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German Pages [299] Year 2022
Literatur und Philosophie
Dennis Sölch | Birgit Capelle [Hrsg.]
Literarische Philosophie – Philosophische Literatur Formen des Philosophierens von Platon bis Heidegger
https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Dennis Sölch, Birgit Capelle (Hrsg.) Literarische Philosophie – Philosophische Literatur
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Literatur & Philosophie Herausgegeben von Jennifer Pavlik und René Torkler Wissenschaftlicher Beirat: Katharina Bauer, Monika Class, Josef Früchtl, Barbara Hahn, Vittorio Hösle Band 4
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Dennis Sölch, Birgit Capelle (Hrsg.)
Literarische Philosophie – Philosophische Literatur Formen des Philosophierens von Platon bis Heidegger
Verlag Karl Alber Baden-Baden
https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Dennis Sölch, Birgit Capelle (Eds.) Literary Philosophy – Philosophical Literature Forms of Philosophizing from Plato to Heidegger Form and content are interdependent in philosophy. Each subject matter demands its appropriate form of representation, which in turn makes new content linguistically comprehensible. This volume examines the methodological reasons for the interconnection of philosophy and literature and addresses the works of Plato, Montaigne, James, Heidegger, and others from an interdisciplinary perspective.
The editors: Dennis Sölch is a philosopher and has been working at the Institute of Philosophy of Heinrich-Heine-University Düsseldorf since 2010. He is the executive director of the German Whitehead Society, a regular lecturer at the University of Klagenfurt and was »William James Scholar in Residence« at the William James Center of the University of Potsdam in 2016. He publishes on philosophy and its history, especially on Process Metaphysics, Transcendentalism, Pragmatism, Existentialism and Cultural Philosophy. Birgit Capelle is a researcher and lecturer at the North American Studies Program of Rheinische Friedrich-Wilhelms University Bonn. She has taught at Heinrich Heine University Düsseldorf, where she wrote her dissertation on TIME in American and East Asian Thinking (Winter, 2011). Capelle’s primary research interests concern American Transcendentalism, Pragmatism, Life Writing, and the convergences and intersections of U.S. American and Asian thought (Comparative Philosophy).
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Dennis Sölch, Birgit Capelle (Hrsg.) Literarische Philosophie – Philosophische Literatur Formen des Philosophierens von Platon bis Heidegger Form und Inhalt hängen in der Philosophie voneinander ab. Jeder Gegenstand verlangt nach einer angemessenen Darstellungsform, die wiederum neue Inhalte sprachlich fassbar macht. Der Band untersucht die methodischen Gründe für die Verflechtung von Philosophie und Literatur und widmet sich aus interdisziplinärer Perspektive unter anderem Platon, Montaigne, James und Heidegger.
Die Herausgeber: Dennis Sölch ist Philosoph und seit 2010 am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf beschäftigt. Er ist Geschäftsführer der Deutschen Whitehead Gesellschaft, regelmäßiger Lehrbeauftragter an der Universität Klagenfurt und war 2016 »William James Scholar in Residence« am William-James-Center der Universität Potsdam. Er publiziert zur Philosophie und ihrer Geschichte, insbesondere zu Prozessmetaphysik, Transzendentalismus, Pragmatismus, Existenzphilosophie und Kulturphilosophie. Birgit Capelle ist Amerikanistin am Nordamerikastudienprogramm der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und war zuvor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig. Ihre Promotionsschrift TIME in American and East Asian Thinking erschien 2011 bei Winter. Im Zentrum ihrer Forschung stehen u. a. der amerikanische Transzendentalismus und Pragmatismus, Life Writing und der Vergleich der Ideengeschichten Nordamerikas und Asiens (Comparative Philosophy).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Baden-Baden 2022 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Printed in Germany ISBN 978-3-495-99946-2 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-99947-9
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Dennis Sölch, Birgit Capelle Von den psychischen Bedingungen des Denkens. Zur literarischen Gestaltung des Philosophierens in Platons Phaidon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
Alexander Becker Das Reisemotiv in der literarischen Philosophie der französischen Aufklärung. Montaignes Essais und Montesquieus Lettres persanes . . . . . .
49
Oliver Victor Zur subjektiven Allgemeinheit repräsentativer Lebensentwürfe. Von Kants Ästhetik zu Emersons Ethik . . . . . . . . . . . . .
81
Dennis Sölch Annäherungen an das Überschüssige. Erzählung und Wirklichkeit bei William James . . . . . . . . .
109
Ana Honnacker »That precarious Gait«: The Pragmatist Poetics of Emily Dickinson . . . . . . . . . . .
137
Christa Buschendorf
7 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Inhaltsverzeichnis
Pragmatist Thinking in Search of a Proper Language: Gertrude Stein’s Literary Philosophy . . . . . . . . . . . . . .
155
Herwig Friedl Von der (Un-)Behaustheit des Denkens. Literarische Reflexionen zu philosophischer Systematizität bei Heidegger und Thoreau . . . . . . . . . . . . . . . . . .
184
Dennis Sölch »Es könnte wahrscheinlich auch anders sein«. Philosophie im Modus der Möglichkeit in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
Sebastian Hüsch Das Ende der Intersubjektivität? Wissenschaft, Literatur und Transformative Erfahrungen . . . .
246
Michael G. Festl Innovative Formen philosophischer Schriftstellerei: Von Parmenides bis Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . .
272
Werner Stegmaier
Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Über die Beitragenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
295
Dennis Sölch, Birgit Capelle
Einleitung
Es ist seit jeher charakteristisch für die Philosophie, dass sich ihr Selbstverständnis immer wieder in Form der Abgrenzung von dem artikuliert, was nicht Philosophie ist. Diese distanzierende Verhältnisbestimmung kapriziert sich seit der Neuzeit insbesondere auf die Naturwissenschaft, der die Philosophie sich beispielsweise als Erkenntnistheorie vorgeschaltet sieht oder deren Abstraktionen und Methoden sie als Wissenschaftstheorie kritisch begleitet. Im Unterschied dazu erweist sich die Grenzziehung zwischen Philosophie und Literatur nicht nur als historisch älter – Platons Ansinnen, die Dichter aus der idealen Polis zu verbannen, ist in diesem Zusammenhang zwar das prominenteste, doch lange nicht das einzige Beispiel –, sondern aus unterschiedlichen Gründen zumeist auch als deutlich größere Herausforderung. Schon die Tatsache, dass Philosophie sich seit Platon in Texten artikuliert, die von unterschiedlicher literarischer Gestalt und Qualität sein können, legt die Vermutung nahe, dass das Philosophieren sich nicht auf ›reine‹ Inhalte beschränkt, die lediglich kontingenterweise in eine sprachliche Form gebracht werden müssen. In der öffentlichen Wahrnehmung schlägt sich dieser literarische Charakter der Philosophie nicht zuletzt in der Tatsache nieder, dass der Nobelpreis für Literatur immer wieder an prominente Philosophen vergeben worden ist. Von Rudolf Eucken über Henri Bergson und Bertrand Russell bis hin zu Albert Camus und Jean-Paul Sartre, der die Auszeichnung allerdings ablehnte, reicht die Liste der Denker, deren Werk nicht zuletzt aufgrund seiner besonderen literarischen Qualität ein weltweites Publikum erreicht hat. Umgekehrt gibt es zweifellos bedeutsame literarische Werke, die immer wieder philosophisches Interesse geweckt haben. Fjodor Dostojewskis Brüder Karamasow, Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder Franz Kafkas Erzählungen sind paradigmatische Beispiele für Literatur, die sich ähnlichen Fragen verdankt, wie sie die Philosophie um- und an9 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Dennis Sölch, Birgit Capelle
treiben. Wo genau die Grenze zwischen philosophischer Literatur und literarischer Philosophie gezogen werden kann und in welchem Maße die Literarizität eines philosophischen Buches mit seinem spezifischen Inhalt verbunden ist, bleibt jenseits solcher alltäglichen Kategorisierungen meist wenig beachtet. Es ist zwar ein Gemeinplatz, dass Philosophinnen und Philosophen Texte verfassen, die mit den Mitteln der Literaturwissenschaft untersucht werden können, doch gerät ob der scheinbaren Trivialität dieser Feststellung oft in Vergessenheit, dass die Bandbreite der philosophischen Textgattungen durchaus systematische Relevanz hat. Die Philosophie als ein Ganzes lässt sich nicht als ein einheitliches Genre verstehen, will man nicht die Vielfalt dessen, was überhaupt Gegenstand, Anliegen und Intention philosophischer Tätigkeit sein kann, in einer Weise begrenzen, die signifikante Bereiche dessen, was in der Philosophiegeschichte eine Rolle gespielt hat oder weiterhin spielt, von vornherein ausschließt. Schon das breite Spektrum an Themen und Fragestellungen, die gleichermaßen zum Gegenstand philosophischer Reflexion werden können, legt eine Bandbreite unterschiedlicher Arten und Weisen der Darstellung nahe. In diesem Sinne verweist auch Aristoteles in der Nikomachischen Ethik auf die Notwendigkeit, die einem Sachverhalt jeweils angemessene Darstellungsform zu wählen. Das sittlich Gute als Ziel menschlichen Strebens oder die Gerechtigkeit ließen sich nicht mit derselben begrifflichen Schärfe und mit demselben Anspruch auf gänzlich objektivierbare argumentative Begründung bestimmen wie Kategorien und Argumenttypen. Nicht jeder behandelte Stoff erlaube das gleiche Maß an Genauigkeit, und entsprechend gelte es aus methodologischen Überlegungen heraus, die Form dem Inhalt anzupassen. Weisheit zeichne sich nicht zuletzt dadurch aus, in den einzelnen Teilbereichen der Philosophie und Wissenschaft stets den Grad an Genauigkeit einzufordern, den die Natur der Sache zulasse, anstatt denselben Maßstab an alle Disziplinen anzulegen. 1 Der irreduzible, aber nicht willkürliche Pluralismus an Methoden wie auch an den damit einhergehenden Textgattungen spiegelt das Bestreben wider, einem Sachverhalt in all seinen Facetten möglichst gerecht zu werden, wohl wissend, dass jede Darstellungsform dem, was adäquat vermittelt werden kann, zugleich Grenzen setzt. So manifestiert sich exemplarisch im Existenzialismus des 20. Jahrhunderts die Überzeu1
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094b.
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Einleitung
gung, dass etwa die Existenz als unmittelbare Erfahrung des gelebten Lebens durch die vertrauten Traktate der abendländischen Philosophietradition zwar teilweise, aber eben nicht vollständig erfasst werden könne. Die Defizite begrifflich scharfer Fachterminologie und umfassender systematischer Monographien machten deren Ergänzung (nicht Ersetzung) durch Formen mit einer größeren Offenheit für unmittelbare Gefühlseindrücke und das subjektive Erleben innerer Konflikte notwendig. So kontrastiert schon Henri Bergson als früher und einflussreicher Wegbereiter existenzphilosophischen Denkens in Frankreich die begrifflichen Abstraktionen mit der konkreten und lebendigen Erfahrung, um den Romanschriftsteller zu loben, der Gefühlen und Vorstellungen »ihre ursprüngliche und lebendige Individualität wiederzugeben sucht« 2. In dieser affirmativen Bezugnahme auf die Literatur, die als Literatur dennoch nicht mit Philosophie gleichgesetzt wird, folgen Autorinnen und Autoren wie de Beauvoir, Sartre, Marcel oder Camus der Wegweisung Bergsons, und so konstatiert Simone de Beauvoir exemplarisch: »Der Schriftsteller erfreut mich, wenn er das Leben wiederentdeckt, der Philosoph, wenn er den Schriftsteller wiederentdeckt, der als Vermittler zum Leben dienen wird.« 3 Konsequenterweise oszillieren die Reflexionen der Existenzphilosophie zwischen der klassischen Form philosophischer Abhandlungen und literarischen oder dramatischen Texten, ohne dass die Demarkationslinie zwischen philosophischer und literarischer Tätigkeit dabei trennscharf gezogen werden könnte. Das Spektrum mehr oder weniger akzentuiert literarischer Formen der Darstellung philosophischer Topoi ist nicht nur in synchroner Perspektive, sondern auch in historischer Hinsicht breit gefächert. Die abendländische Philosophiegeschichte mag als philosophia perennis zwar keine lineare Fortschrittsgeschichte bilden, doch erweist sie sich bei näherer Betrachtung durchaus als Geschichte der fortwährenden Innovation neuer Genres und Modi der Vermittlung und Entwicklung ihrer Inhalte. Solche Darstellungsformen haben freilich weder bloß ornamentalen oder didaktischen Wert, vielmehr erlauben sie jeweils unterschiedliche Konzeptionen dessen, was Philosophie überhaupt bewirken und als dezidiert philosophisches Anliegen artikulieren kann. Neue Formen vermögen, ebenso wie eine neue Fachterminologie, neue Inhalte denkbar zu machen, sind den 2 3
Bergson (1989), S. 124. Beauvoir, Carnets de jeunesse, S. 67, zitiert in: Kirkpatrick (2020), S. 71.
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Dennis Sölch, Birgit Capelle
spezifischen Gehalten also nicht nur äußerlich, sondern leiten die konkrete Organisation der Gedanken. 4 So sind etwa die Epistulae morales Senecas und die Confessiones Augustins zwar gleichermaßen dem Ziel der Beantwortung der Frage nach dem gelingenden Leben verpflichtet, erlauben aber aufgrund ihrer unterschiedlichen formalen Anlage und Gestaltung verschiedene methodische Zugänge und Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit der jeweiligen Methode. Verweist die Abfolge öffentlicher Briefe auf eine sukzessive Annäherung an ein Ideal des guten Lebens, die sich in einem sozialen und hierarchisch strukturierten Gefüge, eingerahmt von der orientierungsstiftenden stoischen Lehre, als wechselseitiger Austausch vollzieht, löst Augustins Bekenntnis vor Gott das Streben nach eudaimonia aus seinem sozialen Kontext und unterstreicht durch die Gebetsform zugleich die Unverfügbarkeit des Erstrebten. Die Ataraxie lässt sich nicht länger durch Übung der Vernunft aktiv erreichen, sondern obliegt letztlich Gott als demjenigen, bei dem der Mensch Ruhe finden kann, sobald er seine Sündhaftigkeit vollständig offengelegt hat, und bewirkt damit auf der Ebene des philosophischen Inhalts eine Wendung nach innen, die den Weg zu einer Erforschung des Gewissens und des Gedächtnisses eröffnet. Philosophie erweist sich hier als auf eine »nicht auflösbare Weise mit einer spezifischen Form der sprachlichen Artikulation verbunden« 5, wobei diese Weise durchaus wechselseitig zu verstehen ist: Bestimmte Ideen verlangen nach ihnen angemessenen Formen des Ausdrucks, die im Zuge der Entwicklung und Etablierung des Genres wiederum die Artikulation neuer Philosopheme ermöglichen. Die in dem vorliegenden Band versammelten Aufsätze widmen sich insbesondere der Frage nach den methodischen Gründen für die bewusste Einbindung literarischer Momente in philosophische Werke sowie, von der entgegengesetzten Richtung aus, nach der gezielten Konzentration philosophischer Gehalte in literarischen und poetischen Texten. Das Buch ist sowohl disziplin- als auch kulturübergreifend angelegt. Wie von der Thematik nahegelegt, kommen philosophische und literaturwissenschaftliche Perspektiven zur Sprache; gleichzeitig schlagen die Beiträge eine Brücke zwischen den literarischen und philosophischen Kulturen und Traditionen diesseits und jenseits des Atlantiks, um auf diese Weise einer eurozentrischen Eng4 5
Vgl. Stegmaier (2021), S. 11. Schildknecht (2014), S. 44.
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Einleitung
führung des Verständnisses von Philosophie und Literatur entgegenzuwirken. Den Auftakt macht Alexander Becker, der in seinem Beitrag den existenziellen und affektiven Bedingungen logisch-argumentativen Denkens anhand der literarischen Gestaltung des Philosophierens in Platons Phaidon nachgeht. Platon tritt mit seiner Kritik an der Dichtkunst zwar als Urheber einer strikten Dichotomie von Philosophie und Literatur in Erscheinung, gestaltet seine Dialoge aber paradoxerweise zugleich als durchkomponierte Kunstwerke, denen Fiktionen ebenso wenig fremd sind wie Appelle an unsere Emotionen. Die wirkmächtige Verknüpfung von philosophischem Anspruch und literarischen Mitteln koinzidiert in einem hermeneutischen Problem, will man das Zusammentreffen guter und offenkundig schlechter Argumente für die Fortexistenz der Seele erklären, die Sokrates angesichts seines eigenen bevorstehenden Todes anführt. Vor diesem Hintergrund rekonstruiert Becker die formalen Aspekte der schlechten Argumente in der Apologie und im Phaidon, insbesondere das Argument aus dem Wiederaufleben und jenes, das auf der Ähnlichkeit der Seele mit den Ideen beruht, um Licht darauf zu werfen, wie die Abweichung vom Ideal philosophischer Argumentation sich erklären lässt und welche Schlüsse aus dieser Art der Inszenierung von Argumentation zu ziehen sind. Dabei zeigt sich, dass die, situativ zumindest partiell effektiven, Argumente, ungeachtet ihrer logischen Mängel, in psychotherapeutischer Manier der Umlenkung existenzieller Angst auf das konkrete und positive Ziel des Philosophierens dienen. Gleichwohl stellt die Einbindung fehlerhafter, aber wirksamer Argumente keinen simplen Griff in die rhetorische Trickkiste dar: Der sokratische Appell, der Philosophie treu zu bleiben, fordert nicht zum Verharren im bloßen Glauben auf, sondern bleibt der Rationalität verpflichtet, wohlwissend, dass diese allein nicht in jeder Lebenslage den Ausschlag zu geben vermag. Während Platon die Differenz zwischen dem Ideal vollkommener Rationalität einerseits und dem zwangsläufig unter existenziellen Bedingungen stattfindenden faktischen Denken andererseits anerkennt und der reinen Vernunft zumindest situative Konzessionen macht, widmet sich die Philosophie der französischen Aufklärung insbesondere der Vielfalt der menschlichen und allzumenschlichen Voraussetzungen unseres Denkens. Sie spart dabei nicht an mitunter satirischer Kritik an den vermeintlich objektiven Vorstellungen von Moral, Religion oder Politik, deren scheinbare Rationali13 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Dennis Sölch, Birgit Capelle
tät sich aus der Perspektive des Fremden als durchaus fragwürdig erweist. Anschaulich zeigt Oliver Victor in seinem Beitrag anhand der Essais von Montaigne und der Lettres persanes von Montesquieu, wie vor allem das Reisemotiv dazu verwendet wird, Gewohnheiten des europäischen Kulturkreises unter Einnahme eines distanzierten Standpunktes zu spiegeln und zu hinterfragen. So erlauben Montaignes Essais, an dem Bildungsprozess teilzuhaben, der sich auf den physischen wie auch geistigen Reisen des Autors vollzieht, während sie zugleich aus einer geradezu kosmopolitischen Perspektive eine Relativierung überzogener Erkenntnisansprüche vornehmen, die das Bekannte mit dem Erkannten identifizieren. Damit das Fremde als solches erfahrbar wird und in Form reflektierter Fremderkenntnis den Anstoß zur ebenso reflektierten Selbsterkenntnis zu geben vermag, bedarf es ausführlicher und detailreicher Schilderungen fremdartiger Sitten und Bräuche, die sich im Kaleidoskop der Essais angemessener präsentieren lassen als in einem klassischen Traktat. Diese Vorzüge literarischer Textgattungen macht sich auch Montesquieu zunutze. Seine fiktive, in Briefform gegossene Korrespondenz zweier Perser, die Paris in teils nachdenklicher, teils durchaus humorvoller Weise aus der imaginierten Sicht des Orients betrachten, demonstriert in populärer Weise die weltoffene und kulturrelativistische Haltung der Aufklärung. Bei Montesquieu kulminiert die Kritik am Eurozentrismus in einer vergleichenden Soziologie, die Vorzüge und Nachteile unterschiedlicher Gesellschaften nebeneinanderstellt, ohne sich zu einer übergeordneten Theorieperspektive aufzuschwingen, die den Anspruch erheben würde, ein gleichermaßen ideales wie implementierbares, den kulturellen Gegebenheiten adäquates System zu konzipieren. Auch jenseits der europäischen Philosophietradition stehen literarische und philosophische Formen immer wieder in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis, wie zahlreiche der in diesem Band versammelten Beiträge unter Rekurs auf die Geschichte und Gegenwart der nordamerikanischen Philosophie dokumentieren. Die chronologisch früheste Ausprägung einer genuin amerikanischen Strömung philosophischen Denkens suggeriert durch die Bezeichnung ›Transzendentalismus‹ eine Nähe zur kantischen Transzendentalphilosophie, die freilich in deutlichem Kontrast zu einem essayistischen Stil steht, der seine wirkmächtigste Ausgestaltung bei Ralph Waldo Emerson findet. Dass die Entscheidung für den Essay als literarische Form methodologisch begründet ist und sich insbesondere einer Konzeption 14 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Einleitung
von Exemplarität verdankt, die sich als eine systematische Anknüpfung an und Fortführung von Kants Kritik der Urteilskraft verstehen lässt, macht Dennis Sölch in seinem Beitrag plausibel. In Abgrenzung zum Gros der Kant-Rezeption in den Vereinigten Staaten, das sich primär der Erkenntnistheorie annimmt, knüpft Emerson an die kantische Ästhetik an, um sie für eine Ethik repräsentativer Lebensformen fruchtbar zu machen. Analog zum Geschmacksurteil, das aufgrund seines Subjektbezugs keine universale Geltung beanspruchen kann, jedoch exemplarisch auf eine allgemeine Regel verweist, die sich einer begrifflichen Bestimmung entzieht, sucht Emerson ethische Urteile über gelingende Lebensentwürfe, vermittelt über exemplarische Leistungen ›moralischer Genies‹ oder ›Repräsentanten der Menschheit‹, als subjektiv allgemein zu verstehen. Unter Zurückweisung der strikten Dichotomie von Ethik und Ästhetik erlauben ethische Ideale eine Orientierung an einer allgemeinen Regel, die selbst nicht abschließend begrifflich zu bestimmen ist. Existenzielle und ethische Ideale sind zwar nicht Gegenstand von Erkenntnisurteilen, aber der vernünftigen Reflexion und argumentativen Kritik prinzipiell zugänglich. Insofern Philosophie die Erfahrung gelingenden Lebens intelligibel zu machen strebt, greift sie unweigerlich auf literarische Mittel zurück, ohne jedoch mit Literatur identisch zu werden. Von der methodischen Notwendigkeit, Logizität und Exaktheit als Gütekriterien philosophischer Theoriebildung durch narrative und metaphorische Mittel zu ergänzen, um dem ›Mehr‹ der Erfahrung gegenüber unserer Begriffs- und Theoriebildung Rechnung zu tragen, ist auch William James überzeugt. Werden terminologische Unschärfen und das Fehlen einer alles umfassenden Systematik dem Jamesschen Pragmatismus meist als Defizite ausgelegt, zeigt Ana Honnacker auf überzeugende Weise, dass dessen literarischer Anspruch aufs Engste mit einem spezifischen Philosophieverständnis verbunden ist, das, wie bei Emerson, dem Überschüssigen jeder begrifflich erfassten Erfahrung gerecht zu werden sucht. Pragmatistische Philosophie tritt dabei auch deshalb in Opposition zur klassischen akademischen Disziplin, weil sie der Beheimatung in der Welt zu dienen beansprucht, insofern sie auf ein tieferes Verständnis der konkreten, vom Menschen unmittelbar erlebten Wirklichkeit abzielt. Die Wahl einer philosophischen Position erfolgt daher nicht nach Maßgabe rein rationaler Abwägungen, sondern ist stets abhängig von Fragen des Temperaments. In jedem Fall ist die sich dem philosophischen Zugriff darbietende Welt weder beständig noch geordnet 15 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Dennis Sölch, Birgit Capelle
oder in ihrer Totalität zu überblicken; Philosophie kann folglich nur mosaikartig und pluralistisch sein. James vertritt konsequenterweise einen noetischen Pluralismus, der für eine Vielzahl unterschiedlicher Zugänge zur Welt mit dem Ziele wechselseitiger Ergänzung plädiert. Eine solche polyphone Erschließung der Welt, so Honnacker, lasse sich als erzählerische Praxis verstehen, die der begrifflichen Beherrschbarmachung, Hypostasierung und Reduktion von lebendiger Erfahrung entgegensteht, ohne in einen radikalen Konstruktivismus zu münden, der sich letztlich als dysfunktional und pragmatisch unzulänglich erweisen muss. Die vom amerikanischen Pragmatismus in gewisser Weise nahegelegte unscharfe Abgrenzung von Philosophie und Literatur greift Christa Buschendorf in ihrem Beitrag zur Lyrik von Emily Dickinson auf und demonstriert, inwiefern diese pragmatistischen Denkprinzipien folgt und eine von der Philosophie des Pragmatismus geprägte Ästhetik aufweist. An die Neukonzeption des Erfahrungsbegriffs, vor allem durch Dewey, sowie die Forderung nach einem erfahrungs- und handlungsgesättigten Philosophieren anknüpfend, zeichnet sich auch Dickinsons Lyrik aus durch eine die Lebenswelt wie die Sprache beständig neu erprobende, experimentelle und prozessuale Poetik. Analog zu Dickinsons Neigung zu einem schrittweise sondierenden, poetisch-philosophischen Erforschen (probing) von Phänomenen und Themen präsentiert ihre Lyrik experimentierend voranschreitende Denk- und Konzeptionalisierungsprozesse, die sich dem niemals abschließend erfassbaren Unangeeigneten umkreisend annähern, meist ausgehend von einer Erfahrung, einem Gefühl, einem Gedanken oder einer initialen Beobachtung. Namentlich mit Blick auf »I stepped from Plank to Plank« und einige sogenannte »definition poems« wird deutlich, wie sich Dickinsons poetische Praxis analog zum Pragmatismus aus einer Weltanschauung speist, die das Dilemma der grundlegend unsicheren menschlichen Existenz ernstnimmt. Die Deutung Dickinsons als eine die pragmatistische (experimentelle) Methode teilende Poetin argumentiert gegen die Wertung ihrer Lyrik als misslungenes, nicht wirkliches, weil nicht geschlossenes ›Projekt‹, und für das Lesen ihrer Dichtung als offene, poetische Denk-Reisen, auf die wir uns als Leserinnen und Leser einlassen können, ohne uns von vornherein durch konventionsbasierte Erwartungen (z. B. Kohärenz oder closure) denkerisch zu begrenzen. Herwig Friedl widmet sich in seinem Beitrag dem Werk der amerikanischen Schriftstellerin, Poetin und Dramatikerin Gertrude 16 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Einleitung
Stein, einer zentralen Gestalt der im Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts florierenden transatlantischen Moderne und Ikone modernistischer Literatur. Besteht Steins Œuvre auf den ersten Blick zu annähernd gleichen Anteilen aus im engeren Sinne philosophischen und literarischen Schriften, so eint doch beide ein durchgehendes Interesse an der Seinsfrage. Mit Friedl lässt sich entsprechend von ontologischen und ontographischen Werken sprechen, die als Antwort auf die gemeinsame ontologische Intuition verstanden werden können, die Stein bei Emerson, James, Dewey, Mead und auch in der Prozessphilosophie Whiteheads vorfindet. Um die bedeutsamen Implikationen und die überregionale Relevanz von Steins ontologischem Grundgespür zu verdeutlichen, werden heuristisch wesentliche Einsichten Heideggers zur Erläuterung herangezogen. Unter Rückgriff auf ihre Grundbegriffe human mind und human nature zeigt sich, wie Stein die Seinsfrage in ihren ontologischen Schriften sprachlichdenkerisch ergründet, während sie in ihren ontographischen Schriften Seiendes/Wesenheiten (beings: Personen oder Dinge) kreativ in ihr Sein (Being) schreibt, das heißt literarisch und poetisch präsentiert. Der Beitrag stellt insgesamt einen Ansatz dar, Steins ontologische Grundannahmen im Dialog mit Pragmatismus und Ontologie vorzustellen und die so faszinierende wie schwierige und oft enigmatische Sprache ihrer Texte als Ausdruck eines Versuchs auszulegen, dem sich immer wieder entziehenden Sein des Seienden nahe zu kommen, ohne sich auf die Zwänge, die etablierten Dogmatismen und blinden Flecken tradierter philosophischer Begrifflichkeiten einzulassen. Entsprechend wird veranschaulicht, wie Steins fundamentalontologische Vision sowie ihr daraus hervorgehendes modernistisches Schreiben sich in einer mystischen Tradition befinden, deren Ur-Intuition sich bereits bei Parmenides findet und die sich in Werken von Angelus Silesius, Emerson und James manifestiert. Während Systematizität gemeinhin als wesentliches Merkmal philosophischer Texte angesehen wird, können Reflexionen darüber, wie ein System überhaupt vorgestellt werden kann, nicht ohne die Voraussetzung wiederum systematischer Prämissen expliziert werden. Unter Rückgriff auf Blumenberg lassen sich unterschiedliche Metaphoriken ausweisen, die implizite Vorstellungen von der Beschaffenheit eines Systems transportieren und unser Nachdenken über Begriffszusammenhänge, Kohärenz oder Erklärungsansprüche anleiten, ohne selbst notwendig thematisch zu werden. Neben Strawsons Modell eines Begriffsnetzes ist die Leitmetaphorik des Gedanken17 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Dennis Sölch, Birgit Capelle
gebäudes die wohl dominierende Vorstellung von einem philosophischen Ordnungszusammenhang. Dennis Sölch zeigt in seinem Beitrag, wie diese Metapher bei Thoreau und Heidegger rekontextualisiert und in Form von Reflexionen über konkrete Gebäude, insbesondere Thoreaus Hütte am Waldensee und Heideggers Schwarzwaldhütte bei Todtnauberg, zum Zentrum literarischer Phänomenbeschreibungen wird. Anhand der Rekonstruktion einzelner Aspekte solcher Architektoniken – von der Grundsteinlegung über den Hausbau sowie die Innen- und Außenperspektive auf das Haus bis hin zum Abriss oder Auszug –, bei denen keine scharfe Demarkationslinie zwischen materiellem Gebäude und philosophischem Gedankengebäude gezogen werden kann, zeigen sich unterschiedliche Facetten und Funktionen solcher Behausungen, die zumindest tentativ wieder in explizite Überlegungen zum Systembegriff übersetzt werden können. Dass die Entscheidung für eine dezidiert literarische Form nicht nur aus methodologischen Erwägungen heraus getroffen werden kann, sondern ein Roman selbst die adäquate Ausdrucksform für eine performativ verstandene Philosophie darzustellen vermag, steht im Zentrum des Beitrags von Sebastian Hüsch. Robert Musils Mann ohne Eigenschaften erweist sich im Zuge der Untersuchung als Variante einer Philosophie im Modus der Möglichkeit, die den Roman als eine ›liberale Alternative‹ zu den klassischen Formen der akademischen Schulphilosophie anbietet. Auch wenn sich Musils existenzphilosophisches Interesse an der Frage nach dem gelingenden Leben, das sich nicht einfach in die vorgegebenen Einteilungen fügt, wesentlich aus der Philosophie Nietzsches speist und dessen erkenntnistheoretischen Perspektivismus übernimmt, wendet er sich gegen die darin enthaltene radikale Systemkritik. Im Sinne von Schlegels Vorstellung eines zwischen enthusiastischer Affirmation und ironischer Distanzierung schwebenden Systems geht es Musil darum, perspektivischen Möglichkeiten Raum zur Entwicklung zu geben, die ein aphoristischer Stil nicht zu leisten vermag. Vor dem Hintergrund dieser Reflexion stellt der Roman einen Möglichkeitsraum dar, innerhalb dessen Ideen sich entwickeln und entfalten können, deren Vorbehaltscharakter aber zugleich durch die ironische Brechung der romaninternen Wirklichkeit stets präsent bleibt. Damit weist der Roman auf Möglichkeiten authentischer Existenz hin, erkennt dabei jedoch an, dass sie sich der vollständigen sprachlichen Einholung notwendig entziehen. Literarische Narration kann nicht nur aus methodologischen Gründen zur Form philosophischen Denkens werden, sondern, wie 18 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Einleitung
Michael G. Festl in seinem Beitrag konstatiert, gewissermaßen zur Rettung der Philosophie bzw. des für die praktische Philosophie zentralen Konzepts der Intersubjektivität beitragen. Ausgangspunkt sind sogenannte transformative Erfahrungen, wie sie Laurie Paul anhand der Erfahrung des Mutterwerdens als kritische Replik auf Theorien der rationalen Entscheidungsfindung entwickelt. Im Zuge solcher Erfahrungen verändert sich das Präferenzset einer Person in einer Weise, die es unmöglich macht, die künftige Bewertung der relevanten Entscheidung vorherzusehen. Man entscheide sich dafür, ein anderer Mensch zu werden, dessen Präferenzen erst dann zugänglich sind, wenn man bereits dieser andere Mensch geworden ist. Mit einer solcher Konzeption scheint nun allerdings auch das Konzept der Intersubjektivität gefährdet: Wenn ich nicht mehr in der Lage bin, grundlegende Präferenzen meines eigenen künftigen Ich zu antizipieren, werde ich kaum die Interessen und Wünsche anderer Menschen adäquat erfassen und mich in sie hineinversetzen können. Eine solche Konsequenz ist jedoch kontraintuitiv; de facto funktioniert unsere wechselseitige intersubjektive Abstimmung überraschend reibungslos. Nicht die empirische Wissenschaft, sondern die Literatur ermögliche das Ausbilden einer Kompetenz des Hineinversetzens in andere, wie Festl auf den drei Ebenen der Schöpfung bzw. Vermittlung von Erfahrungen, der Verzerrung, Vergrößerung oder Intensivierung von Alltagserfahrungen und schließlich der Neubeschreibung von Erfahrungen illustriert. Vor allem jene dritte, unter Rekurs auf Rorty entwickelte, Ebene könne zu fundamentalen Änderungen des Vokabulars führen, mit dem wir uns selbst und unsere Welt beschreiben, also unseren Präferenzhaushalt modifizieren; und dies sogar auf eine gezielte, wenn auch nicht vollständig kontrollierbare Art und Weise. Diese transformative Kraft der Literatur erlaube es, am Konzept der Intersubjektivität festzuhalten, insofern sie es uns ermöglicht, uns sowohl in unser mögliches zukünftiges Selbst als auch in die Empfindungen und Erfahrungen unserer Mitmenschen annäherungsweise hineinzuversetzen. Dass sich die abendländische Philosophiegeschichte zugleich als eine Geschichte der Innovation literarischer Formen und Gattungen verstehen lässt, die es erlauben, neue Philosopheme zum Ausdruck zu bringen, steht im Mittelpunkt des abschließenden Beitrags aus der Feder von Werner Stegmaier. Ausgehend vom Lehrgedicht des Parmenides, das eine namenlose Göttin einführt, um die Identität von Wahrheit und Sein zu verkünden und dabei zugleich einen argumentativen Zirkel zu vermeiden, skizziert Stegmaier die allmähliche Entfaltung 19 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Dennis Sölch, Birgit Capelle
verschiedener Formen philosophischer Schriftstellerei, die keineswegs bloßes Dekor darstellen, sondern unterschiedliche Inhalte zu plausibilisieren helfen und jeweils andere Haltungen des Philosophierens transportieren. Anhand exemplarischer Auseinandersetzungen mit den Protagonisten philosophisch-literarischer Neuerungen, insbesondere Augustinus, Descartes und Wittgenstein, vor dem Hintergrund des jeweiligen kulturellen und philosophiegeschichtlichen Kontextes wird die Geschichte der Philosophie über die Interdependenz von Form und Inhalt des Philosophierens erschlossen. Ergänzt wird der Beitrag durch systematische Überblicksdarstellungen zu den Formen philosophischer Schriften in Antike, Mittelalter, Neuzeit und Gegenwart, um auf dieser Grundlage abschließend einen tentativen Blick in die Zukunft möglicher Innovationen zu richten, die der Philosophie durch digitale Vernetzung oder künstliche Intelligenz zuwachsen. Im Prozess der Fertigstellung haben wir von unterschiedlichen Seiten Anregungen und Unterstützung erhalten, die maßgeblich zum Gelingen des Projekts beigetragen haben. Besonderer Dank gilt Matthias Ernst Bähr für seine kritische Durchsicht des Manuskriptes und seine Hilfe bei der Endredaktion. Martin Hähnel und dem Team des Alber Verlags danken wir für die gewohnt reibungslose Zusammenarbeit und die Bereitschaft zur Veröffentlichung des Buches. Wir widmen dieses Buch dem Andenken von Herwig Friedl, der kurz vor der Veröffentlichung nach schwerer Krankheit verstorben ist. Der philosophische Austausch mit ihm wird uns ebenso fehlen wie seine herzliche, verbindliche und tiefgründige Persönlichkeit. Für seine freundschaftliche Unterstützung über viele Jahre hinweg werden wir ihm immer dankbar sein.
Bibliographie Aristoteles (1995): Philosophische Schriften, Bd. 3: Nikomachische Ethik. Eugen Rolfes (Übers.), Günther Bien (Bearb.), Hamburg: Felix Meiner. Bergson, Henri (1989): Zeit und Freiheit. Frankfurt am Main: Athenäum. Kirkpatrick, Kate (42020): Simone de Beauvoir. Ein modernes Leben. München: Piper. Schildknecht, Christiane (2014): »Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung«, in: Christoph Demmerling, Ingrid Vendrell Ferran (Hg.): Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge. Berlin: Akademie Verlag, S. 41–56. Stegmaier, Werner (2021): Formen philosophischer Schriften zur Einführung. Hamburg: Junius.
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Alexander Becker
Von den psychischen Bedingungen des Denkens. Zur literarischen Gestaltung des Philosophierens in Platons Phaidon Einleitung: Philosophie und Literatur, Platon und der Phaidon Wer über das Verhältnis von Literatur und Philosophie nachdenkt, muss beide unterscheiden. Eine solche Aussage erscheint trivial, aber Unterscheidungen haben mitunter keine gute Presse. Den Begriffen, in denen die Unterscheidung vorgenommen wird, wird vorgeworfen, dazu zu zwingen, Dinge entweder auf die eine oder auf die andere Seite zu sortieren, und den Dingen damit eine Identität aufzudrängen, die sie von sich aus gar nicht haben. Außerdem wird Unterscheidungen eine totalitäre Tendenz unterstellt: Was sich auf eine Seite der Dichotomie einordnen lässt, muss toto coelo verschieden sein von dem, was auf der anderen Seite eingeordnet wird. Die Aufhebung, Überwindung oder Überschreitung der Unterscheidung erscheint demgegenüber attraktiver, einer komplexen, vielschichtigen Realität angemessener. Doch wer eine Grenze überschreiten will, braucht zuallererst eine Grenze. Insofern verdienen Unterscheidungen einen gewissen Respekt auch von Seiten ihrer Kritiker. Im Falle der Unterscheidung von Literatur und Philosophie haben wir es mit einer altehrwürdigen Tradition zu tun. Als Leitmerkmale der Philosophie (wie von Wissenschaft überhaupt) gelten die Orientierung an Wahrheit und die Dekontextualisierung (es ist nicht relevant, wer etwas wann und wo sagt, sondern nur, was gesagt wird). Die Form ist auf ihre Funktion beschränkt: Sie soll in Bezug auf den Inhalt so transparent wie irgendmöglich sein und keine eigenwilligen Extravaganzen entwickeln. Schließlich sollte man in der Philosophie auf den Appell an Emotionen und überhaupt auf alle Überredungstechniken verzichten, die geeignet sind, die Bedeutung der Worte und die argumentative Struktur zu vernebeln. Demgegenüber – jener altehrwürdigen Tradition zufolge – nimmt es die Literatur mit der Wahrheit nicht so genau; ja, Wahrheit oder Falschheit sind für sie 21 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Alexander Becker
überhaupt keine relevanten Maßstäbe. Literatur darf ausschmücken und erfinden; je reichhaltiger, je phantasievoller sie dabei ist, desto besser. Der Form dagegen kommt eine entscheidende Rolle zu. Entsprechend ist die Literaturgeschichte nicht zuletzt eine Geschichte formaler Traditionen, und das Erzielen emotionaler Wirkungen, zum Beispiel Rührung und Erschütterung, gehört zum Kerngeschäft der Literatur. Die Kritik an einer solchen Unterscheidung zwischen Literatur und Philosophie ist gleichfalls wohlbekannt. Erstens gibt es zahlreiche Werke, die nicht auf eine Seite allein gehören; sie werden durch den Zwang zur Einordnung reduziert oder müssen in Teilen unverständlich bleiben. Zweitens treffen die jeweiligen Kriterien selbst auf eindeutige Fälle nicht in artifizieller, dichotomischer Reinheit zu. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Dass bei philosophischen Texten der Kontext irrelevant sei und sie deshalb von einem Umfeld in jedes beliebige andere transferierbar seien, erweist sich nicht erst dann als Illusion, wenn man die große Menge an Hintergrundwissen bedenkt, die ein Text voraussetzt, aber nicht expliziert und vielleicht nicht explizieren kann, sondern schon dann, wenn man versucht, einen philosophischen Text von einer Sprache in eine andere zu übertragen und dabei auf zahlreiche sinnstiftende, aber schwer übersetzbare Bilder und Metaphern stößt. Der Autor, auf den diese altehrwürdige Art, Philosophie und Literatur zu unterscheiden, zurückgeht, ist Platon; einschlägig ist vor allem seine Auseinandersetzung mit der Dichtkunst in der Politeia. Man findet dort sowohl den Vorwurf, dass die Dichter lügen, ja, dass sie in ihrer Orientierung an Äußerlichkeiten (sowie deren Stilisierung) gar nicht zur Wahrheit vordringen können, als auch eine kritische Analyse dichterischer Arbeit mit Emotionen, und man findet dort ebenso das Gegenbild einer Philosophie, die sich allein an unveränderlichen, von kontextuellen Relativierungen freien Wahrheiten orientiert und von emotionalen Eintrübungen nach Möglichkeit fernhält. Kurioserweise sind Platons Texte – und nicht zuletzt die Politeia selbst – durchgestaltete literarische Kunstwerke, die von Fiktionen ebensowenig frei sind wie von Emotionen, beides sogar gezielt einsetzen. Im Unterschied zur Form der philosophischen Abhandlung – die zu Platons Zeit als Option bereits vertraut gewesen sein dürfte – erzeugen sie nicht den Eindruck eines von Entstehungskontext und Autor ablösbaren Inhalts. Vielmehr bindet der Autor Platon jede 22 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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Äußerung an die Personen, die und denen gegenüber er sie äußern lässt. 1 Dass es sich meistens um historisch greifbare, für Platon und sein Publikum reale Personen handelt, verstärkt diesen Effekt noch. Das Personal von Platons Gesprächen sind keine Kunstfiguren, deren Funktion sich darin erschöpft, philosophische Positionen zu vertreten, sondern durch ihr Handeln inner- und außerhalb des Gesprächs reichhaltig charakterisierte Menschen. Beides gilt in emphatischer Weise für den Phaidon, der hier im Mittelpunkt stehen soll. Der Dialog schildert den letzten Tag in Sokrates’ Leben. Phaidon berichtet das Geschehen Freunden, die nicht zugegen waren; als Berichterstatter gibt er nicht nur wieder, was gesagt wurde, sondern auch, wie sich die anwesenden Personen verhalten haben. Die Situation ist hochemotional: 2 Wir erleben einen Sokrates, der heiter seiner Hinrichtung entgegegensieht, sowie Schüler und Freunde, die tieftraurig, gar verzweifelt sind. Sokrates will sie trösten. Doch derselbe Mann, der – man würde heute vielleicht sagen: – emotionale Schwerstarbeit verrichtet, muss wie niemals zuvor in seinem Leben für das einstehen, was Philosophie ausmacht. Denn seine heitere Gelassenheit hängt an der Überzeugung, dass seine Seele über den Tod hinaus weiterexistieren wird und er obendrein Grund zu der Annahme hat, dass diese Seele nach dem Tod das für einen Philosophen Wichtigste und Beste erleben wird, nämlich Wissen zu gewinnen. Doch gehören wiederum gemeinhin Meinungen darüber, was nach dem Tod passiert, zum Bereich religiöser Dogmen, denn sie können nicht Gegenstand von Wissen sein, weil uns Lebenden die dazu erforderlichen Erfahrungen fehlen. Religöse Dogmen fallen, als Mythen, auf die literarische Seite der Dichotomie Philosophie-Literatur. Würde Sokrates sich auf bloße Mythen verlassen, würde er am Ende seines Lebens als Philosoph versagen und so sein ganzes, der Philosophie gewidmetes Leben in Frage stellen. Der Deutung Norbert Vgl. dazu auch Blößner (2013), S. 33: »Natürlich ist eine Beschränkung der Interpretation auf die Figurenebene vollkommen legitim, sofern sie ausdrücklich oder offen erfolgt. Fatal wird es dort, wo der Interpret valide Aussagen über Platons Erkenntnistheorie, Staatsphilosophie oder Psychologie zu treffen beansprucht, wo seinen Kombinationen doch in Wahrheit nichts anderes zugrunde liegt als die von Platon fingierten, immer auch mit Blick auf das Argument, das Gegenüber und die konkrete Gesprächssituation, d. h. den unmittelbaren Kontext, gestalteten Aussagen bestimmter Charaktere.« (Dennis Sölch besten Dank für den Hinweis auf diese Passage.) 2 Dalfen (1994), S. 38 weist darauf hin, dass in keinem anderen Dialog Platons so viel geweint, aber auch so viel gelacht wird wie im Phaidon. 1
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Blößners zufolge ist aber ein Ziel, das der Autor Platon mit seinem Phaidon verfolgte, eine Apologie der Philosophie überhaupt – indem er uns einen Sokrates vorführt, der als Philosoph ein gelingendes, das heißt ein glückliches, und das heißt ein auch im Moment des Todes glückliches Leben führt. 3 Darum muss das, was Sokrates im Phaidon sagt und tut, auf der Seite der Philosophie verbleiben. 4 Wie soll man mit diesem Konflikt zwischen literarischen Merkmalen und philosophischem Anspruch umgehen? Das exegetische Problem, generell und über den Phaidon hinaus, lautet: Wir können keine der von Platon selbst als unvereinbar präsentierten Seiten aufgeben, ohne den Autor und sein Werk zu verfehlen. Eine Aufspaltung in zwei Persönlichkeiten, Philosoph und Schriftsteller, kommt zwar der Realität des Umgangs mit Platon am nächsten, insofern jeweils eine Seite faktisch ignoriert wird, selbst wenn ihr oberflächlicher Respekt gezollt wird. Hermeneutisch ist eine solche Aufspaltung aber unbefriedigend, schon allein deshalb, weil es ein und dieselben Werke sind, die beide Seiten verwirklichen. Auflösen lässt sich der Konflikt eher, wenn man davon ausgeht, dass Philosophieren eine Tätigkeit ist. An eine Tätigkeit können einerseits Ideale herangetragen werden, andererseits kann den Bedingungen, unter denen diese Tätigkeit ausgeübt wird, Rechnung getragen werden, wie sich am Beispiel des Nebeneinanders von wahrheitsorientierter Wissenssuche und Fiktion zeigt: Zum Ideal der Wahrheit gehört nach Platons Verständnis ein gewisser Totalitätsanspruch, der sich aus Platons holistischem Verständnis der Begriffe bzw. Ideen speist. Vollständigkeit ist dabei weniger ein quantitatives Ziel als vielmehr ein epistemisches Kriterium: Denn erst, wenn man weiß, wie sich eine Idee zu allen anderen Ideen verhält, kann man ausschließen, dass durch die Einbeziehung neuer Ideen das bisher für wahr Gehaltene falsifiziert wird. Vollständigkeit ist nun für uns Menschen aus mehreren Gründen nicht erreichbar: Wir sind in vielerlei Hinsichten endliche Wesen und stehen obendrein vor der Schwierigkeit, kein Kriterium zu haben, das es uns erlaubt, zu sagen, wann wir VollSiehe dazu Blößner (2001), bes. S. 121 f. Der Phaidon thematisiert übrigens auch, wie kein anderer Dialog, die Abwesenheit seines Autors (in 59b10, als Phaidon aufzählt, wer beim Gespräch, das er im Folgenden schildert, anwesend war, heißt es lapidar: »Platon war, glaube ich, krank«, was Platons Abwesenheit andeutet). Die Option, eventuelle Spannungen und Widersprüche seien dem realen Geschehen geschuldet, kommt daher nicht in Frage: Alles, was uns im Phaidon begegnet, steht dort, weil der Autor es so arrangiert hat.
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ständigkeit erreicht haben. Wir müssten uns dazu von Standpunkten überhaupt lösen, was wir bekanntlich nicht können – die Menschenperspektive ist der Froschperspektive näher als einem Gottesstandpunkt. Aber wir können fiktiv einen Gottesstandpunkt einnehmen: indem wir beispielsweise eine kosmologische Erzählung entwerfen. 5 Der Unterschied zwischen epistemisch fundierten Behauptungen und bloßer Erzählung wird dadurch nicht aufgehoben, im Gegenteil, er ist konstitutiv dafür, dass die Erzählung in die philosophische Lücke springen kann. Der Wechsel in den literarischen Modus ist das Eingeständnis der tatsächlichen Begrenztheit unseres Wissens. Er schützt das Ideal und erlaubt uns zugleich, damit zurechtzukommen, dass wir es nicht erreichen können. Ein besonderer Aspekt der philosophischen Tätigkeit ist das Argumentieren. Hier gibt es die starke Neigung, das Argumentieren (als Tätigkeit) hinter dem Argument (als Resultat) verschwinden zu lassen: Das Argument ist, was wir präsentieren, was wir zur Diskussion stellen, es bemisst sich am Ideal formaler Gültigkeit und wahrer Prämissen (wobei die Etablierung der Wahrheit der Prämissen wiederum die Sache anderer Argumente ist). Argumente sind von Personen und Kontexten ablösbar: Ihre besondere Kraft, das, was sie von der Überredung unterscheidet, ihr Anspruch auf Allgemeingültigkeit, liegen gerade darin begründet, dass formale Gültigkeit und Wahrheit in keiner Weise adressatenabhängig sind. Die Unterscheidung zwischen Argumentieren und Argument ähnelt derjenigen von Entdeckungsund Begründungszusammenhang, die aus der Wissenschaftstheorie bekannt ist: Der individuelle, von Zufällen und Irrungen beeinflusste Weg zu einer Erkenntnis interessiert nicht, sondern nur, was sich auf eine für beliebige Menschen geltende Weise darstellen lässt. Doch erstens ist diese Trennung nicht leicht durchzuführen. Was allgemeingültig, was idiosynkratisch und zufällig ist, läßt sich unterscheiden, wenn man über eine allgemeingültige Methode verfügt; doch welche Methode die richtige ist, lässt sich vor dem Erreichen des Ziels nicht leicht sagen. 6 Zweitens, und wichtiger, sind es immer In einer solchen ergänzenden Funktion, die die Unterscheidung zwischen Philosophie und Fiktion nicht aufhebt, sollte man die Schlussmythen in Politeia und Phaidon verstehen; zu einer entsprechenden Deutung der Passage in der Politeia siehe Becker (2017a), S. 288–294. Die größte derartige »Erzählung« ist natürlich der eikos mythos (29d1), der im Timaios erzählt wird. 6 Der argumentative Teil des Phaidon endet mit einer eigenartigen Aporie: Simmias ist von den Argumenten überzeugt, aber doch noch nicht ganz, wegen »der Größe der 5
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konkrete Menschen, die argumentieren. Diese Menschen begehen Fehler, sie springen voreilig zur Konklusion, orientieren sich ad hominem, ihnen unterlaufen formale Fehlschlüsse, sie übersehen Mehrdeutigkeiten. Warum sie das tun, interessiert üblicherweise nicht, oder höchstens aus psychologischer Sicht, um herauszufinden, wie man solche Fehler vermeiden kann. Ein Text, als Resultat, sollte fehlerfrei sein; die Wege, auf denen Autor oder Autorin zu den darin enthaltenen Argumenten gelangt sind, sollte er hinter sich gelassen haben. Die einzige zulässige Ausnahme sind Fehler, die mit Absicht eingebaut wurden. Eine solche Deutung wurde auch im Falle fehlerhafter Argumente vorgeschlagen, auf die man in Platons Texten stößt: Theodor Ebert hat dazu das Konzept des »inszenierten Fehlers« aufgebracht. 7 Ausgehend von der hermeneutischen Regel, den Autor immer so stark zu machen wie möglich, vermeidet man die Annahme, Platon seien schlechte Argumente unterlaufen; vielmehr sucht man nach Hinweisen, dass solche Fehler vom Autor beabsichtigt sind, und bemüht sich, sie entsprechend zu interpretieren. 8 Besonders auffällig ist in dieser Hinsicht erneut der Phaidon. In diesem Dialog trägt Sokrates eine Reihe von Argumenten vor, mit denen er seine Zuhörer davon überzeugen möchte, dass die Seele unsterblich ist und er daher auf die Zeit nach dem Tod bestimmte Erwartungen – als Philosoph sogar ausgesprochen positive Erwartungen – richten kann. 9 Die Beurteilung der Argumente ist nicht einhellig, Gegenstände« und der »menschlichen Schwachheit« (107a8–b3, vgl. dazu Dalfen (1994), S. 44). Obwohl die eingeschlagene Methode nach internen Maßstäben richtig angewendet wurde, ist ihre Angemessenheit also nicht eindeutig entscheidbar, wenn man mit diesseitigen Mitteln jenseitige Fragen beantworten will. 7 Vgl. z. B. Ebert (2004), S. 126, S. 195, S. 208, S. 236, S. 397, S. 406 u. ö. 8 Ein großartiges Beispiel für eine solche Deutung ist die Interpretation einer kurzen Passage aus der Politeia von Norbert Blößner (1999). 9 Ein kurzer Überblick über den Aufbau des Phaidon: Die »Einleitung« gliedert sich in ein äußeres Rahmengespräch zwischen Phaidon und den Freunden in Phlius (57a– 59c) und eine innere Rahmenhandlung, die die Situation im Gefängnis darstellt (59c– 61b). Auf ein Vorgespräch, in dem es u. a. um das Verbot der Selbsttötung geht (61b– 64c), folgt die sogenannte »Apologie« des Sokrates, in der er vor den Freunden wie vor einem Gericht seine Jenseitserwartung verteidigt (64c–69e). Es folgen direkt aufeinander das »Argument aus dem Wiederaufleben« (69e–72d) und das »Argument aus der Anamnesis« (72e–77d). Nach einem kurzen Zwischenspiel, in dem es um das ängstliche »Kind in uns« geht, folgt das dritte Argument, das »Argument aus der Ähnlichkeit der Seele mit den Ideen« und ein Plädoyer für die Zuversicht des Philosophen (77d–84b). Die beiden Hauptgesprächspartner, Kebes und Simmias, bringen
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aber es überwiegt doch die Einschätzung, dass mindestens zwei der Argumente in recht drastischer und offensichtlicher Weise fehlerhaft sind, nämlich das sogenannte Argument aus dem Wiederaufleben und das Argument aus der Ähnlichkeit der Seele mit den Ideen. Die beiden anderen berühmten Argumente haben dagegen eine bessere Presse. 10 Ich möchte zur Reihe dieser vier Argumente noch die sogenannte »Apologie« hinzunehmen, da sie bereits zu dem gehört, was Sokrates unter »Rechenschaft ablegen« fasst (vgl. 63e9). Diese Formel steht bei Platon stets dafür, die eigenen Meinungen und Handlungen rational ausweisen zu können, also für ein philosophisch verantwortetes Leben, und leitet die Begründung der von Sokrates thesenartig zusammengefaßten Ansichten über das Schicksal der Seele nach dem Tod ein (vgl. 63c). 11 Wie lässt sich diese unterschiedliche Qualität und überhaupt das Auftreten derart schlechter Argumente erklären? Eine »dramaturgische Lesart«, der zufolge sich Sokrates unter dem Druck seiner zweifelnden Freunde zu immer besseren Argumenten vorarbeitet, lässt sich schnell ausschließen. Erstens passt sie nicht zum Wechsel von guten und schlechten Argumenten; ferner arbeiten alle Argumente direkt oder indirekt mit der Ideenhypothese, sind also vom Autor Platon in den Kontext der eigenen Philosophie eingebettet. Auch eine didaktische Deutung, nach der Platon vorführen wollte, wie man nicht für die Unsterblichkeit der Seele argumentieren sollte, erscheint nun Einwände gegen Sokrates’ Argumente vor (89c–91a), worauf zunächst ein kurzer Wechsel auf die Rahmenebene folgt und dann ein Gespräch zwischen Sokrates und Phaidon über die Verachtung der Worte (»Misologie«) (89c–91c). Erst dann geht Sokrates auf die Einwände seiner Freunde ein und widerlegt die These, die Seele sei wie eine Stimmung einer Leier (91c–95a). Vor dem nächsten Argument blickt Sokrates kurz auf seine intellektuelle Biographie (95a–99d), um dann das vierte »Argument aus den Ideen« vorzustellen (99d–107d). Der argumentative Teil des Dialogs ist damit abgeschlossen; Sokrates trägt anschließend noch eine Jenseitserzählung vor (107d– 115a). Der Text schließt mit der Schilderung von Sokrates’ Tod (115a–118a). 10 Es handelt sich um das Argument aus der Anamnesis und das Argument aus den Ideen. Beide gelten als zentrale Belegstellen für die Platonische Ideenlehre und Erkenntnistheorie; im Rahmen der Argumentation des Phaidon wird zumindest das Erreichen eines Teilziels anerkannt. Für eine positive Einschätzung des AnamnesisArguments vgl. z. B. Frede (1999), S. 57 f. (Sokrates hebt dieses Argument übrigens selbst hervor, vgl. 92d6 f.) Für eine Rekonstruktion des Arguments aus den Ideen siehe Becker (2017b). Laut Ebert scheitern allerdings beide Argumente gänzlich und sollten als inszenierte Fehler aufgefaßt werden (vgl. Ebert (1994) sowie Ebert (2004), S. 370, 394–397 und 406 f.). 11 In der Politeia wird mit dieser Formel die Dialektik charakterisiert (vgl. 531e3 f.).
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unplausibel. 12 Platon inszeniert eine Situation, in der es wie in kaum einer anderen um die Sachen selbst gehen muss: Sokrates wird am nächsten Tag nicht mehr am Leben sein, auf dem Prüfstand steht die Art und Weise, wie er in den Tod geht, und damit die Rechtfertigung seines der Philosophie gewidmeten Lebens. In einem didaktischen Rahmen bewegt sich in gewisser Weise auch der Vorschlag von Theodor Ebert, der Phaidon sei eine an die Pythagoreer gerichtete Demonstration der Überlegenheit der Dialektik. Abgesehen von der Plausibilität der spezifischen Voraussetzungen dieser Deutung besteht auch hier der Zweifel, ob Platon ausgerechnet einen derart einzigartigen Rahmen für ein an spezifische Adressaten gerichtetes Lehrstück genutzt hat. 13 Wir haben also im Falle des Phaidon ein besonders drängendes exegetisches Problem, das einer Lösung harrt. Seine Auflösung entlang der Berücksichtigung des Argumentierens und seiner Bedingungen kann – so eine Annahme, die ich im Folgenden begründen und erläutern möchte – Aufschluss geben über eine spezielle, aber philosophiegeschichtlich enorm wirkmächtige Verknüpfung von philosophischem Anspruch und literarischen Mitteln. Aus ihr ergibt sich, über den Phaidon hinaus, ein Grund, warum Philosophie der Ergänzung durch literarische Mittel bedarf. 14 Mit diesem Weg der Auflösung verbindet sich zudem noch ein weiteres Erkenntnisinteresse, das die Frage betrifft, warum Menschen in bestimmter, von einem formalen Standpunkt aus betrachtet fehlerhafter Weise argumentieren. Dass die menschliche Rationalität nur unzureichend erkundet wird, wenn man sich an bestimmten Normen des Argumentierens orientiert, ist eine Einsicht, die in jüngerer Zeit wieder an Zustimmung gewinnt, nicht zuletzt auch von Seiten der
Siehe z. B. Elton (1997). Vgl. Ebert, Platon: Phaidon, S. 417–420. Eine problematische Voraussetzung dieser Deutung ist die Annahme, dass Sokrates sich zumindest im ersten Dialogteil, bis zum Exkurs zur »Misologie«, als Pythagoreer präsentiert; eine andere die Deutung auch des Anamnesis-Arguments als inszenierter Fehlschluss. – Die These, Platon habe hier ein »pythagoreisches Setting« genutzt, wird übrigens von Rowe geteilt (vgl. Rowe (1993), S. 119 f.). Auch hier wirkt die Annahme, Platon habe den Pythagoreismus aufgegriffen und gleichzeitig Distanz dazu signalisiert, nur schwer vereinbar mit dem Gewicht, das dem Phaidon insgesamt als Rechtfertigung der Philosophie zukommt. 14 Für ein ganz anderes Beispiel einer solchen komplementären Rolle der Literatur siehe Albrecht (2018). 12 13
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Kognitionswissenschaften und Psychologie. 15 Natürlich ist der Phaidon keine empirische Untersuchung. Aber er bietet Material, um vermittels der Interpretation des Textes eine Antwort auf jene Frage zu gewinnen, die man dann systematisch betrachten kann. Und ich sehe keinen Grund, sie nicht wenigstens als Erklärungsangebot ernstzunehmen. Entgegen manchen Vorurteilen war Platon ein sehr aufmerksamer Beobachter der komplexen menschlichen Wirklichkeit, der die diversen Grenzen und Beschränkungen, denen der Mensch unterliegt, keineswegs ignoriert und ihnen, wie der Phaidon zeigt, auch mit Verständnis begegnet.
Drei schlechte Argumente Um sich einer Antwort auf die Frage zu nähern, warum es im Phaidon schlechte Argumente gibt, ist nun ein genauer Blick auf diese Argumente, ihre Fehler und den Kontext, in dem diese Fehler geschehen, nötig. Ich werde die beiden gemeinhin (und auch meiner Meinung nach) schlechten Argumente, das Argument aus dem Wiederaufleben und das Argument aus der Ähnlichkeit der Seele zu den Ideen, nacheinander durchgehen, ihnen aber – wie schon angekündigt – einen Blick auf die »Apologie« voranstellen, die gleichfalls einen lehrreichen Fehler enthält. Meine Untersuchung wird sich strikt auf die formalen Aspekte dieser Argumente konzentrieren (während in der Literatur meistens die Plausibilität der Prämissen im Vordergrund steht), und sie wird diese Argumente jeweils für sich betrachten, also auch nicht auf den Platz, an dem sie im Dialogganzen stehen, eingehen. Dass dabei vieles unbeachtet bleibt, was – zumal unter dem Gesichtspunkt einer Verbindung von Philosophie und Literatur – berücksichtigenswert wäre, ist klar. Doch im Rahmen eines Aufsatzes ist eine solche Beschränkung unumgänglich: Es geht mir nur darum, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Platon seinen philosophierenden Sokrates hat Fehler begehen lassen, warum er damit vom Ideal philosophischer Argumentation abweicht, und was uns diese Art der Gestaltung über das Argumentieren überhaupt lehren kann.
Für eine aktuelle Zusammenführung empirischer und philosophischer Perspektiven auf das Thema vgl. Bortolotti (2020).
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Die »Apologie« Der Titel, unter dem diese Passage bekannt ist (»Verteidigungsrede«), bezieht sich auf ein Wort, das Simmias vorgibt (63d2) und Sokrates selbst verwendet (69d7 f.). Dass sie von den folgenden vier Argumenten abgegrenzt wird, liegt daran, dass Kebes danach feststellt, dass die Möglichkeit, die Seele höre nach dem Tod auf zu existieren, noch keineswegs widerlegt sei (70a1–5). Platon gibt so einen Kommentar zu dem, was Sokrates in der Apologie sagt – der Autor des Arguments war sich also darüber im Klaren, dass das, was in der Apologie gesagt wird, das Argumentationsziel nicht erreicht, nämlich die Zuhörer davon zu überzeugen, dass der Philosoph nach dem Tod Gutes erwartet, was irgendeine Form der Weiterexistenz voraussetzt. Allerdings ist diese Selbstkommentierung kein Grund, die Apologie grundsätzlich gegenüber den folgenden Argumenten abzuwerten, denn auch für diese finden sich entsprechende Bemerkungen im Text. Das Argumentationsziel der Apologie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: (A0) Ein Mann, der sein Leben wirklich in der Philosophie zugebracht hat, darf im Angesicht des Todes wahrscheinlich zu Recht zuversichtlich sein und darauf vertrauen, dass nach seinem Hinscheiden drüben die größten Güter auf ihn warten. 16 Diese These lässt sich in zwei Teilthesen aufspalten, die man unterscheiden sollte: (A0.1) Ein Mann, der sein Leben wirklich in der Philosophie zugebracht hat, darf darauf hoffen, nach dem Tod weiterzuexistieren. (A0.2) Ein Mann, der sein Leben wirklich in der Philosophie zugebracht hat, darf darauf hoffen, nach dem Tod die größten Güter zu empfangen. Offensichtlich ist (A0.1) eine notwendige Bedingung für (A0.2), so dass wir uns auf (A0.1) konzentrieren können. Die Begründung verläuft nun über folgende Schritte:
ὥς μοι φαίνεται εἰκότως ἀνὴρ τῷ ὄντι ἐν φιλοσοφίᾳ διατρίψας τὸν βίον θαρρεῖν μέλλων ἀποθανεῖσθαι καὶ εὔελπις εἶναι ἐκεῖ μέγιστα οἴσεσθαι ἀγαθὰ ἐπειδὰν τελευτήσῃ (63e9–64a2). Alle Übersetzungen nach Ebert, (2004).
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(A1) Der Tod ist die Trennung der Seele vom Körper. 17 (A2) Der Philosoph löst seine Seele so weit als möglich vom Umgang mit dem Körper. 18 Diese These wird belegt durch das Beispiel der Suche nach Wissen: Der Körper ist bei der Suche nach Einsicht hinderlich, da die Sinnesorgane ungenau sind (μὴ ἀκριβής, 65b5). Sie wird noch gesteigert zur Behauptung, dass der Körper der Seele täuscht (65b11). Die Gegenstände des Wissens (das Gerechte usw., 65d4 ff.) sind nicht wahrnehmbar. Es schließt sich an: (A3) Solange wir einen Körper haben und unsere Seele mit einem solchen Übel vermengt ist, werden wir niemals hinreichend besitzen, wonach wir streben. 19 Bis hierher handelt es sich um eine Sammlung von Thesen, die in keiner Folgerungsbeziehung zueinander stehen und jeweils von begründungsbedürftigen Prämissen abhängig sind – eine davon ist die Ideenhypothese mitsamt der Annahme, dass Ideen nicht wahrnehmbar und Gegenstände des Wissens sind, was die Argumentation in ein platonisches Umfeld rückt; 20 eine andere (über den Beitrag der Sinne zur Erkenntnis) wird wenig später, im Anamnesis-Argument, abgemildert. Der nächste Schritt lautet: (A4) Denn wenn es unmöglich ist, etwas im Verein mit unserem Körper rein zu erkennen, dann gibt es nur eine von zwei Möglichkeiten: das Wissen entweder niemals oder erst nach dem Tode zu besitzen. Erst dann nämlich und nicht eher wird unsere Seele ganz für sich und des Leibes ledig sein. 21
ἡγούμεθά τι τὸν θάνατον εἶναι; πάνυ γε, ἔφη ὑπολαβὼν ὁ Σιμμίας. ἆρα μὴ ἄλλο τι ἢ τὴν τῆς ψυχῆς ἀπὸ τοῦ σώματος ἀπαλλαγήν (64c4 f.). 18 δῆλός ἐστιν ὁ φιλόσοφος ἀπολύων ὅτι μάλιστα τὴν ψυχὴν ἀπὸ τῆς τοῦ σώματος κοινωνίας διαφερόντως τῶν ἄλλων ἀνθρώπων (64e8–65a2). 19 ἕως ἂν τὸ σῶμα ἔχωμεν καὶ συμπεφυρμένη ᾖ ἡμῶν ἡ ψυχὴ μετὰ τοιούτου κακοῦ, οὐ μή ποτε κτησώμεθα ἱκανῶς οὗ ἐπιθυμοῦμεν (66b5–7). 20 Dies ist m. E. ein Beleg dafür, dass die These, Platon habe hier Sokrates eine »confessio Pythagorica« in den Mund gelegt (Ebert, (2004), S. 141), verfehlt ist. Ebert geht übrigens auf die hier herausgearbeiteten argumentativen Probleme nicht ein. 21 εἰ γὰρ μὴ οἷόν τε μετὰ τοῦ σώματος μηδὲν καθαρῶς γνῶναι, δυοῖν θάτερον, ἢ οὐδαμοῦ ἔστιν κτήσασθαι τὸ εἰδέναι ἢ τελευτήσασιν: τότε γὰρ αὐτὴ καθ᾽ αὑτὴν ἡ ψυχὴ ἔσται χωρὶς τοῦ σώματος, πρότερον δ᾽ οὔ (66e4–67a1). 17
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Hier wird nun (A3) als Begründung eingesetzt. Was folgt aber aus (A3)? Sokrates hält völlig zu Recht fest, dass es zwei Möglichkeiten gibt. Denn daraus, dass wir uns um Wissen bemühen, folgt nicht, dass wir auch Wissen erlangen. Für sein Argumentationsziel ist es allerdings fatal, dass weiterhin beide Möglichkeiten bestehen. Man kann sich das leicht klarmachen, wenn man überlegt, welches Argument Sokrates bräuchte. Nämlich etwa folgendes: (A5.1*) Wenn die Seele Wissen erreicht, dann ist sie in einem vom Körper getrennten Zustand. (A5.2*) Die Seele erreicht Wissen. (A5.3*) Also: Die Seele ist in einem vom Körper getrennten Zustand. (� A0.1) Leider fehlt Sokrates (A5.2*). Es ist nicht allein, dass er nicht weiß, ob er weiß; er weiß nicht einmal, ob er überhaupt wissen kann – denn das weiß man erst, wenn man weiß. Sokrates ist auf dem Weg der Wissenssuche, aber er kann nicht wissen, ob dieser Weg überhaupt ein Ziel hat oder sich irgendwo verliert. Wenige Sätze später sagt er jedoch: (A6) Nach dem Tod werden wir wahrscheinlich das Wahre erkennen. 22 Das heißt, Sokrates unterschlägt, was er gerade zuvor gesagt hat, und tut so, als wäre die Möglichkeit, dass die Seele bei ihrer Suche nach Wissen nie zum Ziel kommt, ausgeschlossen. 23 Wir haben es zwar nicht mit einem formalen Argumentationsfehler zu tun, wohl aber mit einer Art von epistemischer Blindheit, die sich in eine allgemeine Form bringen lässt: Man kann anerkennen, dass es zwei Möglichkeiten gibt, und doch die Sache für entschieden halten, weil man eine der beiden Möglichkeiten ausblendet. καὶ οὕτω μὲν καθαροὶ ἀπαλλαττόμενοι τῆς τοῦ σώματος ἀφροσύνης, ὡς τὸ εἰκὸς μετὰ τοιούτων τε ἐσόμεθα καὶ γνωσόμεθα δι᾽ ἡμῶν αὐτῶν πᾶν τὸ εἰλικρινές, τοῦτο δ᾽ ἐστὶν ἴσως τὸ ἀληθές (67a6–b1). 23 »Wahrscheinlich« schränkt den Grad der Überzeugung ein, aber es ist hier ebensowenig angebracht. Wenn es zwei Möglichkeiten gibt und man kein Argument hat, das zugunsten der einen spricht, dann ist keine der Möglichkeiten wahrscheinlicher als die andere. – Notomi (2019), S. 53 weist darauf hin, dass die beiden Optionen denen entsprechen, die Sokrates – noch mit neutraler Wertung – in der Apologie (also der Verteidigungsrede vor dem Athener Gericht) nennt (40c–41c), wobei er hier aber seine Gesprächspartner stark in Richtung der Option des Wissenserwerbs nach dem Tod lenke. 22
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Warum dieser so offensichtliche Fehler? Eine Antwort ergibt sich aus der Situation, in der sich Sokrates befindet. Es geht darum, sein der Philosophie gewidmetes Leben zu rechtfertigen. Dieses Leben war eines der Wissenssuche. Der Sinn der Suche hängt daran, dass das Ziel wenigstens erreichbar ist – wenn man es auch faktisch nicht erreichen mag. Kann Sokrates, können seine Freunde am Ende dieses Lebens ernsthaft die Möglichkeit erwägen, dass sein ganzes Leben auf einer Illusion beruht – auf der Illusion, dass Wissen erreichbar sei? Ich glaube, die Antwort lautet klarerweise »nein«. Soweit der Versuch einer psychologischen Erklärung für den Fehler, der hier passiert. Ist er dem Autor schlicht unterlaufen oder gibt es Hinweise darauf, dass es sich um einen »inszenierten Fehler« handelt? Abgesehen davon, dass die unterschlagene Möglichkeit ausdrücklich genannt wird, spricht für eine Inszenierung, dass Platon Kebes wenig später (70a-b) faktisch das vermeintliche Argument annullieren lässt, indem dieser die Existenz der Seele nach dem Tod als noch zu begründende These präsentiert. Für einen beabsichtigten Fehler spricht vielleicht auch die Reinheitsterminologie, die einer religiösen Sphäre entstammt und daher in einem argumentativen Kontext fremd wirkt. Erstens hat sie normativen Charakter: »Denn nicht gebührt es dem Unreinen, Reines zu berühren« (μὴ καθαρῷ γὰρ καθαροῦ ἐφάπτεσθαι μὴ οὐ θεμιτὸν ᾖ, 67b1 f.). Zweitens vermischt sie Prozess und Zustand: Sokrates spricht einerseits von der Reinigung (67c5), die eine Trennung (τὸ χωρίζειν, 67c6, hier im Indikativ Präsens) der Seele vom Körper ist, andererseits vom »reinen Erkennen«, also einem gereinigten Zustand. Diese Vermischung von Prozess und Zielzustand erleichert es, die Gedanken vom Streben zum Ziel des Strebens fortzuführen und die Erreichbarkeit des Ziels als Selbstverständlichkeit erscheinen zu lassen. Angenommen also, Platon hat den Fehler inszeniert: Was wollte er seinen Leserinnen und Lesern damit zeigen? Es liegt nahe zu sagen, dass er sie vor solchen Fehlern warnen wollte. Die Abgrenzung der »Apologie« von den folgenden Argumenten könnte eine solche didaktische Lesart stützen. Aber es gibt noch eine andere Deutungsmöglichkeit: Vielleicht wollte Platon auf ein grundsätzliches Problem der Interferenz von epistemischen und ethischen Werten aufmerksam machen. Zum Argumentieren gehört die Fähigkeit, nicht vorschnell zugunsten der Wahrheit oder Falschheit einer Behauptung zu entscheiden, sondern immer genau zu prüfen, ob man tatsächlich über Gründe verfügt, eine Behauptung für wahr oder falsch zu hal33 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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ten. Das setzt die Fähigkeit voraus, vom Wunsch, eine bestimmte Behauptung möge wahr (oder falsch) sein, abzusehen. Man muss zulassen können, dass eine Behauptung, die einem missfällt, auch wahr sein könnte, und dass eine Behauptung, die einem sympathisch ist, falsch sein könnte. Diese Fähigkeit ist eine der Selbstdistanzierung. Wenn uns die verhandelte Sache nicht existentiell berührt, dann kann es eine bloße Sache der Selbstdisziplin sein, von seinen eigenen Wünschen abzusehen. Wenn uns die Sache aber existentiell berührt, dann ist es nicht nur nicht leicht, seine Wünsche auf Distanz zu halten. Es wird sogar zur Frage einer höheren Abwägung: Wenn Sokrates in diesem Moment seinen Wunsch, Wissen möge erreichbar sein, in Frage stellt, könnte nicht nur ihn die Verzweiflung angesichts des nahen Todes überkommen. Auch seine Freunde, die ihn überleben werden und seinen Weg fortsetzen wollen und sollen, dürften mutlos werden. Eine solche Mutlosigkeit wäre nicht besser begründet als die Hoffnung; aber sie würde die Fortsetzung des Wegs der Wissenssuche von vornherein vereiteln.
Das Argument aus dem Wiederaufleben Mit diesem Argument reagiert Sokrates auf den bereits erwähnten Einwand von Kebes (70a-b), dass noch keineswegs ausgemacht sei, ob die Seele nach der Trennung vom Körper nicht ebenso zerfällt wie der Körper. Seine Untersuchung (σκεψώμεθα, 70c4) leitet Sokrates mit einer Erinnerung an die Seelenwanderungslehre ein. Die These, dass die Seelen Wiedergeburtszyklen durchlaufen, geht über die These hinaus, dass die Seelen nach dem Tod weiterexistieren, aber sie schließt diese These ein. Sokrates macht klar, welchen Teil der Seelenwanderungslehre es zu beweisen gilt, nämlich: (B0) Die Lebenden entstehen nur aus den Gestorbenen. 24 Daraus folgt, was Sokrates braucht: Die Seelen sind nach dem Tod »dort« (im Hades, oder wo auch immer). Nun folgt das Argument:
24
ὅτι οὐδαμόθεν ἄλλοθεν γίγνονται οἱ ζῶντες ἢ ἐκ τῶν τεθνεώτων (70d3 f.).
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(B1) Wenn das, was entsteht, ein Gegenteil hat, entsteht es aus dem Gegenteil. 25 Diese These wird durch eine angedeutete Induktion begründet. (B2) Wenn immer es eine solche Entstehung aus dem Gegenteil gibt, dann gibt es ein Werden in beide Richtungen (von jedem der Gegenteile zum jeweils anderen). 26 (B3) These (B2) gilt insbesondere für das Gegensatzpaar Leben – Gestorbensein. (71c1–8; d5–13) (B4) Also entstehen die Lebenden und das viele Lebende aus den Gestorbenen. 27 Man mag überrascht sein, dass Kebes hier mit einem zögerlichen »es scheint« antwortet, während er zuvor uneingeschränkt zugestimmt hatte. 28 Warum? Der Grund könnte der Plural sein, den Sokrates auf einmal benutzt. Zuvor hatte er den Gegensatz zwischen Leben und Totsein durch nominalisierte Infinitivformen (τὸ ζῆν – τὸ τεθνάναι, c1, c5, ebenso d6) oder durch Substantive (ζωῆ καὶ θανάτος, d5) ausgedrückt, die zumindest offenlassen, ob es sich um eine Gegensatzbeziehung zwischen Eigenschaften als solchen oder zwischen Eigenschaften, die einem Träger zukommen, handelt. Erst das Partizip im Singular (ἐξ οὖν τοῦ ζῶντος τί τὸ γιγνόμενον; τὸ τεθνηκός, ἔφη, d11 f.) deutet einen Träger an; klar wird dessen Präsenz aber erst durch die Pluralverwendung, denn die Pluralisierung kann nur durch eine Vielzahl von Trägern zustandekommen. 29 οὑτωσὶ γίγνεται πάντα, οὐκ ἄλλοθεν ἢ ἐκ τῶν ἐναντίων τὰ ἐναντία, ὅσοις τυγχάνει ὂν τοιοῦτόν τι (70e1 f.). ἀναγκαῖον ὅσοις ἔστι τι ἐναντίον, μηδαμόθεν ἄλλοθεν αὐτὸ γίγνεσθαι ἢ ἐκ τοῦ αὐτῷ ἐναντίου (5 f.). 26 ἔστι τι καὶ τοιόνδε ἐν αὐτοῖς, οἷον μεταξὺ ἀμφοτέρων πάντων τῶν ἐναντίων δυοῖν ὄντοιν δύο γενέσεις ἔστι τι καὶ τοιόνδε ἐν αὐτοῖς, οἷον μεταξὺ ἀμφοτέρων πάντων τῶν ἐναντίων δυοῖν ὄντοιν δύο γενέσεις (71a12–b2). 27 ἐκ τῶν τεθνεώτων ἄρα, ὦ Κέβης, τὰ ζῶντά τε καὶ οἱ ζῶντες γίγνονται (71d14 f.). 28 Einige Kommentatoren haben diesen plötzlichen Wechsel im Grad der Zustimmung bemerkt. Ebert (2004), S. 187 führt ihn auf die mangelnde Überzeugungskraft der Prämissen (B1) und (B2) zurück, Notomi (2019), S. 73 auf die Anwendung der allgemeinen naturphilosophischen Thesen auf das existentielle Problem von (individuellem) Leben und Tod. 29 Karfik (2011), S. 51 f. weist darauf hin, dass bereits in 71a10 von τὰ ἐναντία πράγματα die Rede ist und verweist zur Klärung der Bedeutung von »πράγματα« auf die spätere Stelle 103b3 f., in der dieses Wort eindeutig für die Träger von Eigenschaften steht. Eine solche spätere Begriffsklärung kann allerdings kaum herangezogen wer25
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Für das Argumentationsziel ist dies entscheidend, denn dass in abstrakter Weise Tod und Leben sich ineinander verwandeln, hilft Sokrates nicht weiter. Er muß zeigen, dass die Lebenden aus den Toten entstehen (so ja auch das Argumentationsziel). Man könnte denken, der Punkt sei trivial – eine Eigenschaft muß doch schließlich einen Träger haben. Aber so simpel ist die Sache nicht. Es könnte ja sein, dass Tod und Leben zwei Aggregatzustände eines zugrundeliegenden Stoffs sind, so wie Dampf sich in Wasser und Wasser sich in Dampf verwandelt. Oder es könnte gar sein, dass der Wechsel von Tod und Leben die Verwandlung eines Elements in ein anderes ist, wie es Heraklit beschreibt, wenn er die Entstehung der Erde als Tod des Wassers bezeichnet und hinzufügt, dass aus der Erde das Wasser entsteht. 30 Kurzum: Selbst wenn man Sokrates die Thesen (B1) und (B2) zugibt, folgt daraus (B4) nicht. Wir haben es hier mit einem klassischen Argumentationsfehler aus der Ambiguität einer Redeweise zu tun. Hat Platon diesen Fehler inszeniert? 31 Ich werte die Reaktion von Kebes als Hinweis darauf. (Sie wiederholt sich, wenn Sokrates aus (B4) dann schließt, dass die Seelen »irgendwo«, nämlich im Hades sind (71e2); auch hier reagiert Kebes nicht mit eindeutiger Zustimmung, sondern mit »es scheint so« (ἔοικεν)). Der Argumentationsfehler wird auch im Folgenden nicht behoben; der restliche Teil des Arguments ist eine Begründung für (B2). Sokrates verwendet zunächst die Metapher der »hinkenden« Natur (οὐκ ἀνταποδώσομεν τὴν ἐναντίαν γένεσιν, ἀλλὰ ταύτῃ χωλὴ ἔσται ἡ φύσις, 71e8 f.). Wenn es zwischen zwei Gegensätzen nur in eine Richtung einen Prozess gäbe, dann wäre die Natur auf einem von beiden Beinen lahm, so wohl das Bild; ein Argument folgt 72b: Wenn es nur einen Prozess in eine Richtung gäbe, dann träte irgendwann ein Zustand ein, in dem alles nur in dem einen von beiden Zuständen wäre (72b). Das ist wohl richtig, allerdings fehlt hier eine Prämisse – dass die Natur sich niemals in nur einem der beiden Zustände be-
den, um eine an dieser früheren Stelle inszenierte Mehrdeutigkeit auszuschließen; in 71a10 könnte πράγματα auch in einem ontologisch offenen Sinne auf das vorangehende πάντα bezogen werden. 30 Heraklit DK22B36; vgl. Kirk, Raven, Schofield (2001), S. 222 f. 31 Dass hier ein kritischer Punkt des Arguments liegt, wurde natürlich bereits bemerkt (siehe z. B. Ebert, (2004), S. 178; Karfik (2011), S. 51 und bes. S. 55; Bonelli (2015), S. 41). – Ansonsten richtet sich die Kritik vor allem auf die mangelnde Allgemeingültigkeit der Prämissen (B1) und (B2); vgl. z. B. Frede (1999), S. 40 ff.
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findet. Das können wir angesichts unserer Unfähigkeit, die Zukunft zu prognostizieren, jedoch nicht behaupten. Wie sollen wir diesen Argumentationsfehler bewerten? Einmal angenommen, er sei Platon nicht unterlaufen, sondern von ihm inszeniert: Warum hat er seinen Sokrates einen solchen Fehler begehen lassen? Eine mögliche Antwort ergibt sich, wenn man nochmals an die Eröffnung des gesamten Arguments mit der Erinnerung an die Seelenwanderungslehre zurückdenkt. Zwar liegt es nahe, das Argument so zu verstehen, dass Sokrates hier versucht, diese religöse Lehre durch ein Argument zu begründen, das auf religiöse Prämissen verzichtet, und stattdessen nur mit naturphilosophischen Annahmen operiert. So betrachtet, scheitert Sokrates’ Versuch. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit, nämlich, dass das Argument gar keinen Beweis 32, sondern nur eine Plausibilisierung, eine Stützung der Seelenwanderungslehre liefern soll, dass es zeigen soll, dass die Seelenwanderungslehre, gegeben bestimmte naturphilosophische Annahmen, nicht nur nicht ausgeschlossen ist, sondern naheliegt. 33 Und das gelingt Sokrates durchaus. Wenn man seinen Annahmen (B1) und (B2) folgt, dann muss man nur noch eine Annahme darüber hinzufügen, in welcher Weise die Gegensätze einander ablösen – als Eigenschaften an Trägern, die darum konstant bleiben müssen –, und man hat das Argumentationsziel erreicht. Das ist beileibe keine triviale Annahme, und beim gegebenen Thema übersteigt sie unsere unmittelbare Evidenz. 34 Aber es ist auch keine völlig abwegige Annahme. Der Argumentationsfehler wäre hier also so etwas wie ein Sprung in der Argumentation, mit der eine epistemische Lücke überbrückt wird, die wir Menschen eigent-
Sokrates kündigt zwar einen »ausreichenden Beweis« (ἱκανὸν τεκμήριον, 70d2) an; die Formulierung wird zum vorläufigen Abschluss des Arguments (72a6) wiederholt. Aber τεκμήριον dürfte von Platon nicht im Sinne eines strengen Beweises gebraucht werden – beispielsweise wird auch das Gedankenexperiment in Politeia II als τεκμήριον bezeichnet. 33 Insofern wäre Fredes Einstufung des Arguments als »Indizienbeweis« (Frede (1999), S. 44) recht passend. 34 Man könnte versuchen, wie Aristoteles hier eine allgemeine metaphysische These über den ontologischen Status von Eigenschaften einzusetzen, man könnte allerdings auch an eine spezielle Ontologie denken: Leben ist eine Eigenschaft der Seele (wie später im Argument aus den Ideen gezeigt wird); wir müssten also etwas über den spezifischen Träger dieser Eigenschaft wissen; das können wir aber nicht, denn dazu müssten wir wissen, was nach dem Tod passiert. 32
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lich nicht schließen können. Das hebt den Fehler wiederum nicht auf, mindert aber sein Gewicht.
Das Argument aus der Ähnlichkeit der Seele zu den Ideen Diesem Argument geht ein bemerkenswerter Vorspann voraus. Sokrates konnte seine Gesprächspartner mit dem »Anamnesis«-Argument davon überzeugen, dass die Seele vor der Geburt existiert haben muss. Daraus folgt aber nicht, wie seine Gesprächspartner auch anmerken, dass die Seele nach dem Tod weiterexistiert. Vielmehr könnte sie sich ja nach dem Tod auflösen (vgl. 77b). Sokrates meint nun, seine Gesprächspartner seien ja ängstlich wie Kinder, und bedürften daher des Trostes (77d). Aus diesem Vorspann ergibt sich zunächst das Ziel des sich anschließenden Arguments: (C0) Die Seele wird beim Tod nicht zerstreut. Der Vorspann setzt einen emotionalen Akzent, auf den zurückzukommen sein wird; einstweilen wirkt das Argumentationsziel wie der Versuch, eine Angst mit rationalen Mitteln zu beseitigen, indem man zeigt, dass sie auf einer falschen Annahme beruht (so wie man etwa Flugangst mit dem Hinweis auf die tatsächliche hohe Sicherheit des Verkehrsmittels Flugzeug bekämpfen mag). Seine Begründung für (C0) geht Sokrates über die Frage an, welche Gegenstände zerstreut werden können 35 und welche nicht. Die grundsätzliche Strategie ist damit vorgezeichnet: Wenn es gelingt zu zeigen, dass die Seele zu den Dingen gehört, die nicht zerstreut werden können, dann braucht man auch keine Angst zu haben, dass sie beim Tod zerstreut wird – selbst dann nicht, wenn beim Tod starker Wind herrscht, wie Sokrates mit leicht ironischem Unterton hinzufügt (77e2 f.). Das Argument beginnt nun mit den folgenden Prämissen: (C1.1) Was zusammengefügt ist, wird in seine Teile zerlegt. (C1.2) Was nicht zusammengefügt ist, kann nicht in seine Teile zerlegt werden. 36
Zur Deutung im Sinne von »Zerstreubarkeit« anstatt faktischer Zerstreutheit siehe Strobel (2011), S. 78. 36 ἆρ᾽ οὖν τῷ μὲν συντεθέντι τε καὶ συνθέτῳ ὄντι φύσει προσήκει τοῦτο πάσχειν, 35
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Diese beiden Thesen sind logisch gesehen unabhängig voneinander. Während die erste leicht einsichtig ist (denn was zusammengefügt ist, kann man entlang seiner Zusammenfügung auch wieder trennen), ist die zweite offensichtlich falsch. Eine Porzellantasse ist nicht aus Teilen zusammengefügt, aber wenn sie auf einen geeigneten Boden fällt, wird sie in Teile zerlegt. (C2.1) Was sich immer gleich verhält, ist unzusammengesetzt. (C2.2) Was sich verändert, ist zusammengesetzt. (78c6–9) Auch diese beiden Thesen sind nicht logisch äquivalent. Eine Begründung fehlt; nähme man in atomistischer Manier an, dass Veränderung äquivalent ist zu einer Umgruppierung von Teilen, und in herakliteischer Manier, dass Atome in stetiger Bewegung sind, ließen sich beide Behauptungen ableiten. In der nächsten These wird »jenes Wesen selbst, von dessen Sein wir in Frage und Antwort Rechenschaft geben« eingeführt (αὐτὴ ἡ οὐσία ἧς λόγον δίδομεν τοῦ εἶναι καὶ ἐρωτῶντες καὶ ἀποκρινόμενοι, 78d1 f.). Ich nenne es der Kürze halber »Idee«, denn das ist es wohl, was Sokrates hier meint. Auch dieses Argument greift also auf die Ideenhypothese zurück und steht damit in einem platonischen Kontext. (C3.1) Die Ideen verhalten sich immer gleich. (C3.2) Die vielen Dinge verändern sich immer. (78d1–e6) Die Beschreibung der Ideen als μονοειδὲς (»von einheitlicher Gestalt«, d5) weist darauf hin, dass die Ideen unzusammengesetzt sind, das wird hier aber argumentativ nicht ausgenutzt. Als nächstes finden wir im Text Folgendes: (C4.0) Es gibt zwei Arten von Dingen, wahrnehmbare und nichtwahrnehmbare. (C4.1) Die nicht-wahrnehmbaren Dinge verhalten sich immer gleich. (C4.2) Die wahrnehmbaren Dinge verändern sich immer. 37
διαιρεθῆναι ταύτῃ ᾗπερ συνετέθη: εἰ δέ τι τυγχάνει ὂν ἀσύνθετον, τούτῳ μόνῳ προσήκει μὴ πάσχειν ταῦτα, εἴπερ τῳ ἄλλῳ (78c1–5). 37 θῶμεν οὖν βούλει, ἔφη, δύο εἴδη τῶν ὄντων, τὸ μὲν ὁρατόν, τὸ δὲ ἀιδές; – θῶμεν, ἔφη. – καὶ τὸ μὲν ἀιδὲς ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ἔχον, τὸ δὲ ὁρατὸν μηδέποτε κατὰ ταὐτά; – καὶ τοῦτο, ἔφη, θῶμεν (79a6–11).
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Sokrates sagt erneut nichts darüber, wie er auf diese Aussagen kommt. Die erste, die Einteilung (C4.0) selbst, ist unproblematisch. Die letzte These (C4.2) könnte man als empirische Verallgemeinerung auffassen: Es hat sich eben noch alles, was beobachtet wurde, verändert. Problematisch ist die mittlere Behauptung (C4.1). Da zu den Merkmalen der Ideen ihre Nicht-Wahrnehmbarkeit gehört, liegt es nahe, ein Argument der folgenden, logisch nicht gültigen Form anzunehmen: (a*) Wenn etwas eine Idee ist, dann ist es unveränderlich. (b*) Wenn etwas eine Idee ist, dann ist es nicht wahrnehmbar. (c*) Also: Wenn etwas nicht wahrnehmbar ist, dann ist es unveränderlich. Ein solches Argument wäre aber ein Fehlschluß. Eine gültig aus (a*) und (b*) zu erschließende Version von (C4.1) wäre lediglich: (C4.1*) Einige nicht-wahrnehmbare Dinge sind nicht veränderlich. 38 Das genügt aber nicht für das, worauf Sokrates hinauswill. Die folgende Behauptung wiederum ist unproblematisch: (C5.0) Die Seele ist für den Menschen unsichtbar. (79b7 f.) An diesem Punkt sollte man kurz innehalten. Die Seele ist also unsichtbar (C5.0). Was unsichtbar ist, verhält sich immer gleich bzw. ist unveränderlich (C4.1). Was unveränderlich ist, ist unzusammengesetzt (C2.1). Was unzusammengesetzt ist, kann nicht in seine Teile zerlegt werden (C1.2). Daraus folgt: Die Seele kann nicht in ihre Teile zerlegt werden – und somit auch nicht zerstreut werden, denn zerstreut zu werden ist ja nichts anderes als eine bestimmte Weise der Zerlegung in Teile. Sokrates hat also eigentlich alle Prämissen für ein Man kann den Fehlschluß und die korrekte Version auch sehr gut syllogistisch darstellen: (1) Unveränderlichkeit kommt allen Ideen zu. (2) Nichtwahrnehmbarkeit kommt allen Ideen zu. (3) Also: Unveränderlichkeit kommt allem Nichtwahrnehmbaren zu. (folgt nicht) Aus (2) kann man aber syllogistisch gewinnen: (2*) Eine Idee zu sein, kommt einigem Nichtwahrnehmbaren zu. Und daraus folgt mit dem syllogistischen Schlußschema Darii: (3*) Unveränderlichkeit kommt einigem Nichtwahrnehmbaren zu.
38
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gültiges Argument beisammen, das ihn zum gewünschten Ziel (C0) bringt. Allerdings hängt dieses Argument von den problematischen Behauptungen (C4.1) und (C1.2) ab. Sokrates fährt in seiner Argumentation jedoch anders fort: (C5.1) Die Seele ist dem Unsichtbaren ähnlicher als der Körper. 39 Wie soll man diese Behauptung verstehen? Wenn die Seele nicht wahrnehmbar ist, ist sie dem Unsichtbaren sicherlich ähnlich, nämlich genau insofern sie selbst unsichtbar ist. Ansonsten sind Ähnlichkeitsbehauptungen allerdings ziemlich beliebig und sagen daher wenig aus. Sie beruhen darauf, dass zwei Dinge bestimmte Eigenschaften teilen, doch daraus lässt sich nicht schließen, dass sie auch andere Eigenschaften teilen. 40 Sokrates scheint aber als Nächstes genau einen solchen Schritt zu unternehmen: (C6) Die Seele ist dem Göttlichen, Unsterblichen, Denkbaren, Eingestaltigen, Unauflöslichen, dem, was sich immer gleich bleibt, am ähnlichsten. (80b1–3) Und von da aus geht es weiter zu: (C7) Die Seele ist gänzlich unauflöslich oder doch nahezu. 41
ὁμοιότερον ἄρα ψυχὴ σώματός ἐστιν τῷ ἀιδεῖ, τὸ δὲ τῷ ὁρατῷ. – πᾶσα ἀνάγκη, ὦ Σώκρατες (79b16–c1). 40 Dieser Einwand ist der gängige Hauptkritikpunkt am Ähnlichkeitsargument (vgl. z. B. Strobel (2011), S. 88 f.; Bonelli (2015), S. 63). Apolloni nimmt die überraschende Abschwächung zu einer bloßen Ähnlichkeit in (C5.1) zum Anlass, das Argument anders zu deuten (und damit zu verteidigen): Für ihn ist (C4.0) die grundlegende These; wenn nun etwas typischen Vertretern einer Seite dieser Dichotomie in einigen relevanten Merkmalen mehr gleicht als den Vertretern der anderen Seite, dann ist es plausibel, auch diese Entität der ersten Seite zuzuordnen (aufgrund der ontologischen Dichotomie gibt es keine dritte Möglichkeit). Apolloni macht aus der Ähnlichkeit so eine epistemische Unsicherheit: Es gibt nur zwei ontologische Kategorien; wir wissen nicht, zu welcher die Seele gehört, aber wir können aus der Übereinstimmung oder wenigstens Nähe zu den essentiellen Merkmalen der Mitglieder der einen Kategorie schließen, dass die Seele zu dieser Kategorie gehört – und wenn sie dazu gehört, dann absolut (vgl. Apolloni (1996), S. 9 f.). Zu Apolloni siehe auch die folgende Anmerkung 42. Auch Notomi (2019), S. 300 nimmt eine ontologische Beziehung zwischen Seele und Ideen an, lässt aber offen, ob es sich bei der Weisheit als Ziel der Seele um eine intentionale Ausrichtung auf die Ideen oder eine engere ontologische Beziehung handelt. 41 ψυχῇ δὲ αὖ τὸ παράπαν ἀδιαλύτῳ εἶναι ἢ ἐγγύς τι τούτου; – πῶς γὰρ οὔ (80b10 f.). 39
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Damit scheint das Argumentationsziel (C0) erreicht zu sein. Zunächst wird hier jedoch der Fehlschluss von einer geteilten Eigenschaft (der Unsichtbarkeit) auf eine andere (die Unauflöslichkeit) manifest; insofern folgt (C7) nicht aus (C 5.1). 42 Besonders irritierend ist aber der Zusatz »oder doch nahezu«, denn eine »weitgehende Unauflöslichkeit« ist nicht das, was Sokrates braucht: Ein bisschen auflöslich ist eben doch auflöslich, und niemand kann garantieren, dass die noch so geringe Wahrscheinlichkeit, mit der die Seele sich auflöst, nicht gerade nach dem eigenen Tod Realität wird. 43 Der Zusatz scheint also bezüglich des Argumentationsziels etwas Selbstzerstörerisches zu haben. Zunächst ist allerdings zu fragen, ob diese Lesart nicht zu böswillig ist. Strobel verweist auf die antike Kommentartradition, derzufolge es um eine vergleichsweise geringere Auflösungswahrscheinlichkeit als im Falle des Körpers geht (der sich mit Sicherheit auflöst), sowie auf die Differenz zwischen prinzipieller Auflösbarkeit und de facto-Auflösung. 44 Für Strobel wäre damit das Ziel des Arguments erreicht, die Sorge zu lindern, dass die eigene Seele im Moment des Todes vernichtet wird; mir scheint dies zweifelhaft, denn es setzt voraus, dass die Sorge empfänglich ist für Wahrscheinlichkeitsabwägungen (auch wenn das Beispiel der ägyptischen Mumien, das Sokrates anführt (80c), die Messlatte für eine komparative Unauflösbarkeit recht hoch hängt). Apolloni versteht den Zusatz »gänzlich« (τὸ παράπαν) zu »unauflöslich« in (C7) nicht zeitlich, sondern mereologisch, so dass die Alternative in (C7) besagt, dass die Seele entweder vollständig unauflöslich ist oder doch wenigstens ein Teil von ihr (und Apolloni führt Belege dafür an, dass im Phaidon tatsächlich von einer mehrteiligen Seele ausgegangen wird). 45 Im Kontext des Arguments, so wie es im Dialog entwickelt wird, kommt
Um einen Fehlschluss handelt es sich selbst dann, wenn die geteilte Eigenschaft G und die erschlossene Eigenschaft F begrifflich zusammenhängen. Angenommen, G ist eine absolute Eigenschaft, F aber eine graduierbare Eigenschaft. G sei die Unsichtbarkeit; Unsichtbarkeit weist keine Grade auf. F dagegen, Unzerstörbarkeit, sei graduierbar. Dann kann die Seele aufgrund von G ebenso F aufweisen, aber zu einem geringeren Grad als die Ideen. Apolloni übersieht bei seiner Rekonstruktion (siehe Anmerkung 40) diese Möglichkeit. Selbst wenn es im Sinne seiner Deutung Gründe gäbe, die Seele einer Seite einer ontologischen Dichotomie zuzuordnen, würde daher noch nicht ihre Unzerstörbarkeit folgen. 43 Kebes wird genau diesen Punkt später aufgreifen (vgl. 87a–88b). 44 Vgl. Strobel (2011), S. 94 f. 45 Vgl. Apolloni (1996), S. 14. 42
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das einer ad hoc-Rettung gleich, die vielleicht einer Leserin zugänglich ist, die den gesamten Text überblickt, die aber den angstvollen Adressaten des Arguments nicht zur Verfügung stehen dürfte. Auch angesichts des Umstandes, dass Kebes und Simmias später die Auflösbarkeit der Seele weiterhin als noch keineswegs ausgeräumte Möglichkeit betrachten, scheint es mir naheliegender zu sein, den Zusatz tatsächlich im Sinne einer Selbstkommentierung zu verstehen, die darauf aufmerksam machen soll, dass der Schluss von (C5.1) auf (C7) eben nicht logisch gültig ist. Wir haben es demnach wieder mit einem inszenierten Fehlschluss zu tun. Allerdings ist eine solche Selbstkommentierung ebenfalls nicht leicht mit der Situation in Einklang zu bringen: Nicht allein, dass man sich fragt, warum Sokrates die letzten Stunden seines Lebens mit argumentativen Spielchen vertrödelt, sondern auch die Angst, die mit dem Argument ja eigentlich bekämpft werden sollte, schiene so nicht recht ernstgenommen. Erneut also ist zu fragen: Warum lässt Platon seinen Sokrates hier so argumentieren, wie er es tut? In der Tat könnte die Angst, die emotionale Einrahmung des Arguments, der Schlüssel zum Verständnis des inszenierten Fehlers sein. Wie erwähnt, scheint das Argument zunächst eine rationale Antwort auf eine Angst geben zu wollen, indem es versucht zu zeigen, dass die Angst auf einer falschen Annahme beruht. Solche Strategien der Angstbekämpfung sind allerdings erfahrungsgemäß nur begrenzt wirksam, und ihr Erfolg dürfte umso zweifelhafter sein, je größer die Diskrepanz zwischen der Gewichtigkeit der Angst und der epistemischen Sicherheit ihrer Widerlegung ist. Die Angst vor der eigenen totalen Vernichtung zählt zu den größten, die uns befallen können; Behauptungen über das, was nach dem Tod passiert, sind epistemisch gesehen immer mit Unsicherheit behaftet, da sie erschlossen werden müssen und nicht durch sinnliche Evidenz belegt werden können. Wollte Platon uns also auf die Schwäche der rationalen, wissenschaftlichen Angstbekämpfung in bestimmten Situationen hinweisen? Die späteren Einwände von Simmias und Kebes – wieder auf der Ebene rationaler Argumentation – lassen diese Möglichkeit zu. In der unmittelbaren Gesprächssituation allerdings scheint das Argument seine angstlösende Wirkung entfaltet zu haben. Sokrates hat sein Argument in eine Mahnung umgebogen, die Seele durch intensive Bemühung um Wissen jenen unveränderlichen, unauflöslichen Gegenständen zuzuwenden, kurz gesagt: bei der Philosophie 43 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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zu bleiben. Und mindestens diese Ermahnung hat gewirkt, sie hat den Anflug von Angst beseitigt. 46 Von dieser Wendung aus erscheint ein problematischer Zug des Arguments, die Hinzunahme der Ähnlichkeit ab (C5.1), in einem anderen Licht. Bisher hatte ich die Ähnlichkeit unter einem rein logischen Gesichtspunkt betrachtet: Zwei Dinge sind ähnlich, wenn sie mindestens eine Eigenschaft teilen. Eine Basis für den Schluss auf weitergehende Gemeinsamkeiten ist diese Ähnlichkeit nicht. Allerdings kann die Ähnlichkeit auch eine dynamische Qualität annehmen. Sie kann weniger Faktum denn anzustrebendes Ziel sein: Eine in einer Hinsicht bereits bestehende Ähnlichkeit kann sich entwickeln, verstärkt werden, nach Angleichung streben. Diese Ambivalenz zwischen Prozess und Resultat begegnete in der »Apologie« schon einmal im Zusammenhang mit der Reinigungsterminologie, die Sokrates auch hier wieder aufgreift (82d6). Entsprechendes gilt für das Wissen: Wissen ist etwas, nach dem wir streben. Je mehr wir Wissen erlangen, desto mehr füllen wir unsere Seele mit Dingen, die ihrer Natur nach unveränderlich sind. Es ist sozusagen eine ausbaubare Ähnlichkeit. Verhilft uns dieses Streben zu Unsterblichkeit? Wir wissen es nicht. Aber es beseitigt unsere Angst – oder jedenfalls die Angst der Gesprächspartner von Sokrates. Es lenkt die negative Emotion der Angst um in eine positive der Ausrichtung auf ein Ziel. Was Sokrates tut, indem er die Ähnlichkeit ins Spiel bringt, ist demnach eine Art von Psychotherapie: Er lenkt die Emotionen seiner Gesprächspartner weg von der Angst, indem er ihnen ein Ziel präsentiert, das in einer initialen Ähnlichkeit vorgezeichnet ist. 47 Was hat das mit Philosophie zu tun? Ist das nicht ein Griff in die Kiste der Psychotricks? Vielleicht muss man es so sehen. Aber Sokrates’ Griff in die Trickkiste führt seine Gesprächspartner nicht von der Bemühung um Wissen weg, im Gegenteil. Der Effekt ist, dass sie umso emphatischer bei der Philosophie bleiben. Es ist kein Mittel, Vgl. etwa die emphatische Zustimmung von Kebes in 81a. Als Therapie betrachtet dezidiert auch Erler (2004), S. 65 dieses Argument, der allerdings von einem harmonischen Zusammenwirken von rationaler Argumentation und therapeutischem Anspruch ausgeht. – Frede (1999), S. 73 widerspricht den üblichen Einwänden mit der These, das Argument sei gar nicht als Beweis intendiert – sondern letztlich als bloße Präsentation einer Affinitätsthese (dass diese Affinität einen dynamischen Aspekt hat, deutet Frede an, vgl. Frede (1999), S. 72). Allerdings wird in der Anlage des Arguments der Anspruch, Angst rational zu entkräften, doch gut sichtbar und sollte nicht zu gering veranschlagt werden.
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das prinzipiell darauf angelegt ist, die Seele im Zustand des Nichtwissens zu halten. Es ist, in Abwesenheit einer überzeugenden argumentativen, wissenschaftlichen Angstbeseitigung, der wissenschaftsnaheste Weg, Angst zu beseitigen. Und wieder lernen wir etwas über das Argumentieren selbst. Das Argumentieren realer Menschen findet nicht in einem emotionsfreien Raum statt. Auch argumentierende Menschen werden von Emotionen beeinflusst; ja, die Emotionen sind es oft genug, die sie überhaupt zum Argumentieren motivieren. Argumente stehen dabei den Emotionen nicht einfach als rationale Alternative gegenüber. Wo eine solche Gegenüberstellung möglich ist, ist es vielleicht gut, die Argumente gegen die Emotion zu stellen. Aber wir wissen gut genug, dass Argumente in einer solchen Konfrontation oft genug den Kürzeren ziehen, selbst bei perfekter Rationalität und Überzeugungskraft zu schwach sind. Doch können Argumente auch mit Emotionen interagieren, sie haben eine eigene Dynamik, die sich mit derjenigen der Emotionen verflechten kann und dabei im Endeffekt die Rationalität nicht verraten muss.
Das Ideal der Rationalität und seine Bedingtheit Platon ist, wie eingangs erwähnt, für das Verhältnis von Philosophie und Literatur besonders einschlägig, denn er steht für die Unvereinbarkeit beider ebenso wie für ihre enge Verzahnung. Der Ausweg aus diesem – zunächst – exegetischen Paradox, den ich hier verfolgt habe, basiert darauf, die literarische Gestaltung als Beschreibung und Ausführung der Praxis des Philosophierens zu betrachten. Im Falle des Phaidon und des von mir gewählten Schwerpunkts heißt das: Es geht um die Praxis des Argumentierens. Denn eine solche Praxis lässt ein Ideal ebenso zu wie unaufhebbare Bedingungen, denen jeder Versuch unterliegt, das Ideal zu realisieren. Dieser Ausweg klingt nach einem guten Kompromiss, der beiden Polen ihre Identität belässt: Das Ideal bleibt frei von den Verunreinigungen durch die Praxis, und die Praxis darf sich so entfalten, wie es unter menschlichen Bedingungen nun einmal möglich ist. Aber so ganz fair ist der Kompromiss natürlich nicht, denn ein Ideal, qua Maßstab, an dem die Praxis gemessen wird und von dem aus ein Argument als fehlerhaft kritisiert wird, steht in der Wertehierarchie allemal über der Praxis. Übertragen auf das Verhältnis von Philosophie und Literatur und im Hinblick auf die Bemühung um Wissen heißt das: Was Wissen eigentlich ist, gibt die 45 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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Philosophie vor; die literarische Gestaltung der Bemühung um Wissen ist davon abhängig und untergeordnet. Eine solche Werteordnung scheint ganz im Sinne des Philosophen Platon, doch gibt sein Phaidon auch dazu einen besonderen Kommentar. Die Seele, die sich nach dem Tod vom Körper lösen und die Wissenssuche fortsetzen soll, ist eine rationale Seele. Zwar bedarf sie der Wahrnehmung als Stimulus (wie im Zuge des Anamnesis-Arguments dargelegt wird), aber letztlich wird sie vom Körper behindert. Denn die Gegenstände des Wissens sind Ideen (oder Begriffe, wie man bei aller Vieldeutigkeit des Begriffs »Begriff« sagen kann, weil es Ideen ebenso wie Begriffen wesentlich ist, im Verhältnis zu anderen Ideen bzw. Begriffen definierbar zu sein). Ideen sind immateriell und nicht wahrnehmbar, und die Seele versucht im Erkennen, ihren Gegenständen gleich zu werden. 48 Ferner haben Begriffe eine Ordnung, die in einer argumentativen Ordnung, etwa der Syllogistik, abgebildet werden kann; diese argumentative Ordnung wiederum liefert den Maßstab richtigen Argumentierens. Insofern ist das Ideal des Argumentierens ontologisch begründet und obendrein eng mit der Unsterblichkeit der Seele verbunden. Das verleiht dem Ideal im Rahmen des Phaidon ein ganz besonderes Gewicht. Andererseits ist der Phaidon, qua Darstellung einer Praxis, auch die Darstellung einer Übung – einer Übung, durch das Argumentieren sich dem Wissen zu nähern (und dadurch die Todesfurcht zu überwinden). 49 Diese Übung ist nun die Situation, in der wir – im körperlichen Sinne lebendige, philosophierende Wesen – uns allesamt befinden. Was wir als Ideal entwerfen, vom Konzept der Idee bis zur Die ontologische Frage, was die Seele sei, bleibt im Phaidon notorisch unerörtert. Es wird lediglich eine doppelte Abstraktion oder Extrapolation von der körpergebundenen Seele zur rationalen Seele und von der Wahrnehmung zur Ideenerkenntnis angeboten. Insofern sich die Rationalität der Seele aus ihrem Gegenstand, nämlich den Ideen, ergibt, folgt zumindest ein enger Zusammenhang, der ontologisch noch weiter zu klären wäre (vgl. dazu Notomi (2019), S. 298 ff.). Ein wichtiges Merkmal, durch das sich die Seele ontologisch auszeichnen könnte, wäre ihre Individualität, aber inwiefern die rationale Seele noch individuell sein kann, bleibt unklar (zum Problem der Individualität der Seele siehe Bordt (2011), S. 37 f.). 49 Diese Auffassung des Phaidon als Übung ist nicht zu verwechseln mit derjenigen als Einübung in das Sterben. Blößner (2001) bezeichnet den Phaidon als eine »Protreptik zur Philosophie« (S. 138), deren Hauptpunkt darin bestehe, wie man seine Lebensführung auf Überzeugungen aufbauen kann, von denen man weiß, dass sie kein Wissen sind. Das scheint mir richtig – mit dem Zusatz, dass eben genau dies im Phaidon in actu präsentiert wird. 48
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Syllogistik als Abbild einer ontologischen Struktur, ist demgegenüber eine Fiktion 50 – eine Fiktion, die im Rahmen dieser Übung eine bestimmte Funktion erfüllt. Wir entwerfen dieses Ideal, indem wir von unserer Situation aus extrapolieren und von Bedingungen, die wir als einschränkend auffassen, abstrahieren. Das Ideal ist somit in doppelter Weise von der Praxis abhängig: in seiner Funktion und als Extrapolation. Wenn Platon im Phaidon das komplexe Bild eines Argumentierens unter psychologischen (und durchaus einschränkenden) Bedingungen zeichnet – anstatt uns einen Sokrates in rationaler Hochform vorzuführen, was ja ebenso eine Option gewesen wäre –, dann nimmt er als Autor Stellung zum Status des Ideals: nicht dass er es in irgendeiner Form relativiert – das wäre mit seinem Status unverträglich –, aber er setzt das Ideal in kluger, das heißt situationsangemessener Weise ein. Diese Klugheit steht noch über dem Ideal und ist für den Erfolg der rationalen Suche nach Wissen unverzichtbar. Auf das Verhältnis von Philosophie und Literatur übertragen bedeutet dies: Die Philosophie ist eine Art von Sonderfall der Literatur. Sie ist eine eigene Praxis, die sich in einer eigenen Art der Textproduktion niederschlägt, mir der man aber nur dann richtig umgehen kann, wenn man die Bedingungen ihrer Ausübung kennt, zu deren Dokumentation literarische Mittel erforderlich sind. Das hebt die Unterscheidung zwischen beiden nicht auf und auch nicht die Eigenständigkeit der Philosophie, beseitigt aber die Illusion ihrer Unbedingtheit.
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Das Reisemotiv in der literarischen Philosophie der französischen Aufklärung. Montaignes Essais und Montesquieus Lettres persanes Einleitung Die Philosophen der französischen Renaissance und Aufklärung verfassten größtenteils keine klassischen philosophischen Abhandlungen oder Traktate, sondern brachten ihre Philosopheme meist in literarischen Darstellungsformen zum Ausdruck. Ihre Schriften erscheinen mithin prädestiniert, um sich des ambivalenten Wechselverhältnisses von (literarischer) Philosophie und (philosophischer) Literatur anzunehmen. Michel de Montaigne als Vertreter der Renaissancephilosophie und Schwellenfigur zwischen Mittelalter und Neuzeit legt mit den Selbstbeobachtungen und Selbstreflexionen seiner Essais den Grundstein für eine neue literarische Gattung. Die spezifische Form seines Lebenswerks – der Schreibprozess an den Essais erstreckt sich über zwanzig Jahre – gestattet den Lesenden, am Selbstwerdungsprozess des Individuums Montaigne zu partizipieren und ihn auf seinen körperlichen und geistigen Reisen zu begleiten. Die philosophes des Lumières, für die Montaignes Œuvre philosophischer Nährboden ist, verfassen ihrerseits Erzählungen und Romane, in denen nicht zuletzt das Motiv des Reisens Einzug in Texte mit genuin aufklärerischem Anspruch erhält, so zum Beispiel in Voltaires Conte Candide, dessen Protagonist eine Reise um die Welt unternimmt und Leibniz’ Theorie der besten aller möglichen Welten anhand des ihm überall begegnenden Übels in der Welt ironisch parodiert. Montesquieus Lettres persanes markieren ihrerseits den Durchbruch der Gattung des Briefromans und legen den Grundstein für eine lange Tradition französischer Philosophie insgesamt. Es handelt sich um eine fiktive und pseudonym herausgegebene Briefkorrespondenz zweier Perser, die ihren Gesprächspartnern in der Heimat von Europa berichten. Für die europäischen Leserinnen und Leser werden die gesellschaftlichen Gewohnheiten und Sitten des eigenen Kulturkreises aus kritischer Distanz im Fremden gespiegelt und in49 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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frage gestellt. Montesquieus Briefroman ergänzt das klassische Genre des Romans um das unmittelbare In-Beziehung-Setzen der Leserin oder des Lesers zu den im Fiktionalen handelnden Personen, welche sich zu historischen Realitäten verhalten: Das ist die Geburtsstunde des roman épistolaire. Der vorliegende Beitrag möchte dem Reisemotiv, das die Brücke von den Essais zu den Persischen Briefen schlägt, in der Philosophie der französischen Renaissance und Aufklärung bei Montaigne und Montesquieu nachgehen. Form und Inhalt der Schriften stehen mit ihrem Wechselverhältnis im Mittelpunkt. Inwiefern werden nun im Topos des Reisens die Ziele der Aufklärung anschaulich? Was lässt die genannten literarischen Formen als dafür besonders geeignet erscheinen? Welchen Mehrwert bieten die literarischen Genera für eine Betrachtung der Reise als für die Philosophie relevante Thematik? Um diesen Fragen nachzuspüren, werden wir uns zunächst dem Motiv des Reisens als einem philosophischen Topos mit aufklärerischem Anspruch im Denken Montaignes widmen. Ausgehend davon soll gezeigt werden, wie im Briefroman der französischen Aufklärung das Reisen und die Entdeckung des Fremden und Neuen ins Zentrum des Interesses rücken. Am Beispiel der Lettres persanes wird das Reisemotiv mit dem damaligen urbanen Zentrum Europas – der Metropole Paris – verbunden. Paris ist der kulturelle, intellektuelle und politische Mittelpunkt des 18. Jahrhunderts, der Ort, an dem Karrieren und Reputationen entschieden werden, die »Hauptstadt der Genies« 1, so Philipp Blom, in welche die Perser Usbek und Rica reisen und von den Sitten und Bräuchen der Franzosen um 1700 berichten. Montesquieu erweist sich durch differenzierte, kritische Betrachtung der westlichen und östlichen Kulturkreise als ein Soziologe der Differenz. Exemplarisch verbinden die Persischen Briefe auf diese Weise die Themen der Aufklärung und des Reisens, die abschließend einen Ausblick auf ihre Verbindung mit dem Genre des Briefromans erlauben. Durch den Bogen von Montaignes Essais (1572–1592) hin zu Montesquieus Briefen (1721) umrahmen wir zu guter Letzt das als siècle classique bezeichnete 17. Jahrhundert.
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Blom (2020), S. 60.
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Das Reisemotiv in der literarischen Philosophie der französischen Aufklärung
Reisen als philosophisches Motiv bei Montaigne Montaignes Reflexionen über die Bedeutung des Reisens für den Menschen sind in seinen biographischen Kontext einzubetten. Montaigne hatte im Laufe seines Lebens diverse politische Ämter inne, nicht zuletzt als Parlamentsrat und Bürgermeister der Stadt Bordeaux. Im Rahmen dieser Tätigkeiten unternahm er mehrere Reisen – immer wieder auch an den Hof in Paris, unter anderem um die Religionskriege in seiner südfranzösischen Heimat zu schlichten. Im Zuge seiner Studienaufenthalte war Paris für Montaigne bereits eine ›geistige‹ Heimat geworden. Mit Wissensdurst betritt der junge Adelsmann Paris und notiert: »Solang Paris bestehen bleibt, wird es mir nicht an einem Zufluchtsort fehlen, wo ich meinen Geist aushauchen kann« 2. Seine Betrachtungen über das Reisen in den Essais stützen sich vorwiegend auf persönliche Reiseerlebnisse und dokumentieren seine große Leidenschaft für das Reisen. Darüber hinaus lassen sich die gesamten Essais als Dokumente der persönlichen geistigen Entwicklungsgeschichte des Individuums Montaigne lesen, womit nicht zuletzt der literarischen Gattung des Essays ihre Charakteristika verliehen werden. »Nicht einzelne Akte beschreibe ich daher, sondern mich, sondern mein ganzes Wesen« 3, so Montaigne. Besonders prägend war für ihn seine Italienreise (1580–1581), über die er ein eigenes Reisetagebuch 4 verfasst hat. Das eigene Leben beziehungsweise die eigene Lebensgeschichte und seine Philosophie sind bei ihm untrennbar miteinander verwoben: Sein Leben wird zum Stoff und Gegenstand des philosophischen Œuvres. Goethe hat seine Lektüreeindrücke zu Montaignes Reisetagebuch wie folgt festgehalten: [D]er lebendige Mensch erklärt auf alle Fälle den Schriftsteller. […] Wie […] ein stracker, feiner, zartgesinnter, sich selbst beobachtender, neugieriger, mit einer gewissen anmutigen Eitelkeit behafteter französischer Edelmann in fremden Ländern hervortritt, ist wohl auf keine andere Weise zu schauen und zu erfahren. 5 Montaigne (2002a), 3. Buch, S. 296. Montaigne (2002a), 2. Buch, S. 78. 4 Dabei handelt es sich um das erst nach seinem Tod entdeckte Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581. Siehe Montaigne (2002b). Im Folgenden wird im Fließtext abkürzend mit Reisetagebuch darauf verwiesen. 5 Goethe (1906), S. 205. Murray (1934), S. 296 hält später fest: »[T]he traveller explains the thinker.« 2 3
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Im Anschluss an Christiane Schildknecht lassen sich vier Konzeptionen der Reise als für die Philosophie relevante Thematik herausstellen: Reise (1) als Medium ästhetischer Erfahrung in der Tradition Petrarcas; (2) als Anstoß zur Kontemplation; (3) als durch Konfrontation mit dem Fremden initiierte Selbsterfahrung und (4) als negativ gewendeter Fluchtpunkt der Methode. 6 Für Montaigne als jemanden, der eine klassisch-humanistische Ausbildung durchlief, diente die Tätigkeit des Reisens primär der Bildung sowie der Erkenntnis- und Wissenserweiterung, womit vor allem das zweite und dritte Konzept der philosophischen Reise relevant werden. Im Folgenden wird demnach das Reise-Sujet als Impulsgeber einer Contemplatio und als Initiierung der Selbsterkenntnis qua Fremderkenntnis analysiert. Die Reise als bloße Erholung im Sinne einer Vergnügungsreise verfehlt Montaigne zufolge hingegen ihre eigentlichen Potenziale. Diejenigen, die lediglich reisen, weil sie fortgewesen sein wollen, sind ihm fremd. 7 Um philosophischen Nutzen aus einer Reise zu ziehen, müsse man bereit sein, sich auf das Fremde und Unbekannte einzulassen, um es en détail zu studieren. Hier nimmt er Gedanken vorweg, die uns bei Montesquieu wiederbegegnen werden. Damit erweist er sich als frühaufklärerischer Autor, vor allem hinsichtlich seiner Reflexionen über fremde Kulturen und die Vielfalt der Religionen. So liege der Wert des Reisens in der Reise selbst und nicht in einem ihr äußerlichen Telos (zum Beispiel Vergnügung), das ab initio bestimmt sei: »Ich bin unterwegs, um unterwegs zu sein.« 8 Ähnlich wie das Philosophieren nach Aristoteles um des Philosophierens willen betrieben wird, so wird auch das Reisen um des Reisens willen betrieben. Verschaffen wir uns, in Vorbereitung der Erläuterungen zu Montesquieu, einen rhapsodischen Überblick über das Reisen als philosophischen Topos und aufklärerische Tätigkeit. So wird sich zeigen, dass einige aufklärerische Motive der Lettres persanes bereits in der Renaissancephilosophie grundgelegt sind. Die Ausführungen zu Montaigne müssen dabei selektiv bleiben; sie haben, wie gesagt, nur hinführenden Charakter. Vorab sei nochmals darauf hingewiesen,
Vgl. Schildknecht (1996), S. 178. Im Aufsatz »Reisende Philosophen – Philosophische Reisen« geht sie diesen Motiven bei Montaigne, Schopenhauer, Descartes und Sterne nach. 7 Vgl. Montaigne (2002a), 3. Buch, S. 318. 8 Ibid., S. 303. 6
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Das Reisemotiv in der literarischen Philosophie der französischen Aufklärung
dass die Essais Selbstbetrachtungen und Beobachtungen des Individuums Montaigne darstellen. Er selbst ist es, der seine eigenen Erlebnisse in diesem Werk dokumentiert, reflektiert und verarbeitet; zugleich wird er selbst zuallererst durch das Verfassen ebenjener Essais geformt und transformiert. Die Essais sind Spiegel seines Selbst und sein Selbst wird vice versa durch die Essais konstituiert. Die Leserin und der Leser erleben einen Montaigne in Bewegung 9, auf physischen und intellektuellen Reisen. Zwar werden die Essais häufig mit einem in seinem Turm sitzenden, einsamen Schriftsteller assoziiert, dieses Bild gilt es jedoch zu relativieren. Zum einen erstrecken sich die Arbeiten an diesem Werk über zwanzig lange Jahre, in die auch die prägende Italienreise fällt, zum anderen verarbeitet er dort literarisch seine auf Reisen gewonnenen Erkenntnisse. Darüber hinaus wird das Bild des in seinen Turm zurückgezogenen Denkers durch das Reisetagebuch erheblich modifiziert und ergänzt. Letzteres zeigt uns einen Montaigne ›auf Tour‹ und die Essais einen Montaigne ›im Turm‹, wie Hans Stilett zugespitzt formuliert. 10 In dem Kapitel »Über die Eitelkeit« 11 der Essais, wo Montaigne des Öfteren auf das Reisen rekurriert, führt er als Grund für seine Reiselust seinen Trieb nach Neuem und Unbekanntem, seine curiositas, sowie seine Ablehnung der (oder zumindest sein Missfallen an den) in seiner Heimat herrschenden Sitten an. 12 Das Bedürfnis, neue Kulturen kennenzulernen, und seine allgemeine Verbundenheit zu den Menschen jenseits nationaler Zugehörigkeiten hätten seine Reiselust und sein Verlangen nach Unruhe – im Sinne von Unrast – befördert: Jenen, die mich fragen, warum ich auf Reisen ginge, pflege ich zu antworten, daß ich zwar wüßte, wovor ich fliehe, nicht aber, wonach ich suche. Wenn man mir sagt, bei den Menschen in fremden Ländern Vgl. Starobinski (1986), S. 3. Starobinski stellt seine gesamte Montaigne-Studie unter das Leitmotiv eines Denkens in Bewegung, welche auch immer eine Bewegung in Montaigne selbst gewesen sei. 10 Vgl. Stilett (2002a), S. 16. An anderer Stelle weist Stilett (2002b), S. 405 darauf hin, dass Montaigne stets in Bewegung war – in Bezug auf die in Zurückgezogenheit verfassten Essais, so ließe sich ergänzen, war er eben geistig in Bewegung. Geistige und physische Bewegung sind bei Montaigne nicht voneinander zu trennen: »There is something in his mental make-up which corresponds to his physical need for movement.« Murray (1934), S. 295. 11 Dieses Kapitel ist vor dem Hintergrund bedeutsam, dass es gewissermaßen eine Kurzfassung des Reisetagebuchs darstellt, wie Lacouture (1998), S. 206 f. anmerkt. 12 Vgl. Montaigne (2002a), 3. Buch, S. 258 sowie S. 270. 9
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gebe es vielleicht genausowenig gesunde Moral und ihre Sitten seien doch wohl auch nicht besser als unsre, erwidere ich, erstens fände ich das unwahrscheinlich […] und zweitens sei es stets ein Gewinn, einen unzweifelhaft schlechten Zustand gegen einen nur zweifelhaften einzutauschen. 13
Hier deutet sich eine weltbürgerliche Haltung an, wie sie für die aufklärerischen Lettres persanes Montesquieus typisch sein wird. Er betrachte alle Menschen als seine Landsleute, so Montaigne, und er »umarme einen Polen genauso herzlich wie einen Franzosen, denn gegenüber den nationalen Banden haben die uns alle verbindenden für mich Vorrang.« 14 Das Reisen wird für Montaigne zum wesentlichen Bestandteil seines Bildungsideals und erhält einen pädagogischen Auftrag, 15 insofern es uns vor Augen führt, dass die Kenntnisse und der Wissensfundus unseres eigenen Kulturkreises nicht den Grenzen der menschlichen Erkenntnis als solcher entsprechen. Das Reisen übe uns in der Beobachtung neuer Dinge: »Ich wüßte […] keine bessere Schule, uns im Leben weiterzubilden, als ihm [dem Geist] unausgesetzt die Mannigfaltigkeit so vieler andrer Daseinsweisen, Anschauungen und Gebräuche vorzuführn und ihn an diesem ewigen Wandel der Erscheinungsformen unsrer Natur Geschmack finden zu lassen.« 16 Hier kommt das Fortschrittliche, ja Moderne seiner Philosophie zum Vorschein, das Montaigne zu einer Übergangsfigur vom Mittelalter zur Neuzeit werden lässt. In seinem Denken ist kein Platz mehr für die Vorstellung eines festen Wesens des Menschen oder eines objektiven Ideals gelingenden Lebens, das allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen könnte. Das manifestiert sich in der Wertschätzung der Beobachtung der sich unablässig verändernden menschlichen Natur. Daran anknüpfend formuliert Montaigne unmissverständlich: »Ich neige kaum dazu, mich nach der Heimaterde zu verzehrn.« 17 Dieser weltbürgerlichen Haltung werden wir in der Figur Usbeks in den Persischen Briefen wiederbegegnen. Es gilt, so Montaigne, stets offen zu sein und zu bleiben für das uns Unbekannte, und sich von eigenen Vorurteilen möglichst frei-
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Ibid., S. 295. Ibid., S. 296. Vgl. Schildknecht (1996), S. 188. Montaigne (2002a), 3. Buch, S. 297. Ibid., S. 296.
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Das Reisemotiv in der literarischen Philosophie der französischen Aufklärung
zumachen. Das wird anhand des Beispiels der französischen Küche expliziert. Reise er durch fremde Länder, möchte er gerade nicht durch bekannte Speisen verwöhnt werden, sondern das ihm Fremde kennenlernen. So macht der französische Adelsmann folgende Beobachtung, die manchen von uns heute noch erstaunlich bekannt vorkommen dürfte: »Ich schäme mich, wenn ich sehe, wie meine Landsleute sich von dem törichten Hang benebeln lassen, vor Verhaltensweisen zurückzuscheun, die den ihren entgegengesetzt sind. Sie fühlen sich, sind sie nicht mehr in ihrem Dorf, nicht in ihrem Element.« 18 Montaignes Sekretär und Begleiter während der Reise nach Italien notiert im Reisetagebuch: »Die Verschiedenheit der Sitten und Gebräuche von Grund auf kennenzulernen, ließ sich der Herr von Montaigne überall nach Landessitte servieren, soviel Beschwerden es ihm auch bisweilen machte.« 19 Des Weiteren begegnet man in den Reisenotizen dem Bedauern, keinen Koch mitgenommen zu haben. Montaigne bereut dies nicht etwa, weil er die heimische Küche auf seinen Reisen vermisst, sondern da der Koch so die fremden Gerichte nicht studieren und in der Heimat erproben könne – »ein größeres Zeugnis seines kühnen Weltbürgertums hätte der Eingeborene aus der Dordogne nicht abgeben können« 20, merkt Jean Lacouture an. Insbesondere im Reisetagebuch begegnen wir Montaignes liberalem Denken, indem er in fremde Alltagswelten im wahrsten Sinne des Wortes eintaucht. 21 Seine detailreichen Skizzen der verschiedenen Lebensweisen der Menschen zeigen, dass er sich zum einen dafür interessiert, wie die Menschen leben, und zum anderen dafür, was sie über das Leben denken. 22 Lebens- und Denkmodi stehen in einem unmittelbaren Wechselverhältnis zueinander. Dieses doppelte Studium des Fremden ist zentraler Gegenstand philosophischer Reise. Es bedeutet ein Sich-Aneignen des Fremden und zugleich ein Zurücklassen des Eigenen, was mit Gefahren und schmerzvollen Erfahrungen einhergehen kann. Mögen viele Reisende in der Fremde den Kontakt zu ihren Landsleuten suchen, betont Montaigne hingegen, es gehe ihm nicht darum, Gascogner in Sizilien zu suchen, um zugleich
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Ibid., S. 317. In Montaigne (2002b), S. 37. Lacouture (1998), S. 209. Vgl. Stilett (2002b), S. 405. Vgl. Murray (1934), S. 292.
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ironisch hinzuzufügen, davon habe er ja genug zurückgelassen; er »suche eher Griechen und Perser.« 23 Montesquieu, ein begeisterter Montaigne-Leser, scheint sich beim Verfassen seiner Perserbriefe an diese Passage zu erinnern, wie Lacouture anekdotisch registriert. 24 In diesem Sinne dient das Reisen der Erkenntniserweiterung, und eigene, bis dato unhinterfragte, Bräuche und Gepflogenheiten werden porös. Das Bekanntwerden mit fremden Kulturen leistet einen Beitrag zur erweiterten Selbsterkenntnis. Nun zeigt sich, inwiefern das Reisen das philosophische Motiv der Aufklärung verkörpert, und inwieweit eine reine Vergnügungsreise diesem Anspruch nicht nachkommen kann. Eng mit dem Topos des Reisens sind Montaignes Reflexionen über die Gleichwertigkeit der Kulturen verbunden. Es ist keineswegs überspitzt, in den Essais erste Ansätze eines Kulturrelativismus zu sehen, die Zeugnis von Montaignes vorurteilsfreiem Menschenbild und liberalem Denken ablegen, das wegweisend für die Tradition der französischen Moralisten und Aufklärung war. Montaigne kann als früher Vertreter eines Kulturrelativismus klassifiziert werden. Um den Montaigne-Abschnitt abzuschließen, werfen wir einen Blick in das Kapitel »Über die Menschenfresser«, das sich anbietet, um dem kulturrelativistischen Standpunkt Konturen zu geben. Montaigne bezieht sich in seinen Darstellungen auf Ureinwohner Brasiliens. 25 Für gewöhnlich bezeichneten wir all das als barbarisch, was uns ungewohnt erscheint und fremd anmutet. Als vernünftig und richtig lassen wir daher nur dasjenige gelten, was in unserem eigenen Land den herrschenden Sitten und Bräuchen entspricht: »Stets findet sich hier die perfekte Religion, die perfekte Staatsordnung, der perfekteste Gebrauch aller Dinge.« 26 Solch eine Überzeugung mag naheliegend sein, sie zeugt jedoch von einer begrenzten Sichtweise auf die Welt, insofern der Wissensbestand des eigenen Kulturkreises mit den prinzipiellen Grenzen der menschlichen Erkenntnis gleichgesetzt wird. Diese Haltung werde dennoch oft an den Tag gelegt und sei auch bei seinen Landsleuten anzutreffen: Die Franzosen erkennen nur das als vortrefflich an, was bei ihnen Brauch ist. Montaigne
Montaigne (2002a), 3. Buch, S. 318. Vgl. Lacouture (1998), S. 210. 25 Montaigne stützt sich dabei wahrscheinlich auf Schilderungen des Reisenden und Schriftstellers Jean de Lévry. 26 Montaigne (2002a), 1. Buch, S. 318. 23 24
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Das Reisemotiv in der literarischen Philosophie der französischen Aufklärung
schließt daran allgemeinere Betrachtungen an. So würden die meisten Menschen ihren Blick nur auf diejenigen Sitten richten, in die sie hineingeboren wurden, und sich mit ihnen zufriedengeben und andere nach ihnen beurteilen. 27 Indem Montaigne indes versteht, dass »sich die einzelnen Kulturen deshalb voneinander unterscheiden, weil sie Ergebnis verschiedener historisch-sozialer sowie geographischer Bedingungen sind, wird er sich der Relativität seiner eigenen kulturellen Position gewahr.« 28 Zur Praxis des Kannibalismus heißt es demnach: »Was mich ärgert, ist keineswegs, daß wir mit Fingern auf die barbarische Grausamkeit solcher Handlungen zeigen, sehr wohl aber, daß wir bei einem derartigen Scharfblick für die Fehler der Menschenfresser unseren eignen gegenüber so blind sind.« 29 Und weiter: »Wir können die Menschfresser also nach Maßgabe der Vernunftregeln durchaus Barbaren nennen, nicht aber nach Maßgabe unsres eigenen Verhaltens, da wir sie in jeder Art von Barbarei übertreffen.« 30 Die Begegnung mit dem Fremden erweitert unser Wissen nicht bloß in Bezug auf uns äußere Gegebenheiten wie zum Beispiel Sachwissen, sondern vermag zudem, in der Funktion eines Spiegels die eigene Selbsterkenntnis zu initiieren: »Reflektierte Fremderkenntnis als Voraussetzung der Selbsterkenntnis – dem dient nicht zuletzt das Sich-Umschauen in der Welt« 31, so resümiert Schildknecht die Relevanz des Reisens. Die Welt schlüpft gewissermaßen in die Rolle eines Spiegels, der uns die eigenen Defizite vor Augen führt. Fremderkenntnis, die zur Selbsterkenntnis anleitet und die eigenen Sitten relativiert, vermag gleichsam, Toleranz gegenüber andersartigen kulturellen Praktiken zu festigen. Insbesondere seine Italienreise hat Montaigne durch Gespräche und Beobachtungen nahegebracht, dass jede Sitte ihre Daseinsberechtigung hat. Die Tatsache, dass sich Montaigne am Ende der Reise im eigenen christlichen Glaubensbekenntnis bestärkt sah, widerspricht dem nicht, insofern die Begegnung mit fremden Kulturen ebenso die Legitimität der eigenen Bräuche offenbaren kann. 32 Da Montaigne für die Vernunft und die Erfahrung als Grundlagen und Bewertungsmaßstäbe des gesellschaftlichen Zusammen27 28 29 30 31 32
Vgl. ibid., S. 446. Hupfeld (2007), S. 58. Montaigne (2002a), 1. Buch, S. 325. Ibid., S. 326. Schildknecht (1996), S. 187. Vgl. Stilett (2002b), S. 412 f.
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lebens plädiert, nimmt er einmal mehr Gedanken der Aufklärung vorweg. Reisen als Bildung und pädagogisches Ideal kann dazu einen essentiellen Beitrag leisten. In Montesquieus Persischen Briefen geben die Protagonisten als Grund der Reise an, sich nicht mit den Kenntnissen der eigenen Heimat zu begnügen und in ihnen die Grenzen der Erkenntnis zu sehen. Für Montaigne besteht die Aufgabe des Philosophierens wesentlich darin, Erkenntnisse über sich selbst im Sinne der Konstituierung der eigenen personalen Identität zu erlangen. Dafür ist reflektierte Selbstbeobachtung vonnöten, wovon die Essais Zeugnis ablegen. Reflektierte Fremderkenntnis ist wiederum unerlässlich und schafft die Voraussetzungen dafür. Montaigne schreibt dem Reisen eine Schlüsselrolle bei dieser Art der Selbstreflexion zu, und das in diesem Sinne bewusst unternommene Reisen wird zu einer genuin philosophischen Tätigkeit. Der oder die Reisende veranschaulicht in nuce das Leben einer Philosophin oder eines Philosophen – Philosophie hierbei verstanden als Lebensform und Lebenskunst –, dessen Ziel die reflektierte Selbsterkenntnis und die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit ist. 33
Montesquieus Lettres persanes. Reisen und die Suche nach Aufklärung Mit der Veröffentlichung der Lettres persanes wird Montesquieu 1721 auf einen Schlag berühmt. Sie markieren sein schriftstellerisches Debüt und nehmen bereits zentrale Themen des Hauptwerks De l’Esprit des Lois (1748), das zum Klassiker politischer Philosophie wurde, vorweg. Mit den Persischen Briefen steht Montesquieu relativ am Anfang der Tradition des Briefromans, der sich bei den Philosophen der französischen Aufklärung großer Beliebtheit erfreute. Zwar kann das Genre in Frankreich auf eine lange Tradition zurückblicken, seine Blütezeit setzt jedoch erst mit Montesquieus Werk ein. Das erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass Montesquieu durch den polyphonen Charakter und die Multiplizität der Perspektiven ein entscheidendes Novum hinzufügt. Es werden mehr als ein oder zwei Sichtweisen zwischen zwei Briefpartnern ausgetauscht und präsentiert. So gelingt es, im fiktionalen Rahmen Vielstimmigkeit zu kreie-
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Vgl. Schildknecht (1996), S. 189.
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ren und die Relativität der eigenen Wahrnehmungen aufzuzeigen. 34 Gleich zwei Protagonisten, die Perser Usbek und Rica, schildern ihren Frauen und Freunden in der Heimat und an anderen Orten die Lebensumstände in Frankreich und insbesondere Paris zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Montesquieus Perser betonen ebenso wie Montaignes Kannibalen die Relativität der französischen Kultur in Anbetracht der Vielfalt von Gesellschaften. 35 Eine äußere kritische Sichtweise auf die Verhältnisse im eigenen Land und die eigene Kultur einzunehmen und diese dem zeitgenössischen Lesenden darzulegen, wird zum Spezifikum des Briefromans. Dass dieses Genre daher prädestiniert für die Philosophie der Aufklärung samt ihres kritischen Duktus ist, bedarf keinerlei weiteren Begründung. Mit Lacouture lässt sich Montesquieus gesamtes Leben unter das Leitmotiv einer Suche nach Aufklärung stellen. 36 Es überrascht nicht, dass er diesen Anspruch mittels fiktiver Reiseberichte Fremder zu realisieren versucht. Im Laufe des 18. Jahrhunderts sind Reisen nicht mehr bloßes Mittel zur Verbreitung des christlichen Glaubens in der Welt, sondern das Verhältnis kehrt sich um. Berichteten bisher Europäer über die Fremdheit der Kulturen jenseits des Alten Kontinents, sind die Rollen nun vertauscht: »Die anderen, die Fremden […] treten als Ermittler« 37 auf. Die ›Ermittler‹ Usbek und Rica beschreiben den Zustand, in den die absolutistische Herrschaft von Louis XIV. Frankreich versetzt hat. Die Lettres persanes verhalfen so der »pseudo-exotischen Briefsatire als Medium aufklärerischer Gesellschaftskritik in ganz Europa schlagartig zum Durchbruch« 38, so Charlier. Für Werner Krauss hat Montesquieu mit jenem Roman den »Kampfplatz der Aufklärung« 39 letztlich eröffnet. Der aufklärerische Anspruch wird im Werk direkt zu Anfang ersichtlich. Im ersten Brief erklärt Usbek die Motivation der Reise und des Aufbruchs in die Fremde wie folgt: Rica und ich sind vielleicht die ersten Perser, die ihr Land aus Wissensdurst verlassen und die auf die Annehmlichkeiten eines ruhigen Lebens verzichtet haben, um unter Mühsalen nach der Weisheit zu Vgl. Schmidt (2016), S. 593. Vgl. Bomer (1970), S. 3. Bomer geht insgesamt Parallelen zwischen den Essais und den Perserbriefen nach. 36 Vgl. Lacouture (2005), S. 23. 37 Ibid., S. 27. 38 Charlier (2005), S. 131. 39 Krauss (1971), S. 45. 34 35
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suchen. Wir sind in einem blühenden Reich geboren, aber wir waren nicht der Meinung, daß dessen Grenzen auch die unserer Kenntnisse seien und daß nur das Licht des Orients uns erleuchten dürfe. 40
Der Wissensdurst, das Streben nach Weisheit – Stimulans des Philosophierens – werden als Gründe genannt. Neugier und Wissbegier sind Antriebsmotor der Erzählung. 41 Reisen wird explizit nicht mit reinem Vergnügen assoziiert, sondern – wie bei Montaigne – mit Bildung beziehungsweise dem Ziel der Wissenserweiterung verbunden, für das selbst Privilegien wie Wohlstand aufgegeben werden. Usbek und Rica unternehmen eine Bildungsreise nach Europa. 42 Zugleich kommen Montesquieus Kulturrelativismus und ein gewisser erkenntnistheoretischer Perspektivismus zum Vorschein, wenn Usbek die Ansicht vertritt, die Grenzen seines Landes seien nicht die Grenzen der Erkenntnis. Diese Kritik an einem Weltbild, das den eigenen, vertrauten Standpunkt – hier den des Orients – höherstuft als den des Anderen und Fremden, bereitet gleichsam umgekehrt die aufklärerische Kritik am Eurozentrismus vor. Wissen anzustreben, bedeutet für Usbek, »Öffnung nach außen und vor allem die Weigerung, der Autorität der einzigen ›Kultur‹ des Geburtslandes unterworfen zu bleiben« 43, so Starobinski. Im Zuge dessen betont auch er, dass es unangemessen wäre, Montesquieu einen Eurozentrismus zu unterstellen. Montesquieu möchte vielmehr den französischen Leser seinerseits dazu bewegen, den gleichen Prozess zu vollziehen. Dieses methodische Vorgehen ist bezeichnend für die Lettres persanes. Indem Frankreich durch die ›persische Brille‹ betrachtet wird, durchbricht Montesquieu die eindeutige Klassifizierung und Zuordnung des Eigenen und Fremden: »An die Stelle der frankozentristischen Perspektive tritt für den Leser eine, wenngleich fiktive, fremde Perspektive, die das Eigene als das Fremde beschreibt.« 44
Montesquieu (2017), S. 13. In Brief 8 spricht Usbek über den vermeintlich wahren Grund seiner Reise und gibt an, zu viele Feinde am Hof in der Heimat zu haben. Die Begeisterung für die Wissenschaft habe er nur vorgeschoben, allerdings hätte er diese Neugier im Laufe der Zeit tatsächlich entwickelt. Siehe Montesquieu (2017), S. 22. Vgl. ferner Schmidt (2016), S. 537. 42 Vgl. Schmidt (2016), S. 544. 43 Starobinski (1990), S. 116. 44 Schmidt (2016), S. 588. 40 41
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Usbeks Neugier für die Wissenschaft – in welcher der Philosoph Montesquieu hervortritt – kommt im 48. Brief exemplarisch zum Ausdruck. Dort wird Bildung im Zuge des Reisens mit einem SichEinlassen auf Neues und Unbekanntes sowie einem Interesse für alle Bereiche des, vor allem gesellschaftlichen, Lebens assoziiert: Wer sich bilden möchte, ist nie müßig; so bin ich ständig beschäftigt […]. Ich verbringe meine Zeit mit Beobachtungen und notiere am Abend, was ich tagsüber bemerkt habe. Mich interessiert einfach alles, und alles versetzt mich in Erstaunen; ich bin ein Kind, auf dessen noch zarte Sinnesorgane auch die geringsten Dinge einen lebhaften Eindruck machen. 45
Das entspricht der Absicht, die eigene Heimat zu verlassen, um neues Wissen zu erlangen. Dafür muss Bereitschaft signalisiert werden, sich gegenüber der fremden Kultur zu öffnen. Hier spricht der Weltbürger Montesquieu, der zu seiner Zeit einer der am wenigsten nationalistischen Denker war. Seine weltbürgerliche Haltung sticht auch in den posthum erschienenen Gedanken hervor: »Wenn ich in fremde Länder gereist bin, habe ich mich ihnen zugewandt wie meinem eigenen Wohl.« 46 Die gemachten Erfahrungen sind derart prägend und grundlegend neuartig für Usbek und Rica, dass sie mit den Eindrücken eines Kindes, das bestimmte Dinge zum ersten Mal erlebt, verglichen werden. Diese Eindrücke stehen im Zentrum der Briefe und werden in unzähligen Passagen anhand von Begegnungen mit Einheimischen detailaffin beschrieben. Nach ihrer Ankunft in Italien und kurz vor der Weiterreise nach Paris berichtet Usbek seinem Freund Ibben: Für einen Mohammedaner ist es ein großartiges Schauspiel, zum ersten Mal eine christliche Stadt zu sehen. Ich meine nicht die Dinge, die jedem zuerst in die Augen fallen, wie den Unterschied bei den Gebäuden, bei der Kleidung, bei den wichtigsten Gebräuchen. Bis in die geringsten Kleinigkeiten gibt es da etwas Besonderes, das ich zwar spüre, aber nicht ausdrücken kann. 47
Hierin kann einer der Gründe gesehen werden, warum Montesquieu sich für die Form des Briefromans entschieden und seine Gedanken Montesquieu (2017), S. 88. Montesquieu (2000), S. 62. Siehe auch Brief 67: »In allen Ländern, in denen ich war, habe ich so gelebt, als müßte ich dort mein Dasein verbringen.« Montesquieu (2017), S. 126. 47 Montesquieu (2017), S. 49. 45 46
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nicht in die direkte Form einer philosophischen Abhandlung gebracht hat. Indem er auf das literarische Genre des Briefes zurückgreift und mit den beiden Persern Fremde zu Beobachtern macht, werden die im Briefwechsel enthaltenen Schilderungen und Ideen zu solchen, die zum ersten Mal erfahren und geäußert werden. Sie erhalten den Anschein des Neuen, der sich im Rahmen eines nüchternen moralphilosophischen Traktats in dieser Prägnanz nicht hätte erzeugen lassen. 48 Die Erlebnisse sind derart einschneidend und neu, dass die Verfasser der Briefe an die Grenzen der Mitteilbarkeit stoßen. Im Zentrum stehen die Ereignisse in Paris. Wichtiger als die Rahmenhandlung des romanesken Werks (Haremsgeschichte und Liebschaften) sind »die Sittenbilder der Pariser Gesellschaft des beginnenden 18. Jahrhunderts, die Montesquieu mit viel beißendem Spott und wissenschaftlichem Ernst zu Tage fördert.« 49 Somit begegnen dem heutigen Lesepublikum nicht nur aufklärerische Motive, sondern ihm wird zugleich ein Einblick in das Paris der 1710er Jahre geboten – und das aus der Sicht eines fremden Kulturkreises. Am Beispiel Paris nimmt Montesquieu die Möglichkeit wahr, Bräuche und Sitten des christlichen Abendlandes einem kritischen Blick zu unterziehen, »seine [eigenen] Vorstellungen deutlich zu machen, und auf d[ies]en Ideen der Frühaufklärung beruhte in erster Linie der Erfolg der Persischen Briefe.« 50 Durch den Blick des Fremden werden die Bräuche der Pariser Gesellschaft zunächst relativiert; zugleich findet eine kritische Betrachtung der Verhaltensweisen der persischen Bevölkerung durch Usbek und Rica selbst statt: »Aus dieser wechselseitigen Relativierung von Ost und West entsteht der positive Ansatz der Vernunft« 51, so Schunck. Dass Paris in den Mittelpunkt der Reiseberichte rückt, ist keinesfalls überraschend, war es doch das kulturelle und politische Zentrum Europas. Usbek und Rica begeben sich nach ihrer Ankunft in Europa auf schnellstem Wege nach Paris, »dem Herrschersitz des europäischen Reiches« 52. Zudem suchen Reisende immer große Städte auf, »die für alle Fremden eine Art gemeinsamer Heimat darstellen.« 53 Das Motiv einer Heimat in der Fremde entspricht dem Verlangen 48 49 50 51 52 53
Vgl. Starobinski (1990), S. 106. Rattner; Danzer (2006), S. 99. Schunck (2017), S. 363. Ibid., S. 364. Montesquieu (2017), S. 49. Ibid.
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des Menschen, selbst fernab des eigenen Landes Orientierung und Halt zu suchen. Dass die Fremden in Gestalt zweier Personen aus dem Orient auftreten, ist ebenso naheliegend, waren damals ein gewisser Orientalismus und eine Neugier für diesen Kulturkreis in Mode, was durch die kurze Zeit vor den Persischen Briefen erschienene Übersetzung der Märchen aus 1001 Nacht noch einmal forciert wurde. En passant sei erwähnt, dass Montesquieu bei den Schilderungen der Fremdheit nicht nur auf Berichte anderer zu den Ländern des Orients zurückgreifen muss, um im Anschluss das den Bewohnern dieser Länder Unbekannte authentisch darstellen zu können. Zwar hat Montesquieu ein umfangreiches Quellenstudium betrieben, er kann jedoch zusätzlich auf eigene Erfahrungen des Gefühls der Fremdheit rekurrieren. Er war selbst ein Fremder, als er 1709 zwecks seiner juristischen Karriere von Bordeaux nach Paris kam, wo er später ein mondänes Leben führte. 54 Es ist davon auszugehen, dass die Idee zu den Perserbriefen auf Montesquieus Paris-Aufenthalte der Winter 1716 und 1717 zurückgeht. 55 Seine persönlichen Erlebnisse schlagen sich insbesondere in der Kritik am französischen Zentralismus nieder. 56 So heißt es in Brief 99: »Der Fürst prägt den Hof durch seine Geistesart, der Hof prägt ebenso Paris und Paris die Provinz. Die Seele des Herrschers ist eine Modellform, die alle anderen Seelen prägt.« 57 In seinen Pensées notiert Montesquieu: »C’est la capitale qui, surtout, fait les mœurs des peuples; c’est Paris qui fait les François.« 58 Bevor wir uns eingehender den Berichten der beiden Perser widmen, sei eine Anmerkung zum methodischen Vorgehen der Lettres persanes vorangeschickt. Wie Starobinski bemerkt, bleiben die Individuen der westlichen Zivilisation, denen Usbek und Rica begegnen, anonym und werden nicht namentlich genannt: »Offensichtlich wollte Montesquieu seinen Persern ein fast ausschließliches Interesse an den in der Hauptstadt zu beobachtenden Gruppen und Unter-
Vgl. Schmidt (2016), S. 444. »Die Thematik des Fremdseins der Orientalen läßt sich bestens mit den Kontakten des Provinzbewohners zur Hauptstadt in Zusammenhang bringen«, so Desgraves (1992), S. 109. 55 Vgl. Stewart (2013). Auf die Verarbeitung persönlicher Elemente in den Perserbriefen geht Barrière (1951) minuziös ein. 56 Vgl. Charlier (2005), S. 136. 57 Montesquieu (2017), S. 185. 58 Montesquieu (1949), S. 1332. 54
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gruppen zuschreiben.« 59 Dies würde dem aufklärerischen Impetus, das gesamtgesellschaftliche Gebilde einem kritisch-prüfenden Blick zu unterziehen, entsprechen. Dem korreliert Montesquieus Bekenntnis im Vorwort zu De l’Esprit des Lois, ihm sei es zuerst darum gegangen, die Menschen in der unendlichen Vielfalt der Gesetze und Sitten zu analysieren. 60 Hier philosophiert Montesquieu in der Tradition der französischen Moralistik, 61 die nicht präskriptiv verfährt, sondern deskriptiv kritisch auf bestehende Tugenden schaut. Anliegen der Persischen Briefe ist es nicht, die Untugenden Einzelner zu tadeln, sondern die gesamtgesellschaftlichen Ursprünge der menschlichen Laster zu entlarven. 62 Somit wird dem zeitgenössischen Lesepublikum der erste Eindruck vermittelt, den Fremde bei der Begegnung mit der französischen Kultur erleben, 63 wodurch das Bizarre mancher, bis dahin unhinterfragter, kultureller Praktiken verstärkt zum Vorschein tritt. Durch Montesquieus Perspektive auf die Sozietät als Ganze rückt auch das persönliche Ich in den Hintergrund. Seine ironische Betrachtung der sozialen Verhaltensweisen kann als eine nach außen gewandte Ironie typisiert werden, die sich von der introvertierten Ironie der Romantik unterscheidet. 64 Zudem ist bereits darauf hinzuweisen, dass die Briefe keine einseitige Kritik der westlichen Gesellschaft zeichnen, sondern Usbek und Rica durch die Begegnung mit dem Neuen ihrerseits zum Hinterfragen der eigenen Sitten ihrer Heimat animiert werden. Dies geschieht unter anderem Starobinski (1990), S. 108. »Zunächst habe ich die Menschen erforscht. Ich ging davon aus, daß sie sich bei der Einführung der endlosen Vielfalt von Gesetzen und Sitten nicht einzig und allein von ihren Launen leiten ließen. Ich habe Prinzipien aufgestellt, und die Einzelfälle ordneten sich mir wie von selbst darunter ein«, so Montesquieu (2019), S. 91. 61 Ob Montesquieu selbst zu den französischen Moralisten zu zählen ist, wurde kontrovers diskutiert und wäre gesondert zu untersuchen. Bezugnehmend auf die Persischen Briefe erläutert Dornier (2013): »Avec les Lettres persanes, Montesquieu s’inscrit dans la lignée des moralistes, observateurs critiques de la société et stylistes donnant forme au renouvellement d’un regard sur les mœurs et à une pensée en exercice qui ne se laisse pas prendre dans les schémas préétablis d’une composition imposée par le choix d’un genre.« 62 Vgl. Rattner; Danzer (2006), S. 100. 63 Vgl. ibid., S. 109. 64 Das bemerkt Starobinski (1991), S. 63: »Montesquieu betrachtet die Welt, beobachtet sein Land; ein in sich reflektiertes Bewußtsein ist er nicht.« Zu relativieren ist dies in der Hinsicht, dass die Beobachtung der Gesellschaft auch die eigene Haltung und Persönlichkeit verändern kann. Das wurde anhand von Montaigne deutlich, bei dem die Betrachtung des Fremden zum Spiegel des eigenen Selbst wird. 59 60
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vermittels der auf Furcht basierenden Herrschaft im Harem, die mit dem politischen Despotismus Frankreichs verglichen wird. Das doppelte Programm der Briefe besteht darin, Kritik an den Gegebenheiten in Paris zu üben; dies geschieht durch Protagonisten, die als aufklärerische Sprachrohre agieren, selbst aber einem fremden und voraufklärerischen Kulturkreis angehören. 65 Das zeigt, dass auch die Perspektive des Kritikers eine relative und keine normative ist. 66
Paris aus Sicht der Perser: das Eigene im Fremden gespiegelt Das Eigene im Fremden zu spiegeln, darin besteht der Kern des aufklärerischen Bemühens der Persischen Briefe. Unstimmigkeiten und Widersprüche in den eigenen Verhaltensweisen, die den Franzosen selbst ansonsten verborgen geblieben wären, können nun offengelegt werden. Die persische Maske Usbeks und Ricas fungiert als Reagenz; einmal von den Fremden einem prüfenden Blick unterzogen, erscheinen die eigenen Bräuche und Sitten plötzlich fragwürdig. 67 Durch die Augen der beiden Perser bekommen die Pariser ihre Stadt so zu Gesicht, wie sie selbst eine fremde Stadt erkunden würden. 68 Roger Caillois typisiert die Perserbriefe als Montesquieus eigene »révolution sociologique« 69, welche die Lesenden in die Lage versetzen soll, eine solche ihrerseits zu vollziehen. Das Genre des Briefromans schafft dazu die nötigen Bedingungen: Indem die Reflexion in den Rahmen der Fiktion und eine Perspektive des Fremden eingebettet ist, kann die Ambiguität der französischen Gesellschaft thematisiert werden. 70 Aus der Sicht eines Landsmannes hätte sie in einer solchen Radikalität nicht zutage gefördert werden können. Vgl. Charlier (2005), S. 132. Vgl. Rieger (2006), S. 231. Starobinski hebt hervor, wie die persische Maskierung die eigenen und letztlich alle Lebensweisen als relativ herausstellt. Vgl. Starobinski (1991), S. 59–62. 67 Vgl. Starobinski (1991), S. 61. 68 »En inventant ces Persans qui viennent à Paris, Montesquieu force tous les Parisiens à voir leur ville et leur vie comme ils auraient vu Isfahan et la vie des Persans.« Caillois (1949), S. XIV. »Von den verschiedenen Völkern Europas rede ich wie von den verschiedenen Völkern Madagaskars.« Montesquieu (2000), S. 115. 69 Caillois (1949), S. XIII. Unter der ›soziologischen Revolution‹ wird hier der gedankliche Kniff verstanden, sich in die Lage hineinzuversetzen und so zu tun, als ob die eigene Kultur einem fremd wäre. 70 Vgl. Schmidt (2016), S. 549. 65 66
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Bei seiner Ankunft zeigt sich Rica überwältigt von der Größe und Bevölkerungsdichte von Paris, die damals die bevölkerungsreichste Stadt Europas war. Dort befänden sich Häuser, die so hoch seien, als würden sie von Sternenforschern bewohnt – ein Bild, das Montesquieu aus Maranas heute eher unbekanntem Briefroman Der türkische Spion übernimmt –, und ein Gedränge in den Straßen sowie Hektik dominieren das Stadtbild, wenngleich Rica zu Beginn dieses ersten Briefes aus Paris Ibben gesteht: »Du sollst nicht meinen, daß ich Dir jetzt schon gründlich berichten könnte über die Sitten und Gewohnheiten der Europäer. Ich habe selbst erst eine schwache Vorstellung davon und habe noch kaum die Zeit gefunden, mich darüber zu wundern.« 71 Es sollen keine ad-hoc-Urteile gefällt, vielmehr soll sich mit der fremden Kultur eingehender vertraut gemacht werden. Von dem Vorgehen, sich zunächst einen groben Überblick zu verschaffen und im Anschluss daran Einzelstudien vorzunehmen, zeugen die nun folgenden Berichte. Das ist eine Vorgehensweise, die Montesquieu selbst auf seinen Reisen anwandte: »Quand j’arrive dans une ville, je vais toujours sur le plus haut clocher ou la plus haute tour, pour voir le tout ensemble, avant de voir les parties; et, en quittant, je fais de même, pour fixer mes idées« 72, wie er in Voyage de Gratz à la Haye ausführt. Bereits bei Montaigne waren wesentliche Kriterien der Bildungsreise das Sich-Öffnen für sowie Sich-Einlassen auf Neues und dessen gründliches Studium. Anknüpfend an diese Schilderungen primär äußerlicher Gegebenheiten, kommt Rica auf die Herrschaft Ludwig des XIV. zu sprechen, dessen Despotismus in den Lettres persanes wiederholt kritisiert wird. Generell liegt in den Briefen ein Schwerpunkt auf politischen Themen und der Darstellung gesellschaftlicher Verhaltensmuster. Werfen wir exemplarisch einen Blick in den 24. Brief. Der König von Frankreich – gemeint ist Louis XIV., der, wie alle Persönlichkeiten der westlichen Welt, nicht namentlich genannt wird, – wird als »mächtigste[r] Fürst Europas« beschrieben: »Dieser König ist übrigens ein großer Zauberer, denn er übt seine Herrschaft sogar über den Geist seiner Untertanen aus; er läßt sie so denken, wie er es wünscht.« 73 Für Montesquieu, der eine parlamentarische Monarchie nach englischem Vorbild favorisiert, ist die absolute Monarchie eine 71 72 73
Montesquieu (2017), S. 50 f. Montesquieu (1949), S. 671. Montesquieu (2017), S. 51.
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despotische Regierungsform, welche den Individuen keinerlei Freiheiten lässt und daher strikt abzulehnen ist. An diese Kritik anschließend nimmt Montesquieu Bezug auf das 1706 eingeführte Papiergeld, das der Finanzierung von Kriegen diente: »Wenn er [der König] einen schwierigen Krieg führen muß und kein Geld hat, so muß er ihnen nur die Vorstellung in den Kopf setzen, ein Stück Papier sei Geld, und sie sind sofort davon überzeugt.« 74 Auf diese erste Kritik an der absoluten Monarchie und der mit ihr einhergehenden uneingeschränkten Macht und Willkür des Königs folgt eine erste Religionskritik. Jene richtet sich zuvorderst gegen das institutionalisierte Christentum und dessen Anspruch, die einzig wahre Religion zu vertreten. Es gebe, so berichtet Rica, einen noch mächtigeren Zauberer als den König, und dieser werde Papst genannt. In Analogie zur Einführung des Papiergeldes werden die Eucharistie und die Trinitätslehre einer sarkastischen Kritik unterzogen: »Er läßt ihn glauben, daß drei nur eins, daß das Brot, das man ißt, kein Brot oder der Wein, den man trinkt, kein Wein sei, und tausend andere Dinge dieser Art.« 75 Im weiteren Verlauf des Briefwechsels finden sich Vergleiche von Christentum und Islam, die als ein frühes Plädoyer für religiöse Toleranz und Vielfalt gelten können. So beschreibt Usbek, wie er auf verblüffende Gemeinsamkeiten gestoßen ist, die auf das Judentum als gemeinsamen Ursprung schließen lassen, und fragt seinen Briefpartner: »[M]einst Du, daß Gott sie [die Nicht-Muslime] bestraft, weil sie eine Religion nicht ausübten, die er sie nicht kennenlernen ließ?« 76 An anderen Stellen werden darüber hinaus Argumente für den Nutzen mehrerer Religionen in einem Staate dargelegt. 77 In diesem Sinne spiegeln die Briefe eine antiklerikale und skeptische Einstellung wider, wie sie typisch für die Pariser Salons der damaligen Zeit ist. 78 Doch kommen wir zunächst zu Usbeks und Ricas Eindrücken von Paris zurück. Dem Versprechen Ricas, detailliert von den Gewohnheiten der Pariser Gesellschaft zu berichten, welches er zum Ende des ersten Briefs aus Paris gibt, kommen beide Protagonisten in unzähligen Berichten nach: »Ich werde Dir auch weiterhin schreiben und Dir Dinge berichten, die der Eigenart und dem Wesen der
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Ibid. Ibid. Ibid., S. 69 f. So z. B. in Brief 85, siehe Montesquieu (2017), S. 161–163. Vgl. Ottmann (2006), S. 435.
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Perser sehr fremd sind. Zwar ist es dieselbe Erde, die uns beide trägt, aber die Menschen des Landes, in dem ich lebe, und des Landes, wo Du lebst, sind sehr verschieden« 79. Die hier getroffene Auswahl ist demnach zwangsläufig selektiv. Zum Abschluss unserer Überlegungen soll unter der Kennzeichnung Montesquieus als ›Soziologe der Differenz‹ auf seinen Kulturrelativismus eingegangen werden. Polemisch-sarkastische Kritik erfahren weitere Pariser Institutionen, wie die Académie française oder die Universität Sorbonne. Zur Académie, die sich der Pflege der französischen Sprache und Dichtung verpflichtet hat und der Montesquieu ab 1727 selbst angehörte, 80 heißt es: »Die Mitglieder […] haben nichts anderes zu tun, als ständig zu schwatzen. Lobreden mischen sich wie von selbst in ihr ewiges Gewäsch, und sobald sie einmal in seine Geheimnisse eingeweiht sind, werden sie von der Sucht nach Lobeshymnen gepackt« 81. In Bezug auf seine Heimat Persien merkt Rica dazu an: »Wir denken nicht an solche merkwürdigen und sonderbaren Einrichtungen, denn wir suchen immer in unseren einfachen Sitten und unseren schlichten Gewohnheiten die Natur.« 82 Bis hierhin zeigt sich, dass das thematische Spektrum der Briefe von banalsten Alltagssituationen bis hin zu philosophischen Reflexionen reicht, wenngleich die Anordnung keinesfalls systematisch erfolgt, sondern die Geschehnisse den Adressaten sprunghaft und je nach dem gerade zuvor unmittelbar Erlebten mitgeteilt werden. So wird den Lesenden der Eindruck vermittelt, an den Erlebnissen direkt teilzuhaben. Die geschilderten Ereignisse sind entsprechend der Wahrnehmung der Reisenden selektiv und kontingent – dem trägt die Form der Darstellung Rechnung: »Es werden Einzeleindrücke über die europäischen Sitten gesammelt und diese jeweils als einzelne Details wiedergegeben, was einer fragmentarischen Darstellungsweise entspricht« 83, so Schmidt. Die satirische und polemische Schilderung der sozialen Stände nimmt dabei einen großen Raum ein. So werden die Sitten der einzelnen Stände, das Montesquieu (2017), S. 53. »Montesquieu begehrte damals dringend, in die französische Akademie aufgenommen zu werden. Würde er ihr nun in den Perserbriefen schmeicheln und sich ihr andienen? Das hätte seinem Autorenstolz widersprochen«, so Rattner; Danzer (2006), S. 100. 81 Montesquieu (2017), S. 142. 82 Ibid., S. 143. 83 Schmidt (2016), S. 552. »So wird dem Leser das Gefühl gegeben, an der vie de la pensée der Briefeschreiber teilzuhaben.« Ibid., S. 580. 79 80
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Salonleben samt den Kaffeehäusern, die Neugier der Einwohner und die Stellung der Mode besprochen. Im 18. Jahrhundert etablierten sich die sogenannten Pariser Salons, die dem freien Ideen- und Meinungsaustausch ungeachtet der Schranken von Klasse, Geschlecht und Zäsur dienten und Gedanken der Aufklärung beflügelten. Philosophen und Enzyklopädisten wie Diderot, D’Alembert, D’Holbach, Voltaire und auch Montesquieu verkehrten in den Salons und bereiteten dort den Nährboden für die Französische Revolution. Geschützt vor den Zäsur-Apparaten des Staates konnte ein freier Meinungsaustausch praktiziert werden. Die Salons wurden in privaten Räumlichkeiten veranstaltet und die Gäste wohlüberlegt ausgewählt; zudem verpflichteten sich die Veranstalter zur Verschwiegenheit. Meist lagen die Salons in unmittelbarer Nähe zueinander, und auch der zeitliche Ablauf war so aufeinander abgestimmt, dass nahezu an jedem Wochentag ein anderer Salon besucht werden konnte. Damit begann eine Tradition französischer Philosophie insgesamt, nämlich das Philosophieren selbst in Teile der Öffentlichkeit zu verlegen, die bis in den Existenzialismus und damit in das 20. Jahrhundert hinein andauerte. In Brief 36 wird polemisch auf diese Tendenz rekurriert und augenscheinlich auf das berühmte Café Procope angespielt. Es war das erste Kaffeehaus in Paris und Treffpunkt der philosophes des Lumières. »In Paris wird sehr viel Kaffee getrunken«, so Usbek, »es gibt viele öffentliche Häuser, in denen man ihn ausschenkt. […] In einem von ihnen wird der Kaffee so zubereitet, daß er denen, die ihn trinken, Geist verleiht; jedenfalls meinen alle, die das Haus verlassen, daß sie viermal mehr davon besitzen als beim Hineingehen.« 84 Bei aller Sympathie für diese Orte übt der vernunftorientierte Usbek Kritik. Er sei Zeuge einer Literaturdebatte über eine belanglose Sache geworden, die schließlich in einen heftigen Streit mündete – allem Anschein nach nimmt Montesquieu hier Bezug auf die »Quérelle des Anciens et des Modernes«. Interessanterweise kommt an dieser Stelle in Usbek eines der alter ego Montesquieus zum Vorschein. Dazu ist anzumerken, dass Usbek und Rica jeweils zwei Charaktere Montesquieus abbilden: Usbek den ernsthaften Juristen und vernunftorientierten Philosophen; Rica den galanten Spötter der Salons 85 – so beschreibt Blom Montesquieu als den »wun-
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Montesquieu (2017), S. 71. Vgl. Schunck (2017), S. 361.
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derbar urbanen Charles de Montesquieu« 86. Charles Dédéyan erkennt in Rica zuallererst den jungen Montesquieu, der aus der südfranzösischen Provinz nach Paris kommt, und in Usbek den reiferen Montesquieu späterer Jahre: »Rica et Usbek sont deux aspects, deux phases de Montesquieu. Mieux que des porte-parole, ils forment l’alibi persan, représentant l’évasion dans le déguisement, le rêve oriental et le rêve philosophique dans une société en mouvement.« 87 Ausführlich wird die Neugier der Pariser Bevölkerung gegenüber den orientalischen Fremden beschrieben. Sie entspricht einer rein naiven, oberflächlichen Neugier, die sich lediglich um das Aussehen der Perser dreht. Allein die Tatsache, dass sie aus Persien stammen, versetzt die Franzosen in blankes Erstaunen: »Ah, der Herr kommt aus Persien? Das ist ja ganz ungewöhnlich! Wie kann man denn Perser sein?« 88 Wie Rica bemerkt, erstreckt sich diese Neugier bloß auf sein Äußeres: Die Einwohner von Paris sind neugierig bis zur Extravaganz. Bei meiner Ankunft hat man mich angesehen, als wäre ich ein Abgesandter des Himmels […]. Ich mußte manchmal lächeln, wenn ich hörte, wie Leute, die fast nie aus ihrem Zimmer gekommen waren, zueinander sagten: »Man muß zugeben, daß er sehr persisch aussieht.« 89
Daraufhin beschloss er, seine persische Kleidung gegen europäische Gewänder einzutauschen, und die ihm geschenkte Aufmerksamkeit war augenblicklich dahin. Hier wird die Oberflächlichkeit einer Gesellschaft enttarnt, welche dem ersten, äußeren Eindruck zu viel Gewicht beimisst. Das Wesentliche, wie zum Beispiel der Unterschied hinsichtlich der kulturellen Bräuche oder der politischen Ansichten, scheint kein Interesse zu wecken. Das Fremde evoziert demnach nicht per se die Neugier der Menschen, was als Warnung davor zu verstehen ist, die Dinge nur an der Oberfläche zu betrachten und Vorurteilen allzu schnell zu unterliegen. Die Menschen von ihren Vorurteilen zu befreien, formuliert Montesquieu noch in Vom Geist der Gesetze als eines seiner zentralen Anliegen. 90
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Blom (2020), S. 40. Dédéyan (1988), S. 147. Montesquieu (2017), S. 64. Ibid., S. 63. Siehe Montesquieu (2019), S. 92.
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Das Reisemotiv in der literarischen Philosophie der französischen Aufklärung
Montesquieu: ein ›Soziologe der Differenz‹ Das Hauptaugenmerk richten Usbek und Rica auf die politischen Systeme der von ihnen bereisten Länder. Hier kommt die Person Montesquieu, die vor allem während des Englandaufenthalts an dem dortigen politischen System Gefallen fand, hinter dem Denker zum Vorschein. Somit ist es nicht verwunderlich, dass in den Lettres persanes Motive aus De L’Esprit des Lois im literarischen Gewand vorweggenommen werden. Dabei geht Montesquieu äußerst differenziert vor. Weder wird die Regierungsform des fremden Kulturkreises unisono positiv beschrieben noch die Herrschaftsform des eigenen Landes unkritisch als vermeintlich ›beste‹ dargestellt. Zu sehr weiß er sich qua seines Kulturrelativismus dem Toleranzgedanken verpflichtet. Im folgenden Bekenntnis aus Mes Pensées zeigt sich der Beitrag, den das Reisen zur politischen Bildung zu leisten vermag: »Ich werde es immer bereuen, daß ich nach der Rückkehr von meinen Reisen keinen Posten für auswärtige Angelegenheiten angestrebt habe.« 91 Darüber hinaus erfolgt auf zweiter Ebene eine Reflexion darüber, wie sich fremde Regierungsformen in der Heimat realisieren ließen. Montesquieu ist sich bewusst, dass solche Systeme nicht eins zu eins übernommen werden können – er weiß um die soziokulturellen Unterschiede. Lacouture beschreibt Montesquieu so treffend als »Soziologen der Differenz« 92 – und zwar in zweifacher Hinsicht: (1) Seine Suche nach Aufklärung bestehe nicht nur im Aufzeigen der Laster, die Schatten auf die christliche Gesellschaft werfen, sondern gleichermaßen im Anzeigen der Tugenden anderer Sozietäten. (2) Die Reisenden amüsierten sich nicht nur über die Bräuche der Pariser, sie verkörperten ihrerseits eine Gesellschaft, die ebenfalls positive wie negative Gepflogenheiten in sich berge. 93 Montesquieu, wie Montaigne selbst ein erfahrener Reisender, dokumentiert die Fähigkeit, sich zu einer vergleichenden Soziologie aufzuschwingen. 94 Das Vergleichen ist ein zentrales Vermögen der Seele, und Dinge gegeneinander abwägen zu können ist Ausdruck einer Leistungsfähigkeit der Vernunft. 95 Er möchte die politischen Systeme, die er auf seinen Rei-
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Montesquieu (2000), S. 249. Lacouture (2005), S. 28. Vgl. ibid. Vgl. ibid., S. 29. »La faculté principale de l’âme est de comparer«. Montesquieu (1951), S. 54.
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sen kennenlernt, keineswegs identisch in seiner Heimat umsetzen. Abstrakte Systeme müssen an die soziokulturellen Gegebenheiten angepasst werden. Das englische System trifft bei ihm zwar auf Zuspruch, aber er folgt dem Gedanken, »das jeweilige geistige und materielle Klima liege allen menschlichen Institutionen zugrunde; daher wäre etwas, das an den Ufern der Themse taugt, womöglich an der Seine ebenso untauglich wie die Lebensregeln der Perser für die Gascogner.« 96 In Brief 80 berichtet Usbek von der Vielzahl an Regierungsformen, der er in Europa begegnet ist. Welche ist nun die vollkommene Regierungsform? Hier fragt das alter ego des ›Vernunftmenschen‹ Montesquieu: Ich habe mir oft Gedanken gemacht, welche Art der Regierung am ehesten der Vernunft entspricht, und bin zu dem Schluß gelangt, daß diejenige am vollkommensten ist, die ihr Ziel mit dem geringsten Aufwand erreicht. Die vollkommenste ist also diejenige, die die Menschen so führt, wie es am ehesten ihren Neigungen und Vorlieben entspricht. 97
Hierbei handelt es sich um eine formale Bestimmung, die inhaltliche Ausgestaltung kann variieren: »Wenn sich das Volk einer milden Regierung ebenso unterwirft wie einer strengeren, so ist erstere vorzuziehen, weil sie eher der Vernunft entspricht und Strenge ein fremdartiger Beweggrund ist.« 98 Zum einen konfrontiert uns Montesquieu mit einem liberalen Denken, da eine milde Regierung den Vorzug erhält. Zwischen einer auf Freiheit sowie Gleichheit der Individuen basierenden Gesellschaft und dem Wohlstand der Bevölkerung bestehe ein Wechselverhältnis: »Die Gleichheit der Bürger selbst, die im allgemeinen auch zu gleichen Vermögensverhältnissen führt, bringt allen Teilen des politischen Körpers Wohlstand und Leben« 99. Sowohl für den Staat als auch für die einzelnen in ihm lebenden Individuen ist eine liberale Herrschaftsform vorteilhaft – eine Position, die Montesquieu zum Vordenker des modernen Liberalismus macht. 100 Zum anderen kommt der Kulturrelativismus MontesLacouture (2005), S. 30. Montesquieu (2017), S. 154. 98 Ibid. 99 Ibid., S. 226. 100 Rattner; Danzer (2006), S. 106 halten dazu fest: »Eine verfassungsmäßige Ordnung ist nur dann wertvoll, wenn sie die freie Selbstentfaltung des Individuums ga96 97
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Das Reisemotiv in der literarischen Philosophie der französischen Aufklärung
quieus in aller Prägnanz zum Ausdruck – ein genuiner Topos der Aufklärung, den die Essais Montaignes vorbereiten. Veranschaulicht wird dieser Standpunkt im 80. Brief anhand der Diskussion um angemessene Strafmaße. Unterschiedliche Kulturkreise erfordern unterschiedliche Maßnahmen der Bestrafung: Menschen verbinden mit einem bestimmten Grad von Strafe einen bestimmten Grad von Furcht, und jeder empfindet sie auf seine Art: Die Verzweiflung über die Schande macht einen Franzosen untröstlich, auch wenn er nur zu einer Strafe verurteilt wurde, die einem Türken keine Viertelstunde Schlaf rauben würde. 101
Die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sollen nach Montesquieu stets die Vernunft und die Erfahrung, nicht aber die Vorsehung sein. 102 Erfahrungen dienen ihm, wie Montaigne, als primäre Wissensquelle, 103 die nach Kriterien der Ratio zu beurteilen und einzuordnen sind. Dieses Vernunftparadigma findet ebenso bei der Bewertung der Religionen Anwendung. Sowohl bei Rica als auch bei Usbek ist eine Abkehr vom Aberglauben hin zum Rationalismus im Laufe des Briefromans zu erkennen: »[S]tatt sich auf die Vernunft zu verlassen, schaffen sie [die Menschen] sich Ungeheuer, von denen sie eingeschüchtert werden, oder Trugbilder, von denen sie sich verführen lassen« 104, so Rica. Ganz im Duktus des neuzeitlichen Rationalismus der Aufklärung gilt es, zunächst nach natürlichen Ursachen zu suchen, denn, so Rica, »um sicherzustellen, daß eine Wirkung übernatürlich ist, die hunderttausend natürliche Ursachen haben kann, muß zuvor geprüft werden, ob wirklich keine dieser Ursachen gewirkt hat. Und das ist unmöglich!« 105 In der Figur Usbeks, in welcher der vernunftorientierte Charakterzug Montesquieus gespiegelt ist, sind wiederum zwei widerrantiert. Dieser Nachdruck, den unser Autor auf die individuelle Selbstverwirklichung jedes Einzelnen legt, hat ihn zum Stammvater des modernen Liberalismus gemacht.« 101 Montesquieu (2017), S. 154. Diesen Gedanken führt Montesquieu in seinem Hauptwerk ausführlicher aus: »Die unterschiedlichen Bedürfnisse nämlich haben in den unterschiedlichen Klimazonen unterschiedliche Lebensweisen ausgeprägt. Und diese unterschiedlichen Lebensweisen haben die Andersartigkeit der Gesetze veranlaßt.« Montesquieu (2019), S. 269. 102 Vgl. Lacouture (2005), S. 32. 103 Vgl. Schmidt (2016), S. 537. 104 Montesquieu (2017), S. 277. 105 Ibid., S. 278.
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sprüchliche Charaktere vereint: (1) derjenige, der scharfsinnig-kritische Berichte über Frankreich schreibt und den Despotismus der absoluten Monarchie verspottet; (2) derjenige, der selbst einer despotischen Herrschaft in seinem heimischen Harem verhaftet bleibt. Usbek legt demnach Zeugnis davon ab, wie schwer es trotz aller Vernunftorientierung ist, der eigenen soziokulturellen Prägung zu entfliehen. 106 Anhand des sonst so wissbegierigen und vernunftorientierten Usbek zeigt Montesquieu, welche Grenzen die eigene Kultur dem Denken auferlegen kann. Mit Suzanne Gearhart gesprochen, tritt Montesquieu hier als Kulturanthropologe und als ein »Lévi-Strauss before the fact« 107 in Erscheinung. Kultur ist ein Konzept, das die eigene Wahrnehmung maßgebend prägt. 108 Für Rattner und Danzer steht Montesquieu mit seiner vergleichenden Kulturanalyse am Beginn eines Verständnisses der Geisteswissenschaften, die es als ihre Aufgabe ansehen, sich verstehend in andere Kulturkreise hineinzudenken. 109 Montaigne und Montesquieu tauchen ein in das ihnen Unbekannte, und der Briefroman vermag diese vergleichende Soziologie noch einmal zu steigern, indem im Fiktionalen die Perspektive des Fremden in der Heimat eingenommen werden kann. Bemerkenswert ist, dass die sich widersprechenden Charakterzüge Usbeks ihrerseits Ambivalenzen der Person Montesquieu selbst aufzeigen. So erwähnt Starobinski, dass der reisende und ubiquitäre Montesquieu dem seiner provinziellen Heimat verhafteten Montesquieu gegenübersteht: Auf der einen Seite jener freie Geist, der an nichts haftete außer am klaren Bewußtsein des Schauspiels, das die Welt ihm bietet, und auf der anderen jener Krautjunker, der an seinem Land hängt, an seinen Einkünften, und der die von der absoluten Monarchie angetasteten Privilegien seiner Kaste verteidigt. 110
So wie Usbek den politischen Despotismus kritisiert, dabei aber ein Despot im Privaten, im Harem, bleibt, so kritisiert der Philosoph Montesquieu die absolute Monarchie, beharrt jedoch als Privatmann Vgl. Starobinski (1990), S. 124. Usbek bleibt ein Gefangener seiner eigenen Vergangenheit, wie auch Stewart (2013) festhält. 107 Gearhart (1984), S. 107. 108 Vgl. Schmidt (2016), S. 597. 109 Vgl. Rattner; Danzer (2006), S. 105. 110 Starobinski (1991), S. 21 f. Ähnlich bemerkt Laufer (1961), S. 200: »[L]e voyageur dans les pays lointains et dans l’univers de la raison méconnaît sa propre maison et s’ignore lui-même.« 106
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Das Reisemotiv in der literarischen Philosophie der französischen Aufklärung
auf den Adelsprivilegien. Losgelöst davon hat sich dennoch gezeigt, wie differenziert Montesquieu vorgeht und die westlichen und östlichen Kulturkreise einer wechselseitigen Kritik unterzieht und keiner von diesen beiden eine reine Lobpreisung erfährt.
Fazit und Ausblick: Aufklärung, Reisen und Briefroman Zentrales Anliegen der vorangegangenen Ausführungen war es, die Topoi der Aufklärung und des Reisens in Texten literarischer Philosophie zu analysieren und ihre inhaltlichen Verknüpfungen aufzuzeigen. Der Fokus lag auf der französischen Philosophie der Renaissance und Aufklärung. Dass das Reisen bei Montaigne und Montesquieu einen genuin philosophisch-aufklärerischen Anspruch erfüllt, dürfte deutlich geworden sein. Die Reiseberichte münden in ein Plädoyer für Toleranz und Vielfalt in den Bereichen Kultur, Moral, Politik und Religion. In den Lettres persanes wird das Paris zu Beginn des 18. Jahrhunderts zum zentralen Ort einer Romanhandlung. Die Protagonisten zeichnen aus der Perspektive des Fremden ein Bild des europäischen kulturellen und politischen Zentrums. Dadurch kann der Leserin und dem Leser ein differenziertes Bild der vertrauten Bräuche, Sitten und Gepflogenheiten präsentiert werden. In kritischer Reflexion des Eigenen und des Fremden offenbaren sich die Widersprüche sowie Vorzüge beider Kulturen. Manche Schilderungen muten dabei teils so modern an, dass sie auch das heutige Lesepublikum noch in ihren Bann ziehen. Dass Montesquieu seine aufklärerischen Ideale nicht in Form eines klassischen philosophischen Traktats ausformuliert hat, liegt nur nebensächlich an der Intention, mit der pseudonymen Herausgeberschaft die Zäsur zu umgehen. Vielmehr kann das literarische Genre des Briefromans die philosophischen Ziele der Aufklärung auf eine besonders pointierte Art und Weise explizieren. 1754 schickt Montesquieu der Neuauflage der Persischen Briefe Bemerkungen voran, in denen er selbst über die Spezifika dieses literarischen Genus reflektiert. Er klassifiziert seine Perserbriefe als eine Art Roman und notiert in seinen Gedanken selbstbewusst: »Meine Persischen Briefe lehrten, Romane in Briefform zu verfassen.« 111 Der Briefroman schafft die Voraussetzung, den Lesenden die Leidenschaften der handelnden Personen in aller 111
Montesquieu (2000), S. 266.
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Direktheit spürbar zu machen, da in solchen Werken die augenblickliche Situation selbst geschildert werde. 112 Ein Briefroman unterliege, im Unterschied zum klassischen Roman, keinem wohl strukturierten Plan. Der Verfasser habe so die Freiheit, »philosophische, politische und moralische Gedanken in einen Roman einzufügen und das Ganze durch eine geheime und gewissermaßen unbekannte Kette zu verbinden.« 113 Der Briefform ist es somit zu verdanken, dass der Autor Philosophie, Moral, Religion und Politik eindrucksvoll und unmittelbar in die Handlung einfließen lassen kann. 114 Montesquieu kann diese Themen umso überzeugender und aktueller problematisieren, als die Handlungen seiner Protagonisten in einen realhistorischen Kontext eingebettet sind 115 – wie gesehen finden sich in den Briefen zahlreiche Anspielungen auf historische Ereignisse jener Epoche. Für die zeitgenössischen Lesenden ist das Werk dadurch von höchster Aktualität und sie werden zur Selbstreflexion angeregt. Damit sei jedoch nicht gesagt, dass die Perserbriefe nicht auch für die heutige Leserin und den heutigen Leser ›aktuell‹ sein können, wenngleich auf andere Art und Weise. Indem die reflektierte Gegenüberstellung von Okzident und Orient mit dem Schicksal zweier Romanhelden verbunden wird, gestaltet sich das Werk als ein roman und nicht als ein traité. Durch die Kopplung klassischer Philosopheme der Aufklärung, wie die Widersprüchlichkeit von Vernunft und Sinnlichkeit, an die Erfahrungen der Romanfiguren 116 werden diese für die Lesenden fassbar und anschaulich, da sie in den Erzählhorizont einer fiktiven dramatischen Lebensgeschichte eingebettet werden. Die Unmittelbarkeit des Ausdrucks gibt ihnen das Gefühl, mitzuempfinden und an den Leidenschaften direkt teilzuhaben beziehungsweise beteiligt zu sein. 117 Diese Unmittelbarkeit wird nicht zuletzt dadurch erzeugt, dass in den Briefen die Sicht des jeweiligen Verfassers im Mittelpunkt steht. Eine solche subVgl. Montesquieu (2017), S. 5. Ibid. 114 Vgl. dazu Schmidt (2016), S. 530. 115 »Il prétend en effet renouveler le genre en établissant entre fiction et réalité historique un rapport qui nourrisse l’analyse des relations interindividuelles et de leurs prolongements politiques. Tel est le sens de son recours à la structure épistolaire dans les Lettres persanes«, so Schneider (2013). 116 »Les Lettres sont la première expression littéraire de la contradiction qui a tourmenté tous les philosophes du XVIIIe, la contradiction entre la sensibilité et la raison, entre la tradition et le progrès«, so Laufer (1961), S. 202. 117 Vgl. Stackelberg (1977), S. 295. 112 113
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Das Reisemotiv in der literarischen Philosophie der französischen Aufklärung
jektive Sichtweise wird nicht durch das Kriterium der Aussagewahrheit beurteilt, 118 und so sind die Reiseberichte auf eine literarische Darstellungsform angewiesen, welche zur kritischen Selbst- und Weltreflexion seitens der Leserschaft animiert. Somit wird ein weiteres Paradigma der Aufklärung erfüllt: Die Briefe verwickeln die Leserin und den Leser in ein den Geist anregendes Gespräch und geben den Impuls, mit- und weiterzudenken. 119 Das lässt an den Grund der Reise Usbeks und Ricas zurückdenken. Die beiden verlassen ihre Heimat aufgrund des Strebens nach Wissen und der Einsicht, dass die Grenzen ihres Landes nicht die Grenzen der Erkenntnis sind. Das Lesepublikum soll nun nicht passiv bleiben, sondern sich im wahrsten Sinne des Wortes selbst auf Reisen begeben. Das entspricht Montesquieus Intention, die Menschen nicht »zum Lesen zu bewegen, sondern zum Denken.« 120 Montesquieu wollte über ernsthafte Themen sprechen und dabei einen unterhaltsamen und aufsehenerregenden Ton anschlagen. Im Sinne der Aufklärung sollen Gedanken an die Öffentlichkeit transportiert werden und zur eigenständigen Reflexion animieren. Ein bestimmter Grad an Öffentlichkeitswirksamkeit und Gespür für die praktische Vermittlung philosophischer Einsichten sind essentiell für das Vorhaben der philosophes des Lumières. 121 Die Briefe bleiben in vielerlei Hinsicht offen und erlauben kein abschließendes Urteil, weder über die Meinungen von Usbek und Rica noch über die Position Montesquieus selbst. Diese offene Form nimmt die Leserin und den Leser in die Pflicht, lässt sie oder ihn – wie Montesquieu auf seinen Reisen – zum Beobachtenden und kritisch Prüfenden werden, und erfüllt letztlich eine epistemologische Funktion. 122 Eine aufmerksame Lektüre wird so zumindest zu einer geistigen Reise und steht ganz im Sinne des Aufklärungsgedankens. Insofern Vgl. Schildknecht (1996), S. 201. Vgl. Schmidt (2016), S. 531. 120 Montesquieu (2019), S. 253. Hierzu Schmidt (2016), S. 561: »Die Briefe thematisieren bestimmte Aspekte und machen auf Dinge aufmerksam, aber sie überlassen es häufig dem Leser, sich ein eigenes Bild zu machen. In den LP wird kein einheitliches System propagiert, sondern es bleiben eine Offenheit und Reflexionsraum.« 121 Vgl. hierzu Schmidt (2016), S. 571 und S. 577. 122 Zur erkenntniserweiternden Funktion der Persischen Briefe heißt es bei Schneider 2013: »Enfin en mettant en œuvre des formes éclatées d’écriture, Montesquieu a placé le lecteur dans la position de l’historien, tous deux invités à tirer d’informations disparates un sens cohérent. Par là il prête à cette manière d’écriture romanesque une fonction proprement épistémologique.« 118 119
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ist es kein Defizit der Briefe, vorranging auf der deskriptiven Ebene zu verbleiben, denn das Beschreiben ist immer auch ein Enthüllen und Hinterfragen des Tradierten im Sinne der Moralistik und Aufklärung. Damit haben die Perserbriefe ihre Rolle erfüllt. Hieran anknüpfend lässt sich mit folgenden Worten Jean Starobinskis schließen: »Ihm, Montesquieu, genügt die Lust des Blicks; dem faustischen Menschen hingegen winkt Glück erst in dem Augenblick, da er die Welt verändert haben wird.« 123 Begeben wir uns als heutige Leserinnen und Leser mit Montaigne und Montesquieu auf geistige Reisen!
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Starobinski (1991), S. 37. Ich danke Matthias Ernst Bähr für die kritische Durchsicht des Manuskripts.
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Dennis Sölch
Zur subjektiven Allgemeinheit repräsentativer Lebensentwürfe. Von Kants Ästhetik zu Emersons Ethik. Einleitung Der amerikanische Transzendentalismus repräsentiert in nahezu prototypischer Form eine Weise des Denkens, die sich einer klaren Zuordnung zu Literatur oder Philosophie entzieht. Das gilt nicht nur für die Vielfalt der Intellektuellen, die unter dem sperrigen Label wie eine einheitliche Strömung erscheinen, schon bei geringfügig näherer Betrachtung aber erkennen lassen, dass Interessen und Betätigungsfelder sich über ein erhebliches Spektrum erstrecken. Die heterogene Gruppierung von Theologen, Philosophen, Literaten, Dichtern, Pädagogen, Historikern und Politikern werde, wie bereits Margaret Fuller bekennt, durch »no badge, no creed, no name« 1 zusammengehalten, sondern lässt sich allenfalls durch das gemeinsame Bedürfnis charakterisiern, eine eigene Sprache zu finden, die sich nicht mehr an den europäischen Vorbildern orientiert. Sprache meint hier nicht nur das Vokabular und seine Semantik, sondern gewissermaßen auch die Grammatik, das heißt den Kontext, innerhalb dessen bestimmte Begriffe und Kategorien ihre Legitimation besitzen und ihre Bedeutungen entfalten können. Was Philosophie ist und zu leisten vermag, wird hier ebenso neu verhandelt wie die Frage nach einer eventuellen Demarkationslinie, die eine eindeutige Aufteilung zwischen Methoden und Erkenntnisgegenständen der Philosophie einerseits sowie der Literatur andererseits erlauben würde. Die prekäre Doppelexistenz einer literarischen Philosophie oder philosophischen Literatur betrifft im Falle des amerikanischen Transzendentalismus jedoch nicht nur die irreduzibel plurale Strömung als ganze, sondern auch einzelne Denkerinnen und Denker, die, ungeachtet der Tendenz der Rezeptionsgeschichte zur Festschreibung und Kanonbildung, auch ihr akademisches Lesepublikum im Unklaren darü1
Fuller (1840), S. 2.
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Dennis Sölch
ber lassen, ob ihre Werke denn zur Philosophie oder zur Literatur gehören. So hat etwa die Rezeption von Ralph Waldo Emerson als dem weithin prominentesten Vertreter des amerikanischen Transzendentalismus im 20. Jahrhundert, von wenigen Ausnahmen abgesehen, überwiegend jenseits der akademischen Philosophiediskurse stattgefunden. John Dewey sieht sich bereits 1903 genötigt, eine philosophische Würdigung Emersons anlässlich des einhundertsten Jahrestages von dessen Geburt anhand einer systematischen Zurückweisung des vorherrschenden Urteils zu formulieren, dieser sei zu wenig methodisch, zu inkohärent und zu stark literarisch inkliniert, um als Philosoph gelten zu können. Eine solche Kritik übersehe jedoch, wie Dewey betont, dass es zweifellos unphilosophisch ist, die konkrete Wirklichkeit in distinkte Wissensbereiche zu unterteilen, die der Bearbeitung durch separate Einzeldisziplinen zu übergeben seien. »Looked at in the open, our fences between literature and metaphysics appear petty – signs of an attempt to affix the legalities and formularies of property to the things of the spirit.« 2 Trotz Deweys Plädoyer, Emerson nicht nur als Philosophen ernst zu nehmen, sondern ihn sogar zum Ausgangspunkt einer dringend notwendig erscheinenden Selbsterneuerung der Philosophie zu machen, bleibt die rezeptionsgeschichtliche Ambivalenz bis heute nahezu unverändert bestehen. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts konstatiert Lawrence Buell, um über Emerson als einen Philosophen sprechen zu können, müsse man sich zuerst der Frage stellen, ob er überhaupt ein Philosoph gewesen sei. Die Fachleute hätten das im Allgemeinen verneint. 3 Nach einem kursorischen Blick auf eine Fülle an erkenntnistheoretischen und ethischen Positionierungen sowie gleichermaßen affirmativen und kritischen Bezugnahmen auf eine Reihe exponierter Vertreter der philosophiegeschichtlichen Tradition in Emersons Essays wagt Buell schließlich zögernd eine Stellungnahme, deren Prägnanz freilich zu wünschen lässt: »So Emerson may be a kind of philosopher after all.« 4 Sofern er ein Philosoph ist, was der Konjunktiv durchaus offen lässt, bleibt immer noch zu klären, welches Philosophieverständnis damit angezeigt sein könnte. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Denker zwischen die Stühle gerät, weil er gezielt die etablierten Fachgrenzen überschreitet 2 3 4
Dewey, MW 3, S. 187. Vgl. Buell (2003), S. 199. Ibid., S. 218.
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Zur subjektiven Allgemeinheit repräsentativer Lebensentwürfe
und sich unterschiedliche Disziplinen fruchtbar an seinen Werken abarbeiten können. Die offenkundigsten Beispiele für solche Grenzgänger zwischen Philosophie und Literatur sind wohl Michel de Montaigne und Friedrich Nietzsche, doch gehört nicht viel Phantasie dazu, um die Liste nach Belieben zu erweitern. Im Falle des Transzendentalismus im Allgemeinen und Emersons im Besonderen mag die Zurückhaltung gegenüber einer dezidiert philosophischen Lektüre gleichwohl deshalb erstaunen, weil die Nomenklatur eine Verortung im Binnenbereich der neuzeitlichen Philosophie ausdrücklich suggeriert. Für heutige Leserinnen und Leser liegt die Vermutung nahe, dass eine als Transzendentalismus bezeichnete Strömung in der Tradition der Philosophie Kants steht und ihren Namen von der Transzendentalphilosophie herleitet. Das gilt umso mehr, als Transcendentalism im Englischen als eine Art Gattungsbegriff auch die nachkantische idealistische Tradition meint, die, im Unterschied zu ihrer amerikanischen Namensvetterin, integraler Bestandteil der abendländischen Philosophiegeschichte ist. 5 Transzendentalphilosophie meint seit Kant den Versuch einer systematischen Beantwortung der Frage nach den allgemeinen und notwendigen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, also die Bestimmung der prinzipiellen Grenzen der menschlichen Vernunft durch die Vernunft selbst. In der Kritik der reinen Vernunft (1781) heißt entsprechend »alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.« 6 Tatsächlich bezieht sich Emerson explizit auf Kant, als er 1842 unter dem programmatischen Titel »The Transcendentalist« eine Positionsbestimmung vornimmt und dem Transzendentalismus damit historisch und systematisch Kontur verleiht. Seinem Publikum sei wohlbekannt, so Emerson, »that the Idealism of the present day acquired the name of Transcendental [sic!], from the use of that term by Immanuel Kant, of Konigsberg« 7, welcher gegen John Lockes Sensualismus demonstriert habe, »that there was a very important class of ideas, or imperative forms, which did not come by experience, but
Zur Unterscheidung zwischen europäischem Transzendentalismus und Neuengland-Transzendentalismus vgl. Dewey, MW 7, S. 358. 6 Kant, KrV, B27/A13. 7 Emerson, CW 1, S. 206. 5
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through which experience was acquired« 8. In dieser Feststellung erschöpft sich Emersons Erläuterung der kantischen Philosophie im Wesentlichen. Angesichts der Bedeutung der Transzendentalphilosophie als Namensgeberin für die Philosophie des Transzendentalismus erscheint der Rekurs auf die zentralen Gedanken Kants rhapsodisch, auf den ersten Blick vielleicht sogar oberflächlich. Hinzu kommt, dass Emerson in demselben Text den Transzendentalismus als eine Form des Idealismus charakterisiert und ihn damit zugleich explizit auf einer Seite des fundamentalen Antagonismus von Idealismus und Materialismus verortet, den Anspruch Kants, eine solche Dichotomie zu überwinden, also zu ignorieren scheint. Vor einer allzu voreiligen Trivialisierung der Auseinandersetzung Emersons mit Kant sollte man sich jedoch hüten. Die Bezeichnung ›Transzendentalismus‹ für die dominierende philosophische Strömung Neuenglands in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war in erster Linie eine spöttische Fremdbezeichnung. Sie sollte die vermeintlich deutschen Ursprünge der philosophischen Entwürfe Emersons und seines Umfeldes pejorativ herausstellen und den Transzendentalismus als bloßes Importgut karikieren. Erst als sich absehen ließ, dass an dieser Namensgebung in den Augen der Leserinnen und Leser nichts mehr zu ändern war, machte auch Emerson sich den Begriff zu eigen und skizziert in dem programmatischen Essay entsprechend nur grundlegende Konvergenzen zwischen der kantischen Philosophie und seiner eigenen. Allerdings ist Emerson weder ein exegetischer noch ein kommentierender Philosoph, der seine Gedanken in direkter Auseinandersetzung mit und Kritik von anderen Philosophen entwickelt. Die Philosophie Kants, insbesondere die Erkenntnistheorie der ersten Kritik, hat für ihn primär symbolische Bedeutung. Sie steht in herausragender Weise für die Überwindung des traditionsbeherrschenden Empirismus von John Locke, dessen sensualistische Terminologie lange Zeit den gedanklichen und begrifflichen Rahmen bildete, innerhalb dessen sich Philosophie artikulieren konnte. Kants Transzendentalphilosophie eröffnete mit ihrem reichhaltigen Vokabular, den systematischen Differenzierungen von Vernunft und Verstand, transzendent und transzendental, Anschauung und Sinnlichkeit, die Möglichkeit, auch den skeptischen Konsequenzen des Empirismus, die David Hume gezogen hatte, zu entgehen. Vor allem geht mit ihr 8
Ibid., S. 206 f.
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die fundamentale erkenntnistheoretische Neuorientierung der kopernikanischen Wende einher – die Bedingungen für die Erkenntnis eines Gegenstandes werden nicht länger im Gegenstand selbst, sondern im erkennenden Subjekt verortet. Etwas poetischer als Kant, aber mit gleicher Stoßrichtung, formuliert Emerson: »Thus inevitably does the universe wear our color, and every object fall successively into the subject itself. […] As I am, so I see; use what language we will, we can never say anything but what we are« 9. Die geteilte Auffassung von der erkenntniskonstitutiven Funktion des Subjekts geht bei Emerson mit einer Kritik einher, die sich insbesondere gegen die kantische Vorstellung eines transzendentalen Subjekts richtet, das zwar formal die Einheit der subjektiven Erfahrung sicherstellt, darüber hinaus aber unbestimmbar bleibt. Ähnlich wie Fichte und die idealistische Tradition unterzieht Emerson das epistemologische Gerüst der Kritik der reinen Vernunft einer metaphysischen Kritik, ohne jedoch selbst eine formale Rekonstruktion der Transzendentalphilosophie zu leisten. 10 Viel ausführlicher als die Anknüpfung an Kants Erkenntnistheorie, und mit Blick auf den starken literarischen Einschlag seiner Essays wesentlich bedeutsamer, ist jedoch Emersons Auseinandersetzung mit der kantischen Ästhetik. Emerson macht sich die systematische Struktur der Kritik der Urteilskraft (1790) zunutze, um eine Ethik zu entwerfen, die sich nicht an objektiven Gesetzen, sondern an einem Prinzip subjektiver Allgemeinheit orientiert. Damit weicht er an entscheidender Stelle von Kant ab. Der Urteilskraft kommt laut Kant zwar eine entscheidende Rolle zu, insofern sie über ein apriorisches Prinzip verfügt, das den Übergang von der Gesetzgebung des Verstandes zur Gesetzgebung der Vernunft ermöglicht und die Einheit von Natur- und Freiheitsbegriff stiftet. Aber weder erlaubt die Vermittlung zwischen Natur und Freiheit über die Idee der Zweckmäßigkeit in der Ästhetik materiale Erkenntnis noch ist ein ästhetisches Urteil auf die Moral übertragbar, weil es gerade durch seine Interesselosigkeit gekennzeichnet ist und kein Interesse an der Realisierung eines bestimmten Gegenstandes oder einer bestimmten Handlung hat. Emerson weist die rein kontemplative Vorstellung von Ästhetik zurück und konzipiert eine Theorie der Exemplarität von ethischen Lebensformen, die allgemeine Anerkennung einfor9 10
Emerson, CW 3, S. 45 f. Vgl. Sölch (2016), S. 211–217.
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dern, ohne begrifflich vollständig einholbar zu sein. Gelingendes sittliches Handeln wird in den Leben ›repräsentativer Menschen‹ exemplifiziert, die im Sinne moralischer Genies die nicht in Form objektiver Kriterien explizierbare Einheit des Guten in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen erkennen lassen. Einer Untersuchung der systematischen Bezüge zwischen Emerson und Kant, die besonders nach den systematischen Voraussetzungen des literarischen Charakters von Emersons Philosophie fragt, sind schließlich einige Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte voranzuschicken. Das erscheint nicht zuletzt deshalb notwendig, weil dem Transzendentalismus insgesamt ein mangelndes Verständnis der Transzendentalphilosophie unterstellt wird, das wiederum der idiosynkratischen Vermittlung der englischen Romantik und der Common-Sense-Philosophie geschuldet sei. Auf diese Kontextualisierung folgt eine Rekonstruktion der Funktion der subjektiven Allgemeinheit und des Geniebegriffs innerhalb der kantischen Ästhetik, an die Emersons pluralistische Ethik repräsentativer Lebensentwürfe anknüpft, wie abschließend dargestellt wird. Wohl wissend, das in der gebotenen Kürze kein vollumfängliches Bild von Emersons Kant-Rezeption oder seiner Ethik entwickelt werden kann, soll doch zumindest deutlich werden, inwiefern der Grenzgang zwischen Philosophie und Literatur für Emerson mit Blick auf die Ethik argumentativ grundgelegt ist.
Die Kant-Rezeption in den Vereinigten Staaten Die erste vollständige englischsprachige Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft aus der Feder von Francis Haywood erschien 1838 unter dem Titel Critick of Pure Reason, also zwei Jahre nach der Publikation von Emersons Nature. Emerson besaß nicht nur ein Exemplar der Übersetzung, sondern hat die kantischen Kritiken möglicherweise schon in den frühen 1820er Jahren im Original gelesen – die Tagebucheinträge geben darüber keine verbindliche Auskunft. 11 Der deutschen Sprache war Emerson jedenfalls mächtig, und auch die Tatsache, dass er 1832 Nitschs General and Introductory View of Professor Kant’s Principles concerning man, the world, and the deity, eine der ersten systematischen Einführungen in die kantische Phi11
Vgl. Emerson (1961), S. 357.
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losophie in englischer Sprache, ausleiht, zeugt von einer intensiveren Beschäftigung mit Kants Philosophie. Die nach wie vor verbreitete Annahme, Emerson habe Kant ausschließlich durch die Vermittlung der englischen Romantik, insbesondere Coleridge, gekannt, 12 ist jedenfalls nicht haltbar. Die Rezeption der deutschen Philosophie, vor allem derjenigen Kants, speist sich darüber hinaus aus verschiedenen Quellen gänzlich unterschiedlicher Färbung und Qualität. Die vielen indirekten Kanäle, durch die die Transzendentalphilosophie nach Amerika gelangte, haben Anlass zu zahllosen Missverständnissen und Fehldeutungen gegeben, deren Tenor üblicherweise lautet, dass Emerson keine adäquate philosophische Auseinandersetzung mit kantischen Argumenten habe leisten können, weil seine Kenntnis eben nicht primär auf einer eingehenden Lektüre der Kritiken selbst beruhe. Abgesehen davon, dass eine solche genetische Betrachtung keinerlei Aussage über den systematischen Wert von Emersons Philosophie für kantische Fragestellungen erlaubt, ist Emerson durchaus zuzutrauen, dass er die relevanten argumentativen Schnittstellen und Probleme aus den verschiedenen Quellen herausdestillieren konnte. Ein synoptischer Überblick über die Wege der Kant-Rezeption in den Vereinigten Staaten ist nichtsdestotrotz interessant. So zeigt sich in jedem Fall, welcher Stellenwert Kant im englischsprachigen Raum als Gegengewicht zum dominierenden Empirismus zukam. Die ersten englischsprachigen Interpretationen der Transzendentalphilosophie sind mit ›idiosynkratisch‹ noch vorsichtig umschrieben. Charles de Villers’ Philosophie de Kant (1801) und William Drummonds Academical Questions (1805) etwa charakterisieren Kant als einen Mystiker des Apriori und übersehen, dass es ihm um die Untersuchung der notwendigen formalen Voraussetzungen aller Erfahrung geht, nicht um spezifische Erfahrungsinhalte. So erklärt Drummond, die kantische Philosophie beruhe auf der Annahme apriorischer Urteile »obtained ex anticipatione« 13, greife also spekulativ vorweg auf vermeintlich materiale Erfahrungsinhalte. Während Villers und Drummond somit eher Zerrbilder liefern, die Thomas Brown wiederum in einer einflussreichen Rezension in der ErstVgl. Boudreau (2014), S. 104 sowie Packer (2007), S. 23 ff. Drummond (1805), S. 354. Vgl. Wellek (1931), S. 38, der zu Drummond bemerkt: »He misunderstood the whole of Kant: he considers him simply a confused mystic, who appeals to his inner illumination.«
12 13
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ausgabe der Edinburgh Review, ohne eigene Kenntnis der kantischen Werke, für ein breites Publikum zusammenzufassen versucht, 14 ist Madame de Staëls Kulturgeschichte De l’Allemagne (1813) für Emerson, wie für die meisten philosophisch und literarisch interessierten Amerikaner des frühen 19. Jahrhunderts, die erste ausführliche und wohlwollende Darstellung des geistigen Lebens in Deutschland. De Staëls Buch war 1814 in Amerika erschienen und prägte dort, wie zuvor bereits in Frankreich, das Bild Deutschlands als Land der Dichter und Denker, dem geistigen Zentrum Europas. Der kantischen Philosophie als Schlüssel zum Verständnis der deutschen Kultur wird in De l’Allemagne zwar viel Raum gewidmet, allerdings mit erheblichen terminologischen Eigenarten. Ziel war keine philosophische Rezeption im akademischen Sinne, sondern die Popularisierung metaphysischer Fragen und eine Untersuchung der kulturellen Auswirkungen von philosophischen Positionen. 15 So ist de Staëls Überblick über die drei Kritiken zwar im Wesentlichen korrekt, laviert aber um die kantische Terminologie herum und vermeidet beispielsweise den Begriff ›transzendental‹ vollständig. Rezeptionsgeschichtlich folgenreich ist vor allem die Identifikation von Vernunft und Gefühl (sentiment). So laufe etwa die Unmöglichkeit, bezüglich der Antinomien eine rationale Entscheidung herbeizuführen, darauf hinaus, dass das Gefühl den Ausschlag geben müsse. »Ebenso verhält es sich mit Gott, dem Gewissen, dem freien Willen. Man muß daran glauben, weil man sie fühlt. Jedes Argument ordnet sich immer dieser Tatsache unter.« 16 De Staëls Darstellung ignoriert nicht nur die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft, sondern versteht auch die regulativen Denknotwendigkeiten als notwendige Gefühlswahrheiten. Eine andere Quelle für die Rezeption Kants findet sich in der schottischen Commonsense-Philosophie, die im frühen 19. Jahrhundert die einflussreichste philosophische Schule in Harvard bildete. Neben Thomas Reid war Dugald Stewart einer der populärsten Vertreter der schottischen Aufklärung, deren Vorstellung von einem allgemein menschlichen Vermögen zur Erkenntnis bestimmter Prinzipien und Ideen, denen eine natürliche Evidenz zukommt, mit Kant die Zurückweisung von Humes Skeptizismus teilt. Stewarts A General View of the Progress of the Metaphysical, Ethical, and Political 14 15 16
Vgl. Brown (1803). Vgl. Rosen (2004), S. 195 ff. Staël (1985), S. 545.
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Philosophy, das Emerson 1822 begeistert liest, 17 enthält auch ein längeres Kapitel über Kant und die deutsche Metaphysik. Da Stewart die kantische Philosophie aber für wenig originell hält und sie von Ralph Cudworth und den Cambridge Platonists nicht nur antizipiert, sondern übertroffen sieht, diskutiert er lediglich den Status von Raum und Zeit als Anschauungsformen ausführlich. 18 Die kantische Terminologie bleibt auch hier unterbelichtet. Mit etwas anderer Emphase, aber ebenso vereinnahmend, wird Kant in Frankreich interpretiert, wo der auch in Neuengland stark rezipierte Eklektizismus Victor Cousins dem kantischen Vernunftbegriff eine neoplatonische Wendung gibt und die Vernunft als unpersönliche, objektive Instanz betrachtet, an welcher der Mensch lediglich teilhat, sodass in der Spontaneität der Apperzeption jede Subjektivität aufgehoben wird. In summa leistet die Rezeption bis hierhin allenfalls stark reduzierte Darstellungen der kantischen Epistemologie, die von vornherein einer konkurrierenden Perspektive untergeordnet wird. Erst Thomas Carlyle, mit dem Emerson in lebenslanger Brieffreundschaft verbunden war, rückt Kant ins Zentrum der zeitgenössischen Philosophie. Das 19. Jahrhundert ist für Carlyle wesentlich durch den Aufstieg der empirischen Wissenschaften gekennzeichnet, deren Anspruch darin bestehe, sämtliche Phänomene vollständig als materielle Phänomene erklären zu können. 19 Die Erhebung eines mechanischen, deterministischen Materialismus zum Paradigma wissenschaftlicher Erklärungen ist für ihn nicht bloß Gegenstand eines kritisch bewerteten kulturellen Wandels, durch den Moral und Literatur an Einfluss verlieren, sondern vielmehr ein fundamentaler metaphysischer Irrtum, der es unmöglich mache, den menschlichen Geist adäquat zu erfassen. Die kantische Unterscheidung von Verstand und Vernunft sieht er als Ausweg, weil mit ihr zwei prinzipiell verschiedene, antagonistische Erkenntnisweisen legitimiert würden. Verstandeserkenntnis sei partikular, materialistisch und verändere sich von Epoche zu Epoche, die Vernunft hingegen führe zu absoluter Wahrheit. Letztere wird damit zu einem geradezu mystischen ›Organ‹, das nicht inferentiell, sondern ›durch subtilere Methoden‹ 20, analog zur poetischen Schaf17 18 19 20
Vgl. Emerson (1966), Bd. 1, S. 125. Vgl. Stewart (1854), S. 400 ff. Vgl. Carlyle, Works 27, S. 63 f. Vgl. Carlyle, Works 26, S. 82.
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fenskraft, funktioniere. Kant erscheint dadurch zwar als bedeutendster Philosoph seiner Zeit, allerdings wiederum auf Kosten einer groben Verunstaltung seiner erkenntnistheoretischen Grundannahmen. Samuel Taylor Coleridge ist zweifellos die wirkmächtigste Quelle für die Rezeption der kantischen Transzendentalphilosophie in den Vereinigten Staaten. Vor allem seine Aids to Reflection, die 1829 von James Marsh mit einem einleitenden Essay herausgegeben werden, finden ein breites Echo im Transzendentalismus. Abgesehen von der unbestrittenen Bedeutung Coleridges im Hinblick auf die Vermittlung kantischen Gedankenguts und kantischer Terminologie, ist seine philosophische Leistung jedoch stark umstritten. Der Vorwurf, Coleridge erweise sich schnell als inkonsistenter Plagiator, dessen Werke aus Versatzstücken von Kant, Fichte, Schelling und Jacobi bestünden, 21 wird allerdings zumindest Coleridges Begriff von Philosophie nicht ganz gerecht. Philosophie ist für ihn das Bestreben, die im Menschen bereits angelegten Wahrheiten im Lichte des gegenwärtigen Erfahrungshorizontes systematisch auszulegen. Vollständige Systematizität dient ihm als regulative Zielvorstellung, 22 während begriffliche Unterscheidungen keiner endgültigen terminologischen Fixierung dienen, sondern instrumentelle Funktion haben und in nachfolgenden Erkenntnisschritten wieder suspendiert werden können. Wenn Coleridge etwa die Vernunft als Vermögen intellektueller Anschauung versteht, ist er sich also durchaus bewusst, dass er die kantische Terminologie in einem nichtkantischen Sinne gebraucht. Methodologisch weist er insofern auf Emerson voraus, als dieser ihm darin folgt, Philosophie als fortschreitenden Prozess zu verstehen, der sich eher essayistisch als in Form der gedanklichen Architektonik klassischer Systemphilosophie artikuliert. 23 Wie für Carlyle bildet auch für Coleridge die Unterscheidung von Verstand und Vernunft das Herzstück des Versuchs, die kantische Dichotomie von einer intelligiblen Welt der Freiheit und einer empirischen Welt der Notwendigkeit zu überwinden. Während der Verstand im Sinne Kants als »conception of the sensuous, the faculty by which we generalize and arrange the phænomena of perception« 24
21 22 23 24
Vgl. Wellek (1931), S. 67. Vgl. Coleridge (1969), S. 496 ff. Vgl. Harvey (2013), S. 40. Coleridge (1969), S. 156.
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definiert wird, erscheint die Vernunft als Quelle transzendenter Erkenntnis: Reason is the Power of universal and necessary Convictions, the Source and Substance of Truths above Sense, and having their evidence in themselves. Its presence is always marked by the necessity of the position affirmed: this necessity being conditional, when a truth of Reason is applied to Facts of Experience, or to the rules and maxims of the Understanding; but absolute, when the subject matter is itself the growth or offspring of Reason. 25
Während Kant die Vernunft sich notwendigerweise in unauflösbare Widersprüche verwickeln sieht, sobald sie den Bereich der Erfahrung zu übersteigen sucht, glaubt Coleridge an die Möglichkeit absoluter Erkenntnis, die nicht nur Wahrheit zu erkennen vermag, sondern zugleich auch die Validität des Erkannten sicherstellt. Das Vermögen der Vernunft wird zum Vermögen der unbedingten Erkenntnis religiöser und moralischer Wahrheiten, die Urteile des Verstandes zu korrigieren vermögen. Dies führt ihn zu einer Analogie zwischen der unmittelbaren Präsenz der Sinnesobjekte in der Wahrnehmung und der unmittelbaren Präsenz absoluter Wahrheit in der Kontemplation der Vernunft. »Reason indeed is much nearer to SENSE than to Understanding: for Reason […] is a direct aspect of Truth, an inward beholding, having a similar relation to the Intelligible or Spiritual, as Sense has to the Material or Phenomenal.« 26 In Coleridges platonischer Lesart von Kant vermag die Vernunft das enge Feld der Sinneserfahrung zu transzendieren, um die Wahrheit zu ›schauen‹. Insofern wird nichts wirklicher gewusst als genau jene Objekte, die Kant im unzugänglichen Bereich der Noumena verortet hatte. Die Vernunft ist das Organ intuitiver Erkenntnis, die in der Metaphorik des inneren Auges tatsächlich unmittelbar gesehen werden kann und aus gerade dieser Direktheit ihre Gewissheit zieht. 27 Die problematische Gleichsetzung der Vernunft mit einem Organ intuitiver Erkenntnis verweist auf ein grundsätzliches Problem der englischsprachigen Kant-Rezeption, das lange Zeit nicht angemessen reflektiert wurde, nämlich jenes einer adäquaten Übersetzung für den Terminus ›Anschauung‹. Das etablierte ›intuition‹ legt durch die Konnotation des Intuitionsbegriffes nahe, dass auf diesem 25 26 27
Coleridge (1993), S. 216. Ibid. Vgl. Sölch (2016), S. 207 f.
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Wege die Möglichkeit erkenntniskonstitutiver, unmittelbarer Einsichten eingeräumt wird. Gerade diese zweite Möglichkeit hat sich im Ausgang von Coleridge lange Zeit durchgesetzt. Beinahe erklärend fügt Coleridge hinzu: Kant verwende den Begriff der Anschauung ausschließlich für die rezeptive Sinnlichkeit und verneine die Möglichkeit intellektueller Anschauungen. Aber da er keinen adäquaten Grund für diesen exklusiven Sinn des Wortes sehe, greife er auf seine weitere Bedeutung zurück, die durch die älteren Theologen und Metaphysiker autorisiert werde, denen zufolge der Begriff alle Wahrheiten umfasst, die von uns ohne Vermittlung erkannt werden. 28 Coleridges Rekurs auf ein Konzept intellektueller Anschauung mittels der Vernunft scheint jedenfalls nicht zuletzt einen Versuch darzustellen, einen klassischen Einwand gegen Kant zu überwinden. Nach welchem Prinzip erfolgt die Subsumption der Phänomene unter die bestimmten Kategorien, wenn Phänomene nicht anders als durch eben jene Kategorien selbst überhaupt erfahrbar sind? Während Emerson später einen pragmatischen Zugang über das menschliche Handeln findet, trägt Coleridges Lesart deutlich platonische Züge. Die Interpretation der Vernunft als Vermögen intellektueller Gegenstandserkenntnis im Bereich des Noumenalen löst zwar die Schwierigkeit der Zuständigkeit der Kategorien, schüttet dabei allerdings das Kind mit dem Bade aus und verabschiedet zugleich einen erheblichen Teil der kantischen Erkenntnistheorie. Sie hat zugleich dazu geführt, dass auch Emerson eine naive Vermengung von theoretischer und praktischer Vernunft vorgehalten wird, bei der die Vernunft jene religiösen und moralischen Wahrheiten erfassen könne, die für Kant ausschließlich den Status von Postulaten haben können, die für unser praktisches Leben als endliche, moralische Wesen unabdingbar sind.
Subjektive Allgemeinheit und schöpferisches Genie in Kants Ästhetik Emersons essayistischer Stil und sein fundierungsskeptisches Denken, das jede rigide begriffliche Systematik immer wieder unterläuft, machen es, wie eingangs bereits skizziert, der Leserschaft nicht leicht, ihn überhaupt als jemanden zu verstehen, der auf kantische Argumente reagiert. Obwohl vereinzelt gezeigt wurde, dass Emerson sich 28
Vgl. Coleridge (1983), S. 289.
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durchaus mit Gewinn als jemand lesen lässt, der auf kantische Argumente reagiert, 29 ist die systematische Beziehung zwischen Emerson und Kant noch immer wenig erhellt. Die scheinbar naive Übernahme einer apriorischen Vernunfterkenntnis im Bereich der Moral erweist sich dabei schnell als kritische Reflexion transzendentalphilosophischer Prämissen. Jenseits der erkenntnistheoretischen Perspektive, die speziell Emersons frühe Schriften in große Nähe zum Deutschen Idealismus rückt, 30 gibt es erstaunliche Konvergenzpunkte in einer ganz anderen Hinsicht. So erweist sich Emersons Ethik als überaus affin zur kantischen Ästhetik, die er aus ihrer Beschränkung auf die Kontemplation des Kunst- und Naturschönen löst, um sie für eine Ethik repräsentativer Lebensformen fruchtbar zu machen. Eine Auseinandersetzung mit Kants Ästhetik lag für Emerson schon deshalb näher als die Beschäftigung mit der kantischen Moralphilosophie, weil für ihn der Adressat der moralischen Bestimmung des Menschen nicht in einem intelligiblen oder transzendentalen Ich, sondern im empirischen Ich besteht. Während für Kant die menschliche Freiheit in der vernunftgeleiteten Affirmation des autonomen Sittengesetzes besteht, stellt genau dieses für Emerson eine heteronome Bestimmung dar. Der einzelne Mensch trägt das moralische Gesetz nicht in sich, sondern findet sich auf der Suche nach seiner ihm abhandengekommenen Bestimmung. Um nachzuvollziehen, wie der Geltungsbereich der subjektiven Allgemeinheit dabei sukzessive erweitert und auf die Suche nach der Bestimmung des individuellen Lebens übertragen wird, kommen wir somit nicht umhin, die Grundanliegen der dritten von Kants Kritiken zu rekapitulieren. Mit der Kritik der Urteilskraft unternimmt Kant den Versuch, zwischen Verstand und Vernunft bzw. zwischen dem Gesetz der Notwendigkeit in der Natur einerseits und dem Postulat der Freiheit des menschlichen Willens andererseits zu vermitteln. Die Erkenntnis der Natur setzt das Kausalitätsprinzip als apriorische Denknotwendigkeit des Verstandes voraus, das heißt, die Vorstellung der kausalen Geschlossenheit des Bereichs der Natur gehört zur konstitutiven Bedingung menschlicher Erfahrung. Demgegenüber setzt Moralität Freiheit voraus. Diese ist zwar keine notwendige Bedingung jeder Erfahrung überhaupt, weil wir zumindest eine Welt denken können, 29 30
Vgl. insbesondere Van Leer (1986) und Cavell (2003). Vgl. Krusche (1987).
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die vollkommen deterministisch ist und in der menschliches Handeln rein mechanisch ohne Berücksichtigung dessen, was gut oder böse ist, abläuft. Die Annahme der Willensfreiheit ist allerdings notwendig für unser Selbstverständnis als moralische Wesen. Die Bestimmungsgründe des Willens sind also nicht empirisch, sondern übersinnlich (noumenal) und haben entsprechend nicht den Status konstitutiver Verstandesprinzipien, sondern stellen regulative Vernunftprinzipien dar. Nun muss der Wille zugleich als kausal wirksam gedacht werden, damit wir uns als Urheber unserer Handlungen verstehen zu können. Diese Vermittlung zwischen den beiden Welten der Notwendigkeit und der Freiheit kommt der Urteilskraft zu. Die Urteilskraft definiert Kant als »das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.« 31 Sie ist ›bestimmend‹, wenn die Subsumption unter ein bereits gegebenes Allgemeines erfolgt, und sie ist ›reflektierend‹, wenn sie nach einem Allgemeinen für ein gegebenes Besonderes sucht. Das allgemeine Prinzip, das die Gesetzmäßigkeit der Natur und die reinen Vernunftzwecke miteinander verbinden soll, ist das der Zweckmäßigkeit. Sie ist das transzendentale Prinzip, das uns die Welt der Freiheit und die Welt der Notwendigkeit als Einheit vorstellen lässt, die so gedacht wird, als wäre sie im Hinblick auf das Prinzip der Vereinbarkeit von Erkenntnis- und Begehrungsvermögen geschaffen worden. 32 Dabei geht es nicht um die Vorstellung eines bestimmten Zwecks, sondern um die allgemeine Struktur der Zweckmäßigkeit, die folglich eine regulative, keine konstitutive Funktion hat. Entsprechend richtet sich die Urteilskraft nicht so sehr auf den Erkenntnisgegenstand als vielmehr auf die Beziehung des Gegenstands zum Subjekt, die Kant als die ästhetische Beschaffenheit des Gegenstandes bestimmt. Die Wirkung des Gegenstandes auf das Subjekt ist eine solche der Lust oder Unlust in einem sehr weiten Sinne, die etwa als Empfindung der Angemessenheit, der Passung, der natürlichen Übereinstimmung von Gegenstand und Erkenntnisvermögen zum Ausdruck kommt. 33 Weil das ästhetische Urteil, das Kant auch Geschmacksurteil nennt, einen notwendigerweise subjektiven Bestimmungsgrund hat, ist es kein Er-
Kant, KdU, BXXV/AXXIII. Höffe (2007), S. 270 spricht anschaulich von der universalen Zweckmäßigkeit der Natur als dem »von der Urteilskraft a priori entworfene[n] Erwartungshorizont, die Natur nicht chaotisch, sondern strukturiert vorzufinden.« 33 Vgl. Kant, KdU, BXLV/AXLIII. 31 32
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kenntnisurteil im strengen Sinne, das heißt, es kann keine universale Geltung beanspruchen. Die Annahme, dass sich über Geschmack nicht streiten lasse, weist Kant trotzdem entschieden zurück: Im Geschmacksurteil rekurrieren wir nicht auf ein bloß subjektives Gefühl der Annehmlichkeit, das von gänzlich individuellen Dispositionen abhängig ist, sondern auf eine allgemeine Regel. De gustibus est disputandum. Nun beruht Erkenntnis, die sich in Form einer Gesetzmäßigkeit ausdrücken lässt, jedoch auf Erfahrung, und Erfahrung setzt wiederum das gelingende Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand voraus, bei der Anschauung und Begriff zusammenkommen müssen. Die ästhetische Beschaffenheit eines Gegenstandes entzieht sich aber gerade einer adäquaten begrifflichen Bestimmung, sie ist vielmehr eine Anschauung ohne Begriff. »Die ästhetische Urteilskraft ist also ein besonderes Vermögen, Dinge nach einer Regel, aber nicht nach Begriffen, zu beurteilen.« 34 Schön ist dasjenige, was das als lustvoll empfundene Verhältnis der Erkenntniskräfte zueinander produktiv anregt und in seiner Interpretation offenbleibt, ohne dabei beliebig zu werden. Die subjektive Allgemeinheit eines Geschmacksurteils lässt uns die Bestimmung der Schönheit eines Gegenstandes so empfinden, dass wir notwendigerweise dieses Urteil als für jedes andere Subjekt ebenfalls gültig ansehen müssen, ohne dabei auf eine logisch zwingende begriffliche Argumentation verweisen zu können. Subjektive Allgemeinheit verlangt intersubjektive Anerkennung in dem Sinne, dass jedes Subjekt in derselben empirischen Situation zu demselben Geschmacksurteil würde kommen müssen. Die Allgemeinheit eines Geschmacksurteils ist subjektiv, weil sie ihren Bestimmungsgrund in der subjektiven Empfindung der Lust angesichts eines ästhetischen Gegenstandes hat, soll aber gleichzeitig allgemein gelten, insofern die Beurteilung unter der Voraussetzung eines Allgemeinsinnes als objektiv vorgestellt wird. 35 In der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant betont, dass Begriffe ohne korrespondierende Anschauungen ›blind‹ sind und dazu führen, dass die Vernunft sich in unauflösbare Widersprüche verwickelt. In der Kritik der Urteilskraft steht nun die komplementäre Vorstellung im Mittelpunkt, nämlich Anschauungen ohne Begriffe, die in der Kritik der reinen Vernunft noch als ›leer‹ bezeichnet wurden. Die Leere der Anschauungen ist in der 34 35
Ibid., BLII/AL. Vgl. ibid., B68/A67.
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ästhetischen Kontemplation allerdings ein produktiver Mangel, insofern sie die Erkenntnisvermögen in die Aktivität »freien Spiels« versetzt. ›Frei‹ ist das Spiel, weil sie zwar auf einen Begriff abzielen, dabei allerdings nicht auf eine bestimmte Regel zur Begriffsbildung festgelegt sind. Nun gehören zu einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, damit überhaupt daraus Erkenntnis werde, Einbildungskraft für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung, und Verstand für die Einheit des Begriffs, der die Vorstellungen vereinigt. Dieser Zustand eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen, bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, muß sich allgemein mitteilen lassen[.] 36
Schönes gefällt durch die Reflexion über den ästhetischen Gegenstand und erschöpft sich nicht in der affektiven Gestimmtheit des betrachtenden Subjekts. Die subjektive Allgemeinheit eines Geschmacksurteils impliziert seine Mitteilbarkeit, allerdings zeichnet sich die ästhetische Anschauung gerade dadurch aus, dass sie sich nicht nahtlos in die gegebenen Begriffe einfügt. Der Versuch, das Schöne auf einen Begriff zu bringen, kann wiederum lediglich als regulatives Postulat dienen, ohne tatsächlich jemals eingelöst zu werden. Die subjektive Allgemeinheit der Regel, welche die Geltung eines Geschmacksurteils legitimieren soll, kann nur exemplarisch erfolgen. Wörtlich heißt es bei Kant, dass die »Notwendigkeit, die in einem ästhetischen Urteile gedacht wird, nur exemplarisch genannt werden [kann], d. i. eine Notwendigkeit der Bestimmung aller zu einem Urteil, was wie Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird.« 37 Die allgemeine Regel, die als eine objektive gedacht werden soll, kann also nicht logisch zwingend in Form von Argumenten dargelegt, sondern durch Begriffe lediglich angedeutet werden. Die Allgemeingültigkeit und Mitteilbarkeit eines Geschmacksurteils implizieren, so Kant, einen sensus communis, in dem intrasubjektive und intersubjektive Perspektive miteinander verschmelzen. Das Schöne selbst wird dabei, in Übereinstimmung mit der transzendentalen Idee der Zweckmäßigkeit, als Schöpfung des Genies gedacht. Die romantische Vorstellung des Genies als wilde dionysische Schaffenskraft zurückweisend, sieht
36 37
Ibid., B28/A28. Ibid., B63/A62.
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Zur subjektiven Allgemeinheit repräsentativer Lebensentwürfe
Kant das wesentliche Kennzeichen des Genies im Geist, der in ästhetischer Hinsicht als ›das belebende Prinzip im Gemüte‹ definiert wird: Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anderes, als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. 38
Das künstlerische Genie ist für Kant nicht als Einbruch der Transzendenz in die Sphäre des Menschlichen zu denken, sondern manifestiert sich in der Aktivität naturgegebener Vermögen, die prima facie allen Menschen innewohnen und für alle Menschen im Sinne des sensus communis intelligibel sind. Gleichwohl kann Genialität nicht erlernt werden, weil ein solches Lernen in der Übernahme von spezifischen Regeln oder Prinzipien der Regelbildung bestehen müsste, die in genialen Schöpfungen gerade nicht festzumachen sind. Das Schaffen des Genies lässt sich folglich weder aus bestimmten Einflüssen herleiten noch durch die Übersetzung in eine Methode erklären. 39 Genialität besteht demnach in einer Veranlagung, exemplarische Werke hervorzubringen, deren ursprüngliche Originalität rational uneinholbar ist, die dann aber wiederum zum Maßstab oder zum Vorbild für das Beurteilen oder Hervorbringen weiterer Werke werden. Für Kant ergibt sich die fundamentale Differenz zwischen ästhetischem und moralischem Urteil aus dem kontemplativen Charakter des ersteren. Ein Geschmacksurteil ist kontemplativ, das heißt, es ist der Existenz eines Objekts gegenüber indifferent und betrachtet distanziert seine reine Beschaffenheit im Hinblick auf das Gefühl der mit ihm verbundenen Lust und Unlust. 40 Ob etwas schön ist, soll vollkommen unabhängig von jeder Frage nach dem Wert der Existenz des Schönen sein. Es geht im Geschmacksurteil nicht darum, ob uns etwas an einem Gegenstand gelegen ist, sondern um eine interesselose Betrachtung seiner ästhetischen Qualität. »Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.« 41 Während 38 39 40 41
Ibid., B192 f./A190. Vgl. Biemel (1959), S. 71. Vgl. Kant, KdU, B15/A15. Ibid., B17/A17.
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Gutes durch den bloßen Begriff bereits gefällt und mit Interesse an dessen Dasein einhergeht, gefällt Schönes durch die Reflexion über den Gegenstand, die erst noch zu einem Begriff führen soll. Kant wird nicht müde, auf diese Differenz aufmerksam zu machen. Systematische Prämisse der strikten Trennung von Ästhetik und Moral ist die Vorstellung von ästhetischer Kontemplation als interesselosem, distanziertem Wohlgefallen, das von jeder affektiven Beziehung völlig unberührt ist. Schönes ist, im Unterschied zum Guten, begrifflich defizitär. Die subjektive Allgemeinheit kann Schönheit nur exemplarisch repräsentieren und vermag, wie Kant erklärt, kein Ideal schöner Blumen, eines schönen Wohnhauses oder eines anderen ästhetischen Gegenstandes zu geben. 42 Es bleibt zu fragen, ob nicht dasselbe für ein bestimmtes Ideal eines guten Freundes, einer guten Ehe oder einer guten Entscheidung gelten muss. Genau diesen Weg einer Aufhebung der kategorischen Trennung zwischen ästhetischer und ethischer Erfahrung schlägt Emerson ein. Vordringlich geht es im Folgenden also um die Frage, welchen Begriff von Erfahrung Emerson zugrunde legt und wie er auf diesem Wege zu einer ästhetischen Ethik gelangt, die durch subjektive Allgemeinheit gekennzeichnet ist.
IV. Emersons Aufhebung der Trennung von Ästhetik und Moral Wie Kant in der Kritik der Urteilskraft geht es auch Emerson wesentlich darum, Notwendigkeit und Freiheit zusammen zu denken. »If we must accept Fate, we are not less compelled to affirm liberty,« 43 heißt es etwa in The Conduct of Life (1860). Beide scheinen durch die Erfahrung verbürgt und lassen sich beispielsweise in Begrenzungen des menschlichen Körpers, in gesellschaftlichen Zwängen oder der Unverfügbarkeit des eigenen Denkens sowie gleichzeitig in der Fähigkeit, genau solche Grenzen immer wieder überwinden zu können, erfassen. Welche Form das gelingende Leben in den Grenzen von Schicksal und Freiheit annehmen kann, zeigt sich jeweils als die Form der Zweckmäßigkeit des eigenen Lebens, das sich in seinen Wechselfällen als Einheit verstehen lässt, wenn es als ausgerichtet auf die Realisierung eines individuellen Lebenszwecks gedacht wird. Ein sol42 43
Vgl. ibid., B55 f./A55 f. Emerson, CW 6, S. 2.
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cher Lebenszweck entzieht sich der vollständigen begrifflichen Bestimmung in Form eines allgemeinen Gesetzes. Keine universale Gesetzmäßigkeit, so die zugrundeliegende Annahme, könnte jemals beanspruchen, den Sinn des Lebens für jeden Menschen notwendig und allgemeingültig bestimmt zu haben. Dennoch, so Emerson, erkennen wir in den Leben herausragender Individuen die Vorstellung davon, was es heißen kann, seinem Leben durch die bewusste Annahme einer übergeordneten, schicksalshaften Zweckmäßigkeit eine repräsentative Würde zu verleihen. »A great man is a new statue in every attitude and action« 44, verleiht seinem Leben also in der Hinsicht die Form eines Kunstwerks, als es sich anderen mitteilt und Nachahmung oder Orientierung ermöglicht. Namentlich sieht Emerson in Platon, Shakespeare, Goethe, Montaigne, Napoleon und Swedenborg solche Repräsentanten der Menschheit (1850), die weder jeder für sich absolut vollkommen sind noch mit einem gemeinsamen Maß gemessen werden können. Ihre ethische Größe ist untrennbar mit ihrer Einzigartigkeit verbunden: »He is great who is what he is from nature, and who never reminds us of others.« 45 So wie ein herausragendes Kunstwerk in seiner Originalität keinem anderen gleicht und dennoch unzweifelhaft den Anspruch erheben kann, Kunst zu sein, sind auch die exemplarischen Leben einzelner Individuen, die Ideale gelingenden Lebens verkörpern, nicht anhand objektiver Kriterien erfahrungsunabhängig als ethische Ideale ausweisbar. Ihre Allgemeinheit ist subjektiv, weil sie auf unser Empfinden der Anerkennung und Bewunderung rekurriert, nicht auf eine materiale Erkenntnis unter Bezug auf einen übergeordneten Standard der Idealität, aber sie erschöpft sich eben nicht in dem bloß privaten Vergnügen der Bewunderung. »The great man, even whilst he relates a private fact personal to him, is really leading us away from him to an [sic!] universal experience.« 46 Exemplarische Lebensentwürfe sind keine Gegenstände von Erkenntnisurteilen im strengen Sinne, aber sie sind vernünftiger Reflexion und argumentativer Kritik dennoch bis zu einem gewissen Grad zugänglich. In solch ethischen, oder allgemeiner gesagt: existentiellen, Erfahrungen begegnen wir dem, was für Kant Proprium ästhetisch-kontemplativer
44 45 46
Emerson, CW 2, S. 216. Emerson, CW 4, S. 5. Emerson, CW 10, S. 109.
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Erfahrung allein ist, nämlich dem Bewirken eines produktiven Spannungsverhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand. Dem Begriff der Erfahrung hat Emerson einen eigenen Essay gewidmet, der seine zentrale Bedeutung für die Tradition des Pragmatismus vorwegnimmt, die in John Deweys Art as Experience (1934) dann noch einmal systematisch expliziert wird. ›Erfahrung‹ durchläuft bei Emerson eine entscheidende Umdeutung gegenüber der europäischen Philosophie. Sie ist nicht das Ergebnis eines reinen Erkenntnisinteresses, bei dem der Mensch als epistemisches Subjekt der Welt gegenübersteht, um sie begrifflich zu erfassen, sondern sie ist als das Ergebnis der Interaktion von Mensch und Welt, das, was dem Menschen zustößt und ihn verändert, aber auch das, was der Mensch denkend und handelnd aus dem macht, was ihm widerfährt und begegnet. In einer Passage von Emersons Essay Experience (1844), die es wert ist, ausführlich zitiert zu werden, und die wesentlich um den Tod seines Sohnes kreist, zeigt sich die unaufhebbare Spannung von Anschauung und Begriff: The only thing grief has taught me is to know how shallow it is. That, like all the rest, plays about the surface, and never introduced me into the reality, for contact with which we would even pay the costly price of sons and lovers. Was it Boscovich who found out that bodies never come in contact? Well, souls never touch their objects. An innavigable sea washes with silent waves between us and the things we converse with. Grief too will make us idealists. In the death of my son, now more than two years ago, I seem to have lost a beautiful estate, – no more. I cannot get it nearer to me. […] I grieve that grief can teach me nothing, nor carry me one step into real nature. 47
Die Erfahrung des unerwarteten Todes seines ersten Sohnes widersetzt sich einer adäquaten begrifflichen Erkenntnis. Die Rede vom Verlust des Kindes ist indifferent gegenüber dem, was verloren wurde; die semantische und syntaktische Korrespondenz der Aussagen »Ich habe mein Kind verloren« und »Ich habe meinen Besitz verloren« spricht der tatsächlich erlebten, phänomenalen Erfahrung geradezu Hohn. Der Versuch einer begrifflichen Wiedergabe der Verlusterfahrung macht diese nur umso unbegreiflicher. Keine denkbare Verbalisierung vermag die Einmaligkeit des Erlebten und Durchlebten zu vermitteln, sodass sie auch dem erlebenden Subjekt selbst epistemisch unzugänglich bleibt. 47
Emerson, CW 3, S. 29.
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Die Erfahrung der Flüchtigkeit einer Welt, die sich begrifflich niemals adäquat fixieren lässt, ist für Emerson nicht auf solche emotionalen Ausnahmesituationen beschränkt, sondern sie ist tatsächlich die Regel. Die Welt entzieht sich einem rein epistemischen Zugang, weil sie kein statischer Gegenstand ist. Sie eröffnet uns einen Raum für das Handeln, aber sie entgleitet uns, sobald wir ihr Begriffe als passgenaue und adäquate Formen überzustülpen suchen. 48 Die Erfahrung enthält stets mehr als jede mögliche Klassifikation; es gibt immer einen Anschauungsüberschuss gegenüber dem Begriff. Trotz der Unmöglichkeit einer begrifflichen Fixierung ist Emersons Essay natürlich genau dieser Versuch, nämlich zu verstehen, was die Sinnlichkeit in unerbittlicher Deutlichkeit verkündet. Die Diskrepanz zwischen Anschauung und Begriff mündet nicht in Resignation oder Skepsis, sondern fordert die Erkenntniskräfte dazu heraus, die subjektive Vorstellung allgemein mitteilbar zu machen. »We may climb into the thin and cold realm of pure geometry and lifeless science, or sink into that of sensation. Between these extremes is the equator of life, of thought, of spirit, of poetry, – a narrow belt.« 49 Alles Leben, Denken und Dichten bewegt sich im produktiven Spannungsverhältnis dieser Pole. Gegen die Transzendentalphilosophie der Kritik der reinen Vernunft kritisiert Emerson also die Voraussetzung der Einheit von Anschauung und Begriff als apriorische Notwendigkeit. Mit der Kritik der Urteilskraft hingegen teilt er die Überzeugung, dass die subjektive Empfindung Auslöser einer Reflexion über Gegenstände und Ereignisse sein kann, die erst noch zu einem Begriff führen soll. Begriffe erwachsen aus der sinnlichen Erfahrung und führen wieder in sie hinein, aber gehen nicht mit dem Anspruch einher, die empirische Wirklichkeit als Präsenz und in ihrer jeweils konkreten Einmaligkeit einzufangen. 50 Vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Orientierung an der Struktur der kantischen Ästhetik wendet Emerson sich wiederum gegen die Vorstellung eines interesselosen Wohlgefallens in der kontemplativen Betrachtung eines ästhetischen Objekts, eine Annahme,
Vgl. Emerson, CW 3, S. 29. Ibid., S. 36. 50 William James (1975), S. 106, formuliert ein halbes Jahrhundert später pointiert: »Experience, as we know, has ways of boiling over, and making us correct our present formulas.« 48 49
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die auf der artifiziellen Trennung von ästhetischer, moralischer und intellektueller Erfahrung beruhe. »What is his [man’s] speech, his love of painting, love of nature, but a still finer success – all the weary miles and tons of space and bulk left out, and the spirit or moral of it contracted into a musical word, or the most cunning stroke of the pencil?« 51 Anders als bei Kant orientiert sich Emersons Begriff von (Kunst und) Ästhetik nicht an einer aus der Lebenswelt entrückten Versenkung in ein künstlerisches Objekt, sondern an der Vorstellung intensivierter Alltagserfahrung. Wenn Emerson als Ziel ausgibt, die Kunst in das Reich der Natur hineinzutragen und ihre abgetrennte, dem wirklichen Leben und der lebendigen Natur gegenüberstehende Existenz aufzuheben, 52 dann deshalb, weil er künstlerisches Schaffen als etwas versteht, das den Qualitäten gewöhnlicher Erfahrung eine besondere Intensität verleiht. Es bringt neue Kontraste und neuen Bedeutungsreichtum hervor und bildet damit letztlich ein Moment dessen ab, was potentiell immer auch Element der trivialsten Erfahrung ist. Als Kontraktion und Kulmination von gewöhnlichen Erfahrungsqualitäten ist ästhetisches Erleben immer von Interesse durchdrungen, das über einen bestimmten Gegenstand hinausweist. Die Überwindung der strikten Unterscheidung von Ästhetik und Moral durch eine Revision des Erfahrungsbegriffs erlaubt es Emerson, seine Ethik der Exemplarität erkenntnistheoretisch zu unterfüttern. Wenn der Überschuss der Anschauung gegenüber dem Begriff wesentliches Merkmal jeder Erfahrung ist, kann auch in Fragen gelingenden Lebens und verantwortlichen Handelns keine rational vollständige und letztgültige Antwort zu erwarten sein. Die Alternative besteht allerdings nicht in einem Relativismus, der moralische Entscheidungen der Beliebigkeit oder subjektiven Präferenzen überlassen würde. Die Orientierung an Beispielen ist subjektiv, aber nicht ohne Regel. Eine solche allgemeine Regel entzieht sich einer abschließenden begrifflichen Bestimmung. Sie ist vielmehr, wie bei Kant, ein verallgemeinertes Gefühl, das wir auch bei anderen Menschen voraussetzen, ohne seine Verbindlichkeit durch objektive Gründe einlösen zu können. Good and bad are but names very readily transferable to that or this; the only right is what is after my constitution, the only wrong what is
51 52
Emerson, CW 2, S. 209 f. Vgl. Emerson, CW 2, S. 217.
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against it. A man is to carry himself in the presence of all opposition, as if every thing were titular and ephemeral but he. I am ashamed to think how easily we capitulate to badges and names, to large societies and dead institutions. I shun father and mother and wife and brother, when my genius calls me. I would write on the lintels of the door-post, Whim. I hope it is somewhat better than whim at last, but we cannot spend the day in explanation. 53
Hoffnung meint hier keine religiöse Disposition, bei der wir auf etwas außerhalb unserer selbst vertrauen. Hoffnung verweist stattdessen darauf, dass unser moralisches Empfinden Teil der Natur ist, die so vorgestellt wird, als würde sie durch ein moralisches Gesetz bestimmt. Wenn wir in Übereinstimmung mit unserer moralischen Veranlagung handeln, dann im Vertrauen darauf, dass unser aufrichtiges Empfinden nicht beliebig ist. So wie sich unser Geschmack im Laufe der Zeit ändern kann, ohne dadurch seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu verlieren, sind wir auch als moralische Wesen lernfähig. Das, was andere sagen oder tun, kann uns auf unsere eigenen blinden Flecken aufmerksam machen und als moralisches Korrektiv dienen, aber nicht dadurch, dass es als universale normative Instanz auftritt, sondern indem es ein neues Bewusstsein für unser moralisches Gefühl weckt. Ein solches Lernen kann, so Emerson, nicht anders als exemplarisch gedacht werden. Die prima facie unabschließbare Reihe an Exempeln erfolgreicher Annäherung an ein allgemeingültiges ethisches Ideal bietet eine Orientierung, die prinzipiell, ebenfalls unter Rekurs auf das Postulat eines sensus communis, als objektiv vorgestellt werden könnte. Wie für Kant ist es für Emerson das Genie, das die Allgemeingültigkeit einer moralischen Handlung oder eines gelingenden Lebensentwurfs dadurch zum Ausdruck bringt, dass es dem Leben eine Regel gibt, die sowohl dem Subjekt selbst als auch der gesamten Menschheit als zweckhafte Naturnotwendigkeit erscheint. In every work of genius we recognize our own rejected thoughts: they come back to us with a certain alienated majesty. Great works of art have no more affecting lesson for us than this. They teach us to abide by our spontaneous impression with good-humored inflexibility then most when the whole cry of voices is on the other side. Else, to-morrow a stranger will say with masterly good sense precisely what we
53
Emerson, CW 2, S. 30.
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have thought and felt all the time, and we shall be forced to take with shame our own opinion from another. 54
Moralisches Empfinden ist, ebenso wie der Geschmack in der Kunst, nicht abhängig von Mehrheiten oder Traditionen. Das Genie verweist in seinen Handlungen und seiner Lebensführung auf ein ethisches Prinzip, dessen Gültigkeit wir nur dadurch einsehen können, dass wir auf unser eigenes moralisches Empfinden hören. Es ist kein dem Allgemein-Menschlichen entrückter Übermensch, es ist vielmehr jemand, der in exemplarischer Weise das zum Ausdruck bringt, was prima facie jeder vollbringen kann. Stärker als Kant verweist Emerson somit nicht nur auf die naturgegebenen Anlagen, die das Genie mit allen Menschen teilt, sondern auf die Befähigung aller, Handlungen oder Lebensentwürfe zu vollbringen, die in keiner bestehenden Regel oder Konvention aufgehen und zugleich anderen als Beispiel zu dienen vermögen. 55 Die Werke von Genies erwecken jeweils den Eindruck einer zugrundeliegenden schöpferischen Einheit. Die Vermögen der Representative Men, der Repräsentanten der Menschheit, scheinen also insofern harmonisch zu sein und einem Ziel zu unterstehen; ihr Wirken und Schaffen scheint exemplarisch für die Realisierung eines Lebens, von dem wir erwarten können, dass es von allen für gelingend befunden wird. Auch hier geht es, wie bei Kant, nicht um die Bestimmung eines spezifischen Zwecks, sondern um die Idee der Zweckmäßigkeit als solcher, und so dienen die exemplarischen Leben herausragender Individuen vor allem dazu, mich meiner eigenen Natur näher zu bringen: »Other men are lenses through which we read our own minds.« 56
Ausblick Emersons von der kantischen Ästhetik ausgehende Konzeption gelingender Lebensentwürfe und Vorbilder im moralischen Handeln unterläuft die distinkte Trennung unterschiedlicher Erfahrungsbereiche, die sich jeweils mit angemessenen Methoden erfassen und begrifflich adäquat beschreiben lassen. Das in der Kritik der Urteils54 55 56
Emerson, CW 2, S. 27. Vgl. Sölch (2021), S. 35 f. Emerson, CW 4, S. 4.
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kraft vorfindliche Konzept ästhetischer Erfahrung, die mit einem unauflösbaren und dennoch produktiven Spannungsverhältnis von Sinnlichkeit und Verstand verbunden ist, stellt für Emerson den Prototyp von Erfahrung überhaupt dar. Jede Erfahrung, zumindest jede subjektiv als bedeutsam erlebte Erfahrung, zeichnet sich durch einen Anschauungsüberschuss aus, dem wir uns zwar begrifflich annähern können, ohne ihn jemals zu erschöpfen. Wo Erfahrung bewusst gestaltet wird, sei es in Form moralischer Handlungen, politischer Entscheidungen oder gelingender individueller Lebensentwürfe, vermag sie als Vorbild zu dienen, an dem andere sich zu orientieren vermögen, wenn sie sich vor konkrete Herausforderungen gestellt sehen, ohne dass diese Orientierung allerdings zu einem verbindlichen und stricto sensu objektiven Resultat führen würde. ›Genial‹ sind solche Lebensentwürfe oder Handlungen, die zwar unsere Anerkennung als gelingend oder moralisch begrüßenswert einfordern, allerdings nicht insofern sie auf der Befolgung einer im Vorfeld gefassten Regel beruhen. Sie sind damit auch keiner intersubjektiv verbindlichen Begründung zugänglich. Das Genie, so die Konsequenz, rechtfertigt seine Handlungen nicht, sondern wird durch seine Handlungen gerechtfertigt, die wiederum zum Ausgangspunkt einer Suche nach Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien erfolgreichen Handelns werden können. Philosophie stellt für Emerson den Versuch dar, solche Erfahrungen, in denen sich die Genialität ihrer Urheber manifestiert, intelligibel zu machen. Der exemplarische Charakter repräsentativer schöpferischer Leistungen, der sich in den Werken eines Platon oder Montaigne ebenso niederschlägt wie in den Taten eines Napoleon oder dem Lebensentwurf eines Goethe, kann jedoch nicht formalisiert oder in Form einer argumentativ zwingenden Darlegung mitgeteilt werden. Philosophie muss hier unweigerlich auf die Mittel der Literatur in dem Sinne zurückgreifen, dass sie ihre Form dem Gegenstand anpasst, ohne ihn in ein vorgefertigtes Korsett logischer Analyse oder abstrakter Begriffe zu pressen. Insofern folgen vor allem die Darstellungen der menschheitsgeschichtlich bedeutsamen Repräsentanten in Emersons Representative Men weder einem einheitlichen Schema noch orientiert sich die Rekonstruktion ihrer Genialität an einem gemeinsamen Maßstab, dem alle gleichermaßen genügen würden. Literarisch muss die Philosophie sein, um der Individualität der verschiedenen Persönlichkeiten gerecht zu werden, die sich nicht auf ein allgemeines, begrifflich fassbares Prinzip der Größe reduzieren 105 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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lassen. Philosophisch bleibt die literarische Schilderung der Persönlichkeiten deshalb, weil sie auf die argumentative Hinführung zu einer Einsicht in die tatsächliche herausragende Exemplarität ihrer jeweiligen Schöpfungen abzielt, mithin die allgemeine Anerkennung ihrer Leben als Vorbilder, die keine unmittelbare Nachahmung, wohl aber Anregung zur Reflexion der eigenen Lebensführung und der eigenen Handlungen einfordern. Emersons Modell der subjektiven Allgemeinheit ethischer Vorbilder, die weder auf ein Erkenntnisurteil noch auf einen bloßen Gefühlsausdruck abzielt, ist in der Philosophiegeschichte immer wieder affirmativ aufgegriffen und in unterschiedlicher Akzentuierung fortgeschrieben worden. Es findet beispielsweise Resonanz in Henry David Thoreaus Schriften zum Widerstand gegen die Zivilregierung, die das Widerstandsrecht nicht an eine Vernunftmaxime knüpfen, sondern an ein subjektives Gerechtigkeitsempfinden, das zugleich als von allen Menschen, die sich bewusst Rechenschaft über ihr moralisches Empfinden ablegen, geteilt vorgestellt werden soll. 57 Zugleich nimmt die auf dem Gerechtigkeitsempfinden basierende Widerstandshandlung symbolischen Charakter an, insofern sie anderen im öffentlichen Raum als Orientierung zu dienen vermag. Sie entzieht sich einer rein rationalen Begründung, erlaubt aber die argumentative Hinführung zu einem Verständnis des ihr zugrundeliegenden Prinzips, so etwa im Fall von John Brown, der noch vor Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs ein Recht auf gewaltsamen Widerstand gegen die Sklavereigesetze der Südstaaten für sich in Anspruch nahm und, nicht zuletzt dank Thoreaus Argumentation, bis heute als Widerstandskämpfer gegen ein System moralischen Unrechts anerkannt wird. Ein solches Verständnis von Ethik und Philosophie hat zuletzt Stanley Cavell unter dem Begriff des ›Emersonian Perfectionism‹ wieder aufgegriffen. Das Streben nach moralischer Vervollkommnung ist für Cavell das Bemühen, sich selbst verständlich zu machen und Rechenschaft darüber abzulegen, wer man ist und wie man handeln soll. Emerson ausdrücklich in Dialog mit Kant bringend, verweist Cavell auf die Unterscheidung zwischen dem pflichtgemäßen Handeln und dem Handeln aus Pflicht, die, ebenso wie Emersons Kritik sozialer und moralischer Konformität, die Unabdingbarkeit eines authentischen Ethos unterstreiche. Unter demokratischen Ver57
Vgl. Sölch; Wackers (2018), S. 76 ff.
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hältnissen seien wir vor diesem Hintergrund Instanzen der wechselseitigen Erziehung (educations) füreinander: Entscheidend sei weniger, andere argumentativ von der mangelnden Allgemeingültigkeit ihrer Ansichten zu überzeugen, als vielmehr »to manifest for the other another way« 58, das eigene Denken und Handeln als Vorbild anzubieten, in der Hoffnung, damit einen sensus communis zu adressieren, der die Allgemeinheit des subjektiven Urteils verbürgt.
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Ana Honnacker
Annäherungen an das Überschüssige. Erzählung und Wirklichkeit bei William James
Einführung »We should never have spoken elliptically. The critics have boggled at every word they could boggle at, and refused to take the spirit rather than the letter of discourse.« 1 Was William James hier in einem seiner zahlreichen Versuche der Richtigstellung gegenüber seinen Kritikern beklagt, ist ein bestimmter Blick auf seine Art zu schreiben, und mehr noch, seine Art Philosophie zu betreiben. Er fühlt sich missverstanden, und dieses Missverstehen schreibt er einer Haltung zu, der er zutiefst skeptisch gegenübersteht: ein intellektualistischer Begriffsfetischismus, der logische Systematisierung und Exaktheit als oberste Gütekriterien theoretischer Reflexion setzt. Der philosophische Pragmatismus, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts als erste genuin amerikanische Philosophie entsteht, lässt sich als Ruf nach einer Erneuerung der Philosophie verstehen, eine Infragestellung der dominanten akademischen Auffassung von Theoriebildung überhaupt. Die Frage, worum es der Philosophie geht – oder genauer noch: gehen sollte – ist gewissermaßen eine ständige Begleiterin der pragmatistischen Bearbeitung philosophischer Probleme. Zugleich bestimmt sie bereits, welche Probleme überhaupt als bearbeitenswert identifiziert werden. Philosophie, so fordert John Dewey, solle eben nicht die Probleme der Philosophinnen und Philosophen, sondern die Probleme der Menschen in den Blick nehmen und bewältigen. 2 Damit ist ein radikales Reformanliegen vorgebracht, das dem Pragmatismus den Ruf einbrachte, theoriefeindlich zu sein. Nicht zuletzt die deutschsprachige Philosophie nahm eine deutlich ablehnende Haltung ein und erblickte im Pragmatismus gar eine
1 2
James (1975), S. 99. Dewey (2004), S. 193.
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Ana Honnacker
»Anti-Philosophie« 3, ein reines Nützlichkeitsdenken – worin sich nicht nur Abwehrreaktionen der klassisch Philosophietreibenden, sondern auch die seinerzeit verbreiteten anti-amerikanischen Ressentiments der deutschen Intellektuellen ausdrückten. Dass es zu dieser Bewertung gekommen ist, daran hat William James einen erheblichen Anteil: Unter den Gründungsfiguren des philosophischen Pragmatismus ist es vor allem James, auf den sich der Vorwurf der Theoriefeindlichkeit kapriziert hat – und nicht ohne Grund. Seine terminologische Unschärfe, seine fehlende konzeptuelle Systematik (selbst hinsichtlich zentraler Begriffe wie dem der Erfahrung) und sein Hang zu metaphorischer Rede laden geradezu ein, ihn misszuverstehen. Eilert Herms hält fest, dass die Uneindeutigkeiten und Ambiguitäten des Jamesschen Textes wesentlich zur »Aufgeregtheit und Ergebnislosigkeit« 4 der nachfolgenden Rezeption beitrugen – zumal er lange Zeit der prominenteste Vertreter des Pragmatismus war. James’ Stil wurde und wird ihm beinahe durchweg als fachliches Defizit ausgelegt. So besteche er, wie man es auch in gegenwärtigen Publikationen noch nachlesen kann, durch rhetorische Eindrücklichkeit; dies gehe aber zu Lasten der terminologischen Präzision, er lege »wenig Wert auf exakte Begriffserklärungen, epistemologische Reflexionen oder eine transparente Begründung seiner Wertmaßstäbe. Diese Schwächen werden durch seinen Plauderton an manchen Stellen noch vergrößert.« 5 Kritik kommt jedoch nicht nur von Seiten der ihrerseits von James kritisierten traditionellen Philosophie. Auch Charles Sanders Peirce beklagte, mit James sei der Pragmatismus ›in die Fänge der Literatur geraten‹ und werde so beschädigt. 6 Was Peirce hier despektierlich meint, nämlich dass James ein literarischer Philosoph sei, soll im Folgenden versuchsweise als Arbeitshypothese gelten, die womöglich hilft, besser zu verstehen, worum es James geht – eben den »spirit« seines Philosophierens zu erfassen. Zum Vorwurf des Theorieverzichts oder gar der »Anti-Philosophie« vgl. z. B. Pape (2002), S. 8 f. und S. 334 ff.; Strohmaier (2019), S. 7 f. und ausführlicher Joas (1992). Zur Rezeption im deutschsprachigen Raum siehe weiterhin den entsprechenden Artikel von Sölch (2018) im Handbuch Pragmatismus. 4 Herms (1977), S. 151. Dazu ähnlich auch Seibert (2009), S. 330. 5 Thies (2009), S. 9. Ähnlich auch der James-Biograph Perry: »He was much more afraid of thinness than he was of inconsistency.« Perry (1948), S. 375. 6 Vgl. Misak (2013), S. 225. 3
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Annäherungen an das Überschüssige
Dazu soll zunächst gefragt werden, welche Gründe sich dafür anführen lassen, James als ›literarischen Philosophen‹ auszuzeichnen. Auf einer ersten Ebene ist natürlich seine hohe Affinität zu literarischen Werken augenfällig, die sich in seinen eigenen Texten durchschlägt, manifestiert in einer Vielzahl an herangezogenen Beispielen aus Dichtung und Prosa. Über diese Illustrationsfunktion von Literatur hinaus pflegt James selbst in seinen veröffentlichten Schriften einen Stil, dem ein allzu technischer Jargon fremd ist und dem eher an Anschaulichkeit und Lebendigkeit gelegen ist. Seine Arbeiten treten also durchaus auch mit einem eigenen literarischen Anspruch auf. Es sind aber mehr als diese sozusagen reinen Formgründe, die die Charakterisierung von James als einen Vertreter literarischer Philosophie nahelegen. In einem zweiten Schritt soll die These stark gemacht werden, dass sein Stil keineswegs etwas Äußeres oder gar Zufälliges ist, sondern untrennbar mit der Philosophie und dem Philosophieverständnis von James verknüpft ist. Sein humanistischer Pragmatismus will eben keine Lehnstuhl-Philosophie sein, kein abstraktes Begriffssystem, in das die Fülle menschlicher Erfahrungswirklichkeit sauber einsortiert werden könnte. Will Philosophie einen Beitrag zur Beheimatung des Menschen in der Welt leisten, so muss sie dem Überschüssigen, das jeder Erfahrung zu eigen ist, Rechnung tragen. Der Modus des (diskursiven) Erzählens ist dabei eine Weise, sich diesem ›Mehr‹ der Wirklichkeit experimentell anzunähern. Daraus lässt sich, wie abschließend kurz umrissen werden soll, eine philosophische Stilkritik entwickeln, deren reformatorischer Impuls, nicht zuletzt auch mit Blick auf gegenwärtiges akademisches Philosophieren, noch nicht eingelöst ist.
Warum James als literarischer Philosoph? Affinität zur Literatur Was spricht nun aber überhaupt dafür, James als literarischen Philosophen unter den anderen pragmatistischen Denkerinnen und Denkern hervorzuheben? Ausgerechnet James, der zunächst Chemie, dann Vergleichende Anatomie und Physiologie studierte hatte, also eine naturwissenschaftliche Ausbildung hatte, und sein Medizinstudium schließlich mit einem Doctor of Medicine abschloss? Auch seine universitäre Karriere zeichnet ihn als ernsthaften scientist aus: 111 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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So wurde James zunächst zum Dozenten für Physiologie, wenig später auch für Anatomie, in Harvard berufen, wo er 1889 schließlich Professor für Psychologie wurde. 1890 veröffentlichte er nach zwölf Jahren Arbeit The Principles of Psychology, ein Werk, das als begriffsprägender Klassiker gilt und die wissenschaftliche Psychologie in Abgrenzung zur Philosophie als akademisches Fach in den Vereinigten Staaten begründete. Vor diesem Hintergrund scheint die häufige Charakterisierung von James als wahlweise »philosophierender Psychologe oder psychologisierender Philosoph« 7 naheliegender – als ›literarische‹ unter den Gründungsfiguren des Pragmatismus identifizierte Russell denn auch den heute so gut wie vergessenen F. C. S. Schiller. 8 Trotzdem ist es weniger als Bruch denn als Kontinuität zu betrachten, dass James 1897 schließlich Professor für Philosophie wurde. Zum einen waren die disziplinären Grenzen in der Formierungsphase der amerikanischen Universitäten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch durchlässiger und unschärfer, als sie es heutzutage sind. Zum anderen sind bereits die Principles von einer zutiefst philosophischen Perspektive durchdrungen. Die in ihnen entwickelte teleologische Theorie des Geistes ist ein maßgeblicher Grundgedanke in James’ späterem Pragmatismus. Die in Auseinandersetzung mit Darwins 1859 erschienenem On the Origin of Species entstandene Idee einer interessegeleiteten Selektion von Wahrnehmung und Bewusstseinsinhalten fand Eingang in seine philosophischen und religionspsychologischen Überlegungen. Und bereits für die Principles gilt, was sich in James’ späterem Schaffen fortsetzt: Er hält sich nicht an Genregrenzen. Zwischen neurologisch-medizinischen Abhandlungen und physiologischen Zeichnungen findet man Verweise auf philosophische Fachliteratur – und man kann unerwartet auf eine Passage aus Jane Austens Emma (1815) stoßen. Das macht die Principles auch für Fachfremde zugänglich und lesenswert. Der pragmatistische Anspruch, Philosophie nicht im abstraktluftleeren Raum stattfinden zu lassen, sondern an den ›gesunden Menschenverstand‹, den Common Sense 9, und damit die lebensweltJung (1999), S. 158. Russells Sceptical Essays, S. 61, zitiert nach Abel (1955), S. 3. Der wissenschaftliche (scientific) Protagonist des Pragmatismus ist für Russell allerdings Dewey, während er James die Rolle des religiösen Vertreters zuweist, vgl. ebd. 9 Unter Common Sense versteht James eine bestimmte Phase beziehungsweise einen Typ des Denkens dar, den er der Wissenschaft und der Philosophie gegenüber- oder 7 8
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liche Erfahrung anzuknüpfen, wird bei James in besonderem Maße durch literarische Referenzen eingelöst, und damit hebt er sich von seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern ab. Auch John Dewey oder Jane Addams greifen immer wieder auf konkrete Fallbeispiele aus der sozialen Arbeit, in der sie engagiert waren, aus der Pädagogik oder auf Szenen des alltäglichen Lebens, zurück. Für James’ Texte charakteristisch sind darüber hinaus jedoch die Verwendung von einprägsamen Metaphern wie dem cash-value der Wahrheit, dem stream of consciousness oder den moral holidays – und eben zahllose literarische, vor allem poetische Verweise, etwa auf G. K. Chesterton, William Wordsworth, George Bernard Shaw oder Walt Whitman, um nur einige zu nennen. James illustriert seine Gedanken und bedient sich zu diesem Zwecke gewissermaßen, wo er nur kann: Er sammelt, stellt (neu) zusammen, und erzeugt so ein diskursives Panoptikum. 10 James’ hohe Affinität zur Literatur dürfte dabei auch biographisch begründet sein. Er wuchs in einer intellektuell anregenden Umgebung auf, die durch seinen Vater, einen theologischen Schriftsteller und Anhänger Swedenborgs, bestimmt und gefördert wurde. Henry David Thoreau (1817–1862) verkehrte ebenso eng mit der Familie James wie Ralph Waldo Emerson (1803–1882), der zum Paten von William wurde. Auch Nathaniel Hawthorne zählte zu den häufigen Gästen im Hause James. Mit seinem jüngeren Bruder Henry James, der als einer der bedeutendsten amerikanischen Literaten gelten kann, stand er zeitlebens in einem bemerkenswert engen Austausch – lange Jahre davon in Form eines intensiven Briefwechsels über den Atlantik hinweg. Bedeutsam dabei war nicht zuletzt die wechselseitige, auf Augenhöhe stattfindende Diskussion über ihre Arbeiten, die von hoher gegenseitiger Wertschätzung geprägt war und gerade deshalb auch offene und deutliche Kritik zuließ. Ein anonymes Epigramm bringt es folbesser: an die Seite stellt, und der die allgemeinen Kategorien bereitstellt, nach denen Menschen ihre Erfahrungen ordnen. Vgl. James (2016), S. 104 sowie die gesamte fünfte Vorlesung. 10 Alexandra Strohmaier (2019) untersucht James’ »diskursive […] Strategie der Textproduktion« (S. 177) und den dadurch erzeugten »intertextuellen Dialog« (S. 178) im Anschluss an Goethes Praxis und Theorie des Sammelns ausführlich, insbesondere anhand der Pragmatismusvorlesungen und der Principles, und kommt zu dem Schluss: »Wie bei Goethe lässt sich auch bei James die Sammlung, (Neu-)Konstellation und Umschrift disparater Text(teil)e als konstitutives Verfahren der Textgenese ausmachen.« (S. 177; vgl. S. 177–198).
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gendermaßen auf den Punkt: »Henry wrote novels like a psychologist and William wrote psychology like a novelist« 11. Jacques Barzun stellt in seiner James-Biographie die Principles of Psychology gar in eine Reihe mit Werken wie Melvilles Moby-Dick (1851) oder Tolstoys Krieg und Frieden (1865–69). 12 Die literarische Dimension von James’ Schriften erschöpft sich also nicht allein in der Tatsache, dass er in umfangreichem Maße literarische Werke anderer heranzieht, um seine eigenen Gedanken zu illustrieren. Er verfolgt vielmehr einen eigenen literarischen Anspruch mit seinen Texten. Philosophie und Literatur verschränken sich. 13 Im Folgenden soll entsprechend der Aspekt des philosophischen Stils von James genauer in den Blick genommen werden. Dazu ist noch einmal zum Vorwurf der Ungenauigkeit zurückzukommen.
Mündlichkeit Zur Einordnung des Jamesschen Stils muss zunächst einmal ein schlicht pragmatischer Gesichtspunkt in Rechnung gestellt werden, nämlich dass ein Großteil seiner Texte als Vorlesungen konzipiert wurde. Sie sind daher an einer Hörerschaft, nicht an einer Leserschaft, ausgerichtet, die darüber hinaus nicht unbedingt aus fachwissenschaftlich gebildetem Publikum bestand. James’ Bereitschaft und Fähigkeit, dieses Publikum anzusprechen, erhellt sein Philosophieverständnis und bietet einen hermeneutischen Schlüssel zur Art und Weise seines Schreibens. James war über die Universitätsgrenzen hinaus als engagierter Lehrender bekannt. Zu den Studierenden, die er sowohl durch seine Lehrveranstaltungen als auch über persönliche Kontakte prägte, zähl-
Barzun (1983), S. 220. Zur Beziehung der James-Brüder siehe ausführlicher ibid., S. 181–226, und Richardson (2006), S. 459–467. 12 Barzun (1983), S. 34–36. 13 Die »Literarizität« oder auch »Poetizität« des Jamesschen Pragmatismus hat Alexandra Strohmaier überzeugend herausgearbeitet und in den Kontext der literarischen Philosophie und der philosophischen Literatur der Goethezeit situiert (vgl. Strohmaier (2019), S. 29–59). Auch sie verweist nicht nur auf die inhaltliche Rolle »literarisch verfasster Philosopheme« für James, sondern stellt ebenso die formale Ebene heraus, sodass James’ Philosophie an sich als literarische Praxis in den Blick kommt. 11
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ten unter anderem Gertrude Stein, W. E. B. Du Bois und George Santayana. Aus der regen Vorlesungstätigkeit von James gingen auch die meisten seiner Veröffentlichungen hervor, und zwar insbesondere jene, die als zentral für seine Philosophie gelten können: 1897 erschien die Sammlung The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, über deren missverständlich gewählten Titel sich James schon sehr bald ärgern sollte. Die 1901/02 in Edinburgh gehaltenen Gifford-Lectures wurden unter dem Titel The Varieties of Religious Experience: A Study in Human Nature herausgegeben. Sie entwickelten sich rasch, nicht zuletzt wegen einer Leserschaft, die weit über das Fachpublikum hinausging, zu einem (auch kommerziell) großen Erfolg und wurden zu einem religionspsychologischen Klassiker. Und schließlich geht auch sein 1907 erschienenes programmatisches Werk Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking auf eine Vorlesungsreihe zurück. Eine zu technische und abstrakte Sprache wollte James also schon rein aus Gründen der Hör- bzw. auch Lesbarkeit vermeiden. Den Beispielen und Erläuterungen aus dem ganz alltäglichen Leben – und eben auch der Literatur – kommt damit eine wichtige Vermittlungs- und Illustrationsfunktion zu. Sein im besten Sinne populärwissenschaftlicher Stil stellt zugleich eine bewusste Abgrenzung gegen die überprofessionalisierte Ausdrucksweise der akademischen Philosophie dar. Es geht James mit seiner Metaphorik um »eine ›Vitalisierung‹ des philosophischen Diskurses« 14. Dies führt zur Frage des philosophischen Anspruchs und Selbstverständnisses.
Public Philosophy und Beheimatung Im Begriff »populärwissenschaftlich« schwingt oftmals – und nicht zuletzt unter jenen, die Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Tätigkeit erheben – eine pejorative Konnotation mit. Dem Pragmatismus jedoch ist gewissermaßen das »Populär-Sein« ein immanenter Anspruch. Gerade James begreift Philosophie als ein Projekt, das lebenspraktische Orientierung bieten soll. Das konkret gelebte Leben wird zum Gütekriterium einer Philosophie, und die zentrale Frage dabei ist, inwieweit sie dazu beiträgt, sich in der Welt zu beheimaten.
14
Strohmaier (2019), S. 195.
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Welche philosophische Position man sich aneignet, ist daher weniger ein Ergebnis rein rationaler Abwägungen, sondern vielmehr eine Frage von Bedürfnissen, Präferenzen und des persönlichen Temperaments. Philosophie wird damit zu einem persönlichen, existenziellen Anliegen; sie ist immer auch Lebensphilosophie: Wir beurteilen die Gesamtverfassung des Universums mithilfe unseres Gefühls und vergleichen dies mit dem Aroma der uns angebotenen Philosophie; und ein Wort genügt. […] Nur wenige Menschen haben eine eigene, explizit artikulierte Philosophie. Aber fast jeder hat einen eigenen, speziellen Sinn für die Gesamtverfassung der Welt sowie für die Unmöglichkeit, diese völlig an die ihm bekannten, speziellen Systeme anzupassen. Sie decken seine Welt nicht einfach ab. Das eine ist vielleicht zu geschniegelt, ein anderes zu pedantisch, ein drittes eine bloße Ansammlung von Meinungen, ein viertes zu morbide und ein fünftes zu künstlich – und was immer sonst noch.« 15
Seinen Pragmatismus führt James als »vermittelnden Weg des Denkens« 16 ein, eine Alternative zwischen den Optionen von Rationalismus und Empirismus, als Angebot der Versöhnung zwischen widerstreitenden Bedürfnissen. Der moderne Mensch, so diagnostiziert James, findet sich in einem Spannungsfeld zwischen (natur-)wissenschaftlichem Leitparadigma und rationalistischen Lehrsystemen, die ihn letztlich entweder in den Nihilismus führen oder aber realitätsferne Heilsversprechen machen, seien sie nun religiöser oder philosophischer Natur. Diese Spannung weniger aufzulösen als auszuhalten und kreativ zu wenden, steht im Zentrum des Jamesschen Pragmatismus. Die Frage, wie unter Bedingungen der Ungewissheit gelebt – und das heißt: entschieden und gehandelt – werden kann, lässt sich damit als Kristallisationspunkt seines Denkens betrachten. Und es ist auch seine ganz persönliche Frage, das, was James selbst umtreibt. Nur allzu zutreffend ist daher das Zitat von Walt Whitman, das James aufnimmt und für sich annimmt: »Wer dieses Buch berührt, berührt einen Menschen.« 17 Der Pragmatismus soll also eine Philosophie sein, nach der man leben kann, eine Weltanschauung 18, die zur Beheimatung beiträgt. Er kann, will er diesen Anspruch einlösen, sich nicht als rein auf den James (2012), S. 25 f. Ibid., S. 27. 17 Ibid., S. 24. Vgl. dazu auch Richardson (2006), S. 486. 18 Ein Begriff, der sich als deutsches Lehnwort im Englischen zum ersten Mal in einem Brief von James findet; vgl. Naugle (2002), S. 64. 15 16
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akademischen Raum beschränktes Spezialanliegen verstehen. Er muss im besten Sinne ein populäres, und eben kein elitäres, lebensfernes Projekt sein. Das beginnt mit einem Sprachduktus, der einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und für diese nachvollziehbar ist. Für James, der sich selbst als public philosopher verstand, 19 stand daher nicht die technisch-begriffliche Exaktheit der Sprache im Vordergrund, sondern ihre Lebendigkeit und Aussagekraft: »I don’t care how incorrect my language may be if it only has fitness of epithet, energy, and clearness.« 20 Gewissermaßen spiegelt sich in der Vielfalt, Offenheit und auch Widersprüchlichkeit seiner Texte James’ Idee von der Verfasstheit des Lebens selbst, sowie seine performative Weigerung, dieses rückstandslos zu rationalisieren. 21
»Vicious Intellectualism«: James’ Intellektualismuskritik Schon auf stilistischer Ebene stellt der Pragmatismus also einen ausdrücklichen Gegenentwurf zur klassischen akademischen Philosophie dar. Wie auch John Dewey war James geprägt von einer tiefen Skepsis gegenüber dem, was zusammenfassend als Hang zu einem vicious intellectualism identifiziert wird: die Tendenz akademischer Philosophie, Abstraktes über Konkretes, logische Systeme und Begriffe über den Common Sense und die Fülle der Erfahrung zu stellen. Diese Skepsis drückt sich in einer Kritik am Vorgehen der Philosophie aus, die von einer Kritik an ihrer Sprache nicht zu trennen ist. Prinzipiell ist die Ausbildung von abstrakten Begriffen und allgemeinen Theorien auch aus Sicht des Pragmatismus eine Entwicklung, die dem Menschen durchaus zum Vorteil gereicht und ihn schneller und angemessener handeln und Probleme lösen lässt. Auf den Vorgang der Begriffsbildung wird später noch einmal ausführlicher zurückzukommen sein. Problematisch wird es laut James dann, wenn die begriffliche Arbeit sich gewissermaßen von den Dingen entkoppelt und einen Primat beansprucht: Intellectualism in the vicious sense began when Socrates and Plato taught that what a thing really is, is told us by its definition. […]. It
19 20 21
Vgl. ausführlich zur Rolle James’ als öffentlichem Intellektuellen Cotkin (1990). Zitiert nach Richardson (2006), S. 487. Vgl. Strohmaier (2019), S. 180.
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is but the old story, of a useful practice first becoming a method, then a habit, and finally a tyranny that defeats the end it was used for. 22
Richtet sich die Philosophie nach diesem gleichsam überformten Rationalismus, so geht sie am Eigentlichen vorbei, dem alltäglichen, konkreten Leben der Menschen: »It is a monstrous abridgment of life, which, like all abridgments is got by the absolute loss and casting out of real matter. This is why so few human beings truly care for philosophy.« 23 Zu dieser Entfremdung – und letztlich lebensweltlichen Bedeutungslosigkeit – der Philosophie trüge zudem noch der in der academia weitverbreitete elitäre Habitus bei. Einfache, verständliche Sprache werde abgewertet und als oberflächlich und gar unwissenschaftlich abgetan, gerade unter dem Einfluss der deutschen Philosophie: James, who considered philosophic visions important not to specialists only but to all mankind, was bound to regard the failure to write intelligibly a fundamental flaw in any vision. […] James did not ignore the necessity of professional skill in philosophic discussion […] [b]ut he considered technical solutions preliminary, not the final substance. 24
Als exemplarisches Beispiel für jene in Form wie Inhalt intellektualistisch fehlgeleitete Philosophie diente James Hegels Denken, das er zugleich als dominanteste philosophische Strömung seiner Zeit identifizierte. ›Seinen‹ Hegel rezipierte James dabei jedoch weniger durch eigene intensive Lektüre als über jene Neo-Hegelianer, die in Oxford und Cambridge prominent und äußerst einflussreich vertreten waren und damit als Sparringspartner respektive philosophisches Feindbild taugten. 25 So arbeitet sich James ausführlich und geradezu genüsslich an Hegel – oder vielmehr einem hegelianischen Strohmann – ab, etwa indem er diesem eine geradezu perverse Vorliebe für den Gebrauch technischen Jargons bescheinigt: »Hegel wrote so abominably that I cannot understand him« 26. Die sprachliche Exklusivität spiegelt sich für James darüber hinaus in einer gedanklichen Abgeschlossenheit der hegelschen Systemphilosophie. Sie sei vergleichbar mit einer 22 23 24 25 26
James (1977), S. 99. James (1979a), S. 61. Barzun (1983), S. 133 f.; vgl. James (1977), S. 12 ff.; Vgl. z. B. Richardson (2006), S. 211–217. James (1979b), S. 51; vgl. auch James (1977), S. 44.
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Mausefalle, in der man, einmal eingetreten, für immer stecken bleiben könne, und so empfiehlt er: »Safety lies in not entering.« 27 Einen ganz ähnlichen Vorwurf des weltarmen Intellektualismus muss sich die Theologie von James gefallen lassen, deren dogmatische Lehrsysteme Wahrheit allein durch Vernunft garantieren wollten. Damit ziele sie auf die Ausübung von Autorität und Macht, ihre orientierende und weltbewältigende Funktion jedoch verlöre sie dadurch: Wortklauberei ist an die Stelle von Vision getreten, Fachlichkeit an die des Lebens. Statt Brot liefert man uns Steine, statt eines Fisches eine Schlange. Gäbe ein solches Konglomerat abstrakter Begriffe wirklich den Kern unseres Wissens von Gott wieder, würden die theologischen Schulen sicher weiterhin blühen, aber die Religion, die lebendige Religion, hätte längst die Flucht aus der Welt angetreten. 28
Obwohl also eine Entsprechung von Philosophie und Temperament behauptet wird und damit eine grundsätzlich existentielle Dimension der philosophischen Tätigkeit, ist der Stil des Philosophierens, oder allgemeiner, der weltanschaulichen Reflexion, keine reine Geschmacksfrage. Auch hier gilt gewissermaßen form follows function. Die Funktion jedoch, an der sich jegliches Philosophieren (und zwar nicht nur bezüglich der Form) messen lassen muss, ist die Beheimatung in einer Welt, die in kein System passt, die chaotisch, kontingent und widersprüchlich ist und sich folglich einer einheitlichen Totalansicht entzieht.
Ein Überschuss an Welt Düstere Romantik Eine Philosophie, die einer solchen Welt angemessen ist – und die James anbieten möchte – ist dementsprechend »eine mosaikartige Philosophie, […] eine Philosophie der Tatsachenvielfalt« 29, eine Weltanschauung, die im Vergleich zu rationalistischen, systematischen Philosophien geradezu chaotisch wirken muss: »a turbid, muddled,
27 28 29
James (1979a), S. 204. James (1997), S. 339 f. James (2006), S. 29.
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gothic sort of affair, without a sweeping outline and with little pictorial nobility.« 30 Wir finden uns in einer grundsätzlich unordentlichen, chaotischen Welt vor, einem »messy universe« 31, in dem weder Ordnung noch Sinn vorgefertigt sind. Beides wird vielmehr zur Aufgabe des Menschen. In einer ursprünglichen Sicht auf die Welt zeigt sich diese Vielgesichtigkeit der Welt noch ungezähmt durch Theorien und Klassifikationen, sie erscheint als eine »Walpurgis-nacht procession, a checkered play of light and shadow, a medley of impish and elfish friendly and inimical powers« 32. Diese vor-intellektuelle, naturverbundene, primitive Sichtweise hat durchaus auch etwas Verschreckendes: »Nature, more demonic than divine, is above all things multi-farious. […] The symbol of nature at this stage […] is the sphinx, under whose nourishing breasts the tearing claws are visible.« 33 Für James ist bei allen menschlichen Bemühungen um eine Einhegung des Chaos dieser bedrohliche oder zumindest unheimliche Grundton nie ganz zu tilgen. Sein Denken ist in diesem Sinne als romantisch zu bezeichnen, und zwar mit einem deutlichen Hang zur düsteren Romantik. 34 James besaß einen ausgeprägten Sinn für die tragische Dimension des Lebens, für die Momente des Verlustes und des Scheiterns als reale Möglichkeiten. 35 Das größte und zugleich unvermeidliche Scheitern stellt dabei der Tod dar, und das Bewusstsein unserer Sterblichkeit schleicht sich als alptraumhafte »Nachtansicht des Lebens«, als uns ständig umwehender »Hauch des Grabes« 36 in unsere Existenz. Diese Sicht ist dramatisch, geprägt durchaus auch vom Weltschmerz, den James Zeit seines Lebens verspürte, aber sie kippt nie ins Nihilistische. Das offene, chaotische Universum bietet zwar keine Sicherheit – simpler Optimismus wäre also fehl am Platz – aber es eröffnet auch einen Möglichkeitsraum, der unbedingt zu nutzen ist. James empfiehlt daher eine melioristische Haltung, 37 die mit einem 30 31 32 33 34 35 36 37
James (1977), S. 26. Connolly (2005), S. 70. James (1977), S. 15. Ibid., S. 22. Zur (dunklen) Romantik siehe Barzun (1983), S. 199. Vgl. z. B. James (2016), S. 182. James (1997), S. 164. Vgl. James (2016), S. 174 ff.
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unbedingten moralischen Auftrag einhergeht. Die prekäre Situation verlangt es, sich für die Verbesserung der Welt – das heißt konkret: der gesellschaftlichen Zustände, der gemeinsamen Lebensverhältnisse – zu engagieren. Aus dieser Pflicht kann niemand entlassen werden. 38 Die romantische Sicht bringt also eine Verantwortung mit sich. Dem Menschen wird zugemutet, es mit dem Chaos der Welt aufzunehmen, ihm Sinn zu verleihen – eine durchaus genuin philosophische Aufgabe. Zugleich darf er sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass, salopp gesprochen, jegliche Weltanschauung nur ein Versuch ist, sich auf alles einen Reim zu machen. Damit ist ein wichtiger Vorbehalt pragmatistischen Denkens gegenüber theoretischen Totalitätsansprüchen benannt: »No philosophy can ever be anything but a summary sketch, a picture of the world in abridgment, a foreshortened bird’s-eye view of the perspective of events.« 39
Anti-Reduktionismus und noetischer Pluralismus Die gewissermaßen metaphysische Hintergrundthese des Pragmatismus ist es, dass es immer einen Überschuss an Welt gibt, den wir nicht erfassen (können). Weder individuelle noch kollektiv artikulierte Perspektiven liefern eine erschöpfende Bestimmung des Ganzen. Damit ist jeglichen Totalitätsansprüchen eine Absage erteilt. Die Vorstellung, die Wirklichkeit ließe sich über einen einzigen Zugang erschließen und vollständig beschreiben, offenbart unter diesen Vorzeichen ihren reduktionistischen Charakter. James wendet diese Einsicht des Pragmatismus insbesondere gegen das geistige Klima seiner Zeit, in dem die empirischen Wissenschaften zunehmend als paradigmatisch galten. Mit seinem dezidierten Anti-Reduktionismus verteidigt James die menschliche Lebenswelt gegen den Zugriff der sciences in ihrem Eigensinn. James weiß sich zwar der Wissenschaft verpflichtet, besitzt zudem aber eine ausgeprägte Sensibilität für die Fallstricke einer Hegemonie wissenschaftlichen Weltzugangs. So verweist er zum einen mahnend (und in aus heutiger Sicht beinahe prophetischer Manier) auf die möglicherweise unbeherrschbar werdenden Konsequenzen 38 39
Vgl. z. B. Krämer (2006), S. 74–79 oder Honnacker (2018), S. 14–16. James (1977), S. 9.
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der rasant fortschreitenden Naturbeherrschung, die durch die durchaus anzuerkennenden Erfolge des wissenschaftlichen Denkens nur allzu leicht überdeckt würden: Man mag sogar befürchten, dass die Existenz des Menschen durch seine eigenen Fähigkeiten bedroht ist […]. Er mag in seinem Wohlstand ertrinken wie ein Kind in der Badewanne, das das Wasser angestellt hat und es nicht mehr abstellen kann. 40
Zum zweiten weist er auf die psychologisch-spirituellen Folgen einer ausschließlich an den (Natur-)Wissenschaften orientierten Einstellung hin, die gar die Form einer – freilich irregeleiteten – ›Religion‹ des Szientismus annehme. Diese »Zunahme naturalistischer oder positivistischer Stimmungen« leite eine geistige Barbarisierung ein, der entgegengewirkt werden müsse, eine »stetige Ausweitung der materiellen Welt und […] die Reduzierung der Bedeutung des Menschen« 41. Den damit einhergehenden Reduktionismus bewertet James als verkürzend und nicht ausreichend in der Erfahrung des Menschen verankert: »das Höhere wird durch das Niedrigere erklärt und nur noch als etwas behandelt, das bloß in anderer Gestalt daherkommt [.]« 42 Damit ist aber nicht allein ein rein theoretisch-philosophischer Makel beschrieben, der dem szientistischen Weltbild anhaftet. Vielmehr wirkt sich, so die Diagnose von James, ein solches Denken unmittelbar auf das Lebensgefühl aus: Diese »Sichtweise ist«, so urteilt er, »deprimierend« 43. Letztlich erleide die Welt mit dem reduktionistischen Materialismus und dem mit ihm für James verknüpften Determinismus einen »endgültige[n] und vollständige[n] Zusammenbruch« 44. James beschreibt das in einem eindrücklichen Bild: »Der rein naturalistische Blick aufs Leben, wie enthusiastisch dieses auch beginnen mag, endet zwangsläufig in Traurigkeit«, denn damit befände sich
James (2016), S. 114 f. Ibid., S. 13; vgl. auch James (1979a), S. 105. James skizziert damit die Grundsituation, auf die wenig später die philosophische Anthropologie zu antworten versuchte: das Sich-Problematisch-Werden des Menschen angesichts einer immer detaillierter durch die Naturwissenschaften erfassten und erklärten Welt. 42 James (2016), S. 13. 43 Ibid., S. 13. 44 Ibid., S. 65. Zur existentiellen Dimension des Determinismus bei James vgl. Cotkin (1990), S. 84–91 und Kaag (2020), S. 11–41. 40 41
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die Menschheit in einer ähnlichen Lage wie eine Handvoll Leute, die auf einem zugefrorenen See leben, umgeben von Felsen, über die man nicht entkommen kann, und die zugleich wissen, dass das Eis nach und nach schmilzt und der Tag unvermeidlich näherrückt, an dem die letzte Eisschicht verschwunden sein und es das Schicksal der menschlichen Kreatur sein wird, schmählich zu ertrinken. Je lustiger das Schlittschuhlaufen, je wärmer und funkelnder die Sonne des Tages und je farbenprächtiger die Feuerwerke in der Nacht, desto schmerzlicher die Traurigkeit, mit der man die Gesamtsituation erfasst. 45
Der pragmatistische Anti-Reduktionismus führt aber keineswegs zu einer anti-wissenschaftlichen Haltung. Vielmehr ist er eine Aufforderung zur unbedingten epistemischen Bescheidenheit – und zwar hinsichtlich sämtlicher Weltzugänge. Seien es die (Natur-)Wissenschaften, die Philosophie oder der Common Sense, sie alle erschließen je einen eigenen Ausschnitt der Wirklichkeit. Keine dieser Instanzen ist den anderen vorgeordnet, sie verhalten sich zueinander komplementär und kritisch-korrigierend. Daraus ergibt sich ein fundamentaler noetischer Pluralismus: Es gibt nicht die eine, objektive Beschreibung der Welt, sondern eine Vielzahl partikularer Perspektiven. Keiner Perspektive kommt dabei eine Vorrangstellung zu. Sämtliche Versuche, die Welt zu erfassen, seien sie individuell oder kollektiv-institutionalisiert, wie etwa in den Wissenschaften oder auch der Philosophie, sind daher auf Zusammenarbeit und wechselseitige Ergänzung angewiesen, um ein möglichst umfassendes, angemessenes Bild zu erhalten. Die Einheit der Wirklichkeit wird für James eher über den Aufweis von Verbindungen und Kontinuitäten (Synechismus) hergestellt als über eine Harmonisierung und Konvergenz der Perspektiven in einer ›AllForm‹ : »Das epische Netz der Welt lässt sich nicht auf einen linearen Erzählstrang reduzieren, die Annahme einer narrativen Einheit erweist sich vielmehr als rationalistische Simplifizierung im Dienste des Monismus« 46. Sich an die chaotische Wirklichkeit anzunähern – oder vielleicht besser noch: ihr adäquat zu begegnen –, erfordert keine grand unified theory (die es auch gar nicht geben kann), sondern eine multiperspektivische Erschließung, die nicht auf Vereinheitlichung zielt, sondern die Vielgesichtigkeit der Welt anerkennt. Bei James »geht die die InJames (1997), S. 165 f. Strohmaier (2019), S. 52. Zur »pluralistischen Wirklichkeit als Sammlung« (S. 131) bei James im Anschluss an Goethe vgl. ausführlich ibid., S. 161–175.
45 46
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szenierung der Polyphonie mit der Betonung der Widersprüchlichkeit als irreduzibler Faktor der (Wissens-)Kommunikation einher.« 47 Diese polyphone, diskursive Erschließung lässt sich als erzählerische Praxis verstehen.
Tiefenschicht Erfahrung: Begriffs- und Theoriebildung Um genauer zu bestimmen, dass es sich bei dieser Polyphonie um eine wirklichkeitserschließende (und nicht etwa willkürlich setzende) Erzählung handelt, ist die Tiefenschicht der zutiefst pluralen Wirklichkeit in den Blick zu nehmen. Womit erfahrende Wesen nach James zunächst konfrontiert sind, ist ein chaotischer Zustand, »a big blooming buzzing confusion« 48. Der Strom der Erfahrungseinheiten (bits) ist qualitativ vielfältig, uneindeutig, ungetrennt, und es gilt, ihn mit einem Begriffsinstrumentarium in beherrschbare, vereindeutigte Einzelerfahrungen zu zerschneiden und zu ordnen: »When we conceptualize, we cut out and fix, and exclude everything but what we have fixed. A concept means a that-and-no-other[.]« 49 Begriffe legen fest und stellen damit im selben Zuge etwas her. Dabei richtet sich dieser Prozess des worldmaking nach menschlichen Interessen und Bedürfnissen. Erst durch ihn wird eine Wirklichkeit geschaffen, die für Menschen von Belang und handhabbar ist. Das Ungeordnete, rein Gleichzeitige, das Alles-Auf-Einmal, wäre schlicht nicht beherrschbar, der Prozess des Herausgreifens durch Begriffe, des im wahrsten Sinne des Wortes Dingfest-Machens ist in James’ Entwurf beinahe ein Akt der Behauptung gegenüber einer überreichen, wuchernden Welt: »Sensible reality is too concrete to be entirely manageable […]. What we do in fact is to harness up reality in our conceptual systems in order to drive it the better.« 50 Diese Art der Vielfalt und Fülle der Welt ist zunächst erstmal etwas, das bewältigt werden muss. Im Zuge der (systematischen) Begriffsbildung ergibt sich damit ein direkter praktischer Nutzen: die Möglichkeit der Vorhersage von
Strohmaier (2019), S. 186. James (1979b), S. 32. 49 James (1977), S. 113. 50 Ibid., S. 110 f.; vgl. ebenso James (1979b), S. 39. Nicht von ungefähr wählt Helmut Pape (2002) die Attribuierung »dramatisch« für den Titel seiner Studie. 47 48
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Konsequenzen und damit des planvollen Handelns. Die Wirklichkeit wird eingerichtet durch Akte des Ausblendens, Zuschneidens und Sortierens dessen, was an Welt entgegenkommt: »[W]e break it: we break it into histories, and we break it into arts, and we break it into sciences; and then we begin to feel at home.« 51 Begriffe – und durchaus auch abstrakte Begriffe – dienen als effiziente Abkürzungen im Chaos des unmittelbar Gegebenen, sie machen das Denken effizienter gegenüber dem, was wir rein in der Konfrontation mit unseren Wahrnehmungen erreichen könnten: Sie helfen, das Dickicht an konkreten Eindrücken zu organisieren und zu vereinfachen, ein entscheidender Unterschied zu Tieren, die gleichsam im unwegsamen Unterholz verbleiben. »[M]en raise their heads higher and breathe freely in the upper conceptual air« 52. Die Fähigkeit zu begrifflichem Denken erweitert die Reichweite des Erkennens und Handelns. Diese ›Übersetzungsleistung‹ von Erfahrung in Sprache bildet aber nicht einfach die Welt, wie sie ›eigentlich‹ ist, ab, sondern konstituiert und konstruiert zuallererst menschliche Wirklichkeit. Das soll am Beispiel religiöser Erfahrung erläutert werden, die eine prominente Rolle in James’ Religionstheorie einnimmt. In Die Vielfalt religiöser Erfahrung werden vor allem recht extreme und zum Teil als pathologisch einzustufende religiöse Erfahrungen wie Konversionen oder Visionen beschrieben und verhandelt, die sich als mystische Erfahrung qualifizieren. 53 Mystische Erfahrungen zeichnen sich nach James durch vier Merkmale aus: 54 1. Unaussprechbarkeit: Es ist nur die unmittelbare Erfahrung der Qualität möglich, nicht aber ein verbal angemessener Bericht. 2. Noetische Qualität: Trotz der starken Parallele zu Gefühlszuständen haben mystische Erfahrungen Erkenntnischarakter, sie ›offenbaren‹ etwas mit besonderer Autorität. 3. Flüchtigkeit: Es handelt sich um zeitlich stark beschränkte Zustände.
James (1979a), S. 96. James (1975), S. 134. 53 Dabei handelt es sich um eine methodische Entscheidung, die James damit begründet, dass in diesen Fällen die Kategorisierung als »religiös« eindeutig und unbestritten und nur bei ihnen eine Untersuchung daher ergiebig und lohnenswert sei; vgl. James (1997), S. 72. 54 Vgl. ibid., S. 384 f. 51 52
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4.
Passivität: Zwar kann das Auftreten des Zustands vom Subjekt gezielt begünstigt werden, z. B. durch Meditation, letztlich entzieht er sich jedoch menschlicher Kontrolle, diese Erfahrungen herbeizuführen. Im hier verhandelten Kontext der begrifflichen Welterschließung und Wirklichkeitskonstitution sind nun vor allem die ersten beiden Merkmale interessant. Mit der Unaussprechbarkeit mystischer Erfahrung ist auf ihren nicht-begrifflichen Charakter verwiesen, der aber keineswegs zur Folge hat, dass es gänzlich unmöglich wäre, über diese Erfahrung zu sprechen. Vielmehr ›sperrt‹ sie sich gegen eine der gängigen sprachlichen Logik folgende Artikulation. Die paradoxe Sprache in den Berichten (oder besser: Berichtsversuchen) von Mystikerinnen und Mystikern lässt sich als Ausdruck dieser Unaussprechbarkeit verstehen. 55 Diese Eigenschaft teilt die mystische Erfahrung mit dem, was James ›reine Erfahrung‹ nennt, wobei die für die mystische Erfahrung typische Charakterisierung als Auflösung oder Verschmelzung der Einzelerfahrungen eine begriffliche Wirklichkeitserfahrung voraussetzt: Sie ist das »much-at-once« des normalen Bewusstseins ohne »analytic break-down« 56. Diese Reichhaltigkeit, die ganz im Gegensatz zur ›dumpfen‹ reinen Erfahrung steht, drückt sich auch im zweiten Merkmal aus, der noetischen Qualität. Wie wird aus dem in der Erfahrung enthaltenen noetischen Aspekt eine (begrifflich) artikulierte Überzeugung beziehungsweise gar ein (theologisches oder metaphysisches) Überzeugungssystem entwickelt? Wie lässt sich dieser sekundäre Akt, der ja laut James eine Art ›Übersetzung‹ darstellt, verstehen? 57 Die individuelle Erfahrung als primäres Element ist gewissermaßen ein analytisches Konstrukt. Sie ist nicht zu trennen von der Einbettung in einen mit anderen geteilten sprachlich-kulturellen Kontext. Unter Rückgriff auf die ihm angebotenen Deutungsmuster interpretiert das Individuum also seine Erfahrung als eine religiöse Erfahrung und objektiviert sie damit gewissermaßen bereits: Erst durch den Prozess des Formulierens wird es möglich, auf gelebte Er-
Vgl. ibid., S. 416 f. Levinson (1981), S. 260 (meine Hervorhebung, A. H.). Vgl. dazu auch Gale (1999), S. 296. 57 Philosophische und theologische Reflexionen versteht James als »sekundäre Produkte […], Übersetzungen eines Textes in eine andere Sprache vergleichbar« (James (1997), S. 426). 55 56
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fahrung ständig zurückzukommen und sich damit auf sie zu konzentrieren. Als Objektivierungsschemata bewirken die Ausdrucksgestalten eine Verstetigung und mithin die Identifizierbarkeit und Reidentifizierbarkeit des Erlebens, ohne welche die kulturellen Deutungssysteme der Religion nicht denkbar wären. 58 So hat James bei aller zum Teil sehr harschen Kritik durchaus auch eine positive Rolle für die Philosophie und Theologie vorgesehen. Sie ergänzen die »Kurzschlüsse« der religiösen Erfahrung und nehmen eine Vermittlungsfunktion zwischen divergierenden Erfahrungen ein, indem sie das Diskursmedium bereitstellen. Theologie mag »second-hand« sein, aber nicht »second-rate« 59. Was für die religiöse Erfahrung gilt, trifft aber an sich für jede Art der Erfahrung zu. In ihrem ›reinen‹ Zustand ist sie zunächst durch Indiskriminierbarkeit, Unmittelbarkeit und Vorsprachlichkeit gekennzeichnet – ein ›reines Das‹, wie James sich ausdrückt, das zu einem ›Was‹ geformt werden muss: »An immediate experience, as yet unnamed or classed, is a mere that that we undergo, a thing that asks ›What am I?‹ When we name and class it, we say for the first time what it is.« 60 Aber: Die ›reine Erfahrung‹ existiert eben nicht als tatsächliche Erfahrung, es gibt keine nicht-interpretierte Erfahrung. Jede menschliche Erfahrung ist immer schon informiert und konstituiert durch Begriffe und stillschweigende Annahmen, durch Selbst- und Weltbilder. Jede Erfahrung ist theoriebeladen. ›Reine‹ Erfahrungen sind also im Normalfall 61 reine Abstraktionen und nicht tatsächliche Bewusstseinsinhalte. Erst Begriffe ermöglichen, Erfahrungen ›von etwas‹ zu machen, die sich dann auch artikulieren lassen. Begriffsbildung ist also zum einen elementar notwendig, ihre Bildung geht aber zugleich mit einem Prozess der Erstarrung einher. Begriffe sind, wie James formuliert, »post-mortem preparations« 62. Sie gehen vorbei am fluiden und plastischen Charakter der Wirklichkeit, die sich stets verändert, Neues hervorbringt, am Überschuss des Erlebens gegenüber der sprachlichen Artikulation: »Das Empfinden
Vgl. Jung (1999), S. 291. Vgl. Levinson (1981), S. 155, S. 167. 60 James (1977), S. 98. 61 James nennt Babys und Menschen im Halbkoma als Ausnahmefälle; vgl. James (1981), Bd. II, S. 653 f., S. 657 f. 62 James (1979b), S. 55. 58 59
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hat gegenüber dem Denken immer ein Plus, eine Diesheit, für das es ganz allein einstehen muss.« 63 Gerade die Phänomene des alltäglichen Lebens haben, so James, eine solch konstante Bedeutung für uns gewonnen, dass die stereotypen Weisen, auf die wir sie wahrnehmen, uns letztlich als die einzig wahren, als die ›natürlichen‹ vorkommen. 64 Wir beginnen, unsere Begriffskreationen zu hypostasieren, sie versteinern quasi zusehends. Philosophie kann hier eine kritische Funktion ausüben, nämlich wenn sie die Naturalisierung als Gewohnheit aufdeckt und eine staunende Distanz ermöglicht: »It sees the familiar as if it were strange, and the strange as if it were familiar. […] It rouses us from our naive dogmatic slumber and breaks up our caked prejudices.« 65 Dazu muss sie aber aufmerksam gegenüber dem Hang – und nicht zuletzt ihrem eigenen – zur Versteinerung und Festlegung sein: »Philosophy, like life, must keep the doors and windows open.« 66
Wirklichkeit ist immer erzählte Wirklichkeit Pragmatistischer Humanismus und kreatives World-Making Der humanistische Pragmatismus, den James und auch F. C. S. Schiller vertreten, tritt mit dem Anspruch auf, eine Weltanschauung zu sein, die genau diese Offenheit mitbringt – ohne allerdings dabei relativistisch zu werden. Mit ›Humanismus‹ im engeren Sinne bezeichnet James die Annahme, dass der Mensch wesentlich die Wirklichkeit formt: »Wir sind sowohl in unserem kognitiven als auch in unserem sonstigen aktiven Leben schöpferisch tätig.« 67 Oder, wie es – näher an Pathos und Poesie des Originaltextes – in der alten Übersetzung der Pragmatismusvorlesungen heißt: »Der Schlangenschweif des Menschlichen haftet an jeglichem Ding.« 68 Damit ist noch einmal auf die These verwiesen, dass Wirklichkeit immer (menschlich) vermittelte Wirklichkeit ist. Als leitendes Prinzip der Welterschließung und -konstituierung kann das »law of 63 64 65 66 67 68
James (1997), S. 447. Vgl. James (1981), Bd. II, S. 962. James (1979b), S. 11. Ibid., S. 55. James (2016), S. 163. James (1994), S. 41.
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interest« 69 gelten. Die Realität wird demnach praktisch bestimmt durch unsere (durchaus selektiven) Interessen und Bedürfnisse. Daraus ergibt sich auch eine Verschränkung von Fakten und Werten. Die Selektivität des worldmaking ist dabei zu ergänzen durch die Kreativität des Prozesses. Die Wirklichkeit wird nämlich nicht schlicht abgebildet – ohne dass James dabei einem starken Konstruktivismus das Wort reden würde. Sie wird zwar hergestellt, aber doch nicht einfach erfunden. Sie ist bewusstseinsabhängig, aber nicht arbiträr. Vielmehr ist die Wirklichkeit widerständig. In jeder Erfahrung entzieht sich etwas menschlicher Kontrolle: Wir können uns die Welt eben nicht machen, wie sie uns gefällt. Das (wenn auch nicht unmittelbar) Gegebene holt uns nur allzu schnell zurück auf den vielgerühmten Boden der Tatsachen. Illusionäres Denken erweist sich schlicht als dysfunktional. Der humanistischen Wirklichkeitsauffassung nach ergeben sich Fakten daher aus dem Wechselspiel unserer Interessen mit dieser Widerständigkeit. Sie werden ›geschaffen‹, indem wir unter Einfluss subjektiver Bedürfnisse und Absichten, relativ zum kulturellen, sprachlichen und historischen Kontext, aus dem unbestimmt (oder: unterbestimmt) Vorliegenden etwas herausgreifen und beschreiben: The world per se may be likened to a cast of beans upon a table. By themselves they spell nothing. An onlooker may group them as he likes. He may simply count them all and map them. He may select groups and name these capriciously, or name them to suit certain extrinsic purposes of his. Whatever he does, so long as he takes account of them, his account is neither false or irrelevant. If neither, why not call it true? It fits the beans-minus-him, and expresses the total fact, of beans-plus-him. 70
Die Wirklichkeit ist also keineswegs als eine fixierte Totalität subjektunabhängiger Fakten zu verstehen. Was wirklich ist (und als ›wahr‹ betrachtet werden darf), liegt nicht einfach vor. Vielmehr ist das worldmaking ein aktiver und kreativer Prozess, der durchaus auch eine künstlerische Dimension besitzt. Das verdeutlicht James anhand einer Metapher: Auf die Wahrheit zu warten, bis sie sich selbst ausdrückt, wäre so, als ob man den Bildhauer bäte, den Meißel wegzu-
James (1981), Bd. II, S. 818. James in einem Brief an Dickinson Miller, 5. August 1907, zitiert in Putnam (2005), S. 174.
69 70
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legen, bis sich die Statue von selbst in dem Marmor zeigte. 71 Mit der Welt muss aktiv umgegangen werden, damit sie ›sich zeigt‹, als etwas Bestimmtes erweist. In diesem Prozess des Herausarbeitens, Herausmeißelns der Potentiale des Gegebenen besteht eine grundsätzliche Freiheit, oder eher: ein Spielraum. Der gegebene ›Rohstoff‹ lässt nämlich nicht alle beliebigen Bearbeitungen zu (inwiefern James’ Metapher an dieser Stelle hinkt, müssen Marmorexpertinnen und -experten beurteilen). Grundsätzlich aber zielt menschliches worldmaking auf ein kreatives Mehr. Das Er-Finden, das Erzählen der Welt verleiht unserer Erfahrungsfülle Ausdruck. In seinen vielen Formen wird es den menschlichen Lebenswirklichkeiten gerecht, die jede exakte Beschreibung übersteigen und durch sie verfehlt würden: »Something always escapes. ›Ever not quite‹ has to be said of the best attempts made anywhere in the universe at attaining all-inclusiveness« 72. Was wir ›wahr‹ nennen, hat sich als besonders lebensdienliche, stabile Begriffsbildung erwiesen. Diese instrumentelle, funktionale Auffassung von Wahrheit macht auch vor wissenschaftlichen Fakten nicht halt. Diese sind, in Schillers Worten »fictions-suggested-bythe-real« 73, Ideen, die sich als höchst nützlich und relevant erwiesen haben und die wir erfolgreich einsetzen, um in der Welt zu handeln. Es sind tragfähige Fiktionen, auf denen die menschliche Wirklichkeit beruht: Diese ist, so lässt sich im Anschluss an James und Schiller sagen, immer erzählte Wirklichkeit.
Anreichern, nicht abbilden Die Metapher des Bildhauers verweist auf einen entscheidenden Aspekt unseres Umgangs mit der Wirklichkeit: Es ist ein Prozess des Anreicherns, nicht des Abbildens. Die Wirklichkeit wächst stetig und wird weiter angereichert durch unsere Explikationen, sodass sie als offen (nämlich in Richtung Zukunft) und plastisch charakterisiert werden kann.
Vgl. u. a. James (1981), Bd. I, S. 277 f. sowie James (1979a), S. 103 und James (2016), S. 152. 72 James (1977), S. 145. 73 Schiller (1921), S. 423. 71
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Folglich stellt James, wie später prominent Richard Rorty, auch die Idee von der Figur des Spiegels, die Gedanken als Kopien der Realität auffasst, in Frage: »Why may not thought’s mission be to increase and elevate, rather than simply to imitate and reduplicate, existence?« 74 In diesem Zuge fällt dann, nur am Rande bemerkt, auch das Ideal der Objektivität als Wiedergabe dessen, was ›wirklich wahr‹, oder ›eigentlich‹ ist. Eher noch gilt so etwas wie ein Gebot der Explikation größtmöglicher Fülle: »The only possible duty there can be in the matter is the duty of getting the richest results that the material given will allow.« 75 Damit kommt der Kunst im Allgemeinen eine wichtige Rolle zu. Sie ist für James ein Modus der kreativen Wirklichkeitserschaffung, der eine Erweiterung und Anreicherung dessen, was in flüchtigen und fluiden Erfahrungen gegeben ist, erreicht, wie es andere Modi nicht leisten können. Kunst kann wirklich Neues schaffen. 76 Die spezifisch literarische Sprache von James ist damit ein »Versuch, […] die Logik des Lebendigen diskursiv einzuholen« 77, und zwar ohne ihren Gegenstand dabei zu petrifizieren. Kein bereits vorliegendes philosophisches Instrumentarium kann dies leisten. Daher ›operiert‹ James »als Dichter im Sinne Rortys, der das sprachliche Werkzeug, das zur philosophischen Arbeit notwendig ist, erst in der/ durch die Arbeit (mit) hervorbringt.« 78 Das führt für die Rolle der Literatur nun zu zwei Einsichten: Einerseits lässt sich mit James sagen, dass die Erschließung der Welt an sich als literarisches Unterfangen verstanden werden kann. 79 Es gilt, die Welt in all ihren Nuancen und Widersprüchlichkeiten zu erzählen, und insofern ist der humanistische Pragmatismus ein inhärent literarisches Projekt. Andererseits ist Literatur eine Art der experimentellen Welterschließung. Die Bilder und Erzählungen, die sie liefert, sind eine Explikationshilfe, sie vertiefen, erweitern und verfeinern die Realität.
74 75 76 77 78 79
James (1975), S. 59. James (1979a), S. 103. Barzun (1981), S. 222. Strohmaier (2019), S. 180. Ibid., S. 12. Richardson (2006), S. 486.
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Ausblick: Philosophische Stilkritik Der humanistische Pragmatismus hat mit seiner philosophischen Stilkritik, wie deutlich geworden sein sollte, auch ein Reformanliegen verbunden. Die Philosophie sollte grundsätzlich neu ausgerichtet werden, sich anderen Problemen zuwenden und andere Methoden verfolgen. Zumindest für die Philosophie als akademisches Fach ist diese radikale Wende bislang ausgeblieben. Das heißt aber nicht, dass dieses pragmatistische Projekt nicht fortgeführt worden wäre, und so sollen abschließend noch zwei Linien wenigstens andeutungsweise nachgezeichnet werden, bei denen Literatur (oder auch: das Literarische) Eingang in das Philosophieren finden, und zwar nicht in vornehmlich didaktischer Absicht. In dem Fall nämlich stellt der Einbezug literarischer Elemente eine reine Vermittlungsstrategie dar, sodass ein instrumentelles Verhältnis zum Erzählen besteht und nicht ein alternativer genuiner Modus des Philosophierens im Vordergrund steht. Vermutlich ließen sich hier auch Martha Nussbaum oder Stanley Cavell einreihen, für die im weitesten Sinne pragmatistische Tradition sollen jedoch Richard Rorty und Michael Hampe in den Blick genommen werden, auch weil diese an zwei Polen des literarischen Projekts des Pragmatismus zu liegen scheinen. Richard Rorty gilt als einer der prominentesten Neo-Pragmatisten. Aus der analytischen Philosophie kommend, wandte er sich erst von dieser und schließlich von der Philosophie als ganzer ab und der Literatur zu. 80 Rorty zweifelte das Vermögen der Philosophie an, überhaupt relevante Fragen lösen zu können, der Literatur traute er dies eher zu. 81 Rorty setzte sich eingehend mit literarischen Werken auseinander, um sein utopisches Projekt des ironischen Liberalismus voranzutreiben. 82 Noch radikaler als James und Dewey, die seine pragmatistischen Referenzpunkte sind, steht er für einen Anti-Repräsentationalismus, der Wahrheit und Objektivität durch Solidarität ersetzt. In einer post-metaphysischen Gesellschaft, die Rorty als Utopie entwirft, können die Menschen auf Distanz zu ihrem »abschließenden VoEine Wende, die sich äußerlich auch in einem Wechsel des Lehrstuhls, von der Philosophie in Princeton über eine interdisziplinäre Zwischenstation zur Komparativen Literatur in Stanford, manifestierte. 81 Vgl. Misak (2013), S. 225–227. 82 In Kontingenz, Ironie und Solidarität z. B. insbesondere mit Nabokovs Lolita und Orwells 1984. 80
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kabular« 83 gehen, zu ihren Überzeugungen und Rechtfertigungen, und sie als fallibel und kontingent einsehen. Die Vermeidung von Grausamkeit wird zur einzigen konstitutiven Überzeugung der Figur, die Rorty die »liberale Ironikerin« 84 nennt. Nicht die gemeinsame Sprache ist es, die Menschen verbindet, sondern die geteilte Schmerzempfindlichkeit. Auch für ihn ging es also vornehmlich darum, sich in der Welt zurechtfinden, nicht darum, sie abzubilden. Diese Orientierungs- und Bewältigungsleistung wird durch die Konstruktion von Narrativen erbracht. So betrachtete Rorty Atome wie Menschenrechte als zweckdienliche (convenient) soziale Konstruktionen beziehungsweise Fiktionen. 85 Der Literatur schreibt Rorty in besonderem Maße die Fähigkeit zu, die Empfindsamkeit für den Schmerz und die Demütigung anderer zu schulen: Wir erzählen nicht nur die Welt, sondern auch uns selbst. Das ist auch eine Chance, sich nicht festschreiben zu lassen, sich insbesondere von der benachteiligenden Zuschreibung einer fixen Identität zu lösen. Der Philosophie kommt dabei am Ende allenfalls noch eine therapeutische Funktion zu. 86 Diese Hervorhebung der therapeutischen Funktion findet sich auch in Michael Hampes philosophiekritischen Überlegungen. Im Gegensatz zu Rorty verwirft er jedoch nicht die Philosophie überhaupt, sondern macht sich für eine »nicht feststellende Philosophie« stark, die er von der »doktrinären Philosophie« absetzt. Die Kritik an der doktrinären Philosophie ähnelt dabei derjenigen, die James am (philosophischen wie theologischen) Intellektualismus übt. Sie habe Relevanz nur noch durch Selbstbezug, zeichne sich durch Geschichtsund Weltvergessenheit aus, kurz: Sie habe keine »Welthaltigkeit« mehr. Dadurch könne auch der kritische Anspruch der Philosophie nicht eingelöst werden, der von der nicht-doktrinären beziehungsweise »post-doktrinären« Philosophie hochgehalten werde, eine skeptisch-kritische Linie, die Hampe von Pyrrho über Montaigne, Schlegel und Lichtenberg, Nietzsche und Wittgenstein, Horkheimer und Adorno bis hin zu Rorty und Feyerabend zieht: Sie »befragen die zentralen kulturellen Produkte auf ihre normativen Konsequenzen
Rorty (1992), S. 127. Ibid., S. 156. 85 Vgl. Rorty (1999), S. 85. 86 Vgl. Misak (2013), S. 237. Zu diesem »therapeutischen Turn« siehe auch Honnacker (2018), S. 74–77. 83 84
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hin, decken auf, wann selbstgestellte Ansprüche in ihnen nicht erfüllt werden, wann durch diese Vorhaben Folgen eintreten, die niemand gewollt hat.« 87 Das nicht-doktrinäre Philosophieren ist also existentiell-pragmatisch und grundsätzlich kritisch-negativistisch. 88 Es ist für Hampe mit persönlichem, existentiellem Engagement verbunden und schließt an das sokratische Projekt der Seelenprüfung an. Seele wird dabei verstanden als das, was die Menschen eigentlich antreibt, und die »Sorge um die Seele findet […] in der Gemeinschaft der miteinander Sprechenden statt« 89. Dabei wird das Arbeiten an der Desillusionierung zur Lebensform. Es bleibt aber die Gefahr des Selbstbetrugs durch das Anhängen an theoretischen Systemen. 90 Auch Hampe plädiert, unter Rückgriff auf James, für einen pluralistischen Wahrheitsbegriff, der das ›Geführtwerden‹ zum Kriterium nimmt, das kontextgebunden und damit variabel ist. Der menschliche Zeichengebrauch ist wesentlich sozial: Er stiftet gemeinsame Welt und ist auch nur durch und in dieser möglich. Somit lassen sich Begriffs- und Theoriebildung als orientierende Praktiken verstehen, die sich aus einer externen, unbeteiligten Beobachterperspektive nicht unbedingt erschließen. Die normale Sprache ist offen und historisch, stetig im Wandel. 91 Das Erzählen von Wirklichkeit kommt damit auch noch einmal als gemeinschaftliches Projekt in den Blick, als gemeinsamer Versuch, sich in der Welt zurechtzufinden. Der permanente Überschuss an Wirklichkeit mag dabei ein Residuum gegen den menschlichen Hang des Fest-Stellens sein, der sich am Ende gar gegen die erzählende Aneignung sperrt. Eine im hier entwickelten Sinne literarische Philosophie würde also nicht nur durch den Verzicht auf versteinernde Theoriebildung gekennzeichnet sein, sondern auch durch das Bewusstsein der Grenzen des Sagbaren überhaupt. Hampe imaginiert eine »Gemeinschaft, derer, die sich urteilend zurückhalten, das Behaupten scheuen und dem Schweigen zuneigen« 92. Zu Schweigen geHampe (2014), S. 48. Vgl. ibid., S. 91. 89 Ibid., S. 93. 90 Vgl. ibid., S. 98 f. »Illusionslosigkeit« ist, neben Mündigkeit, Autonomie und der Vermeidung von Grausamkeit, für Hampe ein Ziel aufgeklärter Kultur überhaupt; vgl. dazu ausführlicher Hampe (2018). 91 Vgl. Hampe (2014), S. 108–110, S. 192–200. 92 Ibid., S. 379. 87 88
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hörte dann zum Repertoire einer Philosophie, die weiß, dass sie sich dem »Mehr« der Wirklichkeit stets nur annähern kann.
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Christa Buschendorf
»That precarious Gait«: The Pragmatist Poetics of Emily Dickinson
The nineteenth-century New England poet Emily Dickinson (1830– 1886) deserves to be ranked more prominently than is commonly granted among the group of American pragmatist thinkers. 1 Although Dickinson was familiar with major works of Ralph Waldo Emerson, who is commonly regarded as the first representative of American pragmatism, 2 my claim is not that she was significantly influenced by the philosopher. When Herwig Friedl calls Dickinson »Emerson’s great successor,« 3 he does not think of the poet as Emerson’s disciple, either. Likewise, in his classic study, Poetry and PragThis essay goes way back to a talk I was invited to deliver at the International Conference of the Emily Dickinson International Society, University of Trondheim in Norway, in August 2001. When in 2019, the editors of this volume asked me to contribute to the lecture series »Literarische Philosophie – Philosophische Literatur,« I was grateful for the opportunity to return to a text that for no particular reason I had never published. In the original version of the talk, my focus had already been on the affinities of Dickinson’s poetry to the philosophy of pragmatism, a topic that – with the exception of Herwig Friedl, Roland Hagenbüchle, and Richard Poirier – was hardly explored at the time. In recent years, the interest in philosophical aspects of Dickinson’s poetry has grown; see, for example, the volume of essays Emily Dickinson and Philosophy, edited by Jed Deppman et al. (2013), which contains Renée Tursi’s article »Emily Dickinson, Pragmatism and the Conquests of Mind.« While Tursi also claims that Dickinson »deserves to be a recognized part of its [pragmatism’s] intellectual history« (p. 152), the literary and philosophical texts she chooses to forge her argument differ widely from the ones I draw upon. – I would like to thank students and colleagues at Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf and Goethe-Universität Frankfurt am Main, where I gave the revised talk in May 2019, for astute questions and comments that helped me sharpen my argument. 2 On »the acknowledgment of Emerson’s position in the history of American thinking as the starting point of the pragmatist tradition« by scholars of pragmatism, see Friedl (1997), p. 43. For Dickinson’s reception of Emerson, see Jack L. Capps (1966), pp. 117, 112 f., who points out that she had read his poetry as well as Essays: First and Second Series and Representative Men. 3 My translation of the German original »Emersons große Nachfolgerin;« Friedl (2002), p. 477. 1
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matism, Richard Poirier insists that he does not look for influences but analogies: »So that when I speak of ›poetry and pragmatism‹ I […] mean not simply that some pragmatist philosophers have had an influence on poets; I mean that in their own uses of words they too are poets, just as the poets are also philosophers.« 4 Along with Emerson, Poirier discusses philosophers of classical pragmatism like William James and John Dewey »in tandem with American poets of a discernibly similar temperament, like Thoreau, Whitman, Frost, Stein, and Stevens,« whom he considers »more firmly placed than Dickinson in an Emersonian pragmatist dispensation.« 5 Yet, as I will illustrate by means of close readings, Dickinson’s poetry reveals considerable common ground with pragmatist thinking. I stepped from Plank to Plank A slow and cautious way The Stars about my Head I felt About my Feet the Sea – I knew not but the next Would be my final inch – This gave me that precarious Gait Some call Experience – 6
In this poem, as in so many other of her lyrics, Dickinson addresses nothing less but the predicament of human existence. Walking on swaying ground, surrounded by the infinite universe and sublime nature, certain only of the finitude of life, the speaker adopts »that precarious Gait,« an unsteady walk, which in the last line is compared to experience as such. Walking, then, is the equivalent of living itself; living is seen as the unsettling experience of slowly and cautiously moving ahead, step by step, trying to keep one’s balance on unstable terrain while being constantly aware of the possibility of one’s imminent death. The poem – again like many others by Dickinson – can also be read as a statement of poetics. Walking, then, stands for writing, more generally, for the creative process. By analogy, writing poetry also means progressing with caution, engaged in an activity that – proceeding from feeling in the first stanza to knowing in the second – involves mind and body, as the speaker is spanned between the spiriPoirier (1992), p. 103. Ibid., p. 80. 6 Dickinson, The Poems of Emily Dickinson, R. W. Franklin (ed.), # 926; hereafter cited as F followed by the number assigned by Franklin. 4 5
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tual realm (the stars) and matter (the sea as the very element of life), or – as we could also interpret the opposing forces of »Stars« and »Sea« – as she faces the alternative of either gaining immortality or going under. In any case, the poet seems to be unsure of her creative power, aware of the risk of failure and thus moving carefully ahead in the writing process that also requires a »precarious Gait.« Dickinson’s poems often reflect the creative process in yet another sense; in that they trace the speaker’s train of thought. They display the process of thinking itself, developing an argument, probing a hypothesis, experimenting with an idea. Thinking, for Dickinson, is a process that requires moving ahead with circumspection, insecure of one’s findings, cognizant of the unpredictable outcome. I consider the poem »I stepped from Plank to Plank« a central statement in her oeuvre because it thematizes her way of living, writing, and thinking – in other words, her method, in the sense of the Greek word methodos, the way towards a goal. The emphasis is not on the end; rather, it is on carrying out the onward movement, on experience as progressing: The way is the goal. In his essay »Experience« (1844), Emerson looks at this process of moving forward step by step from a slightly different perspective by stressing the importance of each single step as a moment of fulfillment. He writes, »to finish the moment, to find the journey’s end in every step of the road […] is wisdom.« 7 But Dickinson’s and Emerson’s viewpoints do not exclude each other; they are complementary. It is interesting to note that on a linguistic level the poem mirrors the topos of the »precarious Gait« by an accumulation of monosyllabic words, many of which end in a consonant, remarkably often a »t,« that does not allow for a smooth transition to the next word, but instead stops us in our path. Consequently, reading the poem aloud we are forced to proceed in the very manner prescribed by the poet: We step from word to word. Moreover, the poem abounds in AngloSaxon vocabulary. By contrast, the crucial adjective, »precarious,« a Latinate word of four syllables, stands out. 8 It is a word with a hovering stress pattern that calls for the very balancing act it describes. The last word of the poem, »Experience,« shares the linguistic characteristics of »precarious.« The linguistic analogy between »precarious« Emerson (1903b), p. 62. For Dickinson’s »tactics of juxtaposing different registers: Saxon and Latinate, concrete and abstract, monosyllabic and polysyllabic,« see Hagenbüchle (1979), p. 139.
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and »experience« points to their interrelation: By the end of the poem, »experience« is offered as a synonym for »precarious Gait.« Yet, the definition given in the last line is a tentative one. Proposed by »some,« it leaves open the possibility of disagreement, or re-examination, or even re-opening the discussion altogether. There is no claim of a final solution: Experiencing goes on. What Dickinson thematizes in this poem and practices in many others evokes the seminal notion of »experience« in American pragmatism. »Experience« is in fact a key concept in the philosophy of Ralph Waldo Emerson, William James, and John Dewey, or, as Herwig Friedl puts it in an essay on yet another pragmatist thinker, Gertrude Stein: Experience is »the basic ontological concept of pragmatism.« 9 In »Experience,« »an extensive essay to the exploration of features of our experience, of reality, and of our existential condition that necessitate skepticism,« 10 Emerson, like Dickinson, connects the process of experiencing with moving on unstable ground, or rather, with the impossibility of finding firm ground: »Gladly we would anchor, but the anchorage is quicksand.« 11 Dickinson is known for her constant questioning of conventional thought, whether it refers to traditional beliefs or to generally accepted meanings of words. In her incessant search for deeper insight, she prefers the process of probing to the state of possessing knowledge. Yet she also acknowledges the challenge that derives from a lack of precise knowledge and the resulting uncertainty. In the state of wonder, Dickinson claims, we feel a sense of both enrichment and want: Wonder – is not precisely knowing And not precisely knowing not – A beautiful but bleak condition He has not lived who has not felt – (F 1347)
As the speaker maintains in the last line, the experience of sustaining these two contradictory perceptions at the same time is formative to living itself. As Friedl expounds, in Emerson’s pragmatist thinking
Friedl (1997), p. 44. See also Elisa New (1998) on the significance of the concept of experience in the pragmatist tradition of American poetry, for example, in Dickinson. 10 Friedl (2019b), p. 49. 11 Emerson (1903b), p. 58. 9
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wonder is a consequence of the »liberating act« 12 of abandoning the alleged security of traditional knowledge: In his essay »Circles,« Emerson, with seeming naiveté, stated that »[t]he way of life is wonderful; it is by abandonment« […]. Emerson implied that the methodos (way) of our practical conduct of life is the occasion of thaumazein. That wonder which is the basis of thinking comes about by turning away from precedent; turning away from precedent is called abandonment. 13
Dickinson’s proclivity for probing is most obvious in her so-called »definition« poems. In »›Morning‹ – means ›Milking‹ to the Farmer –« (F 191), she states the validity of multiple perspectives as held by different individuals. The same time of the day, morning, will be associated with widely different notions such as »Risk« or »Breakfast,« or »Apocalypse,« depending on who experiences it: »Morning« – means »Milking« – to the Farmer Dawn – to the Teneriffe – Dice – to the Maid – Morning means just Risk – to the Lover – Just Revelation – to the Beloved – Epicures – date a Breakfast – by it – Brides – an Apocalypse – Worlds – a Flood – Faint-going Lives – Their lapse from Sighing – Faith – The Experiment of Our Lord –
When in the essay »The Poet« (1844) Emerson reasons for a pluralism of perspectives, he happens to choose the example of the morning as well: »The morning-redness happens to be the favorite meteor to the eyes of Jacob Behmen, and comes to stand to him for truth and faith.« 14 Emerson argues that symbols should not be made »too stark and solid,« 15 a mistake of which the mystic but not the poet is culpable. While the mystic Jacob Boehme believes that the morning-redness »should stand for the same realities to every reader,« other readers may prefer
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Friedl (1997), p. 62. Ibid. Emerson (1903b), p. 38. Ibid.
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[…] as naturally the symbol of a mother and child, or a gardener and his bulb, or a jeweller polishing a gem. Either of these, or of a myriad more, are equally good to the person to whom they are significant. Only they must be held lightly, and be very willingly translated into the equivalent terms which others use. 16
»For all symbols are fluxional.« 17 Allowing multiple interpretations of one symbol means that one must acknowledge – as Dickinson does – that »Alas, that Wisdom is so large – / And Truth – so manifold!« (F 531). According to Emerson, »No truth [is] so sublime but it may be trivial to-morrow in the light of new thoughts.« 18 The poem which begins with a quotidian reference, »Morning means Milking to the Farmer,« leads to the issue of religious belief: »Faith« dates by morning »The Experiment of Our Lord.« The world itself then is the experiment of God, and to »Faith« the world begins anew every morning. However, if we leave the ellipsis intact and read the line as »Faith – [is] The Experiment of Our Lord,« then faith becomes the object of the experiment. God tests us as, for example, he tested Job’s belief. For faith – just like truth – is something we do not possess once and for all; rather, it is a challenge we face every day. Faith is, as it were, an experiment we ourselves conduct repeatedly. Yet, as often as we may undertake it, we can never be sure of its outcome, or, as the poet put it provocatively elsewhere: »Faith is Doubt.« 19 In the philosophical phrasing of William James, who devoted a considerable part of his oeuvre to the question of religion in the age of science, »[f]aith is synonymous with working hypothesis.« 20 As Dickinson illustrates in the following definition poem, what we understand by »nature« is likewise open to a variety of meanings: Ibid. Ibid., p. 37. 18 Emerson (1903a), p. 298. Cf. William James (1979a), p. 22: »I live, to be sure, by the practical faith that we must go on experiencing and thinking over our experience, for only thus can our opinions grow more true; but to hold any of them – I absolutely do not care which – as if it never could be re-interpretable or corrigible, I believe to be a tremendously mistaken attitude […].« 19 Letter 912; The Letters of Emily Dickinson, edited by Thomas H. Johnson, hereafter cited as L followed by the number assigned by Johnson. For the poem’s »vexed ambiguities,« see Cynthia Griffin Wolff’s interpretation in Wolff (1986), pp. 352–354. 20 James (1979b), p. 79. Cf. James (1979a), p. 32, where James assured his audience, members of the Philosophical Clubs of Yale and Brown Universities, »that we have the right to believe at our own risk any hypothesis that is live enough to tempt our will.« 16 17
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›Nature‹ is what We see – The Hill – the Afternoon – Squirrel – Eclipse – the Bumble bee – Nay – Nature is Heaven – ›Nature‹ is what We hear – The Bobolink – the Sea – Thunder – the Cricket – Nay – Nature is harmony – ›Nature‹ is what We know – But have no Art to say – So impotent our Wisdom is To Her Sincerity – (F 721)
The speaker’s primary attempt depends on sight as our major sense of exploration. The first example of the ensuing list of perceived phenomena juxtaposes a place that will catch our eye (»Hill«) with a time of day (»Afternoon«) that may be outstanding owing to its light. In the next line, two ordinary animals (»Squirrel« and »Bumble bee«) frame an extraordinary celestial event (»Eclipse«). The following objection (»Nay«) indicates a shift of argumentation. So does the lack of inverted commas around the word »nature« in the phrase »Nature is Heaven.« In contrast to the first definition, the speaker proposes a single word, a ›One‹ that would contain the ›Many.‹ »Heaven« is both a plausible and a paradoxical choice. It makes perfect sense as the expression of delight evoked by the wonders of nature »We see;« but at the same time, as an equation – nature equals heaven – it seems to defy logic, since the two nouns commonly designate opposing spheres, as in the phrase »heaven and earth,« with which we commonly associate the contrast of the spiritual realm of »heaven« and the materiality of nature. We may restore logic when we understand »heaven« as a synonym of »universe,« a term that encompasses the earth with all its natural phenomena. Still, if we assume that the function of a definition is to draw a precise outline for the sake of clarity, the definition »Nature is Heaven« is dysfunctional in the sense that rather than limiting the connotations of »Nature,« Dickinson seeks to broaden its meaning. Proceeding by inclusion rather than exclusion, her defining line is a circumference, which – if necessary – can yet be expanded. The second stanza repeats the pattern of the first. The lyrical I tests another major sense organ, the ear. The examples the poet 143 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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chooses to represent natural phenomena, which »We hear,« again juxtapose the beautiful with the sublime, the song of the domestic »Bobolink« with the sound of the »Sea,« the noise of thunder with the chirring of a cricket. Not surprisingly, the second quintessential statement, »Nature is Harmony,« takes its cue from the core value of music. Like the designation »Nature is Heaven,« it is formally a definition. But simultaneously it is an interpretation that adds yet another aspect to the meaning »Nature« has acquired in the defining process. The first line of the third stanza offers a definition that comprises the former two and goes beyond them by making a more general assertion. If nature is what we perceive with our two major senses, then it is what »We know.« This could mean nature is the known, the familiar. But knowledge goes beyond the experience of the senses; it is based on sensory as well as cognitive perception. The following line reveals that despite the parallel structure of the three stanzas’ first lines, the third definition further differs from the former two by an extension: »But have no Art to say –«. With this modification, the speaker shifts from the question of what we can know (epistemology) to what we can express (philosophy of language). The last two lines of the poem offer a reason for our failure of articulation by juxtaposing our highest accomplishment with nature’s. Measured against nature’s »Sincerity,« our »Wisdom,« inevitably clad in words, is powerless. Compared to the artlessness of nature, language, by necessity mediating between us and the phenomena, is insincere. »Pragmatism does not trust language.« 21 However, this is not the poet’s last word, either. While the poem does not offer a final definition, it ends, paradoxically, by revealing what can be conceived as nature’s core characteristics: »Her Sincerity.« And yet, even if the poem has come to its end, we must not misunderstand this ending as a conclusion, a final answer. In the chapter »Having an Experience« in Art as Experience (1934), John Dewey explains the difference between a conclusion in the traditional discipline of logic and what he terms »consummation« in an »experience of thinking« as a »continuous movement of subject-matters:« 22 Friedl (2019d), p. 281. For Friedl’s in-depth analysis of the pragmatist skepticism towards language with regard to its deficiency to articulate what James called »pure experience,« see ibid. 22 Dewey (1958), p. 38. 21
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Like the ocean in the storm, there are a series of waves; suggestions reaching out and being broken by a clash, or being carried onwards by a coöperative wave. If a conclusion is reached, it is that of a moment of anticipation and cumulation, one that finally comes to completion. A ›conclusion‹ is no separate and independent thing: it is the consummation of movement. 23
Moreover, Dewey emphasizes, this »closure of a circuit of energy is the opposite of arrest, stasis.« 24 The poem explores then both the nature of nature and the nature of language. It does so in a repeated process of probing, more precisely, by stating a hypothesis and dismissing it; or, rather, although the dismissal indicated by the word »Nay« is formally a denial, it is in truth a modification. The function of both definitions and modifications is to enrich the subject matter by approaching it from different angles, by, as it were, encircling it. The poet emphasizes the probing procedure, whose partial result, or »consummation,« formulated at the end of the first stanza is set aside, in order to begin a new round of probing marked by the beginning of a new stanza. The insight, or »conclusion,« articulated at the end of the third stanza is reached not by linear, consecutive argument, but by cumulation, a continuous expansion of meaning, achieved by the poetic method of »circumferential approximation.« 25 Dickinson was fully aware of her method; as she famously affirmed in a letter: »My Business is Circumference.« 26 The poem then proceeds according to Emerson’s insight stated in his essay »Circles« (1841): »Our life is an apprenticeship to the truth that around every circle another can be drawn.« 27 The thesis derived from this idea reads as follows: »Every ultimate fact is only the first of a new series.« 28 The two propositions are interconnected and form two major principles of the pragmatist approach – the circle and the Ibid., p. 38. Ibid., p. 41. 25 Raab (1998), p. 274; for further insightful remarks on »circuit« and »circumference,« see ibid., pp. 284 f. 26 Letter 268; see also »Circumference thou Bride of Awe« (F 1636); »Tell all the truth but tell it slant – / Success in circuit lies« (F 1263). Cf. Hagenbüchle’s pivotal observation: »Dickinson’s poetry – to use her own term – is a poetry of ›Circumference‹ (L 950); it pursues the movement of the spirit in the very process of knowing, a process which is inseparably bound up with the movement of language« (Hagenbüchle (1979), p. 139). 27 Emerson (1903a), p. 281. 28 Ibid., p. 284. 23 24
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series of fresh starts – that both Emerson in his essays and Dickinson in her poetry observe. In addition to the method of thinking that the philosopher and the poet share, there is, according to Emerson, a special gift of the imagination, a kind of joy that is »the effect on us of […] all poetic forms.« 29 In his essay »The Poet,« Emerson illustrates his thesis by quoting examples of philosophical definitions: If the imagination intoxicates the poet, it is not inactive in other men. The metamorphosis excites in the beholder an emotion of joy. The use of symbols has a certain power of emancipation and exhilaration for all men. […] Poets are thus liberating gods. Men have really got a new sense, and found within their world another world, or nest of worlds; for the metamorphosis once seen, we divine that it does not stop. […] it is felt in every definition; as when Aristotle defines space to be an immovable vessel in which things are contained […] When […] Plato calls the world an animal […] or affirms a man to be a heavenly tree, growing with his root, which is his head upward […]. 30
Poets, Emerson declares in the same essay, »are free and they make free« by »departure from routine.« 31 When philosophers use »poetic forms,« even philosophical definitions do not serve the purpose of fixing the limits of a term but rather of expanding its meaning in a manner clearly reminiscent of Dickinson’s definition poems. Yet Emerson complained: »I look in vain for the poet whom I describe.« 32 Had he known Dickinson’s poetry, one might wonder, would he have recognized that she was such a poet? In any case, Emerson’s prediction, »[e]very verse or sentence possessing this virtue [of the poet he describes] will take care of its own immortality,« 33 has been confirmed by the posthumous reception of Dickinson’s oeuvre. Having praised the liberating power of the poetic imagination, Emerson also emphasizes its fluxional quality: »But the quality of the poetic imagination is to flow, and not to freeze. The poet did not stop at the color or the form, but read their meaning; neither may he rest in this meaning, but he makes the same objects exponents of his new thought.« 34 Undoubtedly, this is an adequate description of Dickinson’s method, which she uses repeatedly in her corpus. As we have 29 30 31 32 33 34
Emerson (1903b), p. 33. Ibid. Ibid., pp. 35, 36. Ibid., p. 40. Ibid., p. 37. Ibid.
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seen, Dickinson is a poet who avoids stasis; instead, she delights in exploring the unknown and revels in the unexpected. Emerson’s dictum about life »as a series of surprises« 35 is also true of Dickinson’s poetry. »Trust in the Unexpected« (F 561), she calls it; and Hagenbüchle concludes: »›Trust in the Unexpected‹ is Dickinson’s final trust.« 36 Not surprisingly, her oeuvre has sometimes been criticized for want of firm control or clear guidance. 37 However, such allegations ignore that Dickinson’s poetic practice draws on a philosophy of life, programmatically expressed, for example, in her poem »Experience is the Angled Road:« Experience is the Angled Road Preferred Against the Mind By – Paradox – the Mind itself – Presuming it to lead Quite Opposite – How complicate The Discipline of Man Compelling Him to choose Himself His Preappointed Pain – (F 899)
In this poem, Dickinson addresses the old philosophical question about the relation of experience and reason, or, in more general terms, practice and theory. Western traditional philosophy conceives of experience as subordinated to the mind when it comes to guiding our lives, for experience, being particular and contingent as well as sensory, is not considered an apt instrument for the analytical task of conceptualizing and generalizing. Yet, the lyrical I asserts that »Experience« is preferred to the »Mind,« in fact, by »Mind itself,« if only because the mind erroneously believes that it takes the lead over experience. To the contrary, the second stanza argues, we allow ourselves be led by experience, a choice, by which we contribute to our own suffering. The reason why we inflict pain upon ourselves is offered in the definition »Experience is the Angled Road.« Experience does not provide a straightforward path, but takes a winding way, Emerson (1903a), p. 298. Hagenbüchle (1974), p. 50. 37 Porter (1981), p. 140, for example, connects the reader’s potential frustration with the experience of the orientation-seeking American consumer: »The special experience of reading Dickinson is that there is an unprecedented lack of leading, or organizing, of general direction. It is like driving in a shopping-plaza parking lot.« For a discussion on Porter’s critique, see Stonum (1990), pp. 7–10. 35 36
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forcing us to follow unexpected turns and venture detours, while there is no regulating authority, such as reason, to successfully give directions. Choosing the angled road of experience over the direct path of logic laid out by reason also means that we necessarily stay in a probing, exploring mode and that, as a consequence, we must endure or suffer what we are bound to encounter. Or, as Dewey puts it reflecting on »Changed Conceptions of Experience and Reason« (1920): »The living creature undergoes, suffers, the consequences of its own behavior. This close connection between doing and suffering or undergoing forms what we call experience.« 38 Among the »important implications for philosophy« that, according to Dewey, follow from this understanding of experience is that knowledge »is relegated to a derived position, secondary in origin […].« 39 Contrary to traditional assumptions of western philosophy, then, knowledge »is not something separate and sufficient, but is involved in the process by which life is sustained and evolved.« 40 Dewey’s interrelational concept of experience represents a seminal notion in pragmatist philosophy. Emerson, too, is convinced of the interrelatedness of the senses and the intellect, and he, too, argues for the primacy of the senses: »We do not determine what we will think. We only open our senses […] and suffer the intellect to see. […] we shall perceive the superiority of the spontaneous or intuitive principle over the arithmetical or logical. The first contains the second, but virtual and latent.« 41 Thus, according to Emerson, any weakness of intellect derives from abstracting itself from reality: »Intellect separates the fact considered from you, from all local and personal reference, and discerns it as if it existed for its own sake.« 42 Like Emerson and Dewey, Dickinson asserts the interrelatedness of intellect and the »intuitive principle.« Yet, she also stresses that prioritizing experience entails choosing the pain that necessarily comes with experiencing reality. In contrast, Emerson and Dewey tend to emphasize the empowering potential of experience. As Dewey puts it: »Experience is the liberating power. Experience means the new, that which calls us away from adherence to the past, that which
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Dewey (1920), p. 86. Ibid., p. 87. Ibid. Emerson (1903a), p. 419. Ibid., p. 417.
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reveals novel facts and truths.« 43 Emerson, in turn, »fancied that the value of life lay in its inscrutable possibilities.« 44 Moreover, he sets his faith in the promise of future experiences: »No man ever came to an experience which was satiating, but his good is tidings of a better. Onward and onward! In liberated moments, we know that a new picture of life and duty is already possible […].« 45 Dickinson’s metaphors of stepping from plank to plank and moving along the angled road are closely connected not only to the pragmatist understanding of experience, but also to the notion of experiment. As Emerson writes in »Circles:« »I am only an experimenter. Do not set the least value on what I do, or the least discredit on what I do not, as if I pretended to settle anything true or false. I unsettle all things. No facts are to me sacred; none are profane; I simply experiment, an endless seeker.« 46 The display of the process of thinking in Dickinson’s poems is analogous to the trial-and-error structure of an experiment. Probing a hypothesis, rejecting it, modifying it, Dickinson conducts unsettling thought experiments. Just as William James claims that »the beyond must, of course, always in our philosophy be itself of an experiential nature,« 47 the realm of Dickinson’s poetic experiments frequently relates to the experience of death and the beyond. She repeatedly risks the encounter with the unknown, be it dying, death, immortality, or God, and ponders whether »[t]he Risks of Immortality are perhaps its’ charm –« (L 353). Thus, she thought that it is in dying that we undergo the »most profound experiment / Appointed unto Men –« (F 817). What is at stake in this experiment is the question of life after death, or, in the poet’s words: »Do we die – / Or is this Death’s Experiment – / Reversed – in Victory?« (F 666). This final experiment – for utter lack of experience – does not grant any valid hypothesis:
Dewey (1920), p. 93. Emerson (1903b), p. 475. 45 Ibid., p. 486. But one must not mistake Emerson’s affirmative spirit to be the result of naïvety. After all, in tone and content »Experience« is shaped by Emerson’s reflections on his coming to terms with his son’s death. On »Experience« as expression of »a skeptical disposition in Emerson’s writing,« see Friedl (2019b), p. 47. For a discussion of Emerson’s recognition of the significance of suffering and pain in human lives, see Buschendorf (2008), pp. 45–55; for an abbreviated version in English, cf. Buschendorf (2017). 46 Emerson (1903a), p. 297. 47 James (1912), p. 88. 43 44
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Experiment escorts us last – His pungent company Will not allow an Axiom An Opportunity (F 1181)
Notwithstanding our desire to find out what will await us, we cannot overcome the distance between our life here in this world and the beyond. Not even conjecture can reach far enough into the unknown: Further than Guess can gallop Further than Riddle ride – Oh for a Disc to the Distance Between Ourselves and the Dead! (F 1068)
Whereas in the first three verses of this stanza alliteration creates a link between the two significant words of each line, there is no such device that could bridge the gap »Between Ourselves and the Dead.« Instead, alliteration connects the last words of lines three and four, »Distance« and the »Dead,« emphasizing the unbridgeable divide. In other poems Dickinson simulates the experience of dying, performing experiments whose outcomes are left open or end in an admission of ignorance – for example, when the speaker confesses »and then I could not see to see« (F 591), or »And finished knowing – then –« (F 340). However, I would suggest, the true value of this kind of »most profound experiment« (F 817) does not lie in gaining knowledge about the beyond or about our transition into this unfamiliar territory. Rather, the minute depictions of psychological states of mind and emotions in Dickinson’s poems about death and dying demonstrate that by anticipating the unknown the poet sharpens the experiential perception of the here and now. It is from the prospect of the loss of life that we gain fresh insight into the latter. In conclusion, let me come back to Poirier’s comment on the correspondence between pragmatism and poetry quoted above: »[P]ragmatist philosophers,« he states, »in their own uses of words […] too are poets, just as the poets are also philosophers.« 48 Indeed, Emerson (himself a poet), James and Dewey are known for frequently drawing on poetic imagery in illustrating philosophical arguments. 49 Pragmatists are by no means unique in this regard; in fact, Emerson
Poirier (1992), p. 103. For an in-depth discussion of the function of images in philosophy in general and in William James in particular, see Friedl (2019c).
48 49
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»That precarious Gait«
uses the examples of Aristotle and Plato to demonstrate that »the imagination intoxicates« 50 poets and philosophers alike. However, as philosophers who »think beyond the naïve dualism of subjectivity and objectivity« 51 and consequently beyond the split between body and mind as well as the division between practice and theory, pragmatists start from and focus on living experience. For them images are »modes of experiencing and means of thinking based on observations and suggestions.« 52 Given their emphasis on thinking as an openended process, they show a penchant for imagery connected to movement, for example, flowing or flying, as opposed to stasis. 53 To William James, philosophizing itself is a process comparable to undertaking a voyage into uncharted territory: Philosophies, whether expressed in sonnets or systems, all must wear this form. The thinker starts from some experience of the practical world, and asks its meaning. He launches himself upon the speculative sea, and makes a voyage long or short. […] Whatever thought takes this voyage is a philosophy. 54
Clearly, Dickinson’s poems are such dauntless explorations of thinking. Her poetic voyages always emanate from a thought or an observation based on »some experience of the practical world.« In search for its meaning she undertakes an experiential journey into the unknown. It is a hazardous enterprise, because once ›she launches herself upon the speculative sea,‹ the sense of security provided by firm ground vanishes and the thinker cannot anticipate where the expedition will lead her. To her, only one thing is certain: »To undertake is to achieve« (F 991). Or, as Hagenbüchle put it: »For this poet, therefore, meaning only comes into being qua process. The processual movement enacted in her poems is their meaning.« 55 Not only are Dickinson’s poems grounded in experiences of everyday life, but they simultaneously perform her »processual worldview.« 56 The poem »I stepped from Plank to Plank« stands out by thematizing the processual movement; experience and process coalesce. Yet in other poems, 50 51 52 53 54 55 56
Emerson (1903b), p. 33. Friedl (2019a), p. 2. Friedl (2019c), p. 209. Ibid., p. 223. James (1979c), p. 112. Hagenbüchle (1986), p. 140. Ibid.
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Christa Buschendorf
independent of the respective thoughts they express, Dickinson also tends to keep us aware of the process of thinking. She achieves this by various means, for example, by offering alternatives in her definition poems, by stating contradictions or paradoxes, or by posing questions. Above all, she forces us to reenact the thinking process by her notoriously pervasive use of dashes. »Dashes drew liberty of interruption inside the structure of each poem. Hush of hesitation for breath and for breathing.« 57 The German word for »dash« signifies the other vital function the dash has in Dickinson’s poems: The Gedankenstrich, literally a »bar of thought,« interrupts the flow of the reading process, suggesting we pause in order to think. With Dewey we may consider it »a moment of anticipation and cumulation.« 58 Moreover, the juxtaposition of constant flow and momentary standstill is reminiscent of a passage in »The Stream of Thought« in James’s The Principles of Psychology (1890). In this »seminal text of modernist thought in the pragmatic mode,« 59 James compares »the wonderful stream of our consciousness« to »a bird’s life« that »seems to be made of an alternation of flights and perchings.« 60 Just like the »restingplaces« in the bird’s flow of experience, the dashes in Dickinson’s poems are integral to the speaker’s stream of thought: [T]hinking of some sort goes on. 61 Finally, having made a case for Dickinson as »a pragmatist avant la lettre,« 62 a crucial question remains: »As James would have us ask the question: What difference does it make for us, one way or the other, to find pragmatism reverberating in her working out the kinds of uninscribed desires that pragmatic quests invite?« 63 It certainly makes all the difference in respect of the poet’s alleged failure to create »a project.« 64 Reading Dickinson’s poems mindful of pragmatist concepts will prevent us from expecting coherence and closure in the traditional sense. Instead, we will be ready to embark with her on the Howe (1985), p. 23. Dewey (1958), p. 38. 59 Friedl (1997), p. 54. 60 James (1983), p. 236. 61 Ibid., p. 219. 62 Deppman (2013), p. 265. 63 Tursi (2013), p. 152. 64 David Porter (1981), p. 181 called Dickinson »the only major poet without a project.«; quoted and discussed by Stonum (1990), pp. 3–21; 8, in a chapter entitled »A Poet without a Project? A Poetry without Scope or Structure?« 57 58
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»That precarious Gait«
experimental explorations she undertakes in her poems, willing to assume »that precarious Gait« that allows us to face the surprises, indeterminacies, and contingencies with which her work challenges us – as does life itself. With Emily Dickinson as our guide, we are given the chance to appreciate risking the unexpected and exclaim with her: »The shore is safer, […] but oh, I love the danger!« (L39).
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Pragmatist Thinking in Search of a Proper Language: Gertrude Stein’s Literary Philosophy »Place yourself […] at the centre of a man’s philosophic vision and you understand at once all the different things it makes him write or say.« William James »[A] lively sense of being part of being.« Gertrude Stein »I had really written thinking.« Gertrude Stein
Introduction: Ways of Reading Stein This essay proposes to read Gertrude Stein’s oeuvre as a primarily philosophical quest to find an appropriate language for her foundational pragmatist ontological intuition – an intuition expressed among others in one of the important serially recurring phrases or leitmotifs, »a lively sense of being part of being,« 1 in her early masterpiece The Making of Americans (1911/1925). As an ontological thinker, Stein shares important basic assumptions with the classical pragmatists William James and George Herbert Mead. Her meditations on Being and beings, however, also show as contiguous and often congruent with those by other prominent thinkers of high modernism, such as Alfred North Whitehead, John Dewey, and Martin Heidegger. I propose to occasionally use some of the important insights in Heidegger as a convenient heuristic device to emphasize the more than regional North American or pragmatist implications and relevance of Stein’s version of Seinsdenken. Stein scholarship comes in two major opposing, or at least complementary, tendencies: Readings of her works as predominantly lit1
Stein (1995b), p. 64 and passim.
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erary achievements within complex cultural and historical antecedents and environments on one side find significant alternatives in the varieties of philosophical exegesis which I would like to privilege. An impressive number of, in their own specific way, profound and comprehensive literary and cultural studies of Stein’s oeuvre have primarily read her achievement in terms of a wide range of important extrinsic connections, influences, and determining factors. A small but, I think, representative sample of such critical works would include the outstanding contributions to Stein studies by Steven Meyer (2001), Ulla E. Dydo (2003), and Ulla Haselstein (2019). The intellectually most astute, profound, learned, and original exploration of Stein’s literary texts in the context of philosophical models and scientific research is Steven Meyer’s Irresistible Dictation. Gertrude Stein and the Correlations of Writing and Science. Meyer explores 19th- and early 20th-century innovations in experimental psychology, medicine, and physiology (i. e. especially neuroanatomy), as well as a daunting array of major philosophical reflections on science, language, and epistemology from Ralph Waldo Emerson through William James to Alfred North Whitehead and Ludwig Wittgenstein in order to position and interpret Stein’s works in a network of antecedents and intellectual consequences. 2 In a fundamentally different way, Ulla E. Dydo’s in-depth exploration of Stein’s writing during the important period from 1923 to 1934, Gertrude Stein: The Language that Rises, focusses on the act of writing in the context of everyday life and of intimate personal as well as cultural experience, utilizing, as detailed as no one had ever done this before, manuscripts, notebooks, and letters in order to demonstrate how the creative process is permeated not only by the reality of everyday living but also by elements from Stein’s reading and her ›remembering.‹ The latter is an amazing and puzzling programmatic statement placed prominently on the front flap of the book if one considers the fact that Stein consistently and energetically denounced ›remembering,‹ 3 the dependence of thinking and the creative process on antecedent and extrinsic matter, as heuristically irrelevant and detrimental to a work’s integrity. The most recent outstanding contribution to Stein studies and the most comprehensive and sophisticated of German interpretations of Stein to date is Ulla Haselstein’s Gertrude Steins literarische Por2 3
Cf. Meyer (2001). Cf. Dydo (2003).
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traits. Haselstein reads Stein’s literary works as portraits in a comprehensive aesthetic sense and she considers her essayistic writing as ›meta-nonfiction.‹ For Haselstein, Stein is to be understood in the context of the international avantgarde and its cultural (kulturtheoretische) assumptions. This makes Haselstein argue that The Making of Americans, for example, acquires its central significance most importantly by way of contextual reference to »Amerikanisierung als sozialpsychologischer Prozess.« 4 William James somewhat harshly caricatured this kind of hermeneutic approach to the foundational and formative philosophical vision of an oeuvre by way of emphasis on its manifold extrinsic connections and referential relations as a »post-mortem method« which attempts »to build the philosophy out of the single phrases, taking first one and then another and seeking to make them fit ›logically‹.« 5 He saw this as a recipe for failure. By this method, James adds, using drastic imagery: »You crawl over the thing like a myopic ant over a building, tumbling into every microscopic crack or fissure […] never suspecting a centre exists.« 6 In my reading of Stein as a major modernist thinker I would much rather follow William James’s recommendation of the method of placing myself ›at the centre‹ of her vision. This existential act of reading as both intuitive and intellectual identification results in what James calls knowledge by acquaintance. In its intimate relation with its object, in its amalgamation of knowing and being, this type of knowledge must be distinguished from the scientifically objectivist knowledge about and its gesture of dispassionate distancing. 7 Knowledge by acquaintance is realized when one tries to follow James’s intense plea for »the use of a little imagination in philosophy.« 8 Any knowledge of a reality arrived at by the critic’s existential identification, for example by placing himself/herself at the center of the work of a thinker, is imaginatively engaged; it is a mode of knowing, thinking, and writing where the demarcations of literature and philosophy are erased. Gertrude Stein herself overcomes these boundary lines. Any attempt to do the core intuition, Haselstein (2019), p. 57. James (1977), p. 117. 6 Ibid. 7 Cf. ibid., pp. 112 f. The distinction between the two modes of knowing occurs as early as The Principles of Psychology (1890) and is maintained through the posthumously published Some Problems of Philosophy (1911). 8 James (1975), p. 112. 4 5
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the center of her thinking and writing, justice will have to start from an imaginative and intuitive appropriation of and existential participation in this grounding center of her vision: The only way in which to apprehend reality’s thickness is either to experience it directly by being part of reality one’s self, or to evoke it in imagination by sympathetically divining someone else’s inner life. 9
This type of imaginative approach to the center of Stein’s foundational intuition, to the center of her thinking, begins early in the 20th century. It characterizes many of the responses to her work through the middle of the 20th century and provides, as I said, an important complement and a possible corrective of studies which privilege extrinsic contexts of Stein’s writings. In a letter to Stein written from her residence in Florence in April 1911, Mabel Dodge offers the first and one of the most profound readings of The Making of Americans as an ontological meditation: [O]nly these last days have I been able to plunge into your MSS. To me it is one of the most remarkable things I have ever read. There are things hammered out of consciousness into black & white that have never been expressed before – so far as I know. States of being put into words the ›noumenon‹ captured – as few have done it. To name a thing is practically to create it & this is what your work is – real creation. It is almost frightening to come up against reality in language in this way. I always get – as I told you – the shivers when I read your things […]. [They] will alter reality as we have known it. 10
Mabel Dodge experiences Stein’s work as realization, as a making, 11 of reality, of beings in their Being, in and through writing. In her view, Stein articulates a new dispensation of Being, she radically alters ›reality,‹ she changes what Being means and thus marks the threshold of philosophical modernity. States of Being and the very core of beings (what Mabel Dodge calls the ›noumenon‹), as they are made palpable in and as writing, affect the reader as uncanny. In this way, Stein creates a kind of ontological sublime, that which makes one wonder, thaumazein, and in this way – according to Plato and Aristotle – she initiates thinking. James (1977), p. 112. Everett (1996), p. 27. 11 ›Making‹ in Stein first and foremost means poiesis, the creating of meaningful presence, of significant Being. 9
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In the following decades succinct statements abound which try to find ways to express the ontological, the philosophical core of Stein’s writing. In 1927 Katherine Anne Porter confesses: »Gertrude Stein reminds me of Jacob Boehme in the way she sees essentials in human beings.« 12 In 1931 Edmund Wilson identified »the gradual development of processes of being« 13 as the center of her literary achievement. Thornton Wilder, the philosophically most erudite among Stein’s earliest critics, argued that she had to work in the excitingness of pure being, […] Miss Stein felt that writing must accomplish a revolution whereby it could report things as they were in themselves before our minds had appropriated them and robbed them of their objectivity in ›pure existing.‹ […] It can be easily understood that the questions she was asking concerning personality and the nature of language and concerning ›how you tell a thing‹ would inevitably lead to the formulization of a metaphysics. In fact, I think it can be said that the fundamental occupation of Miss Stein’s life was not the work of art but the shaping of a theory of knowledge, a theory of time, and a theory of the passions. 14
For Wilder, Stein is a philosopher, the creator of a metaphysics which is centered around the challenges (excitement) of pure Being or ›pure existing.‹ In other words, her oeuvre offers a fundamental ontology. The early 1950s saw the publication of one of the first comprehensive and still impressive and highly sophisticated studies of Stein’s work as a whole, of Donald Sutherland’s Gertrude Stein: A Biography of Her Work (1951). Sutherland dismisses attempts to culturally and socially contextualize her work and privileges the ontological dimension of her creation of (human) beings: »She was determined to express the essential being, the final mode of existence in people, as a thing in itself and sufficient in itself, independent of their historical and social conditions.« 15 In a similar vein the great postmodernist poet John Ashbery reads Stein’s »poem« Stanzas in Meditation (1956) as »a celebration of the fact that the world exists,« and he argues that she attempts »to create a counterfeit of reality more real than reality.« 16 The influential English critic of American literature,
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Porter (1986), p. 51. Wilson (1984), p. 253. Wilder (1994), pp. 132, 134, 136. Sutherland (1951), p. 57. Ashbery (2004), pp. 12, 15.
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Tony Tanner, agreed. In 1977 he wrote that Stein »concentrates on the more basic miracle of what is.« 17 I would like to end this cursory survey of ontological as opposed to contextualizing appreciations of Stein’s writing and thinking by listening to her own late evaluation of her so-called novels in the »Transatlantic Interview« of 1946: »I was not interested in making the people real but in the essence […].« 18 Stein maintains that she does not attempt realistic literary or mimetic re-presentations of (human) beings; she creates ontological presentations, she writes the essence, das Wesen, the Being of beings. I will distinguish two modes or textual genres in which Stein engages the question of Being and the problem of finding an adequate language or adequate languages to properly articulate a sense and the senses of Being: ontology and ontography. Her ontological texts are attempts to think the meaning, the manifestation, and the creative rendition of Being and beings in language (including the so-called ontological difference), whereas ontographic works write beings (whether persons or things) into or in their Being. Superficially considered, her ontological texts could be categorized as critical or theoretical essays, her ontographic texts would commonly be known as literature, as ›novels,‹ ›portraits,‹ ›poems,‹ or ›plays.‹ The meaning of ontology and ontography in Stein cannot be ascertained by reference to established positions within the history of philosophy since Stein herself is one of the initiators and participants within that re-construction of thinking which we know as modernism as it manifests itself in a great variety of new departures in pragmatism (William James, John Dewey, George Herbert Mead), process philosophy (Alfred North Whitehead), the philosophy of emergence (Samuel Alexander), or fundamental ontology (Martin Heidegger). As I will try to argue, Stein finds her own unique position in proximity most prominently to James and Mead on the one and to Heidegger on the other hand.
17 18
Tanner (1977), p. 195. Stein (1971), p. 16.
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Ontological Writings »I had really written thinking,« Stein emphatically and proudly asserts in Everybody’s Autobiography (1937). 19 But what does thinking mean in Stein? William James can help us find an at least preparatory answer since, as Joan Richardson has shown in her wide-ranging subtle analysis of pragmatism in American intellectual history, James had strongly believed that Stein »would […] translate what he had written and lectured about, the premises of his philosophy, into the thing itself, pragma […].« 20 James’s interpretations of thinking and, by extension, of Being may be said to be fully unfolded and realized in Stein’s works. Both James and Mead – and in a way Heidegger – help with the endeavor to get closer to the center of Stein’s own foundational ontological vision. As James meditates on the proper language to name the access to Being and beings, to the kind of their presence in consciousness, he decides: »We ought to have some general term by which to designate all states of consciousness merely as such, and apart from their particular quality or cognitive function. […] My partiality is for either FEELING or THOUGHT.« 21 In James and for Stein, thinking and feeling are terms for the conscious awareness that something or anything is, these words signal and acknowledge existentia, in traditional metaphysical terminology. Feeling and thinking are not primarily cognitive or epistemological conveyors indicating what something is, they do not primarily mediate essentia. Thinking as awareness or feeling 22 provides access to Being, it opens a way (methodos) into Being, it attests presence. Thinking or feeling awareness, for James and Stein, is also a fundamentally temporal event. As James explains: The first fact for us, then, […] is that thinking of some sort goes on. I use the word thinking […] for every form of consciousness indiscriminately. If we could say in English ›it thinks,‹ as we say ›it rains‹ or ›it blows,‹ we should be stating the fact most simply and with the mini-
Stein (1933), p. 312. Richardson (2007), p. 244. 21 James (1981), Vol. I, pp. 185 f. 22 Richardson (2006), p. 252: »[James] is explaining that he uses the word ›feeling‹ to ›designate generically all states of consciousness,‹ including those sometimes called ›ideas‹ or ›thoughts.‹« 19 20
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Herwig Friedl
mum of assumption. As we cannot, we must simply say that thought goes on. 23
The primary fact, the principle, the arche is the process of feeling or thinking awareness as they unfold. This process does not evolve as the act of a subject. Rather, it is a primary event enacting itself: »[T]hought goes on.« In the context of a later phase of his thinking, in the context of radical empiricism, James would name this a priori event »pure experience,« a subject-less temporal spread – »pure experience« will be James’s most prominent term for Being. Thought going on, pure experience, Being are subject-less, because, as James says as early as Principles of Psychology (1890): »Every thought tends to be part of a personal consciousness.« 24 Thinking as awareness, the primal fact, has the tendency to be part of, to become, to move towards, and help establish personal consciousness as the phenomenal manifestation of subjectivity or identity, as Gertrude Stein would say. Neither in James nor in Stein is thinking reduced to the reasoning of the ego cogito. 25 Thinking as awareness, as pure experience, as the event of Being, allows for the emergence of beings like human subjects. Ontologically speaking, the subject has abdicated and lost the privilege of its monarchic rank and authority in the realm of Being. In 1902 James offers a succinct definition of experience in a dictionary entry: It is the entire process of phenomena, of present data considered in their raw immediacy, before reflective thought has analysed them into subjective or objective aspects or ingredients. It is the summum genus of which everything must have been a part before we can speak of it at all. 26
In experiencing as process, in preverbal thatness, what we call ›subject‹ and ›object‹ in metaphysics, thinking (awareness) and presence are still fundamentally undivided in or as the ›summum genus,‹ that is Being itself. Like so many radically modern thinkers and artists, James goes back to and re-captures the pre-metaphysical intuitions of the earliest philosophers, in this case of the Presocratics. ParmeniJames (1981), Vol. I, pp. 219 f. Ibid., p. 220 (my emphasis, H. F.). 25 Whitehead (1967), pp. 143 f. emphasizes this difference as marking the epochal turn away from Cartesian dualism, praising it as James’s most important philosophical achievement. 26 James (1978), p. 95. 23 24
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des’s profound ontological poem in its first part summarizes: »to gar auto noein estin te kai einai« 27 – one and the same, however, are Being and thinking (noein). 28 In his Essays in Radical Empiricism (1912), James maintained »that there is only one primal stuff or material in the world, a stuff of which everything is composed.« 29 This stuff is ›pure experience,‹ the ›summum genus‹ of which he has spoken in the dictionary entry on experience. This is the Greek to auto, Being itself, in the saying of Parmenides. It is, according to Heidegger, the true focus of Parmenides’s vision, rather than the mere conjunction of noein and einai 30 as two separate entities. Heidegger and Gadamer have insisted that noein in Parmenides does not mean ›reflection‹ in the post-Aristotelian sense of grasping that which is out there, of conceptually appropriating the object as the fundamentally other. Heidegger and Gadamer translate noein as ›sensing,‹ as open awareness of that which approaches of itself, noein is compared to the sense of a deer which apprehends (apprehensively) the presence, the Being of something (German wittern). 31 Noein corresponds to William James’s post-metaphysical interpretation of ›thinking and/or feeling.‹ It is not the Cartesian knowing by a human subject what something is, the essentia, it is not a cognitive grasping and conceiving. Knowing is the sensing, the thinking/feeling that presence is, it is the same as (das Selbe, Heidegger says), the same as Being in its openness showing of itself (Greek aletheia). Giorgio Agamben has uncovered a similar intuition in Aristotle’s Nicomachean Ethics, where he distinguishes ›aisthesis oti estin‹ (the sensual awareness, the thinking/feeling that presence is, i. e. that Being presences) and ›aisthesis ti estin‹ (the sensual awareness and intellectual certainty what something is). 32 This idea of a sensual awareness of Being surfaces again in a remarkable phrase of EmerRiezler (1934/2001), p. 26. In Principles of Psychology, Vol. I, p. 152, James ventures to offer a panpsychist application of this ancient as well as radically modern intuition of the identity of awareness and Being, noein and einai: »If evolution is to work smoothly, consciousness in some shape must have been present at the very origin of things. Accordingly we find that the more clear-sighted evolutionary philosophers are beginning to posit it there. Each atom of the nebula, they suppose, must have had an aboriginal atom of consciousness linked with it[.]« 29 James (1976a), p. 4. 30 Cf. Heidegger, GA 80.2, p. 795. 31 Cf. ibid., p. 793; Gadamer (1996), p. 143. 32 Cf. Agamben (2004), p. 5. 27 28
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son’s in »Self-Reliance« (1841), where he speaks – and I emphasize – of »the sense of being which in calm hours rises, we know not how […]«. 33 James used the term ›ontologic‹ or ›ontological emotion‹ to capture the meaning of this sense of Being which reveals itself of itself. In »The Sentiment of Rationality« (1879), he explains: Existence [in the sense of Being] then will be a brute fact to which as a whole the emotion of ontologic wonder shall rightfully cleave, but remain eternally unsatisfied. Then wonderfulness or mysteriousness will be an essential attribute of the nature of things[.] 34
It is important to note that James sees Being in its purity (brute fact) as the inexhaustible source of wonder (thaumazein) and thus of thinking and, at the same time, beyond the reach of ultimate and conclusive conceptual explanation. In this respect, the awareness of Being, Being and awareness, assume a mystical quality which, as I will attempt to argue toward the end of this essay, is an important trait of Gertrude Stein’s version of ontological wondering. So far the analysis of James’s ontological meditations has revealed two major insights which will be important heuristic guidelines in reading Stein’s ontological writings: Being precedes subjectivity and, secondly, an important feature of a pragmatist reading of Being is that thinking and awareness and Being are one, identical (Greek to auto, German das Selbe). The most prominent pragmatist name for Being is therefore: experience. This is also attested by George Herbert Mead’s related philosophical conception, as Arthur E. Murphy summarizes and explains: [E]xperience itself, as simply ›there,‹ ›had‹ or possessed, has no ulterior reference […] there is no significant philosophical problem about the status of experience as such. And since consciousness, with its use of ideas and meanings, does involve such problematic reference, [Mead] further holds that consciousness is a development within experience and not the final and inclusive form of our relation to it. The wider experience, the world which is ›there‹ and with respect to which the problem of an external or transcendent reference does not arise, is foundational to Mr. Mead’s view[.] 35
33 34 35
Emerson (1883), p. 64 (my emphasis, H. F.). James (1979a), p. 65. Murphy (1932/1980), p. XIII.
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Like James, Mead maintains that we do not have experience(s), experience is what we are, and more comprehensively, experience is that which is, what Mead calls ›the wider experience,‹ Being itself. Not only (human) subjects and other single beings emerge from experience understood as Being, worlds which can be described and grasped in language, that is the realm of logos, arises out of (pure) experience, if we follow James’s radical empiricist vision: ›Pure experience‹ is the name which I gave to the immediate flux of life which furnishes the material for our later reflections with its conceptual categories. […] [It is] an experience pure in the literal sense of a that, which is not yet any definite what, tho ready to be all sorts of whats; full both of oneness and manyness, but in respects that don’t appear; changing throughout, yet so confusedly that its phases interpenetrate and no points, either of distinction or of identity, can be caught. Pure experience in this state is but another name for feeling or sensation. But the flux of it no sooner comes than it tends to fill itself with emphases, and these salient parts become identified and fixed and abstracted; so that experience now flows as if shot through with adjectives and nouns and prepositions and conjunctions. Its purity is only a relative term, meaning the proportional amount of unverbalized sensation which it still embodies. 36
Pre-subjectively Being ›writes‹ itself, it tends to fill itself with identifiable entities or nameable beings, it makes itself into whatnesses. One is tempted to say that Being in its purity is unstable and in search of a language. This very language and/or the differentiation into individual beings (the beginning of the ontological difference) comes at a cost: The purity of pure experience, Being itself, is obscured more and more and in danger of being forgotten while only beings, socalled real entities, are emphasized. They occupy the foreground, the phenomenal world, and tend to become the dominant focus and guiding interest of thinking: Seinsvergessenheit, the forgetting of Being, sets in. More urgently than ever before in my somewhat lengthy discussion of James’s and Mead’s pragmatist ontologies, the question arises: What does this have to do with Gertrude Stein? The answer is simple: everything. In her ontological writings, in her thinking about Being, Gertrude Stein distinguishes two ways to think the human Being in his/ 36
James (1976b), p. 46.
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her Being: human mind and human nature. These are what Heidegger calls Grundbegriffe for Stein. As Grundbegriffe they do not lay the foundation for a discipline – for example, for a hermeneutic of human existence. Human mind and human nature are indicators of the ground, ways to express the indispensable, the grounding dimension of what it means to be human. 37 Human nature is the term for the mode of existence of the human being in a context of relations. It defines the ontic aspect of human existence, the way she/he is embedded in social or historical or cultural networks, in relation to other beings, things, institutions, ideologies, times, and places. In terms of human nature, a human being possesses identity, he/she is a this one who can be called by a name. Human nature makes it possible that he or she can identify themselves or be identified by others when one asks who? Stein explains: [M]ostly people live in identity and memory that is when they think. They know they are they because their little dog knows them, and so they are not an entity but an identity. And being so memory is necessary to make them exist[.] 38
The relational existence characterized as human nature implies a necessary connection of the concrete individual, the ontic human being, with the antecedent, the conditioning, and determining factors of the past accessible through memory and a defining relationship with the other (the little dog). This mode of conceiving the human being implies a significant loss. What is forgotten and lost is the grounding facticity of Being of and for itself, the un-conditioned and thus independent, the contingent Being which is radically free and does not owe itself to any other, antecedent, outside, or extraneous entity or factor. What is lost in and with the conception of human nature is the mode of authentic existing which possesses its Being in and through a continuous present, 39 an enduring and always innovative now which makes a ceaseless re-writing of the conditioning past possible and necessary but is never ever, in its contingent present newness, at the mercy of deterministic antecedents. 40 Cf. Heidegger, GA 51, pp. 1–3. »›Grund-Begriffe‹ heisst uns, den Grund begreifen […] Den Grund begreifen, das sagt, den Grund von allem erreichen […],« p. 3. 38 Stein (1967c), p. 153. 39 Cf. Stein (1967a), p. 25 and passim. 40 Cf. Mead (1932/1980), pp. 2, 11. 37
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Human mind is the term which Stein introduces in order to characterize this radically free and independent mode of Being (Seiendheit) which emerges into presence out of itself in a continuous present. Human mind is decidedly not an epistemologically relevant or significant faculty. For Stein, human mind is an ontological, not an epistemological concept. Human mind is Stein’s version of James’s foundational intuition of the pre-subjective pure experience as the word for Being as and in awareness. Stein introduces the concept of human mind in her intense and complex discussion of the defining essence of master-pieces. For her, master-pieces may be culturally acclaimed and outstanding works of literature like Shakespeare’s Hamlet or great works of music or painting. Their acceptance and culturally high esteem, however, is not an indispensable feature; on the contrary, the general acceptance of the master-piece relegates it, as she explains in »Composition as Explanation« (1926), to the sterile world of the museum. 41 The decisive trait of a master-piece is that it is an independent conception and creation of a world (German Weltentwurf) which does not owe itself to any precedent or antecedent condition, a creative design which must be thought to emerge from the feature- and nameless it is of Jamesian pure experience, a structure which arises out of itself in the mode which Heidegger attributes to Greek physis. 42 And so always it is true that the master-piece has nothing to do with human nature or with identity, it has to do with the human mind and the entity that is with a thing in itself and not in relation. The moment it is in relation it is common knowledge and anybody can feel and know it and it is not a master-piece. At the same time every one in a curious way sooner or later does feel the reality of a master-piece. The thing in itself of which human nature is only the clothing does hold the attention. […] It is not extremely difficult not to have identity but it is extremely difficult the knowing not having identity. One might say it is impossible but that it is not impossible is proved by the existence of masterpieces which are just that. They are knowing that there is no identity and producing while identity is not. That is what a master-piece is. […]
Cf. Stein (1967a), p. 23. Cf. Heidegger, GA 55, p. 87, on Greek physis as the foundational term in the utterances of the earliest thinkers.
41 42
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Think about how you create if you do create you do not remember yourself as you do create. And yet time and identity is what you tell about as you create only while you create they do not exist. That is really what it is. And do you create yes if you exist but time and identity do not exist. We live in time and identity but as we are we do not know time and identity everybody knows that quite simply. 43
The master-piece as a radically new and, ontologically speaking, as a modern Entwurf owes itself to the unconditioned presence of human mind in the sense of pure experience or Being. The core of human existence as it manifests itself in original creation, in the master-piece, is the focus of all true interest, of attention. The lack of identity, the absence of subjectivity in the processes of true creation go hand in hand with a knowing (an awareness) of that absence. This existentially difficult disposition enables the un-precedented work to arise. In the act of creating, of world-making in whatever medium, human mind does not relate (remember) even to itself as conditioning factor. Creation, world-making, or Entwurf deal with, make (in the sense of Greek poiesis) time and self-identical beings out of the featureless purity of the sheer there of human mind. At the same time, creative human mind presences as a-temporal and a-subjective Being in a persistent Now. The human being as ontic being (identity) lives in a spatio-temporal world, »but as we are we do not know time and identity.« In their Being humans simply occur as unrelated presence allowing a structured world with time and space and beings (identities) to arise. The Geographical History of America or The Relation of Human Nature to Human Mind (1936) is – as William H. Gass aptly said – »a culminating work,« it is »philosophically, the most important of her texts.« 44 Of course, Stein being Stein, we do not learn anything about geography, not the least bit about history, and hardly anything about America – except maybe that »there is more space where nobody is than where anybody is« and that we get repeated hints that America is »flat.« 45
43 44 45
Stein (1967c), pp. 151, 153, 154 (my emphases, H. F.). Gass (1995), pp. 23, 24. Stein (1995a), pp. 45, 70, and passim.
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What we learn, however, once again, is the fact that human mind should be thought, like James’s pure experience, as the ground or arsenal of world-making (in Nelson Goodman’s sense). Human mind as such simply is. At the same time, it occasions ontic realities that can be articulated, because human mind is constantly on the verge of releasing a logos, searching for and finding an appropriate language, giving birth to a habitable cosmos. This is one of the reasons why Stein occasionally defines human mind as female: 46 She says she wanted that she should be the only ideal one, but she is, what else is she but that, she is, and so the human mind rests with what is. Yes, which it is, that. That is what they call it. That. 47
Human mind is and thinks Being in its fulness (»the only ideal one«) and in that close conjunction, in that identity of noein and einai, which Parmenides maintained. Being in this sense is sheer existence, thatness. Just like James’s pure experience, however, it has the potential to think and articulate itself as language, as the logos which we know both as language and as a world of identifiable beings. Human mind itself, in its pre-subjective thatness, possesses neither a grammatical gender nor numerus: Before it releases a nameable world, human mind is neither she nor he nor it, it is neither one nor two or many: Who write. The human mind write. What does the human mind write. The human mind writes what it is. 48
The ontological mode human mind, which always precedes the creation, realization, and articulation (making, thinking, writing) of subjectivity or concrete, ontic, individual existence, is always already on the way and searching for the articulation (writing) of Being which grounds a freely emerging world. Similarly, in James’s version of Being as pure experience, as we read above, »the flux of it no sooner comes than it tends to fill itself with emphases, and these salient parts become identified and fixed and abstracted; so that experience now 46 47 48
Cf. Friedl (2000). Stein (1995a), p. 77. Ibid., pp. 96 f.
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flows as if shot through with adjectives and nouns and prepositions and conjunctions.« 49 I would like to summarize: The Geographical History of America is a powerfully programmatic meditation. It speaks of the inexhaustible and limitless and featureless space of possible realizations and ontic enactments (geography) as processes of continuous becoming (history) and of relentless innovation and newness 50 (America). The work envisions and unfolds the center of Stein’s thinking: the foundational intuition of the conceptually »flat,« that is, the vast and unstructured there of pure experience, or human mind, or Being without antecedents (America); or, as William Gass said: For Stein, »[t]he human mind went on like the prairie, on and on without limit.« 51 This philosophical vision is the center which, according to James, helps us »understand at once all the different things it makes [her] write or say.« 52
Ontographic Writings Whereas Stein’s ontological texts focus on Being and its inner creative dynamic (writing, making – poiesis), her so-called literary works present varieties of the existence of concrete humans and things, that is of beings, as they emerge from the un-precedented, always present mode of Being, or human mind, or pure experience, and in this way establish worlds. In her ontographic works Stein writes single entities and their worlds into Being. Everything that exists in these works is a process because the Being of humans and things is temporal, though not simply in the banal sense of temporality as the linear sequence of the emergence and disappearance or dying of individual beings. As presence (German Anwesenheit) and as duration (German Verweilen), Being itself implies temporality (German Sein und Zeit). 53 Stein shares this insight with the pragmatism of Mead (»The world is a world of events«) 54 and Dewey (»Every existence is James (1976b), p. 46. Cf. Friedl (2019). 51 Gass (1995), p. 11. 52 Cf. motto I on p. 155 above. 53 Heidegger, GA 51, p. 121: »[D]as Sein selbst ist Verweilung, Anwesung.« (Being itself is duration, presence-ing [i. e. time]; my translation, H. F.). 54 Mead (1932/1980), p. 1. 49 50
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an event«) 55. Event should be read as an ontological designation for the coalescence of Being and time. I select five examples in order to demonstrate the ontographic character of Stein’s written realizations of human existence and of beings in general. These examples are also chosen to manifest different modes of Stein’s successful search for a language, for languages capable of conveying her pragmatist vision of the Being of beings. This passage is a representative instance of the way Stein writes individualized Being, makes the Being of a being (in the sense of poiesis), in The Making of Americans: He was one being living in being one being living to himself inside him and he was not remembering this thing and he was knowing this thing and sometimes he was certain that some were knowing him in knowing this thing and sometimes he was certain that some were not knowing him in knowing this thing. 56
Pragmatist Seinsdenken, radical empiricist ontology, calls for a writing which focusses on the way (human) beings are ›living to themselves inside themselves‹ while they are aware of this in an actual present without reference to a conditioning or determining antecedent state (remembering). This mode of existence (›this thing‹) and the awareness of it (›knowing‹) are one single event in the present. 57 It is possible and helpful to interpret this as a variant of Mead’s reading of genuine existence/Being as an event in the only authentic temporal dimension, the present. Being as present temporal event necessitates a language which privileges the verb and, most prominently, the progressive form. Stein describes her motivation for this kind of ontography: »I must find out what is moving inside them that makes them them[.]« 58 Her focus in writing/making human beings is almost exclusively on »everything that was inside them that made them that one« since she has »this passion for knowing the basis of existence in each one[.]« 59 The self-awareness of a human being in his/her inner identity does not depend on what we would call ›recognition.‹ It does not matter whether others »were knowing him in knowing this Dewey (1981), p. 63. Stein (1995b), p. 827. 57 It is possible and legitimate to read this as a late echo of Parmenides’s identification on noein and einai. 58 Stein (1985c), p. 183. 59 Stein (1985a), p. 136. 55 56
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thing.« Human nature as the ascription of identity in relation to others does not concern or affect the self-being, the core of existing, human mind. Stein’s concentration on the inner dynamic event of self-existence is paralleled by James’s strong emphasis on the importance of the inner dimension of all beings in and for themselves as the true locus of Being. In Lecture VI of A Pluralistic Universe (1909), the word inner assumes the function of a leitmotif guiding the reader towards an identificatory awareness (knowledge by acquaintance) of the real reality, the essence, the Being of any being. 60 In the same way, for Stein, »a lively sense of being part of being« is the ceaselessly present inner awareness of the essential existential feature of any »real one« as he or she is ontographically written into Being. The event-character of essential Being is most intensely revealed and written in Gertrude Stein’s best-known portrait, »Picasso:« This one was one having always something being coming out of him, something having completely a real meaning. This one was one whom some were following. This one was one who was working. This one was one who was working and he was one needing this thing needing to be working so as to be one having some way of being one having some way of working. This one was one who was working. This one was one having something coming out of him something having meaning. This one was one always having something come out of him and this thing the thing coming out of him always had real meaning. This one was one who was working. This one was one who was almost always working. This one was not one completely working. This one was one not ever completely working. 61
Portraits like the early portrait of Picasso of 1909 were an intense ontographic challenge for Stein: »I began to think about portraits of any one. If they are themselves inside them what are they and what has that to do with what they do.« 62 The central question is, again, the question of Being, »what are they«? This question cannot be answered by establishing extrinsic relations since the portrait concentrates on how ›they are themselves inside them.‹ 63 All relations issue a posteriori from that center inside them, especially relations estabJames (1977), pp. 110, 111, 112: I offer a random and incomplete array of instances: »the inner life of the flux,« »the inwardness of reality,« »the inner movements of our spirit,« »the inner nature of reality,« »the inner nature of things.« 61 Stein (1967d), pp. 214 f. 62 Stein (1985c), p. 171 (my emphasis, H. F.). 63 My emphasis, H. F. 60
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lished by what the »sitters« of the portraits do and how they affect others, the followers in the case of Picasso. These portraits call for a writing of each single significant existential moment in the course of existence while pure repetition is avoided and mere remembrance of an antecedent, supposedly determining essential condition of being is excluded: Each time that I said the somebody whose portrait I was writing was something that something was just that much different from what I had just said that somebody was and little by little in this way a whole portrait came into being, a portrait that was not description and that was made by each time, and I did a great many times, say it, that somebody was something, each time there was a difference just a difference enough so that it could go on and be a present something. […] You see that in order to do this there must be no remembering, remembering is repetition, repetition is also confusion. 64
In the process of existing, the constantly new intensity of the Being of a person demands that ontographically ever new moments or aspects of their Being be presented, each minimally different simply by way of the sequential placement in a series of seemingly identical assertions. In this way, as James explained in A Pluralistic Universe, »[in] the very midst of the continuity our experience comes as an alteration,« 65 as minute change. Picasso in his Being is both continuous (he keeps working) and different since each new realization (articulation) of working is just itself and not simply another realization of an underlying unchanging metaphysical essence. Therefore, Picasso may be said to have his Being in creativity (working), but creativity is not an antecedent unchanging and given entity to which momentary realizations of working may refer (remembering). Being creative is fully and originally itself in any given moment. This justifies Stein’s assertion that ›this one‹ »was one not ever completely working.« The language Stein found for »Picasso« is dominated by verbs in their progressive form to indicate the process character of the creative being Picasso; and the language features iteration, an iteration which, Stein insists, is not repetition because the single instance does not acquire meaning by, implicitly or explicitly, referring to a preceding or following use of the word. Each »working« of Picasso’s is just itself now; in this way each single occurrence of working truly is. Because of his 64 65
Stein (1985c), pp. 177 f. James (1977), p. 128.
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specific intuition of Being as time in the sense of nowness, we may once again refer to Mead’s philosophy of the present as a parallel philosophical undertaking. In Ida. A Novel (1941), Gertrude Stein found a new kind of language, significantly different from the rhetoric and style and vocabulary in The Making of Americans and »Picasso.« Dear Ida. And if they did not come from anywhere they did not come. So much for resting. Little by little there it was. It was Ida and Andrew. Not too much not too much Ida and not too much Andrew. And not enough Ida and not enough Andrew. If Ida goes on, does she go on even when she does not go on any more. No and yes. Ida is resting but not resting enough. She is resting but she is not saying yes. Why should she say yes. There is no reason why she should so there is nothing to say. She sat and when she sat she did not always rest, not enough. She did rest. If she said anything she said yes. More than once nothing was said. She said something. If nothing is said then Ida does not say yes. If she goes out she comes in. If she does not go away she is there and she does not go away. She dresses, well perhaps in black why not, and a hat, why not, and another hat, why not, and another dress, why not, so much why not. She dresses in another hat and she dresses in another dress and Andrew is in, and they go in and that is where they are. They are there. Thank them. Yes. 66
Ida is an ontographic narrative of emergence, of coming-into-Being as an open, free, un-determined and therefore contingent process. One may, fancifully, call it an ontological Bildungsroman. Ida begins with the birth of the ›protagonist,‹ a ›person‹ of whom we never learn or know whether ›she‹ is one or two or several ›persons,‹ whether ›she‹ is female or male, Ida or Andrew, sedentary or nomadic, provincially domestic or cosmopolitan, articulate or reticent: Ida is a space of possibilities of becoming. This space keeps filling itself momentarily and transitionally with certain kinds of appearance (dresses) or conStein (1941/1968), p. 154. The title Ida. A Novel is deeply ironic. The work consistently undermines all established conventions of narration, e. g. by eroding the ›identity‹ of the ›protagonist‹ who is one or two persons, male and/or female, sometimes an ›it.‹
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duct, only to abandon them again in the next moment within a ceaseless and playfully free process. One might say that Ida is pure experience, human mind which may solidify in transitory concrete realizations (beings) without fully exhausting or closing the openness of the realm of pure experience or Being. As in James’s interpretation of the linguistic self-organization of Being as pure experience, the un-verbalized, unrealized residue 67 of pure experience is never exhausted. Contingent realizations, the mode of Being of individual beings in Ida, emerge into Being without antecedent determination or consequent closure. In this way they achieve presence: »They are there.« These events of coming into Being, of original and profusely ongoing creation, deserve recognition and acceptance and gratitude. One is grateful for presence/presents: »Thank them. Yes.« Searching for a language to convey the ceaseless play of contingent beings in their Being in Ida, Stein abandoned the dominance of verb forms both in The Making of Americans and in »Picasso,« as they emphasize the inner dynamic of Being as process; she also considerably reduces the ever new iterative insistence on the unique defining quality of an individual being which characterizes many of her portraits. Instead, she radically shakes the conventions of semantic consistency and categorical logic so that properties and qualities like ›male‹ and ›female,‹ or ›in‹ and ›out,‹ or ›coming‹ and ›going‹ lose their claim to an indestructible self-identical signification. This language makes the boundary lines of free and contingent beings porous and permeable, the Aristotelian logic of the law of the excluded middle collapses: »If she goes out she comes in.« In her open-ended search for a language that does justice to pure Being, to pure experience in a pragmatist sense, Stein found and created an even more radical mode of writing, a more radical transformation of language 68 than the plethora of progressive forms in The Making of Americans or the joyful proliferation of contradictions, paradoxes, and oxymora in Ida. In »Poetry and Grammar« (1934) Stein writes:
Cf. above the quotation from James (1976b), p. 165 (fn. 36). I studiously avoid using the term »language experiment« for Stein’s writing, a term cherished by so many Stein critics which is fundamentally inadequate. Stein insisted: »Artists do not experiment. Experiment is what scientists do[.]« Wilder quoting Stein in Wilder (1994), p. 133.
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I have always been very impressed from the time that I was very young by having it told me and then afterwards feeling it myself that Shakespeare in the forest of Arden had created a forest without mentioning the things that make a forest. You feel it all but he does not name its names. Now that was a thing that I too felt in me the need of making it be a thing that could be named without using its name. After all one had known its name anything’s name for so long, and so the name was not new but the thing being alive was always new. What was there to do. 69
Noun substantives and names are a fundamental problem for Stein and her awareness that the world exists as relentless flux revealing continuity in difference 70 and, at the same, achieves full presence in each and any single moment of a continuous present. The name captures and freezes, it ossifies the Being of any existent thing or being so that it can again and again be called upon as if it were a-temporal and relentlessly self-identical. Stein shares James’s view in A Pluralistic Universe that in experienced reality actual beings are their own other; the »names cut them into separate conceptual entities, but no cuts exist in the continuum in which they originally came.« 71 Fundamentally, then, no name, no noun is adequate more than one single time in order to designate the true and essential Being of an entity as it is inside itself. »What was there to do?« Stein’s answer in her search for an adequate language for this particular challenge posed by a pragmatist ontology is the vocabulary of Tender Buttons (1914). As she said: »I […] felt in me the need of making it be a thing that could be named without using its name.« The world of things, in Tender Buttons these are »Objects. Food. Rooms,« this ontic world of things receives new names and definitions as if creation had just commenced. From Stein’s ontological perspective, however, there is no »as if,« constant renewal is indeed the case. Walt Whitman, Stein’s model and inspiration especially while she was thinking about names in »Poetry and Grammar,« said: »There was never any more inception than there is now […].« 72 The world, the unremittingly innovative realm has to be articulated and described and defined again and again in its ceaseless emergence into Stein (1985b), pp. 236 f. Cf. James (1981), Vol. I, p. 220 on the coexistence of change and continuity in experiencing. 71 James (1977), p. 129. 72 Whitman (1965), p. 30. 69 70
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the presence of always momentary and transient, processual Being. These are random examples from the modern paradise of baptizing the incessantly new in Tender Buttons: A CARAFE, THAT IS A BLIND GLASS. A kind in glass and a cousin, a spectacle and nothing strange a single hurt color and an arrangement in a system of pointing. All this and not ordinary, not unordered in not resembling. The difference is spreading. EYE GLASSES. A color in shaving, a saloon is well placed in the centre of an alley. MALACHITE. The sudden spoon is the same in no size. The sudden spoon is the wound in the decision. 73
I think it is a fitting choice to select the best-known, often ridiculed, and not always fully appreciated saying of Gertrude Stein as a final example of this series of searches for an adequate language in the attempt to articulate a pragmatist ontology: »A rose is a rose is a rose is a rose.« In his introduction to Stein’s collection of essays Four in America (1947), Thornton Wilder recalls Stein’s answer to a student’s question after a talk at the University of Chicago during her tour of the United States in 1933. With slight irritation and yet kindly good grace she answers – maybe for the hundredth time – the question about the meaning of »A rose is a rose is a rose is a rose.« Can’t you see that when the language was new – as it was with Chaucer and Homer – the poet could use the name of a thing and the thing was really there? He could say ›O moon,‹ ›O sea,‹ ›O love.‹ And the moon and the sea and the love were really there. And can’t you see that after hundreds of years had gone by and thousands of poems had been written, he could call on those words and find that they were just worn-out literary words? The excitingness of pure being had withdrawn from them; they were just rather stale literary words. Now the poet has to work in the excitingness of pure being, he has to get back that intensity into the language. […] Now I don’t want to put too much emphasis on that line, because it’s just one line in a longer poem. But I notice that you all know it; you make fun of it, but you know it. Now listen! I’m no fool. I know that in daily life we don’t go around saying ›… is a … is a … is a …‹Yes, I’m no fool; but I think that in that line the rose is red for the first time in English poetry for a hundred years. 74 73 74
Stein (1967b), pp. 161, 170, 171. Wilder (1994), p. 132 (my emphasis, H. F.).
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In the beginning of the twentieth century the lament about the wear and tear and attrition, about the decay of language is not exceptional; just think of Hugo von Hofmannsthal’s »Lord Chandos Brief« of 1902, which compares the tired and spent words of traditional language with the taste of decaying musty mushrooms. 75 Stein’s remedy implies two important aspects. Firstly, the iteration of »rose« enacts the radical nominalist point of view of her ontological intuition. In an example related to the saying about the rose, Stein argues: [T]he natural way of counting is not that one and one make two but to go on counting by one and one as chinamen do as anybody does as Spaniards do as my little aunts did. One and one and one and one and one. That is the natural way to go on counting. 76
Each single entity, the Being of each individual being, whether it is simply ›one‹ or a ›rose,‹ is always fully contained and present within itself, it is never absorbed in a totality or a sum of seemingly identical instances preceding or following it. The weight and dignity and importance, the ›excitingness of pure being‹ of a single being cannot be subsumed under and dissolved into a universal. The persistent challenge for Stein, her ›bother,‹ as she says in »Portraits and Repetition« (1935), »always has had to do with a thing being contained within itself.« 77 Her mode of iteration preserves the ontological integrity and dignity, as James might have said, of all ›eachnesses.‹ She explains the ontographic power of iteration in her ›portraits‹ of people and things: Every time I said what they were I said it so that they were this thing, and each time I said what they were as they were, as I was, naturally more or less but never the same thing each time that I said what they were I said what they were, not that they were different but as it was not the same moment which I said I said it with a difference. 78
For Stein, repetition erases the self-identity of each individual being and subsumes it under a general, a universal aspect, the freshness of its name is violated. Iteration, however, which allows us to become aware of the inalienable singularity of all beings in a radically nominalist world, iteration guarantees the freshness of ›roses‹ and the ›ex75 76 77 78
Cf. Hofmannsthal (1957), p. 342. Stein (1985b), p. 227. Stein (1985c), p. 194. Ibid., p. 185.
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citingness of the pure being‹ of ›ones‹ because every single instance of naming the rose and counting the number one occurs in a different and unique moment: »[I]t was not the same moment.« The second important aspect of Stein’s endeavor to regain and retain the purity and pristine ontographic power of words as they call beings forth into Being is its mystical dimension. Stein’s rose in its impeccable singularity and absolute ontological self-sufficiency is intimately related to roses which manifest a similarly radical freedom of authentic Being. In »Self-Reliance,« Emerson writes: These roses under my window make no reference to former roses or to better ones; they are for what they are; they exist with God to-day. There is no time to them. There is simply the rose; it is perfect in every moment of existence. 79
Like Stein, Emerson intuits the ungrounded perfection of each and every moment of Being. Emerson evokes for us the related vision of the German Baroque poet and mystic Angelus Silesius (Johannes Scheffler, 1624–1677) in his book of religious poetry Cherubinischer Wandersmann (1657): »Die Ros’ ist ohn warumb / sie blühet weil sie blühet / Sie achtt nicht jhrer selbst / fragt nicht ob man sie sihet.« 80 Stein’s silent, tacit participation in the mystical tradition of Angelus Silesius and Ralph Waldo Emerson is motivated by her Seinsdenken, which implies the possibility of a mystical intuitionism, a convergence of knowing awareness and Being in its pure there, a convergence whose first articulation we found in Parmenides’s »to gar auto noein estin te kai einai.« William James similarly emphasizes the experience of mystical awareness as noetic. 81 The sense of Being (noein), what James called the ontologic feeling, the knowledge by acquaintance, allows immediate access to and participation in Being as the non-mediated and un-grounded self-identical existence of Stein’s, of Emerson’s, of Angelus Silesius’s rose. It is highly significant in this context that in Der Satz vom Grund (1957) Heidegger offers an interpretation of Angelus Silesius’s poem to help clarify the contingency, the groundlessness of Being. 82 Paradoxically, the un-groundedness of Being guarantees that unassailable integrity of the Being of the rose which Angelus Silesius and Emerson and Stein 79 80 81 82
Emerson (1883), p. 67. Angelus Silesius (1984), p. 69 (Gedicht I, 289). Cf. James (1985), p. 302. Cf. Heidegger, GA 10, pp. 53–60 and passim.
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celebrate. The acceptance of Being as contingent leads us back to Stein’s congenial pragmatist teacher. In the fragmentary chapter III »The Problem of Being« in Some Problems of Philosophy (1911), James states succinctly that »fact or being is ›contingent‹.« 83 In Pragmatism (1907) James declared that Being in the sense of »all the finite experiences […] leans on nothing.« 84 Awareness of contingent Being therefore can only occur in and as meditative contemplation, as a kind of mystically intuitive participation, »knowledge by acquaintance.« Reading Stein’s thinking as issuing from a mystical disposition 85 is not as daring as it seems at first glance. Thornton Wilder remembers the »impressive realization of her practice of meditating,« 86 and the wonderful statue of Stein created by the American sculptor Jo Davidson in 1923 shows a Buddha-like presence deeply immersed and absorbed in mystical contemplation. Davidson presents Stein, makes her present in her Being, as she introspectively devotes herself to the ›centre‹ of her creativity: the ›excitingness of pure being‹ and the unremitting search for languages to communicate and realize its wonder in writing thinking.
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Von der (Un-)Behaustheit des Denkens. Literarische Reflexionen zu philosophischer Systematizität bei Heidegger und Thoreau
Einleitung Sobald wir Gedanken in Worte fassen, ausformulieren und verschriftlichen, werden sie uns selbst ebenso wie anderen als etwas Äußerliches zugänglich. Einzelne Gedanken bilden nicht länger eine mehr oder weniger unsortierte Kontinuität, sondern lassen sich in Form von Begriffen und Aussagen zueinander in Beziehung setzen und in eine bestimmte Ordnung bringen. Eine strukturierte und hierarchisierte Zusammenstellung, die Rechenschaft über die spezifische Art und Weise ihrer Komposition ablegt, lässt sich unter die Kategorie des Systems subsumieren, das in der Regel mit dem Anspruch verbunden ist, alle explizierbaren Aspekte eines Phänomen- oder Tatsachenbereichs in die Form einer rationalen Ganzheit zu bringen. Als möglichst vollständige begriffliche Struktur soll ein System idealiter für alle gleichermaßen einsichtig sein und eine der Ordnung der Dinge korrespondierende Ordnung der Begriffe darstellen. Vor allem in der Philosophie sind solche Wissenssysteme als strukturierte Gefüge von Einzelerkenntnissen immer wieder selbst Gegenstand der Reflexion, die Voraussetzungen, Reichweite, Erklärungsanspruch und andere Kriterien von Systematizität einer kritischen Prüfung unterzieht. Den expliziten Überlegungen zur Struktur philosophischer Systeme liegen jedoch oftmals implizite Annahmen darüber zugrunde, in welcher Weise ein System überhaupt vorgestellt werden kann. Solche grundlegenden, kaum jemals ausdrücklich thematisierten Vorannahmen zur Beschaffenheit der Systematizität finden sprachlich Ausdruck in Metaphern oder Analogien, aus denen wiederum rückgeschlossen werden kann auf die jeweils zentrale Leitmetaphorik. Eines der gängigsten solcher Bilder zur Beschreibung eines Systems, die mit Hans Blumenberg als Varianten einer sinnkonstitutiven
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»Hintergrundmetaphorik« 1 bezeichnet werden können, ist das des Gedankengebäudes. So spricht schon Kant in der transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft (1781) von einem vernunftgemäßen Ordnungsschema für unsere Erkenntnisse als einer »architektonische[n] Einheit« 2, verweist auf die Möglichkeit einer »Architektonik alles menschlichen Wissens«, deren Baumaterial »aus Ruinen eingefallener alter Gebäude genommen werden kann« 3, und liefert damit gewissermaßen Baupläne für die Konstruktion von Gedankengebäuden überhaupt. 4 Nietzsche greift ebenfalls, wenngleich mit kritischer Intention, auf eine architektonische Metaphorik zurück, wenn er den Versuch, die konkrete und lebendige Wirklichkeit sprachlich abzubilden, als »das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes« 5 bezeichnet. Man möge den Menschen zwar ob dieser handwerklichen Kunst bewundern, solle sich aber vor der Annahme hüten, »der grosse Bau der Begriffe« 6 könne mit seiner starren Struktur an die sich fortwährend entziehende Wirklichkeit heranreichen. Die bildliche Vorstellung dient damit zugleich der Charakterisierung eines philosophischen oder wissenschaftlichen Systems wie auch seiner Kritik: Statt der Zweckhaftigkeit eines solchen Gebäudes tritt sein ästhetischer Wert oder der persönliche Ruhm seiner Erbauer in den Mittelpunkt. Die Vorstellung von einem System als Denkgebäude ist sicherlich die dominierende, allerdings nicht die einzige Art und Weise, einen ganzheitlichen Ordnungszusammenhang metaphorisch zu konzeptualisieren. So lässt sich die Verbindung zwischen den Elementen eines Systems mit Peter Strawson ebenso gut mittels des Modells »eines kunstvollen Netzes« 7 typisieren, das die wechselseitigen Verknüpfungen von Termini miteinander wie auch die Elastizität ihrer Beziehungen betont. Eine andere Alternative bietet Michel Foucaults Vorstellung einer Archäologie des Wissens (1969), vor deren Hintergrund er im Ausgang von den konkreten historischen Umständen einer Diskursformation jene Vorformen von Wissen auszugraben Blumenberg (1999), S. 91. Kant, KrV, B861/A833. 3 Ibid., B864/A836. 4 Zur Bedeutung architektonischer Metaphorik für die Kantische Erkenntnistheorie vgl. Eichberger (1999). 5 Nietzsche, KSA 1, WL, S. 882. 6 Ibid. 7 Strawson (1994), S. 33. 1 2
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sucht, die noch nicht die Form klar abgegrenzter und ausdifferenzierter Wissenschaften angenommen haben. 8 Solche unterschiedlichen Metaphoriken erlauben es dann wieder, jeweils bestimmte Ansprüche an ein System zu formulieren. Ihnen kommt damit ein im weitesten Sinne pragmatischer Wert zu, insofern sie die Terminologie oder gedankliche Zusammenhänge selbst dort anleiten, wo sie nicht explizit auf den Begriff gebracht werden. 9 So ergibt sich für Descartes aus der Vorstellung von Wissen als einem zu errichtenden Gebäude die Notwendigkeit, ein festes und zuverlässiges Fundament zu legen, das den Erschütterungen des skeptischen Zweifels standhalten soll. Der feste Unterbau der Konstruktion gewinnt dabei so entscheidendes Gewicht, dass Descartes einer bescheidenen Hütte auf sicherer Grundlage den Vorzug vor den »außerordentlich stolzen und prächtigen Palästen« der stoischen Moralphilosophie gibt, weil Letztere »nur auf Sand und Staub gebaut sind.« 10 Eine ganz andere, wenn auch ebenso auf die architektonische Metaphorik zurückgreifende Forderung an die Philosophie formuliert Martin Heidegger, wenn er von dem holistischen Ganzen der Sprache als »Haus des Seins« 11 spricht, das von Dichtern und Denkern sowohl bewacht als auch gepflegt werden müsse, um nicht zu verfallen. Damit wird zugleich die Frage virulent, inwiefern ein solches Haus bewohnt und mit Leben gefüllt werden muss, um für seinen Erhalt zu sorgen, sodass es seine genuine Funktion erfüllen kann, jemandem als Heim zu dienen. Vor allem im Zuge der existenzphilosophischen Kritik an den Gedankengebäuden des Deutschen Idealismus wird das Verhältnis des Gebäudes zu seinen Bewohnern zum Mittelpunkt einer kritischen Reflexion philosophischer Systematizität überhaupt. Bei Søren Kierkegaard und der an ihn anknüpfenden Tradition führt der Anschein einer großen Diskrepanz zwischen einer gleichermaßen starren wie opulenten Architektonik einerseits und der Unmittelbarkeit des kaum jemals stillstehenden Lebens andererseits zum polemischen Vorwurf, solche Bauten seien, wenn nicht gänzlich unbewohnbar, so doch zumindest faktisch unbewohnt. So mokiert sich Kierkegaard etwa über Hegel, dessen Phänomenologie des Geistes (1807) ihm als Inbegriff überdimensionierter philosophischer Bauwerke gilt, dass Vgl. Foucault (2020), S. 278 f. Vgl. Blumenberg (1999), S. 25. 10 Descartes, Discours, I.10, S. 13. 11 Heidegger, GA 9, S. 313. 8 9
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dieser seinen »ungeheuren, hoch sich wölbenden Palast nicht persönlich bewohnt, sondern einen Schuppen daneben, oder eine Hundehütte oder zuhöchst das Pförtnerstübchen.« 12 Die polemische Spitze gegen Hegel, der in seinem eigenen System keinen Platz mehr finde, greift Simone de Beauvoir gut einhundert Jahre später auf, um aus ihr zugleich die Forderung abzuleiten, eine Philosophie solle nicht als beeindruckende Kulisse dienen, sondern an die konkrete Existenz der jeweiligen Philosophin oder des jeweiligen Philosophen angebunden bleiben. Im Rückblick auf die eigene Studienzeit erinnert sich Beauvoir an das Gefühl tiefen Friedens, das sich in ihr ausbreitete, als sie, in der Pariser Nationalbibliothek sitzend, die Werke Hegels las. Kaum jedoch hatte sie einige Stunden später die Bibliothek verlassen, um sich im bunten Treiben der Pariser Straßen wiederzufinden, entpuppte sich der zuvor empfundene Frieden als bloß tröstlicher Schein: Die gedankliche Architektonik hatte sie sowohl vom wirklichen Himmel wie auch vom Leben und den lebendigen Menschen selbst getrennt. 13 In ihrem metaphorischen Gewand kann sich die architektonische Systemidee von ihrer unmittelbaren Einbettung in einen abstrakten, rein konzeptuellen Kontext lösen und, in Form anschaulicher Phänomenbeschreibungen, vorübergehend ein literarisches Eigenleben führen. Durch den auf diese Weise gewonnenen Spielraum mögen neue Aspekte von Systematizität ins Blickfeld rücken, ohne dass diese zwangsläufig direkt in eine begrifflich-abstrakte Sprache rückübersetzbar sein müssen. Eine solche literarisch-philosophische Doppeldeutigkeit architektonischer Metaphorik durchzieht die Philosophie in unterschiedlich starker Ausprägung insbesondere seit der Neuzeit. Zwei Denker sind dabei von besonderem Interesse – nicht nur, weil ihre Namen untrennbar mit konkreten Gebäuden verbunden sind, sondern vor allem deshalb, weil das entsprechende Bauwerk für sie jeweils auf das Engste mit der Tätigkeit des Philosophierens und ihrer Vorstellung vom Denken überhaupt verknüpft ist. 14 Henry David Kierkegaard (1954), S. 41. Vgl. Beauvoir (2007), S. 192. 14 Vgl. Barrie (2017), S. 92. Barries Behauptung, die Hütten Heideggers und Thoreaus sollten jeweils Aspekten ihrer Philosophie materiellen Ausdruck verleihen, muss freilich zumindest insofern relativiert werden, als damit den Gebäuden eine lediglich abgeleitete und gleichzeitig gezielt illustrative Funktion zugesprochen wird. Wir werden noch sehen, dass eine solche einseitige Wirkbeziehung sowohl für Heidegger wie auch für Thoreau selbst fragwürdig ist. 12 13
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Thoreau setzt sich mit seiner selbstgebauten Hütte am Waldensee, die für zwei Jahre zu seinem Lebensmittelpunkt wird und zugleich das Zentrum seines Magnum Opus Walden (1854) bildet, ein geistesgeschichtliches Denkmal, das bis heute nicht an Strahlkraft verloren hat. Damit weist er zugleich voraus auf Martin Heidegger, dessen Hütte oberhalb von Todtnauberg im Schwarzwald nicht nur als Werkstatt für sein philosophisches Schaffen dient, sondern, wie bereits der Titel seiner Schrift »Bauen Wohnen Denken« von 1951 nahelegt, selbst wesentlich auf die Tätigkeit des Philosophierens bezogen ist.
Von der Grundsteinlegung Für den Menschen als von Natur aus ›unbehaustem‹ Wesen zählt eine bewohnbare Unterkunft ebenso zu den unabdingbaren Lebensbedürfnissen wie Nahrung oder Kleidung. Ein Haus schützt vor Wind und Wetter, es bietet Schutz vor der Bedrohung durch wilde Tiere oder Menschen, kurz, es nimmt einem großen Teil der Kontingenzen des menschlichen Lebens ihre unmittelbare Gefährlichkeit und eröffnet bisweilen sogar einen neuen, ästhetischen oder wissenschaftlich interessierten, Blick auf sie: Ein Gewitter mag sich aus der Sicherheit der eigenen vier Wände heraus als ein schönes Naturschauspiel zeigen, während es draußen vor allem an die Möglichkeit eines Blitzschlags denken lässt. Es mag klimatische Verhältnisse oder Jahreszeiten geben, in denen die Schutzfunktion des Hauses eine untergeordnete Rolle spielt oder vorübergehend suspendiert werden kann, aber ein gänzlicher Verzicht auf jede Wohnstätte scheint kaum vorstellbar. Damit stellt sich weniger die Frage, ob überhaupt ein Haus gebaut werden soll, als vielmehr die, welche konkreten Voraussetzungen es zu erfüllen und welchen Erfordernissen es zu genügen hat. Um das menschliche Bedürfnis nach einem Mindestmaß an Schutz vor den Elementen erfüllen zu können, muss ein Haus auf die gegebenen klimatischen und geographischen Eigenarten der Gegend, in welcher der Mensch sich beheimaten will, abgestimmt sein. Es beginnt also schon lange vor dem Zeitpunkt zu interessieren, an dem es bezugsfertig ist oder nur noch eingerichtet werden muss, und sowohl die Auswahl eines Standortes als auch die handwerkliche oder technische Umsetzung der Konstruktion sind wesentliche Bestandteile des Gebäudes und des Bewohnens. Am Beispiel eines Schwarz188 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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waldhofes aus dem 18. Jahrhundert veranschaulicht Heidegger diese Anpassung des Gebäudes an die regelmäßig erwartbaren Vorkommnisse, für die der Mensch Vorsorge zu treffen sucht. So findet sich dort der Hof an der windgeschützten Seite des Berges platziert, nahe der Quelle, um die Versorgung mit frischem Wasser für Mensch und Tier auch unter widrigen Witterungsverhältnissen sicherzustellen. Das ausladende Schindeldach ist so geformt, dass es im Winter eine große Schneelast zu tragen vermag, und reicht weit nach unten herab, um bei ausgewachsenen Stürmen Abschirmung zu bieten. 15 Die äußeren Anforderungen betreffen zwar sämtliche Bauten in einer Region, in der vergleichbare Bedingungen herrschen, doch wird ihnen in unterschiedlicher Weise Rechnung getragen. Während die Häuser im Dorf oder in der Stadt sich gegenseitig als Schutz vor dem Wind dienen und über eine zentrale Wasserversorgung verfügen, die das einzelne Gebäude von spezifischen Anforderungen entkoppelt, muss bei dem allein in größerer Höhe befindlichen Hof auf alle diese Aspekte zugleich Rücksicht genommen werden. Das Gebäude zeigt sich hier sowohl in seiner geographischen als auch in seiner geschichtlichen Dimension. Es fügt sich in eine spezifische, durch örtliche Eigenheiten gekennzeichnete Tradition ein, die das Bauen mit bestimmten Materialien und Techniken entwickelt und beständig verfeinert hat, in der eine bestimmte Lebensweise gepflegt wird, die dem Leben auf einem abseits gelegenen Hof einen Platz einräumt, und in der die entsprechenden Einrichtungen und Vorrichtungen des Gebäudes eine vertraute ästhetische Form angenommen haben. Der Schwarzwaldhof repräsentiert damit bereits dem Namen nach einen für eine bestimmte Gegend typischen Baustil. Zugleich dient er jedoch nicht nur dazu, einen Raum zu bieten, innerhalb dessen sich der Mensch geschützt vor den Kontingenzen der äußeren Welt behaglich fühlen und seinen eigenen Tätigkeiten nachgehen kann. Vielmehr umfasst der Schutz vor dem, was als Gefahr erscheint, für Heidegger immer auch den angemessenen Umgang mit den Konstanten von Geburt, Alter und Tod, die zwar nicht abgewehrt werden können, die jedoch schon auf architektonischer Ebene bewusst gemacht und in den Lebenszusammenhang integriert werden, um ihnen auf diese Weise einen Teil ihres Schreckens zu nehmen. Entsprechend spielt auch beim exemplarischen Blick auf den Schwarzwaldhof der Herrgottswinkel als Ort der Andacht bei fest15
Vgl. Heidegger, GA 7, S. 162.
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lichen Anlässen und bei zur inneren Einkehr einladenden Ereignissen eine zentrale Rolle, insofern er dem Kindbett ebenso wie dem Sarg zur Aufbahrung einen Raum im Leben der Familie zuweist, um so den verschiedenen Abschnitten des menschlichen Lebens »das Gepräge ihres Ganges durch die Zeit« 16 vorzuzeichnen. Auch für Thoreau beginnen Bauen und Wohnen bereits mit der Auswahl des Standortes, der zugleich konkrete Möglichkeitsbedingung für die Errichtung eines Gebäudes wie auch eine Begrenzung der realisierbaren Optionen bedeutet. Imaginativ spielt Thoreau nach und nach den Erwerb aller ländlichen Anwesen in einem weiten Umkreis durch, zahlt in Gedanken jeden beliebigen Kaufpreis, gestaltet das in seiner Phantasie erworbene Grundstück und erfreut sich der Möglichkeiten, die sich durch den Besitz der Immobilie ergeben. Für einige Höfe erwirbt er sogar das Vorkaufsrecht, ohne sich aber, wie er festhält, die Finger durch einen tatsächlichen Kauf zu verbrennen. 17 Wer sich für ein Grundstück und den Bau oder Kauf eines Hauses entscheidet, der legt sich durch die Investition von Geld, Zeit und Arbeit für einen verhältnismäßig langen Zeitraum fest und schränkt gleichzeitig den Raum für die Realisierung anderer Möglichkeiten erheblich ein. 18 Auch wenn Bauen und Wohnen in praktischer Hinsicht den wesentlichen Bedürfnissen eines Wesens entsprechen, das über keinen organischen Schutz gegen Bedrohungen durch Klima, Unwetter und Raubtiere verfügt, bedeutet die Entscheidung für einen bestimmten Wohnort immer zugleich eine Entscheidung gegen zahllose Alternativen, die ebenfalls denkbar gewesen wären. Die Realisierung eines Projekts geschieht auf Kosten anderer Optionen und schränkt den Raum der Möglichkeiten drastisch ein. Damit wird der Imagination, die prinzipiell keinen Beschränkungen unterliegt, freilich kein Vorrang vor der Realität eingeräumt. Ungeachtet der mit einer Festlegung einhergehenden Beschränkungen wird es irgendwann notwendig, sich einen Wohnsitz zu nehmen; statt eines Entweder/Oder kommt es also auf die Abwägung der relativen Vor- und Nachteile eines Standortes oder Zeitpunktes für die Errichtung des Gebäudes an. Eine solche Abwägung vollzieht sich unweigerlich vor dem Hintergrund individueller Interessen, Wünsche und Präferenzen. Während Abgeschiedenheit und ein urwüchsiges Grundstück 16 17 18
Ibid. Vgl. Thoreau (2010), S. 91. Vgl. Sölch (2021), S. 174.
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mit romantischen, aber wenig profitablen Obstbäumen auf Thoreau eine große Anziehungskraft ausüben, stellen die Nähe zum Dorf und ein kultivierter, landwirtschaftlich effizienter Garten für die meisten seiner Zeitgenossen erstrebenswertere Eigenschaften eines Grundstücks dar. Mit der Entscheidung für einen Platz zum Bauen beginnt die Arbeit an der konkreten Umsetzung des Vorhabens. Wenn Thoreau in bewusster Verschmelzung von architektonischer und existenzieller Metaphorik davon spricht, dass wir so lange graben müssen, bis wir »auf den harten, felsigen Grund stoßen, den wir Wirklichkeit nennen können« 19, dann kommen in dieser Suche nach einem Grundstein für das Fundament des Hauses zwei Momente zum Ausdruck: ein Moment der widerspenstigen Realität mit ihren spezifischen topographischen und klimatischen Gegebenheiten, die es schlicht nicht erlauben, nach Belieben überall ein Fundament zu errichten, und zum anderen ein Moment der Setzung eines bestimmten Ortes als desjenigen, an dem wir beginnen können, uns niederzulassen und zu beheimaten. Wo auch immer der erste Spatenstich ausgeführt werden soll, findet sich das im Entstehen befindliche Gebäude, ebenso wie der Bauende selbst, in ein gleichermaßen synchrones wie diachrones Kontinuum eingebettet. »Es ist schwierig anzufangen, ohne zu borgen,« 20 konstatiert Thoreau im Rückblick auf den ersten Tag der Realisierung seines Bauvorhabens, als er sich bei einem Nachbarn eine Axt leiht, um einige junge Fichten zu fällen und damit Raum für etwas Neues zu schaffen. Einer irischen Familie kauft er zudem ihre baufällige Hütte ab, um die noch verwendbaren Bretter für das Gerüst seines Hauses zu nutzen, und stört sich nicht daran, dass während des stückweisen Transports ein weiterer Nachbar die guten Nägel und Haken in seiner Tasche verschwinden lässt, soll die neue Hütte doch ohnehin kein Nachbau werden, sondern sich nur dessen bedienen, was ihr nützlich ist. Wer bauen möchte, der greift also auf vorhandenes Werkzeug und Material zurück, erhält Unterstützung durch seine Mitmenschen und gewinnt im Verlauf der allmählichen Gestaltwerdung der Vorstellungen und Pläne eine konkrete Möglichkeit, um das eigene Haus mit den Häusern der Mitmenschen kontrastierend oder synthetisierend in Beziehung zu setzen. Dabei zeigt sich, dass in Abhängigkeit von den individuellen oder kollektiven Anforderungen und Möglich19 20
Thoreau (2010), S. 108. Ibid., S. 47.
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keiten auch unter ähnlichen oder gar denselben klimatischen und geographischen Bedingungen ganz unterschiedliche Gebäude entstehen können. Dass sich die Einbettung in eine geschichtliche Tradition unabhängig davon, wie genau das Gebäude aussieht und an welchen Präferenzen es sich orientiert, vollzieht, erfährt Thoreau im Zuge des Ausschachtens seines Vorratskellers, den er am Südhang eines Hügels anlegt, als er feststellt, dass vor ihm bereits ein Murmeltier genau hier seinen Bau angelegt hatte. 21 Mit der zeitlichen Kontinuität, in die der Hüttenbau sich einfügt, wird sowohl die strikte Trennung zwischen Natur und Kultur fraglich (Wer könnte sagen, ab welchem Zeitpunkt eine Form der Behausung keine natürliche mehr gewesen ist?) als auch die Vorstellung eines ersten Anfangs, hinter dem nicht eine noch frühere Form des Bauens und Wohnens ausfindig zu machen wäre. Nach seinem Auszug würde der von Thoreau ausgehobene Keller irgendwann wieder Teil der Höhle einer Murmeltierfamilie oder anderer Lebewesen werden. Das neue Gebäude fügt sich damit in vielfacher Hinsicht ein in Bestehendes, durch das es in seinen Eigenheiten deutlicher hervortritt, ohne in seiner konkreten Ausgestaltung durch diese bestimmt zu sein.
Vom Hausbau Die Schutzfunktion des Hauses, das seinem Bewohner ein gewisses Maß an Sicherheit gegenüber den Kontingenzen der äußeren Welt verspricht, dient wesentlich dazu, von der fortwährenden Sorge um das eigene Dasein zu entlasten und damit neue Möglichkeiten zur Gestaltung des eigenen Lebens zu eröffnen. Insofern vermag auch eine vorgefertigte oder bereits bezugsfertig erworbene Unterkunft elementare Obhut gewährleisten, engt den Raum für die individuelle Entfaltung jedoch gleichzeitig dadurch ein, dass sie ihm Strukturen in Form eines bestimmten Zuschnitts, Materialien, Nachbarn oder gar Einrichtungsgegenstände vorgibt, die sich zwar prinzipiell ändern lassen, doch zumeist nur innerhalb eines vorgegebenen Rahmens. Je mehr das Gebäude dem Bewohner entsprechen soll, desto notwendiger wird es, dass der Einzelne stets aufs Neue damit beginnt, ein Haus von Grund auf zu errichten. Auch wenn die Materialien geliehen sind, sich die Konstruktion an einer Tradition und an Erfahrungs21
Vgl. ibid., S. 51.
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wissen orientieren kann, muss der Hausbau sich unter neuen Bedingungen von jedem Menschen neu verwirklichen lassen. An Adam Smith und die Lehre der Produktivitätssteigerung durch Arbeitsteilung denkend, konzediert Thoreau in diesem Zusammenhang, dass sich prima facie jede Tätigkeit delegieren lasse, ob das etwa im Falle des Denkens oder des Hausbaus jedoch wünschenswert und dem Menschen angemessen ist, sei einmal dahingestellt. Wie der selbstständige Gebrauch der eigenen Denkfähigkeit sei auch das Bauen eine jener »so natürlichen und einfachen Beschäftigungen« 22, die Vergnügen bereiten, solange die Absicht nicht darin besteht, eine gegenwärtige Mode zu imitieren, Reichtum zu demonstrieren oder ein Maximum an vermeintlichem Luxus jederzeit verfügbar zu machen, sondern vielmehr darin, einen organischen Bezug zwischen Gebäude und Bewohner herzustellen und zu bewahren. Was ich an architektonischer Schönheit kenne, hat sich, soviel ich weiß, allmählich von innen nach außen entwickelt, ist aus den Bedürfnissen und der Wesensart seiner Bewohner, der eigentlichen Erbauer, entstanden; aus einer unbewußten Wahrhaftigkeit und Vornehmheit, die keine Gedanken auf ihre Wirkung verschwendet. 23
Übereinstimmend mit diesem Ideal einer individuellen Passung zwischen dem Menschen und seiner Behausung, entsteht auch Thoreaus eigene Hütte am Waldensee durch seiner eigenen Hände Arbeit. Er fällt Bäume, schneidet mit Axt und Säge tragende Balken, Pfosten, Dachsparren und Bodenbretter zu, macht sie handhabbar und behaut das Holz nur so weit, wie es notwendig ist, damit das Element sich in das Haus einfügt; später bedeckt er die Wände von außen mit geglätteten Schindeln, die beim Herstellen der Balken übrig geblieben sind, und belässt darüber hinaus dem Großteil des Gerüstes die Rinde, um die natürliche Hülle der Bäume für die Witterungsbeständigkeit des Hauses zu nutzen. Das ursprüngliche Material bleibt erkennbar und trägt zugleich deutlich die Spuren der manuellen Bearbeitung, an denen sich die konkrete Nutzbarmachung ablesen lässt. Anders als im Fall jener von der Stange gefertigten Häuser, die nicht vom Geist des Bewohners durchdrungen sind und für Thoreau ihre Bezeichnung als »Grabarchitektur« 24 rechtfertigen, folgt die Errichtung des Gebäudes keinem vorgefertigten Plan, sondern vollzieht sich als die schrittweise 22 23 24
Ibid., S. 53. Ibid., S. 54. Ibid., S. 55.
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Entfaltung einer Idee, die im Einklang mit einer gezielten Bewusstmachung der genuin eigenen Erfordernisse und Wünsche steht. So entsteht die Hütte aus verhältnismäßig groben Vorstellungen von ihrer Größe und davon, dass sie lediglich einen kleinen Vorratskeller zur kühlen Lagerung von Lebensmitteln sowie einen einzigen Raum benötigt, der Schreibtisch, Bett, drei Stühle, einen Schrank sowie einen Kamin zum Heizen und Kochen beherbergen soll. Anstatt einem Bauplan zu folgen, lässt Thoreau sich vielmehr von diesen Vorstellungen nur leiten, um die Materialien auszuwählen, die verfügbar sind, um sie so zu bearbeiten, wie es gerade angemessen scheint, immer bereit, dabei neuen Erfordernissen Rechnung zu tragen und sich bietende Möglichkeiten zu berücksichtigen. Beim Hausbau ebenso wie beim späteren Kultivieren des Bodens ist Thoreau keineswegs um Effizienz bemüht. Sein Ziel besteht nicht in der möglichst schnellen Fertigstellung des Gebäudes, um sich im Anschluss entweder einer anderen Form des Gelderwerbs widmen zu können oder um die eigene Tatkraft für die Errichtung eines zweiten oder dritten Gebäudes zu nutzen, das sich vermieten oder mit finanziellem Zugewinn veräußern ließe. Stattdessen demonstriert Thoreau, auch mit bewusst platzierten Längen in der literarischen Schilderung seines Projekts, dass weder das Bauen noch das fertige Gebäude quantifizierbaren Effizienzkriterien unterworfen werden sollen. Das Bauen hat nicht primär instrumentellen Wert, insofern es der Errichtung des Gebäudes dient, und auch das Gebäude selbst stellt nicht in erster Linie ein Werkzeug dar, das den Bewohner und seine Konsumgüter vor Witterung schützt. Vielmehr bildet das Bauen vom ersten Handschlag an eine Weise des Heimischwerdens in der Welt, insofern es fortwährend an das bauende Subjekt rückgebunden bleibt und dem Entschluss, das eigene Leben zumindest für eine gewisse Zeit in bestimmter Form zu gestalten und die Realisierung einer Möglichkeit anstelle einer unendlichen Zahl von Alternativen umzusetzen, konkrete Gestalt verleiht. Die Selbstverwirklichung des Hausbauers bemisst sich daher nicht an einem ökonomisch definierbaren Leistungsethos, sondern setzt externe Maßstäbe weitestgehend außer Kraft. 25 Thoreau beeilt sich keineswegs, seine Hütte fertigzustellen; er macht sich ein Vergnügen aus seiner Tätigkeit, sodass die Grenze zwischen der handwerklichen Arbeit am Gebäude und der Arbeit am eigenen Selbst im Sinne der bewussten Lebensführung 25
Vgl. Schulz (1997), S. 45.
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kaum trennscharf gezogen werden kann. Das Bauen selbst bereitet idealiter ästhetischen und emotionalen Genuss. Das Haus wächst schrittweise im Einklang mit dem natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten und den darin eingebetteten Bedürfnissen, wobei die einzelnen Etappen weniger als Pflicht denn als das jeweils der eigenen Situation Angemessene erscheinen. Thoreau eignet sich die notwendigen Kenntnisse, etwa über das Maurerhandwerk, dann an, wenn er sie benötigt, 26 errichtet den Kamin erst im Herbst und pflanzt auch seine Bohnen zu einem Zeitpunkt, den die benachbarten Bauern auf dem Weg zum Markt als zu spät für eine reichhaltige Ernte ansehen. Zwar bedient sich Thoreau objektiv bewährter, dem jeweiligen Ziel angemessener Techniken, doch der zentrale Maßstab der gesamten Bautätigkeit bleibt er selbst. Der Denker, so ließe sich im Rückblick auf Kierkegaards und Beauvoirs Kritik an Hegel festhalten, soll nicht erst nach Fertigstellung des Gebäudes einen Platz darin finden, sondern sich schon beim Bau der Wände, des Daches und der Möbel darin heimisch fühlen. Im allmählichen, schrittweisen Bau der Hütte am Waldensee durch den künftigen Bewohner selbst zeigt sich exemplarisch jene Identifikation des Bauens mit dem Wohnen, die Heidegger sowohl etymologisch wie auch sachlich zu plausibilisieren und zu entfalten sucht. Bauen, sprachgeschichtlich abgeleitet vom althochdeutschen buan, meint ursprünglich Wohnen im Sinne des Bleibens oder sich Aufhaltens. Sofern wir mit dem Begriff des Wohnens also nicht nur auf ein physisches Unterkommen verweisen, sondern das Bestreben, heimisch zu werden und einen Ort zur eigenen Heimat zu machen, zum Ausdruck bringen wollen, lässt er sich nicht mehr trennscharf von dem des Bauens unterscheiden. »Bauen nämlich ist nicht nur Mittel und Weg zum Wohnen, das Bauen ist in sich selber bereits wohnen.« 27 Der Hausbau gehört somit keineswegs zu den technischen oder praktischen Präliminarien des Wohnens, die in den Bereich des Ingenieurwesens ausgelagert werden können und allenfalls einen akzidentellen Bezug zu den späteren Bewohnern aufweisen. Wer baut, der beheimatet sich bereits, während umgekehrt derjenige, der ›von der Stange‹ bauen lässt, sich ein für Fremde oder zumindest nicht für seine genuin eigenen Bedürfnisse errichtetes Gebäude erst zu eigen machen muss, verbunden mit der Gefahr, damit letztlich zu 26 27
Vgl. Thoreau (2010), S. 261. Heidegger, GA 7, S. 148.
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scheitern, weil ihm das Haus fremd bleibt, insofern »faktische Architektur Räume entwirft, denen sich in aller Regel der Benutzer zu unterwerfen hat« 28. Während das alltägliche Wohnen auf ein Raumangebot zurückgreift, das aus wirtschaftlichen Gründen lediglich berücksichtigen kann, was der Mensch im Allgemeinen durchschnittlich benötigt und was sich in Form der Quadratmeter, der Raumanzahl, des Zuschnitts oder der Heizungsart anhand weniger quantifizierbarer Parameter darstellen lässt, impliziert das selbstbestimmte Bauen für Heidegger einen unhintergehbar individuellen Maßstab zur Beurteilung der Angemessenheit des Gebäudes. Durch diese fundamentale Bezogenheit des Bauens auf den Menschen als Erbauer und Bewohner kommt zugleich die Notwendigkeit zum Ausdruck, dass wir »das Wohnen erst lernen müssen« 29, eine Aufgabe, die jeder und jede Einzelne innerhalb des Horizonts des eigenen Verstehens, der eigenen Gegebenheiten, Möglichkeiten und Herausforderungen immer wieder neu zu bewältigen hat. Es gilt, sich auf das dem eigenen Selbst Wesentliche zu besinnen und sich von der Welt, in die der Einzelne ursprünglich unmittelbar ›geworfen‹ ist, zu distanzieren, um in ein bewusstes und reflektiertes Verhältnis zu ihr zu treten. Eine solche Grenzziehung, die sich architektonisch in den Außenwänden, Türen und Fenstern manifestiert, ist notwendig für jedes Verstehen der umgebenden Welt, insofern die Begrenzung überhaupt erst einen Raum eröffnet, innerhalb dessen Dinge als bedeutungsvoll hervortreten können. Die Grenze, so Heidegger, »ist jenes, von woher faktisch etwas sein Wesen beginnt« 30, und damit konstitutiv für die dem Menschen eigene Weise, wohnend in der Welt zu sein. Durch die Konzentration auf einen Bereich, mit dem der Mensch sich vertraut machen kann, wird die Hütte auf dem eigenen Anwesen zu etwas Gewohntem und erlaubt einen Aufenthalt bei den Dingen, der diese vertraut werden lässt und ihnen zugleich einen Raum für ihre Entfaltung schafft. Die Grenze zwischen dem behausten Dasein und dem Anderen ist freilich keineswegs total, sondern sie bleibt auf anderes um sie herum bezogen. Das Fenster lädt ein zum bewussten Blick auf die umgebende Natur, auf markante Züge der Landschaft oder den sich zu einer bestimmten Jahreszeit in dieser Richtung vollziehenden Sonnenaufgang; die fensterlose Wand ruft den dunklen Norden oder 28 29 30
Biella (1998), S. 65. Vgl. dazu ebenfalls Biella (2000), S. 56 f. Heidegger, GA 7, S. 163. Ibid., S. 151.
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die Seite, von der her im Herbst und Winter der Sturm aufzieht, ins Bewusstsein. Das Bebauen und Einfrieden eines Grundstücks dient für Heidegger somit nicht in erster Linie der Unterwerfung der äußeren Natur unter die Vorstellungen des Menschen, sondern stellt dann, wenn es mit Blick auf die dem einzelnen Menschen in seiner Bezogenheit auf die spezifische, ihn umgebende Welt erfolgt, ein Schonen dar. Das Schonen selbst besteht nicht nur darin, daß wir dem Geschonten nichts antun. Das eigentliche Schonen ist etwas Positives und geschieht dann, wenn wir etwas zum voraus in seinem Wesen belassen, wenn wir etwas eigens in sein Wesen zurückbergen, es entsprechend dem Wort freien: einfrieden. Wohnen, zum Frieden gebracht sein, heißt: eingefriedet bleiben in das Frye, d. h. in das Freie, das jegliches in sein Wesen schont. Der Grundzug des Wohnens ist dieses Schonen. 31
Das Bauen beschränkt sich damit nicht auf die Errichtung eines Gebäudes; es erfasst vielmehr auch den Anbau von Pflanzen und Feldfrüchten, die weniger technisch hergestellt denn vielmehr gehegt und gepflegt werden müssen, um zu gedeihen. In diesem, über die Errichtung einer materiellen Gebäudestruktur hinausgehenden, Sinne begleitet und hütet Bauen das Wachstum sowohl der innerhalb seiner Grenzen begegnenden Natur wie auch des Bewohners selbst. Ein solches Schonen kann nicht in einem durch objektive Kriterien abgesicherten Maße vollkommen gelingen; es bleibt abhängig von Interpretationen und den eigenen, auf den Bauenden selbst zurückwirkenden Tätigkeiten. Es bildet gleichwohl eine Art »existenziales ethos, das um die Dialektik jener Veränderungsprozesse weiß und sie kritisch begleitet.« 32 Wer in diesem Sinne baut, zielt somit nicht allein darauf ab, nur sich selbst einen sicheren Raum für die eigene Entfaltung zu schaffen, sondern hat Teil an einem sozialen wie auch ökologischen Prozess, der die gesamte umgebende Welt miteinschließt. Für den Menschen besteht das Schonen freilich in seiner Beheimatung: Durch die Begrenzung, die ihn in der Welt als einem für ihn bedeutsamen Ort zentriert, vermag der Mensch zu wachsen, das heißt, sich zu sich selbst im Bewusstsein seiner Verortung zwischen Zeitlichkeit und Transzendenz in Beziehung zu setzen und dadurch im eigentlichen Sinne Mensch zu werden. 31 32
Ibid. Biella (1998), S. 89.
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Vom Wohnen Bereits der Wunsch nach einem eigenen Haus signalisiert ein Streben nach Unabhängigkeit. So ist es kein Zufall, dass Thoreau den Tag seines Einzugs in die selbstgebaute Hütte am Waldensee auf den vierten Juli, den Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten, fallen lässt, um aus dem Elternhaus beziehungsweise dem Haus seines Freundes und langjährigen Mentors Emerson auszuziehen. Der Bezug und das Bewohnen eines eigenen Hauses, so bescheiden es sich auch ausnehmen mag, eröffnet eine neue Möglichkeit, in der Welt zu sein und in Distanz zu treten zu den Routinen, sozialen Interaktionen und selbstverständlichen Gewohnheiten des Elternhauses. Der Einzug in das neue Gebäude, das sowohl für Thoreau wie auch für Heidegger einen Rückzug aus der dörflichen Gemeinschaft und der Einbindung in die Konventionen des alltäglichen Lebens bedeutet, markiert den Beginn einer Neuorientierung. Stellt das Haus als räumliche Trennung von der unmittelbar erlebten Fülle der Phänomene der umgebenden Welt somit auf der einen Seite eine Privatio dar, erlaubt eben diese Beschränkung auf einen begrenzten und strukturierten Bereich der Wirklichkeit auf der anderen Seite eine bestimmte und perspektivisch einzigartige Sichtweise auf die Umgebung. Nur das Fenster an einem spezifischen Ort eröffnet den Blick auf den Sonnenaufgang hinter einem bestimmten Hügel und keine andere Wohnlage verbindet sich mit demselben morgendlichen Weg zum Wasserholen. Wer ein Haus bewohnt, der betrachtet die Welt folglich nicht von einer ihr entrückten Warte aus, sondern ist in ganz konkreter Weise in sie eingelassen. In diesem Sinne betont Heidegger, dass die ländliche Umgebung, die sich ihm von der an der Südwestseite des Feldberges gelegenen Hütte aus zeigt, kein Objekt distanzierter Kontemplation ist, das bloß ein kontingentes Panorama bilde, vor dem sich die ungleich bedeutsamere Tätigkeit philosophischen Denkens und Schreibens abspielt. Das Gebäude in der Schwarzwälder Provinz stelle vielmehr seine Arbeitswelt dar, in der Arbeit und Welt sich nur begrifflich voneinander trennen lassen. Er selbst betrachte die Landschaft unweit seiner Hütte nie wie ein Besucher oder Wanderer, der den Blick über die Gegend schweifen lässt, um alles bewusst aufzunehmen und auf sich wirken zu lassen. Vielmehr erfahre er den Wandel der Tage und der Jahreszeiten beinahe unbewusst, wie auch die Luft und das Klima im Alltag kaum jemals thematisch werden. Das philosophische Denken vollzieht sich im Kontext des Todtnauer 198 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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Landes und wird »von der Welt dieser Berge und ihrer Bauern getragen und geführt« 33, es ist provinziell nicht im pejorativen Sinne eines engen, mit der großen Welt unvertrauten Blickes, sondern hinsichtlich einer bestimmten Erfahrungssättigung, die sich von jener des Großstadtlebens schlicht unterscheidet, ohne dass mit dieser Unterscheidung eine objektive Hierarchisierung in epistemischer oder ästhetischer Hinsicht verbunden wäre. 34 Während Thoreau sich im autobiographischen Rückblick dankbar erinnert, »am schätzenswertesten Ort der Welt, und auch genau im richtigen Augenblick geboren« 35 zu sein, weiß Heidegger sich in seinem Denken ebenfalls jener Gegend verpflichtet, in der ihm seine Hütte einen Platz bietet. Den Ruf auf eine Professur in Berlin lehnt er auch deshalb ab, weil sich für ihn seine philosophische Arbeit nicht nur in die ihn umgebende Arbeit der Bauern einfügt, sondern ihm von der Topographie des Ortes geradezu nachdrücklich auferlegt wird. »Wenn in tiefer Winternacht ein wilder Schneesturm mit seinen Stößen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie. Ihr Fragen muß dann einfach und wesentlich werden.« 36 Die Kontingenzen und unkontrollierbaren Bedrohungen dieser Welt fordern nicht nur zum Bau des schützenden Gebäudes auf, sondern reduzieren das Leben regelmäßig auf das Wesentliche, von wo aus der Impuls zur Philosophie ausgeht. Die Welt bedingt also die Notwendigkeit physischer Beheimatung und ermöglicht wiederum die geistige Beheimatung qua Philosophie. Das Wohnen ist keine »Verhaltungsweise des Menschen neben vielen anderen« 37, sondern die dem Menschen eigentümliche Weise, in der Welt zu sein. Es entwirft den Menschen auf jene Möglichkeiten hin, die sich ihm im Vollzug des Bauens und Heimischwerdens auftun, um die ihm eigene Art des In-der-Welt-Seins auszuloten. Ein solcher Prozess erfolgt nicht ad hoc, sobald das Mobiliar und die Besitztümer ihren vorbestimmten Platz eingenommen haben, sondern so unterschwellig und allmählich, dass die Veränderung sich mitunter erst retrospektiv feststellen lässt. Mit dem Bezug des eigens errichteten Hauses eröffnet sich zwar ein reichhaltiges Arsenal von GestalHeidegger, GA 13, S. 11. Benjamin spricht von Großstadt und Land als »two distinct philosophical possibilities.« Benjamin (2017), S. xviii. 35 Thoreau (1981), S. 160. 36 Heidegger, GA 13, S. 10. 37 Heidegger, GA 7, S. 192. 33 34
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tungsmöglichkeiten für das eigene Leben, ohne dass immer schon greifbar und bewusst wäre, in welcher Weise das Wohnen den Menschen verändert. Erst in Momenten des Innehaltens wird spürbar, wie das einfache Leben im schlichten Schwarzwaldrefugium, fernab jener Annehmlichkeiten, die das professorale Leben in Freiburg ihm ermöglicht hätte, Heidegger eine neue Perspektive auf das eigene Dasein eröffnet, die mit der praktischen Identität früherer Jahre nicht zur Deckung zu bringen ist. Das Leben in der einfachen Hütte ohne Strom und Zentralheizung fördert die Besinnung auf das der individuellen Existenz Wesentliche und lässt unverständlich werden, dass man unten im Dorf und in der Stadt »so merkwürdige Rollen spielen kann« 38. Die Neubewertung der Konventionen und des eigenen Verhaltens im sozialen Miteinander erfolgt nicht einfach qua rationaler Analyse und Reflexion, sondern erwächst aus einer veränderten Sichtweise, die wiederum mit der sich im Prozess des Wohnens entwickelnden Seinsweise des Subjekts selbst einhergeht. Das Haus ermöglicht ein inneres Wachstum, dient also nicht nur dem Überleben, sondern dem guten, dem untersuchten Leben, das sich eine Offenheit und Neugier für neue Facetten der Existenz bewahrt, die das Wohnen hervorbringt. Auch für Thoreau stellt die selbstgebaute Hütte einen Ausgangspunkt und Bezugsrahmen für die eigene Existenz dar, die dem Leben eine bestimmte Ausrichtung verleiht und dazu beiträgt, ihm nach und nach eine neue Gestalt zu geben. »Dieser Bau«, so konstatiert Thoreau im Rückblick auf die erste Zeit am Waldensee, »war trotz seines losen Gefüges wie durch Kristallisation um mich entstanden und blieb nicht ohne Einfluß auf den Erbauer.« 39 Das Wohnen verändert das Subjekt in einer Weise, die es nicht vorhersehen kann, die es aber dazu auffordert, immer wieder zu überprüfen, ob es diese Veränderung angenehm oder unangenehm, als bereichernd oder einengend empfindet. Die allmähliche Veränderung korreliert mit dem Bedürfnis, das Haus fortwährend in Übereinstimmung mit der eigenen Transformation an das werdende Selbst anzupassen. Insofern gehören das Umdekorieren oder das Neuarrangieren von Mobiliar wesentlich zum Bauen beziehungsweise Wohnen dazu. Ganz gleich, ob der Esstisch umgestellt wird, um einer wachsenden Freude am sozialen Austausch Rechnung zu tragen, oder ob ein Dekorationsgegen38 39
Heidegger, Brief an Karl Jaspers vom 24. April 1926, Briefwechsel, S. 63. Thoreau (2010), S. 95.
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stand entfernt wird, wie im Falle dreier Kalksteine, die Thoreau auf seinem Schreibtisch liegen hat, bis er feststellt, dass das tägliche Abstauben mehr Mühe als der Anblick ihm Freude bereitet, impliziert das Wohnen eine wechselseitige Dynamik zwischen dem Gebäude und seinem Bewohner. Zu wohnen bedeutet, Gewohnheiten auszubilden und sich an Dinge zu gewöhnen, sich also auf einen durch die eigenen vier Wände zentrierten Horizont zu bescheiden und mit diesem vertraut zu werden. Wohnen, so ließe sich mithin konstatieren, hängt mit der Gewöhnung, mit dem Gewohnten zusammen, dem wir uns in besonderer Weise zuwenden können, weil wir es zuvor eingefriedet und von dem großen Bereich des Unvertrauten abgegrenzt haben. Durch seine Begrenzung nach außen hin, die den Innenraum überschaubar und kontrollierbar hält, begünstigt das Haus also eine Hinwendung zum eigenen Selbst und eine Besinnung auf die eigene Art und Weise, die Vielfalt der Erfahrungen zu ordnen. Doch trotz aller Abtrennung von der umgebenden Natur ist das Wohnen im eigenen Haus »immer schon ein Aufenthalt bei den Dingen.« 40 Das Haus ist räumlich und zeitlich situiert und befindet sich entsprechend in einer Welt, in der anderes begegnet und durch die Nähe allmählich zu einem Bestandteil der eigenen Existenz wird. Bauern oder Holzfäller, deren Erscheinung und Lebenswandel zuvor fremd schienen, werden zum vertrauten Anblick und offenbaren nach und nach Aspekte, die als sinnvoll oder gar nachahmenswert wahrgenommen werden können. Der Anblick bestimmter Tiere oder Pflanzen wird selbstverständlicher Teil des täglichen Lebens und mag, auch ohne bedeutungsvolle Interaktion, zu einer neuen Verhältnisbestimmung führen. So stellt Thoreau fest, dass seine luftige Hütte ihn »plötzlich zum Nachbarn der Vögel« 41 hat werden lassen, deren Gezwitscher ihm Orientierung bei der Bestimmung der Tageszeit, der Jahreszeit oder hinsichtlich der Präsenz anderer Lebewesen bieten kann. Dach und Wände, die für ein Haus konstitutiv sind, mögen von der dahinter liegenden Welt trennen, sodass jedes Haus unweigerlich mit einer Entfremdung von der Natur einhergeht, 42 doch ist es gerade die Fremdwerdung, die eine Umorientierung und damit neue Formen der Vertrautheit entstehen lässt. 40 41 42
Heidegger, GA 7, S. 153. Thoreau (2010), S. 95. Vgl. Schulz (2012), S. 124.
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Vom Haus in seiner Umgebung Im Errichten des Gebäudes finden die Interessen und Bedürfnisse seiner Bewohnerinnen und Bewohner konkreten, materiellen Niederschlag in der Welt. Über die reine Schutzfunktion und seine Rolle bei der Entwicklung einer unabhängigen Beziehung zur Welt hinaus kommt dem Haus damit die prima facie ästhetische Funktion zu, einer individuellen Perspektive öffentlichen Ausdruck zu verleihen. Das Haus offenbart sich anderen Menschen nicht in derselben Weise wie der Person, die es erbaut und bewohnt hat, sondern als etwas, das ihnen in gewisser Weise äußerlich und in seinen Eigenarten fremd ist, wenngleich Form und Zweck ihnen grundsätzlich bekannt sein mögen. Je nachdem, wo es errichtet wurde, erscheint das Haus als eines unter vielen oder eines von einer bekannten Art, und doch ist es unter diesen wiedererkennbar, hat Eigenheiten, mit denen andere vertraut werden können und bietet im Leben anderer eine neue Orientierung, und sei sie auch noch so marginal. Das Haus wird zum Fixpunkt, an dem andere ihren Blick auf die Welt auszurichten vermögen; die Behausung, die ursprünglich dem Erbauer und Bewohner Orientierung und Sicherheit gewähren sollte, wird eine Orientierung für andere. 43 Im Fall Thoreaus dient seine Hütte am Waldensee den Menschen der Umgebung schon bald als Wegmarke: Spaziergänger und Wanderer lenken ihre Schritte in Richtung seiner Hütte, und selbst wenn sie einen Bogen um das Gebäude machen, um seine Privatsphäre zu achten oder um einem möglichen Gespräch mit dem philosophischen Waldschrat zu entgehen, bleibt ihre Route auf die Hütte bezogen. Bisweilen steuern Menschen die Behausung gezielt an, um dort nach einem Schluck Wasser zu fragen, andere wollen bloß ihre Neugierde stillen und sich einen Einblick in das unkonventionelle Refugium verschaffen, wieder andere werden vom Haus auf dessen Besitzer verwiesen, um sich von ihm Ratschläge oder Inspiration zu holen, vielZeitgleich mit den Überlegungen über den Zusammenhang von Bauen, Wohnen und Denken greift Heidegger den Gedanken einer Transposition des Denkens in ein der Deutung bedürftiges Zeichen unter dem Titel Was heißt denken? auf. »Insofern der Mensch auf diesem Zug [zu dem Sichentziehenden] ist, zeigt er als der so Ziehende in das, was sich entzieht. Als der dahin Zeigende ist der Mensch der Zeigende. […] Sein Wesen beruht darin, ein solcher Zeigender zu sein. Was in sich, seinem Wesen nach, ein Zeigendes ist, nennen wir ein Zeichen. Auf dem Zug in das Sichentziehende ist der Mensch ein Zeichen.« Heidegger, GA 8, S. 11. Siehe dazu sowie weiterführend zur Idee der Orientierung Stegmaier (2008), S. 141 f.
43
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leicht auch, um ihre Sichtweise auf die Welt an der seinen zu reiben und zu schärfen. Durch den Einzug in ein eigenes Heim schafft sich Thoreau einen Raum, in dem er andere empfangen und mit ihnen in Austausch kommen kann. Die Hütte gibt ihm die Möglichkeit zur gleichermaßen physischen wie gedanklichen Begegnung mit Menschen, die ohne diese sichtbare Anlaufstelle kaum jemals den Austausch mit ihm gesucht hätten. Erst im Haus oder vor dem Hintergrund seiner Existenz werden Unterhaltungen möglich, die sich nicht auf jenes allgemein Sagbare beschränken, das für Thoreau ein wesentliches Charakteristikum des Dorfalltags darstellt, in dem man sich »umsummen und umsäuseln« 44 lässt, und das für Heidegger Kennzeichen des »Gerede« 45 in der durchschnittlichen Alltäglichkeit des Man ist. Selbst das einfache und auf seine beschränkten individuellen Bedürfnisse angepasste Häuschen am Waldensee erweist sich für Thoreau als problemlos geeignet, um Besucher zu empfangen und gesellige Abende zu verbringen. Sobald jedoch wirkliche Begegnungen stattfinden und Beobachtungen ausgetauscht werden, die erfahrungsgesättigt sind und entsprechend nicht umhinkönnen, eine ganze Weltsicht mitzutransportieren, macht sich schnell die Schwierigkeit bemerkbar, genug Abstand voneinander zu gewinnen, damit die Sätze und Gedanken Raum finden, sich zu entfalten: »Wenn unsere Unterhaltung einen erhabenen Ton anzuschlagen begann, schoben wir unsere Stühle nach und nach voneinander fort, bis sie in den gegenüberliegenden Ecken des Raumes gelandet waren; doch auch dann hatten wir gewöhnlich nicht genügend Platz.« 46 Insofern das Gebäude lediglich ein sichtbarer Ausschnitt all dessen ist, was Thoreau, sein Leben und Denken ausmacht, verweist es auf die notwendige Begrenztheit jeder Form des Ausdrucks, in dem nicht jeder beliebige andere Gedanke unmittelbar Platz findet und in seinem ganzen Bedeutungsreichtum vernommen werden kann. Doch zugleich ist es eben jene Begrenztheit, die dazu auffordert, sich intelligibel zu machen und Beziehungen einzugehen, um dadurch selbst bereichert zu werden. 47
Thoreau (2010), S. 184. Heidegger, GA 2, § 35. 46 Thoreau (2010), S. 155. 47 Siehe dazu weiterführend auch die Überlegungen Stanley Cavells zu den Grenzen unserer Erkenntnis, die sich in dem Bedürfnis nach Ausdruck zeigen, in Cavell, The Senses of Walden, S. 57 f. 44 45
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Angesichts der Ambivalenz des eigenen Heims, in dem Fremdes willkommen geheißen werden kann, dort aber zugleich in seinem Ausdruck eingeschränkt wird, wundert es nicht, dass Thoreau bisweilen von einem weit größeren Haus träumt, das zum einen wie ein riesiges Gewölbe vielen Menschen als Wohnung dienen kann, die sich von den Fensternischen bis zum Dachstuhl in den unterschiedlichsten Weisen dort einrichten können, zum anderen wie eine Höhle beschaffen ist und so wenig Separation von den Naturphänomenen wie möglich vornimmt. Als eine Art Metagebäude würde es ohne vorgegebene kategoriale oder funktionale Trennung zwischen einzelnen Räumen oder Lebensbereichen auskommen und auf diese Weise Beheimatung und Kommunikation gleichermaßen ermöglichen. 48 Ein solches Metagebäude, das sich angesichts seiner Ausmaße wieder einem vorzivilisatorischen Naturzustand annähert, bleibt freilich ein Traum, mangelt es ihm ob seiner schieren Größe doch unweigerlich an konkretem Ausdruck und an Abgrenzung zu dem, was eben nicht zu diesem Haus gehört. Dem Haus als Möglichkeitsbedingung für die Begegnung mit Fremdem steht kontrastierend die Figur des kanadischen Holzfällers Alek Therien gegenüber, mit dem Thoreau in den Wäldern von Concord Bekanntschaft schließt und in dessen sorgloser Bedürfnislosigkeit ein Ideal authentischer Einfachheit und Unverdorbenheit durchscheint. Gleichwohl ist es Therien, der an keiner Stelle als Hausbesitzer oder als jemand, dem es auf ein Zuhause und den Empfang von Gästen ankommt, in Erscheinung tritt, nicht möglich, »die Dinge aus einer geistigen Perspektive zu betrachten; das Höchste, was er fassen konnte, war ihre einfache Nutzbarkeit.« 49 Intellektuelle Reflexion bleibt ihm unzugänglich und angesichts philosophischer Bücher verfällt er lediglich in ehrfürchtiges Staunen. Er fühlt sich gewissermaßen überall zuhause, bleibt hinsichtlich seines individuellen geistigen Ausdrucks damit jedoch gleichsam konturlos und erweist sich zwar als sympathischer Zeitgenosse, aber nicht als jemand, der seiner Mit- und Nachwelt einen neuen Orientierungspunkt hinzufügen könnte. Thoreaus Kritik an der politisch verschuldeten Obdachlosigkeit insbesondere der irischen Einwanderer liest sich vor diesem Hintergrund als Antizipation von Heideggers Anmerkungen
48 49
Vgl. Thoreau (2010), S. 263 f. Ibid., S. 164. Vgl. Sölch (2021), S. 179 f.
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zur verbreiteten Wohnungslosigkeit, die er ausdrücklich nicht auf den Mangel an faktischem Wohnraum beschränkt wissen möchte. Die ästhetische Dimension des Hauses erschöpft sich freilich nicht in dessen expressiver und kommunikativer Bedeutung. Das Denkgebäude ist nicht nur Ausdruck dessen, was im Innern gedacht oder empfunden wird, sondern das Haus oder Gebäude verändert vielmehr das In-der-Welt-Sein auch für andere, bedeutet überhaupt eine andere Art und Weise, andere Menschen am eigenen Sein in der Welt teilhaben zu lassen. Neben der sozialen Umwelt erfährt die natürliche, belebte und unbelebte, Welt im Umkreis des Gebäudes eine Transformation. In der Beschreibung eines griechischen Tempels, bei dem Heidegger vermutlich den Apollontempel bei Bassae vor Augen hatte, 50 wird deutlich, wie der umgebende Raum durch das Gebäude erst in seinen besonderen Charakteristika hervortritt: Dastehend ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dies Aufruhen des Werkes holt aus dem Fels das Dunkle seines ungefügen und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus. Dastehend hält das Bauwerk dem über es wegrasenden Sturm stand und zeigt so erst den Sturm selbst in seiner Gewalt. Der Glanz und das Leuchten des Gesteins, anscheinend selbst nur von Gnaden der Sonne, bringt doch erst das Licht des Tages, die Weite des Himmels, die Finsternis der Nacht zum Vor-schein. Das sichere Ragen macht den unsichtbaren Raum der Luft sichtbar. 51
Das Bauwerk ist keine additive Ergänzung der bestehenden Einzeldinge, sondern verleiht dem Ort eine neue Qualität. Der von einer Säulenhalle umgebene griechische Tempel erschöpft sich nicht darin, bloß ein Inneres zu umschließen und von außen abzuschirmen. Vielmehr eröffnet das Tempelwerk eine Welt, indem es sich von einem Zentrum aus nach allen Seiten hin öffnet und die Landschaft damit in einen Kontrast zur Architektur eintreten lässt. 52 Durch den Tempel treten die zerklüftete Landschaft, die Tiere und Pflanzen dem architektonisch komponierten Gebäude als das Ungegliederte gegenüber und heben sich in ihren Eigenheiten konturreich von dem unbestimmten Hintergrund ab, sodass der Tempel, sein Bezirk und die umgebende Natur zu einer neuen Einheit verschmelzen. Das Gebäude steht hier nicht symbolisch für etwas, bildet nichts ab; es ordnet die Welt um sich herum, sodass auch die Naturgewalten sich in 50 51 52
Vgl. Jähnig (1989), S. 230. Heidegger, GA 5, S. 28. Vgl. ibid., S. 28 f. sowie Friesen (2000), S. 182.
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Beziehung auf dieses menschliche Artefakt in ihrer ganzen Kraft zu zeigen vermögen. Obwohl seit anderthalb Jahrtausenden nicht mehr genutzt und gepflegt, bleibt das Tempelgebäude lebendiger Ausdruck früherer Beheimatung in der Welt. Es ist keineswegs exakt dasselbe wie früher, hat vielfältige Veränderungen durchgemacht, ist teilweise zerfallen und hat jegliche Farbe verloren. Dennoch erlaubt es der Nachwelt auch als verblasster Ausdruck zu rekonstruieren und nachzuempfinden, in welcher Weise die griechische Antike Heiligem und Göttlichem einen Platz in ihrem Leben zugewiesen hat. So gibt der Tempel »in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst« 53, ohne darauf angewiesen zu sein, gegenwärtig bewohnt zu werden. Wie eine Brücke, die nicht nur zwei bereits vorhandene Ufer nachträglich miteinander verbindet, sondern die Ufer überhaupt erst als Ufer hervortreten lässt, 54 verschafft der Tempel dem Menschen Perspektive und Orientierung in einer Welt, indem er Beziehungen zwischen den Menschen ebenso stiftet wie eine Bezogenheit des Menschen auf die Transzendenz. Brücke und Tempel widersetzen sich für Heidegger der Reduktion auf ihre instrumentelle Bedeutung als Teil menschlicher Infrastruktur und kultischer Begegnungsstätte, insofern sie eine Ausrichtung des menschlichen Daseins auf bestimmte Möglichkeiten der Beheimatung in der Welt erlauben, aus denen wiederum unter anderem Formen der Kommunikation, des Reisens, des Güterverkehrs, der Kontingenzbewältigung erwachsen. Die manifeste Signifikanz eines Gebäudes macht es zu einem Ort, der nicht ohne Bedeutungsverlust in eine geographische Lokalisation übersetzt werden kann, sondern der Räumen überhaupt erst ihr spezifisches Wesen verleiht. Zielt das Schonen als Grundzug des Wohnens darauf, das den Dingen je Eigene und Angemessene zur Entfaltung zu bringen, konstituiert das ›Errichten‹ als schonendes Bauen unter Berücksichtigung und Achtung des Unverfügbaren in der Natur Identitäten, indem es Grenzen zieht, Verbindungen herstellt, Nachbarschaft stiftet und über einen partikularen Bezugspunkt die Welt sichtbar versammelt. 55 Die Umgebungen der Hütten am Waldensee und bei Todtnauberg schälen sich nicht aus einem indifferenten Raum heraus; vielmehr sind es die 53 54 55
Heidegger, GA 5, S. 29. Vgl. Heidegger, GA 7, S. 154. Vgl. ibid. Vgl. auch Sharr (2007), S. 56.
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Gebäude, welche Landschaft, Bäume, Berge und Gewässer versammeln und, unabhängig vom Nachruhm ihrer berühmten Bewohner, zusammenfügen.
Vom Wandern Mit dem Einzug in das Gebäude eröffnet sich dem Einzelnen eine neue Art und Weise, in der Welt zu sein, die ungeahnte Perspektiven auf das eigene Selbst und den Horizont der möglichen Erfahrung erschließt. Ein Haus einzurichten und für längere Zeit zu bewohnen geht jedoch zugleich mit der Entwicklung von spezifischen Gewohnheiten einher, die bestimmte Möglichkeiten herausgreifen und im Laufe der Zeit zu selbstverständlichen Strukturen gerinnen lassen. An einem Ort heimisch zu werden ist geradezu identisch mit der Ausbildung von Routinen, die von der Notwendigkeit fortwährender Neuorientierung entbinden und Muße schaffen, um die Aufmerksamkeit auf bislang Unbeachtetes oder Unversuchtes zu richten. Dinge haben ihren angestammten Platz, der Tagesablauf wird zumeist über weite Strecken wiederholt und auch die Wege sowohl innerhalb des Hauses als auch zu den festen Anlaufstellen in der Umgebung prägen sich dem Unterbewusstsein so nachhaltig ein, dass wir allmählich beinahe »mit der Genauigkeit eines Zirkels« 56 in die eigenen Fußspuren treten. Jedes Haus bietet einen einzigartigen Spielraum für Handlungen und Ausblicke, tendiert damit zugleich aber immer dazu, die eigene Welt ganz konkret »einzuengen« 57 und alternative Seinsweisen auszuschließen. Ungeachtet der Bereicherung, die das Gebäude seinem Erbauer und Bewohner ursprünglich bedeutet hat, mag es sich irgendwann als notwendig erweisen, das Haus zu verlassen oder abzureißen, um sich vorübergehend erneut der Fülle weiterer Möglichkeiten des In-der-Welt-Seins auszusetzen. In ebendiesem Sinne bedient sich bereits Heideggers Sein und Zeit (1927) einer architektonischen Metaphorik, wenn dort die Überwindung der Autorität der abendländischen Metaphysikgeschichte als »Destruktion der Geschichte der Ontologie« 58 inszeniert wird. Das Gebäude der griechischen Ontologie und ihres europäischen Erbes soll 56 57 58
Thoreau (2010), S. 287. Ibid., S. 33. Heidegger, GA 2, S. 27.
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Stein für Stein, oder zumindest Etage für Etage, abgetragen werden, um jenseits der erstarrten Kategorien und Interpretationen wieder »in den vollen Besitz der eigensten Fragemöglichkeiten« 59 gelangen zu können. Erst jenseits des geschichtlich festgefügten Hauses werde der Blick frei für die Frage nach dem Sinn von Sein, die sich phänomenologisch aus einer Analyse der Temporalität des Daseins gewinnen lässt. So wie der Mensch gleichermaßen sesshaft und Wanderer ist, korrespondiert dem Wohnen das Unterwegssein, das nicht unmittelbar auf ein fixes Ziel in Form einer gegebenen Behausung ausgerichtet ist, sondern eine jener Phasen der Neuorientierung meint, die den Menschen als von Natur aus ›Unbehausten‹ wesentlich kennzeichnen. Dass Thoreau nach gut zwei Jahren beschließt, die selbstgebaute Hütte am Waldensee wieder dauerhaft zu verlassen, stellt vor diesem Hintergrund also keine Konzession an vermeintliche ökonomische Notwendigkeiten oder die Anforderungen einer sozialen Realität dar. Der Auszug entspricht vielmehr seinem Empfinden, die existenziellen Vorzüge eines unabhängigen, von stoischer Genügsamkeit gekennzeichneten Schriftstellerdaseins, die das selbst errichtete Häuschen ihm für einige Zeit gewährt hat, ausgeschöpft zu haben und zugleich bereit zu sein, sich auf das Wagnis einer umfassenden Neuorientierung einzulassen. »Ich verließ den Waldensee aus einem ebenso triftigen Grund wie es jener war, der mich hingeführt hatte; vielleicht in dem Gefühl, daß ich noch verschiedene andere Leben zu leben hätte und für dieses eine nicht mehr Zeit aufbringen könne.« 60 Obwohl er die Hütte mit seiner eigenen Hände Arbeit errichtet hat, misst er ihr keinen bleibenden Wert bei, der über ihre Bedeutung für den temporären Schutz und die Ermöglichung einer Etappe seiner individuellen Entwicklung hinausgehen würde. Das bauende und wohnende Subjekt drückt sich in seinem eigenen Gebäude aus und eröffnet sich damit einen erweiterten Handlungsspielraum, wird aber durch den Bau selbst nicht verdinglicht. Das Haus ist sinnvoll als Ausdruck seiner schöpferischen Tätigkeit und als Vollzug einer Orientierung innerhalb der Welt, ohne dass ihm als fertiges Gebilde aus der Sicht des sich entwickelnden Menschen eine dauerhafte Relevanz zuwachsen würde. Dass Thoreau nicht am Errichteten hängt, sondern loszulassen vermag, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass er in ihm 59 60
Ibid., S. 28. Thoreau (2010), S. 348.
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von Beginn an ein Provisorium sieht, dessen Wert sich weniger an einem objektiven oder gar quantifizierbaren Maßstab denn vielmehr an der unmittelbaren pragmatischen, ästhetischen und emotionalen Resonanz, die es dem Einzelnen ermöglicht, bemessen lässt. Schon jeder Bauabschnitt bedeutet daher sowohl Erfolg als auch Misserfolg – als Wegmarke erlaubt er die für das Leben und das Wachstum unabdingbare Orientierung, während er als Fertiges begrenzt und verharren lässt. Die architektonische Metaphorik wird entsprechend flankiert und immer wieder abgelöst von Bildern des Aufbruchs und des Unterwegsseins. 61 Die täglichen Wanderungen, die Thoreau in den Wäldern und Ebenen von Concord unternimmt, zielen nicht auf körperliche Ertüchtigung, sondern wirken der Festlegung entgegen, die selbst einem spartanischen Lebensstil wie dem seinen anhaftet. In diesem Sinne fungieren sie zugleich als ein Unterwandern jener fixen Begriffs- und Identitätszuschreibungen, die mit der Errichtung eines stabilen Gebäudes und der Ausbildung von routinierten Handlungsabläufen einhergehen – provoziert dadurch, dass sich Thoreau neuen Eindrücken aussetzt und sich von ihnen affizieren lässt. Während ein Spaziergang stets nach überschaubarer Zeit an den Ausgangsort zurückführt, bedeutet das Wandern für Thoreau vor allem eine radikale innere Loslösung vom ursprünglichen Standort. Noch der kürzeste Ausflug in die Natur gleicht für ihn einem Aufbruch ins Unbekannte, der »im Geist eines unsterblichen Abenteuers an[zu]gehen [ist], von dem wir niemals zurückkehren werden« 62 und der auch den Abenteurer selbst verändert. Wie schon der Bau des Hauses folgt das Wandern keinem vorgefertigten Plan, der sich anhand einer Landkarte abarbeiten ließe. Beim Verlassen des Bekannten und Vertrauten überlässt sich Thoreau der spontanen Eingebung, die ihm den seiner je aktuellen körperlichen und geistigen Verfassung gemäßen Weg weist. Das Wandern ist damit, wie Thoreau in seinem Journal pointiert zusammenfasst, »a great art« 63: eine Kunstfertigkeit, die sich nicht in der Anwendung eines bestehenden und für das Erreichen vorgegebener Zwecke bewährten Methodeninventars erschöpft. Als Lebens-
Vgl. Schulz (1997), S. 17 f. Thoreau (2018), S. 328. Zur Bedeutung des Unterwegsseins für Thoreaus Philosophie im Kontext des amerikanischen Transzendentalismus vgl. Sölch; Wackers (2018), S. 46 ff. 63 Thoreau (1981), S. 304. 61 62
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kunst ist sie untrennbar mit der Existenz und Persönlichkeit desjenigen verbunden, der sich vor dem Hintergrund seiner eigenen Beheimatung in der Welt auf sie einlässt, und zugleich dient sie als Korrektiv, vielleicht sogar als Subversion, der faktischen Normativität jener systematischen Strukturen, die in Form der architektonischen Gebäude des Lebens und des Philosophierens eine ebenso notwendige wie verlockende Orientierung bilden. Auch für Heidegger erschöpft sich das menschliche Bewohnen der Welt keineswegs in der Herrichtung eines Ortes, an dem der Einzelne sich ständig aufhalten könnte. Zwar gelte, »daß es in der Philosophie zunächst wichtig ist, im eigenen Hause nach dem Rechten zu sehen, bevor man eine Reise um die Welt macht« 64, doch gleichzeitig lasse sich der »Hauptzug des Wohnens« 65 als Wanderung charakterisieren. Diese Wanderung ist als ständiges Erfahren im ursprünglichen Wortsinne zu verstehen: »Erfahrung heißt nach dem genauen Sinn des Wortes: eundo assequi: im Gehen, unterwegs etwas erlangen, es durch den Gang auf einem Weg erreichen.« 66 Ein solches Unterwegssein wird damit für Heidegger zu einer paradigmatischen Form des Denkens überhaupt, die sich vom systematisch angeleiteten Vorgehen der Wissenschaft fundamental unterscheidet: An die Stelle der Methode, die als eindeutige Wegbeschreibung mit einem Minimum an Anpassung auf jede beliebige Landschaft übertragen werden kann, tritt das Eintauchen in eine Gegend, deren Pfade sich erst dann zu erkennen geben, wenn man sich auf die spezifischen Eigenarten des Terrains und die ästhetischen Besonderheiten der Landschaft einlässt. Der Weg steht nicht von Beginn an fest, ohne dadurch beliebig zu werden. Er lässt sich als bloße Strecke zwischen zwei Punkten nicht hinreichend bestimmen; vielmehr gehört er in die jeweilige Gegend, in der allein sein Verlauf der dem Ort angemessene ist. Ein solcher Weg ist für Heidegger der Feldweg in seiner Heimat Meßkirch, mit dem er seine ersten Schritte in die Philosophie und das Leben biographisch verknüpft und ihm so ein kleines literarisches Denkmal setzt. Während für Thoreau jeder Weg ein bisher noch nicht gegangener Weg ist und er aus diesem Grund die Beschränkung des öffentlich zugänglichen Raumes kritisiert, die Parzellierung der Landschaft ebenso wie das Gebot, sich ausschließlich an die explizit 64 65 66
Heidegger, GA 61, S. 190 f. Heidegger, GA 13, S. 139. Heidegger, GA 12, S. 159.
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ausgewiesenen Wege zu halten, 67 kann sich das Denken für Heidegger auch auf einem bereits bekannten Weg abspielen, der sich als ein bestimmter Pfad nicht in die vorgefertigten, schnurgeraden Linien einer öffentlichen Straße fügt, sondern vielfältige Assoziationen zu wecken vermag und es erlaubt, die Gedanken frei von methodischen Zwängen treiben zu lassen. Insofern Wachstum für alles Lebendige bedeute, »der Weite des Himmels sich [zu] öffnen und zugleich in das Dunkel der Erde [zu] wurzeln« 68, komme es weniger darauf an, fortwährend neue und andere Wege zu beschreiten, als vielmehr darauf, den je eigenen Weg zu finden und sich nicht von ihm abbringen zu lassen. Weil der Feldweg selbst keinen Effizienzkriterien unterliegt, insofern er nicht dazu vorgesehen ist, die Wandernden möglichst schnell zu einem bestimmten Ziel zu bringen, lädt er zum Schlendern, zum Verweilen oder vielleicht auch zum Joggen ein, erlaubt den Genuss der umliegenden Landschaft oder die Lektüre auf der Holzbank und trägt so »jedem, der auf ihm geht, das Seine zu« 69. Anders als bei den klar definierten Pfaden wissenschaftlicher Erkenntnis, bei denen es keine Rolle spielt, wer sie begeht, ist für den Wanderer das Bezugssystem für den Gedankengang nicht schon im Voraus gegeben. Die im Wandern sich einstellende Erfahrung bringt keine endgültigen Einsichten, die festgehalten werden könnten, sondern markiert Wegstücke in einem prima facie unabschließbaren Prozess, bei dem sich auch der Denker, der sich von einer Sache angesprochen fühlt und dieser nachgeht, allmählich wandeln kann. 70 Wie das Wohnen immer wieder erlernt werden muss, so muss das Gewohnte beizeiten verlernt werden, um zu entdecken, »wie unendlich das Ausmaß unserer Verbindungen ist« 71, das heißt, welche anderen und dem Selbst angemessenen Formen der Beheimatung sich finden lassen.
67 68 69 70 71
Vgl. Thoreau (2018), S. 336. Heidegger, GA 13, S. 88. Ibid. Vgl. Heidegger, GA 11, S. 33. Thoreau (2010), S. 187.
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Einkehr und Ausblick Heideggers Hütte im Hochschwarzwald befindet sich nach wie vor im Familienbesitz und wird weiterhin privat benutzt. Dass seit 2002 ein Martin-Heidegger-Rundweg Wanderer nicht nur anlockt, sondern vor allem auch in weiterem Abstand an der Hütte vorbeiführt, mag nicht zuletzt dem Wunsch geschuldet sein, der Familie ein Übermaß an eifrigen philosophischen Touristen zu ersparen. Thoreaus selbstgebaute Hütte am Waldensee wurde kurz nach seinem Auszug im September 1847 abgerissen, um die Bretter anderweitig zu verwenden. Der Standort seiner Behausung liegt heute in der Walden Pond State Reservation und ist für Besucher markiert; einige originalgetreue Nachbauten finden sich im Umkreis, darunter eine auf dem Gelände des Thoreau Institute. Es lässt sich unschwer erkennen, dass die Hütten Thoreaus und Heideggers auch heute noch beliebte und symbolträchtige Ausflugsorte sind, deren Anziehungskraft kaum nachzulassen scheint. Diese Popularität verdankt sich vermutlich weniger einer ausgeprägten Devotionalität auf Seiten ihrer Leserinnen und Leser als vielmehr der Tatsache, dass sowohl bei Heidegger als auch bei Thoreau die Gebäude in besonderer Weise mit ihrer Philosophie verbunden sind. In beiden Fällen lässt sich von einer spezifischen Topographie des Denkens sprechen. Das Denken bleibt für sie an einen konkreten Ort, an einen spezifischen räumlichen wie auch zeitlichen Kontext gebunden und stellt sich zugleich als ein Prozess des Beheimatens dar. Das Gebäude schafft die Bedingungen für das philosophische Denken, das sich wiederum in der Hütte und den Reflexionen über sie spiegelt. Damit können wir abschließend den Versuch unternehmen, zumindest tentativ einige der literarischen Reflexionen zum philosophischen Gedankengebäude in explizite Überlegungen zum Systembegriff zurückzuübersetzen. Wie das materielle Gebäude erfüllt auch das philosophische Gedankengebäude primär eine existenzielle Funktion, insofern es dem Einzelnen erlaubt, sich in der Welt zu beheimaten, fundamentale Orientierung zu finden und sich bewusst und aus einer orientierenden Distanz heraus zu der Welt und zu anderen Menschen in Beziehung zu setzen. Wie Descartes ziehen auch Heidegger und Thoreau eine kleine Hütte den großartigsten Palästen vor, freilich nicht aufgrund ihrer gesicherten Fundamente, sondern weil sie von Grund auf selbst erbaut werden können. Nicht erst das fertige Gedankengebäude ist dabei entscheidend, sondern die schrittweise Systematisierung, das 212 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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allmähliche Zusammendenken der Mannigfaltigkeit von Erfahrung, für die das fertige System als regulative, nie abschließend erreichte Idee dient, insofern es unentwegt der Ergänzung, der Korrektur und der Veränderung bedarf. Jedes philosophische System ist räumlich und zeitlich situiert, unterliegt also gleichermaßen ermöglichenden wie begrenzenden Einflüssen in Form von Sprache, methodischem und begrifflichem Instrumentarium oder verfügbarer Erfahrung, sei sie individueller, gemeinschaftlicher oder in den Wissenschaften aufbereiteter Natur. Diese Situiertheit eines Systems betrifft nicht nur seine kontingenten Entstehungsbedingungen, sondern nimmt maßgeblichen Einfluss auf seine Leistungsfähigkeit, mithin auf die Möglichkeiten und den Sinn jeder umfassenden Systematisierungsanstrengung. Akzentuiert Heidegger das aneignende Einfügen des Gebäudes in eine bestehende, dem lebensweltlichen Kontext angemessene Tradition, betont Thoreau, dass jedes System sich unweigerlich in eine Tradition einreiht, deren Bestandteile wiederum durch das Neue als Vorläufer zutage treten können. Für beide ist jedoch unübersehbar, dass kein System einen universalen Anspruch erheben und einlösen kann: Insofern es sich in einen begrenzten Horizont einfügt und weil es zugleich selbst eine Begrenzung der Wirklichkeit vornimmt, vermag es unmöglich, alles zu erfassen. Je unpersönlicher ein System ist, das heißt, je mehr es sich an quantifizierbaren und subjektinvarianten Faktoren ausrichtet, für desto mehr Menschen mag es prinzipiell eine basale Orientierungsfunktion erfüllen. Eine existenzielle Beheimatung, die den individuellen Anforderungen für geistiges Wachstum und für die Entwicklung sowie Reflexion einer genuin eigenen Sicht auf die Welt Rechnung zu tragen sucht, ist schlechterdings nur dann möglich, wenn durch die Systematik hindurch die persönliche Handschrift des Erbauers sichtbar bleibt, die in letzter Konsequenz aus Heideggers wie auch aus Thoreaus Perspektive dadurch gewährleistet wird, dass der Erbauer des Gedankengebäudes zugleich sein Bewohner ist. Der Denker steht, mit anderen Worten, außerhalb und innerhalb des Systems zugleich, als derjenige, der die Prämissen und Axiome setzt, und als derjenige, dessen unhintergehbare Individualität im System zum Ausdruck gebracht wird. Jedes System ist prima facie geschlossen in dem Sinne, dass es eine Abgrenzung von der Fülle unsortierter Phänomene in der Welt darstellt und zugleich eine neue Perspektive auf die Fülle der konkreten Wirklichkeit eröffnet. Diese Geschlossenheit ist allerdings weder als vollkommen noch als statisch zu denken. Zum 213 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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einen eröffnet sie die Möglichkeit, neue und vertiefte Erfahrungen mit bestimmten Aspekten der Wirklichkeit zu machen, zum anderen befinden sich sowohl das Haus wie auch sein Bewohner in fortwährender Veränderung. Die systematische Betrachtung der Welt von einer aus der Innen- wie der Außenperspektive strukturierten Warte aus wandelt das Verhältnis des Denkenden zur Welt und bleibt nicht ohne Einfluss auf ihn selbst. Die Kunst besteht darin, ein Bewusstsein für die stets prekäre Balance zwischen dem Zugewinn an Erfahrungsmöglichkeiten, die ein systematisches und begriffliches Gerüst für den Philosophierenden selbst wie auch für seine Mit- und Nachwelt bietet, und der Begrenzung des eigenen Horizonts zu wahren. Sowohl für Heidegger als auch für Thoreau erweist sich ein philosophisches System vor diesem Hintergrund als ein höchst ambivalentes Konstrukt. Einerseits sind sich beide darüber im Klaren, dass Systematizität ein unabdingbares Erfordernis schon der basalsten menschlichen Orientierung darstellt, andererseits erkennen beide, dass die für eine Orientierung notwendige Festlegung von fixen Referenzpunkten nicht nur auf Kosten der Nähe zu den unmittelbar erlebten Phänomenen geht, sondern zugleich mit der Gefahr verbunden ist, geistige wie auch empirisch fassbare Entwicklungen auszublenden oder nicht mehr adäquat berücksichtigen und integrieren zu können. Hier werden grundsätzliche Fragen aufgeworfen, die die philosophische Systematizität als solche betreffen: Kann das (vorläufige) Denksystem bestehen bleiben, um lediglich durch hinzukommende Elemente ergänzt zu werden? Oder kann das Denken durch die vom Denkgebäude ermöglichte Orientierung in einer Weise transformiert werden, die es notwendig macht, das Haus einzureißen und neu zu bauen? Deutlicher als Heidegger, der zwar die Notwendigkeit lebendigen Erfahrens gegenüber der potentiell starren Architektonik philosophisch-wissenschaftlicher Systeme und Methoden betont, gleichwohl aber der (destruierten) abendländischen Tradition verbunden bleibt, ist Thoreau bereit, die gedankliche Systematisierung zu einem ästhetisch-existenziellen Experiment zu machen, das fortwährend neue, eigene Formen entwirft, denen lediglich der Bezug zum Denkenden gemeinsam ist.
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Von der (Un-)Behaustheit des Denkens
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Sebastian Hüsch
»Es könnte wahrscheinlich auch anders sein«. Philosophie im Modus der Möglichkeit in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften
Hinführung Es gibt wohl wenige Autoren, nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern in der Literatur überhaupt, die eine ähnlich große Affinität zur Philosophie aufweisen wie Robert Musil (1880–1942). Dabei ließe sich sogar die Frage stellen, ob es nicht eventuell genauso adäquat sein könnte, Robert Musil weniger als Schriftsteller – oder wie er selbst sagt: Dichter 1 – mit Affinitäten zur Philosophie zu betrachten, sondern vielmehr, zumindest mit Blick auf sein Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften (1930/1932/1943), als Philosophen, der eine genuine Philosophie in literarischer Form entwickelte. Genau dies soll der Untertitel meines Beitrags als These zum Ausdruck bringen: Philosophie im Modus der Möglichkeit 2. Die zentrale These, die ich im Folgenden entfalten möchte, ist mithin, dass Robert Musils Roman nicht eigentlich als philosophischer Roman, das heißt als philosophische Literatur zu lesen ist, sondern in einem viel grundsätzlicheren Sinne als die literarische Umsetzung einer genuin philosophischen Aufgabenstellung, das heißt als literarische Philosophie 3. Diese Differenzierung ist von einiger Tragweite, denn sie verweist darauf, dass mit dem Roman ein philosophischer Anspruch verbunden ist. Das bedeutet auch und vor allem, dass jene zahlreichen TextMusil verwendet zur Charakterisierung seines eigenen Schaffens in der Regel die Begriffe »Dichter« und »Dichtung«. Heute würde in diesem Zusammenhang eher die Bezeichnung »Schriftsteller« beziehungsweise »Literatur« verwendet. 2 Der Titel selbst ist ein Zitat aus Musils emblematischem vierten Kapitel des Mannes ohne Eigenschaften: »Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben« (Musil, MoE, S. 16; er liefert in nuce die Erklärung des Bedarfs einer Philosophie im Modus der Möglichkeit). 3 Wenn ich hier für ein Verständnis des MoE als literarische Philosophie plädiere, dann soll das keineswegs bedeuten, dass er nicht auch als philosophische Literatur gelesen werden kann. Was den Roman im Wesentlichen ausmacht, so meine hier vertretene These, ist jedoch, dass er eine philosophische Unternehmung darstellt. 1
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Sebastian Hüsch
stellen, die auf Philosophen und Philosophien explizit verweisen oder anspielen, nicht das sind, was den eigentlichen philosophischen Charakter des Romans ausmacht. Es ist sicher ein lohnenswertes und spannendes Unterfangen, den Roman auf diese philosophischen Referenzen hin zu beleuchten, jedoch situiert sich das eigentlich Philosophische an dem Roman, wie ich zeigen möchte, auf der Ebene des Romans selbst und das Charakteristische des Mannes ohne Eigenschaften ist darin zu suchen, dass er in seiner Gesamtheit als ein Werk betrachtet werden kann, in dem sich Philosophie aus methodologischen Erwägungen heraus in Romanform entwickelt. Diese methodologischen Erwägungen wiederum ergeben sich aus dem Zusammenspiel von erkenntnistheoretischen Vorgaben, wie Musil sie in Nietzsches Perspektivismus vorgedacht findet, und einem existenzphilosophischen Erkenntnisinteresse, das im Roman als die ›Frage nach dem rechten Leben‹ 4 formuliert wird und von der im Roman gesagt wird, sie sei die einzige Frage, die »das Denken wirklich lohne« 5. Im Ergebnis kann der Mann ohne Eigenschaften mithin als ein Roman betrachtet werden, in dem sich Philosophie im Modus der Möglichkeit vollzieht. Diese These möchte ich im Folgenden in drei Schritten entfalten. Zunächst sollen Musil und sein Werk kurz historisch-biographisch verortet werden, um vor diesem Hintergrund dann die eigentliche Argumentation zu konstruieren. Anschließend werde ich die theoretisch-methodologischen Grundlagen darlegen, die meine These stützen sollen, dass Musils Roman als eine genuine Philosophie verstanden werden kann. Dazu werde ich mich vor allem auf zwei Argumentationsstränge stützen: zum einen auf die Anlehnung Musils an Nietzsches Perspektivismus und zum anderen auf die Nähe der Musilschen Methodologie zu einigen Elementen der Poetologie der Frühromantik. Im abschließenden Teil soll dann illustriert werden, wie sich Musils Philosophie im Modus der Möglichkeit im Roman konkret entfaltet.
Vgl. Musil, MoE, S. 255. Ibid.: »Wann immer man ihn bei der Abfassung mathematischer und mathematisch-logischer Abhandlungen oder bei der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gefragt haben würde, welches Ziel ihm vorschwebe, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens.«
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Robert Musil: eine historisch-biographische Verortung Einführend ist es hilfreich, Robert Musil anhand einiger biographischer und historischer Eckdaten zu verorten, insofern diese für ein Verständnis jener Problemstellungen nützlich sind, auf die Musil in seinem Roman sowohl thematisch als auch methodologisch antwortet. Robert Musil ist 1880 in der Nähe von Klagenfurt geboren und 1942 im Schweizer Exil in Genf gestorben. Sein Werk entstand also in jener ebenso spannenden wie spannungsreichen Zeit fundamentaler Umbrüche und Unsicherheiten, die ganz wesentlich durch eine ambivalente Mischung aus Fortschrittsenthusiasmus und Fortschrittsskepsis, aus Zuversichtlichkeit und Zukunftsangst, aus dem Festhalten an überkommener Tradition und zukunftsorientierter Aufbruchsstimmung geprägt war sowie durch die doppelte zivilisatorische Katastrophe des Ersten Weltkrieges und des Aufstiegs des Nationalsozialismus, der schließlich im Zweiten Weltkrieg münden sollte. Als Musil in Österreich aufwuchs und studierte, konnte er zunächst die langsame Erosion der Donaumonarchie miterleben, seit der Jahrhundertwende aber auch, in relativem Kontrast zu diesem fortschreitenden Niedergang stehend, in Deutschland einen rasenden Aufbruch. Das Deutsche Kaiserreich erlebte seit seiner Gründung 1871 eine anhaltende wirtschaftliche Blüte, eine in atemberaubendem Tempo voranschreitende Industrialisierung und Technisierung, die mit fundamentalen Umwälzungen aller Lebensbereiche einherging. Politisch blieb das Kaiserreich ein ambivalentes Gebilde, das zum einen als Monarchie Tradition und Kontinuität verkörperte, zum anderen aber Elemente politischer Partizipation und Demokratisierung aufwies. Ideengeschichtlich kaum zu überschätzen ist wiederum die Krise beziehungsweise der Zusammenbruch des überkommenen christlichplatonischen Weltbildes, explizit gemacht und provokant zugespitzt durch Friedrich Nietzsche, der in seiner Fröhlichen Wissenschaft, 1882 veröffentlicht, den Tod Gottes verkünden lässt. 6 Es war also vieles im Umbruch und vieles in der Schwebe, und man könnte versucht sein, auf jenen Allgemeinplatz zurückzugreifen, wonach ›eine neue Zeit‹ begann, auf den auch Musil selbst zurückgreift, wobei er jedoch ebenso ironisierend und relativierend wie treffend ergänzt: »denn das
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Vgl. Nietzsche, KSA 3, FW (125), S. 480–482.
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tut sie in jedem Augenblick« 7. Die zahlreichen gesellschaftlichen, politischen und geistigen Spannungen sollten sich, wie bereits angedeutet, zunächst im Ersten Weltkrieg in einer bis dahin ungekannten Gewalteruption entladen, und der Erste Weltkrieg ist dann auch bekanntermaßen der Horizont, auf den Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften perspektivisch zuläuft. Robert Musil wiederum scheint wie ein Spiegel der seine Zeit prägenden Ambivalenzen, Ungewissheiten und neuen Freiheiten zu sein, beziehungsweise jene Schwierigkeiten zu illustrieren, die mit dieser Gemengelage für den Einzelnen verbunden waren. Anders als in früheren Zeiten, in denen die Lebenswege in einem erheblichen Maße vorgezeichnet waren, stand einem begabten jungen Mann aus gehobenen Verhältnissen nun eine Vielzahl von Optionen offen und Musils Lebensweg zeigt, dass es keineswegs leicht war, in einer solchen Lage seinen Weg zu finden. 8 Musils Biographie weist mithin eine Reihe von Wendungen auf und sein Weg zur Schriftstellerei war keineswegs vorgezeichnet. So wurde Musil zunächst beim Militär zum Artillerieoffizier ausgebildet, bevor er anfing, in Brünn Maschinenbau zu studieren, ein Studium, das er 1901 mit dem Ingenieursdiplom abschloss. Seine Kenntnisse als Maschinenbauer erlauben es Musil, seine Reflexionen über die ›neue Zeit‹ nicht nur aus der Perspektive des intellektuellen Beobachters zu entwickeln, sondern sie versetzen ihn in die Lage, diese auch gleichsam aus der ›Innenperspektive‹ des technischen Fortschritts seiner Zeit zu erschließen, was ihn von der Vielzahl der zeitgenössischen intellektuellen Fortschrittsskeptiker unterscheidet. Nach dem Abschluss des Maschinenbaustudiums wendet sich Musil freilich einem ganz anderen Wissensfeld zu: Ab 1903 studierte er in Berlin Psychologie und Philosophie und promovierte schließlich 1908 mit einer Arbeit zu Ernst Mach. Die erste literarische Veröffentlichung Musils fällt in die Zeit vor seiner Promotion; und zwar publizierte er im Jahre 1906 den Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Wenngleich der Roman auch durchaus positiv rezeptiert wurde, entschied sich Musil erst nach dem Krieg, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Musil, MoE, S. 20. Diese Schwierigkeit, angesichts vielfältigster Möglichkeiten zu einer verbindlichen Realität zu gelangen, kennzeichnet selbstverständlich auch den Lebensweg der Hauptfigur des Romans Ein Mann ohne Eigenschaften.
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Das Profil Musils ist also nicht nur für einen Schriftsteller eher ungewöhnlich, sondern veranschaulicht auch die neuen Möglichkeiten, die diese spannungsreiche Welt um die Jahrhundertwende mit sich brachte. Musil war ein militärisch ausgebildeter, im Maschinenbau versierter Schriftsteller, der zudem eine eingehende Ausbildung in Philosophie und Psychologie erhalten hatte. Dass dies nicht nur ungewöhnlich, sondern für Schriftstellerkollegen geradezu ›unheimlich‹ war, das illustriert eine bekannte Anekdote: So soll ihm die Preußische Akademie der Künste, Abteilung für Dichtung, 1932 trotz namhafter Unterstützer wie Thomas Mann und Alfred Döblin die Aufnahme in die Akademie verweigert haben mit der Begründung, er sei zu intelligent für einen Dichter. 9 Auch wenn dies nicht die tatsächliche Begründung für die Nicht-Aufnahme gewesen sein sollte, so verweist sie doch auf eine Auffassung von Dichtung, von der die Musilsche sich abhebt. Der Vorwurf, er sei zu intelligent, um ein wahrer Dichter zu sein, ist für Musil Ausdruck des Vorurteils, dass künstlerisches Schaffen und strenge geistige Arbeit inkompatibel seien und dass Intelligenz letzten Endes negative Auswirkungen auf die künstlerische Intuition und Schöpferkraft habe. 10 Für Musil selbst passen geistige Strenge, Präzision und Dichtung sehr wohl zusammen, ja im Grunde führt harte geistige Arbeit überhaupt erst zu dem, was er selbst sich unter Dichtung vorstellt. Auch die doppelte Affinität zu den Wissenschaften auf der einen Seite und zur Dichtung auf der anderen sollte sich für Musil als auf verschiedene Weise produktiv erweisen. Dichtung und wissenschaftliche Rationalität sind für Musil in einem Sinne komplementär und in einem anderen Sinne jeweils unerlässliches wechselseitiges Korrektiv. Musils Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln, schlägt sich insofern nicht zuletzt auch darin nieder, dass er, mit dieser doppelten Affinität, auch und zugleich über eine doppelte Distanzierungsfähigkeit verfügt. Bei Friedrich Nietzsche findet sich eine interessante Notiz zum Spezialistentum, die diesen Vorteil zu illustrieren vermag. Dort heißt es: [D]er »Specialist« kommt irgendwann zum Vorschein, sein Eifer, sein Ernst, sein Ingrimm, seine Ueberschätzung des Winkels, in dem er Vgl. Musil (1955), S. 447 f.: »Als mich eine Minderheit vorgeschlagen haben soll, soll mich die Mehrheit wirklich mit der komischen Begründung abgelehnt haben, ich sei zu intelligent für einen wahren Dichter.« Vgl. Corino (1988), S. 382 f. 10 Vgl. Vatan (2000), S. 12. 9
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sitzt und spinnt, sein Buckel, – jeder Specialist hat seinen Buckel. Ein Gelehrten-Buch spiegelt immer auch eine krummgezogene Seele: jedes Handwerk zieht krumm. 11
Anders als die meisten spezialisierten Menschen, deren Welt sich um diesen ihren Spezialbereich herum konstruiert – mit der Konsequenz unvermeidlicher Einseitigkeiten –, favorisiert eine solche doppelte Affinität, wie sie Musil auszeichnet, eine Art steter Relativierung und innerlicher Distanz, insofern sie die Einseitigkeiten der Weltbetrachtung aufbricht, die ein gewöhnliches Spezialistentum unausweichlich mit sich bringt. Die durch diese Perspektivierung entstehende Distanznahme und Reserve verleiht sich bei Musil Ausdruck in dem, was das wohl herausragendste stilistische Merkmal des Mannes ohne Eigenschaften ist, nämlich in einer besonderen Art der Ironie, der, wie noch zu zeigen sein wird, insofern sinnkonstitutive Bedeutung zuwächst. Ein Satz, den Musil den Erzähler über die Hauptfigur des Romans sagen lässt, eignet sich von daher auch vorzüglich, um ihn auf Musil selbst anzuwenden. Dort heißt es: »Er kann, wenn er seine Empfindungen überwacht, zu nichts ohne Vorbehalt ja sagen« 12. Der große methodologische Gewinn einer solchen Haltung, die zu nichts vorbehaltlos ja zu sagen vermag, ist dabei, dass sie einen in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden Schutz vor erkenntnistheoretischem, existenzphilosophischem oder ethischem Dogmatismus bedingt. Man könnte sagen, dass das Musilsche Wandeln zwischen den Reichen der Dichtung und der wissenschaftlichen Rationalität, insofern es unausweichlich konfligierende Weltzugriffe aufeinandertreffen lässt, im Grunde fast notwendig in die Ironie führt, die allein über jene Spannkraft verfügt, die das Widersprüchliche in eine ambivalente Koexistenz zu bringen vermag. Denn, so macht die Musilsche Ironie deutlich, diese Widersprüchlichkeit kann nicht in eine höhere Wahrheit überführt und damit aufgehoben werden. Aber gerade dieses Stehenlassen des Widersprüchlichen ist erhellend, wie Musil immer wieder im Mann ohne Eigenschaften unter Beweis stellt, wenn er die dichterische und die wissenschaftliche Welterschließung unvermittelt aufeinandertreffen lässt.
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Nietzsche, KSA 3, FW (366), S. 614. Musil, MoE, S. 249.
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Wie sich dies in der schriftstellerischen Praxis darstellt, das lässt sich anhand eines Beispiels illustrieren, das hierfür emblematisch ist, und zwar anhand der oft zitierten Romaneröffnung. Dort heißt es: Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913. 13
Der Roman beginnt also mit einer Art Wetterbericht. Das Entscheidende und Charakteristische ist hier, dass die umständliche wissenschaftliche Beschreibung einer meteorologischen Konstellation der einleitenden Sätze durch einen Perspektivwechsel gleichsam dichterisch kondensiert und komprimiert wird auf die schlichte Aussage, es habe sich um einen schönen Augusttag gehandelt. Dieser kurze Auszug vermittelt gleich eine ganze Reihe von wichtigen Einsichten sowie eine gute Illustration des Ironisierungseffekts, der aus der Konfrontation der wissenschaftlichen und der dichterischen Beschreibung emergiert. So kann zunächst einmal die Irreduzibilität des jeweiligen Betrachtungspunktes konstatiert werden: Beziehen sich auch beide Perspektiven auf die gleiche Wirklichkeit, so kann doch keinesfalls ohne Bedeutungsverlust die eine Perspektive durch die andere ersetzt oder auf sie reduziert werden. Beide Weltzugriffe haben ihre je eigene intrinsische Berechtigung, aber auch ihre eigene intrinsische Begrenztheit, wodurch sie sich wiederum jeweils in ihrem Anspruch und in ihrer Reichweite gegenseitig relativieren, ohne sich jedoch zu neutralisieren. Des Weiteren spielt diese Passage auch ironisch mit dem bekannten Vorurteil der Geschwätzigkeit der Dichtung und der Prägnanz der Wissenschaften,
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Ibid., S. 9.
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denn hier ist es so, dass erstere auf zwei Zeilen auf den Punkt bringt, was letztere über elf Zeilen mäandernd zu fassen sich bemüht.
Der Mann ohne Eigenschaften: Einleitende Darstellung Die Erwähnung der Jahreszahl im oben angeführten Zitat erlaubt die Überleitung zu einer knappen Skizze der Romanhandlung, insofern diese für die Betrachtung des Romans als Philosophie im Modus der Möglichkeit relevant wird. Der Roman spielt in dem im Eingangsparagraphen genannten Jahr 1913 – und damit zwar nicht für die Romanfiguren, aber für den Leser dieses 1930 erschienenen ersten Romanteils – im Horizont des Schicksalsjahres 1914. Charakteristisch für den Roman ist, dass in ihm im Grunde nicht sonderlich viel passiert – das gilt zumindest, wenn man nach einer Romanhandlung im eigentlichen Sinne sucht. Diese reduziert sich im Wesentlichen darauf, dass eine Gruppe von Personen damit beschäftigt ist, ein großes Ereignis für das 70-jährige Thronjubiläum des österreichischen Kaisers zu organisieren, dessen wesentliche Pointe darin besteht, damit den für den Juni 1918 geplanten Jubiläumsfeierlichkeiten des deutschen Kaisers, der in demselben Jahr sein 30-jähriges Thronjubiläum feiert, zuvorzukommen. Das Dilemma und dessen Lösung präsentiert der Erzähler wie folgt: »Da der 2. XII. natürlich durch nichts vor den 15. VI. gerückt werden könnte, ist man auf den glücklichen Gedanken verfallen, das ganze Jahr 1918 zu einem Jubiläumsjahr unseres Friedenskaisers auszugestalten.« 14 Vor dem Hintergrund dieser Rahmenhandlung vollzieht sich das, was eigentlich im Herzen des Romans steht und was seine Relevanz für das Verständnis des Romans als eine Philosophie im Modus der Möglichkeit hat. Dort kann der Leser nämlich dem Versuch der Hauptperson des Romans, Ulrichs, des Mannes ohne Eigenschaften, beiwohnen, eine Antwort auf die bereits angesprochene Frage des rechten Lebens zu finden. 15 In Anlehnung an jenen Begriffsapparat, den Martin Heidegger in Sein und Zeit entwickelt, könnte man sagen, dass es Ulrich darum geht, zu einem »eigentlichen Selbstsein« beziehungsweise »Seinkönnen« 16 zu gelangen. Diese Suche nach einem 14 15 16
Ibid., S. 79. Vgl. Musil, MoE, S. 255 und S. 218 dieses Beitrags. Heidegger (1979), S. 268.
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authentischen Selbstsein wiederum gewinnt dadurch ihr Relief, dass sie sich vor dem Hintergrund und im Spiegel dessen vollzieht, was Musil das »Seinesgleichen geschieht« nennt. Dieses wird im Roman folgendermaßen definiert: »Es sind die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens, […] dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern der Empfindungen und Gefühle.« 17 Diese Musilsche Definition des »Seinesgleichen geschieht« wiederum lässt sich in die Nähe jenes Konzeptes rücken, das Heidegger dem des eigentlichen Selbstseins kontrastiv entgegenstellt, das heißt des »Man« als die Verkörperung des uneigentlichen Selbstseins im Modus der Verfallenheit. 18 Wie Heidegger in Sein und Zeit versucht, vor dem Hintergrund der Verfallenheit an das Man die ontologischen Strukturen eines eigentlichen Selbstseinkönnens freizulegen, so bemüht sich Musil im Mann ohne Eigenschaften, eine authentische Existenzmöglichkeit zu finden, die sich dem Vorgefertigten und Uneigentlichen des ›Seinesgleichen geschieht‹ entzieht. Diese Suche nach den Möglichkeiten eines eigentliches Selbstsein ist in einem gewissen Sinne die Haupthandlung des Musilschen Romans. Ausgangspunkt und Grundlage dieser Suche wiederum ist die Entscheidung der Hauptfigur Ulrich, so lange ein Mann ohne Eigenschaften zu bleiben, wie es ihm nicht gelingt, eine solche authentische, eigentliche Lebensform zu finden, die jenseits dieser »fertigen Einteilungen und Formen«, jenseits des immer schon Gedachten und immer schon Gemachten liegt. Wenn hier die Suche nach den Möglichkeiten einer eigentlichen Seinsweise als das wesentliche Thema des Romans verstanden werden soll, dann ist es wichtig, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass dieses eigentliche Selbst, auf das die Suche Ulrichs abzielt, keinesfalls essentialistisch verstanden werden darf. Im Gegenteil geht es gerade darum, die Frage nach der Möglichkeit eines authentischen Selbstseins vor dem Hintergrund jenes ideengeschichtlichen Horizonts des frühen 20. Jahrhunderts zu entfalten,
Musil, MoE, S. 12. Vgl. Heidegger (1979), S. 129: »Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Manselbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden.« Zu Parallelen zwischen den Heideggerschen Konzepten von Man und eigentlichem Selbst und Musils Differenzierung von Menschen mit und ohne Eigenschaften vgl. Hüsch (2014).
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der nicht zuletzt durch Nietzsches virulente Erkenntnis- und Metaphysikkritik maßgeblich geprägt ist. 19
Robert Musils Essayismus: Philosophie als Literatur Nietzsches Denken ist für Musil nicht nur im zuvor genannten Sinne von Bedeutung, d. h. in Bezug auf dessen kritische Elemente, sondern auch in methodologischer Hinsicht kommt der Philosophie Nietzsche bei Musil eine herausragende Bedeutung zu. Das gilt insbesondere für Nietzsches erkenntnistheoretischen Perspektivismus. Genau dieser ist für die vorliegende Problematik, das heißt die These, dass Robert Musils Roman als ein Philosophieren im Modus der Möglichkeit zu begreifen ist, von einiger Bedeutung. Nietzsches komplexe und facettenreiche Destruktion der traditionellen abendländischen Philosophie und der auf diese aufbauende Perspektivismus kann an dieser Stelle nicht in der gebotenen Präzision nachgezeichnet werden, vielmehr soll es hier für ein präziseres Verständnis der Methode Musils ausreichen, einen Blick auf seine Kritik des traditionellen Wahrheitsbegriffs zu werfen. Nietzsche zufolge ist Wahrheit, verstanden als eine absolute, rational zugängliche, transzendente Wahrheit, nichts anderes als eine ›Lüge,‹ beziehungsweise ist das, was die Menschen für eine solche transzendent verankerte Wahrheit halten, letztlich nichts anderes als eine soziale Konvention. 20 Wenn Nietzsche auch Probleme hat, eine alternative Wahrheitskonzeption zu entwickeln, die nicht in fiktiven metaphysischen Konstrukten wurzelt, 21 so ist in jedem Falle seine Einsicht fundamental, dass der Mensch unhintergehbar an einen immanenten, kontingenten und perspektivisch konstituierten Erkenntnisstandpunkt gefesselt ist. Aufgrund der Kontingenz und Perspektivität des menschlichen Standpunktes Dasselbe gilt selbstverständlich für das Heideggersche Konzept eines eigentlichen Selbstseins. Dass seine Explizierung der Eigentlichkeit auf keinen Fall essentialistisch verstanden werden soll, wird besonders darin deutlich, dass Heidegger nachdrücklich auf das Problem der Ambivalenz in der Erschließung der Strukturen eines eigentlichen Selbst hinweist. Vgl. Heidegger (1979), S. 173–175. Noch expliziter und ausführlicher kommt er auf dieses Problem in den Grundbegriffen der Metaphysik zu sprechen; vgl. Heidegger (2004), §§ 4–7. 20 Vgl. Nietzsche, KSA 1, WL, S. 881, wo es heißt, Wahrheit bedeute, »nach einer festen Konvention zu lügen«. 21 Vgl. Danto (1965), S. 79 f. 19
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könne, so Nietzsche, von Wahrheit bestenfalls pluralisch, im Sinne perspektivischer Wahrheiten gesprochen werden. Eine wesentliche Konsequenz, die sich für Nietzsche daraus stilistisch ergibt, ist die Tatsache, dass er keine systematischen philosophischen Abhandlungen verfasst. Vielmehr präsentiert sich seine Schreibweise in aphoristisch-fragmentarischer, ja auch widersprüchlicher Form, in der sich die Pluralität möglicher Perspektiven stilistisch spiegelt. Genau auf diese stilistische Besonderheit im Werke Nietzsches bezieht sich Musil in einer Tagebuchnotiz, mit der ich meine Überlegungen zu Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften als Philosophie im Modus der Möglichkeit beginnen möchte, insofern darin sehr gut die Antizipation von Musils eigener philosophischer Methode durchscheint. Folgendes hält Musil dort fest: Das Charakteristische liegt darin, daß [Nietzsche] sagt: dies könnte so sein und jenes so. Und darauf könnte man dies und darauf jenes bauen. Kurz: er spricht von lauter Möglichkeiten, lauter Combinationen, ohne eine einzige ausgeführt zu zeigen. Daß man aber nur dann den Werth einer Idee beurtheilen kann […], ist klar. 22
Am Ende der Notiz konstatiert Musil schließlich: »Welches Fiasco sobald man in [Nietzsche] ein System finden will, außer dem der geistigen Willkür des Weisen.« 23 Zwei Aspekte, die Musil in dieser kurzen Reflexion über Nietzsche anführt, sind für uns von Bedeutung. Das ist zum einen Musils Hinweis darauf, dass es gefährlich sei, in Nietzsches Denken ein System finden zu wollen; zum anderen ist dies die Bemerkung, dass die zahlreichen Möglichkeiten und »Combinationen« bei Nietzsche unausgeführt geblieben sind und damit an dessen Werk etwas Unzureichendes verbleibt. Ein näherer Blick auf diese beiden Überlegungen ermöglicht einen geeigneten Zugang dazu, wie Musil sein eigenes methodisches Vorgehen, wie er es dann im Mann ohne Eigenschaften umsetzen wird, konstruiert, indem er einerseits auf Nietzsche aufbaut und andererseits über diesen hinausgeht. Wenn wir uns zunächst der Bemerkung Musils zuwenden, wonach der Versuch, bei Nietzsche ein System finden zu wollen, in ein Musil (1983), S. 19. Es ist keine Überraschung, dass diese Überlegungen Musils zu Nietzsche auch bisher verschiedentlich und mit unterschiedlichem Erkenntnisinteresse mit Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften in Verbindung gebracht wurden, wie etwa bei Luft (1980), S. 41 oder Pieper (2002), S. 150. 23 Musil (1983), S. 19. 22
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Fiasko führen, dann können wir feststellen, dass sich darin wiederum zwei wichtige Aspekte in Bezug auf Musils Nietzscherezeption verbergen, nämlich zum einen der Hinweis darauf, dass man Nietzsche grundlegend missversteht, wenn man versucht, seine Philosophie im Sinne eines philosophischen Systems zu deuten; zum anderen bringt Musil damit die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Abwesenheit eines Systems in Nietzsches Denken nicht als Defizit zu begreifen ist, dass sie keinen Mangel darstellt, sondern dass sie im Gegenteil Ausweis und Ausdruck erkenntnistheoretischer Einsichten und mithin Ausdruck einer Adäquanz von philosophischer Erkenntnis und deren sprachlicher Einholung ist. Dass der Versuch, in Nietzsches Denken ein philosophisches System hineindeuten zu wollen, in die Irre gehen muss, ist naheliegend, insofern Nietzsches Denken als ein kontingent-perspektivisch-antimetaphysisches grundlegend inkompatibel ist mit einer Philosophie, die sich in Form eines klassischen philosophischen Systems entfaltet, ja entfalten kann. Philosophie in Systemform entwickeln zu wollen ist nur dann sinnvoll, wenn es zumindest als im Prinzip möglich betrachtet wird, die vielfältigen Einzelaspekte der Realität in einer Einheit zusammenfassen zu können. Für einen solchen Versuch aber sind ein Vernunftverständnis und eine Erkenntnisfähigkeit vorauszusetzen, wie sie von Nietzsche gerade abgelehnt und destruiert werden, nämlich ein Vernunftverständnis und eine Erkenntnisfähigkeit in der Tradition des platonisch-christlichen Denkens. Nietzsches perspektivistisch-aphoristischer Stil ist gerade seine Antwort auf die grundsätzliche Einsicht in die Unmöglichkeit von Philosophie in Systemform. Nietzsche äußert sich sogar explizit in dieser Richtung. So notiert er in der Götzendämmerung: »Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.« 24 Seine Philosophie im Sinne eines Systems zu deuten, steht nicht nur quer zu Nietzsches eigenen Stellungnahmen, sondern kann auch unabhängig davon in rein werkimmanenter Betrachtung nur darauf hinauslaufen, Widersprüchliches in seinen Texten entweder zu ignorieren oder gewaltsam in einer Synthese zusammenzuführen. Beides wiederum würde auf methodologisch fragwürdiger Basis sich vollziehen müssen. 25
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Nietzsche, KSA 6, GD, S. 26. Vgl. hierzu Hüsch (2018), S. 256–260.
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In seiner ausdrücklichen Distanznahme zum philosophischen System hat Nietzsche Musil vorbehaltlos auf seiner Seite. Letzterer sieht nicht nur ein gewaltsames Moment in dem Versuch, Nietzsches Philosophie im Sinne eines Systems zu deuten, sondern Musil erkennt im Willen zum philosophischen System selbst ein gewalttätiges Moment, wie eine Reflexion des Erzählers im Mann ohne Eigenschaften zeigt. Dort heißt es über Ulrich: »Er war kein Philosoph. Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.« 26 Das philosophische System ist für Musil – hier befindet er sich völlig im Einklang mit Nietzsche – der Versuch, die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit in eine – letztlich willkürliche – Einheit zu überführen, die Reichhaltigkeit der Wirklichkeit auf die Strukturen einer wissenschaftlichen Vernunft zu reduzieren. 27 Musil folgt Nietzsche also in der Überzeugung, dass das philosophische System als der unlautere Versuch zu verstehen ist, die Welt einer sich in ihrer Reichweite überschätzenden menschlichen Vernunft zu unterwerfen. Auf der anderen Seite aber – und damit kommen wir zu dem zweiten zuvor festgehaltenen Aspekt – grenzt er sich von Nietzsche ab, wenn er betont, dass es notwendig sei, in perspektivistischer Betrachtung gewonnenen Möglichkeiten und »Combinationen« Entwicklung zu gewähren, anstatt sie lediglich, wie Nietzsche dies tut, skizzenhaft jeweils anzureißen. Denn, so Musil, das tatsächliche Potential dieser Möglichkeiten und Kombinationen lasse sich nur dann überhaupt erst erkennen und evaluieren. Was diesen zweiten zuvor identifizierten Aspekt angeht, nämlich Musils Forderung nach Entfaltung der skizzierten Möglichkeiten und Kombinationen, so kann diese Überlegung gleichsam als ein Hinweis an sich selbst gelesen werden. Es muss, mit anderen Worten, Musil, MoE, S. 253. Hier sei angemerkt, dass Musil wiederholt, sowohl im Roman als auch in seinen essayistischen Texten, dem mathematisch-logischen Denken und der wissenschaftlichen Rationalität insgesamt ein gewalttätiges Moment attribuiert – die dahinterstehende Überlegung ist analog: Es wird der Wirklichkeit ein Gerüst an Gesetzmäßigkeiten oktroyiert mit dem Anspruch, diese damit vollständig erfasst zu haben (vgl. etwa Musil, MoE, S. 592: »Alles, was [Ulrich] an Neigung zum Bösen und Harten besaß, lag in dem Wort Gewalt, es bedeutete den Ausfluß jedes ungläubigen, sachlichen und wachen Verhaltens; hatte doch eine gewisse harte, kalte Gewalttätigkeit auch bis in seine Berufsneigungen hineingespielt, so daß er vielleicht nicht ganz ohne eine Absicht auf das Grausame Mathematiker geworden war«).
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darum gehen, den Nietzscheschen Perspektivismus zu erweitern und in diesem Sinne zu ›verbessern‹. Die Aufgabe, die sich Musil hier stellt, besteht also darin, in perspektivistischer Betrachtung gewonnene Möglichkeiten und Kombinationen in einen Raum zu stellen, in dem ihnen über ihre Skizzierung hinaus die Möglichkeit zuteilwerden kann, sich zu entwickeln, und damit zu veranschaulichen, was der tatsächliche denkerische »Werth« dieser jeweiligen Perspektiven letztlich ist. Das bedeutet nichts anderes, als dass es Musil darum zu tun sein muss, eine Darstellungsweise zu finden, die über den für Nietzsche charakteristischen skizzenhaft-aphoristischen Stil hinausgeht, um den Möglichkeiten den nötigen Entfaltungsraum zu gewähren, ohne dass diese Darstellungsweise jedoch in die Nähe des Repressiven, Ab- und Ausschließenden gelangt, welches für das philosophische System charakteristisch ist. Musils Antwort auf diese Herausforderung ist die Nutzung eines literarischen Möglichkeitsraumes, und zwar in Form des Romans. Der Roman war zuvor bereits von der Frühromantik und insbesondere von Friedrich Schlegel als eine Art Fortsetzung der Philosophie in die Dichtung hinein ins Spiel gebracht worden, 28 und bezeichnenderweise findet sich auch eine Lektürenotiz Musils, die aus der frühromantischen Zeitschrift Athenäum 29 stammt und in eine Richtung weist, die für die hier vorgeschlagene Deutung des Musilschen Romans instruktiv ist. Es handelt sich dabei um die Abschrift eines von Friedrich Schlegel verfassten Fragments, in dem es heißt: »Die Romane sind die sokratischen Dialoge unserer Zeit. In diese liberale Form hat sich die praktische Weisheit vor der Schulweisheit geflüchtet.« 30 Diese Überlegung Schlegels ist ein wertvoller Hinweisgeber für die Bedeutung, die der Roman auch bei Musil hat. Schlegel stellt hier »praktische Weisheit« und »Schulweisheit« einander gegenüber und verweist damit auf die problematische Entwicklung einer Akademisierung der Philosophie, die damit ihren Lebensbezug und ihre Orientierungsfunktion im Sinne einer Lebenskunst zunehmend verliert. Um die Philosophie in ihrem ursprünglichen – lebensbezogenen – Erkenntnisinteresse wiederzugewinnen, muss daher ein Weg beVgl. Hüsch (2007) sowie Frank (1995). Das Athenäum erschien im Zeitraum von 1798 bis 1800 in insgesamt sechs Ausgaben und wurde von den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel herausgegeben. 30 Das Originalzitat findet sich in F. Schlegel (1967), S. 149; Musils Lektürenotiz in Musil (1957), S. 722. 28 29
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schritten werden, der aus der sich vom Menschen entfernenden Art, Philosophie zu betreiben, herausführt in eine Richtung, die der Philosophie ihre Lebendigkeit und Lebensrelevanz zurückgibt. Diese Art des Philosophierens repräsentieren für Schlegel die sokratischen Dialoge, deren aktualisierte Form, so sein Postulat, der Roman sei. 31 Wenn wir dieses Postulat Schlegels rückbinden an die voranstehenden Überlegungen zur Musilschen Distanz zum philosophischen System unter Einschluss von Musils Kritik an Nietzsche, dann ließe sich die These formulieren, dass Musil mit dem Mann ohne Eigenschaften die Anregung Schlegels aufgenommen hat, im Roman eine »liberale« Alternative zu einer zu Dogmatismus, Akademismus und Systematismus neigenden Schulphilosophie zu suchen, die zugleich eine Antwort bietet auf den an Nietzsche gerichteten Vorwurf, im Skizzenhaft-Aphoristischen zu verbleiben. Auf die Frage des »rechten Lebens«, die Musil im Mann ohne Eigenschaften aufwirft, vermag die reduktionistische, tendenziell gewaltsame und vor allem lebensferne Schulphilosophie nicht in geeigneter Weise zu antworten, beziehungsweise gibt sie sich nicht einmal die Mühe dies zu versuchen. Im Gegenteil führt ihr Abstraktionsbedürfnis dazu, dass sie den Einzelnen in seinem konkreten Existenzvollzug aus dem Blick verliert. 32 Auf der anderen Seite vermeidet das Bemühen um ein systematisches philosophisches Herangehen die aphoristischen – und folgenlosen – Verkürzungen, die Nietzsches Stil mit sich bringt. Hieraus entsteht eine eigentümliche Spannung, die interessanterweise bereits bei Schlegel zu finden ist, der paradox formuliert: »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.« 33 Deutlich auf die Systemphilosophien Kants und Hegels zielt Schlegel dann auch später in seinen Vorlesungen über die Philosophie des Lebens (1827). 32 Die zentrale Bedeutung der praktischen Dimension wird noch deutlicher, wenn wir uns den Satz, in dem der Ausdruck des »rechten Lebens« verwendet wird, im Ganzen anschauen. Dieser lautet: »Wann immer man [Ulrich] bei der Abfassung mathematischer und mathematisch-logischer Abhandlungen oder bei der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gefragt haben würde, welches Ziel ihm vorschwebe, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens« (Musil, MoE, S. 255). Das heißt, bei allem Interesse für theoretische Fragen, bei aller Faszination, die von der Beschäftigung mit der Mathematik oder den Naturwissenschaften ausgeht, letzten Endes ist die einzig in einem genuinen Sinne relevante Frage die Frage danach, wie man leben solle. Und auch erkenntnistheoretische Fragestellungen haben ihre Relevanz nur vor diesem Hintergrund. 33 Schlegel (1967), S. 173. 31
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In ihrer Ambivalenz scheint mir diese Überlegung Schlegels zum philosophischen System näher bei Musil zu liegen als bei Nietzsche. Während sicherlich alle drei Denker konform gehen in der Überzeugung, dass das System in einem Sinne für die Fassung und Darstellung von Realität untauglich ist, scheint mir die Schlegelsche Aussage, dass es für den Geist aber ebenfalls tödlich sei, kein System zu haben, eine Deutung zuzulassen, die in die gleiche Richtung geht wie Musils Überzeugung, dass der Wert von Möglichkeiten und »Combinationen« nur erkennbar wird, wenn diesen Entwicklung geboten wird. 34 Wenn es aber gleich tödlich ist, ein System zu haben, weil dieses sich dogmatisch einschließt, wie kein System zu haben, weil die Realitätserfassung dieserart im Fragmentarischen verbleiben müsste, dann bietet sich als denkbare Antwort auf diese Spannung, gleichsam ein System als Möglichkeit zu (er-)denken, also ein System, das bereits den Hinweis seiner eigenen Defizienz und Unzulänglichkeit in sich trägt, eine systematische Reflexion im Modus der Möglichkeit. Wie könnte es dann aber konkret aussehen, wenn man sich bemüht, das »System-Haben« mit dem »Kein-System-Haben« zu verbinden, um dieserart im Modus der Möglichkeit zu philosophieren? Friedrich Schlegels Antwort darauf ist die Schaffung eines Spannungsfeldes von Enthusiasmus und Ironie. Der Enthusiasmus ist dabei das Schöpferisch-Positive, welches in der vernichtenden Ironie sein negatives Korrektiv findet. In diesem Spannungsfeld wäre es dann möglich, eine Art System, jedoch im Modus der Möglichkeit, zu entwickeln, in dem jede positive Setzung durch die sie unterminierende Ironie ins Schweben gebracht und in ihrer prinzipiellen Unzulänglichkeit sichtbar gemacht beziehungsweise sichtbar gehalten wird.
Diese Spannung ließe sich kenntlich machen, indem man zwischen ›Systemphilosophie‹ und ›systematischem Philosophieren‹ unterscheidet. Die Entfaltung von Möglichkeiten und Kombinationen, die Musil vorschwebt, soll durchaus systematisch erfolgen – um dieserart dem Entfaltungsdefizit des Aphoristisch-Fragmentarischen zu entkommen –, jedoch ohne Systemanspruch bzw. gerade in Abgrenzung zum System. Das heißt, der menschliche Geist bedarf des Systematischen, jedoch gilt – und hier sind Schlegel und Musil wiederum auch mit Nietzsche auf einer Linie –, dass das Leben, dass die menschliche Wirklichkeit das zu enge Korsett eines von der menschlichen Vernunft erdachten und erdenkbaren Systems grundsätzlich sprengt.
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Der Mann ohne Eigenschaften als Philosophie der Möglichkeit Genau in dem oben explizierten Sinne soll hier Musils Roman als der Versuch verstanden werden, Philosophie als Möglichkeit zu realisieren. Die Romanform eignet sich auf mehreren Ebenen für die Umsetzung des Projekts einer Philosophie im Modus der Möglichkeit. Zunächst einmal bietet der Roman Musil einen Rahmen, der Möglichkeit als Wirklichkeit setzt. Der narrative Rahmen des Romans lässt eine romaninterne Wirklichkeit entstehen, die sich im Verhältnis zur romanexternen Wirklichkeit als Möglichkeit präsentiert, jedoch romanintern eine eigene Wirklichkeit konstituiert. 35 In Abgrenzung zum traditionellen philosophischen Text ist hierdurch bereits eine erste Brechung zwischengeschaltet, die den im Roman systematisch entwickelten Möglichkeiten und »Combinationen« das Restriktive und Dogmatische einer positiv-affirmativen Mitteilung nimmt. Was im Roman an Ideen oder Überlegungen entfaltet wird, kann und soll nicht im gleichen Sinne Gültigkeit beanspruchen wie Aussagen in einem philosophischen Text. Der eigentliche Kunstgriff Musils aber ist die Überführung dieser romaninternen Wirklichkeit, die im Verhältnis zur romanexternen Wirklichkeit bereits den Status einer Möglichkeit hat, in den Modus der Ironie. Hierdurch wird auch die romaninterne Wirklichkeit ihrerseits wieder gebrochen und damit die Vermöglichung potenziert. Durch diese doppelte Vermöglichung – die romaninterne Wirklichkeit als Möglichkeit im Verhältnis zur romanexternen Realität verbunden mit der Transponierung der romaninternen Wirklichkeit in den Modus der Ironie – entsteht eine Art »Schweben« (um dieses frühromantische Bild zu verwenden), 36 in welchem und durch welches alle Ideen, Konzepte und Reflexionen gleichsam stets ihren eigenen Vorbehalt und ihre eigene Unzulänglichkeit mit sich tragen. Das Gewalttätige der affirmativ-positiven Aussage wird unterlaufen durch die ironisch-literarische Gesamtstruktur, die jede positive Aussage relativiert und dadurch fraglich hält. In diesen Schwebemodus gehoben wird der Roman dabei auf der narrativen Ebene, wobei letztlich hierdurch die Gesamtstruktur
Vgl. Horn (1981), S. 18 ff. Vgl. Schlegel (1975), S. 100, wo er für die Transzendentalpoesie die folgende Bestimmung gibt: »Ihr Wesen aber besteht eben in dem schwebenden Wechsel, in dem ewigen Suchen und nie ganz finden können; daß unserer Wißbegierde immer etwas gegeben wird, aber immer noch weit mehr zurückzubleiben scheint[.]«
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affiziert wird. Die Überführung in den Modus des Schwebens oder der Ironie vollzieht sich anhand eines Alternierens von Positivität und Negativität, durch welches sich der Text der Verbindlichkeit entzieht, ohne jedoch beliebig zu werden. Um die diesem Schwebeeffekt zugrundeliegende Erzähltechnik zu illustrieren, sollen hier zwei Beispiele angeführt werden. Beide entstammen dem Eingangskapitel und haben von daher besonderes Gewicht in Bezug auf die Erzeugung der narrativen Tonalität. Sie veranschaulichen die Interaktion von Positivität und Negativität beziehungsweise, im Sinne Schlegels, von Enthusiasmus und Ironie in paradigmatischer Weise. Im ersten Beispiel heißt es: Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden […]. An diesem Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen. Die Augen öffnend, würde er das gleiche an der Art bemerken, wie die Bewegung in den Straßen schwingt, bei weitem früher als er es durch irgendeine bezeichnende Einzelheit herausfände. Und wenn er sich, das zu können, nur einbilden sollte, schadet es auch nichts. 37
Der Abschnitt beginnt mit der positiven Aussage des Erzählers, dass man Städte an ihrer charakteristischen Klangkulisse und ihrem charakteristischen »Gang« erkennen könne. Diese Beobachtung wirkt zunächst plausibel, ja in einem Sinne reizvoll, und sie wird wohl nicht wenige Leser dazu verleiten, sie mit Empfindungen aus einer eigenen Erfahrungswelt zu vergleichen. Nicht weniger Leser wäre sicher geneigt, dieser Beobachtung zuzustimmen. Jede Stadt hat ihr eigenes Flair, ihren besonderen Charme, irgendetwas Charakteristisches, woran sie sich ›mit verbundenen Augen‹ erkennen lässt. Aber kaum dass der Leser seine Gedanken dieser Idee hat folgen lassen, ist er mit einer erzählerischen Gegenbewegung konfrontiert: Denn diese positive Aussage wird zu Ende der Passage unterlaufen durch die Hinzufügung, dass es auch durchaus möglich sei, dass es sich bei dem Eindruck, man könne eine Stadt an derartigen Charakteristika erkennen, nur um Einbildung handle, was aber auch »nichts schade«. Mithin bleibt dieser Abschnitt eine Antwort schuldig auf die Frage, ob denn nun tatsächlich eine Stadt an ihrem Gang oder Klang erkennbar ist. 37
Musil, MoE, S. 9.
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Darüber hinaus wird der Leser, sofern er der Beobachtung des Erzählers zuzustimmen geneigt war, durch die ironische Wendung dazu gebracht, sich seine eigenen (Vor-)Urteils- und Bewertungsstrukturen bewusst zu machen und diese zu hinterfragen. Das zweite Beispiel strukturrelevanter Ironie folgt im Roman direkt im Anschluss. Dort wird eine Straßenszene beschrieben, in der zwei Personen vorgestellt werden, zu denen der Erzähler Folgendes ausführt: Sie gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren vornehm in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie miteinander sprachen […]. Angenommen, sie würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen, was aber nicht stimmt, denn Frau Tuzzi befand sich im August in Begleitung ihres Gatten in Bad Aussee und Dr. Arnheim noch in Konstantinopel, so steht man vor dem Rätsel, wer sie seien. 38
Ein genauer Blick auf diese Passage macht deutlich, dass der Inhalt sich gleichsam selbst aufhebt, jedoch derart, dass im Ergebnis das Gesagte nicht völlig vernichtet ist, sondern in geheimnisvoll-ambivalenter Weise gegenwärtig bleibt. Zunächst führt der Erzähler Figuren ein, einen gewissen Arnheim und eine Ermelinda Tuzzi, jedoch bereits hypothetisch, im Konjunktiv: »Angenommen … sie würden heißen« 39. Diese behutsame Einführung wird jedoch sogleich wieder in der Enthüllung dieser Möglichkeit als Unmöglichkeit gebrochen –, um dann in einer letzten Wendung zu betonen, dass wir vor einem Rätsel stünden in Bezug auf die Frage, wer diese Personen denn nun tatsächlich seien. Noch stärker als im ersten Beispiel offenbart sich hier ein spielerisches Oszillieren der Erzählung zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit, das den manifesten Aussagegehalt untergräbt, aber nicht vernichtet und dadurch gleichsam einen Möglichkeitshorizont entwirft, der etwas Schwebendes, Hypothetisches und Ungewisses hat. Man könnte sagen, dass der Erzähler hier narrativ vorführt, was im methodisch grundlegenden Kapitel 4 schließlich theoretisch eingeholt wird, nämlich was es bedeutet, über Möglichkeitssinn zu verfügen. Grundlegendes Merkmal dieses Möglichkeitssinns ist es, bei allem, was geschieht und bei allem, was wir interpretieren, immer
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Ibid., S. 10. Meine Hervorhebung, S. H.
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mitzudenken, dass alles auch völlig anders sein könnte. So heißt es im Roman: Wer [Möglichkeitssinn] besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. 40
Wenn der Erzähler diese Definition hier auch auf die Hauptfigur Ulrich bezieht, so bildet der Möglichkeitssinn letztlich die Grundlage für den Roman als ganzen. Die beiden zuvor zitierten Abschnitte illustrieren die narrativ-performative Dimension des Möglichkeitssinns, durch den die Erzählung insgesamt in den Modus der Möglichkeit transponiert wird, während zugleich die Forderung an den Leser gestellt wird, das ›Es könnte alles auch ganz anders sein‹ unablässig mitzudenken. Durch die Transposition in den Modus der Möglichkeit schwingt im Text sinnkonstitutiv eine ironische Skepsis und Nichtfestgelegtheit mit, die auf die zentralen Konzepte, die sowohl narrativ als auch performativ entwickelt werden, abfärben und diese gleichsam konjunktivisch kontaminieren. Das gilt auch für jenes im Roman entfaltete Konzept, das dort unter dem Begriff des »anderen Zustands« firmiert und hier abschließend interessieren soll, insofern es die Diskussion zurück führt auf die für den Roman zentrale Frage des »rechten Lebens«. Dieser »andere Zustand« darf nicht als die Antwort verstanden werden, die Musil im Roman auf die Frage des rechten Lebens gibt. Denn genau hier entfaltet das methodologische Rüstzeug des narrativ-ironischen Rahmens seine Bedeutung. Den Roman als Philosophie im Modus der Möglichkeit zu deuten, bedeutet nichts anderes, als auch den anderen Zustand unter dem Vorbehalt dessen zu rezipieren, dass alles auch anders sein könnte. Allein wenn er – wie sich paradox formulieren ließe – ironisch ernst genommen wird, wenn er der Neigung zum Affirmativen und zur Festschreibung entzogen wird, kann er als eine Antwort im Möglichkeitshorizont einer Vielzahl von Antworten beziehungsweise Antwortmöglichkeiten seine Plausibilität im Spannungsfeld von Affirmation und Negation entfalten. Die folgenden Überlegungen zum »anderen Zustand« sind 40
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entsprechend im Bewusstsein um die zuvor skizzierten Vorbehalte zu lesen.
Eigentlichkeit als Möglichkeit: Der »andere Zustand« Der »andere Zustand« ist also zu verstehen als ein Antwortversuch beziehungsweise ein Antwortversuch 41 im Rahmen des im Roman skizzierten Möglichkeitshorizonts, und er verweist auf eine quasimystische Erfahrung, in der sich die Beziehung von Mensch und Welt grundlegend verändert. Von jenen, die einen solchen mystischen Zustand erlebt haben, heißt es im Roman: Sie sprechen von einem überflutenden Glanz. Von einer unendlichen Weite, einem unendlichen Lichtreichtum. Von einer schwebenden »Einheit« aller Dinge und Seelenkräfte. […] Von Erkenntnissen, die so schnell sind, daß alles zugleich ist […]. Sie sprechen von einer ungeheuren Ruhe, die den Leidenschaften entrückt ist. Einem Stummwerden. Einem Verschwinden der Gedanken und Absichten. Einer Blindheit, in der sie klar sehen. 42
Bei diesen mystischen Erfahrungen handelt es sich dem Roman zufolge durchaus nicht um verlorene Möglichkeiten aus Erfahrungswelten vergangener Zeiten, die für den Menschen in der Moderne unzugänglich geworden wären, sondern Ulrich, dem diese Zeilen zugeschrieben werden, deutet an, dass ein solches Erleben auch in der Gegenwart noch als Möglichkeit existiert. In diesem Sinne fährt er fort: Der »andere Zustand« ist sicher auch der elaborierteste der im Roman skizzierten Antwortversuche. Insofern ist es auch nicht überraschend, dass er in der Rezeptionsgeschichte nicht selten als das gedeutet worden ist, worauf Musil hinauswill. Eine solche univoke Leseart jedoch wird der komplexen Methodologie nicht gerecht, die Musil ins Werk setzt. Hier kann man Parallelen sehen zur Rezeptionsgeschichte Søren Kierkegaards. Kierkegaard hat mit dem, was er als »indirekte Mitteilung« bezeichnet, eine sehr vergleichbare Methodologie entwickelt, die sich bei ihm wesentlich darin äußert, dass er auf Pseudonyme zurückgreift, die verschiedene philosophischreligiöse Thesen vertreten, und er hat immer wieder mit dem größten Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Aussagen der Pseudonyme nicht mit seinen eigenen Überzeugungen zu verwechseln und gleichzusetzen seien; vgl. Kierkegaard (1960). Diese durch die Pseudonyme in die Texte gebrachte Ambivalenz ist jedoch von der überwältigenden Mehrheit der Kierkegaard-Interpreten zuverlässig in eine widerspruchsfreie Eindeutigkeit überführt worden. 42 Musil, MoE, S. 753. 41
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Sind das nicht, wenn auch von der Schwierigkeit des Ausdrucks flimmernd verhüllt, dieselben Empfindungen, die man noch heute hat, wenn zufällig das Herz […] in jene utopischen Regionen gerät, die sich irgend- und nirgendwo zwischen einer unendlichen Zärtlichkeit und einer unendlichen Einsamkeit befinden?! 43
Der »andere Zustand« wird im Roman perspektivisch als jene Möglichkeit entwickelt, die am ehesten das Potential verkörpert, die Uneigentlichkeit des »Seinesgleichen geschieht« in positiver Weise hinter sich zu lassen. Positiv ist sie insofern als sie, anders als die ironisch-skeptische Haltung, die für Ulrich im ersten Teil des Romans charakteristisch ist, das heißt eine Haltung der Distanz, des Abwartens und des Noch-Nicht, wesentlich Affirmation ist. Der »andere Zustand« rückt in die Nähe einer authentischen, einer lebendigen Ethik, wie sie Ulrich im Roman folgendermaßen umreißt: Ich glaube, man kann mir tausendmal aus den geltenden Gründen beweisen, etwas sei gut oder schön, es wird mir gleichgültig bleiben, und ich werde mich einzig und allein nach dem Zeichen richten, ob mich seine Nähe steigen oder sinken macht. Ob ich davon zum Leben geweckt werde oder nicht. 44
Die Bedeutung der Lebendigkeit der Ethik betont Musil auch in seinem Tagebuch, wo er eine Differenzierung einführt zwischen dem Moralisten und dem Ethiker. Der Moralist ist demzufolge derjenige, der versucht, sittliche Verhaltensregeln aus einer logischen Ordnung abzuleiten, wodurch er in die Nähe des systemphilosophischen Gewalttäters rückt. Dagegen ist der Ethiker jemand, der authentische, neue ethische Erfahrungen macht. In einer etwas überraschenden, aber eloquenten Liste nennt Musil zur Illustration unter anderem folgende Namen: »Kung-fu-tse, Lao-tse, Christus und Christentum, Nietzsche, die Mystiker, die Essayisten«, zu denen er schreibt: Sie haben neue ethische Erkenntnisse. Sie sind andere Menschen. […] Sie sind die Lehrer des Menschen. Eine Lehre des Menschen gibt es nicht. Eine Ethik. 45
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Ibid. Ibid., S. 770. Musil (1983), S. 645.
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Dem Systematisch-Rational-Logischen der Moral steht also das Lebendige und Authentische des Ethischen gegenüber; die Idee eines »anderen Zustandes« gehört hier selbstverständlich in diesen Bereich des Ethischen. Freilich fehlen dieser systematischen Einordnung in Moralisten und Ethiker, wie Musil sie im Tagebuch notiert, jene Ironie und Ambivalenz, die allein einer Philosophie der Möglichkeit gemäß sind, das heißt, es fehlt das in der Kategorisierung mitgedachte »Es könnte immer auch anders sein«. Bezeichnenderweise findet sich dieses dagegen an einer Stelle im Roman, in der es um dieselbe Thematik einer lebendigen Ethik geht. Dort heißt es: Es hat nicht wenige solcher Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben […]; ihr Reich liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind Heilige mit und ohne Religion, und manchmal sind sie auch einfach nur Männer, die sich in einem Abenteuer verirrt haben. 46
Der Vergleich der Tagebuchnotiz mit dieser Romanpassage macht eindrücklich die Funktion der Ironie in ihrer methodologischen Relevanz deutlich, denn sie löst die Eindeutigkeit und damit die tendenzielle dogmatische Gewaltsamkeit der Affirmation auf und überführt sie in den Möglichkeitsraum. 47 Dem – positiven – Postulat, dass es nicht wenige solcher Essayisten oder Meister des schwebenden Lebens gegeben habe, die im Reich zwischen Religion und Wissen anzusiedeln sind, folgt umgehend die ironische Gegenbewegung in der Aussage, dass es letzten Endes auch sein könne, dass es sich lediglich um Menschen gehandelt habe, die sich »in einem Abenteuer verirrt haben«. Es bleibt immer die Ungewissheit, was es mit diesem Weg tatsächlich auf sich hat, ob er in eine neue Tiefe des Daseins führt Musil, MoE, S. 253 f. Vgl. auch Heydebrand (1966), S. 160. Dass sich Musil der Bedeutung des Wie der Darstellung für die ›Legitimität‹ einer Aussage hochgradig bewusst war, zeigt folgende Tagebuchnotiz: »Es ist entschieden, daß mich etwas von den literarischen Arbeiten zurückhält. Es ist das Bedürfnis nach Stil. Ich habe in der letzten Zeit zu viel Wert darauf gelegt, was ich sage. Es kommt aber ebenso sehr darauf an, wie man es sagt« (Musil (1983), S. 123). Das von ihm gesuchte Wie wiederum ist die Ironie, wie folgende Notiz illustriert: »Während der rund 10 hersteni Manuskripte zu den ersten 200 Seiten des M. o. E.: Die bedeutungsvolle Selbsterkenntnis, daß die mir gemäße Schreibweise die der Ironie sei. Gleichbedeutend mit dem Bruch mit dem Ideal der Schilderung überlebensgroßer Beispiele. […] Gleichbedeutend auch mit der Erkenntnis, daß ein Dichter nicht bis zum philosophischen System vordringen soll (u. kann)« (Musil (1983), S. 928).
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oder auf Abwege, auf »chemins qui mènenent nulle part« 48. Die Frage nach dem eigentlichen Selbstseinkönnen ist mit einer unhintergehbaren Ambivalenz konfrontiert, die bei einer Einteilung wie der in Moralisten und Ethiker immer mitzudenken ist. Es gibt eine Passage in Sören Kierkegaards Furcht und Zittern, die in ausgezeichneter Weise dieses Ambivalenzphänomen auf den Punkt bringt, in einem Abschnitt, in dem es um einen authentischen »Glaubensritter« geht. Dort heißt es: Die hingegen, welche das Kleinod des Glaubens tragen, täuschen leicht, dieweil ihr Äußeres eine auffallende Ähnlichkeit hat mit dem, was sowohl der unendlichen Resignation wie dem Glauben tief verächtlich ist – mit der Spießbürgerlichkeit. […] […] Wüßte ich […], wo solch ein Glaubensritter lebte, so würde ich, so wie ich steht und geh, mich auf den Weg zu ihm machen; denn mit diesem Wunder geb ich mich unbedingt ab. […] Wie gesagt, ich habe keinen solchen gefunden, immerhin kann ich ihn mir denken. Da ist er. Die Bekanntschaft wird gemacht, ich werde ihm vorgestellt. In dem Moment, wo ich ihn in Augenschein nehme, schüttle ich […] ihn von mir ab, tue selbst einen Sprung rückwärts, schlage die Hände zusammen und sage halblaut: »Herrgott! Das ist der Mensch, das ist er wirklich? Er sieht ja aus wie ein Rottmeister. 49
Genauso wie beim Glaubensritter kann man auch die wahren »Meister des innerlich schwebenden Lebens« nicht an Äußerlichkeiten erkennen. Die Frage, mit wem man es wirklich zu tun hat, ist immer ambivalent. Der Ethiker könnte der Moralist sein und der Moralist der Ethiker. Bezogen auf ein eigentliches Selbstsein im Mann ohne Eigenschaften wiederum gilt analog, dass das eigentliche Selbstsein sich nach außen hin als »Seinesgleichen geschieht« geben könnte, während Ulrich und seine Suche nach einer eigentlichen Art zu sein ein Beispiel sein könnte für einen Menschen, der sich in einem Abenteuer verirrt hat. Freilich zeichnet sich hinter dieser Ambivalenz zwischen Innen und Außen noch eine weitere, vielleicht noch grundlegendere ZweiSo lautet die Übersetzung von Martin Heideggers Aufsatzband Holzwege in der französischen Heidegger-Ausgabe, die in Bezug auf das Verständnis der Holzwege bei Heidegger problematisch, im vorliegenden Kontext jedoch durchaus passend ist. 49 Kierkegaard (1971), S. 47 f. Interessanterweise findet sich ein vergleichbarer Verweis auf eine solche Ambivalenz auch in buddhistischen Texten. So heißt es beispielsweise bei Vimalakirti: »You may dwell in a manner that retains your attainment while appearing in the marks of an ordinary being« (zitiert in Hisamatsu (2012), S. 64). 48
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deutigkeit ab – nämlich die Zweideutigkeit in der Idee des »rechten Lebens« selbst: Gibt es überhaupt so etwas wie ein eigentliches, authentisches Selbstsein? Wenn das Echte aussehen kann wie das Falsche, das Authentische wie das Unauthentische, der Glaubensritter sich wie ein Spießbürger verhält, dann würde ein Positivist – wie Peter Sloterdijk in Bezug auf Heideggers ähnlich gelagertes Eigentlichkeitspostulat betont 50 – schlicht behaupten, dass diese Differenz nicht existiert beziehungsweise diese Distinktion sinnlos ist. Wenn man auch diesen positivistischen Reduktionismus in Frage stellen kann, so lässt sich kaum leugnen, dass hier zumindest ein Problem der Sprache zu verorten ist, das heißt der sprachlichen Uneinholbarkeit unmittelbarer mystischer Erfahrung. 51 Es lässt sich darüber nichts Sinnvolles sagen, wie auch Ludwig Wittgenstein in seinen Vermischten Bemerkungen konstatiert. Dort findet sich folgende Reflexion zum »Problem des Lebens«: Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist dies nicht der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand.) 52
In diesem Sinne würde Musils Roman mit der Explizierung des »anderen Zustands« auf eine mögliche Möglichkeit der Existenz hinweisen, zu deren Wirklichkeit es keinen philosophischen Zugang geben kann und die auch literarisch nur in Form eines sich selbst negierenden Verweisens zugänglich ist, da sich die hier gemeinte Seinsweise als authentische Erfahrung der direkten sprachlichen Mitteilbarkeit entzieht. Sobald diese Authentizität zur Sprache kommt, ist sie unhintergehbar zweideutig. Musils Mann ohne Eigenschaften als Philosophie im Modus der Möglichkeit ist die bewusste Annahme dieser Zweideutigkeit. Musil versucht zu verweisen – und sollte dem Verweis etwas dem Sagbaren Entzogenes entsprechen, so wäre dieses wiederum nur im Schweigen. Man könnte hier an eine Parallele zur bekannten Wittgensteinschen Leiter-Metapher denken. Im Tractatus heißt es: Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie 50 51 52
Vgl. Sloterdijk (1983), S. 376 f. Vgl. hierzu Hüsch (2020). Wittgenstein (1984), S. 487.
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hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. 53
Musils Roman wäre in diesem Sinne dann zu verstehen als der Versuch, eine Leiter zu bauen, allerdings – anders als bei Wittgenstein und seinem Tractatus – nicht mit erkenntnistheoretischer Ausrichtung, sondern es geht ethisch-praktisch um die Frage des rechten Lebens. Seine Aufgabe erfüllt hätte der Mann ohne Eigenschaften als Roman dann, wenn er sich selbst überflüssig gemacht hätte, wenn der Leser gleichsam ›durch‹ ihn – ›auf‹ ihm – ›über‹ ihn hinausgestiegen ist. Das allerdings ist wiederum nur eine Möglichkeit, ebenso wäre denkbar, dass jener Essayist, der zugleich der Autor des Mannes ohne Eigenschaften ist, einer jener Heiligen mit oder ohne Religion ist, die sich in einem Abenteuer verirrt haben.
Fazit Der Ausgangspunkt dieses Beitrags war, dass Musil die Grundidee Nietzsches übernimmt, wonach es unter den Erkenntnisbedingungen der Moderne nicht mehr möglich ist, nach einer universellen, rational zugänglichen, transzendent verankerten Wahrheit zu suchen. Die unhintergehbare Kontingenz unseres Erkenntnisstandpunktes lässt dies nicht mehr zu. Statt dieser einen, universellen, rational erschließbaren Wahrheit stehen wir jetzt einer Vielzahl von – perspektivisch-kontingenten – Wahrheiten gegenüber. Nietzsches Schriften illustrieren, wie derartige perspektivisch eingeholte Wahrheiten philosophisch fruchtbar gemacht werden können. Freilich tut er dies unter Beschränkung auf fragmentarisch-aphoristische Skizzen, was ihm von Musil den Vorwurf einträgt, dass bei dieser Form perspektivistischer Reflexion der wahre Wert dieser möglichen Wahrheiten nicht erkennbar werde. Insofern Musils Interesse weniger (wie bei Nietzsche) erkenntnistheoretisch als vielmehr ethisch ist, scheint es ihm unverzichtbar, über die fragmentarisch-aphoristische Skizzenhaftigkeit Nietzsches hinauszugehen. Im Einklang mit Friedrich Schlegel erblickt Musil im Roman eine Ausdrucksform, die geeignet ist, Möglichkeiten systematisch zu entwickeln, jedoch in ihrer Reichweite zu relativieren. Die Verbindung der literarischen Form mit der Brechung 53
Wittgenstein (1963), 6.54.
242 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
»Es könnte wahrscheinlich auch anders sein«
durch eine methodologisch fungierende Ironie dient Musil gleichsam als ›Kontingenzgarant‹ und als Absicherung gegen ein sich in sich selbst verschließendes affirmatives Denken. Die narrative Struktur, die Musil im Mann ohne Eigenschaften etabliert, entspricht dabei der Forderung Schlegels, Ideen im Spannungsfeld von Enthusiasmus und Ironie zum Schweben zu bringen. Auf diese Weise wird auch jene andere Forderung Schlegels eingelöst, dass man das System-Haben mit dem Kein-System-Haben verbinden müsse. Der literarisch-ironische Essayismus Musils schreitet auf diesem Weg fort, insbesondere mit der Entfaltung der Idee des »anderen Zustands«. Dieser wird aus verschiedensten Perspektiven umkreist und erscheint als ein ambivalenter Fluchtpunkt, auf den der Roman zuläuft und der Musil an die Grenzen der Darstellbarkeit führt. Sollte dieser andere Zustand tatsächlich einer authentischen Art des Selbstseins entsprechen, so entzieht sich diese letztlich der Sagbarkeit. Die Musilsche Methode erlaubt es aber zumindest, diesen Fluchtpunkt als Möglichkeit in den Horizont zu bekommen, beziehungsweise, um eine Wittgensteinsche Begrifflichkeit zu verwenden: Musil gelingt es, auf diese Möglichkeit zu verweisen, und zwar als einer Möglichkeit, die sich als Wirklichkeit der sprachlichen Einholung vollständig entzöge. Wenn Musil seinen Ausgangspunkt bei Nietzsches Perspektivismus nimmt, dann führt die im »anderen Zustand« angedeutete Perspektive einer neuen Mystik selbstverständlich deutlich über Nietzsche hinaus. Dabei bleibt diese jedoch durch den kontingenten Perspektivismus gedeckt – der Garant dafür ist der Rückgriff auf die Literatur und ihr Potential als Philosophie im Modus der Möglichkeit.
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»Es könnte wahrscheinlich auch anders sein« Sloterdijk, Peter (1983): Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Vatan, Florence (2000): Robert Musil et la question anthropologique. Paris: Presses Universitaires de France. Wittgenstein, Ludwig (1963): Tractatus logico-philosophicus: Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig (1984): Vermischte Bemerkungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Michael G. Festl
Das Ende der Intersubjektivität? Wissenschaft, Literatur und Transformative Erfahrungen
Transformative Erfahrungen Erfahrungen machen wir andauernd: wenn wir spazieren gehen oder ein Nickerchen halten, wenn wir eine Tasse Tee trinken oder uns eine Nachspeise gönnen, wenn wir Vertrauen aufbauen oder zerstören, wenn wir Spaghetti kochen oder Liebe machen. Doch neben diesen ›gewöhnlichen Erfahrungen‹, wie ich sie nennen möchte, existieren auch ›transformative Erfahrungen‹. Letztere machen wir nur selten, ein paar Mal im Leben vielleicht. Und doch sind es diese Erfahrungen, die unser Leben radikal verändern, es transformieren. Sie ändern nämlich die Art, wie wir Erfahrungen wahrnehmen und bewerten. Gewöhnliche Erfahrungen können angenehm oder unangenehm sein, sehr angenehm oder sehr unangenehm sogar, aber sie ändern nicht die Art, wie wir Erfahrungen grundsätzlich bewerten, sprich, welche Erfahrung wir mit welcher Wahrscheinlichkeit wie einschätzen, ob wir beispielsweise Rindersteaks überhaupt genießen oder nicht, ob wir sie überhaupt probieren wollen oder nicht. Eine transformative Erfahrung hingegen verändert unsere Beurteilung von Erfahrungen. Sie bringt uns dazu, Erfahrungen von nun an anders, vielleicht gar ganz anders zu bewerten. Zweifelsohne sind hierbei Grade der Transformation zu unterscheiden, wobei meine Beispiele im Folgenden in Richtung stark transformativer Erfahrungen tendieren. Mit der Unterscheidung zwischen gewöhnlichen und transformativen Erfahrungen betritt die Philosophie kein Neuland. Schon der Begründer des amerikanischen Pragmatismus William James (1842–1910), um nur ein Beispiel zu nennen, behauptet, dass es Erfahrungen gibt, die unseren Charakter ändern. Außerdem sagt er, dass das, was viele Menschen als religiöse Erleuchtung oder Eingebung beschreiben, besser als eine solch transformative Erfahrung zu
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Das Ende der Intersubjektivität?
deuten wäre/sei. 1 Die Philosophin und Kognitionswissenschaftlerin Laurie Paul hat die Unterscheidung zwischen gewöhnlichen und transformativen Erfahrungen in einem vielbeachteten Paper aus dem Jahre 2015 aufgenommen und auf ihr basierend ein Argument gegen ›Rational Choice‹–Theorien entwickelt. 2 Diesem Argument und seinen weiteren, von Paul nicht beleuchteten, Implikationen wende ich mich im Folgenden zu. Pauls Beispiel ist die Absicht, Mutter zu werden. ›Rational Choice‹–Theorien (kurz: RCT), so verbreitet sie auch sein mögen, sind nicht in der Lage, so legt Paul dar, uns bei solchen potentiell transformativen Entscheidungen weiterzuhelfen. Für die wirklich entscheidenden Dinge im Leben – darunter die Frage, ob ich Mutter werden möchte oder nicht – tauge die Theorie rationaler Entscheidungen nicht. Der Grund sei, dass RCT, also Theorien, die durch Abwägen von Kosten und Nutzen zu Entscheidungen gelangen, darauf beruhen, mögliche Entscheidungen mit Nutzenwerten zu versehen und dann derjenigen Entscheidung den Vorzug zu geben, die gemäß Erwartung den meisten Nutzen generieren wird. Fragt man sich, ob man zum ersten Mal im Leben Mutter werden möchte oder nicht, empfiehlt RCT, dem Leben als Mutter einen bestimmten Nutzenwert zuzuordnen und diesen Nutzenwert mit demjenigen zu vergleichen, den man dem Leben ohne Kind zuordnet. Der höhere Wert gewinnt. 3 Aber, so Pauls Einwand, ist man kinderlos, ist man doch gar nicht ernsthaft in der Lage, dem Leben mit Kind einen Wert zuzuordnen. Solange man kinderlos ist, habe man keine adäquate Vorstellung davon, wie das Leben mit einem Kind sein werde, ganz zu schweigen von einer Einschätzung, wie man die Erfahrungen bewertet, die ein Leben als Mutter beinhaltet. Mit anderen Worten stellt das Mutterwerden ein klassisches Beispiel für eine transformative Erfahrung dar. Es ist wohl gar, so würde ich hinzufügen, die »Mutter« dieser Art von Erfahrungen. Das Muttersein ändert, in Pauls Terminologie, das Präferenzset einer Person. 4 Es ändert den Apparat, mit dem Menschen Erfahrungen bewerten. Vor diesem Wandel des Apparats verfüge man nicht über die Informationen, um auch nur ungefähr abschätzen zu können, wie das neue Ich – das Ich, das von der Erfahrung des 1 2 3 4
Vgl. James (1956). Vgl. Paul (2015), S. 1–23. Vgl. ibid., S. 2. Vgl. ibid., S. 8.
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Michael G. Festl
Mutterseins geprägt ist – die Erfahrung des Mutterseins einschätzen wird. Paul fügt hinzu, dass auch der Kontakt zu einer Nichte oder einem Neffen nicht weiterhilft. Spielen, Kinder ins Bett bringen und Windeln wechseln könnten sich mit dem Neffen oder der Nichte ganz anders anfühlen als mit dem Sohn oder der Tochter. Folglich sei es sinnlos, mittels RCT herausfinden zu wollen, ob man Mutter werden möchte oder nicht. 5 Dies gelte auch für den Fall, dass das Mutterwerden die angehende Mutter in ihrer Art, Erfahrungen zu bewerten, nicht verändert, da man ja im Vorhinein nicht weiß, dass es sich so verhalten wird. RCT hilft also bereits dann nicht weiter, wenn es lediglich um potentiell transformative Erfahrungen geht. Darüber hinaus kann es natürlich wiederum passieren, dass sich eine Erfahrung, die man im Vorhinein als banal einstuft, als transformativ entpuppt. Aber wir wollen die Sache nicht unnötig verkomplizieren, solange der Gegenstand als solcher deutlich geworden ist. Mit Paul bin ich davon überzeugt, dass transformative Erfahrungen in dem von ihr beschriebenen Sinne tatsächlich existieren. Ich will auch nicht in Frage stellen, dass das Mutterwerden (das Vaterwerden ist natürlich mitgedacht) als potentiell transformative Erfahrung zu gelten hat. (Bevor ich vier Kinder hatte, habe ich einen ruhigen Nachmittag ganz anders eingeschätzt als heute, nämlich als langweilig. Heute liebe ich den ruhigen Nachmittag, auch wenn ich mir nicht mehr ganz sicher bin, ob er vielleicht nur so etwas ist wie das Monster von Loch Ness, das heißt etwas, von dem man nicht genau weiß, ob es tatsächlich existiert.) Darüber hinaus liegt es mir fern, RCT gegen Pauls Angriff verteidigen zu wollen. Wichtig aber ist mir der Hinweis, dass, wenn Paul richtig damit liegt, dass wir im Vorhinein tatsächlich keinerlei Zugang zur Bewertung von Erfahrungen haben, die potentiell transformativ sind, wir nicht nur RCT Lebewohl sagen bzw. dessen Geltungsbereich drastisch einschränken müssen, sondern dann auch andere Begriffe über Bord zu werfen gezwungen sind. Das gilt ganz besonders für den Begriff der Intersubjektivität. Warum ist das so?
5
Vgl. ibid., S. 13.
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Das Ende der Intersubjektivität?
Transformative Erfahrungen und Intersubjektivität Der Begriff ›Intersubjektivität‹ spielte lange Zeit keine herausragende Rolle in der Philosophie. Das ist heute anders. Seine Karriere ist eine »vom-Tellerwäscher-zum-Millionär«-Story, nur dass eben nicht in Geldeinheiten, sondern in schriftlichen Erwähnungen gemessen wird. Im 18. Jahrhundert, in der schottischen Common-Sense-Philosophie Thomas Reids, meint Intersubjektivität nichts weiter als das übereinstimmende Sich-Beziehen auf ein gemeinsames Objekt. Intersubjektivität liegt vor, wenn zwei Personen ein Objekt auf identische Weise wahrnehmen. 6 Folglich hat man es bei Intersubjektivität hier noch mit einem Spezialbegriff innerhalb der Wahrnehmungstheorie zu tun, einem Nischenbegriff also. Dagegen ist der Begriff heute grundlegend für eine bestimmte Art zu philosophieren, ja sogar, so behaupten manche, grundlegend für die dominierende Art zu philosophieren. Voraussetzung hierfür war der Fall der großen moralphilosophischen und erkenntnistheoretischen Systeme, wie sie im Anschluss an – und noch öfter in Abgrenzung von – Descartes gebildet wurden. Nachdem, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die meisten Philosophinnen und Philosophen heute nicht mehr davon ausgehen, dass wir eine feste, absolute Grundlage für Moral und/oder Wissen finden können, sucht und benötigt die Philosophie dennoch so etwas wie eine Vorstellung, wie man »gut« und »böse«, »richtig« und »falsch« rational begründen kann. Eine einflussreiche Darlegung dieses Sachverhalts ist, dass Moral und Wissen, aber auch beispielsweise das Recht, zwar menschgemacht sind, deshalb aber nicht als willkürlich zu gelten haben, sondern nichtsdestotrotz als objektiv beurteilbar gelten können. Menschgemacht und dennoch objektiv beurteilbar ist das Motto dieser Philosophie. Innerhalb dieses Vorstellungsrahmens wird Intersubjektivität auf zweierlei Weise zum Kernbegriff. Zum einen lässt sich bezüglich des Inhalts, mit dem wir Moral, Wissen und Recht füllen, argumentieren, dass diese Inhalte sich bewährt haben, weil sie sich intersubjektiv, also im Zusammenleben der Menschen miteinander und ihrem Austausch untereinander, als funktionierend erwiesen haben. Wir blicken hier also zurück auf die Genealogie dieser menschgemachten Inhalte. Zum anderen ist der Begriff der Intersubjektivität attraktiv, wenn es um die Geltung dieser Inhalte geht, wenn 6
Vgl. Reid (1983), S. 3–11.
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Michael G. Festl
wir also nach vorne blicken und uns fragen, welche Inhalte es sind, die wir anderen gegenüber rechtfertigen können. Dies ist nicht zuletzt wichtig, wenn wir vor der Herausforderung stehen, die Ansprüche von Gruppen zu berücksichtigen, die bisher nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt waren, wir also dazu gezwungen sind, unsere Normen zu ändern, sie etwa zu erweitern. Intersubjektivität bezeichnet also nicht mehr nur, wie noch bei Reid, die Übereinstimmung von zwei oder mehr Personen in Bezug auf die Wahrnehmung einer Sache, sondern das Einvernehmen verschiedener Personen zum Beispiel in Bezug auf Moral, Erkenntnis oder das Recht. In dem beschriebenen zweifachen Sinne stellt der Begriff der Intersubjektivität heute die Basis vieler zeitgenössischer philosophischer Theorien dar, darunter jene solch prominenter Vertreter der Disziplin wie Robert Brandom 7 und Jürgen Habermas 8. Nicht umsonst sprechen einige Autorinnen und Autoren von einer intersubjektiven Wende 9 der Philosophie, wenn sie die zentrale Bewegung der letzten Jahrzehnte, gar des letzten Jahrhunderts innerhalb der Philosophie beschreiben möchten. Der Begriff der Intersubjektivität ist zentral für viele philosophische Programme. Den Intersubjektivitätsbegriff zu desavouieren hätte weitreichende Konsequenzen für die Disziplin Philosophie – nicht nur, worauf sich Paul konzentriert, für die RCT. Hätte Paul uneingeschränkt recht, so will ich mit Paul über Paul hinaus argumentieren, wären Philosophien, die auf dem Begriff der Intersubjektivität bauen, nicht mehr haltbar. Intersubjektivität, wie ich den Begriff erklärt habe, setzt voraus, dass Menschen in der Lage sind, ihre Gedanken, ihre Interessen, ihr Wissen mit anderen in Einklang zu bringen. Um zu wissen, was ich intersubjektiv rechtfertigen kann, muss ich wissen, wie andere Menschen, mit vielleicht gänzlich anderem Hintergrund, Dinge sehen, die sie und mich betreffen. Ich muss mich in andere Personen hineinversetzen können, ihren »Hut aufsetzen«, ihre Sicht der Dinge einnehmen, ja sogar meine Interessen an die ihrigen anpassen können, nach Ausgleich suchen. Ich habe es also mit anderen Menschen zu tun, und das kann heißen, mit Menschen, die, in Pauls
Vgl. Brandom (1994). Vgl. Habermas (1981). 9 Vgl. ausführlich zur Bedeutung der Intersubjektivität heute Festl (2015), S. 175– 188. 7 8
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Das Ende der Intersubjektivität?
Sprache, eine andere Art von Sensorium haben, mit dem sie Erfahrungen bewerten. Doch Paul argumentiert, dass es gänzlich unmöglich ist, sich in sein eigenes zukünftiges Selbst hineinzuversetzen – ›ich mit Kind‹, anstatt ›ich ohne Kind‹. Aber wenn dies unmöglich ist, ist es dann nicht erst recht unmöglich, mich in eine andere Person hineinzuversetzen? Ich denke schon. Um wie viel schwerer muss es mir als Kinderlose(m), um in Pauls Beispiel zu bleiben, fallen, mich in eine andere Person hineinzuversetzen, die Kinder hat, eine andere Person, die eben nicht einmal mein zukünftiges Ich ist, sondern, wie gesagt, ein anderer Mensch, schon jetzt! Wer sein künftiges Ich nicht annähernd verstehen kann, ist doch erst recht nicht in der Lage, andere Menschen zu verstehen. Eine solche Kommunikation wäre mit Paul möglicherweise von Mutter zu Mutter, die einen gemeinsamen Erfahrungshorizont teilen, denkbar, zwischen Nicht-Mutter und Mutter allerdings kaum. Genau auf diese Fähigkeiten des Sich-Hinein-Versetzen-Könnens in Andere – eine Fähigkeit, die Paul uns weitgehend abspricht – ist unsere Welt jedoch angewiesen. Wir müssen intersubjektiv denken und handeln können, das behauptet die Philosophie. Nehmen wir nur das Beispiel der riesigen und daher weitgehend anonymen Nationalstaaten. Damit diese funktionieren – und manche funktionieren ja tatsächlich ganz leidlich –, müssen die Bürger in der Lage sein, Entscheidungen nicht nur aus der eigenen egoistischen Sicht zu beurteilen, sondern sich darüber hinaus fragen, was gut oder zumindest gut genug für andere ist. Ich muss mich in die Lage meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger versetzen können, wenn ich kompetent wählen möchte. Darauf ist das Funktionieren moderner Demokratien gebaut. Mehr noch, ich muss in der Lage sein, mich in eine abstrakte Person hineinzuversetzen, nicht nur in einen konkreten anderen Bürger, denn ich muss mich fragen können, was für uns alle am besten ist, und das ist vielleicht etwas, das für niemanden in concreto das Beste ist, sondern für alle in abstracto – ein noch höherer Grad des SichHinein-Versetzens-in-Andere, ein noch höherer Grad der Intersubjektivität also. Doch gemäß Paul scheitern wir Menschen schon an der ersten Hürde, nämlich daran, unser zukünftiges, durch noch zu machende Erfahrungen potentiell transformiertes Selbst zu beurteilen. Hier sollte man aber m. E. nicht mit Paul mitgehen. Die Alltagserfahrung scheint mir ihrer Annahme zu stark zu widersprechen. Also müssen wir erklären, dass und warum es nicht so ist. Ich glaube also, 251 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Michael G. Festl
dass wir Menschen besser darin sind, Erfahrungen zu evaluieren, die wir selbst noch nie gemacht haben, als Paul uns glauben machen will. Die Frage lautet, warum das so ist.
Transformative Erfahrungen und Wissenschaft Eine erste Antwort auf die Frage, woher unsere Kompetenzen im Sich-Hinein-Versetzen-in-Andere kommen, könnte darin liegen, dass wir alle Bezug zur Wissenschaft haben – zumindest indirekt über die Geräte, die wir täglich benutzen und hinter denen sich ein ganzer Komplex wissenschaftlicher Erkenntnisse verbirgt, vor allem natürlich das Handy. Immerhin ist die Wissenschaft doch allgemein anerkannt als »Krone des Wissens«. Warum also nicht auch des Wissens darum, wie andere sich fühlen, wie andere etwas bewerten? Kehren wir also zurück zu Pauls Beispiel, denn auch Paul interessiert sich in diesem Zusammenhang für die Wissenschaft. Fragen wir mit Paul nach einem möglichen wissenschaftlichen Ansatz, um zu entscheiden, ob ich Mutter (oder Vater) werden möchte oder nicht. Theoretikerinnen und Theoretiker, die glauben, dass die Wissenschaft dieses Problem lösen kann – und ich lasse dahin gestellt, ob es solche wirklich gibt (falls ja, haben sie vermutlich keine Kinder) – müssten annehmen, dass alle Erfahrungen, die das Muttersein mit sich bringt, auf Fakten über das Muttersein reduziert werden können. Eine möglichst vollständige Kenntnis dieser Fakten erlaube es Menschen, zumindest halbwegs zuverlässig abzuschätzen, wie sich mein künftiges Muttersein für mich anfühlen wird. Man könnte seine Abwägung auf statistische Daten über das Elternsein basieren, zum Beispiel die durchschnittliche Anzahl Kinder pro Frau, das Durchschnittsalter, wann Frauen Mutter werden. Darüber hinaus könnte man auf wissenschaftliche Messungen bauen, Daten aus dem MRI, die uns sagen, wie das Hirn von Müttern und Vätern auf Babys reagiert und welche Folgen dies hat. Biologische Daten ließen sich heranziehen, Informationen über den Hormonhaushalt von Menschen bevor und nachdem sie Eltern wurden. Zur Vereinfachung stellen wir uns einfach vor, dass alles adressiert werden könnte, was in irgendeiner Weise relevant und wissenschaftlich mess- und erhebbar ist. Es ergäbe sich eine große Menge an Faktenmaterial, wie schnell klar wird. Verteidiger des wissenschaftlichen Ansatzes, um transformative Erfahrungen einzuschätzen, würden argumentieren, dass, wenn nur all diese Daten 252 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Das Ende der Intersubjektivität?
vorlägen, es möglich wäre, mit ziemlich hoher Verlässlichkeit abzuschätzen, ob es besser für mich ist, ein Kind zu bekommen oder nicht. Auch unterhalb des Ideals vollständigen Wissens gelte dann: Je mehr ich an Fakten zusammentrage, umso verlässlicher wird meine Abschätzung werden, ob es besser für mich ist, Kinder zu bekommen oder nicht. Aber Paul, die sich ausführlich mit diesem Argument beschäftigt, weist die wissenschaftliche Herangehensweise an ihr Problem zurück. Sie argumentiert, dass Elternsein eine Art von Wissen darstellt, die »Wie-es-ist-Wissen« zu nennen ist (»what it’s like knowledge«), und diese Art von Wissen könne nur mittels Erfahrung gewonnen werden, »only be had via experience« 10. Dabei verweist Paul auf ein Gedankenexperiment Frank Jacksons. Dieses handelt von einem Mädchen namens Mary. Mary verbringt ihr gesamtes Leben in einer schwarz-weißen Zelle, weiß also nicht, wie es ist, Farben wahrzunehmen. Doch in ihrer Zelle wird sie zu einer brillanten Neurowissenschaftlerin ausgebildet, die theoretisch unter anderem alles über Wahrnehmung gelernt hat. Dennoch, so paraphrasiert Paul Jacksons Experiment, egal, wie viele Fakten Mary, die Super-Neurowissenschaftlerin, über Wahrnehmung und vor allem natürlich über die Wahrnehmung von Farbe anhäuft, sie wird sich daraus keine Vorstellung darüber bilden können, wie es ist, Farbe auch wirklich zu sehen. 11 Nur das Sehen von Farbe selbst könne Abhilfe verschaffen. Farbe sehen ist »wie-es-ist-Wissen«, das heißt, man muss es selbst erleben. Paul entwickelt Jacksons Argument weiter, um zu zeigen, dass damit erst recht gilt, dass Mary nicht wissen kann, wie sie das Sehen von Farbe bewerten würde. Mary, in ihrer schwarz-weißen Zelle, könne nicht wissen, ob ihr Leben besser oder schlechter werden würde, wenn sie auf einmal Farben sehen könnte. Sie muss es selbst erleben, um sich ein Urteil bilden zu können. Vielleicht wäre sie vom Sehen von Farbe ja geschockt, so mutmaßt Paul. Oder würde es ihr gefallen? Bevor Mary ihre Zelle verlässt, kann sie es nicht wissen. 12 Identisches gelte für jemanden, der sich fragt, wie es wäre, Kinder zu bekommen. »A person who is choosing whether to become a parent,
10 11 12
Paul (2015), S. 6. Ibid., S. 6. Ibid., S. 7.
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Michael G. Festl
before she has a child, is in an epistemic situation just like that of black-and-white Mary before she leaves her cell.« 13 Ich stimme Paul zu, dass der wissenschaftlich-reduktive Ansatz nicht funktioniert, um im Vorhinein einzuschätzen, ob die potentiell transformative Erfahrung, Kinder zu bekommen, mein Leben verbessern wird oder nicht. Allerdings führt Paul Jacksons Gedankenexperiment nur als Beleg dafür ein, dass »wie-es-ist-Wissen« eine Klasse von Wissen darstellt, welches die Wissenschaft nicht aufschlüsseln und in Form empirischer Daten ausdrücken kann. Sie untersucht nicht, warum dies gerade für transformative Erfahrungen gilt, außer zu sagen, dass transformative Erfahrungen eine Form qualitativen Wissens darstellen. Ich möchte an dieser Stelle genauer hinsehen, und das ebnet mir in der Folge den Weg, meinen alternativen Ansatz zum Umgang mit transformativen Erfahrungen darzulegen. Dazu identifiziere ich zunächst die Elemente, aus denen Pauls Argument besteht, dass nämlich die Art, wie potentiell transformative Erfahrungen die Präferenzen von Menschen beeinflussen, im Vorhinein nicht einzuschätzen sind. Das wiederum wird ergeben, was ich (zugegeben, nicht gerade elegant) ein Präferenzen-Erfahrungen-Evaluierungs-Modell nenne. Paul argumentiert, dass Akteure den Wert einer für sie ›gewöhnlichen Erfahrung‹, etwa das Trinken einer Tasse Tee, verlässlich abschätzen können, schon bevor sie die betreffende Erfahrung gemacht haben. Schließlich basieren gewöhnliche Erfahrungen auf einer direkten Verbindung zwischen den Präferenzen der Akteurin oder des Akteurs, der (gewöhnlichen) Erfahrung, welche gemacht oder vermieden werden sollte, und der Evaluierung dieser Erfahrung durch die Akteurin bzw. den Akteur. Diese Verbindung weist folgende Gestalt auf: Dank früherer Erfahrungen und ihrer Beurteilung ist der Akteur über sein Set an Präferenzen (SP) im Bilde – er oder sie weiß, was ihm in der Vergangenheit gefiel und was nicht. Der Akteur sieht die Möglichkeit einer neuen Erfahrung (NE), und basierend auf seinem Wissen über sein existierendes Set an Präferenzen, schätzt er nun die Evaluierung der potentiellen Erfahrung ein (EE), das heißt, fällt ein Urteil darüber, ob die potentielle Erfahrung jetzt für ihn vorteilhaft ist oder nicht und entscheidet entsprechend, ob er die Erfahrung nun machen soll oder nicht. Selbstverständlich kann das manchmal schiefgehen – man denkt, die Tasse Tee sollte guttun, derweil löst 13
Ibid., S. 8.
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Das Ende der Intersubjektivität?
sie Bauchschmerzen aus. Doch im Großen und Ganzen produziert diese Art der Entscheidung richtige Beurteilungen. Es ist folglich sinnvoll, sich auf sie zu verlassen. Hier das Ganze formalisiert: NE = Gewöhnliche Erfahrung: Wird SP mit NE gefüllt, ergibt sich EE. Entscheidungsregel: Wenn EE einen positiven oder neutralen Wert einnimmt, mache NE; wenn nicht, vermeide NE. Wenn wir es nun aber mit einer transformativen im Unterschied zu einer gewöhnlichen Erfahrung zu tun haben, also etwa mit dem Kinderbekommen im Unterschied zum Teetrinken, kollabiert die Eindeutigkeit des Zusammenhangs. Der Grund liegt darin, dass im Falle einer transformativen Erfahrung NE, die neue Erfahrung, SP, das existierende Set an Präferenzen, mit denen Erfahrungen beurteilt werden, verändern kann. Paul definiert transformative Erfahrungen ja als Erfahrungen, die unsere Präferenzen ändern. Mit den Worten von Donald Davidsons Sprachphilosophie lässt sich auch sagen, die Differenz zwischen »scheme« und »content« breche zusammen, der »content«, also die potentiell transformative Erfahrung, verändert möglicherweise das »scheme«, das Set an Präferenzen der Beurteilung von Erfahrungen. 14 Es wird schwierig bzw. unmöglich, der Variable EE (Evaluierung der potentiellen Erfahrung) einen Wert zuzuordnen. Plötzlich handelt es sich um eine Gleichung mit zwei Unbekannten: Ich möchte NE mit SP bemessen, um EE einen Wert zuordnen zu können, aber NE kann mein bisher existierendes SP verändern, und das daraus resultierende neue SP, nennen wir es SP+x, welches sowohl identisch mit SP als auch gänzlich verschieden davon sein kann, liefert EE. Unglücklicherweise habe ich mit SP+x, im Unterschied zu SP, noch keine Erfahrungen gemacht. Mein System zur Bewertung von Erfahrungen bricht zusammen. Ich kann nicht wissen, wie SP+x sein wird, was es mit mir tun wird. Mit anderen Worten, da ich mit SP+x nicht vertraut bin, zumindest nicht so wie mit SP, wird meine Evaluation von EE unzuverlässig. Es ist nicht mehr sinnvoll, mich auf diese Art der Beurteilung zu verlassen. Formalisiert ergibt sich folgendes Bild: NE = Transformative Erfahrung: Wenn SP mit NE gefüllt, tritt SP+x an die Stelle von SP, und SP+x ergibt EE. 14
Vgl. Davidson (2001), S. 187.
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Michael G. Festl
Entscheidungsregel: Wenn EE einen positiven oder neutralen Wert einnimmt, mache NE; wenn nicht, vermeide NE. Zerlegt man die Entscheidungsprozedur im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen einer gewöhnlichen und einer transformativen Erfahrung auf diese Weise in die drei entscheidenden Elemente Präferenz, Erfahrung und Evaluierung 15 wird klarer, warum der wissenschaftlich-reduktive Ansatz nicht weiterhilft. Rein auf Fakten fokussiert, fehlt es ihm schlicht und einfach an einem Zugang zu diesem Modell. Fakten sind auf keine direkte Weise mit unseren Präferenzen und Evaluierungen verzahnt. Folglich hat der wissenschaftliche Ansatz keinen Zugang zu einer der beiden Unbekannten in unserem Modell. Bezüglich wissenschaftlicher Fakten fragen wir nicht, ob wir sie mögen oder nicht. Als Fakten über das Sein der Welt sind sie von menschlichen Präferenzen getrennt. Es wäre bestenfalls merkwürdig, sich zu fragen, wie unser gegebenes oder unser zukünftiges Set an Präferenzen die Tatsache evaluiert, dass E gleich mc2 ist. Zumindest macht es wenig Sinn, sich zu fragen, ob man mag, was man ohnehin nicht ändern kann. Eine andere Frage ist freilich, und diese ist bedeutungsvoll, ob ich die Dinge mag, die ich dank der Kenntnis wissenschaftlicher Befunde tun kann, etwa ob Satelliten den Planeten umkreisen sollen oder ob Atombomben gebaut, geschweige denn abgeworfen werden sollen. Aber das ist ein anderes Thema, ein Thema, das die Frage aufwirft, was wir auf Basis des Faktums, dass E gleich mc2 ist, tun sollten. Die darin enthaltene Sollensfrage schlägt eine Brücke zwischen einem Faktum über die Welt und den Präferenzen einer Kreatur innerhalb dieser Welt. Aber eine solche Brücke existiert nicht zwischen der Frage, ob ich eine potentiell transformative Erfahrung machen sollte, und wissenschaftlichen Fakten. An sich sind wissenschaftliche Fakten nicht geeignet, in mir eine Beurteilung auszulösen. Somit können wir bereits an dieser Stelle etwas weitergehen als Paul und feststellen, dass der beschriebene wissenschaftliche Ansatz, um transformative Erfahrungen zu beurteilen, nicht nur fruchtlos ist, sondern einen Kategorienfehler darstellt.
Was ich »Set an Präferenzen« nenne, entspricht grosso modo dem, was Paul meint, wenn sie von »beliefs, desires, emotions and dispositions« (z. B. Paul (2015), S. 5) spricht. Was ich »Evaluierung« nenne, entspricht ungefähr dem, was Paul meint, wenn sie von »feelings and thoughts« über eine Erfahrung (Ibid., S. 7) spricht.
15
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Transformative Erfahrungen und Literatur Die Wissenschaft im oben angenommenen Sinne kann beim Umgang mit transformativen Erfahrungen also nicht helfen; die Literatur dagegen schon. Ihr verdanken wir unsere Kompetenzen im Sich-HineinVersetzen-in-Andere, so will ich nun zeigen. Dies ist eine Möglichkeit, die Paul nicht interessiert, weshalb wir hierbei ohne sie auskommen müssen. Im Folgenden skizziere ich, wie die Literatur uns hilft, mit dem Problem umzugehen, potentiell transformative Erfahrungen im Vorhinein zu beurteilen. Dabei möchte ich Literatur möglichst unspektakulär als eine Praxis der Narration verstehen, eine Praxis die, bei allem was sie sonst noch zu tun imstande ist, Dinge erzählt und dabei auch beschreibt. 16 Die Literatur (deshalb fokussiere ich auf sie im Unterschied etwa zu Videospielen oder Fernsehen) ist der Olymp der Beschreibung – Beschreibung als eine Praxis, deren Anfänge unter anderem dort zu finden sind, wo mir meine dreijährige Tochter mit ihrem begrenzten Vokabular erklären möchte, wie ihr Tag im Kindergarten lief. Einführend mag des Weiteren der Hinweis dienlich sein, dass bereits Thomas Nagel hervorgehoben hat, dass Beschreibungen besonders wertvoll sind, um sich solcherart Wissen auch ohne direkte Erfahrung zu erschließen. Nagel interessiert sich für eine einigen von uns noch viel fremdere Erfahrung als das Mutterwerden. Er fragt, wie es sich wohl anfühlen mag, eine Fledermaus zu sein und inwieweit es für uns Nicht-Fledermäuse möglich ist, dies herauszufinden. Nagel meint, dass es selbst in diesem Extremfall hilfreich wäre, wenn Fledermäuse uns beschreiben könnten, wie es sich anfühlt, sie zu sein. »The best evidence would come from the experience of bats, if we only knew what they were like.« 17 Der Ansatz der Literatur, ich nenne ihn in der Folge auch den beschreibenden oder den narrativen Ansatz, besteht aus drei Ebenen. Diese drei Ebenen ordne ich auf Basis des Verhältnisses zwischen Narration und Erfahrung. Auf welche Weise also kann Literatur in das hier beschriebene Problem eingreifen, dass eine potentiell transformative Erfahrung mein Set zur Beurteilung von Erfahrungen ändern kann?
16 17
Vgl. Hühn; Sommer (2012). Nagel (1979), S. 169.
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Ebene 1: Literatur als Schöpferin von Erfahrungen Auf der ersten, basalen Ebene vermag es die Literatur, Erfahrungen überhaupt erst möglich zu machen. Sie ist Schöpferin, Kreateurin oder auch Hebamme von Erfahrungen. Stellen wir uns dazu eine Person vor, die der Erfahrung gänzlich beraubt worden ist, den Menschen ohne Erfahrungen. Dieser Mensch, so nehmen wir an, verfügt über alle gängigen Fähigkeiten des Denkens und Wahrnehmens. Nur da, wo ihre oder seine Erfahrungen sein sollten, ist alles leer. Walter Benjamin liefert in seinem Essay »Erfahrung und Armut« eine hilfreiche Beschreibung eines solchen Menschen und beschuldigt die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs, solche Menschen zumindest annäherungsweise hervorgebracht zu haben. Der Erste Weltkrieg habe viele Menschen stumm gemacht, sie der Sprache beraubt. Für die meisten Zeitgenossen haben der Krieg und die Zeit danach, so Benjamin, nicht zu neuen Erfahrungen geführt, im Gegenteil, er hat alte Erfahrungen zerstört. »[N]ie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber.« 18 Nicht nur Menschen, sondern auch Erfahrungen wurden im Ersten Weltkrieg niedergemäht. Folglich kamen die Soldaten, die überlebten, nicht reicher an kommunizierbaren Erfahrungen nach Hause, sondern ärmer. Für Benjamin gibt es nur ein Gegenmittel, um dieser Depravation beizukommen: Literatur oder, um genauer zu sein, den Erzähler. Benjamin betrachtet Nikolai Leskov, einen weniger bekannten Zeitgenossen von Tolstoy und Dostojewski, als Vorbild für die Art von Erzählung, die im Fall beraubter Erfahrungen gebraucht wird. Leskovs Geschichten, so beschreibt Benjamin sie, schäumen über mit merkwürdigen Ereignissen, grenzen an das Phantastische und sind zur gleichen Zeit voll mit handfesten Empfehlungen und Weltweisheiten. 19 Dies schlage sich auch in der Erzählperspektive nieder. Stets sei der Erzähler Teil der Geschichte und gleichzeitig doch dazu berechtigt, die anderen Charaktere zu belehren. Gemäß Benjamin ist Leskov dabei in der Lage, die Geschichten zur Verfügung zu stellen, die gebraucht werden, um eine Tradition des Geschichtenerzählens wiederzubeleben, die Weisheiten über Generationen hinweg zu 18 19
Benjamin (1992), S. 134 f. Vgl. ibid., S. 135.
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transportieren vermag. Dank solcher Art Geschichten könnten Menschen, die den Zugang zu Erfahrungen verloren haben, wieder Anschluss an Erfahrungen finden, ihr Lager an Erfahrungen wieder füllen. Auf dieser ersten Ebene des Verhältnisses zwischen Narration und Erfahrungen verbleibt die Leserin also passiv. Sie absorbiert passiv wie ein Schwamm (wie ein Haushaltsschwamm, nicht wie lebende Schwämme, welche ja keineswegs passiv sind, wenn sie Wasser aufnehmen), was die Geschichte zu sagen hat; sowohl die Erfahrungen als auch die Hinweise, die sich aus den Erfahrungen ergeben. Erfahrungen werden dem Leser wieder zugeführt, um die entstandene Leere zu füllen. Gefüttert mit Erfahrungen, die andere, reale oder fiktive, Charaktere machen, wird der erfahrungsdepravierte Zustand überwunden, so verstehe ich Benjamin. 20 Im Sinne einer Leiter hilft Literatur der Leserin auf dieser ersten Ebene, die Welt der Erfahrungen wieder zu besteigen. Sie versetzt die Leserin in die Lage, selbst wieder Erfahrungen zu machen. Die Literatur fungiert als Mittlerin von Erfahrungen und wird dabei zur Schöpferin der Möglichkeit, wieder selbst Erfahrungen zu machen. (Vermutlich könnte man dieses Modell Benjamins auch auf den erstmaligen Zugang zu Erfahrungen anwenden, wie er auf Babys und Kleinkinder zutrifft. Auch die Erzählungen, mit denen man diese beglückt, sind ja oft belehrend und märchenhaft. Aber das führt über die hier verfolgten Ziele hinaus)
Ebene 2: Literatur als Vergrößerungsglas von Erfahrungen Literatur wäre nicht so attraktiv, wie sie ist, würde sie Erfahrungen nur darstellen, sodass wir uns auf diese Erfahrungen beziehen können. Aufregender ist Literatur, wenn sie sich anschickt, unsere gewöhnlichen Erfahrungen von Dingen, Menschen, Gefühlen und Situationen zu verzerren. Dabei können Erfahrungen von uns weggeschoben werden, sodass, was bisher gewöhnlich erschien, fremdartig wird, zum Beispiel weil es in einen größeren Kontext gestellt wird, der uns bisher nicht bewusst war oder den wir uns bisher nicht bewusstgemacht haben, der mit der einzelnen Erfahrung aber in VerAlles in allem hat Benjamin eine viel reichhaltigere Konzeption darüber, was Literatur tun kann. Doch für meine Zwecke ist es am sinnvollsten, nur auf diesen Ausschnitt von Benjamins Konzept zu blicken.
20
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bindung steht. So kann die Erfahrung des Verzehrs eines bestimmten Produkts in den größeren Kontext der Produktion des Produkts gestellt werden oder die Auswirkungen des aggregierten Verzehrs des Produkts können beschrieben werden. Die konkrete Erfahrung entschwebt damit in weitere Sphären, in die sie eingebettet ist. Es ist auch möglich, dass Erfahrungen näher an uns herangeschoben werden, sodass wir uns Dinge bewusst machen können, die uns ansonsten entfallen. Solcherart Verzerrungen sind entscheidend für die zweite Ebene des Zusammenhangs zwischen Literatur und Erfahrung. Indem die Literatur unsere gewöhnlichen Alltagserfahrungen verzerrt, eröffnet sie Dimensionen von Erfahrung, die uns sonst verschlossen blieben. Wenn Autorinnen und Autoren wie z. B. Wilhelm Genazino etwa über zehn Seiten hinweg beschreibt, wie eine Tasse aussehen kann, oder wenn Karl Ove Knausgård ebenso viele Seiten nutzt, um zu beschreiben, wie es sich anfühlt, Tee zum Frühstück zu trinken, wenn man ansonsten nur an Whiskey als Wachmacher gewöhnt ist, bekommen wir Beschreibungen, die über die Art und Weise hinausgehen, wie wir die Gegenwart einer Tasse Tee und deren Geschmack für gewöhnlich einschätzen. In ihren besten Momenten können uns derartige Autorinnen und Autoren über Aspekte unserer Erfahrungen aufklären, die uns vertraut erscheinen, die wir aber nicht reflektieren, geschweige denn artikulieren können. In diesem Sinne ist die Literatur in der Lage, mit Erfahrungen zu tun, was die Zeitlupe mit einem Netzroller im Tennis tun kann. Sehen wir den Netzroller in Echtzeit, sind wir in der Regel kaum in der Lage, zu bestimmen, auf welcher Seite der Ball am Ende überhaupt gelandet ist. Ganz anders die Zeitlupe. Plötzlich sehen wir, was genau passiert: Der Ball, das Netz an einer kleinen Stelle berührend, versetzt das ganze Netz in Schwingung, rote Asche verlässt den Ball, entschwebt in alle Richtungen wie der Staub aus einem Teppich, wenn dieser mit einem Klopfer malträtiert wird, bis wir schließlich genau sehen können, auf welcher Seite und in welchem Abstand vom Netz der Ball landet, ob die Gegnerin ihn nicht trotzdem hätte erwischen können, und so vieles mehr. Was für ein Unterschied zur Echtzeit! Auch im echten Leben sind wir zu oft auf das Resultat fixiert – und erkennen vielleicht nicht mal selbiges, übersehen aber definitiv die Erfahrung in ihrer Ganzheit, all das, was mit Ball und Netz passiert, während physikalische Kräfte entscheiden, wo der Ball wieder zur Ruhe kommt. Die Literatur ist der Grand-SlamSieger, wenn es darum geht, uns Erfahrungen in ihrer Ganzheit zu260 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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gänglich zu machen. Ihr Mittel dazu ist die Verzerrung der Erfahrung. Was dem Betrachten des Tennisspiels in seiner Reichhaltigkeit die Zeitlupe ist, ist dem Leben unter Einbezug maximal reichhaltiger Erfahrung die Literatur. Welch wunderschönes Wort übrigens, Zeitlupe – ein Glas, das die Zeit vergrößert. Doch um diese Möglichkeit der Literatur, die zweite Ebene, auszunutzen, darf die Leserin nicht passiv bleiben, sie muss ihr Haushaltsschwamm-Dasein überwinden. Es verlangt eine aktive Leserin, eine Leserin, die etwas an und in den Text heranträgt. Daher kann diese zweite Ebene nur erklimmen, wer bereits die erste erstiegen hat und damit in Kontakt mit Erfahrungen steht. Obwohl das Narrativ etwas erzählt – wie könnte es anders sein? – und somit als Auslöser des Ganzen zu betrachten ist, muss die Leserin die in ihrer verzerrten Gestalt dargelegten Erfahrungen für sich gewinnen, sie zu sich ziehen. Da die gewöhnlichen Erfahrungen der Ereignisse, Dinge und Gefühle durch die Erzählerin absichtlich verzerrt wurden, muss die Leserin diese erst wieder mit den Alltagserfahrungen, die sie vielleicht wirklich schon gemacht oder die sie sich auf Basis ähnlicher Erfahrungen vorstellen kann, in Kontakt bringen, beides, Narrativ und eigenes Leben, miteinander verknüpfen. Die eigenen Erlebnisse müssen mit den verzerrten, zum Beispiel verkleinerten Erfahrungen, die im Buch dargelegt werden, verknüpft werden. Ohne diesen Akt der Wiederverknüpfung wäre die Leserin nicht in der Lage, Bedeutung aus dem Narrativ zu ziehen. Sie würde vielleicht noch nicht einmal erkennen können, um welche Erfahrung es sich handelt, geschweige denn deren Tiefendimensionen erkennen. Auch der Netzroller im Tennis gewinnt seine tiefere Bedeutung für die Betrachterin nur vor dem Hintergrund des Verständnisses des Spiels als Ganzem. Wolfgang Isers reader-response-Modell der Literatur ist hierbei hilfreich. Iser argumentiert, dass der Leseprozess einem Dialog zwischen Leserin und Text gleicht. 21 Die Bedeutung eines Textes für eine Leserin resultiert aus der Art, wie die Leserin ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Text verbindet. Dabei, so Iser, setzt der Text zwar gewisse Limits bezüglich der Weise, wie er sinnvollerweise, sprich intersubjektiv nachvollziehbar, interpretiert werden kann. Doch innerhalb dieser Limits navigiert sich die Leserin frei auf Basis ihrer eigenen Erfahrungen und deren Bedeutungsgehalt durch den Text und bestimmt, welchen Hafen sie mit dem Text ansteuert, welche 21
Isers Theorie ist ausführlich dargestellt in Iser (1994).
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Bedeutung der Text für sie letztendlich annimmt (oder ›vorerst‹ statt ›letztendlich‹, denn man kann den Text ja später nochmal lesen und dabei den zunächst erreichten Hafen wieder verlassen). Dies erklärt, warum sich die Bedeutung eines bestimmten Textes nicht nur zwischen Menschen unterscheiden kann, sondern auch, warum ein und derselbe Mensch einen Text einmal so oder einmal ganz anders mit Bedeutungen versehen kann, je nachdem, welche bereits vorhandenen Erkenntnisse die Leserin an den Text heranträgt, wenn sie ihn liest. Ebene eins als empfangende Ebene wird, paradigmatisch betrachtet, also gefolgt von Ebene zwei als konstruktiver. Die Bedeutungserhöhung von Erfahrungen wird durch Zusammenarbeit zwischen dem Text als Mittler von Material und der Leserin als Baumeisterin dieses Materials erreicht.
Ebene 3: Literatur als Neubeschreiberin von Erfahrungen Literatur vermag jedoch noch mehr. Nicht nur, dass sie Erfahrungen darlegt und uns damit hilft, Schöpferin unserer Erfahrungen zu werden. Nicht nur, dass sie Erfahrungen verzerrt und uns dabei mit der Fähigkeit ausstattet, unsere Erfahrungen reichhaltiger werden zu lassen. Nein, sie ist auch in der Lage, uns dazu zu bringen, unsere Erfahrungen anders zu bewerten. Literarische Texte unterscheiden sich dabei von argumentierenden, zum Beispiel philosophischen Texten (auch wenn diese Unterscheidung fließend ist), indem sie diese Veränderung eben gerade nicht dadurch erreichen, dass sie explizit auf eine solche Veränderung des Urteils hin argumentieren, sondern in der Weise, in der sie die Erfahrungen von Charakteren anordnen und beschreiben. Vordergründig mag Literatur »nur« Geschichten erzählen, doch diese Geschichten können unsere Vorstellungskraft beeinflussen, genauso wie sie die Art beeinflussen können, wie wir Erfahrungen beurteilen. Während es auf Ebene zwei primär darum geht, mehr über eine einzelne Erfahrung zu verstehen, wie das Trinken einer Tasse Tee, und darüber, solch einzelne Erfahrungen tiefergehend erfassen zu können, wird die Leserin auf Stufe drei auf holistischere Art berührt. Jetzt steht der ganze Erfahrungshaushalt inklusive der Bewertungen auf dem Spiel, nicht mehr nur atomistische Erfahrungen. Das Narrativ verändert die Kategorien, mit denen die Leserin Erfahrungen beurteilt. In der Terminologie Richard Rortys können wir sagen, dass Literatur zu Neubeschreibungen (»re262 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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descriptions«) führen kann. 22 Sie kann das Vokabular ändern, mit dem Menschen die Welt beschreiben. In den meisten Fällen wird dieser Kategorienwandel erreicht, indem die Literatur der Leserin Zugang zum Innenleben von Charakteren gewährt und dabei darlegt, wie der jeweilige Charakter empfindet, was ihm oder ihr in der Geschichte zustößt. Ist dieses Innenleben für die Leserin glaubwürdig dargelegt, legt die Geschichte nahe, dass dies eine mögliche Art ist, wie Menschen in der echten Welt derartige Situationen wahrnehmen könnten, wenn sie ihnen ausgesetzt wären. Somit ist es nicht erstaunlich, dass Rortys Idee, Beschreibungen der Welt mittels Literatur zu verändern, auf Beispiele fokussiert ist, in denen ein Narrativ Leserinnen und Leser dazu bringt, mehr Mitgefühl für das Leiden anderer Menschen zu entwickeln, speziell für das Leiden von Außenseitern. 23 Während Rorty die Entwicklung von Mitgefühl vor allem als subjektive Aufgabe versteht – die Leserin und ihr Buch –, verändern manche Narrative die Art und Weise, wie eine ganze Gruppe an Menschen, vielleicht sogar Nationen, Erfahrungen bewertet. Harriet Beecher Stowes Anti-Sklaverei Roman Onkel Toms Hütte (1852) ist hierbei eines der prominentesten Beispiele. David S. Reynolds hat den Einfluss dieses Buches untersucht und kommt dabei zu dem Schluss, dass es radikal änderte, wie der oder die Durchschnittsamerikaner/in Sklaverei bewertete. Dies vor allem, weil Stowe dargelegt habe, wie die Sklavinnen und Sklaven ihre Existenz erleben. »Uncle Tom’s Cabin was central to redefining American democracy on a more egalitarian basis.« 24 Aus moralischer Sicht kann der Schuss natürlich auch nach hinten losgehen. So verfasste Thomas F. Dixon, explizit als Gegenprogramm zu Stowe, seinen Roman The Clansman (1905), in dem er den Ku-Klux-Klan verherrlicht und dem Rassismus im Süden der USA damit neuen Aufwind verleiht. Entscheidend für unsere Zwecke aber ist, dass die dritte Ebene des Verhältnisses zwischen Literatur und Erfahrung dazu angetan ist, unseren Präferenzhaushalt zur Beurteilung von Erfahrungen zu ändern. Befragt man Theorien der Selbstformung, zeigt sich, dass solch ein Wandel im Präferenzhaushalt Ergebnis eines bewussten genauso wie eines unterbewussten Prozesses sein kann. In der Regel wird wohl eine Mischung aus beiden vorliegen, wenngleich mit changie22 23 24
Vgl. Rorty (2010), S. 284. Vgl. Rorty (1989), S. 80. Reynolds (2011), S. xi.
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render Dominanz. Christine Korsgaard fokussiert auf das bewusste Ende dieses Kontinuums. Sie betont, dass Änderungen des Selbst – Änderungen der Präferenzen, mit denen Erfahrungen bewertet werden, inkludiert – sogar bewusst vonstattengehen sollten. 25 Im Optimalfall, so argumentiert sie, sind solche Änderungen Resultat eines Prozesses, in dem wir uns von unseren Ansichten und Sehnsüchten ein Stück weit befreien, von ihnen zurücktreten, um aus dem so gewonnenen Abstand zu reflektieren, ob wir diese Ansichten und Sehnsüchte auch wollen können oder ob wir sie besser hinter uns lassen und durch andere ersetzen sollten. 26 Und falls wir zu dem Schluss kommen, sie sollten besser geändert werden, empfiehlt Korsgaard das gleiche Zurücktreten, um sich im nächsten Schritt zu fragen, in welche Richtung sie geändert werden sollten. Im Gegensatz dazu betont Jonathan Lear das unterbewusste Ende derartiger Gestaltwandel. Er argumentiert, dass ein Wandel des Selbst ohne unterbewusste Bestandteile gar nicht zustande kommen könnte. Handle es sich wirklich um Präferenzen, sei es gar nicht möglich, alles zu kontrollieren. Präferenzen würden stets passive Momente beinhalten. Gleichzeitig nimmt auch Lear an, dass bewusste Bestandteile, speziell Reflexion und das Zurücktreten hinter die direkten Urteile, vonnöten sind. 27 Dies zeigt, dass Ebene drei nochmals anspruchsvoller für die Leserin ist als Ebene zwei. Die Leserin muss noch ein Stück weit aktiver werden. Über die Konstruktion, die schon auf Ebene zwei gebraucht wird, um das Narrativ mit den eigenen Erfahrungen zu verbinden, hinaus muss sich die Leserin in einen revolutionären Zustand begeben. Sie muss sich in eine Lage versetzen, in der ihre Kategorien zur Beurteilung von Erfahrungen fluid werden können. Dazu muss natürlich auch das Narrativ gewisse Voraussetzungen erfüllen. Erschiene Onkel Toms Hütte heute, würden nur wenige Gemüter gravierend verändert werden, da sich kaum mehr Verteidigerinnen und Verteidiger der Sklaverei unter uns finden lassen. Wer sollte hier noch bekehrt werden? Gleichzeitig wird es auch dem potentiell revolutionärsten Narrativ nicht gelingen, eine Person zu verändern, wenn diese sich just gegen eine solche Veränderung stemmt. Auch das zeigt die Geschichte des Einflusses von Onkel Toms Hütte. Unter den hartgesottenen Sklavenhalterinnen und -haltern, von denen viele das 25 26 27
Vgl. Korsgaard (2009), S. xii. Vgl. ibid., S. xiii. Vgl. Lear (2011), passim.
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Buch gelesen oder Bühnenfassungen desselben gesehen haben und wohl fast alle dessen Inhalt kannten, bekehrte es kaum jemanden. Im Gegenteil, deren ursprüngliche Ansichten wurden von dem Buch eher noch erhärtet. 28 Im Norden der USA dagegen, wo zu Stowes Zeit viele Unentschiedene lebten, Menschen, die nicht genau wussten, was sie von der Sklaverei halten sollten, es aber wissen wollten, hatte das Buch massiven Einfluss – es ließ die öffentliche Meinung gegen die Sklaverei kippen. 29 Für tiefe und kollektive Gesinnungswandel, wie Ebene drei sie verhandelt, müssen die Menschen bereit sein bzw. sich bereit machen. Es braucht Offenheit für Wandel oder noch besser Aufgeschlossenheit für Wandel, Wille zum Wandel, um es martialisch zu sagen. Es ist gerade Rorty, der ein feines Gespür für die Notwendigkeit beweist, sich offen für Veränderung zu machen – auch deshalb beziehe ich mich auf ihn, obwohl die Möglichkeit, dass Literatur unsere Bewertungen ändert, schon viele ins Auge genommen haben 30. Dabei geht Rorty manchmal sogar zu weit und erhebt die Änderung von Auffassungen zum Selbstzweck. 31 Der Punkt der auf Ebene drei benötigten Offenheit wird dabei aber nur umso deutlicher.
Literatur, Transformative Erfahrungen und Intersubjektivität Die Wissenschaft mit ihrem Fokus auf Fakten findet keinen Zugang zu dem Präferenzen-Erfahrungen-Evaluierungs-Modell, das ich in Anschluss an Paul expliziert habe. Die Literatur braucht überhaupt keinen solchen Anschluss. Insofern sie sich mit Erfahrungen beschäftigt, ist sie von Anfang an mit diesem Modell verbunden. Benjamin folgend zeigt sich darüber hinaus, dass die Literatur im Fall eines Menschen, der von Erfahrungen abgeschnitten ist, sogar in der Lage ist, diese Menschen wieder mit Erfahrungen zu verbinden. Die erste Ebene des Verhältnisses zwischen Narrativ und Erfahrung liefert folglich, dies als Wiederholung, eine Verbindung zum Reich der Erfahrungen für Menschen, die dieser Verbindung verlustig gegangen sind. In diesem Sinne habe ich die Literatur zur Schöpferin von Erfahrungen erhoben. Ein Mensch, der Ebene eins nicht erklommen 28 29 30 31
Vgl. Reynolds (2011), S. 117. Vgl. ibid. Unter anderem hat Guillory (2000) diese Fähigkeit der Literatur betont. Vgl. Rorty (2010), S. 486.
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hat, wird unfähig sein, seine eigenen Reaktionen auf Erfahrungen im Vorhinein abzuschätzen, erst recht, wenn es um transformative Erfahrungen geht. Doch die Bedeutung der Literatur für Pauls Anliegen liegt, wie ich argumentierte, noch auf zwei weiteren Ebenen. Auf der nächsten Ebene, Ebene zwei, ist die Literatur dazu angetan, unsere Kompetenzen beim Abschätzen der Bewertung einer möglichen Erfahrung im Vorhinein zu schärfen. Noch eine Stufe tiefgreifender als diese Verbesserung einer Fähigkeit deckt die dritte Dimension unseres Modells auf, dass die Literatur auch in der Lage ist, den Apparat umzustellen, mit dem wir Erfahrungen bewerten, und damit natürlich auch die Bewertungen selbst. So komme ich nun zum Begriff der Intersubjektivität und der Frage zurück, wie dieser dank der dargelegten Fähigkeiten der Literatur vor Pauls Angriff gerettet werden kann, ein Angriff, den Paul sich nicht selbst bewusst gemacht hat, sondern den wir mit Paul über Paul hinaus identifiziert haben. Wenig überraschend sind es die epistemisch anspruchsvolleren Ebenen zwei und drei unseres Modells, die hierfür entscheidend sind. Im Falle einer transformativen Erfahrung in Pauls Sinne haben wir es, wie oben dargelegt, mit vier Elementen zu tun: dem Set an Präferenzen eines Akteurs vor der potentiell transformativen Erfahrung (SP), dem Set an Präferenzen nach der transformativen Erfahrung (SP+x), der neuen, potentiell transformativen Erfahrung (NE) und der Evaluation dieser Erfahrung durch den Akteur oder die Akteurin, ausgelöst durch die potentiell transformative Erfahrung (EE). Ein Blick auf die zweite Ebene – Literatur als Vergrößerungsglas – zeigt, warum die Literatur unsere Fähigkeiten erhöht, einzuschätzen, welche Bewertung eine potentiell transformative Erfahrung in uns auslösen wird. Ebene zwei ist verwandt mit der Evaluation von Erfahrungen, EE in dem Modell, das wir aus Pauls Überlegungen destilliert haben. Indem die Literatur Erfahrungen vergrößert, erhöht sie unsere Chancen, nicht nur unsere eigenen Erfahrungen selbst besser zu verstehen, sondern auch, wie wir solche Erfahrungen bewerten. Eine Erfahrung innerhalb eines Narratives zu verstehen, bedeutet zu verstehen, wie sich ein Charakter zu einer Erfahrung verhält. Narrative legen nicht Erfahrungen pur und simpel, unverdaut, dar, sondern Erfahrungen in Bezug auf einen Menschen, der die Erfahrung macht oder sich überlegt, sie zu machen. Somit eröffnet die Literatur ein Feld, auf welchem Leserinnen, ihre eigenen Bedeutungen an den Text herantragend, Erfahrungen aus der Perspektive eines bestimmten 266 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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Menschen bewerten können. Dies wird am besten an Narrativen deutlich, die uns dazu bringen, einen Menschen zu verstehen, mit dem wir uns ansonsten nicht einlassen wollen würden. Manchem Roman (auch manch komplexer TV-Serie) gelingt es sogar, uns die Innenwelt eines Mörders nahezubringen. Man denke etwa an Theodore Dreisers American Tragedy (1925) oder Dostojewskis Schuld und Sühne (1866). Oft gelingt es der Novellistin gar, uns so weit zu bringen, dass wir sagen, wären wir an der Stelle der Hauptperson, würden wir genauso handeln – hätten wir durchgemacht, was sie durchgemacht hat, würden wir ebenfalls morden, ja müssten Mord unter diesen Umständen allgemein für gut befinden. Toni Morrisons Beloved (1987) ist so ein Fall – dort goutieren wir als Leserin oder Leser gar den Mord am eigenen Kind, zumindest teilweise. Der Bezug zu transformativen Erfahrungen liegt auf der Hand. Muss ich entscheiden, ob ich mich auf eine potentiell transformative Erfahrung wie das Mutterwerden einlasse, besteht das Problem darin, so zeigt Paul, dass es nicht um die Frage geht, wie ich diese Erfahrung einschätze, sondern um die Frage, wie mein zukünftiges, durch die Erfahrung möglicherweise in seinen Präferenzen stark verändertes Ich diese Erfahrung einschätzen wird. Es geht also darum, zu verstehen, wie ein anderer Mensch Dinge beurteilt. Und genau die Kompetenz trainieren wir, wenn wir uns auf Literatur einlassen. Wir beurteilen, wie ein Mensch, der die Erfahrungen x, y und z gemacht hat, die potentielle Erfahrung A beurteilt und ob er A machen sollte oder nicht. Der einzige Unterschied zu Paul ist, dass im Fall transformativer Erfahrungen ich selbst in der Zukunft dieser andere Mensch bin – um einen anderen Menschen aber geht es, und das ist ja Pauls Punkt. Auf dem Feld, das die Literatur zur Verfügung stellt, kann ich die Kunst des Beurteilens von Erfahrungen durch Akteure üben, die nicht ich selbst sind. Dabei kann ich sogar mit Extremfällen spielen, was didaktisch bekanntlich oft besonders wertvoll ist, etwa an der Frage, ob eine Person nun morden soll oder nicht. Dies ist ein Extremfall, der sich in unserem Leben hoffentlich nicht stellen wird, der aber wertvolles Übungsmaterial für einfachere Fälle darstellt – so wie viele brasilianische Fußballerinnen und Fußballer so gut am Ball sind, weil sie Fußball spielen im Sand der Copacabana gelernt haben, auf einem radikal unebenen Belag also, statt auf den englischen Rasen unserer hiesigen Champions League-Teams. Des Weiteren besteht eine Verbindung zwischen meinem Modell von den Kompetenzen der Literatur einerseits und dem Problem 267 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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transformativer Erfahrungen andererseits, insofern die Literatur beeinflusst, wie wir Erfahrungen bewerten. Im Ansatz gilt dies bereits für Ebene zwei des Verhältnisses zwischen Narrativ und Erfahrung. Dank eines tieferen Verständnisses bestimmter Erfahrungen, welches die Literatur bewirken kann, sind wir in die Lage versetzt, diese und ähnliche Erfahrungen im echten Leben anders zu bewerten. Knausgårds Berichte über das Gefühl, morgens Tee zu trinken, kann auch die Art ändern, wie man das Teetrinken bewertet. Wir können anders – vielseitiger – bewerten, weil wir besser verstehen, wie man Erfahrungen empfinden kann. Ebene drei – Literatur als Neubeschreiberin – ist hierbei allerdings noch ein Stück weit einschlägiger. Wie ich dargelegt habe, besitzt Ebene drei die Kraft, die Kategorien zu ändern, auf die wir uns verlassen, wenn wir Erfahrungen bewerten. Dies ist gleichbedeutend mit der Feststellung, dass die Literatur auf Ebene drei in unser Set an Präferenzen zur Beurteilung von Erfahrungen eingreift. Präferenzen sind ja nichts anderes als Kategorien zur Beurteilung von Erfahrungen. Ich verzichte an dieser Stelle darauf, diese Einsichten von oben zu wiederholen. Die Literatur ist damit sowohl mit Element SP als auch mit Element SP+x aus Pauls Modell verbunden. Was wir lesen, beeinflusst die Art, wie wir Erfahrungen bewerten. Es beeinflusst unsere Erfahrungen im echten Leben. Hinzu kommt, dass wir auf Erfahrungen nicht nur auf eine bestimmte Weise reagieren, sondern dass wir auch auf eine bestimmte Weise auf Erfahrungen reagieren wollen. 32 Wir wollen ein Mensch sein, der das Muttersein bzw. Vatersein genießt oder auch nicht. Auf dieser Basis können wir auch Dinge tun, von denen wir glauben, dass sie die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhen, dass wir auch tatsächlich wollen, was wir glauben, wollen zu wollen. Zu lesen, wie Knausgård über seine Kinder schimpft, über deren schlichte Existenz, und wie diese Wutanfälle doch nur zeigen, wie wichtig ihm seine Kinder sind, kann beeinflussen, wie wir als Leserinnen und Leser das Elternsein erfahren (werden). Bezüglich Pauls Argument ist es daher auch naheliegend anzunehmen, dass man beeinflussen kann, vielleicht sogar bestimmen kann, wie man eine potentiell transformative Erfahrung erleben wird. Es kommt nicht zuletzt darauf an, sich den richtigen Narrativen zur richtigen Zeit auszusetzen und gewünschte Erfahrungsbewertungen auf diese Weise einzuüben. 32
Die Pflichtreferenz an dieser Stelle ist Frankfurt (1971).
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Natürlich ist das alles nicht so einfach, wie gerade suggeriert, nicht so direkt möglich. Erfahrungen und ihre Bewertungen bewegen sich auf verschlungenen Pfaden. Wollen wir der Mensch sein, der Kinder liebt, können wir nicht erwarten, dass wir das garantiert schaffen, wenn wir nur die richtigen Bücher lesen und uns andauernd mit glücklichen Eltern einlassen. Das Ideal der vollständigen Kontrolle unserer Wünsche, das Ideal eines jeden Rationalisten, ist eben nur ein Ideal, keine Realität. Auf der anderen Seite zeigt der Blick auf Narrative, und was diese mit Menschen tun können, dass unsere Bewertungen von Erfahrungen, transformative Erfahrungen mitgedacht, eben weder vom Himmel fallen noch so tief in uns verborgen sind, dass wir sie nicht erreichen können. Diese Bewertungen sind, wenn auch auf komplexe Weisen, von den Narrativen beeinflusst, denen wir ausgesetzt sind. Somit sollten wir mindestens wählerisch in der Auswahl der Narrative sein, auf die wir uns einlassen. Narrative sind mächtig. Sie beeinflussen die wichtigsten Entscheidungen unseres Lebens und wie diese auf uns wirken. Ich muss gegenüber Paul konzedieren, dass es auch die Literatur nicht schafft, potentiell transformative Erfahrungen in ihrer Wirkung auf mich im Vorhinein kontrollieren zu können. Die Arten, auf die Narrative uns beeinflussen, sind einfach zu vielfältig und vielschichtig, und auch Zufälle sind nie ausgeschlossen. Trotzdem glaube ich, dass die Sachlage nicht so aussichtslos ist, wie Paul sie uns vermittelt. Wir sind zu mehr befähigt als einfach nur zu raten, wie uns das Muttersein schmecken wird, auch bevor wir davon »gekostet« haben, bevor wir den Kopf unserer Babys zum ersten Mal geküsst und den Geruch dieses Kopfes zum ersten Mal geatmet haben. Wir sind kompetenter, wenn es darum geht, uns in andere hineinzuversetzen, als Paul uns möchte glauben machen. Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass wir alle mit Narrativen aufwachsen. Gerade die Literatur als Kulminationspunkt von Narrativen kann uns weit hineinführen in das Reich der Gefühle und Bewertungen, gerade der Einschätzung der Gefühle anderer Menschen, inklusive meines zukünftigen Ichs. In diesem Sinne haben wir auch Grund, am Konzept der Intersubjektivität festzuhalten. Narrative machen uns zu Kreaturen, die sich in andere hineinversetzen können – nur Kaspar Hauser kann es nicht, er kennt keine Narrative. Um zu verstehen, warum dies so ist, und warum der Begriff der Intersubjektivität deshalb bedeutungsvoll bleiben kann, muss man aber über den wissenschaftlichen 269 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
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Ansatz zur Einschätzung der Bewertung zukünftiger Erfahrungen hinausblicken – und zwar, so der Kern meines Arguments, zur Literatur. Mithin ist es die Literatur, welche die Philosophie oder zumindest deren heute zentrales Konzept rettet. Auch ein interessanter Punkt – gerade wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Schmähungen die Literatur durch die Philosophie schon ertragen musste, Schmähungen, welche ich hier aber nicht zum x-ten Male ausbreiten werde. Stattdessen möchte ich meine Überlegungen mit dem Hinweis abrunden, dass die Rettung der Philosophie durch die Literatur nicht nur die Vorstellung eines Philosophen ist, sondern auch eine Rolle für diejenigen spielt, die sich dem Anliegen von der anderen Richtung nähern. Kein Geringerer als der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee bekennt sich dazu, zumindest wenn wir seinem Alter Ego Elisabeth Costello aus dem gleichnamigen Roman folgen. Darin geht die Hauptperson sogar mit Thomas Nagel hart ins Gericht, weil selbst dieser – wie oben dargestellt ja eigentlich positiv eingestellt gegenüber der Möglichkeit, Fremdartiges zu verstehen, mindestens im Vergleich zu Paul – nicht optimistisch genug ist, wenn es darum geht, die Möglichkeiten der Narration zu beurteilen. Über Nagels Urteil, dass es uns wohl nie möglich sein wird, zu bestimmen, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein, sagt Elisabeth Costello im Buch: zu leugnen »that we can know what it is to be anything but one of ourselves seems to me tragically restrictive, restrictive and restricted.« 33 Sie betrachtet Nagels Urteil als Beleidigung ihrer Profession und behauptet: »[T]here is no limit to the extent to which we can think ourselves into the being of another«. 34 Als Beleg führt sie ihr Buch über einen fiktiven Charakter mit dem Namen Marion Bloom an: »[T]he point is Marion Bloom never existed. […] If I can think my way into the existence of a being who has never existed, then I can think my way into the existence of a bat or a chimpanzee or an oyster, any being with whom I share the substrate of life.« 35 Was ich als die Relevanz der Literatur für die Philosophie im Allgemeinen und für den Begriff der Intersubjektivität im Speziellen dargestellt habe, ist also auch Teil des Selbstverständnisses von mindestens einem bedeutenden Romancier. 33 34 35
Coetzee 2004, S. 76. Ibid., S. 79 f. Ibid., S. 80.
270 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Das Ende der Intersubjektivität?
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271 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Werner Stegmaier
Innovative Formen philosophischer Schriftstellerei: Von Parmenides bis Wittgenstein »Alle Formen sind unser Werk wir sprechen uns aus in der Art, wie wir die Dinge jetzt erkennen müssen.« 1
I. Stellen Sie sich vor, Sie leben um 500 v. Chr. im alten Großgriechenland, das überall im Mittelmeer Pflanzstädte begründet hat, auch an der Westküste Unteritaliens, wo Sie leben. Und da hören Sie nun, dass andere Griechen an der anderen Peripherie, in Kleinasien, begonnen haben, eine Übersicht über die Ordnung der Natur zu gewinnen, ohne dazu noch Götter zu bemühen, die kultisch verehrt werden, die Homer oft aus sehr persönlichen Gründen in die Geschicke des trojanischen Kriegs eingreifen lässt und deren Herkunft und verwandtschaftliche und persönliche Beziehungen Hesiod zu klären versucht hat, beide in großen hexametrischen Epen, die den Stolz Griechenlands ausmachen. Jene Weisen aber haben ganz unterschiedliche Vorstellungen über die Ordnung der Natur vorgetragen, so dass Sie sich fragen, was nun eigentlich zutrifft und, da sind Sie schon einen Schritt weiter, nach welchem Kriterium es denn zutrifft. Denn die Beobachtungen, die man so anstellen, die Unterscheidungen, die man dabei machen, die Weisen überhaupt, nach denen man an die Natur herangehen kann, sind offensichtlich vielfältig und unübersichtlich und vertragen sich oft auch nicht miteinander. Man müsste doch sagen können, worin die Natur ihren Bestand hat, was es ist, worin sie eigentlich besteht, und worin man sie darum dauerhaft erkennen kann. Es müsste das sein, was trotz aller beobachtbaren Veränderungen immer gleich bleibt, nicht dem Werden und Vergehen, also der Zeit unterliegt, sondern immer ist und bleibt, was es ist. Und
1
Nietzsche, Nachlass Herbst 1881, KSA 9, S. 621.
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Innovative Formen philosophischer Schriftstellerei
nur davon könnte man ja überhaupt sagen, dass es ist. Und dann wäre es wahr. Aber so weit sind die anderen noch nicht, und wie wollen Sie ihnen das klarmachen? Nur einen weiteren Ordnungsvorschlag neben die übrigen zu stellen, wird nicht weiterführen. Sie müssen sich etwas Besonderes einfallen lassen, um die anderen von dem zu überzeugen, was Sie da sehen: die Wahrheit selbst und worin sie eigentlich besteht. Und Sie haben einen Einfall: Sie führen, da die Griechen ihre Götter so sehr verehren, deren Leben und Handeln sie aber ebenfalls sehr unterschiedlich beschreiben, eine neue Göttin ein, geben ihr zunächst keinen Namen, und lassen sie Ihre Lehre von der Wahrheit verkünden. Wenn es die Wahrheit sein soll, wie Sie sich denken, darf es über sie keinen Streit geben, wenn man sie einmal erkannt hat; aber natürlich werden manche sich ihr zuwenden und manche nicht. Es muss also deutlich werden, dass man sich für die Wahrheit oder gegen sie, für die eine Wahrheit und gegen alles andere, was dann nur noch Täuschung sein kann, entscheiden muss. Und da setzen Sie nun einen jungen wissbegierigen Mann, in dem man leicht Sie selbst erkennen wird, in einen Wagen, den Sonnenmädchen lenken, die ihn zunächst zur Göttin der Gerechtigkeit hinführen. Denn es soll alles, wie schon der ionische Weise Anaximander geschrieben hat, nach der gerechten Ordnung zugehen. Die Göttin der Gerechtigkeit gibt auf Anfrage Einlass zum Reich der neuen, bisher unbekannten Göttin, und diese namenlos bleibende Göttin, die jetzt die Stelle Apolls, des Wahrheitsverkünders, einnimmt, lassen Sie mit ähnlich hoher Autorität zu dem jungen Mann von der Wahrheit sprechen. Für Sie geht die Wahrheit, wie man sieht, nur von Frauen aus. Diese Wahrheit aber formulieren Sie so: Nur Ist ist und NichtIst ist nicht. Das scheint trivial und hat es doch in sich: Denn dass Nicht-Ist ist, wäre widersprüchlich, auch wenn man sich so ausdrücken kann. Widerspruchsfrei kann nur gedacht werden, dass Ist ist oder sagen wir jetzt, dass Sein ist. Die Aufgabe des Denkens muss also sein, dieses wahre Sein zu denken und sich nicht davon täuschen zu lassen, dass man sich auch anders ausdrücken kann. Wenn es aber auf das Denken ankommt, kann man sagen, dass Denken und Sein dasselbe sind: Denn das Sein ist ja eben das vom Denken gedachte Sein. Das heißt dann, dass Denken und Sein hier übereinstimmen, und genau das ist es doch, was man ›Wahrheit‹ nennt und von nun an dank Ihnen auch immer so nennen sollte. Aber ganz so einfach ist 273 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Werner Stegmaier
das doch nicht. Denn man kann den Satz, dass nur Ist ist und dass Nicht-Ist nicht ist, nicht argumentativ begründen; denn dazu müsste man die Wahrheit schon voraussetzen und geriete in einen Zirkel. Aber eben darum haben Sie ja die unbekannte Göttin eingeführt: damit sie Ihre Wahrheit mit ihrer göttlichen Autorität verkündet, der man sich beugen muss und wird. Jedenfalls werden das die Griechen tun, die mit göttlichen Autoritäten aufgewachsen sind. Von einer Göttin kann ein Grieche eine neue unerhörte Wahrheit akzeptieren, von einem Menschen nicht. Sie haben sich längst in der Rolle des alten, damals aber noch jungen Parmenides erkannt, der seine Göttin die zugleich befremdlich und doch bis heute gültige Wahrheit lehren ließ, Denken und Sein seien dasselbe 2 – sofern dieses Sein eben nur ein gedachtes ist und das Denken von ihm eben darauf ausgerichtet wurde, dieses Sein, das allein ist (und kein Nicht-Sein ist), zu denken. Und Parmenides hat diese scheinbare triviale, aber für die europäische Philosophie äußerst folgenreiche Wahrheit – genauer: die Wahrheit der Wahrheit – nicht einfach gelehrt, sondern in der Form einer Dichtung, in Gestalt eines Hexameterepos, der Form Homers und Hesiods, der großen Götter-Dichter, vorgetragen. Die neue Wahrheit kam in dieser Form zur Welt und konnte vielleicht nur in dieser Form zur Welt kommen. Vielleicht macht das Beispiel deutlich, wie bedeutsam die Formen philosophischer Schriftstellerei sind – nicht als bloße literarische Einkleidung, sondern für die Plausibilisierung der Inhalte. Philosophie ist auch Literatur, sie kann in verschiedenen literarischen Formen vorgetragen werden, und sie kann dann jeweils etwas anderes besagen. Man hält diese Formen für gleichgültig, soweit man aus vorliegenden Philosophien argumentativ begründbare Lehren zu gewinnen sucht, betrachtet das als die eigentliche Form der Philosophie und erwartet sie ganz selbstverständlich auch von Qualifikationsschriften wie Seminar-, Bachelor- und Masterarbeiten, Dissertationen und Habilitationsschriften. Aber das verkürzt die Philosophie sehr stark; sie besteht nicht nur aus Abhandlungen. Ihre Kraft und Größe hat sie oft in ganz anderen Formen entwickelt. 3
2 3
Vgl. Parmenides, DK B3. Vgl. Stegmaier (2021).
274 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Innovative Formen philosophischer Schriftstellerei
II. Versuchen wir einmal einen Überblick über herausragende Formen philosophischer Schriften in der Antike. Man sieht dann, dass jede neu gebrauchte Form nicht nur auf neue Inhalte, sondern auf eine neue Haltung des Philosophierens zielt und damit beim Publikum neue Wirkungen intendiert: Formen philosophischer Schriften: Antike Form
Autor und Werk (Beispiel)
Intendierte Wirkung
ca. 600 v. Chr.
Antike
ca. 400 n. Chr.
Prosaschrift
Thales (zwischen 624 und 544) Anaximander (ca. 611–546) Pythagoras (570–510)
die Ordnungen der Welt aus eigenen Beobachtungen und in eigenen Begriffen verstehen
Paradoxer Spruch
Heraklit (zwischen 550 und 460) den verborgenen Logos der Welt im Wechsel ihren Formen entdecken
Lehrgedicht Parmenides (zwischen 540 und (Göttererzählung) 455)
sich der Wahrheit durch eine göttliche Autorität versichern
Öffentliche Rede
Sophisten und Isokrates (436–338)
mit strittigen Alternativen argumentieren lehren
Dialog
Sokrates (ca. 469–399) und Platon (427–347) Phaidros
im Dialog mit anderen nach der Wahrheit forschen
Lehrschrift
Aristoteles (384–322) Metaphysik
selbst als Autor Wahrheiten feststellen
Lehrvergleich
Marcus Tullius Cicero (106–43) Lehren anderer zum De finibus bonorum et malorum eigenen Gebrauch abwägen
Sokrates, sein Schüler Platon und dessen Schüler Aristoteles folgten Parmenides darin, dass es auch ihnen um die Wahrheit des Seins ging. Parmenides hatte die reine Wahrheit des reinen Denkens eines reinen Seins teuer erkauft: Er musste die Zeit aus ihr ausschließen – weil alles, was zeitlich ist, einmal sein und einmal nicht sein kann, sein Sein also auch in Nicht-Sein bestehen kann. Doch die Zeit aus dem Sein auszuschließen, war nun so wenig plausibel, dass seine großen Nachfolger versuchten, die Zeit wieder in das Sein einzuschließen. Und dafür erfanden sie sich wieder neue Formen philosophischer Schriftstellerei. Sokrates schrieb bekanntlich gar nicht, sondern 275 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Werner Stegmaier
führte unentwegt Gespräche – und stellte sich seinerseits als von Göttern bestimmt dar: bestimmt von seinem geheimnisvollen daimónion, das ihm sagte, was er zu tun oder besser nicht zu tun habe, aber nur zu ihm sprach, und bestimmt von Apollo, von dessen Orakel in Delphi der Spruch kam, keiner sei weiser als Sokrates. Da Sokrates aber wusste – und sagte –, dass er nichts weiß, ging er daran, das göttliche Orakel zu überprüfen und jeden, der meinte, etwas zu wissen, so lange zu befragen, bis sich herausstellte, dass auch er nichts wusste. Sokrates hatte die Wahrheit nicht, wollte aber, so wie er das göttliche Orakel verstand, unentwegt nach ihr forschen. Er stellte von Wahrheit auf Forschung nach Wahrheit um, die sich jedoch nie fand. Platon fasste vieles davon in seine Dialoge, in denen er meist Sokrates auftreten ließ, niemals aber sich selbst: So konnte er sich seinerseits ganz aus dem Lehren vermeintlicher Wahrheiten heraushalten. Was als platonische Lehre bekannt ist, zum Beispiel die Ideenlehre, lässt er Sokrates in Mythen erzählen (fast die ganze Politeia gehört dazu), für die er keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Eben das und den Dialog als solchen macht er in seinem glanzvollsten, aber auch schwierigsten Dialog Phaidros selbst zum Thema (was ich hier nicht ausführen kann). Auch die Form des Dialogs ist also keine Einkleidung einer Lehre, sondern ein philosophisches Statement. Aristoteles hat sich dann die sophistische und sokratische Dialogpraxis selbst vorgenommen und auf ihre Argumentationspraktiken hin untersucht. Er hatte selbst noch Dialoge geschrieben, das aber bald aufgegeben. Und er beruft sich auch nicht mehr auf Götter, sondern tritt, Jahrhunderte nach Parmenides, selbst als Autorität der Wahrheit auf. Und dafür erfindet er sich wieder eine neue schriftstellerische Form, nämlich die, die uns bis heute am meisten vertraut ist und darum gar nicht als besondere Form auffällt: die Abhandlung oder die Lehrschrift eines Autors. Er kann wohl in Auseinandersetzungen mit anderen eintreten, muss das aber nicht, und wenn er es tut, bestimmt er, auf wen er sich in welcher Weise einlässt. Die anderen sind hier Publikum, nicht mehr Partner in der Wahrheitssuche. Man kann dann mit seiner Wahrheit durchaus auch allein bleiben.
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Innovative Formen philosophischer Schriftstellerei
III. Belassen wir es hier bei diesen Beispielen und machen wir ein weiteres Gedankenexperiment. Stellen Sie sich nun vor, Sie lebten am Ende der Antike, um etwa 400 n. Chr., sind der Sohn eines städtischen Patriziers in Nordafrika, das zum Römischen Reich gehört, lebenslustig, begabt, stolz, leidenschaftlich, und ihre Mutter drängt Sie, um ihre Seele besorgt, hartnäckig zum Christentum, dem inzwischen auch gute Freunde zuneigen und das die Römischen Kaiser immer weniger verfolgen. Sie gehen die zeitgenössischen Philosophien durch, und tatsächlich überzeugt Sie keine mehr. So ergeben Sie sich eines Tages der mütterlichen Stimme, werden Christ und zwar ein so brillanter, dass sie zum Bischof ihres Heimatlandes gewählt und aufgrund tiefgreifender Lehrschriften zu einem der Kirchenväter werden. Natürlich: Augustinus. Augustinus sieht aber, dass man nicht durch Lehren zum Christentum überzeugt werden kann, sondern zuerst den Glauben finden muss, aus dem heraus die Lehren erst glaubhaft werden: den Glauben an eine neue, höhere Autorität der Wahrheit, die es je gab, den christlichen Gott, der die Welt im Ganzen so, wie sie ist, geschaffen hat. Das aber ist nun eine Wahrheit, die man als bloßer Mensch nicht erkennen und auch nicht durchschauen kann. Gott bleibt jenseits dessen, was die Bibel von ihm sagt, der große Unbegreifliche, und er will das, laut der Bibel, auch bleiben. Was würden Sie als Bischof, der Sie jetzt sind, nun tun, um den Christen das Christentum zu verdeutlichen und es Nicht-Christen nahezubringen? Was tut Augustinus? Er schreibt Bekenntnisse (Confessiones). Bekenntnisse sind insofern paradox, als man einem Gott, der alles immer schon weiß, nichts bekennen kann, das ihm neu wäre; aber sie haben Sinn, wenn es um die eigene alte, tiefe, heidnische Sündhaftigkeit geht, die der Bischof zuvor reichlich durchlebt hat. Er arbeitet, würden wir heute sagen, vor Gott seine eigenen Sünden auf oder das, was ihm jetzt, als Christ, der er geworden ist, als Sünde erscheint. In der Form des Bekenntnisses, die Augustinus wählt, tun sich nun aber ungeheure philosophische Untiefen auf, und sie waren nur in dieser Form zu entdecken. Zunächst einmal: Wie kann man überhaupt mit einem Unbegreiflichen kommunizieren (und wir sind auch einander ja alle einigermaßen unbegreiflich)? Muss man Gott, seinen Schöpfer, nicht einfach loben? Aber warum sollte Gott das wollen, wenn sein Geschöpf doch sündig und also unwürdig ist, ihn zu loben? 277 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Werner Stegmaier
Darf man ihn nur anrufen? Aber wie kann man jemanden anrufen, von dem man gar nicht weiß, wer und wie er ist? 4 Das sind beunruhigende Ungewissheiten, und beruhigend dabei ist nur, dass Gott sie gewollt haben muss. In der Ungewissheit aber kann man nur suchen und zu finden oder besser: gefunden zu werden hoffen. Aber wo? Gott, als Schöpfer der Welt, hat keinen Ort in der Welt. Wo ich ihn höre oder zu hören glaube, ist in meinem ›Inneren‹. Aber wo und wie ist dieses Innere? Es kann nicht gut das Innere des eigenen Körpers sein, wo man es unwillkürlich lokalisiert – ›das Innere‹, dem wir bis heute ganz selbstverständlich das Bewusstsein, den Willen, das Gewissen und das Gedächtnis zurechnen, ist so unbeobachtbar und unbegreiflich wie der christliche Gott. Es ist eine Metapher, die Augustinus auf den Wegen seiner Bekenntnisse erfindet. Es ist ein Ort und ein Nicht-Ort zugleich, also wiederum etwas Paradoxes. Und da ›bohrt‹ Augustinus in seinem Bekenntnisdrang nun weiter: Dieses Innere ist nichts irgendwie Festes, sondern ständig im Fluss. Denn es ist nur in der Erinnerung gegeben, im Gedächtnis (memoria), und ich bin also eigentlich mein Gedächtnis (ego sum, qui memini). Das Gedächtnis aber verhält sich eigenwillig und unergründlich, eigenwillig, weil mir etwas einfallen kann oder nicht und ich etwas einmal so erinnere, einmal anders – die memoria, so Augustinus, gleicht einem Magen, der das Erlebte so im Verborgenen verdaut, dass man möglichst gut damit leben kann –, und es ist unergründlich, weil sich bei weiterer Selbsterforschung meines sündhaften Inneren immer tiefer verborgene Höhlen auftun. So verliere ich mich immer mehr und kann mich selbst, so Augustinus, niemals ganz fassen (nec ego ipse capio totum, quod sum); ich werde mir zu einer einzigen Frage (mihi quaestio factus sum). Und doch ist mir in diesem eigenwilligen und unergründlichen Gedächtnis letztlich alle Wirklichkeit gegeben, denn alles, was ich von der Welt weiß, habe ich ja in meinem Gedächtnis, und zwar in meinem gegenwärtigen Gedächtnis. Auch Vergangenheit und Zukunft sind Vergangenheit und Zukunft in der gegenwärtigen Gegenwart, und diese Gegenwart ist ihrerseits nur der Übergang von einer jeweiligen Vergangenheit in eine jeweilige Zukunft. So verschlingt sich, was ich als Wahrheit suche, im Zug meines Bekenntnisses vor Gott in die Zeit. Und gerade von der Zeit, die, wie man sieht, so komplex vergänglich ist, kann ich
4
Vgl. Augustinus (2003), S. 31 f.
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Innovative Formen philosophischer Schriftstellerei
nicht sagen, was sie ist (Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio). All dies, was Augustinus in seinen christlichen Bekenntnissen philosophisch erschlossen hat, ist auf lange Sicht zurückgetreten – hinter der alten Autorität des Aristoteles. Im Mittelalter werden weitere Formen philosophischer Schriftstellerei entwickelt, um dem Glauben nun ein festes Fundament auch in der Philosophie zu geben, und Aristoteles wurde dafür über viele Jahrhunderte hinweg als die Autorität oder als ›der Philosoph‹ schlechthin wahrgenommen. Die große Form dafür war neben dem Kommentar die Summe, die geordnete und begründete Zusammenstellung des als wahr geltenden Wissens, wie wir es heute noch als Lehrbücher für Studierende und Handbücher für Gelehrte kennen: Formen philosophischer Schriften: Mittelalter ca. 400 n. Chr.
Mittelalter
ca. 1500
Selbstgespräch
Aurelius Augustinus (I) (345–430) Soliloquia
sein Denken zu einem Leben für die Wahrheit Gottes reinigen
Bekenntnis vor Gott
Aurelius Augustinus (II) Confessiones / Bekenntnisse
Beispiel geben für den Weg zum Glauben
Apologie gegen die Heiden
Aurelius Augustinus (III) die göttliche Gemeinschaft De civitate Dei / Der Gottesstaat der wahrhaft Gläubigen bestärken
Poetisches Rezept gegen Kummer
Anicius Manlius Severinus durch Philosophie und Boethius (zwischen 475 und 524) Theologie wieder De consolatione philosophiae / Lebensmut geben Vom Trost der Philosophie
Gebet
Anselm von Canterbury (1033–1109) Proslogion / Anrede
Widerspruchsregister
Petrus Abaelardus (1079–1142) sich durch den Nachweis Sic et non / Ja und nein von Widersprüchen zwischen Autoritäten Spielräume für eigene Glaubensentscheidungen schaffen
durch Vernunft seinen Glauben bestärken
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Werner Stegmaier Formen philosophischer Schriften: Mittelalter ca. 400 n. Chr.
Mittelalter
Kommentar
Ibn Rushd (Averroes, ca. 1126– den Glauben duch philo1198), Kommentar zu Aristote- sophische Autoritäten les’ Lehrschrift über die Seele, verdeutlichen und Moshe ben Maimon (Maimonides, 1135–1204) Moreh Newuchim / Führer der Unschlüssigen
Summe von Lehrdiskursen (Quaestiones)
Thomas von Aquin (1225–1274) einen vollständigen ÜberSumma theologiae / Summe der blick über die durch PhiloTheologie sophen untermauerten Lehren des Glaubens geben
Kombination symbolischer Figuren
Ramon Llull (ca. 1232–1316) Ars magna – Ars brevis / Große und Kleine Kunst
mit symbolischer Logik die Glaubensinhalte erzeugen und verbreiten
Kritischer Kommentar zu einer Summa der Logik
William of Ockham (zwischen 1280 und 1349) Summa logicae / Summe der Logik
theologische Realitätsannahmen nach zeichenphilosophischen Maßstäben überprüfen
Prismatisches Schreiben
Nikolaus von Kues (1401–1464) widersprechende Lehren De docta ignorantia / Von der von Gott durch ihre wissentlichen Unwissenheit Paradoxierung zusammenführen
ca. 1500
280 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Innovative Formen philosophischer Schriftstellerei
IV. Blicken wir nun gleich in die Moderne hinein: Formen philosophischer Schriften: Neuzeit ca. 1500
Moderne
ca. 1850
Satire auf die gegenwärtige Gelehrsamkeit
Desiderius Erasmus von Rotterdam (zwischen 1466 und 1536) Mōrias Enkōmion seu Laus Stultitiae / Lob der Torheit
dogmatischen Eifer mit Humor abstreifen
Essay als Gegenentwurf zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen (Utopie)
Sir Thomas More (1478–1535) versuchsweise einen neuen De optimo rei publicae statu, de- Staat mit besseren Zustänque nova insula Utopia / Über den entwerfen den besten Zustand der Republik und die neue Insel Utopia
Essay als Form der Michel de Montaigne Selbstbeobachtung (1533–1592) und SelbstdarEssais stellung Essay als Form einer neuen wissenschaftlichen Interpretation der Natur
die Wahrheit in der unbefangenen Selbstbeobachtung suchen
Francis Bacon, Baron Verulam, die Wahrheit im un1. Viscount St. Albans befangenen Umgang mit (1561–1626) der Natur suchen Instauratio Magna
Philosophische Giordano Bruno (1548–1600) Interpretation ei- De gli eroici furori /Über die gener Dichtungen heroischen Leidenschaften
mit dichterischer Phantasie die Unbegrenztheit der göttlichen Natur freisetzen
Regel-Diskurs
René Descartes (I) (1596–1650) mit Regeln einer Methode Discours de la méthode / Diskurs eine universale Wissenüber die Methode schaft schaffen
Metaphysische Meditation
René Descartes (II) Meditationes de prima philosophia / Meditationen über die Erste Philosophie
die Gewissheit des eigenen Denkens metaphysisch begründen
PrinzipienExplikation
René Descartes (III) Principia philosophiae / Prinzipien der Philosophie
die Gewissheit des eigenen Denkens nach Prinzipien lehrbar machen
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Werner Stegmaier Formen philosophischer Schriften: Neuzeit ca. 1500
Moderne
ca. 1850
Moralkritische Spitze (Maxime, Aphorismus, Aperçu)
Duc de La Rochefoucauld (1613–1680) Réflexions ou Sentences et Maximes Morales / Reflexionen oder Moralische Sentenzen und Maximen
moralische Attitüden entlarven
GedankenFragment
Blaise Pascal (1623–1662) Pensées / Gedanken
sich im festen Glauben an Gott dem Ungewissen aussetzen
Baruch de Spinoza (1632–1677) sich nach mathematischem Systematische Maßstab in die göttliche Ethica ordine geometrico deAbhandlung (more geometrico) monstrata / Ethik, in mathema- Ordnung der Welt einfügen tischer Ordnung dargelegt Enzyklopädie
sich Übersicht über den Jean-Baptiste le Rond Stand des Wissens D’Alembert & Denis Diderot verschaffen (1713–1784) Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers / Enzyklopädie oder kritisch reflektiertes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke
Descartes, den man gerne an den Beginn der modernen Philosophie stellt, schließt eng an Augustinus’ Eröffnung des Inneren an: Im heillosen Streit um alles Wissen über die Welt im ausgehenden Mittelalter suspendiert Descartes mit seinem Zweifel erst einmal dieses Wissen. Und da das meiste dem Inneren Zugerechnete nicht weniger zweifelhaft ist, bleibt nur das Denken, das bei allem Zweifel doch weiß, dass es denkt, also als Einziges gewiss existiert, das ›ego cogito, ego existo‹, das zum ›fundamentum inconcussum‹ der Philosophie der Moderne wird. Descartes hat es jedoch in gleich drei verschiedenen Formen philosophischer Schriftstellerei vorgetragen, in seinem Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, seinen Meditationes de prima philosophia und in seinen Principia philosophiae, und jedes Mal bekommt das ›ego cogito, ego existo‹ einen neuen Sinn. Im Discours – das ist die Form des Gesprächs, der Untersuchung, des Vortrags von Vorschlägen, der Darlegung eigener Erfahrungen – erzählt Descartes autobiographisch und umgangssprachlich auf Fran282 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Innovative Formen philosophischer Schriftstellerei
zösisch, wie er zu seiner Einsicht gekommen ist, nämlich durch die Methode, komplexe Probleme so lange in einfache zu zerlegen, bis sie völlig durchsichtig und damit lösbar sind. 5 Das ›ego cogito, ego existo‹ ist hier ein Beispiel für eine solche einfache Einsicht. Methoden kann man wählen, Descartes empfiehlt seine erfolgreiche Methode auch den Lesern zur Wahl, und sie entscheiden selbst und in eigener Verantwortung, ob sie sie übernehmen wollen. Er geht nicht mehr von einer angeblich existierenden, an sich gegebenen Wahrheit aus, auf die sich alle gleichermaßen berufen können, sondern Wahrheit ist jetzt das Ergebnis einer selbst gewählten Methode, deren Hauptkriterium die leichte Einsichtigkeit ist. (So verfuhren auch die neuen Naturwissenschaften; in der Philosophie nennen wir das heute ›Konstruktivismus‹.) Er stellt, wie er sagt, von der Ordnung der Dinge (ordre des choses) auf eine Ordnung der Gründe (ordre des raisons) um. Der untersuchenden und empfehlenden Form des Discours lässt Descartes die religiöse der Meditatio folgen, nun in lateinischer, der damaligen Wissenschaftssprache. Er kennt die Meditation als sechstägige Exerzitien der Jesuiten, bei denen er zur Schule gegangen war. Sechs Tage dauern sie, weil Gott die Welt in sechs Tagen geschaffen hat, und Descartes’ Meditationen sind ebenfalls sechs an der Zahl. Religiös geht es um Selbstbesinnung, Sammlung, Andacht, Reinigung vor Gott – bei Descartes um die Selbstbesinnung und Reinigung des Denkens selbst, so dass es zu unbedingten Gewissheiten kommen kann, auch über Gott, dessen Dasein Descartes neu nach seiner Methode beweist. In einer sechstätigen Meditation schafft er die Welt im Denken neu. Auch hier spricht er konsequent als ›Ich‹. Die Gewissheit des ›ego cogito, ego sum‹ wird hier zum Modell und Maßstab für alle weiteren Gewissheiten. Die dritte Form, die Descartes gebraucht, die der Principia philosophiae, ist die dogmatische Zusammenstellung lehrbarer Erkenntnisse, nun der Erkenntnisse, die er in seinen Meditationen gewonnen hat. Hier spricht er als ›Wir‹, das seine Leserschaft einschließt, und hier wird aus dem ›ego cogito, ego sum‹ das berühmt gewordene »cogito, ergo sum«. Descartes lässt es hier aus dem Satz folgen: »[E]s ist ein Widerspruch, daß das, was denkt, zu dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht existiert.« 6 Nun ist das »ego cogito« keine ursprüngliche 5 6
Vgl. Descartes (1997), S. 31. Descartes (1961), S. 2.
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Werner Stegmaier
und nur von jedem selbst zu gewinnende Gewissheit mehr, sondern ein allgemein gültiger logischer Schluss, und eben als solcher ist er lehrbar.
V. Die weiteren Formen philosophischer Schriftstellerei, die große Philosophen der Moderne entwickelt haben, um ihr neues Denken vorzutragen, müssen wir hier wieder überspringen, so spannend es wäre, jeder einzelnen von ihnen auf den Grund zu gehen. Sehen wir nun gleich, was nach der Moderne folgt. Die Moderne war auf Erkenntnis und hier auf die Vernunft oder ihren Gegenpart, die Sinne, und das Subjekt dieser Erkenntnis fokussiert. Jetzt treten Zeit und Evolution, Sprache und Zeichen, Kultur und Geschichte, Lebensformen und Weltanschauungen, im Ganzen Diversität statt Einheit in den Vordergrund – ›Postmoderne‹ ist dafür nur ein Verlegenheitstitel, solange wir keinen besseren haben. Mit der Diversität werden nun auch die Formen philosophischer Schriftstellerei sehr vielfältig. Zu den bedeutsamsten gehören sicher die folgenden: Formen philosophischer Schriften: 19. und 20. Jahrhundert seit ca. 1850
›Postmoderne‹
Vortrag
Ralph Waldo Emerson (1803– 1882) Lectures & Essays
selbst für seine Philosophie einstehen
Manifest
Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) Das kommunistische Manifest
mit Philosophie zum Kampf für eine bessere Gesellschaft aufrufen
Gebrochene Autorschaft I: Pseudonyme
Søren Kierkegaard (1813–1855) philosophische Lehren an Die Rechenschaft / Über meine der eigenen Existenz breWirksamkeit als Schriftsteller chen, sich indirekt mitteilen
Gebrochene Autorschaft II: Masken
Friedrich Nietzsche (1844– 1900) Der Wille-zur-Macht-Gedanke in wechselnden Formen philosophischer Schriften
philosophische Lehren durch den Wechsel der Formen perspektivieren, reflektieren und kompromittieren
Begriffsschrift
Gottlob Frege (1848–1925) Begriffsschrift
die Bedeutungen der Wörter und die Logik des Schlussfolgerns in eindeutigen Zeichen fixieren
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Innovative Formen philosophischer Schriftstellerei Formen philosophischer Schriften: 19. und 20. Jahrhundert seit ca. 1850
›Postmoderne‹
Vom Traktat in Dezimalnotation zum Album mit Paragraphenzählung
Ludwig Wittgenstein (1889– 1951) Logisch-philosophische Abhandlung Philosophische Untersuchungen
Text als Ereignis
Martin Heidegger (1889–1976) sich auf die SeinsverlassenBeiträge zur Philosophie (Vom heit einlassen Ereignis)
Talmud-Auslegung
Emmanuel Levinas (1906–1995) »jüdische« Alternativen zur Lectures talmudiques »griechischen« Philosophie gewinnen
Gebrochene Autorschaft III: Einschreibung / Dekonstruktion
Jacques Derrida (1930–2004) La forme et le vouloir-dire / Die Form und das Bedeuten
– durch völlige Klarheit über die Logik unserer Sprache Klarheit über die Welt gewinnen – sich durch die alltägliche Sprache in der Welt orientieren
im Sich-Einschreiben in die Schriften Anderer Unterscheidungen verschieben
Nietzsches Formen philosophischer Schriftstellerei dürften hier die interessantesten sein, eben weil sie die reichsten und komplexesten sind. Das kann ich hier nicht ausführen. 7 Stattdessen schließe ich mit kurzen Hinweisen auf den späten Wittgenstein, der auch im Titel des Vortrags steht und dessentwegen vielleicht die eine oder der andere gekommen ist. Wittgenstein hat nicht nur zwei innovative Formen philosophischer Schriftstellerei entwickelt, sondern, in einem langen Prozess, die eine durch die andere überholt. Mit der Dezimalnotierung der Sätze in seiner Logisch-philosophischen Abhandlung, wie er sie nannte, will er völlige Klarheit über »die Logik unserer Sprache« 8 schaffen und alle philosophischen Probleme endgültig lösen. Die »Sätze« sind hier so geordnet, dass ihr »logisches Gewicht« unmittelbar erkennbar wird: an der Zahl der Stellen hinter dem Punkt. Satz 1.11 hat weniger Gewicht als Satz 1.1 und noch weniger als Satz 1; 1.1 soll eine »Bemerkung« zu 1, 1.11 eine Bemerkung zu 1.1 (usw.) sein. Sie kennen das Schema zur Genüge, wir verwenden es heute gerne für Inhaltsverzeichnisse. Wittgenstein geht es mit dieser Form um sieben 7 8
Vgl. den Überblick in Stegmaier (2020), S. 98–113. Wittgenstein (1984a), S. 9.
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Werner Stegmaier
Hauptsätze, die einen systematischen Zusammenhang bilden und im Übrigen lediglich erläutert werden; Sie werden mit ihnen ebenfalls vertraut sein: »1 Die Welt ist alles, was der Fall ist.« – »2 Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.« – »3 Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke.« – »4 Der Gedanke ist der sinnvolle Satz.« – »5 Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze.« – »6 Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist: [� p, ξ, N (ξ)]. Dies ist die allgemeine Form des Satzes.« – »7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Hier bekommt man einen selten klaren Überblick, worum es geht. Aber die philosophische Rangordnung der weiteren Sätze, gleichsam der Nebensätze der immerhin über 100 Seiten langen Logisch-philosophischen Abhandlung ist keineswegs so klar: Philosophisch hochbedeutsame Sätze können unter sehr langen Nummern nur als »Bemerkungen« zu Bemerkungen zu Bemerkungen (usw.) rangieren. Zum Beispiel handelt der Satz 6.1271 von der hochbedeutsamen willkürlichen Anzahl der »logischen Grundgesetze«. Und gerade an ihnen hat Wittgenstein später immer mehr gezweifelt und von da aus auch an der Klarheit, die die Hauptsätze zu schaffen scheinen. Sie stellte sich ihm als bloßes »Ideal« heraus, das nicht nur nicht wirklich einzulösen war, sondern sein philosophisches Denken – und mit ihm das einer langen philosophischen Tradition und zugleich das einer neuen philosophischen Richtung, die an seine Abhandlung angeschlossen hatte, nämlich der logischen Analyse der Sprache – auf eine falsche Bahn gebracht hatte. Wittgensteins ganze weitere philosophische Arbeit bestand nun darin, Form und Inhalt seiner Logisch-philosophischen Abhandlung in Frage zu stellen und dadurch die philosophische Fragestellung als solche zu erweitern und zu vertiefen. Ähnlich erging es Martin Heidegger mit seiner »Kehre«. Heidegger schuf sich für sein zweites Hauptwerk, die Beiträge zur Philosophie, eine Form, die stark an Nietzsches nachgelassene Aufzeichnungen angelehnt ist, in denen er dessen literarisch unverstellte, eigentlich philosophischen Äußerungen sah. Die neue Form, die Wittgenstein für seine Philosophischen Untersuchungen, wie die Herausgeber sie dann nennen werden, schließlich findet, ist eine Sammlung von »Bemerkungen« nicht zu Hauptsätzen, sondern ohne solche. Auch diese Bemerkungen sind nach Paragraphen durchnummeriert, aber durchlaufend ohne Rangordnung, nun lediglich zur orientierenden Übersicht. In seinem kurzen Vorwort spricht Wittgenstein vor allem über diese »Form« seines 286 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Innovative Formen philosophischer Schriftstellerei
»Buches«, über die er sich »zu verschiedenen Zeiten verschiedene Vorstellungen« gemacht habe. Er habe seine »Gedanken alle als Bemerkungen, kurze Absätze, niedergeschrieben. Manchmal in längeren Ketten, über den gleichen Gegenstand, manchmal in raschem Wechsel von einem Gebiet zum andern überspringend.« In seinem Buch sollten nun wohl »die Gedanken von einem Gegenstand zum andern in einer natürlichen und lückenlosen Folge fortschreiten«. Aber es sei ihm nicht gelungen, sie in eine solche Folge zu bringen, und das hänge »mit der Natur der Untersuchung selbst zusammen«: »Sie nämlich zwingt uns, ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen«, so dass »[d]ie gleichen Punkte, oder beinahe die gleichen, […] stets von neuem von verschiedenen Richtungen her berührt und immer neue Bilder entworfen« werden. So sei »gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen« herausgekommen, »eigentlich nur ein Album« 9. Der Schluss ist also: Der Inhalt zwingt zur Form, und darum kann oder muss man sogar den Inhalt von der Form her verstehen. Es gibt hier keine isolierbaren und fixierbaren Lehren mehr und schon gar nicht, wie bei Parmenides, ein Sein, das dasselbe wie das Denken wäre, sondern nur noch Anhaltspunkte, auf die man – auf die zunächst Wittgenstein – bei seinem bewusst schweifenden, das Terrain erst erkundenden und nicht schon auf irgendetwas Bestimmtes ausgerichteten philosophischen Denken stößt. Diese bloßen Anhaltspunkte aber lassen das philosophische Denken immer neue Richtungen einschlagen und nie zu einem geschlossenen systematischen Zusammenhang kommen. Wer auf ihm besteht, täuscht sich einerseits über die Realität des Denkens, auch des philosophischen, hinweg, das immer sehr unterschiedliche Wege gegangen ist, und unterschätzt andererseits seine viel weiter reichenden Möglichkeiten. Wittgenstein-Interpretinnen und -interpreten haben wohl versucht, aus seinen gesammelten Bemerkungen wieder eine Theorie zu extrahieren und sie ihnen zugrunde zu legen, die Bemerkungen wieder als Bemerkungen zu dieser Theorie zu lesen. Aber damit kehren sie zum Typus der logisch-philosophischen Abhandlung zurück, von der Wittgenstein gerade loskommen wollte. Eine solche Theorie gibt es in den Philosophischen Untersuchungen nicht nur nicht, Wittgenstein wollte mit seinen Orientierungsgängen im Gegenteil sich und seine Leserschaft von der Erwartung einer solchen Theorie heilen. Es 9
Wittgenstein (1984b), S. 232.
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muss, aus Gründen, die wir hier nicht mehr entfalten können, bei den Orientierungsgängen bleiben. Die Form ist hier der Inhalt. 10 Die Philosophie hilft, sich im philosophischen Gebrauch der Sprache über den philosophischen Gebrauch der Sprache zu orientieren. Mehr kann sie nach dem späten Wittgenstein am Ende nicht und mehr sollte sie auch nicht wollen.
VI. Die innovativen Formen philosophischer Schriften am Ende des 20. Jahrhunderts fallen weniger auf. Ihnen könnten ganz neue folgen. Ich kann sie hier nur wieder in einer Tabelle andeuten und muss auf das einschlägige Buch verweisen: 11 Formen philosophischer Schriften: Gegenwart Aufsatz in einer Analytische Philosophie Fachzeitschrift
Forschungskontinuitäten bilden
Beitrag zu einem Themenband
Poetik und Hermeneutik
in Diskursen die philosophische Relevanz von Themen ausloten
Internetbeitrag
Philosophinnen und Philosophen der Zukunft
– globales Interesse wecken – persönliche durch künstliche Intelligenz bereichern?
Auch im 21. Jahrhundert dürften neue Inhalte, insbesondere die Digitalisierung und Globalisierung der menschlichen Kommunikation, wieder neue Formen philosophischen Schreibens nötig machen und die neuen Formen wieder zu neuen Inhalten führen. Noch formt sich hier die Landschaft neu. Produktive Innovationen sind Philosophinnen und Philosophen der Zukunft vorbehalten. Ich kann an dieser Stelle nur mit konditionalen Fragen schließen:
Zum Begriff der Orientierung bei Wittgenstein vgl. Stegmaier (2008), S. 128–133. Zu den Überblicksdarstellungen vgl. Stegmaier (2021). Alle hier abgebildeten Tabellen sind diesem Buch entnommen. Sie sind dort am Ende zusammenhängend abgedruckt.
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Innovative Formen philosophischer Schriftstellerei
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Wenn wir annehmen, dass die rundum vernetzbare Kommunikation im Internet den schnellen Diskurs fördert: Werden kurze, schlagkräftige Internetbeiträge bedeutsamer auch für grundlegende philosophische Neuerungen sein als detailliert ausgearbeitete Monographien, wie wir sie in der Philosophie bisher hauptsächlich kennen? Wenn wir annehmen, dass der Wissensstand sich rascher denn je überholt: Wird es dann weniger auf fertige Ergebnisse ankommen als auf den Fortgang des philosophischen Diskurses selbst? Wenn wir annehmen, dass man nur noch in engen Grenzen die laufenden Diskurse übersehen kann: Wird man von Einzelnen überhaupt noch grundlegende Neuerungen erwarten und bereit sein, wenn sie dennoch versucht werden, ihnen Beachtung und Glauben zu schenken? Wird es auf vage Durchschnittsmeinungen hinauslaufen? Wenn wir annehmen oder jedenfalls nicht ausschließen, dass künstliche Intelligenz auch in das philosophische Denken eingehen wird, ohne es überflüssig zu machen oder zu zerstören: Könnte das philosophische Denken durch künstliche Intelligenz optimiert werden und wenn ja, auf welche Art und in welcher Richtung? Wird die neue Zugänglichkeit riesiger Datenmengen (big data) zur Entwicklung von Algorithmen anregen, die bisher unbekannte und auch unerwartete Ergebnisse erbringen? Wird man philosophisch relevante Internetbeiträge sammeln und unter Einsatz von künstlicher Intelligenz durchgreifende Relevanzen der disparaten und doch vernetzten Diskurse sichtbar machen? Wird man aus der digital aufbereiteten Geschichte der Philosophie eine neue Philosophie für die digitale Zukunft entwickeln wollen und können? Wird man selbst die Kriterien für eine solche Weiterentwicklung durch Algorithmen zu gewinnen versuchen, und wie sähen sie dann aus? Wenn wir annehmen, dass gerade Veränderungen in den Grundbedingungen des menschlichen Lebens philosophische Fragen herausfordern: Werden Globalisierung und Digitalisierung der Kommunikation selbst Thema der philosophischen Kommunikation, die Internetkommunikation also in Form und Inhalt wiederum selbstbezüglich werden? Wenn wir nicht annehmen, dass Philosophen und Philosophinnen sich selbst entmündigen werden und ihre Innovationskraft unter den neuen Bedingungen nicht erlahmt, sondern nun 289 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Werner Stegmaier
erst recht gefragt ist: Wird die Digitalisierung der Kommunikation also auch neue Formen des philosophischen Schreibens für die neuen Inhalte hervorbringen?
Bibliographie Augustinus, Aurelius (102003): Bekenntnisse. München: dtv. Descartes, René (61961): Die Prinzipien der Philosophie. Hamburg: Meiner. Descartes, René (21997): Discours de la méthode. Hamburg: Meiner. Diels, Hermann; Kranz, Walther (121967): Die Fragmente der Vorsokratiker (DK). Berlin: Weidmann. Nietzsche, Friedrich (1999): Kritische Studienausgabe (KSA). Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hg.), München: dtv. Stegmaier, Werner (2021): Formen philosophischer Schriften. Hamburg: Junius. Stegmaier, Werner (32020): Friedrich Nietzsche zur Einführung. Hamburg: Junius. Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin: De Gruyter. Wittgenstein, Ludwig (1984a): Logisch-philosophische Abhandlung / Tractatus Logico-Philosophicus. Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig (1984b): Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
290 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Personenregister
Abaelardus, Petrus 279 Addams, Jane 113 Adorno, Theodor W. 133 Agamben, Giorgio 163 Alembert, Jean-Baptiste le Rond d’ 69, 282 Alexander, Samuel 160 Anaximander 273, 275 Angelus Silesius (Johannes Scheffler) 17, 179 Anselm von Canterbury 279 Apolloni, David 42 Aristoteles 10, 52, 146, 151, 158, 163, 175, 275, 276, 279 Ashbery, John 159 Augustinus 12, 20, 277–279, 282 Austen, Jane 112 Averroes (Ibn Rushd) 280 Bacon, Francis 281 Barzun, Jacques 114 Beauvoir, Simone de 11, 187, 195 Beecher Stowe, Harriet 263 Benjamin, Walter 258–259, 265 Bergson, Henri 9, 11 Blom, Philipp 50, 69 Blößner, Norbert 23–24 Blumenberg, Hans 17, 184 Boethius, Ancius Manlius Severinus 279 Böhme, Jakob 141, 159 Brandom, Robert 250 Brown, John 106 Brown, Thomas 87 Bruno, Giordano 281 Buell, Lawrence 82 Caillois, Roger 65 Carlyle, Thomas 89–90
Camus, Albert 9, 11 Cavell, Stanley 106, 132 Charlier, Robert 59 Chesterton, Gilbert Keith 113 Cicero, Marcus Tullius 275 Coetzee, J. M. 270 Coleridge, Samuel Taylor 87, 90–92 Cousin, Victor 89 Cudworth, Ralph 89 Danzer, Gerhard 74 Darwin, Charles 112 Davidson, Donald 255 Davidson, Jo 180 Dédéyan, Charles 70 Derrida, Jacques 285 Descartes, René 20, 186, 212, 249, 281–283 Dewey, John 16, 17, 82, 100, 109, 113, 117, 132, 138, 140, 144–145, 148, 150, 152, 155, 160, 170 Dickinson, Emily 16, 137–143, 145,153 Diderot, Denis 69, 282 Dixon, Thomas F. 263 Döblin, Alfred 221 Dodge, Mabel 158 Dostojewski, Fjodor M. 9, 258, 267 Dreiser, Theodore 267 Drummond, William 87 Du Bois, W. E. B. 115 Dydo, Ulla E. 156 Ebert, Theodor 26, 28 Emerson, Ralph Waldo 14–15, 17, 82–90, 92–93, 98–106, 113, 137– 142, 145–150, 156, 179, 198, 284 Engels, Friedrich 284
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Personenregister Erasmus von Rotterdam 281 Eucken, Rudolf 9 Feyerabend, Paul 133 Fichte, Johann Gottlieb 85, 90 Foucault, Michel 185 Frege, Gottlob 285 Friedl, Herwig 137, 140 Frost, Robert 138 Fuller, Margaret 81 Gadamer, Hans-Georg 163 Gass, William H. 168, 170 Gearhart, Suzanne 74 Genazino, Wilhelm 260 Goethe, Johann Wolfgang von 51, 99, 105 Goodman, Nelson 169 Habermas, Jürgen 250 Hagenbüchle, Roland 147, 151 Hampe, Michael 132–134 Haselstein, Ulla 156–157 Hawthorne, Nathaniel 113 Haywood, Francis 86 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 118, 186–187, 195 Heidegger, Martin 17–18, 155, 160– 161, 163, 166–167, 179, 186, 188– 189, 195–200, 203–207, 210–214, 224–225, 241, 285–186 Heraklit 36, 275 Herms, Eilert 110 Hesiod 272, 274 Hofmannsthal, Hugo von 178 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 69 Homer 177, 272, 274 Horkheimer, Max 133 Hume, David 84, 88 Iser, Wolfgang 261 Isokrates 275 Jackson, Frank Cameron 253–254 Jacobi, Friedrich Heinrich 90 James, Henry 113–114 James, William 15–17, 109–134, 138, 140, 142, 149–142, 155–157, 160– 165, 167, 169–170, 172–173, 175– 176, 178–180, 246 Jesus Christus 238 Kafka, Franz 9
Kant, Immanuel 14–15, 83–99, 101– 104, 106, 185 Kierkegaard, Søren 186, 195, 240, 284 Knausgård, Karl Ove 260, 268 Konfuzius (Kung-fu-tse) 238 Korsgaard, Christine 264 Krauss, Werner 59 La Rochefoucauld, François de 282 Lacouture, Jean 55–56, 59, 71 Laotse 238 Lear, Jonathan 264 Leibniz, Gottfried Wilhelm 49 Leskov, Nikolai 258 Levinas, Emmanuel 285 Lévi-Strauss, Claude 74 Lichtenberg, Georg Christoph 133 Locke, John 83–84 Ludwig XIV. 59, 66 Llull, Ramon 280 Mach, Ernst 220 Maimonides (Moshe ben Maimon) 280 Mann, Thomas 221 Marana, Jean-Paul 66 Marcel, Gabriel 11 Marsh, James 90 Marx, Karl 284 Mead, George Herbert 17- 155, 160– 161, 164–165, 170–171, 174 Melville, Herman 114 Meyer, Steven 156 Montaigne, Michel de 14, 49–60, 66, 71, 73–75, 78, 83, 99, 105, 133, 281 Montesquie, Charles-Louis de Secondat 14, 49–50, 52, 54, 56, 58–78 More, Sir Thomas 281 Morrison, Toni 267 Murphy, Arthur E. 164 Musil, Robert 18, 217–222, 225–233, 236, 238–239, 241–243 Nagel, Thomas 257, 270 Napoleon Bonaparte 99, 105 Nietzsche, Friedrich 18, 83, 133, 185, 218–219, 221, 226–232, 238, 242– 243, 284–286 Nikolaus von Kues (Cusanus) 280 Nitsch, Friedrich August 86
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Personenregister Nussbaum, Martha 132 Parmenides 17, 19, 162–163, 169, 179, 274–176, 287 Pascal, Blaise 282 Paul, Laurie 19, 247–248, 250–257, 265–270 Peirce, Charles Sanders 110 Petrarca, Francesco 52 Picasso, Pablo 172–173 Platon 9, 13, 21–24, 26–30, 33, 36– 37, 43, 45–47, 99, 105, 117, 146, 151, 158, 275–276 Poirier, Richard 138, 150 Porter, Katherine Anne 159 Proust, Marcel 9 Pyrrhon von Elis 133 Pythagoras 275 Rattner, Josef 74 Reid, Thomas 88, 249–250 Reynolds, David S. 263 Richardson, Joan 161 Rorty, Richard 19, 131–133, 262,263, 265 Russell, Bertrand 9, 112 Santayana, George 115 Sartre, Jean-Paul 9, 11 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 90 Schildknecht, Christiane 52, 57 Schiller, Ferdinand Canning Scott 112, 128, 130 Schlegel, Friedrich 18, 133, 230–232, 234, 242–243 Schmidt, Herrad 68 Seneca, Lucius Annaeus 12 Shakespeare, William 99, 167, 176
Shaw, George Bernard 113 Sloterdijk, Peter 241 Smith, Adam 193 Sokrates 13, 23–24, 26–30, 32–44, 47, 275–276 Spinoza, Baruch de 282 Staël, Germaine de 88 Starobinski, Jean 60, 63, 74, 78 Stein, Gertrude 16–17, 115, 138, 140, 155–162, 164–180 Stevens, Wallace 138 Stewart, Dugald 88–89 Stilett, Hans 53 Strawson, Peter 17, 185 Strobel, Benedikt 42 Sutherland, Donald 159 Swedenborg, Emanuel 99, 113 Tanner, Tony 160 Thales 275 Thomas von Aquin 280 Thoreau, Henry David 18, 106, 113, 138, 188, 190–195, 198–204, 208– 210, 212,214 Tolstoy, Lew Nikolajewitsch 114, 258 Viller, Charles de 87 Voltaire 49, 69 Whitehead, Alfred North 17, 155– 156, 160 Whitman, Walt 113, 116, 138, 176 Wilder, Thornton 159, 177, 180 William of Ockham 280 Wilson, Edmund 159 Wittgenstein, Ludwig 20, 133, 156, 241–243, 285–288 Wordsworth, William 113
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Über die Beitragenden
Alexander Becker ist seit 2016 Professor für Theoretische Philosophie an der Philipps-Universität Marburg. Nach dem Studium der Musikwissenschaft und Philosophie in Frankfurt am Main promovierte er sich 2000 dort mit einer Arbeit über Verstehen und Bewußtsein. Im Anschluss an die Habilitation 2011 war er von 2013 bis 2016 Professor für Theoretische Philosophie an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen insbesondere Sprachphilosophie, Ontologie und Ästhetik sowie die Philosophie der Antike und der Aufklärung. Zu seinen letzten Veröffentlichungen zählen unter anderem systematische Kommentare zu Platons Politeia (2017) und zu Platons Theätet (2007) sowie der gemeinsam mit Wolfgang Detel herausgegebene Band Natürlicher Geist (2009). Christa Buschendorf war von 1997 bis zu ihrer Pensionierung 2015 Universitätsprofessorin für Amerikanistik an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie habilitierte sich 1995 mit einer Studie über die Rezeption Schopenhauers in den Vereinigten Staaten. Weitere Schwerpunkte ihrer Forschung sind die amerikanische und transatlantische Ideengeschichte, Poesie und Ästhetik sowie die afroamerikanische Literatur und Kultur aus relationssoziologischer Perspektive. Christa Buschendorf war Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien, Mitherausgeberin und Review-Editorin der Amerikastudien/American Studies; 2019 hatte sie eine Harris Professur am Dartmouth College inne. Birgit Capelle ist Amerikanistin und Postdoc am Nordamerikastudienprogramm der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Sie war viele Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, wo sie mit einer transkulturellen Studie zu TIME in American and East Asian Thinking promovierte. Die Arbeit erhielt den Preis für die ›Beste Dissertation in 295 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Über die Beitragenden
der Philosophischen Fakultät 2009‹ und erschien 2011 im WinterVerlag. Capelles besonderes Forschungsinteresse gilt dem amerikanischen Transzendentalismus und Pragmatismus sowie der Comparative Philosophy (Nordamerika / Asien). Derzeit arbeitet sie an ihrer Habilitationsschrift zu spirituellen Krisen in Autobiographien des 17. bis 20. Jahrhunderts aus globaler Perspektive. Michael G. Festl ist Ständiger Dozent für Philosophie und Direktor des »John Dewey Centers Switzerland« an der Universität St. Gallen. Er promovierte sich 2013 mit der Arbeit Gerechtigkeit als historischer Experimentalismus: Gerechtigkeitstheorie nach der pragmatistischen Wende der Erkenntnistheorie und war im Anschluss von 2013 bis 2015 Präsident der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Gerechtigkeitstheorie, Politische Philosophie, Philosophie der Technologie sowie die Geschichte und Gegenwart der amerikanischen Philosophie, insbesondere John Dewey. 2021 gab er unter anderem die Bücher Pragmatism and Social Philosophy. Exploring a Stream of Ideas from America to Europe (Routledge) sowie das Handbuch Liberalismus (Metzler) heraus. Herwig Friedl war von 1986 bis zu seiner Pensionierung 2008 Universitätsprofessor für amerikanische Literatur und Ideengeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte waren der amerikanische Transzendentalismus und der Pragmatismus sowie das amerikanische Denken und die amerikanische Literatur im internationalen Kontext. In seinem zuletzt erschienenen Buch, Thinking in Search of a Language. Essays on American Intellect and Intuition (2019), bündelt er seine jahrzehntelange zukunftsweisende Beschäftigung mit dem Emersonschen und pragmatistischen, post-metaphysischen Denken. 2021 wurde ihm von der Ralph Waldo Emerson Society der ›Distinguished Achievement Award‹ verliehen. Ana Honnacker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Projekt »Politics in Search of Evidence. The role of Political Philosophy and Public Health in the political responses to COVID-19« am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Hochschule für Philosophie München sowie regelmäßige Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim. 2014 promovierte sie sich mit der Arbeit 296 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Über die Beitragenden
Post-säkularer Liberalismus. Perspektiven auf Religion und Öffentlichkeit im Anschluss an William James an der Goethe-Universität Frankfurt und war im Anschluss bis 2020 wissenschaftliche Assistentin am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Sie ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des German Pragmatism Network und arbeitet aktuell an einer Monographie zum Thema Ökologischer Meliorismus. Das Anthropozän als kulturelle Herausforderung, in dem sich zugleich ihre Interessen an Pragmatismus, Humanismus, Anthropologie und Kulturphilosophie spiegeln. Sebastian Hüsch ist seit 2015 Professor für Ideengeschichte an der Universität Aix-Marseille. 2004 promovierte er sich mit einer Arbeit zu Möglichkeit und Wirklichkeit. Eine vergleichende Studie zu Sören Kierkegaards »Entweder/Oder« und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften«. 2014 folgte die Habilitation über Langeweile bei Heidegger und Kierkegaard. Zum Verhältnis philosophischer und literarischer Darstellung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der deutschen und europäischen Philosophie des späten 18. bis 20. Jahrhunderts (Philosophie der Existenz, Religionsphilosophie, Geschichte der Philosophie, Literatur und Philosophie). Dennis Sölch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, wo er sich 2013 mit einer Arbeit zu Prozessphilosophien. Wirklichkeitskonzeptionen bei Alfred North Whitehead, Henri Bergson und William James promovierte, und Geschäftsführer der Deutschen Whitehead Gesellschaft. Er war 2016 »William James Scholar in Residence« am William-James-Center der Universität Potsdam und ist regelmäßiger Lehrbeauftragter an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Seine Forschungsinteressen umfassen Prozessmetaphysik, Existenzphilosophie, Erziehungs- und Kulturphilosophie sowie die Geschichte der Philosophie, insbesondere der amerikanischen Philosophie vom Transzendentalismus bis zum Neopragmatismus. Werner Stegmaier war nach der Wende Gründungsdirektor des Instituts für Philosophie der Universität Greifswald und hatte dort von 1994 bis zu seiner Emeritierung 2011 den Lehrstuhl für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie inne. Er war fast 20 Jahre lang Mitherausgeber der Nietzsche-Studien und der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung. Sein Hauptwerk Phi297 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .
Über die Beitragenden
losophie der Orientierung (2008) ist zum Ausgangspunkt einer eigenen Strömung geworden, die sich in Form der Hodges Foundation for Philosophical Orientation in Nashville, Tennessee, auch institutionell weiterentwickelt. Zu seinen zahlreichen weiteren Forschungsinteressen zählen die Philosophie Nietzsches, die Tradition der jüdischen Philosophie sowie Fragen der Zeit, des Zeichens und der Kunst. Die aktuellsten Publikationen umfassen Nietzsche zur Einführung (2011), Luhmann meets Nietzsche. Orientierung im Nihilismus (2016), Europa im Geisterkrieg. Studien zu Nietzsche (2018) sowie Formen philosophischer Schriften zur Einführung (2021). Oliver Victor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, wo er sich 2020 mit einer Arbeit zu Kierkegaard und Nietzsche. Initialfiguren und Hauptmotive der Existenzphilosophie promovierte. Seine Forschungs- und Interessensgebiete liegen im Bereich der Geschichte der Philosophie (insbesondere der Existenzphilosophie und des französischen Existenzialismus), der Anthropologie und der Darstellungsformen von Philosophie. Im Rahmen seiner Forschungen zu den Kulturellen Grundlagen Europas erschien zuletzt der mit Laura Weiß gemeinsam herausgegebene Band Europäische Utopien – Utopien Europas (2021). Zurzeit arbeitet er an einem Kommentar und einer Übersetzung der Écrits de jeunesse von Albert Camus.
298 https://doi.org/10.5771/9783495999479 .