechnik in den Roman, nämlich die Guckkastensituation 105, wird der Unterhaltungsfaktor in folgenden Worten bestärkt: „Warum nicht lieber bunte Gemälde sehen, als abstrakte Ideen denken? – – Indessen, – das bloße Sehen ist nicht genug! Werden ihnen meine Gemälde auch gefallen?“ 106 Eine Gattungsforschung, die mit einem differenzierten Begriffsinstrumentarium zu Gattung und Kanon arbeitet und so auch ‚Gegenkanones‘ oder den „Subkanon“ 107 berücksichtigt, kann eine historisch angemessene Rekonstruktion des literarischen Markts des 18. Jahrhunderts und eine entsprechende angemessene Analyse des Literaturphänomens der Empfindsamkeit nur leisten, wenn sie sich nicht auf zeitgenössisch oder heute kanonisierte Texte beschränkt und wenn sie Gattungshierarchien außer Acht lässt. Nur so kann verhindert werden, dass die Forschung den autoritativen Selbstinszenierungen heute kanonisierter Autoren allzu leichtgläubig aufsitzt. So zeigt Manuela Günter in ihrer Mediengeschichte für das 19. Jahrhundert, dass aktuelle theoretisch abgesicherte Gattungsbegriffe nicht unbedingt die historische Ausprägung von Textdimensionen erfassen. 108 Aber auch historische Gattungsbegriffe sind ohnehin für das 18. Jahrhundert praktisch kaum anzuwenden, wie z. B. ein Blick noch in Gottscheds normative Poetik Versuch einer Critischen
_____________ 105 Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch: Guckkasten, Bd. 9, Sp. 1043–1047. Dort wird nachgewiesen, dass der Guckkasten als, meist pejorativ benutzter, Vergleich für das Theater spätestens im ausgehenden 18. Jahrhundert verwendet wird; gleichzeitig heißt es bei Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 844: „Ein Kasten mit optischen Vorstellungen, in welchen man die Zuschauer für Geld sehen läßt“. 106 Blanckenburg: Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten. Vorbericht, S. 61. Herv. i. Orig. 107 Vgl. grundlegend Pailer: Gattungskanon, Gegenkanon und ‚weiblicher‘ Subkanon, S. 365– 382. 108 Vgl. Günter: Im Vorhof der Kunst. Nicht eingegangen werden kann auf die Diskussion Gattung im Verhältnis zum Medium. Dass die ‚Medien der Empfindsamkeit‘ eine herausragende Rolle bei ihrer Etablierung in der Forschungslandschaft spielen, ist unbestritten. So hat Albrecht Koschorke bereits Friedrich Kittlers Mediengeschichte erweitert, welcher auf die technischen Träger fokussiert, indem er in seiner Habilitation Körperströme und Schriftverkehr die Kommunikationsumgebung, betitelt als ‚Mediologie‘, den technischen Trägern gegenüberstellt. – Gerade in Bezug auf die Gattungsdiskussionen ist es in der Forschung oft schwierig, den jeweiligen Medienbegriff trennscharf zu konturieren. Als problematisch sieht beispielsweise Nina Ort, dass der Begriff Medium in der Systemtheorie – sofern man Luhmanns Realität der Massenmedien nicht berücksichtigt – nur als Komplement zur Form verwendet wird, seine Funktion nur dadurch erfüllt und gerade deshalb über wenig bis keine Eigenschaften verfügt: „Das Medium als Vermittlungsinstanz (zwischen was auch immer) kann inflationär verwendet werden.“ Vgl. Ort: Versuch über das Medium, S. 168.
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Dichtkunst und die darin enthaltene additive Auflistung einer Vielzahl von Genres zeigt. 109 Gattungsnormen determinieren aber zweifellos, nicht zuletzt innerhalb der Rhetorik, die Wahl der Emotionsrepräsentation. Sie konstruieren eine ‚erzählte Tiefe‘, aus der heraus im 18. Jahrhundert der so genannte ‚ganze Mensch‘ konstruiert wird: „[...] bei Foucault gilt das Subjekt als eine historisch spezifizierbare Erfindung von Diskursen um 1800.“ 110 Während es bei Richard Alewyn zum vormodernen Gattungsmodell heißt, dass „bis zum Ende des 18. Jahrhunderts […] eine Gattung ein deutlich umrissenes Modell“ mit festgeschriebenen Stoffen, Formen und Stilen und darüber hinaus in ein normiertes Weltbild eingegossen sei sowie dass „keiner [der] Bestandteile verrückbar oder auswechselbar“ 111 genannt werden dürfe – während also Alewyn die Präskriptivität betont, legt Volker Neuhaus neben dieses übliche Gattungsverständnis eine zweite Spur, die aus der Starrheit dieser Gattungsgrenzen erwächst. Er betitelt das Spiel mit den Grenzen als „die große Gattungsmischung, auch ‚Moderne‘ genannt“, was nicht nur in „Gattungszerstörung“ ende, sondern durch Grenzüberschreitungen und Vermischung gerade neue Genres (Gattungen), Varianten, Innovationen hervorbringe. 112 Hochgradig normierte Konzepte reizten dagegen zu Parodien und Satiren, wie sich auch am Phänomen empfindsamer Literatur beobachten lässt. Diese fruchtbare und unterhaltsame Distanzierung von der literarischen Tradition, deren Feld im 18. Jahrhundert die rhetorische ars ist, hat lange Zeit kein Interesse von Seiten der Germanistik gefunden, die am (goetheschen) Literatur- und Selbstentwurf als kongenialer Werkschöpfung orientiert war. 113 Volker Klotz sieht gerade in der Dramatisierung des Erzählens ein Kennzeichen für modernes Erzählen überhaupt. 114 So weisen immer häufiger Forscher auf Gattungsmischung und Interferenzen hin, so beispielsweise Martin Huber auf das „theatrale Erzählen“. 115 Bereits August Lan-
_____________ 109 Vgl. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Anderer Besonderer Theil. In diesem zweiten Teil der Poetik werden sämtliche Genres in zwölf Kapiteln abgehandelt. 110 Jahraus: Literatur als Medium, S. 305. 111 Alewyn: Gestalt als Gehalt: Der Roman des Barock, S. 118. 112 Neuhaus: „...we’re in a detective story“, S. 29–44, hier S. 30. 113 Vgl. Liede: Dichtung als Spiel, S. 322. Vgl. darüber hinaus Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts, S. 82f. und Neuhaus: „...we’re in a detective story“, S. 39. Gattungspurismus ist ohnehin immer ein Ideal gewesen, entspricht aber zu keiner Zeit der Realität. Vgl. auch in diesem Kontext die Überlegungen zum ‚Sprachaufbruch‘ bei Kleinschmidt: Entregelte Poetik, S. 77–91. Kleinschmidt geht darin der ‚unverbrauchten Begrifflichkeit‘ gegenüber dem ‚etablierten Beschreibungsinventar‘ nach, das den Bedürfnissen der Zeit nicht mehr gerecht werde. 114 Klotz: Bürgerliches Lachtheater, S. 171. 115 Vgl. Huber: Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800.
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gen hat strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Schauspiel und Roman im Gespräch festgestellt: „Dieses hat im 18. Jahrhundert als Ausdruck gesellschaftlicher Kultur, wie etwa der Brief, eine ungewöhnliche Bedeutung erlangt [...]“. 116 Goethe bezeichnet 1797 hingegen programmatisch die Gattungsmischung in einem Brief an Schiller als „kindische“ und „barbarische“ Angelegenheit: „Es ist mir dabei recht aufgefallen wie es kommt daß wir Moderne und die Genres so sehr zu vermischen geneigt sind, ja dass wir gar nicht einmal im Stand sind sie voneinander zu unterscheiden.“ 117 Damit legt er diese Gattungsmischung zulasten des Publikums aus. Für die Dichtkunst bedeute dies: So sieht man auch im Gang der Poesie daß alles zum Drama, zur Darstellung des vollkommenen Gegenwärtigen sich hindrangt. So sind die Romane in Briefen völlig dramatisch, man kann deswegen mit Recht förmliche Dialoge, wie auch Richardson getan hat, einschalten: erzählende Romane mit Dialogen untermischt würden dagegen zu tadeln sein. 118
Ebenso häufig würden Romane in Dramen auf Wunsch der Leser umgeschrieben – laut Goethe allerdings zum Nachteil der Dramentexte: Diese eigentlich kindischen, barbarischen, abgeschmackte Tendenzen sollte nun der Künstler aus allen Kräften widerstehn, Kunstwerk von Kunstwerk durch undurchdringliche Zauberkreise sondern, jedes bei seiner Eigenschaft und seinen Eigenheiten erhalten, so wie es die Alten getan haben und dadurch eben solche Künstler wurden und waren; aber wer kann sein Schiff von den Wellen sondern auf denen es schwimmt? Gegen Strom und Wind legt man nur kleine Strecken zurück.“ 119
Ganz anders fragt Johann Gottlob Benjamin Pfeil 1755 noch in seiner Poetik Vom bürgerlichen Trauerspiele in Bezug auf die Vergleichbarkeit von Briefroman und bürgerlichem Trauerspiel: „Was ist ein tragischer Roman, z. E. die Clarissa, anders, als die Nachahmung einer Handlung, dadurch sich eine vornehme Person harte und unvermuthete Unglücksfälle zuzieht? Bleibt unterdessen nicht noch ein Unterschied unter einem tragi-
_____________ 116 Langen: Anschauungsformen der Dichtung, S. 83. Zur Genreverschmelzung weiterhin auch S. 85–87. Vgl. zudem Huber: Der Text als Bühne. 117 Goethe: Brief Nr. 467 an Schiller, SA. 23.12. 1797 – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. II, Bd. 4 (31), S. 464–467, hier S. 465. Nach Einsicht in die Handschrift des Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (vgl. GSA 28/1050, Bl. in AE: 234vs) folge ich an dieser Stelle der Frankfurter Goethe-Ausgabe; die Weimarer Ausgabe verunklärt diese Stelle durch Tilgung des „und“: „[...] daß wir Moderne die Genres so sehr zu vermischen geneigt sind [...]“. An dieser Stelle sei Dr. Gert Theile von der Klassik Stiftung Weimar gedankt, der mir umstandslos einen Einblick in die Handschrift gewährte. 118 Ebenda. Herv. i. Orig. 119 Ebenda.
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schen Romane und einem Trauerspiele übrig?“ 120 Friedrich von Blanckenburg stellt die umgekehrte Frage in seinem Versuch über den Roman aus dem Jahr 1774, wobei er nicht das poetologisch-rhetorische Vokabular der Gattungsbeschreibung benutzt, das ihm in der Tradition der Romanpoetiken zur Verfügung gestanden habe. 121 Das eigentliche Thema seines Versuchs, so Werber, ist durch die Fokussierung auf die Privatgeschichte des Menschen (nicht des Bürgers) charakterisiert. 122 Als „Inhalt der Romane“ dürfen also die „Gefühle und Handlungen der Menschheit“ 123 gelten. Nicht so sehr die im Ausdruck der ‚inneren Geschichte‘ betonte überständische Qualität ist für den Zusammenhang dieser Studie relevant, sondern die Gefühle und Handlungen. Blanckenburg macht sich über diese Verknüpfung Gedanken. Denn: Es ist der dramatische Dichter, der uns vorzüglich mit den Empfindungen seiner Personen unterhalten kann, an statt, daß der Romanendichter gewöhnlich zu Beschreibungen seine Zuflucht nehmen muß. Und wenn wir, zu diesem Vorzuge des Drama, die wirkliche Vorstellung, Miene, Ton der Stimme, Stellung der Person hinzudenken, wie sie jedem Ausdruck mehr Kraft, mehr Leben geben, und auf diese Art natürlich mächtiger ins Herz dringen: so ists kein Wunder, daß der Romanendichter so weit zurück bleibt. 124
Das Drama sei also auf den ersten Blick durch die direkte Darstellung der Gefühle und ihre Übersetzung in Handlung unterhaltsamer als der Roman. Der Romanschriftsteller werde dadurch aber erst herausgefordert: „Es [das Drama] feure ihn eher zum Wetteifer an. – Warum sollte, in heftigen Situationen, dem Romanendichter der Dialog, – wenigstens der Monolog verwehrt seyn? Die Aeußerung der Leidenschaften fodert Worte, fodert Rede: soll der Dichter ehe der Natur, als den willkührlichen Ein-
_____________ 120 Pfeil: Vom bürgerlichen Trauerspiele, § 1, S. 95. Bekannter dürfte hingegen noch Schillers Charakterisierung seiner Räuber in der Vorrede zur ersten Auflage als „dramatische Geschichte“ sein, die sich nicht in die „Schranken eines Theaterstücks“ einengen lasse, wenn es schließlich darum gehen müsse, „die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen [...]“. – Schiller: Die Räuber – Werke (Nationalausgabe), Bd. 3, S. 5. 121 Er hat wohl kaum Poetiken und Theorien rezipiert, wie Niels Werber ausführt. Vgl. Werber: Liebe als Roman, S. 101f. Vgl. dazu grundsätzlich Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. 122 Vgl. Werber: Liebe als Roman, S. 104–107. 123 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 19. Bezugstext ist bei Blanckenburg insbesondere Wielands Agathon. Silvio Vietta zeigt die Parallelen zu Herders Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele auf, einem im gleichen Zeitraum entstandenen Text, der Ähnliches in Bezug auf Empfindungen und Roman formuliert; so heißt es bei Herder: „Würde ein Mensch den tiefsten, individuellsten Grund seiner Liebhabereyen und Gefühle, seiner Träume und Gedankenfahrten zeichnen können, welch ein Roman! [...] Man sollte jedes Buch als den Abdruck einer lebendigen Menschenseele betrachten können [...].“ – Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, zweiter Versuch – Werke in zehn Bänden, Bd. 4, S. 365f. Vgl. Vietta: Der europäische Roman der Moderne, S. 12. 124 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 99.
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richtungen der Kunst entsagen?“ 125 Zwar gibt Blanckenburg zu bedenken, dass dem Roman nicht die gleichen Mittel wie dem Drama (und der Aufführungssituation) zur Verfügung stünden, dafür aber eine ganz andere Qualität, die Werber als das novum des Romans bezeichnet, die „Beobachtung der Beobachtung von Handlung“ 126: „Er kann uns die Räder zeigen und das Werk zerlegen, um uns zu lehren, warum der Zeiger dies vielmehr als jenes gewiesen hat. Er lasse innre und äußre Geschichte genau Schritt mit einander halten.“ 127 Was unter innerer und äußerer Geschichte als bekannteste Blanckenburg-Referenz in die Forschung eingegangen ist, steht in der Tradition von Julien Offray de La Mettries L’homme machine (1748) und dessen mechanistischer Weltanschauung. 128 Für die folgenden Überlegungen ist aber entscheidend, welchen Stils sich diese Verknüpfung innerer und äußerer Geschichte bedienen muss. Es ist diese Fokussierung des genus mixtum als Klammer für literarische Emotionalisierung in Texten, die hier weiter verfolgt werden soll. Gemeinsam ist den als Gattungsmischung und im mittleren Stil verfassten Texten der Empfindsamkeit dabei das Postulat einer ‚Oberfläche‘, der eine rhetorisch produzierte angebliche Tiefe vorausgeht. 129
_____________ 125 126 127 128
Ebenda, S. 100. Werber: Liebe als Roman, S. 106. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 100. La Mettrie: L’homme machine. Solche Bildlichkeit verknüpft Materialismus und Anthropologie. 129 Auch wenn der Begriff der Oberfläche literarästhetisch eher ein „Suchbegriff“ oder „Unbegriff“ (von Arburg) ist, wird er doch als solcher nicht verwendet, sondern wird im Gegenteil unhinterfragt als Kontrastgröße und sogar teils als Synonym für Oberflächlichkeit verwendet. Vgl. dazu ausführlich von Arburg: Alles Fassade, passim, aber insbesondere S. 18–43.
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3.1 Empfindsame Emotionen: ethos, aber auch pathos Cicero äußert sich in de officiis grundsätzlich zur Notwendigkeit der Begriffsklärung: „omnis enim, quae ratione suscipitur de aliqua re institutio, debet a definitione proficisci, ut intellegatur, quid sit id de quo disputetur.“ 130 Also erscheint es sinnvoll, erstens den historischen Rahmen zur Benennung von Emotionen, d. h. von pathe, passio, Leidenschaften und Affekten abzustecken und die neueren Terminologien – Emotion, Gefühl und Stimmung – dazu ins Verhältnis zu setzen. Dass die Begriffe in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen heterogen verhandelt werden, soll hier nachvollzogen werden; hingegen kann die weitreichende Forschungsdiskussion in der Philosophie nicht in ihrem ganzen Umfang berücksichtigt werden. In einem zweiten Schritt sollen die mit der mittleren Stillage assoziierten Begriffe knapp skizziert werden, die das entscheidende Charakteristikum der betrachteten Strömungen sind, namentlich der zweifache Ursprung des ethos, sein Gebrauch in Rhetorik und Philosophie sowie das mesótes-Ideal der rechten Mitte. Zwar entzieht sich die empfindsame Rhetorik einer Systematik, doch soll in den exemplarischen Textanalysen dieser Arbeit die der Empfindsamkeit eigentümliche ‚mittlere Stilebene‘ in den Blick genommen werden. Diese Fokussierung folgt auch den Forderungen in der Forschung, nicht nur ein klareres Instrumentarium zur Beschreibung von Emotionen zu entwickeln, sondern sich auch einem Desiderat in der Empfindsamkeitsforschung zu widmen: einer Stilistik der Empfindsamkeit. Die Grundlagen dafür liegen bereits im Zeitraum vor und um 1700. Im Folgenden sollen deshalb die dafür notwendigen begriffshistorischen Grundlagen gesichert und die Rhetorik der Emotionen in der Literatur des 18. Jahrhunderts als eine ‚Rhetorik der Mitte‘ behandelt werden. Die entscheidende sittliche Grundierung nimmt der rhetorikgeschichtlich stets präsente Quintilian im sechsten Buch seiner institutio oratoria vor. Die rhetorische Tradition und ihre Begriffsgeschichte kommen aufgrund ihrer Komplexität hier nur soweit in den Blick, wie es für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit nötig ist. Die „literaturwissenschaftliche Pathologie“ 131, in der das pathos als alleiniger Untersuchungsgegenstand dominiert und durch die suggeriert wird, dass die Leidenschaften passiv erlitten werden, ist aber nicht ohne die sie kontrastierende mittlere Stilgattung zu verstehen, die mit dem ethos
_____________ 130 Cic. de off. 1,2,7: „Denn jede Unterweisung, die über irgendein Gebiet mittels Wissenschaftlichkeit unternommen wird, muss in einer (begrifflichen) Definition ihren Anfang nehmen, damit erkannt werden könne, was es sei, worüber gehandelt werde.“ Übers. d. Verf. 131 Anz: Kulturtechniken der Emotionalisierung, S. 212.
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verknüpft ist und auf die sich diese Studie konzentriert. Ohnehin wird das pathos, was häufig übersehen wird, auch für die niedere und mittlere Stilebene verwendet, denn Belehrung wie Unterhaltung sollen weder trocken noch langweilig sein und bedürfen deshalb stilistischer Variation. 132 Selbst der antike Referenztext für das Erhabene, Pseudo-Longinos’ Vom Erhabenen, weist das pathos in allen Stilebenen und am besten sogar im Schweigen (bei Pseudo-Longinos das Schweigen des Aias 133) aus. Eine Hierarchisierung im Sinne einer Ordnung des pathos über die anderen Stile ist missverständlich, denn Pseudo-Longinos nimmt diese Hierarchisierung nicht zwangsläufig vor, sondern gibt als Kriterium vielmehr an: „Kurz, halte das für wahrhaft und vollkommen erhaben, was jederzeit einem jeden gefällt.“ 134 Die passiven Eigenschaften der Leidenschaften, wie in der Perspektive der Stoa hervorgehoben und im deutschen Begriff der Leidenschaft prominent übersetzt, sind somit nicht zentraler Bestandteil einer auf die literarische Praxis ausgerichteten empfindsamen Strömung; die metaphorische Umschreibung der Leidenschaft als perturbatio, als richtungsloses Umhergetriebensein, kurz pathos, ist nicht Ziel der Darstellung der empfindsamen Rhetorik. Bemerkenswert ist, darüber hinaus, dass Aristoteles an keiner Stelle eine Systematik der Affekte niedergeschrieben hat, sondern lediglich in den einzelnen Texten beispielhafte pathe nennt. So in der Nikomachischen Ethik: „Als ‚irrationale Regungen‘ bezeichne ich die Begierde, den Zorn, die Angst, die blinde Zuversicht, den Neid, die Freude, die Regung der Freundschaft, des Hasses, die Sehnsucht, die Mißgunst, das Mitleid – kurz, Empfindungen, die von Lust oder Unlust begleitet werden.“ 135 Eines der Probleme in diesem Kontext skizziert Barbara Guckes: „‚Affekt‘ entspricht im Griechischen das Wort pathê oder auch pathos. Dieses Wort wird oftmals auch mit ‚Emotion‘ oder ‚Gefühl‘ übersetzt. Jede dieser Übersetzungen allerdings ist problematisch. ‚Gefühl‘ oder ‚Emotion‘ ist irreführend [...].“ 136 Denn damit, so Guckes weiter, werde unterstellt, dass Lei-
_____________ 132 Vgl. Lobenstein-Reichmann: Affekt, Passion und Leidenschaft im Frühneuhochdeutschen, S. 253. 133 Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen, 9,1. Zur ethischen Qualität des Erhabenen und den strukturellen Vergleich mit Aristoteles vgl. Hölkeskamp: Senatus populusque Romanus, S. 122. Die Auseinandersetzungen mit dieser Stelle im Vergleich zu Homer sind zahlreich. Bekannt und für den Fokus auf das 18. Jahrhundert bedeutend ist Diderots Replik auf die Veröffentlichung seines Briefs über die Taubstummen (1751) im Journal de Trévoux, in dem er den Affektausdruck und die Stillage der Rede bzw. des Schweigens analysiert. Vgl. Diderot: Brief über die Taubstummen – Ästhetische Schriften, Bd. 1, S. 28–97. 134 Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen, 7,4. 135 Arist. NE II, 1105b. 136 Guckes: Stoische Ethik, S. 25. Darüber hinaus vgl. Halbig: Die stoische Affektenlehre, insbesondere S. 60–68.
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denschaften und Gefühle eins seien, so dass man vorschnell die apathe der Stoiker als völliges Freisein von jeglichen Gefühlen identifiziere. Affekt bedeutet innerhalb der Stoa vielmehr ‚lebendiger Eindruck‘ – doxa prosphatos –, der entsprechend seiner Eindrücklichkeit eine unkontrollierte Handlung auslöst. Das Gegenteil dieses Beherrschtseins von Affekten ist nicht die Abwesenheit von Affekten, sondern die eu-pathia, die das pathos wörtlich ‚ins Gute‘ der Vernunft wendet. Den Affekten liegen phantasiai zugrunde, handlungsauslösende und immer schon sprachlich verfasste Vorstellungen, denen gegenüber sich zu verhalten die ethische Qualität des Menschen ausmacht. 137 Die phantasiai genannten Bildeindrücke, die von Quintilian mit visiones übersetzt werden, werden durch Verdeutlichung (enargeia) und Auschaulichkeit (evidentia) beim Rezipienten hervorgerufen. 138 Die ethische Qualität, daraufhin zu handeln, ist bei Aristoteles eine dynamische Kategorie, die sich situationsgebunden nach dem ethos, also dem Charakter des einzelnen, richtet und durch Gewohnheit pragmatisch ausgebildet wird. Zielführend ist die Mäßigung der Leidenschaften, wie sie sich im eben dies bedeutenden spätgriechischen Verb metriopathein ausdrückt. Ein weiteres Problem für die Tradierung der Begriffe der Affektenlehre ist, dass pathos und ethos bei Aristoteles strukturell verschiedenen Diskursen zugeordnet sind (pathos als Leidenschaft und ethos als Charakter bzw. Gewohnheit). Daher soll insbesondere die kanonische Systematik der lateinischen Rhetorik, und innerhalb dieser Quintilians zwölfbändige institutio oratoria, Aufschluss über die Verankerung der Affektenlehre in der Rhetorik und ihre Charakteristika geben. Die Klassifikation sieht vor, zwischen den adfectus concitati und den adfectus mites atque compositi zu unterscheiden, wobei letztere Affekte der mittleren Stillage zugeordnet sind und eine Umschreibung für das Fehlen einer lateinischen Wendung für das ethos abgeben. Quintilian gibt darüber hinaus weitere Anhaltspunkte für eine Differenzierung. Für das pathos sind charakteristisch: erregte Gefühle (vehementes motus), herrisch sein (imperare), zur Verwirrung anstiften (ad perturbationem praevalere), vorübergehend (temporale). Hingegen sind für das ethos eigentümlich: sanfte Gefühle (lenes motus), überzeugen (persuadere), zum Wohlwollen anstiften (ad benevolentiam praevalere) sowie dauerhaft (perpetuum). Gleichzeitig, und das ist wichtig, wertet Quintilian das ethos nicht ab, sondern betont die Gleichwertigkeit dieser Affekte: „Und dennoch ist diesen sanften Affekten keine geringere Kunstfertigkeit oder Ausübung zueigen, sie benötigen nur nicht so viel Kraft und Inangriffnahme. Ja so-
_____________ 137 Vgl. Guckes: Stoische Ethik, S. 14f. 138 Quint. Inst. or. IV, 2, 29 und 32.
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gar sind sie in sehr vielen Fällen vorhanden, ja im eigentlichen Sinne in allen.“ 139 Zuweilen, so Quintilians Ausführungen, sind die graduellen Abstufungen eines Affekts pathos und ethos zuzuordnen, so der (stärkere) amor und die (schwächere) caritas. Seine Definition des ethos ist die Folie, vor der jede Charakterisierung der Empfindsamkeit gelesen werden muss. Ethos ist also dasjenige, was sich vor allem durch Güte empfiehlt, nicht nur sanft und friedvoll, sondern meist angenehm und menschlich und für die Zuhörenden liebenswürdig und erfreulich ist, worin, was wichtig ist auszudrücken, die höchste Tugend dasjenige ist, dass alles aus der Natur der Dinge und Menschen zu fließen scheint und dass die Sittlichkeit des Redenden aus der Rede hervorleuchtet und auf diese Weise erkannt werden kann. 140
Dass der Redner sich dementsprechend geben muss, versteht sich von selbst; die Stillage wird so bezeichnet: „[...] angemessen, gefällig, glaubwürdig zu sprechen ist genug, und daher passt auch am besten jene mittlere Stillage der Rede.“ 141 Bereits seit Cicero geht der auf die Integrität des Redners bezogene Begriff ethos in ein so genanntes „Sympathieethos“ über, in einen „leichten Affekt“, der dem Redner die Gunst der Zuhörerschaft garantiert. Die Wirkziele mittlerer Stillage, z. B. Nächstenliebe (caritas) oder Wohlwollen (benevolentia), werden mit dem ethos assoziiert und so bis in die Moderne kolportiert. Aber auch das Angenehme (suavitas), erreicht durch delectatio, charakterisiert in Ciceros einflussreichen Worten den mittleren Stil, der aber dennoch nicht an eine Gattung normativ gekoppelt wird. 142 Erst Kants Rhetorikkritik in der Kritik der Urteilskraft diskreditiert die Affektenlehre in der Rhetorik nachhaltig und rezeptionssteuernd: „Im Rahmen einer wachsenden Theoretisierungsbereitschaft werden im 17. Jh. die unterschiedlichen Definitionsvorgaben [des mittleren Stils] zwischen aristotelischer mesótes, stoischer Bescheidenheit und ciceronianischer Ornatentfaltung probeweise durchgespielt. Klarheit und Einheitlichkeit in
_____________ 139 Quint. Inst. or. VI, 2, 10: „nec tamen minus artis aut usus hi leniores habent, virium atque impetus non tantundem exigunt. in causis vero etiam pluribus versantur, immo secundum quendam intellectum in omnibus.“ Für den Zusammenhang werden hier die längeren zentralen Zitate in deutscher Übersetzung (Übers. d. Verf.) im Fließtext wiedergegeben. 140 Vgl. ebenda, VI, 2, 13: Ethos ist, „quod ante omnia bonitate commendabitur, non solum mite ac placidum, sed plerumque blandum et humanum et audientibus amabile atque iucundum, in quo exprimendo summa virtus ea est, ut fluere omnia ex natura rerum hominumque videantur utque mores dicentis ex oratione perluceant et quodam modo agnoscantur.“ Bemerkenswert an Quintilians Definition ist, dass er den griechischen Begriff ethos nicht durch die oben genannte lateinische Umschreibung ersetzt. 141 Ebenda, VI, 2, 19: „proprie, iucunde, credibiliter dicere sat est, ideoque et medius ille orationis modus maxime convenit.“ 142 Vgl. diesen Gedanken bei Lindner: Mittlerer Stil – Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Sp. 1366–1372, hier Sp. 1367.
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der Definition des [mittleren Stils] setzen sich allerdings erst im Laufe des 18. Jh. durch.“ 143 Weil dieses Schwanken zwischen den Wirkzielen – docere und delectare – eine eindeutige Positionierung verhinderte, fehle in der Neuzeit die „identitätsstiftende Bezugsgattung.“ 144 Solche Bezugsgattungen finden sich entsprechend erst in den Genres, die nicht in den Regelpoetiken verortet sind, wie dem Roman oder dem Rührstück und formieren eine stilistische Einheit durch empfindsame Rhetorik. Für den hier relevanten Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts ist wichtig, dass Thomasius zu Anfang des 18. Jahrhunderts die Begriffe Affekt und Leidenschaft als Synonyme verwendet 145 – auch Gemütsbewegungen gehören in das Begriffsfeld – und bekanntermaßen sowohl ihre positive („vernünftige Liebe“) als auch negative Ausrichtung („unvernünftige Liebe“, d. h. Wollust, Ehrgeiz und Geldgeiz) darunter fasst. 146 Epikureische und stoische Tradition wie Rezeption gehören selbstverständlich in diesen Kontext und werden in der Frühen Neuzeit, nicht zuletzt bei Thomasius, beide und zwar durchaus vermischt rezipiert. Eine weitergehende Differenzierung hält Thomasius für überflüssig: „Daher wird am besten seyn/ dass wir ohne Absicht auff einige Secten der Griechischen Philosophen die Regeln der Weißheit und Klugheit aus der gesunden Vernunfft und aus den Grund-Sätzen handgreifflicher Warheit herleiten.“ 147 Die Hinderungsgründe, Glückseligkeit zu erlangen, die im Inneren des Menschen lokalisiert werden, entstehen aus den bey jedem Menschen befindlichen drey lasterhaften HauptAffecten der Wollust/ dem Ehr-Geitze und dem Geld-Geitz. [...] Die innerlichen Hindernisse der Glückseligkeit werden durch die Weißheit bekämpffet/ nemlich die aus der Wollust entstehen/ durch die Regeln der Ehrsamkeit; die aus dem Ehr-Geitz durch die Regeln des Wohlstandes; und die aus dem Geld-Geitz durch die Regeln der Gerechtigkeit. 148
Auch bei Johann Christoph Gottsched sind die Begriffe kongruent, denn die Frage „Quid sint affectus seu passiones animi?“ wird im VI. Hauptstück seiner Weltweisheit so beantwortet: Einen heftigen Grad der sinnlichen Begierde, oder des sinnlichen Abscheues nennen wir einen Affect, oder eine Gemüthsbewegung. Man nennet sie, nach Art der Lateiner, auch Leidenschaften: weil das Gemüth gleichsam von den Affecten
_____________ 143 Ebenda, Sp. 1371. 144 Ebenda. 145 Vgl. die Nachweise bei Lanz: Affekt – Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Sp. 89–100, hier Sp. 95. 146 Thomasius: Ausübung der Sittenlehre. Von der Artzney wider die unvernünftige Liebe (1696) – Ausgewählte Werke, Bd. 11, S. 61. 147 Thomasius: Kurzer Entwurf der Politischen Klugheit (1707) – Ausgewählte Werke, Bd. 16, § 5, S. 5. 148 Ebenda, § 28–29, S. 11.
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bestürmet und beunruhiget wird; dabey es sich dann fast nur leidend verhält. Eigentlich aber ist die Seele niemals thätiger und geschäfftiger, als wenn sie in Affecten steht [...]. 149
Die Affekte interessieren in der vorliegenden Studie besonders in Hinblick auf ihre (praktische) Wirksamkeit, wie sie die antike Ethik zwar auch zum Ziel hat, besonders aber in der Systematik der Rhetorik Berücksichtigung findet. „Dialecta docet, rhetorica movet. Illa ad intellectum pertinet, haec ad voluntatem [...]“ 150, bringt es Luther auf eine Formel. Die Kenntnis der Affekte ist Voraussetzung für sittliches Verhalten und gesellschaftlichen Umgang, wie wiederum Thomasius unmissverständlich auf sämtliche Bereiche des Lebens bezogen ausführt: „Ohne die Lehre von den Gemüthsneigungen kan man keinen autorem recht verstehen/ andere rechtschaffen unterweisen/ oder sie zu etwas bereden.“ 151 3.2 ‚Rhetorik der Mitte‘: Aktualisierungen aristotelischer mesótes Die Anknüpfungen an antike Affektenlehren hinsichtlich der empfindsamen Rhetorik und des sie charakterisierenden mittleren Stils sind im 17. und 18. Jahrhundert manifest. 152 Es gibt eine Reihe von zielführenden Begriffen aus der antiken Tradition, die um diese Mitte kreisen und von der Forschung mehr oder minder für das 18. Jahrhundert fruchtbar gemacht worden sind. 153 Für die Rhetorik der Empfindsamkeit ist jedoch relevant, dass Emotionstheorie und Ethik einerseits bei der Hervorbringung von Emotionsrepräsentationen ineinandergreifen und dass andererseits ihre Wirkungsabsicht im 18. Jahrhundert nicht nur an den erlernbaren ‚guten Geschmack‘, sondern auch an das je individuelle Vergnügen gerichtet ist.
_____________ 149 Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (theoretischer Teil) – Ausgewählte Werke, Bd. V/1, S. 542. 150 Luther: Tischreden der dreißiger Jahre, Nr. 2199A – Kritische Gesamtausgabe (WA), 2. Abt. Tischreden, Bd. 2: Tischreden aus den dreißiger Jahren. 1531–46, S. 359: „Die Dialektik belehrt, die Rhetorik bewegt. Jene zielt auf die Kognition, diese auf die Emotion.“ Übers. d. Verf. 151 Thomasius: Ausübung der Sittenlehre. Von der Artzney wider die unvernünftige Liebe (1696) – Ausgewählte Werke, Bd. 11, S. 39. 152 Auch der Übergang von spätbarocker zu frühaufklärerischer Oratorie, für den beispielsweise Christian Weise und Friedrich Andreas Hallbauer einstehen, ist maßgeblich an diesen Stilistiken beteiligt. 153 Die Arbeiten von Zelle und Alpers-Gölz führen leider diese Begriffe nicht weiter aus. Vgl. Zelle: „Angenehmes Grauen“. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert; vgl. Alpers-Gölz: Der Begriff skopos in der Stoa und seine Vorgeschichte.
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Um dies zu verdeutlichen, bietet sich insbesondere Aristoteles’ Ideal von der Mitte für die Rhetorik der Empfindsamkeit an. 154 Voraussetzung für die Erläuterung des mesótes-Ideals ist die Begriffsklärung des ethos. Im vorigen Kapitel ist das Verhältnis von ethos zu pathos thematisiert worden und besonders im Rückgriff auf Quintilian wurde das ethos hervorgehoben. Empfindsamer Rhetorik liegt eine entscheidende Veränderung der Rhetorik barocken pathos oder frühneuzeitlicher Galanterie zugrunde: die Konzentration auf die mittlere Stilebene, auf den Ausgleich von delectare und prodesse/docere und somit auf die ‚Mittelstraße‘ der Emotionalisierung. An dieser Stelle muss allerdings der rhetorische Kontext zugunsten einer Definition aus der aristotelischen Tugendethik zurückstehen; mit dieser beginnt nämlich das zweite Buch der aristotelischen Nikomachischen Ethik, in dem das hier zu fokussierende mesótes-Ideal entfaltet wird. Die Textanalysen dieser Studie veranschaulichen schließlich die Verknüpfung von tugendethischem und rhetorischem ethos in der Empfindsamkeit. Im Charakter des Menschen (K#+, mit der Wurzel K#+ 155) sei es, so Aristoteles, angelegt, dianoetische und ethische Tugenden zu erwerben. Nicht aber dürfe man diese Feststellung damit verwechseln, dass diese Tugenden etwa „von Natur“ bereits vorhanden seien. Erst durch Gewöhnung (ebenso K#+) werde der Charakter geprägt, sich nach dem Ideal tugendhaft oder lasterhaft zu verhalten: „Es ist in der Natur des Steines zu fallen. Keine Gewöhnung wird ihn zum Steigen bringen [...].“ 156 Über Charakter und Gewöhnung führte der Weg zur mesótes, die dadurch charakterisiert ist, dass sie „weder zu viel [...] noch zu wenig“ für jeden Einzelnen bedeutet, d. h. dieses Ideal darf nicht absolut betrachtet, sondern muss situationsgebunden bewertet werden. 157 Das ethos kann also als dasjenige begriffen werden, was als „dauerhaft eingeprägte Spur den sittlichen
_____________ 154 Horaz, der am Anfang dieser Studie als Gewährsmann zitiert wird, ist in dieser Hinsicht und besonders für das 18. Jahrhundert fraglos von großer Wichtigkeit; beide, Aristoteles und Horaz, lassen sich insofern – für die Literatur maßgeblich – zusammenbringen, als Horaz nachweislich als Kommentar für die aristotelische Poetik im 18. Jahrhundert gegolten hat. Vgl. z. B. Lessing in der Theatralischen Bibliothek (1758): Von Johann Dryden und dessen dramatischen Werken – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 4, S. 135: „Über das Buch, welches uns Aristoteles %'? -O %#-O [!] hinterlassen hat, scheinet mir die Dichtkunst des Horaz ein trefflicher Commentar zu sein [...].“ 155 Es ist notwendig, an dieser Stelle in griechischen Buchstaben den Begriff des ethos und dessen Wurzel zu nennen, denn was ursprünglich zwei Begriffe sind, wird schließlich einer: Charakter und Gewöhnung. Alle in dieser Arbeit verwendeten altgriechischen Begriffe werden der besseren Lesbarkeit halber transkribiert. 156 Arist. NE II, 1103a. 157 Ebenda, 1106a. Situationsgebundenheit und ihre Regelung drücken sich in der Entsprechung im decorum aus, das nicht erst im 18. Jahrhundert eine problematisch zu erfassende Kategorie bildet. Vgl. Fulda: Die Gefahr des Verlachtwerdens, S. 175–202.
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Habitus formiert [...].“ 158 Affekte „zur rechten Zeit zu empfinden und den rechten Situationen und Menschen gegenüber, sowie aus dem richtigen Beweggrund und in der richtigen Weise – das ist jenes Mittlere, das ist das Beste, das ist die Leistung der sittlichen Tüchtigkeit.“ 159 Richtig zu handeln im Sinne der mesótes-Lehre bedeutet also bei Aristoteles, sich tugendhaft zu verhalten. Dies muss zudem gern geschehen, damit sich der Mensch als nicht bloß von Verhaltensnormen beherrscht ausweise, wie Christof Rapp hervorhebt. Wichtig ist auch, erneut darauf hinzuweisen, dass es bei der mesótes nicht um jeweils gemäßigte Emotionen, sondern um die rechte Mitte geht, die insofern situations- und personenabhängig, also gewissermaßen individuell je unterschiedlich zu bestimmen sei. 160 Als Basis für eine Rhetorik der Empfindsamkeit in der Literatur des 18. Jahrhunderts, so meine zentrale These, entfaltet sich die rechte Mitte als das Ziel ethischer Tugenden entsprechend Aristoteles’ mesótes-Ideal besonders für die Paradigmenwechsel der frühen Neuzeit 161 und für den Umbruchszeitraum um 1700 bis weit ins 18. Jahrhundert – und letztlich darüber hinaus. Die rechte Mitte als das Ziel der Tugendethik für die Literatur fruchtbar zu machen, erhält ihre Gültigkeit gerade dadurch, dass ethischer und ästhetischer Diskurs ineinander verwoben wird. Wohl weil für die Literatur im 18. Jahrhundert in der Regel vollkommen zulässig Aristoteles’ Poetik und Rhetorik als Hintergrund gelesen werden, rücken in der Forschung bislang vorzugsweise die Begriffe des pathos und genus sublime ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weniger das mittlere Stilideal und seine Genres. Das Ideal der sittlichen Tüchtigkeit liegt in der jeweils zu bestimmenden Mitte, ist also eine Grundhaltung, die „wesenhaft auf das Mittlere abzielt.“ 162 Ziel des mesótes-Ideals und der Tugendlehre bei Aristoteles ist immer, das darf nicht aus dem Blick geraten, die Glückseligkeit (eudaimonia). 163 Auch sprachstilistisch, zieht man die aristotelische Poetik
_____________ 158 Zumbusch: Probleme mit dem Pathos, S. 8. 159 Arist. NE II, 1106b; vgl. auch NE II, 1106a: „Mittleres dagegen in Hinsicht auf uns ist das, was weder zu viel ist noch zu wenig: dies jedoch ist nicht eines und dasselbe für alle.“ Vgl. auch die allgemeinen Überlegungen dazu in Meyer-Sickendieck: Affektpoetik, S. 13. 160 Rapp: Aristoteles, S. 66. 161 Zur Neubewertung des Verhältnisses von Galanterie und Frühaufklärung vgl. Fulda: Galanterie als Schlüssel zur Frühaufklärung, S. 7–11. 162 Arist. NE 1106b. 163 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte ausführlich Grunert: Die Objektivität des Glücks. Frank Grunert weist in seinem Glücks-Überblick darauf hin, dass die Rezeption des Strebens nach Glückseligkeit ihre Realisierung, an antike Ethik erinnernd, in der Mitte findet: So spricht beispielsweise der von Grunert herangezogene Christoph August Heumann im Politischen Philosophus von den in ihrer Übertreibung bei Thomasius als Haupt-Laster qualifizierten Wollust, Ehrgeiz und Geldgeiz als „mittelmäßige Ehre“, „mittelmäßiger Reichtum“, „mittelmäßige Ergetzlichkeiten“. Vgl. ebenda, S. 306f., dort auch Heumann: Der politische
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heran, drückt sich dieses Ideal als die jeweils neu zu bestimmende Mitte von einem Zuviel und Zuwenig aus. 164 Unter der ‚Rhetorik der Mitte‘ wird also ein Konzept verstanden, das die durchaus aufklärerischen Ausgleichsbestrebungen der Empfindsamkeit einfängt: Die erfolgreiche und publikumswirksame Literatur, an solchen Bezeichnungen wie ‚Moderoman‘ ablesbar, realisiert das Bildungsprogramm der Aufklärung durch Unterhaltung gerade zwischen Pragmatik und Literatur, Tugendbotschaft und Vergnügen und verbindet die Vorstellung vom Tugenderwerb als techne nach antikem Verständnis 165 mit der Inszenierung einer zu verinnerlichenden und verinnerlichten Tugend. Die darauf bezogene Wirkungsästhetik muss die Kognition ebenso wie Emotionen zum Ziel haben. Denn nicht nur die Erregung der ‚sanften Affekte‘ ist für den empfindsamen Diskurs zentral, sondern auch ihre Mischung, wie sie sich in den zeitgenössischen Theorien zum Mitleid und zur Rührung ausdrückt. Diese zeitgenössisch viel rezipierte Tradition der rechten Mitte erfährt mit der Zeit einige Umdeutungen. Exemplarisch zeigt sich eine solche Umdeutung am Begriff der Mediokrität, wofür die folgenden zwei Beispiele repräsentativ für das erste Drittel des 18. Jahrhunderts stehen können. Die Interpretation im für das 18. Jahrhundert bedeutsamen Philosophischen Lexicon (1726) vom zunächst pietistisch beeinflussten und späteren Rhetorik-, Poetik- und Theologieprofessor Johann Georg Walch, hier im Artikel „Maaß“, lautet: Im moralischen Sinn braucht man das Wort Maaß von den menschlichen Handlungen, wenn bey denselbigen die gehörige Maaße zu beobachten, daß man gleichsam in der Mitten bleibet, und der Sache weder zu viel; noch zu wenig thut. Denn ob wir wohl mit dem Aristoteles das Wesen der moralischen Tugend nicht in der Mediocrität sehen wollen, so finden sich doch solche Handlungen, welche entweder durch die Uebermaaße, oder durch den Mangel können fehlerhafft werden, wenn selbige solche Affecten zum Grunde haben, die indifferent sind, und daher so wohl müssen angespornet, als im Zaum gehalten werden, daß sie auf keine Abwege gerathen, z. e. die Begierde zum Geld ist an sich indifferent, welche deswegen zurück zu halten, damit kein Geiz daraus erwachse [...]. 166
_____________ Philosophus. Das ist vernunfftmäßige Anleitung zur Klugheit im gemeinen Leben. Franckfurt und Leipzig 1714, §§ 3,8. Vgl. zur Eudämonismus-Rezeption der Aufklärung außerdem Mori: Glück und Autonomie, S. 27–69. Zum Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit vgl. zudem weiterführend Fonfara: Freiwilliges Handeln und Tugend, S. 19–45. 164 Vgl. Arist. NE, Buch 2. 165 Vgl. Horn: Antike Lebenskunst, S. 113f. 166 Walch: Philosophisches Lexicon, Art. Maaß, Sp. 1690. Eine interessante Nebenbemerkung von Walch ist, dass es beim ‚Maaß‘ auch um Maßstäbe und Abmessungen geht, die in ihrer quantitativen Hinsicht auch auf die Seele angewendet werden, was ergiebig für das Verständnis von der historischen Seelenkonstruktion sein könnte. Referenztext ist Christian Albrecht Körbers 1745 in Halle erschienene Betrachtung, worauf es bey Ausmessung menschlicher
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Walchs Begriffe der ‚Mediocrität‘ und ‚Indifferenz‘ bedürfen also der Erläuterung. Das ethos der Frühen Neuzeit steuert das Maßhalten des Redners aus: „Hier liegt nun das eigentliche Wirkungsfeld des E[thos] als der bewußten Gegensteuerung gegen das delectare.“ 167 Bis ins 18. Jahrhundert vollzieht sich, das ist festzuhalten, wiederum ein Wandel, der diese Opposition zwar (noch) nicht umkehrt, aber doch in ein anderes Verhältnis setzt. So geht es bei Gottsched beispielsweise gewissermaßen um die „Mischung aus nüchternem und geistreich-unterhaltsamem, also niederem und mittlerem Sprach- und Schreibstil; er wird in der Konversation und im Brief gepflegt werden“ 168. Diese Behauptung einer bloßen Gegensteuerung gegen das delectare ist angesichts der Ergebnisse aus diesem Kapitel so nicht haltbar. Die delectatio ist keineswegs historisch nur dem docere untergeordnet, erlebt aber seit dem Mittelalter eine generelle Abwertung – Unterhaltung wird mit Zerstreuung assoziiert und damit als ‚Zeitvernichtung‘ abgewertet –, und auch das Mittelmaß wird durchaus pejorativ durch eine bestimmte Lesart von Horaz’ ars poetica rezipiert. 169 Eine solche Rezeption ist für unseren Untersuchungszeitraum belegt durch den anonym publizierten Versuch einer philosophischen Abhandlung von dem Mittelmäßigen in der Dichtkunst von 1741. 170 Der Anonymus – der Baumgarten-Schüler und -Nachfolger Georg Friedrich Meier aus Halle – adressiert im Vorwort den Theoretiker des guten Geschmacks, Johann Christoph Gottsched, und richtet seine Bitte um Veröffentlichung an diesen. Er stellt zunächst Überlegungen zu Geschmacks- und Urteilsbildung an – denn im Geschmacksurteil sind Ethik und Ästhetik verbunden
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Seelen und aller einfachen Dinge überhaupt ankömmt, als ein Anhang des Versuchs von Ausmessung menschlicher Seelen. Mouchel: Ethos – Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Sp. 1531. Robling: Ethos – ebenda, Sp. 1539. Horaz grenzt die Dichtung gegen andere Professionen ab, in denen gesellschaftlich akzeptierte Mittelmäßigkeit der Ausführenden (z.B. Anwälte) an der Tagesordnung ist. Das Telos der ars poetica aber ist die Ganzheit, die Stimmigkeit des Werkes: Neben diese Maßgabe des unum stellt Horaz auch die Norm auf, dass Kunst simplex zu sein habe. Was Horaz miteinander verklammert, ist die Dicht-Kunst und das Kunst-Handwerk; was er betont, sind die Dichtungsregeln – und gleichzeitig zeigt er durch die eigene, vermeintlich unsystematische briefliche Verfasstheit seiner Poetik, dass Dichtungsregeln allein ebenso wenig ausreichen, Ganzheit und damit Schönheit zu evozieren. Diese Regeln und Vorbilder zu kennen, ist allein nicht hinreichend, denn: „not satis est pulchra esse poemata: dulcia sunto/ et quocumque volent animum auditorius agunto.“ (V. 99f.) Diese Regel erschließt, dass Wirksamkeit und Kunst durchaus einhergehen können und nicht etwa Wirksamkeit mit Mittelmäßigkeit assoziiert sein muss. Vgl. zu den zwei Konzeptionen von mediocritas bei Horaz auch Fleming: Exemplarity and Mediocrity, S. 18f. und S. 21–28. Vgl. [Meier]: Versuch einer philosophischen Abhandlung von dem Mittelmäßigen in der Dichtkunst, S. 9–44. Dieser Text kann als Veröffentlichung Georg Friedrich Meiers als Hallenser Universitätsprofessor in der Nachfolge Baumgartens angesehen werden, mit der er die Ästhetik Baumgartens nachhaltig popularisiert hat.
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–, darauf aufbauend, dass sich die deutsche Dichtkunst „in den letzten Zeiten ganz ungemein zu ihrem Vorteile verändert habe.“ 171 In § IV wendet sich der Schreiber dann explizit gegen das Mittelmäßige, das hier nach der Tradition der horazischen ars – und insofern eben ambivalent – eine negative, da Durchschnittlichkeit indizierende, Semantik erhält. Mittelmäßige Gedichte seien so regelmäßig, vernünftig, ernsthaft, fließend und natürlich, dass sie langweilten und ihn denken ließen: „Ja, ja, das Ding ist mittelmäßig, mir schmeckts nicht. [...] am liebsten wäre mirs, wenn ich erweisen könnte, ein mittelmäßiges Gedichte sey kein Gedichte.“ 172 In § XIV schließlich definiert er: Das Gute, in so fern es besser ist, als viele andre seiner Art, nennen wir trefflich, und den merklich höhern Grad der Güte, die Trefflichkeit. Was in einer gewissen bestimmten Reihe von Dingen besser ist als das Schlechteste, und schlechter als das Treffliche, das heißt man mittelmäßig. Vor je mehrern, und je größern Dingen seiner Art, ein Ding einen Vorzug der Güte hat, und je größer dieser Vorzug ist, je trefflicher ist das Ding. Das Trefflichste ist, was besser ist als alle: Je mehr das mittelmäßige besser wird, als das Schlechteste, desto mehr sagt man, dass es sich dem Trefflichen nahe. 173
Meier zeichnet darin seine komparatistisch abgeleitete Vorstellung von Perfektibilität nach. Aus seiner Hierarchisierung der Dichtung wird deutlich, dass der Kunstrichter sich sowohl hinsichtlich dieser Trefflichkeit als auch hinsichtlich ihrer Stilistik auszukennen habe, er muss rhetorische wie poetologische Kenntnisse besitzen ebenso wie ethische Tugenden (im Geschmacksurteil). 174 Wie sich das mesótes-Ideal auf das ethos als Charakteranlage ebenso wie auf die Gewohnheit bezieht, zeichne sich auch der Geschmack als angeborene Fähigkeit aus, die aber erzogen und durch Gewohnheit ausgeprägt werden müsse. Nur durch letzteres sei die Kunsteinschätzung möglich. Meier kommt im Vergleich von Rede- und Dichtkunst zu dem Ergebnis, dass Sinnlichkeit zwar in diesen beiden technai vorzufinden sei, dass sie aber stärker in der Dichtkunst hervortrete. Gleichzeitig aber seien beide „nur den Graden nach verschieden“. Diese Grade aber deutlich zu bestimmen, sei „ein Geschäffte von unendlicher Schwierigkeit“ 175. Diese Engführung ist für den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit eminent wichtig, zeigt sie doch erstens die Vergleichbarkeit von Rede und – nach heutigem Verständnis – Literatur, wie sie historisch ja auch stets vollzogen wird. Zweitens zeigt der Vergleich die Notwendigkeit, stilistisch zu diffe-
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Ebenda, § II, S. 11. Ebenda, § IV, S. 13. Ebenda, § XIV, S. 21. Vgl. das Fazit vorliegender Studie (Kap. VII). [Meier]: Versuch einer philosophischen Abhandlung von dem Mittelmäßigen, § XX, S. 25.
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renzieren. Die Mittelmäßigkeit eines Gedichts oder einer Ode lässt sich durch den Vergleich mit besseren Texten feststellen, die den normativen Bauprinzipien zur Verfertigung eher folgen als die mittelmäßigen. 176 Den Bezug zur Norm bildet selbstverständlich Gottscheds einflussreicher Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Da Gottsched zweifellos in der Horaz-Tradition steht, bezieht sich Meier ebenfalls bei der Ablehnung des Mittelmaßes sowohl von Autoren als auch von Werken auf Horaz’ Sentenz: „mediocribus esse poetis/ non homines, non di, non concessere columnae.“ 177 Die horazische Zweiteilung des Kunstrichters in den Kenner der techne sowie in den Kenner sittlicher Maßstäbe ist die entscheidende Lesevorgabe für Meiers Versuch. 178 Diese Degradierung des inklusiven Konzepts der Mitte durch eine negative Mittelmäßigkeit in poetologischer Hinsicht, wie hier am Beispiel expliziert, ist bei weitem nicht die einzige geblieben. So zeigt sich auch in anderen Diskursen in dogmatischer Hinsicht eine Einengung, und zwar beispielsweise durch den Pietismus: Die Mitte zwischen Tugend und Laster als eindeutige sittliche Position stoischer Tradition liegt im adiaphoron, wörtlich ‚Mittelding‘, dessen theologische wie philosophische Traditionen sich verfolgen ließen. 179 Der Begriff des adiaphoron als sittlich neutrales Mittelding (wie Gesundheit) kann sich allerdings zu einem Reizbegriff entwickeln, weil er zu Beliebigkeit der Interpretation zu führen vermag. Die Auflistung schädlicher adiaphora im Pietismus – Tanz, Theater, Romanlektüre, Spaziergang, weltliche Musik beispielsweise – wird auch als die ‚dogmatische Seite‘ des Pietismus bezeichnet, dessen Gegenposition in der Halleschen Anakreontik ausgeformt wird. 180 „Für Kunst oder schöne Literatur, so lässt sich zuspitzen, gibt es im Pietismus Franckescher Prägung keinen Ort, weil es keine Zeit für sie gibt.“ 181 Andererseits aber sind Strömungen wie die mitteldeutsche Anakreontik oder die literarische deutschsprachige Empfindsamkeit nicht ohne die pietistischen Zirkel denkbar, die sich auch räumlich nah entweder an den jeweiligen Konzepten abarbeiten oder diese in die eigene Poetologie aufnehmen. Mediocritas aber als Stilideal und die mesótes als sittliches Ideal verbinden sich in dem Anspruch, Konzepte in einer ‚neuen‘ Sprache auszudrücken.
_____________ 176 Dieser Vergleich wird in ebenda, § XXVIII gezogen. 177 Hor. ars 372f.: „Doch dass die Dichter nur Mittelmaß haben, lassen die Menschen nicht zu, nicht die Götter, und nicht die Verleger.“ Übers. d. Verf. 178 Vgl. Kertscher/Schenk: Nachwort und Textkommentare – In: Meier: Frühe Schriften, S. 162f.; sie beziehen sich dabei auf die Ergebnisse von Mauser: Horaz in Halle, S. 81ff. 179 Vgl. die Ausführungen im Kap. III,1 und VI,1 sowie stellvertretend Vogt: Die stoische Theorie der Emotionen, insbesondere S. 73f. 180 Vgl. Verweyen: „Halle, die Hochburg des Pietismus“, S. 226–228. 181 Jacob: Heilige Poesie, S. 59.
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Als rhetorikgeschichtlich relevantes und gerade für die Erklärung des so genannten „Emotionalisierungsschubs“ des 18. Jahrhunderts bemerkenswertes Begriffsfeld ist also die kulturgeschichtlich grundierte Frage nach einer Sprache der rechten Mitte zu verstehen; diese Mitte zielt weder auf die altstoische gänzliche Freiheit von Leidenschaften noch auf die – sinngemäß nach Pseudo-Longinos – Provokation entfesselter Sturzbäche der Leidenschaften, sondern auf das positiv verstandene Mittelmaß zwischen den Extremen, wie schon Quintilian so beredt ausgeführt hat. Naturgemäß findet man dazu widersprüchliche Aussagen in literaturgeschichtlichen Zuammenfassungen: „Der empfindsamen Emotionalisierung aufklärerischer Werte gegenüber ist der Zeitstil des Rokoko [...] eher als eine Ästhetisierung zu bezeichnen. Der aufklärerische Witz erschien hier als spielerischer Scherz, und der stoisch geprägte, heroische Tugendbegriff wandelte sich in eine fröhliche Tugend [...].“ 182 Gleichzeitig heißt es dann ein paar Sätze später, das deutsche Rokoko sei von „bürgerlichem Ethos geprägt und öffnet sich zunehmend empfindsamen Zügen.“ 183 Außerdem heißt es über den Menschen des 18. Jahrhunderts: „Dem Selbstgefühl des aufgeklärten und tugendhaften Menschen entsprachen eher das Ethos des genus medium oder das für didaktische Zwecke geeignete genus humile.“ 184 Damit ist umrissen, dass die Verbindung von Tugendethos und Literatur und der Bezug zum Sprachstil durchaus keine einheitliche Verwendung in der Forschung gefunden haben. An der Rhetorik der Mitte und ihrer Umfunktionierung in der Literatur des 18. Jahrhunderts soll gezeigt werden, dass die erfolgreichen und publikumswirksamen Genres gerade den Spagat zwischen Ethik und Ästhetik, Tugendbotschaft und Unterhaltung zu realisieren wagen. Auf diese Weise versucht die literarische Empfindsamkeit die Lücke zwischen dem Tugenderwerb als techne nach antikem Verständnis und der Inszenierung einer zu verinnerlichenden Tugend zu schließen. Wie politische Klugheit, Schulrhetorik und Pädagogik einandergreifen, zeigt sich um 1700 auch an der ‚Übergangsfigur‘ Christian Weise, dessen Schuldramen von zwei Abhandlungen zur Tugendlehre begleitet werden – Ausführliche Fragen über die Tugend-Lehre (1696) sowie Ordentliche Fragen aus der Christlichen Tugend-Lehre (1697) 185 – und somit das
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Sørensen: Geschichte der deutschen Literatur I, S. 166. Ebenda. Ebenda, S. 167. Des aufschlussreichen Titels wegen in voller Länge hier wiedergegeben: Weise: Ausführliche Fragen über die Tugend-Lehre/ Welchergestalt ein Studierender nach Anleitung der Ethica sich selbst erkennen/ Die wahre Glückseligkeit in der Tugend suchen/ Auch solchen Zweck durch unbetrügliche Mittel erlangen/ Hiernächst aber mit sonderbarem Nutzen Den Grund zur Politisch- und gelehrten Beredsamkeit legen soll. In Dreyen unter-
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rhetorische System ethisch fundieren. So stellt er bereits 1678 in seinem Roman Der Politische Näscher eine ‚verzuckerte‘ Tugendlehre vor, in der es beispielsweise spitzfindig heißt, dass ein „ETHICUS“ zugleich ein „MEDICUS des Gemüths“ 186 sei. Vor dem Hintergrund der skizzierten Traditionen erscheint es notwendig, dass im Folgenden von der Empfindsamkeit als einer ‚Rhetorik der Emotionen‘ gesprochen wird. Dass die Rhetorik der Mitte in der Empfindsamkeit eine enorme Erfolgsgeschichte hat, lässt sich an zahlreichen Beispielen aus der Literaturgeschichte zeigen. Besonders bemerkenswert an dieser Wirkungsmächtigkeit erscheint die Tatsache, dass sie dabei ohne Exklusionsstrategien wie auch ohne Ausschlüsse von einem bestimmten Publikum, von Gattungen und ohne normative Setzungen auskommt. Daher wird die Differenz von – durch die Forschung festgeschriebenen – kanonischen und nicht kanonischen Texten in dieser Arbeit zugunsten einer exemplarischen Auswahl an Texten ignoriert, die eine möglichst breite Wirkung erzielten und anhand derer das Programm von der Mitte abzulesen ist sowie die sich einer entsprechend breiten Kritik stellen mussten und müssen. Es wird dabei zu fragen sein, wie sich Pragmatik und Literatur zueinander verhalten.
_____________ schiedlichen Theilen nach der gewöhnlichen Methode Allen Liebhabern der Oratorie zur Nachricht Vorgestellet. Leipzig: Gerdesius 1696; – Weise: Ordentliche Fragen über die Christliche Tugend-Lehre/ Welchergestalt ein Studierender aus der Theologica morali Seine Pflicht erkennen/ Sein Glücke befördern/ und Vornehmlich sein wahres Christentum beweisen soll. Mit einem ausführlichen Register. Nebenst einem Special-Anhange von denen Tugenden Eines Studierenden; dergestalt eingerichtet/ Daß Gelehrte und andre sich dessen bedienen können. Leipzig: 1697. 186 Weise: Der politische Näscher/ Auß Unterschiedenen Gedancken hervor gesucht/ und Allen Liebhabern zur Lust/ allen Interessenten zu Nutz, S. 230. Instruktiv für die hier verfolgten Gedanken ist die 1680 veröffentlichte Leseanweisung dazu, vgl. Weise: Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher/ wie nehmlich Dergleichen Bücher sollen gelesen/ und Von andern aus gewissen Kunst-Regeln nachgemachet werden. Vgl. zudem ausführlich Ort: Medienwechsel und Selbstreferenz; darin besonders das Verhältnis von Schuldramen und Klugheitslehren und den ‚Neubeginn‘ um 1700 als einer ‚zweiten Sattelzeit‘.
4. Empfindsame Antirhetorik? Zur Wertung der Empfindsamkeit Rhetorik ist im eigentlichen Sinne praxisorientiert. Diese Praxisorientierung auf die Literatur zu beziehen, stellt diese unter ‚Didaktik-Verdacht‘, der für die Zeit vor 1800 mit den noch nicht ausdifferenzierten ethischen und ästhetischen Diskursen hier in einem Akt der Umwertung auch nicht ausgeräumt werden soll. Vielmehr stellt sich angesichts der Forschung zur Autonomie der Kunst um 1800 die Frage: Wogegen schließt sich Kunst autonom ab und lässt sich dieses Konzept der Kunstautonomie nicht als ebenso rhetorische Inszenierung erfolgversprechender Exklusivität lesen, die sich gegen eine andere erfolgreiche Bewegung absetzen muss? Anschlussfähig werden Diskurse nämlich nicht nur durch Exklusion, sondern gerade auch durch Transformation. 187 Abgesehen vom Niedergang der Schulrhetorik bedeutet das für das 18. Jahrhundert keine Entrhetorisierung, sondern es handelt sich um die funktionale Umstellung auf eine andere Emotionalisierungsstrategie. Ab Mitte der 1760er Jahre schreiben die Stürmer und Dränger ebenso wie ihre Überwinder gegen diese erfolgreiche ‚Transformation der Rhetorik‘ an und propagieren eine Überwindung der Rhetorik. Die ‚Rhetorik der Antirhetorik‘ und ihre Radikalisierung durch den Sturm und Drang stellen in einem eigenen innovativen Bildfeld die Suche nach einer neuen Sprache der Emotionen aus. Darin besteht die große Leistung der empfindsamen Literatur im mittleren Stil, die sich als rhetorisch verfasst und zugleich flexibel erweist. Gleichwohl stellt diese Rhetorik der Empfindsamkeit ihre Artistik auf den ersten Blick nicht aus, sondern versucht sich scheinbar ernsthaft in ‚echter‘ Seelenaussprache. Stellt man die Frage nach dem Warum der Ernsthaftigkeit, geht die Diskussion in der aktuellen Forschung von der Literatur schnell über in Diskussionen zum zeitgenössischen Diskurs über Pragmatik und Moral wie zu Selbstvergewisserungsstrategien einer sich gerade konstituierenden Bürgerlichkeit und anderen mentalitätsgeschichtlichen Perspektivierungen, zur Umschichtung der Gesellschaft und der einhergehenden Freisetzung von Zeit zu Freizeit und anderen Möglichkei-
_____________ 187 Vgl. den aussagekräftigen Titel der Habilitation Tills: Transformationen der Rhetorik. Olaf Kramer zieht die These von der Transformation der Rhetorik im 18. Jahrhundert insofern in Zweifel, als er von der ‚Neuartigkeit‘ dieser transformierten Rhetorik ausgeht. Vielmehr ist mit Till aber von einer Umfunktionalisierung und Umwertung zu sprechen. Vgl. Kramer: Goethe und die Rhetorik, S. 15f.
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ten der Selbstverwirklichung im Sinne des ‚ganzen Menschen‘, des modernen Individuums. 188 Die kreative Leistung der Literatur hingegen kann und darf nicht, wie es in textzentrierenden, narratologischen Ansätzen ohnehin selten geschieht, auf eine zu kurz greifende Widerspiegelung oder Verarbeitung solcher gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse reduziert werden. Der so genannte Niedergang der Rhetorik im 18. Jahrhundert muss also anders erklärt werden; so führt Manfred Fuhrmann diesen eindeutig nicht auf einen generellen Bedeutungsverlust zurück, sondern darauf, dass die Rhetorik als Hilfsdisziplin für die Beherrschung des Lateinischen nun kaum mehr eine Rolle spiele. Hingegen verweist Fuhrmann die antirhetorischen Äußerungen Goethes, Herders und anderer Zeitgenossen in den Bereich der immerhin bereits seit Platon virulenten Rhetorikkritik. 189 Till wendet, dies stützend und gegen eine Pauschalabwertung gewandt, schließlich zu Recht ein, dass von einer Künstlichkeit der Rhetorik zu sprechen häufig auch eine Abwertung des Rhetorikbegriffs impliziert. 190 Auch die um 1800 konstatierte Zunahme von Schriftlichkeit und stiller Lektüre, wie sie in der mediologischen Untersuchung Albrecht Koschorkes hervorgehoben wird, schlage keineswegs die auf Performanz angelegte Rhetorik aus dem Feld. 191 Die bisherigen mediengeschichtlichen Untersuchungen zu diachronen Auf- bzw. Abwertungen von Schriftlichkeit oder Mündlichkeit gingen mit einer Absage an Rhetorik einher, obwohl die „Auseinandersetzung um ‚Mündlichkeit‘ und ‚Schriftlichkeit‘ [...] vielmehr als ein integrales Moment der Rhetorikgeschichte zu betrachten“ sei und eine „Mediengeschichte der Rhetorik“ noch ausstehe. 192 Till weist darauf hin, dass die Absolutsetzung eines Medienwechsels Mündlichkeit/Schriftlichkeit nicht ausreiche, rhetorikgeschichtliche Veränderungen zu erklären: „Mediale Verwerfungen jedenfalls sind kein ge-
_____________ 188 Einen guten Überblick über die Debatte, den eigenen Standpunkt hervorhebend, bietet Sauder: Empfindsamkeit – Tendenzen der Forschung. Im Übrigen werde ich davon ausgehen, dass die Diskurse der Aufklärung und Empfindsamkeit gleichermaßen in die zu untersuchenden Texte eingeflossen sind. Bei der Analyse ihrer Ausprägung stütze ich mich vornehmlich auf Sauders zahlreiche Studien sowie auf Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Anders verhält es sich bei der Forschungsdebatte Empfindsamkeit – Pietismus. Sauder plädiert hier für eine Differenzierung des Pietismusbegriffs und die Unterscheidung zwischen der Intention des Pietismus und der Empfindsamkeit, vgl. Sauder: Empfindsamkeit I, S. 58–64. Selbstverständlich ist zu berücksichtigen, dass es nicht den Pietismus gibt, ebensowenig, wie es lohnend ist, von der Aufklärung zu sprechen; vielmehr ist die Differenzierung dieser Begriffe Grundlage jeder Forschungsdiskussion. 189 Vgl. Fuhrman: Rhetorik und öffentliche Rede, insbesondere S. 18. 190 Vgl. Till: Transformationen der Rhetorik, S. 26f. 191 Vgl. ebenda, S. 46–50. 192 Ebenda, S. 46.
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eignetes Kriterium für das ‚Ende der Rhetorik‘ – nicht das ‚Schreiben‘ (gegenüber dem ‚Sprechen‘) ist die Innovation des 18. Jahrhunderts, sondern eine veränderte Einstellung zur Textproduktion insgesamt [...].“ 193 Seine Folgerung daraus allerdings, dass „die mediale Seite von nachrangiger Bedeutung“ 194 sei, erscheint vor dem Hintergrund der vorangehenden Argumente dysfunktional. Vielmehr muss man darauf verweisen, dass sich das vermeintlich ambivalente Konstrukt Rhetorik durch Oralität und Literalität bis heute ein Innovationspotential sichert, das in ganz besonderem Maße auf Medialität fußt. Denn die Eindrücklichkeit der Lektüre wird häufig an der so empfundenen „Überschreitung der Medialität hin zu einem Realitätserlebnis“ 195 festgemacht, einer Suggestionskraft also, die Martin Andree fragen lässt: „Wie erzielen Medien den Effekt, ihre eigene Medialität zu überschreiten?“ 196 Da, wo der erzählende Vermittler unzuverlässig wird und es keine Gefühlsgewissheit gibt, ist Verstummen die womöglich einzig adäquate Konsequenz. Isabelle Wentzlaff-Mauderer hat eindringlich gezeigt, wie an Schaltstellen zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ verbale Sprache durch Schweigen oder non-verbale Sprache ersetzt wird, wie die Leerstelle mehr sagen muss als die Festlegung auf einen Text. 197 Die Pantomime, um 1800 hoch im Kurs der Gesellschaftsspiele stehend und im Kontext der eloquentia corporis für glaubhaften Gefühlsausdruck zuständig, gilt dann um 1900 als Ausdruck des Sprachversagens schlechthin. 198 Ob auf Ebene der eloquentia verborum oder der eloquentia corporis – das Unsichtbare der Emotionen sichtbar, lesbar zu machen, geschieht mittels einer Rhetorik, die das Selbst als solches inszeniert und zu beglaubigen versucht. Schon immer durch die Triphasie logos, ethos, pathos 199 – die Beglaubigungsinstrumente der rhetorischen Dreiheit – auf kalkulierende Performanz ausgerichtet und damit schon immer mit dem Vorwurf der Manipulierbarkeit und Instrumentalisierbarkeit behaftet, führt die Rhetorik der Empfindsamkeit eine vermeintliche Schlacht gegen die mannigfaltigen Verstellungsdiskurse, welche ihre Rhetorizität gerade nicht verbergen, sondern zur Voraussetzung machen. Das Bestreben empfindsamer Rheto-
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Ebenda, S. 50. Ebenda. Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 12. Herv. i. Orig. Ebenda, S. 15. Herv. i. Orig. Vgl. Wentzlaff-Mauderer: Wenn statt des Mundes Augen reden. Zur Leerstellen-Theorie vgl. die immer noch grundlegenden Überlegungen von Wolfgang Iser. 198 Im 19. Jahrhundert bzw. um 1900 verändern sich die Voraussetzungen für die Sprachkritik grundlegend, weil Sprachkritik dann gleichzeitig auch Erkenntniskritik ist. Diese Verknüpfung ist allerdings nicht schon auf das 18. Jahrhundert zu applizieren. 199 Zur Triphasie in der aristotelischen Rhetorik vgl. Knape: Rhetorischer Pathosbegriff, S. 26–28.
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rik hingegen, Authentizitätskriterien für eine Sprache der Gefühle zu schaffen und das Gefühlskonzept für den Kreis der Eingeweihten lesbar und verstehbar zu machen, geschieht jeweils unter der Prämisse: Echte Gefühle bedürfen keiner Erklärung. Aufschlussreich ist, dass das Konzept moderner Ich-Konstruktion durch sein konstruiertes Innen mithilfe des Außen insofern Brüche zeigt, als es beglaubigen muss, was es nicht beglaubigen kann. Die Transparenz des so behaupteten Inneren ist nur rhetorische Oberfläche. Diese als das Gegenteil von Rhetorik, nämlich Natürlichkeit, konzipierte Plausibilisierung von Emotionen steht nicht im Gegensatz zur zeitgenössisch postulierten Absage an Rhetorik und Poetik, sondern ist gerade in ihrer Inszenierung ebenso strukturiert. Indem Erich Schön von einer rhetorica contra rhetoricam seit der Jahrhundertmitte spricht, verweist er auf deren topologische Tradition, denn „rhetorische Praxis geht [...] rhetorischer Theorie historisch voraus“. 200 Gert Ueding hebt in diesem Zusammenhang die Wirkungsästhetik des Diskurses hervor: „Das gewollt Kunstlose und Natürliche der pietistischen Seelenaussprache wie ihrer literarisch-empfindsamen Adaptionen kann daher die rhetorische Wirkungsabsicht nicht verleugnen.“ 201 Dieses Konzept ist somit auf Differenz ausgelegt und liest sich dadurch als modernes Konzept. Anhand empfindsamer Rhetorik und ihrer Medien wird in der Literatur ein Diskurs über Literatur hergestellt, gewissermaßen eine „Metastufenbildung“ 202, was Jochen Hörisch für den Zeitraum um 1800 generalisiert als das „Reflexivwerden von Wissen“, das für jegliches Selbst-Bewusstsein die Voraussetzung sei: „Selbstbewusstsein avanciert um 1800 zum Mode-Thema schlechthin.“ 203 Gerade durch understatement und durch die Behauptung, nicht rhetorisch zu sein, erhält die ‚Rhetorik der Mitte‘ im 18. Jahrhundert erst ihre rhetorische Überzeugungskraft und besiegelt so ihren weit über die Epoche hinausreichenden Erfolg. Man könnte meinen, diese vermeintliche Loslösung von der Rhetorik geschehe aus der Naivität heraus, eine funktionierende unmittelbare Herzenssprache erschaffen zu wollen; dagegen endet „[d]er angestrengte Sprung aus der Rhetorik [...] nur in einer neuen Rhetorik des Authentischen, Ursprünglichen und Naiven.“ 204 Was Nikolaus Wegmann der Empfindsamkeit als ‚Anstrengung‘ ankreidet, ist tatsächlich die in praxi realisierte Rhetorik des Schweigens angesichts von
_____________ 200 Till: Transformationen, S. 35. Vgl. zudem Schön: Aufklärung der Affekte – Christian F. Gellerts Leben der Schwedischen Gräfin von G***, S. 31–41. 201 Ueding und Steinbrink: Grundriß der Rhetorik, S. 98. 202 Hörisch: Des Lesens Überfluss, S. 42. 203 Ebenda, S. 42f. 204 Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 82.
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Sprachversagen und Sprachkrisen, die sich aber auch als Spiel mit eben jenem Sprachversagen ausstellt. Allerdings will die Empfindsamkeit, so Wegmann, als realistisch ohne nominalistische Begriffseinsetzung für Emotionen verstanden werden. Aus heutiger Sicht erscheint solches Ringen um die Ernsthaftigkeit des Gefühlsausdrucks möglicherweise als angestrengt und anstrengend. Auf diesem Weg um Eindeutigkeit ringend, haben Zeitgenossen und Forscher der Empfindsamkeit zu Recht unterstellt, langweilig und hölzern zu sein, dem Pietismus, heuchlerisch und selbstverliebt, der Anakreontik, unpolitisch und tändelnd zu sein. Dagegen soll jedoch folgender Perspektivwechsel vorgeschlagen werden, der nicht die Anstrengung der Selbstaussprache thematisiert, sondern die sprachlichen Möglichkeiten dieses Konzepts: Die Rhetorik wird in der Empfindsamkeit einem Funktionswandel unterzogen. Während die Lebenswelt ausdifferenziert wird, entwickelt sich eine ‚neue‘ Rhetorik der Emotionen, die die ins Menscheninnere verlagerte Ganzheit verbildlichen soll. Indem man die rhetorischen Erzählstrategien für Emotionen näher in den Blick nimmt, lässt sich das daraus resultierende Fazit, es gebe innerhalb dieser Diskurse keine Selbstreflexion auf die Sprache, sondern nur auf die Sache, neu bewerten. Durch die Wahl dieses Ansatzes geht es nicht länger um (Ab-)Wertungen dieser Strömungen. Schließlich war das semantische Problem der Empfindungssprache den Zeitgenossen durchaus bekannt. Der Theologe Michael Ringeltaube benennt es in seiner Abhandlung Von der Zärtlichkeit (ein zeitgenössisch synonymer Begriff für die Empfindsamkeit) von 1765 unmissverständlich: „Es ist wahr, daß Empfindungen nicht so vollkommen deutlich gemacht werden können, als wie wir sie uns selbst unmittelbar vorstellen; sie bleiben ihrem Wesen nach in alle Ewigkeit unaussprechlich.“ 205 Empfindsamer Rhetorik mangelt es also nicht an Selbstreflexion, sondern eine zu ausführliche Selbstbeobachtung in Form einer SelbstZergliederung, die zumal auf Ganzheit abzielt, führt im Gegenteil zu Vermittlungsschwierigkeiten. Jeder Ausdruck ist auf das Selbst bezogen und erschwert die auf Verstehen angelegte Kommunikation. Mit einer bloßen Selbstbezüglichkeit aber, die nicht mehr den Adressaten im Blick hat, dürfte solche Rhetorik – deren Ziel immer jedoch nur das Gegenüber sein kann – im Grunde gar nicht als solche gelten. Doch sie bleibt nicht ‚bloß‘ selbstbezüglich und verfehlt ihre Wirkung bei weitem nicht. Indem das – angenommen empfindsame – Gegenüber nämlich einem regelrechten Deutungszwang unterliegt, wird Schweigen als elaboriert und die ausführliche Besprechung des Selbst als empfindsam aufgewertet. Wie Lessing im Laokoon argumentiert, kann sich eine Figur aber nicht natürlicher
_____________ 205 Ringeltaube: Von der Zärtlichkeit, S. 73.
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artikulieren als durch Schweigen oder durch den Schrei, wie er aus Homers Griechen und nicht zuletzt der Laokoon-Gruppe herausliest. 206 Beide, Schweigen und Schreien, unterbinden auf eine strukturell ähnliche Weise die Kommunikation, doch allein das Schweigen wird als sprachkritisches Moment nobilitiert. Schweigen ist insofern ambivalent, als es zwar als ungewollte Negation der Rede, als Wissen über den Verlust des adäquaten (ursprachlichen) Begriffs darstellbar ist, andererseits aber auch indizieren kann, dass Sprachlosigkeit gewollt ist, etwa als Geheimniswahrung. Zwischen Nichtwollen und Nichtkönnen also steht der Begriff; wer etwas sagt, sagt etwas anderes nicht. Allen diesen Ausdrucksweisen schreibt man zu, ‚existentielle‘ Emotionen zum Grunde zu haben, die sich je durch ihren Ausdruck selbst legitimieren. Die Exklusivität des Gesagten wird mit einer Subjektivierung gekoppelt, die erstmals einem breiten Publikum zugänglich wird – ohne dass Gelehrsamkeit oder der Stand eine Rolle spielten. In der französischen Theorie zur Empfindsamkeit von Mistelet von 1778 heißt es dazu: „Die Empfindung quillt aus dem Herzen. Sie ist kein Vorrecht der Geburt und des Standes [...].“ 207 Eine ganz entscheidende Voraussetzung aber, um an empfindsamer Rhetorik teilhaben zu können, die Nikolaus Wegmann in seiner einschlägigen Studie aber nicht näher betrachtet und die zuerst durch Koschorke in den Blickpunkt gerät, ist die Literalität. 208 Die mittlere Redefunktion des ethos ist auf eine zentrale Kategorie – Unterhaltung – gegründet, die im 18. Jahrhundert neu strukturiert wird, und diese Neustrukturierung hängt essentiell mit der Literalität und veränderten Rezeptionsweisen zusammen. Das delectare und conciliare des Publikums korrespondiert geradezu in erstaunlicher Weise mit veränderten Rezeptionsweisen, die von den Zeitgenossen als ‚Lesewut‘ diskreditiert wurden. Das ethos-Konzept verlangt ein neues Personal – private Kleinfamilie, bürgerliche Mentalität – und neue Genres wie Briefroman und bürgerliches Trauerspiel. Die Beziehungsebene, die Persönlichkeit des Redners und die damit verknüpfte Adressierung und Wirkung beim Rezipienten wird dadurch besonders in den Fokus genommen. Diese
_____________ 206 Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerei und Poesie – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5/2, S. 9–206. Vgl. dazu ausführlich Anglet: Der Schrei. Vgl. Herders kritische Antwort auf Lessings Laokoon in den Kritischen Wäldern: Erstes Wäldchen – Werke in zehn Bänden, Bd. 2, S. 63–245. 207 [Mistelet]: Über die Empfindsamkeit in Rücksicht auf das Drama, die Romane und die Erziehung. Vom Herrn von Mistelet. Aus dem Französischen übersetzt von Albrecht Christoph Kayser (1778). Zit. nach dem Auszug in Sauder (Hrsg.): Theorie der Empfindsamkeit, S. 117. Wie allerdings beim bürgerlichen Trauerspiel sichtbar, das ja auch angeblich den Menschen auf die Bühne bringen will, gibt es keine Durchlässigkeit nach unten: Der vierte Stand ist und bleibt ausgeschlossen. 208 Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, passim, insbesondere aber S. 169–196.
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sozialisierende Funktion des ethos lässt gleichwohl die Grenzen zwischen Ethik und Ästhetik verwischen. Die Gemeinschaft über den Einzelnen zu stellen und gleichzeitig den Einzelnen aus der Gemeinschaft hervorzuheben, ist eine problematische Uneindeutigkeit der Empfindsamkeit. Wegmann spricht von einer doppelten Funktion: „[...] sie soll sowohl das Ichbewußtsein steigern und in Individualität einüben, als auch die Intensivierung von Sozialität leisten. Beides scheint jedoch nur schwer miteinander vereinbar.“ 209 Die Empfindsamkeit kann einer angemessenen Versprachlichung von Subjektivität, einer „Tiefendifferenzierung von Individualität“ 210 nicht gerecht werden. Doch durch ihre Oberflächlichkeit, wie man daraus folgern könnte, werde der Bruch zwischen Individualität und Sozialität nicht so deutlich, sondern im Gegenteil, mache der Hang zu starren Sprachformeln den Diskurs zugänglich für jeden. So kann man die Uneindeutigkeit als Selektionsvorteil werten. Gerade diesen Ausdrucksmangel sieht Wegmann deshalb als das eigentliche Alleinstellungsmerkmal dieses Diskurses. Während Wegmanns Studie sich vor allem der Frage widmet, wie ein Diskurs über Emotionen bestellt ist, stelle ich die Frage nach der Rhetorik der Emotionen. Hinter allem steckt also eine erfolgreiche Rhetorik der Selbstvergewisserung, die es unnötig macht, von Oberflächlichkeit oder Tiefe zu sprechen. Dies zeigt auch die Tatsache, dass die Zeitgenossen sich der Rhetorizität der Emotionalisierung bewusst sind. So versucht Ringeltaube, obwohl er im Grunde, wie bereits gezeigt, die crux von Emotionsdarstellungen erkannt hat, tatsächlich zu ergründen, wie eine erfolgreiche „Sprache der Zärtlichkeit“ auszusehen habe, wie sich Gestik und Rede zueinander verhalten müssten, denn es gehe schließlich darum, „zu rühren und zu gewinnen“. 211
_____________ 209 Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 54. 210 Ebenda, S. 55. 211 Ringeltaube: Von der Zärtlichkeit, S. 76. Auffällig übrigens ist hier das Fehlen der ansonsten als so übermächtig betonten Belehrungsfunktion.
II. ‚Rhetorik der Mitte‘ prodesse et delectare in Zeitschriften und Brief
1. Geselligkeit als Tugendbotschaft und Unterhaltung (Der Gesellige) „Du hast die schwere Kunst erfunden/ Wie man vernünftig fröhlich ist“, spricht Johanna Charlotte Unzer im Scherzgedicht ihren Mann an. 1 Wenn man bedenkt, dass eben dieser, damals noch Student, in seiner Neuen Lehre von den Gemütsbewegungen (1746) 2 die Freude einen hochgradigen Affekt nennt, erstaunt auf den ersten Blick diese Verbindung mit der Vernunft. Doch ist diese Verknüpfung programmatisch: Denn die Aufwertung des Sinnlichen durch – vereinfacht formuliert – die ‚Erfindung der Ästhetik‘ einerseits und ihre „sittliche Legalisierung“ 3 im Rahmen des pietistischen Einflussfelds andererseits umreißen das Spannungsfeld zwischen dem auf die Sinne gerichteten delectare und dem docere, das die Kognition zum Ziel hat und das um die Jahrhundertmitte in verschiedenen Diskursen diskutiert wird. 4 Als Grundlage und Stabilisator einer solchen geselligen Kommunikation gilt das bereits in der Antike positiv besetzte Konzept, der „Lehre von der Tugend als einer Mitte.“ 5 Diese Rhetorik der Mitte bedarf einer anderen Form des Ausdrucks. So fordern die Herausgeber der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige, Georg Friedrich Meier und Samuel Gotthold Lange, in ihrer programmatischen Vorrede von 1748 „eine andere Art des Vortrags“, eben eine ‚neue‘ Sprache. Eine Rhetorik der Mitte erscheint schon deshalb möglich, weil die Herausgeber und Freunde, der hallesche Pietist und literarisch interessierte Samuel Gotthold Lange und der hallesche Philosoph aus einem Theologenhaushalt, Georg Friedrich Meier, aus so unterschiedlichen Denktraditionen stammend, ein gemeinsames Projekt der Geselligkeit entwickeln. Die Geschichte der Geselligkeit
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Johanna Charlotte Unzer: Versuche in sittlichen und zärtlichen Gedichten: An Damis, S. 39–41. Johann August Unzer: Neue Lehre von den Gemütsbewegungen, § 27, S. 56. Reiber: Anatomie eines Bestsellers, S. 69. Die wolffische Wortverbindung der anschauenden Erkenntnis ist beispielsweise auch Kern von Lessings Fabeltheorie von 1759, vgl. Lessing: Fabeln und Fabelabhandlungen: I. Von dem Wesen der Fabel – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 4, S. 361. Vgl. auch die Anknüpfung von Herder: Über Bild, Dichtung und Fabel – Werke in zehn Bänden, Bd. 4, S. 648–677. Zum Konzept der Anschaulichkeit vgl. Willems: Anschaulichkeit; MeierOeser: Vernunft und Anschauung, S. 61–90. Vgl. auch Campe: Vor Augen Stellen, insbesondere S. 208f. Vgl. Handwörterbuch der Philosophie, Bd. 5, S. 1158.
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kann als eine der Inklusion und Exklusion begriffen werden, auch gerade räumlicher Art. Ein Forschungsdesiderat formuliert Markus Fauser mit der „Kommunikationsgeschichte der Geselligkeit“ 6. Dass die Semantiken von Geselligkeit im 18. Jahrhundert vielgestaltig sind und das Konzept an unterschiedlichen Diskursen teil hat, steht außer Frage und kann hier nicht weiter ausgeführt werden. 7 Das vernünftige Nützliche mit dem sinnlich Angenehmen mischen, Nutzen und Rührung oder auch Sittlichkeit und Zärtlichkeit verbinden – an diesem Problem arbeitet sich der Geselligkeitsdiskurs im frühen 18. Jahrhundert ab. Diese konfligierenden Pole können exemplarisch am Geselligen (1748–1750) gegenübergestellt werden. 8 Dass Sprache aus dem Herzen – deren Kennzeichen zu sein hat, dass Emotionen ohne Substanzverlust transportiert werden – eine vernünftige sein soll, wird hier besonders eindrücklich formuliert. So heißt das Motto des 57. Stücks: „Wo nicht Vernunft die Sprache führt/ ist sie nur ein Gewäsch, das Papageyen ziert.“ 9 Herder charakterisiert Papageienrede dann 1770 in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache als „Worte ohne Gedanken“ 10. Unreflektierte, unkritische Sprache aber bildet das Tabu der Aufklärung, nicht etwa das Pathos der Leidenschaften, das man der Vernunft so gern gegenüber und in der neueren Forschung auch an die Seite gestellt hat. Das ethos steht also im Geselligen im Zentrum; die Wirkziele mittlerer Stillage, z. B. Nächstenliebe (caritas) oder Wohlwollen (benevolentia) werden mit dem ethos assoziiert. Dazu gehört auch die Lieblichkeit (suavitas), erreicht durch delectatio, die in Ciceros Worten den mittleren Stil charakterisiert, der aber in der Antike nicht an bloß eine Gattung gekoppelt wird. 11 Die Eingrenzung des delectare auf den mittleren Stil findet erst in der Frühen Neuzeit statt. Auch und gerade der Gesellige funktioniert nicht oder nicht nur durch das docere der sittlichen Erziehung des Lesers. Es geht um die Verklamme-
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Fauser: Geselligkeit, Bibliothek, Lesekultur, S. 26. Anstelle einer redundanten Aufzählung verweise ich auf Peter: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert; und den Überblick in Fauser: Geselligkeit, Bibliothek, Lesekultur, S. 13–26. Der Gesellige. Eine Moralische Wochenschrift hrsg. von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. Teil 1 und 2 (1748). Zu den Moralischen Wochenschriften, ihrer Begriffsgeschichte und thematischen Entwicklung vgl. die immer noch grundlegende Studie von Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Der Gesellige, 57. Stück, S. 465. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1. Teil, 2. Abschnitt – Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 728. Vgl. diesen Gedanken bei Lindner: Mittlerer Stil – Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Sp. 1366–1372, hier Sp. 1367.
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rung der Botschaft der Tugend (Wolfgang Martens) mit der Vertreibung der langen Weile, die schlimmstenfalls in Melancholie enden könnte, durch kurzweilige Unterhaltung. Diese Verbindung ist gerade für den Umbruchs-zeitraum um 1750 wichtig, muss doch die Lektüre, und nicht zuletzt vor pietistischem Hintergrund, durch Erbauung oder durch zumindest der körperlichen Erholung dienliche Abwechslung legitimiert sein. Die aktive Rezeption im gemeinschaftlichen geselligen Kreis soll die Muße vertreiben – allerdings nicht im Sinne adligen Müßiggangs – bzw. sie soll vor pietistischem Hintergrund Predigtrezeption einüben. Im 200. Stück des Geselligen wird darüber Aufschluss gegeben, wie sich der gesellige Mensch herausbildet. Die Leitfrage, „ob es erlaubt sey, Romainen zu lesen?“ 12, zeigt die enge Verquickung von Geselligkeit und Lektüre. Moralische Traktate allein, so die Herausgeber, erreichten das Herz nicht, vielmehr wappne sich jeder „mit geheimen Entschuldigungen“ dagegen. „Es ist daher nöthig, daß man eine andere Art des Vortrags brauche, umunserm [!] Herzen näher zu kommen.“ 13 Wie hat man sich dies vorzustellen? Umsetzung fände dieses Konzept erstens, „wenn man das Laster und die Tugend in besondere Umstände setzet“, d. h. ein Autor soll mit Fallbeispielen arbeiten. Zweitens sei eine andere Art des Vortrags notwendig, weil die „Geschichte eine besondere Kraft auf unser Gemüth“ habe. Solche exempla sollen Möglichkeiten richtigen Verhaltens aufzeigen, weil „wir zu geneigt [seien], uns mit unserer Schwachheit gegen die Forderungen der Sittenlehre zu entschuldigen“. Der Vorbildcharakter von Literatur also muss verbunden werden mit einer anschaulichen Verbildlichung des Abstrakten. 14 Romane, die in diesem 200. Stück des Geselligen noch als Liebesgeschichten betitelt werden, sind in diesem Kontext nur durch ihren exemplarischen Charakter gerechtfertigt. Sie können, gemäß der Ambiguität des Begriffs des pharmakon, Arznei oder Gift für die Jugend sein, und bedürfen so der strengen Auswahl. Als ‚Arznei‘ werden hier noch Richardsons Pamela und Clarissa empfohlen, die wenige Jahre später als ‚Gift‘ schlechthin in den Lesesuchtdebatten gelten. Der Gesellige führt somit einen charakteristischen Grenzdiskurs auf der Schwelle zwischen Ethik und Ästhetik: Durch [den Roman] bekomt [!] die ernste Sittenlehre ein freundliches und angenehmes Wesen, nachdem sie die strenge und fürchterliche Geberde eines schulmeisterlichen Tadelers abgeleget hat. Durch ihn wird die Jugend auf die angenehmste Weise glücklich betrogen, und lernt die Tugend kennen und ihre
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Der Gesellige, 200. Stück, S. 113–120. Ebenda, S. 114. Ebenda.
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Forderungen einsehen, da sie vermeint ein lustiges Buch und eine zeitvertreibende Geschichte zu lesen. 15
Schon für die Mitte des 18. Jahrhunderts ist aber davon auszugehen, dass sich die Leserschaft nicht mehr nur „glücklich betrogen“ sehen will, sondern bereits von Repräsentation und Redundanz auf Neuigkeiten, Suspense und Überraschung, 16 um nur einige Strukturmerkmale des neuen Leseverhaltens zu nennen, umgeschwenkt ist. Im Geselligen ist an dieser Stelle zwar das docere noch dem delectare vorgeordnet. Dennoch wird im 200. Stück vom Roman eine „andere Art des Vortrags“ gefordert und zudem implizit durch das Zitat der horazischen Formel omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci eine Veränderung vorgenommen, die sich u. a. im genus dicendi zeigt: nämlich die Einführung von Unterhaltung unter dem Deckmantel der Belehrung, die für den Vortrag längst eine unstrittige Kategorie ist. 17 Diese Mischung erweist sich im Verständnis der Zeitschrift aber auch als Charaktereigenschaft des geselligen Menschen, der dadurch vernünftig denkend und empfindungsreich fühlend werde – nämlich „bescheiden, redlich, keusch, vorsichtig, tapfer, mäßig, und mit einem Wort, gesellig“ 18. Was sich mit dem Konzept des geselligen Menschen nicht verträgt, ist die Darstellung des Tugendrigorismus. Wer den betreibe, habe ein „finsteres Wesen, dickes Geblüt“ und stelle sich die Tugend als Tyrannin vor. Ideale Tugend macht sich an ihrer Ausführung fest. Auf dieser Basis steht auch Aristoteles’ mesótes-Lehre, denn man erlernt die Tugend nicht nur, sondern erwirbt sie durch Gewohnheit (der Ursprung des Worts éthos), also durch Handeln. Handlungsanweisungen aber müssen rezipierbar gemacht werden, sie dürfen nicht langweilen, sondern müssen interessieren, am besten dadurch, dass sie unterhalten. Dies zeigt sich exemplarisch am 90. Stück, in dem ein „Schreiben wegen der wilden academischen Lebensart“ 19 abgedruckt ist. Der Beitrag stammt von einer fiktiven Leserin aus Leipzig, die vom Fenster aus pöbelnde Studenten beobachtet. Diese Beobachtung nimmt die Leserin, nach ihrer
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Ebenda, S. 119. Vgl. Breitinger: Critische Dichtkunst, Bd. 1, 5: Von dem Neuen, S. 106–127. Breitinger fasst in seiner Dichtkunst (1740) zusammen, dass „nicht alles, was natürlich und wahr ist, die Kraft habe, die Sinnen und das Gemüthe auf eine angenehm-ergetzende Weise zu rühren und einzunehmen, sondern daß diese Gabe alleine dem Neuen, Ungewohnten, Seltzamen, und Ausserordentlichen zukomme; zumahl da auch das Schöne, das Grosse und Verwundersame selbst uns ohne den Schein der Neuheit nicht bewegen kan.“ (S. 110). Vgl. zudem Werber: Liebe als Roman, z. B. S. 206f.; Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 315f. Hor. ars 343. Vgl. dazu auch die Einleitung dieser Arbeit. Der Gesellige, 200. Stück, S. 120. Ebenda, 90. Stück, S. 765.
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eigenen Aussage, zum Anlass, mit der Zeitschrift in Kontakt zu treten: „Ein besonderer Zufall giebt mir Gelegenheit Ihre Correspondentin zu werden.“ 20 Gerechtfertigt wird diese Form fiktiver ‚weiblicher Autorschaft‘ in typischer Weise durch die moralische Botschaft, die Ermahnung zur Disziplinierung männlicher Sittenlosigkeit. Auf den Punkt gebracht wird diese Rechtfertigung einer fiktiven weiblichen Autorschaft bereits eine Generation früher, in Gottscheds Moralischer Wochenschrift Die vernünftigen Tadlerinnen von 1725: Was ist das wieder vor eine neue Hirn-Geburt? Es wird itzo Mode, dass man gern einen Sitten-Lehrer abgeben will. Haben wir aber nicht von Manns-Personen moralischen Schriften genug; und muß sich das Weibliche Geschlecht auch ins Spiel mischen? Es muß gewiß ein erbares Caffe-Cränzchen seyn, welches bey dem Überfluss müßiger Stunden gewohnet ist, alles zu beurtheilen und durchzuhecheln. 21
So imaginieren die fiktiven Schreiberinnen des 1. Stücks die Publikumsreaktionen auf die neue Wochenschrift. Was sie aber anstreben, so die programmatische Herausgeberfiktion weiter, sei nicht nur eine Zeitschrift mit weiblicher Autorschaft, sondern darüber hinaus eine, die nicht „durch die Vermittlung gelehrter Manns-Personen [...] der neugierigen Welt mitgetheilet“ 22 werden solle. Dass Gottscheds im heutigen Kontext gendersensibel zu lesende Herausgeberfiktion durchschlagenden Erfolg hatte, zeigt die Proliferation dieser Strategie in späteren Wochenschriften und nicht zuletzt im Geselligen. Der Botschaft im 97. Stück des Geselligen ist allerdings, und das macht die Textstelle für meine Fragestellung so interessant, die Selbstcharakterisierung der Schreiberin als Leserin vorgeschaltet, die über die bloße Reproduktion des Gesehenen hinausgeht. Diese Stelle schlägt eine Brücke zwischen dem Vortragsideal der Mitte, des Sympathieethos, und der Rezeptionsanweisung für die LeserInnen dieser in diesem Stilideal und dieser Rhetorik der Emotionen verfassten Texte. Die Beiträgerin stellt sich und ihre Freundin als exzessive Konsumentinnen von Wochenschriften vor, welche sie beide gemeinsam und „mit vielem Vergnügen“ lesen. Als habituelle Leserin des Geselligen weiß sie genau, welche Themen für die Zeitschrift von Belang sind: „ich glaube, daß ich [meine Geschichte] nirgends
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Ebenda. Zu fiktiven Verfassern in Zeitschriften vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 74–85. Martens hebt als Vorläufer besonders die Frauenzimmer-Gesprächsspiele von Harsdoerffer und Thomasius’ Monatsgespräche hervor. Dass ein spezifisches fiktives Ich seine Leserschaft adressiert, sei Merkmal der Moralischen Wochenschriften. Erst durch sein Verschwinden und den Zerfall der Einheit eines Stückes schälte sich aus der Wochenschrift die Zeitschrift bzw. das Magazin heraus, vgl. ebenda, S. 94. Die vernünftigen Tadlerinnen, 1. Stück, 3.1.1725, S. 1. Ebenda, S. 2.
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besser anbringen kann, als bey Ihnen.“ 23 Indem die Schreiberin nun diese Lesesituation detailliert ausführt, avanciert sie zur Geschichtenerzählerin, wandelt sich von der Rezipientin von Literatur zu ihrer Produzentin. Unter dem Deckmantel des Nutzens der Geselligkeit als Sozialisierungsmaßnahme – für eine bürgerliche Gesellschaftsschicht wohlgemerkt – wird eine Geschichte erzählt, die vornehmlich auf etwas beruht, was die Erzählfiktion so erfolgreich macht, ihr jedoch zugleich nicht auszuräumende Vorwürfe einbringt: nämlich auf der Neugier der Schreiberin, die vom Fenster aus die Szene beobachtet hat. 24 Neugierde ist insofern ambivalent, als es ‚schädliche‘ und ‚nützliche‘ Formen der Neugier gibt. Auf Seiten sozialer – und damit immer negativ bewerteter – Neugierde wird die Leserin, gewissermaßen als unterhaltungssüchtiges Klatschweib, verortet. Positiv hingegen wird seit der Frühen Neuzeit nur die wissenschaftliche Neugierde positioniert, womit eine augenfällige Genderdifferenz installiert ist. Dennoch, auch wenn diese Ambivalenz nicht aufzulösen ist, ist die Darstellung der Leserinnenfiktion keineswegs negativ gezeichnet. Die Erzählung ist spannend, unterhaltsam und lehrreich – passt also vollkommen in das Programm des Geselligen – und eröffnet, was noch wichtiger ist, das auch ökonomisch relevante Kriterium der Leserinnen für ihre Lektüre, nämlich Vergnügen. Das Vergnügen erfährt im frühen 18. Jahrhundert einen Bedeutungswandel von der Empfindung des Genügens zur Gemütsheiterkeit. 25 Der Unterhaltungsfaktor rückt ins Zentrum. Pointiert heißt es auch in der Neujahrszusammenfassung des 97. Stücks von einer weniger erfolgreichen Ausgabe der Zeitschrift: „Der Bogen [...] hat die Helfte der Leser abgewendet; sie wolten nichts Theologisches und nichts Critisches lesen. Denn das gehöret für Sauertöpfe und hungrige Poeten.“ 26 Nichts Kritisches: Die Ausübung der Vernunft, denn das meint der Begriff der Kritik in dieser
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Der Gesellige, 90. Stück, S. 765. Vgl. zum Konzept der Neugierde Seel: Neugierde als Tugend und als Laster, S. 824–832. Markus Fauser weist auf die enge Verbindung zum Begriff der Unterhaltung hin (Fauser: Geselligkeit, Bibliothek, Lesekultur, S. 19), die sich je nach Medienrezeption und Selbstverständnis in anderer Verhältnismäßigkeit ausprägt. Alle Zirkel schließen sich thematisch und sozial nach außen ab, und da das Lesen jeweils, gerade für das Bürgertum, paradigmatisch untersucht wird, wird die Frage nach anderen Medien der Unterhaltung vielfach nicht gestellt (als Ausnahme gilt Kühme: Bürger und Spiel, 1997). Als erster Nachweis wird im grimmschen Wörterbuch das Jahr 1725 angegeben (delectare aliquem), vgl. Bd. 25, Sp. 467. Der Gesellige, 97. Stück, S. 15. Im Werther spricht Lotte, wie uns im Brief vom 16. Juni berichtet wird, über ihre Lektüreerfahrungen, insbesondere über die gern gelesene Miss Jenny. An dieser Stelle sei auf die tatsächliche Romanrezension der Jenny in den Göttingischen Anzeigen vom 10. November 1764 hingewiesen, worin es heißt: „Die Geschichte ist so unterhaltend, als eine beständige traurige Geschichte seyn kann.“ (Göttingische Anzeigen, 135. Stück, S. 1096)
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Zeit, 27 könnte man meinen, wird zweitrangig. Man könnte auf den Gedanken kommen, daraus ließe sich auf die Differenz von Vergnügen und vernünftiger Information schließen. Letztlich aber ist diese Differenz nicht so eindeutig zu scheiden, wie es zunächst scheint. Erfolgreich ist Unterhaltung dann, wenn sie vorgibt, nicht von Vernunft geprägt, sondern vergnüglich, nicht nützlich, sondern rührend zu sein. Aber mit dem vorgeblichen Oppositionspaar nützlich versus rührend findet eine Abwertung der Unterhaltungsliteratur beispielsweise im Geselligen statt, indem der Vorwurf erhoben wird, dass, um pragmatisch und informativ zu sein, durch die Hintertür eine ethische Komponente in die Literatur wieder eingeführt wird.
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Der Begriff der Kritik, von griech. krisis, bedeutet richtiges Urteil. „Diese vielen Bedeutungen des Begriffes K[ritik] schmelzen dann schließlich [im 18. Jahrhundert] zu dem einen allgemeinen Sinn des Begriffes zusammen, nach welchem er die Ausübung der Vernunft überhaupt bezeichnet.“ (Handwörterbuch der Philosophie Bd. 4, Sp. 1266) Bei Adelung ist das Adjektiv kritisch in zweiter Bedeutung so nachgewiesen: „Genaue Beurtheilung erfordernd, bedenklich. Eine kritische Sache.“ (Sp. 1792)
2. Außerliterarische Einübung geselliger Empfindungen in Briefen Erkenntnisse gewinnt man, so der frühaufklärerische Topos, nur durch dialogische Vermittlung. 28 Wissensaustausch und der Aufbau von Netzwerken sind gleichzeitig immer schon medial gebunden. Das Briefeschreiben findet im 18. Jahrhundert nicht nur gesamtgesellschaftliche Verbreitung – sowohl im Sinne alphabetisierter Teilnehmer als auch durch sich professionalisierende Distributionswege. Es erfüllt überdies neue Funktionen. 29 Zentral ist die Funktion der Geselligkeit, die den Zweck der reinen Informationsvermittlung oder gar der Repräsentation in den Hintergrund stellt. Geselligkeit aber bedeutet Unterhaltung. Idealtypisch erscheint diese Funktion im Brief realisiert und inszeniert. So sagt Rabener von sich, er habe zur Unterhaltung einen ganzen Tag lang Briefe „voll freundschaftliche[n] Nichts“ 30 geschrieben. In seinen Freundschaftlichen Briefen an Gellert fordert Rabener 1756 einen Antwortbrief ein: „Ich bin immer aufgeräumt, aber nicht immer geschickt, an meine Freunde aufgeräumt zu schreiben. Ueberhaupt werde ich es bald gar verlernen, an meine Freunde zu schreiben, da keiner von ihnen an mich schreibt.“ 31 Auch Gellert hält sich nicht zurück mit der Aufforderung, dass Briefe an ihn geschrieben werden sollten, damit sie ihn von seiner kränklichen Konstitution ablenkten. 32
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Vgl. zum Vorbild Shaftesburys für Deutschland insbesondere Dehrmann: Das ‚Orakel der Deisten‘. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, insbesondere S. 55–58; Kleihues: Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madame d’Épinay und Voltaire, S. 88–105. Die stilistischen und rhetorischen Grundlagen der Epistolographie bis ins 18. Jahrhundert erläutert Vellusig: Schriftliche Gespräche, S. 36–50. Rabener: Freundschaftliche Briefe (Leipzig, 15. Feb. 1753), S. 177. [Rabener]: Briefe, von ihm selbst gesammelt und nach seinem Tode nebst einer Nachricht von seinem Leben und Schriften hrsg. von C. F. Weiße, S. 254f. Vgl. zu den RabenerGellert-Briefen auch Arto-Haumacher: Gellerts Briefpraxis und Brieflehre, S. 297–301. Vgl. Gellert: Brief Nr. 540 an Johanna Erdmuth von Schönfeld vom 23. Januar 1760 – Briefwechsel, Bd. III, S. 3: „Die Briefe, die von Krankheiten handeln, machen mich gemeiniglich auch krank; allein der Ihrige, ob er gleich die Geschichte eines fünffachen Krankenbettes enthält, hat mich wenigstens so lange gesund gemacht, als ich ihn las, und ich habe ihn seit acht Tagen oft mit Nutzen gelesen.“
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Eine Verbindung von nicht fiktivem Brief und fiktionaler Literatur wurde nicht erst hinsichtlich Gellerts Schwedischer Gräfinn festgestellt. Der Werkcharakter von nicht fiktiven Briefen wird immer dann als eine „literarische Zone“ 33 bestätigt, wenn unter dem Schreiben von Briefen ein Ausprobieren für das literarische Schaffen oder die Überwindung von Schreibhemmungen verstanden wird. So nutzt auch Friedrich Schiller rund zwanzig Jahre nach Gellerts Briefveröffentlichungen das Schreiben in Briefen, um seine „Philosophie des Schönen, ehe [er] sie dem Publikum selbst vorlege, in einer Reihe von Briefen“ an Friedrich Christian von Augustenburg zu verfassen. Er begründet: „Diese freiere Form wird dem Vortrage derselben mehr Individualität und Leben, und der Gedancke, daß ich mit Ihnen rede und von Ihnen beurtheilet werde, mir selbst ein hoeheres Interesse an meiner Materie geben.“ 34 Die Stichworte der freieren Form, der so genannten Individualität und Lebendigkeit der Stilistik, das imaginierte Gespräch, wohlgemerkt unter Freunden und Kunstliebhabern, erfassen genau den Funktionswandel, dem der (rhetorische) Brief im 18. Jahrhundert unterzogen wird. Gleichzeitig, und das kann mit Bezug auf Schiller zugespitzt werden, existiert die bisherige Konvention der durch und durch rhetorisch vorgegebenen Briefsteller durchaus weiter. Als Beispiel dafür sei der Anfang des pflichterfüllenden Briefs Schillers an Elisabetha Margaretha Stoll von 1772 zitiert, der mit den Ehrwörtern an die „Wohlgebohrne Frau Insonders hochzuEhrenste theuriste Frau Pathin“ beginnt: Da ich durch Gottes Gnade in Erkenntniß unserer selig machenden Religion nunmehro soweit gekommen, daß ich bis nächsten Sonntag Quasimodogeniti mein Glaubens Bekänntniß öffentlich ablegen – und den Bund meiner Tauffe aus eigenem Munde mit Gott bekräfftigen solle: so ist es meine Pflicht, Euer 35 Wohlgebohren hievon die gehorsamste Anzeige zu machen [...].
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Schneider/Steinsiek: Briefe, S. 73. Vgl. außerdem ausführlich Richter: „schreibe nur wie du reden würdest...“. Elke Richter weist darauf hin, dass in Brieftexten (besonders in nach Nickischs Terminologie „eigentlichen Briefen“ d. h. privaten und zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmten) sämtliche Regellosigkeiten, Streichungen oder Fehler im Druck abgebildet werden müssen, um überhaupt zu dem „individualisierten Medium“ (S. 49) vorstoßen zu können. Ob diese mitunter größere Lebhaftigkeit in Stil und Schriftbild auch das einschließt, was der junge Goethe seiner Schwester Cornelia rät, nämlich so zu schreiben, wie sie rede, bleibt dahingestellt. Denn dieser Rat ist Zeichen seiner Reflexion auf eine rhetorische Praxis der Mündlichkeitsfingierung, die letztlich ebenso angestrengt wie kunstvoll sein kann. Schiller: Brief Nr. 152 an Friedrich Christian von Augustenburg, 9. Februar 1793 – Werke (Nationalausgabe), Bd. 26, S. 186. Schiller: Brief Nr. 1 an Elisabetha Margaretha Stoll – Werke (Nationalausgabe), Bd. 23, S. 1.
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Die Begründung Nickischs, weshalb die Briefpraxis gegen die Briefsteller noch lange abfällt, ist überzeugend: Während für Briefsteller das Arsenal rhetorischer Beschreibungsinstrumente (Stilprinzipien) systematisch erschlossen ist, liegen nur wenige Briefmuster vor und es mangelt an hochdeutscher Stilistik. 36 Rhetorische Stilprinzipien – Kürze, Ordnung, Zierlichkeit, Deutlichkeit, Angemessenheit, Reinheit – werden nicht abgelöst, sondern umsemantisiert (Klarheit als Bedeutungsnuance der Deutlichkeit) und schließlich ergänzt durch Stiltugenden der Natürlichkeit, Lebhaftigkeit und Leichtigkeit und letztlich der Individualität. Dies bedeutet auch, dass diese Begriffe rhetorisch grundiert sind. Zudem gibt es für ihre Kenntnis ‚Zugangsrestriktionen‘ wie den guten Geschmack, der weder beliebig noch entregelt ist und dessen Kenntnis daher für die rechte Mitte in der Formulierung Voraussetzung ist. 2.1 Mündlichkeitsfiktionen: unmittelbare Emotionen? Mündlichkeitsfiktionen sind mediale Ereignisse seit Erfindung der Schrift. Sie dienen gemeinhin der Vergegenwärtigung des Erzählten, verbürgen deren Authentizität und stehen ein für die Unmittelbarkeit der Aussagen. Die Verlebendigung der Narration ist ganz besonders dann von Relevanz, wenn die Rede von den Emotionen verbildlicht und verständlich gemacht werden soll. Die Verstehbarkeit solcher Mündlichkeitsfiktionen wird zwangsläufig sprachkritisch um 1900 in Frage gestellt, wofür beispielhaft Nietzsche genannt werden darf: Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern der Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Wörtern gesprochen werden – kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben 37 werden kann. Deshalb ist es nichts mit Schriftstellerei.
Damit diskreditiert Nietzsche die mimesis von Mündlichkeit durch Schriftsprache. Mit Rhythmus und Melodie, Gestik und Mimik, Charisma und Ethos charakterisiert Nietzsche Mündlichkeit bzw. mündliche Kommunikation analog zum impetus der Rhetorik, nämlich die Anlage auf Performanz und Überzeugung durch Verstehen. Im Kontrast dazu und für das 18. Jahrhundert paradigmatisch steht die Etablierung von ‚echtem‘ Ausdruck und fingierter Mündlichkeit in –
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Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 205. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente (Sommer/Herbst 1882) Nr. 296, S. 89.
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beispielsweise – Moses Mendelssohns Psalmen-Übersetzungen, in denen Leidenschaften zu Worten werden und Gefühle nicht nachgeahmt werden müssen, sondern ‚authentisch‘ sind. 38 Die vom Enthusiasmus sensualistischer Philosophie gerahmte Rhetorik der Emotionen setzt auf Unmittelbarkeit und simulierte Mündlichkeit und realisiert das rhetorisch mit genau denjenigen Mitteln, die Nietzsche um 1900 als das schriftlich nicht Darstellbare charakterisiert: mit Musik, Leidenschaft und Individualität. Man erkennt für das 18. Jahrhundert geradezu das umgekehrte Prinzip der Wertigkeiten: Fiktionale Literatur (Schriftlichkeit) wird für gesellschaftlich praktizierte ‚Mündlichkeit‘ zum Vorbild, also für die Rhetorik empfindsamer Emotionen, für das Verfassen von nicht fiktiven Briefen und für die Gesprächskultur im Salon. Rhetorik ist, ihrem Ursprung nach, auf den mündlichen Vortrag angelegt. Die Empfindsamkeit ist aber, folgt man Koschorke und Wegmann, 39 allein als schriftliches Phänomen denkbar. Beides zusammen kulminiert in einer Schriftsprache, die die Inszenierung der Mündlichkeit zum Ziel hat. Während um 1900 und darüber hinaus gerade die abwesende Mündlichkeit als Kommunikationsverweigerung inszeniert wird, setzt die empfindsame Literatur des 18. Jahrhunderts die Möglichkeit einer emphatischen Lektüre von Mündlichkeitsfiktionen voraus. Mit anderen Worten: Interpretation wird kreativ angegangen und, so erscheint das Konzept, in einer Rhetorik der Emotionen publikumswirksam und erfolgreich umgesetzt. Indem aber bereits für das 18. Jahrhundert nicht von der Darstellung empfindsamer Emotionen, sondern von der Rhetorik empfindsamer Emotionen gesprochen werden muss, soll deutlich gemacht werden, dass Sprachskepsis und Schriftkritik ihre ständigen Begleiter sind und letztlich durch beißenden Spott und Satiren die Empfindsamkeit zerstören. Die topisch gewordene und so rezipierte Gegensätzlichkeit von lebendiger Stimme und totem Buchstaben ist bis in die Frühe Neuzeit und darüber hinaus, wie Karl-Heinz Göttert verdeutlicht, als Alternative verstanden worden: „Man kann weiter an die enge Nachbarschaft von Rhetorik und Poetik denken und stößt wieder auf das selbstverständliche Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit [...]“ 40. Herders Schriftkritik macht deutlich, dass das Denken einer wie auch immer gearteten sprachlichen Vermittlung bedarf: „Statt – rhetorisch res und verba zu trennen oder gut aufklärerisch dem unvermittelten Gedanken nachzujagen, beginnt Herder die Sprache zu sondieren, um die Leistungsfähigkeit geistiger Pro-
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Vgl. Pape: „Lies du eben so“, S. 11. Vgl. Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit; Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Göttert: Wider den toten Buchstaben, S. 93–113, hier S. 94.
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duktion zu erkunden.“ 41 Darin sieht Göttert keine Radikalität, sondern eine Erörterung, wie Stimme Buchstaben lebendig macht. Das heißt, Schrift muss aktualisiert werden, entweder durch Lesen oder durch Hören. Woran sich Herder insbesondere stört, ist, dass sich die Medialität vor die Rezeption schiebt, diese bedingt: „Lesen verhindert die Wirkung der Dichtung nicht, weil es an Mündlichkeit mangelt, sondern weil das Medium Nebenwirkungen zeitigt.“ 42 Dabei ist simulierte Mündlichkeit eine erfolgversprechende Adressierungsstrategie. Herder benutzt diese Diskussion, um ein Exklusivitätsmodell der richtigen Rezeption zu anderen und besseren Zeiten zu erstellen: Die als ursprünglich mündlich verklärte Herzenssprache wird zu einem neuen rhetorischen Programm, zumal der Schriftlichkeit. Göttert betont am Beispiel Herders, dass der Ausdruck das eigentlich Gemeinte im uneigentlichen Bild ablöse: Es geht nicht länger um ein (abstraktes) ‚Gemeintes‘, das auf verschiedenen Kanälen ‚vermittelt‘ werden kann oder muß, sondern die ‚Vermittlung‘ selbst ist die Form, in der Bedeutung existiert. Es gibt also ein Außen, an dem das Innere abzulesen ist, nur läßt sich dies nicht auf feste Bedeutungsattributionen reduzieren. Das Innere ist eher ins Äußere ‚übersetzt‘, aber nach einem Code, der im Sinne der Hermeneutik einem komplexen Verstehensvorgang folgt, der immer beim je verschiedenen Ich und seiner Weltauslegung einsetzt. Jeder Glaube an Ichunabhängige ‚objektive‘ Zeichen wird damit naiv. 43
Die Mündlichkeitsfiktion kann nicht nur an der Produktion scheitern, sondern auch an der Ungewissheit ihrer Wirkung – denn wie im empfindsamen Briefroman wird auch hier auf dem Prinzip des gegenseitigen Fühlens aufgebaut. Zur Verbildlichung greift Herder auf den Vergleich mit der Malerei zurück. Dadurch wird der an sich abstrakte Vorgang, Emotionen zu versprachlichen, anschaulich. Allerdings steht der Vergleich quer zur mimesis-Kritik Herders, denn das andere Medium bringt es mit sich, dass mimesis in den bildenden Künsten anders als in der Literatur funktionieren muss: Im Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch die Zeichensprache des Körpers – so spricht die Empfindung eigentlich, und überläßt den toten Gedanken das Gebiet der toten Sprache. Nun, armer Dichter! Und du sollst deine Empfindungen aufs Blatt malen, sie durch einen Kanal schwarzen Safts hinströmen, du sollst schreiben, daß man es fühlt, und sollst dem wahren Ausdrucke der Empfindung entsagen; du
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Ebenda, S. 96. Ebenda, S. 98f. Göttert: Zur Medialität der Stimme und ihrem historischen Wandel, S. 164.
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sollst nicht dein Papier mit Tränen benetzen, daß die Tinte zerfließt, du sollst 44 deine ganze lebendige Seele in tote Buchstaben hinmalen [...].
Gerade ein „Gemälde hinzeichnen“ zu können ist für den Dichter wörtlich genommen nicht möglich und bildlich verstanden nicht angebracht, denn die Polyvalenz, die Uneigentlichkeit von (literarischem) Sprechen ist nicht zuletzt das Unterscheidungskriterium, das seit Lessing der Poesie die Vorrangstellung unter den Künsten sichern soll. 45 Indem Herder diese Verbindung von Malerei und Sprache auf der Grundlage des horazischen ut pictura poesis zieht, erteilt er nicht dem Ausdruck von Empfindungen in der (Literatur-)Sprache eine Absage. Vielmehr negiert er die Möglichkeit einer ‚gemalten Sprache‘ – die ja auch wieder eine Übersetzung ins Schriftbild zu leisten hat – und damit jeder direkten und normativen Verbindung zwischen Produktion und Wirkung. „Die neuzeitliche Entwicklung, den Erwerb von Wissen an die visuelle Wahrnehmung zu binden, erreichte Ende des 17. Jahrhunderts ihren ersten Höhepunkt. [...] Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts kehrte sich diese Entwicklung wieder um, und die Re-ästhetisierung der visuellen Wahrnehmung zeigt sich in aller Deutlichkeit [...]“. 46 Das Hören wird aufgewertet (die Verschiebung lässt sich symptomatisch an Diderots zunächst erschienenem Brief über Blinde, dann über Taubstumme darlegen 47). Ganz so linear verläuft freilich die Entwicklung nicht, im Gegenteil, das Problem der Hierarchisierung der Sinne wird zeitgenössisch kontrovers diskutiert, ohne dass sich eine Hierarchie durchsetzt. 48 So wird beispielsweise bei Moritz wiederum die Schrift gegenüber dem Primat der Töne aufgewertet, auch wenn zunächst zwar „das Ohr das bevorzugte Organ der Empfindung und wahrnehmenden Erkenntnis [war].“ Und auf diese Weise sei die Sprache „dem ganzheitlichen Höreindruck überlegen: Schrift war Sprachanalyse [...]“. 49 Die Klassifikation der Sinne findet bereits in der Antike statt, als Beispiel bietet sich Aristoteles’ Ethik an: „Nun ist aber auch das Sehen dem Tasten, Gehör und Geruch dem Geschmack an
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Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. I. Von der neuern römischen Literatur – Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 402f. Herv. i. Orig. Vgl. dazu auch MülderBach: Tiefe, S. 89f. Vgl. Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5/2, S. 9–206. Gessinger: Auge & Ohr, S. XVII. Vgl. auch Borgards: Die Wissenschaft vom Auge und die Kunst des Sehens, S. 41–63. Vgl. Diderot: Brief über die Blinden. Zum Gebrauch für die Sehenden (1749) – Philosophische Schriften, Bd. 1, S. 49–110; Brief über die Taubstummen (1751) – Ästhetische Schriften, Bd. 1, S. 28–97. Vgl. zum Wahrnehmungsproblem Utz: Auge und Ohr ; vgl. weiter Pape: „Die Sinne triegen nicht“, S. 97 und 111. Gessinger: Auge & Ohr, S. 685.
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Reinheit der Funktion überlegen. Folglich sind dabei auch die Lustempfindungen überlegen und diesen wiederum ist die Lust überlegen, welche mit der Denkfähigkeit verbunden ist.“ 50 Diese in einem breiten Kontext stehenden sprachhistorischen Gedanken sollen hier lediglich als Hinweis darauf dienen, dass das Konzept der Emotionalisierungsstrategien im Text auf jeweils unterschiedlichen Vorstellungen einer Übersetzung in die „Sprache der Empfindungen“ 51 anknüpft und wahlweise an das Gehör gekoppelt oder an Schriftlichkeit gebunden werden kann. 2.2 Vom Vortrag zum Gespräch: Briefsteller im 18. Jahrhundert Ein Prozess der rhetorischen Neuausrichtung von Brieflehren als Mündlichkeitsfiktionen wird im 18. Jahrhundert insofern vollzogen, als vollkommene Übereinstimmung und Vermittlung von Emotionen nicht im Vortrag, sondern im Dialog zu erreichen sind. In der griechischen Traditionslinie erweist sich der Brief als ein Teil des Dialogs und als eikon psyches (Abbild der Seele), also gleichsam als eine Kommunikationsform getrennter Freunde mit der Präsenz in der Abwesenheit. Dem gegenüber steht die lateinische Tradierung der Briefdefinition als Gespräch (sermo) im Schriftlichen, als kunstmäßige ‚Rede‘. Bis ins 18. Jahrhundert dominiert dieser schriftliche stilvolle Redecharakter, vertreten beispielsweise durch Gottsched. Blickt man auf die eher alltäglichen Schriftstücke der Briefkommunikation, findet sich dieser Stil noch um 1800 als der geläufige. 52 Susanne Ettl macht, wie zuvor bereits Albrecht Schöne, die (angebliche) Lösung von den rhetorischen Zwängen der Briefproduktion – abzulesen an den Regeln der Briefsteller – an der Erstarkung eines sich durch Bildung und Differenzierung auszeichnenden Bürgertums fest. 53 Richtigerweise ist Mitte des 18. Jahrhunderts zwar noch nicht von einem ausdifferenzierten Bürgertum in Deutschland zu sprechen, wohl aber etwa in Leipzig von einem dominierenden Stadtbürgertum. Insgesamt hängen
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Arist. NE X, 1176a. Vgl. den Kontext in Moritz: Hartknopf – Werke. Bd. 1, S. 586f.: „Hartknopf nahm seine Flöte aus der Tasche, und begleitete das herrliche Recitativ seiner Lehren, mit angemeßnen Akkorden – er übersetzte, indem er phantasierte, die Sprache des Verstandes in die Sprache der Empfindungen: denn dazu diente ihm die Musik. [...] Er atmete die Gedanken, so wie er sie in die Töne der Flöte hauchte, ins Herz hinein.“ Herv. i. Orig. Zum Verhältnis von Briefpraxis und Briefstellern in Deutschland im 18. Jahrhundert vgl. Barner: „Beredte Empfindungen“, bes. S. 9–12. Vgl. außerdem Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 192–194. Ettl: Anleitungen zu schriftlicher Kommunikation, S. 5; Schöne: Über Goethes Brief an Behrisch, S. 207f.
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diese Hinweise auf das Bürgertum vor allem mit der wachsenden Akzeptanz einer bürgerlichen Mentalität zusammen. 54 Daher soll dieser Gedanke auch zurücktreten hinter die Überlegung, dass sich erstens das Selbstverständnis derjenigen, die Briefsteller abfassen, ändert: Weniger ist nun der Briefsteller Ausweis für poetologische wie rhetorische Gelehrsamkeit und umfassende Ausbildung, er wird – mit Gellerts Titel seiner Briefpoetik gesprochen – zum „practischen“ Handwerkszeug eines angemessenen Umgangs, und zwar nach den Vorgaben des „guten Geschmacks“ 55. Zweitens verändert sich die Funktion des Briefs, die mit der gesellschaftlichen Veränderung zusammenhängt: nämlich den guten Geschmack gesellschaftlich, im öffentlichen Raum literarischer Gesellschaften oder auch im privaten Raum, in dem aber dennoch laut und im kleinen Kreis vorgelesen wird, einzuüben. Der ‚gute Geschmack‘, der das rhetorische iudicium ersetzt, 56 ist ebenso hochgradig situationsabhängig und somit weniger genormt als andere Bereiche, wie Daniel Fulda ebenso für das decorum festhält, das inzwischen nicht mehr nur unter Adligen, sondern auch unter Bürgern als positiver Begriff mit Geschicklichkeit und Beifall assoziiert wird. 57 Diese Normen bedeuten für die Literatur viel: Um 1800 wird sich die Exklusivität von ‚schöner Literatur‘ unter anderem durch solche Normen etablieren, die sich allerdings nicht mehr als gelehrtes und damit erlernbares Handwerk (techne), sondern als internalisierte und damit als technisch gerade nicht erlernbare ausweisen. Um diese Hürde im gesellschaftlichen Leben zu meistern, gibt es Briefsteller als gesellschaftliche Vereinbarung, mithilfe derer von der Not, sich angemessen zu verhalten, Entlastung geschaffen wird. Die Selbstsicherheit einer gebildeten Elite muss also groß sein, wenn in der frühen und mittleren Aufklärung Konzepte zu einer ‚Entregelung‘ der Briefkommunikation entstehen. Mitte des 18. Jahrhunderts erscheinen zwei Briefsteller unterschiedlichen Anspruchs, wie Lessing später stark polarisierend rezensiert. Die Abhandlung des im Erscheinungsjahr zum außerordentlichen Professor für Philosophie ernannten und darüber hinaus bereits als Schriftsteller etablierten Gellert in Leipzig wird als Neuigkeit und noch 1777 von Friedrich Heinrich Wilhelm Martini in einer Rezension als herausragend gelobt, um
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Zum bürgerlichen Trauerspiel vgl. auch Kap. 3.2.2 in dieser Arbeit. Vgl. den programmatischen Titel des gellertschen Briefstellers: „Briefe; samt einer practischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“. Ettl: Anleitungen zu schriftlicher Kommunikation, S. 7. Vgl. Fulda: Die Gefahr des Verlachtwerdens, S. 175–202, hier insbesondere S. 181–185. Zur Regelung von Gesprächen vgl. auch Beetz: Leitlinien und Regeln der Höflichkeit für Konversationen, S. 564–579.
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sich „vernünftig und ungekünstelt auszudrukken [!]“ 58. Hingegen kritisiert Lessing die Anweisung zur regelmäßigen Abfassung Teutscher Briefe von Johann Wilhelm Schaubert, die im gleichen Jahr wie Gellerts Abhandlung erscheint, wie folgt: [Schauberts] Arbeit hat übrigens einen ganz besondern Vorzug, diesen nemlich, daß man gleich aus dem Titel das gründlichste Urteil davon fällen kann. Er will regelmäßige Briefe schreiben lernen. O wahrhaftig was wäre auch sonst schöner als das Regelmäßige! Er darf aber nicht meinen, daß auch wir nichts mehr als den Titel gelesen haben. Eben weil uns die Lesung seiner Bogen Zeit gekostet hat, und wir doch in nichts klüger daraus geworden sind, eben darum haben wir uns 59 aus Verdruß die regelmäßige Freiheit genommen, unsre Meinung zu sagen.
Auffällig ist, dass Lessing einerseits hervorhebt, wie langweilig dieses Ziel der ‚Regelmäßigkeit‘ erscheinen muss, andererseits seine Rezension aber mit der Aussage beginnt: „Die Briefsteller und Heldendichter sind jetzt die Modeskribenten in Deutschland.“ 60 Neben dem ohnehin pejorativ konnotierten Autor-Begriff des (elenden) Skribenten 61 ist auch der ModeVorwurf von Lessing gewiss nicht schmeichelhaft gemeint. Gleichwohl entkräftet dieser erste Satz den Angriff auf die Langeweile, die solch uninspirierte Briefsteller zumindest bei Lessing auslösen, denn sie scheinen nichtsdestoweniger ‚in Mode‘, d. h. erfolgreich gewesen zu sein. 62 Gellerts unbestrittener Erfolg hängt, davon abgesehen, dass er eine ‚öffentliche Person‘ war und sich bereits mit den Fabeln und Geistlichen Oden und Liedern einen Namen gemacht hatte, 63 mit seiner „Vermeidung
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Martini: Gellert, C. F.: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung vom guten Geschmack in Briefen – Neue Mannigfaltigkeiten. 1774–1777, 4. Jg., S. 336. Lessing: Anweisungen zu regelmäßigen Abfassung teutscher Briefe, und besonders der Wohlstandsbriefe, hrsg. von M. Joh. Wilh. Schaubert. – In: Berlinisch Privilegierte Zeitung, 134. Stück, 9. November 1751 – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 2, S. 252f. Herv. i. Orig. Ebenda, S. 252. Vgl. die geläufige Wortwahl des elenden Skribenten (auch: Scribenten), so beispielsweise bei Rabener, dessen Satiren (1751) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein großer Erfolg waren; Rabener: Hinkmars von Repkow ‚Noten ohne Text‘ – Satiren, 2. Teil, S. 107–168, zum ‚elenden Scribenten‘ S. 154. Vgl. außerdem den Titel der von Friedrich Just Riedel und Christian Heinrich Wilcke hrsg. Bibliothek der elenden Scribenten (Frankfurt und Leipzig 1768–1771). Dies lohnte eine, den Fokus dieser Arbeit jedoch überschreitende, nähere Betrachtung. So ließe sich genauer untersuchen, auf welch unterschiedliche Weise nun Schaubert und Gellert ihr Ziel erreichen wollen, erfolgreiche Briefproduktion zu lehren. Vgl. Siegert: Theologie und Religion als Hintergrund für die ‚Leserevolution‘ des 18. Jahrhunderts, S. 14–31, hier insbesondere S. 14–16. Reinhart Siegert konturiert Gellert als Erfolgsschriftsteller maßgeblich aufgrund seiner moral-theologischen Schriften.
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der Kunst“ und der Vermeidung von „studierten Empfindungen“ 64 zusammen. Diese Kunst der Vermeidung müsste Lessing zufolge früh erlernt werden, denn „gesunde Ordnung im Denken, lebhafter Witz, Kenntnis der Welt, ein empfindliches Herze, Leichtigkeit des Ausdrucks sind Dinge die den Deutschen weniger fehlen würden, wenn man sie in Schulen lernen könnte“ 65. So akzentuiert nun Gellerts Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen 66, die dieser erst nach seinem Briefroman 1751 veröffentlicht, zentral das dialogische Moment: „[Der Brief] ist eine freye Nachahmung des guten Gesprächs.“ 67 Albrecht Schöne weist bereits darauf hin, dass sich der Wechsel in der Stilistik der Briefabfassung um die Mitte des 18. Jahrhunderts (neben der Schwerpunktverlagerung vom sermo auf den Dialog) auf eine veränderte Gesprächsführung – vom galanten zum geselligen Gespräch – zurückführen lasse. 68 Die Ablehnung des schwülstigen Kanzleistils sowie des scherzhaften galanten Briefes, wie Gellert am Beispiel von Benjamin Neukirch vorführt, eröffnet unter dem Ideal des gereinigten Gesprächs neue Formen des Ausdrucks. Die Voraussetzung schließlich, dass im Dialog ‚Wahrheit‘ vermittelt werden soll, ist ein wichtiger Baustein für die literarische Empfindsamkeit. Es findet aber nicht nur ein stilistischer Umbruch statt, sondern auch der Adressatenkreis erweitert sich. 69 Neukirchs Vorschläge zum Abfassen galanter Briefe von 1722 richten sich noch ausschließlich an die männliche Jugend. 70
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Lessing: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, von C. F. Gellert. – In: Berlinisch Privilegierte Zeitung, 55. Stück, 8.5.1751 – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 2, S. 82. Ebenda. Vgl. meine Ausführungen im folgenden Kapitel. Gellert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung vom guten Geschmacke in Briefen, S. 111. Schöne: Über Goethes Brief an Behrisch, S. 207. Gellerts Musterbriefe sind anzunehmend von ihm selbst verfasst, weisen aber aus argumentativen und verkaufsfördernden Gründen unter anderem Frauen als Verfasserinnen aus. Nach Bernd Witte handelt es sich größtenteils um authentische Gellert-Briefe, die für die Publikation stilistisch angepasst und fiktionalisiert wurden. Vgl. dazu Witte: Kommentar. – In: Gellert: Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 273. Vgl. Neukirch: Über die Galanterie in Briefen. [von 1722], S. 30–42, hier S. 31. Neukirch beginnt mit der im Kontext unverbindlicher Kommunikation zum Topos geratenen Warnung vor den gefährlichen ‚Frauenzimmern‘, die die kommunikative Unerfahrenheit junger Männer ausnutzen könnten. Aber bereits am 30. Mai 1732 schreibt Luise Adelgunde Victorie Kulmus an Johann Christoph Gottsched: „Neukirchs Briefe sind nicht das Muster, nach welchen ich mich bilden möchte.“ Zit. nach: Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched, S. 231–233, hier S. 232.
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Der viel gescholtene Neukirch wird für gewöhnlich als Kontrast zu Gellerts Neuerungen in dessen Abhandlung herangezogen, obwohl er, wie Werner Faulstich betont, bereits die durch Gellert popularisierten Begriffe wie die Natürlichkeit einbringt. 71 Außerdem räumt Gerhart Wolff mit der Vorstellung auf, dass es nach Gellert keine „‚normative Briefschreiblehre‘“ mehr gegeben habe, sondern vielmehr eine „Fülle von Briefstellern“ 72. Schon Neukirch unterscheidet Liebesbriefe und galante Liebesbriefe. Beide haben ein Ziel: das movere mittels einer Sprache des Herzens. Ein gut komponierter Brief passt aber nicht zur Leidenschaftlichkeit des aufrichtig liebenden Herzens: „Summa: ein rechter liebes-brief muß frey, natürlich, und mit einem worte so seyn, wie er vom hertzen kommet. Denn in galanten schreiben, hat der verstand, hier aber das hertz die oberhand [...]“ 73. Daher könne es für diese Briefe keine Regeln geben. 74 Indem im 18. Jahrhundert die antirhetorische Herzensschrift ‚erfunden‘ wird, ahmt die angeblich regellose Schrift die angebliche Regellosigkeit der Leidenschaften nach. 75 Diese Differenzierung zeigt, dass weder die gellertsche Terminologie noch das dahinter stehende Konzept einer Herzensschrift neu sind. Die Differenz des galanten Liebesbriefs zu einem aufrichtigen liegt nach Neukirch darin, dass galante Liebesbriefe öffentlich und scherzhaft sind und an jede Frau gerichtet werden können. Es sind also Briefe, „in welchen man entweder eine liebe simulieret; oder eine wahrhaftige so schertzhafft und galant fürbringet, daß sie die lesende person für eine verstellte halten muß.“ 76 Lessing hebt auch hier Gellert gegen Christian
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Vgl. Faulstich: Die bürgerliche Mediengesellschaft, S. 87. Wolff: Sprach- und Stilpflege in Briefstellern, S. 396. Neukirch: Über die Galanterie in Briefen. [von 1722], S. 30–42, hier S. 33. Keine Regeln zu beachten, ist selbstverständlich undenkbar, vgl. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 312: Im frühen 18. Jahrhundert bedürfe „der Ausdruck freundschaftlicher Anteilnahme nicht mehr der gesellschaftlich präformierten Textformen. Sie werden vielmehr als distanzierend und kühl empfunden. Dennoch verlangt noch um die Jahrhundertmitte die Briefkorrespondenz unter Freunden gewisse Förmlichkeiten bei der Unterschrift“. Ingo Stöckmann zieht aus dem Konzept der ‚Herzensschrift‘ im 18. Jahrhundert in seiner evolutionstheoretischen Studie folgendes Fazit: „Poeten sind damit immer schon Medientheoretiker, weil sie der Schrift und dem Faktum des Geschriebenseins aller Kommunikation die Aufgabe zuweisen, Affektenergien, die zu ihrer Realisierung bislang einer mnemotechnischen und körperlich-gestischen Performanz bedurften, allein aus den Eigenenergien der Schrift heraus zur Wirklichkeit zu verhelfen.“ Vgl. Stöckmann: Vor der Literatur, S. 142. Neukirch: Über die Galanterie in Briefen. [von 1722], S. 35. Zum Verhältnis von Aufrichtigkeit und Verstellung, zum Umgang am Hof und zum Hofmann findet sich ein breiter Forschungsdiskurs, u. a. bei Fulda: Galanterie als Schlüssel zur Frühaufklärung. Als umfas-
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Junckers sowie Neukirchs beide 1709 erschienene Briefsteller hervor, auf die sich Gellert gleichwohl bezieht. Gerade Junckers Der wohlinformierte Briefsteller erlebte bis Mitte des 18. Jahrhunderts eine Blütezeit. 77 Lessing hingegen rezensiert negativ: Was abgeschmackte Junkers und aberwitzige Neukirchs so unglücklich, und nur zur Aufhaltung des guten Geschmacks unternommen haben, wird in diesem Werke auf die vortrefflichste Art geleistet. Der Herr Verfasser hat sich das Recht längst erworben, daß die Welt auf alles, was aus seiner Feder fließt, aufmerksam sein muß; und wer ist geschickter als er, die Natur überall in ihre alte Vorrechte unter uns wieder einzusetzen? Den besten Briefsteller zu machen wird nichts erfordert als zu beweisen, daß man keinen Briefsteller braucht, und die ganze Kunst schöne Briefe zu schreiben ist die, daß man sie ohne Kunst schreiben lernt. 78
Lessing wird den Konzepten der Briefsteller Neukirchs und Junckers, die ihm als Stellvertreter für die Generation um 1700 dienen, nicht gerecht. Lessings geschickt inszeniertes Urteil übernimmt die Forschung größtenteils fraglos; die Briefsteller sind freilich der Betrachtung wert und stellen die Verknüpfung vom galanten zu aufklärerischem Briefschreiben dar. Eine solche Wendung vom galanten zum ‚echten‘ Reden über Gefühle stellt auch Albrecht Schöne für den Briefwechsel des jungen Goethe mit Ernst Wolfgang Behrisch fest. Ganz nach dem horazischen Selbstverständnis eines Dichters: Exegi monumentum aere perennius – „Ich habe ein Monument errichtet, dauerhafter als Erz“ 79 – gehören auch Briefe, insbesondere auch die von Behrisch gesammelten Jugendbriefe, 80 für Goethe anlässlich seiner Charakterisierung Winckelmanns 1805 „unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann.“ 81 Zum Denkmal für die Nachwelt würden Briefe insbesondere durch ihren Gesprächscharakter und ihre im Moment verhaftete Herzenssprache. So heißt es bei Goethe weiter:
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sende komparatistische Neuerscheinung zum Galanteriediskurs vgl. Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710). Vgl. dazu Nickisch: „so wird Ihr Brief natürlich seyn“, S. 473f.; insbesondere ist hervorzuheben, dass das Prinzip der Mündlichkeitsfiktion bereits in diesem Zeitraum ausformuliert ist. Lessing: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, von C. F. Gellert. – In: Berlinische Privilegierte Zeitung, 55. Stück, 8.5.1751 – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 2, S. 82. Herv. i. Orig. Hor. c. 3,30. Selbstverständlich ist das Annette-Buch davon zunächst ausgenommen. Vgl. außerdem Moser: Das Bildwerden des Rahmens. Christian Moser weist auf den privativen Charakter dieses Briefwechsels hin, indem er Behrisch die Funktion des „poetischen Beichtvaters“ (S. 102) zuschreibt. Goethe: Winckelmann und sein Jahrhundert. Vorrede – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. I, Bd. 9, S. 13.
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Lebhafte Personen stellen sich schon bei ihren Selbstgesprächen manchmal einen abwesenden Freund als gegenwärtig vor, dem sie ihre Gesinnungen mitteilen, und so ist auch der Brief eine Art von Selbstgespräch. Denn oft wird ein Freund, an den man schreibt, mehr der Anlaß als der Gegenstand des Briefes. Was uns freut oder schmerzt, drückt oder beschäftigt, löst sich von dem Herzen los, und als dauernde Spuren eines Daseins, eines Zustands sind solche Blätter für die Nachwelt immer wichtiger, je mehr dem Schreibenden nur der Augenblick vor82 schwebte, je weniger ihm eine Folgezeit in den Sinn kam.
Wie sich also die Erprobung solcher Emotionalisierungsstrategien in Texten, hier im Briefwechsel mit Behrisch, und die Kalkulation dieser Emotionalisierung für die (spätere) Rezeption verhalten, soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden, denn diese Differenz von Experiment und Kalkül ist maßgeblich für die innovative Kraft der Rhetorik der Emotionen. 2.3 Stil-Proben und öffentliche Denkmäler: Gellert-Schüler Goethe Zunächst besonders auffällig ist im Behrisch-Briefwechsel der Sprachwechsel, den Goethe vollzieht: Nach etwa einem Jahr geht der Briefwechsel vom (galanten) Französisch ins Deutsche über. Schöne sieht den Grund hierfür in einem Gefühlsumschwung: „Es [Goethes eifersüchtige Liebe] ist Ernst geworden. Dem Ausdrucksverlangen des leidenschaftlich Empfindenden genügt und entspricht das galante Idiom nicht mehr.“ 83 Schöne betont zugleich, dass sich Goethe trotz dieses Ernsts eine Hintertür der Unverbindlichkeit offen gelassen habe, da nämlich die Alters- und Standesschwelle zwischen ihm und der offenbar angebeteten Anna Katharina Schönkopf letztlich unüberwindlich sei. Mit der Gewissheit der Unmöglichkeit einer solchen nicht standesgemäßen Verbindung kann Goethe sich gedanklich in seinen Emotionen oder vielmehr der Narrativierung von Emotionen erproben, ohne dies wahrhaftig ‚überprüfen‘ zu müssen. Er schreibt also am 20. November 1767 „[...] etwas zur Geschichte des Herzens“ 84, in diesem Fall seines zerrissenen Herzens. Diese Ankündigung wirkt selbstbewusst und bereits wie ein Titel für Literatur eher als für einen Briefwechsel. So wirken tatsächliche Leiden und geschilderte Leidenschaften auf eine Weise inkongruent, weil die Zeitspanne und der Zeitpunkt des Schreibens jeweils nicht stimmig sind. Die Behrisch-Briefe ‚besprechen‘ über eine Woche Leiden und Leiden-
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Ebenda, S. 13f. Schöne: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767, S. 196. Goethe: Brief Nr. 35 an Behrisch, Fr./Sa. 20./21.11.1767 – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. II, Bd. 1 (28), S. 113.
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schaften mitsamt Fieber, um zum Tag der Versendung den Schreiber gesund gemacht zu haben – nicht der Adressat soll dem Verzweifelten letztlich zu Hilfe eilen, sondern der Schreiber kuriert sich selbst. Dass das Selbstgespräch im Vordergrund steht, zeigt auch eines von Goethes „Zettelgen“ an Charlotte von Stein Anfang des Jahres 1782: „Wie du die Augen aufthust mögt ich dir einen guten Morgen sagen, und hören wie du geschlafen hast. Ich schreibe dies Zettelgen, schon ganz frühe und muss es liegen lassen bis es Tag wird. Indessen antworte ich mir selber und sage mir in deinem Nahmen das beste.“ 85 Goethe inszeniert die Beziehung – beide sollen sie gleich nach dem Aufwachen aneinander denken, er ohne direkten Anlass, sie durch den Brief daran erinnert – was insofern schon unstimmig ist, als der Brief erst später ankommen wird. Die Beziehung wird also auf ihn zurückgeworfen. Goethe übt sich in seinen Briefen in der „Konzentration auf die Darstellung und die Erfahrung des eigenen Ich“ 86. Was Johannes Anderegg damit betont, ist die Notwendigkeit der Distanz, ohne die eine egoistische Selbstzuwendung nicht möglich ist, so dass der Brief im Grunde gar nicht als Ersatzgespräch, sondern vielmehr als Selbstgespräch gedacht werden muss. Das Selbstgespräch ist, wie hier zu sehen, rhetorisch eingeübt und keineswegs eine unmittelbare Reaktion auf emotionale Überwältigung. 87 In dieser Hinsicht besteht, auch wenn die Auseinandersetzung Gellerts mit Neukirch zu einem früheren Zeitpunkt stattfindet, ein Zusammenhang zu Goethes Leipziger Briefen, denn bekanntermaßen sind diese Briefe Zeugnisse dafür, dass Goethe das bei Gellert Gehörte und Gelernte ausprobiert. Dabei hat Gellert populär gemacht, was bereits Praxis gewesen ist. Der Gesprächscharakter des Briefs leitet sich für Gellert daher, dass niemand im Affekt in Perioden redet und einer künstlichen Ordnung folgt: „Die Sprache des Herzens wollte sich in keine Chrie zwingen lassen.“ 88 Und selbst wenn das rhetorische Verfahren, dass eine Argumentation in einer Chrie, einer Maxime, zu enden hat, nicht angewandt wird, so ist Gellert davon überzeugt, dass auch die anders,
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Goethe: Brief Nr. 1379 an Charlotte von Stein, 4. Januar 1782 – Werke (Weimarer Ausgabe), IV. Abt., Bd. 5: Goethes Briefe. Weimar. 7. November 1780 – 30. Juni 1782, S. 249. Anderegg: Stilwandel und Funktionswandel, S. 17. Ausführlich hat sich Günter Butzer mit der Theorie des Selbstgesprächs auseinandergesetzt und gibt insbesondere zu bedenken, dass die antiken Grundlagen des Selbstgesprächs in rationaler und psychagogischer Steuerung der Erzählung des Herzens liegen und das (literarische) Selbstgespräch nicht etwa ohne Weiteres Selbst-Ausdruck bedeutet. Vgl. Butzer: Soliloquium, insbesondere S. 21f.; er geht zudem auf die Briefform ein (S. 102–117) und auf religiöse Selbstgespräche, die er auch als rhetorisch kennzeichnet (S. 203–257). Gellert: Sammlung der sämmtlichen Schriften. Vierter Theil. Enthaltend Briefe; samt einer practischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Geistliche Oden und Lieder. Von den Trostgründen wider ein sieches Leben. Neue Auflage. 1765, S. 38.
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nämlich natürlich konstruierten Briefe, so etwas wie Lebensregeln enthalten. Entsprechend muss auch die Einübung auf eine andere Weise geschehen, nämlich nicht über das Auswendiglernen oder durch Abschreiben von Regeln für einen guten Brief, sondern durch die Mustervorlage ‚guter Beispiele‘. So liest selbst ein professioneller Leser wie Lessing Gellerts fiktive Briefe aus dessen Briefsteller als ‚reale‘ Briefe: Die Briefe des Hrn. Gellerts selbst sind durchgängig Meisterstücke, die man eben so wenig als seine Fabeln zu lesen aufhören wird. Die schöne Natur herrscht überall, alle Zeilen sind mit dem süßesten Gefühle, mit den rühmlichsten Gesinnungen belebt; und die Überzeugung, daß sie der Verfasser an würkliche Personen geschrieben hat, macht das Anteil, welches die Leser daran nehmen, ungleich größer. 89
Das Gelernte vermittelt Goethe seiner Schwester Cornelia eifrig. Gellert gesteht die weibliche Kompetenz, Briefe zu schreiben, nur in Verbindung mit der ‚richtigen‘ Lektüre – z. B. Gottscheds Werke – zu, so dass von einer ‚natürlichen Veranlagung‘ keineswegs gesprochen werden kann, selbst wenn der von Gellert rhetorisch verwendete Begriff der Natürlichkeit dazu verleiten mag. Vielmehr schließt Gellert Leserinnen von „unverschämten Romanen, die das Blut erhitzen und den Verstand und Geschmack verderben“ 90 als gute Schreiberinnen ausdrücklich aus. Gleichwohl löst fiktionale Literatur zunehmend die Briefmuster aus den Briefstellern ab. Authentizitätsfiktionen, die die Rhetorizität von Emotionen verbergen, finden sich nicht nur in der Literatur, sondern auch beispielsweise im Kontext des Galanteriediskurses als notwendiges Überlebenskriterium geselliger Kommunikation. Während der galante Brief offen damit spielt, werden die Kriterien für den natürlichen Brief und die Konstruiertheit empfindsamer Emotionen, indem sie dem Natürlichkeitspostulat unterliegen, versteckt. 91 Dem widerspricht nicht, dass sich Gellert zugleich an den rhetorischen Stiltugenden, der perspicuitas und der dulcitas, orientiert: Der Ausdruck „muß deutlich, fließend und angenehm sein.“ 92 Wenn das Vorbild des Briefs fiktionale Literatur, insbesondere der Roman, sein soll, muss der Brief als Schriftmedium weitgehend von seiner charakteristischen Mitteilungsfunktion gelöst werden. Dieser Externalisierung von kulturellem Wissen hängt seit Platons schriftkritischen Äußerun-
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Lessing: Gellert, Briefe nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. – In: Berlinische Privilegierte Zeitung, 55. Stück, 8.5. 1751 – Lessing: Werke, Bd. 2, S. 83. Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe – Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 103. Vgl. dazu die grundlegenden Gedanken von Anton: Authentizität als Fiktion, S. 25–32. Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe – Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 103.
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gen, die er Sokrates im Gespräch mit dem jungen Phaidros in den Mund legt, 93 immer der Vorwurf der ‚Vergiftung‘ an: „Platon träumt von einem Gedächtnis, von einem Wissen und von einer Mitteilung ohne Zeichen. Alle Elemente, die zwischen diese Methexis der Seele und der Ideen treten, werden als pharmaka, als giftige Fremdstoffe, denunziert.“ 94 Eine Umund Aufwertung des Briefs – vom bloßen Informationsträger und platonischen Gift zum ‚Seelenbuch‘ – geschieht zum einen, indem die performativen Qualitäten des Mediums hervorgehoben werden – die Polyperspektivität des Briefromans zielt darauf ab – und zum anderen, indem der Brief seine ursprüngliche Funktion der Wissensvermittlung und Handlungsanweisung verliert und zu einem eher tagebuchartigen Bericht der Emotionen wird. Diese Verbindung wird im Werther auf die Spitze getrieben: „Die Briefe haben auch keine Eile, da sie stets nur Berichte von Ereignissen übermitteln, ohne die Absicht, auf das Geschehen zurückzuwirken.“ 95 Albrecht Koschorke sieht Gefühls- und Schriftkultur im 18. Jahrhundert als Neuerungen aufeinander bezogen. 96 Für das ‚Gefühl‘ wird die schriftliche Fixierung benötigt, damit daraus ein Konventionenarsenal, ein Kommunikationscode entwickelt werden könne. Gleichzeitig fußt aber die Fixierung der empfindsamen Topologie stofflich auf deren Gegenteil: Selbstaussprache soll keine Technik, keine Rhetorik sein, sondern unmittelbar, also mündlich und flüchtig sein. Sie ist allerdings mit der Verknüpfung zum ‚Inneren‘ des Menschen, der im 18. Jahrhundert noch im Körper zu lokalisierenden Seele, gerade deshalb eine Kategorie, die gesellschaftlich nicht von Normen, Standesregeln, Machtrepräsentation besetzt sein soll, denn wer mit Emotionen angefüllt sei, müsse notwendigerweise die stilistische Regelhaftigkeit eines Briefs verwerfen; was er aufschreibe, seien „Abdrücke [nicht Ausdrücke!] seiner Empfindungen“. 97 Empfindsamkeit, so Koschorke, ist also nur schriftlich denkbar und wird erst nach dem Lesen gewissermaßen anwendbar. Daher sei die Lektürepraxis auch immer schon Thema in empfindsamer Literatur, selbstreflexiv einerseits, eine Lese- und Lebensanweisung andererseits: „dieses Nachleben von Literatur wird schon innerhalb der fiktionalen Textwelten durch-
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Plat. Phaidr. 257b–259c. Die Gleichsetzung von pharmakon mit Schrift: 230d. Vgl. u. a. die Lesart Koschorkes: Platon/Schrift/Derrida, S. 40–58. Schneider: Liebe und Betrug, S. 156. Ebenda, S. 143. Vgl. Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit. Gellert: Abhandlung, S. 64.
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gespielt.“ 98 Damit thematisiere diese Literatur ihre Medialität als ‚Rückkopplungssystem‘ 99. Diese Überlegungen müssen um die Forschung zu Mündlichkeitsfiktionen ergänzt werden, die die Empfindsamkeit gerade nicht als schriftliche Bewegung installieren, so durch die ganz pragmatisch in Briefstellern geforderte und im privaten oder semi-öffentlichen Bereich praktizierte laute Lektüre von Briefen, die über die kurze Notiz, über den rein informativen Brief hinausgehen. Man weiß beispielsweise, dass der Schülerinnenkreis Wielands in Zürich, auf dem sein früher Text Sympathien (1754– 1756) fußt, Empfindsamkeit auf diese Weise eingeübt hat. 100 Auch für Goethe steht aus der Retrospektive seiner Autobiographie eindeutig fest, dass die empfindsame Praxis des Briefeschreibens unter Freunden niemals Privatheit bedeutet hatte. Jeder Briefeschreiber war sich dessen bewusst, dass Briefe vorgelesen wurden, so dass die Adressierung immer mehrfach codiert sein musste (selbst wenn im Brief das Gegenteil behauptet wurde). Goethe schreibt dazu anlässlich seines Besuchs im Hause La Roche 101 und der gemeinsamen Lektüre empfindsamer Briefkorrespondenz von Franz Michael Leuchsenring: [...] denn es war überhaupt eine so allgemeine Offenherzigkeit unter den Menschen, daß man mit keinem Einzelnen sprechen, oder an ihn schreiben konnte, ohne es zugleich als an mehrere gerichtet zu betrachten. Man spähte sein eigen Herz aus und das Herz der andern, und bei der Gleichgültigkeit der Regierungen gegen eine solche Mitteilung, bei der durchgreifenden Schnelligkeit der Taxischen Posten, der Sicherheit des Siegels, dem leidlichen Porto, griff dieser sittliche und 102 literarische Verkehr weiter um sich.
_____________ 98 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 163. 99 Ebenda, S. 11. 100 Vgl. Martini: Nachwort. – In: Wieland: Werke, Bd. 3, S. 943–1019, hier S. 956. Vgl. dazu meine Ausführungen im folgenden Kapitel dieser Arbeit. 101 Vgl. zum Netzwerk um Sophie von La Roche in Ehrenbreitstein ausführlich Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern, S. 57–63, insbesondere S. 60. Barbara Becker-Cantarino verweist auf Goethes nicht nur insgesamt gefärbte Darstellung in Dichtung und Wahrheit, sondern ganz besonders auf die Abqualifizierung Sophie von La Roches und mit ihr der bei Goethe negativ konnotierten Empfindsamkeit. Goethe, darauf verweist sie weiter, stand damals in Abhängigkeit zu Persönlichkeiten wie Leuchsenring. Vgl. zur ‚Salongeselligkeit‘ La Roches in Koblenz außerdem Nenon: Aus der Fülle der Herzen, S. 19–31. 102 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Dritter Teil. Dreizehntes Buch – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. I, Bd. 14, S. 607. Leuchsenring wird im Kommentar dieser Ausgabe als „eine der fragwürdigsten Gestalten der Empfindsamkeit“ (S. 1222) charakterisiert und von Goethe im Fastnachtsspiel vom Pater Brey als „Apostel der Empfindsamkeit“ karikiert. Dieses Urteil übernimmt Nicholas Boyle fraglos (und unzitiert) in seiner Goethe-Biographie (Bd. I, S. 155). Interessant zu untersuchen wäre allerdings nicht, was Leuchsenring als Person abqualifiziert, sondern wie er es geschafft hat, Neugier und Netzwerke in empfindsame Briefkorrespondenzen umzuwandeln und für seine Zwecke zu nutzen. Eine solche Untersuchung, für die an
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Nicht nur, dass dem Brief die Veränderungen des Marktes und der Infrastrukturen entgegenkamen und keine politischen Zensurschranken aufgrund unpolitischer Inhalte bestanden, wie Goethe es schildert; vielmehr mussten die Briefe zudem für den Leserkreis interessant und unterhaltsam sein – in diesem Sinne ist das Ausspähen des eigenen Herzens zu verstehen, denn die empfindsame Rhetorik wertet die sozial immer negativ betrachtete Neugier, die das Ausspähen der intimen Geheimnisse anderer mit sich bringt, eindeutig auf. 103 Die Empfindsamkeit codiert Neugier in Mitleid um, insofern Neugier der Gemeinschaft abträglich, Mitleid aber geradezu gemeinschaftsstiftend ist. Beide Konzepte funktionieren durch ein selbstbezügliches Ausspähen anderer, das im Falle der Empfindsamkeit einer Rechtfertigung bedarf und daher nicht mehr Neugier heißt, sondern Mitleid. Durch diese Umsemantisierung wird außerdem die Selbsterforschung, das intensive Ausspähen seiner selbst, im gleichen Zuge gerechtfertigt, denn nur wer sich selbst prüft, kann anderen gegenüber mitleidig sein. 104 Festzuhalten ist, dass die oft postulierte Privatheit in Briefen eine inszenierte ist. In diesem Sinn heißt es weiter bei Goethe: „Solche Korrespondenzen, besonders mit bedeutenden Personen, wurde sorgfältig gesammelt und alsdann, bei freundschaftlichen Zusammenkünften, auszugsweise vorgelesen [...].“ 105 Und ganz so erklärt Goethe auch die Mehrfachadressierung durch seine Entstehungsgeschichte. Als „Übergang“ vom Götz zum Werther, von Schauspiel zu Briefroman, nennt Goethe imaginierte Zwiegespräche, in denen „das einsame Denken zur geselligen Unterhaltung“ 106 werde. Gleichzeitig habe der Brief den Vorzug, dass niemand sofort antworte. Darin sieht Goethe selbst den „Reiz“ des Werthers: Dass der „Inhalt erst in solchen ideellen Dialogen mit mehreren Individuen durchgesprochen worden, sie sodann aber in der Komposition
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dieser Stelle kein Raum bleibt, könnte die Radikalisierung einer Rhetorik empfindsamer Emotionen und ihre Nähe zur Geschwätzigkeit zeigen. In diesen Zusammenhang gehören auch die Ausführungen Elizabeth Rawsons, die sich zwar mit ihrer Studie auf die Antike bezieht, aber dennoch einen auch für die Moderne wichtigen Konnex markiert, und zwar die Verbindung von Neugier und (Auto-)Biographie, die als „Selbsterlebensbeschreibung“ gerade in der Neuzeit mit empfindsamem Vokabular gefüllt wird, wie zahlreiche Studien zu Rousseau, Moritz, Jean Paul et al. zeigen. Rawson stellt für das Genre der hellenistischen Biographie ein gewaltiges Unterhaltungspotential fest und nennt als Adressaten nicht Politiker und Generäle, sondern curiosi; vgl. Rawson: Intellectual Life, S. 230. Zum Mitleid bei Lessing und in der Miss Sara Sampson vgl. Kapitel III, 2.2. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. I, Bd. 14, S. 607. Auf diesen Performanzcharakter von Briefen im 18. Jahrhundert werde ich in den Textanalysen näher eingehen. Ebenda, S. 627.
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selbst, nur an einen Freund und Teilnehmer gerichtet erscheinen.“ 107 Man muss nicht betonen, dass die Adressierung nur eine scheinbare ist und auf die Herausgeberfiktion verweist, in der vom Büchlein als Freund die Rede ist. Die sich gleichzeitig ausbreitende Praxis der stillen Lektüre soll gleichwohl von diesen Bemerkungen in ihrer Wirkung nicht geschmälert werden. 108 Der an Gellert geschulte Goethe lernt den Briefsteller als Gesprächsempfehlung zu begreifen, die es wiederum – ob als imaginiertes Gespräch oder durch das Vorlesen von Briefen – möglich macht, eine Literaturform zu etablieren, die das zu leisten hat, was der nicht fiktive empfindsame Brief für sich beansprucht: ein ‚Seelenspiegel‘ zu sein. Diese Qualität ist rein schriftlicher Natur, mit anderen Worten: „Schriftlichkeit ist ein kommunikationstechnisches Korrelat des diskursiven Phänomens ‚Seele‘.“ 109 Indem die Seele im Laufe des 18. Jahrhunderts zwar immer noch als Organ, als Ziel der Nervenbahnen gesucht und verstanden wird, aber immer weniger mit materialistischen oder humoralpathologischen Ansätzen korrespondiert, wird ein neuer Raum für die Bildlichkeit der Empfindsamkeit geöffnet. Die Seele wird nach Christian Reil zum „Weltglobus“ 110 schlechthin. Aus diesem ‚Weltglobus‘ speist sich die Rhetorik der Emotionen – und dass „die Seelenliebe zur Sprachlosigkeit neigt, macht sie paradoxerweise gerade abhängig von Sprache in ihrer elaboriertesten Form, nämlich als Literatur.“ 111 2.4 Inszenierung von Seelenverwandtschaft als Tugend (Wielands Sympathien) Vor dem Hintergrund der rhetorischen Tradition der Empfindsamkeit nimmt es nicht wunder, dass sich die Umcodierung des Freundschaftskonzepts im 18. Jahrhundert maßgeblich in einer Polemik gegen die Rhetorik ausdrückt, die im wesentlichen zwei Einstellungen polarisiert: die Abschließung des Inneren (höfisches Herrschaftswissen) und die Öffnung des Inneren (Seelenverwandtschaft). Nun ist das Ziel, Selbstoffenbarung und Aufrichtigkeit, aber nicht ohne Rhetorik, sondern durchaus mit deren
_____________ 107 Ebenda, S. 628. 108 Vgl. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, passim, und insbesondere das Kapitel Die verlorenen Funktionen lauten Lesens, S. 107–112. 109 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 196. Herv. i. Orig. 110 Reil: Rhapsodieen, §12, S. 112. 111 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 159.
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Hilfe zu erreichen. 112 Die briefliche Inszenierung von Freundschaft als Seelenverwandtschaft bedarf einer Rhetorik der Emotionen, die über ihre Nichtrhetorizität hinaus beglaubigt werden muss, ein Dilemma, das nicht zuletzt darin liegt, dass mit der Seelenverwandtschaft ein zugleich sakraler und säkularer (Freundschafts-)‚Raum‘ geöffnet wird. Clemens Brentano vereint beides, indem er 1803 an Achim von Arnim gerichtet von ihrer Freundschaft als einem „Naturproduckt“ spricht, das „heilig“ sei, „ein Muß, ein Schicksal, eine Nothwendigkeit [...].“ 113 Gleichzeitig ist das Ideal der Freundschaft insofern rhetorisch, weil es als Differenz inszeniert wird, nämlich als funktionierende Freundschaft nur in absentia, in der Einsamkeit: Ideale Freundschaft realisiert sich in der Seelenverwandtschaft nur als Nähe aus der Ferne. Die Imagination der Freunde in der Einsamkeit regt zur Produktivität, d. h. zur Niederschrift der Gefühle an, wie es Wieland programmatisch formuliert: „Dann zeichne ich diese Gedanken auf, und mein Herz findet eine süße Befriedigung darin, sich mit den Abwesenden zu besprechen [...].“ 114 Dieses Programm findet sich in Wielands fiktiver Briefsammlung mit dem sprechenden Titel Sympathien (1754–1756). Der Text muss vor dem Hintergrund der europäischen Shaftesbury-Rezeption und des moral sense, aber auch der Differenzen im Begriffsverständnis von Sympathie zu Hutcheson gesehen werden. 115 Der belesene Wieland nimmt eine entsprechende Verknüpfung von Sympathie- und Tugendbegriff im Text vor, insofern die Figuren Personifikationen der Tugenden darstellen. 116 Dieser Text ist eine wichtige Quelle, um darzulegen, wie das sympathetische Freundschaftskonzept – als Inszenierung von Seelenverwandtschaft – mit dem Tugendbegriff zusammenhängt, mit dem Ziel, den zeitgenössischen Tugendbegriff wesentlich eindeutiger zu fassen, als es in der Forschung bislang üblich ist. Die Notwendigkeit, an dieser Stelle den Tugendbegriff in den Vordergrund zu
_____________ 112 Exemplarisch dazu vgl. den Sammelband hrsg. von Benthien/Martus: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. 113 Brentano: Brief Nr. 324 an Achim von Arnim, 23. August 1803 – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31, S. 136f. 114 Wieland: Sympathien – Werke, Bd. 3, S. 111. 115 Vgl. die Fokussierung der britischen Moralphilosophie auf Wieland in Engbers: Der ‚Moral Sense‘ bei Gellert, Lessing und Wieland, insbesondere S. 11–31 und S. 53–55. 116 Vgl. Dehrmann: Das ‚Orakel der Deisten‘, S. 295. Markus Dehrmann argumentiert, dass Wieland durch die Shaftesbury-Lektüre seinen Tugendbegriff am Konzept von dessen „MoralGrace“ entwickle und als Mitte zwischen maßloser Körperlichkeit und Geistigkeit etabliere, letztlich als „Weg der mesótes, der Mitte, welcher der eigentlich tugendhafte sei [...]. Wielands Gedanke einer moralischen Grazie und eines Zusammenhangs von Tugend und Schönheit hat durch die Auseinandersetzung mit Shaftesburys Begriff deutlich an Flexibilität gewonnen [...].“ Ebenda
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rücken, ergibt sich daraus, dass die Tugend ein Kernbegriff der mesótes und insbesondere der empfindsamen Literatur des 18. Jahrhunderts ist. Die Sympathien markieren Wielands Schritt in die Selbstständigkeit seiner Zürcher Zeit (1752–1759), die bis dahin maßgeblich von Bodmer dominiert worden war. Eine Interessensverlagerung Wielands deutet sich nicht nur auf dem Gebiet der Philosophie und Ästhetik an, sondern wird auch im Text an den weiblichen Personifikationen manifest, deren Darstellung zweifellos auf seinen Schülerinnenkreis der Jahre 1754–55 zurückzuführen ist. Wielands pietistischer Hintergrund verleitet ihn im siebten Brief zu einer Polemik gegen den Anakreontiker Johann Peter Uz, wodurch der Text letztlich bekannt geworden ist. 117 Bemerkenswert ist aber insbesondere, dass die Sympathien einer empfindsamen Rhetorik verpflichtet sind, die Wieland später allerdings aus der Ablehnung seines Frühwerks heraus negativ als Schwärmerei und Frömmelei abwertet. 118 Diese in den Sympathien gleichwohl positiv konnotierte Empfindsamkeit drückt sich in einem Freundschaftskonzept aus, das sich in Briefdialogen realisiert und durch die personifizierten Tugenden als ‚Rhetorik der Mitte‘ gekennzeichnet ist. Freundschaft wird also als arete, an die in den Sympathien bereits die ersten Worte gerichtet sind, verstanden. Arete, die gemeinhin seit Ciceros Begriffsbestimmung als virtus mit Tugend übersetzt wird, ist nicht einfach zu bestimmen. In Platons bekanntem ‚Tugenddialog‘ Menon spricht Sokrates davon, dass er sich selbst dafür „tadle [...], daß [er] gar nichts von der Tugend [wisse].“ 119 Und sein Gesprächspartner Menon steht vor dem Problem, zwar Tugenden aufzählen, nicht aber die Natur der einen Tugend
_____________ 117 Vgl. die Reaktion Lessings in: Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 7. Literaturbrief (18. Jenner 1759) – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 4, S. 469: „Sie wissen es schon zum Teil, wie schlecht er sich gegen den Herrn Utz aufgeführet hat. – Herr Utz, nach der Freiheit, zu der jeder seines gleichen berechtiget ist, erklärte sich wider eine gewisse Art von Dichtern; Herr Wieland hielt sich beleidiget, und anstatt seinen Gegner gleichfalls von der Seite des Schriftstellers anzugreifen, fiel er mit so frommer Galle, mit einem so pietistischen Stolze auf den moralischen Charakter desselben; brauchte so hämische Waffen; verriet so viel Haß, einen so verabscheuungswürdigen Verfolgungsgeist, daß einen ehrlichen Mann Schauder und Entsetzen darüber befallen mußte.“ (Herv. i. Orig.) Was die Darstellung der Emotionen betrifft, so kommt Lessing gegenüber Wieland, allerdings hinsichtlich seiner Empfindungen eines Christen (1775), zu dem Schluss: „Aber sind das Empfindungen? Sind Ausschweifungen der Einbildungskraft Empfindungen? Wo diese geschäftig ist, da ist ganz gewiß das Herz leer, kalt.“ Lessing: Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 8. Literaturbrief (18. Jenner 1759) – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 4, S. 471. – Vgl. außerdem zu Shaftesbury als Gewährsmann für Wieland in seiner Argumentation gegen die Anakreontiker und den Streithergang Dehrmann: Das ‚Orakel der Deisten‘, S. 292f. 118 Nicht zuletzt arbeitet Wieland in späteren Jahren aktiv daran, die literarische Empfindsamkeit als spezifisch weibliche Literatur im Gegensatz zu ‚männlicher‘ Kunst zu etablieren. 119 Plat. Menon 71b.
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nennen zu können (im platonischen Vergleich der Verhältnismäßigkeit von Schwarm und einzelner Biene). 120 Weshalb der Begriff also letztlich definitorisch unbestimmt und situationsabhängig bleiben muss, liegt daran, dass die Kategorie der arete als ‚Gutsein‘, so eine wertneutrale Übersetzungsmöglichkeit, und ihr Ziel, das Glück, nie letztgültig erkannt werden können. Das Wissen um dieses ‚Gutsein‘ zieht außerdem ein logisches Problem nach sich, denn „wenn das T[ugend]-Wissen einerseits das Wissen vom Guten, vom Glück ist, andererseits aber das Gute selbst ist, folgt die unglaubliche Konsequenz, daß das T[ugend]-Wissen Wissen von sich selbst ist.“ 121 Gleichzeitig sorgt die arete für die Distanz vom Affekt und ermöglicht dadurch erst ethisch richtiges, d. h. charakterlich vorzügliches Handeln. Das tugendethische Handeln geht, wie bereits grundlegend in dieser Arbeit festgestellt, in den Begriffen des Charakters (ethos) und der Gewöhnung (ethos) auf. Als Charaktertugenden gelten seit Aristoteles: Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Freigebigkeit, Großzügigkeit sowie Großgesinntheit. Weisheit und Klugheit hingegen sind die den Menschen auszeichnenden Verstandestugenden. Diese dianoia (Denkkraft) und die skopos (Ziel) vom glücklichen Leben bestimmen schließlich die Entscheidung zum richtigen Handeln, das immer in der ausgleichenden Mitte angesiedelt ist, in Aristoteles’ Worten: „[...] sittliche Einsicht hat der, welcher die Fähigkeit zu richtiger Überlegung besitzt.“ 122 Dadurch erklärt sich die Bedeutungsvielfalt des Tugendbegriffs, mit der literaturwissenschaftliche Untersuchungen nicht nur über das 18. Jahrhundert häufig zu kämpfen haben. Diese abstrakt gefassten variablen Charakter- und Verstandestugenden sind letztlich nur in Bildern darzustellen, und wenn es sich nicht um Personifikationen wie im Fall der Sympathien handelt, dann wird der assoziierte Bereich der Tätigkeit aufgerufen, innerhalb dessen die im 18. Jahrhundert christianisierte arete ihren Ausdruck findet. Tugend drückt sich unter aufklärerischen Gesichtspunkten in Taten aus, nicht in „Minen, nicht in einer dunkeln rätselhaften Sprache, in Grimassen [...]“ 123. Wieland beginnt, um zum Beispiel zurückzukehren, seine Sympathien mit einer Tugendansprache, die Ziel jeder mitempfindenden Regung ist: Wie glücklich ists, o Arete, wenn sympathetische Seelen einander finden! [...] Wie leicht verstehen sie sich? Wie schnell geht jede Empfindung aus der einen Seele
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Ebenda 72b. Stemmer: Tugend – Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp. 1537. Arist. NE 1140a. Wieland: Sympathien – Werke, Bd. 3, S. 156.
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‚Rhetorik der Mitte‘
in die andere über? Sie scheinen nur zwo Hälften zu sein, welche die Freund124 schaft wieder in Eine Seele zusammenfügt.
Während Fritz Martini an dieser Stelle vor allem die Fingierung von Unmittelbarkeit hervorhebt, fällt in diesem Zusammenhang jedoch insbesondere auf, dass die Personifikation der Tugenden als sanfte Leidenschaften einerseits an die Affektallegorien barocker Theaterrhetorik erinnern und andererseits vorausweisen auf die aufklärerisch-klassizistische Entfernung von empfindsamer ‚Direktheit‘. 125 Wielands Anrede lässt sich als ein wichtiger Versuch der rhetorischen Überschreitung der Medialität, also der direkten Herstellung der „Seelenverwandtschaft“ zwischen Text und Adressat verstehen. 126 Stellvertretend für zahlreiche Beispiele aus dem Text, die dies bebildern, sei an dieser Stelle genannt: „[Ich] fliege in Gedanken umher, diese sympathetischen Seelen aufzusuchen, und an dem Zustand, worin jede sich befindet, Anteil zu nehmen.“ 127 Nun besteht aber das eigentliche Problem darin, dass man aus der Handlung allein (oder etwa dem Aufruf zur Handlung) den Menschen nicht erkennen kann, da die Verstellung auf diesem Gebiet vielfältig ist; es stellt sich vielmehr die Frage nach einer ‚transparenten‘ Darstellung der Emotionen, die der Handlung vorausgeht: Die Sprache des Herzens und der Einbildungskraft schließt derart die Kunstgriffe virtuoser Rhetorik, das Suggestive raffinierter Überredungskunst ein: Wieland ist in den ‚Sympathien‘ auf dem Wege zu der Ausdruckssprache, die in der Klassik und Romantik sich auf dem auch, obwohl gewiß nicht nur von ihm vorbereiteten 128 Sprachboden reich entfaltet hat.
Um den Überwindungsgestus, wie ihn Martini durch das Argument, dass Wieland die Rhetorik noch nicht losgeworden sei, zu plausibilisieren sucht, geht es jedoch nicht. Vielmehr nutzt Wieland die Rhetorik auf eine spezifische Weise, nämlich als eine empfindsame Überzeugungsstrategie. Es wird deutlich, dass sich Seelenverwandtschaft als ein Ziel von (Brief-)Kommunikation zeigt, die mittels empfindsamer Rhetorik realisiert wird. Da ein Kennzeichen empfindsamer Rhetorik die bewusste Negierung ihrer rhetorischen Qualitäten ist, gilt auch für den Topos der Seelenverwandtschaft ein ‚Natürlichkeitsgebot‘; entscheidend dafür sind Mündlichkeitsfiktionen. Dass diese Rhetorik an diesem Punkt zweifellos angreifbar ist, zeigt sich nicht zuletzt an einer Vielzahl von Parodien und Satiren, welche wiederum die Rhetorik der Empfindsamkeit geschickt
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Ebenda, S. 109. Martini: Nachwort. – In: Wieland: Werke, Bd. 3, S. 956. Zur Qualität der Überschreitung vgl. Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 337. Wieland: Sympathien – Werke, Bd. 3, S. 111. Martini: Nachwort. – In: Wieland: Werke, Bd. 3, S. 960.
Außerliterarische Einübung geselliger Empfindungen
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verwenden, sei es, um die Rhetorik als problematisch auszustellen oder ihr Funktionieren unter Beweis zu stellen, in dem Original und Parodie, Fiktion und Bericht rhetorisch so ähnlich verfasst sind, dass sie nicht auseinander gehalten werden können. Daher kommt es vielfach zu Verwechslungen, wie beispielsweise an der Publikation von Richardsons Briefroman Pamela (1740) und der kaum ein halbes Jahr später erschienenen und von Zeitgenossen durchaus mit Richardsons Roman verwechselten Parodie Shamela (1741) nachvollzogen werden kann. Strukturell vergleichbar mit dem Darstellungs- und Plausibilisierungsproblem unvermittelter, aufrichtiger Seelenverwandtschaft, deren Krücke die Mündlichkeitsfiktion ist, ist die Innerlichkeitsbewegung des so genannten Pietismus, wie in den folgenden Kapiteln diskutiert werden soll. Bereits die Schlagworte der ‚Zerknirschung‘, ‚Erweckung‘ und ‚Wiedergeburt‘, aber auch der Selbstausdeutung und Innerlichkeit deuten an, dass es sich um eine komplexe Frage der Darstellung von Emotionen handelt. Die zeitgenössischen Invektiven gegen pietistische Frömmelei und Heuchelei argumentieren daher nicht nur inhaltsbezogen, sondern vor allem auch darstellungsbezogen, da die Vermittlung, gerade auch durch Körperzeichen, hochgradig missverständlich ist. 129
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III. Erfolgskonzepte der Mitte
1. Pietismus-Rezeption in der Literaturwissenschaft Es kursiere immer noch, so Dohm, das „dichotomische Bild von der Literatur- und Kulturgeschichte der Jahrzehnte um 1700: einem jenseitsorientierten, leib-, sinnen- und literaturfeindlichen Pietismus steht eine sich der Welt öffnende, das Leid entdeckende und die Sinnlichkeit gegen die theologische Weltverachtung zurückerobernde Frühaufklärung gegenüber.“ 1 Dass diese Schwarz-Weiß-Malerei, insbesondere bezogen auf die oft pauschalisierte Kunstfeindlichkeit, überkommen ist, belegen zahlreiche Publikationen; 2 problematisch jedoch bleibe, wie Steinmayr zu Recht betont, dass der Pietismus auf diese Weise nur in Abhängigkeit zu anderen Bewegungen oder als ihr Vorbereiter gelesen, nicht aber als eigenständige Literatur verhandelt werde. 3 Diese Problematik gilt insbesondere für die Rezeption der Spracherneuerungskraft des Pietismus – für diese Zwecke wird in der Regel der Herrnhuter Pietismus herangezogen –, die aus dem Kontext pietistischer Inhalte bzw. seiner Dogmatik losgelöst betrachtet wird. Daraus entstehen Gemeinplätze dieser Art, den Pietismus als irrational zu klassifizieren oder ihm Rhetorikferne zusprechen zu wollen; diese vermeintlichen ‚Ergebnisse‘ werden auf die Empfindsamkeit übertragen. 4 Auch dass diese Sprache wiederum ihre Wurzeln in der – von den Pietisten zwar aktiv abgelehnten
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Dohm: Poetische Alchemie, S. 3. Zur Diskussion um den Begriff des Pietismus vgl. die Diskussion von Hartmut Lehmann: Engerer, weiterer und erweiterter Pietismusbegriff, S. 18–30; vgl. dazu wiederum die Antwort von Johannes Wallmann: Pietismus – ein Epochenbegriff oder ein typologischer Begriff? Antwort auf Hartmut Lehmann, S. 191– 224. Dass man nicht ohne weiteres von „dem“ Pietismus sprechen könne, belegt auch Maier: Biblische Hermeneutik. Einschlägig die ersten beiden Bände der Geschichte des Pietismus (im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus); vgl. auch Gierl: Pietismus und Aufklärung; Brecht (Hrsg.): Geschichte des Pietismus. Das 17. und frühe 18. Jahrhundert; zu Kunstförderung und Kunstfeindlichkeit vgl. Müller-Bahlke: Der Hallesche Pietismus und die Kunst, S. 243–269. Thomas Müller-Bahlke stellt klar, dass häufig mit Kunstfeindlichkeit des Pietismus nicht Kunst per se, sondern die ars ludicra, die Kunst als Zeitvertreib und Müßiggang gemeint ist – was für die Literatur auch allererst von Belang ist. Vgl. Steinmayr: Menschenwissen, S. 183. Für das in der Forschung besonders umstrittene Verhältnis von Pietismus und Empfindsamkeit vgl. Kap. III, 1.2 in dieser Arbeit. Vgl. Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhetorik.
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Erfolgskonzepte der Mitte
– mittelalterlichen mystischen und barocken Sprachumgebung hatte, wie August Langen gezeigt hat, und um 1700 zeitgemäß aktualisiert wird, wird dabei gern übersehen. Den Pietismus also als Anti-Rhetorik zu lesen, ist eine wissenschaftliche Sackgasse, wie Martens hinsichtlich Wolfgang Schmitts These von der pietistischen Ablehnung der Rhetorik klarstellt. 5 Auch sollte man nicht den Fehler begehen und die zeitgenössischen Beobachtungen der Außenwirkung, mit denen Pietisten jederzeit zu kämpfen hatten, für bare Münze nehmen. „Fast regelmäßig sind die vorgeführten Pietisten als Heuchler dargestellt.“ 6 Die Schlagwörter Schwärmerei, Enthusiasmus und Aberglauben werden mit ihnen identifiziert und satirisch ausgewertet. 7 Ulf-Michael Schneider beschreibt die divergente Außen- und Innensicht inspirierter Pietisten, aufgrund welcher Missverständnisse in der Vermittlung selbstverständlich nicht ausbleiben können. 8 In der Reflexion auf die Missverständlichkeit von Emotionsvermittlung liegt aber nicht nur eine Problematik, sondern auch die Fortschrittlichkeit und das Entwicklungspotential dieses Diskurses auf dem Weg in die Moderne. Gefühle in der Literatur der Frühen Neuzeit sind fast nur an äußerlichen Körperveränderungen und körperlichen Zuständen der Figuren dargestellt, wie Otto Ulbricht zeigt, so etwa Schweißbildung als Zeichen für Angst, Ruhelosigkeit für Sorge, 9 was keinesfalls als Argument für Eindimensionalität oder Vormoderne gelten darf. Dass die eloquentia corporis weiterhin wichtiger Beschreibungsbestandteil im Theater oder in der Gesellschaft ist, steht fest, wohl aber verändert sich die Wahrnehmung der Ursachen der Körperveränderungen und ihre Versprachlichung. Ulbricht spricht in diesem Sinne von Darstellungstabus mehrheitlich als negativ zu wertender Affekte des Inneren. Sein Fazit: Es gab also vor dem Pietismus mit seinen Bekehrungs- und Erbauungs„autobiographien“, die meistens keine Lebensbeschreibungen sind, Ansätze einer Wendung ins Innere. An mehreren Stellen wurden auch die erzähltechnischen Hürden offensichtlich, die den Autoren entgegenstanden. [...] Man kann diesen Befund nun eine niedrige Stufe der Individualität nennen; man kann aber auch, vielleicht treffender, da weder das Individuum Zentrum von Wahrnehmung, Ge-
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Martens: Hallescher Pietismus und Rhetorik, S. 26. Vgl. dazu Schmitt: Die pietistische Kritik der ‚Künste‘, insbesondere S. 43–47. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 256. Vgl. Gottscheds Satire Die Pietisterey im Fischbein-Rocke in Kap. VI,1 in dieser Arbeit. Vgl. die Studie von Schneider: Propheten der Goethe-Zeit. Vgl. Ulbricht: Ich-Erfahrung. Individualität in Autobiographien, S. 122f. Diese Texte fallen auch nicht gegen die Komplexität literarischer Emotionalisierungsstrategien der barocken Dramenliteratur ab, sondern verfolgen je andere Ziele.
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fühl und Reflektion [sic] ist, noch Individualität selbst thematisiert wird, von Stu10 fen eines sich recht langsam verstärkenden Bewußtseins seiner Selbst sprechen.
Diese Selbstbewusstwerdung bedarf einer Selbstbewusstmachung, die wiederum rhetorisch steuerbar erscheint. In dieser Hinsicht argumentiert Francke in seiner Affektkonzeption im Hauskreis und in der Öffentlichkeit, wie im folgenden Kapitel vorgestellt werden soll. 1.1 Pietistische Affektenlehre: Franckes Hermeneutik Seine Abhandlung über die Affekte hat August Hermann Francke für die Praelectiones Hermeneuticae überarbeitet und in Hinsicht auf die manuductio vermehrt. 11 Franckes Bibelhermeneutik fußt auf der Grundannahme, ohne Affekte komme kein Text aus. Als Gewährsmann zieht Francke Paulus in 2 Cor. 2,4 heran: „[...] se [...] anxietate cordis, per lacrimas multas, scripsisse [...]“. 12 Das in einer bestimmten emotionalen Verfassung und Absicht Geschriebene soll ausdeutbar sein – dies gilt insbesondere auch für die Predigt. Matthias Vogel spricht von inszenierter Predigt, deren Erfolg von der Affizierung des Publikums abhängt. 13 Der Weg zum Verständnis führt definitiv nur über die Emotion. Die wohl bekannteste Bibelstelle zur Herzensfülle und die franckesche translatorische Auseinandersetzung mit ihr übersetzt Erhard Peschke so: Was man als Affekt im Inneren der Seele empfindet, kommt im äußeren Wort zum Ausdruck. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über [in der lutherischen Übersetzungsweise, bei Francke steht das Lateinische: ex redundantia cordis os loquitur]. Unter dem Überfließen des Herzens sind die Regungen zu verstehen, die aus ihm hervorgehen. Die Verbindung der Affekte mit der äußeren Rede ist so eng, dass derjenige, der die Affekte aus der Rede entfernen wollte, gleichsam die Nerven, ja die Seele selbst aus dem Körper nähme. 14
Damit unterstellt Francke den Aufschreibern der Bibel solch starke Affekte – die sie als Enthusiasmierte erhalten haben – und diese ließen sich auch wieder aus der Schrift herauslesen und auf die Predigt übertragen. Da aber der Schriftsinn eindeutig sein muss, muss Francke auch von der
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Ebenda, S. 144. Francke: Praelectiones Hermeneuticae. Halle 1717, S. 193. Ebenda, S. 194: „Ich habe aus Herzensangst und unter vielen Tränen geschrieben.“ Übers. d. Verf. Vgl. Vogel: „Deine Sprache verrät dich“, S. 57. Peschke: Studien zur Theologie August Hermann Franckes I, S. 97. Herv. i. Orig. Francke: Praelectiones Hermeneuticae, S. 196.
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Eindeutigkeit der Affekte ausgehen („sensus Scripturae non ambiguus“ 15). Die Diskussion um den toten Buchstaben oder um die der actio beraubte Rhetorik der Affekte wischt er beiseite, indem er dem entgegenstellt, dass ein studium der Affekte die mögliche Uneindeutigkeit der Schrift gegenüber der Rede vereindeutigen könne. Die Unkenntnis der Affekte aber begünstige deren Verschleierung: „Esset enim hoc tegere ignorantiam poetis, ac dissimulare ambiguitatem, quam tollere“ 16. Es geht also um die konsequente Erlernbarkeit von Affektdarstellung. Vogel hat nun gezeigt, dass der pietistische Predigtstil, so wie an Francke ablesbar, gerade nicht beim docere verharrt, sondern „eindeutig dem mittleren Wirkungszweck des delectare/conciliare“ zugeordnet werden kann. 17 Die Kategorie des Ethos ist auch in Bezug auf den Pietismus als rhetorische Kategorie anzuerkennen, und nicht nur das: sie ist sogar für die Abfassung von Franckes Predigten die grundlegende Kategorie. [...] Die pietistische Ausprägung von Rhetorik bedeutet meiner Ansicht nach a) eine Konzentration auf den Ethos-Bereich und b) die religiöse Begründung der inneren Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit des Menschen. 18
Die Aporie von Franckes Hermeneutik allerdings liegt in der Predigt als Rede in Übersetzung, in der Unmöglichkeit, ohne den sprachlichen Ausdruck als einer Übersetzung auszukommen. Entsprechend entfällt ein größeres Gewicht auf den performativen Teil der Rhetorik, auf die Performanz der Predigt, da in diesem Bereich mit nonverbaler Kommunikation als der eigentlich angemessenen Vermittlung gearbeitet werden kann, mit anderen Worten: Die Selbstaffizierung gilt auch hier als das wichtigste Mittel zur Überzeugung der Rezipienten. 19 Dabei muss die entsprechende Mitte gewahrt sein, gilt es doch, die „Gefahr einer sentimentalen Verflachung der Predigt“ 20 zu vermeiden. Die Leistung pietistischer Bibellektüre besteht im konsequenten Bezug des Gelesenen auf die eigene Lebenswirklichkeit, und das bedeutet nicht nur für die Rezeption, sondern auch für die Produktion eine Absage an poetologische Normen und Floskeln, ohne die erst die Authentizität
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Francke: Praelectiones Hermeneuticae, S. 228. Herv. i. Orig.: „Der Sinn der Heiligen Schrift ist nicht zweideutig.“ Übers. d. Verf. Ebenda, S. 227: „Denn für die Dichter würde es bedeuten, dass die Unwissenheit dies [die Affektenwirkung] verdeckt und die Zweideutigkeit vielmehr verbirgt als enthüllt.“ Übers. d. Verf. Vogel: „Deine Sprache verrät dich“, S. 52. Ebenda, S. 50. Vgl. ebenda, S. 59f. Vogel bezieht sich insbesondere auf Sträter: Meditation, S. 93–100. Schmitt: Die pietistische Kritik der ‚Künste‘, S. 37.
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einer individuellen Beziehung zu Gott möglich werden soll. Gelehrsamkeit oder auch Beredsamkeit verkommt in dieser Vorstellung zum bloßen Bilderreservoir. Peschke erläutert dies an der franckeschen Begriffsverwendung der ‚Application‘: „Die wahren Christen stehen der Heiligen Schrift nicht in sachlicher, unbeteiligter Distanz gegenüber, sondern wissen sich ihr existentiell verbunden. An die Stelle bloßer Wissensaneignung tritt eine gegenwartsnahe persönliche Applikation [als einer] subjektiven Aneignung des Heils [...]“ 21. Und entsprechend wird die Rezeption durch performative Rhetorik 22 gesteuert und praktiziert in collegia privata Pietatis, innerhalb derer insbesondere auch Frauen eine Stimme erhielten. 23 Diese collegia seien [...] auf Universitäten und in Schulen, auch sonst in Privathäusern anzustellen, dabey man sich im Bibellesen und erklären, auch singen, beten (nicht aus Büchern, sondern aus dem Kopffe) und dergleichen sonst Gott nicht missfälligen Übungen, von üppigen Dingen abzuziehen, und auf die wahre Gottseligkeit nach und nach zu applicieren suchte. 24
Bemerkenswert dabei ist das verinnerlichte und äußerlich zur Performanz gebrachte Gebet „aus dem Kopffe“, das kein Buch mehr braucht. Die Performanz des Gebets spielt insofern eine ambivalente Rolle, als die Äußerlichkeit der Inszenierung das innere Erleben widerspiegeln muss. „Einerseits auf äußerliche Repräsentation angewiesen, muß pietistische Innerlichkeit sich doch andererseits streng davor hüten, als bloße Äußerlichkeit und mithin als weltliche Eitelkeit und leere Prätention zu erscheinen.“ 25 Der Zwang zum Selbstausdruck liegt in der Bildlichkeit vom überquellenden Herzen begründet, die im Gestus empfindsamer Brief- und Literaturproduktion als Therapie der eigenen Seele wiederkehrt. Der Pietismus bringt eine „andere Art der Rhetorik“ 26 hervor. Von Antirhetorik kann aber auch in diesem Kontext nicht gesprochen werden. Ursula Geitner hebt die dissimulatio artis hervor, insofern das Konzept der Sprache des Herzens zwar rhetorisch sei, aber gleichzeitig die rhetorische „Distanz zu deren techné-Charakter ermöglichen“ solle. 27 Dies korrespondiert mit dem insgesamt festgestellten Umbruch in den Affektrhetoriken,
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Peschke: Nachwort. – In: Francke: Werke in Auswahl, S. 396. Vgl. Schneider: Propheten der Goethezeit. Schneider analysiert sowohl Außen- wie Innensicht d. h. Fremd- und Selbstwahrnehmung der Inspirierten (insbesondere S. 59–64). Vgl. Witt: „Wahres Christentum“ und weibliche Erfahrung, S. 264–268. Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 28: Pietisten, S. 112. Zu Franckes Kritik am formelhaften Gebet vgl. das von Wallmann verfasste gleichnamige Kapitel in der Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, S. 37f. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 198. Herv. i. Orig. Ebenda, S. 55. Ebenda, S. 179.
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der gerade auch an der Schnittstelle von geistlicher und politischer Beredsamkeit stattfindet. Beispiele hierfür sind die oratoria sacra (1707) des Theologen Joachim Lange aus Halle, 28 die Oratoria (1711) des an den Franckeschen Stiftungen gewirkt habenden Hieronymus Freyer 29 oder Friedrich Andreas Hallbauers Nöthiger Unterricht zur Klugheit erbaulich zu predigen, zu katechisieren und geistliche Reden zu halten, nebst einer Vorrede von der homiletischen Pedanterei (1723) bzw. dessen Anweisung zur Verbesserten teutschen Oratorie. Nebst einer Vorrede von den Mängeln der Schul=Oratorie (1725). Hallbauer, der für einige Jahre im Waisenhaus in Halle zur Schule ging, wendet sich somit gegen schulfüchsisches Regelwerk; der theologische Stil müsse vielmehr mit den zur Verfügung stehenden Mitteln überzeugen und dürfe daher „bald leicht, bald pathetisch, bald scharfsinnig, bald temperiert“ 30 sein. Die überzeugende Rede zeigt sich entsprechend auch in der Dissimulation, die, folgt man Vogels umfangreichen Sprachanalysen zur pietistischen Predigt, in einer gewollten Verschleierungstechnik mündet: „Die Pietisten (namentlich Francke) konnten der Gefahr der dissimulatio artis nicht nur nicht entgehen, sondern sie wollten diese gar nicht unbedingt vermeiden.“ 31 In diesem Sinne gestaltet sich die pietistische Ausbildung, gerade in Halle, eben nicht lebensfern, sondern durchaus in Kenntnis rhetorisch-politischer Klugheitslehren, die ein gesellschaftlich integriertes Leben erst ermöglichten. 32 Martens weist darauf hin, dass diese – entsprechend häufig in die Kritik geratene – Ambivalenz von ‚Innerlichkeit‘ und ‚Weltlichkeit‘, mit anderen Worten: die „Dialektik von Weltverleugnung und Glauben einerseits, Weltförmigkeit und Weltklugheit andererseits“ besonders das Kennzeichen des halleschen Pietismus sei. 33 So gelangt der vom Pietismus beeinflusste Zedler gar nicht zu einer Verurteilung der Adiaphora-Lehre insgesamt, sondern erst das den Pietisten vorgeworfene
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Vgl. Lange: Oratoria sacra ab artis homileticae vanitate repurgata, Halle 1707. Vgl. Freyer: Oratoria in tabulas compendiarias redacta et ad usum iuventutis scholasticae accomodata. Halle 1711. Vgl. ausführlich dazu Martens: Hallescher Pietismus und Rhetorik. Zu Hieronymus Freyers Oratoria, S. 22-43. Hallbauer: Anweisung zur Verbesserten teutschen Oratorie, S. 524. Schulrhetorisch seien auch die oratorischen collectanea, die er auch für geistliche Beredsamkeit ablehnt (S. 766): „[Ein geistlicher Redner] hat keine homiletischen Collectanea, Postillen und andere Reit=Pferde nöthig: denn er kan aus seinem eigenen Schatze einen Vorrath nach den andern hervorholen.“ Vogel: „Deine Sprache verrät dich“, S. 49f. Herv. i. Orig. Vgl. Martens: Hallescher Pietismus und Rhetorik. Zu Hieronymus Freyers Oratoria, S. 22– 43, insbesondere S. 29–31 und 38f. Ebenda, S. 43. Elke Maar erklärt diese ‚Rationalisierung‘ des Pietismus durch den Einfluss der wolffischen Philosophie nach seiner Rückkehr nach Halle, vgl. Maar: Bildung durch Unterhaltung, S. 22.
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Messen mit zweierlei Maß führt zu einer Kritik am Pietismus. Es ist bemerkenswert, wie ausdrücklich hier die Doppelmoral – zumal in einem Lexicon – festgeschrieben wird: [...] da man doch an sich selbst mit unzählichen Exempeln von Unmäßigung der Affecten, Geld= und Ehrgeitz, Eigenliebe, Stolz, Verachtung anderer ohne genugsame Ursache, im Zorn, Ungedult, Leichtgläubigkeit, unbedachtsamen Übereilungen, Rachsucht [...] das Gegentheil an den Tag legete, inzwischen aber diese Laster insgesamt durch Schein=Heiligkeit, oder sophistische Verdrehungen, zu bemänteln suchte. 34
Weltbezug zeigt sich auch in Franckes pietistischen Lebensregeln, die sowohl inhaltlich als auch stilistisch ganz offensichtlich in der Tradition höfischer Klugheitsregeln stehen. 35 Sie enthalten nämlich eine Anweisung für Unterhaltung, d. h. einen Passus zum Geschichtenerzählen im geselligen Kreis: „In Erzählungen sei sehr behutsam. Denn der Lügengeist herrscht darinnen. Man ersetzet die Umstände aus eigener Erfindung, wenn das Gedächtnis nicht alles behalten.“ 36 Neben dem bekannten Aufrichtigkeitsgebot ist hier eine Information enthalten, dass Erzählungen sowohl unvermeidlich wie reizvoll sind und ein großes Potential zur Überzeugung haben. Das Paradox pietistischer Texte besteht darin, dass sie nicht Literatur sein können, weil sie nicht Fiktion sein dürfen; Fiktion wird im pietistischen Kontext platonisch als Lüge gedeutet. In pietistischen Autobiographien darf es keine Mehrdeutigkeit der verbürgenden Autorschaft geben, 37 das Spiel mit den Zeichen wird strukturell ausgeschlossen, um eine Eindeutigkeit zu inszenieren, die es bekanntermaßen aber nicht gibt. Die Rhetorik der Emotionen ist gespeist von Schlagwörtern, die das neue Verständnis symbolisieren, aber letztlich nicht darüber hinausgehen: Natürlichkeit, Einfalt, Authentizität. 38 Der Pietismus entwickelt also, wie es Martin Brecht auf den Punkt bringt, eine „alternative Geselligkeit“ 39. So gibt es unter den Moralischen Wochenschriften auch pietistische Versionen, etwa Die Braut (Dresden 1740/42), in der das Thema des Bußkampfes in den Mittelpunkt gerückt wird, und Zinzendorfs Socrates (Dresden und
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Zedler: Universal-Lexicon: Pietisten, Bd. 28, S. 114. Vgl. Steinmayr: Menschenwissen, S. 210. Francke: Schrifftmäßige Lebens-Regeln/ wie man so wohl bey als ausser der Gesellschaft die Liebe und Freundligkeit gegen den Nechsten/ und Freudigkeite eines guten Gewissens für GOTT bewahren/ und ihm Christenhum zunehmen soll. Leipzig: 1695. Zit. nach Peschke: Werke in Auswahl, S. 352. Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 205–207. Unter den zahlreichen Untersuchungen verschiedenen Schwerpunkts sei hier beispielhaft Wöbkemeier genannt: Theater der Einfalt. Aufrichtige Bezeugung vor Publikum. Brecht: Pietismus als alternative Geselligkeit, S. 267. Vgl. zur pietistischen Gesprächskultur nach Zinzendorf Steinmayr: Menschenwissen, S. 216–221.
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Leipzig 1725–26 und 1732). 40 Sie bleiben allerdings die Ausnahme. „Die Moralischen Wochenschriften, die einerseits in ihrer Identitäts- und Ausdrucks-Semantik der Sprache der Pietisten so auffällig ähneln, finden andererseits gerade unter dem stilisierten pietistischen Habitus dankbares Material für ihre negativen Charakterporträts.“ 41 Diese Einschränkung Geitners spricht gleichwohl wiederum für die Durchsetzungsfähigkeit solcher Rhetorik auf sprachstilistischer Ebene. 1.2 Pietismus und Empfindsamkeit Die Säkularisierungs- bzw. Einflussthesen, die Pietismus und Empfindsamkeit zu hierarchisieren suchen, sind längst abgelöst von der Gleichzeitigkeitsbeobachtung Hans-Georg Kempers. 42 Und auch die gegenseitige Beeinflussung von Pietismus und Aufklärung, insbesondere den hallischen Pietismus betreffend, ist unstrittig. Allerdings haben auch solche Beobachtungen, wie sie Steinmayr macht, durchaus ihre Berechtigung, solange sie nicht als absolut betrachtet werden: „Die Empfindsamkeit übernimmt die Individualisierungs-, Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungstechniken des Pietismus.“ 43 Die Analyse solcher Techniken ergibt, dass es sich nicht nur um stilistische Ähnlichkeiten handelt, auch die Wirkungsabsichten innerhalb der Stilgattung sind zeitlich wesentlich früher anzusehen, als es die Forschung gemeinhin tut. So weist Rüdiger Zymner Grimmelshausens Vogelnest als Text der geistlichen Empfindsamkeit aus, in dem bereits das Mitleid im Zentrum stehe. 44 Dieser Referenztext bildet ein wichtiges Gegengewicht zu beispielsweise Lohensteins Agrippina von 1665, in der zahllose Affekte, unter ihnen aber bemerkenswerterweise kein Mitleid, allegorisiert die Bühne betreten. 45 „Die Empfindsamkeit ist die Nachfolgerin pietistischer Innerlichkeit unter säkularen Vorzeichen. Empfindsame Topoi gehen genetisch auf pietistische zurück [...].“ 46 Aber auch hier ist die zeitliche Abfolge zu relativieren. In diesem Sinne plädiert Markus Meumann gegen die Begriffsverwendung ‚Strömung‘ und für diskursi-
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Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 196f., 208f. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 200. Kemper: Lyrik, S. 11. Steinmayr: Menschenwissen, S. 181. Vgl. Zymner: Gefühle in Grimmelshausens Vogelnest, S. 41–56. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 84–96. Die Darstellung der Affekte im Barocktheater hat aber, wie Meyer-Kalkus ausführt, eben nicht nur mit der titelgebenden Wollust oder Grausamkeit zu tun, sondern vielmehr die mediocritas, die tranquillitas animi, zum Ziel. Steinmayr: Menschenwissen, S. 182.
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ve Gruppierungen, die zeitlich nicht von vornherein festzulegen seien. 47 Allerdings ist solche Ersetzung eines Begriffs wie der Strömung durch einen anderen nicht unbedingt die Lösung für die post festum immer klassifizierenden und selegierenden Einordnungen der Literaturwissenschaft. Es soll also nicht zur Diskussion gestellt werden, ob Pietismus und Empfindsamkeit überhaupt in einem Verhältnis zueinander stehen, denn dies wird an dieser Stelle vorausgesetzt. Entscheidender sind Überlegungen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden beider Konzepte. Als Beispiel für einen prägnanten Unterschied sei die Zerstreuung genannt, die im pietistischen Kontext die Konzentration auf das Innenleben stört und gefährdet. 48 Wie bereits ausgeführt, ist die franckesche Hermeneutik aber auch, liest man sie als Regelwerk der Deutung, auf die Produktionsästhetik aufklärerischer Wochenschriften und empfindsamer Texte zu beziehen, so in der erklärten Publikumsansprache durch Selbstaffizierung und Sympathieethos, durch die Stilgattung der Mitte und das Gebot der ‚Selbstsezierung‘, die wiederum Zerstreuung zu einem vorrangigen Thema machen. Weiterhin stimmen Pietismus und Empfindsamkeit darin überein, dass Emotionen als decodierbar dargestellt werden müssen, dass pietistische und empfindsame Rhetorik zur Aufführung gebracht werden muss. Vielbesprochen sind die Träne und ihre Ausdrucksfähigkeit in unterschiedlichen Diskursen. So können Tränen als Körperzeichen für emotionale Bewegtheit im Barock und zudem als krampflösende Purgierung innerhalb eines der Säftelehre unterworfenen Körperbildes gedeutet werden, die Tränen des Pietismus hingegen sind Erlösung von Buß‚Krämpfen‘ 49 und damit schon äußere Zeichen eines inneren Gefühlshaushalts. „Aus dem objektiven sola scriptura wird das subjektive solum cor.“ 50 Auch der (fiktive) Brief erfüllt vergleichbare Funktionen in Empfindsamkeit und Pietismus, nämlich Emotionen „ohne Substanzverlust“ 51 zu transportieren. Diese Körperzeichen sollen in Pietismus und Empfindsamkeit Aufrichtigkeit verbürgen, unmittelbar lesbar sein und die Oberfläche metaphorisch transzendieren. Beide Konzepte scheitern daran, bei beiden handelt es sich um existentielle Beweisführung – was von Seiten des Pietismus nur als säkulare Anmaßung rezipiert werden kann. Es handelt sich somit
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Vgl. Meumann: Esoterik, Pietismus und Aufklärung: Halle um 1700, S. 77–114, insbesondere S. 82. Vgl. Schmitt: Die pietistische Kritik der ‚Künste‘, S. 64–68. Vgl. dazu Steinmayr: Menschenwissen, S. 202f. Zur Medialität der Träne in Pietismus und Aufklärung vgl. Soboth: Tränen des Auges; Binczek: Tränenflüsse. Vogel: „Deine Sprache verrät dich“, S. 43. Herv. i. Orig. Steinmayr: Menschenwissen, S. 244.
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bei Pietismus und Empfindsamkeit keineswegs um ‚schwache Diskurse‘. 52 Ohne erst vom radikalen Pietismus sprechen zu müssen, ist der Pietismus kompromissloser als die Empfindsamkeit (und muss es sein), was schließlich beide Konzepte voneinander trennt. Diese Trennung soll in den folgenden Gedanken an dem Begriff des Vergnügens expliziert werden. 53 Vergnügen ist im grimmschen Wörterbuch als Verb und als Substantiv verzeichnet, beides ist im Sinne von ‚genügen‘, ‚Genüge empfinden‘, ‚sich begnügen‘ und ‚zufrieden sein‘ ursprünglich bekannt. Dann aber „aus der bedeutung ‚zufrieden stellen, zu einem befriedigten machen‘ entwickelt sich die allgemeinere [Bedeutung] ‚fröhlich stimmen‘. diese bedeutung ist nicht sehr frühe nachzuweisen, aber heute die allgemein verbreitete.“ 54 Als erster Nachweis wird hier das Jahr 1725 angegeben (delectare aliquem). Und schließlich bedeutet das für den Bedeutungswandel: „angenehme gemütserregung, gemütsheiterkeit, dies heute die einzige bedeutung des wortes [...].“ 55 Im Wörterbuch der Deutschen Sprache fasst Joachim Heinrich Campe Anfang des 19. Jahrhunderts diese Veränderung folgendermaßen zusammen: „Die angenehme Empfindung, welche wir haben, wenn unserem Verlangen genüget, wenn es befriedigt wird; dann überhaupt, die angenehme, aber nicht dauernde Empfindung dessen, was uns gefällt, es mag auf die Sinne, die Einbildungskraft, den Verstand oder das Herz wirken [...]“ 56. Steinmayr skizziert die Steuerung gegen diesen Prozess in der Einrichtung von Zeitabschnitten für Erbauung an jedem Tag, die in höfischer Geselligkeit der Kurzweil und dem Zeitvertreib zum Opfer fielen. 57 Zeit für Erbauung anstelle von Freizeit und Zerstreuung ist Ziel pietistischer Argumentation. Allerdings lässt sich aus der Retrospektive beobachten, wie die Zeit für Erbauung unfreiwillig auch die Tür für Unterhaltung in Form von kurzweiliger Geselligkeit öffnet. Die Dogmatik des Pietismus, wie sie sich in der Adiaphoralehre exemplarisch zeigt, verhindert aber
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Vgl. Dörr: „bey einer guten Handlung böse Grundsätze zu argwohnen!“, S. 75 und S. 79: „Das organisierende Gemeinsame empfindsamer Texte, dasjenige, was sie rezeptiv als Aussagen eines Diskurses erscheinen läßt, ist das vergebliche Bemühen, mehr zu generieren als einen Diskurs, mehr zu regeln als die Oberfläche der Äußerungen. Der empfindsame Diskurs (im schwachen Sinne) läßt sich als ein Diskurs beschreiben, der seinen Diskurscharakter selbst nicht reflektiert, ihn nicht reflektieren kann, weil er seinem Wesen nach – oder nach dem, was er für sein Wesen hält – kein Diskurs (im starken Sinne) sein kann.“ Diese scheinbar glatte Trennbarkeit zwischen schwachem und starkem Diskurs führt nicht unbedingt weiter, was auch in den folgenden Kapiteln thematisiert werden soll. Vgl. dazu außerdem die Erläuterungen von Sauder: Empfindsamkeit I, S. 131f. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 25: Vergnügen, Sp. 463–481, hier S. 466f. Ebenda, S. 469. Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Art. Vergnügen, S. 302. Vgl. Steinmayr: Menschenwissen, S. 228.
Pietismus-Rezeption
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letztlich die Rekonstruktion solchen Bedeutungswandels, denn die Option, dass Vergnügen nicht Begnügen, sondern eine angenehme Gestimmtheit bedeuten kann, bleibt ausgeschlossen. Mit denselben Mitteln und Figuren, teilweise mit ähnlicher Erziehungsutopie, wird allerdings Vergnügen durch aufgeklärte Empfindsamkeit, die damit zur Unterhaltung wird, emanzipiert.
2. Empfindsamkeit Empfindsame Rhetorik befasst sich nicht nur mit Überzeugungsstrategien auf emotionaler Ebene, wie ihr im Zuge zeitgenössischer Sentimentalisierungs-Vorwürfe und den sich hartnäckig haltenden Abwertungen von Sentimentalität als Kennzeichen für Trivialliteratur unterstellt wird. 58 Sie spricht ebenso, auch als eine die Aufklärung erweiternde Bewegung, die Kognition an, denn Überzeugung wird sowohl mithilfe von Argumenten (probare) und kognitiver Ansprache (docere) angestrebt als auch mittels der Ansprache der Emotionen durch conciliare (besänftigen), delectare (erfreuen), movere (bewegen) und concitare (erschüttern). Das beste Beispiel dafür liefert Emilia Galotti, wenn sie mittels eines Zitats aus der antiken Virginia-Legende ihren Vater auf die Probe stellt (probare), ihn also, der sich zuvor durch Affektansprache selbst aufgestachelt hatte, durch nüchternes Zitat und rhetorisch kluge, weil überzeugende Argumentation zum Mord an ihr selbst anstiftet. Von einer ‚Rhetorik der Empfindsamkeit‘ zu sprechen empfiehlt sich vor allem deshalb, weil es möglich ist, auch wenn es keine Poetik gibt, 59 rhetorische Verfahrensweisen und Emotionalisierungsstrategien der Empfindsamkeit zu beschreiben. Vor allem kann man diese Strömung weit weniger als andere poetologisch wenig geeinte Strömungen wie den Sturm und Drang auf die Literatur allein festlegen; die Empfindsamkeit in Deutschland partizipiert an sämtlichen Diskursen, denn sie ist beispielsweise in der Pädagogik und Popularphilosophie ein ebenso präsentes Thema wie in der Literatur. 60 Die immer noch maßgebliche Studie zum Thema, Nikolaus Wegmanns Diskurse der Empfindsamkeit, muss sich einzig der Kritik stellen, sie gehe nicht in die Tiefe von Detailanalysen. 61 Interessant ist insbesondere Wegmanns Vorschlag zur Änderung des Blickwin-
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Vgl. zur scheinbaren und gleichzeitig als moralisch verwerflich abgewerteten Ordnung des Verstandes unter die „Affektwelt“ beim Lesen von so genanntem Kitsch beispielhaft die Polemik bei Giesz: Phänomenologie des Kitsches, insbesondere im Kapitel zum ‚KitschMenschen‘, S. 55–61; in der Forschung gibt es dazu eine hier nicht weiter ausführbare Debatte um Sentimentalisierung und Kitsch, die nicht zuletzt der Bewertung der Empfindsamkeit und ihrer so genannten Fortführung als Kitsch und Trivialliteratur schadet. Vgl. Dörr: „...bey einer guten Handlung böse Grundsätze zu argwohnen!“. Volker C. Dörr stellt in diesem Artikel die These vom ‚schwachen Diskurs‘ der Empfindsamkeit auf. Vgl. beispielsweise Campe: Über Empfindsamkeit und Empfindelei in pädagogischer Hinsicht (1779); Ringeltaube: Von der Zärtlichkeit (1765). Vgl. Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall, S. 178.
Empfindsamkeit
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kels in der Empfindsamkeitsforschung: „Die nicht zugängliche Frage nach der ursprünglichen Entstehung von Empfindsamkeit ist in die Frage nach den Gründen für ihren Erfolg umzuformulieren.“ 62 Der Erfolg der Empfindsamkeit ist ein Parameter, der im Kontext der Rhetorik relevant ist und durch deren Systematik analysierbar wird. Wie zeigt sich nun empfindsame Rhetorik? Auf sie passt unzweifelhaft Erich Meuthens ganz allgemein beobachtetes Dilemma von Gefühlsaussprache: Aber je direkter das Gefühl sich zu geben sucht, um so emphatischer gestaltet sich die Sprache und um so rhetorischer ‚wirkt‘ sie. Der Versuch, den ‚rhetorischen‘ Knoten zu durchschlagen, um einen ‚naiven‘ Zustand, den es möglicherweise nie gab, zurückzugewinnen, hat fatale Folgen. Verdrängt aus dem Bewußtsein des sich ‚spontan‘ äußernden Subjekts, taucht die Rhetorik in dessen Rede 63 wieder auf als ‚verinnerlichtes‘ dissoziatives Prinzip.
Die zentrale Frage, die sich die Forschung stellen muss, ob Empfindsamkeit nun distanzierende Rhetorik oder affizierte Selbstaussprache ist, wird bislang, wie bei Meuthen, mit einem ‚Sowohl als auch‘ beantwortet. Denn Formulierungen von einer ‚verinnerlichten Rhetorik‘ wie aus der gerade zitierten Textpassage zeigen die Unvereinbarkeit von distanzierender Reflexion und Affizierung. Gerade wenn von ‚Verinnerlichung‘ die Rede ist, stellt sich auch die Frage nach der Projektionsfläche des Körpers, der von Christiane Voss in einem doppelten Verhältnis zum Subjekt(-empfinden) gelesen wird, einerseits als zu instrumentalisierendes Kommunikationsmedium, das beobachtbar ist, andererseits in hochgradig emotional aufgeladenen Situationen als das „unverrückbare Zentrum“ 64, zu dem sich gerade kein Abstand gewinnen lässt (man ist im Körper gefangen). Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass dieses Dilemma der Empfindsamkeit in der zeitgenössischen Literatur bereits reflektiert und insbesondere in ihren Parodien kritisiert wird. Somit nimmt die Empfindsamkeit eine kritische Distanz zum eigenen Anspruch ein, weil sie nicht zuletzt als Rhetorik einer bestimmten Wirkung verpflichtet ist. Dass im empfindsamen Konzept neben das Problem der (psychologischen) Darstellung des Subjekts auch eine tugendethische Verhaltensregulierung rückt, hat ihr zusätzlich bereits die Kritik der Zeitgenossen eingebracht. Sulzer beispielsweise versteht unter Empfindung in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste von 1771 „sowol einen psychologischen als einen
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Wegmann: Zurück zur Philologie? Diskurstheorie am Beispiel einer Geschichte der Empfindsamkeit, S. 357f. Meuthen: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert, S. 12. Voss: Das Leib-Seele-Verhältnis beim Lachen und Weinen, S. 174.
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Erfolgskonzepte der Mitte
moralischen Begriff“ 65. Dass die Empfindsamkeit auch einen moraldidaktischen Anspruch hat, beschreibt Sulzer, der dafür von Goethe scharf attackiert wird. 66 Die Verbindung von Psychologie und Moral führt Sulzer zur Empfehlung des mesótes-Ideals bei der literarischen Gestaltung von Emotionen: Aber die allgemeine Regel der Weisheit muß [der Dichter] nicht aus den Augen lassen, daß er das Maaß der Empfindsamkeit nicht überschreite. Denn wie der Mangel der genugsamen Empfindsamkeit eine große Unvollkommenheit ist, indem er den Menschen steiff und unthätig macht, so ist auch ihr Uebermaaß sehr schädlich, weil es ihn weichlich, schwach und unmännlich macht. 67
Das mesótes-Ideal wird hier allerdings instrumentalisiert, um das „Maaß der Empfindsamkeit“ als männlich, die Abweichung vom „Maaß“, nämlich die Übertreibung der Empfindsamkeit, als weiblich und damit deutlich als „schädlich“ zu markieren. Sulzer suggeriert somit eine eindeutige Abgrenzbarkeit der Empfindsamkeit mithilfe der Kenntnis von der rechten Mitte. Auch der Theologe Michael Ringeltaube (1730–1784) kommt 1765 bei der Suche nach den „Entdeckungszeichen“ zärtlicher Sprache zu vermeintlich eindeutigen Ergebnissen:
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Sulzer: Empfindung – Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, S. 311. Goethe: „Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung“ betrachtet von J. G. Sulzer. – In: Frankfurter Gelehrte Anzeigen, Leipzig 1772 – Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. I, Bd. 18, S. 100f.: „Nun kommt Herr S. auf unsere Zeiten und schilt wie es einem Propheten geziemt, wacker auf sein Jahrhundert; leugnet zwar nicht, daß die schönen Künste mehr als zu viel Beförderer und Freunde gefunden haben, weil sie aber zum großen Zweck, zur moralischen Besserung des Volks, noch nicht gebraucht worden, haben die Großen nichts getan. Er träumt mit andern, eine weise Gesetzgebung würde zugleich Genies beleben, und auf den wahren Zweck zu arbeiten anweisen können, und was dergleichen mehr ist. [...] Wenn irgendeine spekulative Bemühung den Künsten nützen soll, so muß sie den Künstler grade angehen, seinem natürlichen Feuer Luft machen, daß es um sich greife und sich tätig erweise. Denn um den Künstler allein ists zu tun, daß der keine Seligkeit des Lebens fühlt als in seiner Kunst, daß in sein Instrument versunken, er mit allen seinen Empfindungen und Kräften da lebt. Am gaffenden Publikum, ob das, wenns ausgegafft hat, sich Rechenschaft geben kann, warums gaffte oder nicht, was liegt an dem? [...] Gott erhalt unsre Sinnen, und bewahr uns vor der Theorie der Sinnlichkeit, und gebe jedem Anfänger einen rechten Meister!“ (Herv. i. Orig.) Sulzer: Empfindung – Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, S. 312–316, hier S. 313. Und er fährt in diesem Artikel ebenda fort: „Diese wichtige Warnung, die Sachen nicht zu weit zu treiben, scheinen einige unsrer deutschen Dichter, die sonst unter die besten gehören, besonders nöthig zu haben. Sie scheinen in dem Wahn zu stehen, daß die Gemüther nie zu viel können gereitzt werden. Den Schmerz wollen sie gern bis zum Wahnsinn und zur Verzweiflung, den Abscheu bis zum äussersten Grad des Entsetzens, jede Lust bis zum Taumel, und jedes zärtliche Gefühl bis zur Zerfliessung aller Sinnen treiben. Dieses zielt gerade darauf ab, den Menschen zu einem elenden schwachen Ding zu machen, das von Lust, Zärtlichkeit und Schmerzen so überwältiget wird, daß es keine würksame Kraft mehr behält, dem alle Standhaftigkeit und aller männliche Muth fehlt.“
Empfindsamkeit
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Dies ist die Sprache der Zärtlichkeit überhaupt. Sie macht durch gewisse natürliche und willkührliche sinnliche Zeichen ihre Empfindungen klar und deutlich bekannt. [...] Die zärtliche Sprache der Menschen drückt sich überhaupt in rührenden verständlichen Zeichen aus. Empfindungsreiche Töne, Worte, Geberden und Handlungen sind die vornehmsten Arten der Abbildung dessen, was wir fühlen. Wer kennet nicht die rührenden Ausdrücke zärtlicher Töne der Natur und der Kunst unter den Menschen? Wie beweglich redet ein sehnsuchtsvoller Seufzer aus der zärtlichen Brust! Ein einziger beweglicher Ton spricht oft rührender, 68 als die nachdrücklichen Worte.
Ringeltaube geht von einer grundsätzlichen Mitteilbarkeit der Empfindsamkeit aus, die sich hier im zeitgenössischen synonymen Begriff der Zärtlichkeit ausdrückt. Besonders Ton, Rhythmus und Musikalität von Worten ebenso wie die Musik selbst seien am ehesten zur Vermittlung geeignet. Er knüpft den Ausdruck von Emotionen an die tugendethische ‚Richtigkeit‘ von Gedanken und Gesagtem und damit auch an die mittlere Stilgattung: Sie [die Worte] sind nicht bloße Zeichen der Empfindung, sondern zugleich auch Mittheilungen der Zärtlichkeit und richtiger Gedanken über die Empfindung. [...] Diese [Merkmale, Empfindungen auszudrücken] werden nach ihrem Grundgesetz, das ist, nach der moralischen Liebe, eingerichtet. Dahero spricht die Zärtlichkeit allemal liebreich, rührend, einnehmend und nachdrücklich. Lebhaftigkeit, edle Einfalt, Natur, Tugend, Anständigkeit und ein sanftes Wesen begleiten sie al69 lezeit.
Die Merkmale der zärtlichen Sprache, „liebreich, rührend, einnehmend und nachdrücklich“ sowie lebhaft, natürlich, tugendhaft, anständig und sanft, erinnern in auffälliger Weise an Quintilians Definition des ethos, die mit folgenden Begriffen assoziiert wird: sanft, friedvoll, liebenswürdig, erfreulich, menschlich, sittlich. 70 Gerade in dieser Abhandlung jedoch zeigt sich auch eine versteckte Hilflosigkeit, konkret zu werden und doch hinsichtlich der Versprachlichung der Emotionen abstrakt bleiben zu müssen. Es stellt sich die Frage, ob die Erklärung zärtlicher, d. h. empfindsamer Sprache mithilfe einer anderen Kunst(-technik), der Musik bzw. der Musikalität, nicht bloß das Bildfeld wechselt, ohne dass daraus weiterer Aufschluss über die Produktions- und Wirkungsweise rhetorischer Empfindsamkeit zu ziehen wäre. Wie Ringeltaube weicht auch Sulzer auf die Musik aus, indem er behauptet, dass erst der Ton die Herzenssprache hervorbringe. 71 Selbst
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Ringeltaube: Von der Zärtlichkeit, § 14, S. 72–74. Ebenda, S. 75. Vgl. Quint Inst. or. VI, 2, 13. Vgl. das Zitat im Zusammenhang und den Kontext auf S. 43, Kap. I, .3.1. Vgl. bei Sulzer die Artikel „Musik“, „Melodie“, „Empfindung“. Dazu vgl. ausführlich Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 434.
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wenn sich, wie Wolfgang Riedel vorgeschlagen hat, im ausgehenden 18. Jahrhundert ein poetologischer Paradigmawechsel von der horazischen Doktrin ut pictura poesis zur „ut musica poesis“ 72 vollzogen hat, ist für die zeitgenössische Beschreibung der Empfindungen keine Konkretisierung festzustellen. Das liegt freilich auch daran, dass das zentrale Kriterium, auf dem der Ausdruck von Empfindungen aufsetzt, sich als Paradoxon gibt: die Nachahmung lebendiger, aber reflektierter Unmittelbarkeit, die im Grunde nur eine Lösung kennt, nämlich die Mündlichkeitsfingierung im Schriftdiskurs. Simulierte Mündlichkeit ist immer sekundär und weist die Mediendifferenz im Topos des toten Buchstabens aus. An der Wortgeschichte der Empfindsamkeit lässt sich bereits deren hochgradig rhetorische Konstruktion ablesen: 73 Es handelt sich zunächst um eine Übersetzung aus dem Englischen nach mehreren Anläufen, eine Übertragung also, wie man sie aus der Metaphorik kennt, und es ist gleichzeitig auch eine Übersetzung aus dem Lateinischen (sensiblity – sensus) ins Deutsche. Es ist also nicht eigentlich ein Neologismus, mit dem sich die Forschung beschäftigen muss, sondern vielmehr geht es um ein neues Konzept. Albrecht Koschorke spricht sogar von einer neuen Lebenshaltung. 74 Insofern ist immer zu bedenken, dass dieses Konzept, wie bereits erwähnt, in sämtliche Bereiche des Lebens und nicht nur in die Literatur Einzug erhalten hat. Bei der Untersuchung von empfindsamer Literatur und ihrer Wirkungsorientierung ist aufgrund dieser breiten Diskursvielfalt eine entsprechend breite Textbasis geboten, denn: „Wer im Kontext der Empfindsamkeit mit einem wertenden Begriff von ‚Trivialität‘ operiert, reproduziert eine strukturelle Schwierigkeit der Abgrenzung, die bereits die zeitgenössische Debatte geprägt hat.“ 75 Das von Sauder repräsentativ für die Forschung postulierte Ende der Empfindsamkeit am Ausgang des 18. Jahrhunderts basiert auf der heutigen Abwertung der Empfindsamkeit als Unterhaltungsliteratur: „In der
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Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 410–439, insbesondere S. 423–439. Die Herkunft des Wortes und die fälschliche (Selbst-) zuschreibung als Übersetzung Lessings aus dem Englischen, wie beispielsweise bei den Grimms verzeichnet, hat Georg Jäger ausführlich dargestellt. Jäger weist außerdem darauf hin, dass der Schwesterbegriff der Zärtlichkeit wesentlich verbreiteter war. Vgl. Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, S. 11–16. Die Übersetzung der Sentimental Journey Laurence Sternes in Yoricks Empfindsame Reise hat sich an einer bereits etablierten Mode der Empfindsamkeit orientiert und erzielt eine große Wirkung beim Publikum, erfolgt doch die Übersetzung nach Erscheinen des Romans 1768. Zur Verwendung des Begriffs in der Literatur bei Lessing vgl. Lessing: Emilia Galotti – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 7, I, 6, S. 302: Marinelli sagt spöttisch: „Aber so geht es den Empfindsamen! Die Liebe spielet ihnen immer die schlimmsten Streiche.“ Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit. Von Trotha: Angenehme Empfindungen, S. 206.
Empfindsamkeit
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Unterhaltungsliteratur wird [die Empfindsamkeit] trivialisiert und im Biedermeier sentimental popularisiert.“ 76 Die wichtigen Feststellungen Sauders zu tiefgreifenden Veränderungen des Diskurses, wie sie auch von den Zeitgenossen erfahren und festgehalten werden, dürfen aber keinesfalls als ein Niedergang beschrieben werden. Die Merkmale, die Sauder Unterhaltungsliteratur zuschreibt, sind Trivialität, also Oberflächlichkeit, sowie Popularität, also Breitenwirkung, und Sentimentalität, also vermeintlich falsch verstandene Empfindsamkeit. Diese Argumentationsstruktur sieht vor, dass das Gegenteil dieser ‚minderwertigen‘ Literatur Kunst bzw. ‚hohe‘ Literatur ist. In dieser Struktur aber zu argumentieren wird der Zeit vor 1800, in der diese Dichotomie noch keineswegs etabliert ist, nicht gerecht und ist also ahistorisch. Wertungen solcher Art verstellen aber auch grundsätzlich die Möglichkeit, das Phänomen der Empfindsamkeit zu beschreiben. So zeigt sich empfindsame populäre Literatur als anschlussfähig an die veränderten Bedingungen des literarischen Markts weit über das 18. Jahrhundert hinaus. Wenn Sauder also von einer „zählebigen Tradition von Kitsch“ 77 spricht, die aus der Empfindsamkeit als Unterhaltungsliteratur hervorgegangen sei, wertet er damit den modus quo dicuntur, das delectare nämlich, ab, obwohl gerade diese Qualität als Stütze der Erzähltradition mittlerer Stillage und als Garant des Erfolgs der Empfindsamkeit in den Mittelpunkt gerückt werden muss. Durch solche Argumentationsstrukturen wird also beispielsweise verhindert, dass Christian Friedrich Timme von der Forschung, wenn nicht als erfolgreicher Autor von Moderomanen, so doch unbedingt in der Theoriebildung wahrgenommen werden muss. 78 Dies soll im Folgenden nachgeholt werden. Timme hat einen Versuch einer Theorie der Empfindsamkeit von 1781/82 verfasst, der die These relativiert, eine zeitgenössische poetologische Selbstbeschreibung gäbe es nicht. 79 Der Kontext seines Versuchs allerdings schränkt dieses poetologische Programm insofern ein, als der Versuch eingebettet ist in den dritten Teil des satirischen Romans
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Sauder: Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang, S. 19. Ebenda, S. 17. Diese Unsichtbarkeit besiegelt der Eintrag im Literatur-Lexikon zu Timme von Ernst Weber: „T[imme] suchte sich das Publikum, das nicht bereit war, in seinem Weltbild wie in seinen ästhetischen Ansprüchen über Gellert u. die Moralischen Wochenschriften hinauszugehen.“ Vgl. Weber: Christian Friedrich Timme – Literatur-Lexikon, Bd. 11, S. 375. Döring formuliert das Desiderat, dass man Timme als einen in der Folge des Werthers schreibenden Autor der Empfindsamkeit untersuchen müsste, dessen fiktive Briefeschreiber sich auf der Grenze zwischen Sprachskepsis – d. h. defizitäre Sprache für den Gefühlsausdruck – und Sprachtradition – d. h. konventionalisierte Bildlichkeit des Inneren – befänden. Vgl. Döring: Sprachgebrauch und Sprachreflexion im Werk des Erfurter Schriftstellers Christian Friedrich Timme, S. 165f. Vgl. Dörr: „…bey einer guten Handlung böse Grundsätze zu argwohnen!“, S. 58–79.
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Der Empfindsame Maurus Pankrazius Ziprianus Kurt, auch Selmar genannt. Dessen Qualitäten als Satire werden in einer Rezension in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek von 1783 besonders hervorgehoben: „Nie sind wohl die Empfindler lächerlicher gemacht worden […]“. 80 In Timmes Romanen sind Belehrungen, die über die Fiktion hinausgehen, montiert, wie auch dieser Versuch in den Moderoman eingebettet ist, so beispielsweise „religiöses Erbauungsschrifttum, Passagen aus der Lutherbibel, […] Legenden, pietistische Traktate, pädagogische Abhandlungen“ 81. Dieses Programm – Didaktik und Theorie in Unterhaltungsliteratur – wird in nuce im Versuch formuliert: „Soll Belehrung und Aufklärung sich über die ganze Nation verbreiten: so muß sie nicht bloß in Lehrbüchern versteckt werden, die der Tausendste der Nation nicht kennenlernt: sie muß in unterhaltenden Schriften zerstreut werden, die jedermann liest, jedermann versteht.“ 82 Diese aufklärerische Reformulierung des horazischen prodesse et delectare weist darauf hin, den Versuch trotz seiner Einbettung in die Satire als ernsthaftes Unternehmen zu lesen, sich systematisch mit dem Phänomen Empfindsamkeit auseinanderzusetzen. Dieser Versuch einer Theorie der Empfindsamkeit beschäftigt sich – nach dem von der Forschung konstatierten Höhepunkt 83 der Empfindsamkeit entstanden – mit dem, was zunächst als „Empfindelei“ oder „Sensibilität“ als Übertreibung der Empfindsamkeit aufzufassen ist und hier bereits gleichgesetzt wird. Timme definiert: Empfindsamkeit ist diejenige Krankheit der Seele, wo deren Schwächlichkeit durch nichtsbedeutende und unzulängliche Veranlassungen auf eine widernatürliche Art zu den heftigsten Empfindungen gereizt wird, die in ihren Äußerungen sich nicht immer gleich, aber allezeit krampfhaft sind. Bei flüchtig übergehenden Zufällen aber kann es auch ein bloßes Nervenfieber der Seele sein. 84
Die Krankheit wird als „gefährlich“ 85 eingestuft. Daher empfehle sich, basierend auf dem Wissen der Aufklärungsanthropologie, statt einsamer Lektüre Geselligkeit und Zerstreuung, statt falscher Lektüre (Tragödien, Rührstücke, Romane) richtige Lektüre (Komödien, Satiren, moralische Schriften, Reisebeschreibungen, Biographien und „wirkliche Geschich-
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[Anonym]: Timme, C. F.: Der empfindsame Maurus Pankrazius Ziprianus Kurt, auch Selmar genannt. Ein Moderoman. T. 4: Rezension – Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 56 (1783), 1. St., S. 136f., hier S. 136. Döring: Sprachgebrauch und Sprachreflexion im Werk des Erfurter Schriftstellers Christian Friedrich Timme, S. 164. Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius, S. 162. Vgl. Kimmich: Empfindsamkeit – Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Sp. 1108– 1120, hier S. 1109; Sauder: Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang, S. 18. Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius, S. 160. Ebenda, S. 170.
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te“ 86). Gleiches gilt für die Betrachtung der Empfindsamkeit als einer körperlichen Krankheit: Gegen (Seelen-)Hypochondrie helfe strenge (Seelen-)Diät. Empfindsamkeit als Körperkrankheit – auch die Seele wird noch als Organ verstanden – resultiert daraus, dass der Empfindsame womöglich „die Vernunft als Feindin betrachtet.“ 87 Die Unfähigkeit zum kritischen, d. h. vernünftigen Urteil und die mangelnde Alltagstauglichkeit werden von Timme angeprangert. 88 Empfindsamkeit ohne Vernunft, ohne Mittelmaß sei bloßer „Modeton“, welchen affektierte Menschen, „ohne weiter davon gerührt zu werden, wie Papageien nachlallen“ 89. Er beschreibt damit den Prozess der Erstarrung von zunächst als innovativ und spracherneuernd angetretenen Strömungen zu hohlen Phrasen, die – im antiaufklärerischen Bild des nachlallenden Papageien ausgedrückt – nicht zu eigenem kritischen Denken und zur Reflexion der Gefühle befähigten, denn: „[Affektierte Menschen] empfinden eigentlich gar nichts.“ 90 Diese Feststellung muss gewissermaßen als Todesurteil eines empfindsamen Selbsterforschungsdiskurses angesehen werden. Empfindsamkeit ist für Timme zur Künstelei verkommen. Seine Vorschläge gelten also nicht der Reformierung der Empfindsamkeit, sondern ihrer Fernhaltung durch Geselligkeit, Zerstreuung, Handarbeit, Bewegung oder ähnlicher nützlicher Ablenkung vom Selbst. 91 In diesem Sinne wird auch die Satire anschlussfähig: Das Bloßstellen durch Satire bedeutet in der Aufklärung Erziehung zur Vernunft(-ordnung). Als Heilmittel gegen die Krankheit der Empfindsamkeit stellt Timme den Nutzen und die Wichtigkeit seines „Moderomans“ – so der Untertitel – heraus. Mode als „Prinzip des ewig Neuen“ 92 bedeutet zwar einerseits schnellen Verbrauch, andererseits aber bedeutet Empfindsamkeit als Mode bereits ein kanonisiertes, da wiedererkennbares Moment, denn die „Moden müssen, bevor sie historisch werden, ein Stadium der Lächerlichkeit durchlaufen.“ 93 Bereits 1792 schließt der Theologe und Schriftsteller Karl August Ragotzky in seinem Beitrag über „Mode-Epoken“ im Journal des Luxus und der Moden
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Ebenda. Ebenda, S. 168. Joachim Heinrich Campe hatte es als positive Wechselseitigkeit nach 1779 noch versöhnend so formuliert: „Wahre Empfindsamkeit stützt sich immer auf deutlich erkannte Grundsätze der Vernunft [...].“ Vgl. Campe: Ueber Empfindsamkeit und Empfindelei, S. 13f. Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius, S. 170. Ebenda. Vgl. Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern, insbesondere S. 16 und 23. Bovenschen: Über die Listen der Mode, S. 13. Ebenda, S. 18.
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allerdings mit der Empfindsamkeit ab, indem er sie eine „weinerliche Epoke“ 94, eine vergangene ‚Modeepoche‘ eben, betitelt. Die Empfindsamkeit ist gleichwohl maßgeblich beteiligt an den Paradigmenwechseln um 1800. Dorothee Kimmich spricht sogar von der Progressivität der Empfindsamkeit: „E[mpfindsamkeit] ist nicht Gefühl, sondern Rhetorik und Pragmatik des Gefühls; sie schreibt sich ein in den Kontext eines gewandelten Menschenbilds im Rahmen aufklärerischer Anthropologie und zeichnet sich aus durch eine spezifisch enge Verknüpfung von Ästhetik und Ethik, Kunst und Moral.“ 95 Wie bezogen auf jede andere Strömung auch, gibt es eine Fülle von zeitgenössischen Begriffsvarianten der Empfindsamkeit und ebenso viele Interpretationen dazu. Klaus Hansen differenziert beispielsweise zwischen ‚harten‘ und ‚weichen‘ Gefühlen, was terminologische Schwierigkeiten mit sich bringt. Die Ankopplung des Programms ‚Gefühlskultur‘ an die Natürlichkeit verleihe nämlich demzufolge „dem künstlichen Produkt Gesellschaftsordnung etwas Echtes“ 96, was die Frage nach der so genannten ‚Echtheit‘ als vielmehr einer Künstlichkeit der ‚Natürlichkeit‘ aufwirft. Die zeitgenössischen Zuschreibungen lassen sich nach den umfassenden Studien Sauders grob in drei Begriffsfelder aufteilen: a) moralische Empfindsamkeit, etwa die zärtliche Nächstenliebe oder die Ausprägungen aus der einflussreichen Moral-Sense-Theorie, b) Empfindlichkeit als physische Größe für Sinneseindrücke und ihre besondere Empfänglichkeit dafür, als körperlich affizierte Empfänglichkeit für alle Sinne, c) ihre Gegenbewegung als Empfindelei, Afterempfindsamkeit und Sentimentalität (Überspanntheit und Melancholie). 97 Dies beinhaltet auch schon die Janusköpfigkeit des Begriffes, denn zum einen wird mit Empfindsamkeit die Fähigkeit, die so genannten sanften Leidenschaften empfinden zu können, charakterisiert, zum anderen ein Zustand der Überspanntheit und der Übertreibung von Empfindsamkeit, der Sentimentalität. Während für die Kunst natürlich das Begriffsfeld Empfindsamkeit eine größere Bedeutung haben dürfte als die Empfindlichkeit, zeigt letzterer Begriff die Loslösung von der Moral und die Hinwendung zu einer Ästhetik als wörtlicher Lehre
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Ragotzky: Über Mode-Epoken in der Teutschen Lektüre, S. 121. Kimmich: Empfindsamkeit – Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Sp. 1108– 1120, hier Sp. 1109. Hansen: Einleitung: Emotionalität und Empfindsamkeit, S. 7. Vgl. Sauder: Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang. Zur positiv gewerteten, tätigen Empfindsamkeit und ihrer Übertreibung, mit den Neologismen Empfindelei und Afterempfindsamkeit beschrieben, siehe dens.: Vom Himmel der Empfindsamkeit in Proserpinas Hölle, hier S. 147–149. Ähnlich auch vorangehend in Sauder: Empfindsamkeit I (1974), S. 5.
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von der sinnlichen Wahrnehmung, wie man sie auch im Sensualismus findet. Die große Leistung der Empfindsamkeit liegt letztlich in der Durchsetzung einer mittleren Stillage für die Darstellung der so genannten sanften Leidenschaften und eine daran orientierte Wirkung der Texte zu unterhalten, die emotional nicht so sehr erschüttert, dass die Vernunft ausgeschaltet wird, das Publikum somit empfänglich für die belehrenden, tugendethischen Passagen sein kann. Anstatt die Wirksamkeit dieses Stils durch Konventionalisierung zu betonen, legt Sauder den Impetus seiner Argumentation, wie bereits gezeigt, auf einen vermeintlichen Niedergang: „Die gegen Ende des Jahrhunderts entstehende Unterhaltungsliteratur für den schnellen Leseverzehr kumuliert dann empfindsame Motive und Stilmittel und wird zur zählebigen Tradition von Kitsch beitragen.“ 98 Der Blickwinkel von Empfindsamkeit als einer Rhetorik der Emotionen sorgt dagegen für eine wertneutrale Beschreibung ihrer Funktionsmechanismen. 2.1 Empfindsamkeit um 1700 Die literarische Empfindsamkeit ist also kein Phänomen ausschließlich des späten 18. Jahrhunderts, sondern muss viel früher angesetzt werden. Dabei geht es in diesem Kapitel aber nicht um eine historische Herleitung, sondern darum, für die generelle Beachtung des Umbruchszeitraums 1700, der ohne die Überschattung der ‚Sattelzeit‘ um 1800 auch eine Art ‚semantische Sattelzeit‘ bildet, zu plädieren. Denn eine nähere Betrachtung zeigt, dass die literarische Empfindsamkeit nicht nur als Radikalisierung der Aufklärung, sondern als wesentlich beteiligte Strömung im Epochenumbruch 1700 wahrgenommen werden darf und innerhalb der Frühaufklärung platziert werden muss. Olaf Simons weist in einer polemischen Bestandsaufnahme für die Literatur um 1700 auf eine Lücke in der Germanistik hin, die auf den Klischees aus dem 19. und 20. Jahrhundert über den Zeitraum um 1700 basiere und zu falschen Schlussfolgerungen verleiten könne, so beispielsweise, was das gesamteuropäische ‚Hinterherhinken‘ Deutschlands und die angebliche Friedensphase betreffe. 99 Vor 1730 muss allerdings nicht nur von einem anderen Literaturbegriff, sondern auch von einem anderen Gattungsspektrum ausgegangen werden. So denunziert Gotthart Heidegger in seiner umstrittenen
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Sauder: Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang, S. 17. So ausgewogen Sauder ansonsten gegenüber der Strömung der Empfindsamkeit ist, so wenig differenziert er in Bezug auf die komplexe Kunstausdifferenzierung in diesem Zeitraum. Simons: Kulturelle Orientierung um 1700, S. 45.
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Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benanten Romans 1698 den „Lugen-Kram“ der Romane; „sie sagen der habe einen Riesen umgebracht/ der doch selbst nie gelebt.“ 100 Die Roman-Schreiber verlangten vom Leser besonders viel und zum Schaden genutzte Zeit, denn „solche Bücher sein also geschoben/ daß man sie nicht hin und her lesen/ sonder das ganze Drama in seiner Ordnung durchlaufen muß: sie seyn eingerichtet nach des Menschen meisterlosen/ Curieusen Appetit […].“ 101 Besonders interessant an dieser Stelle ist, dass der Roman als ein Handlungsganzes beschrieben wird, das nicht eklektisch oder letztlich wie zuvor austauschbar gelesen werden kann, sondern in einem Spannungsbogen, der den neugierigen Leser von aller Tätigkeit abhält, ehe das Buch nicht ausgelesen ist. Innerhalb dieser Diskussion wird das Thema der Fiktionalität aufgeworfen, das ab der Mitte des 18. Jahrhunderts dann das Verständnis von Literatur prägen wird, ohne dass zu dieser Zeit ‚Fiktionskompetenz‘ bereits in der Lektüre durchsetzungsfähig geworden wäre. 102 Zur Veranschaulichung kann ein Text Hunolds dienen, der als Autobiographie 1731 unter dem Pseudonym Menantes postum veröffentlicht wird, denn für die Zeitgenossen war nicht klar, ob es sich bei den Geheimen Nachrichten und Briefe von Herrn Menantes Leben und Schriften um Fiktion handelt oder nicht. Und genau in dieser Ambivalenz versteckt sich ein problematischer Zugang für die Literatur vor der Mitte des 18. Jahrhunderts: „Unsere Literatur ist ein Konstrukt, in dem es um Kunst und Fiktion geht [...].“ 103 Christian Friedrich Hunold selbst lehrte ab 1708 in Halle Poesie und Literatur und ist insbesondere aufgrund seines Briefstellers von 1707 bekannt. Sein nicht fertiggestelltes „oratorisch-epistolisch-poetisches Lexikon“ 104 stellt im Titel die für die Zeit charakteristische enge Verknüp-
_____________ 100 101 102 103
Heidegger: Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benanten Romans, S. 61. Ebenda, S. 63. Vgl. Friedrich: Fiktionalität im 18. Jahrhundert, S. 338–373. Simons: Kulturelle Orientierung um 1700, S. 61. Vgl. auch Erich Kleinschmidt: Die Wirklichkeit der Literatur. Und nicht nur um 1700 ist die Fiktionskompetenz noch nicht so ausgebildet, wie man meinen könnte, sondern auch in Fräulein Sternheim, Werther oder Lavaters Geheimem Tagebuch ist diese Frage noch virulent. 104 Creizenach: Hunold, Christian Friedrich – Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 13 (1881), S. 421. Was Hunolds bekanntesten Roman betrifft, schließt Jörn Steigerwald die Lücke zum Roman als Großform der Moderne durch eine bewusste Neustrukturierung der Gattungswertungen um 1700 und einer Neupositionierung des Begriffs des Galanten, bleibt also nicht in der aus den 60ern stammenden, ansonsten sicher basalen, Referenzforschung von Herbert Singer, insofern seine gattungsmäßige Offenheit als Komödienroman den literarhistorischen Wert dieses Genres sichert. Vgl. Steigerwald: Höfliches Lachen. Die distinguierende Komik der höfischen Gesellschaft (am Beispiel von Christian Hunolds Satyrischer Roman), S. 325–356. Vgl. dazu außerdem die Auslotung des komplexen Phänomens der Galanterie im Kontext der Frühaufklärung in Deutschland von Fulda und Steigerwald in: Galanterie und Frühaufklärung.
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fung von Rhetorik, Brieflehre und Literatur bzw. Poesie aus, mit der die semantischen Spannungen der empfindsamen Literatur im 18. Jahrhundert umschrieben sind. Dabei ist der literarische Markt um 1700 – zwar noch nicht mit dem ausdifferenzierten Markt und seinen verschiedenen Diskursbedingungen um 1800 zu verwechseln – aber allein schon durch die Druckbedingungen in ständiger Bewegung, flexibel und europäisiert. Dem entspricht die kaum stattfindende Gattungskanonisierung, so dass sämtliche Gattungen als literaturfähig in Betracht zu ziehen sind. Leider setzen die zwei gängigen Begriffe für die Literatur um 1700 aber auf der bekannten nachträglichen Dichotomie zwischen hoher und niederer Literatur auf und könnten daher missverstanden werden: „Markt der Belletristik“ und ‚gelehrte Literatur‘. 105 Das frühe 18. Jahrhundert etabliert eine Literaturkritik, die ihre Gegenstände allererst erschaffen muss, und Simons folgert nicht ganz nachvollziehbar: Belletristik falle aus diesem Prozess raus, denn wir hätten bis heute keine „Belletristikwissenschaft“ 106. Worauf Simons damit andererseits hinweist, ist, auch wenn seine ‚Belletristikwissenschaft‘ in Literatur- und mehr noch Kulturwissenschaften aufgeht: Die Forschung in Deutschland ist in dieser Dichotomie weit mehr gefangen als die Forschung in anderen Ländern. Die Analyse von Emotionalisierungsstrategien in (empfindsamen) Texten muss also, indem sie bereits um 1700 ansetzt, für eine Revidierung von Gattungs- und Epochenkategorien plädieren und die Umfunktionierung des Nutzens von Literatur in Augenschein nehmen, insofern nicht mehr das abschreckende exemplum als nützlich erscheint, sondern die unterhaltsame Spiegelung mitunter realen Lebens (auch des Lasters) – so als geschwätziges Gespräch, in dem der Leser zum Voyeur werden darf. 107 Mit anderen Worten: Das delectare des mittleren Stils fällt in eins mit dem mittleren Stil der Empfindsamkeit, aus deren angeblicher UnterKomplexität vage Sprache folgen müsste – aber genau das Gegenteil ist der Fall: In empfindsamer Literatur gestalten sich rhetorisch höchst komplex die virulenten Fragen, wie Emotionen literarisch produziert werden und wie sie wirken. Im Folgenden soll an zwei Schlüsseltexten die strukturelle Differenz von handfester Gefühlsgewissheit und subjektiver Gefühlsplausibilisierung im Umbruchszeitraum 1700 gezeigt werden. Erstens stellt sich, wie zu zeigen ist, an der Landtafel der Freundschaft aus Madeleine de
_____________ 105 Simons: Kulturelle Orientierung um 1700, S. 57. Simons schlägt stattdessen vor, weiter den historischen Begriff der ‚Poesie‘ zu benutzen (S. 55). 106 Ebenda, S. 69f. 107 Vgl. die instruktiven Ergebnisse Markus Fausers in: Wissen als Unterhaltung, S. 496.
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Scudérys Roman Clélie bzw. der hier in den Blick genommenen deutschen Übersetzung Clelia eine unzweifelhafte Gefühlsgewissheit dar. Dem wird zweitens ein Text der deutschen Frühaufklärung gegenübergestellt, an dem sich bereits die Notwendigkeit zeigt, Gefühle plausibilisieren zu müssen, die durch die Traumsituation allegorisch erzählt und dadurch subjektiviert werden. Es handelt sich um einen Beitrag Johann Hinrich Brockesތ zur hamburgischen Moralischen Wochenschrift Der Patriot von 1724. Der rhetorische Kontext ist in beiden Fällen unbestritten, mithilfe dessen ein Zugang zum zeitgenössischen Verständnis von Emotionen zugänglich werden kann: „[...] we then learn how historical rhetorics provide unique access to the history of emotion.“ 108 Diese zwei Textbeispiele sollen eine Basis für die Beschreibung literarischer empfindsamer Rhetorik bilden. 2.1.1 Die Landtafel der Freundschaft der deutschen Clelia Die Salonière Mlle. de Scudéry, die unter dem Namen ihres Bruders Georges veröffentlichte und unter seiner Vormundschaft ein für die Zeit selbstständiges Leben führte, war eine Vielschreiberin: Allein der preziöse Roman Clélie (1649–1653) hatte zehn Bände und ungeheuren Erfolg. In Deutschland erscheint der Roman 1664 als Clelia: Eine römische Geschichte durch Herrn [sic!] von Scuderi, übersetzt „durch Ein Mitglied der hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft der Unglückseeligen“. 109 Im Nachwort dieser Ausgabe wird darauf hingewiesen, dass der Roman ungewöhnlich hohe Anforderungen an den Leser stelle und dass deshalb in die deutsche Ausgabe Kapitel und Inhaltsangaben eingefügt worden seien. Zudem ist im Anhang an das letzte Buch eine Liste der „vornehmsten“ Passagen für diejenigen angehängt, die keine Zeit für diese umfängliche Lektüre haben. Auf diese deutsche Fassung beziehen sich die Überlegungen in diesem Kapitel. In seiner galanten Kommunikation schon bald überlebt, bildet doch der Versuch, bildlich und kartographisch genau besonders weiblichen Gefühlen auf den Grund zu kommen, einen entscheidenden Prätext für
_____________ 108 Gross: The Secret History of Emotion. From Aristotle’s Rhetoric to Modern Brain Science, S. 13. 109 Clelia: Eine römische Geschichte/ Durch Herrn von Scuderi/ Königl. Französ. Befehl=habern zu unser Frauen de la Garde/ In Französischer Sprache beschrieben/ anitzt aber ins Hochdeutsche übersetzet/ Durch Ein Mitglied der hochlöbl. Fruchtbringenden Gesellschaft den Unglückseeligen. Nürnberg: Endter 1664. Vgl. außerdem die englische Übersetzung und ihren Untertitel von 1655: Clelia. An excellent and new Romance dedicated to Mademoiselle de Longueville. Written in French by the Exquisite Pen of Monsieur de Scuderi. London 1655.
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die europäische Empfindsamkeit. Ernst Weber spricht davon, dass der Roman durch eine „neue Sprache der Empfindsamkeit“ 110 geprägt sei. Weil hier Handlung und Fiktion nachrangig sind und gerade nicht in einem Spannungsbogen gelesen werden (können) – durch die Länge sowie durch das kursorische Lesen, wie es auch das Nachwort vorschlägt –, hat sich die berühmte Carte de tendre verselbständigt. 111 In der stichwortartigen Zusammenfassung des ersten Romanteils des französischen Originals heißt es: „Herminius lui demande le chemin de Tendre. Clélie imagine la Carte de Tendre [...], don’t Célère explicite la signification [...] Réception et succès de la Carte de Tendre.“ 112 Diese Karte ist im Roman nicht nur beschrieben, sondern auch als Stich einer ‚Landkarte‘ beigefügt (vgl. Abb. 1). Der Stich unterscheidet sich von den übrigen Kupferstichen des Romans, die sämtlich als Historiengemälde exempla der römischen Geschichte illustrieren. Sie fungiert also nicht nur als Bildspender, sondern ist tatsächlich als Karte in der Handlung relevant. Die deutsche Übersetzung spricht von der „Landtafel der Freundschaft“. Interessant ist dabei, dass der ebenso emphatisch wie häufig verwendete Begriff der Zärtlichkeit, der der direkte Hinweis auf die Empfindsamkeit wäre, nicht verwendet wird, sondern der in ähnlicher Weise virulente (und in Bezug auf den Erscheinungszeitraum der Clélie noch anders konnotierte) Begriff der Freundschaft.
_____________ 110 Weber: Nachwort. – In: Texte zur Romantheorie I, S. 566. 111 Zum Verhältnis dieser Karte zu Gesellschaftsspielen und Anweisungen in Büchern vgl. ausführlich Kühme: Bürger und Spiel; Eske: Konversationsspiele www und vis-à-vis von der Renaissance bis heute, S. 28–30. 112 Scudéry: Clélie, S. 179.
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Abb. 1: [Scudéry]: Clelia. Landtafel der Freundschaft (ULB Halle)
Die Landtafel hat eine pikante fiktive Entstehungsgeschichte. Im Gespräch kommen die Figuren auf die Bildlichkeit von der empfindsamen Reise ins ‚Innere‘ einer Frau zu sprechen, zum Mittelpunkt des Herzens, vom Bekannten zum Freund. Wie weit die Wege sind, um in dieser Bildlichkeit zu bleiben, möchten die Gesprächspartner Clelias wissen – kein „Spazierfeldgang“ jedenfalls, gibt diese zu bedenken. Auf Bitten ihrer Verehrer fertigt Clelia eine Karte binnen einer halben Stunde an, um anschaulich zu machen, wie man von der „Neufreundschaft“ zur „Innigstfreundschaft“ gelangt. Dabei stellt sie gewissermaßen einen Freundes-Katalog auf: Es gibt Freunde – und dem nachgeordnet halbe, neue, angewohnte, feste, sonderliche Freunde. Die engsten nennt sie „weichmütig-kuniglich“ 113. Die Tafel, die Clelia entwirft, wird in der Fiktion verglichen mit einer „Weltbeschreibungs-Landtafel“. Sie ist so aufgebaut, dass der Betrachter am rechten unteren Bildrand mit den Augen gewissermaßen aufzubrechen hat. Im französischen Original ist am Maßstab noch eine Anhöhe gezeichnet, auf der Wanderer betrachtend in die Landschaft blicken, dem realen Betrachter bzw. Romanleser den Rücken zukehrend. Dieser Betrachterstandort der Originalkarte fehlt hier. Auch ist die Tafel grundsätzlich nicht selbsterklärend, sie funktioniert nicht als Bild allein, sondern nur, indem neben jedem Fluss, Meer, Dorf oder Wald der entsprechende Begriff geschrieben steht, entweder von Emotionen oder Emotionsauslö-
_____________ 113 [Scudéry]: Clelia, 1. Buch, S. 265.
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sern hier im Kontext galanter Kommunikation. Eine genaue Rezeptionsanweisung bietet der Dialog der Freunde, zumal Clelia zuvor bereits die „Neufreundschaft“ als Ausgangspunkt jeder freundschaftlichen Annäherung bezeichnet hat. Die innige Freundschaft – also das Ziel – erreicht derjenige, für den das Gegenüber Hochachtung, Dankbarkeit oder Zuneigung empfindet, symbolisiert durch drei Flüsse. Was die Zuneigung anbelangt, so handelt es sich um den direkten Weg zum Herzen, Dörfer oder Zwischenstationen fehlen hier entsprechend. Die beiden anderen Wege erfordern einen längeren Atem desjenigen, der sich um Freundschaft oder Liebe, im Roman immer auf Clelia bezogen, bewirbt. Aber hinter der innigen Freundschaft lauern die Gefahren der Leidenschaften und unbekannte Gefilde, die vom rechten Weg abbringen. Daher lautet das Fazit: „Also hat dieses Fräulein die art erfunden/ eine schöne Sittenlehre von der Freundschafft/ aus einem blossen Spiele ihres Geistes zumachen/ und auf eine gantz gereimte weise zuwissen gemacht/ sie habe und könne keine Liebe haben.“ 114 Doris Kolesch weist zu Recht darauf hin, dass es sich hier um explorierende männliche Blicke auf ein „Territorium des Weiblichen“ handelt. „Die topographische Visualisierungstechnik“ gebe „keine Auskunft über Clélies Emotionen [...]. Die Gefühle der Heldin werden als äußerliche, diskrete und fixierte Orte in eine statische Topographie eingeschrieben.“ 115 Sieht man einmal davon und vom Erzählerkommentar ab, dass Clelia noch keine Liebe erfahren habe, fällt zum einen auf, dass diese Karte unterhaltsam ist und zugleich auch eine Sittenlehre darstellt. Zum anderen ist diese Karte so gut komponiert, dass sie zitier- und parodierfähig wird, so bereits 1659 in Molières Les Précieuses Ridicules. Die pecques provinciales, die ‚dummen Provinzgänse‘, meinen in dieser Komödie Kenntnisse vom Stadtleben durch die Lektüre der Clélie erhalten zu haben. Eine der deutschen Übersetzungen, Die köstliche Lächerlichkeit (1670), die in den Spieltexten der Wanderbühne nachgewiesen ist, weist die carte de tendre als „Liebes-Papier“ aus. 116 Das „Liebes-Papier“, das sogar bereits in der Fiktion als „InnigkeitsLandkarte“ Berühmtheit erlangt hat, wird von Clelia als Sittenlehre und darüber hinaus als „Scherz“ gerechtfertigt; sie habe die Karte ‚nur‘ zur Kurzweil als ein „augenblickliches Sinnmuster“ und eine „eilfärtige Geburt“ 117 angefertigt. Nicht jedoch dürfe man glauben, sie habe ernsthaft Großes dichten wollen. Diese Kurzweil stellt sich in eine Reihe mit ande-
_____________ 114 115 116 117
Ebenda, S. 274. Kolesch: Kartographie der Emotionen, S. 171. Die köstliche Lächerlichkeit. – In: Spieltexte der Wanderbühne, Bd. 6, S. 105f. [Scudéry]: Clelia, 1. Buch, S. 275f.
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ren Spielen im Roman, die gegen die Melancholie erfunden werden. 118 Im Falle der Karte aber wird das Spiel zu Ernst, in dem sich letztlich einer, namentlich die Figur des Clelia umwerbenden Horaz, durchsetzt. Der Misserfolg ist schließlich charakterisiert durch das Abweichen vom vorgegebenen Weg. Abseits der Straßen gelange der Mann schnell zum „Gleichgültigkeits-See“. Dass vom rechten Weg nicht abgewichen werden darf, ruft selbstverständlich ein bekanntes, christlich tradiertes Bildfeld auf. Auch in Barthold Hinrichs Brockes ތBeitrag zum Patrioten ist die Wegmetaphorik bereits anders verbildlicht und interpretiert, was im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll. 2.1.2 Brockes ތTugend-Traum im Patriot Nicht minder zentral als die Landtafel der Freundschaft ist die mehr als ein halbes Jahrhundert später erscheinende Gefühlsreflexion Brockes ތin der hamburgischen Moralischen Wochenschrift Der Patriot. Die Wochenschrift wurde von 1724–1726 von der Patriotischen Gesellschaft herausgegeben, der auch der wohlhabende Brockes angehörte. Brockes verfasst unter anderen das 43. Stück vom 26. Oktober 1724, das mehrere Neuauflagen erfährt und bis in die siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts gelesen wird, so dass die empfindsame Literatur an diesen Text anschließen kann. 119 Ausgang der Überlegungen sind die „drey verhassten Leidenschaften“ Geiz, Wollust, Ehrsucht, ganz wie Thomasius ތAufteilung der „Haupt-Laster“ dies vorsieht. 120 Interessant ist nun, dass der Erzähler seine Reflexion über den Weg zur Tugend am Schreibtisch beginnt und zu dem Schluss kommt, dass das vermittelte Tugendbild erstens oft nur ein ohne Sinn gefüllter und zweitens ein zu abstrakter Begriff sei. 121 Über diesen Gedanken schläft er am Schreibtisch ein und der bildliche Tugendweg wird als wörtlich genommener abgeschritten und als „ie länger, ie leichter“ in den höchsten Tönen gelobt. Der christlichen Bildlichkeit des schmalen und dornenreichen Pfads der Tugend wird, nachdem diese Vorstellung als falsch offengelegt wird, entschieden widersprochen. Zwar wirken die exzessiven positiven Worte des Lobes über den Tugendweg floskelhaft, aber innerhalb der Traumfiktion als Geschichte – anstelle eines gelehrten ‚Schreibtisch-
_____________ 118 So zum Beispiel ein Spiel im 4. Buch, S. 625. 119 Der Patriot erlebte insgesamt vier Buchausgaben: 1728, 1737/38, 1746/47, 1765. 120 Vgl. dazu auch die Interpretation der Traumallegorie von Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 235f. 121 Der Patriot, S. 413.
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Diskurses‘ – sind sie für ein breites Publikum geeignet, insbesondere für die (männliche) Jugend, für die Brockes ތAusführungen bestimmt sind. Die ‚Wahrheit‘ hinter der Fiktion ist das für unseren Kontext eigentlich Bedeutsame: „nemlich daß die Tugend bloß im vernünftigen Gebrauch unserer Leidenschaften bestehe, folglich nicht unnatürlich, schwer und verdrießlich, sondern natürlich, leicht und angenehm sey.“ 122 Und weiter wird ausgeführt: „Ohne die Leidenschaften höret der Mensch auf, ein Mensch zu seyn. [...] Wer kein Vergnügen suchet, kann seinem Schöpffer nicht dancken. [...] Die Leidenschaften dienen dazu, daß unsere Seelen sich bewegen.“ 123 Damit wertet Brockes die Leidenschaften, solange nicht im Exzess ausgelebt, auf und nimmt ihnen ihre Bedrohlichkeit. Die Tugend dient hier als Verklammerung von ratio und emotio und wird nicht länger als Ziel aller Mühe gedacht, sondern als bereits auf dem Weg lohnenswerte soziale Unternehmung. Es scheint wichtig zu betonen, dass bereits 1724 die Verknüpfung von Vernunft, Gefühl und Natur installiert ist, die auf den Begriff zu bringen noch 1765 für Michael Ringeltaube unlösbar erscheinen muss, wenn er die Wortkette „vernunftsinnlichzärtlich“ 124 zu bilden gezwungen ist. Beide Beispiele, die Landtafel der Freundschaft aus der Clelia und Brockes ތBeitrag zum Patrioten, sind Modelle elaborierter Schriftlichkeit, die als solche durch das Medium der Landkarte und die Schreibtischsituation ausgestellt wird. Auf diese Basis schriftlicher Kommunikation stellt Albrecht Koschorke die literarische Empfindsamkeit. 125 Galante und frühaufklärerische Schriftlichkeit weisen große Ähnlichkeiten in der Verbildlichung von Emotionen auf. In beiden werden Emotionen in einen Landschaftsraum gestellt, personifiziert und gewissermaßen ‚von außen‘ zugänglich gemacht. Dass das Innere nur über das Außen beschrieben ins Verhältnis gesetzt werden kann, wird nicht als semantisches Problem thematisiert. Vielmehr wird diese ‚Kartierung‘ als Fiktion ausgestellt – als Karte und als Weg im Traum. Daraus muss das vorläufige Fazit lauten: Die Rhetorik empfindsamer Emotionen wird in fiktionaler Literatur maßgeblich durch Schriftlichkeit als Reflexionsmoment realisiert. Gleichzeitig wird ihre Plausibilisierung, wie der erzählte Traum bereits andeutet, durch simulierte Mündlichkeit vollzogen, mithilfe derer die Stilebenen gewertet werden: also die Hierarchie von pathos und ethos und ihre Vermittelbarkeit als Darstellung emotio-
_____________ 122 Ebenda, S. 418f. 123 Ebenda, S. 419. 124 Ringeltaube: Von der Zärtlichkeit, § 14, S. 44. Vgl. Dörr: „…bey einer guten Handlung böse Grundsätze zu argwohnen“, S. 59. 125 Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 184 bzw. passim.
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naler Affizierung. 126 Der Tugendtraum, wie im folgenden Kapitel noch zu sehen sein wird, ist ein zentrales Konzept, das auch die empfindsame Literatur dominiert. Die Tradition der Tugendlehre bis ins 18. Jahrhundert wird in dieser Traumreflexion in (früh-)aufklärerischer Manier der kritischen Prüfung unterzogen, so dass Johann Georg Walch im Philosophischen Lexicon bereits 1726 schließt: Unter den Teutschen ist der Herr geheimde Rath Thomasius der erste, welcher die ganze Sitten-Lehre und mit derselbigen die Materie in einen bessern Stand gesetzet. Denn er hat nicht nur in einem programmate, welches p. 67 der kleinen teutschen Schrifften stehet, von den Mängeln der Aristotelischen Ethic gehan127 delt; sondern auch seine vortrefliche Sitten-Lehre herausgegeben.“
Diese kritische Sichtung gewinnt durch die narrative Gestaltung als Traum zweierlei: In ihr lassen sich einerseits auch fiktionsintern Visionen und Befürchtungen unangreifbar formulieren, andererseits verspricht die Sprache eines Träumenden authentische Aufrichtigkeit – und zwar nicht durch Absage an die Vernunft im Schlaf und Beförderung des schwärmerischen Anteils der Empfindsamkeit, sondern durchaus in Einklang mit jener. Den Traum als Element des Dramas wertet auch Lessing nach seiner Lektüre der Trauerspiele Senecas und zwar in Auseinandersetzung mit der antiken Verbildlichung von Träumen auf, indem er vorschlägt, die persönliche Erscheinung der Juno in einen göttlichen Traum eines Priesters zu verwandeln. Er müßte selbst kommen, und es dem Herkulischen Hause erzehlen, was er in seiner Entzückung gesehen, und welche schreckliche [!] Drohungen er gehöret. Diese Drohungen aber müßten in allgemeinen Ausdrücken abgefaßt sein; sie müßten etwas orakelmäßiges haben, damit sie den Ausgang so wenig, als 128 möglich verrieten [...].
Diese Möglichkeit zu empfindsamer Selbsterforschung, aber auch zu visionärer Ankündigung des Unheils macht sich, daran anknüpfend, Lessing in seinem bürgerlichen Trauerspiel Miss Sara Sampson zunutze.
_____________ 126 „Affizierung durch Selbstaffizierung setzt eine erzählbare Welt voraus [...]“, heißt es dazu bei Campe: Affekt und Ausdruck, S. 141. 127 Walch: Philosophisches Lexicon, Leipzig, 1726, S. 2824f. Zuvor werden sowohl die aristotelische wie die senecaische Tugendlehre referiert und die bekannten Stichworte zum mesótes-Ideal (Mitte, Mittelmaß, Tugend) werden sämtlich angebracht. 128 Lessing: Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 560.
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2.2 Das empfindsame Musterdrama (Lessing: Miss Sara Sampson) Die Gattung Tragödie erhält mit der Zuweisung ‚bürgerlich‘ eine neue Schwerpunktsetzung, selbst wenn das als erstes deutsches bürgerliches Trauerspiel bezeichnete Drama Miss Sara Sampson (1755) – wie von Lessing später selbst festgestellt – als ‚bucklichtes Kind‘ 129 oder auch – in der Forschung – ‚nur‘ als „dramatisches Pendant zu den Erfolgsromanen Richardsons“ 130 aufgefasst werden sollte. Schließlich kann das Stück auf eine beachtliche Rezeptionsgeschichte mit 64 nachgewiesenen zeitgenössischen Aufführungen nach Erscheinen 131 verweisen. Lessing beweise, so Christian Heinrich Schmid in der Chronologie des deutschen Theaters von 1775, „wie mächtig er sey, durch Situationen und Sprache die Zuschauer und Leser zu rühren. Alle unsere großen und kleinen Truppen spielen Miß Sara, und sie hört nicht auf zu gefallen.“ 132 Die Analyse der Miss Sara Sampson als empfindsames Musterdrama für die deutschsprachige Literatur muss nicht nur nach dem Verhältnis von Empfindsamkeit und dem Genre des bürgerlichen Trauerspiels fragen, sondern ebenso nach mustergültigen poetologischen Aussagen der Zeitgenossen zu diesem Genre. Karl Eibl hält in seinem Versuch eines Überblicks über das bürgerliche Trauerspiel für das 18. Jahrhundert fest, dass dessen Genremerkmale vornehmlich ex negativo aufgestellt würden, wohingegen ein positiver Merkmalskatalog mehr als vage bliebe. 133 Dagegen
_____________ 129 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 14. Stück – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 6, S. 252. 130 Alt: Tragödie der Aufklärung, S. 192. 131 Wiedemann: Kommentar. – In: Lessing: Miss Sara Sampson – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 1208. 132 Schmid: Chronologie des deutschen Theaters, S. 181. Zum Aufführungskontext beispielsweise in Kochs Theatertruppe schreibt Schmid ebenda, S. 183: „Im April [1756] kam Miß Sara zuerst auf die Kochische Bühne, und Dem. Steinbrecher erhielt in der Hauptrolle Beyfall. Herr Weisse kürzte dies Trauerspiel, weil es für die Aufführung ein wenig zu lang ist, und der Verfasser die Mühe nicht übernehmen wollte.“ 133 Vgl. Eibl: Bürgerliches Trauerspiel, S. 67–69. Ohne die poetologische Festschreibung der ästhetischen Qualitäten dieses Genres hat sich das Interesse am bürgerlichen Trauerspiel zumeist auf sozial- bzw. mentalitätsgeschichtliche Perspektiven zur Konstitution des so genannten Bürgertums verschoben. Szondi hatte bereits festgehalten, dass literaturtheoretische bzw. gattungsgeschichtliche Ansätze gerade in Bezug auf das bürgerliche Trauerspiel immer in Ergänzung mit sozialgeschichtlichen Perspektiven betrachtet werden müssen; zumindest die Kenntnis solch einflussreicher Untersuchungen wie Jürgen Habermasތ Strukturwandel der Öffentlichkeit fordert er ein. Vgl. Szondi: Theorie des bürgerlichen Trauerspiels, S. 69. Vgl. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, darin insbesondere die Ergebnisse zur bürgerlichen Öffentlichkeit, der bürgerlichen Familie und Intimsphäre. Zur Auseinandersetzung mit Habermas vgl. Schiewe: Öffentlichkeit, S. 257f. Holger Böning
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stehen freilich Pfeils normpoetologisch angelegter Text Vom bürgerlichen Trauerspiele (1755) und Friedrich Nicolais Abhandlung vom Trauerspiele (1757), welche das bürgerliche Trauerspiel unter anderen Genreformen berücksichtigt. Beide Texte wurden von der Forschung bislang zu Unrecht wenig beachtet. Daher werden diese Texte im Folgenden, Nicolai in Bezug auf Lessing, Pfeils Poetik als Folie für dessen eigenes Musterstück, berücksichtigt. Überdies hat Cornelia Mönch mit einer Typologie und einer Aufstellung sämtlicher bürgerlicher Trauerspiele die These von der Vagheit des Genres widerlegt. Für die folgenden Textanalysen ist Mönchs Ergebnis wichtig, dass Lessings bürgerliches Trauerspiel strukturell eine Ausnahme bildet. 134 Lessing allerdings trifft zu keiner Zeit normpoetologische Äußerungen. Vielmehr ist für Miss Sara Sampson (1755) der Briefwechsel über das Trauerspiel zwischen Moses Mendelssohn, dem jüngeren Nicolai und dem 1755 von Berlin nach Leipzig gezogenen Lessing maßgeblich. Der für die Trauerspieldiskussion relevante Zeitraum umfasst kaum ein Jahr; er beginnt Mitte 1756 mit Nicolais Bericht über seine Abhandlung des bürgerlichen Trauerspiels 135 und wird im Frühjahr 1757 von Lessing einseitig beendet. 136 Der Briefwechsel offenbart kontroverse Positionen zu Produktions- und Wirkungsästhetik des Trauerspiels und zu Fragen der Gattungslegitimation; da es sich aber um einen Briefwechsel handelt, sind die Überlegungen zuweilen widersprüchlich. In der Vorläufigen Nachricht zur
_____________ warnt in einem Interview in der FAS vom 1. November 2009, Nr. 44 (Wissenschaft, S. 61), dass wissenschaftliche Thesen beispielsweise zu Bildung und Politisierung der Gesellschaft in der frühen Neuzeit häufig spekulativ sind, beispielsweise „diese berühmte These von der ‚literarischen Öffentlichkeit‘, die im 18. Jahrhundert entsteht und in der Folge die politische. Wenn man sieht, was für Diskussionen in einer Stadt wie Hamburg schon im 17. Jahrhundert stattfanden, mit Hunderten von politischen Broschüren, dann erkennt man, dass man eine solche These nur aufstellen kann, wenn man die Quellen nicht kennt.“ 134 Vgl. Mönch: Abschrecken oder Mitleiden, S. 149: „Die These von „Miß Sara Sampson“ als Modellvorgabe des bürgerlichen Trauerspiels oder zumindest seiner empfindsamen Frühform darf damit als falsifiziert betrachtet werden, daß nur ein einziger Text des gewählten Korpus der Bauform von Lessings erstem bürgerlichen Trauerspiel in allen Stücken folgt […].“ 135 Nicolai: Brief Nr. 97 an Lessing vom 31. August 1756 – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 664–667. Zu dieser Zeit ist die Abhandlung vom Trauerspiele bereits im Druck, erscheint allerdings in der verspäteten Ausgabe der Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, 1. Band, 1. Stück von 1757, vgl. Nicolai: Abhandlung vom Trauerspiele – Werke, Briefe, Dokumente, Bd. 3, S. 169–194. 136 Conrad Wiedemanns Vermutungen zur Beendigung des Briefwechsels lauten dergestalt, dass Lessing in dieser Zeit in einer Relektüre der aristotelischen Poetik und Nikomachischen Ethik zu neuen, anders als bislang im Briefwechsel behaupteten Ergebnissen gekommen sei, die er rund zehn Jahre später in der Hamburgischen Dramaturgie ausgearbeitet habe. Vgl. Wiedemann: Kommentar. – In: Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 1385f.
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Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste schreibt Nicolai für das Jahr 1756 einen Preis für das beste Trauerspiel aus, wofür seine Abhandlung vom Trauerspiele, wie er sie Lessing brieflich angekündigt hatte, die Grundlage sein soll. 137 Der Brief an Lessing vom 31. August 1756 enthält die Essenz der Abhandlung und weist die Erregung von Leidenschaften durch die Darstellung der Leidenschaften als Kern der brieflichen Diskussionen aus. Dieser Kerngedanke muss für den heutigen Leser dieser Briefe in den Kontext der langen Tradition der Aristoteles-Auslegung und des anthropologischen Wissens der Zeit gestellt werden. Für Nicolai steht fest, „das beste Trauerspiel [sei] das, welches die Leidenschaften am heftigsten erregt“ 138, und auch Lessing und Mendelssohn stimmen diesem grundsätzlich zu. Nur während für Nicolai allein die Pathokinetik, d. h. die Erregung der Leidenschaften, zählt, erweitert Lessing diese Grundannahme im Antwortbrief durch den berühmten Zusatz, dass das Trauerspiel durch die Erregung der Leidenschaften, und insbesondere des Mitleids, bessern könne. Die Zuspitzung der „Humanisierungsfunktion“ 139 des Trauerspiels im selben Brief ist bekannt: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch [...]“ 140. Lessing sieht also den Menschen durch das Trauerspiel zur ‚Mitleidsfähigkeit‘ durch die Furcht vor dem Erleiden einer gleichen Situation erzogen. Bereits in Aristoteles’ Rhetorik ist dieser Gedanke formuliert: Mitleid sei definiert als eine Art Schmerz über eine anscheinend verderbliche und leidbringende Not, die jemanden, der es nicht verdient, trifft, ein Übel, das erwartungsgemäß auch uns selbst oder einen der Unsrigen treffen könnte [...]. Es ist ja klar, daß derjenige, der Mitleid empfinden soll, gerade in einer solchen Verfassung sein muß, daß er glaubt, er selbst oder einer der Seinen würde ein Übel erleiden [...]. 141
Bezugstext für die Diskutanten ist aber zunächst nicht Aristoteles’ Rhetorik, sondern dessen Poetik, obwohl Lessing, in seinem letzten Brief vom
_____________ 137 Nicolai: Vorläufige Nachricht – Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, Bd. 3, S. 168. 138 Nicolai: Brief Nr. 97 an Lessing vom 31. August 1756 – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 664. 139 Wiedemann: Kommentar. – In: Lessing: Miss Sara Sampson – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 1387. Zur Übersetzungsgeschichte vgl. Schadewaldt: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes, S. 246–288 und zu neueren Ergebnissen vgl. Rapp: Kommentar. – In: Aristoteles: Werke, Bd. 4,2, S. 650f. 140 Lessing: Brief Nr. 103 an Friedrich Nicolai im November 1756 – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 671. Herv. i. Orig. Zum Einübungscharakter der Mitleidsfähigkeit vgl. auch Lessing: Brief Nr. 110 an Moses Mendelssohn vom 18. December 1756, ebenda, S. 698. Grundlegend immer noch Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. 141 Arist. Rhet. II, 1385b. Interessant ist auch, dass Aristoteles nicht nur dasjenige definiert, was Mitleid auslöst, sondern auch Situationen und Stimmungen auflistet, in denen sich ein Mensch befinden muss, wenn er Mitleid empfinden soll (ebd. 1386b).
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April 1757, in dem er Nicolais Abhandlung kommentiert, eine erweiterte Aristoteles-Lektüre für unbedingt notwendig erklärt: Lesen Sie, bitte ich, das zweite und achte Hauptstück des zweiten Buchs der aristotelischen Rhetorik: denn das muß ich Ihnen beiläufig sagen, ich kann mir nicht einbilden, daß einer, der dieses zweite Buch und die ganze aristotelische Sittenlehre an den Nicomachus nicht gelesen hat, die Dichtkunst dieses Weltweisen verstehen könne. 142
Nicolai führt neben Aristoteles als Gewährsmann jedoch insbesondere Jean Baptiste Du Bos mit seinen Réflexions critiques sur la Poësie et sur la peinture 143 (1719) an, aus dessen Lektüre er seine Zuspitzung auf die Erregung der Leidenschaften, gewissermaßen „Emotionalismus pur“ 144, entwickelt. Und nicht nur das: Du Bos entfernt in seiner Horaz-Interpretation das prodesse/docere vollständig zugunsten einer neuen Formel: toucher (remuer) et plaire. 145 Aus dem Gedanken heraus, dass geistige Untätigkeit vermieden und intellektuelles Vergnügen durch emotionale Affiziertheit hervorgebracht werden soll, folgert Nicolai in der Abhandlung vom Trauerspiele: Von dieser Art sind die Nachahmungen der Leidenschaften, die das Trauerspiel hervorbringt; unser Geist wird gerühret, er empfindet auch Schmerz, aber ein Schmerz, der nicht wirklich sondern nur nachgeahmt ist, ist eben deßwegen nicht vermögend die Rührung, welche wirklich geschieht, zu überwältigen; das Unangenehme der Leidenschaft verschwindet also, und es bleibt uns nichts übrig als
_____________ 142 Lessing: Brief Nr. 122 an Friedrich Nicolai vom 2. April 1757 – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 716. 143 Vgl. Du Bos: Réflexions critiques sur la Poësie et sur la peinture, in der deutschen Übersetzung von 1760–61: [Du Bos]: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey. 144 Wiedemann: Kommentar. – In: Lessing: Miss Sara Sampson – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 1387. 145 Vgl. Du Bos: Réflexions critiques sur la Poësie et sur la peinture, 1. Abschnitt des zweiten Teils, S. 1f.: „Le sublime de la Poésie & de la Peinture est de toucher & de plaire, comme celui de l’ éloquence est de persuader. Il ne suffit pas que vos vers soient beaux, dit Horace en style de Législateur, pour donner plus de poids à sa décision; il faut encore que ces vers puissant remuer les coeurs, & qu’ ils soient capable d’ y faire naître les sentimens [!] qu’ ils prétendent exciter.“ Vgl. in der deutschen Übersetzung ebenda, S. 3f.: „Das Höchste, was die Poesie und die Mahlerey thun können, ist, daß sie rühren und gefallen; so wie der höchste Endzweck der Beredsamkeit ist, zu überreden. Horaz sagt, und er sagt es in dem Tone des Gesetzgebers, um seinem Ausspruche desto mehr Nachdruck zu geben: ‚Es ist nicht genug, daß Verse schön sind; sie müssen auch vermögend seyn, die Herzen rühren, und diejenigen Empfindungen wirklich zu erregen, die sie erregen wollen.“ Im Folgenden führt Du Bos, auch unter dem Motto des ut pictura poesis, aus, dass dieses Ziel gerade nicht allein durch die Kunstregeln der Regelmäßigkeit und Zierlichkeit erreicht werde, sondern durch das Genie.
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das Vergnügen gerührt zu werden, als das süße Zittern, das von der Bewegung der Leidenschaft hervorgebracht wird. 146
Indem Nicolai die Darstellung und Erregung der Leidenschaften im Trauerspiel mit der Wirkungsästhetik der Lust an den unschädlichen Emotionen verknüpft, kommt er der aristotelischen Poetik nahe, ohne wie Lessing eine Umdeutung vorzunehmen. Die im medizinischen Sinne heute so ausgedeutete aristotelische Bildlichkeit von der katharsis (Reinigung) als Purgierung bedeutet auch, die Leidenschaften als pharmaka aufzufassen. 147 Darauf deutet auch die zweite Bedeutung des Wortes eleos, dessen Übersetzung heute als Jammer zwar akzeptiert, in jüngster Zeit aber von Rapp wieder mit guten Gründen als Mitleid übersetzt wird, 148 hin, nämlich in der Bedeutung des eleos als Rührung. Diese Bedeutung wird bei Nicolai zum Thema, bleibt allerdings in seiner Abhandlung und erst recht in den Briefen ein unfertiges Konzept, wie er an seinen eigenen Reaktionen auf eine Aufführung der Sara selbst feststellt, die ihn „ungemein gerührt“ 149 habe. Problematisch ist nämlich, „daß [er] bis an den Anfang des fünften Aufzugs öfters geweint habe, daß [er] aber am Ende desselben, und bei der ganzen Scene mit der Sarah, vor starker Rührung nicht habe weinen können [...]“ 150. Seine Schlussfolgerung lautet: „[...] das ist mir noch bei keinem Trauerspiele begegnet, und streitet gewisser Maßen wider mein eignes System von der Rührung in den Trauerspielen.“ 151 Als rührende Trauerspiele bezeichnet Nicolai im Übrigen diejenigen Trauerspiele, die „bloß Schrecken und Mitleiden erregen [...]. Hieher gehören so wohl alle bürgerlichen Trauerspiele, als diejenigen, worinnen ein bloß bürgerliches Interesse herrschet, z. B. Medea, Thyest, Merope, Zaire.“ 152 Eine Ethisierung dieser Rührung, wie sie für Lessing in der Übersetzung als Mitleid relevant wird, nimmt Aristoteles wiederum in der Rhetorik vor: Es sei also Mitleid eine Art von Schmerz aufgrund eines vermeintlichen Übels, das verderblich oder schmerzlich ist, bei jemandem, der es nicht verdient hat, dass ihm derartiges widerfährt, und von dem man | erwarten kann, dass man es
_____________ 146 Nicolai: Abhandlung vom Trauerspiele – Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, Bd. 3, S. 170f. 147 Vgl. Fuhrmann: Nachwort. – Aristoteles: Poetik, S. 161. 148 Rapp: Kommentar. – In: Aristoteles: Rhetorik, Bd. 4,2, S. 649f. 149 Nicolai: Brief Nr. 102 an Lessing vom 3. November 1756 – Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 667. 150 Ebenda, S. 667f. 151 Ebenda, S. 668. 152 Nicolai: Abhandlung vom Trauerspiele – Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, Bd. 3, S. 179. Herv. i. Orig.
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selbst oder einer der Seinigen erleidet, und dies ist der Fall, wenn es nahe scheint [...]. 153
Aristoteles verknüpft das Mitleid mit der Furcht, denn man empfinde „über die Dinge, welche man für sich selbst fürchtet, Mitleid [...], wenn sie bei anderen geschehen.“ 154 Diese Wendung findet sich in Lessings Definition von der Furcht als auf sich selbst gewendetes Mitleid. Lessing schließt, im Gegensatz vor allem zu Mendelssohns Position von der illusionsbrechenden Reflexion, die Bewunderung für das Trauerspiel kategorisch aus, und erteilt somit dem heroischen Trauerspiel eine Absage. Aber auch Nicolais aus heutiger Perspektive eher modern anmutende Position von der ‚Lust am Gefühl‘ reicht Lessing nicht. Zwar wird er seine eigene Position in den folgenden Jahren überdenken, doch zunächst dominiert, mustergültig in der Miss Sara Sampson inszeniert, die Rhetorik der Mitte, das „Prinzip der ‚gemäßigten Leidenschaftlichkeit‘“ 155, das sich insbesondere in der empfindsamen Dramensprache ausdrückt. 2.2.1 Der Tugend-Traum in der Sara Die Figur Sara Sampson ist zwar das Thema schon im ersten Satz – „Hier meine Tochter?“ (I,1,433 156) –, sie erscheint aber erst im sechsten Auftritt des ersten Aktes auf der Bühne. Bevor sie Gelegenheit bekommt, sich selbst durch ihr Sprechen und Handeln darzustellen, wird über alle Männerfiguren dieses Stückes (und Betty, die Sara ankündigt) die Handlungsund Charakterexposition vollzogen. Sie ist das weinende, „beste, schönste, unschuldigste Kind“. (I,1,433) Als liebende, tugendhafte, aber kurzzeitig verwirrte Tochter soll ihr der menschliche, aus Liebe unterlaufene Fehler, die Flucht mit dem Libertin Mellefont, verziehen werden. (ebd. 434) Sara zeigt sich in ihren ersten Auftritten allerdings keineswegs als handelnde Figur, sondern sie setzt zu einer redegewaltigen Traumerzählung an. Diese Traumerzählung ist in der Forschung häufig unter dem Aspekt der Vorausahnung des Endes untersucht worden. 157 Vergleicht man den
_____________ 153 Arist. Rhet. 1385b13–16. Das gesamte achte Kapitel der Rhetorik handelt vom Mitleid. Dass selbstverständlich Aristoteles ތund Lessings Begriff vom Mitleid je andere Parameter zur Grundlage hat, muss nicht diskutiert werden. 154 Ebenda, 1386a26–28. 155 Fuhrmann: Nachwort. – In: Aristoteles: Poetik, S. 161. 156 Die zur besseren Lesbarkeit im Fließtext integrierten Angaben von Akt, Szene, Seitenzahl in den Kapiteln III.2.2.1 und III.2.2.2 beziehen sich auf Lessings Miss Sara Sampson und sind entnommen aus Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 431–526. 157 Lessing selbst begründet den Traum in der Tragödie als Ersatz für die im antiken Drama intervenierenden Götter. Siehe dazu bereits die Bemerkungen in Kapitel III.2.1.2. Vgl. Les-
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Traum der Sara mit dem Tugendtraum im Patrioten, wird deutlich, dass es stückintern zunächst keineswegs um Vorahnungen geht, sondern um die Selbstvergewisserung der eigenen ethischen Haltung und Identität – die Erkenntnis der Vorausdeutung liegt für Sara zu diesem Zeitpunkt noch im Dunkeln. Saras rigorose Tugendvorstellung ist hier Auslöser für den (Alb-)Traum. Die Bildlichkeit folgt dem bekannten Muster des Tugendwegs, von dem die Figur schließlich abkommt. Zunächst schaltet die Traumsituation, die die sonst so „vernünftige Sara“ jetzt kaum von der Realität zu unterscheiden vermag, ihre die Empfindung und das schlechte Gewissen zügelnden rationalen Argumente aus. Dieser Traum wird schließlich zur gewissen Vorausdeutung der Konfrontationsszene mit der Marwood, die Sara hier als ihr ähnliche Gegnerin imaginiert. 158 Sara steht, indem sie Mellefont von ihrem Albtraum erzählen will, vor dem Problem, ihr Herz reden lassen zu wollen: „Ach könnte ich Ihnen nur halb so lebhaft die Schrecken meiner vorigen Nacht erzehlen, als ich sie gefühlt habe!“ (I,7,441) Mellmann analysiert dementsprechend die Traumerzählung Saras als Introspektive. 159 Dennoch folgt die Berichterstattung aus der Distanz geordnet und detailreich. Sara erzählt also bereits in reflektierter Distanz, auch wenn ihre Körperzeichen eine andere Sprache sprechen. Die Dominanz der referentiellen Funktion tut ihr übriges, um die Sprache fern jeder ‚Unmittelbarkeit der Rede‘ anzusiedeln. Wolfgang Lukas hebt hervor, dass die empfindsame Rede und Handlung im Drama als Kontrastfolie zu den höfischen Lasterhaften im Drama und als rhetorische Gegenstimme im Argumentationsspiel fungiere. 160 Anfänglich geäußerte Zweifel an der passenden Gefühlsvermittlung kommen einer captatio benevolentiae gleich. 161 Weil Sara nicht in der Lage ist, ihr Zerrissensein zwischen zwei Männern adäquat zu versprachlichen – noch es überhaupt glaubhaft performativ in Handlung umzusetzen – muss sie den Umweg über die Beschreibung ihres Körpers nehmen. Sie sinkt „mit halb geschlossenen Augenlidern“ (I,7,441) ins Bett, denn sie ist, wie sie erklärt, völlig übermüdet. Aus dem Traum hochgeschreckt, habe sie Betty nur „mit stummen Tränen geantwortet“ (I,4,438) – das verbum dicendi verweist auf die
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sing: Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 560. Darin sieht die auf das Medea-Motiv konzentrierte Forschung eine strukturelle Annäherung der beiden Frauenfiguren über den Medeastoff und damit gleichzeitig die Voraussetzung für Marwoods leidenschaftlichen Ausbruch in die Raserei in dem Moment, da Sara diese Ähnlichkeit negiert. Vgl. dazu: Sanna: Von der ratio zur Weisheit, S. 23f. Mellmann: Emotionalisierung, S. 380–382. Vgl. Lukas: Anthropologie und Theodizee, S. 222f. Vgl. Alt: Tragödie der Aufklärung, S. 201.
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eloquentia corporis und damit verbunden auf die Lesbarkeit der Körpersprache. So äußert sie gewissermaßen programmatisch an anderer Stelle: „Ach, dein Mund sagt nein; und deine eigenen Tränen sagen ja.“ (III,3, 472) Auch jeder andere Affekt muss, zusätzlich zur performativen Umsetzung, in Worte gefasst werden. Sara beobachtet sich also permanent selbst: „Ich erstaune [...]“ (I,7,445) bzw. beobachtet andere: „Sie erschrecken?“ (I,8,446). Ihre Fähigkeit zur Selbstbeobachtung drückt sich in empfindsamer Eloquenz aus, ihre Fähigkeit, andere zu beobachten und einzuschätzen, gelingt nur im Rahmen dessen. Beredter Ausdruck des empfindsamen Charakters ist die Träne als Zeichen ‚sanfter Leidenschaften‘ 162. Indem Natalie Binczek auf die Vagheit des Weinens hinweist, argumentiert sie mit Geitner, dass diese Vagheit ein Zeichen für Entrhetorisierung sei; 163 es lasse sich nicht die Ursache der Emotion daran ablesen, sondern lediglich der Grad der Intensität. Diese Beobachtung trifft auf die meisten Emotionssignale zu, sie sind kulturell überformt und werden als Zeichen auf diese Weise durch Konventionalisierung vereindeutigt und interpretierbar, oder sie bedürfen Hilfsmittel wie der Stimme. Eine Entrhetorisierung verbindet sich damit nicht. Vielmehr wird damit eine milde Form der Abreaktion in den Blick genommen, nicht die völlige Unkontrolliertheit oder Raserei. Die Träne darf als Ausdruck sanfter Leidenschaft nur so stark sein, dass sie als Mittel des ‚Sich-selbst-Fühlens‘ 164 reflektiert werden kann. Neben dem Glauben an die Deutbarkeit dieses körperlichen Ausdrucks tritt das Problem der Versprachlichung auf: Tränen dürfen nur rollen, wenn sie zugleich benannt werden. „In der Empfindsamkeit [...] werden die Tränen gleichsam kommensurabel.“ 165 Die ‚rhetoric of tears‘ 166 ist ein täuschendes Element in diesem ohnehin tränenreichen Stück. Nicht nur Sir William, auch Mellefont weint die erste Träne seit seiner Kindheit (I,5,438) und zeichnet sich so als discipulus der Empfindsamkeit aus. 167 Bei Marwood hingegen zählen Tränen zu den kontrollierten Regungen. Es sind, nach ihren eigenen Worten, Tränen der
_____________ 162 Vgl. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 66. Zur bereits viel erforschten Verbindung von Träne und Empfindsamkeit vgl. den Sammelband: Das weinende Saeculum. Colloquium d. Arbeitsstelle 18. Jahrhundert. Insbesondere die Träne als mediale Schnittstelle zwischen Empfindsamkeit und Pietismus haben neu perspektiviert Soboth: Tränen des Auges; Binczek: Tränenflüsse. 163 Vgl. Binczek: Tränenflüsse, S. 200f. 164 Vgl. Pikulik: „Bürgerliches Trauerspiel“ und Empfindsamkeit, S. 81f. Er erläutert, dass die empfindsame Lust zu leiden der Erklärung entspringt, dass sich der Leidende erst in dieser Empfindung selbst fühlen kann. 165 Binczek: Tränenflüsse, S. 203. 166 Vgl. Ziolkowski: Language and Mimetic Action, S. 271. 167 Vgl. zur Wandlung Mellefonts auch Baasner: Libertinage und Empfindsamkeit, S. 14–41.
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Freude, gepaart mit dem Affekt der Entzückung, ein deutliches Anzeichen für Marwoods sicheren Umgang mit vermischten Empfindungen. 168 Einen Grund für echte Tränen gibt es bei ihr nicht: „Du weinst ja wohl gar? Warum denn?“ (II, 5, 461), fragt sie ihre zwischen den Eltern hin- und hergerissene Tochter erstaunt und entnervt. Als frühere Mätresse Mellefonts findet sich Marwood im semiöffentlichen – und eigentlich der Komödie angemessenen – Schauplatz des Gasthofes ein, nachdem ihre erste Intrige bereits gelungen ist (sie hat Sir William den Aufenthaltsort seiner Tochter verraten, wie sie später zugibt: II,4,459). Die Intrige liegt vor dem Einsetzen der szenisch präsentierten Handlung, die Vorgeschichte wird erst nachträglich aufgeklärt. Marwood hat allerdings noch keinen Auftritt im ersten Akt, nur ein Brief kündigt ihr Erscheinen an (I,9). Der Empfänger Mellefont bekommt daher ausreichend Gelegenheit, Antipathien gegen sie zu streuen. Durch die Expressivität seiner Sprache vermittelt Mellefont ein Bild seines und ihres Charakters: Einerseits zittert er vor ihr, andererseits verflucht er sie schon im nächsten Satz, nennt sie eine „Frevlerin“ (I,9,448) und würde sie am liebsten umbringen. Norton korrigiert und bremst den aufgeregten Mellefont, indem er vor Marwoods nicht zu unterschätzender Attraktivität, die sie geschickt einsetze, warnt. In diesem kurzen Auftritt wird ein janusköpfiges Bild von Marwood entworfen, das zu bestätigen sie in ‚ihrem‘ zweiten Akt (der im Grunde nur ihr gewidmet ist) Gelegenheit bekommt. Schon nach den ersten Sätzen mit Hannah zeigt Marwood im Gespräch ihr wahres Ich: „Scheine ich nicht ein wenig unruhig, Hannah? Ich bin es auch. – Der Verräter! Doch gemach! Zornig muß ich durchaus nicht werden. Nachsicht, Liebe, Bitten, sind die einzigen Waffen, die ich wider ihn brauchen darf [...]“. (II,1,449) Die Frage, durch die sofortige eigene Beantwortung als rhetorisch gekennzeichnet, Emphase, Selbstappell und die Anweisung an ihr eigenes Verhalten, die Rachsucht zu zügeln, erwecken den Eindruck, als redete Marwood zu sich selbst – und in der Tat fungiert Hannah lediglich als Stichwortgeberin. Marwood braucht keine Ratschläge, sie weiß, dass sie warten und sich verstellen muss. Die Frage, was passieren würde, falls diese Verstellung als empfindsame Unterwerfung scheitern sollte und Mellefont darauf nicht reagierte, wird von Marwood aufgenommen und verweist damit auf ein Programm hinter ihrem drohenden „So werde ich nicht zürnen – ich werde rasen“. (II,1, 449) Obwohl sie sich in dem Bild der rasenden Frau noch nicht bewiesen hat, erledigt die Nennung des Stichworts „rasen“ die Festlegung ihres Charakters.
_____________ 168 Vgl. Schenkel: Lessings Poetik des Mitleids, S. 98.
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Weil Marwood in der Welt der Verstellungskunst lebt, sieht sie hinter der Tatsache, dass Sir William seiner Tochter vergibt, lediglich ein abgekartetes Spiel. Sie beherrscht die Klugheitsregeln eines homo aulicus und die Kunst von simulatio bzw. dissimulatio innerhalb dieses Misstrauensdiskurses, den zu durchbrechen Ziel der Empfindsamkeit ist. Marwood ist orientiert an der Reputation und damit an der Tugend, die öffentlich wahrgenommen werden kann, am selbsterhaltenden guten Namen (II,7,463). Sie will und kann „ihr Herz, die ‚Höhle der Seele‘, mit Zeichen, die auf ihren Effekt hin strategisch kalkuliert sind“ 169, umstellen: Ihr zweiter Auftritt konzentriert sich ausschließlich darauf, mit welcher Miene sie vor Mellefont treten soll (II,2,450f.), sie probiert ihre ‚Gesichter‘ vor Hannah aus. Bemerkenswert ist die Ausrichtung ihres Schauspiels auf Mellefont allein; Sara kommt gar nicht mehr vor. Nicht scheint es so, als wäre Marwood das „Relikt“, zu dem sie in der Forschung gemacht wird, sondern Sara wird hier offenbar aus der Titelrolle herausgedrängt, präziser, aus der für Sara überlebenswichtigen ‚Mitte‘. Wie Marwood in der Konfrontation mit Mellefont letztlich beweist, hat sie nicht nur ihre Gestik und Mimik unter Kontrolle, sondern durchschaut auch den empfindsamen Code, indem sie auf das sprachlich unvermittelbare Gefühl abhebt und auffällige Tränen weint (II,3,451). Allein Mellefont scheint anfangs ihre verstellte Sprache dekuvrieren zu können. In einem Beiseite finden seine Gedanken unmittelbar ihren Ausdruck: „Was für eine Schlange!“ (II,3,452) Darüber hinaus wirft er Marwood in direkter Figurenrede ihre Heuchelei vor: „Sie reden vollkommen ihren [!] Charakter gemäß [...]“ (II,3,453) und „welcher Geist [...] redet jetzt aus Ihnen?“ (ebd., 455). Neben der öffentlichen Reputation thematisiert Marwood vor allem Geld und Ehre (ebd.). Indem sie sich aber das Ehrprinzip zu eigen macht, stellt sie sich in absoluten Gegensatz zur ‚Musterfrau‘ Sara, die angeblich auf Ehre und die gesellschaftliche Anerkennung der ‚Welt‘ keinen Wert legt (I,7,442). Marwood ruft damit zum einen ein Element des heroischen Trauerspiels auf und reklamiert zum anderen einen männlichen Ehrenkodex, der sie zum Mann-Weib stempelt und dieses unweibliche Verhaltensmuster mit in die Szene um Arabella transportiert. Sie setzt, da Mellefont fliehen will, ihre Tochter skrupellos als Instrument des Mitleids ein („Soll ich denn umsonst Mutter sein?“ II,4,457). Die Mitleid-Strategie verwendet sie als Waffe, ihre Kaltherzigkeit steuert die Raserei auf einer rationalen Ebene. Allerdings fällt es ihr durchaus schwer, die Rolle der Bittstellerin durchzuhalten, wenngleich sie darin eine Zweckmäßigkeit, die Rolle als Waffe, erkennt. Marwood ist insofern überlebensfähig, als sie
_____________ 169 Stanitzek: Blödigkeit, S. 20f.
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nicht nur die Rhetorik der Empfindsamkeit beherrscht, sondern auch deren Schwachpunkte identifiziert hat. Erst in dem Moment, als Mellefont Marwood unvorbereitet antrifft, muss sie ihn hastig fragen: „Was ist das wieder für eine Sprache?“ (II,6,461) Sogleich hat sie sich aber wieder gefangen und droht ihm: „Nur gemach, Mellefont, oder auch ich werde diese Sprache sprechen.“ (ebd.) Ihre eloquentia, d. h. ihre rhetorischen Kenntnisse und Flexibilität in der Wahl der Sprachcodes stellt sie ebenso unter Beweis, wenn sie spöttisch anmerkt: „Drücken Sie sich ohne so gelehrte Anspielungen aus.“ (II, 7, 462) Die Situation schlägt nun um, da sich Mellefonts Mitleid nur auf das Kind bezieht, nicht auf Marwood. Dass hier, durch die Stilisierung Marwoods zur grausamen Mutter, eine bewusst intertextuelle Anspielung auf das Medea-Motiv gegeben wird, macht Lessing überdeutlich, indem er der Marwood-Replik die Aufrufung des Mythologems unmissverständlich einschreibt und so eine Durchbrechung der Rollenfiktion in Kauf nimmt: „Sieh in mir eine neue Medea!“ (II,7,464). Metasprachlich betrachtet verweist das Attribut ‚neu‘ auf die lange Motivtradition, in die die MarwoodFigur hierdurch eingereiht wird und mit deren Hereinholen in das Trauerspiel des 18. Jahrhunderts Lessing mehr bezwecken musste als nur elaborierte Anspielung. 170 Rund zwölf Jahre später, in der Hamburgischen Dramaturgie, unterbreitet er eine Auslegung der Medeafigur, an der sich sein Versuch, das ‚böse Prinzip‘ psychologisch zu motivieren, ablesen lässt: „Denn alle Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zärtlichen, eifersüchtigen Frau, will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu heftig.“ 171 Auch die Epitheta der Marwood deuten auf die Medea-Rolle hin: Sie sei böse (I,3,437) und verrucht (I,9,447), barbarisch und gefährlich (II, 4, 458), eine wollüstige, eigennützige, ‚schändliche‘ Buhlerin (II,7,462), Furie (II,8,465) und Wespe (IV,4,493). Selbst der Drachenwagen, näher ans zeitgenössische Publikum herangeholt als Reisewagen, wird aufgerufen (V,5,516). Vor allen Dingen wird sie als Prostituierte, „Schande ihres Geschlechts“ (II,6,462), an den Rand der Gesellschaft gedrängt und durch ihren unziemlichen Drang nach Selbstverwirklichung, in die Außenseiterposition gezwungen. Dagegen werden ihr, durch die Stofftradition als fabricator doli, die Sympathien, die man einer verlassenen, um ihre Rechte und um ihre Liebe kämpfenden Frau entgegenzubringen vermag, abge-
_____________ 170 Durch die Beschäftigung mit Seneca angeregt (Trauerspiele des Seneca), zeigte sich Lessing besonders interessiert an der ‚Raserei‘ (1. Abhandlung: Hercules furens). Vgl. auch Lessing: Brief Nr. 922 an Karl Lessing vom 14.07.1773 – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 11/2, S. 567. Der Medea-Stoff tritt über Horaz’ ars poetica an ihn heran. 171 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 30. Stück – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 6, S. 331.
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nommen. Sie nimmt sich auch selbst jedes Mitgefühl von Seiten des Rezipienten, indem sie sich ganz vom furor totus einer senecaischen Medea gefangen nehmen lässt: Ich will es [das Kind] nicht gestorben; ich will es sterben sehen! Durch langsame Martern will ich in seinem Gesichte jeden ähnlichen Zug, den es von dir hat sich verstellen, verzerren und verschwinden sehen. Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied, Ader von Ader, Nerv von Nerve lösen, und das kleinste derselben auch da noch nicht aufhören zu schneiden und zu brennen, wenn es schon nichts mehr sein wird, als empfindungsloses Aas. Ich, ich werde wenigstens dabei empfinden, wie süße die Rache sei! (II,7,464)
Bis zu diesem Zeitpunkt ist Marwood allerdings keineswegs in unkontrollierte Raserei verfallen; sie steigert sich sprachlich vielmehr jetzt in diese hinein, bevor sie mit dem Dolch auf Mellefont losgeht, denn die Sprache dient hier der „affektive[n] Selbstaufreizung“ 172; „nicht umsonst ist ‚die Marwood‘ eine Parforcerolle der Schauspielerinnen gewesen“ 173. Der Dolch symbolisiert ihre Fähigkeit zur Wandlung. Im ersten Moment droht sie dem Kind den Dolch an, dann überfällt sie Mellefont und ‚will‘ den Dolch vermeintlich schließlich auf sich selbst richten. Der Dolch als materialisierte Sophistik ist letztes Mittel nach Einschmeicheln, Argumentieren, Drohen. Der Mordversuch – die Handlung, nicht die Rede – kann vermitteln, dass es Marwood durchaus ernst meint mit der Drohung, ihr Kind zu töten. Bemerkenswert ist allerdings, dass sie bei Lessing nicht zur Kindsmörderin wird. Letzten Endes aber benutzt nur Mellefont den Dolch als sichtbares Mordinstrument, um sich damit selbst umzubringen, während Marwood eine raffiniertere Mordmethode wählt, die nicht sofort offensichtlich ist: langsam wirkendes Gift. 174 Über Drohungen jedoch geht sie nicht hinaus und handelt, gemäß dem Gemeinplatz einer die Stimmung ‚vergiftenden‘ Frau, doppelzüngig und heuchlerisch. 175 Was sie aber als alleinige Handelnde im Stück überhaupt bewirkt, ist zumindest eine erneute Intrige, das Treffen mit Sara als verkleidete Lady Solmes und die Anstiftung Mellefonts zur Lüge. Und obwohl sie nicht verrät, wie sie das umzusetzen gedenkt, zeigt das Unausgesprochene Wirkung (III,2,470). Indem nun der Rezipient den Verweis auf den Medea-Mythos erhalten hat, ist er in Hinsicht auf das Treffen der Kontrahentinnen durch einen Informationsvorsprung ausgestattet: Medea
_____________ 172 Port: Pathosformeln, S. 129. 173 Daunicht: Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland, S. 287. 174 Vgl. dazu die Ergebnisse Kords: Murderesses in German writing, S. 154–165. Sie widerlegt die Zuschreibung von Giftmord und Frau statistisch und deckt die Zuschreibung von einer so genannten natürlichen Veranlagung zum Giftmord auf. Das Bild der Frau als ‚natural poisoner‘ ist selbstverständlich konstruiert, auch wenn der Neue Pitaval anderes suggeriert. 175 Vgl. Kollmann: Gepanzerte Empfindsamkeit, S. 48.
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bringt Kreusa um. Das erste Aufeinandertreffen Marwoods mit Sara bleibt (noch) ohne Folgen, weil Marwood sich kaum zu kontrollieren weiß, so dass Sara etwas bemerkt, was sie aber nicht zu deuten vermag: „Was seh ich, Lady? Sie haben sich entfärbt? Sie zittern? Was fehlt ihnen?“ (III,6,483). Marwood bekommt so mit dieser Gegnerin zumindest eine zweite Chance, ihre Rolle als Lady Solmes erfolgreich zu spielen. Sie selbst gibt Auskunft über ihr Rollenverhalten: „Ich spiele meine Rollen nicht gern halb.“ (IV,4,495). Gegenüber solcher Verstellung beharrt der empfindsame Mensch auf seinem Glauben an die Wahrhaftigkeit der Physiobzw. Pathognomik: „Du wirst ihre ganze Seele in ihrem Gesichte lesen“, beauftragt Sir William seinen Diener (III,1,468). 176 Über die Physiognomik, im 18. Jahrhundert in der Anthropologie verankert, soll eine Identität von Körper und Seele hergestellt werden, indem vom Äußeren auf das Innere geschlossen wird. Den Empfindsamen jedoch täuscht entweder die Maskenhaftigkeit zum Beispiel einer Marwood oder auch die eigene Fehlinterpretation. Hilflos ausgeliefert erscheint Sara der verkleideten Lady Solmes, als Mellefont das Zimmer verlässt. Marwood versucht sich selbstbewusst mit Sara gegen die ‚Mannsperson‘ Mellefont (IV,8,504) und die Männer im allgemeinen zu verbünden und sie tut dies auf ihre übliche, geschulte Art zu reden: „Wir Frauenzimmer sollten billig jede Beleidigung, die einer einzigen von uns erwiesen wird, zu Beleidigungen des ganzen Geschlechts und zu einer allgemeinen Sache machen...“ (ebd. 500). Solche allgemeinen Bemerkungen ähneln der schematisierten räsonnierenden Rede Saras, nur haben beide je ein anderes ergebnisorientiertes persuadere als Ziel vor Augen. Sara hat das ‚Sympathie-Ethos‘ im Sinn: Gemäß diesem will sie ihr Gegenüber von der eigenen Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit überzeugen – es geht also um sie als Rednerin und Mensch selbst. Marwoods persuadere – Überzeugung oder auch Überredung – ist das der Erschütterung. Das dem zugeordnete pathos wendet Marwood ebenso klug an, wie sie die ‚Rhetorik der Mitte‘ in ihrer Rolle als Lady Solmes ‚kopiert‘. Insofern darf sie sich erfolgreich nennen, da Sara zunächst mit Marwood mitfühlt. Beide reflektieren sich selbst und suchen Wege der Rehabilitation. Insofern steht nicht zur Debatte, dass Marwood eine überkommene rhetorische Rede führt. Erst gegen Ende der achten Szene „schlägt dieser Identifikationsprozeß jedoch in sein Gegenteil um: Sara lehnt auf der rationalen Handlungsebene jene Gemeinsamkeit, die sie einen Augenblick zuvor noch auf der emotionalen Ebene mit Marwood verbunden hatte, ab.“ 177
_____________ 176 Vgl. dazu Kap. V in dieser Arbeit. 177 Sanna: Von der ratio zur Weisheit, S. 24.
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Der Auslöser für Saras Wutausbruch ist höchst interessant – sobald die Rede auf sie, Sara, kommt und ein Vergleich zwischen ihrem Verhalten und Marwoods gezogen wird, fängt die sonst so selbstlose Sara an, diese Verbindung zu dementieren. Sobald sich also ihre Selbstvorwürfe in echte Vorwürfe verwandeln, ist es mit der Empfindsamkeit vorbei. In einer Ansprache, die den ‚Beweis‘ ihrer Unschuld („Es ist etwas ganz anderes, aus Unwissenheit auf das Laster zu treffen“, IV,8,508) und ihr Leidenspensum vereint darstellt, kann nur eines ihren Redefluss beenden: das verzerrte Gesicht ihres Gegenübers. Die Mimik auf der Bühne wird durch die Sprache verdoppelt und dadurch gleichsam beglaubigt: „Ich erschrecke, Lady; wie verändern sich auf einmal die Züge ihres Gesichts? Sie glühen; aus dem starren Auge schreckt Wut, und des Mundes knirschende Bewegung– [...]“ (ebd.). Die nichtsahnende Sara vermag dementsprechend nichts daraus zu schließen. Der Rezipient allerdings kann mithilfe des Medea-Motivs eine Entwicklung in der Figur der Marwood nachvollziehen. Deren Plan, den Liebhaber zurückzugewinnen, schwenkt, durch Eifersucht und Ehrbeleidigung angestachelt, um in den Mord an ihrer Konkurrentin – das dramaturgisch wirkungsvolle Schwanken zwischen bouleumata (Plänen) und thymos (Raserei). Die naive Rede Saras: „Ist das die Sprache einer Anverwandten?“, deren Zweideutigkeit ihrer beinahe spottet, verleitet Marwood spontan dazu, gegen ihr Kalkül zu handeln. Als diese Figur – in vollem Triumph – aus der Rolle der Lady Solmes fällt, führt dies zur anagnorisis: „Sie, Marwood? – Ha! Nun erkenn ich sie [...]!“ (IV,9,509). Letztgültige Sicherheit über Marwoods wahren Charakter erhält jedoch nur der Rezipient durch die diese Konfrontationsszene umrahmenden Monologe der Marwood. Der Monolog bildet die einzige Gelegenheit, das wahre Gesicht unter der Maske der Verstellung zu zeigen, wiederum in versprachlichter Form: „Kann ich unbemerkt einmal Athem schöpfen, und die Muskeln des Gesichts in die ihnen jetzt natürliche Lage fahren lassen?“ (IV,5,496). Sie legt im Monolog ihre Inszenierungstechnik offen, wenn sie sagt: „Ich bin nun nicht mehr Marwood.“ (IV,5,497) Sie benennt ihren Zustand präzise als den der „ohnmächtigen Rachsucht“ (IV,5,496) und analysiert ihr Verhalten auf Erfolg hin. „It is noteworthy that she does not discuss her inner emotional state [...] but her outward appearance.“ 178 Lessing stellt dar, wie viel Kraft Marwood körperlich aufbringen muss, um die Verstellung aufrecht zu erhalten.
_____________ 178 Ziolkowski: Language and Mimetic Action, S. 271f.
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Die Forschung, gleichwohl gespalten, 179 sieht darin die Annäherung der Marwood-Figur an die Rolle der Medea, gewissermaßen im Prozess des ‚Medea fiam‘ zum ‚sum‘. Doch gleich ob ‚Erfolgsstrategie‘ durch Adaption der Medea-Rolle oder zweite Natur, Marwoods Charakter ist aus intertextuellen Einzelelementen zusammengefügt, aus deren Bezügen diese Figur nicht herauszulösen ist. Indem Marwood aber eine Rolle spielt, ist sie flexibel, kann aus ihrer Rollen-‚Haut‘ heraustreten und ist folglich nicht eindeutig zuzuordnen. Später weist Friedrich Schiller in der Vorrede zur ersten Auflage der Räuber darauf hin, dass die antike Medea-Figur „bei all ihren Greueln noch ein grosses staunenswürdiges Weib“ bleibe, denn: Wenn es mir darum zu thun ist, ganze Menschen hinzustellen, so muß ich auch ihre Vollkommenheiten mitnehmen, die auch dem bösesten nie ganz fehlen. Wenn ich vor dem Tyger gewarnt haben will, so darf ich seine schöne blendende Flekenhaut nicht übergehen, damit man nicht den Tyger beym Tyger vermisse. Auch ist ein Mensch, der ganz Bosheit ist, schlechterdings kein Gegenstand der Kunst, und äussert eine zurückstoßende Kraft, statt daß er die Aufmerksamkeit 180 der Leser fesseln sollte. Man würde umblättern, wenn er redet.
Diese Ambiguität im Verhalten droht dem Mann (Mellefont) und der Kleinfamilie (den Sampsons) zur Gefahr zu werden. Ein Ausschluss aus dem ordo bedeutet aber für Marwood gerade keine Isolation, aus der heraus sich nicht agieren ließe, denn „ist eine Frau einmal aus der Sphäre der Kleinfamilie verstoßen, so kann sie in Lessings Dramaturgie wie in der ganzen Gattung des bürgerlichen Trauerspiels außergewöhnliche Rechte für sich in Anspruch nehmen – im Guten wie im Bösen.“ 181 Dies manifestiert sich am Dramenschluss. Marwood, die gar nicht mehr auftaucht und in das utopische Schlusstableau nur über ihren Brief – die Schrift – hereingeholt wird, kann entkommen. Dieser Brief, der den Botenbericht über den Hergang der Vergiftung ersetzt, offenbart mit den Auslösern „Rache und Wut“ (V,10,523) ihren Mord im Affekt. Paradoxerweise muss Marwood Sara also erst auslöschen, um ihr zu ‚sittlicher Größe‘ zu verhelfen.
_____________ 179 Vgl. die Gleichsetzung von Marwood als einer ins hic et nunc geholten Medea vertreten bei Barner: Produktive Rezeption, insbesondere S. 40; die wesenhafte Verbindung von Sara und Marwood und die Entwicklung zu einer Medea durch Saras Ablehnung bei Sanna: Von Miss Sara Sampson zu Emilia Galotti, S. 47–51; das Aufrufen des Medeastoffes zur Intensivierung des Schreckens bei Schenkel: Lessings Poetik des Mitleids, insbesondere S. 172. 180 Schiller: Die Räuber – Werke (Nationalausgabe), Bd. 3, S. 7. 181 Scheit: Dramaturgie der Geschlechter, S. 84. Und darüber hinaus auf S. 81: „Im bürgerlichen Trauerspiel wird der Leib der bürgerlichen Frau von den schmutzigen Fingern des Adels reingehalten dadurch, daß sie von ihren Autoren getötet wird.“ Zum Verhältnis von männlicher Kultursicherung und weiblichem Tod vgl. Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. 112.
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Kein ethos ohne pathos also: Die Konstellation einer als Tugend ausgestellten Mitte ist nur mittels des Zerrbilds vom rasenden Weib zu realisieren, durch das die ‚schwache Tugend‘ schließlich doch zu einem Vorbild in der Welt erhoben wird. Daher ist es nicht sinnvoll, über die ‚Rückhol-These’ der jungen Frau in die patriarchale, wenngleich empfindsame, Kleinfamilie durch ihren Tod zu diskutieren: So behauptet Lukas, dass der Vater seine Tochter bzw. Marwood die Kontrahentin vor dem Verführer Mellefont rette: „Genau insofern kann die Ermordung durch die Marwood eine Rettung sein für Sara, wie sie es im Traum antizipiert.“ 182 Selbst wenn durch diese Aussage die Schuld von Marwood auf Mellefont gewälzt wird, so ist es doch eindeutig, dass es sich wohl nie um eine Rettung handelt, wenn die Rettung den Tod bedeutet. In diesem Drama scheint die Empfindsamkeit, die von Sara normativ rezipiert wird, nicht zu tugendethischem Handeln zu befähigen, denn Sara wendet zum einen die Krise nicht ab, indem sie die Aussprache mit ihrem Vater sucht, der ähnlich blockiert erscheint. Zum anderen verhindert Saras Verständnis von Empfindsamkeit, das bloß rhetorische Spiel mit der Aufrichtigkeit dekuvrieren zu können und sich damit vor der Mörderin zu schützen. Ist es aber wirklich denkbar, so die aus dem Traum resultierende Frage, dass Sara zu einer Marwood wird, die, wie sie im Aufeinandertreffen suggeriert, selbst einmal unbedarft und tugendhaft gewesen sei? Letztlich liegt die Antwort in dem Verzicht Saras auf diese Rhetorik, indem sie ihrer Möderin vergibt und ihren Tod auf sich selbst bezieht; die Absage an die poetische Gerechtigkeit erhebt Sara zu eigentlicher Größe. Die Rhetorik der Verstellung (Marwood) und die Rhetorik der Empfindsamkeit (Sara) markieren und trennen jeweils die Rollen. Trotz der Nobilitierung der Empfindsamkeit durch die ars moriendi Saras weist letztlich das ‚Musterstück‘ der Empfindsamkeit ihr Scheitern aus – die Gegnerin Marwood überlebt. Saras Tugendrigorismus, nicht allein die rachsüchtige Marwood, ist somit mehr als nur die für den gemischten Charakter notwendige hamartia, nämlich vielmehr der Auslöser der Katastrophe. Sara selbst ist des Mitleids für Marwood nicht fähig und sie ist überdies nicht in der Lage, sich selbst zu verzeihen und dem Vater im positiven Sinne zu unterstellen, dass er kein Patriarch ist. 183 Allerdings gerät sie durch den Anfangsfehler nicht weiter in den Strudel des Lasters, sondern sie wehrt sich dagegen. So stellt sich der Höhepunkt des Dramas nicht bereits im dritten Akt ein, sondern die Konfrontation der Antagonisten wird vom dritten Akt auf den vierten überstellt. Eibl kennzeichnet die Konfrontationen des dritten Aktes –
_____________ 182 Lukas: Anthropologie und Theodizee, S. 273. 183 Vgl. Mellmann: Emotionalisierung, S. 391.
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Diener statt Vater und Lady Solmes anstelle Marwood – als ‚StellvertreterGegenüberstellungen‘. So nehme Lessing den Konfrontationen die gefährliche Spitze und werte den vierten Akt auf als Konfrontation Saras mit ihrem eigenen Gewissen, als sie den Brief zu schreiben versucht. 184 Bemerkenswert ist aber ihre grundsätzliche Fähigkeit, sich empfindsam auszudrücken. Ihr Scheitern hingegen, einen empfindsamen Brief zu verfassen, liegt nicht etwa an der Ergriffenheit durch einen Affekt, sondern vielmehr an einer falschen Vorstellung von (empfindsamer) Tugend als Fehlerlosigkeit, von der Mellefont hellsichtig formuliert: „So ist kein Mensch tugendhaft; so ist die Tugend ein Gespenst, das in der Luft zerfließet, wenn man es am festesten umarmt zu haben glaubt; [...] so ist die Lust uns strafen zu können der erste Zweck unsers Daseins [...]“ (I,7,443f.). 2.2.2 Simulacra virtutum: Schein-Tugenden Ein ‚Tugendengel‘ ist Sara nicht. In den Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit (1733) Johann Christoph Gottscheds heißt es zur Tugendlehre, die nach antikem Modell das Glück zum Ziel hat: „Nun heißt die Fertigkeit das Gesetz der Natur zu beobachten, die Tugend [...]: und also ist die Glückseligkeit eine unausbleibliche Belohnung der Tugend. Ein Tugendhafter muß notwendig glücklich werden!“ 185 Dass der Begriff der Tugend so eindeutig in Lessings bürgerlichen Trauerspiel nicht ist, liegt auf der Hand; im Gegenteil muss in Frage gestellt werden, inwieweit hier nicht simulacra virtutum, also Scheintugenden verhandelt werden, was ein größeres Verbrechen wäre als bloße Unwissenheit gegenüber Tugendlehren. In Walchs Philosophischem Lexicon heißt es im Artikel „Tugend“ über Scheintugenden, dass jemand zwar den Anschein mache, tugendhaft zu handeln, aber innerlich nicht davon überzeugt sei. 186 So kann nach außen hin tugendhaftes Handeln darin motiviert sein, einer Strafe zu entgehen; als Beispiel wird genannt, dass eine Beleidigung unterlassen werde (was im Grunde Zeichen tugendhaften Verhaltens ist), weil sich der Betreffende keinen Ärger einhandeln wolle, möglicherweise aber innerlich gewissermaßen fluche und in jedem Fall die Beleidigung im geschützten Raum aussprechen würde. Damit wird ein Problem offensichtlich, das sich durch die Miss Sara Sampson paradigmatisch zieht: Es handelt sich um das Problem der Sicht-
_____________ 184 Vgl. Eibl: Bürgerliches Trauerspiel, S. 77f. 185 Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, II, 4. Hauptstück, § 75. 186 Walch: Philosophisches Lexicon, Art. Tugend, S. 1204–1226, hier S. 1205.
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barkeit und der Offenlegung des Inneren, damit Distanzierung von den simulacra virtutum glaubhaft gelingt. Die vom Wirt zum „Weibchen, oder was sie ist“ (I,2,435) abgestempelte Sara handelt gleichwohl, wenn sie später zu Wort kommt, im Sinne der aufklärerischen Reflexionsfähigkeit, sehr viel selbstbestimmter, als man sich nach dieser Exposition denken dürfte. Eine gänzliche Offenlegung ihrer Gefühle versucht sie, als sie sich setzt, um einen Antwortbrief an ihren Vater zu verfassen. In diesem einzigen Monolog richtet sie den Blick auf das leere Papier und nach innen auf ihre Gefühlsverwirrung: Weiß ich aber schon, was ich schreiben soll? Was ich denke; was ich empfinde. – Und was denkt man denn, wenn sich in einem Augenblicke tausend Gedanken durchkreuzen? Und was empfindet man denn, wenn das Herz, vor lauter empfinden, in einer tiefen Betäubung liegt? (III,4,479)
In einer Kette rhetorischer Fragen erörtert sie gerade diese Diskrepanz von unmittelbarem Gefühlseindruck und Versprachlichung. Saras rhetorische Fragen sind, neben der elliptischen Reihung indirekter Fragesätze, prägnant parallel angeordnet und heben so das Thema, das Verwobensein von Denken und Fühlen und das Dilemma von Verspachlichung und Textfixierung, deutlich heraus. Eine Annäherung an ein natürliches Sprechen versucht Lessing hingegen über den Einsatz von Gedankenstrichen 187 als syntaktische Anzeichen für einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit oder Stocken in der Rede zu vermitteln. Es ist der zaghafte Versuch, die Sprache der Empfindsamkeit als ungebrochene Darstellung wahrhaftiger Eindrücke zu erproben. Daraus folgt jedoch die Problematik der rhetorischen Illusion, dass das empfindsame Sprechen immer auf Verstehen stoßen soll und das potentielle Missverstehen somit ausgeblendet wird. In der empfindsamen Rhetorik ist kein Missverstehen vorgesehen, sonst könnte auch Sara Marwood durchschauen. Insofern dieser nicht-aktionale Monolog über Saras Gemütsverfassung ‚informiert‘, kommt es in dieser Szene zu keiner Entscheidung, die die verfahrene Situation beeinflussen könnte. Selbst die ursprünglich von ihr beabsichtigte Handlung (der Brief an den Vater) wird nicht ausgeführt. Allem Zögern zum Trotz muss Sara in diesem Monolog wenigstens davon reden, dass sie sehr wohl zum Briefeschreiben in der Lage sei – als Ausweis ihrer empfindsamen weiblichen Qualität. Sie ist zögerlich, sich schriftsprachlich festzulegen. Sara bespricht ihr Zögern, den Brief zu schreiben (dessen Adressat im Nebenzimmer wohnt!), so lange, bis sie unterbrochen wird. Bestimmte Lösungswege werden folglich
_____________ 187 Vgl. Wentzlaff-Mauderer: Wenn statt des Mundes Augen reden, S. 67. Isabelle WentzlaffMauderer hat die Gesamtzahl der Gedankenstriche in Miss Sara Sampson gezählt und ist auf 546 gekommen.
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nicht durch Handlung verhindert, sondern durch das Sprechen über die innere Unentschlossenheit. Das sprachliche Schwanken ist ein somit stark retardierendes Moment. Da es viel Raum einnimmt und meistens im Sinne einer Vergewisserung des eigenen Selbst monologisch, weniger dialogisch, erprobt wird, finden sich in Miss Sara Sampson selten Dialoge stichomythischen Stils oder prägnant appellativer Sprache. Dieses Schwanken, Zögern und die Sprachlosigkeit kann (!) man verstehen als die nicht vorhandene innere Wandlungsfähigkeit Saras. 188 Überzeugender erscheint jedoch der Gedanke, dass die non-verbalen Passagen nicht als ‚Unfähigkeit‘, das Innere sprachlich an die Oberfläche zu holen, sondern als Notwendigkeit Verwendung finden, um die ganze Bandbreite der Empfindungen ausschöpfen zu können; Alexander Košenina zieht dazu Lessings spätere Aussage heran, dass die Sprache nicht alles („alle Nüancen“) ausdrücken könne. 189 Je heftiger Sara versucht, ihr Ich als empfindsam zu begrenzen, desto mehr verliert sie sich hypochondrisch in einer, wie Eibl es bezeichnet, „Mauerschau von Innenvorgängen“ 190, desto mehr distanziert sie sich durch die Rede vom ‚eigentlichen Gefühl‘: „Wie stark schlägt mein Herz, und wie unordentlich schlägt es!“ (IV,1,486). Und als ob sie sich nicht damit zufrieden geben könnte: Es schlägt ‚stark‘, ‚geschwind‘, ‚matt‘, ‚bänglich‘, ‚zitternd‘ (ebd.). Ihre ‚Redefähigkeit‘ in jedweder Situation bringt Sara in der Forschung den Vorwurf ein, die Empfindungen lediglich herbeizureden und antizipierend zu zerreden – gewissermaßen um der Gefahr des spontanen Gefühlseindrucks zu entgehen: „[...] einem schmerzvollen ‚Ach‘ folgt immer eine lange erklärende Redesequenz. Statt auf eine Überraschung (und gar auf eine freudige) spontan zu reagieren, zwängt sie die Empfindungen in das Korsett argumentationslüsterner Bedenklichkeit. Sara besteht nur aus Sätzen und in Sätzen.“ 191 Dies ist jedoch, nicht einschränkend, sondern durchaus als positiv zu betrachten, das Prinzip der lessingschen Kritik und ihre rhetorische Realisierung. Denn Sara ist bis in die letzte Sekunde ihres Lebens (und sie stirbt immerhin entgegen der Gattungsnorm auf der Bühne) aufgrund ihres reflektierten rationalen Sprechens die dominante Figur – sie beherrscht die ars moriendi und regelt den Erhalt der bürgerlichen Kleinfamilie, den Diener eingeschlossen, und erteilt, schon „halb ein Engel“ (V,10,524), Vergebung. Damit kontrastiert sie wirkungsvoll die
_____________ 188 Vgl. Pütz: Die Leistung der Form, S. 126. 189 Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 32–33; das herangezogene Zitat entstammt dem 49. der Briefe, die Neueste Litteratur betreffend – Werke in zwölf Bänden, Bd. 4, S. 608. 190 Eibl: G. E. Lessing, S. 147. 191 Pütz: Die Leistung der Form, S. 133.
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kurzen, empathischen Aussprüche Mellefonts, der sich schließlich selbst tötet. Sein Tod, so Romana Weiershausen, zeige die Unvereinbarkeit zweier Welten, für die exemplarisch die Sampsons und Marwood stehen, und sie geht sogar soweit, Mellefont als den „heimlichen tragischen Helden dieser Umbruchszeit ins Zentrum des Geschehens“ 192 zu rücken. Sara und Marwood hingegen verbindet, dass beide im empfindsamen Code agieren. Beide reagieren allerdings auf unterschiedliche Weise. Marwoods Flexibilität zeigt sich nicht nur dadurch, dass sie potentielles Missverstehen einkalkuliert, sondern dass sich ihr Erfahrungswissen auch auf andere Diskurse erstreckt. Sara hingegen stellt sich selbst ins Abseits, indem sie die Mitte aus den Augen verliert, und das bedeutet insbesondere den tätigen Aspekt der Empfindsamkeit: Sie sieht nur noch sich selbst. Zu diesem Selbstmitleid kommt ihr internalisiertes Tugendbild hinzu, das mehr dem dornigen als dem leichten Tugendweg gleicht. 193 Sara wird dadurch hinter die Empfindsamkeit des Vaters oder des Dieners zurückgeworfen. Erst die Rigidität ihres undifferenzierten Urteils über Marwood ist der Strick, über den sie letztlich stolpert, nicht aber ihr, wie Sir William immer wieder betont, verzeihlicher Fehltritt und die Suche nach der rechten Mitte zu Anfang. Dies bildet auch die Parallele zur Lucie Woodvil, die ebenso rigide an der Unentschuldbarkeit des Fehltritts und der vermeintlichen Konsequenz einer unvermeidlichen Lasterkarriere festhält. 2.3 Kein ethos ohne pathos (Pfeil: Lucie Woodvil) Die Beobachtung, dass sich neben Lessings bürgerlichen Trauerspielen insbesondere derjenige ‚Typ‘ eines bürgerlichen Trauerspiels entwickelt hat, der der poetischen Gerechtigkeit folgt, ist durch den alleinigen Fokus auf die Höhenkammliteratur lange Zeit außer Acht gelassen worden. Das bürgerliche Trauerspiel Miss Sara Sampson endet in einer Familienutopie durch die Adoption der Arabella. Der eigentliche Störenfried Marwood aber triumphiert (besonders auch deshalb, weil sie die Familie als völlig zerstört wähnen muss) und bleibt frei und ungerichtet. Dieser offensichtliche Bruch Lessings mit dem Modell der poetischen Gerechtigkeit ist für Johann Gottlieb Benjamin Pfeil undenkbar, der in seiner Poetik Vom bür-
_____________ 192 Weiershausen: „Wo ist die Gabe der Verstellung hin?“, S. 82. 193 Vgl. Kord: Unmöglichkeiten. Vater-Tochter-Dramen, S. 110–113. Kord erläutert stichhaltig, wie im bürgerlichen Trauerspiel, so auch bei Miss Sara Sampson, „die Todesursache von außen nach innen verlegt“ (S. 112) werde.
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gerlichen Trauerspiele 194 ein gegensätzliches Konzept entwickelt, in dem Tugend und Laster unvermischte Gegenpole bilden: „Die Hauptabsicht des Trauerspiels ist, Schrecken und Mitleiden zu erwecken, oder wenn man lieber will, die Tugend auch ohngeachtet ihres Unglücks liebenswürdig und das Laster allezeit verabscheuungswürdig vorzustellen.“ (§ 2, 96) Dieser Versuch einer Poetik wird 1755 anonym in der Leipziger Zeitschrift Neue Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens veröffentlicht. Dort erscheint ein Jahr später ebenfalls anonym Lucie Woodvil. Im Folgeband, auch 1756, erscheint mit An den Verfasser der Gedanken vom burgerlichen [!] Trauerspiele ein in Alexandrinern verfasstes Lob beider Texte. „Zeig, wie des Bürgers Herz die Tugend adeln kann“ 195 – mit dieser Aussage betont der Verfasser der Rezension, dass Grandisons Schicksal „groß“ sei und dass nach einer ‚Amalie‘ 196 mehr gefragt werde als nach „mancher Fürstin“. Die Argumentation zielt auf das Genre selbst, legt aber zugleich dar, dass es hier nicht um die bürgerliche Mentalität von Adligen geht, sondern umgekehrt um das Adeln des Bürgers. Das Fazit: Und, o wie lehrreich würd als dann die Bühne seyn! Vielleicht nähm niedrer Witz den Pöbel nicht mehr ein: Vielleicht verschwänd ein Faust, und mehr dergleichen Lügen, Und Steyermarks Hanswurst, der Leidenschaften Macht, Und unsrer Torheit Höh, vielleicht nicht nur verlacht, Nein: sondern auch wohl gar verachtet und beweinet, 197 Weil auch der Tugend Glanz im niedrigen erscheinet.
Die zeitgenössische Diskussion um das bürgerliche Trauerspiel findet also in dieser die literarischen Neuerungen umfänglich dokumentierenden Zeitschrift statt, gegen die Lessing in der Berlinischen Privilegierten Zeitung – wie allerdings gegen viele Organe seines Umfelds – polemisierte. 198 Nicht auf der Darstellung der Tugend allerdings, sondern auf der Darstellung der Laster sieht Erich Schmidt in der Allgemeinen Deutschen Biographie 1887 den Schwerpunkt bei Pfeil, nämlich als „Hauptquelle tragischer
_____________ 194 Pfeil: Vom bürgerlichen Trauerspiele. – In: Ders.: Lucie Woodvil. Vom bürgerlichen Trauerspiele. Mit einem Nachwort hrsg. von Dietmar Till. Die Zitate unter Angabe von Paragraph und Seitenzahl in diesem Kapitel entstammen dieser Ausgabe. 195 [Anonym]: An den Verfasser der Gedanken vom burgerlichen Trauerspiele, S. 44. 196 Amalie ist eine Figur aus Pfeils Mustertrauerspiel, die als positive Antagonistin Lucies gelten darf. 197 [Anonym]: An den Verfasser der Gedanken vom burgerlichen Trauerspiele, S. 43f. 198 Vgl. Guthke: Feindlich verbündet: Lessing und die Neuen Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens, insbesondere S. 330. Vgl. Lessings offensichtliche negative Rezensionen des ersten und sechsten Stücks in der Berlinischen Privilegierten Zeitung, 63. Stück, 26.5. 1753 und 110. Stück, 13.9. 1753 – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 2, S. 503f. und S. 536. Lessing wird im 110. Stück recht deutlich. Die Inhalte seien „mittelmäßig“ und „elend“ und es handle sich um die „allertrivialsten Gedanken“.
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Begebenheiten.“ 199 Cornelia Mönch spricht angesichts der diametral entgegengesetzten Konzepte Lessings und Pfeils, exemplarisch angewendet auf Miss Sara Sampson und Lucie Woodvil, von ‚Programm‘ und ‚Gegenprogramm‘ 200 und für Gaby Pailer „liegen schon zu Beginn in Theorie und Praxis zwei wirkungsästhetisch gegensätzliche Konzepte vor, für die zu fragen ist, wie sie sich im Verlauf der Gattungsgeschichte weiterentwickeln.“ 201 Pfeils Genrepoetik ist konzipiert als Erziehungsprogramm, als „Schule der Sitten“ (§ 4, 98) und ist, trotz seines gelehrten Einstiegs durch eine Aristoteles-Kritik, recht wirkungslos geblieben. Nicht zuletzt sind seine Ausführungen redundant und moralistisch. Gleichwohl hat auch dieses Stück auf den Theaterbühnen offenbar großen Erfolg, wie Christian Heinrich Schmid 1798 in seiner Chronologie des deutschen Theaters schreibt: „Herr Pfeil war der zweyte mittelmäßige Nachahmer von Lessing im bürgerlichen Trauerspiel, indem er seine Lucie Woodwil [!] herausgab. Herr Ackermann spielt es noch dies Jahr zu Danzig.“ 202 In den Neuen Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens von 1756 wird diese Danziger Aufführung als Beginn einer ganzen Reihe von Aufführungen gelobt. 203 An der kanonbildenden und vielfach aufgeführten Miss Sara Sampson haben sich jedoch schlichtweg andere bürgerliche Trauerspiele, in welcher Form auch immer, abgearbeitet. Die Festschreibung Lucies, Bettys und Amalies als tragödienfähige Figuren leistet Pfeils Poetik aber in ausführlicher Weise. Gleich im ersten Paragraph seiner Poetik legt Pfeil fest, dass das Personal bürgerlich sein solle in Stand und Gesinnung (§ 1, 95). Er lässt die Grenze nach oben hin offen, grenzt allerdings den Begriff undurchlässig nach unten, zum Pöbel, ab (§ 5 bes. § 12). Pfeil „denkt also soziologisch“ 204. Das Denken in Ständen tritt jedoch in der weiteren Ausführung Pfeils in den Hintergrund, wenn er schreibt, dass es im bürgerlichen Trauerspiel um Familienkonflikte und Privatangelegenheiten gehe. Als eine Verteidigung der Gattungskonventionen führt Pfeil an, dass das bürgerliche Trauerspiel zwar keine ‚alte‘ Gattung sei; doch an „tragischen
_____________ 199 Art. „Pfeil, Johann Gottlob Benjamin“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 25 (1887), S. 655–657, hier S. 656. 200 Vgl. Mönch: Abschrecken oder Mitleiden, S. 18–29. 201 Pailer: Gattungskanon, Gegenkanon und weiblicher ‚Subkanon‘, S. 368. 202 Schmid: Chronologie des deutschen Theaters, S. 187. Als ersten Nachahmer nennt Schmid Christian Leberecht Martini: Rhynholt und Sapphire [= Rhynsolt und Sapphira] von 1775, der den Stoff allerdings von Gellerts Rhynsolt und Lucia bezieht. Vgl. dazu die Überlegungen, dass Lessings Miss Sara Sampson und Emilia Galotti als „kritischer Reflex auf den Hauptstrom der Gattung“ zu lesen seien, von Kirsten Nicklaus: Die ‚poetische Moral‘ in Lessings bürgerlichen Trauerspielen und der zeitgenössischen Trivialdramatik, S. 481. 203 Neue Erweiterungen des Vergnügens und Erkenntnis 8, 48. Stück (1756), S. 82. 204 Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, S. 13.
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Gegenständen“ gebe es keinen Mangel, „so lange noch ein bürgerliches Herz reich genug an Lastern ist“ (§ 15, 109). Stilistisch adäquat sei dafür die Prosa, die er für das bürgerliche Trauerspiel vorsieht. Über Neuerungen solcher Art muss er sich mit seinem Tischnachbarn, dem jungen Goethe, in Leipzig unterhalten haben, denn dieser erinnert sich lobend in Dichtung und Wahrheit an Hofrat Pfeil und dessen Ratschläge. 205 Wirkungsästhetisch betrachtet Pfeil das Trauerspiel als eine Spiegelinstanz (§ 14, 108): Die „schlimmen Charaktere“ hielten dem Zuschauer das Abbild seiner selbst vor, die tugendhaften den angestrebten Zustand. Für Schiller ist solche Kontrastierung der Charaktere allerdings eine bloße Modeerscheinung, formuliert er doch über das Vorgehen des „Menschenmalers“ in seiner Vorrede der Räuber, es sei „Mode in der Welt, daß die Guten durch die Bösen schattiert werden, und die Tugend im Kontrast mit dem Laster das lebendigste Kolorit erhält [...]“ 206. Dem entsprechend schließt Lucie Woodvil mit einer Moral aus dem Mund der Kommentatorfigur Robert. Lucies Lasterkarriere soll als abschreckendes exemplum gesehen werden. Vor dem Vollzug der poetischen Gerechtigkeit kann eine tugendhafte Tochter wie Amalie nur zittern: „Lass uns aus Karls und Luciens unglücklichem Beispiele lernen, daß denjenigen das größte Laster nicht weiter zu abscheulich ist, der sich nicht scheut, das allergeringste auszuüben.“ 207 2.3.1 Lucies Lasterkarriere Die Anlage des Konflikts wird zu Handlungsbeginn als expositorische Information von den Vätern referiert: Sir Willhelm Southwell plagt das schlechte Gewissen, dass er seinem Sohn Karl und der adoptierten, aber eigentlich unehelichen Tochter Lucie seinen Seitensprung nie gebeichtet hat. Nur sein Freund Sir Robert ist informiert. Der Konflikt entwickelt sich nun, als Sir Willhelm herausfindet, dass Lucie und Karl einander lieben. Um diese inzestuöse Verbindung zu verhindern, bestimmt er für Karl die Ehe mit Amalie, Sir Roberts Tochter, die auch in Karl verliebt ist und mit deren sanftmütiger Art dieser durchaus einverstanden ist. Lucie, die von Karl schwanger ist, bangt um Karl und in gleichem Maße um ihren
_____________ 205 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Zweiter Teil, Siebentes Buch – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. I, Bd. 14, S. 309. 206 Schiller: Die Räuber – Werke (Nationalausgabe), Bd. 3, S. 5. 207 Die folgenden Angaben (Akt, Szene, Seitenzahl) entnehme ich Pfeil, Johann Gottlob Benjamin: Lucie Woodvil. Vom bürgerlichen Trauerspiele. Mit einem Nachwort hrsg. von Dietmar Till, hier: V, 12, 93.
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guten Ruf. Nur eine heimliche Heirat mit Karl würde Abhilfe schaffen, wie Amalie erkennt. Sie bietet deshalb selbstlos ihre Hilfe und Freundschaft an. So versucht sie, wieder Frieden zwischen der stolzen Lucie und dem wankelmütigen Karl zu stiften und ein gutes Wort bei den Vätern einzulegen. Dem Verbot des Vaters Sir Willhelm zum Trotz inszenieren sie eine heimliche Vermählung, die er allerdings zu zerstören weiß. Sein verschämter Versuch einer Beichte geht in der inzwischen gestörten Beziehung zu Lucie unter. Lucie, unter dem verderblichen Einfluss der Zofe Betty, die sie zum Verhältnis mit Karl verleitet hatte, sieht als einzigen Ausweg die Beseitigung des Vaters durch Gift. Sir Robert, der davon nichts weiß, findet es nun an der Zeit, Karl und Lucie über ihr Verwandtschaftsverhältnis aufzuklären. Daraufhin bringt Lucie in blinder Wut die Anstifterin Betty und anschließend sich selbst um, ihr Bruder Karl wird wahnsinnig. Lucie tritt, ganz in Analogie zur Exposition der Miss Sara Sampson, erst auf, als die Handlungs- und Charakterexposition bereits durch die Väter, Willhelm und Robert, vollzogen ist. Der Eingangsdialog ist notwendig, um Sir Willhelms nie gebeichteten Fehltritt aus der Jugendzeit, die Anlage des Konflikts, aufzurollen. Damit einher geht die Fremdcharakterisierung Lucies durch Willhelm, dem sie als lebendiger Vorwurf seiner Verfehlung grundsätzlich ein „Dolch“ in der Seele ist (I,1,7). Gesprächsanlass ist Sir Willhelms Angst, Liebe in Lucies Augen für Karl entdeckt zu haben. Diese Angst gründet natürlich auf dem Inzesttabu. Sie wird aber besonders verstärkt durch Lucies negative Charaktereigenschaft, die aufgrund einer enttäuschten Liebe hervorbrechen könnte und die letztlich als der unverzeihliche Fehler in die Katastrophe führen wird: der „ihr so natürliche Stolz, dieser einzige Fehler“ (I,1,9). So zittert der Vater um Lucies Tugend, wohl wissend um sein eigenes Scheitern und seinen Stolz, der ihn zur Geheimhaltung zwingt. Es deutet sich an, dass das – makrostrukturell bei Lessing und Pfeil zunächst gleich anmutende – Vater-Tochter-Schema durch Pfeil auf den Kopf gestellt wird. 208 Wenn Sir Sampson anfangs sagt, lieber eine lasterhafte als keine Tochter haben zu wollen, leitet er als empfindsame Figur das das Trauerspiel durchziehende Vergebungsprinzip ein. Hingegen sieht man in Sir Willhelm einen durch sein Schuldeingeständnis (nur vor sich und Robert) pessimistisch gewordenen Vater, der befürchtet, dass Lucie unwissend und nach heutiger Terminologie unterbewusst in seine Fuß-
_____________ 208 Diese Feststellung trifft nicht auf die Vater-Tochter-Beziehung zwischen Sir Robert und Amalie zu. Vielmehr zeigt sich eine strukturelle Ähnlichkeit der Beziehung zwischen Sara und Sir William, mit dem Unterschied, dass Amalies Vaterbild und Roberts Selbstverständnis als Vater harmonieren.
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stapfen treten könnte. Diese Vorahnung wird dramenintern evaluiert durch die Überprüfung von Luciens Mimik in dem Moment, da ihr Sir Willhelm die geplante Heirat von Amalie und Karl vorschlägt. Ganz im Vertrauen auf die Lesbarkeit des Körpers suggerieren ihre Körperzeichen eine empfindsame Einheit von Innen und Außen und verweisen darauf, dass sich moralische Tugend äußerlich ablesen lässt. In der Miene will sich Willhelm „ihre ganze Seele aufklären“ lassen (I,1,9). Aber schon die ersten Sätze, die die beiden über die Träne wechseln (I,2), weisen – im Gegensatz zur Miss Sara Sampson – auf eine gestörte Kommunikation und entsprechende Verderbtheit Lucies hin. Denn wie Lucie später zugibt, war die Träne, erst von ihr „Träne der Freude“ genannt, dann „Träne des Grams“ über die unbekannten Eltern, bloße Heuchelei, die ihre „Schmach und den Stolz“ verdecken sollten (I,4,15). Allerdings lässt sich aufgrund der im Gespräch mit Robert vorausgehenden Analyse seines Herzens und damit der Versprachlichung seines Schuldbewusstseins erahnen, dass sich Willhelm nicht von Lucies Worten täuschen lässt. Dies sagt er ihr auf den Kopf zu und ergreift gleich die Gelegenheit, seine väterlichen Empfindungen zu überhöhen. Unter der Perspektive des Informationsvorsprungs des Publikums, das um dessen Vorgeschichte und Fehler weiß, ist seine druckvolle Rhetorik der Emotionen als höchst ambivalent einzuschätzen: „Können Sie empfinden was das Herz ihres Southwells, der sie noch mehr als ein Vater seine Tochter lieben würde, wenn es möglich wäre, bey ihren Leiden fühlen muß?“ (I, 2, 10) Er gibt sich auf diese rhetorische Frage gleich selbst die Antwort, die das VaterTochter-Verhältnis in der Qualität ihrer Empfindsamkeit hierarchisiert: „Können sie es empfinden, Lucie? Ohnmöglich können sie es.“ (ebd.) Der Vater kann nicht nur wie im Gespräch mit Robert seine Emotionen ausdrücken, er fühlt sich sicher, qua Mimik und Gestik in die Seele seiner Tochter hineinschauen zu können. Lucie hingegen gesteht er nicht zu, nachempfinden zu können. Empfindsamkeit wird hier inszeniert als Resultat rhetorischer Zuschreibung: Sara und Amalie wird Empfindsamkeit zugeschrieben, Marwood und Lucie nicht. So erklärt Willhelm Lucie, wie sie sich empfindsam verhalten müsste: „Sie würden ihn [Willhelm] in ihre ganze Seele hineinschauen lassen.“ (ebd.) Das Geheimnisverbot gerade der Vaterfigur gegenüber ist als Faktor der Machtstabilisierung des Patriarchats in der Forschung ausführlich diskutiert worden. 209 Auffällig hier ist nun die Diskrepanz des väterlichen Aufrichtigkeitsgebots zur eigenen Verstellung Willhelms, durch die sich der Vorwurf mangelhafter Empfindsamkeit als besonders dreist entpuppt, weil er in einer Überhö-
_____________ 209 Vgl. Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit; Saße: Die Ordnung der Gefühle; Frömmer: Vom politischen Körper zur Körperpolitik, S. 169–195.
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hung der eigenen Güte versteckt ist. Lucie gibt dementsprechend – ganz als Tochter Willhelms – ihrer Betroffenheit sprachmächtig Ausdruck: „Sie tödten mein Herz durch ihre Gütigkeit“ (ebd.) und kommt schließlich seinem Befehl, ihm ihr Herz zu öffnen, nach. Lucie hat diese Unterordnung jedoch kalkuliert und offenbart in einem Beiseite („Elende Tugend!“ I,2,10) das endgültig zerbrochene Verhältnis zu ihrem Vater. Willhelm, nun wieder ganz der getäuschte Vater, besteht allerdings auf ausführlicher ‚Besprechung‘ der Tugend – gemäß seiner Ankündigung und Vorausahnung. Der Adel des Herzens drücke sich, wie er sagt, über vollkommene Tugendhaftigkeit aus (ebd., 197), sei aber bei Frauen in ständiger Gefahr. Als Vaterfigur gibt er Lucie – sentenzartig und damit zugleich floskelhaft – den Ratschlag: „Stolz und Liebe, die zween gefährlichen Feinde Ihres Geschlechts erfodern ein beständig wachsames Herz von Ihnen.“ (ebd.) Unverstellte expressive Rede hört man von Lucie erst im Dialog mit Betty. Jene referiert zunächst die neuesten Fakten. Nicht nur, dass Karl verheiratet werden soll, sondern vor allem, dass sie schwanger von ihm ist und sich vor öffentlicher Schande fürchtet: „Die Welt wird meine Schande erfahren. Sie wird mich verachten, nicht weil ich lasterhaft bin, sondern weil ich mein Laster habe bekannt werden lassen.“ (I,4,15) Gerade nicht verinnerlichte Moral, der eigentliche Ausweis von Empfindsamkeit, ist Gegenstand ihrer Angst, sondern die gleichfalls notwendige gesellschaftliche Reputation, die als ‚äußere Tugend‘ allerdings durch Verstellung und Informationspolitik verfälscht sein kann und daher eine im empfindsamen Diskurs untergeordnete Relevanz hat. Lucies Sprache ist von auffälliger Selbstsicherheit geprägt, klar formulierte Aussagen lassen keinen Zweifel an ihrer Entschlussfreudigkeit. Das Räsonnieren einer Sara, die Suche nach Lösungsansätzen in der Selbstaussprache ist ihr völlig fremd. Vielmehr bestimmen verletzter Stolz und Rachsucht ihre Handlungen, die Nähe zur Medea-Figur ist unverkennbar. Die anfängliche ‚Tugendheldin‘ Lucie muss nach ihrem Fall unbedingt aktiv werden, um zu einer Bedrohung ihrer Umwelt werden zu können. Handlungszwang und Zeitknappheit durch die Schwangerschaft Lucies erhöhen, wie auch bei Wagners und Goethes Kindermörderinnen, die Spannung. Sprachlosigkeit oder empfindsames Verstummen werden bei Pfeil nicht thematisiert, sondern gerade der furor ist beredt. Die Geheimnisse fesseln allerdings die Zungen und untergraben somit die empfindsame – und damit sie funktionieren kann, auf Aufrichtigkeit aufbauende – Rhetorik Amalies und Roberts sowie die anfängliche scheinbare Empfindsamkeit von Vater Willhelm und Tochter Lucie. Während Lucie ihre Lage analysiert, erkennt sie, dass ihre Reputation, die äußerlichen Tugenden nicht wiederherzustellen sind („Stirb, Reue!“ I,4,16). Wolfgang Lukas stellt dar, dass sich die lasterhafte Figur im Drama
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dann als anti-empfindsam geriert, wenn sie Lust, Vergnügen und Glück an der lasterhaften Handlung empfindet, denn typisch sei „hierbei das LustPostulat, d. h. die sprachlich-performative Setzung solcher Lust, die mithilfe eines exzeptionellen Verbrechens erzielt werden soll und verbal antizipiert wird.“ 210 Lucies Verbrechen ist ihre unkontrollierte Leidenschaft, als deren „Sklavin“ sie sich sieht (ebd.) und die sie in das Verhältnis zu Karl getrieben hat. Die Unfähigkeit zur Affektkontrolle, der Verlust der Mitte, der sich sprachlich als Verlust empfindsamer Rhetorik zeigt, zieht in der Konsequenz erst Heuchelei und Verstellung nach sich. An dieser Stelle lässt sich im intertextuellen Bezug zu Miss Sara Sampson exemplarisch Lucie mit Sara und Marwood vergleichen. Entgegen der Auslegung Mönchs, die in der Lucie-Figur eine Entwicklung gewissermaßen von Sara zu Marwood ausmacht und Metwallys, die Lucie zwischen Sara und Marwood schwanken sieht 211, kann man Lucie gegen Sara abgrenzen: Lucie und Sara verbindet ihr Schicksal als gefallene Mädchen, aber Saras Verhalten wird nur nach dem Fall bewertet, was ihr letztlich doch die Attribute Engel und Tugendheldin einbringt. Lucies Fall ist jedoch der Anfang eines linearen Niedergangs und wird auch entsprechend gewertet. Die Nähe zu Marwood ist insofern offensichtlich, als auch Marwood, wie sie als Lady Solmes berichtet, nicht von Beginn an Verstellungstaktiken beherrscht und sie als legitime Mittel zur Wiedereroberung des Manns einsetzt. Parallelen finden sich in der Figurenkonzeption, allerdings mit anderem Ausgang. Während Marwood bei Lessing als gesellschaftliche Verliererin, als enttäuschte Geliebte gezeichnet ist, die sophistische Argumentation und die Simulation empfindsamer Sprache bereits perfektioniert hat, wird bei Pfeil die Entwicklung dahin gezeigt. Diese zeigt sich in der Sprache und der Rhetorik der Emotionen, deren Stellenwert jedoch je anders akzentuiert wird. Lucies Entwicklung von einer empfindsamen zu einer rachsüchtigen Tochter korrespondiert mit ihrer Absage an das Aufrichtigkeits- und Einfühlungsgebot der Empfindsamkeit. Anstelle dessen übt sich Lucie in einer rhetorischen Sprache, die sie selbst gegen andere abschließt und mithilfe derer sie sich nicht nur selbst aufstachelt; vielmehr verbalisiert sie, wie um sich dessen selbst bewusst zu werden, immer wieder die Absage an alle moralischen Werte. Es wird deutlich, dass Lucie nur zum Schein an einem, für sie längst zweifelhaft gewordenen, Tugendbegriff festhält. Dementsprechend bleibt ihr nur der Weg der Verstellung oder der Ausbruch in die medeische Lasterkarriere ohne Rücksicht auf Wertekategorien. Sie schlägt den Weg der
_____________ 210 Lukas: Anthropologie und Theodizee, S. 226. Herv. i. Orig. 211 Vgl. Mönch: Abschrecken oder Mitleiden, S. 18–29; Metwally: Johann Gottlieb Benjamin Pfeils Lucie Woodvil – eine „Schwester der Sara“?, S. 167.
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Verstellung als letzten Versuch, Karl für sich zu gewinnen, ein. Betty rät ihr dazu, ihre Miene zu glätten. Lucie will im Gespräch ein eindeutiges Zeichen erzwingen, aber Karl weicht mit zweideutiger Rede aus. Sie expliziert seinen Sprachcode jedoch sogleich: „Ich verstehe Sie nicht“ und „Warum reden Sie so dunkel?“ (I,5,17f.). Schließlich spricht sie aus, was er verschweigt: sie soll seine Mätresse werden, was sie jedoch wutentbrannt ablehnt: „Aber Lucie ist stolz.“ (I,5,18) Sie klagt Karl an, indem sie ihr ‚Schicksal‘, in der dritten Person von sich sprechend, wie das einer fremden Figur vorstellt und verteidigt. Sie belegt ihn mit medeischen Flüchen (der „Rache des Himmels“, ebd., 19) und zweifelt – im Gegensatz zur selbstquälerischen Sara – keine Sekunde an ihren Schuldzuweisungen. Indem Betty ihr aber zur Selbsterniedrigung vor Karl rät, fällt auch Lucies Stolz. Wie sehr Lucie die Dialoge durch ihre Raserei dominiert, zeigt sich besonders im Gespräch mit Amalie. Was im Gespräch mit dieser als „Hitze“ der Rede (I,6,20) ankommt, drückt sich in kontrastiven und affektiven Sätzen aus: „Er verachtet mich! Ich liebe ihn!“ (ebd., 21) Rhetorische Fragen häufen sich in einem Maße, dass die Dialogizität vollkommen in den Hintergrund tritt. Amalies Antworten sind keineswegs handlungsbezogen, sondern liefern Stichworte für die expressiven Passagen Lucies oder dienen als Kommentar für deren richtige Rezeption: „Sie erfüllen meine Seele mit Schauer und Schrecken.“ (ebd., 22) Die poetische Funktion dieser Antwort ruft die Trauerspiel-Poetik auf den Plan, deren eindeutiges Rezeptionsgebot hier lautet: Das exemplum der rasenden Lucie soll abschrecken, nicht Mitleid evozieren. Dass diese Abschreckung keineswegs mit der mesótes zu vereinbaren, sondern eher – auch durch die Selbstansprache in der dritten Person – barockisierendes Theater der Leidenschaften ist, scheint Pfeils bürgerliches Trauerspiel in weite Ferne zu den aufklärerischempfindsamen Texten zu rücken. Gleichfalls didaktisch mutet die inhaltliche Invarianz der Ratschläge Amalies an, wenn sie mit immer neuen Antworten nur Eines sagt: Lucie soll Affektkontrolle lernen. Ein Aufeinanderprallen beider Figuren aber verhindert Amalie durch freiwillige Entsagung (ebd.). Sie ist nicht halb so fixiert auf den Mann wie Lucie, die das Treffen mit Karl imaginiert: „‚Karl‘, will ich gegen ihn seufzen, ‚erbarmen Sie sich über Ihre verstoßne, über Ihre unwürdige Lucie [...]“. (ebd.) Dabei wird deutlich, dass Lucie nicht mehr von der Macht der Liebe, sondern nur noch von der Qual der Erniedrigung sprechen kann. Karl vergleicht beide Frauen: Amalies Innen ist mit ihrem Äußeren kongruent, so dass sie „jederzeit sich selbst gleich[t]“ (II,1,25). Lucie hingegen ist zwar die sinnlichere, schönere Frau, aber ihr ungezügeltes Wesen lässt sie unkalkulierbar, d. h. sich „unähnlich“ werden. Durch diese Andersartigkeit fühlt sich Karls „männliches Herz“ herausgefordert, er will
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Lucies Stolz brechen. Das Argument, mit dem er sich vor sich selbst seine Überlegenheit sichert, ist nicht eines der Liebe oder des Kampfes um den Stolz, sondern eines, wie schon bei Willhelm, der Degradierung Lucies als ‚Frauenzimmer‘: „Bin ich nicht Karl Southwell? Ist sie nicht ein Frauenzimmer? Welches Frauenzimmer ist jemals gegen mich und ihre Neigungen unüberwindlich gewesen?“ (II,1,210) Umso mehr muss sich Lucie in die Erniedrigung zwingen, als sie sich Karl zu Füßen wirft (II,9,221). Die Nachbesprechung dieser Szene mit Betty wirkt einem der Monologe Marwoods entlehnt, als Lucie ihre Maske fallen lässt: Ich habe das Herz des Barbaren gerührt, Betty. Aber schrecklicher Sieg! Er hat mir meinen Stolz, meinen Abgott gekostet. Lucie, wie verächtlich bist du dir selbst? [...] Karl! Wenn wird meine Seele fähig sein, dafür Rache an dir auszuüben? Doch sie wird es dereinst sein, wenn ich Lucie bin. (II,10,221)
Die entsprechende Stelle lautet in Miss Sara Sampson: Sieg, Hannah! aber ein saurer Sieg! [...] Eben war es die höchste Zeit, als er sich ergab; noch einen Augenblick hätt er anstehen dürfen, so würde ich ihm eine ganz andere Marwood gezeigt haben. [...] Und gewiß, gewiß ich will es ihm nicht vergeben, daß ich ihm fast zu Fuße gefallen wäre. (II,5,460)
Die über den Figurenhorizont hinausgehende Andeutung der ‚anderen Marwood‘, die später über die Aufrufung des Medeastoffes explizit zugespitzt wird auf die Entwicklung zum rasenden und mordenden Weib 212, ist auch bei Pfeil als eindeutiger Bezug vorhanden („wenn ich Lucie bin“). Unter motivgeschichtlicher Perspektive lassen sich Untersuchungen heranziehen, die sämtlichen rasenden Weibern eine anfängliche Unschuld und Liebesfähigkeit zugestehen; Dieter Borchmeyer sieht den Ausbruch der Raserei schließlich motiviert durch die kränkende Zurücksetzung in Sachen Liebe, Macht und Moral. 213 Rachsucht bestimmt nun vollends Lucies Handeln: „Aber dir schwöre ich, o Rache, Lucie soll nicht unglücklich werden, ohne noch andere mehr neben sich unglücklich zu machen.“ (II,10,40) Lucie ist nur in der Lage, ihre Affekte zu benennen und sich bei dieser Erzählung aufzuhalten: „Wuth, Wuth ist allein noch für Lucien übrig.“ (III,3,44) Die Sprache wird hier topisch. Die rhetorische Figur der geminatio häuft sich in Lucies Rede, wenn ihre Affekte beglaubigt werden sollen. Das übertriebene pathos wird
_____________ 212 Zum Informationsstand des Rezipienten vgl. den späteren Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 48. Stück – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 6, S. 420. Lessing lässt dort Diderot sprechen: „Für den Zuschauer muss alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person [...] Meinetwegen mögen die Personen alle einander nicht verstehen, wenn sie nur der Zuschauer alle kennet.“ Lessing stimmt mit Diderot überein: „Ja, unser Anteil wird um so lebhafter und stärker sein, je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehen haben.“ (S. 419). 213 Vgl. Borchmeyer: Mozarts rasende Weiber, S. 171.
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schließlich von Betty kritisiert und ironisiert: „Wie lange wollen Sie sich noch durch Ihre heroische Liebe lächerlich machen?“ (ebd.) Im bürgerlichen Trauerspiel wirkt heroisches pathos und dessen Affektkonzeption lächerlich und wird entsprechend ironisch bloßgestellt. 214 Die Ironie ist als Gegenteil der Emphase eine Trope, die der Empfindsamkeit entgegenarbeitet, indem sie dem emphatischen Sprechen die Ernsthaftigkeit entzieht. 215 Doch reagiert Lucie inhaltlich nicht auf Bettys „unsinniges Geschwätz“ (ebd.); sie ist vielmehr damit beschäftigt, sich selbst aufzustacheln und in die Lasterkarriere hineinzureden: „Auf Lucie! die Opfer deiner Rache sind bereit.“ (ebd. 45) Sich anzutreiben und dabei gleich-zeitig nach außen ruhig zu wirken ist eine Herausforderung vor Karl und Amalie – nur zum Schein unterliegt sie ihren Überzeugungskünsten. Sir Robert, der diese Szene aus der Entfernung falsch interpretiert (er glaubt, Lucie sei es gelungen, auf Freundschaft umzuschalten), kommentiert das so betitelte weibliche Herz: Kennst Du das weibliche Herz nicht? Wünschet es nicht mit ebender Hitze, mit ebender Heftigkeit, als es seine geliebtesten Wünsche wieder vergißt? Glaube mir, der natürliche Hang ihres Geschlechts zu veränderten Gegenständen würde in dem Herzen der Lucie das allein möglich machen, was die Vernunft ihm noch überdies einschärfen wird. (III,6,48)
Lucies Zuwendung zu Karl und Amalie ist lediglich Verstellungstaktik ihres Racheplans. Sie zeigt ihr wahres Gesicht im Reflexionsmonolog, der erneut dem marwoodschen (dort: IV, 5, 496) nachempfunden ist: „Darf ich endlich frey Athem schöpfen? Bin ich von dieser beschwerlichen Freundinn erlöst? Wie hasse ich, wie verabscheue ich sie!“ (IV,1,56) Lucie zählt auf, wie sehr sie von Amalie erdrückt wird, aber sie spricht nur in der Retropesktive und fällt keine Entscheidung für ihr weiteres Agieren. Wichtiger ist die Information für das äußere Kommunikationssystem, dass sie die Maske der Tugend Kraft kostet, weil sie nicht aus sich heraus ein verdorbener Charakter ist – sie „wird es nach und nach“. (ebd.) Auf diese Aussage bezogen geht Pfeil über Lessings Versuch, Marwoods Verhalten zu motivieren, hinaus, denn „er zeichnet gleichsam die Genese des Bösen nach“ 216. Während Lessing die Entstehung des Mords im Affekt zu zeigen bemüht ist, hat Lucie das Gift schon verabreicht (V,4,77f.). In der Szene zuvor aber zeigt sich Lucie voller Zweifel, denn Willhelm setzt mehrere Male an, Lucie und Karl die Wahrheit zu sagen („Könnten Sie mein Herz sehen, Lucie!“, IV,6,65, und „Ach Lucie könnten Sie doch in meiner See-
_____________ 214 Vgl. Martus/Stockinger: Die Beruhigung des Inneren, S. 77–99. 215 Vgl. Andree: Die Komik der Emphase. 216 Kahl-Pantis: Bauformen des bürgerlichen Trauerspiels, S. 175.
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len lesen, ohne daß ich reden dürfte?“, IV,7,66). Aber gerade diese empfindsame Seelenverwandtschaft, dieser Traum von einer Verständigung ohne Medien steht an keiner Stelle zur Disposition, der feige Vater bleibt gewissermaßen bei einer floskelhaften Geste zur Nachsicht stehen. Lucie jedoch hat seine Aufregung und Hilflosigkeit nicht unberührt gelassen. Sein Körper und seine Sprache verraten höchste Not, bleiben Lucie aber ein Rätsel, weil das Entscheidende verschwiegen wird: „Sein Gesichte glühete vor einer errötenden Scham, die ein ihm unanständiges Geheimnis zu verraten schien. Seine Reden lauter Dunkelheit, unzusammenhängend, stockend und von Seufzern unterbrochen.“ (IV,10,70) Offensichtlich beherrscht weder der Vater die Rhetorik empfindsamer Selbstaussprache noch ist Lucie der Pathognomik kundig, um dadurch die Anakoluthe ergänzen zu können. Erst durch Betty, die skrupellose Intrigantin, wird Lucie auf die Idee des Mords an Willhelm gebracht, wird erneut auf die Bahn der Raserei gelenkt, die kein Verständnis, keine Lesbarkeit des anderen mehr zum Ziel hat. Indem nun der Mord an Willhelm über den Einfluss Bettys motiviert wird, fällt die Notwendigkeit eines marwoodschen Entscheidungsmonologs vor der Tat fort. Der Monolog nach der Tat ist ein reiner Reflexionsmonolog über den Tathergang: Herz! gottloses Herz! Es ist geschehen. Rühme dich deines Siegs, wenn du kannst. Doch du zitterst: ist es Mitleiden, ist es Verzweiflung, ist es Rache, die schon auf mich hereinstürzet? [...] Welche lasterhafte Seele hat dir jemals vergeblich darum geflehet? Verflucht sei seine Liebe, seine Zärtlichkeit. Warum war er nicht stolz, nicht grausam in dem Augenblicke, da er den tödlichen Trank aus meiner Hand empfing? (V,4,77)
Willhelms Empfindsamkeit angesichts Lucies im Moment seines Todes nimmt der Rache den Wind aus den Segeln – wie viel einfacher, überlegt sich Lucie, wäre ein nicht verzeihender, ein nicht zärtlicher Vater zu töten gewesen. Über Aufzählungen, Exklamationen und rhetorische Fragen, die den Tathergang referieren, wird das Bild einer schwankenden Lucie gezeichnet, die sich selbst nicht recht einzuordnen weiß. Deutlich wird, dass der Mord nicht im Affekt geschehen ist, womit jede Entschuldbarkeit wegfällt. Entscheidend ist, dass der Vatermord zunächst keine anagnorisis mit sich bringt, Lucies eigene Position auch weiterhin nicht geklärt ist. Ihr Anflug von Schwäche verschwindet zwar angesichts des sterbenden Willhelms: „Sehen sie ihre Mörderinn!“ (V,4,79), sie weiß, wer sie sein will: Mörderin, Henkerin Karls und „das größte Ungeheuer“ (V,7,86). Die Lucie aber, die am Ende des Trauerspiels noch vor der Aufdeckung des Inzests steht, ist in höchstem Maße verunsichert in ihrer Identität und damit auch einer Ich-Rhetorik, wie sie im Kontext der Empfindsamkeit blüht, nicht fähig: „Sagen Sie mir, wer ich bin?“ (ebd.)
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In Chaos gebrachte Gefühle verhindern ein Sprechen, das zur Selbstvergewisserung führen kann. Sogleich schwenkt sie wieder um: „Bin ich es wirklich?“ (ebd., 87) Und einige Sätze später fühlt sie sich von ihren Affekten in dem bestätigt, was sie ist: „[...] diese Peiniger, diese Vorboten noch größerer Qualen, wenn sie möglich sind, diese Angst, diese Verzweiflung, sagen sie mir nicht, was ich bin?“ (ebd.) Zumindest aber ihre ungewisse Herkunft soll durch Robert aufgeklärt werden, den sie wie Karl zuvor auffordert zu sagen, wer sie sei. Als sie vom Inzest als „abscheulichstes Laster“ erfährt, ist ihr sofort klar, dass sie dafür büßen muss. Der individuelle Fehler des Liebesverhältnisses wird überhöht durch unwissentlichen Inzest, der in der Regel, aufgrund des erstgenannten Fehlers, nur von Figuren verübt wird, die die Affektkontrolle nicht beherrschen. 217 Ein Überleben der Rasenden ist nicht möglich. Indem sie unter Verwünschungen gegen Karl stirbt, zeigt sie sich als Figur, die keiner Veränderung fähig war, die ihr Los nicht akzeptiert. Die anagnorisis und der damit aufgedeckte Inzest erzwingen den Ausschluss Lucies aus der Gemeinschaft und den Vorzug des Abscheus vor dem Mitleid, denn die pfeilsche „Strategie, den Mitleidsaffekt zunehmend in Mißkredit zu bringen, ist offensichtlich“. 218 Allerdings soll, den Ausführungen Walter Papes folgend, das Inzesttabu und die damit verknüpfte anagnorisis als „ästhetisches Spiel“ 219 gelesen werden, als möglichst konfliktreiche Anlage für das Trauerspiel. Der so betonte didaktische Aspekt einer exemplarischen Rezeption, der durch die Erzählerfiguren Amalie und Robert in das Drama eingebracht wird, 220 wird also relativiert durch die unterhaltsame Spannung eines tragischen Missverständnisses. Lucies Selbstmord ist die dementsprechende, dem Botenbericht (Pfeil hält sich an die Gattungsnorm) zu entnehmende Konsequenz, denn Lucie hat sich eines eindeutigen Verbrechens schuldig gemacht, das nach der Poetik Pfeils auch auf Erden gerichtet wird. Anders als bei einer Marwood, die entkommt, erfüllt sich hier am Ende die poetische Gerechtigkeit. Auch Lucies Zofe Betty kann nicht überleben, ist sie doch die Verkörperung des bösen Prinzips schlechthin, wie sich an den ihr zugedachten Epitheta, die sich besonders gegen Ende häufen, schon erkennen lässt: Sie ist ‚elend‘, ‚nichtswürdig‘, eine ‚grausame Seele‘. Nur in ihrer Rolle als dienstfertige Zofe gegenüber Willhelm nennt dieser sie „gute Betty“
_____________ 217 Vgl. den Ausgang der inzestuösen Verbindung Marianens mit Carlson in Gellerts Schwedischer Gräfinn. Vgl. Meyer-Krentler: Der andere Roman; insbesondere Werber: Liebe als Roman, S. 326–328. 218 Mönch: Abschrecken oder Mitleiden, S. 27. 219 Pape: „So hat mich nicht getäuscht die Stimme der Natur“: Inzest und Anagnorisis, S. 75. 220 Vgl. ausführlich das folgende Kapitel.
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(IV,3,59). Sie ist ein „Ungeheuer“, in dessen Seele der Teufel selbst wohnt (IV,10,71), „Tyranne“ (V,6,80) und „elende Kreatur“ (V,10,92). Der Vergleich mit dem Teufel wird im fünften Akt noch zweimal aufgerufen („dem Teufel in allen Stücken ähnlich“ und „unverschämter Teufel“) und fügt sich damit zwischen den nach pfeilscher Konzeption „kurzsichtigen Menschen“ (V,10,91) und strafenden Himmel ein. Betty hat zunächst reine ‚Botenfunktion‘. Ihr erster Auftritt referiert den Unfall Bettertons und motiviert den Abgang Willhelms. Ihre eigentliche dramatische Funktion offenbart sie erst in den jeweiligen Dialogen mit Lucie. Zwar übt sie auf diese Einfluss aus, doch ist es letztlich Lucie selbst, die aktiv den Handlungsgang bestimmt. Folglich ist der Einfluss Bettys nicht über die Handlung nachzuvollziehen, sondern über ihre Rede, über das Einflüstern amoralischer Werte. Sie nennt Lucies Wertmaßstäbe „lächerlich“ (I,4,14) und kann am allerwenigsten mit dem Begriff der Tugend, der in diesem Stück mehr als alles andere besprochen wird, etwas anfangen: „Mit ihrer ewigen Tugend! Werden Sie denn nie Ihre Sittensprüche vergessen?“ (ebd.) Entsprechend dem starren Schema Tugend vs. Laster reagiert Lucie auf diese Angriffe und will im Umkehrschluss, als schon gefallenes Mädchen, noch lasterhafter werden als Betty – wenn das überhaupt möglich ist. So lehrt Betty sie die Künste der dissimulatio. Ihre eigenen Beweggründe aber sind egoistisch, denn sie „verliert nichts, außer wenn Lucie keinen freygebigen Liebhaber hat.“ (III,4,47) Als Lucie die Verstellungskunst nicht weiterhilft und sie sich nur gedemütigt sieht, rät ihr Betty, den Liebhaber zu wechseln (II,10). Betty vertritt also das Modell galanter Liebe und höfischer Allianz 221; als Intrigantin ist sie in strukturelle Nähe zu Gräfin Löbau gerückt. So argwöhnt sie, da auch sie nicht aus ihrem Wahrnehmungsraster heraustreten kann, selbst hinter der altruistischen Amalie Betrug und Täuschung (II,3). Aus dieser Perspektive sind Tränen Mittel zur Verstellung; dass aber Lucie immerzu weint und wehklagt, kann und will Betty nicht verstehen: „Keine Klagen! Schieben Sie dieselbe eine einzige Stunde noch auf. Hernach klagen und weinen Sie sich satt.“ (IV,2,238) Im Sinne des homo aulicus, der sich gegenüber dem empfindsamen Offenbarungszwang durch sein zurückgehaltenes Herrschaftswissen überlegen fühlt, blickt Betty auf Lucie herab: Mein Fräulein muss alle ihre Seufzer mit einer Moral beschließen. Dies ist die Gewohnheit aller der kleinen Seelen, die sich noch nicht von den eingepflanzten Vorurteilen der Kindheit losgerissen haben. Aber wir große Geister, die wir über alle diese engen Begriffe weg sind, wir wissen weiter, daß alle Mühe um die Tugend unnütze verschwendet ist, außer diejenige nicht, welche dem Laster durch
_____________ 221 Vgl. Greis: Drama Liebe, S. 62.
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die äußerliche Miene der Tugend die Freiheit erwirbt, desto sicherer lasterhaft sein zu können. (IV,2,58)
Mit diesen Worten zieht sie ihr Gesicht wieder in die heuchlerische Position einer Seufzenden und ist gewiss erfolgreich (IV,3). Auch findet sie ihren Einfall, Karls Selbstmord vorzutäuschen, als „das herrlichste Werk meines eigenen Witzes“ (IV,8,68). Als Betty schließlich Lucie die Möglichkeit, Willhelm zu ermorden, andeutet, überprüft sie Lucie noch auf die Überreste des empfindsamen Wertekatalogs: „Verstehen Sie mich Fräulein?“ (IV,10,71). Als Lucie tatsächlich zunächst ablehnt, droht Betty sie zu verlassen, um für sich selbst zu sorgen und fordert so Lucies endgültiges Bekenntnis zur Lasterhaftigkeit heraus: „Komm, Betty, lehre mich lasterhaft und mitten im Laster ruhig wie du seyn.“ (ebd., 72) Dieser Appell als letzter Satz des vierten Akts ist zugleich programmatische Ankündigung für den fünften Akt, in dem sich Lucie zu einer Betty entwickelt. In derselben Dialogkonstellation beginnt der fünfte Akt. Bettys Aufgabe ist es, Lucie zum Mord anzuspornen; entsprechend dieser Funktion sind ihre Auftritte konzentriert auf den vierten und fünften Akt. Außerdem legt Betty ihre Herrin, die sich weiter in Klagen und Schwanken ergeht, zeitlich auf das „heute“ fest, denn Willhelm hat ihre Intrige durchschaut und sie entlassen. Als kluge Rednerin verdreht sie den Sachverhalt, spricht von Entlassung, weil sie Lucies Glück ihrem eigenen vorgezogen habe. Sie handelt nicht nur aus Rache an Willhelm, sondern vielmehr aus Geldgier. Ihre Rhetorik aber wird erst auf die Probe gestellt, als sie die von sich selbst und dem Mord an Willhelm völlig entsetzte Lucie beruhigen muss, die nach Bettys Worten „Furien“ auf ihrem Gesicht hat. Sie versucht es über die Auflösung des Tugend-Laster-Schemas: „Warum vergessen Sie diese kindische Begriffe von Laster und Tugend nicht? Was ist Laster und Tugend. Erfindungen des Eigennutzes und des Aberglaubens.“ (V,6,81) Aber weder kann sie Lucie damit von ihrem schlechten Gewissen erlösen noch sie davon abbringen, ihr die Untat zuzuschreiben. Lucies, von Betty eingepflanztes Kalkül wird überlagert von den auf sie einprasselnden Emotionen, die sie schließlich zur Wahrheit drängen – Zeit für Betty, heimlich zu verschwinden. Sie wird aber von Lucie gefunden und erdolcht. Betty scheidet aus dem Trauerspiel als, in den Augen Lucies, „Urheberinn ihres Unglücks“ aus (V,10,92): Feige, wie sie ist, wird sie auf der Flucht ermordet.
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2.3.2 Empfindsamer Kommentar: Amalie Die empfindsame Qualität des Dramas zeichnet sich durch einen hohen Anteil an Erzählung, nicht an Handlung aus. Gerade die Kommentierung von Emotionen verlangsamt zwangsläufig die Handlung. Forschungskonsens hinsichtlich episierender Tendenzen im Drama ist die Illusionsbrechung mittels Distanz, was hinsichtlich der Rhetorik empfindsamer Emotionen, die gerade auf Identifizierbarkeit und (freundschaftliche) Nähe setzt, widersprüchlich scheint. In den Figuren Amalie und Robert, den eigentlich empfindsamen Figuren in diesem Drama, kann allerdings die Verbindung von Rhetorik und Emotion nicht zeitgemäß als eine natürliche Verbindung inszeniert werden, sondern bleibt ganz offensichtliche Rhetorik. Nicht zu unrecht wird Amalie in der Forschung kaum als ‚Figur‘ behandelt; sie wirkt „recht farblos, auch wenn der Autor spürbar bemüht ist, ihr ein eigenes Empfindungsleben zuzugestehen“ 222. Sie ist, wie ihr Vater Sir Robert, Meta-Kommentar, wie sich am deutlichsten am vorletzten Auftritt (Amalies Kommentar) und am letzten (Roberts Kommentar) zeigt. Die poetische Funktion dominiert in solchem Maße, dass an expressive oder appellative Sprachfunktion nicht zu denken ist, wenn Amalie zu ihrem Vater spricht: „Ach mein Vater! welches entsetzliche, welches blutige Trauerspiel! [...] Was für fürchterliche Folgen hat die unerlaubte Liebe des Sir Willhelms und seines Sohnes gehabt!“ (V,9,269). Dieser Kommentar erinnert an den dramatischen Chor, der Distanz zur Handlung aufbaut, oder auch an die Technik der Allegorisierungen der Affekte der Barocktragödie, wie bereits in Bezug auf Wielands Sympathien in Form der Personifikation der Tugend herausgestellt wurde. 223 Pfeil lässt durch die ‚Reflektorfiguren‘ Robert und Amalie handlungsarme Sprache einfließen, die sich als Ratgeberliteratur aus dem Drama ausschneiden ließe. Durch diese Handlungsretardierung bremst er das dynamische Potential des Dramas, was, wie bereits gesehen, auch Lessings Miss Sara Sampson von Zeitgenossen und Forschung zum Vorwurf gemacht wurde und wird. Interessant ist auch, dass sich Pfeil 1781 auch im Roman Die glückliche Insel, seiner Adaption des Sensationsromans Insel Felsenburg von Schnabel, zu moralisierender und spannungsarmer Erzählweise bekennt, was schnell als „sehr langweilig“ 224 rezipiert werden kann.
_____________ 222 Alt: Die Tragödie der Aufklärung, S. 215. 223 Martus/Stockinger: Die Beruhigung des Inneren. Zur Audiologie der Affekte im 18. Jahrhundert. 224 Sangmeister: Sehr christlich, sehr langweilig: „Die glückliche Insel“ (1781). Wie Johann Gottlob Benjamin Pfeil die „Insel Felsenburg“ fortzuschreiben versuchte, S. 115–124.
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Keineswegs aber ist Amalies Empfindsamkeit langweilig; die bezwingende empfindsame Logik Amalies nämlich, ihr Einklagen der Verbindung zwischen Lucie und Karl, bezeichnet Lukas als von „maliziöser Lust“ seitens des Textverfassers gekennzeichnet, der vor dem Hintergrund des Inzests das Empfindsamkeits-Postulat ad absurdum führe. 225 Die dadurch entstehende, „qualitativ neuartige Problematisierung von Emotionalität manifestiert sich nicht zuletzt auch in einer Problematisierung sowohl ihrer sprachlichen Benennung als auch ihrer Dekodierung. [Diese Phänomene] lassen sich vor allem am Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Lexems ‚Liebe/lieben‘ in seiner erotischen vs. nicht-erotischen (freundschaftlichen und/oder familiären) Bedeutung festmachen.“ 226 Problematisch ist diese Mehrdeutigkeit allerdings für Lucie, nicht für Amalie, die in ihrer empfindsamen Rhetorik eindeutig ist. Damit Amalie als Tugendheldin Lucie und Betty wirkungsvoll kontrastieren kann, muss Lucie zunächst den Schritt in die Lasterkarriere gemacht haben. Amalie tritt dementsprechend erst spät in Erscheinung (I,6). Umso erstaunlicher mutet es an, dass der erste wie einzige richtige Monolog in diesem Stück von Amalie bestritten wird (I,7). Auf den ersten Blick erscheint dieser Monolog quer zur empfindsamen Rhetorik zu stehen. Amalies Verhalten ähnelt dem Verhalten Lucies oder Marwoods, wenn sie ihre Masken fallen lassen: „Kannst Du endlich einmal deine Tränen unbemerkt fließen lassen, o Herz?“ (I,7,23) Auch ihr Vater, Sir Robert, die Reflektorfigur Willhelms, verhält sich insofern ambivalent, als er sowohl im Eingangsdialog zur Tugend in Form guter Handlungen mahnt, aber auch zur Verbergung des Seitensprungs, eine im empfindsamen Katalog notwendig katastrophale Kommunikationsweise. Letztlich ist beider Verhalten aber nur auf den ersten Blick ungewöhnlich. Sir Robert nämlich, der ausschließlich an pragmatischer moralischer Tugend interessiert ist, warnt Willhelm deshalb vor einer weiteren Beschäftigung mit seinem Fehler, weil dieser sich dann weiter mit Selbstvorwürfen quälte und sich in Selbstmitleid erginge. Er rekurriert in seiner Warnung auf die Übertreibung von Empfindsamkeit in Empfindelei und das damit verbundene Bedrohungspotential der Melancholie: „Dein allzu zärtliches Herz überläßt sich einem Kummer, den es entbehren könnte.“ (I, 1, 8) Selbstmitleid ist also der ansonsten recht empfindlichen Amalie fremd. Empfindsamkeit, wie sie Amalie und Robert verkörpern, ist nicht egozentrisch. Explizite Charakterisierung erfährt Amalie durch Karl („lauter Güte, lauter Sanftmuth, lauter Verlangen, alle Menschen glücklich zu machen“, II,2,28). Ein einziges Mal bricht sie in ihrer Replik selbstbestimmt
_____________ 225 Vgl. Lukas: Anthropologie und Theodizee, S. 276. 226 Ebenda, S. 277.
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durch, schaltet, wie das literarische Vorbild, Gellerts Leben der Schwedischen Gräfinn von G***, von Liebe auf Freundschaft um und verbittet sich vom wankelmütigen Karl jede Widerrede: „Ich verlange Gehorsam.“ (ebd. 28) Solch rationalen Pragmatismus beweist sie auch, wenn sie fordert, Lucie solle „diese philosophische Melancholie“ (IV,1,54) endlich verbannen. Andererseits übersieht sie, dem empfindsamen Diskurs unterworfen, die Entwicklung Lucies und ihren Niedergang. Amalie versucht also, um Lucie zu helfen, sich gegenüber Robert zu verstellen, jedoch gelingt es ihr nicht. Sie bleibt ganz die empfindsame Tochterfigur; sie seufzt, errötet und bricht schließlich zusammen: „Lesen Sie in meiner Seele.“ (II,3,30) Das Erröten, der Seufzer, unverstellte und im Falle Amalies unverstellbare Körperzeichen sind also die primär lesbaren Zeichen, die dann metonymisch mit der Seele in Beziehung gesetzt werden. „Die Kategorie Blödigkeit spielt in diesem Zusammenhang eine bezeichnende Rolle: Frauen sind, so lehren schon die Moralischen Wochenschriften, blöde, und sie sollen es sein; denn dies gilt sowohl als Ausdruck wie auch als Garant ihrer Tugend.“ 227 Als Garant unverstellter Rede muss Amalie, weil sie immer noch glaubt, Lucie verdiene Mitleid, die Aufdeckung des Inzests bezeugen, was sie aus Angst vor der grausamen Wahrheit beinahe gegenaufklärerisch zu verhindern versucht. Da sich Robert aber nicht aufhalten lässt, verlässt sie den Ort des Geschehens: „Dieser Anblick von Schrecken und Abscheu ist zu stark für mich. Meine Seele kann ihn nicht länger ausstehen.“ (V,9,89) Damit ist eine poetologische Maxime des bürgerlichen Trauerspiels expliziert: Schrecken und Abscheu vertragen sich nicht mit der Empfindsamkeit, weil es sich um zu starke Affekte handelt. Unglücklicherweise macht diese Flucht vor der Wahrheit sie zu einer Zeugin des Mordes an Betty und von Lucies Selbstmord. Amalie überlebt und bleibt in den sicheren Händen des Vaters, so dass sich zumindest an ihr die patriarchalische Struktur als erfolgreich erweist. Der Ausgang ist poetisch gerecht und markiert die Empfindsamkeit als durchsetzungsfähig – allerdings unter Opferung der gegenempfindsamen Figuren, die aus der Handlung ausscheiden. Weshalb Amalie und Robert also für Lucie und Willhelm kein Vorbild sein können, liegt darin begründet, dass jene die Heftigkeit der Leidenschaften ablehnen und dies sogar erklären können, aber letztlich keinen Ausweg daraus bieten können. Zwischen der Empfindsamkeit Amalies und Roberts und der Leidenschaftlichkeit Lucies und Willhelms ist letztlich nicht zu vermitteln. Die Ausgleichsbewegung von heiterem – das heißt unverbindlich bleibendem – Scherz und Erziehung zur Sittlichkeit, wie sie sich, wie im fol-
_____________ 227 Stanitzek: Blödigkeit, S. 236.
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genden Kapitel zu zeigen sein wird, in der Rokokobewegung realisiert, ist der Ausschließlichkeit der Tugend-Laster-Dichotomie in Pfeils Trauerspiel entgegengesetzt. Zwar ist das literarische Rokoko in Deutschland eine Randbewegung, 228 trifft jedoch den Kern der ‚Rhetorik der Mitte‘, welche, wie gesehen, auch die bürgerlichen Trauerspiele als Musterbeispiel ebenso wie ex negativo dominiert.
_____________ 228 Vgl. Mauser: Horaz in Halle, S. 83. Siehe außerdem die Ausführungen des folgenden Kapitels. Vgl. außerdem zum Verhältnis der in dieser Arbeit behandelten Wochenschrift Der Gesellige und der Rokokobewegung und ihre Kritik bei Perels: Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, insbesondere S. 138–142.
3. Rokoko zwischen Sittlichkeit und Zärtlichkeit: Unzers Gedichte Anakreontische Literatur stellt in einem ganz eigenen Bildfeld die Suche nach einer neuen Sprache der Gefühle aus, die selbstverständlich polyvalent decodierbar bleibt und gerade durch die uneinheitliche Strömung keine poetologische Einheitlichkeit leisten kann. Dorothee Kimmich hat festgestellt, dass die Rhetorik und Stilistik der Rokokoliteratur hinter den eigenen Ansprüchen – Vergnügen, Geselligkeit, Unbeschwertheit beispielsweise – zurückbliebe, auch wenn gerade die hallesche Anakreontik besonders durch die Empfindsamkeit geprägt worden sei. 229 Die ethischen Implikationen der deutschen Anakreontik und ihre Zusammenhänge mit der Ausbildung der Ästhetiken Alexander Baumgartens und seines Schülers Georg Friedrich Meiers stehen längst fest. 230 Meine Überlegungen zeigen im Folgenden, dass Johanna Charlotte Unzer, die wir in den folgenden Kapiteln noch ausführlich besprechen, eine Integration von Sittlichkeit und Zärtlichkeit in den so lautenden sittlichen und zärtlichen Gedichten umsetzt und sich dabei am Lehrgedicht (Haller) wie Scherzgedicht (Gleim) orientiert. 231 Die anakreontische Lyrikströmung wird am Beispiel Unzers vom konservativen Gustav Roethe so abgewertet: „Der Hällische Genius loci spukt auch in dieser Lust an anakreontischen Tändeleien. Sie befehdet Gleim grollend, weil er alle Mädchen für Puppen erklärt hat, und lehrt ihre Leserinnen die ‚Frauenzimmerwissenschaft‘“. 232 Matthias Luserke müsste dem wohl zustimmen, denn er sagt in Bezug auf den jungen Goethe: „Rokokolyrik ist Männerlyrik [...].“ 233 Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Aussage quer steht zum Bekanntheitsgrad Unzers und ihren Erfolgen mit den Scherzgedichten und dem
_____________ 229 Vgl. Kimmich: Auf der Suche nach dem ganzen Menschen. Die künstlichen Paradiese epikureischen Glücks im Rokoko, S. 77–92; Beetz: Anakreontik und Rokoko, S. 1–17. Dass überdies die Anakreontik gerade Frauen eine Stimme gab, thematisiert Adam: Dichter und Bürger in der Provinz, S. 41. In Bezug auf die Möglichkeit von Frauen, an Literaturproduktion oder Geselligkeitskultur zu partizipieren, führt die programmatische Gegenspielerfunktion des Herrnhuter Pietismus für die Anakreontik nicht weiter. 230 Verweyen: ,,Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik“, S. 209–238. 231 Haller: Versuch Schweizerischer Gedichten (1732); Gleim: Versuch in Scherzhaften Liedern (1744). 232 Roethe: Unzer, Johanne Charlotte – Allgemeine deutsche Bibliothek, S. 332. 233 Luserke: Der junge Goethe, S. 27.
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späteren Versuch in sittlichen und zärtlichen Gedichten. 234 Die Abwertung also verstellt den Zugang zum Werk Unzers sowie zu ihrer Beteiligung an der Rhetorik der Emotionen und den Ausgleichsbestrebungen der rechten Mitte, wie sie paradigmatisch am Titel ablesbar ist: zwischen Sittlichkeit und Zärtlichkeit. Johanna Charlotte Ziegler wird 1725 in Halle als Tochter Anna Elisabeths, geb. Krüger, und des Bachschülers Johann Gotthilf Ziegler geboren. Durch das Arbeits- und Verwandtschaftsumfeld lernt sie ihren Mann, den Arzt und Schriftsteller Johann August Unzer, kennen, mit dem sie schließlich nach Altona geht. Der Germanist Roethe umreißt 1895 das kulturelle Umfeld Johanna Charlotte Unzers folgendermaßen: Hatte der Vater Dank seinen Beziehungen zu Aug. Herm. Francke eher einer pietistischen Richtung angehört, so huldigt die Tochter, die seit seinem Tode 1747 offenbar vorzugsweise unter dem Einfluß ihres mütterlichen Oheims, des Philosophen und Mediciners Joh. Gottl. Krüger [...] stand, durchaus der moderneren halleschen Normalweltweisheit der Wolff, Baumgarten und Meier. 235
Bei aller rückblickenden Abwertung Roethes bestätigt er damit Unzers enge Bindung an die zeitgenössische Philosophie. Ihr Freund und Förderer Meier hatte 1744 über den Stil anakreontischer, scherzhafter Dichtkunst eine Abhandlung geschrieben. 236 Ihre philosophischen und poetischen Schriften wurden zu Lebzeiten mehrfach aufgelegt, ihre Bekanntheit bestätigt noch Samuel Baur in der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1791. 237
_____________ 234 Unzer: Versuch in Scherzgedichten. Halle im Magdeburgischen: Hemmerde 1751; es folgen eine zweite und dritte jeweils vermehrte bzw. veränderte Auflage, Halle: Hemmerde 1753 und 1766; Versuch in sittlichen und zärtlichen Gedichten. Halle 1754; auch hier folgt eine zweite überarbeitete Auflage: Fortgesetzte Versuche in sittlichen und zärtlichen Gedichten: Rinteln 1766 und eine Fortsetzung dieser im gleichen Jahr. Der zweiten Aufl. sind im vorliegenden Exemplar die Scherzgedichte beigebunden (3. Aufl.) sowie Fabeln für das schöne Geschlechte von Herrn Eduard Moore. Aus dem Englischen. Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1762. 235 Roethe: Unzer, Johanne Charlotte – Allgemeine deutsche Bibliothek, S. 331. 236 Meier: Gedancken von Schertzen. Halle: Hemmerde 1744. Vgl. dazu auch Reiber: Anatomie eines Bestsellers. Johann August Unzers Wochenschrift „Der Arzt“ (1759–1764), S. 61; Perels: Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik, S. 169–172. 237 Der Literat und Theologe Samuel Baur stellt in der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1791 in seiner negativen Rezension von Deutschlands Schriftstellerinnen, eine charakteristische Skizze (1790) nur fest, dass Johanna Charlotte Unzer – die „bekannte Unzerin“, wie es bei ihm heißt – nicht berücksichtigt ist. Übrigens empört sich Baur am meisten über die lobende Erwähnung Sophie von La Roches, nicht weil sie gelobt wird, im Gegenteil; in völliger Unkenntnis werde das Lob als bloße Pflichterweisung im rezensierten Werk gleich wieder zurückgenommen.
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Im Geselligen gibt es eine praktische Anleitung zur Zärtlichkeit, die nicht erlernbar sei, sondern angeboren. 238 Im 129. Stück des Geselligen wird die Zärtlichkeit in Bezug auf die Liebe definiert, und zwar als notwendiger Bestandteil einer glücklichen Liebe. Wie Wolfgang Martens nachgewiesen hat, sind Rokokoelemente im Medium der Zeitschriften bereits früh in Deutschland etabliert. 239 Mit der Verbindung von Sittlichkeit und Zärtlichkeit – dem ‚vernünftigen Scherz‘ – entsteht ein „eigentümlich moralisches Rokoko“. 240 Damit schränkt Martens auch gleich ein, dass die Moralischen Wochenschriften, wenn sie Rokokogedichte abdrucken, über eine gewisse Grenze an Scherzhaftigkeit nicht hinausgehen. Gerade der Kuss, so heißt es im Geselligen weiter, sei der beste Ausdruck der Zärtlichkeit, und zwar ein „brünstiger, feuriger und sanfter“. Gerade die „anacreontischen Küsse“ machten süchtig nach mehr, unter Freunden beiderlei Geschlechts. 241 Küssen sei weder „Tändeley“ 242 noch Unzucht. Zärtlichkeit drücke sich körperlich auch so aus, dass ledrige Haut an Händen und Gesicht Fühllosigkeit bedeute. Manche Ehemänner, so ein weiteres kurioses Beispiel, hinterließen auch Nagelstriemen beim Streicheln über die Wange ihrer Frau. Dass die Stimme angenehm sein muss, steht auch im rhetorischen Kontext außer Frage, aber wenn mit angenehmer Stimme Kosenamen für die Frau wie „mein Bärchen“ anstelle des empfohlenen „mein Täubchen“ erfunden würden, 243 helfe das auch nichts. Ehe sich Unzer den sittlichen und zärtlichen Gedichten zuwendet, schreibt sie Scherzgedichte. In ihrer ersten Veröffentlichung also, dem Versuch in Scherzgedichten (1751, zweite Auflage 1753), schreibt Unzer in der Vorerinnerung über das richtige Verständnis anakreontischer Literatur und über die Emotionalisierung und Wirkung dieser Gedichte, „daß kein vernünftiger Leser in einer scherzhaften Ode die Sprache des Herzens, sondern vielmehr des Witzes und der Scharfsinnigkeit sucht [...]“ 244. Die Rede ist vom mittleren und niederen Stil. So wie der galante Liebesbrief sich vom eigentlichen Liebesbrief durch das Spiel mit Emotionalisierungsstrategien ausweist, nicht aber damit ernst macht, so ist es auch um diesen Versuch bestellt. Mit drei Auflagen in den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts eine sehr erfolgreiche Gedichtsammlung, bleibt Unzer jedoch nicht bei
_____________ 238 Der Gesellige, 129. Stück, S. 274. 239 Martens: Botschaft der Tugend, S. 70f. Wolfgang Martens zeigt, dass dies nicht erst in den 1740ern der Fall ist. 240 Ebenda, S. 72. 241 Der Gesellige, 129. Stück, S. 274. 242 Ebenda, S. 275. 243 Ebenda, S. 278. 244 Unzer: Vorerinnerung – Versuch in Scherzgedichten, unpag.
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diesem Programm, sondern kehrt es in der späteren Gedichtsammlung geradezu um. In der Vorrede zum Versuch in sittlichen und zärtlichen Gedichten tritt Unzer selbstbewusst auf. Der captatio benevolentiae ist die Frage nach den Stiltugenden eingeschrieben, die eine je unterschiedliche Erwartungshaltung hervorrufen; gerade die sittlichen Gedichte seien daher härterer Kritik ausgesetzt: Der Ernst [der sittlichen Gedichte] muß durch das Erhabene rühren, gleichwie die Zärtlichkeit durch Unschuld und Natur, und der Scherz durch sein Feuer. Gott, die Glückseligkeit, die Tugend, die Schöpfung, das Schicksal auf eine niedrige Art zu rühmen, oder den pathetischen Tod kriechend zu verachten, das heißt eben so viel, als große Sachen ungeschickt ins Kleine bringen. 245
Das Gedicht „Das Schicksal“ beginnt mit Unzers literarischen Vorbildern: „O! könnt ich izt ein Young, ein Haller/ seyn!/ Um Dir in schön geschmückten Bildern,/ In solchen Dir so werthen Schildereyen,/ Des Schicksals Ursprung abzuschildern!“ 246 Im gleichen Atemzug tadelt Unzer die Vernünftler, Zweifler wie „Spinosa! Zeno! Mahomet!/ Und Epikur!“ ab, weil sie Gottes Lenken hinterfragten. Im Grunde aber geht ihre Argumentation in folgende Richtung: Gottes Lenken bewahrheite sich in der Freundschaft mit der Baronessinn von Ponikau, der das Gedicht auch gewidmet ist. Das Gedicht endet mit einer empfindsamen Aufforderung an die Freundin: „Und lies dieß Denkmaal, wenn Du weinst.“ 247 Die zärtlichen Gedichte hingegen seien, nach ihrer eigenen Schaffenserfahrung, einfacher zu verfassen und weniger angreifbar. Wohl aber gäbe es – wie beim Schwesterbegriff Empfindsamkeit können wir ergänzen – sowohl ein oberflächliches wie auch ein tiefgründiges Verständnis von Zärtlichkeit. Unzer wälzt selbstbewusst das mögliche Missverstehen ihrer Lyrik auf den Leser ab, denn „würdige Leser zärtlicher Gedichte [seien] ganz ungemein rar“. Zeichen für das genus medium, in dem diese Gedichte abgefasst sind, ist die besondere Bildlichkeit, mit der Unzer Zärtlichkeit charakterisiert; nicht das Feuer des Witzes, sondern „gelinde Wärme“ und das „sanfte Licht“, die Affekte der Mitte, in ihren Worten: „sanfte Gemütsbewegung“ sind ihr eigentümlich. Dafür bedarf es besonderer Gestimmtheit, empfänglich sei der Leser nur „in den Schäferstunden des Herzens“ 248. Herzenssprache soll undogmatisch sein – vor eben diesem Problem der Lesbarmachung von Individualität und Unmittelbarkeit steht
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Unzer: Vorrede – Versuch in sittlichen und zärtlichen Gedichten, unpag. Unzer: Versuche in Scherzgedichten, S. 22. Ebenda, S. 29. Unzer: Vorerinnung – Versuche in Scherzgedichten, unpag. Die Vorrede, datiert auf den 16. August 1753 in Altona, ist auch in der zweiten Aufl. unverändert.
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die Empfindsamkeit oder der Pietismus. Im Topos der Seelenverwandtschaft soll, wie bereits gezeigt, zeichenlose Verständigung unter Freunden inszeniert werden. Die in diesen Gedichten gefeierte Freundschaft kann wiederum auf das mesótes-Ideal rückgeführt werden. Freundschaft ist in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik der Begriff für das richtige Verhalten in Gesellschaft 249 – weder liebedienerisch noch widerborstig –, für den er keinen entsprechenden eigenen Begriff hat. Dort heißt es, um den Stil der mesótes, die vernünftige Geselligkeit, zusammenzufassen: In Hinsicht auf das Angenehme bei geselliger Kurzweil ist, wer die Mitte einhält, gesellschaftlich gewandt und seine Eigenart die gesellschaftliche Gewandtheit. Das Zuviel ist die Hanswursterei und der Träger dieser Unart der Hanswurst. Bei dem Zuwenig spricht man vielleicht von Rüpel und Rüpelhaftigkeit. 250
Das gleiche gilt für meine Überlegungen zur Poetik Unzers. Was bei der mittleren Stillage einer Moralischen Wochenschrift wie des Geselligen und Unzers Texten dominiert, ist das Sympathieethos (Cicero). Darin treffen sich ethos als Gewohnheit und ethos als Charakter. Auch Quintilian weist nachdrücklich mit seiner Definition des ethos, wie in dieser Studie bereits ausführlich vorgestellt, auf „die Sittlichkeit des Redenden“ 251 hin. Eine Unterhaltungssemantik, wie sie um 1800 etabliert ist, stellt sich hier noch nicht heraus. In einem Diskursfeld, in dem sich Ethik und Ästhetik noch nicht voneinander getrennt haben 252, bietet die Neubestimmung mittlerer Stillage als Ausdruck positiv verstandenen Mittelmaßes und die Unterbietung des pathos durch das ethos eine produktive Lücke für weibliche Autorschaft.
_____________ 249 Wie auch Aufrichtigkeit und Gewandtheit. Vgl. Arist. NE 1108a. Vgl. auch von Zesen: Simson, Anmärkungen des zweiten Buches – Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 544: „Das Mittelmaß ist das beste.] Eben dasselbe wil Tullius andeuten/ wan er in seinem Buche von den Freundespflichten saget: Mediocritas Regula Optima, die Mittelmäßigkeit ist die beste Richtschnur/ oder das Mittelmaß ist das beste Maß [...]. wie auch Ovidius mit diesem halben Dichtbande: – – Medio Tutissimus Ibis [...], auf der Mittelstraße ist der sicherste Weg/ oder in der Mitte gehestdu am sichersten. Dan Virtus est Medium Vitiorum Utrinque Reductum, Hoc est, Virtus est Media Inter Duo Extrema Vitiosa; wie Horatz urteilet.“ Zum Bezug zur Freundespflicht vgl. Cic. de off., II, 59: „mediocritas regula optima est“. 250 Aristoteles NE 1108a. 251 Vgl. Quint. Inst. or. VI, 2, 13; vgl. zu Quintilians Definition im Zusammenhang und im Kontext dieser Studie Kap. I, 3.1, Anm. 140. 252 Ethische und ästhetische Theorien im 18. Jahrhundert sind noch nicht ausdifferenziert. Vgl. Eibl: Die Entstehung der Poesie; Reiber: Anatomie eines Bestsellers.
IV. Weibliche Autorschaft und empfindsame Rhetorik
Während im 18. Jahrhundert die Aufwertung des Gefühls und ein neues Menschenbild gefeiert werden, wird die Sublimation der Schriftstellerin durch eine Reduzierung auf das Gefühl – ‚natürliche Veranlagung‘, Einfühlsamkeit – geleistet. Wie im letzten Kapitel dargelegt – und aus diesem Grund ist auch eine weibliche Anakreontikerin zu Wort gekommen – ist empfindsame Rhetorik immer auch gendersensibel zu lesen. 1796 lauten die drastischen Worte in Knigges Über den Umgang mit Menschen stellvertretend für viele andere so: „Ich muss gestehen, daß mich immer eine Art von Fieberfrost befällt, wenn man mich in Gesellschaft einer Dame gegenüber oder an die Seite setzt, die größte Ansprüche auf Schöngeisterey, oder gar auf Gelehrsamkeit macht.“ 1 Eher sollten sich Frauen, heißt es weiter, an die „Bestimmung der Natur“ 2 halten, sonst erregten sie allenfalls Mitleid. Dabei hält sich der Gemeinplatz der Dichotomie der Geschlechter nicht nur deshalb so hartnäckig. 3 Exklusion und Chance für weibliche Autorschaft liegen im 18. Jahrhundert nah beieinander: Einerseits eröffnet das ‚Gefühl‘ die Möglichkeit für die Partizipation an den Diskursen Literatur, Wissen, Geselligkeit und also durchaus verknüpft mit Klugheit – aber eben nicht mit weiblicher Gelehrtheit. Damit ist das Andererseits bereits impliziert, nämlich der Ausschluss von den gerade neu aufgestellten Wissenschaften. Die Begriffe, die das ‚Gefühl‘ als weibliche Eigenschaft bestimmten – Natürlichkeit, Naivität, Einfühlsamkeit –, wurden nicht als rhetorische Termini gebraucht und an die Rhetorik- und Gelehrsamkeitstradition gebunden, sondern vielmehr anthropologisch-genetisch verwendet. Diese Konvention einer ‚doppelten‘ Begrifflichkeit deutet auf einen geregelten Code hin, der hochgradig konstruiert ist. Zur Veranschaulichung der Funktionsweisen gesellschaftlicher Codierung von Emotionsäußerungen ex negativo bietet sich beispielsweise das Reisetagebuch der Marianne Kraus an, die ab 1790 Hofdame der Frau des Grafen Franz von Erbach-Erbach ist. Das Tagebuch, das sie auf einer Italienreise als Begleiterin der Gräfin schreibt, ist nicht für die Veröffentlichung vorgesehen und lässt sich als unveröffentlichter Gegendiskurs lesen. Darin schildert sie daher mit deut-
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Knigge: Über den Umgang mit Menschen – Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 119. Ebenda, S. 120f. Vgl. beispielsweise die Übersicht bei Honegger: Die Ordnung der Geschlechter.
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lichen Worten und voller Witz ihre ‚Un-Empfindsamkeit‘, als sie mit Unverständnis der empfindsamen Wirkung in römischer Gesellschaft (Goethes, Angelika Kaufmanns und anderer) begegnet: Ich schämte mich meiner starken Nerven, wie ich so alle Damens und Herren weinen sah. Wenn ichs so vorgesehen hätte, ich würde mir Salz mitgenommen haben. Da sitzt also die hölzige Kraus neben einer Angelica [Kauffmann], die so laut schluckte, das sich Steine hätten bewegen können. [...] Gräfin Solms weinte sich fast die Nase wieder in ihre alte Form, der Hofmeister von den Prinzen 4 Schwarzenberg weinte auch bitterlich.
In diesem Ton schreibt die ansonsten dem Kunstgenuss zugeneigte Hofdame, der mehr zufällig eine Ausbildung als Malerin verwehrt geblieben ist. Ein interessantes Detail ist, dass diejenige, die die römische illustre Gesellschaft zum Weinen bringt, Emma Hamilton ist, die als Darstellerin lebender Bilder bekannt und gefeiert wurde. Marianne Kraus beschreibt das Können der Emma, „die alle mögliche [!] Stellungen, im Affekt von lustig, traurig, tanzend in rasende Verfassung kommt.“ 5 Es ist also äußerst aufschlussreich, diese bekannte Darstellerin des seit Diderot zur Mode gewordenen tableaus aus einer anderen als der bekannten goetheschen Perspektive zu betrachten – nämlich von einer Hofdame, die daran zweifelt, ob sie darüber Tränen vergießen soll oder sich vielmehr das Lachen verkneifen muss. Diese Beobachtung führt zu dem Schluss, dass die Emotionalisierungs-Strategien von Texten bzw. ihrer Performanz nicht per se wirken, sondern deren Rezeption eingeübt (im schwärmerischen Kontext: eingebildet) werden mussten. Kraus ތEindrücke sind ein gutes Beispiel dafür, dass die Empfindsamkeit ein künstlicher Diskurs ist, dessen Regeln geschlechterunabhängig erlernbar sind. 6 Die Einübung in die empfindsame Rhetorik für Frauen findet Ausgangspunkte in pietistischer lauter Bibellektüre und in der Tradition geselligen Vorlesens, aber auch im Verfassen von Briefen, einer Tätigkeit, die Vorstufe für Autorschaft, aber, wie am Beispiel Goethes gezeigt, nicht nur Vorstufe weiblicher Autorschaft, sein kann. Damit korrespondiert das delectare-Verbot für lesende Frauen um die Jahrhundertmitte, indem sie die einsame Lektüre zumindest mit nützlicher Arbeit verbinden müssen. So weist Becker-Cantarino exemplarisch auf die unbequeme Möbelkombina-
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Kraus: Für mich gemerkt auf meiner Reise nach Italien im Jahre 1791. Reisetagebuch der Malerin und Erbacher Hofdame, S. 96f. Marianne Kraus nimmt sich vor, ihr „Tagebuch hier so zu führen also, wie ich den Tag durch was in meinem Kopf fasse, so merk ich mir’s zum Nichtvergessen.“ (S. 52) Ebenda, S. 95f. Vgl. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 26f. Erich Schön hebt hervor, wie sehr die Orientierung nur am ‚professionellen Leser‘ zu verfälschenden Ergebnissen für die historische Perspektive, so für die Sattelzeit um 1800, führen würden.
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tion von Webstuhl und Lesepult für gleichzeitiges mechanisches Arbeiten und Lesen hin. 7 Gerade darin spiegelt sich auch die Vorstellung vom Luxus der Lektüre. Daniel Jenisch, der 1791 die aristotelische Ethik übersetzt und kommentiert und eine dementsprechende Vorstellung von der Tugendlehre und Glücksvorstellung entwickelt hat 8, stellt in seiner großangelegten Studie Geist und Charakter des 18. Jahrhunderts, politisch, moralisch ästhetisch und wissenschaftlich betrachtet (1800–1801) die „Liebhaberey für Lectüre“ als besonderes Charakteristikum des 18. Jahrhunderts heraus, gegründet in „Erziehung“, „Intellectualisierung und Verfeinerung“. 9 Bemerkenswert ist seine Analyse – noch nicht einmal aus der geschichtlichen Distanz heraus – des Bedürfnisses nach Lektüre als eines Unterhaltungs- und damit Luxusprodukts: Dies allein schon, daß die Geister, eben durch Lesen, ihre eigene vernünftige Ausbildung zum Gegenstande der Unterhaltung und des Phantasiespiels, zu einer Art von Luxus machen, und, mitten unter den reichlich-fließenden Quellen so vieler Vergnügen der Sinne, das Bedürfnis auch eines solchen Luxus haben, ver10 kündiget eine ausgezeichnete Culturhöhe.
So kommt es dann auch, dass Sophie von La Roche auf das Programm festgelegt wird: ‚Ich bin mehr Herz als Kopf.‘ 11 Das Herz als der Topos aus der literarischen Tradition, als die zentrale Metapher für die Empfindsamkeit wird entscheidend umfunktioniert: Das Herz weist den Autor nicht als gelehrten Kenner rhetorischer elocutio aus, der das produktive Spiel rhetorischer Bildlichkeit beherrscht. Vielmehr steht die Herzmetapher nun für weibliche ‚Natürlichkeit‘, die sich in einer scheinbar rhetorisch nicht reglementierten und damit unmittelbaren Herzenssprache beweisen muss. Empfindsame Literatur muss so wirksam sein, so sehr das Herz affizieren und ansprechen, dass selbst ihre Gegner weinen müssen. Dieses Herz zu erschüttern und zu erfreuen ist eine weit größere Aufgabe, als nur „Ausleerungen des Thränensacks und eine wollüstige Erleichterung der Gefäße“ 12 bewirken zu wollen. Denn die Empfindsamkeit, so wie Schiller sie als Gegenkonzept zu seiner klassischen Kunstvorstellung aufbaut, sei, so behauptet er, insofern keine Beschäftigung wert, als sie a) Unterhaltung und b) Mode-Literatur oder auch ‚Trivialliteratur‘ sei sowie
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Vgl. Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern, S. 27. Vgl. auch zum ‚Multifunktionsmöbel‘ die Studie zur Narrativierung des Wohnens von Wichard: Erzähltes Wohnen. Jenisch: Die Ethik des Aristoteles in 10 Büchern. Jenisch: Geist und Charakter des 18. Jahrhunderts, S. 394. Vgl. zu Jenischs Werk Sauder: Popularphilosophie und Kant-Exegese: Daniel Jenisch, S. 162–178. Ebenda. Vgl. dazu die Briefausgabe hrsg. von Maurer: „Ich bin mehr Herz als Kopf“. Schiller: Über das Pathetische – Werke (Nationalausgabe), Bd. 20, S. 199.
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c) nur die Sinne oberflächlich bewege anstatt die intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen, d. h. wohlgemerkt des Mannes, anzusprechen. Indem Schiller in Ueber das Pathetische die „schmelzenden Affekte“, also die sanften Leidenschaften der Empfindsamkeit, ausschließt, indem er Kant zitiert, 13 kappt er die Vorrangstellung des Mitleids in der Dramenästhetik: Die schmelzenden Affekte, die bloß zärtlichen Rührungen, gehören zum Gebiet des Angenehmen, mit dem die schöne Kunst nichts zu thun hat. Sie ergötzen bloß den Sinn durch Auflösung oder Erschlaffung und beziehen sich bloß auf den äußern, nicht auf den innern Zustand des Menschen. Viele unsrer Romane und Trauerspiele, besonders der so genannten Dramen (Mitteldinge zwischen Lustspiel und Trauerspiel) und der beliebten Familiengemälde gehören in diese Klasse. Sie bewirken bloß Ausleerungen des Thränensacks und eine wollüstige Erleichterung der Gefäße; aber der Geist geht leer aus, und die edlere Kraft im 14 Menschen wird ganz und gar nicht dadurch gestärkt.
Deutlicher kann die Absage an die mittlere, d. h. empfindsame sowie unterhaltsame – und nicht zuletzt ‚weibliche‘ – Stillage als Qualitätsmerkmal für Kunst nicht sein.
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Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft – Werke, Bd. 10, S. 199: „Der Affekt von der schmelzenden Art aber (welcher die Bestrebung zu widerstehen selbst zum Gegenstande der Unlust (animum languidum) macht), hat nichts Edeles an sich, kann aber zum Schönen der Sinnesart gezählt werden. Daher sind die Rührungen, welche bis zum Affekt stark werden können, auch sehr verschieden. Man hat mutige, man hat zärtliche Rührungen. Die letztern, wenn sie bis zum Affekt steigen, taugen gar nichts; der Hang dazu heißt die Empfindelei.“ (Herv. i. Orig.) Mit Kants neuer Terminologie, die die ganze weitere Diskussion um die Affekte bestimmt, wird ein neues Begriffsinstrumentarium geliefert, das allerdings nicht auf den hier fokussierten Betrachtungszeitraum zurückprojiziert werden sollte. An diese schließt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Psychologie an, so zum Beispiel Johann Friedrich Herbart in seinem Lehrbuch zur Psychologie (1819), der letztlich aber implizit Aristoteles ތmesótes-Lehre mitzitiert, wenn er vom Affekt sagt: „Kant‘s Einteilung der Affecten in schmelzende und rüstige verbreitet Licht über den Gegenstand. Die Abweichung vom Gleichmuthe nämlich kann nach zwei Seiten geschehen, entweder es ist zu wenig oder zu vieles im Bewusstsein gegenwärtig. Zur ersten Klasse gehören Schreck, Traurigkeit, Furcht, zur zweiten Freude und Zorn.“ Herbart: Lehrbuch zur Psychologie, § 105, S. 76. Schiller: Über das Pathetische – Werke (Nationalausgabe), Bd. 20, S. 196–221, hier S. 199. Andererseits funktioniert die Affektdarstellung französischer Klassizisten desto weniger, denn „kaum können wir es einem französischen Trauerspielhelden glauben, daß er leidet, denn er läßt sich über seinen Gemütszustand heraus, wie der ruhigste Mensch [...].“ (S. 197)
1. Information als Unterhaltung (Unzer: Grundriß einer Weltweißheit) Ein Gegenprogramm zur Reduktion weiblicher Autorschaft auf ‚das Gefühl‘ bietet Unzers Werk, und zwar ausgeprägt durch die Zusammenführung von Information als Unterhaltung. Als ein Schlüsseltext ist der Grundriß einer Weltweißheit für das Frauenzimmer (1751) der halleschen Philosophin und Schriftstellerin Johanna Charlotte Unzer zu lesen. Dieser Text belegt nicht nur, dass Unzer Wissenschaft explizit für ein weibliches Publikum schreibt, sondern dessen tragende Rolle offenbart sich auch darin, dass dies andere stilistische Mittel erfordert, die von Unzer auch als eine neue Form der Vermittlung reflektiert werden. Die erste Auflage des Grundriß einer Weltweißheit wird im Erscheinungsjahr begeistert aufgenommen. So heißt es in den Neuesten Zeitungen von gelehrten Sachen: So tritt jetzo selbst ein Frauenzimmer auf, und liefert ihrem Geschlechte eine Weltweisheit, die so deutlich, und so angenehm, geschrieben ist, daß die gelehrte Welt vollkommen überzeuget seyn muß, daß schöne Geschlechte brauche, die Weltweisheit zu erlernen, die männliche Hülfe nicht, und sey vielmehr im Stande, auch Männer zu unterrichten [...] Kurz, sie verdienet eine Lehrerinn ihres Geschlechts zu werden. 15
Ihre Bekanntheit wird auch im Titel der Weltweißheit angekündigt (vgl. Abb. 2). Johanna Charlotte Unzer war Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaften in Göttingen und Helmstedt. 16 1.1 Die Vorrede Krügers Der Grundriß einer Weltweißheit folgt der damals gängigen Einteilung und beginnt mit der Vernunftlehre (§§ 17–131), die Unzer zur Voraussetzung für die Weltweißheit (§ 17) macht. Die Hauptwissenschaft schließlich ist aufgeteilt in Grund- und Weltwissenschaft, Seelenlehre und einen letzten Teil zur Gottesgelahrtheit. Die Naturlehre wird 1751 als Fortsetzung separat
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Neueste Zeitungen von gelehrten Sachen 48 (1751), Leipzig. Zit. nach Langer: Johanna Charlotte Unzerin, S. 98. Cherubim/Walsdorf: Sprachkritik als Aufklärung. Die Deutsche Gesellschaft in Göttingen im 18. Jahrhundert, S. 148. Dass sie ein förderliches Umfeld hatte, zeigt auch diese Tatsache: Der wissenschaftliche Betreuer ihres Ehemanns Johann Unzers war neben Krüger auch Johann Juncker, bekannt als Arzt an den Franckeschen Stiftungen und der Universität, der Dorothea Erxleben promovierte.
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Weibliche Autorschaft
Abb. 2: Titelkupfer zu Unzer: Grundriß einer Weltweißheit (ULB Halle)
veröffentlicht und ist in der zweiten Auflage integriert. Die Schrift wird begleitet von einer Vorrede des halleschen Professors Johann Gottlob Krüger, Unzers Onkel und seit dem Tod ihres Vaters 1747 ihr Vormund. Mit dem typischen Rechtfertigungs-Topos stellt er, wie in so vielen vorgeschalteten Einleitungen von Männern zu Büchern mit weiblicher Autorschaft, heraus, dass er seiner Nichte die Schrift gewissermaßen abgerungen habe. Er argumentiert damit bereits 1751 nicht anders, als es Wieland rund 20 Jahre später im Vorwort zu La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) tun wird. 17 Von Wieland stammt übrigens auch das bis
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So zieht der Herausgeber Wieland im Vorwort folgendes Fazit zur angeblichen Motivation der anonym bleibenden Autorin („Freundin“): „Doch der liebste Wunsch unsrer Heldin ist nicht der Wunsch der Eitelkeit; nützlich zu sein, wünscht sie; Gutes will sie tun; und Gutes wird sie tun, und dadurch den Schritt rechtfertigen, den ich gewaget habe, sie ohne Vorwissen und Erlaubnis ihrer liebenswürdigen Urheberin in die Welt einzuführen.“ La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 17.
Information als Unterhaltung
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heute bekannte verunglimpfende Etikett von Unzer als dem „Anakreontischen Mädchen“ 18. Es scheint allerdings so, als müsse Krüger nicht nur die Gelehrsamkeit der Schriftstellerin verteidigen, sondern vielmehr auch sich selbst: „Ich habe gewiß geglaubt, mich dadurch um das schöne Geschlecht einigermaßen verdient zu machen, wenn ich durch eine neue Probe zeigte, daß ihre Seelen eben so geschickt wären, philosophisch als witzig zu denken.“ Krüger will, so schreibt er, die Frauen aus der „Tyranney“ der Männerherrschaft befreien. Dabei müsse er jedoch gleichzeitig befürchten, dass er als Weltumkehrer, dem eigenen Geschlecht den Krieg erklärend, missverstanden werde, wenn Frauen entdeckten, dass sie studieren und in die Arbeitswelt eintreten könnten, als Prediger, Advokaten oder Ärzte. 19 Am Ende läuft seine scheinbar außergewöhnliche Argumentation allerdings wieder auf das traditionelle weibliche Rollenschema hinaus; die einzig „rühmliche Beschäftigung“ sei die Versorgung von Kindern und Ehemann. Dazu sei eine Frau deshalb so gut in der Lage, weil sie über eine „Herzensgewissheit“ verfüge, gegen die, so seine Schlussfolgerung, keine Wissenschaft ankomme. Es bleibe damit nur eine Form der Rechtfertigung für diese Publikation, nämlich die Unterhaltsamkeit. „Kurz: es muß [den Frauen] die Durchlesung desselben mehr zum Vergnügen als zu einer Arbeit gereichen [...].“ 20 Unzer, so behauptet Krüger, habe sich deshalb bemüht, trockene Schulargumentation zu vermeiden. Für die wissenschaftliche Beglaubigung sorge er selbst als Herausgeber. 21 Letztlich sollten, so Krüger, die Leserinnen die Passagen zur Metaphysik einfach überblättern, weil man „noch nicht so klug geworden ist, daß man die Wahrheit oder Zweifel ohne Haß, Grimm, Neid, Verfolgung und andere Ungeheuer dieser Art in Bewegung zu setzen anhören könne.“ 22
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Wieland: Brief Nr. 42 an Pfarrer Johann Heinrich Schinz vom 18.4.1752 – Briefwechsel, S. 71: „Erlauben Sie mir nur noch sie zu fragen ob sie die Verfasserin des Versuchs in Scherzgedichten kennen; und was sie von einem Anakreontischen Mädchen denken. Mich, den der Charakter der Debora so sehr eingenommen hat, daß ich ganz gleichgültig gegen die annehmliche Thamar, und die reitzende Kerenhapuch [Figuren aus Bodmers Noah, das auch Thema im Brief ist] bin, würde ich solche Schöne sehr gleichgültig finden:“ Und zu Anakreon heißt es da, S. 67: „Warum wollen wir doch so grausam mit diesem zärtlichen Freund des Bachus und der Cythere umgehen. [Soll er] nur genennet werden, um ausgescholten zu seyn. Wenn ich ihn wieder lese so werde ich fast versucht michs reuen zu lassen daß ich ihm in etlichen Schriften so übel mitgespielt.“ Krüger: Vorrede – Unzer: Grundriß einer Weltweißheit, unpag. Auch in der Vorrede zur 2. Aufl. gibt Unzer diese Absicht Krügers in indirekter Rede wieder. Ebenda. Vgl. ebenda: „Ich habe vornehmlich in dieser Absicht das gegenwärtige Buch mit Anmerkungen begleitet.“ Ebenda.
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Weibliche Autorschaft
Womit er Unzers Intention, Philosophie für eine weibliche Leserschaft verständlich darzustellen, desavouiert. Unterhaltung ist letztlich aber die Schreibberechtigung für die Weltweißheit Unzers. Ist das delectare bis ins 18. Jahrhundert dem docere untergeordnet, so kehrt sich das Verhältnis bei der Rechtfertigung für weibliche Autorschaft hier um: Krüger ordnet in seiner Vorrede das docere dem delectare nach; solche Philosophie darf nur als Unterhaltung rezipiert werden. 1.2 Die Vorrede Unzers zur zweiten Auflage Es sieht erst so aus, als bestätige die Verfasserin die Argumentation Krügers. Sie habe, wie sie eingangs bemerkt, tatsächlich auf „Befehl und Zwang“ ihres Onkels Krüger geschrieben, so dass sie eine „gewisse Gleichgültigkeit gegen diese Schrift“ habe. Dem schließt sich ein Bescheidenheitstopos gegenüber ihrem Mann an: „Mein Mann schrieb mir über diese Wissenschaften eine Menge Briefe, er übersetzte mir die Baumgartische Metaphysik, und machte Erläuterungen von unsäglicher Mühe darüber.“ Einmal mehr wird der Brief als Medium zum Einfallstor für die Autorschaft einer Frau im 18. Jahrhundert. Krüger habe nach der Lektüre ihrer philosophischen Briefe an ihren Mann gesagt: „Sie müssen durchaus eine Philosophie schreiben.“ Damit weist sie sich trotz ihrer Demutsgebärden immer noch als Gelehrte aus. Die spezifische Eigenleistung, die Unzer selbst nennt, liegt auf Seiten stilistischer Freiheit innerhalb der mittleren Stillage im Kontext der Briefstilistik sowie der elocutio, ihrer „Verzierungen“, Beispiele und Geschichten. Thomas Gehring und Hans-Peter Nowitzki sprechen ihr hingegen jede Eigenleistung an den philosophischen Schriften ab. Vielmehr behaupten sie, diese Schriften seien ein Gemeinschaftswerk von Krüger und ihrem Ehemann Unzer gewesen. 23 Den Nachweis für diese Vermutung bleiben sie jedoch schuldig. Dass die Vorrede Unzers ambivalent ist, ist typisch und kein ausreichender Nachweis etwa gegen ihre Autorschaft. Eine Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek von 1770 entwirft ein entsprechend anderes Bild: Der Arzt Philipp Gabriel Hensler rezensiert Unzers Weltweißheit. 24 Er berichtet, dass Unzer zwar Gedanken von ihrem Mann aus den Briefen entnommen, aber „nach ihrer Art eingekleidet habe; [wissend, dass], eine Philosophie für das Frauenzimmer in verschiedenen Stücken anders eingerichtet seyn [müsste]“. Er spricht positiv von der
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Vgl. Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch, S. 93; Gehring: Johanne Charlotte Unzer. Hensler: Unzer, J. A.: Grundriß einer Weltweisheit für das Frauenzimmer – Allgemeine deutsche Bibliothek 11 (1770), 1. St., S. 280f.
Information als Unterhaltung
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„gelehrten Verfasserin“. „Der Werth des Werkes ist übrigens bekannt“, so Hensler, und nicht zuletzt auch, weil Unzer sich selbst in die Materie eingearbeitet und sich nicht alles unhinterfragt habe diktieren lassen. In ihrer Abhandlung selbst finden sich genügend Spuren dafür, dass Unzer eine genaue Kenntnis von den Wirkungsabsichten ihrer Texte und ihrer Herbeiführung sowie ein weithin entwickeltes Gespür und Interesse für stilistisch-rhetorische Ausdrucksmöglichkeiten besaß. 25 Durch ihre Teilhabe am medialen Umfeld von Empfindsamkeit und Pietismus, ihre Bekanntschaft mit Gleim, Uz, Sulzer, Pyra, Lange, vermittelt insbesondere durch Meier, kennt sie die Diskussion um Modegenres und Stilinnovationen. So formuliert sie unmissverständlich, dass die langweilige Rede – monoton, trocken, aperformativ – nicht auf die Herzen wirken könne und denselben Effekt habe, „als wenn eine arabische Rede gehalten würde“ 26. Damit ist angedeutet, auf welche Weise sich Unzer stilistisch und erzählerisch doch als Schriftstellerin etabliert, sie schreibt gemäß der gerade angesprochenen Vorgaben weder trocken noch schulmäßig, sondern bricht die Abhandlung durch die Einfügung von Erzählungen auf. Der popularphilosophische Ansatz Unzers in der Weltweißheit richtet sich an ein breites (im Titel explizit als weiblich apostrophiertes) Publikum. 27 In der Einführung zur Seelenlehre (§241) macht sie ihre Methode publikumsorientierten Schreibens explizit: „[...] so wird es doch ohne Zweifel unter meinen Leserinnen auch einige geben, die gerne Romanen lesen; und diese werden an dem zweiten Theile der Seelenlehre gewiß ihre Vergnügen finden.“ 28 Unzer versucht durch ihre Bearbeitung des Stoffes (der Metaphysik), der eigentlich einen anderen Stil empfiehlt, unterhaltsam zu schreiben, indem sie Unterhaltungen simuliert. Ein Beispiel: In § 280 verhandelt die Unzerin das Problem des IchBewusstseins als zentralen Bestandteil der Seelenlehre. 29 Sie bricht schon nach wenigen Worten ab und schaltet eine Erzählung ein, zum besseren Verständnis, zum Vergnügen und weil es sich außerdem um eine Neuigkeit handele: „Ich kann dieses nicht besser erläutern, als mit folgender persianischen Geschichte, die ich, wegen ihrer eigenen Neuigkeit, hier die Länge nach erzählen will, zum vermuthlichen Vergnügen meiner Leserinnen.“ (398)
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Vgl. Beetz: Anakreontik und Rokoko, S. 1–17. Unzer: Grundriß einer Weltweißheit (Seelenlehre), S. 413. Vgl. Meyer: Das Bild der Frau in der Philosophie, S. 143. Unzer: Grundriß einer Weltweißheit, S. 322. Vgl. Meiners: Grundriß der Seelen-Lehre. Darin referiert er die üblichen Positionen und stellt in diesem Zusammenhang auch fest: „Zu den merkwürdigsten innern Gefühlen gehört das Gefühl unseres Ichs oder unserer Person.“ (S. 15)
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Weibliche Autorschaft
Selbst wenn man Krügers Rezeptionsanweisung für die Arbeit seiner Nichte, trockene Passagen auszulassen, folgt, so bleiben die Geschichten. Zwar sind Metaphysik und Seelenlehre mehr als nur Rahmenwerk für ihr Literaturschaffen; dennoch ist der Stellenwert der Geschichten hoch anzusiedeln. Unzer zeigt, dass ihre Texte eben kein „Papageyengewäsch“, keine „Worte ohne Gedanken“ sind. Die dafür notwendige Selbstbeobachtung mag ein Charakteristikum des pietistischen Umfelds gewesen sein, in dem sie aufwuchs. Die Einübung in die Selbstbeobachtung geschieht innerhalb der betrachteten Medien durch genaue Beobachtung anderer im Dialog. Solche Beobachtung geschieht nicht durch das Gefühl oder inmitten einer Stimmung, einer emotionalen Handlung, sondern ist – nach einer gewissen Reaktionszeit – nur in der Reflexion möglich. Unzer bleibt sich treu; anstelle einer Reflexion über die Reflexion, anstelle eines Referats über den Sitz der Seele – sie zählt alle Theorievarianten auf – schiebt sie eine kurze Erzählung über einen Reisenden ein, der nach seinem ihm eigenen Ort sucht. Sie übersetzt gleich für den Leser: Der Reisende ist die Seele: „Sie sitzt an ihrem Orte, und lacht selbst darüber, daß sie so viel von andern Dingen weiß, und doch ihren eigenen Ort nicht ergründen kann.“ 30 Gerade dieser Stil aber ist es, der Gustav Roethe in der Allgemeinen deutschen Biographie von 1895 wie selbstverständlich zu abwertenden Bemerkungen über die „Frauenzimmerlichkeit“ Unzers veranlasst: Bei jeder geschlossenen Gedankenreihe wirds der Verfasserin unbehaglich; die mathematische Methode Wolff‘s, überhaupt das abstracte Denken, überläßt sie getrost den allerdüstersten Männern; sie greift statt zu strengen Beweisen lieber zu hübschen Geschichten aus dem Spectator oder zu Versen Haller‘s und Gellert‘s, die sie verwegen genug anwendet: muß doch gar ein Liebesgedicht Haller’s herhalten, um den Nutzen der Einsamkeit – aber nicht für die Liebe, sondern fürdas Studiren zu beweisen. [...] Aber das Ganze plaudert so unschuldig fröhlich dahin, daß mans sich gern gefallen läßt. 31
So liefert Roethe – völlig unbeabsichtigt – doch ein gelungenes Résumé ihrer Qualitäten.
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Unzer: Grundriß einer Weltweißheit, S. 455. Roethe: Unzer, Johanne Charlotte – Allgemeine deutsche Biographie, S. 331f.
2. Verabschiedung der Mitte (Hensel: Die zärtliche Mutter) Es gibt weit mehr als nur „ein halbes Dutzend“ bürgerlicher Trauerspiele, 32 eine Tatsache, die die an der Höhenkammliteratur orientierte Forschung lange – und zuungusten weiblicher Autorschaft – ignoriert hat. Das Genre kommt vielmehr nach der zeitgenössischen Aufstellung von Christian Heinrich Schmid aus dem Jahr 1798 auf die beachtliche Zahl von 229 deutschen bürgerlichen Trauerspielen. 33 Schmid hat in seine Litteratur des bürgerlichen Trauerspiels alle diejenigen aufgenommen, „die es wirklich sind“ 34, so auch Shakespeare für die englische Literatur. Dass der Begriff also nicht trennscharf ist, zeigen auch die Überschneidungen zum weinerlichen Lustspiel, aus dem Lessing das bürgerliche Trauerspiel ableitet. 35 Hensels Drama Die Entführung, oder: die zärtliche Mutter kann als weinerliches Lustspiel ebenso wie als bürgerliches Trauerspiel gelesen werden. Fest steht, dass Hensel durch die Titeländerung (ursprünglich: Die Familie auf dem Lande) den Aspekt der Zärtlichkeit, und das bedeutet Empfindsamkeit, fokussiert. Schmids Definition nach müsste nun die Genrebezeichnung in „häusliche Tragödien“ 36, allenfalls „tragische Familiengemählde“ umbenannt werden, um sicherzustellen, dass Bürgerlichkeit nicht mit dem städtischen Stand, dem Bürgertum, verwechselt werde. 37 Die Differenzen um den Genrebegriff wurden in der Forschung abgearbeitet, indem Bürgerlichkeit unmittelbar mit der Strömung der Empfindsamkeit in Beziehung gesetzt bzw. gerade diese Beziehung abgelehnt wurde. 38 Besonders Peter Szondi griff Lothar Pikulik mit scharfen Argumenten an – er warf ihm „groteske Thesen“ vor und einen „antiliteratur-
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Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte, S. 72. Vgl. Schmid: Litteratur des bürgerlichen Trauerspiels, 282–314. Ebenda, S. 282. Lessing: Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 264–281, insbesondere Lessings Vorrede, S. 264–267. Der Begriff ‚häuslich‘ wird auch hinsichtlich des Romans verwendet. Vgl. Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst. Nach der Übersetzung Lessings in: Das Theater des Herrn Diderot – Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5/I, S. 213 („häusliche Romane“). In der Einleitung der dramatischen Dichtkunst geht es um die Einteilung in vier Gattungen; im Zusammenhang der Wortverwendung ‚häuslich‘ heißt es zum Trauerspiel, es habe „unser häusliches Unglück zum Gegenstand.“ Ebenda, S. 126. Schmid: Litteratur des bürgerlichen Trauerspiels, S. 282. Vgl. etwa Pikulik: Bürgerliches Trauerspiel und Empfindsamkeit sowie ders.: Leistungsethik contra Gefühlskult; Sauder: Empfindsamkeit, Bd. I, S. XIII: „Empfindsamkeit im Kontext der Aufklärung ist in die Aufstiegsbewegung des Bürgertums eingebunden.“
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soziologische[n] Ansatz“ 39; das Erkenntnisinteresse in dieser Arbeit baut notwendig auf dieser Forschungsdiskussion auf, ohne die Streitpunkte zentral zu setzen. Die ideengeschichtlichen Überlegungen von Tilman Reitz sind beim Verständnis von Bürgerlichkeit und Bürgertum nicht mehr zu umgehen. Er hebt Bürgerlichkeit als Mentalität, als Haltung deutlich hervor und nimmt zusätzlich die Ausdifferenzierung des Standes Bürgertum aus dem Stadtbürgertum in den Blick. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen Clemens Albrecht und Andreas Fahrmeier im Eintrag Bürgertum/Bürgerlichkeit in der Enzyklopädie der Neuzeit. 40 Gleichzeitig haben wir in diesem Fall, wie auch in Lessings bürgerlichen Trauerspielen eindeutig, den Landadel als Personal vor Augen. 41 Bürgerlichkeit, Häuslichkeit, Familiendrama – letztlich führt die genderorientierte Forschung zum Drama des 18. Jahrhunderts einen Genrekonsens herbei, da sie ohnehin auf einer Erweiterung des Kanons bestehen muss: Eine gendered narratology 42 kann anknüpfen an Konzepte des weiblichen Subkanons 43, um zu einem differenzierten Bild von der Individualisierung der Gefühle um 1800 mit einem Korpus von kanonischen und gegenkanonischen Texten zu kommen. Die Re-KanonisierungsBestrebungen, wie sie von Anne Fleig 44 beschrieben werden, zeigen, dass gerade nicht das Stehenbleiben bei dem Postulat, die Geschlechtscharakte-
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Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, S. 19, und weiter S. 69 und S. 110f. Ähnlich lautet die Kritik an Pikulik bei Eibl: Bürgerliches Trauerspiel, S. 66. Gerhard Sauder zieht Bilanz über den Forschungsstreit in: Empfindsamkeit. Tendenzen der Forschung aus der Perspektive eines Betroffenen (2001); darin betont er erneut den Zusammenhang von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit (S. 309); als weitere Bilanzierung vgl. außerdem dens.: Die andere Empfindsamkeit. Richard Alewyns Kritik an den Thesen von Gerhard Sauder (2005). Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Empfindsamkeit gerade keine Gegenbewegung zum sich konstituierenden Bürgertum darstellt, darin aber auch keineswegs aufgeht und sich auch zeitlich nicht nur an diese Konstitutionsphase binden lassen kann; dass es aber offensichtlich immer noch als notwendig erscheint, auf die Kontroverse und ihre Ergebnisse hinzuweisen, zeigt sich bei Oesterle: Die Sprachwerdung des Gefühls (2003), S. 45f. Vgl. Kord: Ein Blick hinter die Kulissen; Reitz: Bürgerlichkeit als Haltung, insbesondere S. 12–20; Albrecht: Bürgerlichkeit – Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, S. 567–572; Fahrmeir: Bürgertum – ebenda, S. 583–594; vgl. außerdem das programmatische Vorwort der Herausgeber Friedrich, Jannidis und Willems des Sammelbands Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, worin prononciert darauf hingewiesen wird, dass die Konstitutionsphase nicht mit der Konsolidierung und dem entsprechenden Selbstbewusstsein gleichgesetzt werden dürfe, S. IX–XL. Vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 130, 382–384 u. a. Allrath: (En)Gendering unreliable narration, S. 7. Pailer: Gattungskanon, Gegenkanon und weiblicher Subkanon. Zum bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts, S. 365–382. Fleig: Vom Ausschluß zur Aneignung. Neue Positionen in der Geschlechterforschung zur Aufklärung, S. 79–89.
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re um 1800 seien polarisiert und also festgeschrieben, Bewegung in den Kanon bringen kann, sondern nur eine Differenzierung. So z. B. hat Susanne Kord 45 in ihrer Lektüre weiblicher Autorschaft im Drama um 1800 festgestellt, dass nicht nur anders erzählt wird, sondern auch andere Themen und damit andere Konfliktlösungen im Vordergrund stehen: Man stelle Lessings Väter-Töchter-Dramen der bekannten bronfenschen weiblichen Leiche 46 und der, wie wir sehen werden, rabiaten verwitweten Mutter in Hensels Die Entführung, oder: die zärtliche Mutter gegenüber. Vor der Herausgabe des henselschen Dramas durch Anne Fleig (2004) stellte Susanne Kord 1993 fest: „Friederike Sophie Hensel (1738–1789), spätere Seyler, ist heute völlig unbekannt.“ 47 Lessings Haltung zu Hensel sei, so Kord, insofern zurückhaltend gewesen, als sie sich lautstark über seine Rezension beklagt habe. Die Entführung sei folglich eine Antwort auf Lessings Miss Sara Sampson, welche Sophie Hensel selbst durch die Rolle der Sara mehrfach – und durch diese so gegensätzliche Rolle zu ihrem eigentlichen Rollenfach der Heroine (Medea-Marwood) auch eigenwillig und ambivalent – interpretiert und, für unseren Blick modern, aufgeführt hatte. Man kann davon ausgehen, dass Hensel davon fasziniert gewesen ist, Sara und Marwood in ihren Strukturähnlichkeiten zweier Rollenfächer verbunden zu sehen. 48 Eine Mutter in den Mittelpunkt eines weinerlichen Lustspiels zu stellen, ist sicher für das 18. Jahrhundert ungewöhnlich. Auf den ersten Blick scheint die Mutter- der Vaterrolle des Sir William aus Lessings Miss Sara Sampson jedoch zu ähneln: Der erste Auftritt der Elternfiguren zeigt die Sorge um die entflohene Tochter, beide werden im Gespräch mit dem vertrauten Personal gezeigt, das die Vorzüge der Töchter („tugendhaft“, I,4,7 49) lobt und diese auf die Vorbildfunktion der Eltern zurückführt. Die Mutter wird zur Erzieherin empfindsamer caritas (Nächstenliebe). Ein beträchtlicher Unterschied ist jedoch auch festzustellen, denn während Vater William sagt, er wolle lieber eine lasterhafte als keine Tochter haben, reagiert die Mutter entgegengesetzt: „Wenn ich sie zu Grunde gerichtet – lasterhaft finden sollte! – Ach Arabelle denn – denn würde die Entdeckung ihres Aufenthalts mir schrecklicher seyn, als mir itzt die Ungewißheit ihres Schicksals ist.“ (I,4,7)
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Vgl. Kord: Ein Blick hinter die Kulissen. Vgl. Bronfen: Nur über ihre Leiche. Kord: Tugend, S. 1. Vgl. Kord: Tugend, insbesondere S. 4–8. Die zur besseren Lesbarkeit im Fließtext integrierten Angaben von Akt, Szene, Seitenzahl in diesem Kapitel sind entnommen aus Friederike Sophie Hensel: Die Entführung, oder: die zärtliche Mutter. Ein Drama in fünf Aufzügen. Mit einem Nachwort hrsg. von Anne Fleig. Hannover: Wehrhahn 2004.
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Diese rigide Vorstellung von Gehorsamkeit, die sich an der Tugendhaftigkeit der Tochter herauszustellen hat – ein dominierendes Denkmodell in Deutschland im 18. Jahrhundert 50 – und die nicht geglaubt, sondern bewiesen werden muss, unterbindet eine empfindsame Kommunikationssituation. Es handelt sich geradezu um „eine Umkehrung desjenigen Verhaltens, das der zärtliche Vater in Lessings Miß Sara Sampson an den Tag legt [...].“ 51 Bei der Verheiratung ihrer Töchter geht es der Mutter folglich um Gehorsam (II,1,15); sie rückt davon auch nicht ab, als der empfindsame Graf Drummond die Liebesehe einfordert, sondern sie gibt zu verstehen, dass sie zwar auch gegen „blinden Gehorsam“ (II,1,16) sei, aber grundsätzlich dafür, dass die Tochter den Wert des Mannes durch den Willen der Mutter einsehen lernen müsse und sich dementsprechend entscheide. Der Text wirft Fragen auf, ob mit der Mutter-Figur gleichzeitig auch eine Gegenfigur in das Genre eingeführt wird 52 und, wenn ja, welche Auswirkungen das auf den weiteren Verlauf der Handlung haben könnte, auf die Rezeption und auf die Tatsache, dass dieses Stück nachträglich aus heutiger Perspektive nicht nur anders gelesen wird, weil es als nicht kanonisch gilt, sondern auch, weil es von einer Frau und erfolgreichen Schauspielerin verfasst worden ist. Unter diesen voraussetzungsreichen Dialogen über Tugendgehorsamkeit und die Pflicht zur Mutterliebe ist es – aus nachträglicher Sicht – schwer einsichtig, was an dieser Mutter zärtlich genannt werden dürfe. Wenn wir gleich zu Anfang argwöhnen, dass es sich möglicherweise nicht um eine zärtliche Mutter handelt, sondern um eine rabiate, ist gerade auch der Ausgang zu prüfen: Haben wir es tatsächlich mit einem ‚happy end‘ zu tun? Eine stückinterne Erklärung für die zärtliche Mutter wird allerdings in der dritten Szene des zweiten Akts explizit angeboten: Der Bruder der Mutter, Lord Digby, berichtet von der – wie sich später herausstellen wird, nur scheinbaren – Flucht der Tochter Karoline mit Ogliby auf ein Landgut. Digby macht seiner Schwester den Vorwurf: „[...] daß kömmt von Eurer klugen Erziehung her, daß ihr Eure Kinder so verzärtelt.“ (II,3,17f.) Graf Drummond, sein Kontrahent, hält dagegen: „Zärtlichkeit,
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Wilson: Obedience, S. 47–59. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und soziale Drama, S. 28. Franziska Schößler spricht sich für eine Einbeziehung heute nicht kanonischer bürgerlicher Trauerspiele aus, um zu differenzierteren Aussagen über Themen und Motive gelangen zu können. Entweder taucht die Mutter gar nicht erst auf, so in der Miss Sara Sampson und im Nathan, oder sie trägt Mitschuld am Konflikt, wofür exemplarisch Frau Glaubeleichtin, Claudia Galotti oder die Millerin stehen dürften. Vgl. zu Familienkonstellationen im bürgerlichen Trauerspiel insbesondere Frömmer: Vaterfiktionen, Kraft: Töchter, die keine Mütter werden; Schönenborn: Tugend und Autonomie; Schmiedt: Liebe, Ehe, Ehebruch.
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wenn sie von der Klugheit geleitet wird, ist bey der Erziehung der Kinder nützlicher, als eine allzugroße Strenge.“ (II,5,19) Dabei ist mit dem Paratext vor Handlungseingang bereits rezeptionslenkend eingegriffen worden, der Untertitel heißt schließlich: „die zärtliche Mutter“. Zärtlichkeit als Synonym der Empfindsamkeit, zumindest in der frühen Phase der Epoche, ruft einen ganzen Bedeutungskontext auf und wird bei Adelung als „hoher Grad der Liebe“ umschrieben. 53 Der Untertitel erinnert an Gellerts erfolgreiches Lustspiel Die zärtlichen Schwestern. 54 Dies spricht, wie bereits vorgestellt, weiterhin für die genremäßige Offenheit des Dramas. 55 Lord Digby begründet seine Vorwürfe in einem Brief des Verführers Ogliby, den er Drummond zeigt und kommentiert: „Alles Verstellung. – Verdammte Verstellung! – Aber, glauben Sie mir, die Weiber sind alle so. Der Henker kann sie nicht ergründen, wenn sie einmal angeschossen sind.“ (II,5,21) Dass der Brief gefälscht sein könnte bzw. Falsches erdichtet haben könnte, kommt ihm, der die Empfindsamkeit nicht beherrscht, natürlich nicht in den Sinn. Dabei spricht Ogliby im Brief bereits von einer Verstellung. Er hatte zuvor um die Hand von Karolines Schwester Julie angehalten, wohl wissend, dass er damit keinen Erfolg haben würde, um so seine angebliche, womöglich aber tatsächliche, Liebe zu Karoline zu verheimlichen. Eigentlich aber handelt der abgewiesene Liebhaber Ogliby aus Geldgier und Rache. Der Lord durchschaut nichts und zeigt seine Eingeschränktheit durch restringierte Sprache und hält nichts auf Komplimente. Er will den Adoptivsohn Karl aus dem Haus verweisen, weil er im Witwenhaushalt und als Habenichts dort nichts zu suchen habe. Dass Lady Danby eine Witwe ist, ist die einzige Möglichkeit, sie als selbstständige Frau und als Familienoberhaupt darzustellen. Als Witwe hat die Mutter tatsächlich den größten Wirkungskreis, der zeitgenössisch vorstellbar ist, sie kümmert sich um Erwerb und Zukunft ihrer Töchter. Zwangsläufig aber werden ihr sie beratende Männer zur Seite gestellt, nämlich ihr Bruder und der befreundete und in Julie verliebte Graf Drummond. Wie recht der Lord nun mit seiner Vorsicht hat, dass Karl nur Unruhe stiften werde, zeigt sich unmittelbar in der nächsten Szene: Die Liebesverwirrungen werden im Monolog von Karl aufgedeckt (II, 7). Karl ist gerade in Julie verliebt, hatte sich aber zuvor von Karoline hinreißen lassen, die wiederum ihn liebte; Karl glaubt, dass er jetzt um Julie
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Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4: Zärtlichkeit, Sp. 1656. Vgl. zum Kontext Hinck: Das deutsche Lustspiel. Auch Lessings Miss Sara Sampson hat nicht bloß Komödienelemente – etwa die Verkleidungsszene – zu verzeichnen, sondern noch im vierten Akt ist die Wende zum ‚happy end‘ möglich.
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werben dürfe, von der er glaubt, dass sie ihn auch liebt, da Karoline – scheinbar – nun eine neue Liebe gefunden hat und sein Herz damit wieder frei ist. Indem sich die Mutter allerdings dazu entschließt, nicht zu handeln (sie will Karoline ihrem Schicksal überlassen), bringen sich Lord Digby und Graf Drummond in die Vaterrollen, wobei in ihnen der Patriarch und der empfindsame Vater gegenübergestellt sind. Mit dieser Dreieckskonstellation beginnt der dritte Akt. Man kann die Charakteristika beider auf den Punkt bringen, indem man ihrer beider Verfahrensvorschlag gegenüberstellt: Lord Digby: „Aber, Sie bedenken nicht Freund, dass man dem gemeinen Wesen ein Beyspiel schuldig ist, das andere ungerathene Töchter abschrecken kann, ihre Familie zu beschimpfen.“ Graf Drummond: „Solche Sachen, wenn sie einmal geschehen sind, muß man vor der Welt zu unterdrücken, und nicht weiter auszubreiten suchen.“ (III,1, 29)
Während Lord Digby hier so offensichtlich um die Ehre seiner Familie bemüht ist, hält er dafür umso weniger von gesellschaftlichen Konventionen, wie die Ablehnung eines Höflichkeitsbesuchs bei Lady Alton zeigt. Der Kommentar Lady Danbys zu ihrem Bruder ist allerdings ambivalent: „Immer stürmisch. – Welch ein Mann.“ (III,3,32) Ähnlich wie auch die Beziehungsebene der Eltern- mit der Kindergeneration in den zuvor betrachteten bürgerlichen Trauerspielen gestört ist, kommt es auch hier nicht zur Partizipation der Töchter am Gespräch. Sinnfällig wird dies am Wahnsinn der zurückgekehrten Tochter, wodurch eine Kommunikation endgültig unmöglich gemacht wird. Die durch die Entführung wahnsinnig gewordene Karoline richtet ihre Rede, die sich durchaus auch als ironisch, vielleicht als durch den Wahnsinn wahre Sprache, interpretieren ließe, an die Mutter: „warum weint denn die arme Julie? Ist ihr auch übel begegnet worden? Sie ist ja, wie ich denke, bey einer so zärtlichen Mutter gewesen! Sie werden ihr gewiß nichts getan haben.“ (III,10,37) Es ist eindeutig, dass Karoline durch ihre Sinnesverwirrung nicht mehr in der Lage ist, die Codierung der Zärtlichkeit bzw. Empfindsamkeit zu entziffern, denn die Mutter erklärt: „[...] deine Schwester weint aus Zärtlichkeit über dich.“ (ebd.) Anfangs hatte Lady Danby zugegeben, dass sie Karoline schon immer bevorzugt habe (I,6,9). Entsprechend verzeiht die Mutter ihrer offenbar kranken Tochter diese Aussage, während sie vorher Julie durch offene Drohungen zugesetzt hatte. Es darf also verwundern, dass Lady Danby ihrer weniger geliebten Julie, als sie ihr den Kummer ansieht, sagt: „Du kannst nie eine Freundinn haben die dein Vertrauen mehr verdiente.“ (II,10,26) Mehr als deutlich versteht es die Mutter mit double-bind-Aussagen, die zum dramatischen Knoten werden, ihre Tochter zu erpressen. Julie interpretiert richtig: „Jeder Entschluß wird
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für mich schrecklich seyn. Wenn ich die Wüsche der besten, der zärtlichsten Mutter zernichte, so werde ich ihr Herz noch tiefer verwunden; erfülle ich sie, so wird das meinige unter der Last der grausamsten Marter erliegen.“ (II,11,27) Die Verengung des Tugendbegriffs auf weibliche Moralpraxis auch in Form sexueller Unschuld ist ambivalent, und zwar nicht nur aus heutiger, sondern auch aus zeitgenössischer Perspektive. Nicht zu entscheiden ist, ob diese Verengung angeprangert oder ausgestellt wird. 56 Diese Ambivalenz wurde und wird, wenn sie nicht aufgelöst wird, als störend empfunden. Susanne Kords Vorschlag dazu ist das einzig Weiterführende, nämlich nicht über Autorintentionen zu spekulieren, sondern nach Antworten im Text und der Anlage der Figuren zu suchen. Das Stück endet entsprechend keineswegs in einem happy end, auch wenn die gattungsgemäße Doppelverlobung bzw. Heirat beinahe vollzogen wird. Wie auch in Luise Adelgunde Victorie Gottscheds Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, aber auch Lessings Miss Sara Sampson, ist letztlich offen gelassen, ob das Ende nur den äußeren Schein, also nur die ScheinTugenden, wiederherstellt. „Während das Stück auf der Oberfläche weibliche Tugenden propagiert, werden eben diese Tugenden konsequent bezweifelt und negiert.“ 57 Kords Fazit lässt sich noch weiter zuspitzen: Denn wenn man von der „Emotionalisierung des Patriarchalismus“ 58 im 18. Jahrhundert – hier des Matriarchalismus? – ausgeht, dann handelt es sich um einen Herrschaftsdiskurs, der die Macht durch die Geschlechtervertauschung mit anderen Mitteln, aber nicht weniger wirkungsvoll herstellt. Die Vorrangstellung von Emotion, in diesem Fall die Liebe der Tochter, kündigt das Matriarchat/Patriachat nicht auf, sondern wertet es um. Die hierarchische Unterordnung unter eine liebende Mutter wird durch die eingeforderte Narrativierung der Emotionen und in einer expliziten Besprechung durchgesetzt, so beispielsweise, wenn Lady Danby moralischen Druck durch die Erzählung ihres eigenen Gefühlshaushalts ausübt. Aufklärerische Ausgleichsbestrebungen werden in Hensels Text ad absurdum geführt, sie führen in die Sackgasse. Damit ist aber nicht der Ausbruch in die unkontrollierte Leidenschaft gemeint. Die Bezeichnung der zärtlichen Mutter ist vielmehr nicht von der Utopie der Ausgleichsbewegungen der Mitte überformt. „Das Ideal von der Integration des einzelnen in eine Menschheitsfamilie, wie sie sinnbildlich etwa in den Schlußszenen von Nathan und Miß Sara Sampson entworfen wird, realisiert sich
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Vgl. Kord: Tugend, S. 5. Kord: Ein Blick hinter die Kulissen, S. 49. Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 37.
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erst durch konstruktiv verlaufende Sprechakte.“ 59 Das Stück endet ernüchternd. Die von der Zärtlichkeit der Mutter unter Druck gesetzte Julie entsagt nicht nur dem geliebten Karl zugunsten Karolines, sondern erbittet sich ein wenig Zeit, um sich an den empfindsamen Grafen zu ‚gewöhnen‘. Ihre letzten, möchte man mutmaßen, verzweifelten Worte gelten allerdings Lady Danby: „Beste Mutter! – darf ich mir schmeicheln, daß Sie mit dieser Erklärung zufrieden sind?“ (V,10,71) Das empfindsame Rührstück erhält damit einen ganz anderen Akzent. Gleiches gilt auch für das empfindsame Genre des Briefromans mit weiblicher Autorschaft, wie im Folgenden am Beispiel der Honigmonate untersucht werden soll. Wie Hensels Drama als Antwort auf bereits bestehende Konzepte gelesen werden kann, liest sich Fischers Briefroman als Antwort auf La Roches Publikumserfolg Fräulein von Sternheim. Auch hier wird gezeigt, dass die empfindsame Rhetorik, die ausgleichende Mitte und sittliche Tüchtigkeit zum Ziel hat, scheitert und ein glücklicher Ausgang unmöglich ist.
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Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 95. Und dass auch Lessings Utopien, sei es in der Miss Sara Sampson oder im Nathan, brüchige Utopien sind, ist längst erwiesen.
3. Ein weiblicher Wilhelm (Fischer: Die Honigmonate) Caroline Auguste, geborene Venturini, schuldig geschiedene Christiani, geschiedene Fischer hat ein bewegtes und für ihre Zeit selbstbestimmtes Leben geführt. 60 Dies zu erwähnen ist insofern relevant, als ihre literarischen Figuren, gerade ihre weiblichen Figuren, häufig mit emanzipierten Lebensentwürfen ausgestattet sind und sich daher in der Forschung meist eine autobiographische Lesart angeboten hat. 61 Auch der Briefroman Die Honigmonate 62 entwirft alternative und durchaus widerstreitende Gesellschaftsbilder. Obgleich Anita Runge in ihrem Nachwort zur maßgeblichen Ausgabe zunächst problematisiert, dass fiktionale Literatur nicht ohne Weiteres als Beleg für die Biographien ihrer Autorinnen oder deren Lebensumstände anzitiert werden dürfe, bezieht sie doch ihre Argumente zum Eheleben einer bürgerlichen Frau um 1800 aus Fischers Romanen. 63 Dies ist hier gleichwohl nicht das Erkenntnisinteresse. Runge spricht außerdem von literarischen „Topoi“, die der literarischen Darstellung einer Ehe zugrundeliegen: „Der Verlauf der ungleichen Ehegeschichte folgt gängigen und um 1800 bereits trivialisierten Mustern.“ Für die Argumentation hieße dies – was selbstverständlich nicht beabsichtigt ist – gerade nicht von der Innovationsfähigkeit und Kritik dieses Romans sprechen zu dürfen. Auch Clementine Kügler versucht diesen selbstgemachten Scheinwiderspruch aufzulösen, indem sie den Briefroman als doppelt codiert herausstellt. Sie spricht von den Honigmonaten einerseits als „triviale[r] Unterhaltungslektüre“, andererseits als „Mißtrauen gegen die herrschende Geschlechterdichotomie“ 64. Ebenso charakterisiert Runge die Stileigenschaften des Romans als empfindsam, „die – obwohl ästhetisch nicht mehr sehr geschätzt – in populären Romanen bis ins 19. Jahrhundert hinein vor allem von Schriftstellerinnen verwendet“ 65
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Zur Biographie Caroline Christiani-Fischers nach Laun: Memoiren von 1837, vgl. Huerkamp/Meyer-Thurow: „Die Einsamkeit, die Natur und meine Feder, dies ist mein einziger Genuß.“ Christian August Fischer (1771–1829) – Schriftsteller und Universitätsprofessor, S. 198f. Zu Biographie und zu den Tücken, die die Reduktion weiblicher Autorschaft auf die Biographie der Schriftstellerin mit sich bringen, vgl. Runge: Nachwort. – In: Fischer: Die Honigmonate, S. 205. Fischer: Die Honigmonate. Gegenüber der Titelei Honigmonathe wird der Titel im Folgenden nach den Vorgaben der Werkausgabe, hrsg. von Anita Runge, ohne th zitiert. Runge: Nachwort. – In: Fischer: Die Honigmonate, S. 214f. Kügler: Caroline Auguste Fischer. Eine Werkbiographie, S. 69. Runge: Nachwort. – In: Fischer: Die Honigmonate, S. 232.
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würden. Mit solchen Aussagen werden ungewollt die Abqualifizierungen der zeitgenössischen Literaturkritik um 1800 übernommen und ein bestimmtes Verständnis von Literatur vorausgesetzt. Wichtiger wäre dagegen festzuhalten, dass sich Fischer an einem extrem erfolgreichen literarischen Konzept beteiligt, das letztlich davon lebt, unterschätzt zu werden. Die zeitgenössischen Rezensionen sprechen aber gerade nicht von der simplen und eindeutig aufzulösenden Struktur, wie sie Unterhaltungsliteratur unterstellt wird, sondern von deren Komplexität. So zeichnet die Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1803 ein überaus positives Bild von den Honigmonaten: Der durch einige frühere Versuche bereits vortheilhafte Vf., oder wenn wir der Ankündigung des Verlegers glauben sollen, die Verfaserin, hat mit diesem kleinen Romane dem bessern Teil des Publikums gewiß ein angenehmes Geschenk gemacht. Die gewöhnlichen Romane endigen in der Regel mit der Hochzeit, hier ist endlich einmal das Gemälde einer anfangenden Ehe aufgestellet. 66
Es gehe um Eifersucht des Mannes und ‚sanftes Unglück‘ der Frau. Zum besseren Verständnis seien an dieser Stelle kurz die Zusammenhänge skizziert: Die empfindsame Julie wird vom moralisch zweifelhaften Obristen Olivier zur Heirat gerdrängt, obwohl Wilhelmine und letztlich auch Reinhold, beider Freunde, dies zu verhindern suchen. Als Gefühle zwischen Oliviers Pflegesohn Antonelli und Julie offensichtlich werden, bringt Olivier Antonelli um und stürzt sich selbst in die Schlacht; Julie bleibt ihr Leben lang allein. Das „Gemälde einer anfangenden Ehe“ 67 ist somit ein zynischer Abgesang auf die Ehe, noch ehe sie begonnen hatte. Das Lob des „anziehenden Werkes“ begründet der Rezensent gleichwohl damit, dass sich darin „eine Menge neuer und rührender Situation finden“ ließen. Gelobt wird die „psychologische Entwicklung“ der Charaktere. Die Belehrung, was eine gute Schriftstellerin ausmache, kehrt sich unbeabsichtigt in ein Lob der Verfasserin: „Nur immer mehr Natur, Simplicität und Festigkeit, nur immer mehr Correctheit, Präcision, und Wohlklang, und sie kann eine vortreffliche Schriftstellerin werden.“ Bereits die anstelle des Verfassernamens stehende Ersatzformel „Vom Verfasser von Gustavs Verwirrungen“ weist darauf hin, dass Fischer durch den 1801 erschienenen Roman Gustavs Verwirrungen bereits eine bekannte Größe auf dem Markt war, als 1802 die Honigmonathe erschienen. In der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek von 1803 wird der Stil des Briefromans nach den Kriterien für den außerliterarischen Brief, wie be-
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[Anonym]: [Fischer, C. A.]: Die Honigmonathe. T. 1–2. Von dem Verf. von Gustavs Verirrungen [i.e. C. A. Fischer]. Posen, Leipzig: Kühn 1802 – Allgemeine Literaturzeitung 17 (1803), H. 1, S. 135f. Ebenda, S. 136. Die im selben Abschnitt folgenden Zitate ebenda.
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reits skizziert worden ist, gelobt und lediglich Wilhelmine und Olivier werden als übertriebene Charaktertypen hervorgehoben: Mit Vergnügen stimmt Rec. in das Lob, das ein anderer Mitarbeiter dieser Bibl. [...] ein paar frühern Produkten des hoffnungsvollen Verf. ertheilt hat. Auch hier sind die Charaktere wahr und natürlich, abgerechnet, nur die des General Olivier und der Männerfeindin Wilhelmine etwas über die Natur hinausgehen. Dagegen bleibt die Heldinn dieser Liebesgeschichte, Julie, bis auf den letzten Augenblick der ihr zugetheilten Rolle, der schönen Natur ihres Characters treu, ohne sich in das Reich der Ideale zu versteigern. Die Scenen sind gut angelegt und glücklich ausgeführt. Je schwieriger die Briefform ist, je mehr macht es dem Verf. Ehre, daß er diese Schwierigkeit mit so gutem Erfolge überwunden hat. Die korrespondierenden Personen schreiben in ihren Charaktern, und behaupten in ihren Herzens- und Geistesergießungen die ihnen gegebene Eigenthümlichkeit. Ihre Diktion ist gefällig und und korrekt, und der Styl hat alle die Leichtigkeit und Kürze, die die Briefform anziehend und gefällig machen. 68
In der beschriebenen Briefstilistik werden alle Charakteristika des Briefideals in der Folge Gellerts abgerufen – Leichtigkeit, Kürze, Gefälligkeit, Natürlichkeit: Letztere Eigenschaft ist dadurch umschrieben, dass die Figuren mittels ihres genuin individuellen Briefstils charakterisiert werden. Dies wiederum geschieht durch die gelungene Narrativierung des Inneren. Fischer bedient sich jedoch nur vordergründig der konventionellen Bildlichkeit empfindsamer Briefromane. Unter der Oberfläche dieser Rhetorik zeigt sich, dass das Ziel, ein gesellschaftlich verbindliches ethisches Verhalten festzulegen, verfehlt wird. Empfindsamkeit und empfindsamer Liebe ist der Boden der Kommunikation entzogen: „Die Liebesgeschichte wird ausschließlich mittelbar [durch Briefe anderer] entfaltet.“ 69 Dem steht die programmatische Leseransprache im Vorwort gegenüber. In ihr wird die Suche nach der rechten Mitte der Emotionen als Rechtfertigung für die folgende Handlung explizit gemacht: „Wie viel Böses man den Leidenschaften auch nachsagen mag; ohne sie scheint es gleichwohl dem Menschen unmöglich, sich seiner ganzen moralischen Kraft bewußt zu werden.“ Clementine Kügler ordnet das Vorwort so ein: „Fischers Verteidigung der Leidenschaften im Vorwort wendet sich, von Rousseau beeinflusst, gegen den strengen Rationalismus der Aufklärung.“ 70 Die Intuition, als sensualistisch aufgewerteter Begriff für moralisch richtiges Urteilen, drückt sich in der Sympathie aus, wie sie hier Julie paradigmatisch vertritt. Problematisch wird diese Sympathie erst durch die
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[Anonym]: Honigmonate, die, vom Verf. von Gustavs Verirrungen. 2 Thle. – In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 83 (1803), 2. St., S. 373. Der Rezensent weiß auch, dass die Verfasserin ein „weibliches Talente“ und „eine Dame ist“. Runge: Nachwort. – In: Fischer: Die Honigmonate, S. 234. Kügler: Caroline Auguste Fischer. Eine Werkbiographie, S. 73.
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für sie konstitutive Distanzlosigkeit zu den zu Bemitleidenden. Das fellow feeling, wie es in Adam Smiths Theorie der ethischen Gefühle (1759) heißt, lässt grundsätzlich Sympathie gegenüber allen Leidenschaften zu (allerdings sekundärer Art, da die Emotion nur durch das Einfühlen und nicht durch das eigene Erleben ausgelöst werde, wie Smith weiter ausführt). 71 Dieses Programm im Vorwort trifft allerdings nicht auf Olivier zu, dessen Leidenschaften von ihm nicht in sympathetischer Einfühlung ‚beobachtet‘ werden, sondern der anstelle Reflexion Handlung bevorzugt, also leidenschaftlich ist. Die Leidenschaften werden repräsentiert durch die in der Rezension als überzogen bewerteten Figuren Olivier und Wilhelmine. An Wilhelmine wird die Erfolgsgeschichte der Bezähmung der Leidenschaften, an Olivier das Scheitern der Affektkontrolle demonstriert, allerdings mit der Einschränkung, dass sowohl Täter als auch Opfer im Verlaufe der Handlung nicht eindeutig geschieden werden und beide Figuren ambivalent aus dem erfolgreichen bzw. erfolglosen Lernprozess hevorgehen. Beider Entwicklung wird durch die Beziehung zu Julie gezeigt; nur wenige Briefe stammen von ihr selbst, in Handlungsbeschreibungen müssen ihre Gestik und Mimik ausgedeutet werden, weil sie kaum spricht. So interpretiert beispielsweise Wilhelmine: „Sie spricht gefasst, aber bleich wie eine Leiche.“ 72 Julie hat Wilhelmine, die ein stürmisches Mädchen war und bei der alle Erzieher gescheitert waren, empfindsames ethos durch ihre natürliche Begabung, mehr als durch kognitive Ansprache, beigebracht (21. Brief). Wilhelmine hat eine enge Beziehung zu Julie als ihrer weitgehend einzigen Bezugsperson entwickelt, so dass sie zu wissen meint, dass Julies Gefühle gegenüber Olivier nicht aus Liebe, sondern aus Mitleid bestünden. Wilhelmine ist sich zu jeder Zeit ihrer Empfindungen bewusst, spricht diese reflexive Qualität aber der empfindsamen Julie ab, wenn sie fragt: „Soll ich sie aufklären über ihre Empfindung?“ 73 Damit korrespondiert auch Oliviers wütende Aussage, Wilhelmines selbstständige Art komme „von dem vermaledeiten Aufklären.“ 74 Olivier nimmt die Kampfansagen Wilhelmines sehr ernst, wenn er von ihr sagt, sie sei eine „Amazone“ 75. Das Bild von Wilhelmine, das Oliviers Vertrauter Reinhold zeichnet, ist hingegen gespalten: Einerseits ist sie der ‚weibliche Wilhelm‘ ohne Lei-
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Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 2. Der Originaltitel lautet The Theory of Moral Sentiments. Fischer: Die Honigmonate, 1. Teil, 37. Brief, S. 124. Ebenda, 66. Brief, S. 250. Ebenda, 11. Brief, S. 31. Ebenda, S. 29.
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denschaften, Sinnlichkeit und Geschlecht, andererseits hat sie in Reinhold eine „neue Empfindung“ geweckt, und zwar insbesondere durch „gehaltvolle Worte“. 76 Dadurch können ihre im Kontext der Zeit hochgradig revolutionären Gedanken zur Ehe, mit denen sie den Roman eröffnet, neu eingeordnet werden: Ihrer Figur werden vertiefte Kenntnisse über die stilistischen Unterschiede zwischen pathos und ethos zugeschrieben. Sie ist keinesfalls anti-empfindsam, sondern analysiert und verwendet empfindsame Rhetorik aus kritischer Distanz. So referiert sie programmatisch über die Verfehlung des Romans Elisa oder das Weib wie es sein sollte 77 (1795) als empfindsamem Roman, dessen Stillage der Empfindsamkeit nicht angemessen sei: „Freilich die gute Elise war nun einmal gewohnt, auf ihrem Kothurne im höchstmöglichen Pathos einherzuschreiten, und hatte das Glück von ihrer gutmüthigen Schöpferin bis an ihr pompeuses Ende darauf erhalten zu werden.“ 78 Diese Stellungnahme ist vor dem Hintergrund der Irritationen, die der zwar anonym erschienene, aber mit dem Etikett des Frauenromans spielende Text bei den Zeitgenossen hervorgerufen hat, besonders herauszuheben. 79 Als „himmelschreiend [...], daß selbst Weiber unsre Ketten erschweren“ 80, positioniert sich Wilhelmine also gleich zu Beginn als derjenige Charakter, der das unkritische Ernstnehmen empfindsamer Rhetorik bis hin zu Selbstaufgabe – in Person der Julie – kritisiert. Ihr an die Seite gestellt ist Oliviers Freund Reinhold, der als ihr männliches Pendant die ‚double-binds‘, aufgrund derer eine Frauenfigur gegen das im Drama so verhandelte gesellschaftliche implementierte Ideal nur verlieren kann, auf den Punkt bringt: Seyd ihr [Frauen] eingeschränkt an Verstande; so glauben wir uns berechtigt euch als bloße Mittel zur Befriedigung unserer Sinnlichkeit zu gebrauchen. Untersteht ihr euch zu denken; so beschuldigen wir euch der Unweiblichkeit und betrachten
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Ebenda, 20. Brief, S. 57. Vgl. [Wobeser]: Elisa oder das Weib wie es sein sollte. Der Text erscheint 1795 anonym. Neben Caroline Auguste Fischer als Verfasserin werden auch Benedikte Naubert, Christan August Fischer, Carolines Lebensgefährte, gehandelt. Selbst nach dem Tod Wobesers 1807 ist die Autorschaft in der Öffentlichkeit nicht bekannt. Von Christian August Fischer stammt ein, wie es im Untertitel heißt, „nothwendiger Anhang“ zur Elisa von 1800 mit dem Titel Über den Umgang der Weiber mit Männern. Fischer: Die Honigmonate, 1. Teil, 7. Brief, S. 20. Lydia Schieth überlegt sogar, ob nicht der Verleger Heinrich Gräff sich diese Rezeptionsmuster und Erwartungshaltungen der Rezipientinnen zunutze gemacht habe, um den Roman bestmöglich auf dem literarischen Markt zu platzieren und in der öffentlichen Diskussion zu halten. Vgl. Schieth: Nachwort, S. 15*: „Warum sollte also nicht in seinem Haus [Gräffs Verlag] die Fiktion einer das Modell des perfekten Frauenromans verfassenden Autorin entworfen worden sein?“ Fischer: Die Honigmonate, 1. Teil, 7. Brief, S. 18.
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euch als Empörer. Behandeln könnt ihr uns mit der höchsten Vernunft, nur wissen dürft ihr nicht, daß ihr sie habt. Alles Große und Erhabene an euch dulden wir nur als Instinkt, nie als Raisonnement. 81
Ganz ähnlich reagiert Wilhelmine auch auf Julies Absage der von ihr vorgeschlagenen alternativen Lebensform: Zwey Weiber können sich nicht alles seyn? – Schlimm genug? Schlimm genug, daß die Geschöpfe welche den Weibern dieses so genannte Alles seyn sollen, dieses Alles so elend repräsentiren. [...] Nenne mir ein Laster, was sie nicht an uns abscheulich, und sich erträglich fänden? Nenne mir eine Tugend, die sie nicht von uns foderten, um sie nach Wohlgefallen zu zerstören. 82
Mit diesen Worten beschreibt Wilhelmine insbesondere auch Olivier, der seine Leidenschaften nicht der Moral unterordnen und auch nicht aus ihrem „Zauberkreis“ 83, wie es Reinhold nennt, heraustreten will. Im Gegenteil, Olivier betont das passive Moment, das dem Begriff innewohnt: „Du [Reinhold] würdest leiden, wo ich handle.“ 84 Nur scheint Olivier zwischenzeitlich durch die charismatische Empfindsamkeit Julies für kurze Zeit wie verändert, denn er ist sich selbst ein Rätsel der Enthaltsamkeit. Diese empfindsame bzw. empfindliche Schwärmerei, in die Olivier verfällt, beschreibt Reinhold positiv als Natürlichkeit, als „Losreißen von allem Sinnlichen“ 85 und von aller Erfahrung, denn: „Ohne Schwärmerey hätten wir keine Philosophen und keine Dichter, keine Religion, keine Kunst und keine Wissenschaft.“ 86 Diese Qualität besitzt Olivier jedoch nur vorübergehend. Das dem vorhergehende Eingreifen der Freunde, die Julie aus Oliviers Nähe entfernt hatten, hat den Zustand zugespitzt. Greifbar wird dies an einem Brief, den Olivier an Julie mit zittriger Hand schreibt und wegen Unleserlichkeit erneut abschreiben muss. Als er den abgeschriebenen Brief betrachtet, stellt er einen bemerkenswerten Vergleich auf, der die Verzahnung von Brief und empfindsamer Rhetorik beschreibt: „So lange es [das Briefblatt] in meinen Händen ist, fühle ich nicht den entsetzlichen Schmerz in meiner Brust. Mich dünkt, Sie hätten es schon berührt, hätten es gelesen. Ihre Antwort stünde darauf.“ 87 In ähnlicher Weise reflektiert auch Julie, entgegen der Behauptung Wilhelmines, sie könne ihre Emotionen nicht reflektieren, ihre leidenschaftliche Beziehung zu Antonelli mittels der Therapie des Briefeschreibens, die aus den undeutlichen Empfindungen deutliche machen soll:
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Ebenda, 12. Brief, S. 16. Herv. i. Orig. Ebenda, 2. Teil, 4. Brief, S. 15f. Ebenda, 1. Teil, 42. Brief, S. 144. Ebenda, S. 143. Herv. i. Orig. Ebenda, 1. Teil, 23. Brief, S. 72. Ebenda, S. 73. Ebenda, 34. Brief, S. 116.
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„Dieser Brief – er kommt doch nicht in Deine [Wilhelmines] Hände. Ich müßte ihn selbst bringen. Ich schreibe nur um mich zu fassen, um mir selbst deutlich zu machen, was ich denke.“ 88 Das Schreiben als Form der Affektkontrolle, der Reflexion der Emotionen, scheint zu funktionieren – Julie findet Worte und gießt ihre Gedanken in vollständige Sätze. Olivier hingegen kann, seit er Julie gesehen hat, nur eines denken: „Sie oder den Tod.“ 89 Dass er sie trickreich zu sich zurückgeholt hat, beendet seine Schwärmerei augenblicklich als bloßes Momentum und verweist auf ein Ende mit Schrecken: Olivier wird erst Julie in die Einwilligung zur Ehe zwingen, dann seinen Pflegesohn Antonelli töten und sich selbst in der Schlacht in den Heldentod stürzen. Insgesamt stellen die Analysen von Fischers Briefroman und Hensels Drama ein markantes Missverhältnis zwischen der weiblicher Autorschaft zugeschriebenen Empfindsamkeit und der analysierten Rhetorik der Empfindsamkeit heraus. Die Diskrepanz ergibt sich daraus, dass sich beide Texte entgegen dem Klischee Empfindsamkeit nicht als Möglichkeit zur Seelenverwandtschaft und damit zur grundsätzlichen Vermittelbarkeit von Emotionen darstellen, sondern im Gegenteil kritisch auf das Phänomen der Empfindsamkeit als einer Rhetorik reflektieren und somit für eine ‚aufgeklärte Empfindsamkeit‘ plädieren.
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Ebenda, 2. Teil, 54. Brief, S. 197. Ebenda, 1. Teil, 38. Brief, S. 131.
V. Rhetorik der Empfindsamkeit auf die Probe gestellt (Haken: Blicke aus meines Onkels Dachfenster in’s Menschenherz)
Die Dramatisierung der Handlung durch den polyperspektivischen Briefroman einerseits und der hohe Sprachanteil empfindsamer Dialoge im Drama andererseits – diese zwei Konstitutiva für empfindsame Rhetorik werden in Ludwig Hakens Erzählung Blicke aus meines Onkels Dachfenster in’s Menschenherz (1790) 1 zusammengeführt und ihr Gelingen auf die Probe gestellt. Diese Erzählung ist in der vierbändigen Sammlung Amaranthen enthalten, die in der Folge des ersten Bandes, Die Graue Mappe aus Ewald Rinks Hinterlassenschaft (1790), erscheint und auf die 1808 die Neuen Amaranthen folgen. Der in Halle zum Theologen ausgebildete Ludwig Haken ist aber insbesondere bekannt als der fleißige Sammler und Kommentator der, bereits zeitgenössisch als trivial abgestempelten, Robinsonaden. Und besonders für „die Schätzung der Kupferstichromane im allgemeinen wie Chodowieckis im besonderen ist Haken ein gewichtiger Zeuge.“ 2 Zur erzählerischen ‚Konkurrenz‘ zu Chodowieckis Illustrationskünsten zählt die Allgemeine Literatur-Zeitung Hakens Graue Mappe aus Ewald Rinks Hinterlassenschaft: „Mit einem Chodowiecki in der Charakterzeichnung zu wetteifern, ist kein geringes Wagstück, aber dieser Vf. hat wirklich die Meisterzüge des Künstlers in einen vortreflichen historischen Zusammenhang gebracht.“ 3 Hakens Graue Mappe, von der August Langen die Vorbemerkungen für die „zeitgeschichtlich interessanten“ hält, umfasst mehrere Romane nach Kupferstichvorlagen geschrieben, die jeweils für sich erfolgreich waren. Kupferstiche sind eine Modeform des 18. Jahrhunderts, wie sie vor allem Chodowiecki produziert hat und die „durch den Guckkasten, dieses psychologisch wichtigste Symbol der Zeit, betrachtet“ 4 werden. Bemerkenswert ist, dass Friedrich Blanckenburg bereits 1775 im Vorbericht zu seinem Roman Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten den Guckkasten zum Rahmen seines Sittengemäldes erhebt: „Der Guckkasten wird euch [den Lesern] den Vortheil verschaffen, daß ihr die Figuren vergrößert, nach Maaß und Umständen verschönert, und in ein heller Licht
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1790 erscheint der erste Band, Hakens Erstlingswerk, anonym bei Unger/Berlin. Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts, S. 95. [Anonym]: [Haken, J. C. L.]: Die graue Mappe aus Ewald Rinks Verlassenschaft. – In: Allgemeine Literatur-Zeitung 303 (1790), S. 132f. Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts, S. 87.
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gesetzt findet.“ 5 Langen vergleicht diese Betrachtungsweise mit der zeitgenössischen Bühne und kommt zu dem Schluss, dass der Ausschnittcharakter trotz Illusionsvertrags nicht wegzudenken, sondern gerade Strukturmerkmal und der „Rahmen um die Situation [,] das Entscheidende und didaktisch Wertvolle“ 6 gewesen sein müsse. Diesem „Bilderbuchstil“ 7 setzt sich, so scheint es auf den ersten Blick, Literatur entgegen, die pietistische oder empfindsame Selbstanalyse betreibt und vor der komplexen Veranschaulichung von abstrakten Emotionen steht. Blanckenburg spricht von den Charakterzeichnungen als Schattenrissen, die er „ganz fleißig ausschneiden, illuminiren, mit dem besten Oelpapier unterziehen“ 8 wolle, damit die „Gemälde“, wie er es nennt, gefielen. Goethe hingegen äußert sich im Brief an Schiller vom 23. Dezember 1797 abfällig über anschauliche Kupferstichliteratur: „Ebenso wollen die Menschen jede interessante Situation gleich in Kupfer gestochen sehen, damit nur ja ihrer Imagination keine Tätigkeit übrig bleibe so soll alles sinnlich wahr vollkommen gegenwärtig dramatisch sein und das dramatische selbst soll sich dem wirklich wahren völlig an die Seite stellen.“ 9 Nun ist aber gerade im Fall von Haken auffällig, wie er die literarische Innenschau mit der Rahmung von Situationsbildern verbindet. Das zeigt sich exemplarisch im zu betrachtenden Text Blicke aus meines Onkels Dachfenster in’s Menschenherz. Diesem ambitionierten Erzählkonzept, das in den weiteren Überlegungen zentral sein wird, steht eine Kritik gekünstelten Stils entgegen, wie sie in der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung zu Hakens Robinsonaden zusammengefasst ist: eine „Schreibart, die, obschon im Ganzen lebendig und anregend, doch zu viel Prätension macht, zu rhetorisch und selbst hie und da zu steif ist [...]“ 10. Sein erzähltes Drama, das im Folgenden im Fokus stehen wird, interessiert nicht so sehr wegen seines Untertitels, des Beytrags zur Pathognomik, wiewohl für unseren Kontext selbstverständlich die Verbindung von In-
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Blanckenburg: Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten. Vorbericht, S. 62. Herv. i. Orig. Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts, S. 88. Ebenda, S. 96. Blanckenburg: Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten. Vorbericht, S. 57. Goethe: Brief Nr. 467 an Schiller, SA. 23.12. 1797 – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. II, Bd. 4 (31), S. 464–467, hier S. 465. Jenaer Allgemeine Literaturzeitung 42 (2/1806), S. 334.
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nen und Außen durch ‚Blicke‘ spannend erscheint. 11 Doch muss angemerkt werden, dass anstelle des Stichworts Pathognomik eher die Physiognomik zu erwarten wäre – wenn man bedenkt, dass es zunächst um die Charakterologie einer Hausfront geht, die, in der Natur der Sache angelegt, nur eine stillgestellte Charakterologie sein kann, und nicht, wie der Begriff der Pathognomik impliziert, gerade die durch Leidenschaften hervorgerufenen Bewegungen und Veränderungen am Äußeren. 12 Die Untersuchungen über den Charakter der Gebäude; über die Verbindung der Baukunst mit den schönen Künsten und über die Wirkungen, welche durch dieselbe hervorgebracht werden sollen erscheinen 1788 anonym und geben in Bildtafeln genauen Aufschluss über die Charakterisierung von Gebäuden, wie sie den Anfang, allerdings auch nur den Anfang dieser Erzählung von Ludwig Haken bestimmen: Eine der wichtigsten Leistungen der Architekturtheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war es, die Hierarchisierung der Bauaufgaben gemäß der feudalen Gesellschaftsordnung zugunsten einer neuen Ordnung aufzugeben, in der der Charakter des Gebäudes die wichtigste unterscheidende Kategorie wurde. Da ein Schloß oder ein Kirche aber nicht mehr, sondern nur einen anderen Charakter haben konnte als etwa ein Gefängnis oder eine Scheune, war die Rangordnung der Bautypen untereinander relativiert. [...] In den 1788 anonym erschienenen „Untersuchungen über den Charakter der Gebäude“ wird die Charakterlehre auf die Spitze getrieben, indem hier die Lehren der Physiognomie auf die Umrisse von Gebäuden angewandt werden und vom Profil eines Hauses auf den Charak13 ter von dessen Bewohnern geschlossen wird [...].
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Die einzige Untersuchung dazu bislang bei von Arburg: Der Physionomiker als Detektiv und Schauspieldirektor. Johann Ludwig Hakens Blicke aus meines Onkels Dachfenster in’s Menschenherz (1802), S. 54–68. Prägend ist die Physiognomik, wie sie Lavater entwickelt und personalisiert hat. Aus diesem Kontext des minutiös sezierbaren Gesamteindrucks und den daraus nach Lavater ableitbaren Regeln und empirischer Überprüfbarkeit heraus entwickelt Lichtenberg sein Gegenkonzept der Pathognomik. Vgl. dazu stellvertretend Port: Pathosformeln, S. 77–80; Geitner: Klartext, S. 357–385. Von Arburg plädiert dafür, in der Betrachtung von Physiognomik und Pathognomik, und in Person Lavater und Lichtenberg, die immer als Opposition betrachtet werden, zu differenzieren. Vgl. von Arburg: Kunst-Wissenschaft um 1800, S. 102: Pathognomik dürfe „nicht als exklusive Alternative zur Physiognomik mißverstanden werden [...], sondern [müsse] vielmehr als eine ihrer Verfahrensvarianten begriffen werden.“ Philipp: Architektur des Klassizismus und der Romantik in Deutschland, S. 152–193, hier S. 157f. Vgl. auch ders.: Um 1800. Architekturtheorie und Architekturkritik in Deutschland, S. 16: „Gegenüber früheren Jahrhunderten und Jahrzehnten wurde um 1800 so viel über Architektur diskutiert wie nie zuvor. Es ist ein Diskurs, der das Erscheinen von Kunstzeitschriften voraussetzte, und von Beginn an eine öffentlich geführte Auseinandersetzung um die gesellschaftsbildenden, aufklärerischen Möglichkeiten von Architektur ist. [...] Denn längst glaubte man erkannt zu haben, daß Baukunst als genuin öffentliche Kunst einen moralisch-edukativen Einfluß auf die Gesellschaft ausüben könnte.“ Zu den Unter-
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Die Ausdruckssemiotik des Hauses in Hakens Erzählung geht allerdings über die Darstellung der Korrespondenz von Äußerem und Innerem hinaus. Denn das fokussierte Haus wird zugleich, durch den Standpunkt des Erzählers, in einen Raum hineingestellt, der dem Theaterraum gleichkommt. Der Erzählerstandpunkt – des Ich-Erzählers Ewald – ist im gegenüberliegenden Haus (dem ‚Zuschauerraum‘) angesiedelt, und damit zugleich Beobachterstandpunkt durch eine Dachluke. Durch diese einzige Fensteröffnung wird eine Guckkasten-Situation hergestellt. Der „Schauplatz eines bürgerlichen Drama[s]“ 14 öffnet sich als fiktionsinterne und zugleich fiktive Theaterbühne vor den Augen des Neffen. Die Bühne sieht folgendermaßen aus: von der Seitenfront des Hauses kann Ewald in den zweiten und dritten Stock (letzterer ist der oberste Stock) durch insgesamt sechs große Fenster in die Zimmer sehen, die teilweise durch Musselinvorhänge geschützt sind. Die Zimmer sind, wie bereits das Äußere des Hauses vermuten lässt, „geschmackvoll aufgeputzt[]“. (12) Damit ist nicht nur ein vollständiger Bühnenraum mit Vorhang und Requisiten beschrieben, es handelt sich zudem um eine überaus flexible Bühne, die sich über mehrere Räume und zwei Stockwerke erstreckt. 15 Es kommt überhaupt erst zu dieser Beobachtungsszene, weil der Neffe Ewald aus Langeweile in der Dachgeschosswohnung seines Onkels durch die Luke späht. 16 Gegen das im Moraldiskurs festgeschriebene Neugier-Verbot regt sich der Widerstand des sich nach Unterhaltung sehnenden Müßiggängers, damit nach Abwechslung von der langen Weile, die der Neffe Ewald beim Onkel leidet. Ewalds, wie er selbst sagt, sophistisches – und damit auf Überredung eher denn Überzeugung angelegtes – Argument lautet: Niemand würde sich’s zur Sünde rechnen, seinen Nächsten mit aller christlichen Liebe tief in beyde Herzkammern zu schauen, wenn der uralte, aber impraktikab17 le Vorschlag mit dem Momusfenstern in der Menschenbrust jemals realisiert
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suchungen über den Charakter der Gebäude vgl. auch Schütte: Aufklärung, Empfindsamkeit und die Krise der Architektur um 1800, S. 57–74. Haken: Blicke aus meines Onkels Dachfenster in’s Menschenherz, S. 12. In diesem Kapitel beziehen sich alle in Klammern angegebenen Seitenzahlen auf diesen Text. Vgl. zur Gleichzeitigkeit von Bühnenräumen Nestroys Posse Das Haus der Temperamente. Hier ist ebenso eine Symmetrie von Raumgleichzeitigkeit und Einblick in die ‚Seelen‘ der Figuren festzustellen; bei Nestroy und durch das Genre gekennzeichnet allerdings gelöst durch barockisierende Allegorisierung von Affekten (Temperamenten). Vgl. dazu Pape: Desperations-Paroxismen und ruhige Sarkasmus-Languissance. Tragödien-, Komödienund Possengefühle bis hin zu Nestroy, S. 23–40. Vgl. zur vielfältigen Literatur über das Wohnen im Dachgeschoss und zur damit verknüpften Identitätsbildung (z. B. als Künstlernatur) Wichard: Erzähltes Wohnen. Momus soll den Wettstreit über das Nützliche zwischen Minerva, Neptun und Vulcan entscheiden. An dieser Stelle wird darauf angespielt, dass Momus an Vulcans erschaffenem
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würde. Warum soll man denn größeres Bedenken tragen, zu sechs weiten Glasfenstern in das Gehäuse des Seelengehäuses hinein zu lorgniren? (13)
Aufgrund der vorangehenden Ankündigung wird klar: Dieser Vergleich von Haus und Seele, diese Verräumlichung der Seele ist rhetorischer Schmuck und topologische Beweisführung als Legitimationsstrategie für die Neugier. Uns erwartet ebenso wie das Theaterpublikum im bürgerlichen Trauerspiel die sensationsbefriedigende Zergliederung des Privaten als Lektüre der Abwechslung im Sinne eines Vermittlers zwischen Neugier und Langeweile, nicht aber, wie der Untertitel suggeriert, ein „Beytrag zur Pathognomik“. „Das Fiktive eröffnet die Möglichkeit eines heimlichen Vergehens, erlaubt es, kulturelle Tabus stellvertretend zu verletzen. […] Bei der Hingabe des empfindenden Ich an die stellvertretenden Erregungen schwingt eine Erfahrung der Alterität mit, der voyeuristische Akt, jemand anderen zu beobachten.“ 18 Anders formuliert: Handelt es sich erstens alles nur um rhetorisches Spiel mit dem Modevokabular der Zeit oder wird zweitens hier tatsächlich die Verstehbarkeit spielerisch auf die Probe gestellt oder ist es drittens doch ernst gemeint, die empfindsame Pantomime lesbar machen zu wollen? Der junge Ich-Erzähler Ewald hat ein merkwürdiges, doch unterhaltendes Erlebnis bei seinem verschrobenen Onkel in dessen „luftige[r] Residenz“ (8), nämlich über mehrere Leitern erreichbar unter dem Dach. Als der Neffe also im ansonsten opaken Dachfenster eine Bruchstelle entdeckt, deren mangelhafte Verklebung sich gelöst hat und durch welche sich ein perfekter Blick aufs gegenüberliegende Haus ergibt, kann er der Versuchung nicht widerstehen. Seine Beteuerungen, im Grunde keine Veranlagung zum Voyeurismus zu haben, verlieren an Stichhaltigkeit angesichts der Tatsache, dass er sich ein Opernglas für eine schärfere Sicht besorgt. Die Verknüpfung der Bildlichkeit von Haus und Seele, wie sie bereits im Untertitel angekündigt wird, so, wenn der Erzähler das wohlhabende Äußere des Hauses als dessen „Physiognomie“ (11) beschreibt, tut hinsichtlich des Voyeurismus ihr Übriges, um von Alexander Košenina verurteilt zu werden: Die unkritische Affirmation des Blicks in die Menschenbrust, mit der sich der Ich-Erzähler in Johann Ludwig Christan Hakens Erzählung Blicke aus meines Onkels Dachfenster in’s Menschenherz gegen ‚das leise Anpochen des Gewissens‘ vertei-
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Menschen kritisiert, dieser habe vergessen, ein Fenster an der Brust des Menschen anzubringen, damit man hineinsehen könne und erkennen könne, welche Listen sich darin verbergen würden. Entsprechend dieser Bildlichkeit wird das Fenster in der Menschenbrust, hier ‚Momusfenster‘ genannt, im Kontext der Physiognomik häufig verwendet und ist zeitgenössisch allgemein bekannt. Vgl. den Nachweis im Zedler: Universal-Lexicon: Momus, Bd. 21, Sp. 978. Burwick: Vampir-Ästhetik, S. 351.
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digt, vermag jedenfalls um 1800 nicht zu überzeugen, selbst wenn gegen Lavater 19 sonst noch keine gewichtigen Steine aufgehoben wurden [...].
Der Neffe vergleicht sich eigens mit Lavater, der seiner Begründung nach auch aus wissenschaftlichen Gründen in den Menschen spähen durfte. Bezeichnend ist auch, dass mit Lavater der Schattenriss erst populär und nicht nur der Öffentlichkeit zugänglich wird, sondern durch die Beteiligung der Öffentlichkeit (die Vorschläge einsendet) erst entsteht. Selbst mit Ovid im Exil vergleicht sich der kluge Neffe, dessen Vergehen ja nicht nur durch Sehen, sondern vor allem durch Lauschen zustande gekommen sei, und „Horcher werd ތich wenigstens nicht seyn [...]“. (14) Dafür ist der Häuserabstand doch zu groß. Damit bietet sich eine interessante Konstellation: Ewald sieht auf die Bühne des bürgerlichen Trauerspiels oder weinerlichen Lustspiels (wir wissen es ja noch nicht), aber er hört nichts, er muss also in der Erzählung des Gesehenen die Pantomime ausdeuten, der Handlung eine Motivation unterlegen, den Figuren Namen geben, Intrigen aufspüren. Die Pantomime wird zeitgenössisch im Rahmen der Schauspieltheorie diskutiert 20 und gerade auch durch das Modegenre der Lebenden Bilder zur Vereindeutigung bestimmt: Die Rezeption von Lebenden Bildern, wie sie Emma Hamilton oder Elise Bürger zur Perfektion gebracht haben, kann, so die Argumentation Karin Wursts, auf der Oberfläche bleiben, ohne die Notwendigkeit, ‚tiefer zu blicken‘ und Einblick in die Seele zu nehmen. Sie ist ein Konkurrenzmodell zu empfindsamer Seelenzergliederung und auch zur bürgerlichen Liebesehe, indem Körper als grundsätzlich auch entperso-nalisiert wahrgenommen werden. 21 Dabei liegt außerdem der Schwerpunkt nicht mehr auf Wiederholungsmechanismen (intensiv), sondern auf der Sensation des Neuen (extensiv). Erika Fischer-Lichte weist zu Recht darauf hin, dass die theatertheoretischen Arbeiten (etwa die Diderots und Lessings) sich mit Schauspielerregeln beschäftigen, die gerade nicht an der Wirklichkeit allein orientiert sein können oder bloß natürlich sein dürfen, um nicht lachhaft oder dilettantisch zu wirken. 22 Der Körper des Schauspielers soll zum Zeichen der darzustellenden Figur für das Publikum werden, damit sich die in die Rolle hineingelegten Wirkziele realisieren lassen, also beliebige Emotionen aufgerufen werden; daher ist auch zu warnen vor der Illusionsbrechung, dass der Zuschauer
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Košenina: Gläserne Brust, lesbares Herz, S. 151–165, hier S. 165. Vgl. beispielsweise zur ‚Grammatik‘ des Körperausdrucks bei Eilert: „... allein durch die stumme Sprache der Gebärden“; zur ‚Seelenausdruckskunst‘ auf der Bühne vgl. zudem Woitas: „... und Vestris muß verstummen“: Vgl. Wurst: Spurensicherung, S. 217f. Fischer-Lichte: Der Körper als Zeichen und als Erfahrung, S. 56.
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nicht die Figur, die Rolle ‚sieht‘, sondern den Schauspieler (und seinen Körper) und damit die Illusion gestört werde. 23 Diderot experimentiert in seinem Brief über die Taubstummen (1751) mit Theatererfahrungen, die darauf zielen, ob der Körperausdruck als non-verbale Kommunikation ausreicht, um dieselbe Wirkung zu erzielen wie der Körperausdruck mit verbaler Unterstützung; 24 solche Art Pantomime wird auch in Hakens Text vorgeführt. Diese Herausforderung ist zugleich ein literarisches Experiment der Zeichen und Medien: Kann der Neffe die non-verbalen und medialen Zeichen lesen, deuten, verstehen und zugleich noch narrativ entfalten? Ewald führt zunächst die Charaktere ein, da er das plurimediale Theatergeschehen in Narration umsetzen muss und vor dem Referieren des Dramas das Personal vermitteln, in seinen Worten „silhouettiren“ (17), muss. Der Text legt nahe, dass der Hausherr Cajus Kaufmann ist, der zum Personal nicht mehr nur von Komödien zählt. Diese Vermutung entsteht allerdings lediglich durch die Abwesenheit von Cajus aus dem Hause zu Börsenzeiten. Innerhalb dieses Zuhauses ist er ein herrischer Patriarch, was der Neffe aus dem ängstlichen Betragen der Angestellten schließt. Es fällt dem beobachtenden Neffen nicht schwer herauszufinden, dass Cajus verwitwet und wiederverheiratet ist. Seine verstorbene Frau, eine „Königinn ihres Geschlechts“ (17), ist als Ölgemälde im Wohnzimmer präsent. Ewald schließt darauf, weil der Sohn des Hauses gewissermaßen ein Abbild seiner Mutter auf dem Gemälde ist. An der Bildbeschreibung lässt sich schnell erkennen, dass es mit des Neffens Kenntnissen um die Ausdeutung der Physiognomie nicht weit her sein kann, denn in dem künstlerisch modifzierten, d. h. schmeichelhaften, man könnte mutmaßen, nicht wirklichkeitsgetreuen Abbild der Ehefrau meint er die Seele in den Augen, den Adel an der Stirn und Grazie um den Mund zu entdecken. Ihre Nachfolgerin, vom Neffen Rosalie getauft, steht der ersten Ehefrau in keiner Weise nach, auch sie hat einen ganz nach ihr geratenen, allerdings wesentlich jüngeren Sohn. Dieser Zwang zur Vereindeutigung der Verwandtschaftsverhältnisse und damit der Beziehungsebenen und der ‚glückliche‘ Umstand, dass die Söhne die Züge ihrer Mütter geerbt haben, lässt bereits erste Zweifel an der Durchführbarkeit einer Deutung von non-verbalem Drama, von erzähltem Drama aufkommen und macht den Konstruktcharakter der Erzählung sichtbar. Rosalie nun ist anders als ihr Mann Cajus mit ihrer Lebensaufgabe als „Rosenöl“ für den „Essig ihres Mannes“ (18) sehr ausführlich charakterisiert, denn Privat- und Ar-
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Ebenda, S. 58f. Vgl. Diderot: Brief über die Taubstummen (1751) – Ästhetische Schriften, Bd. 1, S. 28–97.
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beitsraum für sie ist das Wohnzimmer („ihr“ Zimmer 25), dort ist der Mittelpunkt der Familie, den Ewald mit pathetischen Worten umschreibt und im Grunde mehr in diese Situation hineinlegt, als er eigentlich wissen kann; schließlich laufen diese hausfraulichen Tätigkeiten, wie er selbst sagt, „ohne Geräusch“ (19) ab. Wie es weiter die soziale Ordnung will, wird Schönheit in Verbindung mit Intelligenz für Frauen strukturell ausgeschlossen, selbst wenn die Bildung nicht über die populäre Literatur hinausgeht: Rosalie ist nicht schön, aber anmutig, sie liest Gellert oder betrachtet das Gemälde der Verstorbenen, mit der sie dann zu reden scheint. An dieser Stelle legt der Neffe zum ersten Mal einem seiner Schauspieler Worte in den Mund. Ihr Stiefsohn Bernhard ist ein „ihrischer“ d. h. unordentlicher, teils unbesonnener, teils selbstbewusster junger Mann, der im Stockwerk über der Kernfamilie wohnt. Als Briefe schreibender Jüngling wird er über das Medium und dessen literarische Tradition charakterisiert. Seine Briefe sind eindeutig keine Geschäftsbriefe, sie enthalten keine Sachinformationen in Form von Billets, weshalb der Erzähler ohne Not darauf schließt, dass Bernhard offensichtlich heimlich oder unglücklich verliebt sei. Gustav, der achtjährige Sohn Rosalies, ist ein Kind mit viel Fantasie und Lust am Zeichnen. Diese Begabung und der Drang zur Zeichnung werden im Drama eine ebenso wichtige Rolle einnehmen wie Bernhards Briefproduktion. Der eloquentia corporis werden also notwendige andere Zeichenformationen an die Seite gestellt. Zu der Kleinfamilie stößt täglich (als letzteingeführte Figur) die ältere und betuchte Schwester des Hausherrn, daher Caja genannt, hinzu. Diese Tante erfüllt mehr Klischees als alle anderen Figuren, so „daß sie als Musterkarte aller zurückstoßenden Eigenschaften dieses VerwandtschaftsGrades gelten kann.“ (23) Allein mit Cajus und Gustav kommt sie zu Recht, gegen die Schwägerin ist sie kalt und gegen den entsprechend aufbrausenden Bernhard ungnädig. Sie versucht auch über die Lektüre im Haus zu bestimmen: mit der Erbauungsliteratur des lutherischen Theologen Heinrich Müllers, hier zitiert als „himmlische[r] Liebeskuß und Erquickungsstunden“; gemeint sind der Himlische Liebes-Kus (1659) und die Sammlung der Geistlichen Erquick-Stunden (1664–66). Und auch Carl Heinrich von Bogatzkys enorm erfolgreiches pietistisches Güldenes Schatzkästlein für die Kinder Gottes 26, das sie immer mit sich herumträgt, regen Caja oft zu
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Vgl. zu dieser Perspektive auf den erzählten Wohnraum insbesondere Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum. Bogatzky verzeichnet sein Erweckungserlebnis 1714 in Halle. Wenige Jahre später, 1718, wird sein Güldenes Schatzkästlein anonym in Breslau veröffentlicht, das über viele Jahre enormen Erfolg im In- und Ausland verzeichnet. So habe ich Einblick nehmen können in die 21. und durchgehends neu-vermehrte Auflage: Güldenes Schatz-Kästlein der Kinder
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Moralpredigten an, wie Ewald aus den gequälten Gesichtern der Zuhörer ablesen will. Mit dieser Lektüreauswahl und den Reaktionen der anderen darauf wird Caja als Frömmlerin bereits in dieser Einführung dargestellt, wozu sich, ganz dem Klischee entsprechend, im folgenden Handlungsgang auch eine heuchlerische Seite gesellt, wie sie Pietisten als ‚Sektierern‘ oft zum Vorwurf gereichte. Gerade der performative Charakter, der an Pietisten kritisiert wurde und der gleichzeitig für Eingeweihte und Nichteingeweihte größtmöglicher Eindeutigkeit bedurfte, ist für die Erzählung des Dramas von großem Nutzen. Indem Haken also im Untertitel auf die Pathognomik, also die durch Emotionen hervorgerufenen Veränderungen der Mimik, und nicht etwa auf die unveränderlich eingravierten Kennzeichen einer Physiognomik verweist, wird deutlich, dass das Personal tatsächlich handeln, schauspielern muss. Aus einer Charakterbeschreibung, wie sie Ewald einführend gegeben hat, ergibt sich längst kein Schauspiel, aus der Dynamik aber ergibt sich die Suspension einer Vergleichbarkeit von einem Außen und dem angenommenen Inneren. Lichtenberg formuliert in den Streitschriften: Über Physiognomik (veröffentlicht 1778) sein Gegenprogramm zur lavaterschen Physiognomik, der Pathognomik als einer „Stimme für die Augen“, wie sie insbesondere für die Anlage von Hakens Text relevant ist: „Die pathognomischen Abänderungen in einem Gesicht [sind] eine Sprache für das Auge, in welcher man, wie der größte Physiologe [Albrecht von Haller] sagt, nicht lügen kann.“ 27 Das bedeutet: Die Emotionen, die sich am Gesicht ausdrücken, können ebenso wie verbale Sprache verstanden und interpretiert und ebenso häufig missinterpretiert werden, worin auch der Grund dafür liegt, dass Ewald für seine Erzählung die ‚Zuwendung‘ seiner Schauspieler benötigt, wohingegen der umgekehrte Fall – Hören statt Sehen – einen Imaginationsprozess ohne Vermittler in Gang setzen dürfte, insofern, als „Hören von Stimmen offenbar stets auf die Vergegenwärtigung der ganzen Person verweist, daß wir keine Stimme vernehmen, ohne uns ein Bild von ihrem Träger zu machen.“ 28
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Gottes, deren Schatz im Himmel ist: Bestehend In auserlesenen Sprüchen der Heil. Schrift, samt beygefügten erbaulichen Anmerkungen und Reimen. Nebst einem Vorbericht vom rechten Gebrauch. Halle, in Verlegung des Wäysenhauses, 1755. Vgl. ausführlich: Fechner: Carl Heinrich von Bogatzky (1690–1774), S. 171–185. Vgl. zu dieser Literaturproduktion auch: Klosterberg/Soboth (Hrsg.): Praxis pietatis. Erbauungsliteratur aus der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. Lichtenberg: Streitschriften: Über Physiognomik – Schriften und Briefe, Bd. 3: Aufätze, Entwürfe, Gedichte, Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, S. 288. Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 12.
1. Erzähltes bürgerliches Trauerspiel Ewald reflektiert darüber, dass er dieses Drama, mit solcher Charaktereinführung und seinen Kommentaren, nicht einfach als ein ‚erzähltes Drama‘, wie er sagt, „in den Wind episteliren“ (30) kann, sondern er schließt an das erfolgreiche Genre des Briefromans an, das als solches durch seine gattungsgemäße Polyperspektivität dramatische Elemente enthält. Anstelle nun in den Wind hineinzuschreiben, berichtet der Erzähler Ewald aus der Rückblende des bereits Geschriebenen, wie er seinen Onkel überredet, als Adressat und interessierter Partner in Sachen „skandalöse Chronik des cajischen Hofs“ (30) zu fungieren. Die fiktiven Briefe, innerhalb derer das Drama erzählt wird, verlieren so die Funktion der Beglaubigung der berichteten Inhalte. Sie müssen keine fiktive Distanz überwinden, denn der Onkel sitzt ja nur wenige Schritte entfernt, was sein Gutes habe, wie Ewald festhält, denn sie könnten nicht abgefangen werden. Ebensowenig wird in ihnen zeitlich Entferntes berichtet und so ein zukünftiger Briefleser adressiert (wenngleich das nur stückintern gilt, denn der zukünftige Leser, auf den es ankommt, ist und bleibt zweifellos der zeitgenössische Rezipient). Und es kommt hinsichtlich der Funktionalisierung von Erzählstrategien und Fiktionsebenen noch verwickelter: Der Onkel wird nicht nur ausgemachter Briefempfänger, er muss überdies als Sekretär fungieren, um Ewalds „Depeschen brühwarm aus [s]einem Munde niederzuschreiben.“ (31) Ewald hat keine Zeit zu schreiben, denn er braucht seine Augen und seine Konzentration für die Observation des gegenüberliegenden Hauses. Der Onkel ist also gleichzeitig Produzent, allerdings im Sinne eines Skribenten, und Rezipient der Briefe, kommt aber selbst, z. B. im Dialog mit seinem Neffen, nie zu Wort. Der Onkel als externalisierte schreibende Hand Ewalds ist tatsächlich nur Skribent, wohingegen Ewald neugieriger Voyeur, höchst subjektiver Erzähler, Regisseur und empfindsamer Zuschauer in einem ist. Erst in dem Moment suspendiert Ewald die Rolle des Voyeurs, als er eine Handlung zu erkennen vermeint. Es wird also hier ein Zwischenschritt eingerichtet, der in der Literatur zugunsten ihrer Komplexität üblicherweise wegfällt. Die Gegenüberstellung mit dem schreibenden Werther zeigt: Werther sitzt „nach eilfe“ an seinem wohl letzten Brief am Schreibtisch und notiert folgende Worte: „Ich trete an‘s Fenster, meine Beste, und seh und sehe noch durch die stürmenden vorüberfliehenden Wolken einzelne Sterne des ewigen Him-
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mels!“ 29 Hier zeigt sich die Darstellung der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeit – sitzt er am Schreibtisch oder steht er am Fenster, Briefe schreibend oder nach draußen schauend? – in der Literatur. Sie gelingt insofern, da der Leser nicht innehält und sich fragt, wie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen möglich sein könnte, sondern vielmehr weiterliest in der Annahme, dass sich, imaginiert man die Figur einmal als Person, Werther entweder vom Schreibtisch aus vorstellt, am Fenster zu stehen, während er beim Schreiben kurz innehält, oder umgekehrt, dass Werther kurz zuvor am Fenster gestanden haben mag, um dann seine Gedanken im Schreiben wieder zu vergegenwärtigen. In jedem Falle handelt es sich innerhalb des willing suspense of disbelief for a moment 30, wodurch Literatur ja erst eigentlich möglich wird, um eine nicht ungewöhnliche Konstruktion, die Unmittelbarkeit zu suggerieren versucht und so umständliche narrative Erklärungen suspendiert; mit Blick auf Hakens Text darf es nicht verwundern, wenn diese Ebenen sogar fiktionsintern dem Onkel viel zu verwickelt vorkommen. Was in einem Theaterstück als Spiel im Spiel bezeichnet würde, wird gewissermaßen narrativ umgesetzt. Die Realisierung als ein journalartiges Verfassen täglich neuer Berichte erinnert sowohl an Tagebuchliteratur wie an die Enthüllungen der Sensationsliteratur (als einer, wie oben zitiert, „skandalöse[n] Chronik“).
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Goethe: Werther, Fassung A – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. I, Bd. 8, S. 260. Coleridge: Biographia Literaria or Biographical Sketches of My Literary Life and Opinions, Bd. 2, S. 6.
2. Spiel im Spiel Die Anlage der Erzählung ist durch ihre Reflexion auf eine andere Gattung, die selbst ein komplexes Gewebe aus Plurimedialität und Polyfunktionalität ist, verschachtelt. Der Erzähler bietet sich dem Leser als in der Vorrede bereits bekannte Größe aus den Amaranthen an und führt so auch seinen Onkel als Figur erneut ein. Da es sich hier außerdem nicht um eine Buchpublikation handelt, sondern um eine Erzählung innerhalb der Sammlung des Verfassers von der Grauen Mappe, ist der Anschluss aus Gründen der Leserbindung an das lesende Publikum wichtig. Diese Verkaufsstrategie der einführenden und anknüpfenden Worte verbindet sich mit der Ankündigung eines ungeheuerlichen Erlebnisses, das dem Erzähler widerfahren ist und sich somit als etwas Neues zu etablieren sucht. Das Spannungsfeld zwischen neuer Literatur und schnell verbrauchter Literatur wird im Vorwort selbst unter Bezugnahme der titelgebenden Amaranthen (für den Erzählband) thematisiert. Darauf lässt sich auch die Rezension in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek ein: Für Amaranthen, Papierblümchen, für Gewächse eines Sommers, erklärt der launige und bescheidene Verf. sein Werkchen, für ein Produkt, das zur Herbstmesse reif, und gegen die nächste Frühlingsmesse wahrscheinlich schon wieder zu Auskehricht geworden ist. Von der Seite betrachtet, daß Bücher dieser Art gleich bey ihrer ersten Erscheinung von dem leselustigen Publikum gleichsam verschlungen; aber dann, als gelesen und bekannt, bey Seite gelegt und weniger geachtet werden, weil sie von neuen Produkten verdrängt worden sind, kann er Recht haben. Sieht man es aber von der Seite an, daß glückliche Erfindung, ächter Witz, drollige Wendungen, schöne Eigenheiten, einen Verf., in dessen Schriften man alles dieses findet, in längerem Andenken erhalten: so kann der Verf. der Amaranthen 31 mit Recht darauf Anspruch machen.
Zunächst, das gibt der Erzähler im Vorwort, der zugleich der Erzähler der folgenden Erzählung Blicke aus meines Onkels Dachfenster ist, offen zu, ist die Ausgangssituation alles andere als vielversprechend: Ewald besucht seinen Onkel in der hochgelegenen Wohnung, die mit ihrem verrümpelten Dachboden gleich den Topos des melancholischen Dichter-Denkers als auch das literarische Zitat einer Verortung in Wolkenkuckucksheim aufruft; beides kann bereits als Indiz dafür gelesen werden, das folgende literarische Experiment nicht allzu ernst zu nehmen, sondern ihm tatsächlich
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Amaranthen. Vom Verf. der grauen Mappe. 1. Samml. – In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek. 1793–1806, 73 (1802), 1. St., 2. H., S. 65f.
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dieselbe Funktion beizumessen, die sie für den neugierigen und gelangweilten Ewald hat, nämlich Unterhaltung. Der junge Ewald gibt sich als Theaterkenner oder zumindest als Kenner rührender Lustspiele bzw. empfindsamer Romane aus; nicht nur, dass er auf den Briefroman verweist, zeichnet ihn als Kenner aus, sondern das Inszenierungspotential rührt besonders von seiner Fähigkeit her, empfindsame Dialoge zu imaginieren und empfindsame Konstellationen als Familientableau, als Schreibsituation von Liebesbriefen in der Dachstube zu inszenieren. Dazu bedient er sich einer empfindsamen Terminologie, die bereits auf dem Weg ist, als Mode-Krankheit verspottet zu werden (vgl. Kap. VI). Und Ewalds empfindsame Rhetorik hat zumindest vordergründig Erfolg: Er missdeutet weder Gestik noch Mimik, holt den Informationsvorsprung der Figuren ein durch Spekulation, Geduld und zufällige Entdeckungen außerhalb des Bühnenraums, wie ein Zettelchen, das auf der Straße verlorengeht. Er durchschaut die Intrige, weil er von Beginn an eine klare Charakterführung unterstellt (die Tante als Bösewicht). Im erzählten Drama wird die der Narration eigentümliche Zerdehnung der Kommunikationssituation ausgenutzt, indem sich die Handlung über mehrere Tage und zu verschiedenen Uhrzeiten erstreckt. So kann das Ganze kausalpsychologisch motiviert werden. Die Handlung setzt ein, als Rosalie und Gustav das Haus verlassen, um einige Tage zu verreisen. Die Erzählung ist insofern lebendig, als jede Beobachtung mitgeteilt wird und im Sinne der Neugier und Abwechslung auch den entsprechenden Ton mit sich bringt: „Doch halt!“ [...] Puh! Es ist nur die Tante.“ (35) Jede Entdeckung wird im Telegrammstil an den schreibenden Onkel weitergegeben und drückt sich im Schriftbild durch eine Häufung von Gedankenstrichen und aneinandergefügten Ausrufen aus. Gedankenstriche stehen auch dort, wo mit den Blicken das Stockwerk gewechselt wird. Ewald wird aufmerksam durch eine Unregelmäßigkeit im gewöhnlichen Tagesverlauf: Die Tante taucht auf und fängt an, wild gestikulierend und aufdringlich zu ihrem Bruder gebeugt, auf Cajus einzureden, der augenblicklich wütend wird. Auch hier wird wieder am Schriftbild und an der Versprachlichung deutlich, dass Ewald eine bestimmte Reaktion erwartet: „Jetzt... Ja, jetzt ergießt sich endlich die stürzende Lava, die so lange in seinem Innern kochte und sprudelte!“ (37) Dieser Wutausbruch ist offensichtlich von der Tante so beabsichtigt. Keine andere Figur wird so ausführlich mit Epitheta belegt wie die Tante: „altes hagres Tantengesicht“ (23), das die Hausgemeinschaft mit ihrem „Andachtswecker“ tyrannisiert, „Kakodämon“ (37), „der alte Tugenddrache“ (41), „der weibliche Unhold“ (51), rot wie ein „Puter“ (106) und mit „hysterische[r] Lache“ (105), mit zahnlosem Mund und Borsten an der „Fleisch-Erbse
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neben dem hakenförmigen Kinn“ (77) – an Widerwärtigkeit also nicht zu übertreffen. Auffällig ist aber nicht nur die Häufung der pejorativ gesetzten Epitheta, sondern gerade in dieser Szene das im Grunde kaum nachzuvollziehende Vorurteil, aufgrund dessen die Beschreibungen zustande kommen: Die Situation von außen ist lediglich, dass eine Figur einer anderen Figur etwas zuflüstert, was diese in Wut versetzt und jene freut. Ob das direkt ein Vergehen ist, ob das der Tante gerecht wird, die „voll giftiger Freude dem gelungenen Werk ihrer gespaltenen Zunge“ zusieht (37), bleibt zu diesem Zeitpunkt der Beobachtung doch fraglich. Die Informationsvergabe der Dramenexposition müsste anders verlaufen: Entweder ist das Geflüster für das Publikum hörbar oder es wird in der anschließenden Szene von einer der beteiligten Figuren monologisch oder dialogisch referiert. Aber Ewald weiß noch nichts Genaues und rätselt über den Inhalt – dass es aber nichts Gutes sein kann, steht für ihn außer Frage. Nachdem Cajus seiner Schwester noch einmal scharf ins Gesicht geblickt hat, gehen beide ein Stockwerk höher in Bernhards Zimmer. Die Nachricht der Tante muss ungeheuerlich gewesen sein, denn Cajus bricht Bernhards Schreibtisch auf und zieht ein Bündel Briefe mit einem hellblauen Band verschnürt hervor, liest die Briefe und schleudert ein Bild, wohl einen Schattenriss, auf den Boden. Die Tante triumphiert: „Es ist an den widerholten Hindeutungen ihres Mittelfingers auf ihre Herzgrube sichtbar, daß sie ihrer Scharfsichtigkeit und Wahrheitsliebe eine Lobrede hält.“ (42) Wütend kommt Bernhard dazu, der auf der Straße seine Schätze gefunden hat, die Cajus in seiner Raserei hinausgeworfen hat. Hier kommt es zu einem Wortgefecht, das Ewald wie folgt transkribiert: „‚Ha! nur näher Bube!‘ hör ތich, ohne es zu hören [...]“. (43) Ewald legt seinen Figuren immer nur dann Wörter in den Mund oder deutet ihre Emotionen aus, wenn er auch die Gesichtszüge lesen kann, wenn er die gesichtsverändernde Pathognomik ablesen kann, denn sobald der Vater im Zimmer auf- und abgeht und Ewald den Rücken zukehrt, muss dieser, wie er selbst zugibt, raten. Zu Ewalds Vorteil redet Bernhard nun nicht, sondern handelt, geht auf den Vater mit einer Versöhnungsgeste zu, von seiner Unschuld (wir wissen nur noch nicht, von welcher) überzeugt. Cajus lässt sich aber nicht erweichen und schlägt den Sohn zurück. Auf diese Situation hin versetzt sich Ewald ganz in die Lage Bernhards, der ihm am Schluss ja auch ein Freund sein soll, der im gleichen Alter wie der Erzähler ist, und imaginiert einen Dialog, wie er ihn an dessen Stelle führen würde (45f.). Ewald ist sich ganz sicher, den passenden Text Bernhard in den Mund gelegt zu haben, denn „es war genau, als ob er – Sie kennen ja das drollige Gesellschaftsspiel? – es übernommen hätte, die Gesten zu dem Texte zu machen, den ich, als sein Theaterdichter, seiner Seele unterlegte“ (46). Ewald bringt hier die Rhetorik der Emotionen auf
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den Punkt: Es geht um eine Vereinbarung in einem Gesellschaftsspiel und damit letztlich um die „Medientauglichkeit der Emotionen“ 32. Der Streit ist noch lange nicht zu Ende, aber die Situation eskaliert erst, als die Tante aus einem Brieffragment, das sie vom Boden aufhebt, höhnisch laut vorliest und von Bernhard an die Luft gesetzt wird. Während die Tante wütet, schreibt Cajus einen Brief an Bernhard, dem eine Bankschrift über 50 Taler beigefügt wird (der genau hinschauende Erzähler behauptet, dies an der Papierfarbe zu erkennen) und mit dem er ihn aus der Hausgemeinschaft ausstößt; der Bote holt aus der Dachkammer auch gleich einen Reisekoffer. Der Diener trauert ganz offensichtlich mit Bernhard, die rührende Abschiedsszene bleibt stumm. Mit der Abreise Bernhards gibt auch Ewald fürs Erste seinen Posten auf, nicht zuletzt wegen der einbrechenden Dunkelheit (die an die aristotelische und später normative Vorschrift für das Theater erinnert). Ewald widerruft aber sofort seine Abwesenheit, denn er hat noch etwas entdeckt auf seinem „Schlachtfeld“ (57), wie er inzwischen die Bühne nennt. Bernhard ist noch nicht endgültig aus der Tür, sondern steht vor dem Gemälde seiner Mutter und wirft dem Bild einen Abschiedskuss zu; die begleitenden Worte, von Ewald imaginiert, werden nun, im Gegensatz zu Ewalds erster Imagination, unkommentiert und damit suggestiv als Bernhards Worte des Abschieds eingefügt. Dieser nimmt eine Abzeichnung Gustavs von der Mutter mit und hinterlässt das blaue Briefbändchen, das er um eine Vase wickelt, als Abschiedsgruß, wie Ewald deutelt, für Rosalie. Der Erzähler versucht in einem Nachtrag zu diesem Bericht sich selbst als Figur in die Geschichte einzuschreiben: Als er das Haus des Onkels verlässt, begegnet er besagter Postkutsche, mit der Bernhard unterwegs ist, allerdings ohne ihn erkennen zu können. Es bleibt (noch) bei der Extradiegese, der Erzähler ist (noch) keine Figur seiner Binnengeschichte, die ja zunächst ganz auf die Hausgrenze beschränkt ist. Als intradiegetischer Erzähler ist er gleichwohl bereits eine Figur innerhalb der Narration, und zwar eine, deren Sympathie für den gleichaltrigen Bernhard bereits jetzt aufhorchen lässt. Als Rosalie mit Gustav tags darauf von ihrer Reise zurückkehrt, findet sie das blaue Band: Ihr Mitleid mit dem Stiefsohn wird nicht nur durch Tränen beschrieben, die auf das Band tropfen, Ewald zählt das ganze empfindsame Repertoire auf: Erblassen, zum Sofa Wanken, Händeringen, Beten, Seufzen, Zittern, Weinen. Nur so erhält Bernhard die gerechte Würdigung, wie Ewald anmerkt. Vor seiner Frau fällt es Cajus nicht leicht, das Geschehene einzugestehen, er „hmt und hustet“ (64). Cajus berichtet schließlich alles – der Erzähler, ganz in der Manier des Kommentators,
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Schmidt: Systemflirts, S. 171.
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„möchte sie [die Rede] anhören können um seine historische Wahrhaftigkeit, insonderheit wegen des Antheils, der auf Tantchens Rechnung kömmt, zu kontrolliren“ (66). Diese Anmerkung, wohlweislich vom Erzähler in Klammern gesetzt, gibt Hinweise auf das Selbstverständnis des Erzählers und seine Authentizitäts-Fiktion: Einerseits hat Ewald bereits deutlich Stellung genommen zu den Familienbeziehungen und dem Streit, er hat seinen Figuren Worte in den Mund gelegt; nun weiß er, dass Cajus unzweifelhaft eine andere Sicht auf die Dinge hat als er und ist nicht nur neugierig, was dieser seiner Frau erzählt, sondern es geht ihm um „historische Wahrhaftigkeit“. Ewald sagt selbst von sich, seine „kalte Neugier hat der edlern Theilnahme mit zwei Unglücklichen das Feld geräumet [...]“ (68), denn auch Rosalie wird von Cajus der Mitwisserschaft beschuldigt. Vom Kommentator zum empfindsamen Zuschauer: Ewald wertet entschieden die eigene ‚Leseposition‘ auf. Eine geheime Handlung findet nun ihren Ausgang in einer Spitzenhändlerin, „ein Weib mit einer verschlagenen Miene“ (69), die Rosalie ein Briefchen zukommen lässt. Nach anfänglicher Abwehr erkennt offensichtlich Rosalie den Absender an seiner Handschrift und verlässt rot geworden den Raum. Der Erzähler ist entsetzt: „Ich kenne Rosalien doch... Es ist unmöglich, daß ich mich über ihren Charakter täuschen könnte! Hier oder nie glaub‘ ich an weibliche Tugend!“ (71) In einer auch für die Dramensprache nicht ungewöhnlichen metapoetischen Aussage kommentiert Ewald die Ereignisse: „Der Knoten verwickelt sich, so wie der Mitspieler mehr werden.“ (71) Der Kommentar gibt im Grunde über mangelhaftes poetologisches Wissen Aufschluss: die Schürzung des Knotens ist nicht von der Zahl der Beteiligten abhängig, ein Ausweichen darauf zeugt nicht von gelungener Konstruktion. Caja hat die Händlerin abgefangen und verhört sie lautstark, bis auch Cajus dazukommt. Ein Moment der Erkenntnis lässt alle Bewegungen einfrieren, die Tante schlägt „teuflich grinsend die geballte rechte Faust in die flache Linke“ (73), beide ziehen sich mit ihrem Geheimnis zurück. Dass auch der Erzähler nichts weiß, bringt Spannung in das Geheimnis. Die Geschwister durchwühlen Rosaliens Schreibtisch auf der Suche nach einem kompromittierenden Schreiben; Ewald ärgert sich von seiner übergeordneten Position, dass Cajus nicht nachdenkt und sich erinnert, dass seine Frau fast den ganzen Tag am Flügel verbracht hat und schon allein deshalb nichts schreiben konnte. Währenddessen fertigt Gustav in einer Rumpelkammer neben Bernhards Zimmer ein Bild an, dessen Tinte er an der Luft trocknen lässt und zu diesem Zweck das Bild weit aus dem Fenster hält – und zwar so, dass Ewald einen hervorragenden Blick darauf erhält: „O, herrlich, herrlich! Das Profil der Tante in ihrer ganzen liebenswürdigen Scheußlichkeit, und
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zum Sprechen kenntlich!“ (77) Dazu lernt Gustav Gellerts Erzählung Der arme Greis auswendig, dessen erste Zeile Ewald, obwohl die Buchstaben auf dem Kopf stehen, erkennen kann. Der junge Gustav hat offenbar vor, sich bei der Tante einzuschmeicheln und um Malutensilien zu bitten, so die Vermutung des Erzählers. Als Gustav bei der Tante auftaucht, wird er direkt zur Rede gestellt, was diese Situation – das Heraushalten des Zettels auf die Straße – zu bedeuten habe, wie Ewald an der Nachahmung der Situation durch die Tante schließt. Als der weinende Junge ihr ihr eigenes Bild vor die Augen hält und sich erklärt, quittiert die wütende Caja die vermeintliche Verspottung mit Ohrfeigen (und verliert auf diese Weise den Jungen). Kompositorisch wird es notwendig, dass sich Ewald erneut in das Drama einmischt, um das Informationsdefizit aufzuholen; er begegnet auf der Straße zufällig der Tante, die ebenfalls zufällig ein Briefchen verliert, auf dem eine Verabredung in der Kleiderkammer, das ist Gustavs ‚Atelier‘ neben Bernhards Zimmer, um 10 Uhr abends unter höchster Vorsicht angekündigt wird. Er erkennt eine weibliche Handschrift, vermutet Rosalie dahinter, denn das gleiche Papier findet sich auch auf ihrem Schreibtisch. Der Erzähler kann kaum glauben, was er denkt. Aus diesem Grund natürlich findet er sich spätabends noch bei seinem Onkel ein, um Höhepunkt und Anagnorisis beizuwohnen. In der Dunkelheit sieht er zwei Gestalten, davon eine Rosalie, die Ewald an ihrem Florhut erkennt. Eine dritte weibliche Gestalt, „ein Engel“ (96), kommt hinzu. Die drei sind stumm und steif „wie eine Marmorgruppe um ein Grabmal her“ (97), man denkt bereits an ein AbschlussTableau. Der wütende Cajus sprengt mit seiner Laterne die Gruppe, dabei wird immer noch kein Wort gesprochen. Bernhard und seine Geliebte werden entdeckt, Rosalie triumphiert leise, ohne dass wir wissen, weshalb sie so selbstzufrieden und unschuldig lächelt. Auch Gustav kommt dazu, aber ehe der Hausvater ihn stellvertretend für die Gruppe ausschimpft, will er durch eine Seitentür verschwinden, enttarnt aber auf diese Weise die so bloßgestellte Tante. Das Chaos ist perfekt und die Figuren alle in einem Raum versammelt. Das Umschlagen von Nicht-Wissen in Wissen, die Anagnorisis, ist allerdings weit weniger spektakulär als zu vermuten: Zunächst haben wir es mit einem guten und poetisch gerechten Ausgang zu tun. 33 Sobald die bloßgestellte Tante zu Recht aus dem Hause entfernt ist, verwandelt sich der Bruder Cajus quasi in einen ganz neuen Menschen (106). Das bedeutet
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Zur Auflösung einer Verkleidungssituation in ein happy end und zur Interpretation der Beredsamkeit des Körpers vgl. Pape: „Da heißt’s jeder Red‘ a Fey’rtagsgwand’l anzieh’n“, S. 16–20.
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zweitens einen guten Ausgang in dem Sinne, dass der komödientypisch störrische Alte das Glück der Jungen akzeptiert, allerdings auch hier wieder eher ohne Worte und Spannung: Es ging tatsächlich die ganze Zeit nicht um eine unerwünschte Geliebte, sondern höchstens, aber auch das wird nicht erläutert, um den Verdacht, dass Stiefsohn Bernhard und Rosalie ein Verhältnis miteinander haben. Dies wird jedoch an keiner Stelle expliziert, so dass der Leser des Ganzen letztlich doch einigermaßen ratlos vor dem Schlusstableau steht. Der Erzähler hingegen schließt in robinsonscher Manier: 34 „Und so wollen wir denn heute die glückliche Familie in diesem Ocean der Freude von einer Insel der Seligen zur Andern schiffen lassen. Aber morgen mach ތich mich auf, um, kost ތes, was es wolle, aus Bernhards Kundschafter, Bernhards Freund zu werden!“ (107f.).
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Haken als Sammler der Robinsonaden konnte sich diese Anspielung wohl nicht verkneifen. Vgl. Haken: Bibliothek der Robinsone. 5 Bde. 1805.
VI. Zur Mode geworden: Parodien auf die Empfindsamkeit
Roland Barthes spricht von der Rhetorik der Mode als „arm“ und „knapp“ 1, weil es sich um stereotype Formulierungen und Banalitäten handele. Die Zweideutigkeit in der Semantik des Begriffs Mode sei hingegen der Garant für ihre Langlebigkeit, denn die Mode ist gleichzeitig zu ernst und zu belanglos, und in diesem geschickten Spiel komplementärer Übertreibungen findet sie die Lösung für einen grundlegenden Widerspruch, der ihr fragiles Prestige ständig zu zerstören droht: Tatsächlich kann die Mode nicht wirklich ernsthaft sein, denn das liefe dem gesunden Menschenverstand zuwider, dem sie grundsätzliche Achtung erweist; der gesunde Menschenverstand sagt einem aber, daß die Mode ein wichtiges Spiel ist. Umgekehrt kann sie aber auch nicht ironisch sein und sich selbst in Frage stellen; soweit die Rede ist, muß die Kleidung immer zugleich wesentlich und zufällig sein; das eine hält am Leben, das andere denkt der gesunde Menschenverstand. Daher eine Rhetorik, die – bald sublim, bald vertraulich – der Mode einmal den Anschein umfassender Bildung verleiht und die Kleidung ein andermal ins Reich der Nichtigkeiten versetzt. 2
Im Kontext empfindsamer Rhetorik geht es allerdings um die Reflexion dessen, was als „Moderomane“ – z. B. von Timme – auf den literarischen Markt des 18. Jahrhunderts kommt und durch den exzessiven Lektürekonsum mehr oder minder schnell verbraucht wird. Daniel Jenisch hat 1797 einen ganz besonderen Versuch einer Poetik unternommen, indem er die Regelpoetik und ihre literarische Tradition parodiert. Er schreibt sich in Der allezeit-fertige Schriftsteller oder kurze, doch gründliche Anweisung, wie man mit dem möglich-kleinsten Aufwande von Genie und Wissenschaft ein großer und fruchtbarer Schriftsteller werden könne weder in die Tradition der Regelpoetiken noch der Ästhetiken ein, sein Ziel ist vielmehr eine Poetik „für jede beliebteste Gattung“ 3, und das sind insbesondere historische, sentimentale oder komische Ritterromane, Autobiogra-
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Barthes: Die Sprache der Mode, S. 243. Vgl. aus anderer Perspektive auch Potts: Schöpferische Zerstörung. Zu einer Wirtschaftstheorie der Mode, S. 928–933. Giannone definiert: „Die M[ode] kann als eine Modalität des Kodewandels verstanden werden.“ – Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Sp. 1397. Herv. i. Orig. Dass die Mode gerade nicht ihre Künstlichkeit – und den Mode-Körper als künstlich verhüllten – verbirgt, sondern ausstellt, zeigt Wurst: Designing the Self: Fashion and the Body, S. 47–66. Barthes: Die Sprache der Mode, S. 248. Vgl. zur vertexteten Mode in Form von Zeitschriften und die Publikumsadressierung im 18. Jahrhundert Volkert: Frauenzeitschriften und das Zeichensystem Mode im ausgehenden 18. Jahrhundert, S. 413–425. Wenn Julia Bertschik von „Romanen der Mode“ handelt, dann auch davon, dass Mode (Kleidung) als kulturelles Muster darin thematisiert wird, vgl. Bertschik: Mode und Moderne, S. 5. [Jenisch]: Der allezeit-fertige Schriftsteller, aus dem Titel des zweiten Teils.
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phien und Reisebeschreibungen, kurz: die „Kunst, schlecht zu schreiben“. An diesem Text wird mehr als deutlich, welche Gattungen und Trägermedien um 1800 Mode waren. Er errechnet, dass zur Leipziger Michaelisund Ostermesse von 1795/96 insgesamt 2299 „elende“ Bücher erschienen seien – für ihn ein Beweis, dass die Kunst, schlecht zu schreiben, längst Tatsache geworden sei. 4 Und er beklagt auch, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Poetik jeder, der lesen oder schreiben könne, auch selbst zur Feder gegriffen habe; dass jeder seine eigenen Reise- und Lebenserfahrungen in Autobiographien abfasse, so dass es zu einer Umkehr der Verhältnisse gekommen sei: „Man liest nur, um eine Reisebeschreibung herauszugeben [und man] liest einzig, um zu schreiben: einige Leute leben sogar nur, um ihr Leben zu schreiben [...].“ 5 Indem Jenisch in seiner ‚Kunst, schlecht zu schreiben‘ argumentiert, dass sich Modeschriftsteller (und im Zuge seiner Argumentation folglich jedermann) weder in Sache noch Ton auskennen dürften, dreht er damit die Grundbedingung für das Erhabene, die megalopsychia, der zeitgenössisch intensiv rezipierten Schrift (Pseudo-)Longinosތ, Vom Erhabenen, geradezu um. Dort heißt es: Zunächst nun ist es unbedingt nötig, den Ursprung dieser Größe festzustellen. Der wirkliche Redner darf nicht niedrig und gemein gesinnt sein. Denn wer sein ganzes Leben hindurch Kleinliches denkt und betreibt wie ein Sklave, kann tatsächlich nichts hervorbringen, was bewundernswert ist und würdig, die ganze Weltzeit zu bestehen [...]. 6
Jenisch karikiert vielmehr die rhetorischen Stilideale (Sprachrichtigkeit, Deutlichkeit, Lebhaftigkeit und Wohlklang) und führt ihre Gültigkeit nach 1797 ex negativo vor. Selbst der seines Stoffes und seiner Funktion beraubte erhabene Stil für nicht entsprechende Emotionen – als bloße Übertreibung eines Schillers beispielsweise – werde in Romanform gekauft und gelesen: „Das Werk unseres Autors erscheint: wird gelesen, verschlungen: keine Toilette eines galanten Dämchens, kein Puderstuhl eines galanten Herrn, auf dem es nicht angetroffen wird: jede öffentliche Lese-bibliothek braucht ein Duzend Exemplare, um der unaufhörlichen Nachfrage Genüge zu tun.“ 7 Die unaufhörliche Nachfrage: Modeliteratur müsse, so Jenischs Fazit, „die Lieblingsideen des Publikums“ 8 umsetzen.
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Vgl. ebenda, S. 57–61. Ebenda, S. 21. Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen, 9,3. [Jenisch]: Der allezeit-fertige Schriftsteller, S. 66. Ebenda, S. 67.
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Die Nachfrage nach neuen Moderomanen oder anderen Publikationsformen – in Journalen und Zeitschriften beispielsweise – ist groß. 9 Die breite Rezeption empfindsamer Literatur lässt sich insbesondere durch die aufklärerische Literaturkritik und die Debatte um Pflichten und Rechte des Kunstkritikers ablesen, dessen Publikum sich weniger denn je vorschreiben lässt, was lesenswert zu sein hat, hier mit den Worten Georg Friedrich Meiers: „Es ist also eine Unverschämtheit, daß ein Kunstrichter deswegen andere für ungehirnte Köpfe hält, weil sie Urtheile seines Geschmacks nicht für wahr halten.“ 10 Das Geschmacksurteil, wie es Meier in seiner Ästhetik (1748) entfaltet, setzt sich aus Empfindung und Intellekt zusammen; allerdings gibt Meier der sinnlichen Erkenntnis, wie es der Wortlaut der Ästhetik als einer Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung empfiehlt, den Vorrang. 11 Das Prinzip eines großen Angebots an Modeliteratur baut jedoch nicht auf steter Innovation, sondern auf der Variation von bekannten Mustern auf. Wie Silvia Bovenschen feststellt, ist das Historischwerden einer Mode und die damit gegebene Möglichkeit eines späteren Wiederauflebens an einen Prozess geknüpft, der von dieser Mode durch Lächerlichmachen abgrenzt. Durch diesen Prozess des Lächerlichmachens werden die Mittel des Erfolgs, etwas zur Mode gemacht zu haben, in radikalisierter Weise exponiert, und, im Falle literarischer Parodie, sprachlich satirisch auf die Spitze getrieben. Also „muß das Original dem Kreis, für den die Parodie bestimmt ist, bekannt sein. Deshalb werden erfolgreiche Werke sehr häufig parodiert“ 12. Dass die Forschung gern den Wirkzielen einer Parodie in die Falle gehe – Abwertung einer „noch herrschende[n],
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Vgl. Neumann: „...und diese Mode schon wieder durch eine neue verdrängt“; vgl. für das 19. Jahrhundert maßgeblich Günter: Im Vorhof der Kunst. Meier: Gedanken über die Frage: Ob ein Kunstrichter seine Urtheile jederzeit erklären und beweisen müsse?, § 12, S. 60. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Bd. 1, § 15, S. 25. Herder, der Baumgarten und damit zugleich auch Meier rezipiert, fragt sich, ob das bei den Griechen bereits Gesagte nicht auch besser, ohne das traditionsbeladene Latein, gesagt worden sei, denn um die ‚lateinische Schulsprache‘ abzuschütteln, müsse man zu den griechischen Wurzeln zurückgehen: „So also! Baumgartens Aesthetik auf die Einfalt und Mäßigung zurückgeführt, mit welcher Aristoteles und Longin lehren; freilich würde sie manches damit an Dunst und überflüssigem Ansatz verloren, aber auch manches damit an Wesen und Schönheit gewonnen haben; ja alles gewonnen, was ihr fehlt. Es ist, wie man weiß, ihr erster Fehler, daß sie alles zu sehr a priori und wie aus der Luft hernimmt [...] Sie sei daher, was sie wolle; was ihr Name sagt, ist sie nicht: Aesthetik, eine Lehre des Gefühls.“ Herder: – Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 692f. Vgl. dazu Gaier: Kommentar – ebenda, S. 1272: „Die Einführung der Griechen als kritischer Maßstab für neuere Ästhetik geschieht also um ihrer Sensualität, Pragmatik, Spekulationsferne willen.“ Liede: Parodie, S. 321.
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aber absterbende[n], zu überwindende[n] literarische[n] Strömung“ 13, Verteidigung des als neu postulierten Konzepts bzw. Marktanteils – und somit die vorgeschlagene Wertung unkritisch übernehme, korrespondiert mit der häufig getroffenen Wertung einer Parodie nach ästhetischen Maßstäben, nicht aber, wie angemessener, nach ihrer Wirkung. Somit lässt sich angesichts literarischer Parodien auf Texte der Empfindsamkeit und des Pietismus festhalten, dass sich daran ihre enorme Erfolgsgeschichte ablesen lassen kann. Dies soll im Folgenden anhand dreier Beispiele versucht werden. Die Beispiele stammen aus der Hochzeit der so genannten ‚kritischen Parodie‘ im 18. Jahrhundert. 14 Darüber hinaus lässt sich anhand der Parodien ein gefestigtes formelhaftes Repertoire einer Rhetorik des Inneren überprüfen, das sich – wie eine historisierte Mode – nicht nur im literarischen Diskurs durch eine Schwemme an zeitgenössischen Parodien hält, sondern ebenso hartnäckig im wissenschaftlichen Gedächtnis verankert ist.
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Ebenda, S. 366. Vgl. ebenda, S. 368–380. Alfred Liede stellt ebenda parodierte Gattungen und parodierende bzw. parodierte Personen der Öffentlichkeit zusammen.
1. Gottsched: Die Pietisterey im Fischbeinrocke Luise Adelgunde Victorie Kulmus schreibt an ihren Briefpartner und ab 1735 Ehemann Gottsched am 30. Mai 1732: „Sie verlangen meine Meynung über die Schrift: La Femme Docteur [...] ? Ich finde viel Aehnlichkeit unter den französischen Jansenisten und den deutschen heuchlerischen Frömmlingen. Weder die einen noch die andern haben meinen Beyfall. Ich werde mich hüten auf Nebenwege zu gerathen und darauf irre zu gehen.“ 15 Man kann Gottscheds Text, der 1736 als Pietisterey publiziert wird, unschwer nur als Übersetzung von Guillaume-Hyacinthe Bougeants La Femme Docteur ou la Théologie Janseniste tombée en Quenouille (erschienen 1730) nicht nur ins Deutsche, sondern in das kulturelle Milieu des Pietismus (in Königsberg und Halle) abtun. 16 Als ein „auf deutschem Boden gewachsenes Original“ 17 hat bereits ihr Ehemann die Pietisterey 1763 in ihrer Lebensbeschreibung bezeichnet. Gegen das als Adiaphoron im pietistischen Kontext beargwöhnte Theaterwesen anzuschreiben mittels einer satirischen Komödie, die dieser Dogmatik den Boden entziehen soll, muss bedeuten, für den Unterhaltungswert des Theaters einzutreten und nicht primär den didaktischen Aspekt zu betonen. Diesen hebt die Forschung gleichwohl als das zentrale Charakteristikum deutscher Komödien(-übersetzungen) der Frühaufklärung und Aufklärung hervor 18, und das nicht zu Unrecht, steht doch da-
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Luise Adelgunde Victorie Kulmus: Brief an Gottsched, 30. Mai 1732 – Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Bd. 2: 1730–1733, S. 231–233, hier S. 233. Vgl. Brandes: Im Westen viel Neues, S. 208. Vgl. grundsätzlich Brüggemann: Die sächsische Komödie. Zur Komplexität der Vergleichbarkeit siehe auch Hinrichs: Jansenismus und Pietismus, S. 136–158; Thomke: Die Kritik am Theaterspiel im Pietismus, Jansenismus und Quietismus, S. 159–171. Der Frau Luise Adelgunde Victorie Gottsched, geb. Kulmus, sämmtliche Kleinere Gedichte, nebst dem von vielen vornehmen Standespersonen, Gönnern und Freunden beyderley Geschlechtes, Ihr gestiftenen Ehrenmaale, und Ihrem Leben, hrsg. von Ihrem hinterbliebenen Ehegatten. Leipzig: Breitkopf 1763, S. x–xi. Der Lebensbeschreibung ist ein allegorisches Brustbild nach halblinks vorangestellt, über dem „sapere aude“ geschrieben steht. Wie man schon an der Pietisterey gesehen hat, ist Luise Gottsched nicht allein bei der weltlichen Gelehrsamkeit geblieben, und so schreibt sie 1740 Horatii, als eines wohlerfahrenen Schiffers, beweglicher Zuruf, an alle auf dem Meere der gesunden Vernunft schwimmende Wolfianer, eine Satire, die ihr Mann in ihrer Lebensbeschreibung als Beitrag zur „geistlichen Gelehrsamkeit“ beschreibt: „[...] so sollte hier der einfältige Witz, in allegorischer Verdrehung und Zerstümmelung eines Spruches, und eine abgeschmackt angebrachte Belesenheit, den Stoff des Lächerlichen hergeben: dergleichen die Selige entweder vormals auf Kanzeln gehöret, oder in schlechten Postillen gelesen haben mochte.“ (S. xvi) Vgl. Brandes: L.A.V. Gottsched, S. 200–202.
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hinter das nationale Reformprogramm Johann Christoph Gottscheds. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass das delectare der Didaktik nicht untergeordnet ist, wie sogar in Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen deutlich wird. Die Komödie sei, so seine Definition, „eine Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen der Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann.“ 19 Gottsched hebt die ‚Belustigung‘ hervor, zu der sich, allerdings als Möglichkeit, die Erbauung gesellen kann. 20 Gleiches gilt für Luise Gottscheds Pietisterey im Fischbeinrocke: Einerseits unterhält das – wohl Lesedrama gebliebene – Stück durch lebendige Mündlichkeitsfiktion eines sich konstituierenden Bürgertums und durch den als falsches Pathos identifizierten Sprachduktus der typenhaft gezeichneten Pietisten die Rezipienten, andererseits wird die Satire durch belehrende Passagen verschleppt, so durch den pietistischen Bücherkatalog, dessen bloße Aufzählung die Handlung retardiert, und zwar in „völlig undramatischer Weise“ 21. Dieser pietistische Katalog belegt die große Verbreitung pietistischer Bücher, die für das zeitgenössische Verständnis des Stückes als bekannt vorausgesetzt werden müssen. Dies gilt auch für die von den Figuren ohne Sinn und Verstand gewissermaßen auswendig gelernten ‚Vokabeln‘ des Pietismus, wie „Wiedergeburth“, „Quell-Wasser der Hertzens“, „Selbstheit“. Wolfgang Martens ތEinschätzung ist zutreffend, man habe es mit „Elementen der mystischen Spekulation [eines Böhme] zu tun. [Diese Aneinanderreihung] bedient sich nicht eigentlich der Sprache des Pietismus, etwa Speners oder Franckes.“ 22 Gerade auf die Begründer dieses Spener-Franckeschen Pietismus trifft das Vorurteil schwärmerischer Sprache als Vorbild für eine überspannte Empfindsamkeit überhaupt nicht zu. Der Kontext, weshalb die drei Frauenfiguren Glaubeleichtin, Zanckenheimin und Seuffzerin auf die Verfassung eines „Glaubensartikels“ kommen, ist der der realen Aufzeichnung von Erweckungs- und Wiedergeburtserlebnissen, insbesondere von Frauen; Wiedergeburt ist dann auch das die Dialoge bestimmende Thema. 23 Allerdings geht es ihnen nicht um die eigene Erweckung durch Buße, sondern darum zu beweisen, dass sie klüger als die Gelehrten seien. Die auf Glaubeleichtins Definition der Wiedergeburt – „das süße Quell-Wasser des Hertzens,
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Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 186. Selbstverständlich ist dies vor dem Hintergrund zu lesen, dass Gottsched die horazische Doktrin sehr genau – und damit auch als Alternative – auslegt. Steinmetz: Die Komödie der Aufklärung, S. 35. Martens: Nachwort. – In: Gottsched: Pietisterey im Fischbeinrocke, S. 87. Gottsched: Die Pietisterey im Fischbeinrocke, IV, 1, S. 85.
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welches aus der Sophia urständet, und das himmlische Wesen gebiert“ 24 – folgende Diskussion ist insofern mit rhetorischem Geschick geführt, als die Beweise und Erklärungen, die angeführt werden, immer nur Autoritätsargumente sein können, jedoch keine echten Erklärungen: „ich werde doch wissen, was ich rede“, sagt Frau Glaubeleichtin, oder: „Alle Menschen verstehen das.“ 25 Diethelm Brüggemann spricht allerdings von einer „Entrhetorisierung des Stiles“ 26, den auch Helga Brandes als Schwulstkritik gegenüber dem Barock bestätigt sieht. 27 Für Brüggemann steht fest: Soweit all diese Mängel nicht in der unentwickelten Ausdrucksfähigkeit der damaligen deutschen Sprache liegen oder darin, daß die Gottschedin ganz offenbar aus Unkenntnis des Französischen falsch übersetzt hatte, können sie schließlich auf einen einzigen Nenner gebracht werden: die Gottschedin überträgt nicht nur vom Französischen ins Deutsche, sondern sie überträgt gleichzeitig vom rhetorischen Stil in ihre eigene, nicht stilisierte Umgangssprache. 28
Brüggemann schiebt Gottsched die Entrhetorisierung als „unbewußt“ 29 unter und angeblich bliebe ihr „keine andere Wahl“ 30, so und nicht anders zu schreiben. Obwohl Brüggemann nicht werten will, wertet er natürlich doch in großem Umfang. Seine Detailanalysen der Pietisterey sind gleichwohl zutreffend, doch das daraus gezogene Fazit einer Abqualifizierung des Textes – und gerade auch der angeblich ungebildeten Frau – in der Gegenüberstellung von Rhetorik und ‚Umgangssprache‘ treffen nicht den Punkt. So spricht er beispielsweise von ‚Vergröberungen‘ im Ausdruck und von „affektisch[er] Aufladung“ – und: „die Individualität der Ironie [der französischen Vorlage] wird übersetzt in die Direktheit der gefühlsmäßig betonten plumpen Aussage.“ 31 Auch ihre Hinzufügungen wirkten störend angesichts des französischen Originals: „Außerdem tragen die vielen Flickwörter [‚doch‘, ‚einmal‘ und so fort] sehr stark zur Entrhetorisierung des Stiles bei.“ 32 Eine andere Stillage zu wählen – und dies vor dem Hintergrund der ‚natürlichen Sprache‘ und des ‚guten Geschmacks‘ der normativen und weithin Geltung beanspruchenden Regelpoetik Johann Christoph Gottscheds –, ist jedoch keineswegs Ausweis von Unbildung oder
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Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 86f. Brüggemann: Die sächsische Komödie, S. 65. Vgl. Brandes: L.A.V. Gottsched, S. 214. Brüggemann: Die sächsische Komödie, S. 64. Ebenda, S. 65. Ebenda, S. 70. Ebenda, S. 68. Ebenda, S. 65.
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Entrhetorisierung. Es verbirgt sich im Gegenteil hinter dem falsch platzierten Begriff der Umgangssprache ein neues Sprachprogramm, mit dem Luise Gottsched sogar, wie Brandes zuspitzt, „selbstbewusst die von ihrem Ehemann gesetzten engen Grenzen der Bühnensprache“ 33 überschritten habe. Nicht von Entrhetorisierung ist folglich zu sprechen, sondern von einer Rhetorik des mittleren Stils. Ein Zirkelschluss ist es nämlich, einerseits den Verinnerlichungsdiskurs des Pietismus als Vorbereiter für Entrhetorisierung zu lesen, andererseits von der Sophistik des Pietismus, die aus scheinfrommen Satzbruchstücken besteht und an das Auswendiglernen im Kontext der Schulrhetorik erinnert, zu sprechen. Es ist also sinnvoll, in diesem Zusammenhang von Stilkritik, und das bedeutet hier an dieser Stelle zugleich Pathoskritik, zu sprechen, so auch hinsichtlich des rokokohaften Akrostichons des Herrn von Muckersdorf 34, die unmittelbar vom Bildungsprogramm der Aufklärung abhängt. So wird in Gottscheds antipietistischer Satire – auf einen ganz bestimmten Pietismusbegriff nur zu beziehend – gezeigt, dass die auf Performanz angelegte Rhetorik der Emotionen des Inneren immer dann in Floskeln und bloßen Behauptungen erstarrt, wenn es bei der Aufzählung von Schlagworten und ‚name-dropping‘ bleibt, wenn Formen ohne Inhalt daherkommen. Die Satire ist eine des Wortes: Gottsched nutzt nicht die Möglichkeiten der Pietismuskritik des nicht lesbaren Äußeren (z. B. dem ‚Kopfschlackern‘). 35 Es geht vielmehr um eine Suche nach einer ‚neuen Sprache‘ der Emotionen – in Johann Christoph Gottscheds Worten: „eine ganz natürliche Schreibart“ 36 –, wie sie am ehesten in der Figur der Frau Ehrlichin realisiert wird. 37
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Brandes: L.A.V. Gottsched, S. 214. Johann Christoph Gottsched sagt zur Affektnachahmung im Versuch einer Critischen Dichtkunst. Anderer Besonderer Theil:, X. Kap., § 24, S. 327: „Die beste allgemeine Regel, die man hier geben kann, ist, die Natur eines jeden Affects im gemeinen Leben zu beobachten, und dieselbe aufs genaueste nachzuahmen. Nun findet man aber, daß auch die vornehmsten Standes-Personen zwar ihrer Würde gemäß denken und sprechen, so lange sie ruhiges Gemüthes sind: so bald sie aber der Affect übermeistert, vergessen sie ihres hohen Standes fast, und werden wie andre Menschen.“ Gottsched schließt sich bei der Affektkonzeption, hier hinsichtlich der Tragödie, Horaz und Quintilian an, indem er den zitierten Gedanken so fortführt, dass jeder, der auf emotionale Wirkung bedacht sei, zunächst selbst affiziert sein müsse (ebenda). Vgl. Sträter: Meditation und Kirchenreform; Vollhardt: Trost, Buße, Erbauung. Die ‚Frömmigkeitskrise’ im frühen 17. Jahrhundert. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, Anderer Besonderer Theil, XI. Kap., § 22f., S. 356: „Es muß also eine Komödie eine ganz natürliche Schreibart haben [...]. Von der Lustigkeit im Ausdrucke möchte mancher fragen, wie man dazu gelangen könnte? Ich antworte, das Lächerliche der Komödien muß mehr aus den Sachen, als Worten entstehen.“ Gottscheds Beobachtungen zu den Affekten in der Tragödie sind auch, in seiner Darstellung, für die Komödie gültig, gleichwohl mit der Ausnahme, dass die Wirkziele
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Goodman argumentiert zwar, dass Johann Christoph Gottsched nie über sein System rhetorischer Verfassung von Rede bzw. Literatur hinausgegangen sei, hingegen Luise Gottsched gar nicht erst über diesen Bildungshintergrund verfügt habe – wenngleich ihr Bildungsstand verhältnismäßig gut war, insbesondere hinsichtlich ihrer Lateinkenntnisse und ihres Englisch, das es ihr ermöglicht hatte, Shaftesbury zu rezipieren. Sie habe durch die mangelnde Ausbildung, so Goodman, gewissermaßen offener beobachten und ausprobieren können: „It is not surprising that she was drawn to more precise articulations of interior life.“ 38 Ihr Fazit daraus lautet: „Her very lack of rhetorical training may have contributed to a more receptive attitude toward modern concerns and modes of expression.“ 39 Diese Vermutungen, selbst wenn sie die unterschiedlichen Möglichkeiten des Ehepaars richtig abbilden, haben ein unbeabsichtigt affirmatives Frauenbild des 18. Jahrhunderts zum Grunde, das nämlich durch so genannte Natürlichkeit, Aufrichtigkeit und Authentizität charakterisiert ist und das weibliche Autorschaft damit – hartnäckig wie erfolgreich – in eine bestimmte Ecke stellt, nämlich Kunst bzw. Briefkultur eher zufällig produziert zu haben. Trotz der der Gattung eigentümlichen Typenhaftigkeit der Charaktere konkretisieren sich die Figuren in und durch das, was als ‚Pietismus‘ abgelehnt wird. Luise Gottsched hat die Pietisterey im Fischbeinrocke in Handlung und den dramatis personae gegenüber dem Original entscheidend abgewandelt. So stößt Frau Ehrlichin zu der pietistischen Hausgemeinschaft. Die Forschung hat die zentrale Stellung der Mütterfiguren in den aufklärerischen Komödien herausgestellt; 40 wie in Kap IV.2 gesehen, ist es aber nun keineswegs so, dass die Mütter im bürgerlichen Trauerspiel immer ausgeschlossen werden, wie man meinen könnte, wenn man die Schicksale der Mütterfiguren nur der kanonischen Stücke, Claudia Galotti oder die Millerin, in den Blick nimmt. In der Komödie Gottscheds kann man zwar die Präsenz der Mutter betonen, der eigentlich Vernünftige und den Knoten Lösende ist aber der Vater, der im letzten Akt seinen Auftritt hat und sogar noch die Reue der Glaubeleichtin ermöglicht. 41 Wie bereits in der Analyse von Hensels Drama gezeigt wurde, ist diese Komposition nicht
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Furcht, Schrecken und Mitleid in der Komödie nur in gemäßigter Weise verfolgt werden dürften (vgl. ebenda, § 21, S. 354f.). Vgl. Brandes: L.A.V. Gottsched, S. 214. Goodman: „Die Tugend zittert nie“, S. 271. Ebenda, S. 281. Vgl. Brandes: Leibhaftige Unvernunft. Zur Mutter-Rolle in der Typenkomödie der Aufklärung; auf Brandes bezogen vgl. auch Becker-Cantarino: „Wenn ich mündig, und hoffentlich verständig genug seyn werde...“, S. 95f. Vgl. Kord: Unmöglichkeiten, insbesondere S. 115f.
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so zuversichtlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Problematisch an den Frauenfiguren in der Pietisterey (nicht an allen) ist eben nicht nur die ‚Pietisterey‘, die durch die mangelhafte Bildung verschärft wird, sondern auch der ‚Fischbeinrock‘, der für die Zurückgebliebenheit der „im barocken Kostüm verharrenden und im Korsett gefangenen Frauen“ 42 steht. Der Charakter der Belehrten ändert sich also letztlich nicht vollkommen, denn das wäre nach gottschedischer Norm unwahrscheinlich und folglich unnatürlich, zumal die Handlung an ‚nur‘ einem Tag spielt. Auf dieser Grundlage ist die Figur der Frau Glaubeleichtin, deren Haus Handlungsschauplatz ist, modelliert. Im Zedler ist sie gewissermaßen charakterisert: „Pietistin, oder Betschwester. Ist ein fromm-vermeyntes und scheinheiliges Frauenzimmer so der so genannten Pietisterey anhänget, die heimlichen Zusammenkünfte fleißig mit besuchet, und durch Annehmung allerhand äusserlicher demüthiger und erbarmungswürdiger Geberden sich durch ihre quackerischen Lehren von andern unterscheidet.“ 43 Dass der Zedler der Pietistin einen eigenen Eintrag widmet, ist vor dem Hintergrund der ‚Begeisterten‘ 44 nicht weiter ungewöhnlich und wird entsprechend in der Satire als griffiges Beispiel verwertet. Hinzu kommt die Reduktion des weiblichen Wirkungskreises, wie in der Pietisterey eindrucksvoll umgesetzt, auf das Haus und die Schwierigkeiten, die der zwei Jahre abwesende Vater und Hausherr hervorgerufen hat und der schließlich das Machtwort über Herrn von Muckersdorff als „einem dummen Esel“ spricht. 45 Noch Helmut Koopmann drückt die Verurteilung des Pietismus so aus, indem er die Satire eine Kritik an einer offenkundigen Unsinnstheorie, am Erbauungsgehabe und an der Lebensferne pietistischer Disputationen [nennt], wie sie in diesem Stück vorgeführt werden, Protest auch gegen ein mißverstandenes theologisches Schrifttum und gegen das selbstverblendete Mißverstehen überhaupt. [...] Es ist die Satire der Vernunft über die Unvernunft, die des nüchternen Menschenverstandes über alle theologische Geheimniskrämerei. 46
Sicher ist es nicht damit getan, den Pietismus als „Geheimniskrämerei“ abzutun. Zwar heißen Pietisten sogar im pietimusnahen Zedler „Fanatici“ 47, die sich durch Schein und Heuchelei auszeichneten. „Pietisterey,
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Becker-Cantarino: „Wenn ich mündig, und hoffentlich verständig genug seyn werde...“, S. 97. Zedler: Universal-Lexicon: Art. Pietistin, oder Betschwester, Bd. 28, Sp. 130. Vgl. Wustmann: Die „begeisterten Mägde“. Vgl. Gottsched: Die Pietisterey, V,3, S. 122. Mit der Einflussnahme Dajas auf Recha während der Abwesenheit Nathans leitet auch Lessing sein Stück ein. Koopmann: Drama der Aufklärung, S. 79f. Zedler: Universal-Lexicon: Art. Pietisten, Bd. 28, Sp. 109.
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Pietismus, ist derjenige Zustand eines Menschen, da er sich äusserlich fromm stellet, in der That aber und innerlich nichts weniger als der wahren Frömmigkeit ergeben ist.“ 48 Der Zedler hebt vor allem eine anonyme Publikation, den Unfug der Pietisten, von 1693 hervor, die anlässlich der Halberstädter Unruhen als Schmähschrift einen großen Bekanntheitsgrad erlangte und besonders Frauen in den Mittelpunkt satirischer Abqualifizierung rückt. 49 Aber nicht nur durch solche Sensationsliteratur sind die theologischen Streitigkeiten im Mittelpunkt öffentlicher Diskussion. So prallen auch in Königsberg, dem Handlungsschauplatz der Komödie, obgleich Königsberg kein „zweites Halle“ 50 ist, Orthodoxie und (hallischer) Pietismus im öffentlichen Raum aufeinander. Dafür stehen stellvertretend die Namen der Theologen Franz Albert Schultz und Johann Jacob Quandt, deren Auseinandersetzungen ab 1731 in Königsberg insbesondere an der Albertina-Universität, an der auch Johann Christoph Gottsched zunächst Theologie studierte, ihren Höhepunkt fanden. Schultz, der in Halle bei G. A. Francke und Christian Wolff studiert hatte, war von beiden beeinflusst. Man kann Schultz einen Pietisten hallischer Prägung nennen, der in Königsberg arbeitet. An ihm rieb sich die lutherische Orthodoxie, namentlich Quandt, in besonderem Maße. Quandt war Professor für Theologie und Oberhofprediger an der Schlosskirche in Königsberg. Im Brief des Königsbergers Johann Georg Bock, der Johann Christoph Gottsched mit Neuigkeiten über seine Heimat versorgt, vom 25. April 1729 heißt es, „D. Quandt behauptet immer noch den Preiß des grösten Redners an unserm Orte [...]“ 51. Schultz hingegen kann man als einen „aufgeklärten Pietisten“ 52 bezeichnen, der sich mit Vernunftlehre und Offenbarungslehre auseinandersetzte. „Die Opposition gegen Schultz von Seiten der antipietistischen Fraktion bediente sich unterschiedlicher Maßnahmen, um ihn in Frage zu stellen und um Antipathien in der Bevölkerung hervorzurufen.
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Ebenda, Art. Pietisterey, Bd. 28, Sp. 130. Vgl. ebenda, Art. Unfug der Pietisten, Bd. 49, S. 1319–1325. Zedler zählt die dagegen anschreibenden Schriften auf, an denen ersichtlich wird, dass in allen Brennpunkten, Halle/Leipzig, Königsberg, darüber diskutiert wird und gegen die Thomasius auf Seiten Speners Position bezieht, vgl. Thomasius: Kurze Abfertigung derer in der ausführlichen Beschreibung des Pietisten Unfugs enthaltenen Lästerungen – Ausgewählte Werke, Bd. 22: Kleine Teutsche Schriften, S. 615–630. Vgl. darüber hinaus Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 195. Fehr: „Ein wunderlicher nexus rerum“, S. 7. Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Bd. 1: 1722–1730, S. 213. Fehr: „Ein wunderlicher nexus rerum“, S. 288.
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Die antipietistische Polemik breitete sich besonders im Zeitraum 1734 bis 1736 aus.“ 53 Man kann also festhalten, dass in Verbindung mit dem SchultzQuandt-Streit und den für Wolffianer schwierigen 20er Jahren die Glaubenskämpfe im Stadtbild zwar sichtbar waren, keineswegs aber eine einseitige Bewertung stattfand, wie man es vermeintlich aus der Pietisterey herauslesen könnte. James Jakob Fehr versteht gleichwohl die Pietisterey, selbst „wenn es in erster Linie einen Angriff auf Francke und Lange in Halle darstellt, auch als Angriff auf Schultz und seine Kollegen [...]“ 54. Die Verbindung von beidem, ratio und religio, namentlich in der Person des Pietisten und Aufklärers Schultz, bestimmt auch das positive Gegenkonzept in der Pietisterey, die „Vernunftreligion“ 55 – die nämlich weder emotionslos betrieben, noch (zu diesem Zeitpunkt) durch die Vernunft ausgehöhlt wird. Es muss betont werden, dass der Prozess der Säkularisierung eine Verbindung von rationalistischem und theologischem Denken nicht ausschließt. „Es giebt in allen Dingen eine Mittelstraße, die man nachahmen kann“, so lautet in der Komödie Die Hausfranzösin programmatisch das Fazit Luischens. 56 Diese Mittelstraße wird durch die Vernunft kenntlich gemacht, die Luischen als ‚Typ‘ vertritt. Auch für die Pietisterey gilt die ‚Mittelstraße‘. Nicht derjenige verschafft sich Geltung, der bloß von Tugend redet, also ‚scheinfromm‘ ist – wie bereits im dritten Kapitel als simulacra virtutum diskutiert –, sondern der tätige Mensch, der tugendethisch handelt. Die Rhetorik der Mitte lässt sich aber nur in Abgrenzung zu den Extremen, zum pathos, realisieren. Wie die seit der Antike geübte Sophistik-Kritik, so wird auch um 1700 das Verhältnis von Rede und Handlung problematisiert, weil sich an einer guten Rede nicht zwangsläufig das ethos des Redners zeigen muss. Und so wird im Zedler eine Doppelmoral der Pietisten deklariert, die mit Aristoteles begründet wird: Daß etliche von den so genannten Pietisten, welche am meisten auf die Aristotelische und Scholastische Philosophie ereifert sich bezeigten, in der That ganz klar bewiesen, dass sie die mancherley Sophistereyen weit besser verstünden, und
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Ebenda, S. 58. Ebenda, S. 63. Ebenda, S. 289. Die Hausfranzösin, oder die Mammsell. Ein deutsches Lustspiel, in fünf Aufzügen. – In: Johann Christoph Gottsched: Die deutsche Schaubühne, S. 153. Das vernünftige (patriotische) Luischen ist es dann auch, das sich zur Modekleidung ebenda so äußert: „Was ist närrischer als die ungeheuren großen Fischbeinröcke des Frauenzimmers […]“. Vgl. auch Blaschke: Anleihen und Verachtung, S. 71–85.
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auch scheinbarer zu applicieren wüssten, als man nimmermehr aus Aristotelis Philosophie lernen kan. 57
Die Stilkritik äußert sich in der Pietisterey in den Sprachfloskeln unaufgeklärter Frömmelei, klischeehaft verbildlicht in der Pietistin, sowie in der Satire des falschen Pathos, was Pietismus, Rokoko (am Beispiel des Akrostichons) und Empfindsamkeit gleichermaßen betrifft. An die Stelle des falschen Pathos rückt die ‚Mittelstraße‘, deren Sprache sich in einer Nachahmung natürlicher, unverstellter Empfindsamkeit wie im Falle der Ehrlichin ausdrückt. Diese Stilgattung korrespondiert mit der Aufwertung der Unterhaltungsfunktion dieser satirischen Komödie, die sich nur dadurch von der Rigidität der pietistischen Ablehnung des Theaterwesens absetzen kann.
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Zedler: Universal-Lexicon, Pietisten, Bd. 28, Sp. 117 (Abschnitt 14).
2. Goethe: Der Triumph der Empfindsamkeit Noch bereits in der Hochphase der literarischen Empfindsamkeit und wenige Jahre nach dem Werther stellt sich eine Flut von Parodien ein. Der Empfindsamkeit wird der Vorwurf gemacht, eine ‚Mode-Krankheit‘ zu sein. Das, was die Empfindsamkeit in allen Diskursen bekämpft, nämlich dass auf Worte keine Taten folgen, wird gegen sie selbst gewendet: eine empfindsame Rhetorik der Emotionen als bloßes Spiel mit leeren Phrasen. Besonders die erlernten empfindsamen Floskeln seien zu meiden; Knigge maßregelt 1788 im Umgang mit Menschen diejenigen, die ihre Empfindsamkeit nicht nur beim Lesen in der stillen Kammer, sondern in der Gesellschaft, hier bei einem Klaviervorspiel, ausstellen müssen: „[...] und nun brüllen die zuhörenden Liebhaber mitten in der rührendsten Stelle überlaut: ‚Oh! Das ist gar schön! vortrefflich!‘ – und darüber geht die Stelle verlohren. – Solcher Unschicklichkeiten soll man sich enthalten.“ 58 Anders ausgedrückt nehmen zeitgenössische Parodien die Übertreibung der Empfindsamkeit als Empfindlichkeit zum Ziel und stellen ihr, wie Friedrich Nicolai beispielsweise in seinen Freuden und Leiden des Werthers, den pragmatischen (Spieß-)Bürger gegenüber. 59 Goethes Parodie Triumph der Empfindsamkeit zeichnet sich nun dadurch aus, dass sie alle Register empfindlicher Einsamkeit zieht und dennoch, als selbstironisches Zerrbild eines Werthers, in ein vermeintliches happy end mündet. Die Parodie ist kein eigentliches Stück der Empfindsamkeit, sondern ein Metatext, der sich mit den Funktionsweisen ihrer rhetorischen Verfehlung durch Übertreibung beschäftigt. Zentral ist für diesen Kontext nicht das vielbesprochene aus klassischer und selbst-erklärender Retrospektive von Dichtung und Wahrheit Kunst-Natur-Verhältnis und die Einordnung Proserpinas in die Parodie, sondern der „Effekt“, eines der ‚Kunstwörter‘ des Dieners Merkulo, der gleichsam mit der „Grundsuppe“ der empfindsamen Literatur an die Oberfläche gelangt und auf den das Stück abzielt. „[...] daß der Teufel der parodie mich noch reitet“ 60, stellt Goethe im Brief an Merck anlässlich seiner kurz zuvor inszenierten dramatischen Grille, des
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Knigge: Ueber den Umgang mit Menschen, Dritter Theil, 5. Kap., S. 115. Vgl. meine Überlegungen in Roeben: Männlichkeit ex negativo. Goethe: Briefauszug an Johann Heinrich Merck, 18.3.1778 – Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. II, Bd. 5, S. 966. Nach dieser Ausgabe wird in diesem Kapitel Der Triumph der Empfindsamkeit. Eine dramatische Grille (S. 69– 123) unter Angabe von Akt und Seitenzahl zitiert. Vgl. in diesem Zusammenhang, aber an dieser Stelle nicht weiter auszuführen, Bachtin: Literatur und Karneval.
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Triumphs der Empfindsamkeit fest. Goethe hat damit für John Heins das Gegenstück zum Werther, nämlich „the ultimate anti-sentimental text“ 61 verfasst. Der Titel kann also nur ironisch gelesen werden und es wäre nicht angemessen, wie Gerhard Sauder vorschlägt, ihn in „Triumph der Empfindelei“ umzunennen. 62 Wenngleich Sauder völlig zu Recht das Fehlen von Empfindsamkeit im Sinne von tatkräftiger Tugend, sozialem Handeln und Bürgerlichkeit konstatiert, ist seine Folgerung, dass der Titel unpassend sei, nicht nachzuvollziehen: Eine Parodie spart schließlich üblicherweise die ernstzunehmende (positive) Qualität des Stoffs aus. Der Triumph der Empfindsamkeit ist für den 30. Januar 1778 zum Geburtstag der Herzogin Louise konzipiert und wird auch termingerecht, in illustrer Besetzung mit Goethe in der Rolle des humoristischen Königs, aufgeführt. Diese Tatsache ist eine ebenso wichtige Rezeptionsvoraussetzung wie der Umstand, dass in dieser Jahreszeit der Karneval solche ‚Tollheiten‘, wie Goethe sein Stück nennt, beförderte. 63 Das Drama befindet sich also ganz im Kontext ‚karnevalistischen Lachens‘, und das heißt, dass dieser Text angesichts des pragmatischen Anlasses nicht kontextfrei rezipiert werden kann. Goethe wusste einzuschätzen, dass eine Parodie auf die ansonsten weithin erfolgreiche Strömung der Empfindsamkeit in Weimar Beifall finden würde: „Der weimarische Hof war – anders als zumal der befreundete Darmstädter, von dem die junge Herzogin stammt – der modischen Empfindsamkeit weithin abhold.“ 64 Zu Dieter Borchmeyers Aussage sei lediglich angemerkt, dass er somit die Dichotomie von einer Kunst der späteren Weimarer Klassik und einer trivialen Modeströmung namens Empfindsamkeit eröffnet. Solch eine Folgerung ist gewiss nicht die einzig denkbare, denn verspottet wird immer, was Erfolg hat. (Und entsprechend wenig Beachtung wird dem Triumph geschenkt, als die Empfindsamkeit als überholt gelten durfte.) Und zwar nicht nur, um sich davon abzusetzen, sondern auch, weil das rhetorische Arsenal von Topoi und Themen weithin bekannt ist und seine Ironisierung verstanden werden konnte. Dass Goethe in die Parodie auch in reflektierter Selbstdistanz seinen Werther und – in der ersten Fassung auch Stella – einbezieht, ist selbstverständlich nicht nur als „Abwehr der Schatten Werthers“ 65 (wie das ansonsten besonders auf die ersten Jahre in Weimar zutreffen mochte) zu
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Heins: Sentimental Confusion, S. 83. Sauder: Vom Himmel der Empfindsamkeit in Proserpinas Hölle, S. 150. Borchmeyer: Kommentar. – In: Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. II, Bd. 5, S. 966. Ebenda, S. 980. Ebenda.
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verstehen. Schließlich ist diese captatio benevolentiae an ein lesendes Publikum nichts ungewöhnliches, zeichnet sie den Dichter doch auch aus, und was wäre eine Parodie auf die Empfindsamkeit ohne den Werther wert? Zumal gesteht der Dramenautor seinen Schauspielern zu, sich „auf gute Art über ähnliche Schriften lustig zu machen“ (V, 111). Die Parodie nun ist eine mehrfache: bezüglich der Mischung von ‚empfindsamen‘ Genres, der Charaktere (und der Karikierung von Goethes Zeitgenossen) und der intertextuellen Bezugnahmen auf die empfindsame Literatur in Deutschland und Frankreich. Im Folgenden soll es darum gehen, Goethes Offenlegung empfindsamer Rhetorik anhand dieser Bezüge nachzuvollziehen und die Ironisierung – der Feind aller emphatischen (empfindsamen) Rede 66 – dieser Rhetorik als bloß floskelhafte Rede und Schema-Literatur herauszustellen. Der Parodie ist die Adaption eines bestimmten Stils eigen, und bezieht sich, so könnte man meinen, nur auf ein Genre. Hier allerdings werden verschiedene Genres vermischt, so dass sich auch die Kommentatoren der Klassiker-Ausgabe mit einer Einordnung schwer tun. 67 Vielleicht ist aber eine Gattungszuordnung gar nicht zielführend. Die Frage ist vielmehr: Was qualifiziert – und darin wird eine Parodie in der Regel recht deutlich – die Genres Melodram bzw. komische Oper, Monodrama und Verwechslungskomödie, schließlich die dramatische Grille dazu, als empfindsam verspottet zu werden? 68 Zunächst: Goethe selbst nennt vor der Fertigstellung sein Schauspiel eine komische Oper, „so toll und grob als möglich.“ 69 König Andrason hat es gleich mit zwei überspannten Schwärmern zu tun, seiner Frau Mandandane und dem Prinzen Oronaro, die beide scheinbar empfindsame Gefühle füreinander hegen. Während Mandandane aber von ihrer überspannten mehr Selbst- als Fremdbezüglichkeit geheilt wird, ist der Prinz, entgegen Andrasons Hoffnung, nicht mehr zu kurieren: seine Empfindlichkeit führt dazu, nur in einer künstlichen Welt inklusive einer künstlichen Mandandane-Puppe leben zu wollen. Ein Zusammenhang zwischen
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Vgl. Andree: Emphase. Martin Andrees Lesart der derridaschen Grammatologie bündelt sich in der Annahme, dass es Kommunikationsstrategien gibt, die sich als emphatische Kommunikation und damit gleichzeitig auch ihre Selbstüberschreitung inszenieren, indem sie ein ‚Mehr‘ hinter der Medialität suggerieren (S. 22–25). Vgl. Borchmeyer: Kommentar. – In: Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. II, Bd. 5, S. 980. Zum Festspielcharakter vgl. den Titel der handschriftlichen Fassung von 1777 und die Hinweise von Gerhard Sauder: Vom Himmel der Empfindsamkeit in Proserpinas Hölle, S. 144f. Goethe: Brief an Charlotte von Stein, 12.9.1777, zitiert nach dem Kommentar. – In: Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. II, Bd. 5, S. 965.
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Melodram und der künstlichen Puppe besteht in der Bezugnahme auf Rousseaus zwar nicht genanntes, so doch gemeintes, Melodram Pygmalion, in dem die Musik die ‚Belebung‘ der Statue bewirkt – auch in Goethes Stück geht es zentral um die Puppe, die den (allerdings in Goethes Parodie nie vollzogenen) pygmaliontischen Akt der Belebung assoziiert. 70 Die Musik spielt zur Bestimmung dessen, was als empfindsam gelten soll bzw. als afterempfindsam verspottet wird, eine wichtige Rolle: Die Hoffräulein üben unter Anleitung des Königs einen empfindsamen Tanz für den Prinzen ein. Leider haben sie, die zwar – in ihrer naiven Art – für jede Mode offen sind, kein Gespür für Empfindsamkeit, sie beginnen einen „Bauerntanz“. Dabei drückt sich der empfindsame Tanz, so der humoristische Andrason, in Schnupftüchern, theatralischem Atemholen und biegsamen Körpern zu sanfter Musik aus. „Hernach immer eine Hand an der Stirne und eine am Herzen, als wenn’s euch in Stücken springen wollte [...]“ (I, 78). Das Einstudieren solcher empfindsamer ‚Standards‘ macht, was es nicht sein darf, nämlich Arbeit: „diese Empfindsamkeit zuletzt hat mich hungriger gemacht, als meine Reisen bisher“ (I, 79), beschließt der König die Szene. Auch die künstliche Welt des Prinzen wird musikalisch untermalt – und die Musik ist zugleich zuständig für die ironische Brechung der Illusion, wenn der Prinz über seinen letzten Versen einschläft und das Orchester hilflos auf die Schlusskadenz wartet. Wie in der Forschung häufig thematisiert, antizipiert diese Stelle die romantische Ironie eines Tiecks. Gesungen, wie für Lyrik im Grunde auch eigentümlich, ist auch der hymnus der Proserpina. Das Spiel im Spiel, Proserpina, gilt ohnehin durch die allerdings wesentlich spätere Vertonung durch Franz Carl Adelbert Eberwein, dem Musikdirektor der Oper in Weimar, als Melodrama. Das Genre bietet insofern viele Vorzüge für empfindsame wie auch empfindliche Rhetorik der Emotionen, als mehrere Ebenen des Ausdrucks beteiligt
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Das Motiv des künstlichen Menschen ist im Kontext romantischer Literatur und Musik bei E.T.A. Hoffmann, Eichendorff, Kleist et al. und unter anderen naturwissenschaftlichen Parametern viel verbreitet. Die Abgeschlossenheit der künstlichen Welt und die detaillierte Nachbildung der Umwelt zeigt, dass die Mode der Empfindsamkeit ihren Zenit überschritten hat – diese Flucht schneidet der Empfindsamkeit ihre gesellschaftliche Daseinsberechtigung ab, indem sie zu tätigem Handeln im Sinne von Mitleid und Nächstenliebe aufruft. Der dekadente Prinz Oronaro findet seine Nachkommen in der Literatur um 1900: Floressas Des Esseintes aus Huysmans A rebours ist derjenige, der sich im Landhaus von der Außenwelt abschließt und sich eine zerstörerische Kunstwelt erschafft. Aus der umfänglichen Literatur über Pygmalion seien hier nur die für das Theater/Musiktheater des 18. Jahrhunderts relevanten Studien genannt: Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions; Brandl-Risi: Das Zerfließen des Bildes. Weinende in der Kultur der „Tableaux vivants“, S. 127–142; Hersey: Falling in Love with Statues. Artificial Humans from Pygmalion to the Present.
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sind. „Im Mono- oder Melodram, einem ‚Seelengemälde‘, sollten alle Register in der Evokation der Affekte gezogen werden.“ 71 An Appellen und rhetorischen Fragen mangelt es tatsächlich nicht in Proserpina. Aber empfindsam ist ihre Rede dennoch nicht, sondern ganz der antikisierenden fiktiven Welt angemessen, was in Anbetracht allerdings ihrer empfindsamen Einstellung zu Gartenkunst und lebendiger Blume (IV, 103) erst die parodistische Brechung hervorruft. Im Triumph der Empfindsamkeit als Monodrama betitelt, erfährt Proserpina in der Forschung dennoch je unterschiedliche Zuschreibungen. Die Betitelung Monodrama ist stückintern insofern wichtig, als König Andrason so die schwärmerisch empfindsamen Eigenarten seiner Frau charakterisiert. Mandandane spielt allein und mit sich selbst, wie der König angesichts den des Griechischen und dieser Mode unkundigen Hoffräulein erklären muss. Deren Kommentar – langweilig – kontert der König mit der Bemerkung, die symptomatisch für die Herabsetzung empfindsamer Genres ist: „Es ist eben eine von den neusten Erfindungen; es läßt sich nichts darüber sagen.“ (I, 77) Mandandane führt schließlich als Proserpina ein Monodrama auf, das den vierten Akt füllt, und nur für die letzten Verse einen, mit dem König zumal ungewollten, Zuschauer hat. Diese Einfügung dieses Monodramas in das Schauspiel, die Goethe später selbst als ungünstig thematisiert, macht einen sechsten Akt notwendig, wie es in dramatischer Brechung von den Figuren selbst erörtert wird (V, 116). Auch der Prinz schauspielert gern – mit Merkulos Metakommentar: „Wir sind aber alle eine Art Komödianten.“ (II, 85f.) – und das am liebsten allein. Der Untertitel schließlich, Eine dramatische Grille, wird nicht im Stück thematisiert. Die Grille lässt sich in der Theaterpraxis als ein Zwischenspiel begreifen, zumal sich ein weiteres Zwischenspiel in Form eines Balletts anschließt, wie sich der letzten Bühnenanweisung entnehmen lässt. Außerdem ist die Grille „im Sprachgebrauch der Zeit eine Schwärmerei und deutet auf ein realitätsloses Phantasieren, auf jene Empfindsamkeit hin, deren poetologische Gefährdung das Singspiel Lila als Therapiespiel angegriffen hatte.“ 72 Die dramatischen ‚modischen‘ Genres werden an die Parodie der Empfindsamkeit problemlos angeschlossen. Ihre Abwertung, z. B. des Melodrams (oberflächlich, kommerziell, trivial), lässt sich bis in heutige Untersuchungen verfolgen und verhindert einen unverstellten Blick auf ihren zeitgenössischen Erfolg. Problematischer ist ein Versuch, die Verwechslungskomödie als empfindsam auszustellen;
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Sauder: Vom Himmel der Empfindsamkeit in Proserpinas Hölle, S. 153f. Reinhardt: Kommentar. – In: Goethe: Triumph der Empfindsamkeit – Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), Bd. 2.1, S. 630.
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und tatsächlich ist das Charakteristikum der Verwechslungskomödie in diesem Text ihr hintergründiges Scheitern, da letztlich weder die Verwechslung durch anagnorisis aus dem Weg geräumt wird, noch die Moral des Königs wahrhaftig greift. Vielmehr liegt die Lust des Spiels in der buchstäblichen Erfüllung des seltsamen Orakels – Andrason formuliert mit diesen Gedanken in gewisser Weise die Produktionsästhetik des Textes, an der die Komödie ausgerichtet wird. ‚Seltsam‘ ist diejenige Eigenschaft, die im grimmschen Wörterbuch für die Grille verwendet wird, nämlich in der Bedeutung für seltsame Geschichten und bizarre Einfälle. 73 Diese Vorgabe der Buchstabentreue steht in auffälligem Kontrast zur commedia dell’arte-Tradition, in der der Text beispielsweise durch die Bühnenanweisungen zum Extemporieren der Schauspieler steht. 74 Trotz Stegreifrede basiert das Schauspiel auf einem Orakelspruch, der ungewöhnlich genug auch noch als Schriftrolle festgeschrieben ist und damit tatsächlich ‚buchstabengetreu‘ nachverfolgt werden kann. Wie bedeutend das Lesen für das Verständnis ist, zeigt sich an den Hoffräulein, die sich mit der mündlichen Wiedergabe des Spruchs durch Andrason nicht zufriedengeben: „Laßt es uns lesen, vielleicht wird es uns klärer.“ (I, 75) Dass Literatur den pygmaliontischen Akt der Belebung ersetzt, zeigt die Puppe: „Die Puppe muß gelesen werden und ist gleichzeitig Resultat einer empfindsamen Lektüre.“ 75 Komplex und anschaulich zugleich ist das Konstrukt der Mandandane-Puppe, prominent in jedem Fall in Szene gesetzt durch das Titelkupfer von Chodowiecki. Das Innenleben der Puppe besteht aus einem Sack empfindsamer Literatur vermischt mit Häckerling (Stroh) – der Garant für die Liebe des Prinzen. Die darin enthaltene empfindsame Literatur (Siegwart, neue Heloise, Werther und so fort) ist die „magische Gewalt“, ist „eine Art Talisman“ (V, 112) und wird verglichen mit Totenköpfen, Geistern, Schätzen, Alraunen und anderen Weihgegenständen. Für den König steht fest: „[...] wenn wir diese Papiere verbrennten, [würde] der Zauber aufhören, und er seine Geliebte als ein hohles Bild der Phantasie gleich erkennen [...]“. (V, 113) Goethe überzeichnet hier den am ‚Bild der Phantasie‘ leidenden Werther durch die Figur des in dieser Phantasie gänzlich aufgehenden Oronaro, der damit insbesondere glücklich wird: „Daß der Prinz die Pup-
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Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 9, Sp. 315–331. Walter Hinck weist darauf hin, dass Goethe sein Drama als extemporiert vorstellt, vgl. Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 362. Weissberg: Kästchenwahl, S. 76.
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pe vorzieht, macht den ‚Triumph‘ der Empfindsamkeit aus.“ 76 Diese Lesart eröffnet sich durch Roland Barthes ތWerther-Lektüre, der dahingehend argumentiert, dass die Sprache des Verlangens immer das Abwesende (oder anders: das immer Abwesende!) als anwesend darzustellen sucht. Werther verliebt sich, so zeigt Roland Barthes, in das Bild der brotschneidenden Lotte (nicht in Lotte selbst), oder sogar metonymisch in „nur“ ihre Schleife. Diese Art der „Gefühlsansteckung“, wie Barthes es nennt, gehe der Liebe voraus. 77 Auch hier gilt: „Zu realen Gestalt gelingt dem Prinzen die schmachtende Anbetung nicht mehr; er gibt die seelisch Entführte dem Gatten zurück [...]“ 78. Der Prinz begnügt sich letztlich gar mit dieser ‚Gefühlsansteckung‘, dieser Ununterscheidbarkeit von Fiktion und Wirklichkeit, die das Kennzeichen für Schwärmerei als „Seelenfieber“ ist als einer „Erhitzung der Seele von Gegenständen, die entweder gar nicht in der Natur ist, oder wenigstens das nicht sind, wofür die berauschte Seele sie ansieht [...]“ 79, wie Wieland 1775 formuliert. Wieland hatte sich distanziert von der Schwärmerei als einer Entsprechung des „Fanatismus“ 80, und damit auch von seinen frühen Werken. Anstelle dessen setzt er den Begriff des Enthusiasmus ein, wie er ihm aus seiner Lektüre Shaftesburys, der für einen gemäßigten Enthusiasmus eingetreten war, geläufig ist. 81 Katja Mellmann rekonstruiert kognitionspsychologisch die entstehenden Gefühle während der Lektüre (mit der Einschränkung, dass nicht alles auf Vergangenes rückbezogen werden kann). Die Aktualisierung von erinnerten und gegenwärtigen Gefühlen und ihre Vermischung bilden den Konnex zur literaturtheoretischen Rezeptionsforschung, die die Produktivität jedes Lesens als einem Neu-Schreiben betont: Die Reflexion auf ein Gefühl, das man bei der Lektüre eines Werkes erlebt hat, bedeutet eine mentale Rekonstruktion dieses Gefühls, ähnlich der empathischen Simulation eines fremden Gemütszustands: Der vergangene eigene Gemütszustand wird qua Erinnerung vergegenwärtigt. Das mentale Produkt hat nicht zwingend exakt dieselbe Qualität wie die ursprünglich erlebte Emotion, schon weil diese nun zur integralen Gestalteinheit eines ‚Gefühls‘ synthetisiert (und
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Reinhardt: Kommentar. – In: Goethe: Der Triumph der Empfindsamkeit – Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), Bd. 2.1, S. 632. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 150. Greiner: Die Komödie, S. 234. Wieland: Enthusiasmus und Schwärmerei – Sämmtliche Werke, Bd. 35, S. 134–137, hier S. 134f. Ebenda, S. 135. Vgl. Shaftesbury: Letter concerning enthusiasm (1708). Vgl. außerdem von Bar: Die Philosophie Shaftesburys im Gefüge der mundanen Vernunft der frühen Neuzeit, S. 71. Zum Begriff des Schwärmers vgl. Lange: Zur Gestalt des Schwärmers im Roman des 18. Jahrhunderts.
Goethe: Der Triumph der Empfindsamkeit
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nicht ‚in der Zeit erlebt‘) wird. Zudem kann sie sich mit anderen, früheren oder gerade aktuellen, emotionalen Eindrücken verbinden und durchmischen. Eine mentale Rekonstruktion im Sinne einer ‚sinnlichen Vorstellung‘ [...] ist eine Wiederholung [...]. Man kann diesen Vorgang als ‚Konventionalisierung‘ eines Gefühls bezeichnen. 82
Auf diese Weise erklärt Mellmann die Abnutzung von Innovationen bis hin zu Klischees, die auch die zeitgenössischen Vorwürfe, die empfindsame Redeweise erstarre zunehmend, betreffen dürfte. Die Parodie Der Triumph der Empfindsamkeit läuft letztlich auf das eine vernichtende Argument hinaus, dass die Rhetorik der Empfindsamkeit leere Effekthascherei sei. Merkulo erläutert den Hoffräulein, dass sie die richtige Terminologie beherrschen müssten. Das Herzstück dabei ist die Natur bzw. Natürlichkeit, ein Begriff, der wie jedes Mode-Accessoire auch „überall dabei sein“ muss, ob es passt oder nicht. Wie ausgehöhlt der Begriff ist, zeigt seine Anwendung auf die „Reisenatur“ des Prinzen, die unter der Regie eines „Naturmeister[s]“ (II, 83) transportabel in Kästen verpackt mitgenommen wird und die in der Nennung „künstliche Natur“ als einer contradictio in adiecto gipfelt. So widersprüchlich wie das Konzept verhält sich auch der empfindliche Prinz, der „von so zärtlichen, äußerst empfindsamen Nerven [ist], daß er sich gar sehr vor der Luft, und vor schnellen Abwechslungen der Tageszeiten hüten muß“ (II, 82). Seine Überspanntheit wird verpottet, aber es kommt noch ärger: Die künstliche Natur der Innenräume seines Schlosses sei sogar „schöner als in der Natur“ und vor allem – und dies dürfte dem sozialen impetus der Empfindsamkeit vollends abgehen – bequemer (II, 83). Der Begriff der Natur ist damit endgültig vom aufklärerischen Konzept, dass natürlich immer nur das ist, was auch vernünftig ist, entkoppelt. Die im Triumph verhandelte Differenz von Natur und Kunst ist in der Forschung vielfach detailliert behandelt worden und soll hier nicht wiederholt werden. 83 Für die Rhetorik der Empfindsamkeit ist vielmehr von Belang, dass die Differenz in einem zentralen Begriff zugespitzt werden kann: dem Effekt. Der Effekt, erklärt Merkulo, ist ein „Kunstwort [...], mit dem weit zu reichen ist.“ Es ist im Grunde in jeder Situation anzuwenden. Besser als mit Merkulos Worten lässt sich die Hohlheit von als empfindsam beschimpften Phrasen nicht beschreiben: [...] wenn Sie etwas erblicken, es sei was es wolle, sehn Sie es steif an, und rufen: Ach was das für einen Effekt auf mich macht! – Es weiß zwar kein Mensch was
_____________ 82 83
Mellmann: Emotionalisierung, S. 157. Vgl. Weissberg: Kästchenwahl; vgl. zudem Heins: Sentimental Confusion; Sauder: Vom Himmel der Empfindsamkeit in Proserpinas Hölle; Blackall: Goethe’s Proserpina in Context: The Two Faces of Empfindsamkeit.
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Zur Mode geworden: Parodien
Sie eigentlich sagen wollen [...]. Halten Sie Sich aber nur an’s allgemeine: Ach! was das für einen besondern Effekt auf mich macht! – Jeder der dabeisteht sieht auch hin, und stimmt in den besondern Effekt mit ein [...]. (II, 85)
Die vorgeschriebene Gestik und Mimik erinnert auffallend an Chodowieckis wenig später entstandene Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, in diesem Fall die affektierten Handlungen, die im Kontext des Gesagten, aber auch als bloße Konvention, als steife Ausführung einer Formel dekuvriert werden. Und schließlich verweist die Reaktion auf diese hohle Formel darauf, dass die Hörerschaft einer Mode, es sei dahingestellt welche, unhinterfragt folgt. Exemplarisch dafür stehen die vier begeisterungsfähigen Hoffräulein, die alles mitmachen, was ihre Neugier befriedigt und die die Expressivität empfindsamer Sprache ins ungewollt Lächerliche ziehen, wenn sie so antworten: „O! oh! Ei! O! ah! ha! ha!“ (I, 74). Wie zentral an dieser Stelle der Begriff des Effekts für die Parodie empfindsamer Rhetorik ist, aber auch wie gut gelaunt Goethe seine Scherze damit treibt, zeigen seine Worte in einem Brief an Charlotte von Stein anlässlich seiner Arbeit für die Druckfassung 1786: „Das Stück hat eine Gestalt, und ich hoffe es soll einen besondern Effekt tun.“ 84
_____________ 84
Goethe: Brief an Charlotte von Stein, 16.6. 1786. Zit. nach dem Kommentar – In: Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. II, Bd. 5, S. 966.
3. Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius Ziprianus Kurt Christian Friedrich Timme benutzt in seinem die Empfindsamkeit karikierenden Roman Der Empfindsame Maurus Pankrazius Ziprianus Kurt, auch Selmar genannt. Ein Moderoman (1781) die Beschreibung der Empfindsamkeit als Mode geradezu inflationär; er spricht von „Modegift“ 85, „Modeprediger[n] der Empfindsamkeit“ 86, vom „pädagogischen Modekrams“ 87. In der Vorrede zum Roman, die als „Gebrauchszettel“ dient, ist der Ausgangspunkt für die Beobachtung der zeitgenössischen Moden festzumachen: „Aufmerksame Beobachter wollen angemerkt haben, daß bei jeder Nazion [!], jedes Zeitalter der Welt seine eigene Puppe gehabt habe, mit der die Kinder derselben gespielt hätten; und die Puppe des unsrigen sei – die Empfindsamkeit.“ 88 Timme spricht auch die Leistung der empfindsamen Rhetorik an, nämlich einen „neuen Ton“ hervorgebracht zu haben: „alle Winkel erschallten von der weinerlichen Empfindsamkeit, von Seufzern, Küssen, Vergißmeinichtchen, Mondschein, Tränen und Wonnen. [...] Alles küsste, wimmerte, siegwartisierte.“ 89 Er rechtfertigt seinen eigenen Moderoman auf geschickte Weise, denn, damit die von ihm diagnostizierte Problemgruppe der Empfindsamen auch seinen Text lesen wollten, dürfe er keine belehrende moralische Abhandlung schreiben, sondern sei gewissermaßen gezwungen, das Genre des Romans zu wählen. In diesem Zusammenhang ruft er auch den Topos von der gezuckerten Pille auf. Wolfgang Doktor reduziert den Text auf seinen zeitdokumentarischen und diskursgeschichtlich relevanten Wert: Timmes Roman (eigentlich ein additives Inszenesetzen einzelner Thesen und theoretischer Reflexionen bei einem Minimalaufwand an Handlungskomposition) birgt auf seinen mehr als anderthalb tausend Seiten die wohl reichste Fülle an Einzelbeobachtungen zu dem historischen, literarischen und psychologischen Phänomen Empfindsamkeit. 90
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Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius, S. 12. Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 11f. Doktor: Die Kritik der Empfindsamkeit, S. 340.
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Zur Mode geworden: Parodien
Gleichwohl differenziert Timme zwischen Empfindelei und wahrer Empfindsamkeit, die nicht laut oder „geschwätzig“ sei, „sondern im Stillen handelt“ 91. Diese Empfindsamkeit wird nicht angegriffen. Vielmehr werden die Wurzeln ihrer Übertreibung psychologisch auf die schlechte Kindeserziehung zurückgeführt, die einerseits in der die Verantwortung delegierenden und ungebildeten Eltern besteht, andererseits in der Beeinflussung durch (pietistische) Religion und (unpragmatische) ‚Schöngeistigkeit‘. Die Unfähigkeit der Eltern lässt sich bereits in der dramatisierten Eingangsszene des Romans anhand der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit bei der Namensgebung feststellen. Die Paten Professor Melhof, Hofmaler Ideal und Doktor Schwung leihen dem Neugeborenen des Ehepaars Kurt jeweils einen Vornamen. Sie lauten: Maurus Pankrazius Ziprianus. Und als der Junge größer wird, kann erst nach langen Diskussionen zwischen Paten und Eltern ein Lehrer gefunden werden, Magister Schnellius, ein Theologe, der nach dem Muster von Franckes Lebenslauf 92 einen strengen Tagesablauf einführt: 6–7 Uhr Betstunde, 7–8 Uhr Frühstück, 8–9 Uhr Lektüre des Alten Testaments und der Hermeneutik, 9–10 Uhr Dogmatik, 10–11 Uhr Kirchen- und Ketzerhistorie, 11–12 Uhr Erholung, 12–13 Uhr Mittagessen mit Tischgebeten, 13–14 Uhr Mittagsruhe, 14–14.30 Uhr „Vorbereitungsgebet“, 14.30–15 Uhr Lektüre des Neuen Testaments, 15– 15.30 Uhr erbauliche Erklärung, 15.30–16 Uhr Auswendiglernen des Katechismus, 16–16.30 Uhr Schreiben und Rechnen, 16.30–17 Uhr Widerlegung der Ketzermeinungen vom Vormittag, bis 19 Uhr Auswendiglernen, 19–20 Uhr Abendessen, 20–21 Uhr Abendgebet und Gesang, danach Bettruhe. 93 Auf alles andere Wissenswerte und insbesondere die Sitten geprüft, fällt der Junge negativ auf. Daraufhin wird der Magister Schnellius durch einen ‚Schöngeist‘, wie es heißt, ersetzt, den die Mutter diesmal aussucht. Herr Duft, geradezu das Gegenteil des Theologen, setzt allein auf die Besserung des Herzens. Duft ist überzeugt, dass die Leidenschaften schneller als der Verstand seien, so dass intuitive (richtige) Entscheidungen treffen zu können, oberstes Lernziel sein müsse. „Gute Nacht also Tugend! wenn sie blos Sache des Verstandes ist.“ 94 Herr Duft gewinnt die Eltern durch gezielte, rhetorisch geschickt platzierte Schmeicheleien und Übertreibungen. Nachdem der jugendliche Pankraz von den Fesseln der strengen pietistischen Erziehung befreit ist, gerät die Empfindsamkeit zur Herausfor-
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Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius, S. 18. Vgl. Matthias (Hrsg.): Lebensläufe August Hermann Franckes. Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius, S. 111. Ebenda, S. 151.
Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius
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derung und gerade die empfindsame Mitte zur Überforderung. Die überspannte Empfindsamkeit des jungen Pankraz, die zu seinem Unglück von Duft noch gefördert wird, wird in der Satire als „Rausch“ bezeichnet, als ein künstlich durch Übertreibung und Einbildung verlängerter und zu verlängernder Zustand. 95 Pankraz wird schließlich vorgeworfen, er zitiere „Floskelchen“ aus dem Werther. Der erste Romanteil endet sogar auf diese Weise mit einer Bewertung der empfindsamen Rhetorik Pankraz ތals Plagiat: „Siehe Werthers Leiden.“ 96 Jedoch: „Auch von Pankraz war es [Goethes Werther], nicht gelesen, sondern verschlungen worden; aber es ging ihm auch wie den meisten seiner Leser: verdauen konnte er es nicht.“ 97 Die Substituierbarkeit der Bildlichkeit des Essens von Literatur als Lektüre von Literatur wird hier auf die Spitze getrieben, denn das Verschlingen von Literatur heißt hier metaphorisch explizit nicht Lesen. Während Pankraz als Leser des Werthers geradezu überfordert ist, probiert er sich selbst als Schriftsteller empfindsamer Texte und bedient sich durchaus konventioneller Bildlichkeit und empfindsamer Klischees. So schreibt Pankraz ein empfindsames Gedicht An den Mond zur Beruhigung seines aufgeregten Gemütszustands. Er selbst ist mit seinem Produkt zufrieden: „Ganz besonders erquickte er sich an dem Anblick der häufigen Gedankenstriche und Ausrufezeichen, in denen nach der Aussage einiger neuerer Schriftsteller, eine vorzügliche empfindsame Kraft liegen soll.“ 98 Dies ernst und wörtlich nehmend entsteht sein Versuch, eine „allgemeine Sprache für empfindsame Schenies [!]“ 99 zu entwickeln (vgl. Abb. 3).
_____________ 95 96 97 98 99
Ebenda, S. 179. Ebenda, S. 344. Ebenda, S. 184f. Vgl. die Diskussion zur Lektüreverschlingung bei Andree: Archäologie der Medienwirkung; Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, insbesondere S. 118–120. Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius, S. 264. Ebenda, S. 265.
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Abb. 3: Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius, 1. Teil, S. 266. (Univ.-Bibliothek Regensburg)
Dieser Versuch hat die Form eines Gedichts und besteht nur noch aus ‚empfindsamer Sprache‘, aus Ausrufezeichen, Gedankenstrichen und Fragezeichen. Allerdings gehören die Fragezeichen nicht zum Repertoire einer Sprache mit empfindsamer Aussagekraft, wie sie Pankraz selbst zuvor zitiert hatte. Vielmehr stellen diese Zeichen satirisch die angeblich unvermittelte Verstehensmöglichkeit empfindsamer Kommunikation aus. Dass damit das Dilemma im Konzept der empfindsamen Rhetorik, der unmittelbare und damit unvermittelte Zugang zu Emotionen endgültig ad absurdum geführt ist, mag nicht erstaunen. Bemerkenswert und das Diktum der unreflektierten Empfindsamkeit verabschiedend ist die auf das Gedicht folgende Leseanweisung: Jeder dürfe sich „mit deren Dechiff-
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rierung zu amüsieren“ versuchen, jeder könne „was er nur will, oder auch gar nichts! dabei zu denken“ wagen. 100 Zwar vermittelt diese Sprache nicht mehr empfindsame Emotion und aufklärerische Kognition, jedoch wird auch nicht die Aushöhlung der Empfindsamkeit moniert, sondern im Gegenteil die Unterhaltsamkeit des Konzepts – hier als Spiel mit Klischees – hervorgehoben.
_____________ 100 Ebenda, S. 266.
VII. ‚Rhetorik für die Seele‘ wie ‚Kochkunst für den Leib‘: Fazit
Die Analysen dieser Studie haben deutlich gemacht, dass die empfindsame ‚Sprache des Herzens‘, von der die Literatur und andere Textzeugnisse der frühen Neuzeit und auf spezifische Weise des 18. Jahrhunderts regelrecht überquellen, auf rhetorisch hochkomplexe Art und Weise gestaltet ist und ihre Artistik als Verbergungskunst ausgestellt wird. Nicht Kunstlosigkeit ist also das Ziel der Empfindsamkeit, sondern die Inszenierung einer Kunsttechnik des mittleren Stils, die allein ihren Technikcharakter – erfasst unter dem Stichwort der Rhetorik – verbirgt. Als ‚Rhetorik der Mitte‘ stellt die Empfindsamkeit einen Positivkatalog der Emotionalisierung bereit, denn dem ethos wird zugeschrieben, mittels sanfter Affekte zu erfreuen und zu besänftigen und mittels Menschlichkeit Sympathie und Sittlichkeit zu erreichen. Denn diese empfindsame Seelenkunst hat zudem einen tugendethischen Auftrag, der sie ins Spannungsverhältnis zwischen Unterhaltungskunst und didaktischem Auftrag anzusiedeln zwingt. Es hat sich aber erwiesen, dass empfindsame Rhetorik letztlich nicht nur von solcher Spannung geprägt ist, sondern diese zugunsten der Unterhaltung transformiert, wie nicht zuletzt die hier analysierten Parodien ausweisen. Ehe in einer abschließenden Betrachtung dieses Spezifikum empfindsamer Rhetorik und ihrer Problematik anhand von drei Beispielen – rückgreifend auf Krügers naive Empfindsamkeit, Timmes Parodie und Jenischs Anti-Poetik – zusammengefasst wird, bedürfen zunächst die rhetorikgeschichtlichen Voraussetzungen und Ausgangsüberlegungen einer kritischen Zusammenschau. Der Überblick über aktuelle interdisziplinäre Positionen der Emotionsforschung sowie begriffs- und gattungsgeschichtliche Traditionen bildete die Voraussetzung für eine adäquate Vermessung des Verhältnisses von Rhetorik und empfindsamen Emotionen für die Literatur des 18. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund erwies sich insbesondere die mittlere Stillage als der empfindsamen Literatur eigentümlich. Im Zentrum stand dabei die Analyse der zeitgenössischen Verknüpfung von der Mitte als Stilgattung des delectare (genus medium; ethos) und dem Tugendanspruch der Mäßigung (mesótes; ethos). Abweichend von der bisherigen Emotionsforschung war die Vielfalt der Gattungen im 18. Jahrhundert zu profilieren, in denen sich empfindsame Rhetorik ausdrückt. Die vielfältigen Tendenzen zur Gattungsmischung weisen der
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Fazit
Empfindsamkeit einen literarhistorisch neuen Stellenwert als Vorbotin einer „sentimentalen Moderne“ 1 zu. Anhand der Auswahl der in dieser Arbeit analysierten Beispiele wurde das innovative Potential der Empfindsamkeit verdeutlicht, die Unterhaltung neu konzipiert, indem sie sie von der pejorativ konnotierten Zerstreuung entkoppelt und durch die ihr eigentümliche Stillage auf die ästhetische – und nicht zuletzt anspruchsvolle rhetorische – Qualität von Unterhaltung verweist. Diese Rhetorizität geht zweifellos über den Charakter einer techné hinaus. Dass die Empfindsamkeit als Unterhaltungsliteratur zudem, beispielsweise durch repetitive Muster, eine breite zeitgenössische Rezeption erfahren hat, qualifiziert sie gerade nicht ab, sondern zeigt, durch die hier vorgenommene Fokussierung rhetorischer Textverfassung, die Wirksamkeit ihrer Kunstfertigkeit. Dagegen hat die bisherige engführende Orientierung am heutigen Kanon zwangsläufig zur Abwertung der Empfindsamkeit als einer wenig beachtenswerten Strömung geführt – entweder ‚bloß‘ innerhalb der Aufklärung oder gar als antiaufklärerische Bewegung. Jedoch konnte gezeigt werden, dass das Fundament empfindsamer Emotionalisierung in literarischen Texten die rhetorisch und zugleich ethisch besetzte Mitte bildet, die sie grundsätzlich mit den Zielen der Aufklärung teilt. Die Empfindsamkeit aktualisiert und modernisiert in einem Zusammenschluss beider Traditionen die rhetorischen und ethischen Ausgangsüberlegungen, die sich am eindrücklichsten an der aristotelischen Rhetorik und der mesótes-Lehre der Nikomachischen Ethik zeigen. So beginnt doch das erste Buch der aristotelischen Rhetorik mit der Definition, dass Rhetorik (wie ihr Gegenstück Dialektik) von solchen Dingen [handelt], die zu erkennen auf gewisse Weise allen gemeinsam und nicht Sache einer begrenzten Wissenschaft ist. Deswegen haben auch alle auf gewisse Weise an beiden Anteil; alle haben nämlich zu einem gewissen Grad damit zu tun, ein Argument zu prüfen und zu stützen, sich zu verteidigen und anzuklagen. 2
Rhetorik betreffe jeden Einzelnen und sei in ihren Wirkzielen – bewegen, erfreuen, belehren – auch immer auf den Einzelnen gerichtet, also nicht exklusiv. Wenn dies auch nicht als eine normative Definition der Rhetorik gelesen werden darf, gilt diese Bestimmung als ironische Abgrenzung zu _____________ 1
2
Vgl. die Prägung des Stichworts durch Clark: Sentimental Modernism. Zur Weiterführung dieses Konzepts für die deutsche Literatur des 19. Jahrhundert und insbesondere zur Abwertungsdebatte von Massenmedien als Trivialliteratur vgl. Günter: Im Vorhof der Kunst, S. 236f.: Denn mit diesem Ansatz einer ‚sentimentalen Moderne‘ „können auch die von der programmatischen Moderne verworfenen Wirkungen, die traditionell mit den Genres der Massenmedien verknüpft sind – Unterhaltung, Belehrung und Rührung – in die Literaturgeschichte der Moderne zurückgeholt werden.“ Arist. Rhet. 1354a1–7. Vgl. dazu auch Kap. I,1, Anm. 33, in dieser Arbeit.
Fazit
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Platons Rhetorikkritik sowie als Rechtfertigung dafür, dass die Redekunst trotz ihrer im Eingangszitat betonten Offenheit eine techne sei. 3 Platons Rhetorikkritik lautet so: „Was ich nun meine, dass die Redekunst sei, hast du gehört, nämlich das Gegenstück zur Kochkunst, für die Seele, was diese für den Leib.“ 4 Es interessieren hier natürlich weder die antike Lehrer-Schüler-Debatte noch die Rezeption im 18. Jahrhundert; vielmehr erscheinen zwei Gedanken bei Aristoteles und Platon zentral für die hier diskutierte Verbindung von Rhetorik und Empfindsamkeit: erstens die Teilhabe aller an der Rhetorik und zweitens die Bestimmung der Rhetorik als ‚Seelenkunst‘. Die bei Platon noch negativ konnotierte, doch nachplatonisch ernst genommene Seelenkunst stellt sich als das Pfund wirksamer Emotionalisierung heraus. Und tatsächlich konnte gezeigt werden, dass die Empfindsamkeit im rhetorischen Sinne als eine Seelenkunst beschrieben werden kann, an der alle teilhaben und die nur dann ‚die Seele‘ erreicht und beschreibbar macht, wenn sie auch gefällt. Dieser Gedanke erfordert für die spezifisch empfindsame Rhetorik eine Zuspitzung, denn die Tugend der Seele – ihr Glücksstreben – und den einzelnen Menschen nimmt die mesótes-Lehre in den Blick: Dass die Tugenddefinitionen der Rhetorik nicht auf der mesotês-Lehre beruhen, ist kein zufälliges Versäumnis und auch keine Frage der philosophischen Entwicklung, vielmehr wird hieran gerade deutlich, wie die Aristotelische Ethik die populären Tugenden anhand seiner Seelenlehre neu bestimmt und erst durch diese Neubestimmung den in der populären Moral bestehenden Konflikt zwischen Tugendhaftigkeit und individuellem Glücksstreben auflösen kann. 5
Die literarische Empfindsamkeit muss also eine Brücke schlagen zwischen einer Seelenkunst, die im 18. Jahrhundert zu einer subjektiven und individuellen Größe avanciert, und einer dem aufklärerischen ethos verpflichteten Geselligkeit, die den Einzelnen in die Gemeinschaft integrieren soll. Die ‚Quadratur des Kreises‘ wird in der empfindsamen Literatur versucht, indem das subjektive Empfinden des Einzelnen zum Identitätsgaranten einer Gemeinschaft werden muss, damit Kommunikation möglich wird. Der Empfindsamkeit ist eine zu großen Teilen gelungene Antwort darauf, wie Gesellschaft und Kommunikation funktionieren können. Die Instrumente zur Beschreibung der ‚Sprache des Herzens‘ sind jedoch bereits zeitgenössisch unscharf. Denn Begriffe wie ‚Tiefe‘ oder ‚Authentizität‘ sind bei weitem nicht so rhetorisch eindeutig, wie sie auf den _____________ 3 4 5
Rapp: Kommentar. – In: Aristoteles: Werke, Bd. 4,2, S. 19f. Plat. Gorg. 465d. Rapp: Kommentar. – In: Aristoteles: Werke, Bd. 4,1, S. 375.
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Fazit
ersten Blick scheinen, nur weil sie leicht konsumierbar sind. 6 Ihre vermeintliche Eindeutigkeit verschleiert die Inadäquatheit einer passenden Bildlichkeit. Doch während die Rhetorik das Mittel der Katachrese für den Einsatz eines Begriffs an diejenige Stelle kennt, an der ein ‚eigentlicher‘ Ausdruck fehlt, funktioniert ein Abstraktum wie Authentizität beispielsweise gerade nicht so. Die Katachrese, die in der lateinischen Übersetzung abusio, also Missbrauch, bedeutet, erfährt in ihrer Begriffsgeschichte zumeist eine zu Unrecht negative Abwertung, obwohl sie tatsächlich dafür einsteht, dass es keinen Begriff gibt, wo also Mangel herrscht. 7 Die Begriffe für eine Herzenssprache verdecken dagegen das, was sie zu erklären vermeinen, nämlich die Problematik einer Kommunikation einer vermeintlichen ‚authentischen Tiefe‘, die wiederum angeblich erst durch ihre Inkommunikabilität glaubwürdig wird. Ein Beispiel für die scheinbar wissenschaftlich objektivierbare Antirhetorik der Empfindsamkeit bzw. für die Setzung von Gemütskräften a priori liefert der Mediziner Johann Gottlob Krüger, der gelegenheitsbezogen 1750 Regeln der Sprache und des Herzens bey der Töllnerischen und Schröderischen ehelichen Verbindung entworffen aufstellt: Die Natur ist also die Lehrmeisterin der Sprache des Herzens. Die Anfangsbuchstaben derselben werden den Menschen auf eine ganz besondere Art, schon im Mutterleibe, durch das Blut, und nach der Geburt, durch die Muttermilch beygebracht. Diese Buchstaben bestehen in gewissen Regungen des Hertzens, welche ungemein angenehm sind, und besser empfunden, als beschrieben werden können. Wer diese Buchstaben niemals gelernet hat, der verdienet nicht, daß ich sie ihm lehre [...]. 8
Seinem naturwissenschaftlichen Hintergrund als Mediziner verhaftet, verstrickt sich Krüger in nur wenigen Sätzen in der komplizierten Frage nach der Herzenssprache in Widersprüche, so zur vermeintlichen NichtBeschreibbarkeit dieser angeborenen, aber wiederum technisch erlernbaren Sprache. Auch die Forschung führt diese Stelle als Beleg dafür an, dass die empfindsame Freundschaft keine Sprache brauche, denn „die Regeln der Sprache des Hertzens [seien] inkommunikabel, ihre Buchstaben fühl_____________ 6
7 8
Wie problematisch diese Begriffe sind und wie aktuell diese Problematik ist, zeigt noch die jüngste Forschung, indem sie von einem grundsätzlichen Gelingen dieser Verbindung von Empfindsamkeit und Geselligkeit – und damit letztlich von einem Gelingen von Kommunikation – ausgeht; so beispielsweise Rowland: Sentimental Fiction, S. 204: „[...] sentimental fiction is a rhetorical tradition for the reading and representation of the self that provides the terms in which depth, authenticity, and the high seriousness of literature can be claimed and recognized.“ Vgl. ausführlich bei Posselt: Katachrese. Rhetorik des Performativen. Krüger: Die Regeln der Sprache und des Herzens, unpag. Zit. nach Martus und Stockinger: Die Beruhigung des Inneren, S. 99.
Fazit
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bar, aber unaussprechlich“ 9. So zumindest argumentiert Krüger. Die Herzenssprache erfährt bei ihm eine strukturell gleiche Begründung wie der Geschmack: Beide werden durch die angeborene Anlage des Charakters (ethos) und die richtige Erziehung bzw. Gewöhnung (ethos) erst zur Entfaltung gebracht. Den Rahmen für das Geschmacksurteil gibt die sich gleichzeitig mit der Empfindsamkeit herausbildende moderne Ästhetik vor – als Harmonisierung von Vergnügen und Vernunft. Der Geschmack aber sei, so Schiller in den Augustenburger Briefen, der „erste Kämpfer“ gegen die Affekte: „Der Geschmack nemlich regiert das Gemüth auch bloß durch den Reiz des Vergnügens – eines edleren Vergnügens freilich, weil die Vernunft seine Quelle ist [...]“ 10. In diesem Ideal der Mitte bzw. der Vermittlung von emotio und ratio treffen sich die Diskurse, ohne allerdings ein trennscharfes Begriffsinstrumentarium entwickelt zu haben. Wenn man nämlich bei Krüger bleibt, wird evident, dass er, indem er von der Naturgegebenheit der Herzenssprache ausgeht, damit jede Diskussion beendet, denn seine Argumentation stellt sich auf diese Weise als zirkulär heraus. Indem Krüger argumentiert, dass die Herzenssprache angenehm sei, behauptet er bloß ihre empfindsame Qualität, die sich entsprechend in sanften Regungen auszudrücken hat. Das so genannte Angenehme ist aber nur dadurch charakterisiert, dass es im Grunde nicht beschrieben, sondern nur empfunden werden kann. Was auf den ersten Blick plausibel erscheint, stellt sich auf den zweiten Blick als Aporie einer analytischen Beschreibbarkeit der so genannten Herzenssprache heraus. Krügers Vorstellung einer wissenschaftlichen begründeten ‚natürlichen Herzenssprache‘ zeichnet sich somit als nicht kommunizierbar aus. Die Rhetorik der Empfindsamkeit jedoch geht einen Schritt weiter, indem sie diese Inkommunikabilität kommuniziert, so dass Anschlusskommunikation möglich wird. Somit reagiert die Empfindsamkeit auf die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation und thematisiert sowie inszeniert letztlich das Gelingen von Kommunikation, das nach Luhmann die Ordnung der Gesellschaft garantieren soll. 11 Die folgenreiche Suche nach Eindeutigkeit in der „Sprache der Empfindung“ ist nirgends plastischer formuliert als in Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772). Im ersten Teil kündigt Herder selbstbe_____________ 9 10 11
Ebenda. Schiller: Brief Nr. 210 an Friedrich Christian von Augustenburg, 3. Dez. 1793 – Werke (Nationalausgabe), Bd. 26, S. 326. Vgl. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Es geht dabei um die ‚Wahrscheinlichkeit der Kommunikation‘, die als Ordnung erfahren wird. Dort auch zur Wandelbarkeit des Naturbegriffs, insbesondere S. 9–21.
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wusst an, „feste Data aus der menschlichen Seele“ 12 anführen zu wollen. So findet auch die Suche nach der Ursprünglichkeit der Sprache auf dem Feld der Emotionen statt. Als „Sprache der Empfindung“ führt er Laute als Relikte des Ursprungs an: „wenn sie artikuliert, und als Interjektionen aufs Papier hinbuchstabiert werden, so haben die entgegengesetztesten Empfindungen fast einen Ausdruck.“ Aber eben nur „fast“: Die Nachahmung von Ursprünglichkeit in schriftlicher Stilistik bietet sich beispielsweise durch die Verwendung von Interjektionen an, wird aber zweifellos nie, wie bei Tieren, „unmittelbar natürlich“ „--- aber wie spricht der Mensch von Natur? Gar nicht!“ Die völlige Triebkontrolle und damit Unnatürlichkeit führe dazu, dass bereits das Kind, außer anfänglichem Schreien, nicht ‚spreche‘: „sonst ists stumm“. Im Verstummen liegt allerdings nicht der Impetus der Empfindsamkeit, wenngleich das Schweigen als empfindsame Übereinstimmung, beispielsweise im Konzept der Seelenverwandtschaft, eine große Rolle spielt. Vielmehr ist die Rhetorik der Empfindsamkeit gekennzeichnet durch die Ausbuchstabierung modernen Erzählens, das sich durch die „Beobachtung der Beobachtung von Handlung“ 13 und als Exposition von Kontingenz charakterisieren lässt. Das bedeutet auch, dass sich der ‚Vorwurf‘, Empfindsamkeit sei nicht selbstreflexiv, nicht länger halten lässt. Gerade weil die literarische Empfindsamkeit den Einzelnen im Versuch, eine Typologie der Emotionen zu subjektivieren, hervorhebt, stellt sie ihre Verbergungskunst – die Regelung der ‚Entregelung‘ – selbstreflexiv als rhetorisch aus. In rhetorischer Artistik wird die Komplexität der Vermittlung von Emotion und Repräsentation zur Anschauung gebracht und als teilweise unvermittelbar preisgegeben, so – wie oben deutlich wurde – in radikalisierter Weise in der artistischen bzw. kritischen Parodie. Insbesondere Timmes ‚Moderoman‘ Der Empfindsame Maurus Pankrazius Ziprianus Kurt, auch Selmar genannt erweist an zahlreichen Beispielen, dass übersteigerte Empfindsamkeit einen Distanzverlust zur eigenen Person nach sich zieht, insofern die eigene Lächerlichkeit, so bei Pankraz und insbesondere seiner Mutter, vorgeführt wird. Gepaart mit Dummheit, stellt Madam Kurt ihre Empfindsamkeit auf einem Feldspaziergang zur Schau: Sie ‚befreit‘ einen Ziegenbock von seinem Schicksal als Zugtier. Diese Episode gipfelt darin, dass sie mit dem Ziegenbock gemalt werden soll: Ein Stück wird es, über das die Gelehrten mehr schreiben werden, als über den Laokoon mit seinen Schlangen. Oder noch besser, wahrhaftig! Zwei göttige
_____________ 12 13
Herder: Abhandlung – Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 411. Die folgenden Herder-Zitate entstammen dieser Abhandlung, S. 412–413. Werber: Liebe als Roman, S. 106. Vgl. auch Kapitel I,3, Anm. 126, in dieser Arbeit.
Fazit
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Kompagnons: Lede mit ihrem Schwan und Madam Kurt mit ihrem Bok! [Laokoon] konnte nur Schmerz ausdrüken. Das ist nur eine einfache Leidenschaft, die schon der Schüler ausdrüken kann. Aber hier, hier ist zwar auch Schmerz, aber ein wehmütiger mitleidiger Schmerz. Hierzu kömt nun noch die Empfindung der Liebe und Zärtlichkeit in dem Gesicht der Madam Kurt, und zugleich auch der Ausdruck einer edeln stillen Freude über die schöne Handlung. Welch ein zusammengesetzter Ausdruk! 14
Diese Beschreibung eines ‚zusammengesetzten Ausdrucks‘ wird als unpassend und folglich als lächerlich entlarvt. Darin lässt sich wiederum die poetologische Norm des Horaz erkennen, der seine ars poetica mit der Warnung vor einem Un-Bild – ein weiblicher Kopf, Pferdehals, unterschiedliche Glieder und buntes Gefieder, der Unterleib ein schwärzlicher Fisch – einleitet und diesen Appell in die klassizistisch anmutende Forderung überführt, ein Kunstwerk müsse simplex (einfach) und unum (einheitlich) sein. 15 Dagegen ‚weiß‘ Daniel Jenisch in seiner Poetik des schlechten Schreibens, dass Empfindsamkeit als Siegwartiana immer gefallen werde: „Der geneigte Leser halte sein Taschentuch bereit! Schlage gerührte Augen zum Himmel! lege die Hand ans‘ klopfende Herz! Denn wir kommen nun zu der Gattung der empfindsamen Romane.“ 16 Wie Emotion und zugleich Kognition als ansprechende Wirkziele zu erreichen seien, wie sich die Rhetorik der Empfindsamkeit technisch erlernen ließe, beantwortet Jenisch jedoch letztlich mit den üblichen Argumenten, dass die Variation des Bekannten ausreiche. Der schlechte Schriftsteller müsse lediglich „Wange an Wange gelehnt, Auge in Auge hinüberweinend, Herz gegen Herz klopfend, Brust an Brust, Knie an Knie gedrückt“ 17 schreiben. Problematisch erscheinen insgesamt nicht die vermeintliche Antirhetorik der Empfindsamkeit oder etwa die empfindsame Rhetorik selbst und ihre Erfolgsgeschichte, sondern die crux liegt in der generellen Ununterscheidbarkeit ‚echter‘ Gefühlsaussprache und ihrer rhetorisch gekonnten und wirkungsästhetisch perfektionierten Nachahmung. Die Literaturkritik schreibt der Empfindsamkeit somit erst im Nachhinein eine angebliche Nivellierung von literarischen, ästhetisch wertvollen Prototypen – ‚echte‘ Gefühlsaussprache – und minderwertigen Nachahmern – triviale Gefühlsaussprache – zu, die empfindsamer populärer Literatur zum Vorwurf gemacht wird und ihr bis in die heutige Forschungslandschaft hinein die Abqualifizierung als Trivialliteratur einbringt. Dagegen stellt diese Studie heraus, dass bereits um 1700 die sprachlich-stilistischen _____________ 14 15 16 17
Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius, 2. Teil, S. 186. Hor. ars 23. [Jenisch]: Der allezeit-fertige Schriftsteller, S. 109f. Ebenda.
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Fazit
Grundlagen für die Epoche der literarischen Empfindsamkeit gelegt sind und sich ein beachtlicher Höhepunkt um die Jahrhundertmitte einstellt, ohne dass die Epoche bereits mit den 1770er Jahren ‚erledigt‘ ist. In den Analysen dieser Arbeit bestätigte sich vielmehr, dass die historische Wirkung der Empfindsamkeit, aber auch ihre als ‚Rhetorik der Mitte‘ auszumachende und hier rekonstruierte Poetik weit in die Moderne hineinreichen.
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Personenindex
Alewyn, Richard......................................... 36 Alfes, Henrike ............................................ 25 Anz, Thomas .............................................. 6f. Aristoteles ........................................ 91, 131f. Nikomachische Ethik .... 29, 41f., 46f., 75, 169, 252 Rhetorik ................................................ 131 Barthes, Roland................................ 221, 240 Blanckenburg, Friedrich von ....... 34f., 38f., 201f. Bogatzky, Carl Heinrich von ................. 208 Borchmeyer, Dieter ................................. 235 Breitinger, Johann Jakob .......................... 66 Brockes, Barthold Hinrich ............. 124-126 Brüggemann, Diethelm .......................... 227 Campe, Joachim Heinrich ..............106, 115 Campe, Rüdiger ........................................... 8 Diderot, Denis ................................... 41, 207 Dörr, Volker C. ........................................ 106 Du Bos, Jean Baptiste ............................. 130 Ekman, Paul ............................................. 29f. Fehr, James Jakob.................................... 232 Fischer, Caroline Auguste ........................ 20 Die Honigmonate .......................... 191-197 Fischer-Lichte, Erika............................... 206 Francke, August Hermann ....................... 99 Fuhrmann, Manfred .................................. 55 Geitner, Ursula......................................... 101 Gellert, Christian Fürchtegott .. 70, 78, 84f. Goethe, Johann Wolfgang .... 18, 37, 81-86, 110 Der Triumph der Empfindsamkeit 234-242 Goodman, Katherine R. ......................... 229 Göttert, Karl-Heinz ................................ 73f. Gottsched, Johann Christoph ........ 44, 143, 225f., 228 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie .... 22 Die Pietisterey im Fischbeinrocke ... 225-233 Grunert, Frank ........................................... 47 Günter, Manuela ........................................ 35 Haken, Johann Christian Ludwig ............ 21
Blicke aus meines Onkels Dachfenster .. 201218 Hallbauer, Friedrich Andreas ................ 102 Harsdoerffer, Georg Philipp Poetischer Trichter ......................................5 Heidegger, Gotthart .............................. 117f. Hensel, Friederike Sophie ........................ 20 Die zärtliche Mutter ...................... 183-190 Herder, Johann Gottfried ...9, 10, 73f., 223 Abhandlung über den Ursprung der Sprache ....................................................... 255 Horaz ....................................... 3f., 7f., 46, 49 Hörisch, Jochen ......................................... 57 Hunold, Christian Friedrich................... 118 Jenisch, Daniel ........................ 175, 221, 257 Juncker, Johann ......................................... 81 Kant, Immanuel Kritik der Urteilskraft..................... 43, 176 Kimmich, Dorothee ................................ 165 Klopstock, Friedrich Gottlieb ................. 16 Klotz, Volker.............................................. 36 Knape, Joachim ............................................6 Knigge, Adolph Freiherr Ueber den Umgang mit Menschen ............ 29 Kopperschmidt, Josef ............................... 23 Kord, Susanne..................................185, 189 Koschorke, Albrecht .................. 16, 85, 112 Košenina, Alexander ............................... 205 Kraus, Marianne ...................................... 173 Krüger, Johann Gottlob ................. 178, 254 La Roche, Sophie von ............................... 86 Lange, Samuel Gotthold........................... 63 Langen, August ............................... 19, 201f. Lessing, Gotthold Ephraim ............... 18, 78 Laokoon ................................................. 25 Miss Sara Sampson................. 20, 127-146 Lichtenberg, Georg Christoph .............. 209 Liede, Alfred........................................... 223f. Luhmann, Niklas ....................................... 27 Man, Paul de............................................... 10 Martens, Wolfgang .................................. 167
306 Martini, Fritz .............................................. 92 Meier, Georg Friedrich .........49-51, 63, 223 Meiners, Christoph .................................. 181 Mellmann, Katja ................................ 28, 240 Mönch, Cornelia ..............................128, 148 Neuhaus, Volker ........................................ 36 Neukirch, Benjamin ................................ 79f. Nickisch, Reinhard M. ............................ 72f. Nicolai, Friedrich ............................. 129-131 Peschke, Erhard ......................................... 99 Pfeil, Johann Gottlob Benjamin.............. 37 Lucie Woodvil ......................... 20, 146-163 Vom bürgerlichen Trauerspiele ............... 147 Pikulik, Lothar ..................................... 4, 183 Platon .................................................. 90, 253 Pseudo-Longinos ....................................... 41 Quandt, Johann Jacob .......................... 231f. Quintilian ....................................... 7, 10, 42f. Rabener, Gottlieb Wilhelm ...................... 70 Rapp, Christoph......................................... 47 Reitz, Tilman ............................................ 184 Ringeltaube, Michael .................. 58, 60, 111 Rousseau, Jean-Jacques........................... 237 Runge, Anita............................................. 191 Sauder, Gerhard ................55, 113, 116, 184 Schaubert, Johann Wilhelm ..................... 78 Scherer, Klaus ............................................ 32 Schiewer, Gesine ....................................... 31 Schiller, Friedrich.............................141, 175 Schmid, Christian Heinrich.................... 183 Chronologie des deutschen Theaters .127, 148 Schmidt, Siegfried J. .................................... 5
Schnell, Rüdiger ......................................... 23 Schöne, Albrecht ..................................... 81f. Schößler, Franziska ................................. 186 Schultz, Franz Albert ............................ 231f. Scudéry, Madeleine de .................... 120-124 Clelia ...................................... 20, 120-124 Smith, Adam ............................................ 194 Sulzer, Johann Georg .............................. 110 Szondi, Peter ............................................ 183 Thomasius, Christian .............................. 44f. Till, Dietmar ........................................... 8, 55 Timme, Christian Friedrich.............. 22, 256 Der Empfindsame Maurus Pankrazius Ziprianus Kurt ....................... 243-247 Versuch einer Theorie der Empfindsamkeit ............................................... 113-115 Ueding, Gert............................................... 57 Ulbricht, Otto ............................................ 98 Unzer, Johanna Charlotte ..20, 63, 165-170 Vogel, Matthias ........................................ 99f. Voss, Christiane ................................. 24, 109 Walch, Johann Georg ............................. 126 Philosophisches Lexicon ................ 48f., 143 Wegmann, Nikolaus ................. 57f., 60, 108 Weise, Christian ....................................... 52f. Werber, Niels ............................................. 27 Wieland, Christoph Martin .................... 179 Sympathien .........................................88-93 Wobeser, Wilhelmine Karoline von ..... 195 Zedler, Johann Heinrich Universal-Lexicon .................. 17, 103, 230